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German Pages 287 [288] Year 2023
Die Sache der Logik
Begriff und Realität bei Hegel Andreas Arndt
Meiner
Andreas Arndt
Die Sache der Logik Begriff und Realität bei Hegel
Meiner
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In memoriam amici mei Walter Jaeschke (1945–2022)
INHALT Vorrede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9 I. Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21 Wer denkt absolut? Die absolute Idee in Hegels Wissenschaft der Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23 Die anfangende Reflexion. Anmerkungen zum A nfang der Wissenschaft der Logik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 Hegels Begriff der Dialektik im Blick auf Kant . . . . . . . . . . . . . . . . 60 Dialektik und Urteilskraft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 Das Verhältnis der Wissenschaft der Logik zur Realphilosophie . . 95 II. Realität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 »Das Wesen des Geistes ist …, daß er … als Sieger über die Natur zu sich selbst kommt«. Gesellschaftliches Naturverhältnis bei Hegel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 Zur Rolle des Gefühls in Hegels Theorie des subjektiven Geistes . 121 Anerkennung – zur Tragweite eines Begriffs. . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 »Die Eumeniden schlafen«. Über die Fragilität der Moderne . . . . . 153 »Ein wildes Tier, das einer beständigen strengen Beherrschung und Bezähmung bedarf.« Ökonomie und Staat nach Hegel . . . . . . 171 Frei(heits)räume. Abstrakte und konkrete Allgemeinheit in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Glauben und Zutrauen. Hegels Deutung des lebensweltlichen Bewusstseins . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200
III. Die Realität und das Absolute . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 215 Die Vollendung des absoluten Geistes im objektiven Geist: Weltgeschichte, Religion und Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 Freiheit in Religion und Philosophie: Heine und Hegel . . . . . . . . . . 229 Das Ende der Geschichte – und dann? Kunst, Religion und Philosophie nach ihrem Ende . . . . . . . . . . . . . 246 »… die Eine Idee die sich darstellt« – wie systematisch ist Hegels enzyklopädischer Systementwurf? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 Nachweise . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275
8 | Inhalt
VORREDE (1) In seinen Aufzeichnungen »Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie« (1843) schrieb Karl Marx: »Nicht die Rechtsphilosophie, sondern die Logik ist das wahre Interesse. Nicht daß das Denken sich in politischen Bestimmungen verkörpert, sondern daß die vorhandenen politischen Bestimmungen in abstrakte Gedanken verflüchtigt werden, ist die philosophische Arbeit. Nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik ist das philosophische Moment. Die Logik dient nicht zum Beweis des Staats, sondern der Staat dient zum Beweis der Logik.«1 Dass Hegel die Sache der Logik über die Logik der Sache gestellt und Tatsachen ignoriert oder entstellt habe, um sie unter die Bestimmungen seiner Logik zu zwingen, ist ein gängiges Vorurteil, das nicht nur von Seiten der Marxschen Theorie immer wieder vorgebracht wird, sondern auch von ausgesprochenen Gegnern des Marxismus wie etwa Karl Popper geteilt wird. Popper greift dabei auf das gängige (wenngleich frei erfundene2) Bonmot zurück, Hegel habe, darauf angesprochen, dass Theoreme seiner Philosophie mit den Tatsachen nicht übereinstimmten, erwidert: »Um so schlimmer für die Tatsachen«. Hierin sieht Popper »das normative Moment der dogmatischen Setzung« ausgedrückt und damit ein zentrales Motiv seiner Philosophie.3 Was aber ist eigentlich »die Sache der Logik«? Ist Hegel – wie es zuerst Johann Eduard Erdmann 1853 behauptet hatte – von einem »Panlogismus« angetrieben, d. h. von dem Bestreben, die Realität (abgesehen von dem zufällig Existierenden) auf logische Katego-
1 MEGA 2 ,
Abt. 1, Bd. 2, 18. Vgl. Gerald Krieghofer, »Wenn die Tatsachen nicht mit der Theorie übereinstimmen – umso schlimmer für die Tatsachen.« Georg Wilhelm Friedrich Hegel (angeblich), https://falschzitate.blogspot.com/2020/08/wenn-die-tatsa chen-nicht-mit-der.html (Aufruf 9. 11. 2022). 3 Karl Popper, Frühe Schriften, Tübingen 2006, 169. 2
9
rien herunterzubrechen?4 Dies scheint Marx’ Auffassung zu sein, wenn er sagt, das Begreifen bestehe nicht, »wie Hegel meint, darin, die Bestimmungen des logischen Begriffes überall wieder zu erkennen, sondern die eigenthümliche Logik des eigenthümlichen Gegenstandes zu fassen«.5 Die »Sache der Logik« wäre dann – die Logik selbst; ihr Interesse ginge nur darauf, überall sich selbst, die logischen Bestimmungen, wiederzufinden – im Zweifel auf Kosten der Tatsachen. Nun scheint diese Auffassung von Hegel insofern nahegelegt geworden zu sein, als die Wissenschaft der Logik in der Tat selbstbezüglich ist; es geht um die Selbsterfassung des Begriffs, die sich in der absoluten Idee vollendet. Und diese ist dann wiederum »Trieb«, »durch sich selbst in Allem sich selbst zu finden und zu erkennen«. (GW 12, 238) Dennoch handelt es sich um ein fundamentales Missverständnis, wenn dies so verstanden wird, als opfere Hegel das Begreifen der Realität der Selbstaffirmation der Logik auf. Vielmehr hat Hegel in der Wissenschaft der Logik ausdrücklich begründet, weshalb die logischen Bestimmungen in der Realität nur gebrochen erscheinen und diese Realität daher auch nicht aus der Logik ableitbar oder unter sie subsumierbar ist. Hierfür sind vor allem zwei Gründe zu nennen. Zum einen entwickelt Hegel in der »Lehre vom Wesen« eine »Metaphysik absoluter Relationalität«, 6 die gegenüber der philosophischen Tradition auch eine neue Auffassung der Wirklichkeit begründet, in der die Zufälligkeit als notwendig bestimmt und die »reale Wirklichkeit« von der Wirklichkeit im emphatischen Sinne unterschieden wird, welche »der Begriff, das Reich der Subjectivität oder der Freyheit« sei (GW 11, 409). Dieses Reich des Begriffs ist ebenso von dem des bloßen Daseins oder der Existenz – dies sind seinslogische Kategorien – unterschieden, so dass sich insgesamt ein differenziertes Gefüge von nicht aufeinander reduzierbaren ontologischen Kategorien ergibt. Schon hieraus geht hervor, dass das Zufällige (im Unterschied zur Kategorie der Zufälligkeit) und 4 Hans-Martin Sass, Panlogismus, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 7, hg. v. Joachim Ritter und Karlfried Gründer, Darmstadt 1989, 49 f. 5 MEGA 2 , Abt. 1, Bd. 2 , 101. 6 Vgl. Christian Iber, Metaphysik absoluter Relationalität. Eine Studie zu den beiden ersten Kapiteln von Hegels Wesenslogik, Berlin und New York 1990.
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die bloße Existenz nicht einfach mit dem Begriff gleichgesetzt werden können. Das hat bei Hegel zweitens zur Konsequenz, dass der Begriff in der Realität (der Natur und des endlichen Geistes als subjektiver und objektiver Geist) nur in einer von der Wissenschaft der Logik unterschiedenen Grundkonstellation aufzufinden ist. In der Logik ist der Begriff selbstbezüglich, während er sich in der Realität äußerlich und daher vermittelt durch Anderes ist. Die Natur wird zum Schluss der Begriffslogik gegenüber der absoluten Idee geradezu als Äußerlichkeit bestimmt (GW 12, 253) und der Geist hat im weiteren Verlauf des Systems diese Äußerlichkeit geschichtlich hinwegzuarbeiten, um zur Selbstbezüglichkeit des Begriffs kommen zu können. Das bedeutet, dass die Selbstentwicklung des Begriffs, die sich in der Wissenschaft der Logik im Medium des reinen Denkens vollzieht, sich nicht bruchlos im Verhältnis eins zu eins auf die Realität übertragen und letztere dadurch begreifen lässt. Vielmehr wird in der Logik selbst begründet, dass das Verhältnis von Logik einerseits und Realphilosophie andererseits, von Begriff und Realität durch eine konstitutive Differenz geprägt ist. Das Sich-selbst-Finden und Sich-selbst-Erkennen der logischen Idee in allem hat daher nicht die Bedeutung, die Realität aus der Idee abzuleiten oder sie unter die Idee zu subsumieren, sondern meint nicht mehr und nicht weniger, als dass ein Begreifen der Rea lität – soweit sie dem Begriff zugänglich ist – nicht mit anderen Kategorien erfolgen kann als mit denen, welche in der Wissenschaft der Logik begründet und abgeleitet wurden. Der Einsatz und die Folge der logischen Kategorien ist dann jedoch dadurch bestimmt, wie sie in der Realität einander äußerlich angeordnet und aufeinander bezogen sind. Dies macht genau das aus, was Marx als eigentümliche Logik eines eigentümlichen Gegenstandes gegen Hegel reklamieren zu müssen meinte. Ohne ein Sich-Einlassen auf solche Eigentümlichkeiten und die Rekonstruktion der bestimmten Verhältnisse in der Realität könnte Hegel keine Realphilosophie betreiben. Tatsächlich zeigt sich in seiner Realphilosophie auch, dass er hier, um die Realität auf den Begriff zu bringen, spezifische Formen der Vermittlung aufzeigt, die aus seiner Logik nicht unmittelbar zu folgern sind. Das Sich-selbst-Finden und Sich-selbst-Erkennen der logischen Idee hat aber noch eine weitere Dimension, die in der erwähnten Vorrede | 11
Polemik Poppers auch anklingt. Da in der Wissenschaft der Logik selbst zwischen der Realität, in der sich der Begriff wiederfinden lässt, einerseits und der Realität, sofern sie ein Zufälliges und bloß Existierendes ist, andererseits unterschieden wird, ist die Beziehung des Begriffs auf die Realität zugleich auch immer deren Auseinanderlegen oder Unterscheiden in das, was begrifflicher Natur ist, und in das, was den Begriff nichts angeht. Mit anderen Worten: Es ist Scheiden im Sinne von κρίνειν, bezeichnet also die Grundform von Kritik und ist mithin Kritik der Realität. Hierbei geht es um mehr als darum, dass das Zufällige, bloß Existierende als das Nichtbegriffliche nicht theoretisierbar ist,7 sondern darum (und insoweit hat Popper recht), dass der Begriff eine normative Funktion auch in praktischer Absicht erfüllt. 8 Kritisiert wird diejenige Realität, die aufgrund der jeweiligen Bildungsstufe des Geistes weitergehend vom Begriff bestimmt sein könnte, aber dem Begriff nicht entspricht. Anders gesagt: Die Kritik zielt darauf, Verhältnisse zu identifizieren, bei denen die reale Möglichkeit besteht, sie vernünftig, d. h. im Sinne einer weitergehenden Realisierung entsprechend dem normativen Begriff zu gestalten. »Identifizieren« besagt, dass die philosophische Aufgabe für Hegel im Begreifen dessen besteht, was ist, während die praktische Veränderung nicht Sache und Aufgabe der Philosophie ist. In praktischer Absicht aber bedeutet dies, ungeachtet der beständigen Kritik Hegels am »Sollen«, sei es moralisch oder utopisch motiviert, dass im Begriff in praktischer Absicht ein Sollen begründet wird: »Das Vernünftige soll gelten« (GW 26,2, 764), während das, was »von seinem Begriffe verschieden ist«, keine Wirklichkeit hat und »ein Nichtiges«, d. h. in der Konsequenz: ein Nicht-Seinsollendes ist (GW 11, 22). In diesem Zusammenhang ist kurz auf eine bis heute vielfach anstößige Formulierung Hegels einzugehen, die immer wieder als Beweis für den unkritischen Geist seiner Philosophie angeführt wird. In der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts heißt es: »Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was 7 Vgl. Martin Eichler, Von der Vernunft zum Wert: Die Grundlagen der ökonomischen Theorie von Karl Marx, Bielefeld 2015, 27 f. 8 Vgl. Andreas Arndt, Begreifen als Kritik: Anmerkungen zu Hegel und Marx, in: Hegel-Studien 53/54, Hamburg 2020, 209–224.
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wirklich ist, das ist vernünftig.« (GW 14, 1, 14). Die Legende von Hegel als dem preußischen Staatsphilosophen, der unkritisch die Wirklichkeit der Reaktion für vernünftig erklärte, machte sich vor allem hieran fest. Die wohl größte Wirkung erhielt dieser Mythos durch ein zehn Jahre nach der gescheiterten Märzrevolution von 1848 publiziertes Buch eines enttäuschten Liberalen, der bald darauf zum Anhänger Bismarcks konvertierte. In seinem Werk Hegel und seine Zeit schrieb Rudolf Haym: »Der preußische Staat […] war eingetreten in die Periode der Restauration. […] Das Hegel’sche System wurde zur wissenschaftlichen Behausung des Geistes der preußischen Restauration.«9 Auch Wilhelm Liebknecht, einer der führenden Köpfe der deutschen Sozialdemokratie, meinte 1870 in diesem Sinne, Hegel sei »Entdecker und Verherrlicher der königlich preußischen Staatsidee«.10 Gegen das Missverständnis, mit seinem Diktum von der Vernünftigkeit des Wirklichen werde alles, was existiert, für vernünftig erklärt, hat Hegel selbst bereits 1830 in seiner Enzyklopädie Stellung genommen. Er habe, so heißt es dort, »in einer ausführlichen Logik auch die Wirklichkeit abgehandelt und sie nicht nur sogleich von dem Zufälligen, was doch auch Existenz hat, sondern näher von Daseyn, Existenz und andern Bestimmungen genau unterschieden« (GW 20, 45). Realität bezeichnet in der Seinslogik zunächst die Qualität als endliches Dasein, das mit der Negation behaftet ist (GW 21, 98) und aufgrund dieser ihm immanenten Negativität schließlich in das Unendliche übergeht. Wirklichkeit dagegen ist 9 Rudolf Haym, Hegel und seine Zeit, Berlin 1857, 359. – Zur Kritik der noch immer virulenten Restaurationsthese vgl. Wilhelm Raimund Beyer, Hegel-Bilder. Kritik der Hegel-Deutungen, Berlin 1967, 124–143; Hans-Christian Lucas, Philosophie und Wirklichkeit. Einige Bemerkungen wider die Legende von Hegel als »preußischem Staatsphilosophen«, in: Zeitschrift für Didaktik der Philosophie (1987), Heft 3, 154–161. 10 Liebknecht ließ dies in der Anmerkung zu einem Aufsatz von Friedrich Engels drucken, was sofort Engels’ scharfe Kritik hervorrief: »Dieses Vieh […] – dieser Ignorant hat die Unverschämtheit, einen Kerl wie Hegel mit dem Wort: ›Preuß‹ abfertigen zu wollen«. Karl Marx sekundierte: »Ich hatte ihm [Liebknecht] geschrieben, wenn er über Hegel nur den alten […] Dreck zu wiederholen wisse, so solle er doch lieber das Maul halten.« (Engels an Marx, 8. Mai 1870, MEW, Bd. 32, 501; Marx an Engels, 10. Mai 1870, ebd., 503).
Vorrede | 13
eine Kategorie der Wesenslogik; sie bezeichnet eine Modalität des Absoluten im Übergang zum Begriff. Im Unterschied zur bloß daseienden Realität oder Existenz ist die Wirklichkeit, wie es im § 142 der Enzyklopädie (1830) heißt, »die unmittelbar gewordene Einheit des Wesens und der Existenz, oder des Innern und des Aeußern.« (GW 20, 164) Anders gesagt: Wirklich ist eine Realität, wenn und insoweit sie dem Begriff entspricht. Dies kritisch festzustellen, ist eben die Aufgabe des Begriffs und nicht die kritiklose Hinnahme des Bestehenden. (2) Die Sache der Logik ist der Begriff als absolute Idee und damit zugleich mit der Bestimmung, sich in der Realität der Natur und des Geistes wiederzufinden. Die kritische Funktion des Begriffs ist deshalb auch der Sache der Logik selbst eingeschrieben und von ihr nicht zu trennen. Dieser Sache ist der erste Abschnitt des Buches gewidmet. – Im ersten Kapitel geht es darum, wie sich die absolute Idee und die Selbsterfassung des Begriffs überhaupt in der Wissenschaft der Logik zu unserem Denken verhalten. Da wir als endliche Subjekte die Träger dieses Selbstbewusstseins des Begriffs sind, kommt der absoluten Idee (bzw. dem Absoluten überhaupt) auch keine aparte Existenz zu. – Das zweite Kapitel thematisiert das in der Wissenschaft der Logik verfolgte Programm des reinen Denkens ausgehend vom Problem des Anfangs der Logik. Mit dem, wie Hegel sich ausdrückt, »Entschluss«, rein – abstrahiert von aller Intentionalität – denken zu wollen, wird ein unmittelbares, bestimmungsloses Sein statuiert, das aus Mangel an internen Unterscheidungen kein Entwicklungspotential zu haben scheint. Der Fortgang des reinen Denkens, so die These, wird dadurch ermöglicht, dass diese Unmittelbarkeit des Anfangs der Struktur nach mit einer anfangenden Reflexion zusammenfällt, eben jenem Entschluss, der als Willkürakt formal der äußerlichen Reflexion entspricht, welche willkürlich Bestimmungen an einem unmittelbar vorausgesetzten, bestimmungslosen Substrat setzt. Der Anfang der Logik bezeichnet daher die unreflektierte Voraussetzung der anfangenden Reflexion, die im Fortgang der Logik durch uns reflektiert wird und diesen Fortgang daher allererst ermöglicht. – Die Art und Weise dieses Fortgangs, die Hegel wiederholt als »dialektisch« bestimmt, ist Gegenstand des dritten Kapitels. Hegels Konzept der Dialektik 14 | Vorrede
stellt sich als eine Transformation der Kantischen transzendentalen Dialektik dar, deren Aufgabe ja auch bei Kant darin besteht, in der Beziehung auf ein Unbedingtes den Vernunftgebrauch in sich stimmig zu machen. Hegel fasst dieses Unbedingte in Anlehnung an Kant als Totalität der Denkbestimmungen, will aber, anders als Kant, diese Totalitätsperspektive für jede Denkbestimmung zur Geltung bringen, indem jede Bestimmtheit Negation aller anderen Bestimmtheiten ist. Damit wird das Problem des Widerspruchs nicht erst, wie bei Kant, für die transzendentaldialektischen Oppositionen virulent, sondern für Hegel sind alle Dinge der Widerspruch. – Mit dieser Wendung stellt sich die Frage nach dem Verhältnis des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen neu, auch im Blick auf die Realität. Das vierte Kapitel behandelt diese Frage im Blick auf Hegels Auseinandersetzung mit Kants Konzeption der Urteilskraft. Hegel sieht in dieser einen Schritt zur absoluten Reflexion, die jedoch logisch nicht unter der Form des Urteils, sondern unter der Form des Schlusses zu denken sei. Die Selbstvermittlung der Momente des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen in der logischen Idee als absoluter Methode kann jedoch auf die Realität nicht unmittelbar übertragen werden. Das Begreifen der Realität erfordert vielmehr eine besondere Anstrengung des Begriffs im Durchdringen bestimmter, logisch nicht ableitbarer Verhältnisse und Prozesse. – Das komplexe und schwierige Verhältnis der Wissenschaft der Logik zur Realphilosophie wird schließlich im fünften Kapitel noch einmal zusammenfassend und grundsätzlich aus Sicht der Logik zum Thema gemacht. Der zweite Abschnitt wechselt die Perspektive und betrachtet die Realität der Natur und des Geistes (subjektiver und objektiver Geist) unter dem Gesichtspunkt, wie Hegel ihre Spezifik und – ausdrücklich oder unausdrücklich – ihr Verhältnis zur Logik zu bestimmen versucht, denn Natur und Geist stellen für ihn das Dasein der Idee dar. – Das sechste Kapitel hat zunächst das Verhältnis des Geistes zur Natur zum Gegenstand. Natur, so die These, ist für Hegel kein Produkt der Idee und auch nicht tote Grundlage eines Bestimmtwerdens durch den Geist, sondern bleibende Voraussetzung und bleibendes Gegenüber des Geistes, der, aus der Natur herkommend, nur entsprechend den objektiven Bedingungen und Gesetzen der Natur seine Realität bilden und sich aus unmittelbaVorrede | 15
ren Abhängigkeiten befreien kann. Hegel thematisiert Natur daher unter der Perspektive des gesellschaftlichen Naturverhältnisses und der Angemessenheit der Natur zur Freiheit. – Hegels Philosophie des subjektiven Geistes, die im siebten Kapitel hinsichtlich des Gefühlsbegriffs erörtert wird, misst unter anderem die Natürlichkeit des Menschen bis hin in den Übergangsbereich Tier-Mensch aus. Das Gefühl gehört dem erwachenden, aus der Natürlichkeit heraustretenden Geist an und ist Ausgangspunkt und Moment der weiteren Entwicklung des theoretischen und praktischen Welt- und Selbstverhältnisses. Es steht somit nicht im Gegensatz zur Rationalität, für die es vielmehr bis in den absoluten Geist als Kunst und Religion hinein Bedeutung hat. – Zur Geschichte der Befreiung aus unmittelbaren natürlichen Abhängigkeiten gehört auch der »Kampf um Anerkennung«, der Gegenstand des achten Kapitels ist. Entgegen der Inanspruchnahme des Hegelschen Anerkennungskonzepts in modernen Sozialtheorien gehört der Kampf um Anerkennung für Hegel einem vorstaatlichen Zustand an, in dem der Geist als objektiver erst konstituiert wird. Im Zustand des Staates geht es vielmehr um den Zustand des Anerkanntseins, der sich in rechtlichen Verhältnissen manifestiert. – Gleichwohl unterliegt, wie im neunten Kapitel gezeigt wird, auch der Rechtszustand noch natürlichen Bedingungen, die in ihm keineswegs aufgehoben, sondern fortwährend so anwesend sind, dass – auch in modernen Gesellschaften – ein Rückfall in noch weitgehend naturbestimmte, barbarische Verhältnisse droht. Hegel macht dies am Fall der Transformation der Rache in Strafe deutlich: Im antiken Mythos werden die Erinnyen als Rachegöttinnen zwar durch das Recht abgelöst und in die Eumeniden (die Wohlmeinenden) verwandelt, jedoch, so Hegel, sitzen sie zusammen mit Zeus, der das Vernunftrecht repräsentiert, auf dem Thron und können, wenn das Recht und der rechtliche Grundkonsens des politischen Gemeinwesens verletzt werden, jederzeit als Rachegöttinnen wiederauferstehen. Die moderne Zivilisation, Produkt der Entwicklung des Geistes, erweist sich damit als ein dünnes Eis über dem Abgrund bleibender Naturbestimmtheit. Ein Aufhebungsverhältnis, in dem der höhere Zustand sich als stabil erweist, wie in der Wissenschaft der Logik, findet hier nicht statt. – Dies gilt auch für das »System der Bedürfnisse«, die Ökonomie in der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft, 16 | Vorrede
das im zehnten Kapitel näher betrachtet wird. Dieses System und mit ihm die bürgerliche Gesellschaft im Ganzen markiert eine bleibende Differenz; seine durchgängige Negativität unterliegt keiner Negation der Negation, sondern lässt sich nur einhegen und bändigen, weshalb es in seinen internen Widersprüchen, die Hegel benennt, gefangen bleibt. – Während die bürgerliche Gesellschaft für Hegel diejenige Sphäre ist, in der die Individuen das Recht ihrer Besonderheit ausleben können, stellt der Staat nach Hegel die sich selbst verwirklichende, konkrete Freiheit im Sinne einer gelingenden Vermittlung des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen dar. Den Sphären der Sittlichkeit – Familie, bürgerliche Gesellschaft und Staat – liegen jedoch das abstrakte Recht und die Moralität voraus, wobei, wie im elften Kapitel gezeigt wird, das abstrakte Recht gerade durch die Abstraktion individuelle Freiheit ermöglicht, indem es rechtlich nicht reglementierte Freiräume schafft. Der Staat als Vernunftstaat ist wesentlich Garant dieser Freiheit. – Nach Hegel erfüllt der Staat diese Aufgabe dadurch, dass er in sich Allgemeininteressen und individuelle Freiheiten zum Ausgleich bringt. Da es aber das höchste Recht des Subjekts ist, nur dem zuzustimmen, was es selbst als vernünftig erkennen kann, stellt sich die Frage, wie diese Zustimmung, auch institutionell, zu erreichen ist. Hiermit befasst sich das zwölfte Kapitel. Hegel setzt hier auf eine staatsbürgerliche Gesinnung (»Glauben« und »Zutrauen«), blendet aber Konfliktmöglichkeiten und die institutionelle Regelung von Konflikten weitgehend aus. Dass die in sich konkrete Freiheit des Staates, die noch immer der Sphäre des objektiven und damit endlichen Geistes angehört, nicht jene bruchlose Vermittlung des Allgemeinen, Besonderen und Einzelnen leisten kann, wie in der absoluten Idee, bleibt bei Hegel hier weitgehend abgeschattet. Der dritte Abschnitt schließlich widmet sich dem Verhältnis der Realität zum absoluten Geist. – Das dreizehnte Kapitel zeigt, dass der Übergang vom objektiven zum absoluten Geist kein einliniges Aufhebungsverhältnis bezeichnet, sondern der absolute Geist sich umgekehrt auch in der »Weltlichkeit«, dem objektiven Geist als Staat, verwirklicht, was Hegel vor allem im Blick auf die Religion als eine Gestalt des Freiheitsbewusstseins ausdrücklich macht. Das gewöhnlich den Junghegelianern zugeschriebene Konzept einer Verwirklichung bzw. Verweltlichung der Philosophie ist hier vorVorrede | 17
gebildet und wurde wohl vor allem deshalb ignoriert, weil die sich überschlagende Religionskritik nach Hegel den Zugang zu dessen Religionsphilosophie weitgehend verstellt hatte. – Eine Ausnahme unter den Junghegelianern ist Heinrich Heine, dessen Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland im vierzehnten Kapitel in eine Entsprechung zu Hegels Konzeption der Freiheits geschichte gebracht wird. – Die Rückkehr des absoluten Geistes in die Realität des objektiven Geistes, seine Verwirklichung und Verweltlichung, erfolgt bei Hegel unter der Prämisse der Vollendung der Geschichte, die er begrifflich auf den Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit festlegt. Dieser vollendet sich im philosophischen Freiheitsbegriff, wie er in der Wissenschaft der Logik in der Konzeption der absoluten Idee erreicht wird. Das fünfzehnte Kapitel behandelt grundsätzlich die Frage, was das Ende der Geschichte bedeutet und wie der Fortgang nach dem Ende der Kunst, Religion und Philosophie zu verstehen ist. Es wird gezeigt, dass das »Ende« für Hegel in Bezug auf diese Gestalten des absoluten Geistes im Sinne einer Vollendung als Entelechie zu verstehen ist, was in praktischer Absicht jedoch bedeutet, dass die Vernunft als absolute Idee fortschreitend die Schranken der Realität zu überwinden, d. h. den Begriff zu verwirklichen hat. – Das sechzehnte und letzte Kapitel schließlich fasst die Überlegungen der vorhergehenden Kapitel im Blick auf Hegels Systemkonzeption zusammen. Entgegen der gängigen, schon von Hegels Schülern verbreiteten Annahme, Hegel habe ein vollständig ausgearbeitetes und in sich geschlossenes System hinterlassen, wird nicht nur der vorläufige Charakter des weitgehend nur in »Grundrissen« bzw. »Grundlinien« skizzierten Systems betont, sondern auch geltend gemacht, dass die fortschreitende Überprüfung der Realität durch den Begriff für Hegel selbst keinen letztgültigen Abschluss finden kann. (3) Die in dem vorliegenden Band vereinigten Beiträge sind größtenteils innerhalb der letzten zehn Jahre entstanden. Sie unternehmen, entsprechend meiner Neubewertung des Verhältnisses von Hegel und Marx,11 eine Revision auch meiner früheren Positionen in der Auseinandersetzung mit Hegel, die dadurch bestimmt war, 11
Vgl. das »Nachwort zur zweiten Auflage«, in: Arndt, Karl Marx.
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dass sie weitgehend der Marxschen Hegel-Kritik folgte und versuchte, die »Logik der Sache« als Dialektik im Endlichen gegenüber der absoluten Idee auszuspielen.12 Die dort als »Inversion der Dialektik« bezeichnete Figur ist aus meiner heutigen Sicht nichts anderes als der Schritt von der Wissenschaft der Logik in die Real philosophie, der für Hegel selbst als ein Sich-Einlassen auf die Äußerlichkeit logischer Bestimmungen zu verstehen ist. Geblieben ist dagegen das auch in meinen früheren Arbeiten zu Hegel leitende Interesse daran, das Begreifen der Realität in den Mittelpunkt der Auseinandersetzung auch mit der Logik zu stellen. – Die Beiträge sind, soweit veröffentlicht, geringfügig – meist nur formal – bearbeitet worden; die Nachweise der Erstdrucke findet sich vor dem Literaturverzeichnis. Meine Auseinandersetzung mit Hegel hat sich seit mehreren Jahrzehnten in einer engen Zusammenarbeit und im kritischen Gespräch mit meinem Freund Walter Jaeschke entwickelt, der viel zu früh im Juli 2022 verstorben ist. Seine gewohnten Kommentare habe ich bei der Zusammenstellung und Bearbeitung der nachfolgenden Texte schmerzlich vermisst, auch wenn mich das Gespräch mit ihm in Gedanken weiterhin begleitet. Dem Andenken an W alter Jaeschke möchte ich dieses Buch widmen. Berlin, im Januar 2023
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Andreas Arndt
Vgl. Arndt, Dialektik und Reflexion, 220–230.341–358. Vorrede | 19
I. LO G IK
Wer denkt absolut? Die absolute Idee in Hegels Wissenschaft der Logik Wer denkt absolut? Die Frage spielt auf einen Aufsatz des Bamberger Hegel mit dem Titel »Wer denkt abstrakt?« (1807) an. Er beginnt: »Denken? Abstract? – Sauve qui peut! Rette sich, wer kann! – So höre ich schon einen vom Feinde […] erkaufften Verräther ausruffen, der diesen Aufsatz dafür ausschreÿt, daß hier von Metaphysik die Rede sein werde. Denn Metaphysik ist das Wort, wie Abstract und beynahe auch Denken ist das Wort, vor dem, jeder, mehr minder, wie vor einem mit der Pest behaffteten davon laüfft.« (GW 5, 381) Das gilt wohl noch mehr für die Rede vom Absoluten, die eher auf das hinzudeuten scheint, was an Hegel auf keinen Fall mehr affirmierbar ist. Indessen: Wer vom Absoluten nicht reden will, sollte von H egel schweigen. Das scheint nur selbstverständlich zu sein, denn schließlich lebt Hegels Philosophie geradezu von der Behauptung, dass die Vernunft fähig sei, das Absolute zu erkennen. Mehr noch. Die absolute Idee, von der hier die Rede sein soll, ist für Hegel »der einzige Gegenstand und Inhalt der Philosophie«; sie allein ist »Sein, unvergängliches Leben, sich wissende Wahrheit und ist alle Wahrheit.« (GW 12, 263) In der absoluten Idee erfasst sich der Begriff, der hier nach Hegel »Persönlichkeit hat«, als absolute Methode. Höher kann man nicht greifen, aber genau hier beginnen die Schwierigkeiten. Methode – Wahrheit – Leben, und das alles noch absolut bzw. unvergänglich. Das erinnert an den Dreiklang nach Johannes 14, 6, wo Christus von sich sagt, er sei der »Weg, die Wahrheit und das Leben«. Vielleicht meint Hegel das auch, denn schließlich ist Philosophie die Wahrheit der Religion und hat keinen anderen Gegenstand als diese. Oder, in den viel (und vielfach falsch) zitierten Worten der Wissenschaft der Logik: Das Reich des reinen Gedankens sei »die Wahrheit selbst, wie sie ohne Hülle an und für sich selbst ist; man kann sich deswegen ausdrücken, daß dieser Inhalt
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die Darstellung Gottes ist, wie er in seinem ewigen Wesen vor der Erschaffung der Natur und eines endlichen Geistes ist«. (GW 11, 21) Solche Äußerungen haben schon früh den Verdacht hervorgerufen, hier werde eine bodenlose Metaphysik betrieben, wobei die vermeintliche Bodenlosigkeit je nach Position darin bestehen konnte, den Glauben eliminiert oder aber die Vernunft theologisiert zu haben.1 Und nicht nur Marxisten wollten aufs Absolute verzichten, sondern auch etwa Dilthey wollte die Logik und Hegels Philosophie insgesamt lieber ohne das Absolute lesen: Der objektive Geist, so schrieb er 1910, solle nicht in einer allgemeinen Vernunft, sondern in der Totalität des Lebens gründen.2 Auch ein gewisser Wladimir Iljitsch Uljanow folgte 1914 bei seiner Lektüre der Logik einer vergleichbaren Maxime, deren Fragwürdigkeit ihm allerdings ausgerechnet bei dem Kapitel über die absolute Idee aufging. 3 Aber auch die Forschungsliteratur zu Hegel hat sich – mit Ausnahme der bahnbrechenden Arbeiten von Ludovicus De Vos 4 – der absoluten Idee seither nur am Rande gewidmet. 5 Besonders, 1 Vgl. Walter Jaeschke, Hegel-Handbuch, Stuttgart 2003, 530 ff. (»Der Streit um die Metaphysik«). 2 Wilhelm Dilthey, Der Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften. Einleitung von Manfred Riedel, Frankfurt / M 1981, 184. 3 Vgl. Andreas Arndt, Lenin liest Hegel, in: Hegel in der neueren Philo sophie, hg. v. Thomas Wyrwich, Hamburg 2011, 275–290. 4 Ludovicus De Vos, Hegels Wissenschaft der Logik: Die absolute Idee. Einleitung und Kommentar, Bonn 1983; ders., Die Wahrheit der Idee, in: Der Begriff als die Wahrheit. Zum Anspruch der Hegelschen »Subjektiven Logik«, hg. v. Anton Friedrich Koch, Alexander Oberauer und Konrad Utz, Paderborn u. a. 2003, 153–169; ders., Idee, in: Hegel-Lexikon, hg. v. Paul Cobben, Paul Cruysberghs, Peter Jonkers, Lu De Vos, Darmstadt 2006, 264–269. 5 Ohne Anspruch auf Vollständigkeit seien genannt: Walter Jaeschke, Absolute Idee – absolute Subjektivität, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 35 (1981), 358–416; Pirmin Stekeler-Weithofer, Hegels Analytische Philosophie. Die Wissenschaft der Logik als kritische Theorie der Bedeutung, Paderborn u. a. 1992, 404–418; Angelica Nuzzo, Absolute Methode und Erkenntnis der Wirklichkeit in der Philosophie Hegels, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 44 (1996), 475–490; Gudrun von Düffel, Die Methode Hegels als Darstellungsform der christlichen Idee Gottes, Würzburg 2000, Teil 2; Rainer Schäfer, Hegels Ideenlehre und die dialektische Methode, in: G. W. F. Hegel. Wissenschaft der Logik, hg. v. Anton Friedrich Koch und Friedrike Schick,
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was die absolute Idee nicht nur für Hegels Wissenschaft der Logik, sondern vor allem auch im Blick auf die Realphilosophie bedeutet, ist überhaupt noch nicht zureichend geklärt. Ich werde diesem Mangel hier kaum abhelfen können und mich daher auf Annäherungen an die Problematik beschränken. Mein Ziel ist es, der Konzeption der absoluten Idee einen hoffentlich einigermaßen plausiblen Sinn abzugewinnen, ohne sie aus Hegels systematischen Voraussetzungen herauszulösen und ohne ihren Anspruch zu reduzieren. Ich werde das in drei Schritten tun. Zunächst gehe ich auf grundlegende systematische Voraussetzungen der Hegelschen Rede vom Absoluten ein, nämlich die »Aufhebung des Gegensatzes des Bewusstseins«. Ich werde dies im Vergleich der Wissenschaft der Logik mit der Phänomenologie des Geistes erörtern (1). Sodann komme ich näher auf Hegels Bestimmung der absoluten Idee als absolute Methode zu sprechen (2) und schließlich – drittens – auf ihren Status im Blick auf die Realphilosophie (3). Leitend ist dabei die Frage, die den Titel meiner Ausführungen abgibt: Wer denkt absolut? Wer oder was denkt, wenn das Absolute nicht nur gedacht wird, sondern – nach Hegels Auskunft – sich selbst als Begriff durch den Begriff denkend erfasst? – In dieser Selbstbezüglichkeit des Begriffs liegt die entscheidende Voraussetzung der Rede vom Absoluten. Absolut ist etwas, sofern es nicht von Anderem abhängig ist. Hegel thematisiert diese Voraussetzung als Überwindung des Gegensatzes des Bewusstseins. Diesem Theo rem wende ich mich jetzt zunächst zu. (1) Die absolute Idee als sich wissende Wahrheit ist der Begriff der reinen Wissenschaft, wie Hegel ihn zuerst in der Phänomenologie des Geistes (1807) aufgestellt hatte. In der Einleitung zur Wissenschaft der Logik kommt Hegel fünf Jahre später hierauf zurück. Berlin 2002, 243–264; Konrad Utz, Absolute Methode? in: Der Begriff als die Wahrheit. Zum Anspruch der Hegelschen »Subjektiven Logik«, hg. v. Anton Friedrich Koch, Alexander Oberauer und Konrad Utz, Paderborn u. a. 2003, 189–207; Miriam Wildenauer, Epistemologie freien Denkens. Die logische Idee in Hegels Philosophie des endlichen Geistes, Hamburg 2004; Hans Friedrich Fulda, Hegels Logik der Idee und ihre epistemologische Bedeutung, in: Hegels Erbe, hg. v. Christoph Halbig, Michael Quante, Ludwig Siep, Frankfurt / M 2004, 78–137. Wer denkt absolut? | 25
Die reine Wissenschaft, so führt er aus, setze »die Befreiung von dem Gegensatz des Bewußtseins voraus.« (GW 11, 21) Was dieses bedeutet, erläutert Hegel unmittelbar anschließend in drei Sätzen, die er durch die Konjunktion »oder« verknüpft. Es handelt sich daher grundsätzlich um gleichwertige Formulierungen. Die erste (a) lautet: »Sie [die reine Wissenschaft; A.] enthält den Gedanken, insofern er ebensosehr die Sache an sich selbst ist«. Der zweite Satz (b) ist die Umkehrung des ersten, er ergibt sich aus der Behauptung, dass der Gedanke »ebensosehr«, also in jeder Hinsicht, die Sache an sich selbst sei. Die reine Wissenschaft enthält demzufolge »die Sache an sich selbst, insofern sie ebensosehr der reine Gedanke ist«. Der dritte Satz (c) ist vertrackter, denn er zieht aus (a) und (b) gleich mehrere Konsequenzen, die Hegel jetzt mit der Konjunktion »und« verbindet. Er lautet: »Oder der Begriff der Wissenschaft ist, daß die Wahrheit das reine Selbstbewußtsein ist und die Gestalt des Selbsts habe, daß das an sich Seiende der Begriff und der Begriff das an sich Seiende ist.« (Ebd.) Wie ist das zu verstehen? Die erste Konsequenz ergibt sich offenbar problemlos aus (a) und (b). Wenn Gedanke und Gegenstand, also die »Sache an sich selbst«, schlechthin nicht unterschieden sind, sondern jedes Relat »ebensosehr« das andere ist, handelt es sich um ein reines Selbstverhältnis, dass – da es im Gedanken ist – als reines Selbstbewusstsein angesprochen werden kann. Und ebenso kann es als Wahrheit angesprochen werden, da es gemäß der traditionellen, von Hegel zugrunde gelegten Auffassung von Wahrheit, die Übereinstimmung des Denkens und des Gedachten impliziert. 6 In seinen Vorlesungen ist Hegel, wenn man den Zusätzen seiner Schüler zum Paragraphen 24 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (31830) trauen darf, noch einen Schritt weiter gegangen: »Im philosophischen Sinn«, so ist dort zu lesen, »heißt Wahrheit […] Übereinstimmung eines Inhalts mit sich selbst« (HW 8, 86; Zusatz 2). Nun geht es hier nicht um beliebige Inhalte, die das Kri6 Zur Wahrheitsauffassung Hegels vgl. Michael Theunissen, Begriff und Realität. Hegels Aufhebung des metaphysischen Wahrheitsbegriffs, in: Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, hg. v. Rolf-Peter Horstmann. Frankfurt / M 1978, 324–359; Herbert Schnädelbach, Hegels Lehre von der Wahrheit. Antrittsvorlesung 26. Mai 1993, Berlin 1993.
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terium der Übereinstimmung mit sich erfüllen. Es geht vielmehr um die Stimmigkeit des Inhalts in sich in dem Sinne, wie wir – dies sind Hegels Beispiele – von einem »wahren Freund« oder einem »wahren Kunstwerk« sprechen. Wir meinen damit, dass der Inhalt seinem Begriff gemäß ist. Von hier aus ergeben sich dann die weiteren Konsequenzen, nämlich dass das Selbst des Selbstbewusstseins die Gestalt habe, dass das an sich Seiende der Begriff und der Begriff das an sich Seiende sei. Der reine Gedanke als Idee ist der Begriff, der sich vollständig realisiert und selbst erfasst hat. Mit dem an sich Seienden spielt Hegel in diesem Kontext ersichtlich auf die Platonische Idee als ontos on an.7 Die betrachtete Ausführung Hegels dazu, was die reine Wissenschaft sei, die sich vom Gegensatz des Bewusstseins befreit habe, scheint mit ihren drei Sätzen, deren letzter die Konsequenzen aus den ersteren zieht, die Form eines Schlusses zu haben. Tatsächlich handelt es sich jedoch im Blick auf die Hegelsche Schlusslehre 8 vielmehr um die Aufhebung des Schließens bzw. von dessen Formalismus. Dieser Formalismus besteht darin, dass der Begriff als das Vermittelnde – der medius terminus – von den Extremen, die er vermittelt, verschieden ist. Hier ist die Identität des Gegenstandes und des Begriffs noch nicht erreicht. In der »Vollendung des Schlusses« dagegen ist, Hegel zufolge, »der Unterschied des Vermittelnden und Vermittelten weggefallen. Das, was vermittelt ist, ist selbst wesentliches Moment seines Vermittelnden, und jedes Moment ist als die Totalität der Vermittelten.« (GW 12, 125) Diese Einheit ist nach Hegel im disjunktiven Schluss »gesetzt, der aus diesem Grunde ebensosehr kein Schluß mehr ist«, wie er schreibt (GW 12, 124). Anders gesagt: Das disjunktive »oder« wird in der Vollendung des Schlusses, die zugleich dessen Aufhebung ist, zu einem konjunktiven »oder«, bei dem die Sätze einander vertreten 7 Vgl. GW 11, 22; weiter nennt Hegel ebd. 21 Anaxagoras’ Nous-Begriff als Bezugspunkt. Es versteht sich, dass insgesamt das reine Denken auf Aristoteles’ »noesis noeseos noesis« (Met. 1074 b 34) verweist; in diesem Sinne zitiert Hegel zum Ende der Enzyklopädie (1830) Met. 1072 b, 18–30. 8 Vgl. Wolfgang Krohn, Die formale Logik in Hegels »Wissenschaft der Logik«. Untersuchungen zur Schlußlehre, München 1972; Hegels Lehre vom Begriff, Urteil und Schluss, hg. v. Andreas Arndt, Christian Iber und Günter Kruck, Berlin 2006.
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können, weil sie in sich die ganze Totalität haben: Das Ganze ist das Wahre. Hegels Konzeption der absoluten Idee hängt, wie erwähnt, ganz und gar daran, dass die Wissenschaft den Gegensatz des Bewusstseins hinter sich gelassen hat, wie es bereits in der Phänomenologie des Geistes entwickelt wurde.9 Tatsächlich stellt das Kapitel über das absolute Wissen dort die drei eingangs besprochenen Sätze in einer modifizierten Form dar.10 Für den ersten (a) geht Hegel auf die phänomenologische Gestalt der beobachtenden Vernunft zurück, die sich in dem Gegenstand selbst wiederfindet. Sie gipfelt bekanntlich in der verdinglichenden Aussage, dass das Sein des Geistes ein Knochen sei (GW 9, 190); im Schlusskapitel der Phänomenologie heißt es dann, »daß das Sein des Ich ein Ding ist«. (GW 9, 423) Satz (b) ist auf den ersten Blick wiederum die Umkehrung von (a): »Das Ding ist Ich« (ebd.). Beide, (a) und (b), sind nach Hegel »unendliche Urteile«. Unendliche Urteile haben bereits in dem Jenaer Logik-Manuskript von 1804/05 die Eigenart, kein eigentliches Urteil mehr zu sein, da Subjekt und Prädikat aufgehoben werden (vgl. GW 7, 88 f.; GW 12, 78 ff.); sie verweisen damit auf die negative Einheit beider in einem Dritten, das hier – im Urteil – zunächst als Kopula (»ist«) erscheint. Schon aus der Urteilsform, die für Hegel ja grundsätzlich defizitär und daher der Vernunft unangemessen ist, ist ersichtlich, dass (a) und (b), die beide dem theoretischen Erkennen angehören, den Gegensatz des Bewusstseins noch nicht überwunden haben. Hierfür müsse, so Hegel, das Ding »auch als Wesen oder Inneres, als das Selbst gewußt werden«, welches erst im moralischen Selbstbewusstsein, also auf dem Gebiet der praktischen Erkenntnis der Fall sei (GW 9, 424). Hier habe der »seiner selbst gewisse Geist […] zum Elemente des Daseins nichts anderes, als dies Wissen von sich« (ebd.); und dieses Wissen hat dann die Form des »Ich = Ich« (GW 9, 425). 9 Vgl. hierzu die detaillierte Rekonstruktion von Maria Daskalaki, Vernunft als Bewusstsein der absoluten Substanz. Zur Darstellung des Vernunftbegriffs in Hegels »Phänomenologie des Geistes«, Berlin 2012. 10 Vgl. Walter Jaeschke, Das absolute Wissen, in: Phänomenologie des Geistes. Erster Teil, hg. v. Andreas Arndt, Karol Bal, Henning Ottmann in Verb. mit Davor Rodin, Berlin 2001 (Hegel-Jahrbuch 2001), 286–295; zum Folgenden vgl. 288 ff.
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Grundsätzlich nicht anders ist der Gang in dem Kapitel über die Idee in der Wissenschaft der Logik, wo die »Idee des Erkennens« von der »Idee des Wahren« – dem theoretischen Erkennen – zur »Idee des Guten« – dem praktischen Erkennen – fortschreitet und beides in der absoluten Idee zur Einheit kommt: »Die absolute Idee […] ist die Identität der theoretischen und der praktischen« (GW 12, 236). In der Phänomenologie ist das absolute Wissen jedoch die Konsequenz einer geschichtlichen und nicht einer rein logischen Entwicklung. Seine Voraussetzung ist die »ungeheure Arbeit der Weltgeschichte«, welche der Weltgeist unternommen habe, um »das Bewußtsein über sich« zu erreichen (GW 9, 25 f.). Hegel unterscheidet hierbei zwischen dem besonderen Individuum, dem unvollständigen Geist, und dem allgemeinen Individuum, dem Weltgeist. Worauf sich das besondere Individuum in seinem Wissenwollen richtet, ist das »bereits erworbene Eigentum« des allgemeinen Geistes, welches dem besonderen Individuum als äußeres erscheint, als seine »Substanz« oder »seine unorganische Natur«, die er zu »erwerben« und »in Besitz zu nehmen«, kurz: sich anzueignen habe (ebd., 25). Diese Bildung des Individuums sei aber, so betont Hegel, »ebensosehr nichts anderes, als daß der allgemeine Geist oder die Substanz sich ihr Selbstbewußtsein gibt, oder ihr Werden und Reflexion in sich«. (Ebd.) Zugespitzt formuliert: Der allgemeine Geist kommt in der erkennenden Tätigkeit der besonderen Individuen zum Selbstbewusstsein, und nur dort. Zugleich aber ist er mehr als das besondere Individuum, nämlich dessen geistige Substanz. Was aber heißt es dann, dass diese Substanz Subjekt sei, d. h. Selbstbewusstsein und Person? Das Verhältnis, um das es hier geht und von dessen Klärung offenbar das Verständnis der Rede vom Absoluten entscheidend abhängt, hat Hegel in der Logik seines zweiten Jenaer Systementwurfs 1804/05 deutlich bezeichnet. Er greift hier den bereits früher gemachten Unterschied zwischen unserer subjektiven Reflexion und der demgegenüber objektiven, immanenten Reflexion auf.11 Beide weisen die Struktur der Selbstbezüglichkeit oder Walter Jaeschke, Äußerliche Reflexion und immanente Reflexion. Eine Skizze der systematischen Geschichte des Reflexionsbegriffs in Hegels Logik-Entwürfen, in: Hegel-Studien 13 (1978), 85–117. 11 Vgl.
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der Rückkehr in sich auf. Erst der Logik-Entwurf 1804/05 stellt dann aber die Aufgabe, beide auf der Ebene der Allgemeinheit als des Unendlichen zu vermitteln: »unsere Reflexion wird die Reflexion dieses Verhältnisses selbst werden« (GW 7, 76). Dieser Anspruch soll im letzten Abschnitt der Logik (»Proportion«) eingelöst werden, wenn es heißt, das Erkennen als das Allgemeine sei »das an sich selbstseyende, das Absolute, indem es das in sich geschlossene, die absolute Reflexion ist, und indem es als diese Reflexion selbst die Allgemeinheit der in dieser gesetzten Gegensätze ist«. (Ebd., 124) Gelöst ist das Problem damit freilich noch nicht, und wir werden weiter zu fragen haben, wie eine absolute Reflexion als Selbstreflexion des Absoluten im Verhältnis zu unserer Reflexion zu verstehen sei. (2) Das absolute Wissen wie auch die absolute Idee bezeichnen nicht ein gesondertes Wissen gegenüber den sonstigen Gestalten des Bewusstseins bzw. den logischen Formen. Wie das absolute Wissen im Sich-Erinnern des Werdens zu sich die Gestalten des Bewusstseins aufbewahrt und seine Unendlichkeit hat, so die absolute Idee in der Methode, in welcher der Gang des reinen Denkens hinsichtlich der diesen Gang von Anfang an strukturierenden Prinzipien zusammengefasst ist. Die absolute Idee hat, Hegel zufolge, nicht die Bestimmtheit eines Inhalts, sondern einer allgemeinen Form, sie ist Formbestimmtheit: »Was also hier noch zu betrachten kommt, ist somit nicht ein Inhalt als solcher, sondern das Allgemeine seiner Form – das ist, die Methode.« (GW 12, 237) Die Methode in diesem Sinne ist Selbstexplikation des Verfahrens der Wissenschaft der Logik, und zwar hinsichtlich seiner in der entwickelten »Sache« der Logik selbst begründeten Notwendigkeit. Andernfalls wäre die absolute Idee als absolute Methode nicht allgemein, sondern die Form eines ihr äußerlichen und letztlich zufälligen Inhalts – entweder der Darstellung durch den Verfasser oder der Aneignung durch den Leser der Logik –, d. h.: sie wäre nicht absolut und die Befreiung vom Gegensatz des Bewusstseins wäre hier, an der Spitze der Wissenschaft der Logik, gescheitert. In diesem Sinne kann dann wiederum von einem Inhalt der Methode gesprochen werden, der freilich, Hegel, zufolge, mit der Form zusammenfällt. Hegels bekannte Formel hierfür lautet: »die Methode 30 | Logik
ist das Bewußtsein über die Form der inneren Selbstbewegung ihres Inhalts«. (GW 21, 37) Sie ist, wie Hegel präzisiert, »von ihrem Gegenstande und Inhalte nichts Unterschiednes«, sondern es sei »die Dialektik, die er [der Inhalt] an ihm selbst hat, welche ihn fortbewegt«; der »Gang dieser Methode« sei »der Gang der Sache selbst« (GW 21, 38). Dieses Methodenverständnis bedeutet einen Bruch mit der geläufigen Auffassung von »Methode« als einem regelgeleiteten Verfahren, das darauf zielt, zu Wahrheiten zu gelangen. Eine solche Auffassung kritisiert Hegel vor allem im Blick auf Kant, dem er eine instrumentelle Auffassung der Erkenntnis bescheinigt, die immer noch im Gegensatz des Bewusstseins befangen sei.12 Die absolute Methode, die er auch als dialektische charakterisiert, vermittelt dagegen nicht Subjekt und Objekt, sondern ist das Wissen ihrer Identität als Anundfürsichsein des Begriffs und damit, wie bereits erwähnt, die Wahrheit selbst. Hier bezieht sich der Begriff vermittels des Begriffs auf den Begriff und begreift sich darin selbst. In Hegels Worten: »Im wahrhaften Erkennen […] ist die Methode […] das An-und-für-sich-Bestimmtsein des Begriffs, der die Mitte nur darum ist, weil er ebensosehr die Bedeutung des Objektiven hat, das im Schlußsatz […] in seiner Identität mit dem subjektiven Begriff gesetzt ist.« (GW 12, 239) Anders gesagt: Für Hegel ist die Methode als Mitte eines Schlusses identisch mit den Extremen, die sie vermittelt, so dass sich die Vermittlung (der Schluss) aufhebt; diese Form der Selbstbezüglichkeit, ist das, was Hegel als vermittelte Unmittelbarkeit bezeichnet. Als vermittelte ist sie aber mehr als nur eine leere Identität, und dies ist die Bedingung dafür, dass sich die »Methode selbst«, wie Hegel sagt, »zu einem System« erweitert (GW 12, 249). Hierbei stimmt Hegel, ungeachtet seiner sonstigen Kritik am Kantischen Verständnis der Methode, mit ihm darin überein, dass, wie es bei Kant heißt, erst durch die Methode die Wissenschaft als »ein Ganzes der Erkenntnis als System und nicht bloss als Aggregat« eingerichtet sei.13 So ist die transzenden12 Vgl. Andreas Arndt, Methoden-Reflexionen, in: Mit und gegen Hegel, hg. von Andreas Knahl, Jan Müller und Michael Städtler, Lüneburg 2000, 236–247. 13 Immanuel Kant, Logik, in: Akademie-Textausgabe, Berlin 1968, Bd. 9, § 95.
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tale Methodenlehre, Kant zufolge, »die Bestimmung der formalen Bedingungen eines vollständigen Systems der reinen Vernunft«.14 Es besteht meines Erachtens kein Zweifel, dass für Hegel letztlich die absolute Idee das System der reinen Vernunft realisiert. Wenn aber Methode und Inhalt für Hegel zusammenfallen und die Methode selbst sich zum System erweitert, dann stellt sich die Frage danach, was denn nun das Spezifische der Methode ist, das sie überhaupt zur Methode macht. Hegel geht auf diese Frage gleich zum Beginn seiner Darlegungen ein. Zunächst hält er fest, die Methode sei »nur die Bewegung des Begriffs selbst«, die zwar schon erkannt sei, aber »nunmehr mit der Bedeutung, daß der Begriff alles und seine Bewegung die allgemeine absolute Tätigkeit« sei (GW 12, 238). Dies bedeutet eine Verschiebung der Perspektive gegenüber dem Gang der Logik selbst, denn es geht jetzt nicht mehr darum, den Prozess zu verfolgen, in dem der Begriff überhaupt erst als Begriff wird – im Gang von der Seinslogik über die Wesenslogik hin zur Begriffslogik –, sondern darum, diesen Prozess retrospektiv als die Tätigkeit des sich auf sich beziehenden Begriffs zu betrachten. Die Methode fällt demnach nicht einfach mit dem Begriff als solchem zusammen. Sie ist vielmehr das Wissen des Begriffs von sich in seiner Tätigkeit als Begriff, genauer gesagt: in seiner Tätigkeit, sich als Begriff selbst zu erfassen. An dieser Stelle rekurriert Hegel auf »uns«, also diejenigen besonderen Individuen, welche den Gang des reinen Denkens mitund nachvollziehen. Es geht um dasselbe Problem wie in der vorhin erörterten Passage aus der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes. Genau genommen ist es die Wiederkehr einer der Wissenschaft der Logik zugrundeliegenden Konstellation. Der Abstoß zum reinen Denken erforderte nämlich von uns einen »Entschluß, den man auch für Willkür ansehen kann, nämlich daß man das Denken als solches betrachten wolle« (GW 21, 56). Hier, am Ende der Logik, treten wir, die wir diesem Entschluss gefolgt sind, wieder auf den Plan, und zwar deshalb, weil nun gegenüber dem, was aus unserem Entschluss folgte, eine neue Perspektive einzunehmen ist. Wir müssen uns entschließen, das Ergebnis des reinen Denkens, den Begriff, auf die Entwicklung der reinen Gedankenbestimmun14
KrV B, 735 f.
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gen selbst anzuwenden. Eben dies macht den Begriff zur Methode, zum Instrument eines Wissens vom Begriff. In Hegels Worten: »Wie der Begriff für sich betrachtet wurde, erschien er in seiner Unmittelbarkeit; die Reflexion oder der ihn betrachtende Begriff fiel in unser Wissen.« (GW 12, 238) Der Gestus dieser bisherigen Betrachtung war nach Hegel das reine Zusehen, d. h.: wir haben von uns, als den Reflektierenden, gerade abgesehen und unsere Subjektivität und unsere Einfälle und Meinungen aus dem Spiel gelassen, um uns der Sache, d. h. dem Begriff, zu überlassen und ihn in seiner Notwendigkeit rein aufzufassen. Von uns aus gesehen handelte es sich um die Anstrengung eines objektiven Denkens, als dessen Ergebnis uns der Begriff als eine von uns unterschiedene Struktur von Subjektivität zum Gegenstand wird. Dies entspricht der Zweideutigkeit des Terminus ›Subjektivität‹ für Hegel, über die er ausdrücklich Rechenschaft gibt: »Der Begriff ist das in sich gegangene allgemeine Wesen einer Sache, ihre negative Einheit mit sich selbst; diese macht ihre Subjektivität aus. Aber eine Sache ist auch wesentlich zufällig und hat eine äußerliche Beschaffenheit; diese heißt ebensosehr deren bloße Subjektivität, jener Objektivität gegenüber.« (GW 12, 87)15 In der ersten Bedeutung meint Subjektivität die Selbstbezüglichkeit des Begriffs als Wesen der Sache, in der zweiten dagegen die bloße Äußerlichkeit. Die erste, nach Hegel gleichsam objektive Subjektivität, ist das Ergebnis des Absehens von der zweiten Subjektivität. Das aber hat Konsequenzen für den Status unserer Reflexion, die den Begriff betrachtet. Sie ist nicht subjektivistisch misszuverstehen, d. h.: sie ist keine äußerliche Reflexion, die über eine Sache räsoniert. Sie ist vielmehr auf die Sache selbst gerichtet. Dies ist gemeint, wenn Hegel uns das reine Zusehen zuschreibt: eine Hingabe an die Sache, die von allen mitgebrachten Einfällen und Vorurteilen absieht. Dabei sieht sie jedoch nicht nur von der Subjektivität im zweiten von Hegel genannten Sinne der Äußerlichkeit ab. Sie sieht 15 Vgl. Andreas Arndt, Die Subjektivität des Begriffs, in: Hegels Lehre vom Begriff, Urteil und Schluss, hg. von Andreas Arndt, Christian Iber und Günter Kruck, Berlin 2006, 11–23; Klaus Düsing, Das Problem der Subjektivität in Hegels Logik. Systematische und entwicklungsgeschichtliche Untersuchungen zum Prinzip des Idealismus und zur Dialektik, Bonn 1976.
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auch ab von der Subjektivität, die den Begriff betrachtet. Dass das Wissen um den Begriff unser Wissen ist, ist im bisherigen Gang der Wissenschaft der Logik noch gar nicht ausdrücklich reflektiert worden. Das Verhältnis unserer Reflexion auf den Begriff zu dem betrachteten Begriff selbst ist ungeklärt, und solange dies so ist, ist der Gegensatz des Bewusstseins nicht wirklich aufgehoben. Damit könnte unsere Reflexion nicht die Reflexion des Begriffs selbst werden. Aber auch die Reflexion des Begriffs in sich, wenn er sich denn ohne uns denken könnte, hätte noch unsere Reflexion außer sich und in diesem Sinne einen Gegensatz des Bewusstseins. Entscheidend ist nun, dass, sofern sich in dem Begriff das Allgemeine des Denkens überhaupt zusammenfasst, die Betrachtung des Begriffs durch den Begriff selbst erfolgt, indem wir den Begriff mit begrifflichen Mitteln bestimmen. Unser Wissen, in dem der Begriff betrachtet wird, fällt demnach mit der Methode zusammen: »Die Methode ist dieses Wissen selbst, für das er [der Begriff; A.] nicht nur als Gegenstand, sondern als dessen eigenes, subjektives Tun ist, als das Instrument und Mittel der erkennenden Tätigkeit, von ihr unterschieden, aber als deren eigene Wesenheit.« (GW 12, 238) Erst mit der Wendung auf unser Wissen des Begriffs, d. h. in einer Reflexion unserer begrifflichen Reflexion des Begriffs, tritt die Methode in den Blick. Absolut ist diese Methode in dem Sinne, dass sich hierin der Begriff auf sich selbst bezieht und in dieser Selbstbeziehung nicht von einem Anderen bedingt ist, sofern nämlich der Begriff zwar von unserer erkennenden Tätigkeit unterschieden, diese aber selbst begrifflicher Natur ist. Was dies bedeutet, ist in der Hegel-Forschung nicht abschließend geklärt. Hans Friedrich Fulda, der diesem Problem mit großer Intensität nachgegangen ist, spricht davon, »daß unser Denken« – gemeint ist hier ausdrücklich »etwas einseitig Subjektives« – »qua Verfahren sich identifiziert mit der Methode, die im Begriff der absoluten Idee gedacht ist«.16 Die Identifikation unseres Denkens mit der absoluten Methode sei zugleich eine Erhebung der endlichen Subjektivität zur absoluten Idee. Es verstehe sich dann – auch als spekulatives Denken – in Differenz zur absoluten Idee, nämlich als 16
122.
Hans Friedrich Fulda, Georg Wilhelm Friedrich Hegel, München 2003,
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»Darstellung« der »Form der sich selbst denkenden Idee«; hier aber tue sich ein »Abgrund« auf, der »zwischen der als absolute Idee gedachten sich bestimmenden Vernunft selbst und dem Bestimmungsprozeß unseres spekulativen Denkens klafft«.17 Tatsächlich, so scheint mir, können wir die Identifikation unseres Denkens mit der Methode nur deshalb vollziehen, weil wir schon beim Eintritt in die Wissenschaft der Logik von der bloßen Subjektivität abgesehen haben. Unter dieser Voraussetzung identifizieren wir dann unser reines Denken (also das Denken des Denkens selbst) nicht mit der Methode, sondern wir identifizieren es als Methode, indem wir einen Perspektivenwechsel vollziehen und es als Begreifen des Begriffs reflektieren. Es gibt hier kein anderes Denken, in das die Methode fallen und zu dem wir hinzutreten könnten. Die Methode »ist dieses Wissen selbst«, nämlich »unser Wissen«, wie Hegel eindeutig sagt (GW 121, 238). Der Begriff begreift sich nur in unserem Denken. Gleichwohl bleibt eine Differenz zwischen unserem Denken und der absoluten Idee, wobei ich jedoch nicht erkennen kann, dass es sich um einen Abgrund handelt. Sie besteht, kurz gesagt, darin, dass der subjektive Vollzug unseres Denkens, wenn es denn ein Wissen des Begriffs ist, einer Logik folgt, die nicht von uns und dem jeweiligen Vollzug abhängt. Es ist diejenige Logik, die Kant als System der reinen Vernunft ins Auge gefasst hatte. Sie besteht in einer systematischen, d. h. notwendigen Folge von reinen Denkbestimmungen, die insofern einen Denkzusammenhang bilden, der jedem Vollzug des Denkens voraus und zugrunde liegt. Anders gesagt: Wenn wir etwas denkend bestimmen, unterscheiden und beziehen wir Momente dessen, was wir bestimmen, aufgrund von Denkbestimmungen, die allgemeiner Natur sind und in notwendigen Beziehungen zueinander stehen. Insofern handelt es sich um eine unser subjektives Denken übergreifende, uns gegenüber apriorische Struktur, die wir in jedem Denken implizit in Anspruch nehmen, auch dann, wenn wir uns ihrer nicht oder nicht vollständig bewusst sind. Wir konstruieren diese Struktur oder diesen Zusammenhang der Denkbestimmungen – der Kategorien – nicht, sondern dieser Zusammenhang hat eine von uns 17
Ebd., 126. Wer denkt absolut? | 35
unabhängige Notwendigkeit, die wir in unserem Begreifen nur explizit machen. Dies scheint mir der eigentliche Grund dafür zu sein, dass Hegel unsere Reflexion als Reflexion dieses Verhältnisses (der Kategorien) selbst auffassen kann – im doppelten Sinne des genitivus objectivus und des genitivus subjectivus. Mehr noch: Es handelt sich um die Struktur der Vernunft, die auch für die Strukturierung der Natur und des Geistes bestimmend und ihnen insofern immanent ist. Aber: Wie objektiv der allgemeine und notwendige Zusammenhang der Denkbestimmungen uns gegenüber auch sein mag, er denkt sich nicht selbst, sondern wir denken ihn, indem wir den Begriff begreifen. Damit beantwortet sich die im Titel meiner Ausführungen gestellte Frage. Wir denken absolut, indem wir das Absolute denken. Wir können das Absolute aber nur denken, weil wir selbst Moment desjenigen Zusammenhangs sind, den wir als absolut denken. Insofern gilt, dass im Begreifen des Begriffs mit begrifflichen Mitteln »Subjekt, Methode und Objekt […] als der eine identische Begriff gesetzt sind« (GW 12, 238). (3) Der »Umfang der allgemeinen Denkbestimmungen« ist nach Hegel gleichbedeutend mit »Metaphysik«; sie sind »gleichsam das diamantene Netz, in das wir allen Stoff bringen und dadurch erst verständlich machen«.18 Die »Lesbarkeit« der Welt beruht für Hegel darauf, dass es dieses Netz erlaubt, den »Stoff« zu bestimmen. Die Denkbestimmungen sind demnach »nicht bloß Formen des selbstbewußten Denkens […], sondern auch des gegenständlichen Verstandes«; dies werde zugegeben, »insofern gesagt wird, daß Verstand, daß Vernunft in der gegenständlichen Welt ist, daß der Geist und die Natur Gesetze haben, nach welchen ihr Leben und ihre Veränderungen sich machen« (GW 11, 22). Dies bedeutet nicht, dass die Philosophie eine Deutungshoheit über empirische Sachverhalte beansprucht. Hegels Naturphilosophie etwa steht in keiner Konkurrenz zu den empirischen Naturwissenschaften und ist auch nicht deren Metatheorie.19 Ausgangspunkt ist nicht eine Natur an sich, sondern vielmehr das Enzyklopädie (31830), § 246, Zusatz; HW 9, 20. Vgl. Fulda, Hegel, 143 f.; Jaeschke, Hegel-Handbuch, 336–340.
18 Hegel, 19
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theoretische und praktische Naturverhältnis der Menschen: »Die Theoretische Seite anerkent die Natur als das Seiende substantielle. Dies ist der Bewußtlose Zwie spalt, in dem wir uns unmitelbar zur Natur befinden. […] Andrerseits weis der Mensch sich in sich unendlich, unbezwingbar in seinem Willen. […] Das ist die List seiner Vernunft daß er ihre Gewalt an sich selbst abreiben läßt; und sich dahinter unangetastet verhält und so die Natürlichen Dinge zu seinen willkührlichsten Einfällen braucht.« (GW 24,1, 4) Das theoretische und praktische Verhalten zur Natur konvergiert mit dem theoretischen und praktischen Erkennen in der Idee des Erkennens. Insofern kann Hegel im Paragraphen 381 der Enzyklopädie (1830) auch sagen, dass der Begriff in der Natur »seine vollkommene äußerliche Objektivität hat«, im Geist aber – über das Naturverhältnis des Menschen – wieder zu sich kommt und mit sich identisch wird; Hegel fügt hinzu: »Er [der Begriff, A.] ist diese Identität somit zugleich nur, als Zurückkommen aus der Natur.« (GW 20, 382) Natur und Geist sind nach Hegel »unterschiedene Weisen«, das »Dasein« der Idee darzustellen (GW 12, 236); das bedeutet: Da die absolute Idee nicht als Substrat zu denken ist, sondern als Methode, die in unser Wissen fällt, hat sie ein Dasein nur in der Natur und im Geist und nicht in einer metaphysischen Hinterwelt, und demzufolge sind auch Natur und Geist als Relate notwendig aufeinander bezogen. Der Geist ist »Setzen der Natur als seiner Welt; ein Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der Welt als selbstständiger Natur ist« (GW 20, 382). Diese reale Vermittlung von Natur und Geist ist unhintergehbar. Die absolute Form – die Form des sich als Begriff erfassenden Begriffs in der absoluten Idee – ist eben darum auch nur formell, wie es in der Logik heißt (vgl. GW 12, 25). Sie beruht auf der »Möglichkeit des Geistes, »von allem Äußerlichen und seiner eigenen Äußerlichkeit, seinem Dasein selbst [zu] abstrahieren« (GW 20, 382). Was Hegel im Paragraphen 382 der Enzyklopädie sagt, korrespondiert in der Wissenschaft der Logik mit der Aussage in dem Kapitel über die absolute Idee, diese sei »noch logisch« und »in den reinen Gedanken« und »in die Subjektivität eingeschlossen« (GW 12, 253). Die reine Selbstbezüglichkeit des Begriffs in der absoluten Methode ist demnach das Ergebnis einer Abstraktion von den beWer denkt absolut? | 37
stimmten Verhältnissen, in die der menschliche Geist im Verhältnis zur Natur und zu seinen eigenen geistigen Daseinsweisen steht. Die Idee als absolute Methode ist daher die allgemeine Form des theoretischen und praktischen Verhaltens des menschlichen Geistes zur »Welt«. Begründet beanspruchen kann die Philosophie diesen Status der Idee aber nur, wenn die absolute Idee sich in Natur und Geist wiederfindet, 20 d. h. wenn sie in demjenigen Erkennen, das nicht reines Denken ist, die Denkbestimmungen aufweisen kann, welche – metaphysisch gesprochen – das diamantene Netz der Kategorien bilden. So ist unser Denken des Absoluten alles andere als eine bodenlose metaphysische Spekulation. Es nötigt uns vielmehr zum Begreifen dessen, was ist; – nicht nach der Seite seiner bloß empirischen Existenz (die geht den Begriff nichts an), sondern nach der Seite seiner Formbestimmtheit im Verhältnis zur absoluten Idee als der allgemeinen Form unseres theoretischen und praktischen Erkennens. Darin liegt, dies sei zum Schluss wenigstens angedeutet, ein kritisches Potential, dessen Hegel sich durchaus bewusst war. »Alle Revolutionen«, so heißt es im Zusatz zum Paragraphen 246 der Enzyklopädie, »in den Wissenschaften nicht weniger als in der Weltgeschichte, kommen nur daher, daß der Geist jetzt zum Verstehen und Vernehmen seiner, um sich zu besitzen, seine Kategorien geändert hat, sich wahrhafter, tiefer, sich inniger und einiger mit sich erfassend.«21 In der absoluten Methode hat der Geist sich als Freiheit erfasst, und dieser Begriff der Freiheit ist der Maßstab, den wir mit der Idee geltend machen. Von dieser Normativität der Vernunft zehrt dann auch etwa die Hegelsche Rechtsphilosophie, wenn sie das Wirkliche als vernünftig behauptet, denn wirklich ist nur die mit dem Begriff übereinstimmende Realität und damit die Daseinsweise der Freiheit. Aber das wäre jetzt schon ein anderes Kapitel der Interpretation und Diskussion Hegels.
20 Am Ende des Durchgangs durch die Realwissenschaften der Natur und des Geistes wird, so die Formulierung der Enzyklopädie (1830), »das Logische« wieder erreicht, aber »mit der Bedeutung, daß es die im concreten Inhalte als in seiner Wirklichkeit bewährte Allgemeinheit« ist (GW 20, 569, § 574). 21 Enzyklopädie (1830), HW 9, 20 f., § 246, Zusatz.
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Die anfangende Reflexion Anmerkungen zum A nfang der Wissenschaft der Logik Die »anfangende Reflexion« bezeichnet diejenige Reflexion, die den Anfang der Hegelschen Wissenschaft der Logik macht, und zugleich auch diejenige Reflexion, mit welcher der Anfang gemacht wird. Es geht dabei nicht in erster Linie um die interne Struktur dieses Anfangs, als vielmehr um das Problem des Anfangens mit diesem Anfang. Das scheint ein überflüssiges Unterfangen zu sein, ist dieser Anfang doch – nach Hegel – ebenso voraussetzungs- und bestimmungslos wie einfach. Gerade dies bereitet jedoch, wie zu zeigen sein wird, scheinbar unüberwindliche Schwierigkeiten. Diese Schwierigkeiten hat Hegel sehr wohl gesehen und versucht, mögliche Bedenken und Einwände im Vorfeld der eigentlichen Darlegung des Anfangs zu entkräften. Der Fortgang der Diskussionen bis in die Gegenwart hat aber gezeigt, dass ihm damit weder bei den Zeitgenossen noch bei der Nachwelt Erfolg beschieden war. Damit ist jedoch noch nicht entschieden, dass der Anfang sich nicht rechtfertigen lasse. Wohl aber bedarf es offensichtlich, mehr als Hegel dies zugeben wollte, besonderer Anstrengungen, um ihn selbst dem philosophischen Bewusstsein zugänglich zu machen. Um einen solchen Versuch, dem Anfang der Logik eine Plausibilität für unsere Reflexion, d. h.: für die Einsicht in die Natur unseres Erkennens, abzugewinnen, geht es mir im Folgenden. Ich bewege mich also zugegebenermaßen auf dem Niveau einer von Hegel so genannten äußerlichen Reflexion. Der Charakter meiner Überlegungen als Anmerkungen trägt dem Rechnung; gleichwohl hoffe ich, zeigen zu können, dass eine solche äußerliche Reflexion am Ende in den Beginn der Sache selbst einzudringen vermag, indem die den Anfang machende Reflexion als eine äußerliche mit derjenigen zusammenfällt, mit welcher der Anfang gemacht wird. Dies ist auf den ersten Blick eine ganz und gar unhegelsche Behauptung, denn nach Hegel soll der Anfang weder durch eine 39
Reflexion herbeigeführt werden noch soll der Anfang selbst in irgendeiner Weise ein reflektierter sein. Statt in ihn hineinzuführen, ist uns dieser Anfang in seiner Voraussetzungslosigkeit und bestimmungslosen Unmittelbarkeit vielmehr gerade durch die Einfälle einer ihm gegenüber äußerlichen Reflexion verstellt. Diesen Einfällen ist aber, wie schon die Rezeptionsgeschichte zeigt, nicht allein dadurch zu begegnen, dass sie insgesamt als nicht zur Sache gehörig beiseitegesetzt werden, und auch nicht allein dadurch, dass der Fortschritt der logischen Entwicklung sie fortschafft. Vielmehr muss der Anfang der Logik, und zwar in seinem Anfangen selbst und nicht erst in seiner rückläufigen Begründung, etwas sein, das ihn für die äußerliche Reflexion (wenigstens für diejenige der Leser der Logik) annehmbar macht, so dass wir uns überhaupt dem Gang der Sache selbst überlassen können. Der unmittelbare Anfang der Logik, so möchte ich meine leitende These formulieren, muss als der voraussetzungslose Anfang des reinen Wissens zugleich etwas sein, wodurch die äußere Reflexion von Anfang an in der Entwicklung der logischen Gedankenbestimmungen steht und in ihr mit thematisiert wird, ohne von außen in sie einfallen zu müssen. Anders gesagt: Der Anfang der Logik ist zugleich die anfangende Reflexion in dem Sinne, dass in dem Nullpunkt der bestimmungslosen Unmittelbarkeit äußere und immanente Reflexion zusammenfallen und die äußere in den immanenten Fortgang der Sache selbst hineingerissen wird. Ich werde meine Überlegungen in drei Schritten entfalten. In einem ersten Schritt geht es mir um die Frage, worin eigentlich die Zumutung des Anfangs – oder besser: des Anfangens mit demjenigen Anfang, den Hegel macht – für das reflektierende Bewusstsein besteht. In einem zweiten Schritt frage ich danach, welche Funktion der bestimmungslosen Unmittelbarkeit, mit der Hegel anfängt, nach Ansicht der Interpreten eigentlich zukommt und was sie für das Verständnis des Anfangs bedeutet. Und schließlich werde ich, in Abgrenzung von diesen Interpretationen, den Versuch unternehmen, diejenige Reflexion zu identifizieren, die sowohl den Anfang macht als auch in der Unmittelbarkeit des Anfangs in Rede steht.
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(1) Der Anfang der Wissenschaft der Logik kann inzwischen, trotz seiner langen Interpretationsgeschichte, als eines der schwierigsten Stücke der Hegelschen Philosophie gelten. Hegel selbst war offenbar anderer Ansicht, denn er bezeichnete diesen Anfang als voraussetzungslos und darum als »so einfach«, dass er »keiner Vorbereitung noch weitern Einleitung« bedürfe (GW 11, 40). In diesem Punkt wenigstens, so scheint es, ist Hegel faktisch widerlegt worden, denn die Literatur seit Hegels Lebzeiten bezeugt, dass gerade dieser Anfang Probleme bereitet. Damit ist freilich noch nicht gesagt, dass diese Probleme in dem Anfang selbst liegen. Sie könnten auch in den Einstellungen und Erwartungen der Interpreten begründet sein, also in Voraussetzungen, die es schwer machen, sich auf diesen Anfang überhaupt einzulassen. In der Tat ist jeder Interpret von vornherein in der Gefahr, in den Anfang zu viel hineinzulegen und, wie es Wolfgang Wieland formuliert hat, »zuviel hinter dem Begriff des Seins zu suchen«.1 Wenn dem so ist, dann scheint freilich gerade die Unmittelbarkeit, Einfachheit und Voraussetzungslosigkeit des Anfangs, und zwar unabhängig von einer möglichen Rechtfertigung, das Problem zu sein, und zwar offenbar deshalb, weil dieser Anfang für das reflektierende Bewusstsein des Lesers und Interpreten der Logik Zumutungen enthält. Das in dieser Hinsicht Problematische des Anfangs konnte auch Hegel nicht auf sich beruhen lassen, schickte er doch, ungeachtet der »Einfachheit« des Anfangs, dem Anfang selbst umfangreiche einleitende und vorbereitende Erörterungen voraus, um den Leser allererst davon zu überzeugen, dass es »keiner sonstiger Vorbereitungen, um in die Philosophie hineinzukommen; noch anderweitiger Reflexionen und Anknüpfungspunkte« bedürfe (GW 11, 36). Der Anfang solle und müsse vielmehr, so versichert Hegel, »schlechthin ein Unmittelbares seyn, oder vielmehr nur das Unmittelbare selbst. Wie er nicht gegen anderes eine Bestimmung haben kann, so kann er auch keine in sich, keinen Inhalt enthalten, denn dergleichen wäre Unterscheidung und Beziehung von Verschiedenem auf einander, somit eine Vermittelung. Der Anfang ist also das reine Wieland, Bemerkungen zum Anfang von Hegels Logik, in: Wirklichkeit und Reflexion. Walter Schulz zum 60. Geburtstag, hg. v. Helmut Fahrenbach, Pfullingen 1973, 395–414, hier: 396. 1 Wolfgang
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Seyn.« (GW 21, 56) Um der Voraussetzungslosigkeit und Unmittelbarkeit des Anfangs willen darf man dieses »also« freilich nicht als eine Schlussfolgerung verstehen. Hegel möchte ja gerade vermeiden, dass der Anfang beim reinen Sein als Resultat einer wie auch immer gearteten Vermittlung erscheint. Das gilt in einer doppelten Hinsicht: Der Anfang soll ein Unmittelbares sein und er soll von jeder Beimischung durch eine ihm gegenüber »äußere« Reflexion freigehalten werden; sei es, dass diese den Anfang selbst vermittelt, oder sei es, dass sie sich reflektierend auf ihn bezieht und dadurch den Fortgang bewirkt. Die Zumutung besteht demnach darin, dass wir uns voraussetzungslos auf den Gang einer Sache einlassen und diesen vollziehen sollen, wozu uns nicht nur – im Sinne der Phänomenologie – Hören und Sehen, sondern auch das Bewusstsein einer Sache als eines bestimmten Objekts und ebenso das Bewusstsein unserer selbst als des reflektierenden Subjekts vergangen sein müssen. Die Voraussetzungslosigkeit des Anfangs erscheint als die ungeheuerste und härteste Voraussetzung, die uns zugemutet werden kann, nämlich als Abstraktion nicht nur von unseren »natürlichen Einstellungen«, sondern auch selbst von einem philosophisch geläuterten Bewusstsein, das aus der Erinnerung an das Resultat der Phänomenologie heraus den Anfang bei einem Wissen einsehen und legitimieren könnte, das sich, wie Hegel es fordert, vom Gegensatze des Bewusstseins befreit hat. So ist im Anfang selbst die Philosophie, wie Hegel unterstreicht, »ein leeres Wort oder irgend eine angenommene ungerechtfertigte Vorstellung«. (GW 11, 36) Der in diesem Sinne »unphilosophische« Anfang bei einem einfachen, unbestimmten Unmittelbaren, eben beim reinen Sein, den Hegel uns zumutet, muss gerade für ein solches philosophisches Bewusstsein dem Verdacht ausgesetzt sein, hier werde die Grundkonstellation des natürlichen Bewusstseins an einem abstrakten Gegenstand erneuert, denn das reine Sein als Anfang ist hier ein »vorhandenes« (GW 11, 39), es ist ein Gegebenes, und es soll durch die Betrachtung dieses Anfangs »das, was darin liegt, ins Wissen hervortreten« (GW 11, 40). Die Reflexionsausdrücke, die Hegel gebraucht, scheinen der unbestimmten Unmittelbarkeit des Anfangs entgegenzustehen, die ja ausdrücklich »frey von der […] Bestimmtheit gegen das Wesen« (GW 11, 43), d. h. von jedem Bezug auf die reflexionslogische Bestimmung der Unmittelbarkeit in 42 | Logik
der Wesenslogik sein soll. Nun kann kein Zweifel daran bestehen, dass Hegel solche reflexionslogischen Konnotationen vom Anfang gerade fernhalten will und dass die Schwierigkeiten, die er mit der Darstellung des Anfangs hat, zu einem guten Teil darin bestehen, dass sie sich sprachlich nicht vermeiden lassen und daher fortgesetzt abgewehrt werden müssen. Aber auch, wenn man zu akzeptieren bereit ist, Anfang und Fortgang der Logik hätten eine ganz andere Struktur als Anfang und Fortgang der Phänomenologie (was freilich durch Hegels Zurückhaltung in der Darlegung der methodologischen Unterschiede beider Schriften gewisse Schwierigkeiten bereitet), selbst dann bleibt die Frage, wie wir uns überhaupt in diese unbestimmte Unmittelbarkeit nicht hineinbegeben, sondern uns in sie fügen und aus ihr heraus den Fortgang machen können. Denn wenn diese Unmittelbarkeit nicht das Ergebnis einer abstrahierenden Reflexion sein soll, wenn also – in Hegels Worten – der Anfang nicht »herbeigeführt« (vgl. GW 11, 40) werden soll, so müssen wir uns unmittelbar schon immer in diesem Anfang befinden. Er muss für uns eine Evidenz haben, die geradezu dazu zwingt, sich auf ihn einzulassen und dabei nicht nur unsere, sondern jede Reflexion aufzugeben. So sah sich Hegel trotz aller Einwendungen gegen den Anfang, die bereits zu seinen Lebzeiten vorgetragen worden waren und die er sehr wohl kannte, 2 nicht in der Lage, ihn bei der Überarbeitung der Seinslogik für die zweite Auflage im Haupttext in irgendeiner Weise zu revidieren. Er hat allein die negativ vorbereitenden Erörterungen sowie die erläuternden Anmerkungen umgearbeitet. Wie die fortgesetzten, bis heute andauernden Auseinandersetzungen deutlich machen, hat dieser Anfang aber damit nicht an unmittelbarer Überzeugungskraft gewinnen können. Aber selbst dann, wenn man Hegel zugesteht, dass der Anfang in seiner einfachen Unmittelbarkeit jene Evidenz haben mag, die er beansprucht, so ist nicht abzusehen, wie denn eine reine Unmit2 Vgl. Dieter Henrich, Anfang und Methode der Logik, in: ders., Hegel im Kontext, Frankfurt / M 1971, 73–94; Bernd Burkhardt, Hegels »Wissenschaft der Logik« im Spannungsfeld der Kritik. Historische und systematische Untersuchungen zur Funktion und Leistungsfähigkeit von Hegels »Wissenschaft der Logik« bis 1831, Hildesheim, Zürich und New York 1993.
