Die Religion der Zukunft [Reprint 2019 ed.] 9783111547145, 9783111178370


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Die Religion der Zukunft
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Die Religion der Zukunft [Reprint 2019 ed.]
 9783111547145, 9783111178370

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Die

Religion der Zukunft von

Charles w. (Eliot Präsident der Harvard-Universität 1869-1909

Autorisierte Übersetzung von

L. Müllenhoff

Verlag von Rlfred Töpelmann (vormals 3. Ricker) * Gießen *1910

Die Religion der Zukunft eine Vorlesung gehalten am Schluß der elften Harvard-Sommerschule für Theologie, 22. Juli 1909. Um Herrn (Eliots schwerwiegende und weit­ tragende Worte richtig zu beurteilen und den großen Einfluß derselben richtig zu verstehen, muß man in Betracht ziehen, daß Herr Eliot weder Prediger noch überhaupt Theologe ist, sondern ein Mann der exakten Wissenschaften, und zwar Chemiker von Beruf. AIs Präsident der Harvard-Universität von 1869 — 1909, also vierzig Jahre lang, ist er die hervorragendste Persönlichkeit im Unterrichtswesen Amerikas geworden. Dort gilt der ehemalige Präsident von Harvard bei vielen als der angesehenste und einflußreichste Bürger des Landes. Erregte doch in manchen Ureisen der wechsel in der Regierung Harvards beim Rück­ tritt des Herrn Eliot mehr Aufsehen und Interesse, als der Wechsel in der nationalen Regierung, als Präsident Roosevelt aus dem Amte schied.

Etwaiger Nachdruck in Zeitschriften erlaubt.

ährend des Sommer-Semesters haben Sie als Teilnehmer

W

an den theologischen Kursen eine Reihe von Vorlesungen

gehört über die Schwankungen int religiösen Interesse, über das

häufige Vorkommen von religiösen Niedergängen, denen bald

ein Wiederaufleben oder eine Regeneration gefolgt ist sowohl innerhalb wie außerhalb der Kirchen, über die wiederholt ge­ machten versuche, die hauptsächlichen religiösen Lehren in Ein­

klang zu bringen mit neuen Richtungen in der intellektuellen Welt, über den beständigen Kampf zwischen Konservatismus und Liberalismus in den bestehenden Kirchen und zwischen

Idealismus und Materialismus in weiterem Sinne. Sie haben

Vorlesungen gehört über die Wirkung der Volkserziehung und

des modernen Forschens mit Bezug auf religiöse Lehren und Organisationen, über die veränderten Anschauungen

denken­

der Menschen über die Natur der Welt und die Natur des Menschen, über das Wachsen der Erkenntnis, soweit sie die

Religion beeinflußt, über

die neuen Ideen von Gott.

Sie

haben ebenfalls Vorlesungen über Psychotherapie aufmerksam

verfolgt, eine Neu-Lntwicklung jener alten Strebens, das darauf

hinausgeht, Religion und Medizin zu vereinen und über die Entwicklungstheorie, einen modernen wifienschaftlichen Lehrsatz, der innerhalb fünfzig Jahren die religiösen Anschauungen und Erwartungen vieler denkender Menschen von Grund aus ver-

ändert hat.

Sie haben ferner gehört, wie die neuen Ideen

der Demokratie und des sozialen Fortschrittes nicht nur die tatsächlich von der Kirche geleistete Arbeit verändert haben und

sie zu verändern

berufen sind,

sondern

ebenfalls

ganze Ansicht über die Aufgaben der Kirchen überhaupt.

die

Und

wiederum haben Sie gehört, wieviele und tiefgehende religiöse Zusammenhänge in der zeitgenössischen Philosophie sich finden. Ihre Aufmerksamkeit ist hingelenkt worden auf die

aller­

neuesten Anschauungen über die Erhaltung der Kraft im Weltall,

auf die wunderbaren Phänomene der Radio-Aktivität, auf die jüngsten Definitionen über Atome, Moleküle, Ionen, Elektronen

- menschliche Vorstellungen, die ein gut Teil zu tun haben mit den modernen Begriffen von Materie und Geist.

Ihre Auf­

merksamkeit ist ebenfalls gefesselt worden durch den Einfluß,

den die moderne, mit dem Neuen Testament beschäftigte Ge­ lehrsamkeit auf die volkstümliche Religion ausübt, und schließ­ lich ist Ihnen eine Darlegung religiöser Verhältnisse und Bräuche

in den vereinigten Staaten geboten worden, die eine innige Verbindung annimmt, zwischen dem Fortschritt der Zivilisation und den gleichzeitigen Richtungen der Religionen, und an der

Hand der Geschichte dartut, welchen Dienst die Religion — und namentlich das Christentum - dem Fortschritt der Zivilisation geleistet hat durch ihre Beisteuer zu individueller Freiheit,

geistiger Kultur und sozialem Zusammenwirken.

Sicherlich haben Sie aus dieser umfaffenden Übersicht den allgemeinen Eindruck gewonnen, daß die Religion nichts Festes, sondern etwas Fließendes ist.

Es ist deshalb durchaus natürlich

und steht zu erwarten, daß der unter gebildeten Menschen herr­

schende Begriff von Religion sich von Jahrhundert zu Jahrhundert wandelt.

Vie modernen Studien über vergleichende Religions-

wiffenschaft und Religionsgeschichte zeigen klar, daß das in ver­ gangenen Zeiten der Fall gewesen ist.

4

Nun übertraf das neun-

zehnte Jahrhundert in ungemessener Weise alle vorangehenden Jahrhunderte durch ein Wachsen des Wissens, durch ein verbreiten

des wissenschaftlich forschenden Geistes, durch ein leidenschaftliches Suchen nach Wahrheit.

Deshalb waren die Veränderungen im

religiösen Glauben und religiösen Brauch und im Verhältnis

der Uirchen zu der menschlichen Gesellschaft im ganzen so viel

tiefere und weitgehendere als jemals zuvor in der Weltgeschichte,

und die Schritte, die getan wurden, um die Lehren der größten Religionslehrer für die Menschheit tatsächlich in Praxis umzu­

setzen, waren bedeutungsvoller und schneller als je zuvor.

Des­

halb kann die Religion vieler Menschen des zwanzigsten Jahr­ hunderts ohne unverzeihliche Übertreibung eine neue Religion

genannt werden, - nicht, daß ein einziger ihrer Lehrsätze oder Bräuche dem Wesen nach neu wäre - neu aber ist die weit­

herzigere Auffassung und die tatsächlich bessere Anwendung von Wahrheiten, die in der Vergangenheit den Menschen zu vielen Zeiten und an vielen Grten vertraut waren, die sich die Menge

jedoch niemals zu herzen nahm oder niemals in größerem Um­

fange in Wirksamkeit umsetzte. Ich werde versuchen, ohne Rückhalt und in den einfachsten

Ausdrücken, frei von allen technischen Färbungen, festzustellen, erstens, was die Religion der Zukunft wahrscheinlich nicht sein wird und zweitens, was sie verständigen Erwartungen zufolge

sein wird.

Mein Standpunkt ist der eines amerikanischen

Laien, dessen Beobachten und Denken die außergewöhnliche

Periode umfaßt, in der die „Voyage of the Beagle“ ver­ öffentlicht wurde, in der die lokale Anästhesie und der Tele­

graph praktisch zur Verwendung kamen, in der Herbert Spencer seine erste Reihe von Schriften über die Entwicklung heraus­

gab, Kuenen, Robertson Smith und Wellhausen die vibelkritik

entwickelten und behaupteten, in der I. 5. Mill's Principles of Political Economy erschienen, in der die vereinigten Staaten

5

durch den Krieg mit Mexiko die Kräfte in Bewegung setzten,

die die Sklaverei auf dem amerikanischen Festlande aufhoben, die Periode, in der die mechanische Kraft weite Verbreitung fand durch die explosive Maschine und die Anwendung der

Elektrizität, und in der alle großen fundamentalen Industrie­

zweige der zivilisierten Menschheit rekonstruiert wurden.

