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German Pages 303 [304] Year 2007
Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-Deutschen Reich
bibliothek altes Reich
baR herausgegeben von Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Siegrid Westphal Band 3
R. Oldenbourg Verlag München 2008
Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im RömischDeutschen Reich herausgegeben von Anja Amend, Anette Baumann, Stephan Wendehorst und Steffen Wunderlich
R. Oldenbourg Verlag München 2008
Gedruckt mit Unterstützung des Hessischen Ministeriums fur Wissenschaft und Kunst, der Industrie- und Handelskammer Frankfurt am Main und der JenAcon Foundation
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
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Inhalt Inhalt
Vorwort
7
Recht und Gericht im frühneuzeitlichen Frankfurt zwischen der Vielfalt der Vormoderne und der Einheit der Moderne. Einleitung Anja Amend, Anette Baumann, Stephan Wendehorst, Steffen Wunderlich
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Gerichtsforen
Die Audienzen des Jüngeren Bürgermeisters in der Reichsstadt Frankfurt am Main. Ein Untergericht als Spiegel des reichsstädtischen Alltagslebens im 18. Jahrhundert Gabriela Schlick-Bamberger Die Insinuation von Privilegien an Reichskammergericht, Reichshofrat und Kaiserlichem Hofgericht zu Rottweil, um sie „zue schützen und handt zu haben" Hartmut Bock Frankfurt vor dem Reichshofrat Eva Ortlieb Die Inanspruchnahme von Juristenfakultäten in der Frankfurter Rechtsprechung. Zur Rolle der Spruchkollegien auf territorialer Ebene und ihre Bedeutung für das Reich Anja Amend
15
39 57
77
Diplomatie und Recht - die Rolle des kaiserlichen Residenten bei innerstädtischen Konflikten in den Reichsstädten der Frühen Neuzeit... Thomas Lau
97
Die Reichsstadt Frankfurt am Main als Kur- und Oberrheinische „Kreishauptstadt" im 17./18. Jahrhundert Michael Müller
107
Justiznutzung durch Einzelne oder Korporationen
Die Reichshofratsprozesse des Deutschen Ordens gegen die Stadt Frankfurt Jörg Seiler
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5
6
Inhalt
Die Liquidation der Juwelenhandlung des Daniel de Briers in Frankfurt am Main. Ein Beitrag zu konsensualen Konfliktlösungsstrategien bei Handelsstreitigkeiten im nordwesteuropäischen Kontext Gabriele Marcussen-Gwiazda Im Spannungsfeld externer und interner Machtfaktoren. Jüdische Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main Andreas Gotzmann „Zur Ehre Gottes, zum ewigen Heil und zur Ordnung in unseren Kirchen ...". Alltag und Grenzen reformierter Selbstverwaltung in Frankfurt um 1650 Gudrun Petasch Die Grenzen des Sagbaren und des Machbaren. Anmerkungen zur Rechtsgeschichte des Frankfurter „Zunfthandwerks" während der Frühen Neuzeit Robert Brandt Hamburg und Frankfurt vor dem Reichskammergericht. Ein Vergleich unter besonderer Berücksichtigung der Handels- und Handwerksprozesse Robert Riemer Schulden vor Gericht: Die Frankfurter Messegerichtsbarkeit und der Messeprozess in Mittelalter und beginnender Früher Neuzeit Michael Rothmann
165
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Vorwort V o r w o r t Vorliegender Band enthält die Beiträge der fünften Tagung des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit, die vom 1.-2. Dezember 2005 in Frankfurt stattfand. Bei der Organisation der Tagung sowie für die Drucklegung des Bandes erhielten wir vielfältige Unterstützung: Hier ist vor allem das Colloquium Reichsstadt Frankfurt (CORF) zu nennen, einer Gruppe von Wissenschaftlern verschiedenster Fachrichtungen, die die Geschichte der Reichsstadt Frankfurt untersucht. Danken möchten wir auch dem Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, in dessen Räumlichkeiten wir die Tagung abhalten durften. Ebenfalls zu großem Dank verpflichtet sind wir dem Hessischen Ministerium für Wissenschaft und Kunst, der Industrie- und Handelskammer Frankfurt und nicht zuletzt der JenAcon Foundation, die die Drucklegung des Bandes ermöglichten, sowie der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung, die die Aktivitäten des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit immer in finanzieller und organisatorischer Hinsicht fördert und unterstützt. Allen, die den reibungslosen Ablauf der Tagung gewährleisteten, besonders aber Frau Müller, die auch die Druckvorlagen zu dem Sammelband erstellte, möchten wir ebenfalls unseren Dank aussprechen.