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telbarkeit, an und in der nichts unterschieden werden kann, aus ihr selbst heraus, ohne die Reflexion eines außerhalb ihrer stehenden Subjekts, in die Vermittlung soll übergehen können. Dieses Argument ist wirkungsmächtig vor allem von Trendelenburg gegen Hegel vorgebracht worden, auch wenn er keineswegs als sein Urheber angesehen werden kann, sondern schon Schelling seine Kritik an Hegel hierauf stützte.3 Sehr verkürzt lässt sich dieser Einwand so wiedergeben, dass Sein und Nichts in ihrer Unmittelbarkeit in sich selbst ruhen und aus ihnen keine wie immer auch geartete Bewegung herausdestilliert werden könne. Dies sei vielmehr das Tun eines vorausgesetzten Subjekts, dass sie miteinander vergleiche und mit Hilfe der vorausgesetzten Anschauung des Werdens aufeinander beziehe, so dass der Schein einer Selbstbewegung der anfänglichen Kategorien und damit eines immanenten Fortschritts erzeugt werde. Die bisherige Diskussion des Anfangsproblems hat sich, soweit ich sehen kann, vor allem mit dieser Problematik auseinandergesetzt. Die unbestimmte Unmittelbarkeit des anfänglichen reinen Seins wurde daraufhin befragt, ob sie fähig sei, einen immanenten Fortschritt im Prozess der logischen Gedankenbestimmungen zu initiieren, d. h. die Unmittelbarkeit aus ihr selbst heraus, ohne die Zuhilfenahme einer äußeren Reflexion, in die vermittelte und vermittelnde Bewegung der Reflexion zu überführen. Dabei ist jedoch m. E. unterbestimmt geblieben, welche Funktion der anfänglichen, unbestimmten Unmittelbarkeit eigentlich zukommt. Die Auskünfte, die hierzu gegeben werden, sind zumeist spekulativer Natur. Sie folgen dem Hinweis Hegels, dass der Fortschritt in der Entwicklung der logischen Bestimmungen zugleich ein rückläufiges Begründen des Anfangs sei. Der Anfang erscheint dann als voraussetzungslos und unmittelbar in dem Sinne, dass er ein schlechthin sich selbst begründendes Absolutum sei, wenn auch ein abstraktes, welches die in sich konkrete Bestimmtheit erst noch 3 Zu Schelling vgl. Burkhardt, Hegels »Wissenschaft der Logik« im Spannungsfeld, 9–47; zu Trendelenburg Josef Schmidt, Hegels Wissenschaft der Logik und ihre Kritik durch Adolf Trendelenburg, München 1977; ferner Jürgen Werner, Darstellung als Kritik. Hegels Frage nach dem Anfang der Wissenschaft, Bonn 1986.
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gewinnen müsse. Hegel selbst hat zahlreiche Hinweise in dieser Richtung gegeben und das reine Sein mit dem Absoluten und selbst seine Bestimmungslosigkeit mit der Erhebung über das endliche, bestimmte Sein in Verbindung gebracht. 4 Die unbestimmte Unmittelbarkeit des reinen Seins wäre dann eine erste Manifestation des Absoluten oder, weil es sich hier voraussetzungslos durch sich selbst gründet, sogar dessen unmittelbare Selbstsetzung.5 Die Vor aussetzungslosigkeit des Anfangs wäre dann die Voraussetzung des Absoluten im Sinne der Hegelschen Philosophie und der Beginn seiner Selbstexplikation. Nun trifft dies gewiss auch zu, obwohl damit noch nichts über den Sinn der Hegelschen Rede vom Absoluten gesagt ist. Die Zweifel an dieser Rede und ihrer argumentativen Begründung haben aber nachhaltig die Sicht des Anfangs der Logik geprägt und ihn als problematisch erscheinen lassen, wobei es hier gar nicht darauf ankommt, ob diese Zweifel auf Missverständnissen beruhen oder nicht. Beginnend mit Schelling und anderen zeitgenössischen Kritikern über Feuerbach und Kierkegaard bis hin zu zahlreichen Interpreten der jüngsten Zeit wurden die spekulativen Konsequenzen des Systems in den Anfang projiziert und bereits dort kritisiert. Und auch die Verteidiger Hegels haben sich dieser Sichtweise nolens volens weitgehend unterworfen, indem sie den Anfang von dem Verdacht einer petitio principii durch die unbestimmte Unmittelbarkeit, die sich am Ende der Logik als vermittelte wiederherstellt, befreien wollten. Deshalb insistierten sie auf der Reflektiertheit des Anfangs. Dies war, Henrich zufolge, bereits die Strategie der
4 Vgl. GW 21, 76: Es sei daran zu erinnern, »daß der Mensch sich zu dieser abstracten Allgemeinheit in seiner Gesinnung erheben soll, in welcher es ihm in der That gleichgültig sey, ob die hundert Thaler […] seyen oder ob sie nicht seyen, ebensosehr als es ihm gleichgültig sey, ob er sey oder nicht, d. i. im endlichen Leben sey oder nicht«. 5 Vgl. hierzu Karin Schrader-Klebert, Das Problem des Anfangs in Hegels Philosophie, Wien und München 1969. Gerade diese Monographie vermittelt den Eindruck, nicht die Interpreten haben in den Anfang zu viel hineingelegt, sondern Hegel selbst habe mit dem Anfang zu viele Intentionen auf einmal auf den Weg bringen wollen, was ihn in eine unauflösliche Ambivalenz und in Aporien getrieben habe.
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unmittelbaren Schüler Hegels, 6 und mehr noch ist es die Strategie einer »rettenden« Kritik in »nachmetaphysischen« Zeiten, denen die Philosophie des Absoluten von vornherein als unwiderruflich überwunden und nicht mehr restituierbar gilt.7 Worum es hierbei geht, was dabei gewissermaßen in systematischer Hinsicht auf dem Spiel steht, hat Dieter Henrich als Alternative so formuliert: »Entweder es gelingt, die Struktur des Anfangs der Logik im Unterschied zu der Logik reflektierter Gedankenbestimmungen zu interpretieren und ihr gemäß den Begriff der unbestimmten Unmittelbarkeit zu entwickeln. Oder es müssen auch schon in ihrem Anfang reflektierte Momente unterstellt werden. In diesem Fall ist es unmöglich, an der Idee der Logik als einer Wissenschaft reiner Gedanken festzuhalten. Denn in ihr müßte es notwendig eine erste und schlechthin einfache Grundbestimmung geben.«8 Nach Henrich haben sowohl die Kritiker als auch die Verteidiger Hegels den zweiten Weg beschritten. Die Kritiker wollten »allesamt einen Unterschied finden zwischen dem Gedanken der unbestimmten Unmittelbarkeit und der Opposition Sein-Nichts und deshalb beide zunächst voneinander trennen, um sie dann aufeinander zu beziehen«.9 Und die Verteidiger hätten, in Ermangelung des Bewusstseins einer Alternative, die Voraussetzungen dieser Kritik kommentarlos akzeptiert. (2) Henrich selbst hat demgegenüber einen anderen Weg beschritten, der im Anfang, Hegels Hinweisen folgend, dessen Nichtreflektiertheit sowohl in sich als auch gegenüber der Reflexionslogik festhalten will. Sein Anliegen ist es, »die Logik des reinen Seins […] via negationis […], in der Unterscheidung von der Logik der Reflexion«10 zu explizieren. Dieser Versuch, die anfängliche, unbeVgl. Henrich, Anfang und Methode. z. B. Alexander Schubert, Der Strukturgedanke in Hegels »Wissen schaft der Logik«, Meisenheim und Königstein / Ts. 1985; Schubert liefert jedoch eine hellsichtige Interpretation des Bezugs des Anfangs auf die Proble matik der Reflexion, die meine Überlegungen auch dort vielfach beeinflusst hat, wo ich ihr im Ganzen nicht zu folgen vermag. 8 Henrich, Anfang und Methode, 84. 9 Ebd., 79. 10 Ebd., 79 f. – Die »via negationis« muß nicht eine Vorwegnahme reflek 6
7 Vgl.
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stimmte Unmittelbarkeit ernst zu nehmen und ohne Anleihen bei der Logik der Reflexion zu interpretieren, kommt zu dem Ergebnis, dass der Anfang der Logik einen »Zusammenhang von Gedanken evident« machen möchte, »der sich jeder Konstruktion entzieht«.11 Er könne daher auch »niemals aufgehoben« und durch die reicheren Strukturen des Fortgangs auch »niemals zureichend interpretiert werden«.12 Dies führe dazu, dass es unmöglich werde, ihn im vollen Sinne argumentativ einzuholen und »Einwände durch direkte Gegengründe zu entkräften«, wodurch er »eine Quelle unaufhebbarer Zweideutigkeit« sei.13 Wenn es sich so verhalten sollte, dann wäre freilich das Unternehmen der Hegelschen Logik gescheitert, einen Anfang zu finden, der einen immanenten Fortgang der Gedankenbestimmungen erlaubt. Die unaufhebbare Unmittelbarkeit des Anfangs stünde dann der Reflexion, die sich von dieser Unmittelbarkeit abstößt und sie zerstört, unvermittelt gegenüber. Tatsächlich kommt Henrich ja auch zu einer Konsequenz, die für den Status der Logik als »Wissenschaft reiner Gedanken« keineswegs weniger ruinös ist als der Versuch, ihrem Anfang von vornherein reflektierte Momente zu unterstellen. Die »Wissenschaft der Logik« nämlich müsse demnach »von dem Prozeß der logischen Gedankenbestimmungen unterschieden werden«,14 und da sie »sich vielfach nur in rückläutierter Kategorien in unmittelbarer Gestalt darstellen, wie Schubert (Der Strukturgedanke, 30 f.) dies nahelegt. Vielmehr soll das »ex negativo« nur ernstnehmen, dass Hegel den Anfang nicht in Bezug auf die Reflexionslogik bestimmt. 11 Henrich, Anfang und Methode der Logik, 89. 12 Ebd., 93. 13 Ebd., 90. – Friedrike Schick kommt sogar zu dem Schluss, dass sich kontroverse Deutungen des Anfangs gleichermaßen am Text bewähren lassen (Hegels Wissenschaft der Logik – metaphysische Letztbegründung oder Theorie logischer Formen? Freiburg und München 1994, 152). Dabei vertritt sie selbst die Lesart, dass der Anfang als Versuch einer metaphysischen Letztbegründung scheitere. In einem schwächeren Sinne haben allerdings fast alle neueren Interpreten der Logik dem Anfang eine Zweideutigkeit bzw. Ambi valenz zuerkannt; vgl. Schubert, Der Strukturgedanke, 23, der hierzu eine Vielzahl von Belegen anführt. 14 Henrich, Anfang und Methode der Logik, 92 (das Folgende 92 f.). – Michael Wolff hat den interessanten Versuch unternommen, die Zweideutigkeit Die anfangende Reflexion | 47
figer Begründung und mit dem Blick auf das Ganze entfalten« lasse, bedürften wir »einer Methodenlehre dieser Begründungen, die den Charakter einer ›Metalogik‹ haben würde«. Damit aber ist der Hegelsche Anspruch einer selbstexplikativen Wissenschaft vernichtet, die sich im Vollzug der Gedankenbestimmungen auch begründet, und der Rettungsversuch zahlt den gleichen Preis wie die Verteidiger Hegels, die Henrich zufolge den unmittelbaren Anfang vorschnell preisgegeben haben. Michael Theunissen hat im Rahmen seiner in Sein und Schein entfalteten These einer Darstellung der Metaphysik durch Kritik in der Wissenschaft der Logik 15 auch den Versuch unternommen, an der Unmittelbarkeit des reinen Seins im Unterschied zu seiner Bestimmungslosigkeit ein Wahrheitsmoment zu reklamieren. Dieses Sein sei in seiner Unmittelbarkeit so etwas wie eine »vorgängige Totalpräsenz« nach dem Vorbild Jacobis,16 nur, dass Hegel es nicht als das Ursprüngliche selbst, sondern nur als die Gegenwärtigkeit des Ursprungs im Anfang verstehe, so dass dieser Anfang in seiner Unmittelbarkeit durch ein wahrhaft Ursprüngliches vermittelt sei, das nicht das Sein sei. Vielmehr weise die »Gewißheit des Seins« auf die »Selbstgewißheit des Denkens« zurück, weshalb sie die »Enthüllung der im Sein liegenden Wahrheit« auch nur »von der progressiven Entwicklung des Denkens selber erwarten« könne.17 Diese Interpretation verdankt sich einer Unterscheidung »zwischen dem Ersten im Gange des Denkens und dem Prius für das Denken«,18 einer »Doppelbödigkeit« im unmittelbaren Anfang der Logik selbst. Diese entstehe dadurch, dass das Denken in der Undes Anfangs dadurch zu entschärfen, dass er ihn als formallogische Überführung eines »negativen« in ein »positives« Dilemma interpretiert und rechtfertigt, wobei freilich erklärtermaßen die »inhaltliche Interpretation der logischen Ausgangsthese« ausgeklammert bleibt (Die »Momente« des Logischen und der »Anfang« der Logik in Hegels philosophischer Wissenschaft, in: Skeptizismus und spekulatives Denken in der Philosophie Hegels, hg. v. HansFriedrich Fulda und Rolf-Peter Horstmann, Stuttgart 1996, 226–243; hier 238). 15 Vgl. bes. Werner, Darstellung als Kritik. 16 Vgl. Michael Theunissen, Sein und Schein. Die kritische Funktion der Hegelschen Logik, Frankfurt / M 1980, 198–215; hier bes. 212 f. 17 Ebd., 214. 18 Ebd., 204. 48 | Logik
mittelbarkeit des Anfangs sein Prius gleichsam in diesen versenke, indem es dieses vergegenständliche und somit selbst zu einem unvordenklichen Unmittelbaren mache, durch das die Unmittelbarkeit des Anfangs vorgegeben sei. Nur auf diese Weise könne sich, wie es alle Philosophen der Unmittelbarkeit gewollt haben, in der anfänglichen Unmittelbarkeit des Denkens zugleich ein Ursprüngliches zeigen, welches ein der Reflexion enthobenes, bewusstseins transzendentes Sein sei. Indem die Unmittelbarkeit des anschauenden, nicht begrifflich reflektierenden Denkens im Anfang als das »Organ« dieser Vergegenständlichung durchschaut werde, falle auch die Vergegenständlichung selbst der Kritik anheim, so dass diese auch von der Doppelbödigkeit des Anfangs frei sei.19 Das Wahrheitsmoment in der Unmittelbarkeit des Anfangs besteht demnach darin, dass sich in ihr, wenn auch in verzerrter, verdinglichter und damit scheinhafter Gestalt, ein Prius für das Denken aufzeigen lässt, das sich als dasjenige erweist, welches den Anfang des Denkens vermittelt und in dessen Fortgang sich selbst als das Ursprüngliche expliziert, das nun kein Unvordenkliches mehr ist, sondern das seine Wahrheit, wie Hegel es will, nur in dem Ganzen der Bewegung seiner Selbstexplikation hat. Dieses Wahrheitsmoment lässt sich freilich nur dann als in der Unmittelbarkeit selbst präsent einsehen, wenn der Unmittelbarkeit, um die es hier geht, noch eine andere Zweideutigkeit eignet als die des Ersten im Denken und des Prius für das Denken. Das Prius nämlich ist, als den Anfang vermittelnd und sich im Fortgang mit sich selbst vermittelnd, in seiner bisherigen Bestimmung durchaus ein Reflektiertes und kein Unmittelbares. Mit anderen Worten: Die Kritik eines verdinglichenden Denkens, welche die Unmittelbarkeit als Schein vorführt, steht zugleich vor der Aufgabe, die Unmittelbarkeit selbst und nicht nur das mit ihr Gemeinte zu rechtfertigen, wenn anders sie dem Vorwurf einer äußeren Reflexion und eines scheinhaften Anfangs entgehen will, der nicht der wahre, sondern nur der schlechthin unwahre Anfang sei. Die erwähnte Auslegung der Unmittelbarkeit als »vorgängige Totalpräsenz« soll dies leisten, indem sie sich auf den Boden der Wahrheit stellt, welche nach Hegel das Ganze ist. 19
Vgl. ebd., 207. Die anfangende Reflexion | 49
Diese Unmittelbarkeit, sollte es sie geben, könnte jedoch in keinem Verhältnis zur Unmittelbarkeit des Anfangs stehen, sondern wäre ganz in sie versenkt und mit ihr unterschiedslos eins. Wäre sie es nicht, so wäre der Anfang ein in sich Reflektiertes, und auch erst dann ließen sich in ihm überhaupt erst Momente unterscheiden. Das reine Sein ist aber das genaue Gegenteil; es ist bestimmungslos, weil seine wahre Bestimmung ihm nicht auf die Stirn geschrieben steht, sondern sich im Resultat erst noch erweisen muss. Die Unmittelbarkeit, welche vorgängig das Ganze umfasst und in sich schließt, ist im Anfang selbst bloß eine gemeinte, mit der wir Bestimmungen an den Anfang herantragen, die nicht in ihm enthalten sind. Und nur als ein solcher gemeinter Unterschied zu den sonstigen, der Kritik anheimfallenden Aspekten der bestimmungslosen Unmittelbarkeit könnte sie einer vergleichenden Reflexion dienlich sein. Sie selbst wäre, selbst wenn sie sich im Unterschied zu den anderen Aspekten der Unmittelbarkeit auch unmittelbar bewahrheiten ließe, nicht einmal fähig, aus ihr selbst heraus diese Kritik zu vollziehen, solange sie Unmittelbarkeit ist, da sie hierzu allererst in ein Verhältnis treten, d. h. den Status der Unmittelbarkeit schon verlassen haben müsste. Den Versuchen Henrichs und Theunissens, dem Anfang in seiner unbestimmten Unmittelbarkeit ein Wahrheitsmoment abzuringen, steht eine Kritik gegenüber, die in dem Anfang nicht mehr erkennen kann als ein eher bloß diffuses Konglomerat von Argumentationsabsichten, welche in dem Versuch, die Unmittelbarkeit in die Reflexion zu überführen, miteinander kollidieren. Hierbei werden vor allem spekulative Absichten Hegels namhaft gemacht, die ihn im Widerspruch zu der Einsicht in die für den Fortgang notwendige Vermitteltheit des Anfangs dazu verleitet hätten, gleichsam wider besseres Wissen seine Unmittelbarkeit als notwendig zu affirmieren und nicht als bloßen Schein zu denunzieren, der dann freilich nicht mehr der wahre Anfang sein könnte.20 Tatsächlich legen die Aporien, die ein Ernstnehmen der unbestimmten Unmittelbarkeit des Anfangs bereitet, eine solche Konsequenz nahe. Man kann zwar den Kritikern mit Recht ent20 Vgl. hierzu besonders Schrader-Klebert, Das Problem des Anfangs, Schubert, Der Strukturgedanke und Schick, Hegels Wissenschaft der Logik.
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gegenhalten, dass sie in der Suche nach einander widerstreitenden Argumentationsabsichten Hegels wiederum zu viel in den Anfang hineinlegen, um die tatsächlichen oder vermeinten spekulativen Konsequenzen bereits dort abzuwehren, wo sie noch gar nicht hervorgetreten sind, und dass sie dabei auch den Gegner nicht im Umkreis seiner argumentativ entfalteten Stärke stellen. Aber auch dann, wenn man den Anfang in seiner bestimmungslosen Unmittelbarkeit so nimmt, wie er sich gibt, wird man Schwierigkeiten haben, aus ihm selbst die Bestimmtheit und Vermittlung hervorgehen zu lassen. Die entsprechenden, hochdifferenzierten Versuche etwa von Heinz Röttges, Jürgen Werner und Bernd Burkhardt, die sich dadurch auszeichnen, dass sie das Problem des Anfangs mit dem Problem der Methode zusammenbringen, 21 gehen mehr oder weniger stillschweigend davon aus, dass die Logik als ein Denken des Denkens zu bestimmen sei, so dass es eine, wenn auch methodisch legitimierte und nicht willkürliche begleitende Reflexions instanz gebe, welche die Unmittelbarkeit gleichsam beobachte und sich im unvermittelten Übergegangensein des Seins in Nichts seiner Herkunft erinnere, um überhaupt einen Unterschied setzen zu können, der die Reflexion in Gang bringt.22 Die Annahme einer solchen Reflexionsinstanz außerhalb der Entwicklung der logischen Gedankenbestimmungen selbst liegt Henrichs Versuch zugrunde, die anfängliche Unmittelbarkeit ernst zu nehmen. Für die Unterscheidung von Logik und Metalogik beruft er sich darauf, dass die Wissenschaft vom Prozess der logischen Gedankenbestimmungen »eine Weise der Wirklichkeit des Geistes«23 sei. Leider hat er diesen Gedanken nicht näher expliziert, der ja Schwierigkeiten bereitet. Denn nach Hegels Auskunft in der Vorrede zur ersten Auflage der Logik des Seins ist der Geist Vgl., neben den bereits erwähnten Arbeiten, Heinz Röttges, Der Begriff der Methode in der Philosophie Hegels, Meisenheim 1976. 22 Werner, Darstellung als Kritik, stützt sich dabei schließlich auf die wesenslogische Kategorie des absoluten Unterschieds (vgl. § 11); Burkhardt, Hegels »Wissenschaft der Logik«, argumentiert dagegen vor allem mit dem spekulativen Satz. Das Problem ist jedoch, dass sich der Anfang im Satz gar nicht aussprechen lässt, da die Unmittelbarkeit jeder Relationalität entbehrt, die erst ein Urteil ermöglichen würde. 23 Henrich, Anfang und Methode der Logik, 92. 21
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die Wahrheit der Vernunft, »die immanente Entwicklung des Begriffes«, »die absolute Methode des Erkennens, und zugleich die immanente Seele des Inhaltes selbst«. (GW 11, 8) Der Prozess der logischen Gedankenbestimmungen wäre demnach gerade »eine Weise der Wirklichkeit des Geistes«, nämlich diejenige, in der er sich auf seiner eigenen Grundlage bewegt, d. h. – wie Hegel im Rückblick auf die Phänomenologie des Geistes betont (vgl. GW 11, 51 f.) – in der er sich vom Gegensatz des Bewusstseins befreit hat. Wenn nicht diese Wirklichkeit des Geistes gemeint sein soll, in der ja Logik und Metalogik zusammenfallen, so ließe sich Henrichs Bemerkung nur im Blick auf eine »weiter konkrete Form« des Erkennens in der Philosophie des Geistes verstehen. Das aber hieße, dass die Logik, sofern sie Wissenschaft der Logik ist, die Methode ihres Begründens bei den konkreteren Formen des Erkennens erborgen müsste. Vielleicht meint Henrich aber auch nur denjenigen Sachverhalt, den Wolfgang Wieland als eine »pragmatische« Voraussetzung Hegels bezeichnet hat, dass nämlich die Logik wenigstens mit der »Reflexionsfähigkeit« ihrer Leser rechnen müsse.24 Die Darstellung der Logik bewege sich daher auf einer Ebene, die »innerhalb ihrer selbst nie thematisch werde, der Ebene des endlichen Geistes«.25 Rüdiger Bubner hat dies als »das nicht hinterschreitbare Faktum der Reflexion«26 bezeichnet. Das Sein der Wissenschaft sei von diesem Faktum nicht zu trennen; eine Wissenschaft konstituiere sich allererst, indem sie in diesem Faktum »die entscheidende und letzte Voraussetzung für sich selber akzeptiert«, 27 und d. h.: indem sie sich Voraussetzungen nicht äußerlich vorgeben lässt, sondern »das Voraussetzen restlos in eigne Regie« übernimmt.28 Dies könne sie nur, wenn sie die äußerliche Reflexion in die innere, die Bewegung »der Sache selbst« umsetze, integriere und dadurch einer inhaltlichen Bemerkungen zum Anfang,403. Vgl. ebd., 405; gerade weil sie nicht thematisch werde, so Wieland, brauche diese Ebene auch nicht verlassen zu werden. 26 Rüdiger Bubner, Die »Sache selbst« in Hegels System, in: Seminar: Dia lektik in der Philosophie Hegels, hg. v. Rolf-Peter Horstmann, Frankfurt / M 1978, 101–123, hier: 107. 27 Ebd., 109. 28 Ebd., 106. 24 Wieland, 25
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Ordnung unterwerfe.29 Auf den Anfang der Logik bezogen heißt dies, dass die absolute Voraussetzungslosigkeit ihres Anfangs eine Voraussetzung der Wissenschaft formuliert und ausdrücklich setzt, nämlich »die Voraussetzung, daß man keine Voraussetzung unreflektiert hinnehmen solle«. 30 Hierin wäre das Faktum der Reflexion anerkannt und gleichzeitig wären die Einwendungen durch beliebige Voraussetzungen einer äußeren Reflexion abgewehrt. Die Differenz zwischen dem »Gang der Sache selbst« und den von der äußeren Reflexion herangetragenen Voraussetzungen wäre dadurch aufgehoben, dass der Anfang sie ausspricht.31 Wenn der Gang der Sache selbst, um überhaupt in Gang zu kommen, einer äußeren Reflexionsinstanz bedarf, dann stellt sich freilich umso dringender die Frage, was die anfängliche Unmittelbarkeit für diese äußere Reflexion bedeutet. Ist sie nur ein Anfang, der das Faktum dieser Reflexion überspringen will, um dann doch im Fortgang von der Reflexion eingeholt zu werden? Oder kommt der Unmittelbarkeit ein Wahrheitsmoment gerade im Blick auf diese Reflexion zu, so dass sie durch sie von Anfang an in die Entwicklung der logischen Gedankenbestimmungen integriert ist? Was mit dieser Frage auf dem Spiel steht, ist nicht mehr nur der Ort der Logik im Zusammenhang des Hegelschen spekulativen Systems; auf dem Spiel steht vielmehr der Vernunftbegriff von Rationalität überhaupt, den die Logik in Anspruch nimmt. Ein solcher Begriff kann Geltung nur dann beanspruchen, wenn es gelingt, die subjektive, äußerliche Reflexion der Disziplin einer Gedankenbewegung zu unterwerfen, die auch ihre eigene ist, d. h., die sich mit deren Voraussetzungen und »Einfällen« auch zu verständigen vermag. Wie also, so ist zu fragen, kann der Anfang der Logik in der Weise verstanden werden, dass in ihm – entgegen allem Anschein – eine äußere Reflexion zur Sprache kommt?
29
Vgl. ebd., 116. Ebd., 106. 31 Vgl. ebd., 109. 30
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(3) Bubners Überlegungen zum Faktum der Reflexion zielen auf eine Problematik, die Hegel selbst weitgehend ausgeblendet hat.32 Er habe, wie es bei Bubner heißt, »um der beanspruchten Notwendigkeit der Methode Nachdruck zu verleihen, die Autonomie der Selbstbewegung der Sache überakzentuiert«. 33 Eben deshalb hat er aber auch nicht das Faktum der Reflexion oder eine Reflexionsdifferenz zum Ausgangspunkt der Logik gemacht, sondern solche Fragen in das Vorfeld der Erörterung der Sache selbst verwiesen. Der Anfang selbst in seiner unbestimmten Unmittelbarkeit soll ja ausdrücklich nicht dadurch herbeigeführt und begründet werden, dass er das Resultat einer »Selbstaufhebung aller vorgängigen Vermittlungen«34 sei. Dies zeigt sich erst im weiteren Gang der Logik. Und ebenso wenig soll die schlichte Einfachheit des reinen Seins noch auf Anderes verweisen, denn dann wäre sie nicht mehr reflexionslose Unmittelbarkeit. Bubners Interpretation, so bestechend sie ist, steht demnach vor der gleichen Schwierigkeit wie andere Versuche, dem Anfang der Logik Plausibilität abzugewinnen: um die Reflexion in den Gang der Sache selbst hineinzuzwingen, die äußerliche der immanenten zu unterwerfen, muss der Anfang selbst offenbar schon immer als Moment eines Reflexionsprozesses einsehbar sein. Diese Einsicht will Bubner dadurch herstellen, 32 Zur grundsätzlichen Problematik des Verhältnisses von äußerlicher und immanenter Reflexion bei Hegel vgl. Jaeschke, Äußerliche Reflexion und immanente Reflexion. 33 Bubner, Die »Sache selbst«, 116. 34 Ebd., 111; Bubner verweist hier auf den § 51 der Enzyklopädie (1830), der das unmittelbare Wissen als »dritte Stellung des Gedankens zur Objektivität« zum Thema hat. Der dort gegen Jacobi entwickelte Gedanke einer Selbstaufhebung der Vermittlung betrifft jedoch m. E. weniger den Anfang der Logik als vielmehr ihr Resultat, die vermittelte, d. h.: aus der Vermittlung hervorgegangene Unmittelbarkeit. Und auch die Anknüpfung an das unmittelbar genommene Resultat der Phänomenologie in der Logik, das vom Gegensatz des Bewusstseins befreite Wissen, ist ja von Hegel ausdrücklich nicht als Begründung des Anfangs aufgefasst und zugelassen worden; im Gegenteil: Der Anfang der Logik vollzieht sich in der Vergessenheit der phänomenologischen Vermittlungen. Sofern der Modus des absoluten Wissens der Phänomenologie aber gerade die Anamnesis ist, wäre geradezu zu fragen, ob somit überhaupt noch eine Anknüpfung der Logik an die Phänomenologie statthaben könne.
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dass er den Anfang als das als unmittelbar ausgesprochene Resultat einer abstrahierenden Reflexion versteht. Hegel scheint indessen der Ansicht zu sein, dass eine solche abstrahierende Reflexion selbst nur in einem äußerlichen Verhältnis zum Anfang steht. Der Anfang nämlich ist subjektiv nicht durch ein »woher« im Sinne seiner genetischen Begründung motiviert, sondern durch ein »wozu« im Sinne des willkürlichen Sich-Entschließens zum reinen Denken: »Nur der Entschluß, den man auch für Willkühr ansehen kann, nemlich daß man das Denken als solches betrachten wolle, ist vorhanden.« (GW 21, 56) In der ersten Auflage der »Seinslogik« ist diese Willkür nicht nur auf das Subjekt bezogen, das rein denken will, sondern auch auf die Form, die das Denken als solches hat. Die Unmittelbarkeit des Anfangs sei, so schreibt Hegel hier, »da sie nicht begründet ist, etwas willkührliches und zufälliges«. (GW 11, 34) Man wird sich hier unwillkürlich der Worte der Differenzschrift von 1801 erinnern, wonach »Willkühr und Zufall, die nur auf untergeordnetern Standpunkten Raum haben, […] aus dem Begriff der Wissenschaften des Absoluten verbannt« seien (GW 4, 72). Da Hegel auch später seine Ansicht hierüber nicht geändert hat (wie vor allem auch in seiner Polemik gegen die Romantiker deutlich wird), wird man aber kaum davon ausgehen können, dass er – ausgerechnet in der Wissenschaft der Logik – Willkür und Zufall zum Eingang in die Wissenschaft des Absoluten machen wollte. Dennoch gibt der Terminus »Willkür« einen wichtigen Hinweis auf den formellen Status des Anfangs der Logik: Willkür ist nach Hegel »der Wille in der Form der Zufälligkeit«, 35 bei dem Form und Inhalt im Widerspruch zueinander stehen, sofern er sich auf etwas bezieht, das zufällig gegeben ist. Der Wille ist hier abstrakt, weil er die Zufälligkeit als bloß abstrakte Möglichkeit zu seinem Inhalt hat. Sein Inhalt ist demnach nur etwas Formelles, und so ist er selbst auch nur formell, nämlich formelle Freiheit des Willens. In dieser Form aber ist er sich selbst gleich; die Willkür erfährt die vom gegebenen Gegenstand äußerlich dargebotene Wahlmöglichkeit unmittelbar als Affirmation der Willensfreiheit, worin »er sich
35 Hegel,
Enzyklopädie (1830), § 145, Zusatz (HW 8, 285). Die anfangende Reflexion | 55
bewußt ist, von jedem Inhalt sogleich wieder abstrahiren und seine Reinheit wiederherstellen zu können« (GW 10,1, 371). Man kann, so glaube ich, den Hinweis auf die Struktur der Willkür mit der Struktur des Anfangs zusammenbringen. In der Willkür sind Subjekt und Objekt gleichermaßen von aller konkreten Bestimmtheit entleert. Subjektiv ist die Willkür nichts weiter als die bestimmungslose, abstrakte Einheit mit sich als bloße Möglichkeit der Selbstbestimmung. Und objektiv entspricht ihr ein bestimmungsloses Substrat als bloße Möglichkeit des Bestimmtwerdens. In dieser Struktur ist, wie es scheint, die Subjektivität auf die Spitze getrieben und hat sich – weit davon entfernt, sich der Notwendigkeit des Ganges der Sache selbst zu unterwerfen – vielmehr zum »Herrn und Meister über alles« aufgeworfen, wie es Hegel der romantischen Subjektivität vorwarf.36 Die Willkür hat subjektiv alle Voraussetzungen hinter sich gelassen – außer sich selbst; sie ist unbestimmte, unmittelbare Sichselbstgleichheit, die sich absolut setzt. Sie ist damit dasselbe, was das reine Sein ist. Die Spitze des Subjektivismus, die äußerste Steigerung der äußerlichen Reflexion, die den Zugang zur Sache der Logik zu verstellen droht – ist selbst nichts anderes als der Anfang der Sache selbst in der Wissenschaft der Logik. In der unbestimmten Unmittelbarkeit des Anfangs fallen die äußerliche Reflexion und der Beginn der immanenten Reflexion zusammen. Der Einwand liegt nahe, dass diese Interpretation sich im Rahmen eines Subjekt-Objekt-Verhältnisses bewege, mithin innerhalb der Grundstellung der Phänomenologie, die von der Logik schon immer verlassen worden sei. Diesem Einwand lässt sich jedoch dadurch begegnen, dass man darauf achtet, in welchem Verhältnis hier die subjektive Willkür zum Objekt des Bestimmens steht. Das Objekt ist hier kein bestimmter Gegenstand, sondern ein bestimmungsloses Substrat, zu dem sich die Subjektivität gleichgültig verhält. Es ist die bloße Möglichkeit des Bestimmtwerdens. Es wird als das angesehen, als was die Subjektivität sich selbst vorstellt, als eine bestimmungslose, einfache Sichselbstgleichheit. In dieser Unmittelbarkeit sind das Subjekt und das Objekt vollkommen austausch36 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Ästhetik, hg. v. Friedrich Bassenge, 2 Bde., Berlin und Weimar 21965, Bd. 1, 73.
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bar; ihr Unterschied ist in sich zusammengesunken. Anders gesagt: Auch das Objekt ist nichts anderes als das, was am Anfang der Logik als das reine Sein auftritt. In der ersten Auflage der Seinslogik hatte ja auch, wie erinnert, Hegel die anfängliche Unmittelbarkeit selbst und nicht nur den Entschluss zu ihr als etwas Willkürliches und Zufälliges bezeichnet. Inwiefern aber kann diese Unmittelbarkeit, in der jeder Unter schied verschwunden ist, als Moment einer Reflexion gelten? Steht nicht auch hier wiederum die Unmittelbarkeit der Reflexion unvermittelt entgegen? Die Vorstellung eines bestimmungslosen Substrats (sei es als Objekt des Bestimmtwerdens oder als Subjekt der Selbstbestimmung gemeint), an welchem allererst Bestimmungen durch das Hinzutreten einer Reflexion gesetzt werden, ist die Grundvoraussetzung der äußeren Reflexion. Dieses Substrat wird als ein Unmittelbares im Sinne eines Gegebenen, eines Vorhandenen, einer toten Grundlage der Reflexion vorgestellt. Insofern ist diese bestimmungslose Unmittelbarkeit, wie sie mit dem reinen Sein den Anfang der Logik macht, die verdinglichte Voraussetzung nicht irgendeiner, sondern der äußeren Reflexion, die gerade deshalb meint, aller bestimmten Voraussetzungen ledig zu sein und sich frei in der Äußerlichkeit gegenüber ihrem Substrat konstituieren zu können. Diese Differenz der Reflexion zu dem, was sie unmittelbar voraussetzt, oder die Nichtbeziehung von Unmittelbarkeit und Reflexion, wie sie sich im Anfang der Logik wiederholt, ist der äußeren Reflexion selbst eingeschrieben – und genau diese Nichtbeziehung ist das Moment der Unwahrheit, das diese Reflexion an ihr selbst hat und dem sie – nach Hegel – auch erliegen wird. Bevor ich darauf abschließend zu sprechen komme, möchte ich jedoch festhalten, in welcher Weise der Anfang der Logik, nach meiner Interpretation, auf die äußerliche Reflexion bezogen ist. Er nimmt sie in ihrer extremsten, geradezu bis zur Kenntlichkeit verzerrten Gestalt auf. Er nimmt sie als das, als was sie sich selbst gibt: als ein scheinbar voraussetzungsloses Wollen, das sich seine Voraussetzungen erst schafft, indem es alle bestimmten Voraussetzungen hinwegschafft. Ohne Zweifel liegt für Hegel in dieser formellen Freiheit bereits die absolute Würde und das absolute Recht der Subjektivität. Deshalb erscheint sie auch als abstrakte Die anfangende Reflexion | 57
Vorwegnahme dessen, was sich am Ende der Logik abspielt (wodurch freilich der Anfang eher noch problematischer erscheinen mag), wo wiederum die Willkür – wenn auch nicht als formelle – auftritt, wenn die Idee sich entschließt, sich in die Äußerlichkeit der Natur zu entlassen. Es kann sogar gesagt werden, dass auch das erste und letzte Wort der Hegelschen Wissenschaft der Logik – die Freiheit sei. Und ebenso nach der anderen, der »objektiven« Seite liegt in dem bestimmungslosen Substrat die Vorstellung der Sub stantialität. Indem beides in der bestimmungslosen Unmittelbarkeit zusammenfällt, wird hier, wenn auch auf unwahre Weise, die Substanz »ebensosehr« als Subjekt vorgestellt. Ein Wahrheitsmoment kann der Anfang nur deshalb beanspruchen, weil Hegel sich nicht mit irgendeiner beliebigen, zufälligen Reflexion ins Benehmen setzen will, sondern mit einer Reflexion, die Zufälligkeit und Willkür zum Prinzip hat. In ihr erst wird, nach dem Wegschaffen des Zufälligen, aus dem der räsonierende Verstand immer neue Voraussetzungen gewinnt, die immanente Voraussetzung, das konstitutive Prinzip der äußerlichen Verstandesreflexion schlechthin deutlich. Hegels Zumutung an diese Reflexion besteht darin, dass er ihr ihre eignen, unreflektierten – eben unmittelbaren – Voraussetzungen vorhält und sie zwingt, diese zur reflektieren. Der Anfang der Logik ist daher der Beginn einer Reflexion auf diejenige Reflexion, durch die der Anfang vermittelt wurde. Er ist in diesem Sinne auch eine anfangende Reflexion, als Reflexion der Reflexion, welche den Anfang gemacht hatte. Er gründet sich auf nichts anderes als auf die Selbstermächtigung der auf die Spitze getriebenen äußeren Reflexion, deren behauptete Voraussetzungslosigkeit als dasjenige ausgesprochen wird, was diese bewusstlos voraussetzt, als ein bestimmungsloses Substrat, Sein, reines Sein … Die Reflexion der Reflexion will dazu zwingen, diese bewusstlose Voraussetzung zu reflektieren, indem die Erfahrung gemacht wird, dass dieses Substrat, soll es denn gedacht werden, sich nicht festhalten lässt und schon immer in Nichts nicht übergeht, sondern übergegangen ist. Dieses Nichts ist die unvermittelte Kehrseite der anfänglichen Unmittelbarkeit und dasselbe wie das reine Sein. Der absolute Unterschied, der sich daran auftut, erschließt sich freilich nur demjenigen Bewusstsein, das sich des anfänglichen Seins 58 | Logik
erinnert und an dem unvermittelten Umgeschlagensein des Seins in Nichts und umgekehrt eine Erfahrung zu machen vermag, die Erfahrung einer fundamentalen Negativität. Erst aufgrund dieser Erfahrung kann jene Reflexion immanent in Gang gesetzt werden, in der das äußerlich reflektierende Subjekt in den Gang der Sache selbst hineingezogen wird. Mein Versuch, der anfänglichen Unmittelbarkeit Plausibilität ab zugewinnen, war – dem Charakter von Anmerkungen entspre chend – auf Aspekte der Problematik des Anfangs der Logik beschränkt und konnte und sollte diesen nicht vollständig rekonstruieren. Aber auch im Rahmen dieser insofern notwendig unzulänglich bleibenden Überlegungen trat das m. E. fundamentale Problem des Anfangs deutlich hervor, nämlich, dass Hegel es unterlassen hat, die anfangende Reflexion in den Anfang der Logik selbst einzutragen, obwohl er das Faktum der Reflexion voraussetzen muss, um den Anfang in die Reflexion einer Reflexion überführen zu können, die dieses Faktum vermittelt. In dieser Hinsicht unterläuft der Anfang selbst die Komplexität der Reflexion, die den Anfang erst macht. In der reflexionslosen Unmittelbarkeit ist sie schlechthin vergessen und getilgt. Und der Verdacht ist nicht von vornherein von der Hand zu weisen, dies geschehe, um dem Anfang in seiner bestimmungslosen Unmittelbarkeit eine spekulativ zu erfüllende Komplexität zuwachsen zu lassen, die sich schließlich als das in ihm Gemeinte wiedererkennen kann, darin aber ebenso ihrer realen Voraussetzung, die den Anfang gemacht hatte, nicht gewahr wird.
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Hegels Begriff der Dialektik im Blick auf Kant Was Hegels Begriff der Dialektik oder der dialektischen Methode sei, ist immer noch Gegenstand kontroverser Erörterungen.1 Bekanntlich konnte sich bereits die Hegelsche Schule hierüber nicht verständigen und vielen Kritikern – von Eduard von Hartmann bis Sir Karl Popper – erschien die Rede von der Dialektik daher auch als gewollt vage. Gleichwohl ist sich die formallogische Kritik seit Trendelenburg darin einig, dass die Dialektik bewusst das Prinzip der Widerspruchsfreiheit ignoriere, und die postmoderne Kritik weiß mit Bestimmtheit zu sagen, dass die Dialektik nichts weiter sei als eine Maschine, die aus Differenzen Identität erzeuge. Kontrovers ist auch die historische Verortung des Hegelschen Dialektik-Begriffs. Er wird gewöhnlich mit der antiken Dialektik und besonders mit Platon in Verbindung gebracht. Tatsächlich verweist Hegel an einer der prominentesten frühen Einlassungen zur der neueren Literatur sei exemplarisch verwiesen auf: Vernunftkritik nach Hegel. Analytisch-kritische Interpretationen zur Dialektik, hg. v. Christoph Demmerling und Friedrich Kambartel, Frankfurt / M 1992; Strukturen der Dialektik, hg. v. Hans Heinz Holz, Hamburg 1992; Andreas Arndt, Dialektik und Reflexion. Zur Rekonstruktion des Vernunftbegriffs, Hamburg 1994; Dieter Wandschneider, Grundzüge einer Theorie der Dialektik. Rekonstruktion und Revision dialektischer Kategorienentwicklung in Hegels ›Wissenschaft der Logik‹, Stuttgart 1995, Das Problem der Dialektik, hg. v. Dieter Wandschneider, Bonn 1997; Dialektik und Differenz. Festschrift für Milan Prucha, hg. v. Annett Jubara und David Benseler, Wiesbaden 2001; ferner Rainer Schäfer, Die Dialektik und ihre besonderen Formen in Hegels Logik. Entwicklungsgeschichtliche und systematische Untersuchungen, Hamburg 2001 sowie Klaus Düsing, Antinomie und Dialektik. Endlichkeit und Unendlichkeit in Hegels Auseinandersetzung mit Kants Antinomienlehre, in: Das Endliche und das Unendliche in Hegels Denken, hg. v. Francesca Menegoni und Luca Illeterati, Stuttgart 2004, 35–57; Letzterer betont Hegels Umdeutung der Kantischen Dialektik, während es mir im Folgenden darauf ankommt, die transzendentale Dialektik als den entscheidenden Problemhorizont der Hegelschen Konzeption von Dialektik zu identifizieren. 1 Aus
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Dialektik, nämlich in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes, auf Platons Parmenides als auf das »wohl das größte Kunstwerk der alten Dialektik« (GW 9, 48). Hegel habe, so fasst Manfred Riedel die herrschende Meinung zusammen, »die antike ›Dialogik‹ als ›Kunst der Gesprächsführung‹ methodisch zur Dialektik im neuzeitlichen Begriffssinn transformiert«.2 Dagegen haben andere Autoren eine sachliche Nähe zu Kants transzendentaler Dialektik hervorgehoben, wie z. B. Michael Wolff für den Widerspruchsbegriff und Rainer Schäfer für die negativ-skeptizistische Dialektik der frühen Jenaer Jahre.3 Tatsächlich hat Hegel wiederholt einen direkten Zusammenhang zwischen seiner Dialektik-Konzeption und derjenigen Kants behauptet. In dem Vorbegriff zur Logik in der zweiten Auflage der Enzyklopädie (1827) heißt es z. B. in Bezug auf die Antinomienlehre: »Die Hauptsache […] ist, daß nicht nur in den vier besondern, aus der Kosmologie genommenen Gegenständen die Antinomie sich befindet, sondern vielmehr in allen Gegenständen aller Gattungen, in allen Vorstellungen, Begriffen und Ideen. Dies zu wissen und die Gegenstände in dieser Bestimmung zu erkennen, gehört zum wesentlichen der philosophischen Betrachtung; sie macht das aus, was weiterhin sich als das dialektische Moment des Logischen bestimmt.« (GW 19, 64)4 Nach dieser Einlassung zu urteilen ließe sich Hegels Konzeption von Dialektik geradezu als Transformation der transzendentalen Dialektik Kants ansehen, nämlich als Transformation der Kantischen Theorie der dialektischen Oppositionen. Im Folgenden möchte ich versuchen, diese These sowohl in entwicklungsgeschichtlicher als auch in systematischer Perspektive zu erläutern. Dabei versteht es sich, dass mit der Profilierung des Hegelschen gegenüber dem Kantischen Begriff von Dialektik nur der aus meiner Sicht entscheidende Problemhorizont identifiziert und 2 Manfred Riedel, Vorwort, in: Hegel und die antike Dialektik, hg. v. Manfred Riedel, Frankfurt / M 1990, 9. 3 Michael Wolff, Der Begriff des Widerspruchs. Eine Studie zur Dialektik Kants und Hegels, Königstein / Ts. 1981; Schäfer, Die Dialektik und ihre besonderen Formen, 51–60. 4 Zur Auseinandersetzung Hegels mit Kants Antinomienlehre vgl. auch Düsing, Antinomie und Dialektik.
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abgesteckt, keineswegs aber die Genese der Hegelschen Konzeption erschöpfend rekonstruiert werden kann. Hierzu bedürfte es neben der umfassenden Einbeziehung der nachkantischen Diskussionen5 vor allem der Klärung der systematischen Bedeutung der Philosophie Spinozas vor dem hier erörterten Hintergrund. Denn offenbar verbindet Hegel das Kantische Konzept der transzendentalen Dialektik als Schluss auf die Totalität mit dem spinozistischen Gedanken der Totalität als All-Einheit, die sich qua Negation verendlicht. Aber auch diese Rekombination kantianischer und spinozistischer Elemente erfolgt im Rahmen der von der Kantischen DialektikKonzeption vorgezeichneten Problematik. Zunächst soll ein Blick auf den Kantischen Begriff von Dialektik geworfen werden (1), um dann in einem zweiten Schritt den Anknüpfungspunkt der Hegelschen Entwicklung und deren Richtung im Blick auf Kant näher zu bestimmen (2). Sodann gehe ich auf einige wesentliche Grundzüge des dialektischen Verfahrens in der Wissenschaft der Logik ein, um zu fragen, wieweit sie sich als Transformation der Transzendentalen Dialektik ansehen lassen (3). Und schließlich möchte ich auf dieser Grundlage einige Konsequenzen hinsichtlich der Bewertung nachhegelscher DialektikEntwürfe und Dialektik-Kritiken erörtern (4). (1) Kants Begriff der Dialektik ist zweideutig. Auf der einen Seite meint er im Blick auf die logisch-rhetorische Tradition die Kunst, »falsche Grundsätze unter dem Scheine der Wahrheit« vorzutragen, kurz: die »Kunst des Scheins«, an deren Stelle »eine Kritik dieses Scheines in die Logik eingeführt werden« müsse. 6 Dialektik über-
5 Vgl. Dieter Henrich, Konstellationen. Probleme und Debatten am Ursprung der idealistischen Philosophie (1789-1795), Stuttgart 1991; ders., Der Grund im Bewußtsein. Untersuchungen zu Hölderlins Denken (1794–1795), Stuttgart 1992; ders., Grundlegung aus dem Ich. Untersuchungen zur Vorgeschichte des Idealismus. Tübingen–Jena 1790–1794, Frankfurt / M 2004; Transzendentalphilosophie und Spekulation. Der Streit um die Gestalt einer ersten Philosophie (1799–1807), hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1993; Walter Jaeschke und Andreas Arndt, Die Klassische Deutsche Philosophie nach Kant. Systeme der reinen Vernunft und ihre Kritik 1785–1845, München 2012. 6 Kant, Werke, Bd. 9, 16 f.; vgl. KrV B 85 f.
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haupt ist Logik des Scheins bzw. »Kritik des dialektischen Scheins«.7 Unter dem Titel der transzendentalen Dialektik begegnet uns jedoch auch die Logik eines Scheins, der anderer Art ist und nicht etwa der betrügerischen Absicht eines Sophisten entspringt. Die transzendentale Dialektik ist »eine Kritik des Verstandes und der Vernunft in Ansehung ihres hyperphysischen Gebrauchs, um den falschen Schein ihrer grundlosen Anmaßungen aufzudecken und ihre Ansprüche auf Erfindung und Erweiterung […] zur bloßen Beurtheilung und Verwahrung des reinen Verstandes vor sophistischem Blendwerke herabzusetzen«. 8 Der Schein ist hier – anders, als es Kants Verweis auf die Sophistik nahelegt – nicht das Ergebnis einer täuschenden Absicht, sondern wir haben es hier mit einer »natürlichen und unvermeidlichen Illusion« zu tun, einer Dialektik, »die der menschlichen Vernunft unhintertreiblich anhängt«.9 Der von ihr erzeugte Schein gleicht, Kant zufolge, einer optischen Täuschung: Weiß man um diese und die Gesetze ihres Zustandekommens, so wird das Auge durch sie doch noch immer getäuscht;10 er ist also weder das Resultat einer täuschenden Absicht noch eines formallogischen Fehlers. Beide Bedeutungen von ›Dialektik‹ kommen darin überein, dass im Schein überhaupt, wie Kant sagt, »die subjektive Bedingung des Denkens vor die Erkenntnis des Objekts gehalten wird«.11 Der logische dialektische Schein wird entweder durch einen subjektiven Argumentationsfehler erzeugt oder durch einen falschen materialen, d. h. objektiven Gebrauch der Logik als Organon. Der transzendentale dialektische Schein dagegen beruht darauf, dass »in unserer Vernunft (subjektiv als ein menschliches Erkenntnisvermögen betrachtet) Grundregeln und Maximen ihres Gebrauchs liegen, welche gänzlich das Ansehen objektiver Grundsätze haben«.12 Warum dies so ist, wird nur einsichtig, wenn man die Eigenart der transzendentalen Logik gegenüber der allgemeinen Logik ins Auge 7
KrV B 86. KrV B 88. 9 KrV B 354 10 Vgl. ebd. Kants Beispiele. 11 KrV A 395. 12 KrV B 353. 8
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fasst: Sie abstrahiert nicht von allen Inhalten der Erkenntnis, sondern hat es mit den Gesetzen des Verstandes und der Vernunft zu tun, »sofern sie [die Logik, A.] auf Gegenstände a priori bezogen wird«.13 Diese Gegenstände sind in der transzendentalen Dialektik die traditionellen Vernunftgegenstände, die, Kant zufolge, »das Allgemeine der Bedingungen des Denkens« bezeichnen und auf diejenige Bedingung gehen, »die selbst unbedingt ist«, nämlich auf die Totalität aller Bedingungen des Denkens.14 Nun endet der Ausgriff der Vernunft auf das Unbedingte bekanntermaßen genau dort, wo ihr Zusammenstimmen mit sich aufhört und sie sich unvermeidlich in Selbstwidersprüche zu verwickeln scheint, wie z. B. in den Antinomien der reinen Vernunft. Nach Kants Auffassung handelt es sich jedoch nur um scheinbare Widersprüche, denn er unterscheidet strikt zwischen den zu vermeidenden kontradiktorischen Widersprüchen bzw. analytischen Oppositionen einerseits und den unvermeidlichen dialektischen Oppositionen andererseits.15 In dialektischen Oppositionen können beide entgegengesetzten Urteile »falsch sein, darum, weil eines dem andern nicht bloß widerspricht, sondern etwas mehr sagt, als zum Widerspruche erforderlich ist«.16 Dieses »mehr«, durch welches sich der Widerspruch als scheinbar erweist, ist die Hinsicht auf ein und denselben Gegenstand, von dem etwas zugleich bejaht und verneint wird. Ein solcher Gegenstand, wie er für das Vorliegen eines kontradiktorischen Widerspruchs erfordert ist, kann jedoch in den dialektischen Oppositionen gar nicht unterstellt werden. Vielmehr ist es gerade die Unterstellung eines solchen Gegenstandes, welche den dialektischen Schein erzeugt. Entgegengesetzte Urteile über die Unendlichkeit und Endlichkeit der Welt etwa setzen voraus, dass die Welt ein Ding an sich selbst sei, von dem Aussagen hinsichtlich der Größe gemacht werden könnten. »Nehme ich aber diese Voraussetzung, oder diesen transzendentalen Schein weg, und leugne, daß sie ein Ding an sich selbst sei, so verwandelt sich der kontradiktorische Widerstreit beider Behauptungen in einen 13
KrV B 81 f. KrV A 396 f. 15 KrV B 532; vgl. hierzu ausführlicher Wolff, Der Begriff des Widerspruchs. 16 KrV B 532. 14
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bloß dialektischen«.17 Beide Urteile sind falsch, weil sie Aussagen über etwas treffen, was uns nicht als ein Gegenstand gegeben sein kann. Mithin fehle es auch an der Voraussetzung eines wirklichen Widerspruchs der Vernunft mit sich selbst, wie Kant rückblickend feststellt.18 Gleichwohl erweist sich die hier getroffene Unterscheidung bei näherer Betrachtung als schwierig. Der Satz des Widerspruchs, so führt Kant 1790 in seiner Polemik gegen Eberhard aus, sei »ein Princip […], welches von allem überhaupt gilt, was wir nur denken mögen, es mag ein sinnlicher Gegenstand sein und ihm eine mögliche Anschauung zukommen, oder nicht: weil er vom Denken überhaupt ohne Rücksicht auf ein Object gilt. Was also mit diesem Princip nicht bestehen kann, ist offenbar nichts (gar nicht einmal ein Gedanke).«19 Diese rein formale Bestimmung des »echten« Widerspruchs jedoch – die aus Kants durchgängiger Auffassung folgt, das Prinzip des Widerspruchs lasse sich analytisch begründen – lässt sich in Bezug auf die dialektischen Oppositionen nicht durchhalten, denn diese sind der bloßen Form nach von den analytischen Oppositionen gar nicht zu unterscheiden. Ein Widerspruch liegt nicht schon dann vor, wenn Widersprechendes ausgesagt wird, sondern erst dann, wenn die entgegengesetzten Aussagen sich auf mögliche Gegenstände der Erfahrung beziehen. Mit anderen Worten: Die bloße Form des Widerspruchs ist amphibolisch, und es bedarf eben doch der Rücksicht auf das Objekt, um die Geltung des Widerspruchsprinzips festzustellen. Schwierig ist weiterhin der Status des Gegenstandes, der aus dem Vorliegen der einen oder der anderen Opposition folgt. Ein analytischer Widerspruch führt zur Aufhebung des Gegenstandes, sofern er ihn so bestimmt, dass er gar nichts und nicht einmal denkbar ist; er ist ein nihil negativum und irrepraesentabile. Eine dialektische Opposition hingegen führt allein zur Aufhebung der entgegengesetzten Urteile, weil beide kein objektiv gültiges Wissen beanspruchen können. Das Nichtsein des Gegenstandes in diesem 17
KrV B 533. KrV B 768. 19 Kant, Über eine Entdeckung, nach der alle neue Kritik der reinen Vernunft durch eine ältere entbehrlich gemacht werden soll, in: Werke, Bd. 8, 195. 18
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Sinne ist Voraussetzung und nicht Folge der Opposition, und der transzendentale Schein der Gegenständlichkeit beruht darauf, daß die Vernunft in dem Versuch, das sie Bedingende oder Unbedingte zu bestimmen, dieses gleichsam vergegenständlicht. (2) Die nachkantische Philosophie hat sich mit dieser Problemlage im Rahmen alternativer Strategien zur Begründung des Denkens auseinandergesetzt. Fichte wollte durch die Unmittelbarkeit der Selbstkonstitution des Ich in dem obersten Grundsatz der Wissenschaftslehre die Verdinglichung des Unbedingten (die er der Reflexion zuschreibt) vermeiden. Innerhalb der Sphäre der Reflexion freilich, also der Sphäre des empirischen Ich im Verhältnis zum Nicht-Ich, gerät die Wissenschaftslehre innerhalb der Wissenschaft des Praktischen jedoch wieder in eine der transzendentalen vergleichbare Dialektik, auch wenn Fichte dies zu überspielen versucht: Die relative Einheit von Ich und Nicht-Ich lässt sich nicht mehr auf die unmittelbar vorausgesetzte Identität zurückführen, denn dies hieße, wie Fichte selbst bemerkt, dass das Ich »in seinem Wesen sich selbst entgegengesezt, und widerstreitend« wäre, es wäre »gar nichts, denn es höbe sich selbst auf«.20 Fichtes Lösung besteht darin, dass er diesen für das empirische Ich notwendigen Widerstreit, Kant folgend, zum Schein erklärt. Dieser kann in einem besonderen Vermögen, dem der Einbildungskraft, als Schein festgehalten und darin zugleich in seinen Folgen entschärft werden.21 Johann Gottlieb Fichte, Werke. Akademie-Ausgabe, Stuttgart-Bad Cann statt 1962 ff., Abt. 1, Bd. 2, 389 f. 21 Vgl. ebd., 359: »Dieser Wechsel des Ich in und mit sich selbst, da es sich endlich, und unendlich zugleich sezt – ein Wechsel, der gleichsam in einem Widerstreite mit sich selbst besteht, und dadurch sich selbst reproducirt, indem das Ich unvereinbares vereinigen will, jezt das unendliche in die Form des endlichen aufzunehmen versucht, jezt, zurückgetrieben, es wieder ausser derselben sezt, und in dem nemlichen Momente abermals es in die Form der Endlichkeit aufzunehmen versucht – ist das Vermögen der Einbildungskraft«. – Mit der dabei implizit vorgenommenen Unterscheidung von Widerspruch und Widerstreit greift Fichte wohl die Terminologie Kiesewetters auf, der den Vorschlag gemacht hatte, auf diese Weise kontradiktorische und konträre Gegensätze zu bezeichnen (Johann Gottfried Carl Christian Kiesewetter, Grundriß einer reinen allgemeinen Logik nach Kantischen Grundsätzen zum Gebrauch für Vorlesungen begleitet mit einer weitern Auseinandersetzung 20
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Hierauf bezieht sich die Frühromantik bei ihrem Versuch, das Unbedingte nicht als absolutes Ich, sondern als das Absolute schlechthin im Sinne der spinozistischen Substanz zu denken. Die »Höchste Darstellung des Unbegreiflichen«, so Novalis in seinen Fichte-Studien (1795), sei »Synthese – Vereinigung des Unvereinbaren – Setzen des Widerspruchs, als Nichtwiderspruchs«.22 Novalis knüpft dabei direkt an Fichtes Bestimmung der Einbildungskraft an, denn die »absolute Synthese« ist die »EinbildungsKraft qua solche«.23 Daraus folgt, dass die Welt der »Dinge« oder des Bedingten die Welt des Scheins, d. h. des notwendigen Scheins des Widerspruchs, ist: »Was Ist, muß sich zu widersprechen scheinen«.24 Dieser Schein aber ist »die Form der Wahrheit«, 25 nämlich Schein als Vorschein oder Erscheinung des Absoluten selbst. »Alles Denken« müsse daher als »Kunst des Scheins«26 verstanden werden, d. h. kantisch gesprochen: als Dialektik, auch wenn Novalis diesen Terminus selbst nicht gebraucht. Gegenüber Kant ist die »Kunst des Scheins« aber nicht nur Kritik des Scheins, sondern zugleich Weg zur Wahrheit, sofern der Schein Vorschein des Absoluten ist. Und noch in einem zweiten Punkt geht Novalis über Kant hinaus: Die dialektischen Oppositionen, d. h. die als Nicht-Widerspruch zu setzenden Widersprüche, entstehen nicht erst durch die Verdinglichung des Unbedingten, sondern sind allen Dingen inhärent, weil und insofern alle ›Dinge‹ Verdinglichungen, d. h. Verendlichungen des Unbedingten, sind. Friedrich Schlegel, der diese Theorien Friedrich von Hardenbergs gut kannte, hat 1796 das Verfahren der Philosophie überfür diejenigen die keine Vorlesungen darüber hören können, Berlin 1791). Vgl. Andreas Arndt, Widerstreit und Widerspruch. Gegensatzbeziehungen in früh romantischen Diskursen, in: Romantik / Romanticism. Internationales Jahrbuch des Deutschen Idealismus / International Yearbook of German Idealism 2008, hg. v. Karl P. Ameriks, Jürgen Stolzenberg und Fred Rush, Berlin und New York 2009, 80–100. 22 Novalis, Schriften, hg. v. Richard Samuel in Zusammenarbeit mit HansJoachim Mähl und Gerhard Schulz, Stuttgart 1977 ff., Bd. 2, 111. 23 Ebd., 168. 24 Ebd., 267. 25 Ebd., 179. 26 Ebd., 181. Hegels Begriff der Dialektik im Blick auf Kant | 67
haupt als »dialektisch« bezeichnet und damit unter Bezug auf Kant einen positiven Begriff von Dialektik etabliert; zugleich brachte er die antike Tradition, namentlich Platon und Aristoteles, in diesem Zusammenhang wieder ins Spiel. Die Dialektik, so heißt es bei ihm, sei die »ächte Kunst, (nicht der Schein wie bey Kant) […] die Wahrheit mitzutheilen, zu reden, gemeinschaftlich die Wahrheit zu suchen, zu widerlegen und zu erreichen«.27 Auch bei Schlegel bewegt sich das Denken in widerstreitenden Bestimmungen, die auch in der Idee nur auf widersprüchliche Weise synthetisiert werden können: »Eine Idee ist ein bis zur Ironie vollendeter Begriff, eine absolute Synthesis absoluter Antithesen, der stets sich selbst erzeugende Wechsel zwei streitender Gedanken.«28 Ich möchte hier nicht die Frage ins Spiel bringen, ob Hegel von Schlegels Position gewusst hatte, und auch nicht auf andere, verwandte romantische Konzeptionen wie diejenigen von Adam Müller29 27 Friedrich Schlegel, Werke. Kritische Ausgabe, hg. v. Ernst Behler u. a., Paderborn, München und Wien 1958 ff., Bd. 18, 509, Nr. 50. Schlegel beruft sich gleichermaßen auf Platon und Aristoteles; woran deutlich wird, dass er in erster Linie auf eine Reformulierung und Umdeutung der Kantischen transzendentalen Dialektik abzielt und hierfür Stützpunkte in der Tradition sucht. 28 Schlegel, Werke, Bd. 2 , 184 (Athenaeum-Fragment 121); vgl. auch Werke, Bd. 18, 123, Nr. 4: »Ideale sind erreichbar, denn sie beruhen alle auf Synthesis und Widerspruch, Schweben, Schwanken.« 29 Adam Müller, Die Lehre vom Gegensatz (1804), in: Kritische, ästhetische und philosophische Schriften, hg. v. Walter Schroeder und Werner Siebert, Bd. 2, Neuwied und Berlin 1967, 193–248. – Karl Leonhard Reinhold hat auf Müllers Schrift 1805 mit einer bemerkenswerten Rezension in der Jenaischen Allgemeinen Literaturzeitung reagiert, worin er deren innere Widersprüchlichkeit bloßlegt und die Gelegenheit zu einem Rundumschlag gegen die zeitgenössische Philosophie seit Kant nutzt (im Anhang ebd., 541–547). Müllers »Nichtidentität des Identischen und des Nichtidentischen« sei nicht weniger befremdlich als die »Identität des Identischen und Nichtidentischen« (Hegel), die Charakterisierung der Nichtidentität als Abfall von Gott (Schelling), die Fichtesche Einheit von Ich und Nichtich sowie Kants ursprüngliche Einheit der Apperzeption (ebd., 544). Reinhold möchte den Aporien und Begriffsverwirrungen dadurch ein Ende machen will, daß er ein »unwandelbares, wechselloses ewiges Verhältnis« (ebd., 546) der Identität zur Nichtidentität statuiert, welches darin bestehen soll, »daß die Nichtidentität, als solche, die Hypothesis unter der Identität, als der Thesis sei«, so dass sie weder von der Identität getrennt noch ihr gleichgesetzt werden könne.
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und Friedrich Schleiermacher30 eingehen. Der kurze Blick auf Novalis und Schlegel sollte deutlich machen, dass Hegels eigene Konzeption von Dialektik ihren Ursprung einer von Kant eröffneten Problematik verdankt, die auch andere, durchaus vergleichbare Ansätze dialektischen Denkens hervorgebracht hat. Die Antinomienlehre der transzendentalen Dialektik kann – erstmals greifbar in dem Fragment Glauben ist die Art … (1795; GW 2, 10–13) – als der Leitfaden der Formierung des Hegelschen Dialektik-Begriffs angesehen werden. Die Antinomie hat hier nicht nur eine negative, sondern ebenso eine positive Seite, indem sie nicht nur die Nichtigkeit der Reflexion zur Erfassung des Seins erweist, sondern darin auch negativ das wahre Sein selbst als die geforderte Einheit hervortritt. Sie ist, wie in der romantischen Dia lektik, Vorschein des Absoluten selbst. Diese Position gilt ebenso für das Fragment absolute Entgegensetzung … (1800), das aber darüber hinaus auch den Antinomiebegriff auf ›alle Gegenstände‹ ausweitet. Das Leben ist, in Hegels Worten, durchgängig eine »Verbindung der Verbindung und der Nichtverbindung« (GW 2, 344). Entscheidend hierfür ist der Gedanke, dass Bestimmtheit nicht etwas ist, was einem ansichseienden, mit sich identischen Substrat wie ein Prädikat beigelegt werden könnte (Hegel nennt dies später die äußere Reflexion), sondern dass Bestimmtheit etwas ist, was nur relational verstanden werden kann, als immanente Reflexivität der Bestimmtheiten in ihrer Totalität. Anders gesagt: Jedes Bestimmen und jede Bestimmtheit erfordern letztlich den Ausgriff auf die Totalität des Bedingten und nicht erst ein von der gewöhnlichen Verstandestätigkeit abzuhebender Vernunftgebrauch. Nur unter dieser Voraussetzung wird einsichtig, dass die Antinomienlehre sich nicht nur auf kosmologische Gegenstände, sondern auf alle Gegenstände bezieht. Dieser Ansatz wird in der Schrift über die Differenz des Fichte’ schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (1801) dahingehend weiterentwickelt, dass die Antinomie als »der höchste formelle Ausdruk des Wissens und der Wahrheit« und der »sich selbst Schleiermacher, Vorlesungen über die Dialektik, hg. v. An dreas Arndt, Berlin und New York 2002 (Kritische Schleiermacher-Gesamtausgabe, Abt. 2, Bd. 10,1.2). 30 Friedrich
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aufhebende Widerspruch« erwiesen werden soll (GW 4, 26). In dem Journalaufsatz über Glauben und Wissen (1802) geht Hegel dann noch einen Schritt weiter, indem er das Positive der Antinomie als Mitte hervorhebt; in ihr sind »endliches und unendliches Eins, und deßwegen die Endlichkeit als solche verschwunden«; dabei »ist aber nur das, was an ihr [der Endlichkeit, A.] Negation ist, negirt worden, und also die wahre Affirmation gesetzt« (GW 4, 324). Auf dieser Linie macht Hegel das Dialektische, das er zunächst als ›rein negativ‹, als Selbstvernichtung der Reflexion, gefasst hatte, zum Moment der begreifenden Erkenntnis des Absoluten, zur immanenten Negativität des Logischen, in welchem sich das Absolute selbst auslegt. 31 Dies kann aber nur darum gelingen, weil die Antinomie nun nicht mehr nur als Ausdruck der absoluten Identität für den Verstand gilt, sondern als Negation der Negation, durch welche sich das Absolute selbst als Widerspruch affirmiert, denn der Grund, in den der Widerspruch sich in Hegels Wesenslogik auflöst, ist selbst der Widerspruch.32 (3) Die herausragende Bedeutung der transzendentalen Dialektik für seinen eigenen Begriff von Dialektik hat Hegel in seiner Einleitung zur Wissenschaft der Logik unterstrichen. Dort heißt es, es sei eines der »größten […] Verdienste« Kants, die Dialektik »höher gestellt« zu haben als alle Philosophen vor ihm, einschließlich Platon. Erst Kant habe der Dialektik »den Schein von Willkühr« genommen und sie »als ein nothwendiges Thun der Vernunft« dargestellt (GW 21, 40). Und ebenso heißt es in einem Zusatz zum Vorbegriff zur Logik der Enzyklopädie (1830), Kant habe gezeigt, dass es »in der Natur des Denkens selbst« liege, »in Widersprüche (Antinomien) zu verfallen, wenn dasselbe das Unendliche erkennen will«.33 Er habe jedoch das Entweder-Oder nicht, wie Hegel es in Anspruch nimmt, in ein Sowohl-Als auch transformiert, 34 sondern sei »bei 31 Vgl. Manfred Baum, Die Entstehung der Hegelschen Dialektik, Bonn 1986; Jaeschke, Hegel-Handbuch, 97–100. 32 Vgl. Michael Wolff, Der Satz vom Grund, oder: Was ist philosophische Argumentation?, in: Neue Hefte für Philosophie 26 (1986), 89–114. 33 HW 8, 128, Zusatz zu § 48. 34 Vgl. ebd., 99, Zusatz zu § 32.
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dem bloß negativen Resultat der Nichterkennbarkeit des Ansich der Dinge« stehengeblieben. 35 Die »wahre und positive Bedeutung der Antinomien« bestehe aber gerade darin, dass »alles Wirkliche« entgegengesetzte Bestimmungen in sich enthalte und das Begreifen aller Gegenstände diese als widersprüchliche Einheit bewusst zu machen habe.36 Und auch in den Ausführungen zur absoluten Methode heißt es, es sei als ein »unendlich wichtiger Schritt anzusehen«, dass bei Kant »die Dialektik wieder als der Vernunft nothwendig anerkannt worden, obgleich das entgegengesetzte Resultat gegen das, welches daraus hervorgegangen, gezogen werden muß«. (GW 12, 242) Ein besonderes Verdienst kommt Kant nach Hegel auch dadurch zu, dass er auf das »unkritische Verfahren« der traditionellen Dialektik »die Aufmerksamkeit gezogen, und damit den Anstoß zur Wiederherstellung der Logik und Dialektik, in dem Sinne der Betrachtungen der Denkbestimmungen an und für sich« gegeben habe (GW 12, 243 f.).37 Dieses unkritische Verfahren besteht Hegel zufolge vor allem in dem »Grundvorurtheil […], daß die Dialektik nur ein negatives Resultat habe« (GW 12, 243), wobei aus dem Widerspruch zweier Bestimmungen, die einem Gegenstand beigelegt werden, entweder die Nichtigkeit des Gegenstandes oder des Erkennens gefolgert werde; hingegen blieben »die Bestimmungen, welche an ihm [dem Gegenstand, A.] als einem Dritten aufgezeigt werden, unbeachtet […] und als für sich gültig vorausgesetzt« (GW 12, 243). Was Hegel hier beschreibt, ist das Verfahren der äußerlichen Reflexion, die darin besteht, gegebene Bestimmungen fixen Gegenständen beizulegen oder abzusprechen. Auch Platons Dialektik im Parmenides sei, so heißt es in der zweiten Auflage der Lehre vom Sein, »mehr für eine Dialektik der äussern Reflexion zu achten« (GW 21, 87) und habe (so in der ersten Auflage) »theils 35
Ebd., 128, Zusatz zu § 48.
36 Ebd.
37 »Wiederherstellung« spielt wohl darauf an, dass Hegel an Platons Dialektik die Forderung hervorhebt, »die Dinge an und für sich selbst zu betrachten«, jedoch hat Platon dies nach Hegels Auffassung offenbar nicht für die Gedankenbestimmungen an und für sich realisieren können (GW 12, 241 f.; vgl. Parmenides 135d–e).
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nur die Absicht, beschränkte Behauptungen durch sich selbst aufzulösen und zu widerlegen, theils aber überhaupt das Nichts zum Resultate«. (GW 11, 26) Das Verdienst Kants besteht demnach für Hegel in einer Neubegründung der Dialektik, welche aus dem Vorliegen der Form des Widerspruchs weder auf die Nichtigkeit des Gegenstandes schließt (denn über das Unbedingte ist durch die Antinomien gar nichts gesagt), noch auf einen subjektiven Argumentationsfehler. Indem die dialektischen Oppositionen nach Hegels Kant-Interpretation ebenso die Nichtigkeit der dem Unbedingten beigelegten Bestimmungen wie auch die Unvermeidlichkeit ihres Widerspruchs in Ansehung des Unbedingten aufzeigen, stellen sie einen entscheidenden Schritt hin zu demjenigen Effekt der Dialektik dar, den Hegel – vor allem in der Phänomenologie des Geistes – als Verflüssigung der festen Gedanken bzw. Verstandesbestimmungen bezeichnet (vgl. GW 9, 28). Die dialektische Methode, wie Hegel sie im Schlusskapitel der Wissenschaft der Logik beschreibt, lässt sich ohne weiteres in den bisher aufgezeigten Rahmen seiner Interpretation der Kantischen transzendentalen Dialektik einstellen. Den Anfang macht sie mit einem einfachen Allgemeinen, das, wie Hegel betont, an sich konkrete Totalität ist (GW 12, 241), d. h. eine in sich reflektierte Einheit Unterschiedener. Sofern wir es hier mit der Methode der Wissenschaft der Logik zu tun haben, die als Selbsterfassung des reinen Denkens konzipiert ist, kommt diese Allgemeinheit mit der Totalität des Denkens im Sinne der transzendentalen Dialektik überein. Das bedeutet indessen nicht, dass die Erkenntnis nicht auch an einem einzelnen äußerlichen Dasein anknüpfen könnte.38 Die Methode hat aber dieses Dasein, um es als das zu bestimmen, was es ist, so anzusehen, dass sie »die Bestimmung des Allgemeinen in ihm selbst findet und erkennt«. 39 D. h.: Es ist selbst als in sich konkrete Totalität, als Einheit verschiedener Momente anzusehen. Dies ist für Hegel jedoch keine bloße Strukturanalogie mit dem Ganzen als der Totalität des Begriffs (etwa nach dem Schema der Entsprechung von Mikro- und Makrokosmos), sondern in einem begrifflich präzisierbaren Sinne zu verstehen: Etwas ist, was es ist, 38 Ebd. 39 Ebd.
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nur in der Beziehung auf Anderes, was es nicht ist, so dass es Einheit (Beziehung) und Unterschied ebenso an ihm selbst hat, wie es innerhalb der Einheit als der Totalität der Beziehungen unterschieden ist. In Hegels Worten heißt das, dass das Andere sich als das Andere seiner – nämlich des anfänglichen Allgemeinen – bestimmt.40 Dies ist nach Hegel das ebenso »synthetische als analytische Moment des Urteils« oder »das Dialektische« (GW 12, 242). Analytisch, sofern alle Folgebestimmungen in dem anfänglichen Allgemeinen enthalten sind, synthetisch, sofern diese Folgebestimmungen dieses Allgemeine von sich selbst unterscheiden. Hegels dialektische Methode lässt sich als ein Verfahren ansehen, das die Perspektive der Totalität der Denkbestimmungen verfolgt und hierin mit dem Einsatzpunkt der Kantischen transzendentalen Dialektik übereinkommt. Anders als für Kant jedoch ergeben sich für Hegel dialektische Oppositionen nicht erst auf diesem Punkt, indem das Unbedingte, obwohl es kein Gegenstand der Erfahrung ist, verdinglicht wird. Hegel geht es primär gar nicht darum, das Unbedingte als ein für sich gestelltes zu bestimmen, vielmehr ist ihm die Bestimmung jedes »Dinges« als das, was es ist, nur in der Perspektive der Totalität möglich, weil sie diesem »Ding« selbst eingeschrieben ist. Wie eingangs zitiert, besteht ja das dialektische Moment des Logischen gerade darin, die Antinomie oder den Widerspruch »in allen Gegenständen aller Gattungen, in allen Vorstellungen, Begriffen und Ideen« zu erkennen (GW 19, 64). Der Widerspruch ist dabei gerade dasjenige, was alle Verdinglichungen, Fixierungen und Abstraktionen auflöst. Indem ein anfängliches Unmittelbares sich als das Andere seiner selbst bestimmt und in ein Negativitätsverhältnis zu sich tritt, verliert es seine Unmittelbarkeit und geht in den Widerspruch über. Dieser Selbstwiderspruch der zweiten Bestimmung, nämlich des Anderen 40 Es gehört zu den hartnäckigen Fehlurteilen, dass »das Andere seiner selbst« vom Absoluten her gedacht sei und den Selbst(re)produktionsakt der Idee bezeichne; tatsächlich bestimmt sich für Hegel jedes Etwas in der Beziehung auf Anderes so, dass es dieses als das Andere seiner selbst, nämlich der in ihm befindlichen Bestimmung des Allgemeinen, bestimmt, wie es denn auch selbst das Andere seiner selbst, also Selbst und Nicht-Selbst zugleich oder der daseiende Widerspruch ist.
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seiner selbst (des anfänglichen Unmittelbaren), mit sich identisch und nichtidentisch zugleich zu sein, ist für Hegel »die gesetzte Dialektik ihrer selbst« (GW 12, 245). Das besagt, dass wir es hier nicht mehr mit einem gegebenen Unmittelbaren zu tun haben, das als dinghaftes Substrat angesehen werden könnte, sondern mit einem Verhältnis, d. h.: mit einer immanenten Reflexivität der Bestimmungen (Unmittelbarkeit und Negativität) selbst. Die zweite Bestimmung, die Negativität, ist als das Andere der ersten, der Unmittelbarkeit oder der einfachen Allgemeinheit, nicht nur vermittelt, sondern sie vermittelt auch zwischen sich und der ersten oder sie ist, wie Hegel es ausdrückt, das Vermittelnde. Das Negative ist das Vermittelnde, weil es als die gesetzte Dialektik seiner selbst oder der gesetzte Widerspruch »sich selbst und das Unmittelbare in sich schließt, dessen Negation es ist.« (GW 12, 247) Hieraus folgt für Hegel der entscheidende »Wendepunkt der Methode« (GW 12, 247), nämlich die Selbstbezüglichkeit der Negativität, welche – als Negation der Negation – den Widerspruch aufhebt und die Einheit der ersten und zweiten Bestimmung, d. h. der Unmittelbarkeit und der Vermittlung, realisiert. Das wiederhergestellte, mit sich identische Ganze ist somit vermittelte Unmittelbarkeit, eine einfache Bestimmtheit, »welche wieder ein Anfang seyn kann« (GW 12, 248). Dies bedeutet indes, dass die Unmittelbarkeit hier »nur Form« ist (GW 12, 249), deren Inhalt sich als Resultat ergeben hatte. Hier tritt nach Hegel »der Inhalt des Erkennens als solcher« (GW 12, 249) in die methodische Betrachtung ein, wodurch sich die Methode zum System erweitert. Ich möchte an dieser Stelle den Systemcharakter der Methode nicht weiterverfolgen, da es mir vor allem darauf ankam, Hegels Auffassung des Widerspruchs im Verhältnis zu Kant zu skizzieren. Dass der Begriff des Widerspruchs im Mittelpunkt von Hegels Dialektik-Konzeption steht und die »Springquelle« (Marx41) oder der Treibsatz der Dialektik ist, dürfte kaum zu bezweifeln sein. Auch dafür, dass Hegel meint, Kant für die Unvermeidlichkeit des Denkens von Widersprüchen zum Kronzeugen machen zu können, gibt es hinreichend Belege. Ob Hegel mit seiner Kant-Interpretation richtig liegt, ist damit freilich noch nicht gesagt und ebenso 41
Karl Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW, Bd. 23, 623.