1. Vie Religion der Zukunft wird sich nicht auf Autorität gründen, weder auf geistliche noch auf weltliche.

(Es ist eines

der bedeutendsten Phänomene der modernen Welt, daß sie auf­ gehört hat, der absoluten Autorität zu vertrauen. Dieses Auf­

hören sieht man überall — in der Regierung, in der Erziehung, in der Kirche, im Geschäft und in der Familie.

Vie jetzige

Generation ist bereit und oft sogar eifrig bestrebt, sich führen zu lassen, aber sie hat eine Abneigung dagegen, getrieben zu

werden und will die Gründe und Bestätigungen autoritativer

Entscheidungen verstehen.

3n der Regel haben bisher die

christlichen Kirchen, die römische, griechische und protestantische hauptsächlich auf dem Prinzip der Autorität beruht, denn die

Reformation hat an Stelle der autoritativen Kirche ein autori­ tatives Buch gesetzt.

Aber es ist klar, daß die Autorität

beider, der autoritativsten Kirche, wie die der Bibel als eines

wörtlich inspirierten Führers, schon sehr nachgelassen hat, und daß

das Streben nach Freiheit immer größere Fortschritte

macht und unter gebildeten Menschen unaufhaltsam ist.

2. (Es ist kaum nötig zu sagen, daß es in der Religion der Zukunft keine Personifikationen primitiver Naturkräfte

wie Licht, Feuer, Frost, Sturm und Erdbeben geben wird,

obgleich die primitiven Religionen und die jetzigen Religionen barbarischer oder halb zivilisierter Völker reich an solchen

Personifikationen sind.

Die Berge, Wälder, Vulkane, und

Gzeane werden nicht länger von Gottheiten bewohnt werden, weder von gütigen noch von übelwollenden, obwohl der 6

Mensch immer fortfahren wird, zu den Bergen aufzusehen, um

Ruhe zu finden, obgleich er im Gzean ein Symbol der Un­

endlichkeit erblicken und in den Wäldern und Strömen Er­

frischung finden wird.

Vie Liebe zur Natur wächst und breitet

sich aus, während der Glaube an Feen, Kobolde, Nymphen, Dämone und Engel verfällt und dahinschwindet.

3. Die Religion der Zukunft wird keine direkte oder indirekte

kultische Verehrung kennen, weder

storbenen Voreltern, Lehrern

eine mit ver­

oder kserrschern,

keine einem

Stamme oder einer Raste eigenen Schutzgötter, keine Identi­ fikation irgend

eines menschlichen wesens, mag es noch so

erhaben von Charakter sein, mit der ewigen Gottheit selbst.

In diesen Zügen wird die Religion der Zukunft ihrem Wesen nach nicht neu sein, denn vor neunzehn Jahrhunderten schon

sprach Jesus:

„Daß Ihr weder auf diesem Berge noch zu

Jerusalem werdet den Vater anbeten . . .

Gott ist ein Geist,

und die ihn anbeten, müssen im Geist und in der Wahrheit

anbeten."

Man sollte jedoch nicht vergessen erstlich, daß das

Christentum bald von dem es umgebenden Heidentum tief be­

rührt wurde, und daß ein Teil dessen, was aus dem Heiden­ tum eindrang, bis auf den heutigen Tag fortgelebt hat, und zweitens, daß die hebräische Religion, deren Einflutz auf das

Christentum mächtig war und ist, im höchsten Grade eine Rasten-

Religion, und daß ihr Rllerheiligstes lokal war.

In Kriegs­

zeiten, d. h. in Zeiten, wo die in der Menschheit vorhandenen

brutalen oder wilden Instinkte für eine Zeitlang die Herr­

schaft gewinnen, und wo das Wohlwollen sich auf Angehörige derselben Nation beschränkt, tritt dieser Überrest einer Stammes­ oder Nationaleigenschaft im institutionellen Christentum klar

zutage,

von beiden Parteien wird die Hilfe des Herrn der

Heerscharen für die internationale Kriegsführung angerufen, und

von beiden Seiten bringt man ihm Preis und Dank für die 7

Erfolge. In der Tat hat sich derselbe Geist oft in Bürgerkriegen gezeigt, die durch Religionsstreitigkeiten hervorgerufen waren.

„Preis sei dem Herrn der Heerscharen, dem aller Preis ge­

bührt,

Preis Heinrich von Navarra auch, dem Lehnsherrn, der

uns führt!" Es sind noch nicht viele Jahre vergangen, seit ein Erzbischof von Canterbury in allen anglikanischen Rirchen dem Herrn

der Heerscharen Dank sagen ließ dafür, daß er in dem eng­ lischen Feldzug gegen die Ägypter auf feiten

gewesen sei.

der Engländer

Bis zum heutigen Tage haben die grotzen Welt­

religionen nicht aufgehört zu hoffen, daß die Gottheit odex eine besondere Gottheit es zugunsten getreuer Anhänger an

einem direkten Eingreifen nicht

fehlen lassen würde.

größte jüdische Prophet war es,

der zu dem König hiskia

Der

sagte, daß der König von Assyrien, der sich mit einem großen

Heer Jerusalem genaht hatte, nicht in die Stadt kommen und auch keinen Pfeil daselbst hinschießen solle, und er berichtet, daß der Herr gesprochen habe:

„Ich will diese Stadt beschirmen, daß ich sie errette, um

meinetwillen und um meines Knechtes David willen!"

In derselben Nacht aber ging der Engel Jahves aus und schlug im Lager der Assyrer 185000 Mann; und als man sich des Morgens früh aufmachte, fand man sie alle als leblose Wesen!

Eine derartige Hilfe in Gefahr kann die neue Religion weder

den Nationen noch dem einzelnen Menschen verheißen.

4. In dem religiösen Leben der Zukunft wird nicht die persönliche Wohlfahrt oder Sicherheit des Individuums als

primärer Gegenstand in Betracht kommen, um diese weit oder um eine andere handeln.

mag es sich nun Jene Sicherheit,

Wohlfahrt oder Rettung mag wohl nebenbei erlangt werden, aber sie wird nicht die Hauptsache sein, um die es sich handelt.

8

Der religiöse Mensch wird nicht an seine eigene Wohlfahrt

oder Rettung denken, sondern an den Dienst für andere und

an das, was er zum allgemeinen Guten beizutragen vermag. Die neue Religion wird nicht lehren, daß der Charakter sich plötzlich ändert, weder in dieser Welt noch in einer andern

- obgleich sich in jeder Welt eine plötzliche Gelegenheit zur Besserung bieten kann, und man den Tag, an dem sich eine solche bietet, als köstliche Erinnerung festhalten wird.

Die

neue Religion wird sich nicht verlassen weder auf eine plötz­

liche Bekehrung in dieser,

noch auf ein plötzliches Paradies

in der nächsten Welt auf Grund eines sinnlichen selbstsüchtigen

unehrlichen Lebens.

Sie wird lehren,

gangenes auslöscht und nur der

daß Reue nichts ver­

erste Schritt

ist

zur Re­

formation und ein Zeichen einer besseren Zukunft. 5. Die Religion der Zukunft wird nicht versöhnungs-,

Opfer- oder Sühne-Religion sein.

In der primitiven Gesell­

schaft bildete die Furcht vor übernatürlichen Mächten,

die

durch furchtbare Raturkräfte repräsentiert wurden, die Wurzel der Religion.

Diese furchtbaren Mächte mutzten versöhnt oder

besänftigt werden, und zwar durch Opfer im buchstäblichsten

Sinne des Wortes.

Und

die vorausgesetzten Beleidigungen

gegen die Gottheit mutzten gesühnt werden durch Opfer, zu denen man eine Stellvertretung zu benutzen pflegte.

Selbst

die Hebräer brachten durch Generationen hindurch Menschen­ opfer dar, und

ein großer Teil ihres religiösen Ritus hat

immer in Tieropfern bestanden.