Dr. Anja Amend Dr. Anette Baumann Dr. Stephan Wendehorst Steffen Wunderlich Wetzlar im August 2007
Dem Wunsch der Autoren folgend wurden die Aufsätze hinsichtlich der Rechtschreibung nicht vereinheitlicht.
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Recht und Gericht im frühneuzeitlichen Frankfurt
Anja Amend, Anette Baumann, Stephan Wendehorst, Steffen Wunderlich Recht und Gericht im frühneuzeitlichen Frankfurt zwischen der Vielfalt der Vormoderne und der Einheit der Moderne Einleitung Der vorliegende Band vereinigt die Erträge der 5. Tagung, die das Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit in Kooperation mit der Gesellschaft für Reichskammergerichtsforschung und dem Colloquium Reichsstadt Frankfurt veranstaltet hat, und die am 1.-2. Dezember 2005 im Institut für Stadtgeschichte in Frankfurt am Main stattfand. Der Gegenstand des Bandes schließt unmittelbar an das Thema „Gerichtslandschaft Altes Reich" an, das im April desselben Jahres auf der 4. Tagung des Netzwerks in Wetzlar diskutiert wurde.1 Die hier versammelten Beiträge nehmen diesen Untersuchungsgegenstand, fokusiert auf die Reichsstadt Frankfurt, erneut auf. Welche Erkenntnisgewinne sind damit verbunden, wenn die Geschichte des Rechts und der Rechtsforen mit Hilfe des Konzepts der Rechts- und Gerichtslandschaft untersucht werden? Welche methodischen Beweggründe waren ausschlaggebend, das Konzept der Rechts- und Gerichtslandschaft zweimal unmittelbar hintereinander aufzugreifen und auf die Erforschung des Alten Reichs im Allgemeinen und anhand der Reichsstadt Frankfurt im Besonderen anzuwenden? Dahinter stehen grundlegende Überlegungen zur Rechtsgeschichte in der Frühen Neuzeit und deren Einordnung in allgemeine historische Prozesse. Das Alte Reich besaß eine imperial überwölbte heterogene, vertikal und horizontal hochgradig differenzierte, hierarchische Gruppengesellschaft und Herrschaftsverfassung. Der Begriff der Rechts- und Gerichtslandschaft wurde eingeführt, um einen adäquateren Zugang zur juristischen Ebene der spezifischen Herrschafts- und Gesellschaftsstrukturen des Alten Reichs zu ermöglichen als dies an Einheit, Widerspruchsfreiheit und Symmetrie orientierte Forschungsund Ordnungskonzepte vermögen. Er besitzt eine Affinität zum Polyzentrismus der Rechtsquellen, Rechtsordnungen und Gerichtsforen, dem sich daraus ergebenden Fehlen klarer hierarchischer Zuordnungen und Zwängen zu Verhandlung und Vergleich, und verspricht damit ein besseres Verständnis der für die Frühe Neuzeit charakteristischen Rechts- und Gerichtsverfassung. E>ieser Vielschichtigkeit als einer für Recht und Gericht in der Frühen Neuzeit charakteristischen Eigenschaft hat die rechtshistorische Forschung bislang verhältnismäßig wenig Rechnung getragen.2 Maßstab war der moderne Staat.