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wenig entschieden, ob Hegels eigene Auffassung des Totalitätsbezuges des denkenden Bestimmens den Widerspruch in der Weise zwingend macht, wie es seine Reflexion der dialektischen Methode behauptet. Diese Fragen sollen hier nicht weiter erörtert oder gar entschieden werden; wohl aber ist darauf hinzuweisen, welches komplexe Verhältnis der dialektischen Methode zur formalen Logik eine solche Erörterung zu berücksichtigen hat. Indem Hegel die Antinomie als Widerspruch interpretiert und von den Grenzen des Denkens gleichsam in dessen Zentrum verlagert, scheint er – und dies ist von Trendelenburg bis Popper und darüber hinaus als das Skandalon seiner Philosophie angesehen worden – Kants Unterscheidung analytischer und dialektischer Oppositionen zu ignorieren. Tatsächlich weiß Hegel sehr wohl um diese Unterscheidung, denn seine Fassung der Antinomie als Selbstbezüglichkeit der Negativität oder Selbstwiderspruch des Widerspruchs ergibt sich erst aus dem Zusammendenken von Widerspruch und Nichtwiderspruch im Horizont der Totalität des bestimmenden Denkens. Hier könnte Hegel mit Recht geltend machen, dass Kant diesen Zusammenhang nicht reflektiert, obwohl er sich in der transzendentalen Dialektik als Problem dadurch ergibt, dass ein auf den Nichtwiderspruch verpflichtetes Denken gleichwohl unvermeidlich in Oppositionen gerät, deren Form die des Widerspruchs ist. Für Hegel kann das Prinzip der Widerspruchsfreiheit deshalb weder einfach vorausgesetzt noch bloß formal bestimmt, sondern muss durch die Reflexion auf das Verhältnis von Nichtwiderspruch und Widerspruch inhaltlich in dem Bereich seiner Geltung bestimmt werden. Und ebenso ist auch der ›dialektische‹ Widerspruch in seinem Verhältnis zum Nichtwiderspruch zu bestimmen. Ein bloßer Argumentationsfehler liegt dann vor, wenn dieses Verhältnis nicht beachtet wird. Die Beliebigkeit des Setzens von Widersprüchen, die Hegel gern angedichtet wird, wäre für ihn in der Tat nur die Kehrseite des Dogmatismus der Widerspruchsfreiheit, der ebenso wenig das Verhältnis reflektiert. Die Ausweitung der als Widerspruch gefassten Antinomie zu dem die ganze Logik durchziehenden »dialektischen Moment des Logischen« suspendiert nicht einfach die ›gewöhnliche‹ Logik, sondern begründet und rechtfertigt sie allererst im Rahmen dessen, was Kant als eine transzendentale Logik bezeichnet hatte. Hegels Begriff der Dialektik im Blick auf Kant | 75
(4) Das Verfahren der Dialektik steht nicht nur deshalb in der Kritik, weil es die Prinzipien der Logik zu verletzen scheint, sondern auch deshalb, weil es in der Tat metaphysische Ansprüche mit sich führt, was in den angeblich nachmetaphysischen Zeiten besonders dann keine Empfehlung ist, wenn diese Ansprüche Zumutungen an die Metaphysik des sogenannten gesunden Menschenverstandes enthalten. Nun hat Hegel selbst sich mit der Verstandesmetaphysik ausführlich auseinandergesetzt und auch Karl Marx hat der Metaphysik der nachklassischen politischen Ökonomie in den Theorien über den Mehrwert besondere Aufmerksamkeit geschenkt.42 Insofern wäre hiervon weiter kein Aufheben zu machen, wenn nicht inzwischen eine neue Form des nachmetaphysischen Bewusstseins auf den Plan getreten wäre, die sich von der Nicht-Metaphysik der Alltagsmetaphysik wesentlich unterscheidet. Die, wenn man sie so nennen darf, ›klassische‹ Verstandesmetaphysik kritisierte die Dialektik vor allem deswegen, weil sie mit den Identitäten auch die fixen Entitäten auflöste und damit einen Nihilismus heraufbeschwor, der begriffliche Trugbilder an die Stelle des wohlgegründeten empirischen Seins setzte. Die neue Metaphysikkritik kehrt dieses Verhältnis um: die Dialektik halte an Identitäten fest, die in Wahrheit nur Trugbilder (simulacra) seien, simuliert durch ein Spiel von Differenz und Wiederholung. So spricht Gilles Deleuze von einem »verallgemeinerten Antihegelianismus« unserer Zeit, in welchem die »Differenz und die Wiederholung […] an die Stelle des Identischen und des Negativen, der Identität und des Widerspruchs getreten« seien: »Denn nur in dem Maße, wie man die Differenz weiterhin dem Identischen unterordnet, impliziert sie das Negative und läßt sich bis zum Widerspruch treiben. Der Vorrang der Identität, wie immer sie auch gefaßt sein mag, definiert die Welt der Repräsentation.«43 Dieser Antihegelianismus hat inzwischen auch den Marxismus erreicht; für Michael Hardt und Antonio Negri etwa ist dialektisches Denken für die Analyse der neuen Weltordnung in ihrem Buch Empire ein völlig untaugliches Mittel, denn die Dialektik setze »binäre Aufteilungen, wesenhafte Vgl. Andreas Arndt, Karl Marx. Versuch über den Zusammenhang seiner Theorie, Berlin 22012, 230–233. 43 Gilles Deleuze, Differenz und Wiederholung, München 1992, 11. 42
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Identitäten und Totalisierung«44 voraus, ein Programm, das Differenzen nur noch als Momente im Übergang zur Synthese und damit zur Identität kenne. Diese Dialektik wird ausdrücklich als »die Hegelsche Dialektik« vorgestellt, »d. h. die Dialektik, welche die einander gegenüberstehenden essenziellen sozialen Identitäten in eine kohärente Totalität einordnet«.45 Von diesen Kritiken, die immer wieder einen prominenten Vorläufer in Adornos Negativer Dialektik finden, trifft so viel zu, dass die Totalisierung in der Tat eine unverzichtbare Voraussetzung dialektischen Denkens ist; ich wüsste auch nicht, was die Rede von Dialektik überhaupt meinen könnte, wenn sie nicht ein totalisierendes Verfahren einschließen würde. Totalisierung bedeutet – und hier kann einfach an die Kantische Bestimmung erinnert werden – die Beziehung aller Erkenntnisse auf die Totalität der Bedingungen ihres Erkennens. Hierin liegt keineswegs, jedenfalls nicht a priori, ein unkritischer, affirmativer Zug, wie die postmoderne Verwerfung der Dialektik suggeriert. Im Gegenteil, die Rückführung einer Bestimmung auf die Totalität ihrer Bedingungen ist der Kern dialektischer Kritik, sofern sie sich nicht mit dem Gegebensein von etwas – weder von Identitäten noch Entitäten – zufriedengibt. Auch die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie benutzt in dieser Weise das Totalisieren als Mittel der Kritik, indem sie den Umkreis aller Bedingungen einer gegebenen, scheinbar natürlichen Produktionsweise zu rekonstruieren versucht und sie damit als spezifisch historisch bedingt und in sich widersprüchlich verfasst erweisen will. Unkritisch wird das Totalisieren nach Ansicht der Kritiker dadurch, dass es auf eine Synthese oder Identität zielt, in der ein Subjekt – letztlich die absolute Idee – fingiert werde, welches alle Momente des Ganzen beherrsche. Diese Kritik an der Logik der Repräsentation unterstellt nicht eine Transzendenz der Idee im 44 Michael Hardt und Antonio Negri, Empire. Die neue Weltordnung, Frankfurt und New York 2003, 157. – Vgl. hierzu ausführlicher Andreas Arndt, Globalisierung, Dialektik und Differenz. Zur postmodernen Wahrnehmung der Moderne, in: Globalisierung. Probleme der Postmoderne, hg. v. Erwin Hufnagel und Jure Zovko, Berlin 2006, 139–156. 45 Ebd., 157.
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traditionellen Sinne; sie richtet sich dagegen, dass der Zusammenhang für sich gestellt und das Ganze als dessen Selbstpräsenz interpretiert werde. Dadurch werde so etwas wie ein transzendentales Signifikat etabliert, das alle Momente zu Signifikanten seiner selbst mache. Dieser Einwand ist durchaus ernst zu nehmen, aber er trifft meines Erachtens nicht grundsätzlich das dialektische Verfahren, sondern stellt die Frage nach den Grenzen der Konstruktion selbstbezüglicher Einheiten als (Makro-)Subjekte. Diese Frage betrifft das spezifische Verhältnis von Identität und Nichtidentität innerhalb von Totalitäten und damit das Grundproblem der Dialektik. Eine begriffliche Klärung dieser Frage kommt indessen weder an der Kategorie der Totalität noch an der Kategorie der Identität vorbei und die Auskunft, anstelle der Metaphysik der Präsenz gebe es nur ein Spiel der Differenzen, trägt zu dieser Klärung offenkundig nichts bei. Auch Karl Marx hatte sich wiederholt dagegen gewandt, Totalitäten wie »Gesellschaft« und dergleichen als ein (Makro-) Subjekt zu betrachten. In seinen Darlegungen zur Kritik der politischen Ökonomie geht er daher auch über den Aufweis der Negativität der bestehenden Verhältnisse nicht hinaus. Die Widersprüche, wie Marx sie denkt, sind Widersprüche im Endlichen, deren »Auflösung« das Ende eines bestimmten Endlichen anzeigt, ohne daraus per Negation der Negation eine neue Gesellschaft als Position hervorgehen zu lassen. So heißt es im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapital, die Dialektik schließe »in dem positiven Verständnis des Bestehenden zugleich auch das Verständnis seiner Negation, seines notwendigen Untergangs« ein und fasse »jede gewordne Form im Flusse der Bewegung, also auch nach ihrer vergänglichen Seite« auf.46 Was dieser Befund für die Theorie der Dialektik selbst bedeuten könnte, ist jedoch nicht ohne weiteres klar. Betrachtet man die Marxsche Konzeption von Dialektik im Kapital als eine einzelwissenschaftliche oder realphilosophische Anwendung der Hegelschen, so wäre der Verzicht auf eine abschließende Synthese schlicht der Orientierung an der Empirie geschuldet. Betrachtet man sie dagegen als eine Dialektik, die sich – wie es Marx ja wie46
MEW, Bd. 23, 28.
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derholt behauptet – in ihrer Grundlage von der Hegelschen nicht nur unterscheidet, sondern geradezu ihr Gegenteil ist, so indiziert das negative Resultat der Dialektik bei Marx eine grundlegend andere Konzeption, die Totalitäten nur als endliche ansieht. Die Diskussion über andere Formen der Dialektik ist somit zugleich auch eine Diskussion über den Begriff der Wirklichkeit oder – metaphysisch gesprochen – das, was in Wirklichkeit ist. Wenigstens insoweit führt jede Dialektik, auch die Marxsche, unabweisbar Probleme mit sich, welche die Metaphysik betreffen. Auch darin bleibt die moderne Dialektik im Problemhorizont Kants.
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Dialektik und Urteilskraft (1) Nicht von der Dialektik der Urteilskraft bei Kant soll im Folgenden die Rede sein, sondern von dem Verhältnis der Hegelschen Dialektik zur kantischen Theorie der Urteilskraft. Unter Dialektik verstehe ich hier das, was Hegel die absolute Methode nennt, also den Abschnitt über die absolute Idee, welcher die Wissenschaft der Logik beschließt. Hierbei geht es mir nicht um die Fragen, was unter »Dialektik« bei Hegel eigentlich zu verstehen sei, welche Struktur sie habe und welche methodischen Schritte sie erfordere. Es ist mir hier ausschließlich darum zu tun, in welchem Verhältnis diese Methode zur Realität steht, d. h. zu dem, was bei Hegel die Gegenstände der Realphilosophie sind: Natur, subjektiver und objektiver Geist. Während die absolute Idee für wahrhafte Allgemeinheit bzw. wahre Unendlichkeit steht, ist die Realität dadurch bestimmt, dass sie endlich ist und es innerhalb der Bestimmung der Endlichkeit bestenfalls zur schlechten Unendlichkeit bringt. Wahre Unendlichkeit bezeichnet ein in sich geschlossenes Ganzes, das alle Elemente in sich und nichts außer sich enthält; insofern ist es das Absolute, da es sich nur auf sich selbst bezieht und von nichts anderem abhängig ist. Die schlechte Unendlichkeit dagegen bezeichnet einen Prozess, in dem das Endliche unendlich fort geschrieben wird; Beispiel hierfür ist die arithmetische Folge: Zu jeder Zahl lässt sich eine weitere hinzuaddieren. Was hat das mit dem Problem der Urteilskraft zu tun? Die Leistung der Urteilskraft besteht bei Kant darin, das Besondere auf das Allgemeine zu beziehen; eben dies charakterisiert auch das Verhältnis der absoluten Idee als des schlechthin Allgemeinen zur Realität. Nach Hegel ist sie der »Trieb«, »durch sich selbst in Allem sich selbst zu finden und zu erkennen«. (GW 12, 238) In diesem Sinne muss die Idee sich mit der Realität des Endlichen vermitteln lassen. Diese Vermittlung ist nicht schon immer geleistet, wie manche Kritiker argwöhnen, noch ist sie problemlos, wie es die junghegelianische Gerüchteküche zu wissen glaubte. 80 | Logik
Für Feuerbach etwa war ausgemacht, dass Hegel schon deshalb keine Probleme mit der Vermittlung habe, weil er »auch das Unverträglichste im Magen seines ›concreten Begriffs‹ verträgt, auch das Unvereinbarste vereinigt, und in dieser Vereinigung des Widersprechensten das Grundwesentliche […] zu einer Stufe oder einem ›Moment‹ macht«.1 Nicht anders liest es sich bei Marx in seiner Kritik des Hegelschen Staatsrechts von 1843: »Der konkrete Inhalt, die wirkliche Bestimmung erscheint als formell; die ganz abstrakte Formbestimmung erscheint als der konkrete Inhalt. […] Nicht die Rechtsphilosophie, sondern die Logik ist das wahre Interesse. […] Nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik ist das philosophische Moment.«2 Hegel, so der Vorwurf, präge die Begriffsform dem empirischen Material einfach auf; in Wahrheit gehe es ihm nicht um Vermittlung mit der Realität – die »Logik der Sache« – sondern nur um die Selbstvermittlung des Begriffs, die in der Wissenschaft der Logik immer schon geleistet sei. Demgegenüber scheint Kant eine realitätsorientiertere Position einzunehmen. Wenn das Allgemeine zwar gegeben ist, das Besondere aber erst darunter subsumiert werden muss, wie in der bestimmenden Urteilskraft, und mehr noch: Wenn das Allgemeine zum Besonderen erst gefunden werden muss, wie in der reflektierenden Urteilskraft, dann ist zwischen Begriff und Erscheinung eine Differenz gesetzt, die es verbietet, vom einen auf das andere einfach zu schließen – und deshalb bedarf es ja auch eines weiteren Vermögens, der Urteilskraft, welches die Vermittlung leistet. Wenn Hegel sich nur für den Begriff interessieren würde, wie nicht nur Marx es vermutet hat, dann gäbe es diese Differenz nicht oder sie wäre bedeutungslos. Tatsächlich aber betont er in der Wissenschaft der Logik ausdrücklich, dass sich die Realität als das Reich des Endlichen per se in einer wesentlichen Differenz zur logischen Idee befindet. Der subjektive und objektive Geist können gar nicht in der Weise selbstbezüglich sein, wie der sich selbst als Begriff 1 Ludwig Feuerbach, Schriften zur Ethik und nachgelassene Aphorismen, in: Sämtliche Werke, hg. v. Wilhelm Bolin und Friedrich Jodl, Bd. 10, Reprint Stuttgart-Bad Cannstatt 1960, 234. 2 Karl Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, in: MEGA 2 , Abt. 1, Bd. 2, 18.
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erfassende Begriff. Mit anderen Worten: Hier gibt es konstitutiv und unhintergehbar eine Nichtidentität gegenüber dem Begriff als solchem: »Die endlichen Dinge sind darum endlich, indem sie die Realität ihres Begriffs nicht vollständig an ihnen selbst haben, sondern dazu anderer bedürfen; – oder umgekehrt, insofern sie als Objecte vorausgesetzt sind, somit den Begriff als eine äusserliche Bestimmung an ihnen haben.« (GW 12, 175) Anders gesagt: Der reale Gegenstand ist nicht a limine mit dem Begriff identisch und daher lässt sich Realität, wie bei Kant, weder aus dem Begriff einfach ableiten noch ohne weiteres in den Begriff überführen. Warum das so ist, hat Dieter Henrich im Blick auf prominente Interpreten bereits vor gut 60 Jahren festgestellt: In »direktem Gegensatz« zu ihnen könne gezeigt werden, »daß der spekulative Idealismus Hegels zwar die Notwendigkeit des Ganzen des Seienden behauptet, daß er aber dennoch so wenig beansprucht, alles Individuelle deduzieren zu können, daß er vielmehr die einzige philosophische Theorie ist, die den Begriff des absoluten Zufalls kennt«.3 Das heißt: Der Zufall selbst ist notwendig oder Moment der Notwendigkeit, damit aber nicht das Zufällige als Existierendes. Es kann in seiner Existenz nicht aus dem Begriff gefolgert werden, der Begriff bleibt ihnen, wie Hegel in der zitierten Stelle aus der Begriffslogik sagt, äußerlich. Diese Äußerlichkeit begründet genau jene Differenz, die Kant mit seiner Theorie der Urteilskraft überbrücken will. Mit diesen einleitenden Vorabklärungen, die ich hier nicht weiter vertiefen kann, ist der Rahmen gegeben, die Frage nach dem Verhältnis von Dialektik und Urteilskraft zu beantworten. Wenn, so ist jetzt die Frage genauer zu fassen, für Hegel zwischen dem Begriff bzw. der Idee (dem sich selbst als Begriff erfasst habenden Begriff) und der Realität eine notwendige Differenz besteht, warum führt dies bei ihm nicht dazu, ein wie immer geartetes Äquivalent zu Kants Theorie der Urteilskraft in seine Philosophie einzubeziehen? Ich kann die Antwort hier selbstverständlich nicht vorwegnehmen, möchte aber wenigstens doch andeuten, wo sie meines ErDieter Henrich, Hegels Theorie über den Zufall, in: ders., Hegel im Kontext, Frankfurt / M 1971, 157–186, hier: 159. Der Text geht auf Henrichs Habilitationsvortrag von 1956 zurück. 3
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achtens zu finden ist. Erstens ist auf Hegels Begriff des Allgemeinen zu verweisen, der aus der philosophischen Tradition insofern ausbricht, als er das wahrhaft Allgemeine, die Totalität, nicht als Spitze einer hierarchischen Struktur denkt und daher auch das Verhältnis der Subsumtion nicht für ein adäquates Verhältnis des Einzelnen und Besonderen zum Allgemeinen ansieht. Und zweitens hält Hegel das Urteil für eine defizitäre logische Form, sofern – und dies ist für unsere Problematik von grundlegender Bedeutung – die Vermittlung von logischem Subjekt und logischem Prädikat, die Kopula des Urteils, eine Leerstelle bleibt; erst im Schluss lässt sich diese Vermittlung begrifflich nachvollziehbar darstellen. Bei Kant ist umgekehrt der Schluss gegenüber dem Urteil defizitär, sofern ihm, wie die transzendentale Dialektik zeigt, als reiner Vernunftschluss im Rahmen der transzendentalen Logik im Unterschied zum Urteil keine objektive Gültigkeit zukommt. Im Folgenden werde ich so vorgehen, dass ich zunächst Hegels Auseinandersetzung mit Kants Theorie der Urteilskraft von ihren systematischen Voraussetzungen her rekonstruiere (2), um dann eine Antwort darauf zu versuchen, wie Hegel mit der Überführung des Urteils in den Schluss eine Antwort darauf finden kann, wie die konstitutive Differenz von Begriff und Realität zu überbrücken sei (3). (2) Bereits in seinem Jenaer Aufsatz Glauben und Wissen (1802) hebt Hegel die reflektierende Urteilskraft als den »interessanteste[n] Punct des Kantischen Systems« hervor, »auf welchem es eine Region erkennt, welche eine Mitte ist zwischen dem empirischen Mannichfaltigen und der absoluten abstracten Einheit« (GW 4, 338). Hervorzuheben ist, dass Hegel die bestimmende Urteilskraft, das Ausgehen von einem gegebenen Allgemeinen, offenbar für weniger interessant hält. Das ist auch in der Wissenschaft der Logik der Fall, wo er in einer Anmerkung zur äußeren Reflexion im Rahmen der Lehre vom Wesen auf Kants Theorie der Urteilskraft eingeht. Sie hat dort, in der äußeren Reflexion, ihren Ort, weil Kant die Reflexion hier »gewöhnlicher Weise in subjectivem Sinne« nehme, »als die Bewegung der Urtheilskraft, die über eine gegebene unmittelbare Vorstellung hinausgeht, und allgemeine Bestimmungen für dieselbe sucht oder damit vergleicht«. (GW 11, 254) Dieses HinausDialektik und Urteilskraft | 83
gehen über die Unmittelbarkeit ist die eigentliche Leistung der reflektierenden Urteilskraft; das Einzelne wird erst dadurch in Beziehung auf ein Allgemeines als ein Besonderes bestimmt. Das Defizit der reflektierenden Urteilskraft besteht dagegen in der Annahme, das Einzelne sei für sich genommen »ein unmittelbares Seyendes« (GW 11, 254). Für Hegel ist dies eine unhaltbare Annahme, die er dem Verstandesdenken zurechnet. Das Verstandesdenken bzw. die Verstandesmetaphysik geht nach seiner Auffassung davon aus, dass die ›Welt‹ aus mit sich identischen Dingen besteht, die unmittelbar das sind, was sie sind, weil sie mit sich identisch sind. Die ›Welt‹ ist dann gewissermaßen der Behälter für diese Dinge. Dabei wird die logische Annahme der Widerspruchsfreiheit mit der ontologischen Annahme eines Substrats verknüpft. Es leuchtet ein, dass unter diesen Voraussetzungen das Allgemeine – bis hin zum Behältnis der ›Welt‹, in dem alle Dinge versammelt sind – die mit sich identischen Dinge nur unter sich subsumieren kann, ohne sie wesentlich zu affizieren. Um Missverständnisse zu vermeiden: Hegel behauptet nicht, dass Kant so verfährt. Seine Kritik zielt vielmehr darauf, dass Kant in seiner Kritik der ›vormaligen‹ Metaphysik insbesondre in Bezug auf die Verstandesmetaphysik nicht weit genug gegangen sei. Dies betrifft neben der Annahme eines Dinges an sich – eines nicht weiter bestimmbaren ontologischen Substrats – vor allem die Annahme, dass wir Dinge als mit sich identisch zu bestimmen haben. Diese Annahme, so Hegel, werde durch die reflektierende Urteilskraft einerseits zwar unkritisch vorausgesetzt, sofern sie das Einzelne als unmittelbar Gegebenes zum Ausgangspunkt der Reflexion mache, die Bewegung der Reflexion selbst aber gehe tendenziell über diese Annahme hinaus, denn das Allgemeine ist nicht in gleicher Weise ein äußerlich Gegebenes, sondern steht in einer inneren, vermittelten Beziehung zum Einzelnen; es ist, so Hegel, »seine Regel, Princip, Gesetz; überhaupt das in sich reflectirte, sich auf sich selbst beziehende, das Wesen oder das Wesentliche« (GW 11, 254). Mit anderen Worten: Die Reflexion, welche das Allgemeine zum gegebenen Besonderen sucht, setzt nicht nur das Besondere als unmittelbar gegeben voraus, sondern ebenso, dass das gesuchte Allgemeine ihm nicht äußerlich, sondern »das Wesen jenes Unmittelbaren« sei, »von dem angefangen wird«. Somit, so Hegel 84 | Logik
weiter, werde das Unmittelbare des Anfangs negiert, es gelte »als ein Nichtiges, und die Rückkehr aus demselben [dem Allgemeinen, A.], das Bestimmen der Reflexion, erst als das Setzen des Unmittelbaren nach seinem wahrhaften Seyn«. (GW 11, 254) In dieser Hinsicht sei dann auch die Reflexion nicht mehr äußerlich, sondern immanent: Sie bestimmt das anfänglich Unmittelbare wesentlich als Moment eines Allgemeinen. Hegel, so wird hier deutlich, ordnet die bestimmende Urteilskraft, die vom Allgemeinen ausgeht, in die Bewegung der Reflexion ein. Sie ist die Rückkehr in den Ausgangspunkt, der jetzt als Resultat einer vermittelnden Bewegung und damit selbst als ein Vermitteltes bestimmt ist. Hegel behandelt die reflektierende Urteilskraft hier systematisch an der Schnittstelle zwischen äußerer und bestimmender Reflexion. In ihr, so Hegel liege bereits »der Begriff der absoluten Reflexion« (GW 11, 254). Sie führt, wie gezeigt, über die äußere Reflexion hinaus und impliziert, recht verstanden, auch die bestimmende Urteilskraft, die Kant der reflektierenden entgegengesetzt hatte. Mit der Theorie der Urteilskraft geht Kant über die Grenzen seiner Theorie unbewusst hinaus. Dennoch geht es für Hegel in der Konsequenz nicht darum, eine bereinigte und konsequentere Theorie der Urteilskraft zu formulieren und systematisch stark zu machen. Warum das so ist, lässt sich im Ansatz bereits hier einsehen. Hegel hebt den Gegensatz von bestimmender und reflektierender Urteilskraft auf, indem er beide als Momente einer Reflexionsbewegung denkt. Sie nimmt ihren Ausgang vom Einzelnen, das auf ein Allgemeines als sein Allgemeines bezogen und dadurch als ein Besonderes, das Besondere dieses Allgemeinen bestimmt wird.4 Die Urteile, welche die Urteilskraft ausspricht und in denen das Einzelne auf das Allgemeine bezogen bzw. das Besondere vom Allgemeinen aus bestimmt wird (E=A bzw. A=B), werden damit zu Momenten eines Schlusses. In der logischen Terminologie der Hegelschen subjektiven Logik bzw. Lehre vom Begriff ist dies ein Schluss in der Form E–A–B, in dem das Allgemeine als medius terminus die Extreme vermittelt. Dieses Allgemeine ist 4 Die
Dreigliedrigkeit »Einzelnes, Besonderes, Allgemeines« ergibt sich erst aus Hegels Interpretation; Kant verschleift Einzelnes und Besonderes miteinander. Dialektik und Urteilskraft | 85
daher auch nicht mehr als dasjenige zu denken, was an der Spitze einer Hierarchie steht und das Einzelne und Besondere unter sich subsumiert. Es ist die Mitte eines Ganzen, des Schlusses, und der Bewegung des Schließens, die hier als Reflexion auftritt. Im Teleologie-Kapitel der Wissenschaft der Logik, also in dem Kapitel, welches dem Schlusskapitel über die Idee unmittelbar vorausgeht, findet sich eine weitere systematische Bezugnahme auf Kants Theorie der reflektierenden Urteilskraft, welche die Konsequenzen aus dem bisher Gesagten ausdrücklich zieht. Hegel knüpft hier daran an, dass Kant mit der reflektierenden Urteilskraft die Idee eines Naturzwecks verbindet, wonach ein Ding dann als Naturzweck existiert, wenn es von sich selbst Ursache und Wirkung ist.5 Während in der Subsumtion des Besonderen unter das Allgemeine in der bestimmenden Urteilskraft das Allgemeine abstrakt sei, weil es »erst an einem andern, am Besondern concret wird«, sei der Zweck »das concrete Allgemeine, das in ihm selbst das Moment der Besonderheit und Aeusserlichkeit hat, daher thätig, und der Trieb ist, sich von sich selbst abzustoßen«. (GW 12, 159) Das bedarf der Erläuterung. Wie ist dieses Sich-von-sich-selbst-Abstoßen des Zweckbegriffs zu verstehen? Nach Kant ist die Annahme der Zweckmäßigkeit der Natur allein in der reflektierenden Urteilskraft selbst begründet; sie ist ein transzendentales Prinzip, welches sie sich selbst gibt und welches sie weder als gegeben aufnehmen kann – sie wäre dann nicht reflektierend, sondern bestimmend – noch der Natur vorschreiben kann. 6 Hegel wendet dieses transzendentale Prinzip objektiv. Die Grundlage dafür findet er in dem Urteil, das unter der von der Reflexion selbst gesetzten Voraussetzung von der Urteilskraft ausgesprochen wird. Es handelt sich ihm zufolge um ein »objectives Urtheil, worin die eine Bestimmung das Subject, nemlich der concrete Begriff als durch sich selbst bestimmt, die andere aber nicht nur ein Prädicat, sondern die äusserliche Objectivität ist«. (GW 12, 159) Das Sich-von-sich-selbst-Abstoßen besteht also darin, dass sich der in sich konkrete Begriff eine äußerliche Objektivität gibt. 5
6
Vgl. Immanuel Kant, Werke. Akademie-Textausgabe, Bd. 5, 372. Vgl. ebd., 180 f.
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Bevor hier ein mystischer Schöpfungsakt vermutet wird, ist auf zweierlei hinzuweisen. Zunächst: Der systematische Ort dieser Überlegungen ist das Sich-selbst-Erfassen des Begriffs in der Wissenschaft der Logik im Rahmen dessen, was Hegel das reine Denken nennt. Die Objektivität, die der Begriff sich gibt, ist also allererst das Sich-selbst-zum-Gegenstand-Werden des Begriffs und nicht der Übertritt in die Realität, die erst am Schluss der Logik erfolgt. Ausdrücklich sagt Hegel dort, im Blick u. a. auf den Objektivitätsabschnitt und besonders das Teleologiekapitel, der Überschritt zur Natur sei »nicht ein Gewordenseyn und Uebergang, wie […] der subjective Begriff in seiner Totalität zur Objectivität, auch der subjective Zweck zum Leben wird«. (GW 12, 253) Und zweitens ist die Realität der Natur und des Geistes, die im Überschritt zur Natur in den Blick kommt, nach Hegel »absolut für sich selbst seyende Aeusserlichkeit« (GW 12, 253), d. h.: Sie ist zwar Äußerlichkeit der Idee (was immer das heißen mag), hängt in ihrem Sein aber nicht von der Idee ab. Zurück zum Urteil, in dem der Zweckbegriff sich äußerliche Objektivität gibt. Für Hegel ist – zunächst im Rahmen des Sichselbst-objektiv-Werdens des Begriffs – die »Zweckbeziehung« nicht subjektiv nur ein Tun der Reflexion, »das die äusserlichen Objecte nur nach einer Einheit betrachtet, als ob ein Verstand sie zum Behuf unsers Erkenntnißvermögens gegeben hätte, sondern sie ist das an und für sich seyende Wahre, das objectiv urtheilt, und die äusserliche Objektivität absolut bestimmt. Die Zweckbeziehung ist dadurch mehr als Urtheil, sie ist der Schluß des selbständigen freyen Begriffs, der sich durch die Objectivität mit sich selbst zusammenschließt.« (GW 12, 159) Auch dies bedarf wohl einer Übersetzung. Es geht, wie erinnert, zunächst um die Konstellation des sich selbst erfassenden Begriffs. Wir denken den Begriff auf dieser Stufe der logischen Entwicklung mit begrifflichen Mitteln. Indem der Begriff als Zweckbegriff sich als in sich konkret, also der Selbstunterscheidung fähig erweist, geraten wir auf die Spur, dass der betrachtete Begriff als Gegenstand des Begreifens mit dem betrachtenden oder begreifenden Begriff identisch ist. Wenn zudem, wie Kant behauptet, die Zweckbeziehung Ursache und Wirkung in einem ist, dann verschwindet der Unterschied zwischen der Zweckbeziehung innerhalb der Reflexion einerseits und außerhalb ihrer andererseits. Dialektik und Urteilskraft | 87
Das aber lässt sich nach Hegel nicht mehr unter der Form des Urteils vollziehen, sondern nur unter der Form des Schlusses, der überhaupt die Bedeutung des Zusammenschließens von Momenten innerhalb eines Ganzen hat. Wenn der Begriff sich durch die Objektivität, wie Hegel sagt, mit sich selbst zusammengeschlossen hat, dann bedeutet dies zunächst, dass der Begriff, mit dem wir den Begriff begreifen, sich mit dem Begriff, der Gegenstand unseres Begreifens ist, identifiziert. Dieses Selbstverhältnis des Begriffs nennt Hegel Idee, und diese Idee ist keine relatlose Identität, wie etwa Schellings und Schleiermachers Absolutes, sondern in sich unterschieden als Einheit des Einzelnen, Besonderen und Allgemeinen. Damit ist freilich noch nicht die Frage beantwortet, wie der Begriff als Idee sich in der Realität zu erkennen und zu finden vermag. Zwar ist für Hegel in diesem Falle das Allgemeine bereits gegeben, nämlich die absolute Idee, aber die Idee als in sich konkretes Allgemeines würde sich eben nicht in der Realität finden, wenn diese – nach dem Vorgang Kants – unter das Allgemeine subsumiert würde. Die Totalität der ›Welt‹ als Natur und Geist ist selbst ein in sich konkretes Allgemeines – unter Einschluss der Idee, denn Natur und Geist sind nach Hegel »unterschiedene Weisen«, das »Daseyn« der Idee darzustellen (GW 12, 236). Die absolute Idee als absolute Methode schiene dann auch Mittel zu sein, die Realität der Natur und des Geistes als Dasein der Idee aufzuweisen. Dem steht jedoch entgegen, dass die absolute Methode nach Hegel gerade nicht instrumentalistisch verstanden werden darf. Und dennoch liegt hier die Lösung des Problems, denn sowohl die absolute Methode als auch das suchende Erkennen sind als teleologischer Prozess nach dem Modell der Arbeit geformt. Dies ist abschließend näher zu betrachten. (3) In der absoluten Methode ist der Begriff »nicht nur als Gegenstand, sondern als dessen eigenes subjectives Thun« und als »Instrument und Mittel der erkennenden Tätigkeit« (GW 12, 238). Subjekt der Arbeit, Arbeitsgegenstand und Arbeitsmittel sind dasselbe, denn es handelt sich nur um die reine Selbstbeziehung des Begriffs. Im »suchenden Erkennen«, der Arbeit des Begriffs an und in der Realität (der Natur und des Geistes), tritt dagegen die für die endliche Realität konstitutive Äußerlichkeit ein, ein Moment der Dif88 | Logik
ferenz oder des mit dem Begriff nicht Identischen, das die Relation nicht mehr als absolute Selbstbeziehung des Begriffs verständlich macht. In Hegels Worten: »Die Extreme bleiben verschiedene, weil Subject, Methode und Object nicht als der eine identische Begriff gesetzt sind« (GW 12, 238). Die Arbeit des Begriffs folgt, wie die Arbeit überhaupt, bei Hegel der logischen Figur des Schlusses. Das Werkzeug (oder die Methode) bildet die Mitte, den medius terminus. Es ist das Allgemeine und Vermittelnde zwischen dem Subjekt und dem Arbeitsgegenstand. Es ist allgemein, da das Werkzeug übertragbar ist und den einzelnen Arbeitsvorgang überdauert. Emphatisch heißt es in der Wissenschaft der Logik über diese Überwindung der bloßen Subjektivität: »Das Werkzeug erhält sich, während die unmittelbaren Genüsse vergehen und vergessen werden. An seinen Werkzeugen besitzt der Mensch die Macht über die äusserliche Natur, wenn er auch nach seinen Zwecken ihr vielmehr unterworfen ist.« (GW 12, 238) Die subjektive Zwecksetzung des arbeitenden Subjekts antizipiert die Einheit des subjektiven mit dem ausgeführten Zweck nach Maßgabe objektiver Gesetzmäßigkeiten, des Arbeitsgegenstandes einerseits, des Arbeitsmittels andererseits sowie ihres Verhältnisses zueinander. Die Antizipation ist demnach bereits eine ideelle Verbindung des Einzelnen (des einzelnen Subjekts, des einzelnen Arbeitsvorgangs, des einzelnen Gegenstands) mit dem Allgemeinen, also ein Besonderes; damit ist der zu bearbeitende Gegenstand als das Einzelne gesetzt, nämlich als der realisierte einzelne Zweck. Das Zusammengehen des Zwecks mit sich erfolgt nach Hegel in der Figur des Schlusses, in der das Besondere durch das Allgemeine als medius terminus mit dem Einzelnen zusammengeschlossen wird (B–A–E). Erreicht wird eine Einheit des Subjektiven und Objektiven, in der der einzelne Zweck, wie er in der wirklichen Arbeit verfolgt wird, durch das In-sich-Reflektiertsein oder die Konkretheit des Allgemeinen vermittelt ist. »Der teleologische Prozeß«, also der Arbeitsprozess, ist für Hegel daher auch »Übersetzung des distinkt als Begriff existierenden Begriffs in die Objektivität« und damit »Zusammengehen des Begriffes durch sich selbst mit sich selbst«. (GW 12, 167) Nun hatten wir aber bereits gesehen, dass wir im suchenden Erkennen – also überall dort, wo wir in der Zweckbeziehung nicht Dialektik und Urteilskraft | 89
eine reine Selbstbezüglichkeit des Begriffs vor uns haben, also, kurz gesagt: in der Realität der Natur und des Geistes – eine Äußerlichkeit behalten, durch welche die drei Glieder des Schlusses nicht durcheinander substituierbar sind wie in der absoluten Methode. Was bedeutet es unter dieser Voraussetzung, dass dennoch der Begriff mit sich selbst zusammengeht? Möglich wird dies nur dadurch, dass der Begriff als antizipierter Zweck im Ergebnis auch im ausgeführten Zweck realisiert werden kann. Das wiederum steht unter der Bedingung der Einbeziehung objektiver Gesetzmäßigkeiten. Nur dann, wenn die antizipierte Formveränderung am Objekt, dem Arbeitsgegenstand, auch objektiv möglich ist, und zugleich auch nur dann, wenn die objektiven Eigenschaften des Mittels es erlauben, in Übereinstimmung mit den Eigenschaften des Objekts diese Formveränderung zu bewirken, kann sich der subjektive im ausgeführten Zweck wiedererkennen und wiederfinden. Es ist demnach keineswegs so, dass das Zusammengehen des Begriffs mit sich selbst ein Selbstläufer ist, weil, wie viele Kritiker meinen, Hegel ohnehin nur auf den Begriff Wert lege, wobei im Zweifel gelte: »Umso schlimmer für die Tatsachen«.7 Tatsächlich kann die Objektivitätsanforderung, in der gegenständlichen Arbeit wie in der Arbeit des Begriffs, nur dann erfüllt werden, wenn, um Marx zu bemühen, die »eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes« 8 erschlossen wird. Wie im gegenständlichen Arbeitsprozess die antizipierte Formveränderung scheitert, wenn der Gegenstand dies nicht ermöglicht und/oder die Werkzeuge ungeeignet sind, so scheitert auch das denkende Bestimmen eines theoretischen Gegenstandes in der Arbeit des Begriffs, wenn dessen eigentümliche Logik nicht bekannt und/oder die theoretischen Mittel ungeeignet sind, ihn in eine zureichende Begriffsform zu transformieren. Mehr als eine äußerliche Reflexion, die einem beliebigen Material äußerlich eine Begriffsform aufprägt, 7 Diese Äußerung wird Hegel vielfach zugeschrieben, findet sich aber weder in seinen Werken noch in Berichten der Zeitgenossen. 8 Vgl. Karl Marx, Kritik des Hegelschen Staatsrechts, MEW, Bd. 1, 296: »Dies Begreifen besteht aber nicht, wie Hegel meint, darin, die Bestimmungen des logischen Begriffs überall wiederzuerkennen, sondern die eigentümliche Logik des eigentümlichen Gegenstandes zu fassen.«
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käme d adurch nicht zustande. Aus Hegels Auseinandersetzung mit Kants Theorie der Urteilskraft ist auch zu entnehmen, dass es Hegel überhaupt nicht, wie oft behauptet wird, darum gehen kann, beliebiges empirisches Material unter das Allgemeine des Begriffs zu subsumieren. Dies würde den Begriff zu einem abstrakt-Allgemeinen machen und die Schlussform zerstören, auf die es Hegel ankommt. Nun ist es aber auch nicht so, dass zu der hier interessierenden Eigentümlichkeit des Gegenstandes alles gehört, was ein bloß zufällig Existierendes ist. Nicht alles geht den Begriff etwas an, sondern nur das, was überhaupt der Allgemeinheit des Begriffs zugänglich ist. Auch die von Marx gegen Hegel angemahnte Logik der (eigentümlichen) Sache ist ja noch eine Logik, ihr Allgemeines, und nicht etwas bloß Vorhandenes, das nicht zu ihrem Begriff gehört. Weder im praktisch-gegenständlichen noch im theoretischen Verhalten zur ›Welt‹ geht der Gegenstand restlos im Begriff auf. Es gibt also zwar eine bleibende und konstitutive Äußerlichkeit des Begriffs in der Realität, aber diese erweist sich gegenüber dem Begriff letztlich als gleichgültig. Die äußere Wirklichkeit, so heißt es in der Wissenschaft der Logik, »soll den Begriff in sich erst durch das Subjekt erhalten, welches der immanente Zweck ist. Die Gleichgültigkeit der objektiven Welt gegen die Bestimmtheit und damit gegen den Zweck macht ihre äußerliche Fähigkeit aus, dem Subjekt angemessen zu sein« (GW 12, 188). Das ist keineswegs als idealistisch im schlechten Sinne zu verstehen. Ohne diese Fähigkeit zur Angemessenheit für das Subjekt gäbe es keine Formveränderung – weder in der gegenständlich-praktischen Tätigkeit noch in der begrifflichen Rekonstruktion theoretischer Gegenstände. Hegel verbindet damit denn auch den Gedanken der Erkennbarkeit der Welt. Die Methode, so heißt es, sei »als die ohne Einschränkung allgemeine, innerliche und äusserliche Weise, und als die schlechthin unendliche Kraft anzuerkennen, welcher kein Object […] Widerstand leisten […] und von ihr nicht durchdrungen werden könnte«. (GW 12, 238) Es bleibt noch zu klären, welchen Einsatz die absolute Methode in einem Erkennen finden kann, das für sich selbst genommen noch suchendes Erkennen ist. Tatsächlich hat Hegel in dieser Hinsicht keine allgemeinen methodischen Überlegungen angestellt. Im Blick auf die Geschichte der Philosophie, in der es ja um die Dialektik und Urteilskraft | 91
schrittweise Selbsterfassung des Begriffs, also um die Entwicklung der logischen Idee, geht, hat Hegel in dem Manuskript zu seiner Vorlesung 1820 entschieden behauptet, »daß die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist, als die aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begrifsbestimmungen der Idee«; freilich fügt er einschränkend hinzu, dass sich die »Folge als Zeitfolge der Geschichte« auch von der »Folge in der Ordnung der Begriffe« unterscheide (GW 18, 50).9 Andere Disziplinen rekurrieren auch immer wieder auf die Logik, aber selbst innerhalb der Philosophie des absoluten Geistes ohne die starke These einer weitgehenden Entsprechung der logischen und historischen Folge. Walter Jaeschke etwa hat für die religionsphilosophischen Vorlesungen ausführlich gezeigt, dass Hegel die Religionsgeschichte nicht a priori konstruiert, sondern »im Ausgang vom religionsgeschichtlichen Material und von vorgegebenen Deutungen eine Ordnung« entwirft.10 Dies gilt noch mehr für die realphilosophischen Systemteile Natur, subjektiver und objektiver Geist. Niemandem dürfte es etwa gelingen, aus Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts die Abfolge der logischen Begriffe zu rekonstruieren. Was bedeutet das? Nicht mehr und nicht weniger, als dass Hegel sich unter Einsatz der logischen Kategorien, wie sie in der absoluten Methode zusammenfassend reflektiert sind, um ein Begreifen der eigentümlichen Gegenstände der besonderen philosophischen Disziplinen bemüht. Da selbst die Geschichte der Philosophie, deren Inhalt nichts anderes als die Entwicklung der logischen Idee selbst ist, in der Äußerlichkeit der Zeit – Zeit ist eine naturphilosophische Kategorie und dem Begriff damit per se äußerlich – von der logischen Folge abweicht, findet sich die Idee in der Realität immer nur gebrochen wieder, und dies gilt umso mehr für die anderen 9 Vgl. dazu die Nachschrift zur Vorlesung 1819, GW 30, 1, 12: »Ein 2 tes Moment ist die Zufälligkeit, in der sich in der Geschichte das darstellt, was auch im gedachten Begriffe ist. Die Folge muß im Systeme und in der Geschichte identisch sein; aber nur dem Wesen nach.« 10 Walter Jaeschke, Vernunft in der Religion. Studien zur Grundlegung der Religionsphilosophie Hegels, Stuttgart-Bad Cannstatt 1986, 283; vgl. insgesamt 229–288.
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Disziplinen unterhalb der Schwelle des absoluten Geistes. Wenn die Logik, wie Hegel behauptet, die allgemeinsten Bestimmungen unseres theoretischen und praktischen Verhaltens zur Rea lität überhaupt enthält, dann werden einerseits diese Kategorien inhaltsvolle Bestimmungen des Gegenstandes selbst sein müssen, andererseits aber steht überhaupt nicht zu erwarten, dass sich im Begreifen des eigentümlichen Gegenstandes sämtliche Kategorien und dazu noch in ihrer logischen Folge wiederfinden lassen. Um nur ein Beispiel zu erwähnen: Die Äußerlichkeit der Natur und des noch mit Natur behafteten Geistes – bis hin zur Geschichtlichkeit des absoluten Geistes – begrenzt von vornherein den Einsatz der theoretischen Mittel, welche die Wissenschaft der Logik bereitstellt. Zwar kann, das jedenfalls ist Hegels Annahme, das Begreifen der Realität nicht mit anderen Begriffen vollzogen werden als mit denen, welche die Logik entwickelt, denn andernfalls wäre die Logik unvollständig und damit unwahr, jedoch erfasst sich der Begriff als Begriff in der Realität nicht in seiner Vollständigkeit. Dazu bedarf es einer eigenen Anstrengung, die – so fordert es Hegel für den Eingang in die Logik – von aller Bestimmtheit abstrahiert. Erst wenn die Begriffe des bestimmten, realitätsbezogenen Erkennens sich in der rein logischen Entwicklung des Begriffs wiederfinden, kann auch behauptet werden, dass die logische Idee als Inbegriff des Begriffs sich in der Realität findet – aber nur in ihrer Totalität und nicht im einzelnen Akt des praktischen und theoretischen Verhaltens zu ihr. In Bezug auf die Realität ist die Logik, wie sie sich in der absoluten Methode zusammenfasst, ein Set theoretischer Mittel, das als Mitte des Schlusses eine relative Selbständigkeit gegenüber den Extremen – dem Subjekt und Gegenstand des Verhaltens – behält und, anders als in der absoluten Methode, in ihnen nicht schlechthin so aufgeht, dass Ober- und Untersatz des Schlusses und medius terminus durcheinander austauschbar sind. Die Methode bleibt in dieser Hinsicht ein selbständiges Allgemeines, das gleichwohl über die im Begreifen des Gegenstandes mobilisierten Begriffe diese als Momente enthält. Das Begreifen der Realität verlangt demnach eine Anstrengung über das Begreifen der Logik bzw. des Begriffs selbst hinaus und der Weg dieses Begreifens ist durch die Logik selbst nicht schematisch Dialektik und Urteilskraft | 93
vorgegeben. Die Anstrengung des Begriffs schließt daher ein gewisses Maß an Virtuosität ein. Hegels Verzicht auf eine Darlegung der Methode des suchenden Erkennens muss daher nicht als Mangel interpretiert werden. Er kann auch bedeuten, dass Hegel die Realität in ihrer Eigenlogik in einem ganz anderen Maße respek tiert, als seine Kritiker meinen.
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Das Verhältnis der Wissenschaft der Logik zur Realphilosophie Das Thema berührt eine Frage, die – glaubt man einer zählebigen, darum aber gewiss noch nicht ehrwürdigen Tradition der Ausein andersetzung mit Hegel – eigentlich keine Frage ist. Es ist nicht einmal nötig, zu dem auch heute noch gern angeführten, nach meiner Meinung nicht gut, sondern schlecht erfundenen Satz zu greifen, wonach Hegel behauptet habe, die Nichtübereinstimmung von logischem Begriff und Realität falle auf die Realität zurück: »Wenn die Tatsachen nicht mit der Theorie übereinstimmen – umso schlimmer für die Tatsachen.« Seriöser, aber im Kern nicht anders argumentieren Kritiker Hegels von Eduard von Hartmann über Schopenhauer und Marx bis in die Gegenwart, wenn sie ihm Panlogismus oder eine Verselbständigung des Logischen vorwerfen. Stellvertretend sei hier auf Marx verwiesen, weil er zwar ein gründlicher Kenner der Hegelschen Philosophie war, die er als das »letzte Wort« aller Philosophie ansah,1 mit seinem Urteil über das Verhältnis der Logik zur Realphilosophie jedoch auch entscheidend dazu beigetragen hat, die eingangs skizzierte Position zu befestigen. Ich werde im Folgenden daher auch immer einen vergleichenden Blick auf Marx’ Hegel-Kritik werfen. In den 1843 entstandenen Aufzeichnungen Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie schreibt Marx: »Der konkrete Inhalt, die wirkliche Bestimmung erscheint als formell; die ganz abstrakte Formbestimmung erscheint als der konkrete Inhalt. […] Nicht die Rechtsphilosophie, sondern die Logik ist das wahre Interesse. […] Nicht die Logik der Sache, sondern die Sache der Logik ist das philosophische Moment.«2 Offenkundig geht Marx davon aus, dass 1 Vgl. Andreas Arndt, … »unbedingt das letzte Wort aller Philosophie«. Marx und die hegelsche Dialektik, in: Karl Marx – Perspektiven der Gesellschaftskritik, hg. v. Rahel Jaeggi und Daniel Loick, Berlin 2013, 27–37. 2 MEGA², Abt. 1, Bd. 2 , 18.
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Hegel in seiner Philosophie des objektiven Geistes die Realität deshalb verzerrt, weil ihm mehr an der Konstruktion der Realität nach den Kategorien der Wissenschaft der Logik als an der Erfassung und Darstellung der empirischen Realität als solcher gelegen sei. Hegels Aussage, die logische Idee sei »Trieb, durch sich selbst in Allem sich selbst zu finden und zu erkennen« (GW 12, 238), versteht Marx so, als gehe es darum, der Realität das kategoriale Gerüst der Wissenschaft der Logik aufzudrücken und die der empirischen Realität immanenten, spezifischen Vermittlungen zugunsten der allgemeinen logischen Strukturen abzuschatten. Das Begreifen, so markiert Marx seinen Gegensatz zu Hegel, bestehe »nicht, wie Hegel meint, darin, die Bestimmungen des logischen Begriffes überall wieder zu erkennen, sondern die eigenthümliche Logik des eigenthümlichen Gegenstandes zu fassen«.3 Nicht nur Marx’ Hegel-Kritik, sondern ganz allgemein die Positionen, die Hegel in kritischer Absicht Panlogismus vorwerfen, gehen stillschweigend von einer bestimmten Annahme über den Status der Wissenschaft der Logik im Verhältnis zu den Gegenständen der Realphilosophie aus. Sie besagt, dass nach Hegels Auffassung die Bestimmungen der Logik die empirische Realität so durchziehen, dass sie sich in ihrer internen Vermittlung gleichsam eins zu eins wiederfinden lassen. Aufgrund dieser Annahme wurde und wird in marxistischen Diskursen auch erhebliche intellektuelle Energie darauf verwendet, etwa im Kapital Abweichungen von der Kategorienfolge der Wissenschaft der Logik festzustellen und daraus Schlüsse auf eine spezifische »Logik des Kapital« oder sogar auf eine von Hegel abweichende Konzeption einer »dialektischen Logik« überhaupt zu ziehen.4 Tatsächlich, so möchte ich im Folgenden zeigen, vertritt H egel hinsichtlich des Verhältnisses von Logik und Realphilosophie eine ganz andere Auffassung als die, welche ihm in den genannten Positionen zugeschrieben wird. Die Wissenschaft der Logik selbst, so meine zentrale These, markiert eine rein logisch nicht zu 3
Ebd., 101. z. B. Viktor A. Vazjulin, Die Logik des ›Kapitals‹ von Karl Marx, Norderstedt o. J. (2006); kritisch dazu die Rezension von Andreas Arndt in: Marx-Engels Jahrbuch 2006, Berlin 2007, 263–271. 4 Vgl.
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überspringende Differenz zu den Gegenständen der Realphilosophie. Diese These lässt sich nur dann einsichtig machen, wenn der Status der logischen Idee als absoluter Methode, in welcher sich die Bewegung der Logik zusammenfasst, nicht im Sinne des gewöhnlichen, durch den Materialismus des 19. und 20. Jahrhunderts in Umlauf gebrachten Vorstellungen von »Idealismus« verstanden wird. Ich werde also in einem ersten Schritt etwas zum Status der logischen Idee sagen (1) und dann auf Hegels Aussagen zur Differenz von Begriff und Realität in der Logik selbst eingehen (2). Und schließlich möchte ich plausibel machen, dass es Hegel selbst in seiner Realphilosophie gar nicht um eine Konstruktion aus dem Begriff geht oder auch nur gehen könnte, sondern er – nicht anders als Marx – gerade an der eigentümlichen Logik der eigentümlichen Gegenstände interessiert ist (3). (1) Dass die Rede vom »deutschen Idealismus« – zumal in der anrüchigen Verbindung von »deutsch« und »idealistisch« – schlichtweg unhistorisch und irreführend ist, möchte ich hier nicht weiter erörtern, denn nach den Arbeiten von Walter Jaeschke und Valentin Pluder sollte dies als geklärt gelten.5 Mir geht es hier darum, den Status dessen zu klären, was Hegel Idee oder näher: absolute Idee nennt, die als absolute Methode zu verstehen sei. Ein verbreitetes Missverständnis besagt, Idee sei so etwas wie ein Substrat, ein Träger von Bestimmungen und Prozessen, letztlich das göttliche Absolute, Gott selbst im Sinne einer traditionellen Gottesvorstellung. Um ein Missverständnis handelt es sich deshalb, weil »Idee« damit verdinglicht und auf eine unangemessene Weise vorgestellt wird, nämlich als eine verselbständigte Entität und nicht als Prozess, d. h.: als Methode. Sie wäre das, was Hegel in der Vorrede zur Phänomenologie des Geistes über die Vorstellung Gottes als eines logischen Subjekts sagt: sie sei ein bloßer Name ohne allen Inhalt, 5 Vgl. Walter Jaeschke, Zur Genealogie des Deutschen Idealismus. Konstitutionsgeschichtliche Bemerkungen in methodologischer Absicht, in: ders., Hegels Philosophie, Hamburg 2020, 393–415; Valentin Pluder, Die Vermittlung von Idealismus und Realismus in der Klassischen Deutschen Philosophie. Eine Studie zu Jacobi, Kant, Fichte, Schelling und Hegel, Stuttgart-Bad Cannstatt 2013.
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denn der Inhalt ergibt sich erst im Resultat der logischen Fortbestimmung (GW 9, 20). Das grundlegende Missverständnis besteht also darin, in der Idee ein Subjekt (im Sinne des ύποκείμενον bzw. sub-iectum) zu sehen, dem Bestimmungen zugeschrieben werden, statt »Idee« als den Prozess des Bestimmens selbst zu begreifen. Auch Marx teilt dieses Missverständnis: »Eben weil Hegel von den Prädicaten, der allgemeinen Bestimmung statt von dem reellen Ens (ύποκείμενον, Subjekt) ausgeht und doch ein Träger dieser Bestimmung da sein muß, wird die mystische Idee dieser Träger. Es ist dieß der Dualismus, daß Hegel das Allgemeine nicht als das wirkliche Wesen des Wirklich Endlichen, d. i. Existirenden, Bestimmten betrachtet oder das wirkliche Ens nicht als das wahre Subjekt des Unendlichen«. 6 Zwar weiß auch Marx, dass »Subjekt« ebenso für Prozess (und nicht nur für ύποκείμενον) steht, sieht darin aber nur eine weitere Mystifikation; in der Schrift Die Heilige Familie (1845) heißt es: »Diese Operation nennt man in spekulativer Redeweise: die Substanz als Subjekt, als inneren Prozeß, als absolute Person begreifen, und dies Begreifen bildet den wesentlichen Charakter der Hegelschen Methode.«7 Hegel, so heißt es an anderer Stelle, setze »an die Stelle des wirklichen Zusammenhangs von Mensch und Natur ein absolutes Subjekt-Objekt, das die ganze Natur und die ganze Menschheit auf einmal ist, den absoluten Geist«. 8 An dieser Formulierung wird ein weiteres Missverständnis sichtbar. Einer bis heute verbreiteten Lesart zufolge werden absolute Idee und absoluter Geist identifiziert. Natur und Geist sind nach Hegel jedoch nur »unterschiedene Weisen«, das »Daseyn« der Idee darzustellen (GW 12, 236); das bedeutet: Da die absolute Idee nicht als Substrat zu denken ist, sondern als Methode, die in unser Wissen fällt, hat sie ein Dasein nur in der Natur und im Geist und nicht in einer metaphysischen Hinterwelt, und demzufolge sind auch Natur und Geist als Relate notwendig aufeinander bezogen. Diese Relationalität geht verloren, wenn die absolute Idee mit dem absoluten Geist gleichgesetzt wird. Tatsächlich verhält es sich so, dass die logische Idee zwar dem absoluten Geist qua 6
MEGA², Abt. 1, Bd. 2, 25. MEW, Bd. 2, 60–62. 8 Ebd., 177.
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Philosophie zugehört, aber weder mit der Philosophie überhaupt noch mit dem absoluten Geist und schon gar nicht mit dem Geist überhaupt gleichzusetzen ist. Sie ist, wie Hegel im »Vorbegriff« der enzyklopädischen Logik 1830 ausführt, »im abstracten Elemente des Denkens« (GW 20, 61). Die absolute Idee ist demnach im »reinen Denken« zu verorten; dieses reine Denken ist darum rein, weil, wie Hegel präzisiert, Gegenstand nur die reinen Gedankenbestimmungen selbst sind. Der Einstieg in die Logik setzt daher auch eine Abstraktion voraus, nämlich den willkürlichen Entschluss des Subjekts zum reinen Denken und daher dazu, alles vermeintliche Vorwissen, alle Vorurteile, subjektiven Einfälle etc. beiseitelassen zu wollen (GW 21, 55 f.). Die Wissenschaft der Logik entwickelt die Selbsterfassung des Denkens, indem wir uns entschließen, das Denken als solches, ohne intentionalen Bezug auf äußerliche Gegenstände zu betrachten und gleichsam zusehen, wie Denkbestimmungen auseinander hervorgehen und sich zu e inem systematischen Ganzen strukturieren. In diesem Prozess wird sukzessive deutlich, dass wir die Denkbestimmungen, die unser Gegenstand sind, selbst als Mittel gebrauchen, um sie als solche zu erfassen. In dieser Hinsicht bezieht sich der Begriff schließlich nur noch auf den Begriff, und ein solches reines Selbstverhältnis nennt man absolut, weil es nicht von etwas Anderem, was nicht Begriff ist, dependiert. Dies ist die »absolute Idee«. Die Idee ist der Begriff, der sich in seinem Werden vollkommen erfasst und bestimmt und damit für sich genommen nicht nur absolut, sondern ebenso in sich konkret und nicht abstrakt ist. Zugleich ist damit aber nicht die anfängliche Abstraktion aufgehoben und insofern bleibt die Idee, auf das Ganze gesehen, im Bereich der (logischen) Abstraktion, des reinen Denkens. Die Logik beruht überhaupt, wie Hegel ausdrücklich sagt, auf der Möglichkeit des Geistes, »von allem Aeußerlichen und seiner eigenen Aeußerlichkeit, seinem Daseyn selbst [zu] abstrahiren« (GW 19, 289). In dem Abschnitt der Wissenschaft der Logik über die absolute Idee gebraucht Hegel daher auch einschränkende Formulierungen, die auf diesen Abstraktionsstatus aufmerksam machen; die Idee, so sagt er, sei »noch logisch« und »in den reinen Gedanken« und »in die Subjectivität eingeschlossen« (GW 12, 253). Das besagt von vornherein etwas Entscheidendes über das Verhältnis der Wissenschaft Das Verhältnis der Wissenschaft der Logik zur Realphilosophie | 99
der Logik zur Realität (im Sinne der Realphilosophie). Wenn die Logik in der genannten Hinsicht, obwohl in sich konkret, auch dann, wenn der Begriff sich vollständig erfasst hat, abstrakt bleibt – abstraktes Denken –, dann ist das, wovon abstrahiert wurde, schon immer vorhanden. Es kann daher im Verhältnis zur Natur (und zum Geist) gar nicht um einen Schöpfungsakt »aus dem Begriff« gehen, sondern – ich werde darauf noch zurückkommen – nur um die Rücknahme einer Abstraktion. In dieser Hinsicht ist Marx’ Kritik an Hegel im sogenannten »Methodenkapitel« der Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie – dem ersten Gesamtentwurf des Kapital – schlicht falsch, wo es heißt: »Hegel gerieth […] auf die Illusion, das Reale als Resultat des sich in sich zusammenfassenden, in sich vertiefenden, und aus sich selbst sich bewegenden Denkens zu fassen«.9 Im Nachwort zur zweiten Auflage des Kapital dagegen formuliert Marx es vorsichtiger: »Für Hegel ist der Denkproceß, den er sogar unter dem Namen Idee in ein selbständiges Subjekt verwandelt, der Demiurg des Wirklichen, das nur seine äußere Erscheinung bildet.«10 Der δημιουργός als Handwerker-Gott formt vorhandenen Stoff um, vollzieht aber keine creatio ex nihilo.11 Nach dieser Lesart bleibt aber der Verdacht, die Form – hier die logische Form – könne der Realität äußerlich aufgeprägt werden. Dieser Verdacht lässt sich nur dann widerlegen, wenn gezeigt werden kann, dass zwischen der Logik und der Realphilosophie auch hinsichtlich der logischen Form eine Differenz besteht. (2) Die Wissenschaft der Logik entwickelt die allgemeinen Bestimmungen des Denkens, insofern sich das Denken hier selbst Gegenstand ist. Der »Umfang der allgemeinen Denkbestimmungen« ist nach Hegel gleichbedeutend mit »Metaphysik«; sie sind »gleichsam das diamantene Netz, in das wir allen Stoff bringen und dadurch erst verständlich machen«.12 Die Verstehbarkeit der Welt beruht für Hegel darauf, dass es dieses Netz erlaubt, den »Stoff« zu bestimmen. 9
MEGA², Abt. 2, Bd. 1,1, 36. MEGA², Abt. 2, Bd. 10, 17. 11 Vgl. Heinz-Dieter Kittsteiner, Mit Marx für Heidegger. Mit Heidegger für Marx, München 2004, 57 f. 12 Hegel, Enzyklopädie (1830), HW 9, 20 (§ 246, Zusatz). 10
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Die Denkbestimmungen sind für ihn demnach »nicht bloß Formen des selbstbewußten Denkens […], sondern auch des gegenständlichen Verstandes«; dies werde zugegeben, »insofern gesagt wird, daß Verstand, daß Vernunft in der gegenständlichen Welt ist, daß der Geist und die Natur Gesetze haben, nach welchen ihr Leben und ihre Veränderungen sich machen« (GW 11, 22). Hegel zielt damit auf die rationale Erkennbarkeit der »Welt«, die sich natürlich bestreiten lässt, die aber keineswegs als eine absurde Unterstellung angesehen werden kann, auch wenn für viele die Annahme, die »Welt« sei durch ein logisch-kategoriales System strukturiert, befremdlicher zu sein scheint als der Objektivitätsanspruch von Formeln der theoretischen Physik. Dies liegt offenbar daran, dass Hegel – im Unterschied zu den theoretischen Physikern – unterstellt wird, er wolle den Stoff aus dem Begriff ableiten. Das allerdings wird in der Wissenschaft der Logik ausdrücklich ausgeschlossen. Wenn es so wäre, dann müsste am Schluss der Logik ein Übergang zur Natur erfolgen, was Hegel eindeutig verneint (GW 12, 253). Es gibt hierfür gewichtige systematische Gründe, die in der Wissenschaft der Logik selbst thematisiert werden. Zunächst ist auf die grundlegende Differenz des Endlichen und Unendlichen zu verweisen. Die Logik bezieht, bereits in der Lehre vom Sein, das Endliche auf das Unendliche und verfährt in dieser Hinsicht im Sinne der Hegelschen Terminologie »idealistisch«: »Der Satz, daß das Endliche ideell ist, macht den Idealismus aus. Der Idealismus der Philosophie besteht in nichts anderem, als darin, das Endliche nicht als ein wahrhaft Seyendes anzuerkennen.« (GW 21, 142) Dieser »Idealismus« bedeutet jedoch nicht, dass das Endliche gleichsam im Unendlichen verdampft, sondern, wie Hegel immer wieder betont, dass es als unterschiedenes Moment in das Ganze aufgehoben ist. Die Totalität der logischen Form als Idee fällt jedoch in die Abstraktion des reinen Denkens und ist nicht mit der Totalität der »Welt« unter Einschluss der Empirie gleichzusetzen, wie sie in den philosophischen Realwissenschaften thematisiert wird. Beide sind in einer entscheidenden Hinsicht unterschieden. Nur der sich selbst begreifende Begriff ist – innerhalb der logischen Abstraktion – rein selbstbezüglich; Verhältnisse im Endlichen dagegen (also im subjektiven und objektiven Geist) können gar nicht in dieser Weise selbstbezüglich sein. Es gibt hier, Das Verhältnis der Wissenschaft der Logik zur Realphilosophie | 101
im Endlichen, konstitutiv und unhintergehbar eine Nichtidentität gegenüber dem Begriff als solchem, eine bleibende Äußerlichkeit. Hegel sagt dies unmissverständlich und an prominenter Stelle, nämlich gleich zu Beginn des Abschnitts über die Idee: »Die endlichen Dinge sind darum endlich, indem sie die Realität ihres Begriffs nicht vollständig an ihnen selbst haben, sondern dazu anderer bedürfen; – oder umgekehrt, insofern sie als Objecte vorausgesetzt sind, somit den Begriff als eine äusserliche Bestimmung an ihnen haben.« (GW 12, 175) Der reale Gegenstand ist daher niemals von vornherein mit dem Begriff identisch; dies bedeutet auch, dass sich die Realität nur aus sich selbst heraus, unter Beachtung der spezifischen (äußerlichen) Begriffsverhältnisse, auf den Begriff bringen lässt und nicht durch eine unmittelbare Identifikation mit logischen Bestimmungen. An anderer Stelle, zu Beginn der Begriffslogik, hatte Hegel bereits festgehalten, dass die Wissenschaft der Logik »als die formelle Wissenschaft nicht auch diejenige Realität enthalten könne und solle, welche der Inhalt weiterer Theile der Philosophie, der Wissenschaften der Natur und des Geistes, ist. Diese concreten Wissenschaften treten allerdings zu einer reellern Form der Idee heraus als die Logik«; sie haben und behalten aber »das Logische oder den Begriff zum innern Bildner« (GW 12, 25). Ein entscheidender Grund für diese Äußerlichkeit der Realphilosophie gegenüber der Logik liegt – worauf Dieter Henrich zuerst aufmerksam gemacht hat – in Hegels Theorie über den Zufall, wonach der Zufall selbst notwendig oder Moment der Notwendigkeit ist, jedoch nicht das Zufällige als Existierendes. Darin liegt, dass es in seiner Existenz nicht aus dem Begriff gefolgert werden kann, sondern der Begriff ihm äußerlich bleibt. Unter diesen Voraussetzungen ist auch, wie schon erwähnt, der Schluss der Logik keineswegs als Schöpfungsakt zu verstehen. Der Schritt von der logischen Idee zur Natur, so heißt es dort, sei »nicht ein Gewordenseyn und Uebergang«, sondern geschehe so, »daß die Idee sich selbst frey entläßt«, wobei es sich sogar um e inen »Entschluß der reinen Idee« handeln soll, »sich als äusserliche Idee zu bestimmen« (GW 12, 253). Nach meiner Auffassung ist das »Sich-frei-Entlassen« und das »Sich-Entschließen« im Sinne einer Rücknahme der anfänglichen Abstraktion zu verstehen, also der 102 | Logik
Abstraktion von aller Bestimmtheit. Weil die reinen Denkbestimmungen keine Intentionalität auf reale Gegenstände haben, ist das Sich-Entschließen ein Sich-Aufschließen für das Reale, eine schon immer vorhandene Gegenständlichkeit. Die Natur ist konstitutiv äußerlich zur Idee, aber – so Hegel – »schlechthin frey – die absolut für sich selbst ohne Subjectivität seyende Aeusserlichkeit des Raums und der Zeit« (GW 12, 253). Dass die Natur absolut für sich selbst und schlechthin frei sei, bedeutet, dass sie in ihrem Dasein absolut und gerade nicht abhängig von der Idee und also keineswegs aus ihr auf mystische Weise hervorgegangen ist. Hegel kennt als Aristoteliker keinen Schöpfungsakt; was ihn interessiert, ist die Erkennbarkeit der ›Welt‹, also der Natur und des Geistes. (3) In der Vorrede zur zweiten Auflage der Seinslogik heißt es, unser Denken müsse sich nach den Dingen »beschränken und unsere Willkühr oder Freyheit soll sie nicht nach sich zurichten wollen«, wir können nicht »über die Natur der Dinge hinaus« (GW 21, 14). In der Konsequenz beansprucht Hegel gerade nicht, wie Marx es ihm unterstellt hatte, die Logik der Sache – der »Dinge« – durch die Sache der Logik zu ersetzen. Die Natur der Dinge bindet das Denken der Dinge. Eben deshalb kann und will die Philosophie auch keine Deutungshoheit über empirische Sachverhalte reklamieren. Hegels Naturphilosophie etwa steht in keiner Konkurrenz zu den empirischen Naturwissenschaften und ist auch nicht deren Metatheorie.13 Ausgangspunkt ist nicht eine Natur an sich, sondern vielmehr das theoretische und praktische Naturverhältnis der Menschen: »Die Theoretische Seite anerkent die Natur als das Seiende substantielle. Dies ist der Bewußtlose Zwie spalt, in dem wir uns unmitelbar zur Natur befinden. […] Andrerseits weis der Mensch sich in sich unendlich, unbezwingbar in seinem Willen. […] Das ist die List seiner Vernunft daß er ihre Gewalt an sich selbst abreiben läßt; und sich dahinter unangetastet verhält und so die Natürlichen Dinge zu seinen willkührlichsten Einfällen braucht.« (GW 24,1, 4) Die Eigenständigkeit der Natur zwinge im »Verhältnis der Philosophie zum Empirischen« dazu, das Empirische als notwendige Voraussetzung des Begreifens anzuerkennen: »Nicht nur muß die Philosophie mit 13
Vgl. Fulda, Hegel, 143 f.; Jaeschke, Hegel-Handbuch, 336–340. Das Verhältnis der Wissenschaft der Logik zur Realphilosophie | 103
der Natur-Erfahrung übereinstimmend seyn, sondern die Entstehung und Bildung der philosophischen Wissenschaft hat die empirische Physik zur Voraussetzung und Bedingung.« (GW 19, 184) Indessen gibt es – nicht nur in der Natur, aber besonders dort – aufgrund der Notwendigkeit des Zufalls auch bloß zufällig Existierendes, welches den Begriff nichts angeht, der nur das erfasst, was überhaupt der Allgemeinheit des Begriffs zugänglich ist. Auch die von Marx gegen Hegel angemahnte Logik der (eigentümlichen) Sache ist ja noch eine Logik, ihr Allgemeines, und nicht etwas bloß zufällig Existierendes, das nicht zu ihrem Begriff gehört. Weder im praktisch-gegenständlichen noch im theoretischen Verhalten zur ›Welt‹ geht der Gegenstand restlos im Begriff auf. Aus diesem Grunde sind die Kategorien der Logik und die absolute Methode ihrer Selbsterfassung auch nicht eins zu eins auf die realphilosophischen Sachverhalte anwendbar. Tatsächlich hat Hegel in dieser Hinsicht keine allgemeinen methodischen Überlegungen angestellt. Zwar rekurrieren die philosophischen Disziplinen, wie sie Hegel in der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften entworfen und in seinen Vorlesungen in immer neuen Anläufen ausgearbeitet hat, vielfach auf die Wissenschaft der Logik, aber selbst innerhalb der Philosophie des absoluten Geistes und noch weniger in den realphilosophischen Disziplinen geschieht dies durch eine einfache Identifikation der zu begreifenden Sachverhalte mit logischen Kategorien, denn das Verhältnis der logischen Kategorien zueinander ist durch das Selbstverhältnis des Begriffs bestimmt, die realphilosophischen Begriffsstrukturen jedoch sind aufgrund ihrer Äußerlichkeit durch die Ordnung der Begriffe im Verhältnis der Dinge zueinander bestimmt. Das begreifende Erkennen der Realität bedarf daher des Sich-Einlassens auf die Sache selbst, die hier nicht nur der Begriff selbst, die Sache der Logik, ist.
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II . RE ALITÄT
»Das Wesen des Geistes ist …, daß er … als Sieger über die Natur zu sich selbst kommt«. Gesellschaftliches Naturverhältnis bei Hegel Der Titel zitiert den Beginn von Hegels Jenaer Vorlesungsfragment »Das Wesen des Geistes …« (1803); vollständig lautet der Satz: »Das Wesen des Geistes ist diß, daß er sich einer Natur entgegengesetzt findet, diesen Gegensatz bekämpft, und als Sieger über die Natur zu sich selbst kommt.« (GW 5, 370) Es besteht kein Zweifel, dass hiermit der Begriff des Geistes erstmals in einer Weise formuliert wird, die auch für das spätere System weitgehend Bestand hat.1 Zu verweisen ist auf das Berliner Fragment zur Philosophie des Geistes, entstanden im Zusammenhang mit dem Plan, eine Psychologie bzw. Philosophie des subjektiven Geistes zu publizieren; dort heißt es in ganz ähnlicher Formulierung: »Die Frage, was der Geist ist, schließt […] zwey Fragen in sich, wo der Geist herkommt, und wo der Geist hingeht. […] Wo er herkommt, – es ist von der Natur; wo er hingeht, – es ist zu seiner Freyheit. Was er ist, ist eben diese Bewegung selbst von der Natur sich zu befreyen.« (GW 15, 249) Die Formulierung von 1803 ist aber auch so verstanden worden, dass sie eine Depotenzierung der Natur anzeige, denn während sie hier als »Andersseyn« des Geistes verstanden werde (GW 5, 370), habe Hegel die Natur kurz zuvor, in einem Vorlesungsfragment (Introductio in philosophiam, 1801/02) noch als »entfalteten Leib« des absoluten Wesens verstehen wollen.2 Heinz Kimmerle hat (freilich aufgrund einer anderen Editionslage) davon gesprochen, dass zum Beginn der Jenaer Zeit die »Einheit des Allgemeinen und Besonde-
Hegel-Handbuch, 158. Andreas Arndt, Natur und Geist. Hegels Naturphilosophie im Zusammenhang seiner systematischen Konzeptionen, in: Hegel: Natur und Geist, hg. v. Andreas Arndt und Wolfgang Virmond, Bochum 1988, 11–34; hier 18 ff. 1 Jaeschke, 2 Vgl.