Die christliche Rirche hat

einen großen Schritt vorwärts gemacht, als sie die Verbrennung

junger Ochsen und Tauben durch die Verbrennung von Rauch­ werk ersetzte.

Über bis zum heutigen Tage lebt nicht nur in

den Lehren, sondern in der Praxis der christlichen Rirche der Gedanke des Sühnopfers fort.

Ts würde ein ungeheurer

Fortschritt sein, wenn die Christenheit des zwanzigsten Jahr­

tz

Hunderts gereinigt werden könnte von allen diesen Überbleib­

seln barbarischer oder halbbarbarischer religiöser Anschauungen,

weil sie einen so unwürdigen Begriff von Gott geben. 6. Vie Religion der Zukunft wird nicht die hebräischen anthropomorphischen Vorstellungen von Gott beibehalten, jene

Anschauungen, die zum großen Teil ins institutionelle Christen­ tum hinübergenommen wurden. denken als einen vergrößerten

Sie wird

sich

Gott

nicht

verherrlichten Menschen, der

im Garten wandelt in der Rühle des Abends, nicht als einen Richter, der zwischen streitenden Menschen entscheidet, nicht als

einen König, einen Pharao oder Kaiser, der willkürlich über

seine Untertanen herrscht, nicht als einen Patriarchen, der in der früheren Geschichte der Rasse seine Familie absolut be­

herrschte.

Diese menschlichen Funktionen werden die Attribute

Gottes nicht mehr richtig zum Ausdruck bringen. Vas neunzehnte Jahrhundert hat es dazu gebracht, daß alle diese Auffassungen

der Gottheit uns archaisch und grob sinnlich vorkommen. 7. Vie Religion der Zukunft wird nicht finster oder as­ ketisch sein.

Sie wird nicht fluchen.

Sie wird sich nicht in

erster Linie mit Kummer und Tod beschäftigen, sondern mit Freude und Leben.

Sie wird nicht so sehr Rechenschaft geben

über das Schlechte und häßliche in der Welt,

und Schöne

deuten.

als das Gute

Sie wird nicht an unheilvolle Mächte

glauben, weder an Satan und hexen noch an den bösen Blick oder an böse Suggestion.

Wenn ein Anhänger dieser neuen

Religion einem Unrecht oder etwas Bösem in der Welt be­

gegnet, wird sein Impuls ihn dazu treiben,

den Ursprung,

die (Quelle ober Ursache zu suchen, um sie an ihrem Ausgangs­

punkte angreifen zu können.

(Er wird vielleicht nicht speku­

lieren über den Ursprung des Bösen im allgemeinen, aber er

wird sicher suchen nach dem besten Wege, um das spezielle Übel oder Unrecht, das er erkannt hat, auszurotten. 10

Nachdem wir also betrachtet haben, was die Religion

der 'Zukunft nicht sein wird, lassen Sie uns nun betrachten,

welches ihre positiven Elemente sein werden. Der neue Gottesgedanke wird ihr charakteristisches Ele­

ment sein.

Dieses Ideal

wird den jüdischen Jehova,

den

christlichen Vater der Welt, des modernen Physikers allgegen­ wärtige und unerschöpfliche Energie, und die biologische An­

schauung einer vitalen Kraft umfassen.

Der unendliche Geist

durchdringt das Weltall, gerade wie der Geist des Menschen den Körper durch dringt, und handelt bewußt oder unbewußt

Vas zwanzigste Jahrhundert wird

in jedem seiner Atome.

buchstäblich und ohne Besinnen Paulus Bekenntnis annehmen: „In ihm leben, weben und sind wir", und Gott ist jene le­

bendige Atmosphäre oder nie endende Inspiration.

Die neue

Religion ist deshalb durch und durch monotheistisch, da ihr

Gott die eine unendliche Kraft ist.

nicht zurückgezogen

oder

fern,

Aber dieser eine Gott ist

sondern

innewohnend

speziell innewohnend in jeder lebenden Kreatur.

und

Gott ist so

absolut immanent in allen belebten und unbelebten Dingen, daß es keiner Vermittlung bedarf zwischen ihm und dem ge­ ringsten partikelchen seiner Schöpfung,

hinsichtlich seiner mo­

ralischen Attribute ist er für jeden Menschen die bis zur Un­

endlichkeit gesteigerte Multiplikation und

mächtigsten

Gedanken,

die

aller edelsten

der

Mensch

je

menschlichen Wesen gesehen oder sich vorgestellt hat.

zartesten

in

einem

3n die­

sem Sinne macht sich jeder Mensch sein eigenes Bild von Gott. Jedes Zeitalter, barbarisch oder zivilisiert, glücklich oder un­

glücklich, im Auf- oder im Niedersteigen begriffen, bildet sich deshalb

seine

eigene

Anschauung

von

Gott

innerhalb der

Grenzen seiner eigenen Erfahrungen und Vorstellungen.

Auch

in diesem Sinne muß eine humane Religion einer humanen Generation aufwarten.

Der Hauptgedanke der neuen Reli-

11

gion wird deshalb eine humane und würdige Vorstellung der Gottesidee sein, die sich durchaus verträgt mit der im neun­

zehnten

Jahrhundert

gewonnenen

Offenbarung

über

den

Menschen und die Natur, und mit all den zartesten und liebe­ vollsten Lehren, die uns aus der Vergangenheit überliefert sind.

Die wissenschaftliche Lehre von der einen allgegenwärtigen

ewigen Energie, die in jedem Augenblick und durch unend­

liche Räume hindurch die ganze Schöpfung belebt und beseelt,

ist grundsätzlich und vollständig unvereinbar mit der dualisti­ schen Anschauung, die Geist und Stoff, Gutes und Schlechtes,

der Menschen Bosheit und Gottes Gerechtigkeit, Christus

einander

gegenüberstellt.

Die Lehre

Satan und

von

Gottes

Immanenz ist auch unvereinbar mit der Auffassung, datz er einmal das Universum in Gang setzte, dann aber sich zurück­

zog und das Weltall physischen Gesetzen unterworfen sein liefe, die seine Statthalter oder Stellvertreter waren.

der ganzen Schöpfung

Wenn Gott

vollkommen immanent ist, kann es

weder im materiellen noch im geistigen Universum sekundäre Ursachen geben.

Vie neue Religion verwirft absolut die An­

schauung, dafe der Mensch ein Fremdling in der Welt, oder datz Gott der Welt entfremdet sei.

Ferner verwirft sie voll­

kommen den Gedanken, dafe der Mensch ein gefallenes Ge­

schöpf sei, hoffnungslos schlecht und von Natur zum Niedrigen neigend, und sie weist diesen lang gehegten Glauben energisch

zurück, weil sie ihn unvereinbar findet mit einer humanen zivilisierten würdigen Gottesidee. Wenn nun durch Selbst-Bewufetsein Gott entdeckt oder

mit anderen Worten, wenn es die menschliche Seele ist, durch die Gott offenbart wird, so ist die Kaffe zur Gotteserkenntnis gelangt durch die Erkenntnis ihrer selbst hindurch, und die beste Gotteserkenntnis kommt auf dem Wege durch die Er­

kenntnis der Besten der Raffe.

12

Vie Menschen haben dem

Menschen immer einen Geist zugesprochen, der vom Körper

getrennt, obwohl ihm immanent ist. sich mit seinem Körper identifizieren,

Keiner von uns möchte sondern im Gegenteil,

jeder glaubt nun, und alle haben geglaubt, daß im Menschen

ein belebendes herrschendes charakteristisches Wesen oder ein Geist lebt, der er selbst ist. Vieser Geist, stumpf oder leuchtend, kleinlich oder groß, rein oder unsauber blickt aus den Augen heraus, tönt aus der Stimme, zeigt sich in Haltung und Ma­

nieren jedes einzelnen.

(Es ist etwas, das genau ebenso wirk­

lich ist wie der Körper und viel charakteristischer.

Jeder ein­

flußreichen Persönlichkeit verleiht es den bei weitem größeren Teil ihrer Macht. nennen.