1 Anja Amend/Anette Baumann/Stephan Wendehorst/Siegrid Westphal (Hg.), Gerichtslandschaft Altes Reich. Höchste Gerichtsbarkeit und territoriale Rechtsprechung (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = QFHG 52), Köln/Weimar/Wien 2007. 2 Der Vielschichtigkeit der Rechte und Rechtsforen in der Vormoderne tragen in beispielhafter Weise Rechnung Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich, Frankfurt a.M. 2002 und Paolo Prodi, Eine
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Der Trend zur modernen Staatlichkeit, zur exklusiven Geltung positiven Rechts durch den Staat und zu klar geordneten Zuständigkeiten der Foren war jedoch in der Frühen Neuzeit noch nicht abgeschlossen. Deshalb bildeten die Ergebnisse dieser als zwangsläufig wie wünschenswert betrachteten Prozesse die Kriterien für die Bewertung der Entwicklung von Recht und Rechtsforen in der Frühen Neuzeit. Dies wird sowohl bei der Einschätzung der Pluralität der Rechtsnormen als auch der sich überlappenden Zuständigkeiten und der fließenden Grenzen dessen, was als justiziabel erschien, deutlich. Gerade auch der vom Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit veranstalteten Tagung zur Gerichtslandschaft Altes Reich ist die Vertiefung der Erkenntnis zu verdanken, dass die lokalen und regionalen Rechts- und Gerichtslandschaften im Reich weder nach oben hin abgeschlossen blieben noch unverbunden nebeneinander standen. Es hat sich vielmehr gezeigt, dass diese Landschaften in unterschiedlichen Abstufungen Teil eines territorienübergreifenden, imperialen Rechtsraums waren, der durch Kaiser, Reichstag, Reichskreise und Reichsgerichte konstituiert war. Die im Allgemeinen gewonnenen Erkenntnisse gilt es nun im Rahmen einer Tiefenstudie anhand eines lokalen Ausschnittes der Rechts- und Gerichtslandschaft des Alten Reichs zu erhärten. Denn es bestehen Forschungsdesiderate zur horizontalen und vertikalen Verzahnung bzw. Abgrenzung lokaler, territorialer und imperialer Rechts- und Gerichtslandschaften. Zieht man die Bilanz des Forschungsstandes, so bleibt festzustellen, dass zwar umfangreiche Forschungen zur Normsetzung und Rechtsanwendung in verschiedenen Herrschaften des Alten Reiches zu ausgewählten Rechtsgebieten vorliegen. Bislang ist jedoch noch kein Versuch unternommen worden, die vielfältigen Komponenten einer einzigen Rechts- und Gerichtslandschaft zu rekonstruieren. Ganz bewusst hat das Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit die Reichsstadt Frankfurt ausgewählt. Für diese Wahl sprachen mehrere evidente Gründe. Zunächst erwies es sich als vorteilhaft, das Untersuchungsspektrum auf einen möglichst engen und gleichzeitig aussagekräftigen Raum zu konzentrieren, um die vielfältigen Einzelstränge, denen nachgegangen werden sollte, bündeln zu können. Auch die Bedeutung der Stadt sowie eine dieser entsprechenden Überlieferungsdichte waren maßgebliche Entscheidungsfaktoren. Vor allem jedoch wurde Frankfurt deshalb ausgewählt, weil in dieser Reichsstadt - was die in diesem Band versammelten Erträge auch nachdrücklich bestätigen - viele Überlappungen, Spannungen und Wechselbeziehungen bestanden, die die vielgestaltige Struktur und Dynamik der Rechts- und Gerichtslandschaft des Alten Reichs gleichsam in einem Mikrokosmos abbilden. Zwar ist Frankfurt aufgrund seiner Stellung als Reichsstadt ein Typus von Reichsterritorium, in dem sich - wie in den zahlreichen anderen Reichsstädten - eine spezifische
Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat, aus dem Italienischen von Anette Seemann, München 2003 [zuerst Bologna, 2000].