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ren […] in der Natur […] beispielhaft und für die menschliche Welt vorbildhaft zum Ausdruck« komme.3 Die Formulierung von 1803 lässt sich auf den ersten Blick kaum in diesem Sinne interpretieren; sie scheint vielmehr den Geist von der Natur abzukoppeln, die nur noch als tote Grundlage seiner Herrschaft über die Natur dient und deren Eigenbedeutung darin aufgehoben ist, nur noch das Anderssein des Geistes und damit den Geist selbst zu repräsentieren. Eine solche Interpretation wäre jedoch kurzschlüssig. Sowohl das Fragment von 1803 als auch das spätere System können nicht nur, sondern müssen m. E. anders verstanden werden. Im Verhältnis zwischen Natur und Geist entfaltet sich vielmehr ein komplexes Naturverhältnis, das, da der Geist seinem Wesen nach überindividuell und nicht auf den subjektiven Geist reduzierbar ist, durchaus als gesellschaftliches Naturverhältnis angesehen werden kann, zumal es vor allem auch als Arbeit verstanden werden muss. Ich werde dieser Problematik in drei Schritten nachgehen. Zuerst gebe ich eine ausführlichere Interpretation des Fragments von 1803 (1), gehe dann auf das Naturverhältnis des Geistes qua Arbeit ein (2) und frage schließlich danach, wie sich dieses Verhältnis im Blick auf den absoluten Geist darstellt, also im Spannungsfeld von absoluter Idee, Natur und Geist (3). (1) Das Fragment von 1803 steht im Zusammenhang der Jenaer Systemkonzeptionen, die entwicklungsgeschichtlich vor dem späteren Systementwurf der Enzyklopädie liegen und sich, trotz vieler Übereinstimmungen im Einzelnen, nicht darauf abbilden lassen. Es kann im Folgenden also nicht darum gehen, das Fragment im Lichte der späteren Entwürfe zu lesen, und es soll auch nicht umfassend in die komplexe Entwicklung der Jenaer Zeit eingeordnet werden. Hier interessiert allein die Frage, wie das Verhältnis von Natur und Geist in diesem Fragment verstanden wird. Walter Jaeschke hat darauf hingewiesen, dass das eigentliche Thema des Fragments nicht der Geist, sondern der Naturbegriff sei.4 Heinz Kimmerle, Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. Hegels »System der Philosophie« in den Jahren 1800–1804, 21982, 162. 4 Jaeschke, Hegel-Handbuch, 158. 3
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Dies hängt damit zusammen, dass das Naturverhältnis für den Geist konstitutiv ist, und zwar in einem sehr prägnanten Sinne: Der Geist ist nämlich nicht, sondern er wird erst in der Entwicklung des Naturverhältnisses. Der Geist im vollen Sinne ist Resultat dieser Entwicklung. Der Geist, so betont Hegel, »ist nicht, oder er ist nicht ein Seyn, sondern ein gewordenseyn«: »Der Geist hebt die Natur, oder sein Andersseyn auf, indem er erkennt, daß diß sein Andersseyn er selbst ist, daß sie nichts anderes ist, als er selbst, gesetzt als ein entgegengesetztes. Durch diese Erkenntniß wird der Geist frey, oder durch diese Befreyung ist erst der Geist« (GW 5, 370). Die Natur, so ist festzuhalten, ist konstitutiv für das Werden des Geistes. Ohne Naturverhältnis kein Geist. Aber nicht nur für das Werden des Geistes ist die Natur konstitutiv, sondern auch für den als Geist konstituierten Geist selbst bleibt das Naturverhältnis wesentlich. Der Geist, so Hegel, kommt »aus dem vernichten« her, aber dieses Vernichten ist nicht, wie es scheinen könnte, das Vernichten der Natur, sondern das Vernichten des Gegensatzes zur Natur. Anders gesagt: Der Geist tritt nicht in einen Monolog mit sich selbst ein, sondern das Naturverhältnis ändert sich dahingehend, dass der Geist sich in der Natur (die also keineswegs getilgt wird) findet und erkennt: »Indem der Geist die Natur als sich erkennt, und ihren Gegensatz aufhebt, findet er in ihr sich selbst, kommt zu sich selbst.« (GW 5, 370) In diesem Zusammenhang setzt Hegel sich ausdrücklich mit der These auseinander, dass der Geist im Ergebnis dieses Zu-sichselbst-Kommens sich selbst genügen könne: »es scheint unnöthig zu seyn, [daß er] ausserdem, daß er selbst ist, auch noch sein Abbild erblickt.« (GW 5, 370) Hegel stimmt zunächst zu, dass der Geist auch als subjektiver, als »der einzelne Geist«, wie es hier heißt, sich negativ gegen die Natur verhält und, »ob sie schon etwas anderes sey als er selbst«, ihre Gewalt verachte (GW 5, 371). Bestimmte Individualität ist der Geist aber nur, indem er sich in dieser Weise auf die Natur bezieht: Er ist, was er ist, nur, indem er nicht die ihm entgegengesetzte Natur ist. In dieser Beziehung behauptet sich der Geist gegen die Natur in seiner individuellen Bestimmtheit, und dieses Sich-Behaupten ist ein permanenter Prozess des Sich-Beziehens auf Anderes. Hegel beschreibt dieses Verhältnis mit dem Außer-sich-Kommen und Bei-sich-selbst-Sein des Geistes. In Gesellschaftliches Naturverhältnis bei Hegel | 109
der späteren Terminologie der Phänomenologie des Geistes ist dies nichts anderes als die Arbeit des Geistes: seine Entäußerung (das Außer-sich-Kommen) und die Rücknahme der Entäußerung, eine Figur, auf die bekanntlich Karl Marx in seinen Pariser Manuskripten von 1844 größten Wert gelegt hat. Ich komme darauf zurück. Für Hegel ist zunächst wichtig, dass dieser Prozess an der Bestimmtheit und damit an der Entgegensetzung festhält. Der so bestimmte Geist sei aber »nicht wahrhaffter Geist; denn der Geist ist nicht ein besonderes sondern das absolut allgemeine. Die Befreyung von der Natur ist die Befreyung von der Bestimmtheit überhaupt« (GW 5, 371). Wenn also der Geist als Sieger über die Natur zu sich selbst kommt, dann nicht, indem er die Naturbestimmtheit in bestimmten Naturverhältnissen – z. B. in Arbeitsprozessen – vergleichgültigt, sondern indem er sich »von der Bestimmtheit überhaupt« befreit. Unschwer ist zu erkennen, dass hierin das präfiguriert ist, was Hegel später den absoluten Geist nennen wird, der sich nur auf sich selbst bezieht (und insofern absolut ist) und in dieser reinen Selbstbezüglichkeit erst da vollständig realisiert ist, wo der Begriff sich im reinen Denken (das von aller Gegenständlichkeit und Intentionalität abstrahiert) als Begriff erfasst. Die Befreiung von der Natur als Befreiung von aller Bestimmtheit entspricht der Befreiung vom Gegensatz des Bewusstseins: Wie später in der Phänomenologie des Geistes das Ding Ich und das Ich Ding ist, so ist hier die Natur Geist und der Geist Natur. Der Geist, so resümiert Hegel, »ist frey, indem er das leere wird, das die ganze Natur gegen sich hat« – und, so ist zu präzisieren, nicht eine bestimmte Natürlichkeit –, »und er ist lebendig, indem er dieses Ganze als ihm selbst gleichsetzt« (GW 5, 371). Die Negativität des Naturverhältnisses, durch die der Geist sich als Geist findet und in sich selbst bleibt, ist also zunächst nichts weiter als die Abstraktion von aller Bestimmtheit. An dieser Stelle darf wohl daran erinnert werden, dass diese Abstraktion später den Anfang der Wissenschaft der Logik bildet: »Seyn, reines Seyn –, ohne alle weitere Bestimmung« (GW 21, 68), ein Anakoluth, der sich schon sprachlich der Urteilsform und damit dem Bestimmen verweigert. Was diese Bestimmungslosigkeit bzw. Leere näher bedeutet, kann hier zunächst unerörtert bleiben. Wichtig ist, dass der Geist auch in dieser Form des In-sich-selbst-Bleibens als Resultat 110 | Realität
seines Werdens zu sich relational auf die Natur bezogen bleibt, wenn auch nicht in der Weise, dass die Natur ein äußerliches, vom Geist unterschiedenes und damit entgegengesetztes Relat darstellen würde: »Nicht diß ist das Gebundenseyn des Geistes, daß er eine Entgegensetzung hat, sondern daß das Ganze ihm entgegengesetzt sey.« (GW 5, 371) Dieses Ganze, so Hegel, ist der »gemeinen Anschauung« nicht zugänglich, denn sie sieht nur »geistlos« eine »Vielheit vereinzelter, und in ihrer Einzelheit für sich seyender. Die Natur selbst als die Einheit, als das wahrhaffte Ganze derselben bleibt ein unbekanntes, ein Jenseits, das gleichgültig ist, Gott oder Natur zu nennen« (GW 5, 372). Aber auch die »Poësie« verfehle die Natur als Ganze – eine deutliche Distanzierung von Schellings Versuch, durch die ästhetische Anschauung zum Absoluten zurückzukehren. Die Poesie könne zwar die Lebendigkeit der Natur gestalten, bleibe dabei aber an die Individualität als die vereinzelte Lebendigkeit gebunden. Dies gelte selbst dann, wenn die Poesie über die Natur hinausgehe, um das Unendliche darzustellen: »Die Götter der Poësie, oder das rein poëtische sind ebenso beschränkte Gestalten, und der absolute Geist, das absolute Leben, weil es die Gleichgültigkeit aller Gestalten ist, […] entflieht der Poësie selbst; er ist allein in der Philosophie auszusprechen und darzustellen; es sey daß er als absoluter Geist, oder daß er als Geist, wie er Natur ist, betrachtet werde.« (GW 5, 373) Die philosophische Erkenntnis der Natur erfasst die Allgemeinheit als Gleichgültigkeit der bestimmten Gestalten oder der Bestimmtheiten überhaupt; dem Individuum bleibe dabei nur »die Leerheit oder Allgemeinheit; es ist frey von allem; und indem seine Einzelheiten selbst ausser ihm seyend gesetzt sind, sind sie selbst frey und allgemein« (GW 5, 373). Sosehr das Absolute hier noch als Vergleichgültigung bzw. Indifferenz aller Bestimmtheiten gefasst ist und Hegel insoweit noch im Bann des Schellingschen Identitätssystems steht, wird in der Rede von der Allgemeinheit der Einzelheiten, d. h. der Bestimmtheiten, doch schon deutlich, dass er eine Vermittlungsfigur sucht, in der das Allgemeine die Besonderheiten in sich schließt, auch wenn er hier noch weit entfernt von dem Konzept des Absoluten als in sich konkreter Totalität ist. Für die Bestimmung des Naturverhältnisses ist wichtig, dass Hegel die Natur durchgängig als Relat des Geistes behandelt, in Gesellschaftliches Naturverhältnis bei Hegel | 111
welchem Verhältnis der Geist sich erst als Geist konstituiert. Dass Hegel sich damit insbesondre von Fichte und der in der Differenzschrift (1801) konstatierten »Mishandlungen« der Natur bei Kant und Fichte distanziert (GW 4, 8), ist offenkundig. Auch wenn die Vergleichgültigung der Bestimmtheiten überhaupt – sowohl der Natur als auch des Geistes – hier im Mittelpunkt steht, so ist doch klar, dass über die Natur als Voraussetzung des Geistes ebenso wenig ein Zweifel bestehen kann wie darüber, dass sie in den bestimmten Verhältnissen zu den bestimmten geistigen Gestaltungen mehr ist als bloß eine tote Grundlage des geistigen Bestimmens. Vielmehr ist die Naturbestimmtheit konstitutives Moment der Entwicklung des Geistes zu sich. Die grundlegende Form dieses Prozesses ist die Arbeit, die keineswegs nur metaphorisch oder als intellektuelle Tätigkeit zu fassen ist. Dem wende ich mich jetzt zu. (2) Die Befreiung des Geistes zu sich als Aufhebung der Entgegensetzung zur Natur durch die Vergleichgültigung aller Bestimmtheiten, diese Negativität kennzeichnet auch Hegels Charakteristik der Arbeit in einem Jenaer Notizbuch: »Arbeiten heißt die Welt vernichten oder fluchen« (GW 5, 493). Arbeit ist nicht, wie in der biblischen Geschichte vom Sündenfall, der über die Menschen verhängte Fluch, sondern sie ist selbst ein Fluchen, das sich gegen die von Gott verfluchte Erde richtet, auf der Disteln und Dornen wachsen sollen, damit der Mensch im Schweiße seines Angesichts sein Brot erwerbe. Sie ist gewissermaßen Negation der Negation, Verfluchen des Fluchs, und darin Befreiung von der unmittelbaren Naturabhängigkeit. Diese Befreiung ist jedoch nicht individuell herbeizuführen, sondern nur gesellschaftlich, wie Hegel bereits in einem ebenfalls auf 1803 zu datierenden Fragment zur Geistesphilosophie (ist auf das Allgemeine …) betont. Das »reine Ich« im Sinne Fichtes, »das in seiner absoluten Freyheit alle Beziehung auf sein Entgegengesetztes aufhebt«, bleibe dennoch negativ auf das Entgegengesetzte fixiert und täusche sich damit über sich selbst (GW 5, 367). Dies unterstreicht noch einmal, dass die Natur in ihrer Bestimmtheit als Voraussetzung der Konstitution des Geistes ernst zu nehmen ist. Der Einzelne ist und bleibt immer von der Natur abhängig; es sei, so betont Hegel, »kein entgegengesetztes Verhältniß der Einzelnen zu Natur und zur objectiven Welt mög112 | Realität
lich […], und das Individuum kann sich nur eine Art von gemeinschafftlichem Thun ersinnen, in welchem die Natur ihren Weg der Nothwendigkeit für sich fortgeht und der Einzelne gleichsam auf sie lauert, wo sie mit seinen Zwecken übereinstimme, und hier sich zu ihr hält, und sie betrügt, daß indem sie für sich sich zu bewegen scheint, es doch eigentlich für das Subject geschieht« (GW 5, 367).5 Weit entfernt davon, die Natürlichkeit abstrakt negieren zu können, müssen sich die Menschen den Gesetzen der Natur unterordnen, um sie beherrschen, d. h. sich aus der unmittelbaren Naturabhängigkeit befreien zu können. Dass dies nur als ein gemeinschaftliches Tun möglich ist, liegt darin begründet, dass Hegel über die Rolle des Werkzeuges, auf die ich gleich noch eingehen werde, die Gesellschaftlichkeit der Arbeit in den Blick bekommt. Das Naturverhältnis, von dem bei ›Arbeit‹ die Rede ist, ist daher immer schon ein gesellschaftliches Naturverhältnis, oder, was dasselbe ist, es fällt, in der Terminologie des späteren Systems gesprochen, in den objektiven Geist. Hegel denkt die Arbeit als Einheit von Bestimmtwerden durch die Natur und Bestimmen der Natur. In seinem Entwurf eines Systems der Sittlichkeit (1802/03) geht er von den noch »ganz der Natur« angehörenden, überlebensnotwendigen Bedürfnissen der Menschen aus, die durch das Aufzehren der aufgefundenen Nahrung befriedigt werden (GW 5, 283). Innerhalb dieses rein natürlichen Verhältnisses, das es zunächst nur mit der unmittelbaren Einverleibung von Essbarem zu tun hat, deutet sich nach Hegel aber bereits eine Reflexivität an. Das Verzehren, die Vernichtung des essbaren Naturgegenstandes, macht eine praktische Differenz des Subjekts zur natürlichen »Welt« sichtbar. Im Genuss sei, so Hegel, »ein Bewußtseyn der Negativität des Objects« vorhanden (GW 5, 283). Wenn das Vernichten des Gegenstandes für sich genommen 5 Zur Thematisierung der Arbeit beim Jenaer Hegel vgl. Georg Lukács, Der junge Hegel. Über die Beziehungen von Dialektik und Ökonomie, 2 Bde., Frankfurt / M 1973; Hans-Christoph Schmidt am Busch, Hegels Begriff der Arbeit, Berlin 2002; Andreas Arndt, Die Arbeit der Philosophie, Berlin 2003; Steffen Schmidt, Hegels »System der Sittlichkeit«, Berlin 2007, 186 ff.; Maxi Berger, Arbeit, Selbstbewusstsein und Selbstbestimmung bei Hegel, Berlin 2012; Hans-Peter Krüger, Heroismus und Arbeit in der Entstehung der Hegelschen Philosophie, Berlin 2014.
Gesellschaftliches Naturverhältnis bei Hegel | 113
und vom Genuss abgekoppelt, der Genuss also »gehemmt« und »aufgeschoben« (GW 5, 284) werde, dann könne auch das Vernichten, die Negation des Gegenstandes, eine andere Form annehmen. Auch das Vernichten sei dann gehemmt: Das Objekt werde nicht umstandslos verzehrt, sondern nur in der Form seines natürlichen So-seins vernichtet. In Hegels späterer Terminologie: Es wird nicht abstrakt negiert, sondern an ihm vollzieht sich eine bestimmte Negation. Es wird bearbeitet und tritt damit dem Subjekt zunächst als Produkt seiner Tätigkeit entgegen. In seinen späteren Vorlesungen über die Philosophie des subjektiven Geistes nimmt Hegel dies auf, fügt aber noch ein vermittelndes Zwischenglied ein, das insofern von Bedeutung ist, als Hegel hier positiv auf das Prinzip des Eudaimonismus rekurriert (das Kant bekanntlich in seiner Morallehre verworfen hatte). Findet das Bedürfnis nämlich wenigstens zwei konsumierbare Gegenstände vor, so kommt der Wille ins Spiel, der also davon abhängt, dass überhaupt verschiedene objektive Möglichkeiten vorhanden sind, elementare Bedürfnisse zu befriedigen. Der Mensch »ist so auf dem Standpunkt, zwischen Neigungen zu wählen zu haben, und ist Willkühr. Die begirde der Triebe ist angewiesen vor seiner befriedigung auch auf das Andre zu sehen, und zwar auf das Ganze – zwischen das Gefühl der begirde und ihrer befriedigung tritt das Hemmende ein, welches der Gesichtspunkt des Allgemeinen ist.« (GW 25,2, 911 f.) Nach Hegel entsteht hier ein Widerspruch zwischen der Besonderheit (die Begierde richtet sich auf bestimmte Naturgegenstände) und der Allgemeinheit, dem Streben nach Glückseligkeit. Hierin wiederholt sich offenkundig die Konstellation des eingangs vorgestellten Fragments aus der Geistesphilosophie von 1803. Hegel geht hier den Weg, die materiellen Bedürfnisse und Interessen geradezu zum Motor der Entwicklung des Geistes zu machen; eine Abstraktion hiervon, von den Trieben und Leidenschaften, ist schon deshalb unmöglich, weil jedes Handeln von (endlichen) Subjekten vollzogen wird, die solche Interessen mitbringen: »Den Trieben und Leidenschaften setzt man einerseits die schaale Träumerei eines Naturglücks gegenüber, durch welches die Bedürfnisse ohne die Thätigkeit des Subjects […] ihre Befriedigung finden sollen. Andererseits wird ihnen ganz überhaupt, die Pflicht um der Pflicht willen, die Moralität entgegengesetzt. Aber Trieb und Leidenschaft 114 | Realität
ist nichts anderes als die Lebendigkeit des Subjects, nach welcher es selbst in seinem Zwecke und dessen Ausführung ist.« (GW 20, 473) Die eigentliche Hemmung der Begierde, die zu einer bleibenden Allgemeinheit führt, tritt aber dort ein, wo gearbeitet wird, d. h. wo der Genuß hinausgeschoben wird, um Produktionsmittel herzustellen, die dann in diejenigen Produktionen eingehen, welche auf die Bedürfnisbefriedigung zielen. Dies geschieht, indem sich das Werkzeug als Mitte zwischen Subjekt und Objekt schiebt. Es ist einerseits, wie das Objekt, ein Naturgegenstand der, wie Hegel sagt, »der Natur entrissen« (GW 5, 291) wurde. Es ist andererseits Produkt von Arbeit, also durch das Subjekt verändert oder bestimmt. Das Werkzeug ist somit Einheit von Subjekt und Objekt, von Naturgesetzlichkeit und Bestimmtwerden der Natur durch das Subjekt. Mit ihm »lauert« der Mensch, um Hegels Bild noch einmal zu bemühen, der Natur auf, um sie zu überlisten. Indem ein natürlicher Gegenstand so bearbeitet wird, dass er zu einer weiteren Bearbeitung von natürlichen Gegenständen benutzt werden kann, die ohne diesen Werkzeuggebrauch nicht möglich wäre, vergrößert sich die Differenz zur unmittelbar vorfindlichen Natur und damit die Brechung des unmittelbaren Naturzwanges. Aber es bleibt gleichwohl ein Verhältnis, in dem die Natur mit Hilfe der natürlichen Eigenschaften der Werkzeuge überlistet wird. Insoweit und insofern Arbeit aus der Notwendigkeit zur Reproduktion des menschlichen Lebens folgt, ist für Hegel das Zwangsmoment der Arbeit für die Menschen nicht zu tilgen. Zugleich aber ist für Hegel die Arbeit durch eine Selbstreflexivität charakterisiert, die ihm den Ansatzpunkt bietet, diesen Zwangscharakter auf einer höheren Stufe geistiger Allgemeinheit aufzuheben. Durch das Arbeitsmittel, also das Werkzeug, bezieht sich die Arbeit auf sich selbst, denn im Herstellen des Werkzeuges wird gearbeitet, um Arbeit zu ermöglichen, und im Werkzeuggebrauch wird das Resultat vergangener Arbeit als Mittel eingesetzt. Diese Selbstbezüglichkeit der Arbeit ist nicht mehr an die einzelne Subjektivität gebunden, sondern allgemein, sofern das Werkzeug den einzelnen Arbeitsprozess überdauert und übertragbar ist. Es ist nach Hegel die »reale Vernünftigkeit der Arbeit« (GW 5, 291), und diese elementare Vernünftigkeit ruft Hegel auch im Teleologiekapitel der Lehre vom Begriff noch einmal in Erinnerung: Gesellschaftliches Naturverhältnis bei Hegel | 115
»Das Werkzeug erhält sich, während die unmittelbaren Genüsse vergehen und vergessen werden. An seinen Werkzeugen besitzt der Mensch die Macht über die äusserliche Natur, wenn er auch nach seinen Zwecken ihr vielmehr unterworfen ist.« (GW 12, 166) Dabei hängt auch die spezifische Funktion des Geistigen im Arbeitsprozess – das intellektuelle Moment der Arbeit – gerade mit der Naturbestimmtheit der Arbeit zusammen. Wenn die Natur überhaupt als Äußerlichkeit bestimmt ist, die sich darum in ihren Bestimmtheiten nicht selbst zu erfassen und festzuhalten vermag, dann kommt dem Geist die Funktion zu, die gleichsam auseinandergeworfenen Eigenschaften der Natur jenseits ihrer natürlichen Vorkommensweisen zusammenzubringen und sich aneinander abarbeiten zu lassen. Das, was Hegel als Überlistung der Natur beschreibt, hat hierin seinen Grund. Und nur in diesem Sinne ist Arbeit auch das »disseitige sich zum Dinge machen« (GW 8, 205). Dabei überlistet der Mensch die Natur, indem er deren Gesetze für seine Zwecke ausnutzt. Die Befreiung des Geistes beginnt mit der Befreiung des Menschen aus unmittelbaren Naturabhängigkeiten durch die Arbeit. In der Befreiung von der unmittelbaren Abhängigkeit von der Natur erfolgt demnach die eigentliche Konstitution des Geistigen zu einer ersten Form der Vernünftigkeit. Diese ist, das muss nachdrücklich unterstrichen werden, nicht Gedanke oder Idee, sondern ein materieller Gegenstand: das Werkzeug. Hierin kommt auch zum Ausdruck, dass Hegel größten Wert darauf legt, dass dies nicht eine abstrakte Herrschaft über die Natur bedeute, sondern dass der Widerspruch zwischen Natur und Geist vermittelt und aufgelöst werde. Eindringlich macht dies eine Passage aus Hegels Vorlesungen über die Ästhetik deutlich: »einerseits sehen wir den Menschen in der gemeinen Wirklichkeit und irdischen Zeitlichkeit befangen, von dem Bedürfnis und der Not bedrückt, von der Natur bedrängt, in die Materie, sinnlichen Zwecke und deren Genuß verstrickt, von Naturtrieben und Leidenschaften beherrscht und fortgerissen; andererseits erhebt er sich zu ewigen Ideen, zu einem Reiche des Gedankens und der Freiheit, gibt sich als Wille allgemeine Gesetze und Bestimmungen, entkleidet die Welt von ihrer belebten, blühenden Wirklichkeit und löst sie zu Abstraktionen auf, indem der Geist sein Recht und seine Würde nun allein in 116 | Realität
der Rechtlosigkeit und Mißhandlung der Natur behauptet, der er die Not und Gewalt heimgibt, welche er von ihr erfahren hat. Mit dieser Zwiespältigkeit des Lebens und Bewußtseins ist nun aber für die moderne Bildung und ihren Verstand die Forderung vorhanden, daß solch ein Widerspruch sich auflöse.«6 (3) Dies lenkt zum Schluss den Blick auf die Frage, wie sich Natur und Geist überhaupt zueinander verhalten. Zunächst: Die Auffassung, Arbeit repräsentiere eine elementare Struktur von Vernünftigkeit, ist Voraussetzung dafür, dass Hegel schließlich den geschichtlichen Bildungsgang des Geistes als Arbeit des Geistes verstehen kann, in der am Ende das intellektuelle und vernünftige Moment des Arbeitsprozesses selbstbezüglich wird. Dies beruht jedoch, wie betont werden muss, nicht auf einer Entnaturalisierung, sondern auf einer bewussten Abstraktion. Natur und Geist sind nach Hegel »unterschiedene Weisen«, das »Daseyn« der Idee darzustellen (GW 12, 236); die absolute Idee hat ein Dasein nur in der Natur und im Geist und nicht in einer metaphysischen Hinterwelt, und demzufolge sind auch Natur und Geist als Relate notwendig aufeinander bezogen. Der Geist ist »Setzen der Natur als seiner Welt; ein Setzen, das als Reflexion zugleich Voraussetzen der Welt als selbständiger Natur ist« (GW 20, 382). Diese reale Vermittlung von Natur und Geist ist unhintergehbar. Die absolute Form – die Form des sich als Begriff erfassenden Begriffs in der absoluten Idee – ist eben darum auch nur formell, wie es in der Logik heißt (GW 12, 25). Sie beruht auf der Möglichkeit des Geistes, »von allem Aeußerlichen und seiner eigenen Aeußerlichkeit, seinem Daseyn selbst [zu] abstrahiren« (GW 19, 289). Dies geschieht, wie bereits erwähnt, am Anfang der Logik mit dem Entschluss, rein denken zu wollen. Wir abstrahieren dabei sowohl von allem bestimmten Inhalt des Denkens, also von aller Intentionalität auf Gegenstände, als auch von aller Vor-Bestimmtheit, die das Denken für mich hat, also von dem, was ich vom Denken schon immer weiß oder zu wissen meine. Da das reine Denken eine Form der philosophischen Selbstvergewisserung, die Philosophie nach Hegel aber eine Gestalt des absoluten Geistes und als solche ihrem Wesen nach geschicht6 Hegel,
Ästhetik, Bd. 1, 62 f. (»Einleitung. Der Zweck der Kunst«). Gesellschaftliches Naturverhältnis bei Hegel | 117
lich ist, hat diese Abstraktion des reinen Denkens selbstverständlich historische Voraussetzungen: sie setzt voraus, dass die Philosophie in ihrer geschichtlichen Entwicklung auf das Problem reiner Denkbestimmungen gestoßen ist, was nach Hegel erst mit Kant und der Wendung zur Transzendentalphilosophie erfolgt ist. Hier werden Denkbestimmungen thematisiert – etwa in den Kantischen Kategorien und der Urteilstafel –, die als Bedingung der Möglichkeit intentionalen, also objektbezogenen Erkennens gelten, ohne selbst in diesem Sinne intentional zu sein: Sie sind wohl objektiv gültig, aber nicht selbst objektiv. Um vom reinen Denken der Logik wieder zu dem Äußerlichen der Natur und auch dem Dasein des Geistes zu kommen, also zur Realphilosophie, bedarf es im Gegenzug der Rücknahme der Ab straktion. Tatsächlich heißt es am Schluss der Wissenschaft der Logik in dem Abschnitt über die absolute Idee, diese Idee sei »noch logisch« und »in den reinen Gedanken« und »in die Subjectivität eingeschlossen« (GW 12, 253). Anders gesagt: Die Vernunft oder der Begriff vollenden sich in sich, aber in dieser Vollendung ist der Begriff wieder in sich eingeschlossen, d. h. er setzt sich – als Begriff – eine Grenze. So heißt es im Zusatz zum § 379 der Enzyklopädie (1830), der Begriff selber setze »seinem Sichentwickeln dadurch eine Grenze, daß er sich eine ihm völlig entsprechende Wirklichkeit gibt«.7 Diese Wirklichkeit und Wahrheit aber hat er aber allein in der absoluten Idee als Selbstbeziehung des Begriffs. Sofern Hegel die traditionelle Auffassung der Wahrheit als Entsprechung von Begriff und Gegenstand teilt, gibt es eine vollständige Entsprechung und damit Wahrheit in einem emphatischen Sinne allein auf der Ebene der absoluten Idee, denn in der Realität hat der Begriff immer schon die Beziehung auf eine Äußerlichkeit an sich. Indem der Begriff (die logische oder absolute Idee) sich der Realität der Natur und des Geistes zuwendet, d. h. sich dazu entschließt, die Abstraktion des reinen Denkens von aller Bestimmtheit und Intentionalität in Bezug auf realphilosophische Gegenstände zurückzunehmen, tritt er in das Reich des Endlichen ein, das sich per se in einer wesentlichen Differenz zur logischen Idee befindet: Der subjektive und objektive Geist können gar nicht in der Weise 7
HW, Bd. 10, 14 f.
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selbstbezüglich sein, wie der sich selbst als Begriff erfassende Begriff. Mit anderen Worten: Hier gibt es konstitutiv und unhintergehbar eine Nichtidentität gegenüber dem Begriff als solchem: »Die endlichen Dinge sind darum endlich, indem sie die Realität ihres Begriffs nicht vollständig an ihnen selbst haben, sondern dazu anderer bedürfen; – oder umgekehrt, insofern sie als Objecte vorausgesetzt sind, somit den Begriff als eine äusserliche Bestimmung an ihnen haben« (GW 12, 175). 8 Anders gesagt: Der reale Gegenstand ist nicht a limine mit dem Begriff identisch. Wie aber kommt der Begriff zu dieser Äußerlichkeit? Hier stoßen wir in der Logik in der Tat auf nebulöse Metaphern. Indem die Idee, so lesen wir, sich »in die Unmittelbarkeit des Seyns zusammennimmt« (GW 12, 253), also die anfängliche Unmittelbarkeit als vermittelte wiederherstellt, sei sie Natur, aber: »Diese Bestimmung ist […] nicht ein Gewordenseyn und Uebergang«, sondern geschehe so, »daß die Idee sich selbst frey entläßt«, wobei es sich sogar um einen »Entschluß der reinen Idee« handeln soll, »sich als äusserliche Idee zu bestimmen« (GW 12, 253). Das ist immer wieder im Sinne eines Schöpfungsaktes interpretiert worden. Indessen wäre genau dies ein Gewordensein oder Übergang, was Hegel kategorisch ausschließt. Was aber ist dann gemeint? Ich möchte stattdessen den Vorschlag machen, das »Sich-frei-Entlassen« und das »Sich-Entschließen« im Sinne einer Rücknahme der anfänglichen Abstraktion zu verstehen, also der Abstraktion von aller Bestimmtheit. Der Akt der Rücknahme der Abstraktion kann nicht nur deshalb als frei bezeichnet werden, weil die absolute Idee nichts anderes ist als der Begriff der Freiheit überhaupt, sondern auch deshalb, weil die reinen Denkbestimmungen keine Intentionalität auf reale Gegenstände haben. Das Sich-Entschließen ist demnach ein Sich-Aufschließen für das Reale, mithin die Rücknahme der Abstraktion von den Voraussetzungen des reinen Denkens. Hierbei darf man sich nicht täuschen lassen: Die Idee ist kein Subjekt, das sich entschließen könnte, denn sie hat kein eigenes Dasein außerhalb des Denkprozesses, der von uns als den Trägern 8 Diese
grundlegende Differenz von logischer Idee und Realphilosophie übersieht z. B. Marx völlig, woraus sich seine Hegelkritik m. E. durchgängig speist. Gesellschaftliches Naturverhältnis bei Hegel | 119
des reinen Denkens vollzogen wird. Im Überschritt zur Natur am Ende der Logik beziehen wir daher die Idee durch die Rücknahme der Abstraktion auf eine schon immer vorhandene Gegenständlichkeit. Die Natur ist konstitutiv äußerlich zur Idee, aber – so Hegel – »schlechthin frey – die absolut für sich selbst ohne Subjectivität seyende Aeusserlichkeit des Raums und der Zeit« (GW 12, 253). Dass die Natur absolut für sich selbst und schlechthin frei ist, bedeutet, dass sie in ihrem Dasein absolut und gerade nicht abhängig von der Idee und also keineswegs aus ihr auf mystische Weise hervorgegangen ist. Hegel kennt als Aristoteliker keinen Schöpfungsakt; was ihn interessiert, ist die Erkennbarkeit der ›Welt‹, also der Natur und des Geistes. Die reale Vermittlung von Natur und Geist ist daher unhintergehbar. Keineswegs ist es so, dass die Natur in den Geist und der Geist in die Idee verdampft, welche dann ein Eigenleben zu führen beginnt. Von solchen Vorstellungen sollte eine angemessene Interpretation und Diskussion der Hegelschen Philosophie sich endgültig frei machen.
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Zur Rolle des Gefühls in Hegels Theorie des subjektiven Geistes Gefühle haben seit einiger Zeit Konjunktur in der Philosophie;1 dabei werden sie im Gegenzug zu einer langen Tradition in ihrer kognitiven Funktion thematisiert und als rational aufgewertet.2 Hegel ist in diesen Debatten nicht gerade eine erste Adresse, was vielleicht daran liegt, dass er mit seinem Insistieren auf dem Begriff gemeinhin als kopflastiger Rationalist gilt, der von einem Erkenntniswert der Gefühle überhaupt nichts wissen will. Seine Auseinandersetzung mit der sogenannten Gefühlsphilosophie Jacobis und der sogenannten Gefühlstheologie Schleiermachers scheint für sich zu sprechen. So etwa wunderte sich Paul Tillich in seiner Vorlesung über Hegel (1831/32) ernsthaft, dass der junge Hegel von der Liebe als Gefühl sprechen könne: »dies Wort hat, wenn wir Hegels Kampf gegen die Gefühlsphilosophie kennen, etwas Überraschendes. Hegel korrigiert sich hier sofort selbst, indem er sagt: die Liebe ist ein ›Gefühl des Lebendigen‹ als Einheit der einzelnen Gefühle, dadurch hört sie auf ein Gefühl als solches zu sein«.3 In der Hegelschen Schule wurde das anders gesehen. So schreibt Karl Rosenkranz in seiner Psychologie (21843): »Nach meiner Meinung ist es nun Hegel mehr als anderen Psychologen gelungen, die verschiedenen Bestimmungen des Begriffs Gefühl mit den übrigen Tätigkeiten des Geistes in Zusammenhang zu bringen, so daß bei ihm erhellt, auf welche Weise das Fühlen des Geistes schon an sich Denken, das Denken aber das auch für sich seiende Fühlen ist.«4 1 Vgl. exemplarisch: Philosophie der Gefühle, hg. v. Sabine A. Döring, Frankfurt / M 2009; Eva-Maria Engelen, Gefühle, Stuttgart 2007. 2 Ronald de Sousa, Die Rationalität des Gefühls, Frankfurt / M 1997 (Auszug in: Philosophie der Gefühle, 110–137). 3 Paul Tillich, Vorlesung über Hegel (Frankfurt 1831/32), hg. v. Erdmann Sturm, Berlin und New York 1995 (Gesammelte Werke. Ergänzungs- und Nachlassbände, Bd. 8), 208. 4 Karl Rosenkranz, Psychologie oder die Wissenschaft vom subjectiven
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Von dorther gehörte Hegel zu denjenigen Philosophen, die (entgegen dem ersten Anschein) für die Rationalität der Gefühle plädieren, und könnte gerade für die gegenwärtigen Thematisierungen von »Gefühl« einen Bezugspunkt darstellen. Dagegen stand und steht aber weiterhin eine Kritik, in der Hegel vorgeworfen wird, die Eigenbedeutung der Gefühle neben oder sogar über der Rationalität nicht erkannt zu haben. So schrieb etwa Carl August Eschenmayer schon 1834: »Im Gefühl liegt die wahre Einheit des innern Lebens, in welcher alle Functionen der Seele ihren Mittelpunct haben, wahrend das Denken nur eine einseitige Tätigkeit ist. Das Gefühl liegt höher, als der Begriff, so wie das Schöne höher, als das Wahre.«5 Es ist solche Aufwertung des Gefühls, gegen die Hegels Kritik sich wandte. Sie bedeutet indessen keine Abwertung des Gefühls schlechthin, sondern richtet sich dagegen, dass »Gefühl«, was immer es sei, zum Grund von Erkenntnis gemacht wird. Dabei wäre im Gegenzug zu fragen, ob solche Rede vom Gefühl nicht schon immer konstruiert ist, d. h. an die Unmittelbarkeit bzw. Evidenz eines Gefühls zwar appelliert, dabei jedoch gar nicht das im Blick hat, was wir gewöhnlich unter »Gefühl« verstehen. Ich werde auf diese Frage zum Schluss meiner Ausführungen zurückkommen. Zunächst jedoch möchte ich darauf eingehen, in welchen Kontexten Hegel Gefühle thematisiert und welche Grundlage sie in der Natur haben (1), um anschließend danach zu fragen, welche Bedeutung den Gefühlen für die Entwicklung des Geistes in seiner Selbsterfassung zukommt (2). Und schließlich möchte ich vom Standpunkt des absoluten Geistes aus rückblickend fragen, was von den Gefühlen der Subjekte denn bleibt; damit steht auch die abschließende Frage im Zusammenhang, ob bei den die Ratio nalität überbieten wollenden Gefühlen überhaupt vom »Gefühl« die Rede ist (3).
Geist. Zweite sehr verbesserte Auflage. Nebst Widerlegung der vom Herrn Dr. Exner gegebenen vermeintlichen Widerlegung der Hegel’schen Psychologie, Königsberg 1843, 413. 5 Carl August Eschenmayer, Die Hegel’sche Religions-Philosophie verglichen mit dem christlichen Princip, Tübingen 1834, 31, § 44. 122 | Realität
(1) Hegels Gefühlsbegriff ist vielschichtig: Er ist kein einfacher Begriff, sondern bezeichnet Phänomene auf verschiedenen Stufen des geistigen Lebens, sowohl im Übergang von der Natur zum subjektiven Geist als auch im subjektiven und absoluten Geist. In Stichworten: äußere Empfindung, z. B. Tastsinn, innere Empfindung oder Innerlichkeit der Seele, Gefühl als Form des theoretischen Geistes, praktisches Gefühl und religiöses Gefühl. 6 In diese Bestimmtheiten des Gefühls ist die Semantik des Gefühls eingeschrieben, welche die Geschichte der Philosophie bereithält, eine Gemengelage unterschiedlicher und nicht immer trennscharfer Bedeutungen.7 Auch hierzu seien einige Stichworte genannt. Seit der Antike ist die Rede von Pathos und passio, welche – und diese Abwertung reicht bis in die neuere Philosophie 8 – den Verstand verwirren und daher von diesem beherrscht und ausgeschlossen werden müssen. In der Neuzeit treten weitere Bestimmungen hinzu: Gemütsbewegungen und -zustände (emotions), Leidenschaften (passions) sowie Empfindungen (sensations): Passio, emotio, Sinnlichkeit und Sinn (sensus) verbinden sich auf keineswegs immer eindeutige Weise unter den termini feeling bzw. Gefühl, wobei dann vielfach noch zwischen innerem und äußerem Gefühl bzw. zwischen innerer und äußerer Empfindung unterschieden wird. Gefühle sind nun nicht mehr notwendig verwirrend, aber in jedem Falle verworren: confusus (undeutlich).9 Eine weitere Aufwertung des Gefühlsbe6 Einen ersten Überblick gibt Dirk Stederoth, Gefühl, in: Hegel-Lexikon, hg. v. Paul Cobben, Paul Cruysberghs, Peter Jonkers, Lu De Vos, Darmstadt 2006, 220–222. 7 Zur Begriffsgeschichte vgl. den Artikel Gefühl in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, Bd. 3, hg. v. Joachim Ritter, Darmstadt 1974, Sp. 82–96; auch Gefühl, moralisches, ebd. Sp. 96–98. 8 »Der menschliche Verstand«, so schreibt Francis Bacon in seinem Novum Organon, »ist kein reines Licht, sondern er erleidet einen Einfluß vom Willen und von den Gefühlen; dieses erzeugt jene ›Wissenschaft für das, was man will‹. […] Schließlich durchdringt das Gefühl den Verstand auf unzähligen und bisweilen kaum bemerkbaren Wegen und steckt ihn an.« (Das neue Organon, Berlin 1962, 56 f.) 9 So unterscheidet Leibniz in seinen Meditationes de Cognitione, Veritate et Ideis (1684) die cognitio clara et distincta – die intellektuelle Erkenntnis – von der fühlenden cognitio clara et confusa; vgl. Gottfried Wilhelm Leibniz,
Zur Rolle des Gefühls in Hegels Theorie des subjektiven Geistes | 123
griffs vollzieht sich in den Bereichen der Ästhetik und der Ethik. Ästhetische und moralische Gefühle haben einen vernünftigen Gehalt, d. h. sie beanspruchen bzw. konstituieren (im Falle moralischer Gefühle) allgemeine Verbindlichkeit. Bei Friedrich Heinrich Jacobi schließlich tritt dann das Gefühl an die Stelle einer diskursiv verfassten und auch der praktisch gerichteten Vernunft: Gefühl sei »Sinn für das Uebersinnliche. Diesen Sinn nenne ich Vernunft, zum Unterschiede von den Sinnen für die sichtbare Welt.«10 Quellen der Erkenntnis sind für Jacobi entweder »Sinnes-Empfindung« oder »Geistes-Gefühl«, wobei das Gefühl »das Wissen im Glauben begründet«.11 Die Bestimmtheiten des Gefühls bei Hegel schreiten die überkommene Semantik des Gefühlsbegriffs aus – bis hin zum Gefühlskonzept Jacobis – und bringen sie in eine neue systematische Ordnung, was selbstverständlich auch eine Abwertung bestimmter Sorten »Gefühle« bedeuten kann, wie es bei Jacobis Geistesgefühl der Fall ist, das dennoch ein Wahrheitsmoment behält. Auffällig ist vor allem, dass das ästhetische Gefühl fehlt, welches ansonsten in den Diskursen seit dem 18. Jahrhundert einen festen Platz hatte. Hierzu heißt es in den Vorlesungen über die Ästhetik, da der »Inhalt in unterschiedenen Formen des Gefühls vorhanden ist, kommt noch seine wesentliche und bestimmte Natur nicht zum Vorschein, sondern bleibt eine bloß subjektive Affektion meiner […]. Deshalb bleibt die Untersuchung der Empfindungen, welche die Kunst erregt oder erregen soll, ganz im Unbestimmten stehen und ist eine Betrachtung, welche gerade vom eigentlichen Inhalt und dessen konkretem Wesen und Begriff abstrahiert.«12 Das Zitat macht deutlich, worum es Hegel überhaupt in Ansehung der Gefühle geht: Sie eröffnen keinen privilegierten Zugang zu bestimmten Phänomenen des geistigen Lebens oder zu dem Grund des geistigen Lebens überhaupt, sondern vermitteln den Inhalt des Geistigen und sind Philosophische Schriften, hg. v. Carl Immanuel Gerhardt, Bd. 4 , Berlin 1880 (Reprint Hildesheim und New York 1978), 422. 10 Friedrich Heinrich Jacobi, Werke. Gesamtausgabe, hg. v. Walter Jaeschke, Hamburg 1989 ff., Bd. 1,1, 341. 11 Jacobi, Werke, Bd. 2,1, 402 f. 12 Hegel, Ästhetik, Bd. 1, 64. 124 | Realität
durch ihn bestimmt. Eben deshalb lassen sich die Bestimmtheiten des Gefühls nur im Zusammenhang des Geistigen überhaupt feststellen; sie haben keine Eigenbedeutung, die nicht mit dem Geistigen überhaupt vermittelt wäre. Dem verbreiteten Argwohn, hierbei werde »Gefühl« zur bloßen Vorstufe des Denkens erklärt und de facto aus der Philosophie eskamotiert, lässt sich durch eine Einsicht entgegentreten, die sich ebenfalls in der Hegelschen Ästhetik findet: »Die Tiere leben in Frieden mit sich und den Dingen um sie her, doch die geistige Natur des Menschen treibt die Zweiheit und Zerrissenheit hervor, in deren Widerspruch er sich herumschlägt. Denn in dem Innern als solchem, in dem reinen Denken, in der Welt der Gesetze und deren Allgemeinheit kann der Mensch nicht aushalten, sondern bedarf auch des sinnlichen Daseins, des Gefühls, Herzens, Gemüts usf.«13 Kunst als Scheinen der Idee im Sinnlichen ist daher dasjenige, worin »das Absolute zur Anschauung und Empfindung kommt«.14 Auch hier gilt: Das Gefühl konstituiert das Absolute ebenso wenig wie den Zugang zu ihm, wohl aber ist es eine notwendige emotionale Form seines Innewerdens. Wenn das Tier nach Hegel unmittelbar in Frieden mit sich und den Dingen lebt, dann bedarf der Mensch dazu dessen, was Hegel die Erhebung zum Absoluten nennt, die für das einzelne Subjekt nicht notwendig im philosophischen Begriff erfolgen muss, sondern auch im Kunstgenuss und der religiösen Andacht sich vollziehen kann. In jedem Falle aber hat das Innewerden oder Eingedenken der vermittelten Einheit des Menschen mit sich und den »Dingen« subjektiv auch die Form des Gefühls. Diese Form – nicht aber ihr Inhalt – findet sich bereits beim tierischen Organismus, deren entwickelte und vermittelte Gestalt dann das menschliche Gefühl darstellt. Das Tier, so heißt es im § 351 der Enzyklopädie (1830), ist »vornehmlich […] Gefühl, als die in der Bestimmtheit sich unmittelbar allgemeine, einfach bei sich bleibende und erhaltende Individualität; die existirende Idealität des Bestimmtseyns«. (GW 20, 353) Weil das Tier bereits »Selbst für das Selbst« ist, ist für Hegel »die Bestimmung der Empfindung […] 13 14
Ebd., 105. Ebd., 108. Zur Rolle des Gefühls in Hegels Theorie des subjektiven Geistes | 125
die differentia specifica« und diese wesentlich »Selbstgefühl«.15 Sofern für Hegel jede Selbstbeziehung – auch die des Tieres – nicht unmittelbar, sondern durch die Beziehung auf Anderes vermittelt ist, beruht das »Selbstgefühl der Einzelnheit« (GW 20, 357) beim Tier auf der ausschließenden (negativen) Beziehung auf die unorganische Natur. Das bezieht sich nicht nur auf das praktische Verhalten, in dem die Tiere – wie es in der Phänomenologie heißt – »nicht vor den sinnlichen Dingen als an sich seienden« stehen bleiben (GW 9, 69), sondern sie ohne weiteres zulangen und sie aufzehren. Es bezieht sich zunächst auf einen sinnlichen theoretischen Prozess, nämlich die Sensibilität »als bestimmtes Gefühl, welches sich in die Vielsinnigkeit der unorganischen Natur unterscheidet«. (GW 20, 357) Das Tier bezieht sich theoretisch auf sich selbst, indem es sich von den »Dingen« und die Dinge untereinander unterscheidet.16 Es ist dies zunächst der Tastsinn, der für Hegel der mechanischen Sphäre angehört und den er auch als »das Gefühl als solches« (GW 20, 357) anspricht; sodann die Sinne des Gegensatzes (Geruch und Geschmack) und schließlich der »Sinn der Idealität« (Sehen und Hören). Erst auf der Grundlage dieses theoretischen Prozesses, in dem die fünf Sinne ein Selbstgefühl vermitteln, erweist das Tier dann im praktischen Verhältnis die Nichtigkeit der Dinge an sich (GW 20, 357). Halten wir fest: Das für den Prozess des Geistes grundlegende theoretische und praktische Selbst- und Weltverhältnis, die Beziehung auf sich durch die negative Beziehung auf Anderes, findet sich bereits im tierischen Organismus im Medium des Gefühls als Selbstgefühl, welches aus dem die Dinge untereinander und in eins damit die Dinge vom Selbst unterscheidenden Gefühl des Tastsinns erwächst: Im Berühren der Dinge spüre ich ihren Widerstand und zugleich mich selbst als fühlend. Es dürfte dabei kaum übertrieben sein, die Berührung der »Dinge«, das Ertasten mit der äußeren Sensibilität des Organismus, als Vorform des Begreifens zu verstehen, welches sprachlich den tierischen Ursprung des theo retischen Verhaltens zur Welt und damit zu sich bewahrt. Enzyklopädie (1830), HW 9, 432 (§ 351, Zusatz). Hierin liegt in nuce die Hegelsche Reflexionstheorie des Selbstbewusst-
15 Hegel, 16
seins.
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(2) Als die gewordene Wahrheit der Natur ist der Geist zunächst Seele als einfache Allgemeinheit, mit der die Anthropologie beginnt. Der Ausdruck »Anthropologie« bezeichnet hier mehr als nur eine (noch relativ junge) philosophische Disziplin, er bezeichnet nämlich die Grundlage des Geistes in der Gleichheit der Menschen als denkende Wesen: »Der Mensch ist Mensch […] der Mensch ist denkend, und somit gleich« (GW 25,1, 33 f.)17 Auf dem Boden des Geistes ist der Mensch das Maß aller Dinge, denn der Geist ist das menschliche Maß. Die scheinbare Tautologie »der Mensch ist Mensch«, die in den Grundlinien der Philosophie des Rechts in der Formulierung wiederkehrt, Menschsein sei nicht »eine flache, abstrakte Qualität« (GW 14,1, 217), bezeichnet dieses Maß, worunter Hegel generell dasjenige versteht, worin »Fürsichsein und die Gleichgültigkeit der Bestimmtheit vereinigt sind« (GW 20, 140). Als das ganz Abstrakte und Bestimmungslose (der Mensch ist Mensch ungeachtet seiner sonstigen Bestimmtheiten) ist das Maß gleichwohl »als eine Definition des Absoluten zu betrachten«.18 Nun gelten Definitionen im Kontext der Hegelschen Philosophie nicht allzu viel, und das Maß ist zwar die vollendete Bestimmtheit des Seins, aber eben nur des Seins. Gleichwohl ist damit eine nicht unerhebliche Festlegung getroffen: Die Frage, was der Mensch sei, wird aus der Entwicklung dessen beantwortet, was Menschsein in Wahrheit ist. Auch dies ist keine triviale Tautologie. Menschsein ist die entwickelte Selbstbeziehung des Menschen in seiner Sichselbstgleichheit und Gleichheit mit anderen Menschen, d. h. im Geist. Die Entwicklung des Geistes als dessen Selbsterfassung realisiert das anthropologische Maß (das Menschsein des Menschen) so, dass es die Natürlichkeit und damit die Anthropologie hinter sich lässt.19 17 Vgl.
auch ebd., 236: »Allein es ist nicht die Naturverschiedenheit wodurch sich Recht und Gerechtigkeit bestimmt, nur durch Vernunft geschieht dieß und sofern sie Menschen sind, sind sie vernünftig, darin haben sie absolut gleiche Rechte«. 18 HW 8, 224 (§ 107, Zusatz). 19 Dass damit keine Degradierung der Anthropologie verbunden ist, zeigt Christoph J. Bauer, Eine »Degradierung der Anthropologie?« Zur Begründung der Herabsetzung der Anthropologie zu einem Moment des subjektiven Geistes bei Hegel, in: Hegel-Studien 43, 13–35. Zu Hegels Anthropologie vgl. auch Iring Zur Rolle des Gefühls in Hegels Theorie des subjektiven Geistes | 127
So ist die Anthropologie im Hegelschen Verständnis als Abhandlung über die Seele zunächst noch in ihrer »unmittelbaren Naturbestimmtheit« befangen als »die nur seiende, natürliche Seele« (GW 20, 390).20 Deren Erwachen zu sich tritt mit dem Fürsichsein der wachen Seele als Empfindung in Erscheinung. Empfindung ist für Hegel vom Gefühl, ungeachtet der sehr großen semantischen Schnittmengen, dadurch unterschieden, dass die Empfindung »mehr die Seite der Passivität, des Findens, d. i. der Unmittelbarkeit der Bestimmtheit im Fühlen, hervorhebt, das Gefühl zugleich mehr auf die Selbstischkeit [so Hegels Schwäbizismus, A.], die darin ist, geht.« (GW 20, 400) Das hier angesprochene »Finden« der Empfindung hat, wie Hegel in dem Berliner Fragment zur Philosophie des subjektiven Geistes (ca. 1822–1825) ausführt, eine doppelte Bedeutung: Sie findet »einer Welt von Bestimmtheiten sich gegenüber« und sie findet »sich selbst bestimmt«, als Individualität (GW 15, 233).21 Auch hier liegt wieder der durch die Beziehung auf Anderes vermittelte Selbstbezug zugrunde. Indem die Seele die Totalität der wechselnden Bestimmtheiten ist, d. h. als die allgemeine Substanz der Veränderungen durch äußere Bestimmtheiten, ist sie zugleich bestimmt und allgemein und darin doch »eins und dasselbe« und daher »in dieser Bestimmtheit bey sich selbst« (GW 15, 233 f.). Fetscher, Hegels Lehre vom Menschen. Ein Kommentar zu den §§ 387–482 der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften, Stuttgart 1970; Manfred Baum, Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Geist und Seele in der Anthropologie, in: Philosophische Anthropologie im 19. Jahrhundert, hg. v. Friedhelm Decher und Jochem Hennigfeld, Würzburg 1992, 51–66. 20 Zu Hegels Seelenlehre vgl. Hermann Drüe, Psychologie aus dem Begriff, Berlin und New York 1976; Hegels philosophische Psychologie, hg. v. Dieter Henrich, Bonn 1979; Hegels Theorie des subjektiven Geistes, hg. v. Lothar Eley, Stuttgart-Bad Cannstatt 1990; Psychologie und Anthropologie oder Philosophie des Geistes, hg. v. Franz Hespe und Burghard Tuschling, Stuttgart 1991; Michael Wolff, Das Körper-Seele-Problem. Kommentar zu Hegel, Enzyklopädie (1830), § 389, Frankfurt / M 1992; Hermann Drüe, Philosophie des Geistes, in: Hegels »Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften (1830)«. Ein Kommentar zum Systemgrundriß, v. Hermann Drüe u. a., Frankfurt / M 2000, 206–289; Stederoth, Hegels Philosophie des subjektiven Geistes. 21 Vgl. Jaeschke, Hegel-Handbuch, 283–285. 128 | Realität
Der Inhalt der Empfindung ist jedoch ganz zufällig: Alles kann empfunden werden und ist dann Bestimmtheit in der Totalität der Seele als deren Eigenes. Das heißt: Die Empfindungen sind in ihren Bestimmtheiten gleichgültig im Sinne von gleich-geltend, austauschbar, und sie sind als in der individuellen Totalität der Seele bloß subjektiv, als je meinige, ohne Klärung ihres objektiven Gehalts. Für Hegel ist daher bereits hier, auf der Stufe der Empfindung als »Form des dumpfen Webens des Geistes« (GW 20, 396), der Ort, darauf hinzuweisen, dass die Berufung auf Herz und Empfindung den Wahrheitsgehalt des Empfundenen nicht verbürgen kann. Als Form eines beliebigen Inhalts ist die Empfindung gleichgültig gegen Unterscheidungen wie gut und böse, wahr und falsch: »In solchen Zeiten, in welchen das Herz und die Empfindung zum Kriterium des Guten, Sittlichen und Religiösen von wissenschaftlicher Theologie und Philosophie gemacht wird, – wird es nöthig, an jene triviale Erfahrung zu erinnern« (GW 20, 398). Im Weiteren unterscheidet Hegel dann äußere und innere Empfindung dergestalt, dass die äußere von der Seele verinnerlicht oder erinnert wird, während die inneren Bestimmtheiten des Geistes »verleiblicht« werden (GW 20, 398). Dies könnte, wie Hegel konjunktivisch im Blick auf eine noch nicht vorhandene empirische Wissenschaft anmerkt, Gegenstand »einer psychischen Physiologie« sein, die zu betrachten hätte, wie »von der Seele heraus […] Particularisationen sich bilden, die gegen das Pathognomische und Physiognomische zu liegen« (GW 20, 399 f.). Mit der äußeren und inneren Empfindung ist gesetzt, dass die Empfindung tatsächlich Grundlage aller Erkenntnis ist, freilich nur in demjenigen Sinne, wie Hegel Grundlage immer als etwas erst zu Realisierendes versteht, das für sich genommen die Wahrheit (noch) nicht ist. Auf der Stufe der Empfindung kommt das Innere jedoch noch nicht in seiner eigenen, geistigen Natur zur Geltung, sondern nur als Verleiblichung des Inneren, in der es sich findet. Das Empfinden überhaupt ist an die Leiblichkeit gebunden; Hegel spricht von dem »gesunde[n] Mitleben des individuellen Geistes in seiner Leiblichkeit« (GW 20, 399). Während in der Naturphilosophie, im theoretischen Prozess des Tieres, das Gefühl als bestimmtes Gefühl in den fünf Sinnen hervortritt, bildet in der Philosophie des Geistes das Gefühl den Zur Rolle des Gefühls in Hegels Theorie des subjektiven Geistes | 129
Abschluss des Durchgangs durch die fünf äußerlichen Sinne.22 Es ist das Gefühl als »Sinn der concreten individuellen Totalität«, wie es in der Nachschrift Hotho 1822 heißt (GW 25,1, 53), oder »ausschließlich Fühlen«, wie es Erdmann als Student 1827/28 notiert: »Im Hören und Sehen empfinden wir uns nicht selbst, im Riechen und Schmecken fängt das an, und im Fühlen als solchen ist die Rückkehr vollendet, wenn ich einen Gegenstand fühle, fühle ich ihn mir Widerstand leistend.«23 Das Gefühl als solches ist hier identisch mit dem Tastsinn oder dem »Sinn des Mechanischen«, wie es in einer Vorlesung zur Naturphilosophie heißt.24 Hierin ist das Fühlende »gegen das Materielle ein individuelles für sich. […] Es ist der Sinn des für sich Beharrenden, Äußerlichen, Widerstandleistenden, ebenso wie das Fühlende für sich Seiende« (GW 25,1, 55); Hegel nennt das Gefühl als solches, den Tastsinn, nach Hothos Nachschrift auch den »Sinn der irdischen Totalität« (GW 25,1,55). Seine besondere Dignität besteht darin, dass er in der Totalität der Beziehung auf Anderes zugleich die Beziehung auf sich als das für sich Seiende oder das Andere als das Allgemeine (die Totalität) zum Anderen realisiert. Zwar ist dieses Allgemeine nur erst an sich oder formell Fürsichsein und noch nicht bewusstes Fürsichsein, jedoch liegt in ihm bereits die Möglichkeit des Übergangs von der natürlichen zur fühlenden Seele. Letztere ist ganz Fühlen, d. h. in die Unmittelbarkeit des Gefühls sind Unterschiede wie inneres und äußeres Gefühl und damit Subjektivität und Objektivität versenkt. Die Seele als empfindende Totalität oder sich empfindend »empfindet ihre Welt nur erst auf subjective Weise, und die Welt des Individuums ist es, welche die Seele empfindet« (GW 25,1, 60). Man könnte von einer Verrückung der Welt in die Seele sprechen, in der die Seele die Welt zwar schon immer als die ihrige – sei es auf dem Wege der Verinnerlichung Vgl. Stederoth, Gefühl, 220. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie des Geistes. Berlin 1827/1828, hg. v. Franz Hespe und Burkhard Tuschling, Hamburg 1994, 76. Vgl. GW 25,2, 659 f. 24 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Naturphilosophie. Die Vorlesung von 1819/20, in Verbindung mit Karl-Heinz Ilting hg. v. Manfred Gies, Napoli 1982, 135. – Stederoth, Gefühl, konturiert daher m. E. den Unterschied von Naturund Geistesphilosophie in der Behandlung des Gefühls zu stark. 22
23
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oder der Verleiblichung – fühlt, dies aber noch nicht im Modus des entwickelten Selbstbewusstseins, in dem die negative Beziehung auf die »Welt« ihr den Status eines Anderen zum Selbst gibt. Vielmehr: Da die empfindende Seele in ihrer Unmittelbarkeit Selbst und Welt gar nicht unterscheidet, ist sie nur das Andere zum Anderen und nicht das Selbst. An dieser Stelle ist daher bei Hegel auch von allerlei »übernatürlichen« und pathologischen Zuständen (Verrücktheit) die Rede, die in der ungeschiedenen Unmittelbarkeit von Selbst und Welt in der fühlenden Seele ihren Grund haben: von Ahnungen, Vorahnungen, Hellsehen usw. Sie sind übernatürlich in dem Sinne, dass die fühlende nicht mehr die natürliche Seele ist; alle diese Zustände kommen darin überein, dass in ihnen ein unmittelbares Wissen in der Form des Fühlens vorhanden ist, aber nicht die Mittelglieder, um Subjektives und Objektives zu unterscheiden und damit ein wirkliches Wissen zu begründen (vgl. GW 25,1, 68). In der ausführlichen Beschreibung solcher paranormalen Phänomene in den Vorlesungen wird deutlich, dass Hegel sie keineswegs von vornherein als irrational abwehrt, sondern sich auch hier um die dem Gefühl immanente Rationalität bemüht. Er erkennt hier zwar »viel Aberglauben, Täuschung, Märchen […], aber viele Geschichten die wahr sind gehören hierher, indem sie hierin ihre Möglichkeit, ihren Begriff haben« (GW 25, 1, 336). Gleiches gilt für die Phänomene der Verrücktheit, die ja bei Hegel nun tatsächlich die Verrückung der Welt in die Seele im Modus der Ununterschiedenheit von Selbst und Welt zur Grundlage hat. Weil die fühlende Seele das Erwachen des vernünftigen Geistes aus der Natur bezeichnet, so »sind auch die Narren immer noch Menschen und vernünftige Menschen, dieser gesunde Geist muß immer noch vorausgesetzt werden, und dieß ist der Grundsatz«. (GW 25, 1, 392) Das rationale und weiterführende Moment der Unmittelbarkeit der fühlenden Seele besteht nach Hegel darin, dass die Seele sich das Besondere oder Leibliche der Gefühlsbestimmungen »in das Seyn der Seele« einbildet, zuletzt in der Gewohnheit als einer »zweite[n] Natur« GW 20, 416).25 In dieser »sich zu eigen gemachten 25 Hieran
hängt traditionell das Leib-Seele-Problem, das für Hegel nur ein Scheinproblem darstellt, wie Michael Wolff, Das Körper-Seele-Problem, ausführlich gezeigt hat. Zur Rolle des Gefühls in Hegels Theorie des subjektiven Geistes | 131
Leiblichkeit« (GW 20, 419) liegt die Möglichkeit, das Andere – die Totalität der »Welt« – zum Anderen der Seele selbst zu machen, für die der Leib dann als Äußerliches zum Inneren, der Seele, fungiert. Damit sind wir aus dem Bereich der fühlenden in den der wirklichen Seele eingetreten, die den Übergang zum Bewusstsein und damit der »Phänomenologie des Geistes« bildet, welche auf die Anthropologie folgt und ihrerseits in die Psychologie als dritte und letzte Stufe des subjektiven Geistes mündet. Hier, in der Psychologie, tritt das Gefühl auf zweifache Weise wieder in den Hegelschen Diskurs ein: als Ausgangspunkt sowohl des theoretischen als auch des praktischen Geistes. Im theoretischen Gefühl hat der Geist sich nicht nur, wie in der fühlenden Seele, seine Leiblichkeit angeeignet, sondern der Stoff des Geistes überhaupt ist hier als dem Geist immanent gesetzt, allerdings wiederum in jenem Modus der Unmittelbarkeit, der es nicht erlaubt, die Zufälligkeit und Beliebigkeit des Inhalts nach objektiv gültigen Kriterien zu unterscheiden. Auch hier warnt Hegel vor der Partikularität der Berufung auf Gefühle: Wer sich auf das Gefühl beruft, das in seiner Unmittelbarkeit immer das jemeinige ist, verweigere sich dadurch »der Gemeinschaft der Vernünftigkeit« – d. h. der Mitteilung statt der Unmittelbarkeit – und schließe sich »in seine isolierte Subjectivität« ein (GW 20, 444): Gefühle sind solipsistisch der Form nach, auch wenn ihr Inhalt an sich vernünftig ist, was nach Hegel schon für den theoretischen Geist gilt.26 Auch im praktischen Gefühl ist der Geist eine »an sich mit der Vernunft einfach identische Subjectivität« (GW 20, 467), hat aber ebenso wie der theoretische Geist einen zufälligen und subjektiven Inhalt, dessen Angemessenheit zur Vernunft in der Unmittelbarkeit des praktischen Gefühls nicht thematisch werden kann. Auch hier ist es daher verdächtig, sich auf Herz und Gefühl zu berufen. (3) Was bleibt vom Gefühl? Einerseits sehr viel: Im Gefühl vermittelt sich der erwachende Geist mit der Natur und tritt zugleich aus der Natürlichkeit heraus, aber so, dass ihm aller Stoff durch das Gefühl gegeben wird. Andererseits sehr wenig: Gerade weil jeder bestimmte Stoff zunächst im Gefühl gegeben ist, ist das Gefühl die 26
Vgl. die »Notizen zum dritten Teil der Encyclopädie«, GW 13, 399.
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bloße Form eines beliebigen Inhalts, und diese Form ist als bloß subjektiv und unmittelbar für sich genommen nicht wahrheitsfähig. In dieser Hinsicht – aber auch nur in dieser Hinsicht – bleibt das Gefühl das, als was es bei Hegel systematisch zuerst auftritt: eine grundlegende, aber darum eben die niedrigste Stufe in der Entwicklung des Geistes. Es eröffnet diese Entwicklung, aber es eröffnet keine privilegierten Zugänge zu Bereichen des geistigen Lebens. Hier gilt, was Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts schreibt: »Mit dem einfachen Hausmittel, auf das Gefühl das zu stellen, was die und zwar mehrtausendjährige Arbeit der Vernunft und ihres Verstandes ist, ist freylich alle die Mühe der von dem denkenden Begriffe geleiteten Vernunfteinsicht und Erkenntniß erspart.« (GW 14,1, 10) Weil aber das Gefühl nur die Form eines (beliebigen) Inhalts ist, ist es – und dieser Aspekt wird oft übersehen – auch fähig, Form einer Wahrheit in dem Sinne zu werden, dass es Ausdruck der subjektiven Aneignung einer Vernunft-Wahrheit oder ihrer Verinnerlichung ist. Auf der Ebene des objektiven Geistes, also im Rahmen der Rechtsphilosophie, kann die Gesinnung als eine solche Form betrachtet werden. So hat der Staat als »Wirklichkeit der sittlichen Idee« an dem »Selbstbewußtseyn des Einzelnen, dem Wissen und Thätigkeit desselben seine vermittelte Existenz, so wie dieses durch die Gesinnung in ihm, als seinem Wesen, Zweck und Produkte seiner Thätigkeit, seine substantielle Freyheit hat«. (GW 14, 1, 201) Hierher gehört auch, dass der Staat nach Hegel eine religiöse Grundlage hat, welche zwar vom Staat als objektiver Geist autonom »zur wirklichen Gestalt und Organisation einer Welt« entfaltet werde (GW 14,1, 214), jedoch dürfe der Staat dennoch, »indem die Religion das ihn für das Tiefste der Gesinnung integrirende Moment ist, von allen seinen Angehörigen fordern, daß sie sich zu einer Kirchen-Gemeinde halten, – übrigens zu irgend einer« (GW 14,1, 216). In der Religionsphilosophie selbst erhält das Gefühl ein Wahrheitsmoment dadurch, dass in seiner Unmittelbarkeit der Gegensatz des endlichen Subjekts gegen das Unendliche oder Gott aufgehoben ist. Das religiöse Gefühl ist die subjektive Gewissheit, dass mein Sein und das Sein Gottes nicht zweierlei sind, sondern Gott in meinem Sein selbst ist. Des bezeichnet einen Zustand, »wo Gott Zur Rolle des Gefühls in Hegels Theorie des subjektiven Geistes | 133
in diesem Sein ist das mir bleibt indem ich bin – also eine Weise in welcher mit mir als Seiendem ungetrennt ist, was bisher Gegenstand war. Diesen Ort nennt man das Gefühl« (GW 29,1, 145). Das Gefühl ist hier die Form einer Einheit, welche als vernünftige begrifflich explizierbar ist, aber es ist nicht der Grund dieser Einheit oder ein privilegierter Zugang zu ihr. Dennoch gilt, dass auch »ein wahrhafter Inhalt in unserem Gefühl sein« müsse (GW 29,1, 149), wie es dann religiös im Kultus auch praktiziert wird. Dies kommt mit dem überein, was eingangs aus der Ästhetik zitiert wurde: Gefühl und Herz sind notwendig, weil wir im Gedanken allein nicht leben können, aber sie sind nicht ursprünglich in dem Sinne, dass sie einen eigenständigen Bereich des geistigen Lebens begründen. Um diese Eigenbedeutung des Gefühls gegenüber der Rationali tät und nicht um die rationale Bedeutung der Gefühle geht es denjenigen Kritikern, die Hegel vorwerfen, das Gefühl abzuqualifizieren. Hierzu sei zum Schluss meiner Ausführungen noch eine kurze Anmerkung gestattet. Hegel hat die ihm vorliegenden Bestimmungen und semantischen Differenzierungen im Bereich des »Gefühls« in eine systematische Ordnung gebracht, die dem Gefühl eine nicht unerhebliche Rolle in der Entwicklung des Geistes zuschreibt, auch wenn es keinen Inhalt zurückbehält, der nicht der begreifenden Vernunft angehörte. Die Eigenbedeutung des Gefühls liegt für Hegel ausschließlich in der Form, und diese Form ist als emotionale bzw. affektive Bindung des einzelnen Subjekts an die Wahrheit auch unverzichtbar. Das aber ist ja nicht das, was die Kritiker einfordern, und hier enttäuscht sie Hegel. Das Gefühl als Grundlage einer eigenen Wahrheit ist diejenige Bestimmung des Gefühls, die er in seine Systematik nicht übernimmt. Hier allerdings muss die kritische Frage an Hegels Kontrahenten gestattet sein, ob das, was sie in diesem Zusammenhang als Gefühl ausgeben, überhaupt – außer der Form der Subjektivität und Unmittelbarkeit – etwas mit dem zu tun hat, was wir als Gefühl bezeichnen. So sind bei Schleiermacher sowohl das religiöse Bewusstsein im dogmatischen Sinne als auch das unmittelbare Selbstbewusstsein als Gefühl im philosophischen Sinne verschieden von den Affektionen, die nur momentane Erregungen betreffen, obwohl religiöses Gefühl und unmittelbares Selbstbewusstsein nur im Zusammenhang mit solchen Affektionen vorkommen, während das 134 | Realität
Gefühl, um das es Schleiermacher geht, alle Akte des Wissens und Wollens begleitet. Es ist ersichtlich ein theoretisch konstruiertes Gefühl und – ungeachtet seiner Unmittelbarkeit – kaum eines, das sich uns unmittelbar aufdrängt. Mit ihm wird nicht das Gefühl in seiner Eigenbedeutung aufgewertet, sondern etwas Eigenes neben Gefühl und Rationalität gestellt.
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Anerkennung – zur Tragweite eines Begriffs So viel Anerkennung war nie. Sozialtheorien, die auf Gerechtigkeit und Freiheit reflektieren, haben dem Begriff geradezu zu einer Omnipräsenz verholfen. Das war nicht immer so. Vor 1968, dem Jahr des Erscheinens von Jürgen Habermas’ Aufsatz »Arbeit und Interaktion«, war davon keine Rede,1 und auch drei Jahre später hatte es der Begriff der Anerkennung in diesem Sinne noch nicht in das Historische Wörterbuch der Philosophie geschafft: Unter dem Stichwort »Anerkennungstheorie« findet sich nur der Hinweis darauf, dass in der traditionellen Urteilstheorie, aber auch bei Frege, das Urteil als Anerkennung einer Behauptung zu verstehen sei, und da dies nicht nur für affirmative Urteile gelte, sondern auch Negationen als anerkannte Behauptungen zu verstehen seien, seien Urteile überhaupt Anerkennungen.2 In der logischen Welt ist damit der Traum der sozialphilosophischen Anerkennungstheoretiker vollkommen wahr geworden: Es gibt nur Anerkennung, weil jedes Urteil vollkommen seiner Meinung, d. h. mit sich in Übereinstimmung ist. Mehr Anerkennung geht nicht. Rein logisch besteht die Tücke jedoch darin, dass zu jedem anerkannten Urteil sich alsbald eine Negation einfinden kann, welche wiederum ein anerkanntes Urteil darstellt. Identisch sind die Urteile nur mit sich selbst. Das geht so lange gut, wie sie indifferent gegeneinander sind und sich nicht widersprechen. Sobald sie aber in ein Negationsverhältnis treten, wird aus dem Paradies der Anerkennung die Hölle des Kampfes aller gegen alle. Ein Kampf auf Leben und Tod entbrennt, der rein logisch nicht zu schlichten ist.
1 Jürgen Habermas, Arbeit und Interaktion. Bemerkungen zu Hegels Jenenser »Philosophie des Geistes«, in: ders., Technik und Wissenschaft als »Ideologie«, Frankfurt / M 1968, 9–47. 2 Vgl. Albert Menne, Anerkennungstheorie, in: Historisches Wörterbuch der Philosophie, hg. v. Joachim Ritter, Bd. 1, Darmstadt 1971, 300 f.
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Damit sind wir von der logischen Anerkennung schon wieder auf sozialphilosophisches Terrain gewechselt, denn den Kampf auf Leben und Tod kennen wir ja aus Hegels Phänomenologie des Geistes, genauer gesagt: aus der Dialektik von Herr und Knecht, die so etwas wie den heiligen Gral der Anerkennungstheorien darstellt. Der Kampf um Anerkennung wird dabei von vielen Interpreten als Alternative zu Hobbes’ vertragstheoretischer Vergesellschaftung verstanden, also auch als Antwort auf das bekannte Szenario eines Kampfes aller gegen alle im Naturzustand. 3 Tatsächlich entsprechen die mit sich identischen Urteile der logischen Anerkennungstheorie diesem Szenario. Sie stehen für die erst zu vergesellschaftenden Atome, die miteinander nicht können, weil die Freiheit des einen sich an der Freiheit des anderen stößt. Tatsächlich sind ja für Hobbes die Individuen im Naturzustand frei und auch kontraktfähig und in der Lage, sich moralisch und gesellschaftsfähig zu verhalten, nur gibt es dafür keine Garantie; was fehlt, ist der praetor, eine die Durchsetzung des Rechts garantierende Instanz, die erst mit dem Staat als Souverän auftritt. Indem die Individuen sich vertragsmäßig zum Staatskörper verbinden, wird ihre Freiheit, die sie im Naturzustand haben, zum Rechtsgrund des souveränen Staates. Kein Zweifel, die Voraussetzung freier, selbstbewusster Individuen ist auch die Hegelsche Voraussetzung des »Kampfes um An erkennung«.4 Was bedeutet es aber, wenn die Anerkennung an die Stelle des Vertrages tritt? Handelt es sich nur um eine Alternative zur vertragstheoretischen Vergesellschaftung bei Hobbes? Oder verändern sich nicht auch die Ausgangsvoraussetzungen, oder haben sie sich nicht schon längst verändert (schließlich ist Hegel, anders als Hobbes, Aristoteliker, der den Menschen seiner Natur nach als zoón politikón ansieht)? In den ersten beiden Teilen meiner Ausführungen werde ich mich zunächst mit dem Begriff der Anerkennung bei Fichte (1) und sodann bei Hegel (2) befassen, um im Anschluss daran nach der Tragweite und den Grenzen des Anerkennungsbegriffs zu fragen (3). 3 Vgl. Gabriel Amengual, Anerkennung, in: Enzyklopädie Philosophie, hg. v. Hans Jörg Sandkühler, Hamburg 1999, Bd. 1, 66–68. 4 Vgl. Ludwig Siep, Der Kampf um Anerkennung. Zu Hegels Auseinandersetzung mit Hobbes in den Jenaer Schriften, in: Hegel-Studien 9 (1974), 155–207.
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(1) Ludwig Siep hat 1979 darauf hingewiesen, dass Hegels Begriff der Anerkennung systematisch auf Fichte rekurriert, auch wenn Fichte den Begriff selbst nur beiläufig verwendet.5 Die zentrale Passage findet sich in der Grundlage des Naturrechts nach Principien der Wissenschaftslehre (1796); auf dem dort entwickelten Gedanken beruht nach Fichte die »ganze Theorie des Rechtes«. 6 Fichte geht davon aus, dass der Begriff der Individualität ein »Wechselbegriff« ist, d. h. »ein solcher, der nur in Beziehung auf ein anderes Denken gedacht werden kann, und durch dasselbe, und zwar durch das gleiche Denken, der Form nach, bedingt ist«.7 Anders gesagt: Individualität – und hier springt Fichte aus der Hobbes’schen Position heraus – ist nur in Bezug auf andere Individuen und nicht aus sich selbst zu erklären: »Das Verhältniss freier Wesen zu einander ist daher das Verhältniss einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit. Keines kann das andere anerkennen, wenn nicht beide sich gegenseitig anerkennen: und keines kann das andere behandeln als ein freies Wesen, wenn nicht beide sich gegenseitig so behandeln.«8 Die Beschränkung der Freiheit durch den Anderen ist somit zugleich Selbstbeschränkung. Hieraus ergibt sich der fundamentale »Rechtssatz«: »Ich muss das freie Wesen ausser mir in allen Fällen anerkennen als ein solches, d. h. meine Freiheit durch den Begriff der Möglichkeit seiner Freiheit beschränken.«9 Es handelt sich hierbei um einen Vorgang der Limitation. Ein jedes Individuum hat die Sphäre seiner Freiheit, indem es zugleich durch die Sphäre der Freiheit des Anderen beschränkt wird und umgekehrt: indem es die Sphäre der Freiheit des Anderen anerkennt, beschränkt es sich auf die Sphäre seiner Freiheit. 5 Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie. Untersuchungen zu Hegels Jenaer Philosophie des Geistes, Freiburg und München 1979, 22.76 ff., vgl. Andreas Wildt, Autonomie und Anerkennung. Hegels Moralitätskritik im Lichte seiner Fichte-Rezeption, Stuttgart 1982; Bärbel Frischmann, Zum Begriff der Anerkennung. Philosophische Grundlegung und pädagogische Relevanz, in: Soziale Passagen 1 (2009), 145–161. 6 Johann Gottlieb Fichte, Werke, hg. v. Immanuel Herman Fichte, Reprint Berlin 1971, Bd. 3, 44. 7 Ebd., 47. 8 Ebd., 44. 9 Ebd., 52.
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Bestimmtwerden und Bestimmen fließen hier in eins; dies ist es, was Fichte in der Wissenschaftslehre 1794/95 »Wechselbestimmung« nennt: »Durch die Bestimmung der Realität oder Negation des Ich wird zugleich die Negation oder Realität des Nicht-Ich bestimmt; und umgekehrt. Ich kann ausgehen von welchem der Entgegengesezten; wie ich nur will; und habe jedesmal durch eine Handlung des Bestimmens zugleich das andere bestimmt.«10 Die Wechselbestimmung ist freilich logisch prekär, denn sie verlangt eigentlich, die Entgegengesetzten in einer Einheit – bei Fichte der des (absoluten) Ich – zu denken, die dann aber in sich entgegengesetzt und widersprüchlich wäre. Hier tritt, nach Fichte, die Einbildungskraft ein, welche die Entgegengesetzten und einander Begrenzenden selbst »in der Grenze« zusammenfasst.11 In Bezug auf die Individuen, die sich wechselseitig anerkennen, ist diese Grenze das Recht, welche die Rechtssphären der individuellen Freiheit zuweist und voneinander scheidet. Das Rechtsverhältnis ist aber nicht weniger prekär als das logische Verhältnis der Wechselbestimmung. Fichte macht unmissverständlich deutlich, dass es sich nicht um ein moralisches Verhältnis handelt und Gesetz im rechtlichen Sinne und Sittengesetz nichts miteinander zu tun haben: Naturrecht und Moral sind voneinander geschieden und die moralische Gesinnung ist keine Bedingung des Rechts: »Das Recht muss sich erzwingen lassen, wenn auch kein Mensch einen guten Willen hätte […]. Physische Gewalt, und sie allein, giebt ihm [dem Recht, A.] auf diesem Gebiete die Sanction.«12 Die innere Widersprüchlichkeit des Rechtsverhältnisses in Bezug auf die wechselseitige Anerkennung der freien Individuen wird durch Macht, durch die Sanktionsgewalt des Staates, gewissermaßen befriedet. Das bedeutet indessen, dass Anerkennung kein moralisches Verhältnis zum Ausdruck bringt und auch nicht Werke. Akademie-Ausgabe, Bd. 1, 2., 290. Ebd., 359. 12 Fichte, Werke, a. a . O. (Anm. 6), 54. Fichte folgt hier Kant, der das Problem der rechtlichen Vergesellschaftung in seinem Entwurf Zum ewigen Frieden anhand der Frage entwickelt, wie ein Volk von Teufeln zu vergesellschaften sei; vgl. Andreas Arndt, Teufel, Schurken und Erynnien, in: Zwischen Konfrontation und Integration. Die Logik internationaler Beziehungen bei Hegel und Kant, hg. v. Andreas Arndt und Jure Zovko, Berlin 2007, 8–21. 10 Fichte, 11
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rechtskonstituierend ist. Der Wechselbegriff der Individualität bzw. die Wechselbestimmung der Anerkennung legitimieren vielmehr das Recht als ein vernünftiges, sofern es die Sphären individueller Freiheit zumisst und garantiert. Das Anerkennen bezieht sich demnach in erster Linie auf die Legitimation, nicht die Konstitution von Recht. Diese Legitimation beruht auf der Einsicht, dass – um es in Anlehnung an Rosa Luxemburg zu sagen – die Freiheit auch immer die des Anderen ist. Eine »moralische Grammatik«13 indes stellt Fichtes Begriff der Anerkennung nicht bereit – und auch Hegels Begriff der Anerkennung nicht, dem ich mich jetzt zuwende. (2) Für Hegels Theorie der Anerkennung wird gewöhnlich auf die Dialektik von Herr und Knecht in der Phänomenologie des Geistes verwiesen, die schon zu mancherlei Fehlinterpretationen herhalten musste – man denke nur an Alexandre Kojève.14 Ludwig Siep15 und Henning Ottmann16 haben bereits darauf hingewiesen, dass diese Passage – wie immer sie sonst noch zu verstehen sei – im Kontext paralleler Ausführungen in den Jenaer Schriften und Entwürfen und dem späteren enzyklopädischen System Hegels zu lesen und zu verstehen ist. Ottmann hat dabei betont, dass alle Thematisierungen des Herr-Knecht-Verhältnisses (von einer »Dialektik« lässt sich dabei nicht immer sprechen) in einem vorpolitischen Raum, einem Naturzustand, angesiedelt werden, der in den Jenaer Entwürfen zumeist auf die Sphäre der Familie im Sinne des aristotelischen oikós bezogen wird. Eine genaue Verortung dieses Verhältnisses freilich ist kaum möglich, was die Phantasie der Interpreten immer wieder beflügelt hat – vom Klassenkampf bei Kojève bis zum Aufstand der Sklaven von Haiti bei Susan Buck-Morss.17 Ich 13 Vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt / M 1992. 14 Alexandre Kojève, Hegel. Eine Vergegenwärtigung seines Denkens. Kommentar zur Phänomenologie des Geistes, Frankfurt / M 1975. 15 Siep, Kampf um Anerkennung. 16 Henning Ottmann, Herr und Knecht bei Hegel. Bemerkungen zu einer missverstandenen Dialektik, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 35 (1981), 365–384. 17 Susan Buck-Morss, Hegel und Haiti. Für eine neue Universalgeschichte, Berlin 2011.
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kann und will hier natürlich keine umfassende Interpretation dieses Verhältnisses leisten; meine Frage zielt einzig darauf, was es für den Begriff der Anerkennung bedeutet. Im System der Sittlichkeit (1802) erscheint das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft als »Umkehrung« des Raubes: »Raub ist nur da, wo nicht das Verhältniß der Herrschafft und Knechtschafft ist. Wo aber dieses ist, wo ein Individuum indifferenter, also die höhere Potenz ist, als die andere, da ist der Natur nach kein Raub« (GW 5, 316 f.).18 Voraussetzung für das Herrschafts-Knechtschafts-Verhältnis ist nach Hegel, dass – wenn es nicht nur momentan sein soll – die »ganze Persönlichkeit« auf dem Spiel steht, wie es dann der Fall ist, wenn es auf Leben und Tod geht: »im Fall des Kriegs allein, der sich gegenseitig erkennenden Persönlichkeit, oder der Noth in Ansehung des ganzen Lebens, wie auch im Krieg von Menschen, – sonst aber von der Natur ist, findet Knechtschafft statt« (GW 5, 317). Bedeutsam ist diese Stelle auch deshalb, weil sie eine Erklärung für den befremdlichen Umstand liefert, dass der Kampf um Anerkennung als Kampf auf Leben und Tod geführt wird. Vor allem aber liefert sie einen Hinweis auf das, was Anerkennung bedeutet. Bereits bei Fichte hatten wir gesehen, dass Anerkennung keineswegs moralisch-sittliche Verhältnisse oder Rechtsverhältnisse konstituiert, sondern Recht allein legitimiert, weil die Einsicht in die eigene Freiheit nur durch die Anerkennung der Freiheit der Anderen gewonnen werden kann. Ebenso geht es bei Hegel in dem Gegenseitig-sich-Erkennen überhaupt nur darum, den Anderen (und sich selbst) als Persönlichkeit wahrzunehmen. Das Anerkennen ist hier überhaupt noch nicht moralisch-sittlich besetzt, sondern als ein kognitiver Akt zu bestimmen. Dieser Akt der Erkenntnis der Persönlichkeit des Anderen ist dabei noch kein zureichender Akt der Selbsterkenntnis bzw. des Selbstbewusstseins. Dies ist vor allem darum zu betonen, weil Hegel sich ja von Fichte radikal dadurch unterscheidet, dass er durchgängig eine Reflexionstheorie des Selbstbewusstseins vertritt. Ein zureichendes Selbstbewusstsein setzt weitere Vermittlungsschritte voraus, die hier noch nicht geleistet sind. Das gilt übrigens 18 Vgl. Schmidt, Hegels »System der Sittlichkeit«, 208 ff.; Honneth, Kampf um Anerkennung, 33 ff.