(Es ist das, was wir die Persönlichkeit

Dieser Geist oder diese Seele ist der wirkungsvollste

Teil jedes menschlichen Wesens, wird als solcher

und ist als solcher immer anerkannt worden.

anerkannt

Er kann einen

wohlgebildeten Körper besser benutzen als einen schwächlichen,

aber er

kann Wunder

vollbringen

angemessenen Körper hindurch.

selbst durch

einen un­

In der Krisis einer schwan­

kenden Schlacht ist es eine menschliche Seele, die die fliehen­

den Truppen sammelt.

Sie

blickt aus flammenden Augen

heraus und spricht mit weit tönender Stimme, aber ihr Ruf

gilt anderen Seelen, nicht anderen Körpern.

Inmitten schreck­

licher Naturkatastrophen - Erdbeben, Stürmen, Feuersbrünsten, vulkanischen Eruptionen, bei denen der Menschen beste Werke

zerstört werden und Tausende von Menschenleben plötzlich und

aufs schrecklichste zugrunde gehen, sind es nicht ein paar be­ sonders gute menschliche Körper, die die Überlebenden stärken,

die Ordnung aufrecht erhalten und die Kräfte zu Hilfeleistung und Erleichterung organisieren. gelegte Seelen.

(Es sind ein paar höher an­

Vie führenden Männer und Frauen in jeder

Gemeinschaft, sei sie nun wild oder zivilisiert, sind die stärksten Persönlichkeiten - die Persönlichkeit aber ist in erster Linie

15

geistig, erst in zweiter körperlich.

3n voller Anerkennung

dieser einfachen und Klaren Tatsachen wird die Religion der

Zukunft alle rechtlichen und liebevollen Personen verehren, die in der Vergangenheit

ihren Zeitgenossen wahre Güte ver­

körpert und den aus ihr entspringenden guten Willen ver­ ständlich gemacht haben.

sein.

Sie wird eine Allerheiligen-Religion

Sie wird alle Erzählungen von menschlicher Vortrefflich­

keit und Tugend als einen Schatz bewahren.

Sie wird die

Entdecker, Lehrer, Märtyrer und Apostel der Freiheit, Reinheit und Gerechtigkeit verehren.

Sie wird alle starken und liebe­

vollen menschlichen Wesen achten, da sie in ihnen in beschränk­ tem Matze Eigenschaften sieht ähnlich denen, die sie in Gott

anbetet.

Da sie in jedem grotzen und liebevollen menschlichen

Geschöpf eine individuelle Willenskraft erkennt, die das Wesen

der Persönlichkeit bildet, so wird sie natürlich und unvermeid­

lich Gott eine ähnliche individuelle Willenskraft zulegen, die das Wesen seiner unendlichen Persönlichkeit ist.

In diesem ein­

fachen natürlichen Glauben wird Kein Platz sein für meta­

physische Rompliziertheiten oder magische Riten, viel weniger für finstere Dogmen, das Resultat von Kompromissen in stür­ mischen Synoden.

Sie ist anthropomorph.

Aber wie könnte

die menschliche Anschauung von Gottes Persönlichkeit anders sein?

Vas Endliche kann das Unendliche nur durch Analogie,

Parallele und Gleichnis studieren und beschreiben.

Die neue

Religion wird gewöhnliche Männer und Frauen beleben und

leiten, so datz sie ihre religiösen Anschauungen in Praxis umsetzen, Anschauungen, die das direkte Resultat ihrer eigenen Beobach­ tung und köstlichen Erfahrung an Zärtlichkeit, Liebe, vertrauen

und erhabener Freude sind. Aufs höchste willkommen wird sie

den Männern und Frauen sein, die den unaufhörlichen, alles um­ fassenden guten Willen pflegen und an den Tag legen. Dies sind die guten, dies sind die einzigen wahrhaft zivilisierten Menschen.

14

Den Elenden, Kranken und Zertretenen der Erde hat die Religion der Vergangenheit die Hoffnung

Entschädigung vorgehalten.

auf künftige

Wenn wertvolle Bande der Liebe

zerriffen worden sind, so hat die Religion den Zurückbleibenden hingewiesen auf unmittelbare und ewige Segnungen, die des

Geschiedenen warteten und hat ihm eine glückliche Wieder­ vereinigung in einer andern Keffern Welt verheißen.

Einer

menschlichen Seele, die in einem unvollkommenen schwachen

oder leidenden Körper eingeschlossen war, haben einige der

älteren Religionen die Aussicht eröffnet auf Befreiung durch

den Tod und auf das Eingehen in ein reiches angemessenes

und

glückliches Leben, - kurz, für die jetzigen menschlichen

Leiden, mögen sie noch so niederdrückend sein, haben die weit verbreiteten Religionen entweder

ein zweites, wahrscheinlich

unsterbliches Leben geboten unter den glücklichsten Bedingungen

oder

wenigstens

Frieden,

Ruhe

und

glückliches vergessen.

Kann die Religion der Zukunft eine derartige Entschädigung für die Leiden dieser Welt eher versprechen als wunderbare

Hilfe gegen drohendes Unheil? Line offene Antwort auf diese

Frage schließt die Feststellung der Tatsache in sich, Religion der Zukunft Vas

heißt

nicht,

daß

in nichts

„übernatürlich"

daß die

sein wird.

das Leben jedes Geheimnisses oder

Wunders entkleidet sein wird, oder daß die Grenze der Natur­ gesetze schon endgültig bestimmt ist, sondern daß die Religion

wie alles sonst den Naturgesetzen gehorchen muß, so weit der Umkreis dieser Gesetze bestimmt worden ist.

In diesem Sinne

wird die Religion der Zukunft eine natürliche Religion sein.

In ihrer ganzen Theorie und ihrer ganzen Praxis wird sie vollkommen natürlich sein.

Sie

wird

keinerlei Magik oder Wunder setzen,

ihr vertrauen auf

keinerlei

tretungen der Naturgesetze, auf keine ihrer Ausnahmen.

auf Über­ Sie

wird keinen magischen Ritus bilden, keine geheimen Vorgänge

15

benutzen, auf kein abnormes Eingreifen übernatürlicher Kräfte zählen, keinem den Besitz übernatürlicher Gaben zugestehen, mögen sie nun von irgendeinem Stamme, einer Klasse oder Familie übertragen oder verliehen sein.

werden

nicht

in Gestalt

Ihre Sakramente

eines Wunders Eingriffe

in

das

Naturgesetz sein, sondern die sichtbaren Zeichen einer natürlichen geistigen Grazie oder eines natürlichen geheiligten Brauches.

Sie mag historische Riten und Zeremonien beibehalten, die in vergangenen Zeiten die Erwartung magischer oder mirakulöser Wirkungen repräsentierten, aber sie wird zufrieden sein mit

der natürlichen Auslegung solcher Riten und Zeremonien. Ihre

Priester werden Männer sein, die sich für den religiösen Ge­ danken besonders interessieren, eine ungewöhnliche Gabe be­ sitzen über fromme Dinge zu reden, und

die auf die beste

Weise geschult sind, soziale und industrielle verhältniffe des menschlichen Lebens zu vervollkommnen.

Klan wird solche

öffentlichen Lehrer, geistigen Führer, Herolde und Propheten immer nötig haben.

Klan sollte jedoch nicht außer acht lassen,

daß viele Geschehnisse und Vorgänge,

die früher als über­

natürlich angesehen wurden, durch das Wachsen der Wissen-

schaft eine vollkommen natürliche Lösung

gefunden

haben.

Vie Grenze zwischen dem als natürlich und als übernatürlich Angenommenen

ist

deshalb

nicht

feststehend,

sondern

ver­

änderlich. (Es ist deshalb klar, daß das vollständig natürliche wesen

der zukünftigen Religion viele der religiösen Ersatzmittel und

Tröstungen der Vergangenheit ausschlietzt.