Recht und Gericht im frühneuzeitlichen Frankfurt
Konzentration rechtlicher Phänomene ergab. Diese lassen sich jedoch ebenfalls in anderen Territorien auffinden, wenn auch mit anderen Konstellationen und vielleicht teils nur abgeschwächt. Es wäre reizvoll, die für Frankfurt aufgeworfenen Fragen auf einer weiteren Tagung am Beispiel eines Kurfürstentums oder größeren Reichsstandes durchzuspielen und die für Frankfurt gefundenen Antworten damit zu vergleichen. Das hier für Frankfurt verfolgte Konzept der Rechts- und Gerichtslandschaft lässt sich jedenfalls mit Gewinn auf andere Reichsstände anwenden. Der Begriff Landschaft ist in der Frühen Neuzeit zur Bezeichnung der Gesamtheit der Stände eines Herrschaftsgebiets verwandt worden. In der Geschichtswissenschaft hat er unter anderem in der Adels- und Stadtgeschichtsforschung als Ordnungskategorie Eingang gefunden.3 In der Rechtsgeschichte ist der Begriff neu und daher erklärungsbedürftig. Er wurde, wie bereits angedeutet, ausgewählt, um die Vielfalt als eine für die Rechts- und Gerichtsverfassung der Frühen Neuzeit charakteristische Eigenschaft zu betonen. Die Differenzierung, ja geradezu Umkehrung der gleichförmigen Einheit, die die als Titelbild gewählte Darstellung des Territoriums der Reichsstadt Frankfurt dem Betrachter vermittelt, macht deutlich, was mit dem Begriff der Rechts- und Gerichtslandschaft als methodisches Konzept gewonnen werden kann. Die Gerichtslandschaft Frankfurts war nicht mit dem Territorium der Reichsstadt Frankfurt identisch, das bereits unter dem Gesichtspunkt der herrschaftlichen Durchdringung eine fragwürdige Größe ist. Der um das Jahr 1712 entstandene Kupferstich umreißt das Herrschaftsgebiet der Reichsstadt. Die Einfärbung hebt es trennscharf von den benachbarten Herrschaften ab. Die eindeutigen Grenzkonturen suggerieren demzufolge einen einheitlichen Herrschaftsraum. Es drängt sich somit ein Bild Frankfurts in der frühen Neuzeit auf, das als Vorläufer des modernen souveränen Staats des 19. und 20. Jahrhunderts zu verstehen ist. Spätestens an dieser Stelle müssen Zweifel laut werden. Bei genauerer Betrachtung war das als Einheit eingefärbte Frankfurter Territorium nämlich ein Flickenteppich unterschiedlich stark ausgeprägter Herrschaftsrechte. Diesem Umstand hätte eine zweidimensionale Darstellung allenfalls durch farbliche Schattierungen Rechnung tragen können. Bestimmte Bereiche waren den Zugriffsmöglichkeiten der Frankfurter städtischen Obrigkeit nur sehr bedingt unterworfen, da sie, um die Begrifflichkeiten des 19. und 20. Jahrhunderts zu verwenden, einen quasi exterritorialen Status genossen: Dies betraf das Gebiet außerhalb der Stadtmauern, wie etwa Heusenstamm, eine Besitzung des Adelsgeschlechts der Schönborn, auf der sich regelmäßig
Siehe beispielsweise Ralph Melville, Adel und Revolution in Böhmen. Strukturwandel von Herrschaft und Gesellschaft in Österreich um die Mitte des 19. Jahrhunderts, Mainz 1998. William Godsey, Nobles and Nation in Central Europe. Free Imperial Knights in the Age of Revolution, 1750-1850, Cambridge 2004. Holger Gräf/Katrin Keller (Hg.), Städtelandschaft. Résau Urbain. Urban Network. Städte im regionalen Kontext in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, Köln 2004. 3
Anja Amend, Anette Baumann, Stephan Wendehorst, Steffen Wunderlich
die Kaiser in spe bis zu ihrer Wahl aufhalten sollten. Zum anderen sei hier stichwortartig auf Räume innerhalb der Stadtmauern Frankfurts hingewiesen, so etwa die kaiserliche Taxispost, die drei katholischen Stifte, die Judengasse und die Niederlassung des Deutschen Ordens in Sachsenhausen. Der hier verwendete Landschaftsbegriff ist demnach nicht im Sinne eines abgeschlossenen Territoriums, sondern im Sinne eines Gebietes mit unbestimmten, osmotischen Grenzen zu verstehen - so wie bereits Grimms Wörterbuch „Landschaft" als „ein sozial zusammenhängendes Ganzes"4 definiert hat. Mit dem Landschaftsbegriff assoziieren wir Abwechslung. Im Gegensatz hierzu stünde ein einheitliches, homogenes, hierarchisch klar durchstrukturiertes Gebilde. In der von den Veranstaltern gewählten Deutung besagt der Begriff also nicht bloß die räumliche Abgrenzimg mehrerer