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bis in die Phänomenologie des Geistes hinein, denn die »Wahrheit der Gewißheit seiner selbst«, in der das Verhältnis von Herrschaft und Knechtschaft dort angesiedelt ist, liegt ja der Vernunft und dem Geist noch voraus; adäquat wäre ein Selbstbewusstsein aber erst als eines, das die geistige Natur des individuellen Bewusstseins erfasst. Dieser Vorbehalt zieht weitere Konsequenzen nach sich. Es könnte nämlich so scheinen, als setze »Raub« schon ein rechtlich konstituiertes Eigentum voraus und »Persönlichkeit« den Rechtsbegriff der Person. Viel eher erinnert das, was Hegel hier beschreibt, an den Naturzustand, in denen nach dem Bericht im 9. Gesang der Odyssee die Kyklopen lebten: »Dort ist weder Gesetz noch öffentliche Versammlung, / Sondern sie wohnen all’ auf den Häuptern hoher Gebirge / In gehöhleten Felsen, und jeder richtet nach Willkür / Seine Kinder und Weiber, und kümmert sich nicht um den andern.«19 Von Recht kann hier auch im System der Sittlichkeit noch keine Rede sein; Recht ist erst eine Kategorie der Sittlichkeit, wie sie im dritten Teil des Systems behandelt wird. Und ebenso ist es mit dem von Hegel immer wieder ins Spiel gebrachten Begriff der Totalität. Wenn im Kampf auf Leben und Tod (was immer der realhistorisch bezeichnen soll) die Persönlichkeit wechselseitig nur dadurch erkannt wird, dass alles auf dem Spiel steht, dann ist dieses »Alles« nicht mehr und nicht weniger als die Totalität des lebendigen Individuums, keineswegs aber die wahrhafte Totalität, welche für Hegel geistiger Natur wäre. Das wechselseitige Erkennen und Anerkennen findet auf einer niedrigen Stufe des Erkennens statt, die der Realisierung des Geistes als Geist vorausliegt. Und auch für die Konnotation von Anerkennung und Liebe gilt, dass sie nicht nur in den vorpolitischen Bereich fällt, sondern auch eine rechtlich konstituierte Familiensphäre nicht voraussetzt. Dies gilt auch für den Kampf um Anerkennung, wie er im ersten Jenaer Systementwurf (1803/04) von Hegel dargestellt wird. Hierbei ist der neue theoretische Rahmen zu berücksichtigen, nämlich die zentrale Stellung des Bewusstseins »als methodisches Organon der Philosophie überhaupt«, 20 wie sie Heinz Kimmerle zutreffend 19
Homers Odyssee, übersetzt von Johann Heinrich Voß, Leipzig 1837, 137 f. Das Problem der Abgeschlossenheit, 259.
20 Kimmerle,
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beschrieben hat und wie sie bis einschließlich der Phänomenologie des Geistes gelten wird. Das Bewusstsein, so Kimmerle, »ist das einheitliche Medium, in dem sich die theoretische und praktische Potenz der Intelligenz wie auch die ›Selbstkonstruktion des Absoluten‹ zusammenhängend entfalten lassen. Somit drückt das Bewußtsein eine Sphäre des Geistes in seinem Erscheinen und zugleich den Geist als Geist aus.«21 In dieser Wendung sieht Axel Honneth übrigens die »vorschnelle[] Preisgabe« einer »kommunikationstheoretischen Alternative«, in welcher die Selbstvermittlung des individuellen Bewusstseins an die Stelle sozialer Interaktion tritt.22 Richtig daran ist, dass Hegel soziale Verhältnisse nicht aus intersubjektiver Kommunikation hervorgehen lässt; das bedeutet jedoch nicht, dass das individuelle Bewusstsein das Medium ist, über das soziale Verhältnisse konstituiert werden.23 Viel eher ist es zunächst das Bewusstsein naturwüchsiger sozialer Verhältnisse – und hierin liegt auch der Grund, weshalb das Anerkennen primär als ein Erkennen zu verstehen ist. Im ersten Jenaer Systementwurf bringt der »Kampf um Anerkennung« daher die »Totalität des Bewußtseins«, wie sie sich in der Familie naturwüchsig ausgebildet hat, dazu, dass sie »sich in einer andern Totalität […] als sich selbst erkennt«. (GW 6, 307) Dies geschieht, indem die Totalität des Anderen jeweils zu einer Einzelheit des eigenen Bewusstseins herabgesetzt und damit die eigene Totalität bestätigt wird. Es handelt sich hierbei, wie fast immer bei Hegel, wenn er von Anerkennung spricht, um ein zwar reziprokes, gleichwohl aber asymmetrisches Verhältnis, und dies, so fügt Hegel hier 21 Ebd.
Kampf um Anerkennung, 53. Den tieferen Grund für die Differenz zwischen Honneth und Hegel hat Karin de Boer im Blick auf den späten Hegel zu Recht darin ausgemacht, dass Honneth – kommunikationstheoretisch zwingend – das freie Individuum voraussetzt, während Hegel dies erst durch das Dasein entsprechender objektiv-geistiger Strukturen gegeben sieht; vgl. Karin de Boer, Kampf oder Anerkennung? Einige kritische Überlegungen zu Honneths Lektüre der Hegelschen Rechtsphilosophie, in: Alterität und Anerkennung, hg. v. Andreas Hetzel, Dirk Quadflieg, Heidi Salaverría, Wiesbaden 2011, 161–177. Dies an den Grundlinien der Philosophie des Rechts gewonnene Resultat lässt sich der Grundstruktur nach auch schon von den Jenaer Entwürfen behaupten. 22 Honneth, 23
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ausdrücklich hinzu, »ist das gegenseitige Anerkennen überhaupt« (GW 6, 307). Der Kampf entsteht hier (wie schon im System der Sittlichkeit) als Kampf um die Ehre aufgrund einer absoluten Beleidigung (GW 6, 308), ein Szenario, das eher mit tribalen Strukturen als mit staatlich sanktionierten Rechtsverhältnissen etwas zu tun hat; zu dieser Verletzung gehört auch der Besitz an sich, indem darin der Widerspruch liegt, »daß ein aüsseres, ein Ding, ein allgemeines der Erde, daß diß in der Macht eines einzelnen seyn soll, was wider die Natur des Dings als eines allgemeinen aüssern ist« (GW 6, 309). Das gegenseitige Anerkennen der Einzelnen löst aber überhaupt die Widersprüche nicht auf, sondern ist »absoluter Widerspruch in ihm selbst« (GW 6, 312), denn in der Realität des Kampfes hebt es das andere Bewusstsein auf und »hiemit hebt sich das Anerkennen selbst auf« (GW 6, 312); diese Konsequenz lässt sich indessen nicht vermeiden, da das einzelne Bewusstsein ja gerade als Totalität anerkannt werden will und darum das andere Bewusstsein, von dem seine Anerkennung als Bewusstsein doch abhängt, vertilgen muss. Die Anerkennung, die wiederum wesentlich kognitiv gefasst ist, nämlich als ein Erkennen, wird aber auch dann verfehlt, wenn der Streit nicht auf die Spitze getrieben, sondern durch Unterwerfung – hier ausdrücklich: das zum Sklaven Werden – »vor dem Tödten« abgebrochen wird: »so hat er weder sich als Totalität erwiesen, noch den andern als solchen erkannt«. (GW 6, 311) Dass Anerkennung zunächst als absoluter Widerspruch zu denken ist, erinnert wohl nicht zufällig an die Widersprüchlichkeit der Wechselbestimmung bei Fichte. Hegels Lösung des Widerspruchs ist indessen eine andere als in Fichtes Naturrecht, wo die Sanktionsgewalt des Rechtes Freiheitssphären zuweist und begrenzt – mit dem Recht als Grenze. Hegel dagegen lässt in seinem ersten Jenaer Systementwurf den Widerspruch dadurch zugrunde gehen, dass sich das absolute Bewusstsein als Aufgehobensein der einzelnen Bewusstseine in der absoluten Sittlichkeit konstituiert (GW 6, 314). Hegel notiert hierzu: »keine Komposition, kein Vertrag, kein stillschweigender oder ausgesprochener Urvertrag; der einzelne [soll nicht, A.] einen Theil seiner Freyheit aufgeben, sondern ganz, seine einzelne Freyheit ist nur sein Eigensinn sein Tod«. (GW 6, 315) Was bedeutet das? Offenbar will Hegel auf recht unmittelbare 144 | Realität
Weise den sich als Totalität setzenden Einzelnen in die absolute Sittlichkeit des Volkes aufheben, indem er ihm den Eigensinn ganz austreibt. Das ist, nebenbei gesagt, vom Standpunkt des späteren Rechts der Besonderheit aus eine defizitäre, vormoderne Position von Sittlichkeit, die Hegel aufgeben wird. In der Geistesphilosophie des dritten Jenaer Systementwurfs 1805/06 korrigiert Hegel sich in diesem Punkt bereits. Hier wird einerseits der Kampf um Anerkennung ausdrücklich in den Naturzustand verlegt, andererseits die Sphäre des Staates als Vermittlung von Extremen begriffen und damit unter eine Spannung gestellt, in der die unmittelbare Einheit des Einzelnen und Allgemeinen unwiderruflich verloren ist: »Diß ist das höhere Princip der neuern Zeit, das die Alten das Plato nicht kannte, – in der alten Zeit, war das schöne öffentliche Leben die Sitte aller, – Schönheit unmittelbare Einheit des Allgemeinen und einzelnen«; dagegen steht aber jetzt »das sich selbst absolut Wissen der Einzelnheit«, also das Prinzip der Subjektivität, der Besonderheit und ihrer Freiheit (GW 8, 263). Im Naturzustand sind die Individuen »gegeneinander freye[] Selbstbewußtseyne« nur dem Begriffe nach: »Das einzige Verhältniß derselben aber ist, eben diß Verhältniß aufzuheben, exeundem e statu naturae.« (GW 8, 214) Dies geschieht durch eine »anerkennende[] Beziehung«, welche Hegel zufolge das »Erzeugen des Rechts überhaupt« ist (GW 8, 215). Ausdrücklich und ausführlich wendet Hegel sich dagegen, das Recht in den Naturzustand gewissermaßen hineinzuprojizieren, um daraus die Konstitution von Staat und Recht durch einen Vertrag abzuleiten (der ja die Vertragsfähigkeit und damit das Recht schon wieder voraussetzt). Das Erzeugen des Rechts, so Hegel, müsse aus dem Gegenstand selbst hervorgehen. Genau dies ist die Aufgabe der Anerkennung. Axel Honneth vertritt hier die These, dazu bedürfe der »sozialontologische Bezugsrahmen« des Naturzustandes der »kategorialen Erweiterung« um die Dimension, »daß die Subjekte sich noch vor jedem Konflikt in irgendeiner Weise wechselseitig anerkannt haben müssen«.24 Für Hegel freilich ist das Anerkanntsein, das Honneth in den Naturzustand zurückprojizieren möchte, etwas, was dezidiert mit dem Naturzustand nichts zu tun hat: »Das anerkannte ist 24 Honneth,
Kampf um Anerkennung, 72. Anerkennung – zur Tragweite eines Begriffs | 145
anerkannt als unmittelbar geltend, durch sein Seyn; – aber eben diß Seyn ist erzeugt aus dem Begriffe, […] das natürliche ist nur, es ist nicht geistiges.« (GW 8, 216) Der Kampf um Anerkennung ist eben noch kein Anerkennen, sondern nur das Werden des Anerkennens; nur so lässt sich auch vermeiden, dass der für das vertragstheoretische Vergesellschaftungsmodell konstitutive Zirkel sich in Bezug auf das Anerkennungsmodell wiederholt. Wie ist das zu verstehen? Der Schlüssel scheint mir auch hier darin zu liegen, dass die im Kampf um Anerkennung aufeinander prallenden »Selbstbewusstseine« dies nur dem Begriff nach bzw. an sich sind, d. h. der Begriff ist noch nicht realisiert. Erst die Realisierung des Begriffs schafft das, was Hegel das Sein aus dem Begriff nennt. Diese Bewegung fängt »nicht mit dem positiven an, sich im andern zu wissen […]; sondern im Gegentheil sich nicht in ihm zu wissen«, also mit der »Selbstständigkeit des Fürsichseyns« (GW 8, 218). Am Anfang steht also das Erkennen des anderen Fürsichseins, bevor ich es anerkenne, weil ich mein eigenes Fürsichsein in ihm wiedererkenne. Dieses Fürsichsein bezeichnet hier aber nicht, wie noch 1803/04 im ersten Systementwurf, eine Totalität des Bewusstseins, sondern ein Willensverhältnis. Indem dieser Wille sich zum Ding macht, als Besitz (den Hegel hier ausdrücklich vom Eigentum als Rechtsverhältnis unterscheidet 25), kann über das Ding in der Verletzung des Besitzes das Selbstbewusstsein indirekt angegriffen werden. Hieraus geht wiederum ein »Kampf auf Leben und Tod« hervor, indem jedes Fürsichsein das Andere »als reines Selbst« gesehen hat und jedes Fürsichsein weiß im Anderen den Willen: »es ist ein Wissen des Willens«, aber nicht eines bestimmten, sondern des Willens überhaupt: »Dieser wissende Willen ist nun allgemeiner. Er ist das Anerkanntseyn.« (GW 8, 221) Hieraus ergibt sich dann der wirkliche Geist, zunächst in den Momenten der Arbeit, des Tausches und des Vertrags. Die gewordene Anerkennung bezieht sich also auf das Rechtsverhältnis; sie ist wesentlich Anerkennung des Rechts im rechtlichen Verhältnis: »Recht«, so Hegel, »ist die Beziehung der Person in ihrem Verhalten zur andern« (GW 8, 215). – Die berühmte und immer wieder missdeutete Passage der Phänomenologie fügt diesem Befund nichts Neues hinzu. Das 25
Vgl. GW 8, 215: »Besitz ist noch kein Eigenthum«.
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Selbstbewusstsein, wie es in den Kampf um Anerkennung geht, ist erst einfaches Fürsichsein und hat noch keine Wahrheit. Systematisch gehört der Kampf um Anerkennung in der Phänomenologie noch in das Bewusstsein (was den erwähnten Gleichklang von Erkennen und Anerkennen unterstreicht) und liegt vor dem Geist, ja sogar noch vor der Vernunft. Damit aber ist nach Hegel kein Staat zu machen.26 (3) Den Schlusspunkt unter die hier skizzierte Entwicklung hat Hegel 1817 im Paragraphen 355 seiner Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse gesetzt; es heißt dort: »Der Kampf des Anerkennens […] ist die Erscheinung, in welcher das Zusammenleben der Menschen, als ein Beginnen der Staaten, hervorgegangen ist. Die Gewalt, welche in dieser Erscheinung Grund ist, ist darum nicht Grund des Rechts; obgleich das nothwendige und berechtigte Moment im Uebergange des Zustandes des in die Begierde und Einzelnheit versenkten Selbstbewußtseyns in den Zustand des allgemeinen Selbstbewußtseyns.« (GW 13, 202) In seinen handschriftlichen Notizen zu dieser Stelle hat Hegel bemerkt, das Recht sei »freyes Selbstbewußtseyn – das sich Dasein gibt«, wodurch Anerkanntsein »Daseyn der Persönlichkeit im Staate überhaupt« sei (GW 13, 331). Eben darum, weil Anerkennung im Rechtsverhältnis und Kampf um Anerkennung zweierlei sind und das Rechtsverhältnis nicht aus Letzterem hervorgeht, hat Hegel in der zweiten Auflage der Enzyklopädie (1827) zu der vorhin zitierten Passage noch einen Satz hinzugefügt: »Es ist der äußerliche oder erscheinende Anfang der Staaten, nicht ihr substantielles Princip.« (GW 19, 323, § 433; vgl. GW 20, 431, § 433) Dabei bleibt es auch in der dritten Auflage (1830). Die Grundlinien der Philosophie des Rechts (1821) verweisen entsprechend auch den Kampf um Anerkennung in den Naturzustand zurück, in dem die »begrifflose[] Existenz« des Menschen »als Naturwesen und nur als an sich seyender Begriff« vorherrschten (GW 14,1, 66). Entsprechend spielt der Begriff 26 Dass Hegels Begriff der Anerkennung mit dem in der gegenwärtigen sozialphilosophischen Debatte so gut wie gar nichts zu tun hat, unterstreicht Martin Sticker, Hegels Kritik der Anerkennungsphilosophie, in: Hegel-Studien 49, Hamburg 2015, 89–122.
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der Anerkennung in den Grundlinien auch nur eine marginale Rolle. Der Grund dafür ist leicht einsichtig zu machen. Wenn nach Hegels Auffassung Recht Dasein der Freiheit ist, dann ist Freiheit nicht etwas, was in einem vorrechtlichen (und das heißt auch: vorstaatlichen) Raum den gesellschaftlichen Individuen in der Weise zugeschrieben werden könnte wie bei Rousseau, Kant und Fichte, so dass in erster Linie durch das Recht nur noch die Konflikte zu bearbeiten wären, die dadurch entstehen, dass Freiheitsansprüche gegeneinander limitiert werden müssen. Eben deshalb findet das freie Selbstbewusstsein, wie es in Hegels Anmerkungen zur ersten Auflage der Enzyklopädie heißt, sein Dasein auch nur im Staate – und nur dies ist sein Anerkanntsein. Anders gesagt: Hegel denkt Freiheit von ihrer Institutionalisierung her, die sich in einer Geschichte der Freiheit niederschlägt.27 Sie ruht auf keiner vorgängigen Intersubjektivität; vielmehr muss, um Henning Ottmann zu zitieren, »auch die Anerkennung […] für Hegel aus ihrer bei Fichte nur intersubjektiven Bedeutung gelöst und in die Geschichte der Freiheit einbezogen werden, die von Beginn an nicht nur Geschichte eines intersubjektiven, sondern immer auch institutionellen Geistes ist«.28 Die Auseinandersetzung um die Tragweite des Begriffs »An erkennung« dreht sich genau um diesen Punkt: In Frage steht, ob Freiheit sich über Anerkennung modellieren lässt oder ob Anerkennung über die rechtliche Institutionalisierung von Freiheit zu verstehen ist. Hegels Position ist eindeutig: Auf der Basis konstituierter rechtlicher und d. h. immer auch staatlicher Verhältnisse ist der Kampf um Anerkennung aufgehoben in eine Sphäre des Geistes, die den gesellschaftlichen Individuen gegenüber als objektiv erscheint – eben als objektiver Geist. Dieser ist als über-, nicht bloß als intersubjektiv zu verstehen. Soziale Freiheit ist daher auch nicht, wie Honneth meint, als Erweiterung intersubjektiver Freiheit anzusehen: »›Frei‹ ist das Subjekt letztlich allein dann, wenn es im Rahmen institutioneller Praktiken auf ein Gegenüber trifft, dazu Andreas Arndt, Geschichte und Freiheitsbewusstsein. Zur Dialektik der Freiheit bei Hegel und Marx, Berlin 2015. 28 Ottmann, Herr und Knecht, 384. 27 Vgl.
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mit dem es ein Verhältnis wechselseitiger Anerkennung deswegen verbindet, weil es in dessen Zielen eine Bedingung der Verwirklichung seiner eigenen Ziele sehen kann«; hierbei sei »eine Bezugnahme auf soziale Institutionen« schon immer mitgedacht, weil »nur eingespielte, verstetigte Praktiken die Gewähr dafür bieten, daß die beteiligten Subjekte sich wechselseitig als Andere ihrer selbst anerkennen können«.29 Es geht um eine scheinbar geringfügige Differenz: Wird An erkennung mit Hegel selbst als institutionalisiert verstanden, etwa in dem Rechtsbegriff der Person? Oder werden Bezüge auf Institutionen als Rahmenbedingungen eines intersubjektiv konstituierten Anerkennungsgeschehens mitgedacht, wie Honneth es vorschlägt? Anders gesagt: Im ersten Fall ist Anerkennung kein substanzielles Prinzip der Moderne, im zweiten schon. Die Tragweite dieser Differenz und damit des Anerkennungsbegriffs lässt sich am besten daran ermessen, wie theoretisch mit sozialen Konflikten umgegangen wird. Axel Honneth hat sich 2010, zwei Jahre nach Ausbruch der ersten globalen Finanzkrise, in einem Aufsatz mit den, wie er es nennt, »Verwilderungen« des Kampfes um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert auseinandergesetzt. 30 Von besonderem Interesse ist hier die sogenannte »Anerkennungssphäre der Wirtschaft«, denn für Hegel selbst enthält ja das System der Bedürfnisse einen »Rest des Naturzustandes« in sich.31 Nach Honneth funktioniert die kapitalistische Wirtschaft grundsätzlich nach dem Leistungsprinzip, habe damit aber – im Unterschied zum »moralische[n] Universalismus der Rechtssphäre« (was immer Moral im Recht zu suchen haben soll) – keine egalisierende Funktion. Hier sei es zu e iner dramatischen Verschiebung gekommen: »Im Kapitalismus der Axel Honneth, Das Recht der Freiheit. Grundriß einer demokratischen Sittlichkeit, Frankfurt / M 2013, 86. 30 Axel Honneth, Verwilderungen. Kampf um Anerkennung im frühen 21. Jahrhundert, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 2011, 37–45. Zitiert nach: http://www.bpb.de/apuz/33577/verwilderungen-kampf-um-anerkennung-imfruehen-21-jahrhundert?p=all (letzter Aufruf am 19. November 2022). 31 Vgl. Makoto Takada, Aktualität der Anerkennungslehre Hegels, in: Hegel in Japan. Studien zur Philosophie Hegels, hg. v. Yoichi Kubo, Seiichi Yamaguchi, Lothar Knatz, Wien und Zürich 2015, 139–157, hier 154 f. 29
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Gegenwart scheint ein wachsender Teil der Bevölkerung von jeder Möglichkeit abgeschnitten, überhaupt nur Zugang zu den achtungssichernden Sphären der Erwerbswirtschaft und des Rechtssystems zu gewinnen, während der andere, sich darin befindende Teil aus den hier gewährten Entlohnungen in immer geringerem Maße soziale Anerkennung zu schöpfen vermag, weil sich die zugrunde liegenden Prinzipien verunklart oder verdunkelt haben.«32 Gemeint ist damit offenbar das Leistungsprinzip. Betroffen von der sich daraus ergebenden Verwilderung ist vor allem die Sphäre des Rechts. Die Verlierer versuchen, sich Respekt und Sichtbarkeit auch dadurch zu verschaffen, dass sie sich über das Recht hinwegsetzen, während die Gewinner des Neoliberalismus das Recht als »Instrument der Abwehr von statusbedrohenden Ansprüchen« benutzen: »Über Rechte zu verfügen bedeutet immer weniger, sich einer wechselseitig eingeräumten Ermächtigung zur individuellen Freiheit zu erfreuen, sondern bedeutet vor allem, die Begehrlichkeiten anderer mit legitimen Mitteln zurückweisen zu können.«33 Man kann darüber streiten, ob die Idylle des Leistungsprinzips jemals mehr war als eine Illusion; schon Marx hatte ja bestritten, dass Lohn und Leistung in einem Verhältnis stünden. Auffällig ist jedoch vor allem, dass bereits Hegel im Frühstadium des Kapitalismus die Konsequenz der Verwilderung des Rechts gesehen hatte. Hegel fasst sie unter der Bezeichnung »Pöbel« zusammen.34 Der Pöbel entsteht dann, wenn ein immer größerer Teil der Bevölkerung unter das gesellschaftlich notwendige Subsistenzniveau absinkt, also materiell verelendet, damit zugleich aber auch ein Verlust »des Gefühls des Rechts, der Rechtlichkeit und der Ehre, durch eigene Thätigkeit und Arbeit zu bestehen«, bei den Verelendeten eintritt (GW 14,1, 194). Das materielle Sein hat hier unmittelbar Folgen für das Bewusstsein, die Gesinnung des Pöbels. Für Hegel ist dieses 32 Honneth, 33 Ebd.
Verwilderungen.
34 Frank Ruda, Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der »Grundlinien der Philosophie des Rechts«, Konstanz 2011; Mesut Bayraktar, Der Pöbel und die Freiheit. Eine Untersuchung zur Philosophie des Rechts von G. W. F. Hegel, Köln 2021; vgl. hierzu und zum Folgenden Arndt, Geschichte und Freiheitsbewusstsein, 77 ff.
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Element der Gesinnung insofern entscheidend, als es sowohl das Prinzip der bürgerlichen Gesellschaft – Vermittlung der Subsistenz durch Arbeit – als auch das Rechtsbewusstsein und damit die Grundlage des politischen Gemeinwesens erschüttert. Hierbei geht es weniger um materielle Ungleichheit, die Hegel innerhalb gewisser Grenzen grundsätzlich als Zufälligkeit ansieht, sondern darum, dass die arbeitende Klasse von den Freiheiten der bürgerlichen Gesellschaft und ihren Rechten ausgeschlossen wird: »in der bürgerlichen Gesellschaft hat jeder den Anspruch, durch seine Arbeit zu existieren; erlangt er nun durch seine Tätigkeit dies Recht nicht, so befindet er sich in einem Zustand der Rechtlosigkeit, er kommt nicht zu seinem Recht, und dies Gefühl ist es, das die innere Empörung hervorbringt. Dann macht der Mensch sich selber rechtlos und hält sich auch der Pflichten entbunden, und dies ist dann der Pöbel.« (GW 26,2, 754) Pöbel ist demnach die teils faktische, teils gesinnungsmäßige Auflösung des Rechtszustandes und damit, nach Hegel, des Daseins der Freiheit. Hegel lässt keinen Zweifel daran, dass er die Aufkündigung des Rechtszustandes aufgrund der erlittenen Verletzung des Rechts für »Schamlosigkeit« und »Verworfenheit« hält (GW 26,2, 754). Die Ursache der Rechtsverletzung, welche der Pöbel dadurch erleidet, dass er durch Arbeit keine Subsistenz findet, liegt jedoch in der Dynamik der bürgerlichen Gesellschaft selbst. Sie ist es, die das Rechtsbewusstsein und damit die Rechtsstaatlichkeit untergräbt. Mehr noch. Die »Erzeugung des Pöbels«, so Hegel, führe »zugleich die größere Leichtigkeit, unverhältnißmäßige Reichthümer in wenige Hände zu concentriren mit sich« (GW 14, 1, 194). Wenn aber der Pöbel wesentlich darin besteht, Subsistenz nicht durch eigene Arbeit zu haben, wobei er die Rechte anderer nicht respektiert und zugleich auf sein Recht pocht, dann lässt sich der Spieß auch umdrehen: Der Reichtum, sofern er nicht auf eigener Arbeit beruht, muss dann ebenso Pöbel erzeugen – reichen Pöbel: »Es gibt auch reichen Pöbel. Denn der Reichtum ist eine Macht, und diese Macht des Reichtums findet leicht, daß sie auch die Macht ist über das Recht, der Reichre kann sich aus vielem herausziehen, was anderen übel bekommen würde. […] Der Reichtum kann die Subsistenz vieler in seiner Hand sehen, sieht sich als Herr ihrer Not und damit auch vieler Rechte derselben. Man kann dies dann auch Anerkennung – zur Tragweite eines Begriffs | 151
Verdorbenheit nennen, daß der Reiche sich alles für erlaubt hält.« (GW 26,2, 754) Mit der Polarisierung zwischen dem armen und dem reichen Pöbel droht der rechtliche Grundkonsens der Gesellschaft zu zerbrechen. Die »Empörung« des armen Pöbels ist nach Hegel die Folge. Wo aber das Recht als menschliches Gesetz abdankt, treten die alten chtonischen Rachegöttinnen auf den Plan. Wenn der Einzelne, wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes schreibt, »rein zum Dinge« gemacht wird, dann ist er selbst »die unterirdische Macht, und es ist seine Erinnye, welche die Rache betreibt« (GW 9, 250). Damit entstehen Machtverhältnisse, die innerhalb faktisch rechtsfreier Sphären der Staaten und des internationalen Staatengefüges den Kampf um Anerkennung als Kampf auf Leben und Tod neu inszenieren. Es gilt, sich selbst durch die Vernichtung alles Anderen ein Selbstgefühl zu verschaffen, das aber immer wieder erneut solcher Bestätigung bedarf. Die Erinnyen unserer Moderne sind allgegenwärtig: hirnlose Schläger mit oder ohne ideologische Bemäntelung, der aus der Gesellschaft gefallene jugendliche Pöbel (im Hegelschen Sinne) der Metropolen weltweit, Neonazis und ›patriotische Europäer‹ – bis hin zu Dschihadisten, die ihre Identität daraus beziehen, alles abschlachten zu wollen, was ihnen sich nicht fügt. Dieser Kampf um Anerkennung, der in der Tat mit der faktischen oder auch erklärten Aufkündigung der Zivilisation und des Rechts einhergeht, ist natürlich nicht gemeint, wenn der Kampf um Anerkennung als moralische Grammatik sozialer Konflikte verstanden werden soll. Im Hegelschen Sinne freilich wäre er die Wahrheit dieses Begriffs. Sofern aber diese Wahrheit der Wahrheit des Rechts als ihrer Aufhebung entgegensteht, dem Anerkanntsein statt des Kampfes um Anerkennung, ist der Kampf um jenes Anerkanntsein als Recht zu führen – auch und vor allem als Kampf gegen jene Institutionen und Strukturen, die den rechtlichen Konsens untergraben.
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»Die Eumeniden schlafen«. Über die Fragilität der Moderne (1) Im Handexemplar zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts findet sich eine auf den ersten Blick rätselhafte Formulierung in Hegels Notizen zum Paragraphen 101, der von der Aufhebung des Verbrechens als »Wiedervergeltung« handelt: »die Eumeniden schlafen« (14, 2, 543).1 Rätselhaft zunächst deshalb, weil die Eumeniden – »die Wohlmeinenden« – dem antiken Mythos zufolge ja gar nicht schlafen, sondern – als matriarchale Erdgottheiten – unentwegt für die Fruchtbarkeit des Bodens, der Tiere und der Menschen Sorge tragen und dafür Verehrung genießen. Rätselhaft ist die Stelle auch deshalb, weil, so Hegel weiter, die schlafenden Eumeniden erst hervortreten, wenn sie durch die Tat des Verbrechers gerufen werden. Aus der Perspektive des Mythos wäre dies eine Grenzüberschreitung, denn die Eumeniden sind die umgewandelten und gezähmten Rachegöttinnen, die ihre Funktion an die weltliche Gerichtsbarkeit der Polis verloren haben. Es gilt, auch in der Blutgerichtsbarkeit, menschliches Gesetz, νόμος. Die Eumeniden würden dabei nicht als die Wohlmeinenden erwachen, sondern als Erinnyen, sie würden in ihr altes Dasein als Rachegöttinnen zurückfallen. Zwar gebraucht Hegel die Bezeichnungen »Eumeniden« und »Erinnyen« in der Regel bewusst in gleicher Bedeutung – wie es übrigens auch schon bei Euripides, etwa in seinem Orest der Fall ist – , aber das Erwachen der Eumeniden erfolgt im Zusammenhang der zitierten Stelle im Rahmen des νόμος, des modernen Rechts, das auf der Freiheit und Gleichheit aller als Rechtspersonen beruht, und nicht im Rahmen einer vormodernen Rechtsauffassung oder gar im Rahmen archaischer, naturwüchsiger Rechtsvorstellungen. Kurz gesagt: Der Verbrecher erleidet eine gesetzliche Strafe, aber nicht Rache. Die Eumeniden stehen damit, schlafend wie wachend, unter 1
Zur Wiedervergeltung vgl. GW 14,1, 93–95. 153
der Ordnung des neuen Rechts, das die Zähmung der Erinnyen und ihre Transformation zu Fruchtbarkeitsgöttinnen verlangte. Was bedeutet es dann aber, dass die alten Göttinnen weiterhin im Recht hausen, sofern dieses die Wiedervergeltung des Unrechts verlangt? Es bleibt, so scheint es, auch im modernen Recht ein archaisches Moment, auch wenn es nicht um Blutrache, sondern um die Aufhebung des Verbrechens und damit letztlich um die Versöhnung des Unrecht verübenden Individuums mit dem Allgemeinen geht. Mehr noch: Außerhalb der modernen Rechtsordnung können weiterhin die Eumeniden in ihrer ursprünglichen Gestalt als Erinnyen oder Furien auftreten, wie in der Phänomenologie des Geistes als »Furie des Verschwindens« – und dies ist nicht die einzige Gestalt, in der das untere Gesetz der chtonischen Gottheiten sich wieder Geltung zu schaffen vermag, denn das Unrecht kann auch die Rechtsordnung selbst in Frage stellen, durch welche die Erinnyen befriedet wurden. Unter der Oberfläche der modernen Zivilisation, die für Hegel wesentlich durch das Recht als Dasein der Freiheit geprägt ist, schlafen weiterhin die Gottheiten, deren Tun die Zerstörung als reine Negativität ist. Wo sie nicht mehr gebändigt werden können, droht der Verlust derjenigen Welt, welche, Hegel zufolge, das Werk des (menschlichen) Geistes ist, der »sich einer Natur entgegengesetzt findet, diesen Gegensatz bekämpft, und als Sieger über die Natur zu sich selbst kommt«. (GW 5, 370) Wenn das so ist, dann enthält Hegels Philosophie das Moment einer tiefen Beunruhigung über die Haltbarkeit der modernen Zivilisation, welches zwar nicht dominiert und auch nicht in einen Pessimismus gegenüber der Vernunft umschlägt, jedoch latent vorhanden ist. Es ist ein Moment, das die Geschichte der Vernunft und der Freiheit in der Weltgeschichte schon immer begleitet hat, denn, in Hegels Worten, man könne die Erfolge des Bösen in der Geschichte »ohne rednerische Übertreibung blos mit richtiger Zusammenstellung des Unglücks […] zu dem furchtbarsten Gemählde erheben, und ebenso damit die Empfindung zu der tiefsten, rathlosesten Trauer steigern, welcher kein versöhnendes Resultat das Gleichgewicht hält«; in dieser Betrachtung sei die Geschichte eine »Schlachtbank […], auf welcher das Glück der Völker, die Weisheit der Staaten und die Tugend der Individuen zum Opfer gebracht worden sind«. (GW 18, 156 f.) 154 | Realität
Im Folgenden möchte ich den Gründen für diese Beunruhigung nachgehen, indem ich zunächst (2) auf das Problem der Wiedervergeltung eingehe und dann (3) die für Hegel maßgebliche Darstellung des antiken Mythos in Aischylos’ Eumeniden sowie Hegels Interpretation dieser Tragödie skizziere, die auf das Versöhnende der Rechtsordnung (νόμος) abhebt. Die Bedrohung der Rechtsordnung ruft indessen die Erinnyen wieder auf den Plan; wo und wie das bei Hegel der Fall ist, wird in einem weiteren Schritt gezeigt (4). (2) Nach Hegels Auffassung ist das Unrecht, das Wiedervergeltung fordert, »zwar eine positive, äußerliche Existenz, die aber in sich nichtig ist«. (GW 14,1, 90)2 Das besagt, dass das Unrecht im strikten Sinne keine Wirklichkeit hat, sofern es nicht als Realisierung der Vernunft gelten kann. Es ist ein Negatives, das nur negativ behandelt werden kann und muss. An dem »an sich seyenden Willen«, dem Recht bzw. Gesetz, hat die Verletzung, so Hegel im § 99 der Grundlinien der Philosophie des Rechts, keine positive Existenz, und auch für den Verletzten und die »Uebrigen« (die Mitglieder der Rechtsgemeinschaft) ist die Verletzung »nur etwas Negatives«; eine positive Existenz hat das Verbrechen nur »als der besondere Wille des Verbrechers« (GW 14,1, 91). Gegen diesen besonderen Willen, der sich dem an sich seienden allgemeinen Willen als Recht entgegenstellt, hat sich die Wiedervergeltung zu richten – sie ist nicht Wiedergutmachung (dies gilt als »Ersatz«, so weit als möglich, nur für Eigentums- oder Vermögensschäden; GW 14,1, 90) und auch nicht Herstellung moralischer Gerechtigkeit, Abschreckung usw., sondern sie ist Negation einer nichtigen, bloßen Existenz. Es komme darauf an, dass das Verbrechen »als Verletzung des Rechts als Recht aufzuheben ist, und dann welches die Existenz ist, die das Verbrechen hat und die aufzuheben sei« (GW 14,1, 92) – wohl-
2 Zum Folgenden vgl. Britta Caspers, »Schuld« im Kontext der Handlungstheorie Hegels, Hamburg 2012, besonders »Hegels Theorie der Strafe«, 329–382; Kurt Seelmann, Hegels Straftheorie in seinen »Grundlinien der Philosophie des Rechts«, in: ders., Anerkennungsverlust und Selbstsubsumtion. Hegels Straftheorien, Freiburg und München 1995, 123–137.
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gemerkt: nicht die Existenz des Verbrechers, sondern seines besonderen Willens. Die Verletzung oder Brechung dieses Willens wird von Hegel dabei nicht nur als die Wiederherstellung der Geltung des an sich seienden Willens als Gesetz verstanden, das auch den Verbrecher einschließt, sondern zugleich auch »ein Recht an den Verbrecher selbst, d. i. in seinem daseyenden Willen, in seiner Handlung gesetzt«. (GW 14,1, 92) Nicht nur der an sich seiende Wille, sondern auch der besondere – der daseiende – Wille enthält etwas, was in diesem Willen selbst der Strafe Recht gibt. Hierbei setzt Hegel voraus, dass das Verbrechen die Handlung »eines Vernünftigen« ist. Das besagt nicht, dass die Handlung als solche vernünftig ist, aber es besagt, dass sie, insofern sie auf dem Willen basiert, in ihr wenigstens formell ein vernünftiges Moment gegeben ist. Dieses besteht darin, dass die Handlung »ein allgemeines, dass durch sie ein Gesetz aufgestellt ist, das er [der Verbrecher, A.] in ihr für sich anerkannt hat, unter welches er also, als unter sein Recht subsumirt werden darf«. (GW 14,1, 92) In der Nachschrift Wannemann zur Rechtsphilosophie-Vorlesung 1817/18 wird dieser Gedanke dahingehend präzisiert, dass dadurch, dass das Verbrechen das Recht und damit die Freiheit eines anderen verletzt, der Verbrecher das Gesetz aufgestellt habe, es sei »Recht die Freyheit zu verletzen, und durch seine Handlung hat er dies Gesetz anerkannt« (GW 26,1, 47). Der Verbrecher gerät damit in einen Selbstwiderspruch. Er anerkennt ein allgemeines Gesetz, das aber zugleich nur ein besonderes im Gegensatz gegen die Allgemeinheit ist. Er hat, so heißt es in der Nachschrift Wannemann, »den einzelnen, alle, und sich selbst verletzt, er hat das allgemeine verletzt, ie [id est, A.], negativer Weise, und positiv hat er sie anerkannt, indem es die Handlung eines Vernünftigen ist«. (GW 26,1, 47) Vernünftig ist der Verbrecher, sofern er zumindest implizit das Allgemeine im Blick hat, das er zugleich verletzt; er verletzt sich damit selbst in seiner Vernünftigkeit und widerspricht sich zugleich. Dies rechtfertigt es für Hegel, das Negative des Verbrechens durch Strafe als Wiedervergeltung zu negieren und dadurch dem an sich seienden Willen als Recht wieder Geltung zu verschaffen. Das Unrecht ist, wie zu Beginn dieses Abschnitts zitiert, »in sich nichtig« und diese Nichtigkeit bildet »den Kern der Hegelschen 156 | Realität
Straftheorie«. 3 In sich nichtig ist etwas, was existiert, aber keine Realisierung des Begriffs darstellt. Als Negation des Rechts steht das Verbrechen außerhalb des Rechts und negiert es äußerlich. Es ist das, was im Griechischen als έκδικος bezeichnet wurde und sowohl »gesetzlos« als auch »rächend« bzw. »strafend« meint, ein Gleichklang, der, wie gleich noch zu zeigen ist, auch bei Hegel eine Rolle spielt. Worauf bezieht sich nun die Negation des in sich Nichtigen durch das Recht? Die Strafe, so wurde bereits gesagt, bezieht sich nicht auf Wiedergutmachung oder Abschreckung, sondern auf die positive Existenz des Verbrechens im besonderen Willen des Verbrechers. Dieser Wille ist durch das Recht zu brechen, sofern sich in diesem Willen das Besondere, ungeachtet der Anerkennung eines Allgemeinen, gegen das Allgemeine richtet, indem es sich selbst zum Allgemeinen erhebt. Die rechtliche Wiedervergeltung richtet sich gegen diesen Willen, indem sie dem an sich seienden Willen als Gesetz gewaltsam, unter Verletzung des besonderen Willens, Geltung verschafft. Sie eliminiert gewissermaßen die eine Seite des Selbstwiderspruchs in der Willensbestimmung des Verbrechers. Die Negation des Negativen bedeutet keine Aufhebung im Sinne des Aufbewahrens auf einer höheren Stufe, denn das Verbrechen ist kein Moment des Rechts und als etwas in sich Nichtiges – im Gegensatz zum Recht als Dasein der Freiheit – auch außerhalb des Begriffs.4 Umgekehrt ist das Recht im Gegensatz zum Verbrechen auch »das nicht äußerlich existirende und insofern das Unverletzbare«. 5 Die negative Behandlung des in sich Negativen durch das Recht ist daher auch nicht als Negation der Negation zu verstehen, denn diese Behandlung fällt in die Äußerlichkeit zum Begriff und nicht in die Bewegung des Begriffs. 6 »Schuld«, 352. Hegel vom »Aufheben des Verbrechens« spricht (GW 14,1, 95), dann bezieht sich das meines Erachtens auf das Moment der Allgemeinheit, das in der Willensbestimmung des Verbrechers liegt. 5 GW 14,1, 91. 6 Vgl. Caspers, »Schuld«, 354: »Strafe bezeichnet insofern den Prozeß einer ›Negation der Negation‹, vermittels dessen sich das Recht in seiner Geltung wiederherstellt, indem es das Andre seiner selbst aufhebt.« Dagegen ist einzuwenden, dass die Nichtigkeit des Verbrechens es außerhalb des Rechts stellt und gerade nicht als das Andere seiner selbst aufzufassen ist. 3 Caspers,
4 Wenn
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In diesem Zusammenhang ist auch zu betonen, dass Verbrechen und Strafe nicht Momente eines Kampfes um Anerkennung sind. Das Anerkennen, von dem Hegel spricht, bezieht sich ausschließlich und durchgängig auf das Anerkennen eines Allgemeinen und nicht auf die Anerkennung eines anderen Selbstbewusstseins.7 Die anerkennungstheoretische Interpretation der Hegelschen Straflehre – die Strafe sei »Wiederherstellung der Anerkennungsbeziehung« der Individuen als Personen8 – übersieht, dass Hegel sich bei Recht und Staat nicht auf Anerkennungsprozesse im Sinne des Kampfes um Anerkennung, sondern auf einen Zustand des Anerkanntseins bezieht: »Im Staate gilt jeder als anerkannt und anerkennend, daß er sich die blosse Unmittelbarkeit der Begierde, des Unrechts, des Gelüstens abgethan und gehorchen gelernt habe« (GW 13, 331). In diesem Zustand ist der Kampf um Anerkennung schon immer aufgehoben und das Anerkanntsein wird durch die Gewalt des Rechts aufrechterhalten: »Gewalt ist nicht Grund des Rechts – sondern Recht ist Grund der Gewalt – Recht hier freyes Selbstbewußtseyn – das sich Daseyn gibt – d. i. Anerkanntseyn von andern – Anerkanntseyn – ist das Daseyn der Persönlichkeit im Staate überhaupt« (GW 13, 331).9 Nur aufgrund dieses Anerkanntseins im Rechtszustand kann der Verbrecher auch als ein Vernünftiger angesprochen und damit, wie Hegel betont, »geehrt« werden (GW 14,1, 93). Der Verbrecher ist durch das Recht schon immer anerkannt und anerkennt selbst, wenn auch auf eine selbstwidersprüchliche Weise, ein Allgemeines. Die Wiedervergeltung zwingt den besonderen unter den an sich seienden Willen des Rechts. Sie ist »Verletzung der Verletzung« (GW 14,1, 93), die im besonderen Willen ihr Dasein hat. 7 Vgl. GW 14,1, 92, § 100: In der Handlung des Verbrechers sei ein Gesetz aufgestellt, »das er in ihr für sich anerkannt hat«. Ebenso GW 26,1, 47; ebd. 272 (»Der Verbrecher hat die Verletzung die ihm widerfährt selbst anerkannt); GW 26,2, 857 (»für sich es anerkennend stellt er durch seine Handlung ein Allgemeines auf); ebenso GW 26,3, 1189. 8 Diese Interpretation wird vor allem von Kurt Seelmann, Hegels Straftheorie, vertreten; ausführlich hierzu Caspers, »Schuld«, 352 f. 9 Vgl. oben das Kapitel Anerkennung. Zur Tragweite eines Begriffs; Walter Jaeschke, Hegels Philosophie, Hamburg 2020, 247–261 (»Anerkennung als Prinzip staatlicher und zwischenstaatlicher Ordnung«).
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Unter der Form des Rechts ist sie Strafe, aber an ihrem Ursprung, in der »Sphäre der Unmittelbarkeit des Rechts zunächst Rache, dem Inhalte nach gerecht« (GW 14,1, 95). Im Recht als Grund der Gewalt ist die Rache aufgehoben, transformiert zwar, aber noch immer als Gewalt anwesend, auf dem Sprung, die Verletzung des Rechts durch das Verbrechen durch die Verletzung des besonderen Willens des Verbrechers zu vergelten. Was sich bei der rechtlichen Strafe gegenüber der Rache geändert hat, ist, so Hegel, nicht der gerechte Inhalt der Wiedervergeltung, sondern die Form der Willensbestimmung in der strafenden gegenüber der rächenden Handlung. Die rächende Handlung ist »der Form nach«, wie auch das Verbrechen, »Handlung eines subjectiven« bzw. »besondern Willens«, der auch für den Verbrecher »nur als besonderer ist« (GW 14,1, 95). Der Rache fehlt demnach wie dem Verbrechen eine vernünftige Allgemeinheit – die Allgemeinheit des Rechts –, und sie verfällt daher, indem die Wiedervergeltung erneute Vergeltung hervorruft, »in den Progreß ins Unendliche und erbt sich von Geschlechtern zu Geschlechtern ins Unbegrenzte fort«. (GW 14,1,95) Dies ist offenkundig vor allem bei der Blutrache der Fall, bei der alte Rechnungen nicht verjähren und die Tilgung der Schuld durch Rache neue Schuld hervorruft. In der griechischen Mythologie war die Rache, speziell die Blutrache, Sache der Erinnyen. Im Rechtszustand, in dem gesetzliche Strafe an die Stelle der Rache getreten ist, erfolgt zwar noch die Wiedervergeltung als Verletzung der Verletzung, aber nun nicht mehr durch einen besonderen, sondern durch einen an sich seienden allgemeinen Willen, das Gesetz, welches in dem Verbrecher noch dessen Vernünftigkeit, das Moment der Allgemeinheit in seiner besonderen Willensbestimmung, ehrt. Insofern weckt der Verbrecher nicht die Erinnyen, sondern die Eumeniden, die zu den »Wohlmeinenden« transformierten Rachegöttinnen, die strafen, um die vernünftige Allgemeinheit des Rechts aufrecht zu erhalten und zu bewahren. Es sind aber noch immer die alten Gottheiten, die fortwährend besänftigt werden müssen, um wohlmeinend zu bleiben. Sie sind noch da. Wenn das Recht seine Kraft verliert, können sie auch als Furien wieder auferstehen. Die Aufhebung verhindert, anders als in der Wissenschaft der Logik, nicht den Rückfall in den vorherigen Zustand.
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(3) Hegels Erzählung von der Transformation der Rache in den Rechtszustand als Strafe hat ihre mythologische Entsprechung in der Orestie des Aischylos. Die Urszene der Geburt des Rechts findet sich in dem dritten, den tragischen Zyklus abschließenden Teil, den Eumeniden. Die Orestie wurde im Frühjahr 458 v. Chr. uraufgeführt, nachdem kurz zuvor, in den Jahren 462/461 v. Chr., auf Betreiben des Ephialtes der Areopag all seiner politischen Befugnisse beraubt worden war; es blieb ihm lediglich die Rechtsprechung über die Blutgerichtsbarkeit. Auf diese Ereignisse spielt Aischylos an, indem er die mythische Einsetzung des Areopags durch die Schutzgöttin der Stadt, Athene, beschwört.10 Aufgeführt wird ein Kampf der neuen, olympischen Gottheiten mit den alten, chtonischen Gottheiten, den Erinnyen, und beide Seiten repräsentieren bzw. stiften unterschiedliches Recht: die alten Gottheiten das Gesetz der Blutrache, die neuen Gottheiten das gesetzte Recht, den νόμος, den Athene in ihrer Polis einführt. Zugleich geht es auch um die Ablösung des Mutterrechts, für das die Erinnyen stehen, durch das Patriarchat, das die aus dem Haupt des Zeus entsprungene Jungfrau Athene verkörpert, denn der Fall, der verhandelt wird, ist Muttermord. Orest hat den Mord an seinem Vater Agamemnon durch den Mord an der Mörderin, seiner Mutter Klytaimnestra, gerächt, deren Schatten aus dem Totenreich heraus wiederum die Erinnyen zur Rache an ihrem Sohn aufstachelt. Orest flieht in den Delphischen Tempel des Apollon, um von dem Gott Schutz und Entsühnung zu erhalten. Apollon gewährt ihm diesen Schutz, wobei er den Richterspruch Athene überlässt. Orest findet daraufhin im Tempel der Athene Zuflucht, die sich des Verfolgten annimmt und den Areopag »fest für alle Zeit«11 als geschworene Richter in Mordsachen einsetzt. Im Vorfeld allerdings stellt Athene klar, dass ein Richterspruch allein nicht ausreicht, die Ansprüche der alten 10 George Thomson, Aischylos und Athen, Berlin 1956, 258 ff.; Christian Meier, Die politische Kunst der griechischen Tragödie, München 1988, 117 ff.; Maximilian Braun, Die »Eumeniden« des Aischylos und der Areopag, Tübingen 1998. 11 Vers 484; Text nach Aischylos, Tragödien und Fragmente, hg. und übersetzt v. Oskar Werner, München o. J.
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und neuen Götter zu versöhnen, denn den Erinnyen »bleibt ein Anspruch, nicht leicht abweisbar; / Und geht für sie nicht diese Sache siegreich aus, / Befällt das Land hier, als ein Gift aus ihrer Brust / Zu Boden träufend, unerträglich grausge Pest.«12 In dem anschließenden Prozess fungiert Apollon als Verteidiger des Orest und Athene als Vorsitzende des Gerichts. Nach dem Mutterrecht ist der Mord an der Mutter, also der des Orest an Klytaimnestra, das schwerste Verbrechen, während Klytaimnestras Mord an dem Gatten und Vater, Agamemnon, weniger ins Gewicht fällt. Nach dem neuen, patriarchalischen Recht der olympischen Götter dagegen ist die Ehe heilig und der Vater die wichtigste Figur, während die Mutter, wie Apollon ausführt, nur Nährerin ist. Dass die Mutter im Zweifelsfalle ganz entbehrlich ist, verkörpert die kopfgeborene Athene. Sie schließt sich dem neuen Recht an, indem sie den entscheidenden Stimmstein für Orests Freispruch abgibt. Zugleich aber sorgt Athene dafür, dass die Erinnyen befriedet werden. Sie haben – neben den olympischen Göttern – künftig in Athen kultische Verehrung zu genießen, wenn sie im Gegenzug als die Wohlmeinenden, die Eumeniden, für die Fruchtbarkeit und das Wohlergehen der Polis sorgen. Nur durch Stimmengleichheit – und damit ehrenhaft – unterliegen die Erinnyen, eine Bedingung dafür, dass sie in die neue Ordnung des göttlichen und menschlichen Rechts eingebunden werden können. Hegel hat sich, vor allem in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Kunst, mehrfach mit dieser Erzählung auseinandergesetzt. Dabei werden drei Gesichtspunkte besonders hervorgehoben. Der erste Gesichtspunkt betrifft den Status der Rachegottheiten zwischen substantieller Sittlichkeit und Subjektivität. Die Rache des Orest an seiner Mutter für ihren an seinem Vater begangenen Mord, so heißt es in der Nachschrift zur Vorlesung 1826, erfolgte auf Geheiß Apolls (durch das Orakel zu Delphi), weshalb Orest »die Gerechtigkeit, das Recht als Rache« vollzog; es sei »ein Sittliches und ganz Menschliches« und »die Eumeniden, das Gewissen geht ihn nichts an« (GW 28,2, 732).13 Das Gewissen konvergiert aber – dies ist meines Erachtens die Pointe von Hegels Interpreta12
13
Verse 470 ff. Vgl. Hegel, Ästhetik, Bd. 1, 272: »die Eumeniden sind zugleich als allgeÜber die Fragilität der Moderne | 161
tion – mit dem Recht als Rache, das als Sittliches und Menschliches dem Handelnden nicht äußerlich ist: »Die Erinnyen sind ebensowenig äusserliche Götter, sie sind das Gewissen, das Innere, einmal äusserlich mit dieser Gestalt, das andere Mal das Gewissen als solches« (GW 28,2, 732). Werden sie als »subjektive Empfindung des erlittenen Unrechts« vorgestellt, so werde »dieß Unrecht als Macht ausgestellt und ausgesprochen […], die den treffen muß der sich die Erinnyen zugezogen hat«. (GW 28,2, 732) Offenkundig besteht hier eine Parallele zu den Ausführungen Hegels im Paragraphen 102 der Grundlinien der Philosophie des Rechts zur Unmittelbarkeit des Rechts, in der das Recht als Rache, nicht als Strafe exekutiert wird und der subjektive Wille dominiert, auch wenn er einer sub stantiellen Sittlichkeit folgt (GW 14,1, 95). Der zweite Gesichtspunkt betrifft den Kampf der alten und neuen Gottheiten im Streit der Erinnyen mit Apoll, der durch den Areopag und Athene geschlichtet wird. Dabei betont Hegel, dass die Erinnyen nur »nach unserer Vorstellung« als »furien, Haß, Böses« gedacht werden, also als bloß subjektiv; jedoch: »Bei den Griechen sind es die Wohlgesinnten, die das Recht geltend machen« (GW 28,3, 1043). Hier wird deutlich, weshalb Hegel Erinnyen und Eumeniden zumeist gleichsetzt und den Wandel der Bezeichnung, anders als in der Orestie des Aischylos, nicht mit ihrer Befriedung durch Athene verbindet. Bereits die Erinnyen als die alten Rachegöttinnen sind wohlmeinend, ευμενής. Hierzu heißt es in den Vorlesungen über die Religionsphilosophie: »Die Erinnyen sind nicht die Furien äußerlich vorgestellt, sondern es ist die eigne That des Menschen und das Bewußtseyn, was ihn plagt, peinigt, insofern er diese That als Böses in ihm weiß. Sie sind die Gerechten und eben darum die Wohlmeinenden, Eumeniden.« (GW 29,2, 146) Da sie nicht äußerlich vorgestellt werden, sondern die Unmittelbarkeit des Rechts und das Gewissen repräsentieren,14 sind die Erinnyen bzw. Eumeniden nach Hegels Auffassung keine reinen meine Mächte und nicht als die inneren Nattern seines [Orests, A.] nur subjektiven Gewissens dargestellt.« 14 »Die Erinnyen sind nicht die Furien äusserlich vorgestellt, sondern die eigene That mit ihren Folgen, weiter fortgebildet werden sie das Gewissen« (GW 29,1, 365). 162 | Realität
Naturmächte mehr, sondern haben schon die Seite des Geistigen an sich; sie unterscheiden sich von den neuen, olympischen Göttern dadurch, »daß sie die Seite des Geistigen sind als einer nur in sich seienden Macht: die Erinnyen nur die innerlich Richtenden« (GW 29,2, 138). Die Orestie zeigt demnach den »Übergang von den natürlichen zu den geistigen Göttern«, die nur noch »mit einem Anklang des Natürlichen« versehen sind (GW 29,2, 263). Auf das Recht bezogen ist dies der Übergang vom unmittelbaren Recht zum politisch bewusst gesetzten Recht, νόμος. Zeus, so Hegel, ist »der politische Gott, der Gott der Gesetze, der Herrschaft, aber der bekannten Gesetze. Da gilt das Recht nach offenen Gesetzen, nicht die Gesetze des Gewissens. – Das Gewissen hat im Staat kein Recht; – (Wenn der Mensch auf sein Gewissen sich beruft, so kann der Eine dieß Gewissen, der Andre ein andres haben, –) sondern das Gesetzliche.« (GW 29,2, 138 f.)15 – Unklar bleibt, was genau der »Anklang des Natürlichen« im Blick auf das Recht bewirkt. Und irritierend bleibt, dass die alten Gottheiten neben oder unter den neuen weiterhin im gesetzten Recht anwesend sind – wenn auch als schlafende – und in ihm weiterhin eine rechtliche Gewalt ausüben können. Der dritte Gesichtspunkt schließlich, den Hegel hervorhebt, betrifft die Versöhnung durch das Recht. »Die Gerechtigkeit ist es die zustande kommt, was der Fall sein kann ohne den Untergang der Individuen wie z. B. in den Eumeniden des Aeschylus, wo Orest von den Furien verfolgt wird, die Sache kommt vor den Areopag, hier treten die Eumeniden auf und klagen die Mörder an, der Areo pag gesteht beiden ein gleiches Recht zu, widmet den Eumeniden einen Altar, wie auch dem Orest und dieser, in welchem sittliche Mächte in Conflikt gerathen waren, wird nicht verdammt, das Resultat ist also Versöhnung der Strafe, der Rache.« (GW 28,2, 888)16 15 Ebd., 139: »Orest ist verfolgt von den Eumeniden, und wird von Athene, vom sittlichen Rechte, dem Staate, also von Göttern des strengen Rechts verfolgt und von Athene, vom sittlichen Rechte, dem Staate, freigesprochen.« Vgl. auch GW 28,3, 1043. 16 Vgl. auch GW 28,1, 507 f.: Die Aussöhnung »in den Eumeniden des Aes chylus« gehe »im und am subjecte vor[]«: »das Individuum geht auch hier nicht zu Grunde, die Eumeniden enden so, daß Apoll, die Macht der einen Seite, die auf der Seite des Fürsten steht, die Sache vor den Areopagus bringt.
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Das Recht versöhnt, indem es das Individuum erhält und zugleich das Bedürfnis nach Rache befriedet; es durchbricht den unendlichen Progress von Vergeltung und Wiedervergeltung und stabilisiert damit das Gemeinwesen. Diese Stabilisierung gelingt aber nur dann, wenn die Naturmächte, die in der neuen, geistigen Welt noch immer hausen und walten, fortdauernd besänftigt bleiben. (4) Anhand der Phänomenologie des Geistes lässt sich verfolgen, wie die Erinnyen als solche, als chtonische Gottheiten vor ihrer Transformation in die Eumeniden, im Sittlichen wieder auferstehen können – und auch, wie Hegel diese Bedrohung in der Moderne zu bannen sucht. Die Erinnyen sind, so heißt es im Abschnitt über die »Kunst-Religion«, das »untre Recht«; es »sitzt mit Zevs auf dem Throne, und genießt mit dem offenbaren Rechte und dem wissenden Gotte gleiches Ansehen«. (GW 9, 395) Der Gegensatz der göttlichen bzw. sittlichen Substanz und des Selbstbewusstseins, der die Tragödie durchzieht, versöhnt sich durch das Vergessen, »die Lethe der Unterwelt im Tode, – oder die Lethe der Oberwelt, als Freysprechung, nicht von der Schuld, […] sondern vom Verbrechen, und seine sühnende Beruhigung«. (GW 9, 396) Mit dieser Rückkehr des Gegensatzes »in den einfachen Zevs« anerkennt das Selbstbewusstsein »nur Eine höchste Macht, und diesen Zevs nur als die Macht des Staats oder des Heerdes, und im Gegensatze des Wissens nur als den Vater des zur Gestalt werdenden Wissens des Besondern, – und als den Zevs des Eydes und der Erinnye, des Allgemeinen, im Verborgnen wohnenden Innern«. (GW 9, 396) Die Erinnyen als das untere Recht sind hiermit als ein Allgemeines in das Innere des sich im Zeus repräsentierenden menschlichen Selbstbewusstseins verlegt – als Gewissen, womit im Grundsätzlichen eine moderne Struktur erreicht ist, die sich als sittliche Autonomie beschreiben ließe. Gleichwohl bleibt auch hier die Frage, welchen »Anklang des Natürlichen« dieses Innere behält. Worum es grundsätzlich geht, macht Hegel in der Phänomenologie in dem Abschnitt zur Sittlichkeit deutlich. Hier behandelt Athene die Göttinn entscheidet, und ihre Entscheidung geht dahin, daß wie Apoll geehrt werde, so sollen auch die Eumeniden geehrt werden. die Versöhnung ist diese, daß beiden Mächten gleiche Ehre gegeben werde.« 164 | Realität
Hegel im Kontext seiner Rezeption von Sophokles’ Antigone den Konflikt zweier sittlicher Mächte: des offenbaren, bekannten Gesetzes (νόμος) des Staates und des göttlichen Gesetzes der Familie, das dem νόμος als ein natürliches Sittliches entgegensteht. Es ist hier nicht der Ort, Hegels Tragödientheorie und speziell seine Interpretation der Antigone zu erörtern,17 sondern es geht allein darum, dass das gesetzte Recht einen Widersacher vorfindet, der eine natürliche Sittlichkeit repräsentiert, die zwar »ebensosehr ein Geist« sei wie alle Sittlichkeit, aber »als der bewußtlose noch innre Begriff« (GW 9, 243). Sie entspricht damit dem Status der Erinnyen, die mit dem Zeus – oder genauer: in dem Zeus – auf dem Thron sitzen. Beide sittlichen Mächte – νόμος und göttliches Recht – können in Konflikt geraten (wie in der Antigone), finden aber in einer umfassenden Gerechtigkeit ihre Versöhnung. Wie der νόμος »das aus dem Gleichgewichte tretende Fürsichseyn, die Selbständigkeit der Stände und in Individuen in das Allgemeine zurückbringt«, so gibt es auch eine Gerechtigkeit, »welche das über den Einzelnen übermächtig werdende Allgemeine zum Gleichgewichte zurückbringt« (GW 9, 250). Es ist »der einfache Geist desjenigen, der Unrecht erlitten, – nicht zersetzt in ihn, der es erlitten, und ein jenseitiges Wesen; er selbst ist die unterirrdische Macht, und es ist seine Erinnye, welche die Rache betreibt« (GW 9, 250). An dieser Stelle nun gibt Hegel dem Gedankengang eine entscheidende Wendung. Wenn das Individuum zum Ding herabgewürdigt wird, dann sucht es sein Recht zu erzwingen, indem es zur Erinnye wird. Sein Gegner ist aber nach Hegel nicht das Allgemeine qua Staat und Recht, sondern es ist – die Natur, das abstrakte Sein selbst: »Das Unrecht, welches im Reiche der Sittlichkeit dem Einzelnen zugefügt werden kann, ist nur dieses, daß ihm rein etwas geschieht. Die Macht, welche diß Unrecht an dem Bewußtseyn verübt, es zu einem reinen Dinge zu machen, ist die Natur, es ist die Allgemein17 Vgl. Michael Schulte, Die »Tragödie im Sittlichen«. Zur Dramentheorie Hegels, München 1992; Christoph Menke, Tragödie im Sittlichen. Gerechtigkeit und Freiheit nach Hegel, Frankfurt / M 1996; Peter Furth, Antigone oder zur tragischen Vorgeschichte der bürgerlichen Gesellschaft, in: ders., Troja hört nicht auf zu brennen. Aufsätze aus den Jahren 1981 bis 2004, Berlin 2006, 81–107.
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heit nicht des Gemeinwesens, sondern die abstracte des Seyns; und die Einzelnheit wendet sich in der Auflösung des erlittenen Unrechts nicht gegen jenes, denn von ihm hat es nicht gelitten, sondern gegen dieses.« (GW 9, 250) Hegels Ausführungen sind so zu verstehen, dass die Allgemeinheit des Gemeinwesens, sofern sie tatsächlich eine vernünftige Allgemeinheit darstellt, gerade darin besteht, dass Individuum und Gemeinwesen sich nach Maßgabe des unter den gegebenen historischen Bedingungen real Möglichen nicht im Konflikt miteinander befinden. Es wäre dann die vom Geist noch nicht durchdrungene und bearbeitete Naturhaftigkeit des gesellschaftlichen und politischen Lebensprozesses, gegen die sich die Empörung richtet. Sie wird dann produktiv in der geistigen Bildung, durch welche sich der Geist in der Realität des Naturverhältnisses des objektiven Geistes wiederfindet und so seine Entfremdung aufhebt. Den Widerstreit der sittlichen Mächte hebt Hegel in den Rechtszustand und diesen in den sich entfremdenden Geist und die Bildung auf. Dieser Gang ist hier nicht im Einzelnen nachzuzeichnen, sondern es ist nur festzuhalten, dass mit der Entfremdung und Bildung die Welt der Moderne erreicht ist. Diese ist dadurch charakterisiert, dass der Geist hier in ein Selbstverhältnis getreten ist und darum auch weiß: »Der Geist dieser Welt ist das von einem Selbstbewußtseyn durchdrungne geistige Wesen […]. Aber das Daseyn dieser Welt, so wie die Wirklichkeit des Selbstbewußtseyns beruht auf der Bewegung, dass dieses seiner Persönlichkeit sich entäussert, hiedurch seine Welt hervorbringt, und sich gegen sie als eine Fremde so verhält, daß es sich ihrer nunmehr zu bemächtigen hat.« (GW 9, 267) »Entfremdung« ist hier nicht im sozialkritischen Sinne des frühen Marx zu verstehen, sondern ist konstitutiv für die Struktur des Geistes und des Selbstbewusstseins überhaupt bei Hegel, das nur im reflexiven Verhältnis zu Anderem (dem Anderen seiner selbst) sich zu erfassen vermag.18 Die Bildung der geistigen Welt ist ein gegenüber den Individuen objektiver Prozess, und diese Welt haben die Individuen sich theoretisch und praktisch anzueignen. Nur so können sie aus derjenigen Fremdheit heraustreten, in der sie einem Sein – der erst anzueignenden Welt – ausgeliefert und 18
Vgl. Jaeschke, Hegel-Handbuch, 190.
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damit zum Dinge gemacht sind. Die »Bildung« ist Bemächtigung und damit auch Umformung des gegebenen Seins; sie ist bereits der Gerechtigkeit der Erinnyen im Widerstreit der sittlichen Mächte eingeschrieben, denn das Unrecht, welches das abstrakte Sein an dem Individuum übt, wird so aufgelöst, »daß was geschehen ist, vielmehr ein Werk wird, damit das Seyn, das Letzte, auch ein gewolltes und hiemit erfreulich sey«. (GW 9, 250) Die Aneignung der gegebenen Welt durch das Selbstbewusstsein »ist wesentlich das Urtheil« (GW 9, 271), d. h. nicht einfach die Affirmation des Vorgefundenen, sondern »die Legitimität von Ordnungen« als des geltenden Allgemeinen »wird in der Welt der Bildung gestiftet«.19 Das ist so zu verstehen, dass die sittliche geistige Welt (später der objektive Geist) als Allgemeines erst in der und durch die Bildung konstituiert wird. Indessen – und darauf hat Birgit Sandkaulen nachdrücklich hingewiesen – bleibt das Bewusstsein auch in der Bildung zerrissen, indem die Identität des und mit dem Allgemeinen im fortgesetzten Urteilen notwendig »in den Taumel ihrer Auflösung gerät«.20 Dies mache auch Hegels Absicht einer Versöhnung der modernen Welt mit sich auf dem Wege der Bildung problematisch. Vor allem aber trete im Folgenden, vor allem in den Grundlinien der Philosophie des Rechts, ein blinder Fleck zutage, denn Bildung werde spätestens dort einseitig als »Bewegung hin zum Allgemeinen« thematisch, während »die gegenläufige Bewegung […], in der das Allgemeine selbst auf den Prüfstand gerät«, ausgeblendet werde.21 Dies war, wie oben gezeigt, bereits dort der Fall, wo diese gegenläufige Bewegung im Widerstreit der sittlichen Mächte sich gegen die Natur, das abstrakte Sein, und nicht gegen das geltende sittliche Allgemeine richtete. Auch der Gegensatz des allgemeinen und einzelnen Willens in der absoluten Freiheit wird von Hegel entsprechend modelliert. Indem das einzelne Selbst sich als absolut frei versteht und als das Allgemeine setzt, muss es die anderen Einzelnen von dieser Allgemeinheit 19 Birgit Sandkaulen, Bildungsprozesse (in) der Moderne, in: Schleiermacher / Hegel. 250. Geburtstag Schleiermachers / 200 Jahre Hegel in Berlin, hg. v. Andreas Arndt und Tobias Rosefeldt, Berlin 2020, 229–242; hier: 239. 20 Ebd. 21 Ebd., 341.
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und damit das Sein für Anderes um der absoluten Freiheit willen ausschließen: »Kein positives Werk noch That kann also die allgemeine Freyheit hervorbringen; es bleibt ihr nur das negative Thun; sie ist nur die Furie des Verschwindens.« (GW 9, 319) In dieser puren Negativität des Ausschließens und Vernichtens wird auf radikale Weise jede Allgemeinheit schon im Ansatz verfehlt, aber sie ist kein kritisches Urteilen über eine gegebene Ordnung vom Standpunkt des Individuums aus. Die »Furie des Verschwindens« stellt gleichwohl eine Bedrohung des Gemeinwesens von »unten« dar, die nicht einfach vorübergeht, sondern beständig in Schach gehalten werden muss. Dies geschieht unter anderem durch den Krieg, der die Selbständigkeit der Individuen »von Zeit zu Zeit« erschüttert und verhindert, dass sie sich in ihrem Fürsichsein gegenüber dem Allgemeinen isolieren und festsetzen, indem sie mit dem Tod konfrontiert werden; hier sind die unterirdischen Mächte in den Dienst des Gemeinwesens gestellt: »Das negative Wesen zeigt sich als die eigentliche Macht des Gemeinwesens und die Krafft seiner Selbsterhaltung; dieses hat also die Wahrheit und Bekräfftigung seiner Macht an dem Wesen des göttlichen Gesetzes und dem unterirdischen Reiche.« (GW 9, 246)22 Es sind die gezähmten Erinnyen, die Wohlmeinenden, welche hier das Allgemeine stabilisieren, indem sie das alte Werk der Rächerinnen vollbringen, den Tod, aber ohne Rachegelüste, leidenschaftslos und um des Gemeinwesens willen. Das Allgemeine trägt damit den Sieg »über das sich empörende Princip der Einzelnheit« davon, aber es bleibt, so betont Hegel, ein »Kampf« des bewussten Geistes der offenbaren Sittlichkeit des Staates mit dem bewusstlosen Geist (GW 9, 257). Dieser bewusstlose Geist – das niedere Recht, die unterirdische, noch naturhafte Macht der Eumeniden – »ist die andere wesentliche und darum von jener unzerstörte, und nur beleidigte Macht. Er hat aber gegen das gewalthabende, am Tage liegende Gesetz, seine Hülffe […] nur an dem blutlosen Schatten« und unterliegt deshalb (GW 9, 257). Als unzerstörte Macht aber wird er von dem offenbaren Geist in den Dienst genommen – und nur, wenn und solange dies gelingt, 22 In den Grundlinien der Philosophie des Rechts wird diese Funktion des Krieges ebenso hervorgehoben; vgl. GW 14,1, 165 f.
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kann er seine Macht ausüben: »Der offenbare Geist hat die Wurzel seiner Kraft in der Unterwelt; die ihrer selbst sichere und sich versichernde Gewißheit des Volkes hat die Wahrheit ihres Alle in Eins bindenden Eydes, nur in der bewußtlosen und stummen Substanz Aller, in den Wässern der Vergessenheit.« (GW 9, 258) Was dann geschieht, wenn diese stillschweigende Übereinstimmung zerbricht, die Hegel für die Polis-Sittlichkeit zugrunde legt, umgeht Hegel, obwohl gerade in der Zerrissenheit der Moderne diese Übereinstimmung auf dem Spiel steht. Die angestrebte Versöhnung des modernen Selbstbewusstseins mit sich und seiner Welt wird schon durch Hegels grundlegende Einsicht in Frage gestellt, dass die Moderne unwiderruflich und bleibend von einer Differenz geprägt ist, die sich nicht aufheben, sondern nur auf andere Weise ausbalancieren und vermitteln lässt – nämlich von der Differenz von bürgerlicher Gesellschaft und Staat. Hierzu heißt es im Zusatz zum Paragraphen 182 der Grundlinien der Philosophie des Rechts: »Die bürgerliche Gesellschaft ist die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt, wenn auch die Ausbildung derselben später als die des Staates erfolgt; denn als Differenz setzt sie den Staat voraus, den sie als Selbständiges vor sich haben muß, um zu bestehen.«23 Im »System der Bedürfnisse« kehrt auf gewisse Weise das Schattenreich der Unterwelt inmitten der offenbaren modernen Sittlichkeit zurück; es ist nach der Formulierung im ersten Jenaer Systementwurf von 1803/04 ein »ungeheures System von Gemeinschafftlichkeit, und gegenseitiger Abhängigkeit; ein sich in sich bewegendes Leben des todten, das in seiner Bewegung blind und elementarisch sich hin und herbewegt, und als ein wildes Thier einer beständigen strengen Beherrschung und Bezähmung bedarf«. (GW 6, 324) Hegel selbst war sich bewusst, dass diese aus dem politischen Gemeinwesen herausgefallene Sphäre ein Konfliktpotential birgt, welches imstande ist, die vernünftige Grundlage des Gemeinwesens, das Recht, zu untergraben. Hierfür steht sein Begriff des
Grundlinien der Philosophie des Rechts oder Naturrecht und Staatswissenschaft im Grundrisse, nach der Ausgabe von Eduard Gans hg. v. Hermann Klenner, Berlin 1981, 220. 23 Hegel,
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»Pöbels«, der den Verlust rechtlicher Gesinnung bezeichnet.24 Dieser tritt, wie gezeigt, 25 beim armen Pöbel dadurch ein, dass er um sein Recht gebracht wird, beim reichen Pöbel dadurch, dass er sich über das Recht hinwegsetzt. Die Empörung, die dadurch hervorgerufen wird, äußert sich zumeist darin, dass die beleidigten, zum Dinge gemachten Individuen als ihre Erinnyen bewusstlos ihre Rache betreiben. Wenn der rechtliche Konsens zerbricht, wird das gesellschaftlich verweigerte Recht auf Besonderheit als Faustrecht exekutiert. Diese Erinnyen suchen das Innere unserer modernen Gesellschaften und die Innenwelt der globalisierten Welt unter vielerlei Gestalten heim.26 Nur ein Recht, in dem sie auch wirklich zu ihrem Recht kämen und das sie anerkennen könnten, würde sie versöhnen und wiederum in Eumeniden verwandeln.
24 Diesen Begriff hat Frank Ruda in einer bahnbrechenden Studie zuerst einer eingehenden Untersuchung unterzogen; Frank Ruda, Hegels Pöbel. Eine Untersuchung der »Grundlinien der Philosophie des Rechts«, Konstanz 2011. 25 Vgl. oben Anerkennung. Zur Tragweite eines Begriffs. 26 Es sind aber nicht nur die Individuen, die sich gegen die Übermacht eines unvernünftigen Allgemeinen empören, sondern ebenso ist es die Natur überhaupt, die bei Hegel noch für eine unvernünftige Allgemeinheit steht.
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»Ein wildes Tier, das einer beständigen strengen Beherrschung und Bezähmung bedarf.« Ökonomie und Staat nach Hegel (1) Zu den folgenreichsten Dogmen des heute vorherrschenden Wirtschaftsdenkens gehört, dass der Staat sich aus der Wirtschaft möglichst herauszuhalten und sie auf keinen Fall zu regulieren habe, denn sie reguliere sich selbst erfolgreich über die Märkte. Vordenker dieser Richtung, wie Friedrich August von Hayek, sind daher sogar von dem Leninschen Dogma des »Absterbens des Staates« fasziniert – freilich ohne die Erwartung, dass darauf der Kommunismus folge. Tatsächlich haben die Auffassungen Hayeks und Lenins mehr miteinander gemein, als es auf den ersten Blick der Fall zu sein scheint. Der Neoliberalismus vertraut im Grunde noch immer Bernard de Mandevilles Fable of the Bees (zuerst 1714), wonach private Laster – eigennütziges Verhalten – öffentliche Vorteile zur Folge hätten (Private Vices, Public Benefits, so der Untertitel). Von dieser Erzählung war übrigens auch Hayek fasziniert und er berief sich auf Mandeville als seinen Bruder im Geiste.1 Wie dieser geht Hayek von der eher schlichten Annahme aus, dass Egoismus dem Gemeinwohl nicht widerspreche, sondern es im Gegenteil befördere. Gestützt wird dies auf einen unbedingten Glauben an das, was Adam Smith später die »unsichtbare Hand« nannte, ein Glaube, der letztlich nicht rational begründet ist und an dem sich daher auch unbekümmert gegen die Empirie festhalten lässt. Mehr noch: Wird auf der einen Seite jeder Eingriff des Staates als Verletzung individueller Freiheitsrechte gebrandmarkt, so tut sich auf der anderen Seite eine Schicksalsgläubigkeit auf, welche die gesellschaftlichen Individuen als Akteure einer verborgenen Macht ansieht. Nur, dass dieser Fatalismus nicht, wie in der Antike, tragisch 1 Friedrich Hayek, Dr. Bernard Mandeville. »Die Bienen-Fabel«. Eine moderne Würdigung, Düsseldorf 1990.
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grundiert ist, sondern ein goldenes Zeitalter verheißt. Ob dieses nun die Versprechungen des Kapitalismus oder des Kommunismus realisieren soll, ist strukturell gleichgültig. In philosophischen Kategorien ausgedrückt: Beide Auffassungen kommen darin überein, dass Einzelnes bzw. Individuelles einerseits und Allgemeines andererseits unmittelbar konvergieren. Es handelt sich letztlich um einen sozialen Romantizismus. Hegel hat sich mit solchen Auffassungen seiner Zeitgenossen vielfach kritisch auseinandergesetzt – auch selbstkritisch, denn er verfolgte in jüngeren Jahren lange den Gedanken, die von ihm scharfsichtig diagnostizierte Zerrissenheit der Moderne durch Anknüpfung an das antike griechische Polis-Ideal zu überwinden. Was ihn davon abkommen ließ, war die Einsicht, dass die Moderne unwiderruflich und bleibend von einer Differenz geprägt ist, die sich nicht aufheben, sondern nur auf andere Weise ausbalancieren und vermitteln lässt – nämlich von der Differenz von bürgerlicher Gesellschaft und Staat. Es handelt sich um eine Negativität, die – anders als in der Wissenschaft der Logik – prinzipiell nicht zu überwinden ist. Diese Einsicht ist, so scheint mir, angesichts der eingangs skizzierten Diskussionslage von besonderer Aktualität. In dem (von Hegels Schüler Eduard Gans auf der Grundlage von Hörernachschriften formulierten) »Zusatz« zum Paragraphen 182 der Grundlinien der Philosophie des Rechts heißt es: »Die bürgerliche Gesellschaft ist die Differenz, welche zwischen die Familie und den Staat tritt, wenn auch die Ausbildung derselben später als die des Staates erfolgt; denn als Differenz setzt sie den Staat voraus, den sie als Selbständiges vor sich haben muß, um zu bestehen.«2 Hieraus ergibt sich, dass die bürgerliche Gesellschaft als Differenz immer nur im Verhältnis zur Familie und zum Staat zu bestimmen ist. Hinsichtlich der Familie ist das unproblematisch. Sie stellt in Hegels Sicht eine substanzielle sittliche Gemeinschaft dar, in der die Individuen sich als Momente dieses Allgemeinen verstehen – ob diese Sicht heute noch zutrifft oder jemals zutraf, kann hier dahingestellt bleiben. Im Kontrast dazu jedenfalls ist die bürgerliche Gesellschaft nicht durch ein Allgemeines, wie die Familie, bestimmt, sondern durch die besonderen Zwecke der Individuen. 2 Hegel,
Grundlinien, 220.
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Schwieriger ist es mit dem Staat – denn welcher Staat ist überhaupt gemeint? Und was heißt es, dass die bürgerliche Gesellschaft ihn für ihr Bestehen voraussetzen muss? Deutlich ist nur das grundlegende Verhältnis. Die Differenz besagt, dass weder der Staat die bürgerliche Gesellschaft aufheben noch die bürgerliche Gesellschaft den Staat vereinnahmen darf. Ersteres scheint dem liberalen Credo Recht zu geben: Der Staat kann diese Differenz nicht einfach überspringen, sondern hat sie anzuerkennen. Umgekehrt aber hat der Staat als politisches Gemeinwesen sich auch aller Versuche zu erwehren, durch die bürgerliche Gesellschaft vereinnahmt zu werden. Das Verhältnis ist jedoch nicht symmetrisch: Die bürgerliche Gesellschaft bedarf des Staates, um bestehen zu können. Das spricht nun gerade nicht dafür, dass der Staat sich gegenüber der Ökonomie ein Höchstmaß an Zurückhaltung aufzuerlegen habe. Offenbar gilt die Selbstregulation der bürgerlichen Gesellschaft nur innerhalb enger Grenzen und beschreibt zudem, wie noch zu zeigen ist, einen »fehlerhaften Kreislauf«.3 Hegel nimmt demnach eine Position ein, die sich dem schematischen Gegensatz von liberal und etatistisch entzieht. Hegel will das Freiheitsrecht der Individuen auf die Verfolgung ihrer besonderen Interessen in einer eigenen, gegenüber dem Staat selbständigen Sphäre – der bürgerlichen Gesellschaft – zur Geltung bringen, zugleich aber diese Sphäre auch durch den Staat binden, ohne sie zu vereinnahmen. Hegels »dialektische« Position bedarf einer näheren Erläuterung. Zunächst soll geklärt werden, was es heißt, dass die bürgerliche Gesellschaft in Differenz zum Staat tritt (2). Sodann ist zu fragen, inwiefern die Ökonomie als System anzusehen ist und dabei 3 Der Ausdruck stammt von dem Genfer Historiker und Ökonomen Jean Charles Léonard Simonde de Sismondi (1773–1842), der, ursprünglich ein Anhänger Adam Smith’, mit seinen 1819 erschienenen Nouveaux principes d’économie politique die Krisen als notwendige Folge des Kapitalismus ansah. Vgl. dazu Ernst Erdös, Hegels politische Ökonomie im Verhältnis zu Sismondi, in: Hegel-Jahrbuch 1986, Bochum 1988, 75–86. – Zuletzt hat Ludwig Siep auf Parallelen in der Ökonomiekritik Hegels und Sismondis aufmerksam gemacht, aber zugleich betont, dass es keinen Beleg für eine Rezeption der ökonomischen Schriften Sismondis durch Hegel gibt (Siep, Der Staat als irdischer Gott. Genese und Relevanz einer Hegelschen Idee, Tübingen 2015, 91).