Vie in die Schlacht

rückenden Soldaten des zwanzigsten Jahrhunderts werden nicht

wie die muhammedanischen Soldaten des zehnten Jahrhunderts zu einander sagen können: „Wenn wir heute getötet werden, werden wir einander heute Nacht im Paradiese wieder be­

gegnen."

Selbst heutzutage wird die Klutter, die ihr kleines

Kind, der Mann, der seine Frau durch ein abwendbares Übel

verliert, kaum je imstande sein, einfach zu sagen: „(Es ist der

Wille Gottes.

Das Kind oder die Frau sind besser daran im

Fimmel als auf Erden.

Ich verzichte auf diese teuren geliebten

Wesen, die in eine glücklichere Welt gegangen sind."

Die

gewöhnlichen Tröstungen des institutionellen Christentums be­

friedigen nicht länger intelligente Menschen, deren Leben ge­

brochen ist durch Krankheit oder vorzeitigen Tod derer, die Die neue Religion wird nicht versuchen, Männer

sie lieben.

oder Frauen mit gegenwärtigen Leiden auszusöhnen durch die

Verheißung zukünftiger Segnungen, seien sie nun für sie oder für andere.

Solche Verheißungen haben unendliches Unheil

in der Welt angerichtet, indem sie die Menschen dazu brachten, geduldig zu sein unter Leiden und Entbehrungen, gegen die

sie unaufhörlich hätten ankämpfen sollen.

Das herannahen

einer gerechten Freiheit für die Masse der Menschen ist für Jahrhunderte verzögert worden gerade durch diese von den

Kirchen ausgehenden Verheißungen auf Entschädigung. Die Religion der Zukunft wird an das ganze Problem

des Übels von einer anderen Seite herantreten, nämlich von der

des Widerstandes und der Verhütung.

Der bretonische

Fischer, dessen Rrm vergiftet worden war durch einen in den Finger gedrungenen, schmutzigen Fischhaken, brachte am Altar der Jungfrau Maria ein Votivopfer dar und betete für seine

Heilung.

Der Arbeiter von heutzutage, der sich mit einem

rauhen oder schmutzigen Instrument schneidet oder quetscht,

geht zum Arzt, der der Wunde einen antiseptischen verband anlegt und die Vergiftung verhindert.

den Priestern der neuen Religion.

Jener Arzt gehört zu

Wenn die, die in engen

Gassen wohnen, unter den bekannten Übeln leiden, die durch

Überfüllung, unsaubere Nahrung und freudlose Arbeit hervor­ gerufen werden, so werden die modernen wahren Gläubigen 17

Kämpfen gegen die (Quellen solchen Elends, indem sie für Frei­ bäder, Spielplätze, breitere reinere Straßen, bessere Wohnungen

und wirksame Schulen sorgen, - das heißt: Sie greifen die

(Quellen physischen und moralischen Übels an.

Vie neue Reli­

gion kann uns nicht die alte Art Tröstungen bieten, aber sie kann das Bedürfnis nach Trost und die Zahl der Gelegen­

heiten, da eine Tröstung nötig ist, verringern. Eine weitere Veränderung im religiösen Denken ist schon

auf dem Gebiete menschlichen Schmerzes eingetreten.

3m all­

gemeinen wurde der Schmerz als Strafe für Sünden oder als

Mittel moralischer Zucht oder als stellvertretende oder direkte

Sühne angesehen.

Vie Religion des zwanzigsten Jahrhunderts,

die sich in dieser Hinsicht während der letzten Hälfte des neun­

zehnten Jahrhunderts allmählich vervollkommnet hat, betrachtet den menschlichen Schmerz als ein Übel,

das gemindert und

verhütet werden soll auf die möglichst schnellste Weise und

durch jede Art wirksamer Mittel, mögen sie nun physischer, geistiger oder moralischer Natur sein, und dank dem Fortschritt

der biologischen und chemischen Wissenschaft gibt es heutzutage

verhältnismäßig wenig physische Schmerzen, die nicht verhütet oder gelindert werden können.

Vie Erfindung der anästhe­

tischen Mittel hat die Anschauung, daß der menschliche Schmerz in dieser Welt Sühne oder Strafe sei, in Mißkredit gebracht.

Vie jüngere Generation wird mit ungläubigem Lächeln zu­

hören, wenn sie von dem Einwand vernimmt,

den einige

Geistliche der schottischen presbyterianischen Rirche vor wenig

mehr als sechzig Jahren erhoben gegen die Anwendung von

Ehloroform beim Akte der Geburt unter dem Gesichtspunkt, daß die Arzte sich einmischten in die Vollstreckung eines Fluches,

den der Allmächtige ausgesprochen habe.

Dr. Weir Mitchell,

ein Arzt, der viel geistigen und körperlichen Schmerz gesehen hat, sagt in einem Gedicht, das am fünfzigsten Jahrestage 18

der ersten öffentlichen Demonstration chirurgischer Anästhesie verlesen wurde, folgendes über den Schmerz: „Was ist sein Zweck? halt ein! Du wirst vergebens fragen. Die Erde schweigt. Und will das wirre Hirn dir sagen, Sein Zweck sei Warnung, Strafe — o, wie kann es wagen Solch Wort! wenn unter Arztes Hand in Schmerz sich windet

Vas Rind, wer ist's, der dieses Schmerzes Lösung findet? Vas wissen schweigt vor dieses Rätsels Schwere, Und Lieb' und Glaube fragen nur ins Leere." Eine ähnliche Veränderung tritt hinsichtlich der Anschauung der göttlichen Gerechtigkeit ein. Die Übel in dieser Welt sind als

Strafen angesehen worden, die ein gerechter Gott den Menschen auferlegte, die seine Gesetze gebrochen hatten, und die Gerechtig­

keit Gottes spielte eine große Rolle in seinem vermeintlichen Verhalten zum Menschengeschlecht.

Ein junger Geistlicher, der

die ersten Grade im theologischen Seminar zu Andover erlangt hatte, erzählte mir einst, daß, als er zwei-

oder dreimal

während des Sommers in einer kleinen kongregationalistischen

Rirche bei Cape Lod gepredigt hatte, einer der Rirchendia-

konen am Schluß des Gottesdienstes

zu ihm gesagt hätte:

„was für ein sentimentales Gewäsch

ist es eigentlich,

Sie in Andover gelehrt wurden?

Sie reden jeden

das

Sonntag

von der Liebe Gottes; wir aber wollen von seiner Gerechtig­ keit hören."

Vie zukünftige Religion wird

es nicht unter­

nehmen, die Gerechtigkeit Gottes zu beschreiben oder sie sich auch

nur vorzustellen,

wir sind heutzutage so durchaus un­

zufrieden mit der menschlichen Gerechtigkeit, obgleich sie das Resultat jahrhundertelanger Erfahrungen über das soziale Gute und Schlechte in dieser Welt ist,

daß wir der menschlichen

Fassungskraft wohl mißtrauen dürfen, wenn es sich um die Vorstellung der Gerechtigkeit eines moralisch vollkommenen un19

endlichen Wesens handelt.

Vie zivilisierten Nationen erkennen

jetzt die Tatsache, daß die rechtsgültigen Strafen gewöhnlich ihre Wirkung auf die Objekte verfehlen oder Unrecht und

Übel verursachen weit großer als die, für die die Strafen auferlegt waren, so daß eine Pönologie oder eine Wissenschaft der Strafen noch geschaffen werden muß.

Erst ganz neuerdings haben die zivilisierten Gemeinden angesangen zu lernen, wie man verbrecherische Neigungen bei

Jugendlichen zu behandeln hat.

Den Augen Gottes müssen

alle menschlichen Wesen sehr jung erscheinen.

Da unsere Vor­

stellungen von Gottes Art zu denken und zu handeln sich naturgemäß auf die besten menschlichen Fähigkeiten in ver­ wandter Richtung gründen, so kann die neue Religion nicht behaupten, daß sie Gottes Gerechtigkeit verstände insofern, als es keine menschliche Erfahrung öffentlicher Gerechtigkeit gibt,

die imstande wäre als Grundlage für eine wahre Vorstellung

von Gottes Gerechtigkeit zu dienen.