geografischer Landschaften voneinander. Landschaft wird vielmehr als Metapher für kulturelle Vielfalt verstanden. Diese begriffliche Ebene vermag das Forschungsinteresse der einzelnen Beiträge zu bündeln. Vor diesem Hintergrund können topographische, soziale, politische, ökonomische und eine Reihe anderer Aspekte zur näheren Beschreibung der „Landschaft" dienen. Besonders deutlich tritt dieser „Landschaftscharakter" in den Vordergrund, wenn man sich der Sphäre des Rechts zuwendet. Hinsichtlich der zweiten Komponente des Begriffs der Rechts- und Gerichtslandschaft, den Gerichtsforen, lässt sich zunächst die eben beschriebene Vielfältigkeit Frankfurts im Hinblick auf Rechtsprechungsforen untersuchen, die unter der Stadtherrschaft standen, also die städtischen Gerichtsinstitutionen, darunter auch die so genannten Bürgermeisterlichen Audienzen. Sodann wird der Frage nachgegangen, mit welchen Mitteln die Reichsstadt diese ihre Gerichtshoheit zu wahren versuchte, also durch welche Privilegien sie versuchte, diese Gerichtshoheit zu schützen. Außerdem wird das Verhältnis zwischen den reichsstädtisch-institutionell eingebundenen Strategien zur Konfliktlösung und anderen, außergerichtlichen untersucht. Daneben charakterisieren gerade die rechtlichen Bezüge, die über das Frankfurter Territorium hinausgehen, besonders seine Vielfalt. Für die Foren sind in diesem Zusammenhang Reichskammergericht und Reichshofrat, aber auch die häufig angerufenen Juristenfakultäten zu nennen. Wie vertrug es sich mit dem Selbstverständnis der Reichsstadt, auswärtige Juristenfakultäten in die städtische Rechtsprechung einzubinden? In welcher Form, auf welcher Grundlage geschah dies? Wie ging die Reichsstadt Frankfurt mit den Interventionen des kaiserlichen Residenten bei innerstädtischen Konflikten um? In welcher Beziehimg standen der Oberrheinische Reichskreis und Frankfurt zueinander, gehörte die Stadt doch diesem Kreis an? Neben dem institutionellen Ansatz, den die bis hier angedeuteten Referate als gemeinsamen Nenner aufweisen, konnte die Fragestellung auch vielfältig 4
Deutsches Wörterbuch von J. und W. Grimm, Bd. 12, Spalte 131ff.
Recht und Gericht im frühneuzeitlichen Frankfurt
individuell ausgerichtet sein, und zwar zunächst einmal, indem man die Stadt selbst als Prozesspartei versteht: Frankfurt vor dem Reichshofrat. Von Interesse ist aber auch, wie Einzelpersonen, Handelsgesellschaften oder berufsständische wie religiöse Korporationen in die Frankfurter Gerichtsbarkeit eingebunden waren. Dieser Frage wurde in normativer und tatsächlicher Hinsicht nachgegangen, und zwar anhand der Liquidation einer Handelsgesellschaft, der religiös begründeten Autonomie der jüdischen Gemeinde, der französischreformierten Exilkirchen, aber auch mit Blick auf das Zunfthandwerk und seinen Besonderheiten, und in Bezug zu anderen Reichsstädten, z.B. der wichtigen Handelsmetropole Hamburg. Schließlich lässt sich der Begriff der Justiznutzung mit Blick auf bestimmte Lebenssachverhalte näher beleuchten. Diesbezüglich ergänzt ein Beitrag zu dem großen und für die Handels- und Messestadt Frankfurt wichtigen Komplex der Schulden und Handelssachen das Spektrum beispielhaft. Die hier vorgenommene Einordnung ist freilich nicht abschließend. Problemlos fänden sich weitere Schnittmengen, die einzelne Beiträge zusammenfassen und die Rechts- und Gerichtslandschaft Frankfurts näher beschreiben könnten. Allen gemeinsam ist, dass sie geeignet sind, die vielfältigen Verästelungen und Wirkungskreise der Frankfurter Rechts- und Gerichtslandschaft zu skizzieren. Mit den in diesem Band enthaltenen Aufsätzen werden weitreichende Einblicke in die Vielfalt frühneuzeitlichen Rechtslebens bezogen auf Frankfurt am Main als einem spezifischen Ausschnitt der Rechts- und Gerichtslandschaft des Alten Reichs gewonnen. Die hier publizierten Beiträge zeigen anschaulich wichtige Facetten der in der Tagung herausgearbeiteten Komplexität und Vielschichtigkeit des Forschungsgegenstandes. Die vorliegende Zusammenstellung kann daher Ausgangspunkt und Anreiz für die weitere, lohnende Erforschung Frankfurts, wie auch anderer Ausschnitte der Rechts- und Gerichtslandschaft des Alten Reichs sein.