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einen »fehlerhaften Kreislauf« beschreibt (3). Und schließlich ist zu bestimmen, welche Position der Staat im Blick auf die Widersprüche der bürgerlichen Ökonomie einnimmt (4). (2) »Das Bedürfniß und die Arbeit […] bildet so für sich in einem grossen Volk ein ungeheures System von Gemeinschafftlichkeit, und gegenseitiger Abhängigkeit; ein sich in sich bewegendes Leben des todten, das in seiner Bewegung blind und elementarisch sich hin und herbewegt, und als ein wildes Thier einer beständigen strengen Beherrschung und Bezähmung bedarf.« (GW 6, 234) Hegels Ausführungen im ersten Jenaer Systementwurf von 1803/04 legen nahe, dass mit der bürgerlichen Gesellschaft und ihrem Kernbereich, dem »System der Bedürfnisse«, wie er die ökonomische Sphäre auch nennen wird, kein Staat zu machen sei. Offenkundig bezieht er sich auf Aristoteles’ Politik, deren Grundvoraussetzung – der Mensch sei von Natur aus ein geselliges bzw. politisches Lebewesen – er teilt und in seiner Kritik des fiktiven Naturzustandes in den Naturrechtslehren zur Geltung bringt. Bei Aristoteles heißt es: »Wer aber nicht in Gemeinschaft leben kann oder in seiner Autar kie ihrer nicht bedarf, der ist kein Teil des Staates, sondern ein wildes Tier oder Gott [ὥστε ἢ θηρίον ἢ θεός].«4 Bei Hegel freilich ist das wilde Tier nicht ein einzelner Mensch, der aus der politischen Gemeinschaft herausfällt, sondern ein »ungeheures System von Gemeinschafftlichkeit« – eben die bürgerliche Gesellschaft. Und Hegels Formulierung legt nahe, dass sich das nicht rückgängig machen lässt: Was einer strengen Beherrschung und Zähmung bedarf, widersetzt sich jeder Integration. Dass die bürgerliche Gesellschaft in der Moderne aus dem politischen Gemeinwesen herausfällt, ist für Hegel Resultat der Weltgeschichte, die er als Geschichte der Freiheit – genauer: als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit – versteht. »Das Recht der Besonderheit des Subjects, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjectiven Freyheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Alterthums und der modernen Zeit.« (GW 14,1, 110) Dieses »Recht sich nach allen Seiten zu entwickeln und zu ergehen« (GW 14,1, 160) steht für Hegel nicht in einem 4
I, 2, 1253a 1.
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prinzipiellen Widerspruch zum Allgemeinen der Gesellschaft und des Staates, denn wahrhaft vernünftige Allgemeinheit ist für ihn in sich konkret. Das bedeutet, sie ist nicht ein herrschendes Allgemeines an der Spitze einer Hierarchie, in der das Besondere und Einzelne ihr untergeordnet sind, sondern das Allgemeine ist das Ganze, welches nur durch die und in den Relationen der einzelnen und besonderen Momente existiert. Insofern fallen für Hegel die logische Idee als der Begriff der in sich konkreten Allgemeinheit und der Begriff der Freiheit zusammen: Die in sich konkrete Allgemeinheit der Idee ist ein nicht hierarchisch gegliedertes, in sich unterschiedenes Ganzes. Das Recht der Besonderheit ist demnach unverzichtbares Moment der Freiheit. Aber anders als in der logischen Idee, die dem Reich des reinen Denkens angehört, gehen Einzelnes, Besonderes und Allgemeines in der Realität des objektiven Geistes nicht bruchlos inein ander auf. Besonderheit bedeutet hier auch »zufällige[] Willkühr und subjective[s] Belieben« der Individuen, die daher miteinander in Konflikt geraten (GW 14,1, 161). Der Kampf aller gegen alle findet hier nicht in einem vorgesellschaftlichen Naturzustand, sondern in einem entwickelten gesellschaftlichen Zustand der Moderne statt. Das heißt: Kampf und Widerspruch entstehen gerade dadurch, dass die Individualisierung als das Recht der Besonderheit die Grundlagen einer vormodernen Gesellschaft auflöst und eine andere Form der Gesellschaftlichkeit konstituiert.5 Diese stellt sich dar als ein »System allseitiger Abhängigkeit, daß die Subsistenz und das Wohl des Einzelnen und sein rechtliches Daseyn in die Subsistenz, das Wohl und Recht aller verflochten […]. Man kann dieß System zunächst als den äußeren Staat, – Noth- und Verstandes-Staat ansehen.« (GW 14,1, 160) Hegel knüpft hier wohl an Schillers Unterscheidung von Notbzw. Naturstaat und Vernunftstaat an. 6 Für Hegel hat die »Not« mit der Notwendigkeit der Befriedigung von Naturbedürfnissen 5 Vgl. GW 14,1, 161: »Die selbständige Entwicklung der Besonderheit […] ist das Moment, welches sich in den alten Staaten als das hereinbrechende Sittenverderben und der letzte Grund des Untergangs derselben zeigt.« 6 Friedrich Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, in: Sämtliche Werke, Bd. 5, München 1993, 574–576.
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zu tun, also mit der Reproduktion der Individuen im gesellschaftlichen Naturverhältnis.7 In dem daraus hervorgehenden »System der Bedürfnisse« sind die Individuen zwar miteinander verflochten, aber sie verfolgen einzig ihre subjektiven Bedürfnisse. Die Allgemeinheit macht sich gewissermaßen nur hinter dem Rücken der Akteure geltend. Das »System der Bedürfnisse« stellt sich, da Individualität und Allgemeinheit nur äußerlich miteinander vermittelt sind, auch nicht als ein vernünftiges System dar, sondern als ein Verstandessystem. Indem eine »Allgemeinheit sich geltend macht«, gebe es zwar ein »Scheinen der Vernünftigkeit in diese Sphäre«, aber in dieser Sphäre selbst regiere der Verstand (GW 14,1, 165). 8 Vernünftig ist diese Wirklichkeit des Systems der Bedürfnisse nur, sofern sich die Allgemeinheit hier überhaupt geltend macht; in sich selbst bringt sie es aber nur zu einem Ganzen, in dem die besonderen Individuen und ihre Zwecke einander äußerlich bleiben und nicht in ihren Motiven und Handlungen selbst von vornherein mit dem Allgemeinen vermittelt sind. Es ist der Zustand, den Karl Marx später als eine gegensätzliche Form bezeichnen wird, weil die gesellschaftliche Produktion von Privateigentümern unter dem Gesichtspunkt der privaten Gewinnmaximierung vollzogen wird. Auch Hegel glaubt nicht daran, dass die privaten Laster (die Besonderheiten als bloß subjektive Bedürfnisse) sich automatisch als Vorteile für die Allgemeinheit ausmünzen werden, sondern sieht hier eine tiefe innere Widersprüchlichkeit, die aus der bürgerlichen Gesellschaft selbst hervorgeht und gegen die er kein Mittel weiß. Andererseits ist, wie gesagt, das Recht der Besonderheit für ihn ein notwendiges Moment vernünftiger Allgemeinheit auch dann, wenn die Besonderheit im endlichen, objektiven Geist – anders als in der logischen Idee – nicht unmittelbar mit der Allgemeinheit zusammengeht. Dieser Unterschied zur logischen Idee bedingt 7 Vgl. oben »Das Wesen des Geistes ist …, daß er … als Sieger über die Natur zu sich selbst kommt«. 8 GW 14,1, 165, § 189: Die »Staats-Oekonomie« sei »eine der Wissenschaften, die in neuerer Zeit als ihrem Boden entstanden ist. Ihre Entwickelung zeigt das Interessante, wie der Gedanke (s. Smith, Say, Ricardo) aus der unendlichen Menge von Einzelnheiten, die zunächst vor ihm liegen, die einfachen Prinzipien der Sache, den in ihr wirksamen und sie regierenden Verstand herausfindet.«
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aber, dass das Verstandessystem nicht aus sich selbst heraus zur Vernunft gebracht werden kann. Es ist aus Vernunftgründen unverzichtbar, bleibt aber widerständig gegen die Vernunft und ihr äußerlich. Die Vernunft tritt der bürgerlichen Gesellschaft daher als Vernunftstaat entgegen. (3) Es ist oft bemerkt worden, dass Hegel die Bewegung der bürgerlichen Gesellschaft aufgrund der genannten Voraussetzungen als widersprüchlich beschreibt, eine Widersprüchlichkeit, die nicht einfach abzustellen ist, sondern ihrem immanenten Bewegungsgesetz als Verstandessystem entspringt. »Wenn die bürgerliche Gesellschaft sich in ungehinderter Wirksamkeit befindet« vermehre sich »die Anhäufung der Reichthümer […] auf der einen Seite, wie auf der andern Seite die Vereinzelung und Beschränktheit der besondern Arbeit und damit die Abhängigkeit und Noth der an diese Arbeit gebundenen Classe, womit die Unfähigkeit der Empfindung und des Genusses der weitern Freyheiten und besonders der geistigen Vortheile der bürgerlichen Gesellschaft zusammenhängt.« (GW 14,1, 193) Die sich daraus ergebenden Folgen lassen sich exemplarisch an Hegels Begriff des Pöbels aufzeigen, wie er bereits dargelegt wurde.9 Der Pöbel hat in der Armut seine materielle Grundlage, ist mit ihr aber nicht identisch. Zwar trifft es generell zu, dass die Armen auch ihrer Rechte beraubt werden, jedoch werden sie zum Pöbel erst dann, wenn daraus eine »innere Empörung« gegen das Recht entsteht, das als Unrecht empfunden wird, und die Betroffenen sich als outlaws sehen, als Rechtlose, für die daher das Recht keine Bedeutung mehr hat. Damit vollzieht sich ein weiterer Sturz: Der arme Pöbel fällt nicht nur aus den Möglichkeiten und Freiheiten der bürgerlichen Gesellschaft heraus, sondern auch aus dem politischen Gemeinwesen, dessen Grundlage das Recht ist. Eine solche Aufkündigung der rechtlichen Grundlagen des gesellschaftlichen und politischen Lebens vollzieht sich nach Hegel aber auch am anderen Ende des Gegensatzes von Armut und Reichtum. Dass der Reichtum nicht unbedingt auf eigener Arbeit beruht, ist H egel bewusst, denn die »Erzeugung des Pöbels« führe »zugleich die 9
Vgl. die beiden vorhergehenden Kapitel. Ökonomie und Staat nach Hegel | 177
größere Leichtigkeit, unverhältnißmäßige Reichthümer in wenige Hände zu concentriren mit sich« (GW 14,1, 194). Der Reichtum ist die Macht, die auf der Ohnmacht der Armut beruht. Wie die Rechtlosigkeit der Armut, so verführt aber auch die Macht dazu, das Recht zu ignorieren; damit spitzt sich das Drama zu. Auch der »Reichtum« verabschiedet sich von dem politischen Gemeinwesen, soweit es seinen Interessen im Wege steht. Die bürgerliche Gesellschaft bedroht mit dieser Entwicklung die rechtlichen Grundlagen von Gesellschaft und Politik und damit ein vernünftiges Staatswesen. Überholt ist diese Diagnose nicht, denn wenn auch zumindest in den entwickelten Industrieländern die notwendigsten Überlebensbedürfnisse mehr schlecht als recht gesichert sind, ist Armut doch keine absolute, sondern eine historisch variable Kategorie, die auch in Bezug auf die wachsende Schere in der Verteilung der Einkommen und Vermögen zu bestimmen ist. Das Gefühl der Rechtlosigkeit und mit ihm der Staats- und Politikverdrossenheit ist entsprechend weit verbreitet. Gleichwohl bleibt diese Empörung, die einen inneren Zerfall des Gemeinwesens anzeigt, zumeist rein negativ. Der Einzelne wird, wie Hegel in der Phänomenologie des Geistes schrieb, wenn er entrechtet und »rein zum Dinge« gemacht wird, eine »unterirdische Macht, und es ist seine Erynnie, welche die Rache betreibt« (GW 9, 250). Wer über mangelnden Respekt, scheinbar unmotivierte Gewalt und anarchische Ausbrüche sich beklagt, könnte durchaus mit Hegel auf die Suche nach den Ursachen gehen. Auch an der zunehmenden Existenz eines reichen Pöbels (im Hegelschen Sinne) dürfte kaum zu zweifeln sein. Mehr noch: Es ließe sich die These vertreten, dass heute der reiche Pöbel nicht nur die ökonomische Macht in den Händen hält, sondern sich weitgehend auch des politischen Gemeinwesens bemächtigt hat. Damit wäre das eingetreten, wovor Hegel bereits 1802 in dem sogenannten System der Sittlichkeit gewarnt hatte. Es dürfe, so heißt es dort, der »Besitz« als Element der bürgerlichen Gesellschaft nicht mit der Regierung vermischt werden (GW 5, 361). Auch in den Grundlinien der Philosophie des Rechts schreibt Hegel in diesem Sinne, dass der Staat auf keinen Fall »mit der bürgerlichen Gesellschaft verwechselt« werden dürfe (GW 14,1, 201).
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(4) Es muss betont werden, dass Hegel die Konvulsionen der bürgerlichen Gesellschaft als eines »wilden Thiers«, welche, so seine Befürchtung, zum Zerbrechen der Grundlagen eines vernünftigen Staates führen können, nicht für zufällig hält, sondern sie als der Natur der bürgerlichen Gesellschaft immanent ansieht: »Es kommt […] zum Vorschein, daß bey dem Uebermaße des Reichthums, die bürgerliche Gesellschaft nicht reich genug ist, […] dem Uebermaße der Armuth und der Erzeugung des Pöbels zu steuern.« (GW 14,1, 194) Warum das aber so ist, kann Hegel nicht sagen. Die vom ihm zitierten Vertreter der »Staats-Oekonomie« – Smith, Say und Ricardo – geben hierüber keinen Aufschluss, denn sie haben im Gegenteil eine harmonisierende Sicht auf die bürgerliche Gesellschaft.10 Hegel beschreibt Phänomene, für die er keine Erklärung hat, mit einem enormen Gespür für ihre Tragweite. Entsprechend weiß Hegel, trotz der Bedrohungslage für den Vernunftstaat, die sich aus den genannten Widersprüchen ergibt, auch keine Abhilfe, schließt aber ausdrücklich eine Reihe von Maßnahmen aus. Die Ungleichheit durch Gleichheit in der Verteilung des Reichtums zu beseitigen, widerspricht für ihn dem Grundprinzip der bürgerlichen Gesellschaft, dem Recht der Besonderheit, welches Ausdruck individueller Freiheit ist: »Der Staat muß das Moment der Ungleichheit respectiren, weil es ein Moment der Willkühr in der Zufälligkeit und der Freyheit des Individuums ist.« (GW 26,1, 112 f.)11 Auch die Unterhaltung der Armen durch öffentliche Einrichtungen – finanziert eventuell durch eine direkte Belastung der »reichern Klasse« (GW 14,1, 170) – ist für Hegel keine Lösung, denn dann wäre die Subsistenz nicht mehr durch Arbeit vermittelt. Interessanterweise lehnt Hegel auch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen durch den Staat ab, ein Gedanke, der erst 1848 in den Französischen Nationalateliers realisiert wurde, deren Aufhebung dann zur Junirevolution führte. Auch Marx hatte derlei Maßnahmen übrigens später mit dem Hinweis darauf abgelehnt, dass damit die Grundlage des Übels, das System der Lohnarbeit,
10
Vgl. GW 14,1, 165. – Die Vorlesungsnachschriften geben hier auch keine weiteren Hinweise. 11 Vgl. auch GW 14,1, 170. Ökonomie und Staat nach Hegel | 179
nicht angetastet werde.12 Hegel sieht in solcher Arbeitsbeschaffung ebenfalls nur eine Perpetuierung des bestehenden Übels, aber keine Lösung; es »würde die Menge der Productionen vermehrt, in deren Ueberfluß und dem Mangel der verhältnißmäigen selbst productiven Consumenten, gerade das Uebel bestehet« (GW 14,1, 194). Hegels Realismus hält ihn davon ab, die Widersprüche zu vertuschen oder kleinzureden. Seine »Lösung« ist eher ein Appell an Ehre und Gesinnung – gerichtet an den armen Pöbel, dessen Empörung nicht das Recht infrage stellen darf, und an den reichen Pöbel, der sich auf seine Verpflichtungen gegenüber der Allgemeinheit besinnen soll. Die allseitige Abhängigkeit innerhalb des Systems der Bedürfnisse könne, so hofft er, zu der Einsicht verhelfen, dass eine substanzielle Sittlichkeit, in der die Individuen füreinander einstehen, nach dem Vorbild der Familie innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft und aus ihr selbst heraus zu realisieren sei. Hierzu bietet er die Organisation in Ständen, die Polizei und schließlich die Korporationen als Interessenvertretungen der Wirtschaft auf: »In der Corporation verliert die Hülfe, welche die Armut empfängt, ihr Zufälliges, so wie ihr mit Unrecht Demüthigendes, und der Reich thum in seiner Pflicht gegen seine Genossenschaft, den Hochmuth und den Neid […], – die Rechtschaffenheit erhält ihre wahrhafte Anerkennung und Ehre.« (GW 14,1, 198) Fast sieht es so aus, als vertraue Hegel dann doch der Selbstregulation der bürgerlichen Gesellschaft trotz ihrer immanenten Widersprüche. Tatsächlich aber wäre ein solches Vertrauen theoretisch inkonsistent. Es handelte sich letztlich um einen moralischen Appell an die gesellschaftlichen Akteure, wobei die Moralität hier – anders als sonst auf der Ebene der bürgerlichen Gesellschaft – nicht »aufgehoben«, das heißt durch das Recht gebunden und institutionalisiert ist. Während das abstrakte bürgerliche Recht als Eigentums- und Vertragsrecht die Freiräume für die Ausübung des Rechts der Besonderheit sichert, stehen die Korporationen nur »unter der Aufsicht der öffentlichen Macht« (GW 14,1, 197), handeln aber (idealiter) nach rein moralischen Prinzipen wie »Heiligkeit der Ehe« und »Ehre«, die sich rechtlich nicht sanktionieren lassen
12 Vgl.
MEGA 2 , Abt. 1, Bd. 10, 126.
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(GW 14,1, 199). Der pöbelhaften Gesinnung, zumal auch des reichen Pöbels, ist damit keine wirksame Grenze gesetzt. Dem Staat kommt im Verhältnis zur bürgerlichen Gesellschaft somit in erster Linie die Aufgabe zu, dem Recht der Besonderheit einen rechtlichen Rahmen zu geben (durch das bürgerliche Recht) und zugleich dem Recht überhaupt auch gegen die pöbelhafte Gesinnung Geltung zu verschaffen. Tatsächlich aber handelt es sich in der Konsequenz um eine in sich widersprüchliche Aufgabenstellung. Das bürgerliche Recht gibt einer Dynamik Raum, durch welche die Akzeptanz der rechtlichen Grundlagen von Gesellschaft und Staat notwendig untergraben wird, womit, nach Hegels Auffassung, das Dasein der Freiheit auf dem Spiel steht. Ohne rechtliche Gesinnung aber kann das Recht, das der Staat behaupten soll, auf Dauer nicht behauptet werden. Viel eher ist zu erwarten, dass die bürgerliche Gesellschaft auf den Staat übergreift und ihn zum Instrument ökonomischer Interessen herabsetzt. Der junge Hegel hat in seiner Frankfurter Zeit einen Ausweg aus diesem Dilemma angedeutet, der in seinen späteren Überlegungen keine Rolle mehr spielt, nämlich eine Unterordnung des Eigentums unter das politische Gemeinwesen: »In den Staaten der neueren Zeit ist Sicherheit des Eigenthums der Angel, um den sich die ganze Gesetzgebung dreht, worauf sich die meisten Rechte der Staatsbürger beziehen. […] Wie sehr der unverhältnismäßige Reichthum einiger Bürger auch der freiesten Form der Verfassung gefährlich und die Freiheit selbst zu zerstören im Stande sei, zeigt die Geschichte […] und es wäre eine wichtige Untersuchung, wie viel von dem strengen Eigenthumsrecht der dauerhaften Form einer Republik aufgeopfert werden müßte.« (GW 2, 600 f.) Ein Eingriff in das Eigentumsrecht ist für den späteren Hegel jedoch gleichbedeutend mit einem Verlust individueller Freiheit, des Rechts der Besonderheit. Gleichwohl gefährdet gerade das Ausleben dieses Rechts die Grundlagen des vernünftigen Verfassungsstaates. Hegels frühe Überlegungen scheinen Marx’ Lösung des Problems vorwegzunehmen.13 Indessen hat auch Marx an dem Hegelschen Gedanken festgehalten, dass die individuelle Freiheit in 13 Vgl. Márcio Egídio Schäfer, Bürgerliche Gesellschaft und Staat. Zur Rekonstruktion von Marx’ Theorie und Kritik des Staates, Würzburg 2018.
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e iner eigenen Sphäre institutionell gesichert werden müsse.14 In den Manuskripten zum geplanten dritten Band des Kapital setzt er dem bürgerlichen Privateigentum daher nicht einfach das gesellschaftliche Eigentum entgegen, sondern »das individuelle Eigen thum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Aera: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst producirten Produktionsmittel«.15 Offenbar soll dieses Recht auf individuelles Eigentum ein Recht der individuellen Mitbestimmung in der ökonomischen Sphäre sichern. Es ist damit Voraussetzung einer Kooperation, die Marx als freie Assoziation freier Produzenten beschreibt, in der »die freie Entwicklung eines jeden Bedingung für die freie Entwicklung aller ist«.16 Es ist dies ein Äquivalent zur bürgerlichen Gesellschaft als Freiheitssphäre bei Hegel, das bereits dessen Schüler Eduard Gans ins Auge gefasst hatte, als er Hegels Konzept der Korporation als »freie Corporation, […] Vergesellschaftung« neu deutete.17
14 Vgl. Andreas Arndt, Individuelle Freiheit und Recht bei Marx, in: Karl Marx im 21. Jahrhundert. Bilanz und Perspektiven, hg. v. Martin Endreß und Christian Jansen. Frankfurt / M und New York 2020, 233–242. 15 MEGA 2 , Abt. 2 , Bd. 10, 685. 16 Karl Marx und Friedrich Engels, Manifest der Kommunistischen Partei, MEW, Bd. 4, 482. 17 Eduard Gans, Rückblicke auf Personen und Zustände, Berlin 1836, 101.
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Frei(heits)räume. Abstrakte und konkrete llgemeinheit in Hegels Grundlinien der A Philosophie des Rechts (1) Recht ist für Hegel »Daseyn des freyen Willens […]. – Es ist somit überhaupt die Freyheit, als Idee.« (GW 14,1, 45) Diese Bestimmung im Paragraphen 29 der Grundlinien der Philosophie des Rechts wendet sich gegen eine negative Auffassung des Rechts, wie sie den vertragstheoretischen Vergesellschaftungsmodellen zugrunde liegt. Hegel verweist hier ausdrücklich auf Kants Rechtslehre, die einer seit Rousseau verbreiteten Ansicht folge, wonach »der Wille nicht als an und für sich seyender, vernünftiger […] sondern als besonderes Individuum, als Wille des Einzelnen in seiner eigenthümlichen Willkühr, die substantielle Grundlage und das Erste seyn soll. Nach diesem einmal angenommenen Princip kann das Vernünftige freylich nur als beschränkend für diese Freyheit, so wie auch nicht als immanent Vernünftiges, sondern nur als ein äußeres, formelles Allgemeines herauskommen.« (GW 14,1, 45) Das »nur« hat freilich die Bedeutung, dass die Sphäre des Rechts eben auch, wenn auch nicht ausschließlich, ein »formelles Allgemeines« ist, was für das abstrakte Recht zweifellos ebenso zutrifft wie für die Verkehrsform der bürgerlichen Gesellschaft, das System der Bedürfnisse, in welchem sich die Besonderheit nach Hegel »in durchgängiger Abhängigkeit von äußerer Zufälligkeit und Willkühr« befindet »so wie von der Macht der Allgemeinheit beschränkt« ist (GW 14,1, 161). Die formelle oder abstrakte Allgemeinheit ist demnach notwendiges Moment der Freiheit. Hegel sagt dies auch ausdrücklich in seiner Notiz zum Paragraphen 7 der Grundlinien der Philosophie des Rechts: »wahre Allgemeinheit geht hindurch durch abstracte Allgemeinheit und durch Besonderheit« (GW 14,2, 325). Aus Sicht vieler (vor allem linkshegelianischer) Positionen erscheint dies als Zumutung und wird gern marginalisiert oder ganz
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übergangen.1 Abstrakte Allgemeinheit steht dort für Entfremdung, die »Vergleichung an der Stelle der wirklichen Gemeinschaftlichkeit und Allgemeinheit«, wie Karl Marx in den Grundrissen der Kritik der politischen Ökonomie schrieb.2 Sie ist Index eines falschen Allgemeinen, des Ganzen als des Unwahren, wie es Adorno in Umkehrung eines Hegelschen Diktums3 griffig formuliert hat: »›Das Ganze ist das Unwahre‹, nicht bloß weil die These von der Totalität selber die Unwahrheit, das zum Absoluten aufgeblähte Prinzip der Herrschaft ist. Die Idee einer Positivität, die alles ihr Widerstrebende zu bewältigen glaubt durch den übermächtigen Zwang des begreifenden Geistes, verzeichnet spiegelbildlich die Erfahrung des übermächtigen Zwanges, der allem Seienden durch seinen Zusammenschluß unter der Herrschaft innewohnt.«4 Hier wird nicht nur behauptet, dass die entfremdete, abstrakte Allgemeinheit der wahren, nichtentfremdeten gegenüberstehe, sondern darüber hinaus auch, dass Hegels Konzeption des wahren Allgemeinen nichts anderes sei als die zur Totalität erhobene und verabsolutierte ab strakte Allgemeinheit. Demgegenüber sei die wahre Allgemeinheit, die Hegel als verwirklicht angesehen habe, noch ausstehend im Horizont einer Verwirklichung der Philosophie: »Der Strahl, der in all seinen Momenten das Ganze als das Unwahre offenbart, ist kein anderer als die Utopie, die der ganzen Wahrheit, die noch erst
1 Vgl. z. B. Herbert Marcuse, Ideen zu einer kritischen Theorie der Gesellschaft, Frankfurt / M 1969, 97, wo es im Anschluss an § 29 der Grundlinien heißt, dass die in der bürgerlichen Gesellschaft »zustande gekommene Allgemeinheit keine ›wahre‹ Allgemeinheit und daher keine wahre Gestalt der (als aufgehoben verwirklichten) Freiheit darstellt.« Das ist zumindest nur die halbe Wahrheit, denn die ›wahre‹ Allgemeinheit ist die Vollendung derjenigen Freiheit, die auch in der formellen bzw. abstrakten Bestand hat. 2 Karl Marx, Grundrisse der Kritik der politischen Ökonomie, Frank furt / M und Wien o. J., 79. 3 In der »Vorrede« zur Phänomenologie des Geistes heißt es: »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen.« (GW 9, 19) 4 Theodor W. Adorno, Drei Studien zu Hegel, Frankfurt / M 1969, 104. – »Das Ganze ist das Unwahre« ist Selbstzitat aus Minima Moralia, Frankfurt / M 1970 (zuerst 1951), 57 (»Zwergobst«).
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zu verwirklichen wäre«; dies, so Adorno, sei »das Wahre an Hegels Unwahrheit«.5 Das Wahrheitsmoment, welches Adorno Hegel zubilligt, wäre für Hegel das Unwahre, nämlich ein bloßes Seinsollendes und nicht die Wirklichkeit der Vernunft. Und selbst dann, wenn man die Auffassung vertritt, Hegel könne die vollständige Realisierung der Freiheit als noch ausstehend gedacht haben (wozu es gute Gründe gibt), würde die Gegenüberstellung der abstrakten und der wahren Allgemeinheit in die Irre führen. Die abstrakte Allgemeinheit ist vermittelt mit der wahren bzw. konkreten Allgemeinheit – für Hegel ist dies dasselbe 6 –, und das nicht in einem historischen bzw. geschichtsphilosophischen Sinne, wie es die Umdeutung der letzteren zur Utopie nahelegt. Vielmehr ist die abstrakte Allgemeinheit Moment der Totalität und damit der Selbstvermittlung dessen, was Hegel die »wahre« Allgemeinheit nennt. Anders gesagt: Sie bleibt in der Aufhebung auch erhalten und verschwindet nicht einfach. Im Folgenden geht es mir um dieses Verhältnis von abstrakter und konkreter Allgemeinheit in Bezug auf das, was nach Hegel den allgemeinen Begriff des Rechts überhaupt ausmacht: die Freiheit. Ich möchte zeigen, dass für Hegel die Struktur abstrakter Allgemeinheit unverzichtbarer Bestandteil von Freiheit ist: Sie schafft erst Freiräume, in denen sich vielfältige Lebensentwürfe entwickeln und gestalten können. Als Sphäre der persönlichen Freiheit ist sie Ausdruck der Moderne, die sich für Hegel ja in dem Begriff der Person oder der subjektiven Freiheit geradezu zusammenfasst: »Das Recht der Besonderheit des Subjects, sich befriedigt zu finden, oder, was dasselbe ist, das Recht der subjectiven Freyheit macht den Wende- und Mittelpunkt in dem Unterschiede des Altertums und der modernen Zeit. […] Dieß Princip der Besonderheit ist nun allerdings ein Moment des Gegensatzes, und zunächst wenigstens eben so wohl identisch mit dem Allgemeinen, als unterschieden von ihm« (GW 14,1, 110). Es ist identisch mit dem Allgemeinen, inDrei Studien, 104. GW 14,1, 34: »das Concrete und Wahre (und alles Wahre ist concret) ist die Allgemeinheit, welche zum Gegensatz das Besondere hat, das aber durch seine Reflexion in sich mit dem Allgemeinen ausgeglichen ist – Diese Einheit ist die Einzelnheit […] als der Begriff selbst.« 5 Adorno,
6 Vgl.
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dem es als allgemeines Recht eingefordert und anerkannt wird; es ist unterschieden von ihm, indem es prima vista gerade als Besonderheit der Allgemeinheit entgegengesetzt ist. Die Vermittlung dieses Widerspruchs durch Recht, Sittlichkeit und Staat ist die eigentliche zivilisatorische Aufgabe der Moderne. Für diese Vermittlung, sofern sie gelingt, steht letztlich der Begriff der konkreten Allgemeinheit. Er bezeichnet die gesellschaftliche und politische Dimension der Freiheit. Gerade weil dieses Allgemeine sich nicht in den Gegensatz zum Einzelnen und Besonderen stellt, ist die abstrakte Allgemeinheit in ihr mit enthalten. Wenn Hegel schreibt, die abstrakte Reflexion fixiere das Recht der Besonderheit »in seinem Unterschiede und Entgegensetzung gegen das Allgemeine« (GW 14,1, 110), dann gilt ebenso umgekehrt: Auch das Allgemeine darf nicht gegenüber dem Einzelnen und Besonderen fixiert werden. Hierin liegt eine fundamentale Spannung. Die Verteidigung des Rechts der Besonderheit gegen ein Allgemeines ist notwendiges Mittel, um totalitäre Ansprüche des Allgemeinen abzuwehren. Karl Popper übrigens hat erstaunlicherweise gemeint, dieses Recht gegen Hegel selbst in Stellung bringen zu müssen.7 Im Gegenzug birgt die Verselbständigung der Besonderheit die Gefahr der Zerstörung des politischen Gemeinwesens, eine Gefahr, die für Hegel mit der Eigendynamik der bürgerlichen Gesellschaft real war. Es wird zu fragen sein, wie Hegel diese Spannung zum Austrag bringen und bewältigen kann. Ich werde dabei so vorgehen, dass ich zunächst (2) Hegels Unterscheidung abstrakter und konkreter Allgemeinheit grundsätzlich charakterisiere; in einem zweiten Schritt möchte ich sodann (3) auf das Problem der Freiheit in den Sphären der abstrakten Allgemeinheit – Recht, Moral und bürgerliche Gesellschaft eingehen, um schließlich (4) die Vermittlung von abstrakter und konkreter Allgemeinheit in den Grundlinien der Philosophie des Rechts zu behandeln. 7 Karl Popper, Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Bd. 2. Falsche Propheten: Hegel, Marx und die Folgen, Tübingen 82003, Kap. 12. – Vgl. kritisch dazu Walter Kaufmann, Hegel: Legende und Wirklichkeit, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 10 (1956), 191–226.
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(2) Die in sich konkrete Allgemeinheit ist, kurz gesagt, Geist. So heißt es in der Vorrede zur ersten Auflage der Seinslogik (1812), das Resultat der bestimmenden Tätigkeit des Geistes sei ein »Allgemeines, das in sich konkret ist; unter dieses wird nicht ein gegebenes Besonderes subsumiert, sondern in jenem Bestimmen und in der Auflösung desselben hat sich das Besondere schon mit bestimmt«. (GW 11, 8) Worauf es hier ankommt, ist die Abgrenzung gegenüber einem Allgemeinen, unter das gegebene Bestimmungen subsumiert werden. Dies widerspricht der gewöhnlichen Ansicht des Allgemeinen, wonach es diejenigen Bestimmungen enthält, die allem Besonderen gemeinsam sind, nicht aber die Besonderheiten selbst, nämlich diejenigen Bestimmungen, durch die sich die Besonderen voneinander so unterscheiden, dass sie einander ausschließen. 8 Kant bezeichnete das Allgemeine nach dieser gewöhnlichen Ansicht als ein Analytisch-Allgemeines im Unterschied zum Synthetisch-Allgemeinen; Ersteres subsumiere vieles unter einen Begriff, Letzteres enthalte das Viele in einem Begriff.9 Das Synthetisch-Allgemeine ist für Kant eine bloße Denkmöglichkeit; es wäre »die Anschauung des Ganzen als eines solchen«, von der man zum Besonderen bzw. »zu den Theilen« gehen würde, wie es im § 77 der Kritik der Urteilskraft heißt.10 Hegel – und in der nachkantischen Philosophie nicht nur er – will genau dies, wobei er freilich, was im Blick auf die Struktur der Grundlinien der Philosophie des Rechts von fundamentaler Bedeutung ist, das synthetische Moment dem analytischen nicht entgegenstellt. Ausdrücklich schreibt er in der Wissenschaft der Logik: »Die Methode der Wahrheit aber, die den Gegenstand begreift, ist zwar, wie gezeigt, selbst analytisch, da sie schlechthin im Begriffe bleibt, aber sie ist ebensosehr synthetisch, denn durch den Begriff wird der Gegenstand dialektisch und als Anderer bestimmt.« 8 Vgl. Friedrike Schick, Allgemeinheit, in: Hegel-Lexikon, hg. v. Paul Cobben, Paul Cruysberghs, Peter Jonkers, Lu De Vos, Darmstadt 2006, 120–122. 9 Vgl. Immanuel Kant, Opus postumum. Erste Hälfte, Berlin und Leipzig 1936, 247: »Analytisch allgemein ist ein Begriff durch den eines in Vielem, synthetisch aber wodurch Vieles in einem als zusammen unter einen Begriff gebracht wird.« 10 Kant, Werke, Bd. 5, 407.
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(GW 12, 248 f.) Dies hat zur Folge, dass das abstrakt Allgemeine dem konkret Allgemeinen nicht einfach nur entgegensteht, sondern: »Das Abstract-Allgemeine ist somit zwar der Begriff, aber als Begriffloses, als Begriff, der nicht als solcher gesetzt ist.« (GW 12, 40) Das Abstrakte ist, wie Hegel betont, nicht leer, d. h. die Abstraktion hat einen Inhalt bzw. eine Bestimmtheit11 und ist dadurch Moment des sich bestimmenden Begriffs oder des Geistes, der sich als Geist erfasst. Ich möchte es bei diesen Hinweisen auf die logische Bestimmung des Verhältnisses von abstrakter und konkreter Allgemeinheit bewenden lassen. Es ist ersichtlich, dass diese Bestimmung Konsequenzen für die Realphilosophie des Geistes haben muss, wenn Hegel konkrete Allgemeinheit als Geist fasst. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts beruft Hegel sich auch ausdrücklich auf die (dialektische) Methode, die er aus der Wissenschaft der Logik voraussetze, um die Bestimmung des Verhältnisses des Allgemeinen und Besonderen durchzuführen: »Das bewegende Princip des Begriffs, als die Besonderungen des Allgemeinen nicht nur auflösend, sondern auch hervorbringend, heiße ich die Dialektik« (GW 14,1, 47). Diese Dialektik durchzieht alle Kategorien der Grundlinien; vom Eigentum, der ersten Kategorie des abstrakten Rechts, bis hin zum Staat als letzter Kategorie der Sittlichkeit. Als Dasein der Freiheit repräsentieren die verschiedenen Stufen der Entwicklung »Unterschiede der Entwicklung des Freyheitsbegriffs. Gegen formelleres, d. i. abstracteres und darum beschränkteres Recht, hat die Sphäre und Stufe des Geistes, in welcher er die weitern in seiner Idee enthaltenen Momente zur Bestimmung und Wirklichkeit in sich gebracht hat, als die concretere in sich reichere und wahrhafter allgemeine eben damit auch ein höheres Recht.« (GW 14,1, 46) Es geht also um eine schrittweise Konkretion des Freiheitsbegriffs in den Sphären des Rechts. Diese Entwicklung zum konkreten Freiheitsbegriff ist zunächst nicht die Entwicklung in der Zeit, seine 11 Vgl. GW 12, 40 f.: »Leer ist übrigens die Abstraction nicht, wie sie gewöhnlich genannt wird; sie ist der bestimmte Begriff […] Insofern aber ist jeder bestimmte Begriff allerdings leer, als er nicht die Totalität sondern nur eine einseitige Bestimmtheit enthält.«
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geschichtliche Herleitung, sondern die Entwicklung des internen systematischen Zusammenhangs als »Idee der Freyheit« (GW 14,1, 46). Hegel macht dies in der Erläuterung zu dem hier zitierten Paragraphen 30 der Grundlinien deutlich. Abstraktes Recht, Moralität, Sittlichkeit und »Staatsinteresse« seien »jedes ein eigenthümliches Recht«, die nicht zum Recht überhaupt in Kollision stehen können, sondern nur »insofern sie auf gleicher Linie stehen, Rechte zu seyn«; insofern sind sie gegeneinander beschränkt und »nur das Recht des Weltgeistes ist das uneingeschränkt absolute«. (GW 14,1, 46) Dieser Weltgeist taucht erst am Ende der Grundlinien dort auf, wo aus dem Verhältnis der Staaten zueinander »der allgemeine Geist, der Geist der Welt« als »unbeschränkt[er]« hervorgeht, »der sein Recht, – und sein Recht ist das allerhöchste, – […] in der Weltgeschichte, als dem Weltgerichte, ausübt«. (GW 14,1, 273) Das ist vielfach so missverstanden worden, als sei es hier mit der Freiheit zu Ende und eine blinde Macht habe das letzte Wort. Das Gericht des Weltgeistes, so schärft Hegel ausdrücklich ein, ist jedoch nicht »die abstracte und vernunftlose Nothwendigkeit eines blinden Schicksals«, sondern die »aus dem Begriffe nur seiner [d. h.: des Geistes] Freyheit nothwendige Entwickelung der Momente der Vernunft und damit seines Selbstbewußtseyns und seiner Freyheit, – die Auslegung und Verwirklichung des allgemeinen Geistes«. (GW 14,1, 274) Mit anderen Worten: Das Gericht ist nichts anderes als das, was Hegel zum Begriff der Weltgeschichte überhaupt macht, nämlich »Fortschritt im Bewußtseyn der Freiheit« (GW 18, 153). Dies betrifft auch das, was Hegel als »Verwirklichung des allgemeinen Geistes« bezeichnet, denn, wie es in der »Einleitung« zur Wissenschaft der Logik heißt: »nur in seinem Begriffe hat Etwas Wirklichkeit; insofern es von seinem Begriffe verschieden ist, hört es auf wirklich zu seyn, und ist ein Nichtiges« (GW 11, 21 f.). Das bedeutet: Der Begriff, der sich als Begriff vollständig erfasst hat – die absolute Idee als absolute Methode –, ist der normative Maßstab, der realphilosophisch zur Geltung zu bringen ist. Da der Begriff in dieser seiner Spitze als absolute Idee nichts anderes ist als Subjektivität und Freiheit, ist Freiheit im Sinne absoluter Selbstbestimmung der normative Grund der Realphilosophie und daher auch der Philosophie des objektiven Geistes, wie sie in den Grundlinien der Philosophie des Rechts dargelegt wird. Frei(heits)räume | 189
Dabei gilt, dass der vollständige Begriff des Begriffs als das Bewusstsein der Freiheit bzw., was dasselbe ist, die absolute Idee Resultat der Arbeit der Weltgeschichte und nicht deren Voraussetzung als ein seinsollendes telos ist. Ich kann daher Axel Honneth nicht folgen, wenn er in seinem Buch Das Recht der Freiheit schreibt, bei Hegel klinge es so, »als wolle er die Freiheitszwecke der Subjekte direkt und unvermittelt aus dem Begriff eines sich historisch entfaltenden Geistes entwickeln«.12 Abgesehen davon, dass Hegel unvermittelt gar nichts entwickeln, sondern nur setzen könnte, halte ich Honneths aus seinem Einwand folgenden Vorschlag, die in den Grundlinien praktizierte Methode Hegels »vom Hintergrund seiner Geistmetaphysik« abzutrennen,13 für prekär. Gerade in der Geschichtlichkeit des Geistes und nur in ihr liegt ja die Möglichkeit, auf eine unvermittelte Setzung von Freiheitszwecken und Freiheitsbewusstsein zu verzichten. Und dieser geschichtlich sich entwickelnde Geist ist, das muss hier noch einmal nachdrücklich betont werden, nicht das abstrakt-allgemeine Gegenüber zu den gesellschaftlichen Individuen, sondern das Resultat ihrer allgemeinen, d. h. gattungsmäßigen Tätigkeit. (3) Die Bedeutung der Sphäre der abstrakten Allgemeinheit für Hegels Freiheitsverständnis lässt sich gerade im Blick auf diejenige Philosophie deutlich machen, deren Freiheitsbegriff er als bloß negativ kritisiert. In seiner Abhandlung Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht vertritt Kant die These, dass die »ungesellige Geselligkeit«14 egoistischer, aber aufeinander angewiesener Menschen am Ende doch eine gesetzmäßige Ordnung hervorbringe. Es handele sich dabei um »eine pathologisch-abgedrungene Zusammenstimmung zu einer Gesellschaft«,15 die endlich in ein moralisches Ganzes verwandelt werden solle und könne. Das Ziel ist die »Erreichung einer allgemein das Recht verwaltenden bürgerlichen Gesellschaft«, die als ein »Gehege« vorgestellt
12 Honneth, 13 Ebd.
Das Recht der Freiheit, 107.
Werke, Bd. 8, 20. Ebd., 21.
14 Kant, 15
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wird, in welchem der Wildwuchs der Freiheit diszipliniert sei.16 Einhegen lasse sich die egoistische Freiheit der Einzelnen aber nur durch Herrschaft, durch einen »allgemeingültigen Willen«, der den »eigenen Willen breche«: »der Mensch ist ein Thier, das, wenn es unter andern seiner Gattung lebt, einen Herrn nöthig hat«.17 Hegel kommt in wenigstens zwei Punkten mit Kant überein. Zum einen ist natürlich auch Hegel der Zwangscharakter des Rechts nicht fremd,18 und in diesem Zusammenhang ist Herrschaft nicht nur legitimiert, sondern notwendige Bedingung eines Rechtszustandes. Dies wird negativ an Hegels Widerspruch gegen Kants Theorie des äußeren Staatsrechts deutlich. Für Hegel ist eine internationale Rechtsordnung gerade deshalb nicht denkbar, weil es »keinen Prätor, höchstens Schiedsrichter und Vermittler zwischen Staaten« gebe, also keine Zwangsgewalt jenseits der besonderen Willen, und deshalb bleibe »jene allgemeine Bestimmung« des Völkerrechts »beim Sollen«, einem »gelten sollenden« Recht, das damit, so ist zu folgern, kein Recht sei, sondern ein sollensethischer Imperativ (GW 14,1, 270).19 Die Differenz zu Kant liegt also nicht in dem Zwangscharakter des Rechts, der für Hegel vielmehr eine conditio sine qua non des Rechts ist. Der fundamentale Unterschied liegt vielmehr darin, dass für Hegel das Recht Freiheit nicht begrenzt, sondern mit Freiheit zusammenfällt: Es ist Dasein der Freiheit. Das bedeutet: Vorgängig ist nicht eine Freiheit, die der Einzelne egoistisch auslebt und die durch das Recht erst gesellschaftsfähig gemacht werden muss, sondern grundlegend ist ein gesellschaftlicher Zusammenhang, in dem sich durch das, was Hegel die Arbeit des Weltgeistes nennt, rechtliche und staatliche Strukturen erst herausbilden, durch welche Freiheitsräume allererst eröffnet werden. Individu16
Ebd., 22. Ebd., 23. 18 Zu Hegels Theorie des Strafrechts vgl. Alfredo Bergés, Der freie Wille als Rechtsprinzip. Untersuchungen zur Grundlegung des Rechts bei Hobbes und Hegel, Hamburg 2012, Kap. 11 (»Die Vereinbarkeit von Freiheit und Zwang«); Caspers, »Schuld«, besonders Kap. 6 (»Strafe und Gnade«). 19 Vgl. Zwischen Konfrontation und Integration. Die Logik internationaler Beziehungen bei Hegel und Kant, hg. v. Andreas Arndt und Jure Zovko, Berlin 2007. 17
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elle Freiheit, so müsste man sagen, gibt es nicht vor dem Rechtszustand, sondern sie ist dessen Produkt, genauer gesagt, sie ist, wie eingangs bereits erwähnt, Produkt und Kennzeichen der Moderne als Resultat einer langen Geschichte des Geistes (vgl. GW 18, 153), die in einem vollendeten Bewusstsein der Freiheit kulminiert, was aber nicht, wie unterstrichen werden muss, mit einer vollständigen Realisierung der Freiheit einhergeht und einhergehen muss. Hegels Rechtsphilosophie ist der Versuch, dieses Prinzip der Moderne zum Ausgangspunkt der zivilen und politischen Vergesellschaftung zu machen und auf jegliche Entlehnung politischer Legitimität aus anderen Quellen zu verzichten. Eine wesentliche Konsequenz aus dem Recht der Besonderheit ist der Gedanke der Gleichheit der Menschen als Personen: »Der Mensch gilt so, weil er Mensch ist, nicht weil er Jude, Katholik, Protestant, Deutscher, Italiener usf. ist, – dies Bewußtseyn, dem der Gedanke gilt, ist von unendlicher Wichtigkeit« (GW 14,1, 175). Hiermit ist Mensch-Sein als eine rechtliche Bestimmung ausgesprochen; es ist – wie Hegel im Blick auf die bürgerliche Stellung der Juden bemerkt – mehr als »eine flache, abstracte Qualität« (GW 14,1, 217). Dass der Mensch als Mensch, durch sein bloßes Menschsein, Rechtssubjekt sei, und zwar nicht von Natur aus, sondern erst auf dem Boden der Moderne, ist Hegels Fassung der Menschenrechte.20 Sie haben, wenn man so will, den scheinbar paradoxen Status eines gesellschaftlich vermittelten Naturrechts: Erst in der Moderne konstituiert das Recht Menschsein als Rechtsbestimmung. Hieran zeigt sich exemplarisch die positive Bedeutung der abstrakten Allgemeinheit, denn zweifellos ist bloßes Menschsein eine Abstraktion, aber eben eine ›verständige‹, d. h. eine, die Sinn gerade durch die Art und Weise der Abstraktion macht.21 Abstrahiert wird davon, dass der Mensch außer dem, Mensch und damit zugleich auch im rechtlichen Sinne Person zu sein, noch etwas ist. 20 Vgl. Andreas Arndt, Zum Problem der Menschenrechte bei Hegel und Marx, in: Menschenrechte: Rechte und Pflichten in Ost und West, hg. v. Konrad Wegmann, Wolfgang Ommerborn, Heiner Roetz, Münster 2001, 213–236. 21 Zu Hegels spezifischer Verwendung von ›abstrakt‹ vgl. Andreas Arndt, Wer denkt abstrakt? Konkrete Allgemeinheit bei Hegel«, in: Konkrete Psychologie. Die Gestaltungsanalyse der Handlungswelt, hg. v. Gerd Jüttemann und Wolfgang Mack, Lengerich u. a. 2010, 127–137.
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Mit dieser Abstraktion wird ein Freiraum eröffnet, der das, wovon abstrahiert wird, wenigstens zum Teil aus dem Bereich allgemeiner Normierung und Kontrolle herausnimmt und zunächst dem ›Lampenlicht des Privaten‹22 anvertraut; dabei geht es, wie die vorhin zitierte Stelle deutlich macht, z. B. um Religion, die zur Privatsache wird, was angesichts der erstarkenden antijüdischen Gesinnungen im damaligen Preußen – man denke nur an Friedrich Karl von Savigny – keine Kleinigkeit ist.23 Selbstverständlich erstrecken sich juristische Normierungen auch auf Bereiche, von denen das bloße Personsein abstrahiert, denn kein Rechtssystem besteht nur aus Grundrechten. Aber es geht mir hier zunächst um das Prinzip, dass das Recht, welches seiner Natur nach abstrakt-allgemein ist, gerade aufgrund dieses Charakters Freiräume schafft. Die rechtlich nicht reglementierte Sphäre der persönlichen Freiheit markiert den Einsatz der Moralität; auch sie ist eine Sphäre der Freiheit, aber ebenfalls abstrakt-allgemein. Ich will Hegels Kritik der Moralität, die im Wesentlichen auf Kant und Fichte, die sogenannte Sollensethik, zielt, hier nicht weiter erörtern, sondern nur auf die grundlegende Aporie hinweisen, durch die diese Sphäre nach Hegel geprägt ist. Die Imperative, Regeln bzw. Maximen der Sollensethik kommen mit Rechtssätzen darin überein, dass sie abstrakt-allgemein sind. Es ist aber eine Allgemeinheit, die nicht auf Normsetzungen beruht, die dem Subjekt von Seiten eines gegebenen Allgemeinen (des Staates) gleichsam objektiv gegenübertreten, sondern eine Allgemeinheit, die vom Subjekt selbst gesetzt wird. Auch hier geht es also um die subjektive Freiheit, das Recht der Besonderheit: »Das Recht, nichts anzuerkennen, was Ich nicht als vernünftig einsehe, ist das höchste Recht des Subjects«; dieses 22 Diese Formulierung verwendet Karl Marx in seiner Dissertation in ironischer Anspielung auf Hegels Bild von der Eule der Minerva, die in der Dämmerung ihren Flug beginnt; vgl. MEW, Bd. 40, 217: »So war z. B. die epikureische, stoische Philosophie das Glück ihrer Zeit; so sucht der Nachtschmetterling, wenn die allgemeine Sonne untergegangen ist, das Lampenlicht des Privaten.« 23 Vgl. Andreas Arndt, Wandlungen in Hegels Bild des Judentums, in: Christentum und Judentum. Akten des Internationalen Kongresses der Schleiermacher-Gesellschaft in Halle, März 2009, hg. v. Roderich Barth, Ulrich Barth, Claus-Dieter Osthövener, Berlin und Boston 2012, 417–429.
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Recht weist aber eine grundlegende Schwierigkeit auf, und Hegel fährt daher unmittelbar fort, dass dieses Recht »zugleich formell« sei, »und das Recht des Vernünftigen als des Objectiven an das Subject bleibt dagegen fest stehen«. (GW 14,1, 115) Als formell ist dieses Recht vor allem deshalb anzusehen, weil die Grundsätze, nach denen das Subjekt urteilt, wenn es moralisch urteilt, notwendig abstrakt-allgemein sind. Notwendig deshalb, weil das Subjekt diese Allgemeinheit nur erreichen kann, wenn es – ungeachtet der Annahme, dass es selbst die moralischen Grundsätze konstituiert – um der Allgemeinheit willen von der Besonderheit seiner Subjektivität und der konkreten Situationen, auf welche die Grundsätze Anwendung finden sollen, absehen muss. Tut es dies nicht, so setzt das Subjekt seine bloße Subjektivität an die Stelle der Allgemeinheit. Es verabsolutiert dann um den Preis der Zerstörung der Moralität (die ja eine Verpflichtung auf allgemeine Gesetze beinhaltet) das Recht der Subjektivität. Hierin besteht nach Hegel die Schwierigkeit des Gewissens, das sich letztlich auf die bloße Subjektivität beruft. Umgekehrt: Unterwirft sich das Subjekt den moralischen Grundsätzen als Verpflichtungen, die es erfüllen soll, dann treten ihm diese, unabhängig von seinem momentanen Willen, als objektiv nötigend gegenüber. Hierin besteht nach Hegel die Schwierigkeit des Guten, das den Charakter abstrakter Allgemeinheit gegen die Subjektivität annimmt. Beides muss vereinigt werden, um Freiheit nicht zu zerstören, die hier von zwei Seiten bedroht ist: von der bloßen Willkür der Subjektivität einerseits, welche das Band der gesellschaftlichen Individuen zerreißt, und von der abstrakten Allgemeinheit des Guten andererseits, welche das Recht der Subjektivität unterläuft. Die Vereinigung des Subjektiven und des Allgemeinen ist die Sittlichkeit als die, »somit concrete, Identität des Guten und des subjectiven Willens« oder die »subjective Gesinnung aber des an sich seyenden Rechts«. (GW 14,1, 135) Mit der Sittlichkeit sind wir in den Bereich der konkreten Allgemeinheit eingetreten. Dennoch muss hier kurz innegehalten und gefragt werden, was es bedeutet, dass die Moralität sich in die Sittlichkeit aufhebt. Ernst Tugendhat hat darin einen »nicht einmal mehr von Hegel zu überbietende[n] Gipfel der Perversion« erblickt, weil damit individuelle Freiheit negiert werde: »was vom Individuum zu tun ist, steht in einem Gemeinwesen fest; das eigene Ge194 | Realität
wissen des Einzelnen hat zu verschwinden, und an die Stelle der Reflexion tritt das Vertrauen; das ist es, was Hegel mit der Aufhebung der Moralität in die Sittlichkeit meint«.24 Ludwig Siep hat dagegen mit Recht geltend gemacht, dass ›Aufhebung‹ bei Hegel nicht bedeutet, dass etwas getilgt wird, sondern die Aufbewahrung auf einer höheren Stufe der Allgemeinheit bezeichnet.25 Die Moralität und mit ihr das absolute Recht der Subjektivität stelle sich daher vielmehr in erweiterter Form in der Sittlichkeit wieder her und bekomme ihre Sphäre zugewiesen, in der sie ihr Recht behaupte und darin zugleich begrenzt werde. Diese Sphäre ist die der bürgerlichen Gesellschaft; hierin hat, so Hegel, »die Moralität ihre Stelle, das Insichsein des besonderen Individuums« (GW 26,3, 1272). Nun ist bürgerliche Gesellschaft für Hegel die Differenz zwischen Familie als der unmittelbaren oder natürlichen Sittlichkeit und dem Staat. Diese Differenz ist für Hegel Kennzeichen der Moderne und nicht revozierbar, auch wenn sie, innerhalb der Sittlichkeit, wiederum eine Sphäre der »formellen Allgemeinheit« und Äußerlichkeit darstellt (GW 14,1, 143).26 Daraus erwächst eine doppelte Aufgabe, die unterstreicht, dass das Vermittlungsproblem mit dem Übergang in die Sittlichkeit noch nicht gelöst ist, sondern sogar an Schärfe gewinnt. Weder darf, so Hegels Überzeugung, der Standpunkt der Moralität auf den Staat übergreifen und die ihr eigentümliche Sphäre dadurch entgrenzen, noch darf umgekehrt – und das ist ausdrücklich zu betonen – der Staat, in welchen sich für Hegel die Sittlichkeit zusammenfasst, auf totalitäre Weise auf die Sphäre der Moralität durchgreifen und die Freiheit, individuelle Lebensentwürfe zu verfolgen, durch paternalistische Vorschriften ersetzen. 24 Ernst Tugendhat, Selbstbewußtsein und Selbstbestimmung. Sprachanalytische Interpretationen, Frankfurt / M 1979, 349. 25 Ludwig Siep, Was heißt: »Aufhebung der Moralität in Sittlichkeit« in Hegels Rechtsphilosophie?, in: ders., Praktische Philosophie im Deutschen Idealismus, Frankfurt / M 1992, 217–239. – Vgl. auch Jean-François Kervégan, L’effectif et le rationell. Hegel et l’esprit objectif, Paris 2007, Chaiptre X (»La vérité de la moralité«). 26 Vgl. dazu GW 14,2, 727: »Reflexion – Recht – Moralitæt – abstracte Momente – Herabfallen in die Besonderheit […] Dem Particularen (Abstracten –) Form der Allgemeinheit – nur Form«.
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(4) Die Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft ist für Hegel die Sphäre der Besonderheit und damit auch der persönlichen Freiheit, die aufgehobene (aber darum fortbestehende) Moralität in der Sittlichkeit. Das Allgemeine, was darin enthalten ist und den Rahmen der Besonderheit überschreitet, ist zweifacher Natur. Es ist einerseits die Wechselseitigkeit der Bedürfnisbefriedigung, weshalb die ökonomische Sphäre ja auch als »System der Bedürfnisse« (GW 14,1, 165) fungiert. Es ist andererseits die abstrakte Allgemeinheit der Freiheit, das Recht des Eigentums.27 Dass diese Sphäre in sich negativ ist, hat Hegel schon 1802/03 in seinem Aufsatz Über die wissenschaftlichen Behandlungsarten des Naturrechts gesehen: »Das System der sogenannten politischen Oekonomie« sei »ganz in der Negativität und in der Unendlichkeit« befangen (GW 4, 450), d. h. es sei eine negative Totalität, welche von der positiven sittlichen Totalität, dem Staat, »ganz negativ behandelt werden, und seiner Herrschaft unterworfen bleiben muß; was seiner Natur nach negativ ist, muß negativ bleiben, und darf nicht etwas festes werden. Um zu verhindern, daß es sich nicht für sich constituire, und eine unabhängige Macht werde, […] muß das sittliche Ganze es in dem Gefühl seiner innern Nichtigkeit erhalten« (GW 4, 450 f.). In den Grundlinien der Philosophie des Rechts heißt es dazu, dass die Bestimmung des Staates daher keineswegs »in die Sicherheit und den Schutz des Eigenthums und der persönlichen Freyheit gesetzt« werden dürfe (GW 14,1, 201). Tatsächlich stellt sich die bürgerliche Gesellschaft für Hegel als ein Nest von Widersprüchen dar, das innerhalb ihrer nicht gelöst werden kann, und genau hierin besteht ihre Negativität. Diese Widersprüche kulminieren in einer »Dialektik« der bürgerlichen Gesellschaft, durch welche sie »über sich hinausgetrieben« wird (GW 14,1, 195). Erscheinungsweise dieser Dialektik ist die Polarisierung der Gesellschaft in Reichtum und Armut. Nun ist die Ungleichheit des Besitzes für Hegel grundsätzlich kein Problem, wenn der Staat regulierend eingreift: »Der Staat muß das Moment der Ungleichheit respectiren, weil es ein Moment der Willkühr in der Zufälligkeit und der Freyheit des Individuums ist. Ein allgemeines muß freilich sich bemühen, die Folgen, die daraus entstehen 27
Vgl. GW 14,1, 164 und 174.
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könnten, wenn sie schädlich sind, abzuwenden.« (GW 26,1, 112 f.) Wie dies unter den gegebenen Bedingungen gelingen könnte, weiß Hegel jedoch nicht zu sagen. Kurz: Hegel liefert eine für seine Zeit und angesichts der damaligen gesellschaftlichen Verhältnisse in Deutschland erstaunlich hellsichtige Diagnose, weiß aber nicht wirklich eine Therapie, die bei der Ursache ansetzt, nämlich bei der Eigendynamik des Systems der Bedürfnisse. Diese schlägt auf die bürgerliche Gesellschaft so durch, dass Freiheitsräume der gesellschaftlichen Individuen zu rechtsfreien Räumen werden, in denen Machtverhältnisse regieren, obwohl die Konstitution dieser Sphäre selbst und ihre Rahmenbedingungen als rechtskonform anzusehen sind und den Status des Personseins aller gesellschaftlichen Individuen nicht verletzen. Wie dies möglich ist, wird Marx später zu erklären versuchen, denn ihm zufolge verletzt die Aneignung des Mehrwerts durch den Kapitalisten ebenfalls nicht das bürgerliche Vertragsrecht und den Status der Lohnarbeiter als freie Personen. Hegels Palliativmittel gegen die Auswüchse der bürgerlichen Gesellschaft sind die Korporationen und der Appell an die Bourgeois wie auch den armen Pöbel, sich auf den Boden des Allgemeinen und der Rechtlichkeit zu stellen, um seinen Eigennutz zu brechen und ihn »zur bewußten Thätigkeit für einen gemeinsamen Zweck« zu erheben (GW 14,1, 198).28 Dass dieses Mittel heute noch zureichend sein könnte, wird vermutlich niemand ernsthaft behaupten wollen. Und ebenso müsste heute die Frage gestellt werden, ob nicht schon lange das eingetreten ist, was Hegel befürchtet hatte, nämlich die Auslieferung der politischen Gemeinwesen an eine inzwischen globalisierte Ökonomie. Eine Beschränkung ihrer Eigendynamik durch einzelne Staaten dürfte illusionär sein. Der Grund dieser Dynamik liegt darin, dass die bürgerliche Gesellschaft aus sich selbst heraus Allgemeinheit nur als (abstrakte) Verstandes-Allgemeinheit hervorbringt, welche partikulare Zwecke und Interessen auf konfliktträchtige Weise vermittelt. Die Kor28 Vgl. GW 14,1, 198: »So ist auch anerkannt, daß es [das Mitglied der Korporation, Verf.] einem Ganzen, das selbst ein Glied der allgemeinen Gemeinschaft ist, angehört und für den uneigennützigern Zweck dieses Ganzen Interesse und Bemühung hat: – es hat so in seinem Stande seine Ehre.«
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porationen sollen dagegen ein Moment konkreter Allgemeinheit in die bürgerliche Gesellschaft hineintragen und in ihr verankern, das erst im Staat voll zur Geltung kommt. In Bezug auf Hegels Theorie des Staates ist hierbei auf einen Punkt besonders hinzuweisen. In den Grundlinien der Philosophie des Rechts heißt es, dass der Staat als substantielle Einheit »Selbstzweck« sei und daher auch »das höchste Recht gegen die Einzelnen« habe, »deren höchste Pflicht es ist, Mitglieder des Staats zu seyn«. (GW 14,1, 201) Dies kann jedoch nur im Blick auf die Aufgabe des Staates Geltung beanspruchen, den Bestand der Freiheit (einschließlich des Rechtes der Subjektivität) zu sichern. Es bedeutet, dass Hegel überhaupt das Problem der Freiheit aus einer individuellen Perspektive herausrückt und letztlich zum Problem der Gestaltung des gesellschaftlichen Naturverhältnisses und der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse der Individuen zueinander macht. In ihnen muss sich das »Prinzip der neuern Welt überhaupt« bewähren, nämlich die »Freiheit der Subjektivität«, weshalb alle Staatsverfassungen (und mit ihnen alle gesellschaftlichen Organisationsformen) einseitige seien, »die das Prinzip der freien Subjektivität nicht in sich zu ertragen vermögen und einer ausgebildeten Vernunft nicht zu entsprechen wissen«.29 (5) Hegels grundlegende Einsicht besteht darin, dass die abstrakte Allgemeinheit Freiheitsräume konstituiert, die nicht preisgegeben werden dürfen, wenn nicht der Staat vom konkreten in ein abstrak tes Allgemeines totalitär umschlagen soll. In diesem Sinne hat Rolf Henrich als DDR-Bürger noch vor dem Ende der DDR den Staat des sogenannten »realen Sozialismus«, ein Diktum des HegelSchülers Eduard Gans’ zitierend, als »vormundschaftlichen Staat« beschrieben, 30 was noch eine relativ milde Variante eines verselbständigten Allgemeinen bezeichnet. Zu den Freiheitsräumen, die aufzuheben, aber nicht abstrakt zu negieren sind, gehört nach Hegels Einsicht auch die bürgerliche Gesellschaft, ungeachtet der ihr immanenten destruktiven Tendenzen. Als aufgehobene Moralität Grundlinien, 318. Henrich, Der vormundschaftliche Staat. Vom Versagen des real existierenden Sozialismus, Reinbek 1989. 29 Hegel, 30 Rolf
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stellt sie einen Raum nicht mehr nur individueller, sondern sozialer Freiheit dar, wie Axel Honneth es nennt. 31 Das Problem besteht jedoch darin, dass die Freiheitsressourcen, welche die bürgerliche Gesellschaft an sich bereithält – die Freiheit individuell bestimmter Lebensentwürfe und -gestaltungen in der Gesellschaft –, letztlich nur einem immer kleiner werdenden Teil der sogenannten »Marktteilnehmer« zukommen kann und Rechtsverhältnisse schließlich in Machtverhältnisse umschlagen. Hegel sah dies sehr deutlich, wusste aber keinen anderen Rat als die Stärkung des gesinnungsmäßigen Elements (»Ehre«). Dass eine wirkliche Lösung nicht darin bestehen kann, diese Sphäre abstrakt zu negieren, wusste auch Karl Marx, der sich auch in dieser Hinsicht als Schüler Hegels erweist. Er unterscheidet zwischen dem »individuellen, auf eigne Arbeit gegründeten« Eigentum sowie dem kapitalistischen Privateigentum an Produktionsmitteln. In einer postkapitalistischen Gesellschaft wäre »das individuelle Eigentum auf Grundlage der Errungenschaft der kapitalistischen Ära: der Kooperation und des Gemeinbesitzes der Erde und der durch die Arbeit selbst produzierten Produktionsmittel«32 allererst wiederherzustellen. Diese These hat kaum Eingang in die Diskussionen um Marx und schon gar nicht in den politischen Marxismus gefunden. Ihre Sprengkraft wird deutlich, wenn man sich klarmacht, dass »individuelles Eigentum« hier nicht individuelle Konsumgüter bedeuten kann, denn über die verfügt auch im Kapitalismus jede und jeder. Gemeint sein kann also nur das Recht, als Produzent (und nicht als »Marktteilnehmer«) über die Produktion und Distribution der Produkte in Kommunikation mit den anderen Produzenten mitbestimmen zu können. Ein solches Recht würde die soziale Freiheit in einem System wechselseitiger Bedürfnisbefriedigung mit einem Moment konkreter Allgemeinheit verbinden, das Hegel mit den Korporationen der bürgerlichen Gesellschaft überstülpen wollte. Marx’ Alternative ist jedoch keine zu Hegel schlechthin, sondern bleibt im Rahmen des Freiheitskonzepts der Grundlinien der Philosophie des Rechts.
Recht der Freiheit, 232 ff. Das Kapital, Bd. 1, MEW, Bd. 23, 791.
31 Honneth, 32 Marx,
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Glauben und Zutrauen Hegels Deutung des lebensweltlichen Bewusstseins (1) Für das spekulative Denken Hegels scheint das, was man seit Husserl und Alfred Schütz »Lebenswelt« nennt, keine besondere systematische Bedeutung zu haben. Was gar das lebensweltliche Bewusstsein betrifft, so scheint es nur negativ in den Blick zu kommen: als defizitäre Erkenntnisweise, kontaminiert mit Sinnlichkeit, als Abwesenheit der Vernunft und des Begriffs – Un-Vernunft –, ja sogar als Ablehnung der Vernunft. Das unmittelbare Wissen im Sinne des Jacobischen ›Glaubens‹, dessen Konzept ja tatsächlich auf die Common-sense-Philosophie von Thomas Reid zurückgeht,1 ist für Hegel – nach Auskunft des Paragraphen 63 der dritten Auflage der Enzyklopädie – »ganz dasselbe, was sonst Eingebung, Offenbahrung des Herzens, ein von Natur in den Menschen eingepflanzter Inhalt, ferner insbesondere auch gesunder Menschenverstand, common sense, Gemeinsinn, genannt worden ist. Alle diese Formen machen auf die gleiche Weise die Unmittelbarkeit, wie sich ein Inhalt im Bewußtsein findet, eine Thatsache in diesem ist, zum Princip.« (GW 20, 104) Der gemeine oder gesunde Menschenverstand, also unser alltägliches, ›lebensweltliches‹ Bewusstsein, scheint demnach eher zu kränkeln und befindet sich jedenfalls in keiner besonders illustren Gesellschaft. Tatsächlich sind viele Interpreten davon überzeugt, dass Hegel mit diesem Bewusstsein nicht viel anfangen kann und will und es nur benutzt, um in Abgrenzung dazu seinen eigenen philosophischen Standpunkt darzulegen und zu begründen. Den Gegensatz zwischen beiden betont etwa Hans Friedrich Fulda im Blick auf die 1 Vgl. Brady Bowman, Notiones Communes und Common Sense. Zu den Spinozanischen Vorraussetzungen von Jacobis Rezeption der Philosophie Thomas Reids, in: Friedrich Heinrich Jacobi. Ein Wendepunkt der geistigen Bildung der Zeit, hg. v. Walter Jaeschke und Birgit Sandkaulen, Hamburg 2004, 159–176.
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Phänomenologie des Geistes sehr stark: »Auf der einen Seite steht nun ein Bewußtsein, das in zeitspezifischen Befangenheiten lebt, Hegel nennt es das natürliche Bewußtsein […] als naturwüchsig, im ›Dunkel des gelebten Augenblicks‹ befangen. Auf der andern Seite steht die Philosophie, die Verkehrungen zu berichtigen hat, welche im natürlichen Bewußtsein enthalten sind. Dadurch aber stellt sie sich diesem natürlichen Bewußtsein selber als etwas Verkehrtes dar […]. So kommt es – ähnlich wie für Platon – zum Gegensatz eines scheinbaren Wissens, in dem wir gewöhnlich leben, und des wirklichen Wissens wahrer Philosophie.«2 Es gibt aber, so meine These, gute Gründe dafür, dass Hegel dem natürlichen oder alltäglichen Bewusstsein des common sense mehr zutraut als bloß die Verkehrung, den täuschenden Schein, die doxa, und gerade dadurch sich auch von Platon unterscheidet. Platon, so rühmt er in seinen Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, habe »die Grundlage gemacht, von einer intellektuellen Welt, die an und für sich ist, die nicht in die Wahrnehmung kommt und in das reflektierende Bewußtsein« (GW 30,1, 324). Zugleich macht Hegel jedoch auch deutlich, dass die Vermittlung des Einzelnen und des Allgemeinen im Fortgehen zum Besonderen bei Platon allenfalls ansatzweise erkennbar sei. Anders gesagt: Das Einzelne, ebenso wie das auf es fixierte alltägliche wahrnehmende Bewusstsein, ist dem Allgemeinen und damit auch dem philosophischen Bewusstsein nicht nur entgegengesetzt, sondern zugleich auch in Einheit mit ihm als dessen Moment. Es muss daher ein Wahrheitsmoment an sich haben und nicht nur täuschender Schein sein. Mit diesem Wahrheitsmoment beginnt Hegel in seinem »Vorbegriff« zur Logik in der dritten Auflage der Enzyklopädie die »erste Stellung des Gedankens zur Objektivität«; sie ist »das unbefangene Verfahren, welches […] den Glauben enthält, daß durch das Nachdenken die Wahrheit erkannt, das, was die Objecte wahrhaft sind, vor das Bewußtseyn gebracht werde. In diesem Glauben geht das Denken geradezu an die Gegenstände, reproducirt den Inhalt der Empfindungen und Anschauungen aus sich zu einem Inhalte des Hegel, 83. – Der Ausdruck ›Dunkel des gelebten Augenblicks‹ stammt von Ernst Bloch; vgl. Das Prinzip Hoffnung, Bd. 1, Frankfurt / M 1967, 334 ff. 2 Fulda,
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Gedankens und ist in solchem als der Wahrheit befriedigt. Alle anfängliche Philosophie, alle Wissenschaften, ja selbst das tägliche Thun und Treiben des Bewußtseyns lebt in diesem Glauben.« (GW 20, 69 f.) Dieses Bewusstsein ist einerseits, selbstverständlich, defizitär in genau dem Maße, wie das unmittelbare Wissen des common sense – das Stichwort »Glaube« fällt auch hier – überhaupt defizitär ist. Es ist aber auch ersichtlich, worin das Wahrheitsmoment des täglichen Tuns und Treibens des Bewusstseins liegt: Es ist, in der Terminologie der Phänomenologie des Geistes zu sprechen, frei von dem, was Hegel den »Gegensatz des Bewusstseins« nennt, also frei von der Annahme, in dem Bezug des denkenden Erkennens auf Gegenstände tue sich eine Kluft auf, welche notwendig zu einem Misstrauen in die Denkbestimmungen führen müsse. Ich werde im Folgenden zunächst diesem Aspekt des theoretischen Erkennens nachgehen, indem ich das Verhältnis des common sense zum spekulativen Bewusstsein in der Jenaer Differenzschrift (2) und anschließend in der Philosophie des subjektiven Geistes behandle (3). Es gibt aber noch einen anderen, eher praktisch-politischen Aspekt des Problems. In der »Vorrede« zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts schreibt Hegel: »Das einfache Verhalten des unbefangenen Gemüthes ist, sich mit zutrauensvoller Überzeugung an die öffentlich bekannte Wahrheit zu halten, und auf diese feste Grundlage seine Handlungsweise und feste Stellung im Leben zu bauen.« (GW 14,1, 7) Mit diesem, in der gegenwärtigen Diskussion weniger beachteten Aspekt 3 werde ich mich zum Schluss auseinandersetzen (4). Beide Aspekte, das sei vorab festgehalten, weisen dieselbe Struktur auf: in theoretischer Hinsicht spricht Hegel von einem ›unbefangenen Verfahren‹, in praktischer Hinsicht von einem ›unbefangenen Gemüt‹; Korrelat des ersten ist der ›Glaube‹, Korrelat des zweiten das ›Zutrauen‹, womit, nebenbei gesagt, auch der Titel meiner Ausführungen erläutert ist. In beiderlei Hinsicht ist zu fragen, ob ›Glaube‹ und ›Zutrauen‹ dadurch gekennzeichnet sind, dass der 3 Vgl. Birgit Sandkaulen, Kommentar zu »Das Ewige, das gegenwärtig ist – Metaphysik und Naturrecht« von Walter Jaeschke, in: Autonomie und Normativität. Zu Hegels Rechtsphilosophie, hg. v. Kurt Seelmann und Benno Zabel, Tübingen 2014, 432–436.
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Skeptizismus das Bewusstsein noch nicht ergriffen hat (wie es dem natürlichen Bewusstsein zukommen würde), oder dadurch, dass der Skeptizismus sich schon vollbracht hat, indem er – gemäß der Phänomenologie – ein Misstrauen in das Misstrauen gesetzt hat. Für das theoretische Verhältnis schiene diese Frage gleichgültig zu sein, denn es geht ja nicht um die Affirmation bestimmter inhaltlicher Behauptungen des common sense, sondern um die grundsätzliche Einsicht, dass dem Denken gegenständliche Wahrheit zukommt. Für das praktische Verhältnis freilich wäre es, vorsichtig gesagt, prekär, wenn kein Misstrauen in das Zutrauen mehr gesetzt werden könnte oder dürfte, denn hier geht es um Affirmation und/ oder Kritik bestehender Verhältnisse. Dies wird zu erkunden sein. Zunächst aber zum ersten Aspekt: dem Verhältnis des common sense zur Spekulation.4 (2) Das »Verhältniss der Spekulation zum gesunden Menschenverstand« behandelt Hegel in seiner Schrift Differenz des Fichte’schen und Schelling’schen Systems der Philosophie (Jena 1801) innerhalb des Kapitels »Mancherlei Formen, die bey dem jetzigen Philosophiren vorkommen«. Vorausgegangen ist die Erläuterung des Standpunktes der »Reflexion als Instrument des Philosophirens«, in welcher das Konzept der sich selbst vernichtenden Reflexion zum Tragen kommt: »Nur insofern die Reflexion Beziehung aufs Absolute hat, ist sie Vernunft, und ihre That ein Wissen; durch diese Beziehung vergeht aber ihr Werk […]; es gibt deßwegen keine Wahrheit der isolirten Reflexion, des reinen Denkens, als die ihres Vernichtens.« (GW 4, 19) Hegel operiert hier noch nicht mit dem Begriff der Aufhebung, sondern stellt der Reflexion die transzendentale Anschauung entgegen, welche die Identität des Subjektiven und Objektiven zum Inhalt hat und Begriff und Sein zugleich ist und sich daher – im Unterschied zum späteren System – allein begrifflich nicht fassen lässt. 5 Der gesunde Menschenverstand ist 4 Dazu vgl. Christoph Halbig, Vorstellung und Denken als epistemologische und als metaphilosophische Kategorien bei Hegel, in: Spekulation und Vorstellung in Hegels enzyklopädischem System, hg. v. Kazimir Drilo und Axel Hutter, Tübingen 2015, 157–178. 5 Vgl. Jaeschke, Hegel-Handbuch, 112–114.