Die neue Religion wird

die Liebe und das Erbarmen Gottes verherrlichen und preisen

und es nicht wagen festzustellen, was die Gerechtigkeit Gottes

von ihm

oder von seiner begrenzten Rreatur fordern oder

nicht fordern kann.

Das wird einer der großen Unterschiede

sein zwischen der künftigen und

der vergangenen Religion.

Das institutionelle Christentum hat in der Regel die Masse der Menschen zu ewiger Hual verdammt, zum Teil, weil die

Führer der Kirchen glaubten, daß sie die Gerechtigkeit Gottes

vollkommen verständen und zum Teil, weil der ausschließliche Besitz der

Einfluß

erlösenden Mittel den Kirchen einen hemmenden

selbst auf die kühnsten Sünder und

Einfluß auf die zaghaften gaben.

einen großen

Die neue Religion wird

keine solchen Prätensionen machen und keine so furchtbaren

und perversen Lehrsätze aufstellen. Fragt Ihr nun, welchen Trost für menschliche Leiden die

neue Religion bieten wird?

So antworte ich Euch, den Trost,

der dem Leidenden oft daraus entspringt, daß er andern besser zu dienen vermag als vor dem Verlust oder Leiden, für das ein Trost erforderlich ist, den Trost, datz er selbst weicher und

liebevoller ist als vorher und deshalb besser imstande, den menschlichen Wesen auf die beste Weise zu dienen,

der Erinnerung,

der

Seelen bewahrt,

die nicht mehr

den süßen Duft

den Trost

der Tharaktere

und

unter uns weilen und der

Freuden und Errungenschaften jener Menschen gedenkt während

der Zeit, da sie noch dem Rüge sichtbar waren, und die guten

Einflüsse, die von ihnen ausgingen als Schatz bewahrt und

vermehrt.

Überdies hat eine solche Religion nicht das Stre­

ben, die Kraft in dieser Welt zu vermindern oder irgend eine

der andern besten menschlichen Vorstellungen von der Natur des unendlichen Geistes, der dem Weltall immanent ist.

Sie

heißt ihre Rnhänger glauben, daß, wie der beste und glück­

lichste Mensch der sein wird, der am meisten liebt und dient,

so findet

die Seele

des Universums vollkommene

Seligkeit

und Wirksamkeit in erhabenem universellen Lieben und Dienen. Sie sieht in der moralischen Geschichte des Menschengeschlechtes

den Beweis dafür, daß regiert.

ein liebender Gatt das Universum

Vas vertrauen in diese erhabene Regel ist reiner

Trost und halt unter vielen menschlichen Versuchungen und

Leiden.

Ungeachtet aber, daß tapferes und geduldiges Er­

tragen des Leids immer bewundernswert ist und in der Regel

glücklicher macht als ein kleinmütiges oder ungeduldiges Ver­ halten beim Leid oder Unrecht, muß zugegeben werden, daß

Geduld oder Standhaftigkeit kein Trost ist, und daß es viele körperliche und geistige Mängel und Schäden gibt, für die sich

kein Trost int buchstäblichen Sinne findet.

Menschliche Kunst

mag einige van ihnen lindern und oberflächlich heilen, mensch­

liche Sympathie und Güte sie erträglicher machen, aber weder 21

Religion noch Philosophie bietet einen vollkommenen Trost für sie, noch hat sie ihn je geboten.

Bei dieser Beschreibung des Trostes, den eine solche Re­ ligion menschlichen Schmerzen und Leiden gegenüber bieten kann, sind auch ihre Hauptmotive geschildert.

Es sind gerade die, die

wie Jesus sagt, alle Gebote umfasten, nämlich Liebe zu Gott und Brüderlichkeit gegen die Menschen.

Sie wird einen universellen

guten Willen lehren, unter dessen Einfluß die Menschen ihre Pflicht tun und zu gleicher Zeit ihr eigenes Glück fördern werden. Die Anhänger einer Religion

des Dienstes

immer

werden

fragen, was sie zum allgemeinen Wohl beitragen

können,

aber ihr größter Dienst muß immer darin bestehen, den Vor­ rat an gutem Willen in der Menschheit zu vermehren.

der schlimmsten chronischen menschlichen Übel ist

Eines

die Arbeit

ums tägliche Brot ohne irgendein Interesse an dieser Arbeit

und

ausgeführt mit Übelwollen gegen die Institution oder

Person, die die Arbeit vergibt.

Vie Arbeit der Welt muß

getan werden, und die große Frage ist: Soll dies gern oder

ungern geschehen? Ein großer Teil dieser Arbeit wird heute un­ gern getan.

Die neue Religion wird alle Kraft daran setzen, die

Masse dieses unnötigen Elends zu reduzieren, und dies wird sie hauptsächlich tun, indem sie den guten Willen unter den

Menschen fördert. Das paganisierte Juden-Thristentum hat ohne Frage das persönliche Gpfer als religiöse Pflicht sehr hoch gestellt.

Vie

neue Religion wird die vermeintliche Pflicht des Opfers in

großem Maße modifizieren, und wird alle Gpfer als unnötig

und unheilvoll ansehen, ausgenommen die, welche die Liebe dik­

tiert und rechtfertigt.

„Größere Liebe hat keiner, als daß er

sein Leben läßt für seine Freunde."

Selbst-Aufopferung ist

weder gut noch verdienstvoll an sich.

Um solches zu werden,

muß sie klug und liebevoll sein, und der in Frage kommende 22

Gegenstand

muß des Preises

wert

sein.

Anziehende Ver­

gnügungen oder Beschäftigungen aufgeben zugunsten höherer Befriedigung oder einer alles absorbierenden Arbeit ist nicht Aufopferung.

(Es ist ein verzicht auf niedere oder unerheb­

liche Gegenstände

zugunsten

höherer.

(Es

ist nur das in­

telligente versagen desten, was uns vom verfolgen der haupt­

sächlichsten und würdigsten Aufgabe abzieht,

hier wird die

neue Religion wieder lehren, daß Glück mit Pflichterfüllung

zusammen geht, selbst in dieser lvelt.

Alle Religionen haben in größerem oder geringerem Maße erhebend und inspirierend gewirkt in dem Sinne, daß sie die

Gedanken der Welt höher richteten auf irgendeine Kraft über ihr, auf ein oder mehrere Wesen, die mehr Kraft oder Aus­ dauer hatten als

der Anbeter

selbst,

wenn Könige oder

Kaiser zu Gottheiten erhoben wurden, so wurden sie idealisiert, und erhoben so die Gedanken der Menschen über den täg­

lichen Kreislauf ihres gewöhnlichen Lebens hinaus.

In dem

Maß, als mit dem Fortschritt der Zivilisation die Gegenstände der Verehrung edler, reiner und milder wurden, wurde die

herrschende Religion mehr ein Ansporn zu Großherzigkeit und Rechtlichkeit, wird die neue Religion dem Geiste des Menschen

ebenso hilfreich

sein?

wird sie seine Phantasie reizen, wie

der Anthropomorphismus des Judentums, der Polytheismus, der Islam und das vom Heidentum berührte Christentum es

getan haben?

Kann sie die menschliche Seele so rühren, wie

es die zu Gottheiten erhobenen Naturkräfte getan haben, die

verschiedenen Götter und Göttinnen, die Himmel, Meer, Berge, Wälder und Ströme bewohnten, oder die zahlreichen Gott­

heiten, die in den verschiedenen christlichen Gemeinschaften ver­ ehrt werden - Gott der Vater, Gott der Sohn, die Mutter

Gottes, der heilige Geist und die Schar der

Schutzheiligen?

Alle diese Gegenstände der Verehrung haben die menschliche 23

Seele tief bewegt, und die Menschen beseelt zu Gedanken und Taten der Schönheit, Liebe und Pflicht. ligion ebensoviel tun?

warten.