Die Audienzen des Jüngeren Bürgermeisters
Gabriela Schlick-Bamberger Die Audienzen des Jüngeren Bürgermeisters in der Reichsstadt Frankfurt am Main. Ein Untergericht als Spiegel des reichsstädtischen Alltagslebens im 18. Jahrhundert 1. Einleitung In der Frühen Neuzeit haben zwei Tendenzen zur Herausbildung einer Vielzahl unterschiedlichster Gerichtsgremien und Rechtssprechungsorganen beigetragen: Die allgemeine Verrechtlichung des Alltagslebens und Frankfurts Funktion als Messe- und Handelsstadt.1 Es bildeten sich Oberund Untergerichte heraus mit der Aufgabe, tradiertes Recht zu wahren oder umzusetzen. Darunter zählte städtisches, Reichs- oder international anerkanntes Recht in Form von Straf-, Zivil-, Handels- und Wechselrecht. Wegen ihrer Unübersichtlichkeit ist die gesamte, in der Frühen Neuzeit ausdifferenzierte Frankfurter Gerichtslandschaft jedoch noch weitgehend unerforscht. Als Obergerichte für alle in der Reichsstadt vorkommenden Rechtssachen waren das Schöffengericht, der Schöffenrat und die Schöffenreferier zuständig. Als Untergerichte für zivilrechtliche Angelegenheiten wirkten eine Anzahl reichsstädtischer Ämter mit Rechtsprechungsfunktion in eigenen Angelegenheiten. Verstöße gegen die für das jeweilige Amt relevante Ordnung wurden von diesem selbst geahndet. Ebenfalls als Untergerichte fungierten die zu den ältesten Gerichtsgremien Frankfurts zählenden Bürgermeister Audienzen, die sowohl durch den Älteren als auch den Jüngeren Bürgermeister abgehalten wurden. Dem Herkommen nach verhandelten die Bürgermeister - zur Entlastung der Obergerichte strittige Angelegenheiten geringer Art oder mit niedrigem Streitwert aller in Frankfurt vertretenen Stände und Religionen. Auch Streitsachen zwischen Auswärtigen und Frankfurter Einwohnern fielen in ihren Zuständigkeitsbereich. Die Aufgabe der Bürgermeister Audienzen war es, gemeinsam mit den Parteien auf schnellem Weg eine gütliche Lösung für die jeweilige Auseinandersetzimg zu finden. Diese Aufgabe blieb ihnen auch mit der zunehmenden Ausdifferenzierung der Frankfurter Gerichtslandschaft im Verlauf der Frühen Neuzeit erhalten. In den beiden großen Verfassungsauseinandersetzungen zwischen Bürgern und Rat 1612-1616 und 1705-1732 wurden die Zuständig-
Otto Ruppersberg, Der Aufbau der reichsstädtischen Behörden, in: Heinrich Voelcker (Hg.), Die Stadt Goethes. Frankfurt am Main im XVIII. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1932, S. 51-83 (Aufbau). B. J. Römer-Büchner, Die Entwicklung der Stadtverfassung und die Bürgervereine der Stadt Frankfurt am Main, Frankfurt a.M. 1855, hier Kapitel ΧΠΙ, Gerichte, S.136-146. Johann Georg Rössing, Versuch einer kurzen historischen Darstellung der allmähligen Entwicklung und Ausbildung der heutigen Gerichts=Verfassung Frankfurts, Frankfurt a.M. 1806 (Gerichtsverfassung). Johann Anton Moritz, Versuch einer Einleitung in die Staatsverfassung derer Oberrheinischen Reichsstädte, Erster Theil: Reichsstadt Frankfurt (Abschnitt 1-3), Frankfurt a.M 1785 (Staatsverfassung). 1
Gabriela Schlick-Bamberger