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demnach so positioniert, dass er auf der einen Seite von der Krankheit zum Tode, welche die Reflexion in sich trägt, nicht angesteckt und insofern tatsächlich »gesund« ist, auf der anderen Seite kann er sich nicht auf den spekulativen, philosophischen Standpunkt erheben, im Gegenteil. Das hindert Hegel jedoch nicht, dem gemeinen Menschenverstand ein Wahrheitsmoment derart zuzusprechen, dass er sich zwar nicht bewusst zur Wahrheit erhebt, aber doch – wenigstens punktuell – in der Wahrheit steht und aus ihr heraus sich verhält. Der gesunde Menschenverstand (ich gebrauche diesen Ausdruck gleichbedeutend mit common sense und ›lebensweltliches Bewusstsein‹) weiß »Einzelheiten, aus dem Absoluten ins Bewußtseyn gezogen, lichte Punkte, die für sich aus der Nacht der Totalität sich erheben« (GW 4, 20). Dieses Wissen, das im Absoluten verankert ist, hat lebenspraktische Bedeutung: Die lichten Punkte sind gleichsam Orientierungshilfen, »mit denen der Mensch sich vernünftig durchs Leben durchhilft; es sind ihm richtige Standpunkte von denen er ausgeht, und zu denen er zurückkehrt«. (GW 4, 20) Wenn es aber, so ist zu fragen, vernünftig nur für ihn ist, d. h., für den Menschen im Zustand des gesunden Menschenverstandes, woher hat dieser Verstand dann die Beglaubigung, dass er von dem ausgehen kann, was für ihn ein Wissen ist? An dieser Stelle bringt Hegel ebenfalls das Zutrauen ins Spiel: Zur Wahrheit der ›lichten Punkte‹ habe der Mensch »nur solches Zutrauen […], weil ihn das Absolute in einem Gefühl dabey begleitet, und dieß ihnen allein die Bedeutung gibt«. (GW 4, 20) Es versteht sich, dass diese Auskunft von Hegels späteren Positionen aus keinen Bestand haben kann. Das Gefühl gehört dort, wenn es um Wahrheitsansprüche geht, dem weichen Element des bloßen Meinens an, d. h., es kann für sich genommen nur ein subjektives Fürwahrhalten begründen, aber nicht mehr. Für den frühen Jenaer Hegel der Differenzschrift ist freilich das Gefühl nicht durch seinen Gegensatz zur (begrifflichen) Reflexion verdächtig, sondern gerade durch diesen Gegensatz ein geeigneter Kandidat für ein Wahrheitsmoment im gesunden Menschenverstand. Die »Kraft« des gesunden Menschenverstandes besteht nach Hegel gerade darin, »seine Aussprüche nur durch die dunkle, als Gefühl vorhandne Totalität zu unterstützen, und allein mit demselben sich der unstä204 | Realität
ten Reflexion entgegenzustemmen«. (GW 4, 20) Durch das Gefühl, so dunkel es sein mag, gewinnt der gesunde Menschenverstand die Kraft der Wahrheit gegenüber der Reflexion, die ihre Wahrheit nur in ihrer (Selbst-)Vernichtung hat. Dies freilich und damit auch das Wahrheitsmoment des common sense lässt sich nur vom Standpunkt der Spekulation aus einsehen, denn der gesunde Menschenverstand bleibt gegenüber dem, was er in Wahrheit ist, blind: Er fühlt das Absolute nur, aber er weiß es nicht mit Bewusstsein. Entscheidend dabei ist, dass dieses Bewusstsein einer transzendentalen Anschauung und nicht etwa einer absoluten Reflexion zugeschrieben wird. Dies hat zur Konsequenz, dass eine Vermittlung zwischen dem gesunden Menschenverstand einerseits und der Spekulation andererseits nicht möglich ist. Das Gefühl, welches das Wahrheitsmoment des common sense trägt, ist ebenso unvermittelte Unmittelbarkeit wie die transzendentale Anschauung, aus der die spekulative Einsicht hervorgeht. Hieraus entsteht eine Asymmetrie. Der gesunde Menschenverstand, so Hegel, versteht nicht das Tun der Spekulation, wohl aber versteht die Spekulation den gesunden Menschenverstand, denn sie erkennt »auch das Absolute in demjenigen, was den Aussprüchen des gesunden Menschenverstandes zum Grunde liegt«. (GW 4, 20) Allerdings: Für den gesunden Menschenverstand sind es ja immer nur einzelne ›lichte Punkte‹, in denen er Bezug auf das Absolute – die Einheit von Begriff und Sein, Subjekt und Objekt – nimmt; er nimmt es daher nur im Einzelnen wahr, welches ihm als unmittelbar gewiss gilt, da die Totalität, das wahrhaft Allgemeine, in welchem das Einzelne untergegangen ist, für ihn dunkel bleibt und nur gefühlt wird. Das, was dem common sense als das »unmittelbar Gewisse« ist, ist »für die Philosophie zugleich ein Nichts« (GW 4, 20). Damit ist das Verhältnis zwischen dem gesunden Menschenverstand und der Spekulation grundlegend bestimmt. Während der gesunde Menschenverstand an die Spekulation nicht heranreicht, kann die Spekulation in ihm das Wahrheitsmoment erkennen, aber sie kann es ihm nicht zum Bewusstsein bringen. Beide bilden sozusagen unterschiedliche Universen, aber nur die Spekulation vermag in das andere zu schauen. Für den common sense jedoch ist die Spekulation die Vernichtung aller seiner Gewissheiten; er kann sie, wie Hegel schreibt, daher nicht nur »nicht verstehen, sonGlauben und Zutrauen | 205
dern er muß sie auch hassen, wenn er von ihr erfährt, und, wenn er nicht in der völligen Indifferenz der Sicherheit ist, sie verabscheuen und verfolgen«. (GW 4, 21) Könnte der gesunde Menschenverstand aber fassen, worum es bei der Vernichtung seiner Gewissheiten – der unmittelbaren Gewissheit des Einzelnen – eigentlich geht, so hielte er freilich die Spekulation »nicht für seine Gegnerin«, denn die absolute Identität, die ihre Wahrheit ist, bezieht sich auch auf die Einheit des Bewussten und Bewusstlosen und erfordert daher »auch die Vernichtung des Bewußtseyns selbst«, sofern es dem Bewusstlosen entgegengesetzt ist: »die Vernunft versenkt damit ihr Reflektieren der absoluten Identität und ihr Wissen und sich selbst bin ihren eignen Abgrund, und in dieser Nacht der blossen Reflexion und des räsonnirenden Verstandes, die der Mittag des Lebens ist, können sich beyde begegnen«. (GW 4, 23) (3) Hegel, so muss noch einmal betont werden, wandelt in der Differenzschrift auf Schellings Spuren, und so ist schon aus der Sicht des späteren Jenaer Hegel der hier gefeierte Mittag des Lebens eigentlich die Nacht, in der alle Kühe schwarz sind, wie die »Vorrede« zur Phänomenologie mit polemischer Spitze gegen Schelling erklärt (GW 9, 17). Damit ist aber auch die Bewusstlosigkeit des gesunden Menschenverstandes, sein Sich-Berufen auf ein Gefühl, nicht mehr als sein Wahrheitsmoment anzusehen, weil in ihm die letztliche Wahrheit der Reflexion, ihre Vernichtung, sich spiegelt. Vielmehr gilt jetzt: Wer auf das Gefühl als »sein inwendiges Orakel« sich beruft, macht sich kommunikationsunfähig: »er muß erklären, daß er dem weiter nichts zu sagen habe, der nicht dasselbe in sich finde und fühle; – mit andern Worten, er tritt die Wurzel der Humanität mit Füssen.« (GW 9, 47) Es scheint, als habe damit der common sense jede Wahrheit eingebüßt und sei tatsächlich nur noch negativ aus seiner Gegnerschaft gegen das spekulative philosophische Bewusstsein zu bestimmen. Dies könnte jedoch nicht erklären, weshalb der gesunde Menschenverstand als ›Glaube‹ und ›Zutrauen‹ dann wieder Wahrheitsmomente zugesprochen erhält. Geändert hat sich also nicht die grundlegende Einschätzung des alltäglichen Bewusstseins als in sich widersprüchlich, geändert hat sich vor allem die Begründung für das in ihm enthaltene Wahrheitsmoment. Begründet ist 206 | Realität
es jetzt in der Einheit des Erkenntnisprozesses, also darin, dass die Erkenntnis sich in Stufen eines Vermittlungsprozesses realisiert, die in ihrer Totalität die Wahrheit ausmachen: »Das Wahre ist das Ganze. Das Ganze aber ist nur das durch seine Entwicklung sich vollendende Wesen. Es ist von dem Absoluten zu sagen, daß es wesentlich Resultat, daß es erst am Ende das ist, was es in Wahrheit ist« (GW 9, 19). Das Absolute ist demnach kein Gegenstand, dessen man in Gefühl oder Anschauung inne werden könnte, sondern das immanente telos eines Entwicklungsprozesses, in dem die Einseitigkeit der anfänglichen, abstrakten Bestimmungen schrittweise aufgehoben wird, sie aber zugleich als Momente in das Ganze des Erkennens und damit das Absolute integriert werden. Ein Blick auf Hegels Philosophie des subjektiven Geistes in der Enzyklopädie kann deutlich machen, wie sich vor diesem Hintergrund das Bild des alltäglichen, lebensweltlichen Bewusstseins gegenüber der Differenzschrift verändert. Hegel beginnt die Entwicklung des Geistes bekanntlich mit der Anthropologie, der Unmittelbarkeit des Geistes als Seele oder Naturgeist im Menschen. Mit dem ›Erwachen‹ der Seele – eine Metapher, die ich hier nicht weiter erläutern kann – beginnt ein Differenzierungsprozess, in dem das Individuum die Dinge von sich unterscheidet und damit zugleich sich selbst von den Dingen außer ihm. Selbst- und Weltverhältnis entwickeln sich in wechselseitiger Beziehung; Individualisierung und Entwicklung des Selbstbewusstseins gehen einher mit der Erschließung der ›Welt‹ und umgekehrt. Das fühlende Individuum, wie es sich noch anthropologisch, d. h. innerhalb der Natürlichkeit des Geistes, darstellt, kann als ein erster Knotenpunkt in der Entwicklung des Selbst- und Weltverhältnisses angesehen werden, der aber noch prekär ist, sofern das Individuum sich noch nicht gegenüber der ›Welt‹ selbstbewusst fixiert hat und daher beides auch ineinanderfließt. Indem, wie Hegel betont, »Alles […] in der Empfindung« (GW 20, 397) ist – die ganze Welt, wie sie das Individuum sinnlich empfängt –, kann dieser Zustand auch in einen pathologischen umschlagen, die Verrücktheit als Verrückung der ganzen Welt in das Individuum. Es handelt sich demnach um eine trübe Mischung von Bewusstsein und Bewusstlosigkeit: »Diese Stufe des Geistes ist für sich die Stufe seiner Dunkelheit, indem sich ihre Bestimmung nicht zu bewußtem und verständigem Glauben und Zutrauen | 207
Inhalt entwickelt«; es handelt sich dabei um einen Zustand, »in welchen die schon weiter zu Bewußtseyn und Verstand bestimmte Entwicklung der Seele wieder herab versinken kann«. (GW 20, 403) Dies geschieht in der Krankheit, die Hegel hier dem lebensweltlichen Bewusstsein gegenüberstellt: »Zum concreten Seyn eines Individuums gehört die Gesammtheit seiner Grundinteresse, der wesentlichen und particulären, empirischen Verhältnisse, in denen es zu andern Menschen und mit der Welt steht«; der gesunde Mensch aber »weiß von dieser seiner Wirklichkeit, welche die concrete Erfüllung seiner Individualität ausmacht, auf selbstbewußte, verständige Weise« (GW 20, 407). Dieses Selbstbewusstsein nährt sich »durch Religion, subjective Vernunft und Charakter« (GW 20, 408). Hier tritt erstmals in den Blick, was dann für ›Glaube‹ und ›Zutrauen‹ des gesunden Menschenverstandes bestimmend sein wird. Auf der anthropologischen Ebene jedoch ist hierfür nicht der systematische Ort, denn das hierfür zentrale Selbstbewusstsein konstituiert sich erst in der folgenden Phänomenologie des Geistes und wird in der Psychologie näher bestimmt. Das Selbstgefühl der Anthropologie bringt es nur bis zur »zweite[n] Natur« der Gewohnheit (GW 20, 418). Hierunter versteht Hegel z. B. den aufrechten Gang, Sehen, Reden, Denken überhaupt als routinierte Fertigkeiten. Erst in den weiteren Vermittlungsschritten aber, die hier nicht weiter im Detail zu verfolgen sind, bildet sich ein geistiges Selbstbewusstsein aus, das schließlich als freier Geist bestimmt ist, d. h. als freier Wille, der die »Einheit des theoretischen und praktischen Geistes« ist und damit »an sich die Idee« oder »nur der Begriff des absoluten Geistes«. (GW 20, 476) Es ist festzuhalten, dass die Vermittlung des subjektiven Bewusstseins mit dem Absoluten – hier mit der absoluten Idee und dem absoluten Geist – schrittweise erfolgt und insofern jede Art von Unmittelbarkeit des Bezugs, wie in der Differenzschrift, entfällt. Und weiter ist festzuhalten, dass erst mit dem freien Geist die Vermittlung des common sense mit dem spekulativen Bewusstsein – wenn auch nur auf einer ersten Stufe – vollzogen ist. Hier ist der Punkt, an dem ›Glaube‹ und ›Zutrauen‹ ihren Ort haben, denn ihre Eigenart besteht ja gerade darin, sich ohne ein ausgebildetes spekulatives Bewusstsein auf dessen Inhalte beziehen zu können. Der unbefangene Glaube an die Objektivität des Denkens fällt da208 | Realität
bei in die theoretische Seite des freien Geistes. Er bereitet insofern keine größeren Probleme, als leicht einzusehen ist, dass in der weiteren Entwicklung des geistigen Erkennens bis hin zum absoluten Geist in Gestalt der Philosophie, also letztlich der Wissenschaft der Logik, nicht die Objektivität des Denkens an sich, sondern nur die objektive Reichweite bzw. Gültigkeit bestimmter Denkbestimmungen des gesunden Menschenverstandes in Frage gestellt wird. Problematischer ist das ›Zutrauen‹, das sich auf die gesellschaftlichpolitische Wirklichkeit bezieht. Ihm wende ich mich nun zu. (4) Zum Schluss der Philosophie des subjektiven Geistes, in den Paragraphen 481 und 482 zum freien Geist, geht Hegel auf die praktischen Folgen davon ein, dass der freie Geist als Geist des Individuums wirklich ist. Hier kommt die Religion ins Spiel, denn für Hegel ist das Bewusstsein der individuellen Freiheit »durch das Christenthum in die Welt gekommen«; dies betrifft aber nicht nur das religiöse Verhältnis des Menschen, denn, so Hegel weiter, »wenn in der Religion als solcher der Mensch das Verhältniß zum absoluten Geist als sein Wesen weiß, so hat er weiterhin den göttlichen Geist auch als in die Sphäre der weltlichen Existenz tretend gegenwärtig, als die Substanz des Staats, der Familie u. s. f.«. (GW 20, 477) Die Religion, deren eigentümliches geistiges Medium nach Hegel ja die Vorstellung und nicht der Begriff ist, tritt demnach als diejenige Instanz auf, in der sich das Freiheitsbewusstsein unterhalb der Schwelle des spekulativen Begriffs manifestiert. Hegel geht hierbei davon aus, dass die Menschen die Idee der Freiheit nicht »haben, sondern sie sind«: »Es ist diß Wollen der Freiheit nicht mehr ein Trieb, der seine Befriedigung fodert, sondern der Charakter, – das zum trieblosen Seyn gewordene geistige Bewußtseyn.« (GW 20, 477) Hier haben wir wieder die bereits oben erwähnte Trias von Religion, subjektiver Vernunft und Charakter. Wenn dies die Grundlage des ›Zutrauens‹ ist, von dem Hegel in den Grundlinien der Philosophie des Rechts spricht, dann ist festzuhalten, dass dieses Zutrauen aus einem internalisierten Freiheitsbewusstsein erwächst, das die soziale und politische Wirklichkeit an der Idee der Freiheit misst. Denn wer die Idee der Freiheit internalisiert hat, wird, so Hegel, sich nicht mehr zum Sklaven machen lassen: »Das Christenthum hat es in seinen Anhängern zu Glauben und Zutrauen | 209
ihrer Wirklichkeit gemacht, z. B. nicht Sclave zu seyn; wenn sie zu Sclaven gemacht, wenn die Entscheidung über ihr Eigenthum in das Belieben, nicht in Gesetze und Gerichte gelegt würde, so fänden sie die Substanz ihres Daseyns verletzt.« (GW 20, 477) Hegels Zutrauen in das Zutrauen beruht demnach in erster Linie darauf, dass niemand, der die Freiheit erlebt hat, wieder freiwillig Sklave werden will, und nicht darauf, dass er grundsätzlich Zutrauen zu den sozialen und politischen Strukturen hat, wie immer sie auch beschaffen sein mögen. Man muss auch Hegels Begriff der Gesinnung vor diesem Hintergrund lesen; etwa, wenn es in den Grundlinien der Philosophie des Rechts heißt, die Religion habe »die absolute Wahrheit zu ihrem Inhalt, und damit fällt auch das Höchste der Gesinnung in sie«. (GW 14,1, 214)6 Dies ist so zu verstehen, dass die Religion das Freiheitsbewusstsein trägt, das auch dem Staat zugrunde liegt: »Staat und Gesetze, wie die Pflichten, erhalten in diesem Verhältniß für das Bewußtseyn die höchste Bewährung und die höchste Verbindlichkeit« (GW 14,1, 214). Die Gesinnung, das ist hier besonders hervorzuheben, bezieht sich nicht nur auf das Verhältnis des Bürgers zum Staat, sondern auch auf den ›Geist‹ der staatlichen Institutionen. Untertanengeist soll hier nicht befördert werden; deutlich heißt es an anderer Stelle der Grundlinien: »Es ist ein großer Eigensinn, der Eigensinn, der dem Menschen Ehre macht, nichts in der Gesinnung anerkennen zu wollen, was nicht durch den Gedanken gerechtfertigt ist, – und dieser Eigensinn ist das Charakteristische der neuern Zeit, ohnehin das eigenthümliche Princip des Protestantismus.« (GW 14,1, 16) Dennoch bleibt mehr als ein bloßes Unbehagen. Ich will das in drei wesentlichen Punkten deutlich machen. – Erstens. Wenn das Zutrauen des alltäglichen Bewusstseins in die »öffentlich bekannte Wahrheit« (GW 14,1, 7) von Seiten der gesellschaftlichen und poli tischen Verhältnisse erschüttert wird, dann wird der Eigensinn des Individuums sich mit diesen Verhältnissen nicht versöhnen können und wollen – und nach Hegel auch mit Recht nicht. Für diesen Konfliktfall hat Hegel jedoch keine Verfahrensregelung vor6 Vgl. Jun-Ho Won, Hegels Begriff der politischen Gesinnung. Zutrauen, Patriotismus und Vertrauen, Würzburg 2002.
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gesehen. Bekannt ist, worauf vor allem Ludwig Siep immer wieder aufmerksam gemacht hat, dass Hegel in seiner Rechtsphilosophie Abwehrrechte des Einzelnen gegen den Staat, in Übereinstimmung mit den meisten Staatstheorien seiner Zeit, nicht vorgesehen hat.7 Der Fall des berechtigten Misstrauens ist gar nicht vorgesehen. – Zweitens. Hegels Annahme, das Freiheitsbewusstsein werde, einmal internalisiert, gleichsam zu einer zweiten Natur des modernen Menschen, dürfte kaum haltbar sein. Die Geschichte gerade des 20. und 21. Jahrhunderts beweist eher vielmehr, dass Menschen bereit sind, individuelle Freiheit gegen Sicherheiten – materielle wie psychische – einzutauschen und sich autoritären Strukturen zu unterwerfen. Zwar mag der Akt der Unterwerfung selbst noch immer ein Akt der Freiheit sein, jedoch kann das Zutrauen sich in der Folge dann gerade als Autoritätsgläubigkeit äußern. – Drittens. Es dürfte heute kaum mehr möglich sein, in so unbefangener Weise, wie Hegel es tut, einen säkularen Staat mit einer religiösen Gesinnung als Grundlage zu unterfüttern. 8 Schon Hegel ging ja davon aus, dass nicht mit jeder Religion Staat im Sinne seines Vernunftstaatgedankens zu machen sei, etwa mit dem Katholizismus.9 Abgesehen davon wäre es bei einer wachsenden Zahl religionsindifferenter oder dezidiert atheistisch gesonnener Bürger (auch wenn man ihnen kulturhermeneutisch noch religiöse Sinndeutungen zuschreiben will10) auch um die politische Gesinnung zunehmend schlecht bestellt. Hegels Philosophie des Rechts würde nach meiner Auffassung keinen Schaden nehmen, wenn ein Misstrauen in das Zutrauen in gesellschaftliche und staatliche Institutionen gesetzt würde. Tatsächlich ist ja das spekulative Bewusstsein, welches das immanente telos des lebensweltlichen Alltagsbewusstseins bildet, nur in dem Sinne vollendet, als die Kategorienlehre der Wissenschaft 7 Vgl. Ludwig Siep, Anerkennung als Prinzip der praktischen Philosophie, Hamburg 22014, 45. 8 Zu dieser Spannung vgl. Siep, Der Staat als irdischer Gott. 9 Vgl. Hans-Joachim Birkner, Deutung und Kritik des Katholizismus bei Schleiermacher und Hegel, in: ders., Schleiermacher-Studien, Berlin u. a. 1996, 125–136; hier: 135. 10 Vgl. Wilhelm Gräb, Sinnfragen. Transformationen des Religiösen in der modernen Kultur, Gütersloh 2006.
Glauben und Zutrauen | 211
der Logik das Allgemeine unseres theoretischen und praktischen Selbst- und Weltverhältnisses erfasst,11 keineswegs aber die eigentümliche Logik konkreter realphilosophischer Gegenstände. Die absolute Idee oder absolute Methode (beides ist ein und dasselbe) muss daher allererst in den Realwissenschaften der Natur und des Geistes sich wiederfinden können; erst am Ende des Durchgangs durch Natur und Geist wird, so die Formulierung der Enzyklopädie, »das Logische« wieder erreicht, aber »mit der Bedeutung, daß es die im concreten Inhalte als in seiner Wirklichkeit bewährte Allgemeinheit ist«. (GW 20, 569) Dass dieser Prozess abgeschlossen sei – wenn er denn jemals abzuschließen ist – wird kaum behauptet werden können, und auch Hegel hat nicht behauptet, dies geleistet zu haben: Sein System ist in diesem Sinne nicht durchgeführt, sondern in progress, wovon schon die verschiedenen Fassungen der realphilosophischen Systemteile und die Tatsache zeugen, dass – mit Ausnahme der Logik – nur ›Grundrisse‹ und ›Grundlinien‹ vorliegen. Es gibt daher keinen Grund, dem Bewusstsein der alltäglichen Lebenswelt Orientierungsleistungen zuzutrauen, die einen spekulativen Gehalt in sich schließen, den nicht einmal das spekulative Bewusstsein abschließend zu rechtfertigen vermag. Noch immer gilt, was Hegel in seinen Vorlesungen zur Philosophie der Religion zum Schluss sagte: »Wie sich die zeitliche, empirische Gegenwart aus ihrem Zwiespalt herausfinde, wie sie sich gestalte, ist ihr zu überlassen und ist nicht die unmittelbar praktische Sache und Angelegenheit der Philosophie.«12 Demgegenüber wäre der Appell der Philosophie an ein Zutrauen in die gegebenen gesellschaftlichen und politischen Institutionen nichts weiter als das, was H egel ständig bekämpfte: ein bloßes Versichern, das seine Gründe nicht nennt. In bestimmten Fällen mag es zu rechtfertigen sein, in an11 Vgl. Gunnar Hindrichs, Kategorienrahmen und Begriffswandel. Zwischen Kant und Hegel, in: Spekulation und Vorstellung in Hegels enzyklopädischem System, hg. v. Kazimir Drilo und Axel Hutter, Tübingen 2015, 119–155; vgl. auch oben Wer denkt absolut? 12 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Religion. Nebst einer Schrift über die Beweise vom Daseyn Gottes. Zweiter Theil, hg. v. Philipp Marheineke, Berlin 21840, 356.
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deren Fällen aber wird der Begriff der Freiheit, der mit Hegels Begriff des Absoluten eins ist, zur normativen Grundlage einer Kritik, welche die Zustimmung zu dem, was ist, aus Vernunftgründen verweigert.13
13
Vgl. Andreas Arndt, Freiheit, Köln 2019. Glauben und Zutrauen | 213
III . DIE RE ALITÄT UND DAS AB SOLU TE
Die Vollendung des absoluten Geistes im objektiven Geist: Weltgeschichte, Religion und Staat (1) Der objektive Geist vollendet sich im absoluten Geist. An dieser Nahtstelle steht systematisch die Weltgeschichte. Diese ist Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. Vollendet ist dieses Freiheitsbewusstsein im absoluten Geist, genauer: im absoluten Geist als Philosophie und dessen Resultat, der absoluten Idee, wie sie in der Wissenschaft der Logik expliziert wird. Mit dem Eintritt in das Reich des Absoluten, in dem sich der Begriff der Freiheit vollendet, scheint daher die Realisierung dieses Begriffs zugunsten der Versöhnung im Gedanken suspendiert zu sein. So jedenfalls wird Hegel von denen verstanden, die ihm – mit welchen Vorzeichen auch immer – ein affirmatives Verhältnis zum Bestehenden zuschreiben. Hieran sind allerdings Zweifel angebracht. Wäre es so, dass Hegel die Flucht in den Gedanken antreten würde, dann würde das die Grundlagen seines Systems beschädigen. Die absolute Idee wäre dann nicht mehr ebenso theoretisch wie praktisch und die absolute Methode wäre kein Kreislauf mehr, der im Fortschreiten zugleich zurückgeht, sondern Aufstieg in einer Hierarchie durch Abstraktion – also genau das Gegenteil derjenigen Allgemeinheit, welche die absolute Idee darstellen soll. Schon aus Gründen hermeneutischer Billigkeit sollte daher Hegels Aussage von 1808 ernstgenommen werden: »Die theoretische Arbeit, überzeuge ich mich täglich mehr, bringt mehr zustande in der Welt als die praktische; ist erst das Reich der Vorstellung revolutioniert, so hält die Wirklichkeit nicht aus.«1 Wenn dies gilt, dann gilt auch die Antithese zum eingangs Gesagten: Der absolute Geist vollendet sich im objektiven Geist. Tatsächlich findet innerhalb der Philosophie des absoluten Geistes auch eine Rückkehr zum objektiven Geist statt: Die Religion als 1 An Niethammer, 28. 10. 1808, in: Briefe von und an Hegel, Bd. 1: 1785–1812, hg. v. Johannes Hoffmeister, Hamburg 31969, 253.
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die zweite Gestalt des absoluten Geistes vollendet sich gleichsam doppelt: zum einen in der Philosophie als der dritten und höchsten Gestalt des absoluten Geistes, zum anderen aber auch im vernünftigen Staat, denn für Hegel hat »das Reich Gottes, die Gemeine […] ein Verhältniß zum Weltlichen […] Für diese Weltlichkeit sind die Prinzipe vorhanden in diesem Geistigen, das Prinzip, die Wahrheit für das Weltliche ist das Geistige.« (GW 29,2, 225) Es handelt sich hierbei also um genau diejenige Konstellation, die Hegel in seinem Brief an Niethammer angesprochen hatte: Die Wirklichkeit hält dem geistigen Prinzip nicht stand. Diese Realisierung verändert aber auch die Religion, denn sie bedeutet, dass »das Geistliche die Existenz seines Himmels zum irdischen Diesseits und zur gemeinen Weltlichkeit, in der Wirklichkeit und in der Vorstellung, degradirt, – das Weltliche dagegen sein abstractes Fürsichseyn zum Gedanken und dem Principe vernünftigen Seyns und Wissens, zur Vernünftigkeit des Rechts und Gesetzes hinaufbildet.« (GW 14,1, 281) Die Vollendung des absoluten Geistes qua Religion im objektiven Geist hat damit die Konsequenz, die der junge Marx der Verwirklichung der Philosophie zuschreibt. Durch die Beziehung zum Weltlichen entsteht ein Reflexionsverhältnis, welches die Abgeschlossenheit des Denkens bzw. des religiösen Vorstellens in sich aufbricht: »Die innere Selbstgenügsamkeit und Abrundung ist gebrochen. Was innerliches Licht war, wird zur verzehrenden Flamme, die sich nach außen wendet. So ergiebt sich die Consequenz, daß das Philosophisch-werden der Welt zugleich ein Weltlich-werden der Philosophie, daß ihre Verwirklichung zugleich ihr Verlust« ist.2 Könnte es sein, dass Hegel genau dies meint? Dass der absolute Geist sich nicht selbst genügt, sondern – wie Hegel ja auch sagt – Geist nur ist als Geist für den Geist, d. h. in einem inneren Reflexionsverhältnis, welches die Verhältnisse zwischen den absoluten, objektiven und subjektiven ›Geistern‹ (sit venia verbo) einschließt? Der Bezug des absoluten Geistes überhaupt auf (nicht nur) den objektiven Geist wäre ihm dann – freilich auf eine noch näher zu klärende Weise – eingeschrieben und das Verhältnis des Geistigen zum Weltlichen im Bereich der Religion wäre nur das, nach Walter 2
MEGA², Abt. 1, Bd. 1, 68.
218 | Die Realität und das Absolute
Jaeschke jedoch »beharrlich ignorierte«, Modell für das Verhältnis der Philosophie zur ›Welt‹ bei Hegel selbst und letztlich auch der junghegelianischen Diskurse über das Weltlichwerden und die Verwirklichung der Philosophie.3 Ich möchte diesen Fragen in drei Schritten nachgehen. Zuerst behandle ich die Frage, wie und in welchem Sinne sich der objektive im absoluten Geist vollendet (2). Sodann frage ich umgekehrt, in welchem Sinne sich der absolute Geist qua Religion im Weltlichen – näher: im Staat – vollendet (3). Und schließlich möchte ich noch darauf eingehen, weshalb die Komplexität der Hegelschen Philosophie in diesem Punkte beharrlich ignoriert werden konnte (4). (2) Systematisch steht die Weltgeschichte für Hegel genau an der Nahtstelle zwischen dem Endlichen und dem Absoluten, nämlich am Ende der Philosophie des objektiven Geistes; sie bildet den Übergang zur Philosophie des absoluten Geistes, in welcher sich der Geist als Geist selbst erfasst und die Beschränktheit aufhebt, die er als subjektiver und objektiver Geist noch an sich hat. H egel bezeichnet diese Aufhebung auch metaphorisch als ›Erhebung zu Gott‹, da der Geist sich jetzt erst als Geist erfassen kann. »Der Kampf des endlichen Selbstbewußtseins mit dem absoluten Selbstbewußtsein, das jenem außer ihm erschien, hört auf. […] Es ist die ganze bisherige Weltgeschichte überhaupt und die Geschichte der Philosophie insbesondere, welche nur diesen Kampf darstellt und da an ihrem Ziele zu sein scheint, wo dies absolute Selbstbewußtsein, dessen Vorstellung sie hat, aufgehört hat, ein Fremdes zu sein, wo also der Geist als Geist wirklich ist.«4 Diese Selbsterfassung des Geistes im absoluten Geist ist demnach der Endzweck der Geschichte, sofern Hegel Weltgeschichte mit der umfassenden Geschichte des Geistes gleichsetzt. Nach Hegel besteht die »abstracte[] Bestimmung« (GW 18, 152) der Weltgeschichte, also ihr Endzweck, in nichts anderem als darin, dass der Geist sich zum Selbstbewusstsein seiner Freiheit emporarbeitet, wobei jedoch ein »Unterschied des Princips als eines solchen und seiner Anwendung d. i. Einführung und Durchführung in der Hegel-Handbuch, 502. HW 20, 460.
3 Jaeschke,
4
Weltgeschichte, Religion und Staat | 219
Wirklichkeit des Geistes und Lebens« bestehe (GW 18, 153). Der Geist ist als Geist ja gerade deshalb geschichtlich, weil er das, was er in Wahrheit ist, erst im Resultat sein kann und insofern erst ein abstraktes Prinzip darstellt, das im weiteren Verlauf die Wirklichkeit des Geistes in seinem vollen Umfang und die Wirklichkeit des Lebens nur schrittweise zu durchdringen vermag. In diesem Zusammenhang bestimmt Hegel die Weltgeschichte als »Fortschritt im Bewußtseyn der Freyheit« (GW 18, 153). Damit ist das Ziel des Prozesses benannt und zugleich das Kriterium, an dem sich der Fortschritt in der Geschichte bemisst. Geschichte ist nicht ein universeller Fortschritt auf allen Gebieten des gesellschaftlichen und politischen Lebens – eine Auffassung, die freilich auch die geschichtsphilosophischen Fortschrittstheorien der Aufklärung so nie vertreten haben5 –, die Weltgeschichte ist auch nicht einmal Fortschritt in der Realisierung von Freiheit, sondern sie ist ›nur‹ Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit. 6 Dabei geht es ausschließlich um den Begriff der Freiheit, der sich da vollendet, wo der Geist sich in einem absoluten Bewusstsein seiner selbst als frei erfasst. Das Sich-Bewusstwerden des Geistes als Freiheit fällt freilich nicht in eine abgesonderte Geistesgeschichte, sondern ist unauflösbar in die Geschichte des Geistes überhaupt verwoben. Geist ist für Hegel zunächst bestimmt als freier Wille, als Aufhebung der unmittelbaren Abhängigkeit von der Natur. Die Entwicklung dieses freien Willens erfolgt durch Arbeit – zuallererst nicht in einem metaphorischen Sinne, sondern als Arbeit in und an der Natur, als gesellschaftliches Naturverhältnis. Als frei ist der Wille nach Hegel bereits »an sich die Idee« (GW 20, 476). Er geht aus der Naturbestimmtheit des Menschen hervor, indem Triebe, Neigungen und Leidenschaften ein Wollen motivieren, das aber noch partikular ist: »Die Leidenschaft enthält in ihrer Bestimmung, daß sie auf eine Besonderheit der Willensbestimmung beschränkt ist« (GW 20, 471). Die Entwicklung der Weltgeschichte zur Selbsterfassung des Geistes ist demnach nicht als ein einfaches Auswickeln eines Prinzips 5 Vgl. Johannes Rohbeck, Die Fortschrittstheorie der Aufklärung, Frankfurt / M und New York 1987; ferner Johannes Rohbeck, Geschichtsphilosophie zur Einführung, Hamburg 2004, Kap. 1. 6 Vgl. Arndt, Geschichte und Freiheitsbewusstsein.
220 | Die Realität und das Absolute
zu verstehen, sondern als ein Prozess, in dem sich das Bewusstsein der Freiheit im Zusammenhang mit ökonomischen, sozialen und politischen Veränderungen herausbildet; fast möchte man sagen: Das gesellschaftliche Sein bestimmt auch bei Hegel das Bewusstsein. Indem allein und ausschließlich der Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit die Weltgeschichte ist, entgeht Hegel der Überforderung seiner Philosophie durch einen umfassenden Fortschrittsbegriff und auch dem Einwand, Opfer mit dem Fortschritt verrechnen zu wollen. Gleichwohl irritiert diese These, denn wenn die Weltgeschichte im vollständig entwickelten Begriff der Freiheit terminiert, wie er Hegels Anspruch nach in seiner Konzeption der absoluten Idee vorliegt, dann ist die Geschichte ihrem Begriff nach an ein Ende gekommen, obwohl wir gewohnt sind, Geschichte eher objektiv als die Gesamtheit des menschlichen Tuns und Treibens in der Zeit anzusehen und obwohl doch ersichtlich die Realisierung der Freiheit größtenteils nicht nur aussteht, sondern eher von reak tionären Gegenbewegungen zurückgedrängt wird. Tatsächlich könnte Hegel hier entgegnen, dass dies bloß Schranken der Realität seien, die den Begriff selbst nichts angingen. Der Begriff kann sich in sich selbst als Begriff vollendet und damit begrifflich realisiert haben,7 ohne dass er damit die Realität überhaupt durchdrungen hätte. Der Begriff hat seine eigene Realität zunächst nur, insofern er sich selbst als Begriff zum Gegenstand hat. In diesem Sinne sagt Hegel über die absolute Idee, sie sei »noch logisch« und »in den reinen Gedanken« und »in die Subjectivität eingeschlossen« (GW 12, 253). Anders gesagt: Die Vernunft oder der Begriff vollendet sich in sich, aber in dieser Vollendung bleibt der Begriff in sich eingeschlossen. Dies bedeutet nicht, dass der Begriff danach in Anderes übergeht (eben deshalb findet ja am Ende der Logik ausdrücklich kein Übergang in die Natur statt). Es bedeutet nur, dass er sich in sich vertieft, indem er die Realität durchdringt. 8 Hier stößt der Be7 So heißt es im Zusatz zum § 379 der Enzyklopädie, der Begriff selber setze »seinem Sichentwickeln dadurch eine Grenze, daß er sich eine ihm völlig entsprechende Wirklichkeit gibt« (HW 10, 14 f.). 8 In diesem Sinne hatte bereits Kant die Vernunft in Bezug auf die Empirie als unendliche Bewegung des Fortschreitens verstanden: »Die Erweiterung der
Weltgeschichte, Religion und Staat | 221
griff auf Schranken der Realität, denn nicht alles das, was der Fall, also bloße Realität ist, ist vernünftig, sondern nur das, was wirklich ist, d. h. wo und insoweit Begriff und Realität übereinstimmen. Vernünftig ist etwas nur dann, wenn es dem Begriff der Freiheit entspricht, soweit dies im objektiven Geist der Fall sein kann. Indem der Begriff die Schranken der Realität überwindet, d. h.: sich in die Realität einbildet, geht es auch dann ›weiter‹, wenn die Geschichte – als Fortschrittsgeschichte des Freiheitsbewusstseins – an ein Ende gekommen ist. Die Überwindung der Realitätsschranken ist indessen nicht die genuine Aufgabe der Philosophie, die nur das auf den Begriff zu bringen hat, was ist. (3) Der absolute Geist qua Religion hat den Begriff Gottes zu seinem Inhalt. Da dieser aber, Hegel zufolge, nicht als Gegenstand vorgestellt werden darf, um nicht als Gegenüber des Endlichen selbst verendlicht zu werden, ist gerade der Gottesbegriff darauf angewiesen, innerhalb der Philosophie des absoluten Geistes die immanente Reflexivität des Geistes zu entfalten und zur Darstellung zu bringen. Diese Reflexivität liegt freilich in der Struktur des absoluten Geistes überhaupt, denn als absoluter kann er weder der subjektive oder der objektive Geist oder ihnen als dem Endlichen gegenüber ein abstraktes Unendliches sein, sondern nur die Einheit des subjektiven und objektiven Geistes als Totalität: Die Religion ist »ebensosehr als vom Subjecte ausgehend und in demselben sich befindend als objectiv von dem absoluten Geiste ausgehend zu betrachten, der als Geist in seiner Gemeinde ist«. (GW 20, 542) Gott, so lautet dann die in Variationen immer wiederkehrende Formel, ist Geist, aber als Geist für den Geist in seiner Gemeinde. Das heißt: Gott ist nur im geistigen Verhältnis der Gemeinde – er ist selbst dasjenige Selbstverhältnis des Geistes, das der absolute Geist bezeichnet, aber er kommt nur in seiner Gemeinde – den Individuen als Trägern des Bewusstseins von Gott – zum Selbstbewusstsein. Mit der Selbstbezüglichkeit der Religion als Bewusstsein Gottes hängt religionsphilosophisch die Charakteristik des Christentums Einsichten in der Mathematik und die Möglichkeit immer neuer Erfindungen geht ins Unendliche; eben so die Entdeckung neuer Natureigenschaften, neuer Kräfte und Gesetze […] durch die Vernunft.« (Kant, Werke, Bd. 4, 352). 222 | Die Realität und das Absolute
als vollendete Religion und als Religion der Freiheit zusammen. Sie ist darum vollendet, weil die Religion – das Bewusstsein Gottes – sich hier selbst Gegenstand ist, während nach Hegel alle anderen Religionen in der einseitigen Objektivität Gottes befangen bleiben. Insofern spielt das Christentum – das Hegel durchgängig protestantisch versteht – eine ausgezeichnete Rolle in der Geschichte des Bewusstseins der Freiheit. In dem Manuskript der »Einleitung« zu den Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte 1830/31 heißt es: »Erst die germanischen Nationen sind im Christenthum zum Bewußtseyn gekommen, daß der Mensch als Mensch frey, die Freyheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht; diß Bewußtseyn ist zuerst in der Religion, in der innersten Region des Geistes aufgegangen; aber diß Princip auch in das weltliche Wesen einzubilden, diß war eine weitere Aufgabe, welche zu lösen und auszuführen eine schwere, lange Arbeit der Bildung erfodert. […] Diese Anwendung des Princips auf die Wirklichkeit, die Durchdringung, Durchbildung des weltlichen Zustands durch dasselbe ist der lange Verlauff, welcher die Geschichte selbst.« (GW 18, 153) Nach dieser Auffassung ist der Religion in ihrer Vollendung eine Art Selbstsäkularisierung eingeschrieben, von der eingangs schon die Rede war. Die »Realisierung des Geistigen der Gemeinde zur allgemeinen Wirklichkeit« hebt den Gegensatz zwischen dem weltlichen Reich und der jenseitigen Welt dadurch auf, dass der Himmel im Vernunft- und Rechtsstaat ein irdisches Diesseits findet. Die Religion vollendet sich aber gleichsam doppelt: in einem Prozess der Selbstsäkularisierung und im Medium des Vorstellens, also der allgemeinen Bilder, ein Medium, was – wie die Kunst – immer noch mit Sinnlichkeit behaftet ist. Als zentrale Vorstellung identifiziert Hegel dabei die Trinität, den dreieinigen Gott, in dem der Unterschied gegeben, aber zugleich in ein Selbstverhältnis aufgehoben ist, wie es der formalen Struktur der Freiheit entspricht (der Islam hingegen bringt es nach Hegel mit der Vorstellung des einzigen Gottes nur zu einem abstrakten Prinzip). Die christliche Zentralvorstellung bleibt aber im Medium des Vorstellens ein Mysterium. Was sie bedeutet, nämlich die absolute Idee als in sich konkrete (d. h.: unterschiedene) Totalität, muss die Philosophie sagen, indem sie die Vorstellung gleichsam, wenn diese Anlehnung an Walter Benjamin erlaubt ist, als ein »dialektisches Bild« interpretiert. Sofern Weltgeschichte, Religion und Staat | 223
Religion Bestandteil der Freiheitsgeschichte und selbst nichts anderes als das geschichtliche Bewusstwerden der Freiheit im Medium der Vorstellung ist, ist ihr die Säkularisierung selbst eingeschrieben. Dies wiederum ist eine Voraussetzung dafür, dass die Philosophie das Prinzip der Freiheit im Begriff abschließend und gültig zum Bewusstsein bringen kann. Das Weltlichwerden der Religion ist aber, jedenfalls nach Hegels Auffassung, nicht ihr Verlust. Indem die Philosophie die religiöse Vorstellung in den Begriff aufhebt, empfängt zwar »die Religion ihre Rechtfertigung, vom denkenden Bewußtseyn aus«; zugleich aber gilt auch: »Die unbefangne Frömmigkeit bedarf dessen nicht; sie nimmt die Wahrheit als Autorität auf, und empfindet die Befriedigung, Versöhnung vermittelst dieser Wahrheit« (GW 29,2, 229). Die Vollendung der Religion und ihre Aufhebung in Philosophie ist nicht das Ende ihrer Existenz (Diskussionen über ein postreligiöses bzw. postsäkulares Zeitalter hätte Hegel vermutlich lächerlich gefunden). Tatsächlich behält die Religion eine Funktion als Gesinnungsmoment, auf welches das politische Gemeinwesen sich beziehen kann, sofern die Religion Ausdruck des Freiheitsbewusstseins ist, und sie behält auch eine Funktion als Erhebung des Geistes über das Endliche, also als eine Art exoterische Seite der philosophischen Vernunft. Die Philosophie hingegen reflektiert die Geschichte der Freiheit im Medium des Begriffs. Sie ist, das muss noch einmal betont werden, nicht eine abgehobene, aparte »Geistesgeschichte«, sondern sie ist, wie Hegel sagt, »ihre Zeit in Gedanken erfaßt« (GW 14,1, 15). Die Realisierung des Freiheitsprinzips bis hin zur Französischen Revolution in der Moderne ist wesentliche Voraussetzung des vollendeten Begriffs. Hegel versteht die Klassische Deutsche Philosophie seit Kant dezidiert als Verarbeitung der Französischen Revolution: »Kantische, Fichtesche und Schellingsche Philosophie. In diesen Philosophien ist die Revolution als in der Form des Gedankens niedergelegt und ausgesprochen, zu welcher der Geist in der letzteren Zeit in Deutschland fortgeschritten ist […]. An dieser großen Epoche in der Weltgeschichte, deren innerstes Wesen begriffen wird in der Weltgeschichte, haben nur diese zwei Völker teilgenommen, das deutsche und das französische Volk, sosehr sie entgegengesetzt sind, oder gerade weil sie entgegengesetzt sind. […] In Deutschland ist dies Prinzip als Gedanke, Geist, Begriff, in Frankreich in die 224 | Die Realität und das Absolute
Wirklichkeit hinausgestürmt. Was in Deutschland von Wirklichkeit hervorgetreten, erscheint als eine Gewaltsamkeit äußerer Umstände und Reaktion dagegen.«9 Die Realisierung der Freiheit steht noch aus, aber das, so Hegel, entzieht sich der philosophischen Kompetenz. Die Philosophie, so heißt es in den Vorlesungen über die Philosophie der Religion, sei »ein abgesondertes Heiligthum und ihre Diener bilden einen isolirten Priesterstand, der mit der Welt nicht zusammengehen darf und das Besitzthum der Wahrheit zu hüten hat«.10 Die Philosophie, so scheint es, sakralisiert sich selbst in einer gegenläufigen Bewegung zur Selbstsäkularisierung der Religion in der Akademie als säkularer Kirche. Tatsächlich aber ist die Philosophie mit ihrer Vollendung nicht am Ende. Die absolute Idee, also der vollendete Begriff der Freiheit, ist ja nach Hegel ebenso praktisch wie theoretisch. Es kann also nicht gemeint sein, dass die Philosophie sich in sich selbst in ihrem Heiligtum abschließt. Wenn es nicht ihre Aufgabe als Philosophie sein kann, die Schranken der Freiheit in der Realität zu überwinden, so ist es doch ihre Aufgabe, die sich wandelnde Realität immer wieder auf den Begriff zu bringen und am Maßstab des vollendeten Begriffs der Freiheit zu messen. Mit anderen Worten: Ihr kritisches Geschäft hört nie auf. Auch wenn, um Marx zu bemühen, die Hegelsche Dialektik »unbedingt das letzte Wort aller Philosophie« ist,11 so bleibt sie dabei doch »kritisch und revolutionär«.12 Dies umso mehr, weil der objektive Geist, in welchem Freiheit sich zu realisieren hat, nie jene durchschlagende Identität haben kann, welche dem absoluten Geist zukommt. Die absolute Idee als absolute (dialektische) Methode, in welcher sich die Philosophie als Resultat der Weltgeschichte, als vollständiges Bewusstsein der Freiheit vollendet, ist in Bezug auf die Welt des subjektiven und objektiven Geistes daher genau das, was Dialektik nach Adorno erst gegen Hegel als negative sein soll: Bewusstsein des Nichtidentischen. 9
HW 20, 314. Vorlesungen über die Philosophie der Religion, 356. 11 Karl Marx an Ferdinand Lassalle, 31. 5 . 1858, MEW, Bd. 29, 561. – Vgl. Arndt, … »unbedingt das letzte Wort aller Philosophie«. 12 Marx, Das Kapital, Bd. 1, MEW, Bd. 23, Berlin 1968, 28. 10 Hegel,
Weltgeschichte, Religion und Staat | 225
(4) Hegels Schüler und besonders die Junghegelianer haben demgegenüber die Vollendung der Philosophie im absoluten Geist bzw. der absoluten Idee hervorgehoben, dabei jedoch die Komplexität des Hegelschen Geistbegriffs selbst – sein Herkommen aus der und seine bleibende Beziehung zur Natur, den Einschluss des subjektiven und objektiven Geistes und damit das Verhältnis des Absoluten zur ›Welt‹ – unter den Tisch fallen lassen. Die Gründe dafür sind weniger philosophisch als zeitgeschichtlich. Der Abschluss des Hegelschen Systems in sich (auch, wenn dies mehr einem Wunschdenken der Hegelschen Schüler als dem tatsächlichen Ausarbeitungsstand bei Hegel entsprach) schien in der erstickenden Atmosphäre der »Unzeit des Biedermeiers«13 ein epigonales Bewusstsein zu nähren und den geistigen und politischen Stillstand zu befördern. Deshalb verlangte Feuerbach einen radikalen Bruch mit dem Alten, das Hegel angeblich nicht wirklich überwunden habe. In seinem Aufsatz »Zur Beurteilung der Schrift: ›Das Wesen des Christentums‹« heißt es: »Hegel ist die Aufhebung des abgelebten Alten im Alten. Wie überhaupt die philosophischen Systeme, so ist auch, und zwar insbesondere, das Hegelsche System ein unerläßliches, bleibendes Zucht- und Bildungsmittel des Geistes, das keiner ungestraft ignorieren kann. Aber so notwendig die Schule, so notwendig ist die Überwindung der Schule. Nicht die Schule, sondern die Freiheit von der Schule ist der wahre Zweck derselben. Notwendig ist es, sich durch ein philosophisches System zu bestimmen, zu bilden, aber die festgehaltene, die fixierte Bestimmtheit ist Beschränktheit. Nur die flüssige Philosophie, die Philosophie, welche aufhört, ein fixes System zu sein, welche die Wahrheit der vorhandenen Systeme in sich begreift, ohne selbst ein abgeschlossenes System zu sein, und doch zugleich keine Eklektik ist, nur diese ist die Philosophie des Lebens, der Zukunft.«14 Friedrich Engels wiederholte diese Auffassung in seinem 1886 publizierten Aufsatz »Ludwig Feuerbach und der Ausgang der klassischen deutschen Philosophie«, indem er behauptete, Hegel habe 13 Vgl. Unzeit des Biedermeiers. Historische Miniaturen zum Deutschen Vormärz 1830 bis 1848, hg. v. Helmut Bock und Wolfgang Heise, Berlin 1985. 14 Ludwig Feuerbach, Gesammelte Werke, hg. v. Werner Schuffenhauer, Bd. 9: Kleinere Schriften II, Berlin 1982, 237 f.
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sein System gewaltsam abgeschlossen: »weil er genötigt war, ein System zu machen, und ein System der Philosophie muß nach den hergebrachten Anforderungen mit irgendeiner Art von absoluter Wahrheit abschließen. […] In der ›Logik‹ kann er dies Ende wieder zum Anfang machen, indem hier der Schlußpunkt, die absolute Idee – die nur insofern absolut ist, als er absolut nichts von ihr zu sagen weiß – sich in die Natur ›entäußert‹, d. h. verwandelt, und später im Geist, d. h. im Denken und in der Geschichte, wieder zu sich selbst kommt. Aber am Schluß der ganzen Philosophie ist ein ähnlicher Rückschlag in den Anfang nur auf einem Weg möglich. Nämlich indem man das Ende der Geschichte dann setzt, daß die Menschheit zur Erkenntnis eben dieser absoluten Idee kommt, und erklärt, daß diese Erkenntnis der absoluten Idee in der Hegelschen Philosophie erreicht ist. Damit wird aber der ganze dogmatische Inhalt des Hegelschen Systems für die absolute Wahrheit erklärt, im Widerspruch mit seiner dialektischen, alles Dogmatische auflösenden Methode; damit wird die revolutionäre Seite erstickt unter der überwuchernden konservativen. Und was von der philosophischen Erkenntnis, gilt auch von der geschichtlichen Praxis.«15 Ernst Bloch brachte solche Auffassung auf die ebenso bündige wie falsche Formel »Hegel leugnete die Zukunft, keine Zukunft wird Hegel verleugnen«,16 und der Nachhall dieser junghegelianisch inspirierten Sicht ist noch lange in den Debatten über die Abgeschlossenheit des Hegelschen Systems zu hören.17 Demgegenüber ist zu betonen, dass die systematische Vollendung des Denkens in sich, wie sie in der Wissenschaft der Logik begründet wird, sich auf die allgemeinen Formen des theoretischen und praktischen Verhaltens zur ›Welt‹, die grundlegenden Kategorien unseres Denkens und Handelns, bezieht, nicht auf den Abschluss des Wissens und Handelns überhaupt. Dieser Abschluss des reinen Denkens in sich bedeutet freilich, wie erwähnt, dass das Denken hier nur die Form seiner selbst als seines Inhalts ist (reines Denken hat sich selbst zum Gegenstand), also noch eingeschlossen 15
MEW, Bd. 21, 259–307, hier 268 f. Bloch, Subjekt – Objekt. Erläuterungen zu Hegel, Frankfurt / M 1962, 12. 17 Vgl. Kimmerle, Das Problem der Abgeschlossenheit des Denkens. 16 Ernst
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in die logische Form und den reinen Gedanken. Indem der Begriff (die logische oder absolute Idee) sich der Realität der Natur und des Geistes zuwendet, d. h. sich dazu entschließt, die Abstraktion des reinen Denkens von aller Bestimmtheit und Intentionalität in Bezug auf realphilosophische Gegenstände zurückzunehmen, tritt er in das Reich des Endlichen ein, das sich per se in einer wesentlichen Differenz zur logischen Idee befindet: Der subjektive und objektive Geist können gar nicht in der Weise selbstbezüglich sein wie der sich selbst als Begriff erfassende Begriff, denn die endlichen Dinge haben, Hegel zufolge, »die Realität ihres Begriffs nicht vollständig an ihnen selbst« und damit »den Begriff als eine äusserliche Bestimmung an ihnen« (GW 12, 175). Gleichwohl ist es, was hier noch einmal betont werden muss, der Idee eingeschrieben, über das reine Denken hinauszugehen. Hierdurch wird das vollendete Bewusstsein der Freiheit, welches die logische Idee ist, zum normativen Maßstab in der Erkenntnis und Kritik des Bestehenden, sofern es real mögliche Freiheit blockiert. Aufgabe der Philosophie ist es gerade, die sich wandelnde Realität immer wieder auf den Begriff zu bringen und am Maßstab des vollendeten Begriffs der Freiheit zu messen. Mit anderen Worten: Sie ist ihrem Wesen nach kritisch. Der absolute Geist vollendet sich im objektiven Geist nach Maßgabe des objektiv Möglichen als Realisierung der Freiheit durch theoretische und praktische Kritik.
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Freiheit in Religion und Philosophie: Heine und Hegel (1) »Schon hier auf Erden möchte ich, durch die Segnungen freyer und industrieller Instituzionen jene Seligkeit etabliren, die, nach der Meinung der Frommen, erst am jüngsten Tage, im Himmel, statt finden soll.«1 Heines Worte aus dem ersten Buch seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland (1834) scheinen eine Absage an das Christentum darzustellen, die bereits auf die Religionsauffassung und Religionskritik der Junghegelianer vorausdeutet. Die Seligkeit, von der Heine spricht, ist die Versöhnung einer zerrissenen Weltsicht, welche nach seiner Auffassung der Idee des Christentums zugrunde liegt: Himmel und Hölle, Christus und Satan, Geist und Leib, Jenseits und Welt. Aus der Überwindung dieser Trennungen werde, so Heine (wohl unter Anspielung auf Saint-Simons Neues Christentum von 1825), eine »Religion der Freude«2 emporblühen, welche das Reich Gottes auf Erden realisiere. Das Christentum entstehe aus dem Bedürfnis der »leidende[n] Menschheit«, die darin »durch sich selbst« Trost findet; entsprechend sei das »endliche Schicksal des Christen thums […] davon abhängig, ob wir dessen noch bedürfen«.3 Dass die Menschen in der Religion durch sich selbst Trost finden, hatte Marx unter Rückgriff auf Feuerbach zehn Jahre nach Heine, 1844, so formuliert: »Die Religion ist der Seufzer der bedrängten Krea tur, das Gemüt einer herzlosen Welt, wie sie der Geist geistloser Zustände ist. Sie ist das Opium des Volks.«4 Christus, der leidende, menschgewordene Gott, dessen Blut nach Heine symbolisch als 1 Heinrich Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, HDA, Bd. 8,1, 17. 2 Ebd. 3 Ebd., 18. 4 Karl Marx, Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie. Einleitung, MEW, Bd. 1, 378.
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der »lindernde Balsam« aufzufassen sei, der »in die Wunden der Menschheit herabrann«, 5 dieser leidende Gott-Mensch Christus ist dann auch für Feuerbach im Wesen des Christentums (1841) die Projektion des mit-leidenden menschlichen Herzens auf Gott, eine »Spiegelung des menschlichen Wesens in sich selbst«.6 Heinrich Heine, so scheint es, steht denjenigen Autoren näher, die nach dem Tod Hegels (1831) den »Bruch«7 mit der Klassischen Deutschen Philosophie inszenierten, als seinem philosophischen Lehrer Hegel, dessen Vorlesungen er 1821 bis zum Wintersemester 1822/23 hörte, darunter über Logik, Religionsphilosophie, Philosophie der Weltgeschichte und Philosophie des Rechts. 8 Ich spreche bewusst von einem inszenierten Bruch, denn tatsächlich fand eher ein Abbruch der Auseinandersetzung mit der Vernunftepoche der Philosophie statt, weil die politisch-gesellschaftliche Realität des Biedermeier keiner Vernunft mehr zugänglich zu sein schien. Dabei geriet sehr schnell in Vergessenheit, was in den nachhegelschen, scheinbar hegelkritischen Positionen von Hegel stammte.9 Die eingangs zitierte und referierte Position Heines in seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland jedenfalls lässt sich zwar auch mit Feuerbach und Marx in Verbindung bringen, aber nur deshalb, weil Heine, Feuerbach und Marx selbst noch in der Tradition einer Hegelschen Konzeption stehen, um die es hier gehen soll: seiner Konzeption einer Freiheitsgeschichte. Durch Heines Text, davon kann man sich leicht überzeugen, schimmern die Schlussparagraphen der Hegelschen Grundlinien der Philosophie des Rechts hervor, in denen er die Weltgeschichte umreißt. Die moderne, christlich geprägte Welt, die er dort skizziert, ist, wie bei Heine, eine Welt des absoluten Gegensatzes des Geistigen und Irdi5
HDA 8,1, 18. Feuerbach, Das Wesen des Christentums, Stuttgart 2008, 120 (Teil 1, Kap. 6: »Das Geheimnis des leidenden Gottes«). 7 Vgl. Karl Löwith, Von Hegel zu Nietzsche. Der revolutionäre Bruch im Denken des neunzehnten Jahrhunderts, Hamburg 1995. 8 Vgl. Gerhard Höhn, Heine-Handbuch, Stuttgart 1987, 293. 9 Vgl. Andreas Arndt, Ludwig Feuerbach – Ausgang der Klassischen Deutschen Philosophie?, in: Das Programm des realen Humanismus. Festschrift für Ludwig Feuerbach zum 150. Todesjahr, hg. v. Ursula Reitemeyer, Thassilo Polcik, Katharina Gather, Stephan Schlüter, Münster und New York 2022, 81–91. 6 Ludwig
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schen. In dem »harten Kampfe dieser Unterschiede« verschwinde dieser Gegensatz schließlich, indem, so Hegel wörtlich, »das Geistliche die Existenz seines Himmels zum irdischen Diesseits und zur gemeinen Weltlichkeit, in der Wirklichkeit und in der Vorstellung, degradirt, – das Weltliche dagegen sein abstractes Fürsichseyn zum Gedanken und dem Principe vernünftigen Seyns und Wissens, zur Vernünftigkeit des Rechts und Gesetzes hinaufbildet« GW 14,1, 281). Es handelt sich hierbei, wohlgemerkt, nicht um einen der Zusätze, die Hegels Schüler seinem Text posthum hinzugefügt haben, sondern um Hegels eigene Worte, wie er sie selbst in den Druck gegeben hat. Der vernünftige Staat – nach H egel der »Gang Gottes in der Welt«10 – ist die Realisierung des als ein Jenseits vorgestellten Himmels im irdischen Diesseits und damit die Versöhnung des in sich zerrissenen Bewusstseins der Moderne. Geschichte als Weltgeschichte ist für Hegel überhaupt »der Fortschritt im Bewußtseyn der Freiheit« (GW 18, 153), und in diesem Fortschritt des Bewusstseins spielt das Christentum eine besondere Rolle, weil es nach Hegel – der es auf eine eigenwillige Weise protestantisch deutet – das Prinzip der Freiheit enthält und überhaupt als Religion der Freiheit zu verstehen ist. Das vollständige Bewusstsein dieser Freiheit aber wird in der Philosophie ausgearbeitet, die Hegel in seiner Zeit als Reflexion des politischen Freiheitsprinzips der Französischen Revolution versteht. Die Realisierung der Freiheit im vernünftigen Rechtsstaat wäre dann folgerichtig der Schritt, der dem entwickelten Freiheitsbewusstsein zu folgen hat; Hegel geht ihn bewusst nicht, denn dies sei »nicht die unmittelbar praktische Sache und Angelegenheit der Philosophie«, wie es in seinen Vorlesungen über die Philosophie der Religion heißt.11 Warum, wird noch zu erörtern sein. Hier kommt es mir vorerst nur darauf an, dass Heinrich Heine in seiner Geschichte der Religion und Philosophie diesem Hegelschen Konzept der Freiheitsgeschichte folgt. »Die Religion«, so heißt es zu Beginn, »deren wir uns in Deutschland erfreuen, ist das Christenthum. Ich werde also zu erzählen haben: was das Christenthum ist, wie es römischer Katholizismus geworden, wie aus diesem der Protestantismus und 10 Hegel, 11 Hegel,
Grundlinien der Philosophie des Rechts, 284; vgl. GW 26, 3, 1406. Vorlesungen über die Philosophie der Religion, 356. Heine und Hegel | 231
aus dem Protestantismus die deutsche Philosophie hervorging«,12 eine Philosophie, aus der dann, so Heine, eine politische Revolution hervorgehen wird. Ich werde also im Folgenden das zu erzählen haben, was auch Heinrich Heine zu erzählen hat; aber ich muss es zweimal erzählen: einmal in Bezug auf Hegel, dann in Bezug auf Heine. Die Frage, wie es nach der Philosophie weitergeht, klammere ich dabei zunächst aus; ihr ist der Schluss meiner Ausführungen gewidmet. (2) Bevor ich auf die (Gretchen-)Frage komme, wie Hegel es denn nun mit der Religion und speziell der christlichen hält, muss ich ein paar Worte zu dem theoretischen Rahmen sagen, in dem bei Hegel diese Frage zu verorten und zu verhandeln ist. Zunächst: Religion und Philosophie sind für Hegel Gestalten des absoluten Geistes, wie auch die Kunst. Was also ist Geist? Und was ist absoluter Geist? Sodann: Was eigentlich ist Geschichte für Hegel? Geist ist, entgegen manchen englischen Übersetzungen, nicht spirit, lat. spiritus, hat also mit Spiritualismus (dem klassischen Gegensatz zum Materialismus) nichts zu tun, sondern Geist ist Hegels Verdeutschung für das lat. mens, also Bewusstsein (im weitesten Sinne). Für Hegel ist Bewusstsein qua Geist eine Seinsweise, ein Dasein also, das konstitutiv auf ein anderes Dasein bezogen ist, sei es Natur oder selbst Geist. Geist ist Dasein der Idee wie auch Natur Dasein der Idee ist (vgl. GW 12, 236), und Geist ist Geist nur als aus der Natur herkommend und die Natur als selbständig voraussetzend (vgl. GW 20, 381 f.). Die Idee hat keine selbständige Existenz gegenüber Natur und Geist, sondern sie existiert nur in Natur und Geist als ihren Daseinsweisen (vgl. GW 12, 236). Sie beruht auf der Möglichkeit des Geistes, »von allem Aeußerlichen und seiner eigenen Aeußerlichkeit, seinem Dasein selbst [zu] abstrahiren« (GW 20, 382). Diese Abstraktion macht den Geist absolut, denn durch sie bezieht er sich ausschließlich auf sich selbst; absoluter Geist ist Selbstverständigung des (menschlichen) Geistes über sich. Dieser Selbstverständigungsprozess erfolgt geschichtlich in Kunst, Religion und Philosophie, die – jeweils auf eigene Weise – den Geist 12 Heine, Zur Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland, HDA, Bd. 8,1, 14.
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als Geist zu bestimmen versuchen. Diese drei Gestalten des absoluten Geistes unterscheiden sich durch die Medien der geistigen Selbstverständigung: In der Kunst ist das Medium die Sinnlichkeit, in der Religion die Vorstellung und in der Philosophie der Begriff. Der Philosophie kommt es dabei zu, die Vernunftgehalte der Kunst und Religion, die beide noch der Sinnlichkeit verhaftet sind, in dem der Vernunft adäquaten Medium des Begriffs zu erfassen. Die Philosophie spricht die Wahrheit der Kunst und der Religion jenseits der sinnlichen Anschauungen und der Vorstellungen aus. Der Geist ist geschichtlich, denn nur in der Geschichte kommt er zu sich. Kunst, Religion und Philosophie sind in die allgemeine Geschichte des Geistes, die Weltgeschichte, eingebettet. Sie sind damit insgesamt Teilgeschichten des allgemeinen Geistes, nämlich des Weltgeistes. Dieser ist die Gesamtheit aller geistigen Verhältnisse zur Natur und des Geistigen zu sich; man könnte ihn auch im weitesten Sinne als Kultur beschreiben, die dort beginnt, wo der Mensch aus der unmittelbaren Naturabhängigkeit heraustritt. Nach Hegel geschieht dies in der Arbeit; die erste Form der Vernünftigkeit ist für ihn daher auch nicht ein geistiges Vermögen, sondern das Werkzeug (vgl. GW 5, 291 f.). Geschichte insgesamt ist für Hegel Arbeit des Geistes bzw. des Weltgeistes, wie es bereits in der Phänomenologie des Geistes gültig formuliert wird. Der Weltgeist unternehme die »ungeheure Arbeit der Weltgeschichte«, um »das Bewußtseyn über sich« zu erreichen (GW 9, 25 f.), jedoch komme er zu diesem Selbstbewusstsein erst dadurch, dass die menschlichen Individuen sich das bereits erworbene Eigentum des allgemeinen Geistes aneigneten. Anders gesagt: Der Weltgeist ist keine Entität, die über ein eigenes, von dem der Menschen unterschiedenes Bewusstsein verfügen würde, sondern er kommt zum Bewusstsein seiner selbst nur dadurch, dass die endlichen gesellschaftlichen Individuen als die realen Träger und Agenten des Weltgeistes sich über den weltgeschichtlichen Prozess verständigen. In diesem Prozess ist das jeweilige Selbstbewusstsein des Geistes Ausdruck und zugleich auch praktisches Moment der Gestaltung der jeweiligen ›Welt‹, und in diesem Sinne ist die Entwicklung des Geistes nicht nur die Entwicklung des Selbstbewusstseins bis hin zum philosophischen Begriff, sondern zugleich ein Prozess des Weltlichwerdens geistiger Prinzipien überhaupt, wie sie auf verHeine und Hegel | 233
schiedenen Stufen des Selbstbewusstseins entwickelt werden. Diese Prinzipien beziehen sich im Grunde nur auf eins, auf die Freiheit, denn der Geist selbst ist nichts anderes: »Das Wesen des Geistes ist […] formell die Freiheit, die absolute Negativität des Begriffes als Identität mit sich.« (GW 20, 382) Im Ergebnis dieses Prozesses, der für Hegel mit der Weltgeschichte zusammenfällt, erfasst der Geist sich schließlich selbst als Freiheit. In dieser Freiheitsgeschichte kommt der christlichen Religion zentrale Bedeutung zu. Das Christentum habe zu dem Bewusstsein geführt, »daß der Mensch als Mensch frey, die Freyheit des Geistes seine eigenste Natur ausmacht« (GW 18, 153) An dieser Stelle ist jetzt zu fragen, was für Hegel das christliche Prinzip ist und weshalb für ihn das Christentum Religion der Freiheit ist. Religion überhaupt ist für Hegel Bewusstsein Gottes. Das ist eine pointierte Aussage insofern, als Religion hier vom Inhalt her bestimmt wird, während Schleiermacher in seinen Reden über die Religion (1799) und später auch in seiner Glaubenslehre (1821/22) – deren Erscheinen die unmittelbare Veranlassung für Hegels Vorlesungen über die Philosophie der Religion war13 – die Religion von der Subjektivität her bestimmt und in der Konsequenz unter der Form eines unmittelbaren Selbstbewusstseins aufgefasst hatte. Gott, als unendlich gedacht, kann für Hegel auch nicht als ein vom menschlichen Bewusstsein radikal unterschiedenes Objekt gedacht werden, denn dann wäre er selbst etwas Endliches gegenüber diesem Bewusstsein. Religion ist weder einseitig objektiv das Wissen eines Gegenstandes, d. h. Gottes, noch ist es nur subjektiv das Bewusstsein unserer Beziehung auf etwas, was wir Gott nennen. Religiöses Bewusstsein ist für Hegel beides: ebenso subjektiv wie objektiv. So ist die Religion »ebensosehr als vom Subjecte ausgehend und in demselben sich befindend als objectiv von dem absoluten Geiste ausgehend zu betrachten, der als Geist in seiner Gemeinde ist«. (GW 20, 542) Gott, so heißt es in der Einleitung zur Religionsphilosophie-Vorlesung von 1827, ist Geist, aber nur »insofern er in seiner
Vgl. Walter Jaeschke, Paralipomena Hegeliana zur Wirkungsgeschichte Schleiermachers, in: Internationaler Schleiermacher-Kongress 1984, hg. v. Kurt-Victor Selge, Berlin und New York 1985, 1157–1169. 13
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Gemeine ist«. (GW 29,2, 10)14 Gott ist als Geist für den Geist in seiner Gemeinde nur im geistigen Verhältnis der Gemeinde – er ist selbst dasjenige Selbstverhältnis des Geistes, das der absolute Geist bezeichnet. Indem die Einseitigkeiten sowohl der objektivistischen Gottes auffassung als auch der rein subjektiven Religionsauffassung zurückgewiesen werden, ist das recht verstandene Christentum für Hegel ein Selbstverhältnis, in dem der Geist sich selbst objektiv wird und erfasst. Die Religion als Bewusstsein Gottes ist sich hier selbst Gegenstand, und zwar im doppelten Sinne des Genitivs als genitivus subjectivus und genitivus objectivus: Das Bewusstsein ist Bewusstsein von Gott als Gegenstand, aber zugleich das Bewusstsein Gottes von sich; beides ist identisch und untrennbar voneinander, d. h. das Bewusstsein von Gott als Gegenstand, welches unser Bewusstsein ist, ist zugleich das Selbstbewusstsein Gottes – und Gott ist nichts anderes als dieses geistige Selbstverhältnis »in seiner Gemeine«, d. h. im Selbstverhältnis des menschlichen Geistes, der sich selbst zum Gegenstand hat. Hier ist jede Transzendenz im Sinne eines Jenseitigen eingezogen, was christologisch darin begründet ist, dass Gott in Christus Mensch geworden ist. Ostern und Pfingsten – die nach einem Wort Michael Theunissens bei Hegel kontaminiert werden15 – bezeugen dann, dass dies nicht an der sinnlichen Gegenwart Christi hängt, sondern für das Verhältnis des Geistigen allgemein gilt, das seinen christlichen Ausgang bei der Ausgießung des Geistes in die Gemeinde nimmt. Mit der Selbstbezüglichkeit der Religion als Bewusstsein Gottes hängt religionsphilosophisch die Charakteristik des Christentums als vollendete Religion und als Religion der Freiheit zusammen. Sie ist darum vollendet, weil die Religion – das Bewusstsein Gottes – sich hier selbst Gegenstand ist, während nach Hegel alle anderen Religionen in der einseitigen Objektivität Gottes befangen bleiben; 14 »Dem filosofischen Begriff nach ist Gott Geist […] Der Geist ist für den Geist, und zwar nicht nur auf äußerliche zufällige Weise, sondern er ist nur in sofern Geist, als er für den Geist ist; – dieß macht den Begriff des Geistes selbst aus.« (Ebd.) 15 Michael Theunissen, Hegels Lehre vom absoluten Geist als theologischpolitischer Traktat, Berlin 1970, 282.
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die Religiosität als Subjektivität, wie sie vor allem Schleiermacher vertritt, ist hingegen für Hegel ein Phänomen »unserer Zeit«, der entwickelten Moderne am Anfang des 19. Jahrhunderts, deren Bedeutung darin besteht, den Objektivismus des Gottesbewusstseins, wenn auch einseitig, zu überwinden (GW 17, 37 f.). Die Überwindung dieses Objektivismus bedeutet gleichzeitig aber auch, dass die Selbstbezüglichkeit des Geistes überhaupt – d. h., nicht nur die des subjektiven, endlichen Geistes – das Wesen des Christentums ausmacht. Dies ist nichts anderes als die formale Struktur der Freiheit: »Freiheit ist, abstrakt, das Verhalten zu einem Gegenständlichen als nicht zu einem Fremden« (GW 29,1, 392); sie zielt daher auf die Überwindung jeder Entfremdung, in der Wirklichkeit, sofern sie real getilgt werden kann, wo nicht, in dem versöhnenden Bewusstsein. »Die Versöhnung ist so die Freiheit, ist nicht ein Ruhendes, sondern Thätigkeit. Alles dieß, Versöhnung, Wahrheit, Freiheit, ist allgemeiner Prozeß« (GW 29,1, 393). Hierin liegt die Beziehung des christlichen Prinzips oder des Geistigen der Gemeinde zur Wirklichkeit überhaupt, einschließlich der Weltlichkeit: »das Reich Gottes, die Gemeinde hat so ein Verhältnis zum Weltlichen […] Für diese Weltlichkeit sind die Prinzipien in jenem Geistigen vorhanden; das Prinzip, die Wahrheit für das Weltliche ist das Geistige.« (GW 29,2, 225) Dieser Prozess bedeutet indessen auch eine »Umwandlung, Umformung der Gemeine« (GW 29,2, 224): Ihre Versöhnung mit der Welt erfolge schließlich so, dass sich der Widerspruch des Geistigen und Weltlichen »auflöst im Sittlichen, daß das Prinzip der Freiheit eingedrungen ist in das Weltliche, und indem das Weltliche so gebildet ist dem Begriff, der Vernunft, der ewigen Wahrheit selbst gemäß, ist es die konkret gewordne Freiheit, der vernünftige Wille«. (GW 29,2, 226) Diese als vernünftiger Wille konkret gewordene Freiheit muss aber auch als solche erfasst werden. Dies geschieht in der Philosophie, die das, was die vollendete, christliche Religion zum Prinzip hat und im Medium der Vorstellung ausspricht, auf den Begriff bringt. Aber auch dies ist ein langer Weg geschichtlich sich vollziehender Selbstverständigung der Moderne. Am Beginn dieses Weges steht die Reformation, durch die, so Hegel, der Protestant durch und durch war und das Christentum mit seiner Auffassung des Protestantismus identifizierte, die autoritären Strukturen der 236 | Die Realität und das Absolute
alten christlichen Kirche ins Wanken gebracht und das Freiheitsprinzip als Freiheit des Christenmenschen bewusst in den Mittelpunkt gestellt wurde. Die Reformation ist für Hegel – neben der Französischen Revolution – das weltgeschichtliche Ereignis der Moderne, zugleich aber auch nicht nur eine religionsgeschichtliche, sondern vor allem auch eine philosophiegeschichtliche Zäsur. Luthers Schrift Von der Freiheit eines Christenmenschen steht am Beginn der Moderne: »Dies«, so heißt es in den Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, ist also »das große Prinzip, das alle Äußerlichkeit in dem Punkte des absoluten Verhältnisses zu Gott verschwindet. Alle Entfremdung seiner selbst, die Abhängigkeit und Knechtschaft ist dadurch verschwunden.«16 Hegels eigene Philosophie, wie die ganze Klassische Deutsche Philosophie nach Kant, steht in dieser Tradition; zugleich stellt sie jedoch auch die geistige Verarbeitung der Französischen Revolution dar, die der Reformation weltgeschichtlich zur Seite steht. Von einer Realisierung der Freiheit auf der Höhe des erreichten Bewusstseins der Freiheit lässt sich im Deutschland der Reaktion aber nicht sprechen; die deutschen Zustände bleiben hinter der französischen Wirklichkeit zurück: »Was in Deutschland von Wirklichkeit hervorgetreten, erscheint als eine Gewaltsamkeit äußerer Umstände und Reaktion dagegen.«17 Nicht ohne Ironie heißt es bei Hegel: »In Deutschland hat dasselbe Prinzip das Interesse des Bewußtseins für sich genommen; aber es ist theoretischerweise ausgebildet worden. Wir haben allerhand Rumor im Kopfe und auf dem Kopfe; dabei läßt der deutsche Kopf eher seine Schlafmütze ganz ruhig sitzen und operiert innerhalb seiner.«18 Aber auch unter der Schlafmütze kann sich das Bewusstsein der Freiheit entfalten, welches sich in Religion und Philosophie ausgebildet hat.
16 Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Teil 4. Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit, hg. v. Pierre Garniron und Walter Jaeschke, Hamburg 1986, 64. 17 HW 20, 314. 18 Ebd., 332.
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(3) Dass der Deutsche Michel die Schlafmütze aufbehalten hatte, ist auch Heines Fazit aus der Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland: Ein »methodisches Volk wie wir, mußte mit der Reformation beginnen, konnte erst hierauf sich mit der Philosophie beschäftigen, und durfte nur nach deren Vollendung zur politischen Revolution übergehen.«19 Heine ironisiert den deutschen Sonderweg, den auch Hegel als solchen darstellt. Zugleich aber erklärt Heine unumwunden die Philosophie zu dem Gedanken, der zwangsläufig auch die politische Tat nach sich ziehen wird. Dies entspricht im Groben auch dem Schluss der Hegelschen Vorlesungen über die Philosophie der Weltgeschichte, die den Bogen von der Reformation über die französische Aufklärungsphilosophie bis zur Französischen Revolution spannen (vgl. GW 27, 1, 459 ff.). Die Übereinstimmung im großen Verlauf der Geschichte, den Hegel und Heine erzählen, verhindert nicht, dass sie im Einzelnen ganz unterschiedliche Bestimmungen und Bewertungen treffen. Das Christentum erscheint bei Heine als »Lehre von den beiden Prinzipien«, dem Guten und dem Bösen, die ihren Ursprung in einer »gnostischen Weltansicht« habe.20 Hieraus resultiere die Spaltung zwischen Leib und Seele, Sinnlichem und Geistigen, Weltlichem und Geistlichen, welche die ganze Geschichte des Christentums durchziehe und erst durch die künftige »Religion der Freude« überwunden werde. Hegel hat zwar auch die fortschreitende Aufhebung des Gegensatzes des Geistlichen und Weltlichen zum Entwicklungsprinzip der christlichen Religion gemacht, worin sich aber nur realisiert, dass das, was Heine als die Idee des Christentums bezeichnet, gerade nicht auf einem Dualismus beruht. Die Spaltung beruht nach Hegel vielmehr darauf, dass Gott als Geist dem subjektiven Geist bis zur Reformation starr gegenübergestellt und damit verdinglicht wurde. Gerade deshalb aber sei, so Hegel, das Sinnliche im Katholizismus gleichsam ungehemmt freigesetzt worden. Zugespitzt: Während Heine – dessen Text ja auch an das Publikum im katholisch geprägten Frankreich adressiert ist – die Idee des Christentums an der vorreformatorischen Kirche und Dogmatik ausrichtet, richtet Hegel sie am Protestantismus aus: 19
20
HDA 8,1, 117. Ebd., 16.
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Christentum und Protestantismus sind für ihn letztlich austauschbare Bezeichnungen. Den Katholizismus dagegen sieht er weitgehend als eine im Prinzip vergangene, schon längst überwundene Gestalt des Geistes an, die nur noch eine bloße, leer gewordene Existenz hat. Erst relativ spät kommt Hegel zu der Auffassung, dass der sich erneuernde Katholizismus in der Gegenwart als Gegner des modernen säkularen Rechtsstaates ernstzunehmen sei, weil mit ihm kein Staat zu machen, d. h. keine vernünftige Verfassung möglich sei.21 Die Differenz zwischen Heine und Hegel in der Beschreibung der christlichen Idee beruht also darauf, dass Heine nicht von der Gleichsetzung von Christentum und Protestantismus ausgeht. Entsprechend gehen auch die Einschätzungen Luthers und der Reformation zunächst auseinander. Die protestantische Innerlichkeit erscheint bei Heine als der Versuch, den Dualismus der christlichen Idee gewaltsam aufzulösen. Luther, so Heine, »hatte nicht begriffen, daß die Idee des Christenthums, die Vernichtung der Sinnlichkeit, gar zu sehr in Widerspruch war mit der menschlichen Natur, als daß sie jemals im Leben ganz ausführbar gewesen sey; er hatte nicht begriffen, daß der Catholizismus gleichsam ein Concordat war zwischen Gott und dem Teufel, d. h. zwischen dem Geist und der Materie«.22 Die Reformation in Deutschland war, so Heine, »ein Krieg, den der Spiritualismus begann, als er einsah, daß er nur den Titel der Herrschaft führte«, während der Sensualismus de facto herrschte;23 in Frankreich beflügelte umgekehrt der Sensualismus die Kritik an der katholischen Kirche, als er sah, dass er nur de facto, aber nicht de jure herrschte. Der spiritualistische Angriff war aber nur der Anfang der Reformation: »sobald der Spiritualismus in das alte Kirchengebäude Bresche geschossen, stürzte der Sensualismus hervor mit all seiner langverhaltenen Glut, und Deutschland wurde der wildeste 21 Vgl. Hans-Joachim Birkner, Deutung und Kritik des Katholizismus bei Schleiermacher und Hegel, in: ders., Schleiermacher-Studien, Berlin u. a. 1996, 135; Peter Jonkers, Eine ungeistige Religion: Hegel über den Katholizismus, in: Hegel-Jahrbuch 2010, 400–405. 22 HDA 8,1, 27. 23 Ebd., 29.
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Tummelplatz von Freyheitsrausch und Sinnenlust«, wofür u. a. die Bauernaufstände und die Wiedertäufer stehen.24 Mag Luther sich hierzu auch ablehnend verhalten haben, im Ergebnis bedeute das evangelisch-lutherische Christentum, dass »die nothwendigsten Ansprüche der Materie nicht bloß berücksichtigt, sondern auch legitimirt werden«, und dadurch werde »die Religion wieder eine Wahrheit«.25 Dies ist – und hier kommt Heine mit Hegel wieder vollständig überein – ganz im Sinne dessen zu verstehen, was Hegel die Vernunft in der Religion nennt: Die Wahrheit der Religion ist keine andere als die der Philosophie, es gibt nur eine Wahrheit, wodurch die Denkfreiheit umfassend legitimiert wird, und »eine wichtige, weltwichtige Blüthe derselben ist die deutsche Philosophie«.26 Mit der Reformation ist daher in der Konsequenz der Unterschied des Geistlichen und Weltlichen obsolet geworden und das Prinzip der Freiheit, vorerst als Prinzip der Gedankenfreiheit, etabliert. Auf diese »religiöse[] Revoluzion«, wie Heine die Reformation auch nennt, folgt die »philosophische Revoluzion«.27 Auch hier identifiziert Heine im Hintergrund einen Gegensatz, der dem der christlichen Idee entspricht und die ganze Philosophiegeschichte durchzieht, nämlich den Gegensatz des Idealismus und Materialismus – der Lehre von den angeborenen Ideen oder Ideen a priori einerseits und den durch Erfahrung erworbenen Ideen oder Ideen a posteriori andererseits.28 Spinoza – hierin folgt Heine ganz der Hegelschen Sicht – überwindet diese Entgegensetzung und weist damit auf die »deutsche[] Identitätsphilosophie, die in ihrem Wesen durchaus nicht von der Lehre des Spinoza verschieden ist«.29 Es handelt sich um den »ewigen Parallelismus« zwischen »Geist und Materie«, was gleichbedeutend sei mit »Geist und Natur« oder »Ideales und Reales«.30 Den Beginn der kritischen Wende der Philosophie und damit der eigentlichen Revolution sieht Heine dann 24
Ebd., 31. Ebd., 34 f. 26 Ebd., 36. 27 Ebd., 47. 28 Vgl. ebd., 49. 29 Ebd., 56. 30 Ebd., 57. 25
240 | Die Realität und das Absolute
bei einem Denker, den Hegel eher beiseitelässt: bei Lessing, dem Kritiker und Polemiker, den Heine zu einer Art zweiten Luther stilisiert. 31 Dies ist – man erinnere sich an Friedrich Schlegels Wertschätzung für Lessing – frühromantisches Erbe bei Heine und zugleich die Aufnahme der Kantischen Charakteristik seines Zeitalters als Zeitalter der Kritik.32 Mit Kant beginnt dann die eigentliche Revolution in der Philosophie, die Heine – Hegel und vielen seiner Zeitgenossen folgend – mit der Französischen Revolution parallelisiert: »Auf beiden Seiten des Rheines sehen wir denselben Bruch mit der Vergangenheit, der Tradizion wird alle Ehrfurcht aufgekündigt, wie hier in Frankreich jedes Recht, so muß dort in Deutschland jeder Gedanke sich justifiziren, und wie hier das Königthum, der Schlußstein der alten socialen Ordnung, so stürzt dort der Deismus, der Schlußstein des geistigen alten Regimes.«33 Entsprechend konzentriert sich Heine in seiner Darstellung Kants auch auf die Kritik der Gottesbeweise bis hin zu der »Farce«, dass Kant – aus Erbarmen für seinen Diener Lampe, wie Heine spottet – in der Kritik der praktischen Vernunft den soeben theoretisch erledigten Gott als Postulat wiederauferstehen lässt. 34 Fichte, der von Heine – Fichtes Selbststilisierung wie auch Hegels Behandlung in der Geschichte der Philosophie folgend 35 – als radikaler Kantianer vorgeführt wird, vollendet den Angriff auf den Deismus, indem »der Fichtesche Gott keine Existenz« hat, »er ist nicht, er manifestirt sich nur als reines Handeln, als eine Ordnung von Begebenheiten, als ordo ordinans, als das Weltgesetz«.36 Der durch Fichtes Aufsatz »Über den Grund unseres Glaubens an eine göttliche Weltregierung« (1798) ausgelöste Athe31
Vgl. ebd., 73. Friedrich Schlegel, Lessings Gedanken und Meinungen, in: ders., Schriften zur Kritischen Philosophie, hg. v. Andreas Arndt und Jure Zovko, Hamburg 2007, 144–200; Kant, Kritik der reinen Vernunft (1. Auflage 1781), in: Werke, Bd. 4, 8 f. 33 HDA 8,1, 77. 34 Ebd., 89. 35 Vgl. Hegel, Vorlesungen über die Geschichte der Philosophie, Teil 4. Philosophie des Mittelalters und der neueren Zeit, hg. v. Pierre Garniron und Walter Jaeschke, Hamburg 1986, 156. 36 HDA 8,1, 103. 32 Vgl.