Wirb die neue Re­

Wir dürfen es vernünftigerweise er­

Die Gefühle der Furcht und Verehrung

und

die

Liebe zur Schönheit und Güte werden bleiben und wachsen an Stärke und Einfluß.

Alle natürlichen menschlichen Zu­

neigungen werden in voller Rraft bestehen bleiben. Vie neue Religion wird eine Tugend - die verhältnismäßig neu in der

Welt ist - kraftvoll pflegen, nämlich die Liebe zur Wahrheit und die Leidenschaft, sie zu suchen.

Und die Wahrheit wird,

immer mehr fortschreitend, die Menschen frei machen, so daß

die kommende Generation freier und deshalb produktiver und

stärker sein wird als die vorhergehende.

Die Anhänger der

neuen Religion werden keinen Kultus mit ihren Voreltern

treiben, aber sie werden ein stärkeres Gefühl für die Ab­

stammung der Gegenwart von der Vergangenheit haben, als die Menschen je zuvor es hatten, und jede Generation wird kräftiger empfinden als je vorher, daß sie Schuldner der vorangehenden ist. Die beiden Gefühle, die die Menschen am meisten zu

guten Taten beseelen, sind Liebe und Hoffnung.

Die Religion

sollte diesen beiden Gefühlen freieren und rationelleren Spiel­ raum geben als die Welt ihn bisher geschaut hat, und Liebe und Hoffnung werden durch und durch gegründet sein in und

auf wirksame, hilfreiche, sichtbare, aktuelle und konkrete Tat und Verhalten.

Wenn jemand eine erfolgreiche Behandlung

der Genickstarre entdeckt — einem Übel, dem die Medizin vor

einem Dutzend

Jahren vollkommen hilflos

gegenüber­

stand - indem dieser Mensch für die Entdeckung eines Heil­

mittels Ideen und prozeffe verwertet, die von andern beim

Studium anderer Leiden entdeckt oder entwickelt worden, so tut er ein großes Liebeswerk, verhindert, daß in Zukunft 24

und

zerrissen werden,

unzählige Bande der Liebe

bereitet

den Boden der Hoffnung für viele ähnliche Segnungen, sollen.

kommenden Generationen zuteil werden

die

Vie Men­

schen, die solche Dinge in der jetzigen Welt tun, sind Priester der

Religion.

zukünftigen

zukünftige

Vie

Religion

wird

sich ebenso wirksam erweisen und hat es schon getan wie irgendeine der

älteren Religionen, indem sie die Menschen

inspiriert, ihre Mitmenschen zu lieben und ihnen zu dienen -

und das ist der wahre Rernpunkt und das Ziel aller Philo­ sophien und Religionen; denn das ist der weg, um die Men­ schen besser und glücklicher zu machen, die dienenden ebenso­

wohl wie die, denen gedient wird. Vie

zukünftige Religion

wird

das Attribut der Uni­

versalität und daneben das der Anwendbarkeit haben auf den rapide wachsenden Vorrat von Erkenntnis und Macht über die Natur,

die das Menschengeschlecht erworben hat.

va es ganz unvermeidlich ist, daß die Religion eines Rindes

sehr verschieden ist von der eines Erwachsenen, und mit dem

Rinde aufwachsen muß, so muß die Religion eines Geschlechtes,

dessen Zähigkeiten sich rasch entfalten, Entwicklung fähig sein.

einer

entsprechenden

Vie Religion eines einzelnen Indi­

viduums sollte mit ihm aufwachsen von der Rindheit an bis zum Alter, und dasselbe gilt von der Religion einer Rasse.

(Es ist schlimm für jedes Volk, selbst für das älteste, stillzustehen in seiner Auffassung von der Regierung und ihren Regierungs­

methoden, oder in der (Organisation seiner Industrie oder in irgendeinem Kunst» oder Handelszweig.

Aber es ist viel schlimmer für ein Volk, stillzustehen in seinen

religiösen

wertung.

Anschauungen

und

deren praktischer Ver­

Nun bietet die neue Religion einen ungemessenen

Raum oder ein Feld für Fortschritt und verwirft

alle Begrenzung

der

Familien-,

Entwicklung.

Stammes-

Sie

oder 25

National-Religion.

Sie ist an kein Dogma gebunden, an kein

Glaubensbekenntnis, an kein Buch, an keine Institution. hat die ganze Welt zum Feld

für

Sie

die Liebesarbeit ihrer

Jünger, und ihre fundamentale Vorschrift der Dienstbarkeit

läßt eine unendliche Mannigfaltigkeit und Ordnung an Zeit sowohl wie an Raum zu. deshalb

ein

Sie ist sehr einfach und besitzt

Element der

wichtiges

Dauerhaftigkeit.

Die

komplizierten Dinge sind es, die aus der Ordnung geraten.

Die Symbole der neuen Religion werden sich nicht auf Opfer oder Dogmen

aber zweifellos wird

beziehen,

sie

Symbole

haben, die ihre Liebe zur Freiheit, Wahrheit und Schönheit repräsentieren.

Sie wird auch soziale Riten und aus Ehr­

erbietung hervorgehende

haben,

Rirchengebräuche

denn sie

wird das Gedächtnis feiern wollen der guten Gedanken und

Taten, die sie aus früheren Generationen überkommen hat. Sie wird ihre heiligen haben, aber deren Kanonisation wird sich

auf einigermaßen neuem Grunde

Sie wird

aufbauen.

ihre Helden haben, aber diese müssen in Liebe, Selbstlosigkeit

oder

Schutz

ihren

Mut

bewiesen haben.

wird ihre

Sie

Rommunion haben mit dem großen Geist, den Geistern der Abgeschiedenen und mit lebenden Mitmenschen,

die gleichen

Das Zusammenarbeiten wird eine ihrer funda­

Sinnes sind.

mentalsten Ideen sein.

Vas Zusammenarbeiten der Menschen

mit Gott, mit Propheten, Führern und

Lehrern,

das

Zu­

sammenarbeiten der Menschen miteinander und der mensch­ lichen Intelligenz mit den Kräften der Natur.

Sie wird nur

solche Verwendung der Autorität lehren, wie sie notwendig

ist, um die Kooperation verschiedener oder vieler Menschen zu einem Zwecke zu sichern, und die Disziplin, die sie vertritt,

wird die Zucht in der Entwicklung des kooperativen guten willens sein. Wird

eine solche Religion

wie diese in der Welt des

zwanzigsten Jahrhunderts Fortschritte machen?

Sie haben im

diesjährigen theologischen Sommersemester viel gehört über den Konflikt zwischen Materialismus und religiösem Idealismus,

über die Empörung gegen lange akzeptierte Dogmen, über das

häufige Auftauchen von Wogen der Reform,

die durch- und

den Einfluß

zuweilen über die Kirchen hinwegfluten, über moderner Psychologie,

ethischer Theorie, sozialer Hoffnungen

und demokratischer Grundsätze auf die Staats-Kirchen und über

die vollständige Entfremdung von der Kirche, wie sie sich in weiten Kreisen der Bevölkerung namentlich in protestantischen

Sie wissen auch, wie andere soziale Organi­

Ländern findet.

sationen in beträchtlichem Matze

die Stelle der Kirchen ein­

genommen haben. Millionen Amerikaner finden in Freimaurer­

verbänden, Gdd Fellow-Logen, Vohltätigkeits- und Genoffen­ schafts-Vereinen, einen

zugleich

Genossenschaftsmeiereien

ihre

praktische

ihrer sozialen Bedürfnisse.