keiten der Bürgermeister und ihrer Audienzen nach und nach umfassend geregelt und schriftlich fixiert.2 Wie stark die Bürgermeister Audienzen im 18. Jahrhundert durch das seine Rechte suchende Publikum frequentiert wurden, spiegeln die Ergebnisse der ab 1726 auf kaiserlichen Druck durchgesetzten Protokollierung wider. Über ihre Aktivität zwischen 1726 und 1806 zeugen an die 2 000 Protokoll- und Beilagenbücher sowie mehrere tausend lose Anlagenblätter.3 Trotz fast lückenloser Überlieferung der Protokolle beider Bürgermeister Audienzen für den Zeitraum von 1726 bis 1806 hat die die neuere Forschung diese Bestände bis her weder wahrgenommen noch genutzt.4 Um diesem Forschungsdesiderat abzuhelfen, stehen die als Untergerichte wirkenden Audienzen der Bürgermeister im Zentrum der folgenden Untersuchung. Wegen der Fülle des Materials, konzentriert sich diese Abhandlung auf die Audienzen des Jüngeren Bürgermeisters. Da sich jedoch die Aufgaben von Älterem und Jüngerem Bürgermeister überschneiden, werden dort, wo es sinnvoll erscheint, auch die Betreffe des Älteren Bürgermeisters eingeflochten. Mit dem Aufrollen der Gerichtslandschaft von „unten nach oben" ergeben sich gleichzeitig mehrere Erkenntnismöglichkeiten. Eine Untersuchung dieses seriellen Quellenbestandes ermöglicht neben den Erkenntnissen zu Funktion und Praxis dieser Untergerichte gleichzeitig die Beleuchtung des möglichen Instanzenwegs innerhalb des Frankfurter Gerichtssystems. Ferner lassen sich Aspekte des formalen Umgangs und praktischen Verhaltens vor diesem Gericht herausarbeiten und einen Eindruck von der Wahrnehmung von Recht und Obrigkeit durch die beteiligten Parteien - also das Publikum - vermitteln. Ferner zeigen die Quellen auch, wie sich die Obrigkeit dem in den Audienzen Recht suchenden Publikum, den Frankfurter Bürgern, Beisassen, Juden oder Fremden präsentierte. Und nicht zuletzt bieten die Quellen einen Blick in das Frankfurter Alltagsleben des 18. Jahrhunderts. Funktion und Praxis der Bürgermeister Audienzen im 18. Jahrhundert, hier, der des Jüngeren Bürgermeisters, können jedoch nicht eingeschätzt werden ohne Kenntnisse über die Rössing, Gerichtsverfassung (wie Anm. 1), S. 12ff., S. 120-123. Moritz, Staatsverfassung (wie Anm. 1), S. 29ff. 3 Die Verfasserin hat für das Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (= ISG Ffm) die Bestände der Audienzen des Jüngeren Bürgermeisters gesichtet, geordnet und bearbeitet. Die hier vorgestellten Ergebnisse ihrer Arbeit mit den Jüngeren Bürgermeister Audienzen sind noch keine abschließenden Erkenntnisse, sondern als „work in progress" zu verstehen. In ihrem Aufsatz „Zur Rolle der Reichsstädtischen Gerichtsbarkeiten in den Alltagsbeziehungen der Frankfurter Juden im 18. Jahrhundert", in: Fritz Backhaus u.a. (Hg.), Die Frankfurter Judengasse. Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2006, S.171-185, hat die Verfasserin diese von ihr erschlossenen Quellenbestände erstmals auszugsweise vorgestellt und analysiert und wird dies auch in ihrer demnächst erscheinenden Dissertation fortsetzen. 4 Die unter Fußnote 1 genannte zeitgenössische Literatur zu Frankfurts Staats- und Gerichtsverfassimg faßt in kurzen Kapiteln die Zuständigkeit der Bürgermeister Audienzen zusammen. Eine Würdigung oder umfassendere Analyse ihrer Arbeit haben weder die Zeitgenossen noch die spätere Forschung bisher vorgenommen. 2
Die Audienzen des Jüngeren Bürgermeisters
historische Entwicklung dieser Foren, der sie repräsentierenden Personen und der Örtlichkeit des Geschehens. 