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ismusstreit, der – unter Goethes Beteiligung – zu Fichtes Entlassung in Jena führte, 37 erscheint Heine daher, was das Verhältnis Fichtes zu Goethe betrifft, als sachlich nicht gerechtfertigt, denn im Grunde komme Fichte mit Goethes Pantheismus überein. Diesen Pantheismus erneuert dann Schelling mit seiner Naturphilosophie, die, so Heine, mit der »Lehre des Spinoza […] wesentlich eins und dasselbe« sei. 38 Schelling habe jedoch diesen philosophisch konsequenten Weg verlassen, als er versuchte, »durch eine Art mystischer Intuizion zur Anschauung des Absoluten selbst zu gelangen« und dabei in »Narrheit« endete.39 Hier erfolgt dann der Auftritt Hegels als Vollender der Revolution in der Philosophie. Er sei »der größte Philosoph, den Deutschland seit Leibnitz erzeugt hat. Es ist keine Frage, daß er Kant und Fichte weit überragt.«40 Zwar habe er »Staat und Kirche einige allzubedenkliche Rechtfertigungen« verliehen, aber es geschah »dieses doch für einen Staat, der dem Prinzip des Fortschrittes wenigstens in der Theorie huldigt, und für eine Kirche, die das Prinzip der freyen Forschung als ihr Lebenselement betrachtet«. Eine Ambivalenz in Heines Urteil über Hegel, dessen Philosophie selbst nicht mehr Gegenstand seiner Darstellung ist, ist unüberhörbar. Die These, seine Philosophie habe sich an das Bestehende akkommodiert, die dann die liberale Hegel-Kritik zur Rede vom preußischen Staatsphilosophen verdichten sollte, schwingt mit, aber sie wird gleichzeitig entschärft durch den Verweis auf die damaligen Reformbestrebungen in Preußen und den liberalen, durch Schleiermacher geprägten Protestantismus. Dass aber aus dem philosophischen Gedanken unmittelbar die revolutionäre Tat folgt, wie es der Schluss des Heineschen Textes andeutet, geht unmittelbar nicht aus der Hegelschen Philosophie hervor. 37 Vgl. Appellation an das Publikum … Dokumente zum Atheismusstreit um Fichte, Forberg, Niethammer. Jena 1798/99, hg. v. Werner Röhr, Leipzig 1987; Fichtes Entlassung. Der Atheismusstreit vor 200 Jahren, hg. v. Klaus-M. Kodalle und Martin Ohst, in: Kritisches Jahrbuch der Philosophie 4 (1999), Würzburg 1999. 38 HDA 8,1, 111. 39 Ebd., 112. 40 Ebd., 113 (auch die folgenden Zitate).
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(4) Mit dem vollendeten Freiheitsbewusstsein ist für Hegel die Geschichte, die ja nichts anderes ist als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, an ihr Ende gekommen. Das schließt nicht aus, dass noch etwas geschieht – auch Fortschritte, z. B. in der Realisierung der Freiheit. Sie lassen sich aber aus dem Bewusstsein der Freiheit nicht deduzieren und es macht für Hegel auch keinen Sinn, das Freiheitsprinzip als Sollen gegen die Welt zu kehren. Die Zukunft zu erkennen und zu beeinflussen übersteigt das Vermögen der Philosophie. Wie die Eule der Minerva in der Abenddämmerung ihren Flug beginnt und dabei erkennt, was der abgelebte Tag vollbracht hat, ist auch die Philosophie an die Erkenntnis dessen verwiesen, was ist. Die Realisierung des geistigen Prinzips, welches das Christentum repräsentiert, bis hin zu Napoleon und mit ihm die Vertiefung des Freiheitsbewusstseins kann sie erkennen, nicht aber die Zukunft, die auf das mit dem vollständigen Begriff der Freiheit erreichte Ende der Geschichte folgen kann. Diese Zurückhaltung gegenüber der Antizipation künftiger Zustände (die Hegel übrigens mit Marx teilt) muss keineswegs als resignativ gedeutet werden und schon gar nicht als Einverständnis mit dem, was ist. Es hat auch nichts mit der ebenso unsinnigen wie verbreiteten Behauptung zu tun, Hegel verleugne jede Zukunft. Viel eher spricht es für den Rea lismus Hegels, der die Realisierung des Freiheitsbewusstseins von den jeweiligen Bedingungen und realen Möglichkeiten abhängig macht und der Philosophie das Recht abspricht, sich selbst als weltverändernde Instanz zu ermächtigen. Heine, so ließe sich argumentieren, könnte Hegel gerade hierin gefolgt sein. Es ist unverkennbar und vielfach gesagt worden, dass sein Bild der deutschen Revolution, die den Gedanken in die Tat umsetzt, wie er es in der Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland vor Augen stellt, höchst ambivalent ist. Transzendental- und Naturphilosophen, die altgermanisch nicht um des Ziels, sondern des Kampfes willen kämpfen, realisieren ja nicht Freiheit im Sinne der Vernunftphilosophie, sondern allenfalls ihr subjektives Selbstgefühl, aller Bindungen ledig zu sein. Mit Sicherheit kannte Heine Hegels Kritik an der Terrorherrschaft der Jakobiner, die einem solchen abstrakten, negativen Freiheitsverständnis folgte: »Sosehr die Freiheit in sich konkret ist, so wurde sie doch als unentwickelt in ihrer Abstraktion an die Wirklichkeit gewenHeine und Hegel | 243
det; und Abstraktionen in der Wirklichkeit geltend machen, heißt Wirklichkeit zerstören. Der Fanatismus der Freiheit, dem Volke in die Hand gegeben, wurde fürchterlich.«41 Dem steht, bei Heine wie bei Hegel, die Hoffnung auf eine vernunftgemäße Realisierung der Freiheit entgegen, die sich aber nicht erzwingen lässt. Die Ambivalenz des Bildes der kommenden deutschen Revolution bei Heine spiegelt die Ambivalenz Hegels in dieser Sache – und sie bestimmt Heines Ambivalenz gegenüber Hegel, weshalb die Hegel-Kritik des späten Heine auch immer wieder in einen Hegelianismus umkippt. Am deutlichsten wird dies in der Absage an den (Hegelschen) »Gott der Pantheisten« im »Nachwort« zum Romanzero (1851): »Ja, ich bin zurückgekehrt zu Gott, wie der verlorene Sohn, nachdem ich lange Zeit bey den Hegelianern die Schweine gehütet«;42 mit diesem Bekenntnis zugleich aber widerspricht Heine der Ansicht, »daß man wählen müsse zwischen der Religion und der Philosophie, zwischen dem geoffenbarten Dogma des Glaubens und der letzten Consequenz des Denkens, zwischen dem absoluten Bibelgott und dem Atheismus«.43 Es ist dies genau die Position Hegels, der einer solchen Alternative durch die »Flucht in den Begriff«44 entgehen wollte, d. h. durch den Nachweis, dass Vernunft und Freiheit in der Religion wie in der Philosophie seien. Die Auflösung des Gegensatzes von Religion und Philosophie bedeutet aber auch, dass der Gottesbegriff, wie eingangs gezeigt, ambivalent wird: Gottesbewusstsein des Menschen, Selbstbewusstsein Gottes und Selbstbewusstsein des Menschen bilden letztlich eine Einheit. Heine berichtet rückblickend, er habe »hinter dem Maestro [Hegel] gestanden«, als er die Melodie des Atheismus komponierte, »freilich in sehr undeutlichen und verschnörkelten Zeichen, damit nicht jeder sie entziffre – ich sah manchmal, wie er sich ängstlich umschaute, aus Furcht, man ver41 HW 20, 331. – Vgl. Joachim Ritter, Hegel und die Französische Revolution, Frankfurt / M 1965; Rebecca Comay, Mourning Sickness. Hegel and the French Revolution, Stanford 2011. 42 HDA 3,1, 179. 43 Ebd., 180. 44 Vgl. Die Flucht in den Begriff. Materialien zu Hegels Religionsphilosophie, hg. v. Friedrich Wilhelm Graf und Falk Wagner, Stuttgart 1982.
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stände ihn. Er liebte mich sehr, denn er war sicher, daß ich ihn nicht verriet; ich hielt ihn damals sogar für servil.«45 Dieser Verdacht, so Heine weiter, bezog sich auf Hegels Diktum in der Vorrede zu den Grundlinien der Philosophie des Rechts, wonach das, was wirklich ist, auch vernünftig ist (GW 14,1, 14). Heine verändert allerdings den Wortlaut entscheidend; bei ihm heißt es: »Alles, was ist, ist vernünftig«.46 Wirklichkeit ist für Hegel jedoch nicht das, was bloß ist, also Existenz hat, sondern Wirklichkeit ist das, was als Realisierung der Idee gelten kann, also als Realisierung der Freiheit – denn die absolute Idee ist das vollständig entwickelte Bewusstsein der Freiheit. Nach Heines Bericht lächelte Hegel auf Heines Kritik hin »sonderbar und bemerkte: ›Es könnte auch heißen: ›Alles, was vernünftig ist, muß sein.‹ Er sah sich hastig um, beruhigte sich aber bald, denn nur Heinrich Beer [ein Bruder Giacomo Meyerbeers] hatte das Wort gehört.«47 Hegels hier referierte Antwort bringt, selbst wenn sie nur gut erfunden sein sollte, jedenfalls den Sinn von Hegels Diktum zum Ausdruck, indem sie zugleich die Freiheitsgeschichte – wiederum durchaus im Hegelschen Sinne – in eine offene Zukunft stellt. Mit seiner Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland gilt Heine vielfach und zu Recht als Mitinitiator des Junghegelianismus. Dabei darf jedoch nicht übersehen werden, dass Heine Geschichte nicht gegen Hegel, sondern auf der Linie der Hegelschen Konzeption von Freiheitsgeschichte verstand – wie neben Heine übrigens auch Karl Marx.48 Die bisweilen undeutlichen und verschnörkelten Zeichen indes, in denen Hegel die Melodie der Freiheit komponiert hatte, waren für die anderen Junghegelianer schon bald nicht mehr lesbar, denn sie standen zum großen Teil in derjenigen Disziplin des Hegelschen Systems, das aufgrund der sich überschlagenden Religionskritik antiquiert zu sein schien: in der Philosophie der Religion.
45 Hegel in Berichten seiner Zeitgenossen, hg. v. Günther Nicolin, Hamburg 1970, 234 f. 46 Ebd., 235. 47 Ebd. 48 Vgl. Arndt, Geschichte und Freiheitsbewusstsein.
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Das Ende der Geschichte – und dann? Kunst, Religion und Philosophie nach ihrem Ende Das Ende ist nicht nur nahe. Es war schon da. Das Ende der Geschichte, der Kunst, der Religion, der Philosophie. Wir können also sogar die dringende Frage beantworten, was nach dem Ende kommt. Sie scheint schnell beantwortet zu sein: Es geht weiter, irgendwie. Geschichte, Kunst, Religion und Philosophie gibt es weiterhin. Das mag beruhigen oder enttäuschen – in jedem Falle fragt sich: Wie kann das sein? Ein Ende ohne Posaunen des Jüngsten Gerichts; Erde und Gestirne standen nicht still, kein neuer Himmel und keine neue Erde, sondern: das Übliche. Gab es das Ende überhaupt? Kann es überhaupt ein Ende geben? Und: Kann es sein, dass es nach einem Ende weitergeht? Hegel wird zugeschrieben, das Ende festgestellt oder sogar herbeigeführt zu haben. Ob das wirklich so ist, wird sich zeigen. Zuvor allerdings ist zu fragen, was überhaupt mit dem Ende gemeint sein kann. Das werde ich in einem ersten Schritt zu beantworten versuchen. Sodann möchte ich zweitens darauf eingehen, in welchem Sinne Hegel von einem Ende der Geschichte sprechen kann. Drittens schließlich möchte ich dieses Ende im Blick auf Kunst, Religion und Philosophie näher bestimmen und dabei vor allem auch fragen, was denn davon für uns Epigonen noch bleibt. (1) Die Rede vom Ende ist mehrdeutig. Sie kann meinen, dass etwas zu Ende ist und danach etwas Anderes kommt oder liegt. Das Ende ist hier das Ende von etwas, das endlich ist. Das Endliche ist dadurch endlich, dass es gegeneinander begrenzt ist. Das kann ersichtlich nicht gemeint sein, wenn Hegel der Auffassung sein sollte, Kunst, Religion und Philosophie seien zu Ende, denn es handelt sich ja dabei um Gestalten bzw. Stufen des absoluten Geistes. Für Hegel ist das Absolute zugleich wahre Unendlichkeit, also gerade nicht ein Endliches. Wir reden vom Ende aber auch in dem Sinne, dass wir fragen, zu welchem Ende etwas sei, meinen also einen 246 | Die Realität und das Absolute
Zweck als telos. Das Ende ist dann etwas, worin sich etwas seiner Wesensbestimmung nach vollendet. Hier geht es nicht darum, dass das Ende die Grenze zu einem Anderen bezeichnet, sondern das Ende bezeichnet die höchste Vollkommenheit von etwas, also den Zustand, worin es seinem Begriff entspricht. In diesem Sinne hat Leibniz überhaupt die Bestimmtheit eines Endlichen gedacht. Gegen Spinozas Auffassung, dass das Endliche durch ein Anderes seiner Art begrenzt werde, denkt er die Monaden als durch sich selbst limitiert, also kraft der ihnen einwohnenden Entelechie.1 Damit kommen weitere Unterscheidungen ins Spiel, die für unser Thema von besonderem Interesse sind. Wenn ein Einzelding entelechetisch bestimmt ist und sich dadurch von anderen Einzeldingen unterscheidet, dann stellt sich die Frage nach dem Verhältnis von innerer Bestimmtheit und äußerer Begrenzung, da doch die äußere Begrenzung zugleich auch Konsequenz der inneren Bestimmtheit ist und umgekehrt die anderen Einzeldinge die Negation dieser Bestimmtheit darstellen. Und zweitens stellt sich die Frage, wie sich die innere Entwicklung des Einzeldinges zu seinem Ende im Sinne der Vollendung verhält, denn die Entelechie ist ja zunächst nicht die Vollendung selbst, sondern der Trieb, sich in sich zu vollenden. Die letzte Frage wurde in der Schulphilosophie dadurch beantwortet, dass die Vollendung als Grenze (Limitation) von den Graden der Vollendung als Schranken unterschieden wurde. Christian Wolff etwa führt dies in den Paragraphen 106 f. seiner Deutschen Metaphysik aus: Da die einfachen Dinge in sich unteilbar sind, können sie zwar Schranken enthalten oder nicht, aber es »kan durch diese Schrancken nichts anders als ein abgemessener Grad entstehen […]. Alle Veränderungen, die sich in einem Dinge ereignen können, sind Abwechslungen seiner Schrancken. Denn wir treffen in einem Dinge weiter nichts an, als sein Wesen und die Einschränckungen dessen, was es in dem Wesen fortdaurendes hat.«2 Inner1 Vgl. Paul Guyer, Hegel, Leibniz und der Widerspruch im Endlichen, in: Seminar: Dialektik in der Philosophie Hegels, hg. v. Rolf-Peter Horstmann, Frankfurt / M. 1978, 230–260. 2 Christian Wolff, Vernünftige Gedancken von Gott, der Welt und der Seele des Menschen, Frankfurt und Leipzig 1738.
Das Ende der Geschichte – und dann? | 247
halb der Grenzen also, welche die Bestimmtheit eines Einzeldinges ausmachen und daher in dieser Hinsicht nicht überschritten werden können, gibt es Schranken, die innerhalb der Grenzen variabel sind. Kant hat diese Unterscheidung aufgegriffen und zugleich im Blick auf das ›Außerhalb‹ der Bestimmtheit erweitert. In den Prolegomena bestimmt Kant Grenze überhaupt als das, was durch etwas außerhalb Liegendes eingeschlossen wird. So liegen die Grenzen der Vernunft dort, wo sich der volle Raum der Erfahrung mit dem leeren Raum der bloßen Gedankendinge (Noumena) berührt. 3 Um die Grenze bestimmen zu können, müssen wir von ihr aber wenigstens dadurch wissen, dass wir uns auf das umgrenzende Andere ›irgendwie‹ beziehen. Dies wird dadurch möglich, dass »in allen Grenzen«, wie Kant sagt, »auch etwas Positives« ist: »z. B. Fläche ist die Grenze des körperlichen Raumes, indessen doch selbst ein Raum«, 4 wenngleich zwei- und nicht dreidimensional. Die Grenze selbst – und nicht nur das durch die Grenzen Eingeschlossene – ist nach dieser Auffassung auch ein Positives; sie hat nicht nur die Funktion der Negation des Anderen, sondern »ist« selbst positiv bestimmbar, so dass wir uns auf ihr bewegen können. Diese Posi tivität kommt der Schranke nicht zu; sie enthält – als Schranke – »bloße Negationen«;5 sie enthalten nichts Positives, sondern nur den Mangel einer vollständigen empirischen Bestimmung der Gegenstände der Erfahrung innerhalb der Grenzen der reinen Vernunft. Die Negation, welche durch die Grenzbestimmung vollzogen wird, bestimmt dagegen die durch sie markierten Bereiche positiv, denn sie vollenden sich darin. Kant unterscheidet demnach zwischen Schranke und Grenze, indem er ihnen verschiedene Weisen der Negation zuordnet. Nach Hegel wird jedoch bei Kant das Verhältnis von Selbstbewegung und Selbstbestimmung in der Entelechie einerseits und das Bestimmtwerden durch Anderes andererseits nicht grundsätzlich geklärt. Da mit dem Begriff der Grenze immer etwas zugleich zu- und abgesprochen wird – nach Kant ist die Grenze ja etwas Werke, Bd. 4, 354. Ebd., 354. 5 Ebd.
3 Kant,
4
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Positives, auch wenn sie zugleich etwas ausschließt – ist hierbei das Verständnis von Negation und Negativität zentral. Wenn die Identität von etwas mit sich durch die Grenze konstituiert ist, dann ist, nach Hegels Auffassung, die Nichtidentität nicht gleichgültig für die Identität selbst: »das Nichtseyn, das seine Grenze ist, macht […] das Wesentliche des Etwas, oder sein Daseyn aus. Etwas ist, was es ist, nur in seiner Grenze.« (GW 11, 68 f.) Hegel bezieht sich hier ausdrücklich auf das Kantische Beispiel: Im Punkt hört die Linie nicht nur auf, sondern sie fängt auch dort an. Hieraus folgert Hegel: die »Grenzen sind so zugleich das Princip dessen, das sie begrenzen« (GW 11, 69). 6 Das Etwas als Etwas ist also bestimmt dadurch, dass es eine Grenze hat, und es hat mit dieser Grenze zugleich die Negation seiner selbst als eine ihm zugehörige und wesentliche Bestimmung, denn die Grenze ist zugleich und in derselben Hinsicht die Grenze des ausgeschlossenen Anderen, welches seinerseits das Etwas negiert. Wenn ein qualitativ bestimmtes Dasein nicht abstrakt auf einer Identität mit sich selbst, sondern auf der Grenze, also einem Negativitätsverhältnis, beruht, dann erfüllt es sich in dieser Grenze nicht im Sinne der Entelechie, wie es Leibniz und implizit auch Kant annahmen, denn es ist mit seiner Grenze, die auch die Grenze des Anderen ist, immer auch durch Anderes bestimmt oder im Übergehen in Anderes begriffen. Dies führt dazu, dass die Grenze sich als Schranke bestimmt. Was beschränkt ist, erfüllt sich darin nicht, sondern wird über die Schranke hinausgetrieben: »die Entwicklung des Endlichen zeigt, daß es an ihm als dieser Widerspruch in sich zusammenfällt, aber ihn dahin wirklich auflöst, nicht daß es nur vergänglich ist und vergeht, sondern daß das Vergehen, das Nichts, nicht das Letzte ist, sondern vergeht« (GW 21, 118). Die Konsequenz daraus ist, dass das Endliche immer nur Schranken vor sich hat, die stets überschritten werden, während sich nur das wahrhaft Unendliche oder Absolute in sich vollendet. 6 In der zweiten Auflage der »Seinslogik« (1831) spricht Hegel in diesem Zusammenhang deshalb auch erstmals von einem Widerspruch: »Etwas mit seiner immanenten Grenze gesetzt als der Widerspruch seiner selbst, durch den es über sich hinausgewiesen und getrieben wird, ist das Endliche« (GW 21, 116).
Das Ende der Geschichte – und dann? | 249
Im Blick auf unser Thema – das Ende von Geschichte, Kunst, Religion und Philosophie – bedeutet dies, dass wir das Ende als Schranke und Telos unterscheiden müssen. Eine Grenze im Sinne der Entelechie, des Sich-in-sich-Vollendens, kommt allein dem Absoluten und insofern auch dem absoluten Geist zu, während das Endliche dadurch an ein Ende kommt, dass es über sich selbst hinausgetrieben wird. Hegel nennt dies das Übergehen in Anderes; es ist die Grundform der Bewegung in der Seinslogik. Sofern das, was wir Geschichte nennen, in den objektiven Geist fällt – die Sozialgeschichte, politische Geschichte, Rechts- und Institutionengeschichte – steht es mithin unter dieser Bewegungsform des Übergehens in Anderes. Nur die Geschichte als Weltgeschichte im Sinne einer umfassenden Geschichte des Geistes überhaupt, also des absoluten Geistes, kann an ein Ende kommen, in dem sie sich erfüllt. Dieses Ende ist jedoch nicht das Ende des Endlichen im Sinne seiner Tilgung, sondern seiner Aufhebung. Als Moment des Absoluten geht es weiter in Anderes über und erzeugt damit jene Bewegungsform, die wir Geschichte zu nennen gewohnt sind. (2) Was bedeutet dies für die Gestalten des absoluten Geistes? Der absolute Geist ist ja gerade in dem Sinne geschichtlich, dass der Geist sich hier zum Bewusstsein seiner selbst emporarbeitet, und dieses Selbstbewusstsein ist nichts anderes als das Bewusstsein der Freiheit. Insofern haben diese Gestalten keinen anderen Inhalt als der Geist überhaupt, dessen umfassende Geschichte die Weltgeschichte als Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit ist. Was diese Gestalten voneinander unterscheidet, ist das Medium, in dem der Geist zum Selbstbewusstsein kommt: Sinnlichkeit (Kunst), Vorstellung (Religion) und Begriff (Philosophie). Die Grenzen dieser Medien sind die Grenzen dieser Gestalten des Geistes, die systematisch (nicht historisch) in einem Verhältnis der Aufhebung zueinander stehen: Die Wahrheit der Kunst und Religion und damit das Selbstbewusstsein des Geistes überhaupt wird auf adäquate Weise erst im Begriff ausgesprochen, wie er sich in der Philosophie – vollendet in der absoluten Idee der Wissenschaft der Logik – selbst erfasst. Das bedeutet jedoch nicht, dass die Philosophie letztlich den Begriff der Geschichte erfüllt. Hier macht sich geltend, dass der absolute Geist – wie er sich schließlich als absolute Idee gültig er250 | Die Realität und das Absolute
fasst – kein abgesondertes Dasein hat, sondern nur in der Totalität des gesellschaftlichen Naturverhältnisses der Menschen, d. h. im Weltgeist als der Gesamtheit aller geistigen Verhältnisse zur Natur und des Geistigen zu sich. Auf dieser Grundlage fallen die Teilgeschichten des absoluten Geistes nicht einfach zusammen und sie sind auch nicht als sukzessive Folge zu betrachten. Entscheidend ist, dass sie sich in sich innerhalb der Begrenztheit ihres spezifischen Mediums vollenden. Das bedarf der Erläuterung. Das Medium der Sinnlichkeit, welches der Kunst eigentümlich ist, taugt nicht dazu, den Geist als Begriff adäquat darzustellen, denn es behält die Seite der Äußerlichkeit immer an sich und kann nicht zur reinen Selbstbezüglichkeit des Begriffs kommen. Hegel spricht dies in seinen Ausführungen zur Idee des Schönen deutlich aus, wenn er das Kunstwerk zu dem in sich konkreten Begriff in Beziehung setzt, der sich als absolute Idee vollendet. Die besonderen Seiten am schönen Objekt müssten »nicht wie im Begriff als solchen eine nur ideelle Einheit haben, sondern auch die Seite selbständiger Realität herauskehren. Beides muß im schönen Objekte vorhanden sein: die durch den Begriff gesetzte Notwendigkeit im Zusammengehören der besonderen Seiten und der Schein ihrer Freiheit als für sich und nicht nur für die Einheit hervorgegangener Teile.«7 Wichtig daran ist, dass die Freiheit sich nicht nur auf die ideelle Einheit des schönen Objekts bezieht, sondern gerade auch auf die Äußerlichkeit der sinnlichen oder Naturseite des Objekts. Nur so kann die in sich konkrete Einheit des Kunstwerks überhaupt dem Begriff der Freiheit entsprechen, weil sie ansonsten das Material abstrakt unter sich subsumieren würde (wie es Adornos Verdacht des Identitätszwangs Hegel immer unterstellt). In der Wissenschaft der Logik trägt daher auch die Natur die Bestimmtheit der Freiheit objektiv an sich. Als Äußerlichkeit der Idee ist sie nach Hegel »schlechthin frey – die absolut für sich selbst ohne Subjectivität seyende Aeusserlichkeit des Raums und der Zeit« (GW 12, 253). Das Kunstwerk gewinnt ein Mehr an Freiheit dadurch, dass es in dem Sinne eine selbstbezügliche Einheit bildet, dass es nicht einem äußeren Zweck untergeordnet ist; die Betrachtung des Schönen, so Hegel, ist »ein Gewährenlassen der Gegenstände als in sich 7 Hegel,
Ästhetik, Bd. 1, 121. Das Ende der Geschichte – und dann? | 251
freier und unendlicher, kein Besitzenwollen und Benutzen derselben als nützlich zu endlichen Bedürfnissen und Absichten, so daß auch das Objekt als Schönes weder von uns gedrängt und gezwungen erscheint, noch von den übrigen Außendingen bekämpft und überwunden«. 8 Der Anklang an die Kantische Bestimmung ›Zweckmäßigkeit ohne Zweck‹ ist offenkundig, auch wenn Hegel Kant mangelnde Objektivität vorwirft. Deutlich ist, dass Hegel die Struktur der Freiheit – die in sich konkrete Allgemeinheit des Begriffs als absolute Idee – im schönen Objekt im sinnlichen Material verwirklicht sieht, aber diese Realisierung hat Grenzen, sofern der Begriff hier gleichsam noch in dem sinnlichen Material gebunden ist und sich daher nicht frei auf sich selbst beziehen kann. Dies bedeutet, dass das Sich-selbst-Erfassen des absoluten Geistes als Freiheit in der Kunst zwar dem Inhalt nach geleistet werden kann, die Form jedoch etwas Unfreies und nicht dem Begriff Entsprechendes zurückbehält. Dabei besteht die Entwicklung des absoluten Geistes als Kunst darin, sukzessive die Naturabhängigkeit zugunsten der auch subjektiven Freiheit hinwegzuarbeiten. Diese Teilgeschichte des absoluten Geistes kulminiert, wie bekannt, in der romantischen Kunstform, in welcher die Innerlichkeit des Subjektiven sich gestaltet: »Die Seite des äußeren Daseins ist der Zufälligkeit überantwortet und den Abenteuern der Phantasie preisgegeben, deren Willkür ebenso das Vorhandene, wie es vorhanden ist, widerspiegeln, als auch die Gestalten der Außenwelt durcheinanderwürfeln und fratzenhaft verziehen kann.«9 Es wäre eine ernsthafte, hier freilich nicht zu führende Diskussion wert, ob sich diese Bestimmung nicht über Hegels Erfahrungshorizont hinaus so verstehen ließe, dass auch die Kunstformen des 20. und 21. Jahrhunderts sich noch nach seinem Begriff der romantischen Kunstform verstehen ließen. Von einem Ende der Kunst, wiewohl dieses Theorem die Diskussion um seine Ästhetik beherrscht,10 spricht Hegel selbst jedoch 8
Ebd., 120. 87. 10 Vgl. Annemarie Gethmann-Siefert, Eine Diskussion ohne Ende: Zu Hegels These vom Ende der Kunst, in: Hegel-Studien 16 (1981), 230–243; Eva Geulen, Das Ende der Kunst. Lesarten eines Gerüchts nach Hegel, Frankfurt / M 9 Ebd.,
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nicht. Was er sagt, ist etwas anderes, nämlich, dass das Erkenntnispotential der Kunst für die Selbstverständigung des menschlichen Geistes begrenzt ist: »Wie nun aber die Kunst in der Natur und den endlichen Gebieten des Lebens ihr Vor hat, ebenso hat sie auch ein Nach, d. h. einen Kreis, der wiederum ihre Auffassungsund Darstellungsweise des Absoluten überschreitet.«11 Deshalb, so Hegel weiter, könne man heute »wohl hoffen, daß die Kunst immer mehr steigen und sich vollenden werde, aber ihre Form hat aufgehört, das höchste Bedürfnis des Geistes zu sein. Mögen wir die griechischen Götterbilder noch so vortrefflich finden und Gottvater, Christus und Maria noch so würdig und vollendet dargestellt sehen: es hilft nichts, unser Knie beugen wir doch nicht mehr.«12 Auch Religion und Philosophie vollenden sich nach Hegel in diesem Sinne, und mit der Philosophie auch die Geschichte, sobald der Weltgeist im Wissen von sich zu einem vollständigen Bewusstsein der Freiheit gelangt ist. Für die Religion ist daran zu erinnern, dass Hegel, wie im vorigen Kapitel gezeigt, deren Geschichte in einem Bewusstsein Gottes kulminieren lässt, das als Bewusstsein Gottes (als Gegenstand des Bewusstseins) zugleich Selbstbewusstsein des Gottes und des Menschen ist, also, nach Hegels Formel: Geist für den Geist in der Gemeinde. Er ist das Selbstverhältnis des Geistes, wie es in den Individuen als Trägern des Bewusstseins von Gott zum Selbstbewusstsein gelangt. Diese in sich unterschiedene, konkrete Einheit des Geistes in seinem Selbstverhältnis bringt die vollende Religion, das Christentum, Hegel zufolge durch die Vorstellung des Dreieinigen Gottes zum Ausdruck. Dieses Bild sprengt indessen die Grenzen der Vorstellungskraft; es lässt sich innerhalb der Sphären der Vorstellung und des Verstandes nicht ausbuchstabieren, da die Elemente sich darin nicht als Einheit festhalten lassen, sondern immer wieder auseinanderfallen und einander sowie der Einheit entgegengesetzt werden. Nur die Vernunft, genauer: die absolute Idee kann dieses Verhältnis begreiflich machen und Einheit und Unterschied im Begriff zusammendenken: »Der 2002; Dae-Joong Kwon, Das Ende der Kunst. Analyse und Kritik der Voraussetzungen von Hegels These, Würzburg 2004. 11 Hegel, Ästhetik, Bd. 1, 110. 12 Ebd. Das Ende der Geschichte – und dann? | 253
abstrakte Gott, der Vater, ist das Allgemeine, die ewige, umfangende, totale Besonderheit. Wir sind auf der Stufe des Geistes, das Allgemeine schließt hier alles in sich, das Andere, der Sohn, ist die unendliche Besonderheit, die Erscheinung, das Dritte, der Geist, ist die Einzelnheit als solche, aber alle drei sind der Geist. Im Dritten sagen wir ist Gott der Geist, aber dieser ist auch voraussetzend, das Dritte ist auch das Erste. Dieß ist wesentlich festzuhalten. Es wird erläutert durch die Natur des Begriffs.« (GW 29,1, 409)13 Damit ist zugleich gesagt, dass die Philosophie diese Natur des Begriffs zu vollenden habe, was nach Hegel dann der Fall ist, wenn der Begriff sich in der absoluten Idee selbst vollständig begriffen hat. (3) Indessen ist die Philosophie damit nicht in dem Sinne am Ende, dass sie nichts weiter zu tun und zu sagen hätte, als in einer ewigen Wiederkehr des Immergleichen endlos die Logik zu wiederholen. Dem steht auch schon entgegen, dass die Logik als die Vollendung des absoluten Geistes in sich innerhalb des enzyklopädischen Systems zugleich der Anfang des Kreises der philosophischen Wissenschaften der Natur und des Geistes ist und darin, vermittelt durch die Selbsterfassung des Geistes im absoluten Geist, wieder in die absolute Idee zurückkehrt. Bekanntlich hat Hegel am Ende der Wissenschaft der Logik die (philosophische) Wissenschaft als einen Kreis von Kreisen beschrieben, in dem die Logik nur einen der Kreise bezeichnet, deren Verkettung das Ganze bildet: »Vermöge der aufgezeigten Natur der Methode stellt sich die Wissenschaft als einen in sich geschlungenen Kreis dar, in dessen Anfang, den einfachen Grund, die Vermittlung das Ende zurückschlingt; dabey ist dieser Kreis ein Kreis von Kreisen; denn jedes einzelne Glied, als Beseeltes der Methode, ist die Reflexion in-sich, die, indem sie in den Anfang zurückkehrt, zugleich der Anfang eines neuen Gliedes ist. Bruchstücke dieser Kette sind die einzelnen Wissenschaften, deren jede ein Vor und ein Nach hat, – oder genauer gesprochen, nur das Vor hat, und in ihrem Schlusse selbst ihr Nach zeigt.« (GW 12, 252)14 Dem korrespondiert die Figur der drei Schlüsse der Vgl. Jaeschke Vernunft in der Religion, 318–323. der Enzyklopädie (1830) heißt es: »Jeder der Theile der Philosophie ist ein philosophisches Ganzes, ein sich in sich selbst schließender Kreis, aber 13
14 In
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Philosophie, die Hegel in der ersten (1817) und dritten (1830) Auflage der Enzyklopädie behandelt hat und die besagt, dass die drei Systemteile – Logik, Philosophie der Natur und Philosophie des Geistes – vollständig so miteinander vermittelt sind, dass jedes Teil sowohl Obersatz als auch Mitte oder auch Untersatz eines Schlusses sein kann, sie sich mithin einander als gleichwertig vertreten können, so dass auch mit jedem der Anfang gemacht werden kann.15 Auch hierdurch entsteht freilich nicht eine Zirkularität im Sinne der ewigen Wiederkehr des Gleichen. Es ist nur die logische Idee, die im Durchgang durch die Realität und die Gestalten des absoluten Geistes in sich zurückkehrt, und dieses »nur« zeigt an, dass sie nicht alles, sondern vielmehr durch sich selbst begrenzt ist und sich in dieser Begrenzung bestimmt. Dass sie durch sich selbst begrenzt ist, besagt, dass der Begriff sich dadurch vollendet, dass er sich als Begriff vollständig erfasst und auch in der Realität, wenn auch dort gebrochen und mit Äußerlichkeit behaftet, wiederfindet. Das kann nur insoweit gelingen, als diese Realität im Hegelschen Sinne den Status der Wirklichkeit hat, d. h. als Realisierung des Begriffs anzusehen ist und ihm daher entsprechen kann. Damit tritt aber zugleich so etwas wie eine Scheidung der Realität in sich ein: die Scheidung zwischen der Realität des Begriffs und der Realität als bloßer Existenz. Scheidung (κρίνειν) ist zugleich Kritik, in diesem Falle Kritik dessen, was existiert, aber nicht oder nur unzureichend (nach Maßgabe des geschichtlich objektiv Möglichen) dem Begriff entspricht.16 die philosophische Idee ist darin in einer besondern Bestimmtheit oder Elemente. Der einzelne Kreis durchbricht darum, weil er in sich Totalität ist, auch die Schranke seines Elements und begründet eine weitere Sphäre; das Ganze stellt sich daher als ein Kreis von Kreisen dar, deren jeder ein nothwendiges Moment ist, so daß das System ihrer eigenthümlichen Elemente die ganze Idee ausmacht, die ebenso in jedem Einzelnen erscheint.« (GW 20, 56) – Vgl. Alexander Grau, Ein Kreis von Kreisen. Hegels postanalytische Erkenntnistheorie, Paderborn 2001. 15 Vgl. dazu das nächste Kapitel. 16 Vgl. dazu Arndt, Begreifen als Kritik; auch Myriam Gerhard, Ein kritisches Potential der absoluten Idee. In: Begriff und Interpretation im Zeichen der Moderne, hg. v. Sarah Schmidt, Dimitris Karydas und Jure Zovko, Berlin und Boston 2015, 89–97. Das Ende der Geschichte – und dann? | 255
Von Seiten der logischen Idee oder des Begriffs aus bekommt Sein, das nicht bloße Existenz ist, damit eine emphatische Bedeutung, sofern es zugleich Wahrheit bezeichnet: »Seyn hat die Bedeutung der Wahrheit erreicht, indem die Idee die Einheit des Begriffs und der Realität ist; es ist also nunmehr nur das, was Idee ist.« (GW 12, 175) Der Begriff, der sich in der Idee als Begriff im reinen Denken selbst erfasst, ist Wahrheit im Sinne der Übereinstimmung von Begriff und Gegenstand, und ebenso der Begriff, der sich auf die Realität bezieht und darin als Begriff realisiert findet. Beides ist aber deshalb zu unterscheiden, weil nur im ersteren Falle der Begriff rein selbstbezüglich und die Idee mithin absolut ist. In Bezug auf reale Gegenstände verhält es sich anders: »Der Gegenstand, die objective und subjective Welt, überhaupt sollen mit der Idee nicht bloß congruiren, sondern sie sind selbst die Congruenz des Begriffs und der Realität; diejenige Realität, welche dem Begriffe nicht entspricht, ist blosse Erscheinung, das Subjective, Zufällige, Willkührliche, das nicht die Wahrheit ist.« (GW 12, 174) Das besagt, dass die Realität in jedem Falle nicht unmittelbar mit dem Begriff zusammengeht,17 auch wenn der Begriff oder die Idee der Realität entsprechen muss, damit überhaupt »ein Wirkliches wahrhaft seyn« könne GW 12, 174). Die Kriterien für dieses Wirkliche oder wahrhafte Sein formuliert Hegel negativ: »was aber ein Wirkliches wahrhaft seyn solle, wenn nicht sein Begriff in ihm, und seine Objectivität diesem Begriffe gar nicht angemessen ist, ist nicht zu sagen; denn es wäre das Nichts«. (GW 12, 174) Mit dieser negativen Formulierung will Hegel deutlich machen, dass dasjenige, was keine Entsprechung von Begriff und Realität hat, kein wirkliches Sein und somit, gemessen am Begriff, nichtig ist. Allerdings ist diese Unterscheidung von realisiertem Begriff (Wirklichkeit) und bloßer Existenz in der Realität Hegel zufolge nicht eine äußerliche Begrenzung des Begriffs bzw. der Idee, sondern der Idee selbst eingeschrieben. In der Einleitung zur Enzyklopädie (1830) heißt es, dass er, Hegel, »in einer ausführlichen Logik auch die Wirklichkeit abgehandelt und sie nicht nur sogleich von Sie geht dabei nur insoweit mit dem Begriff zusammen, als der Zufall, nicht aber das Zufällige in seiner Mannigfaltigkeit logisch notwendig ist; vgl. Henrich, Hegels Theorie über den Zufall. 17
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dem Zufälligen, was doch auch Existenz hat, sondern näher von Daseyn, Existenz und andern Bestimmungen genau unterschieden habe«. (GW 20, 45) Dieser Unterschied beruht letztlich auf einer Beschränkung der Idee in sich: »Daß die Idee ihre Realität nicht vollkommen durchgearbeitet, sie unvollständig dem Begriffe unterworfen hat, davon beruht die Möglichkeit darauf, daß sie selbst einen beschränkten Inhalt hat, daß sie, so wesentlich sie Einheit des Begriffs und der Realität, eben so wesentlich auch deren Unter schied ist« (GW 12, 175). Eben deshalb ist die Idee als absolute Idee bzw. absolute Methode auch beschränkt, nämlich »noch logisch« und »in den reinen Gedanken« und »in die Subjektivität eingeschlossen« (GW 12, 253). Mit der Methode hat die Vernunft sich als Form bestimmt, die zwar die absolute Form ihres Inhalts, des Begriffs selbst, ist, aber eben formell gegenüber der Realität der Natur und des Geistes bleibt, die damit nicht einfach identisch ist. Vielmehr müsse zugegeben werden, dass die Logik »als die formelle Wissenschaft nicht auch diejenige Realität enthalten könne und solle, welche der Inhalt weiterer Theile der Philosophie […] ist«. (GW 12, 25) Anders gesagt: Die Vernunft oder der Begriff vollendet sich in sich, aber in dieser Vollendung ist der Begriff wieder in sich eingeschlossen, d. h. er setzt sich, wie es im Zusatz zum § 379 der Enzy klopädie (1830) heißt, als Begriff »dadurch eine Grenze, daß er sich eine ihm völlig entsprechende Wirklichkeit gibt«.18 Diese ihm völlig entsprechende Wirklichkeit ist aber nicht die Realität schlechthin im Sinne dessen, was in der Natur und im Geist überhaupt der Fall ist, sondern nur die reine Selbstbezüglichkeit des Begriffs in der Idee selbst. An dieser Stelle weist der Kreis von Kreisen über sich hinaus. Er »zeigt«, um Hegels Ausdruck aufzugreifen, auf dasjenige Geschehen, in dem der Begriff die Realität nicht nur theoretisch durchdringt und Wirklichkeit und bloße Existenz kritisch voneinander scheidet, sondern auch praktisch durchdringt und damit umgestaltet. Wenn die absolute Idee absolute Selbstbestimmung des Begriffs und damit Freiheit ist, so ist sie als Wahrheit doch begrenzt. Sie ist Wahrheit in einem emphatischen Sinne: als Wahrheit der Freiheit, 18
HW 10, 14 f. Das Ende der Geschichte – und dann? | 257
die allererst noch die Realität zu durchdringen hat. Vernünftig ist etwas nur dann, wenn es dem Begriff der Freiheit entspricht. In dieser Hinsicht ist die Vernunft begrenzt, auch wenn sie sich in sich vollendet und dabei die Äußerlichkeit der Grenze aufgehoben hat. In praktischer Absicht jedoch hat sie fortschreitend die Schranken der Realität zu überwinden. Das Ende der Geschichte ist der Beginn dieses Prozesses unter den Bedingungen der Moderne.
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»… die Eine Idee die sich darstellt« – wie systematisch ist Hegels enzyklopädischer Systementwurf? Am Schluss von Hegels Notizen zum dritten Teil der Erstauflage der Enzyklopädie der philosophischen Wissenschaften im Grundrisse (1817) heißt es im Blick auf die Rückkehr der Idee in sich in der Vollendung des absoluten Geistes als Philosophie, es sei »die eine Idee die sich darstellt, und in ihrer Entwicklung durch besondere Sphären zugleich Moment – diese Eine Idee ist Überblik« (GW 13, 543). Damit sind zunächst zwei Sachverhalte angesprochen. Zum einen ist die Idee diejenige Instanz, welche die systematische Einheit der philosophischen Wissenschaften in der Enzyklopädie strukturiert. Und zweitens verweist die Formulierung darauf, wie diese systematische Einheit zu verstehen sei, nämlich als in sich konkrete Totalität, in welcher die Idee als das Allgemeine in der Entwicklung des Ganzen zugleich Moment ist. Dies ist die Struktur der absoluten Idee selbst, die sich hier zu einem die Realphilosophie in sich fassenden System erweitert hat. Logische Idee und das System der philosophischen Wissenschaften konvergieren und es scheint sich zu bestätigen, was Hegels Kritiker – wie z. B. der späte Schelling, Eduard von Hartmann, Schopenhauer und Marx – schon immer wussten: dass es ihm nur daran gelegen sei, alles und jedes auf die Strukturen seiner Logik herunterzubrechen, die damit – wie das Geld – in Beliebiges umsetzbar sei. Karl Marx hat diese Position in seinen Pariser Manuskripten (1844) eindringlich formuliert: »Die Logik – das Geld des Geistes, der spekulative, der Gedankenwerth des Menschen und der Natur – ihr gegen alle wirkliche Bestimmtheit gleichgültig gewordnes […] Wesen«.1 Hieran möchte ich Zweifel anmelden. Das hat zunächst einen nur scheinbar trivialen Grund, der aber besonders betont werden muss: Es gibt kein von Hegel autorisiertes System, sondern nur 1 MEGA 2 ,
Abt. 1, Bd. 2, 402. 259
»Grundlinien«, »Grundrisse« und immer wieder neu ansetzende und die Stoffe neu strukturierende Vorlesungen; von der Enzyklo pädie gibt es drei unterschiedliche Varianten, und selbst die als erster Systemteil ausgearbeitete Wissenschaft der Logik hat, was die »Lehre vom Sein« betrifft, tiefgreifende Umarbeitungen erfahren – und auch die Wesens- und Begriffslogik hätten wohl solche Veränderungen erlitten, wenn Hegel noch dazu gekommen wäre. Das abgeschlossene System ist eine Chimäre der »Freunde des Verewigten«, die posthum die Enzyklopädie mit Zusätzen aufgebläht und, wo es opportun schien, auch in Hegels eigenen Text eingegriffen haben.2 Bei dieser Sachlage sind Zweifel angebracht, dass die zum Schluss der Enzyklopädie avisierte Erinnerung des Ganges durch die Realwissenschaften durch die Philosophie wirklich schon »die wissende Wahrheit […] oder das Logische mit der Bedeutung« sei, »daß es die im concreten Inhalte bewährte Allgemeinheit ist«. (GW 13, 246) Aber selbst dann, wenn dieser Anspruch eingelöst wäre – was eine wenigstens annähernd abgeschlossene Gestaltung aller Systemteile voraussetzen würde –, ergäben sich weitere Fragen zur Systematizität des Systems der philosophischen Wissenschaften. Wenn die Realphilosophie – die Philosophien der Natur und des Geistes – von vornherein nur die Absicht hätte, alles und jedes auf die Logik herunterzubrechen, wozu bedürfte es einer Bewährung der Logik im konkreten Inhalt? Müsste die logische Idee als absolute Idee sich nicht schon von vornherein gewiss sein, dass ihr Entschluss, »sich als Natur frey aus sich zu entlassen« (GW 13, 110), gar nicht dazu führen kann, sich in der Realität zu verlieren? Wenn dem aber nicht so ist, was riskiert die Idee dann in den Realwissenschaften? Was könnte überhaupt das Widerständige der Realität gegen die logische Form sein? Und was bedeutet es dann, »das Logische« in dieser Realität zu bewähren? 2 Vgl. Jaeschke, Hegel-Handbuch, Leben – Werk– Schule, o. O. 32016, 502– 504; Wilhelm Raimund Beyer, Wie die Hegelsche Freundesvereinsausgabe entstand (aus neu aufgefundenen Briefen der Witwe Hegels), in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 15 (1967), 563–569; Christoph Jamme, Editionspolitik. Zur »Freundesvereinsausgabe« der Werke G. W. F. Hegels, in: Zeitschrift für philosophische Forschung 38 (1984), 83–99.
260 | Die Realität und das Absolute
Ich möchte diese Fragen dadurch zu beantworten versuchen, dass ich zunächst danach frage, was die logische Idee im Verhältnis zu den Realwissenschaften ist (1), zweitens nach dem Dasein der Idee in den Realwissenschaften (2) und schließlich drittens danach, was es heißt, dass die Idee sich im konkreten Inhalt bewährt (3). (1) Bei Hegel kommt nicht nur das Absolute nicht aus der Pistole geschossen, sondern jeder Anfang – auch wenn er unmittelbar sein soll, wie der Anfang der Logik – ist in Präliminarien eingewickelt, in Vorreden, Vorbegriffe, Einleitungen, denn: am Ende ist doch alles vermittelt, selbst die Unmittelbarkeit. So kommt auch die Wissenschaft der Logik im Rahmen der Enzyklopädie 1817 mit einem »Vorbegriff« daher, der hier nicht ausdrücklich die »drei Stellungen des Gedankens zur Objektivität« behandelt, wie in den folgenden Auflagen 1827 und 1830, sondern den Schwerpunkt auf die Form der Logik und ihr Verhältnis zur (vormaligen) Metaphysik legt. Identisch in allen der Auflagen ist der erste Paragraph des »Vorbegriffs«: »Die Logik ist die Wissenschaft der reinen Idee, das ist, der Idee im abstracten Elemente des Denkens.« (GW 13, 23)3 Die eine Idee, die sich in der Logik darstellt, ist demnach durch eine grundlegende Abstraktion bestimmt, nämlich die Abstraktion von aller Intentionalität des Denkens in Bezug auf Gegenstände, oder, wie es in der Nachschrift zur Vorlesung 1817 heißt: Das Denken als reines Denken sei »ein Abstrahieren in so fern seine Freyheit und Einfachheit ein Aufheben der Mannigfaltigkeit und Unmittelbarkeit ist«. (GW 23,1, 15) Warum diese Erkenntnis nicht der Begriff, sondern erst der Vorbegriff ist, liegt daran, dass, wie es in der zitierten Vorlesung heißt, der Begriff der Logik und Philosophie überhaupt »ihr eigenes letztes Resultat« sei (GW 23,1, 15). Das wiederum ist nicht nur historisch zu verstehen, sofern die Philosophie als Gestalt des absoluten Geistes überhaupt geschichtlich ist. Es trifft auch zu, sofern die Idee, von der die Rede ist, Resultat des Ganges der Wissenschaft der Logik ist, der sich in ihr zusammenfasst. Dort zeigt sich, Hegel zufolge, dass die Idee zwar abstrakt ist, sofern sie dem reinen Denken angehört, aber sie ist nicht »nur das Abstracte […] an ihr selbst ist sie wesentlich concret, weil sie der freye sich selbst 3
Vgl. GW 19, 45; GW 20, 61. »… die Eine Idee die sich darstellt« | 261
und hiemit zur Realität bestimmende Begriff ist«. (GW 13, 99) Die logische Idee ist konkret auf der Grundlage der Abstraktion des reinen Denkens, indem an die Stelle der Intentionalität des Denkens in Bezug auf reale Gegenstände die Intentionalität in Bezug auf den Begriff als Gegenstand tritt. Kurz: Das Denken denkt das Denken – das ist eben das ›reine‹ Denken – und in diesem Denken denken wir mit Begriffen den gedachten Begriff, und insofern beides identisch ist, denkt der Begriff sich selbst und der Begriff ist schließlich, wie in dem Abschnitt über die Idee, die reine Wahrheit schlechthin, weil Begriff und Gegenstand einander vollkommen entsprechen. Das ist vielleicht nicht eingängig, aber keineswegs ein Mystizismus. Die Idee kehrt also im enzyklopädischen System nicht nur am Ende, im absoluten Geist, in sich zurück, wobei wir noch gar nicht wissen, was das bedeutet. Sie kehrt auch innerhalb der Logik in sich zurück – von der ansichseienden Idee des Anfangs in ihre volle Selbstbestimmung als in sich konkrete, absolute Idee. Das ist aber noch nicht alles. Indem die Idee sich als Methode bestimmt, erfasst sie erinnernd den Gang ihres Werdens noch einmal unter dem Gesichtspunkt, dass von Anfang an der Begriff Subjekt und Objekt des logischen Prozesses war. In der Nachschrift 1817 heißt es: »Die absolute Methode ist der Begriff in der Totalität seiner Formbestimmung insofern das Wissen ihn als sein eigenes Thun und Bewegen weiss, aber eben sosehr als den eigenen Verlauf und Bestimmung seines Inhalts.« (GW 23,1, 150) Das Wissen darum, dass die Selbstbewegung des Begriffs von Anfang an den Gang der Logik bestimmt, lässt die ursprünglichen Bestimmungen in der Abfolge der Logik nicht unberührt; so ist der Anfang mit dem reinen, bestimmungslosen Sein »von der speculativen Idee aus […] nun ihr Selbstbestimmen […]. Das Seyn, das für den Anfang als solchen als Position erscheint, ist so vielmehr die Negation.« (GW 13, 108 f.) Als Negation aber ist der Anfang nicht unvermittelte Unmittelbarkeit, sondern Vermittlung, näher: Abstraktion des Begriffs. In der absoluten Methode verschwindet der Schein, »als ob der Anfang ein unmittelbares, und das Ende ein Resultat wäre« (GW 13, 110); die Bewegung der Logik insgesamt ist aufgehoben in die Totalität der Idee als deren Sich-in-sich-selbst-Unterscheiden. Nach der Vorlesung 1817 fasst die Idee sich in einem Schluss aus drei Schlüssen zusammen, in dem die drei Glieder – Einzelnes, Besonderes 262 | Die Realität und das Absolute
und Allgemeines – vollständig miteinander vermittelt sind, so dass jedes sowohl praemisse, medius terminus als auch conclusio sein kann (GW 23,1, 152 f.). Diese Figur eines Schlusses aus drei Schlüssen wiederholt sich am Ende der Enzyklopädie, freilich nur in den Fassungen 1817 und 1830. Die Interpretation dieser von Hegel nicht im Rückgriff auf seine Begriffslogik eindeutig identifizierten Schlüsse ist umstritten.4 Diese Streitsache ist hier nicht weiter zu erörtern, aber der Hinweis ist angebracht, dass diese drei Schlüsse wiederum der Form der Vermittlung der Idee in sich selbst entsprechen und insofern die Rückkehr der Idee in sich anzeigen, von der noch zu sprechen sein wird. Das Zitat, das ich als Überschrift gewählt habe, steht in diesem Kontext und unterstreicht, dass alle Schlüsse in der Idee vereinigt sind. Entsprechend heißt es in der Einleitung der Enzyklopädie 1817: »Das Ganze der Wissenschaft ist die Darstellung der Idee […]: 1) die Logik, die Wissenschaft der Idee an und für sich; 2) die Naturphilosophie als die Wissenschaft der Idee in ihrem Andersseyn; 3) die Philosophie des Geistes, als der Idee die aus ihrem Andersseyn in sich zurückkehrt.« (GW 13, 22) Dies könnte dazu verleiten, die »Darstellung der Idee« als eine Art Deduktion der Realität der Natur und des Geistes aus der Idee zu verstehen – oder vielmehr als deren Schöpfungsakt. Diese Annahme ist aber – trotz einiger nebulöser Formulierungen Hegels sowohl in der Wissenschaft der Logik als auch in der Enzyklopädie – schon deshalb zurückzuweisen, weil die Abstraktion, die dem Logischen zugrunde liegt, von etwas abstrahiert, was schon immer da ist und am Ende der Logik nicht erschaffen werden muss. Worum es bei dieser Abstraktion geht, beschreibt Hegel in der Vorlesung 1817 so: »Das Logische ist der Allgemeine – also der allem gemeinsame – Inhalt von allem, aber es tritt auch als Allgemeines dem Besonderen gegenüber. So unterscheidet sich die Logik von den realen Wissenschaften der Philosophie« (GW 23,1, 30). Dahinter steht die aristotelische Auffassung, dass das Allgemeine, Gattung und Art, nur in den Individuen existiert. Nur der Geist ist fähig, in Abstraktion von den Individualitäten das Allgemeine zu erkennen und festzuhalten. Hegel bestimmt jedoch in diesem Zusammenhang den Begriff des Allgemeinen gegenüber der philosophischen 4
Vgl. dazu näher Jaeschke, Hegel-Handbuch, 268–272. »… die Eine Idee die sich darstellt« | 263
Tradition neu: Es ist nicht mehr ein abstraktes Allgemeines, welches das, wovon abstrahiert wurde, unter sich subsumiert, sondern es ist ein in sich konkretes Allgemeines, das in sich unterschieden und nur durch seine unterschiedenen Momente in ihrer Einheit ist. Diese Einheit ist durch die logische Idee als Schluss von Schlüssen bezeichnet und hat daher, als in sich konkrete Allgemeinheit, die Form des Unterschiedenen, also der Individualität, in sich selbst. Sie ist aber zugleich konkrete Allgemeinheit nur innerhalb der Abstraktion des reinen (logischen) Denkens, und diese Abstraktion ist nicht der blinde Fleck in der Beziehung des Begriffs auf sich, sondern die Idee, so heißt es in der (großen) Wissenschaft der Logik, sei »noch logisch« und »in den reinen Gedanken« und »in die Subjectivität eingeschlossen« (GW 12, 253). Der Geist, der sich letztlich als Idee erfasst, könne, so die Formulierung der Enzyklopädie (1817) »von allem Aeusserlichen und von seiner eigenen Aeusserlichkeit, seinem Seyn abstrahiren« (GW 13, 179). Die Rücknahme der logischen Abstraktion erfolgt an der Nahtstelle von Logik und Natur. Die Idee, so heißt es in der Vorlesung 1817, sei »zugleich Gestalt, welche sich heruntersetzt als das eine Glied ihrer selbst zu seyn und in Abstrakter Allgemeinheit sich zu ihrer unmittelbaren Voraussetzung zu machen d. i. Natur, Anschauende oder Unmittelbare Idee zu seyn« (GW 23,1, 153). Halten wir fest: Die Idee beruht auf einer logischen Abstraktion, ist aber selbst, als Idee, nicht abstrakte, sondern konkrete Allgemeinheit. Durch die Rücknahme der logischen Abstraktion wird sie wiederum, im Verhältnis auf die Natur als ihrem Sein bzw. Dasein, zu einer abstrakten Allgemeinheit herabgesetzt. Der Status der abstrakten Allgemeinheit kommt deshalb nicht der Natur als solcher zu, sondern der Idee, weil die Natur gar nicht fähig ist, das Allgemeine festzuhalten, und damit den Status der Äußerlichkeit hat – nicht nur gegenüber der Idee, »sondern die Aeusserlichkeit macht die Bestimmung aus, in welcher sie als Natur ist«. (GW 13, 113) Die eigentliche Pointe der Hegelschen Auffassung besteht aber nun darin, dass die Idee dadurch nicht aus ihrer internen Verfasstheit herausfällt. Da sie ein in sich konkretes Allgemeines nur im Durchgang durch ihre unterschiedenen Momente und nicht als ein ruhendes Sein-in-sich ist, hat sie das Moment der abstrakten Allgemeinheit und Äußerlichkeit an ihr selbst, wenn auch als auf264 | Die Realität und das Absolute
gehoben in der Einheit der Idee als in sich konkreter Allgemeinheit. Insofern kann Hegel auch sagen, dass die Idee sich »entschließt«, sich »als Natur frey aus sich zu entlassen« (GW 13, 110) und darin zugleich bei sich selbst zu bleiben, indem sie – wie die Vorlesung hinzufügt – in »dem Verluste ihrer selbst, ihrer selbst absolut sicher ist«. (GW 23,1, 153) (2) Diese Sicherheit sollte nicht so verstanden werden, als sei damit gesagt, alles und jedes, was in der Realphilosophie der Natur und des Geistes der Fall sei, sei damit ohnehin schon in die logische Idee eingemeindet. Die Sicherheit bezieht sich nach meiner Auffassung einzig und allein darauf, dass die Idee in der absoluten Selbstbezüglichkeit des Begriffs die Wahrheit schlechthin ist und diese Wahrheit in Bezug auf die Äußerlichkeit der Natur nicht verlieren kann, indem die Äußerlichkeit als Bestimmung Moment ihrer logischen Struktur ist. Die Konsequenz daraus ist, dass es außerhalb der Selbstbeziehung des Begriffs, in der allein Begriff und Gegenstand einander vollkommen entsprechen, im strengen Sinne keine absolute Wahrheit gibt. Hegel spricht dies im Paragraphen 162 der Enzyklopädie (1817) klar aus: »Alles Wirkliche, insofern es ein Wahres ist, ist die Idee […]. Das einzelne Seyn ist irgend eine Seite der Idee, für dieses bedarf es daher noch anderer Wirklichkeiten […], in ihnen zusammen und in ihrer Beziehung ist allein der Begriff realisirt. Das Einzelne für sich entspricht seinem Begriffe nicht; diese Beschränktheit seines Daseyns macht seine Endlichkeit und seinen Untergang aus.« (GW 13, 98) Dieser Sachverhalt wird auch in der (großen) Wissenschaft der Logik eigens betont: »Die endlichen Dinge sind darum endlich, indem sie die Realität ihres Begriffs nicht vollständig an ihnen selbst haben, sondern dazu anderer bedürfen; – oder umgekehrt, insofern sie als Objecte vorausgesetzt sind, somit den Begriff als eine äusserliche Bestimmung an ihnen haben.« (GW 12, 175) Damit ist zum einen gesagt, dass es eine konstitutive Differenz zwischen Begriff und Realität gibt, wobei zu beachten ist, dass H egel hier wie überhaupt zwischen Wirklichkeit und Realität unterscheidet: Wirklichkeit ist die Realität, soweit sie dem Begriff entspricht, Realität als solche ist das bloß Existierende, und zwar ein Endliches, das im strengen Sinne nicht ist, d. h. kein eigenes Sein hat, sondern »… die Eine Idee die sich darstellt« | 265
ein Werden und Vergehen ist. Der bekannte Satz aus der Vorrede der Grundlinien der Philosophie des Rechts, wonach das Vernünftige wirklich und das Wirkliche vernünftig sei (GW 14,1, 14), ist daher strenggenommen tautologisch und meint nicht, dass alles, was existiert, vernünftig sei. Die Differenz zwischen Begriff und Realität bedeutet, dass sich das Existierende nicht aus dem Begriff herleiten oder gar in seiner Existenz folgern ließe; vielmehr hat der Begriff hier eine normative Funktion: Er bewertet die Realität danach, wieweit sie dem Begriff entspricht oder nicht – wobei es, da der Begriff in der endlichen Realität gar nicht rein selbstbezüglich sein kann, eine vollständige Entsprechung hier nicht gibt. Hegel beschreibt diese normative Funktion in seiner Logik-Vorlesung 1817 so: »Wenn man sagt diese Staatsverfassung ist schlecht, so ist das Schlechte am Staat etwas vorübergehendes, – dies ist nicht. Aber es gibt keinen Staat, der nicht wirklich etwas der Idee entsprechendes hat, wenn auch nur auf eine unvollständige blos Abstrakte Weise.« (GW 23,1, 138) Nur, insoweit der Staat der Idee entspricht, d. h. Freiheit realisiert – denn die Idee ist der Begriff der Freiheit –, ist er wirklich und alles Andere an ihm ist bloße Existenz. Die zweite Konsequenz aus dem Gesagten, die ich hier eigens betonen möchte, ist, dass die Idee sich in den Realwissenschaften immer nur gebrochen und äußerlich auf sich selbst beziehen kann, indem sie dort selbst als das schlechthin Wahre und Wirkliche in Momente des Wahren als einander äußerliche Wirklichkeiten zersplittert ist. Wenn der Begriff nur in ihnen zusammen und in ihrer Beziehung realisiert ist, wie Hegel betont, und wenn das Existierende, das den Begriff mehr oder weniger an sich hat, aus dem Begriff selbst nicht deduzierbar ist, dann bedarf es einer eigenen Anstrengung des Begriffs, um ihn in der Realität wiederzufinden und den inneren, begrifflichen Zusammenhang der zersplitterten Wirklichkeiten zu erfassen und darzustellen. Diese Darstellung wäre, um mit Marx zu sprechen, die »Reproduction des Concreten im Weg des Denkens«, um es »als ein geistig Concretes zu reproduciren«.5 Die absolute Idee als absolute Methode liefert hierfür zwar den Begriff der in sich konkreten Allgemeinheit, jedoch ist auch diese in der Realität nur gebrochen zu haben, sofern es dort 5 MEGA 2 ,
Abt. 2, Bd. 1,1, 36.
266 | Die Realität und das Absolute
keine reine Selbstbezüglichkeit gibt. Insofern würde auch Hegel unterschreiben, dass innerhalb der (endlichen) Realität die Dialektik, wie Marx sagt, »Grenzen« hat und »realen Unterschied nicht aufhebt«. 6 Sie werden erst aufgehoben, indem gezeigt wird, dass das Endliche kein wahrhaftes Sein hat, sondern nur ein Werden ist, also im absoluten Geist. Für die Realphilosophie hingegen ist gerade der reale Unterschied entscheidend, den Marx irrig meint, gegen Hegel ins Spiel bringen zu können. Entscheidend ist, dass die disiecta membra der Idee in der Realität sich nicht in einem unmittelbaren Zugriff wiederum der Idee eingemeinden lassen. Dies gilt selbst für den absoluten Geist, sofern er geschichtlich – und das heißt auch: zeitlich – auf dem Wege seiner Selbsterfassung ist. Im Blick auf die Geschichte der Philosophie, in der es ja in systematischer Absicht um die Entwicklung der logischen Idee geht, hat Hegel in dem Manuskript zu seiner Vorlesung 1820 einerseits zwar entschieden behauptet, »daß die Aufeinanderfolge der Systeme der Philosophie in der Geschichte dieselbe ist, als die Aufeinanderfolge in der logischen Ableitung der Begrifsbestimmungen der Idee«; andererseits freilich fügt er sofort die Einschränkung hinzu, dass sich die »Folge als Zeitfolge der Geschichte« auch von der »Folge in der Ordnung der Begriffe« unterscheide (GW 18, 50).7 Das gilt noch mehr für die Äußerlichkeit der Natur und den noch mit Natur behafteten endlichen Geist. Hier steht gar nicht zu erwarten, dass jene Denkbestimmungen der Wissenschaft der Logik sich überhaupt in der Realität wiederfinden lassen, die sich allein auf die Form der Selbstbezüglichkeit des Begriffs beziehen. Zwar kann, das jedenfalls ist Hegels Annahme, das Begreifen der Realität nicht mit anderen Begriffen vollzogen werden als mit denen, welche die Logik entwickelt, denn andernfalls wäre die Logik unvollständig und damit unwahr, jedoch erfasst sich der Begriff als Begriff in der Realität nicht in seiner Vollständigkeit. Dazu bedarf es einer eigenen Anstrengung, die – so fordert 6
Ebd., 43. Vgl. dazu die Nachschrift zur Vorlesung 1819, GW 30,1, 12: »Ein 2tes Moment ist die Zufälligkeit, in der sich in der Geschichte das darstellt, was auch im gedachten Begriffe ist. Die Folge muß im Systeme und in der Geschichte identisch sein; aber nur dem Wesen nach.« 7
»… die Eine Idee die sich darstellt« | 267
es Hegel für den Eingang in die Logik – von aller Bestimmtheit abstrahiert. Erst, wenn die Begriffe des bestimmten, realitätsbezogenen Erkennens in die rein logische Entwicklung des Begriffs aufgehoben sind, lässt sich die Totalität der Idee wiederherstellen, also im absoluten Geist als Philosophie. Das Dasein der Idee in Natur und Geist ist daher keine einfache Spiegelung der Idee, sondern ihre Brechung in verstreute Momente des Begriffs, die zudem mit Äußerlichkeit behaftet sind und ihrem Gegenstand nur mehr oder weniger, niemals aber vollständig entsprechen. Für das Begreifen in den philosophischen Realwissenschaften der Natur und des Geistes bedeutet dies, dass die zersplitterten Begriffsbestimmungen in der Realität erst aufgesucht und in einen Zusammenhang gebracht werden müssen, welcher der Realität entspricht. Nicht eine philosophische Konstruktion aus dem Begriff, ein logischer Schematismus, führt zum Begreifen der Realität, sondern nur das Einlassen auf diese Realität selbst in ihrer jeweiligen spezifischen Bestimmtheit. Ansonsten wäre es völlig unerklärlich, warum Hegel der Auffassung ist – wie übrigens Marx auch8 –, dass ein fortgeschrittener Entwicklungsstand der empirischen Wissenschaften Voraussetzung dafür ist, sie philosophisch auf den Begriff zu bringen. In der zweiten Auflage der Enzyklopädie 1827 heißt es in Bezug auf das »Verhältnis der Philosophie zum Empirischen«: »Nicht nur muß die Philosophie mit der Naturerfahrung übereinstimmend sein, sondern die Entstehung und Bildung der philosophischen Wissenschaft hat die empirische Physik zur Voraussetzung und Bedingung.« (GW 19, 184) Wie die Verstandeserkenntnis überhaupt ein Moment der Erhebung zum spekulativen Denken ist, so ist auch die empirische Wissenschaft Moment des philosophischen Begreifens der Realität. Andernfalls würde das vernünftige, spekulative Erkennen in den Modus der verstandesmäßigen Abstraktion zurückfallen, die durch Abstraktion allgemeine Merkmale bestimmt und das Besondere und Ein8 Vgl. Marx an Engels, 1. 2 . 1858, in: MEW, Bd. 29, 275: »Er [Lassalle] wird zu seinem Schaden kennenlernen, daß es ein ganz andres ding ist, durch Kritik eine Wissenschaft erst auf den Punkt zu bringen, um sie dialektisch darstellen zu können, oder ein abstraktes, fertiges System der Logik auf Ahnungen eben eines solchen Systems anzuwenden.«
268 | Die Realität und das Absolute
zelne darunter subsumiert. Ein Überstülpen der logischen Idee über die Realität würde diese als bloße Abstraktion in ein äußerliches Verhältnis zur Realität setzen und der Begriff könnte sie nicht als ihr Inneres durchdringen und aufheben. Daraus folgt weiter, dass die absolute Methode – also die logische Idee an und für sich – nicht einfach die Methode des Begreifens der Realität ist. In dieser Methode sind Form und Inhalt absolut identisch – der reine, sich selbst erfassende Begriff – und darum ist die Methode hier nicht Weg zum Wissen, sondern das Wissen selbst, sofern der Begriff Subjekt, Mittel und Gegenstand des Erkennens ist. Von dieser absoluten Methode unterscheidet Hegel in der Wissenschaft der Logik das »suchende[] Erkennen«; in ihm »ist die Methode gleichfalls als Werkzeug gestellt, als ein auf der subjectiven Seite stehendes Mittel, wodurch sie sich auf das Object bezieht. Das Subject ist in diesem Schlusse das eine und das Object das andere Extrem, und jenes schließt sich durch seine Methode mit diesem, aber darin für sich nicht mit sich selbst zusammen. Die Extreme bleiben verschiedene, weil Subject, Methode und Object nicht als der eine identische Begriff gesetzt sind« (GW 12, 238). Ausdrücklich sagt Hegel, dass die absolute Idee, also die absolute Methode, auf den absoluten Geist zu beziehen ist: »Kunst und Religion« seien »ihre verschiedenen Weisen, sich zu erfassen und ein sich angemessenes Daseyn zu geben« (GW 12, 236), was freilich erst in der Philosophie in der Begriffsform gelingt. In Bezug auf die Realität der Natur und des endlichen Geistes haben wir es demnach mit einer suchenden Methode zu tun, die Hegel in der Enzyklopädie als Erkennen und Wollen thematisiert. Die Eigenart der »suchenden« Methode im theoretischen und praktischen Verhalten zur Realität besteht, kurz gesagt, darin, dass hier das Dasein der Idee in der Natur und im endlichen Geist als eine objektive »Welt« und damit der reale Unterschied von Subjekt, Mittel und Gegenstand im Erkennen und Handeln vorausgesetzt wird. Darin unterscheidet sich diese Methode von der absoluten. Die weiteren Charakteristika dieser Methode sind hier nicht im Einzelnen darzulegen. Wichtig ist vor allem, dass die analytisch-synthetische, »dialektische« Methode, wie Hegel sagt, in der absoluten Methode eine »neue[] Grundlage« bekommt, ansonsten aber »dieselbe« bleibt »als bey dem vorhergehenden« »… die Eine Idee die sich darstellt« | 269
(GW 12, 249). In Bezug auf die von Marx eingeforderte begrenzte dialektische Methode, die den realen Unterschied nicht aufhebt, ließe sich sagen, dass sie im Grunde genommen dem suchenden Erkennen entspricht. Zugespitzt gesagt: Die verzweifelt gesuchte »materialistische Dialektik« findet sich bereits in der Hegelschen Wissenschaft der Logik und muss weder durch Umstülpen aus ihr herausgeklaubt noch im Gegensatz zu ihr entworfen werden. Allerdings: Hegel hebt die Grenzen des realen Unterschieds innerhalb der Logik auf und gibt der Methode eine neue Grundlage. Auf dieser, auf dem Boden des absoluten Geistes, soll die Idee dann in sich zurückkehren. (3) Warum kann es für Hegel nicht bei dem suchenden Erkennen sein Bewenden haben? Eine Antwort könnte darin gesehen werden, dass Hegel – mit Kant, aber im Unterschied auch zu gängigen Systembegriffen seiner Zeit (wie etwa denen der Frühromantiker) – die systematische Einheit als System der Vernunft subjektiv und nicht als objektives System, etwa ein System der Natur nach dem Vorgang Holbachs, versteht. Das trifft zwar zu, bleibt jedoch äußerlich, solange die Notwendigkeit, System als System der Vernunft zu denken, nicht dargetan ist. Festzuhalten ist jedoch, dass ein solches System der Vernunft verfehlt wird, wenn die Rückkehr in den Ausgangspunkt nicht gelingt, wie dies beim Jenaer Fichte der Fall ist, indem die Wissenschaftslehre in einem unendlichen Progress der Überwindung des Nicht-Ich verläuft. Das suchende Erkennen für sich genommen bliebe angesichts einer sich beständig verändernden Empirie und der Entwicklung der empirischen Wissenschaften ebenfalls im Modus einer solchen schlechten Unendlichkeit. Tatsächlich hat ja Hegel in seinen Vorlesungen auch den empirischen Stoff immer wieder neu und weitergehend durchgearbeitet und dementsprechend auch begrifflich immer wieder neu organisiert.9 Im Blick auf die Empirie ist diesem suchenden Erkennen tatsächlich keine Grenze gesetzt und in dieser Hinsicht besteht der Einsatz des spekulativen Denkens nur darin, dass in unserem theoretischen und praktischen Verhalten zur ›Welt‹ keine ande9 Vgl. z. B. im Blick auf die religionsphilosophischen Vorlesungen Jaeschke, Vernunft in der Religion, 229–288.
270 | Die Realität und das Absolute
ren Denkbestimmungen oder Kategorien notwendig sind und gebraucht werden als die, welche im reinen Denken, das sich im Begreifen des Begriffs in der absoluten Idee zusammenfasst, entwickelt worden sind. Das Feld der empirisch gerichteten Realwissenschaften, das in fortschreitender Entwicklung begriffen ist, findet somit in sich selbst keinen endgültigen systematischen Abschluss, sondern wälzt sich ins schlechte Unendliche fort, und mit ihm das immer wieder erneute Begreifen. Jede Systematisierung auf diesem Feld selbst, als innerhalb realer Gegensätze, ist Systematisierung auf Widerruf – und Hegel selbst zögerte nicht, bei Bedarf seine bisherigen Systematisierungen zu widerrufen und die zersplitterten Wirklichkeiten des Begriffs neu zu organisieren. In dieser Hinsicht bleibt es bei »Grundlinien« und ein abgeschlossenes System liegt nicht vor. Zugleich ist dieses Feld nicht nur zum Schein die Bewährungsprobe des Logischen. Es ist keineswegs von vornherein ausgemacht, dass das »diamantene Netz« der Kategorien, »in das wir allen Stoff bringen und dadurch erst verständlich machen«,10 nicht reißt und neu geknüpft werden muss. Die Rückkehr der Idee in sich kann daher auch nur unter der Voraussetzung gelingen, dass dies nicht der Fall ist. Anders gesagt: Sie ist kein Selbstläufer und nicht von vornherein garantiert. Mit der Öffnung der Idee zur empirischen Realität, als deren Inneres sie sich wiederfinden soll, setzt Hegel seine Philosophie dem Risiko eines systematischen Scheiterns aus. Warum geht er also dieses Risiko ein und belässt es nicht etwa bei einer Transformation der logischen Kategorien in eine Methode des suchenden Erkennens? Eine Antwort darauf findet sich in der Naturphilosophie, sofern die Natur ja der Idee als ihr und an ihr selbst schlechthin äußerlich am entferntesten steht, so dass sie sogar als »Abfall« von der Idee apostrophiert wird (GW 13, 114). Sie erscheint daher dem Geist – und hier zunächst dem endlichen, menschlichen Geist – als ein Fremdes, geradezu Übermächtiges. In seinen Vorlesungen zur Naturphilosophie 1819/20 spricht Hegel von einem »Zwist« im Verhältnis des Menschen zur Natur. Dieser Zwist besteht zwischen dem theoretischen und praktischen Verhalten: »Die theoretische Seite anerkennt die Natur als das Seiende, 10
HW 9, 20. »… die Eine Idee die sich darstellt« | 271
Substantielle. […] Andererseits weiß der Mensch sich in sich unendlich, unbezwinglich in seinem Willen. […] Das ist die List seiner Vernunft, daß er ihre Gewalt an sich selbst abreiben läßt und sich dahinter unangetastet verhält und so die natürlichen Dinge zu seinen willkürlichsten Einfällen braucht.« (GW 24,1, 4) Es ist dies, kurz gesagt, der Gegensatz von Determinismus und Freiheit, den Hegel dadurch vereinigen will, dass der menschliche Geist die in der Natur zerstreuten, sich selbst äußerlichen und bewusstlosen Glieder der Idee auffinden und praktisch so aufeinander beziehen kann, dass sich die Freiheit gerade durch die und vermittels der Notwendigkeit realisiert.11 Indem die Natur nicht nur Gegenstand des suchenden Erkennens ist, sondern die Methode des suchenden Erkennens im Begreifen ihrer Realität und ihres Zusammenhangs auch auf eine neue Grundlage, das Selbstverhältnis des Begriffs, gestellt wird, wird ihr Inneres als Freiheit bestimmt, denn die absolute Idee als in sich konkrete Allgemeinheit ist der Begriff der Freiheit. In der vernünftigen Erkenntnis der Natur, so Hegel in der Vorlesung 1819/20, lasse ich das Natürliche »frei und ohne Furcht es zu verlieren, es ist ein in sich Geschlossnes und Vernünftiges, dessen Freiheit für mich nichts Furchtbares hat da sein Wesen das meinige ist. Der Mensch ist nur insofern frei als noch andre neben mir frei sind. Die Naturphilosophie ist also die Wissenschaft der Freiheit.« (GW 24,1, 8) Es ist das Interesse der Freiheit, das Hegel bei der Rückkehr der Idee in sich umtreibt, denn nur in einer – wenn auch immer nur gebrochenen – Angemessenheit der Realität zur Freiheit lässt sich im Begreifen dessen, was ist, die Freiheit als normativer Maßstab bewähren. Und nur aufgrund einer solchen Angemessenheit der Realität zur Freiheit lässt Freiheit sich realisieren.
11
Vgl. dazu Arndt, Freiheit.
272 | Die Realität und das Absolute
NACHWEISE 1) Wer denkt absolut? Die absolute Idee in Hegels »Wissenschaft der Logik«, Erstveröffentlichung in: Revista Eletrônica Estudos Hegelianos Ano 9, nº 16, Junho 2012, 22–33; http://ojs.hegelbrasil.org/index.php/ reh/article/view/93/76 2) Die anfangende Reflexion. Anmerkungen zum Anfang der »Wissenschaft der Logik«, Erstveröffentlichung in: Hegels Seinslogik. Interpretationen und Perspektiven, hg. v. Andreas Arndt und Christian Iber, Berlin: Akademie-Verlag 2000, 126–139. 3) Hegels Begriff der Dialektik im Blick auf Kant, Erstveröffentlichung in: Hegel-Studien 38, Hamburg: Meiner 2003, 105–120. 4) Dialektik und Urteilskraft, Erstveröffentlichung in: Hermeneutische Relevanz der Urteilskraft / Relevance of Hermeneutical Judgment, hg. v. Jure Zovko, Wien und Zürich: LIT 2021 (Philosophy in International Context 12), 191–203. 5) Das Verhältnis der »Wissenschaft der Logik« zur Realphilosophie bei Hegel, Erstveröffentlichung in: Philosophie als Wissenschaft, hg. v. Nora Schleich mit Simone Cavallini, Erik Eschmann, Yukiko Hayashi-Baeken, Nina Lott, Alexander Sattar, Hildesheim, Zürich und New York: Olms (Europaea Memoria 1, 132), 199–209. 6) »Das Wesen des Geistes ist …, daß er … als Sieger über die Natur zu sich selbst kommt«. Gesellschaftliches Naturverhältnis bei Hegel, Erstveröffentlichung in: Übergänge in der klassischen deutschen Philosophie, hg. v. Jindřich Karasek, Lukáš Kollert und Tereza Matějčková, München und Paderborn: Fink 2019, 131–147. © 2019 Wilhelm Fink Verlag, ein Imprint der Brill Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland) 7) Zur Rolle des Gefühls in Hegels Theorie des subjektiven Geistes, Erstveröffentlichung in: Hegels Anthropologie, hg. v. Andreas Arndt und Jure Zovko (Hegel-Jahrbuch, Sonderband 9), Berlin und Boston: De Gruyter 2017, 75–87. 8) Anerkennung. Zur Tragweite eines Begriffs, Erstveröffentlichung in: Internationales Jahrbuch für Anthropologie 6 (2016): Mensch und Ge273
9) 10)
11)
12)
13)
14)
15)
16)
sellschaft zwischen Natur und Geschichte, hg. v. Thomas Ebke, Sebastian Edinger, Frank Müller und Roman Yos, Berlin und Boston: De Gruyter 2016, 227–241. »Die Eumeniden schlafen«. Über die Fragilität der Moderne, Erstveröffentlichung in: Dianoia 26 (2021), No. 33, 71–88. »Ein wildes Tier, das einer beständigen strengen Beherrschung und Zähmung bedarf«. Ökonomie und Staat nach Hegel, Erstveröffentlichung in: Soziopolis [2020], https://www.soziopolis.de/beobachten/ wissenschaft/artikel/ein-wildes-tier-das-einer-bestaendigen-stren gen-beherrschung-und-bezaehmung-bedarf/ (Aufruf 4. 1. 2023). Frei(heits)räume. Abstrakte und konkrete Allgemeinheit in Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts, Erstveröffentlichung in: Aufhebung 5, Salzburg 2014, 10–25. Glauben und Zutrauen. Hegels Deutung des lebensweltlichen Bewusst seins, Erstveröffentlichung in: Mariano Álvarez Gómez y la filosofía clásica alemana, ed. María del Carmen Paredes, Gabriel Amengual Coll. y Juan J. Padial, 69–81 (= Studia Hegeliana 4, 2018 [2021], Nr. 4). Die Vollendung des absoluten Geistes im objektiven Geist. Weltgeschichte, Religion und Staat, Erstveröffentlichung in: Objektiver und absoluter Geist nach Hegel. Kunst, Religion und Philosophie innerhalb und außerhalb von Gesellschaft und Geschichte, hg. v. Thomas Oehl und Arthur Kok, Leiden und Boston: Brill 2018 (Critical Studies in German Idealism 21), 709–719. © 2018 Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA. Freiheit in Religion und Philosophie. Heine und Hegel, Erstveröffentlichung in: Die Klassische deutsche Philosophie und ihre Folgen, hg. v. Michael Hackl und Christian Danz (Wiener Forum für Theologie und Religionswissenschaft 13), Göttingen: V&R unipress/Vienna University Press 2017, 77–92. Kunst, Religion und Philosophie nach ihrem Ende. Zum Teil veröffentlicht unter dem Titel: Ende der Geschichte – und dann? Zu Hegels Philosophie der Weltgeschichte, in: Kontingenz und Begriff. Über das Denken von Geschichte und die Geschichtlichkeit des Denkens, hg. v. Michael Städtler, Springe: zu Klampen 2019, 68–77. »… die Eine Idee die sich darstellt« – wie systematisch ist H egels enzyklopädischer Systementwurf? Vortrag auf der Tagung »Metaphysik des Konkreten und der Geschichtlichkeit. Systeme der Vernunft 1821– 1854« vom 17.–19. 7. 2019 an der Universität Wien, unveröffentlicht.
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