Religion

und

Handelsver­

Befriedigung

und

Soweit als diese mannigfachen Or­

ganisationen Männer und Frauen aus ihrem eigenen Selbst herausführen und sie gegenseitige Achtung und

soziale und

industrielle Kooperation lehren, nähern sie sich dem Gebiet

und den Aufgaben der zukünftigen Religion. listen ,

die

christlichen

„Gemütskur"

aller Art

Scientisten und zeigen

eine

Die Spiritua­ Anhänger

der

große Fähigkeit,

die

die

Menschen von den traditionellen Kirchen fortzuziehen und die

traditionellen Dogmen und kreditieren.

formellen Glaubenssätze zu dis­

Nichtsdestoweniger bleibt

die große Masse des

Volkes Anhänger der traditionellen Kirchen, und wird es wahr­

scheinlich auch bleiben - zum Teil, weil zarte Erinnerungen

an die schweren Krisen des Lebens sie mit den Kirchen ver­ binden, zum Teil, weil ihre gegenwärtige geistige Lage ihnen noch erlaubt, den Glauben hinzunehmen, den sie ererbt haben

oder in der Jugend gelehrt sind.

Die neue Religion wird

27

deshalb, was äußere Organisation betrifft, nur langsam Fortschritte machen. Sie wird jedoch allmählich die Glaubens­ sätze und die religiöse praktische Tätigkeit aller bestehenden Kirchen modifizieren und ihren Symbolismus und ihre Lehren über die Lebensführung umwandeln. Da ihre hauptsächliche Lehre die Lehre einer erhabenen Einheit der Substanz, der Kraft und des Geistes ist, und da ihre hauptsächliche Vor­ schrift lautet: Seid dienstbar! - so wird sie einen großen einigenden Einfluß auf die Menschen ausüben. Ehristliche Einigkeit ist von frommen Gläubigen immer herbeigesehnt, aber auf unmöglichem Wege gesucht worden. Autoritative Kirchen haben versucht, alle in denselben Kreis zu zwingen, um dieselben Meinungen zu hegen und sich in denselben kirch­ lichen Gebräuchen zu vereinen, aber sie haben nur zeitweilige und lokale Erfolge errungen. 3n dem Maße, als die Freiheit in der Welt zunahm, ist es schwerer und schwerer geworden, sogar nur eine äußere Konformität zu erzwingen, und in Län­ dern, wo Kirche und Staat sich getrennt haben, ist eine große Verschiedenartigkeit religiöser Meinungen und Betätigung in verschiedenen religiösen Organisationen zum Ausdruck gebracht worden, von denen jede über die tatsächliche Hingabe eines Teils der Bevölkerung gebietet. Da es ganz gewiß ist, daß die Menschen allmählich mehr und mehr Freiheit des Denkens, Hebens und handelns gewinnen, so könnte die zivilisierte Ge­ sellschaft ebensowohl die Tatsache annehmen, daß es ganz un­ möglich sein wird, alle religiös Gesinnten durch irgend ein Dogma, einen Glaubenssatz, eine Zeremonie, einen kirchlichen Brauch oder ein Ritual zu vereinen. Diese alle wirken trennend und nicht vereinend, wo immer eine verständige Freiheit besteht. Die neue Religion schlägt als Basis aller Einheit vor, zuerst ihre Lehre von einem immanenten und liebenden Gott, und zweitens ihre Vorschrift: „Diene deinen Mitmenschen!" Schon jetzt 28

sprechen viele Anzeichen in den freien Ländern der Welt da­ für, daß verschiedene religiöse Denominationen sich vereinigen

können in guten Werken, um die menschliche Wohlfahrt zu fördern.

Vie Unterstützung von Hospitälern, Apotheken und

Asylen durch Personen, die mit allen möglichen Arten religiöser Denominationen in Verbindung stehen, die Vereinigung aller

Denominationen bei der Ausübung der Wohltätigkeitspflege in

großen Städten, der Erfolg christlicher vereine junger Männer

und das Bestreben, verbände verwandter Kirchen zu prak­

tischen Zwecken zu gründen, alles dies zeugt für die Möglich­ keit ausgedehnter Kooperation bei guten Werken.

Wiederum

kann die neue Religion keine Kaste schaffen, weder einen Stand

der Geistlichen, noch den einer exklusiven Sekte, die auf einen Ritus gegründet ist.

(Es ist nicht unvernünftig, aus allen diesen

Gründen den Schluß zu ziehen, daß die neue Religion sich als einigender Einfluß erweisen wird und als große Verstärkung

der Demokratie. Gb sie sich ebenso wirksam erweisen wird, die Menschen vom Unrechttun zurückzuhalten und zum Rechttun zu ermutigen,

wie es die herrschenden Religionen getan haben, ist eine Frage, auf die nur die Erfahrung eine Antwort zu geben vermag.

3n diesen beiden Hinsichten sind weder die Drohungen noch

die Verheißungen der älteren Religionen in der Gesellschaft im großen und ganzen von hervorragendem Erfolg gewesen.

Die

Furcht vor der Hölle hat sich nicht so wirksam gezeigt, daß

sie die Menschen vom Unrechttun zurückgeschreckt hätte, und

der Himmel ist bis jetzt noch nicht in Worten geschildert, die für den Durchschnittsmann oder die vurchschnittsfrau große Anziehungskraft gehabt hätten.

keinen von Beiden vorstellen.

Wir können uns in der Tat Große Genies, wie Dante und

Swedenborg, haben nur phantastische und unglaubliche Bilder von beiden hervorgebracht.

Der moderne Mensch würde nicht 29

das Gefühl haben, erheblich von jener Kraft einzubüßen, die ihn entweder hin zum Guten oder fort vom Bösen treibt, wenn der

Himmel verbrannt oder die Hölle vernichtet würde. Die herrschen­

den christlichen Anschauungen von Himmel und Hölle haben auf die Gebildeten unserer Tage

kaum

Bilder des Olymp oder Hades.

mehr Einfluß

als die

Der moderne Geist fordert

ein unmittelbares Motiv oder eine Führung, die für den heu­ tigen Tag auf dieser Erde gut ist.

Die neue Religion baut sich

auf die tatsächliche Erfahrung auf von Männern und Frauen

und von der Gesellschaft im ganzen.

Die treibenden Kräfte,

denen sie vertraut, sind in unzähligen Menschenleben an der

Arbeit gewesen, und sind es auch jetzt.

Und ihre beseligenden

Visionen und Hoffnungen sind besser gegründet als die der

traditionellen Religion und sind edler - weil sie frei sind von aller Selbstsucht und dem ganzen Blendwerk der Regierung,

der Höfe, der sozialen Unterschiede und des Krieges. Schließlich soll diese Religion des zwanzigsten Jahrhunderts

nicht nur im Einklang stehen mit den großen weltlichen Be­ wegungen der modernen Gesellschaft,

der Demokratie, dem

Individualismus, sozialem Idealismus,

dem eifrigen Streben

nach Erziehung, dem Forschungsgeist, der modernen Neigung,

das Neue willkommen zu heißen, den frischen Kräften einer vorbeugenden Medizin und den kürzlich gemachten Fortschritten

in geschäftlicher und industrieller Ethik, — sondern sie soll auch

im wesentlichen übereinstimmen mit den direkten persönlichen Lehren Jesu, wie sie uns in den Evangelien berichtet werden.

Die Offenbarung, die er der Menschheit brachte, wird um so wunderbarer sein als je zuvor.

Verlag von Alfred Opelmann in Gießen

Jesus Christus und die

soziale Frage von

Francis G. Peabody Autorisierte Übersetzung von E. Müllenhoff Geh. IN. 5.-

1903

Geb. M. 6.-

Jesus Christus und der

christliche Charakter Vorlesungen aus Anlaß des deutsch-amerikanischen Gelehrtenaustausches in englischer Sprache gehalten an der Universität Berlin während des Wintersemesters 1905/6

VON

Francis G. Peabody Autorisierte Übersetzung von L. Müllenhoff mit dem Bildnis des Verfassers

Geh. m. 4.-

1906

Geb. IN. 5.-

Verlag von Alfred Töpelmann in Gießen

Die Religion eines Gebildeten von

Francis G. Peabody Autorisierte Übersetzung von E. Müllenhoff Geh. m. 1.50

1905

Geb. ITC. 2.20

Jesus und seine predigt Ein Volkshochschulkursus von

prof.

D. Karl Thieme

Geh. IN. 1.-

1908

m Leipzig Geb. IN. 1.50