2. Rechtliche Ausdifferenzierung der Bürgermeister Audienzen Neben dem Stadtgericht stellten die Bürgermeister eines der ältesten Gerichtsinstitutionen in der Reichsstadt Frankfurt dar. Von „alters hergebracht" war ihnen die Gerichtsbarkeit zugestanden.5 Erstmals schriftlich festgelegt hatte der reichsstädtische Rat die richterliche Funktion der Bürgermeister im Jahr 14846. Die ihnen zugestandene eigene Jurisdiktionsgewalt in geringfügigen Rechtssachen flöß ein Jahrhundert später, 1578, in die „erneuerte Stadtrechtsreformation" ein und wurde hier nochmals, diesmal ausführlicher schriftlich fixiert. Die Bürgermeister sollten „hinfüro auf alle sachen/ so im währt über 5 gulden nicht liegen nach rechten und der Billigkeit gemäß entscheiden"7. Es ist davon auszugehen, daß die Bürgermeister ihre Audienzen ohne Beisitzer oder Schreiber abhielten, denn sowohl die Einsetzung von Beisitzern als auch die eines Schreibers, der die schriftliche Protokollierung der vorgebrachten Klagsachen erledigte, gehörten zu den in jeder politischen Krise wiederholten Forderungen von Seiten der Bürger.8 Um den Forderungen aus dem Lager der Bürgerschaft zu entsprechen, wurde im Bürgervertrag von 1613 die Einsetzung von Beisitzern wie auch die Einstellung eines Protokollanten festgeschrieben.9 Vermutlich wurde diese Maßgabe niemals umgesetzt, denn auch der Zeitgenosse Orth spekuliert Mitte des 18. Jahrhunderts in seinen „Anmerckungen", daß: „ ... auch damals ein ordentlicher Schreiber zu führung der protocollen bestellet wurde, so aber in folgenden zeiten allmälig mus wiederabgekommen sein"10. Tatsächliche Hinweise auf eine Protokoll-
Rössing, Gerichtsverfassung (wie Anm. 1), S. 120-127. Moritz, Staatsverfassung (wie Anm. 1), 4. Abschnitt, S. 25ff. Johann Philipp Orth, Nöthig- und nützlich-erachtete Anmerckungen über die im Zweyten Theil enthaltene Acht erstere Tituln Wie auch viele andere aus den übrigen Theilen dahin gehörige Tituln und Stellen Der so genannten Erneuerten Reformation Der Stadt Frankfurt am Mayn ..., Frankfurt a.M. 1731, Fortsetzungen 1742-1757, Zusätze 1775 (Anmerckungen), hier Erster Teil, S. 412. 6 I S G Ffm, „Gesetze ΠΙ", p. 76v, zit. Wolf, Armin (Hg.), Die Gesetze der Stadt Frankfurt am Main im Mittelalter, Frankfurt a.M. 1969, S. 379. 7 Reformation, 10 Teile, Frankfurt a.M. 1578. Hier 1. Teil - Vom Gerichtlichen Prozeß, Abt. LI., S. 85, § 2. Orth, Anmerckungen (wie Anm. 5), S. 412. 8 Rössing, Gerichtsverfassung (wie Anm. 1), S. 122 § 86 verweist darauf, daß den Bürgermeistern die Gerichtsbarkeit „in geringfügigen Sachen" „einzig und allein und ohne Beisitzer" zustand, bezieht sich aber auf Orth, Anmerckungen (wie Anm. 5), 4. Fortsetzung, S. 412. Die erste Kaiserliche Resolution vom 25.11. 1725 gibt textlich die Tatsache wieder, daß auch hier auf Beschwerden der Bürger reagiert wurde. 9 Bürgervertrag von 1613, §§ 11, 15, in: Christoph Sigismund Müller, Vollständige Sammlung der kaiserlichen in Sachen Frankfurt contra Frankfurt ergangenen Resolutionen und anderer dahin einschlagender Stadt=Verwaltungs=Grund=Gesezzen, Frankfurt a.M. 1776 (Sammlung), 1. Abteilung, S. 18-29. Orth, Anmerckungen (wie Anm. 5), S. 414. 10 Orth, Anmerckungen (wie Anm. 5), S. 414. Moritz, Staatsverfassung (wie Anm. 1), S. 28, schreibt 1785 „Es wurde jedoch solches in Folge nicht beobachtet, und daher im 5
Gabriela Schlick-Bamberger
Tätigkeit in den Bürgermeister Audienzen vor 1726, seien diese in Form von Protokollbüchern oder als Vermerke in den Frankfurter Repertories sind nicht existent. Im Rahmen der Verfassungsauseinandersetzungen 1705-173211 wurden die Angelegenheiten der Bürgermeister Audienzen wieder zur Sprache gebracht. Noch vor dem Erlaß der kaiserlichen Final-Resolution vom 14. März 1732, in der die Zuständigkeit der Bürgermeister Audienzen erneut schriftlich fixiert wurde, ist in der am 24. Januar 1726 in Frankfurt veröffentlichten 1. Kaiserlichen Resolution vom 22. November 1725 festgehalten worden, daß nunmehr den Bürgermeister Audienzen je „zwey erfahrene Ratspersonen" zugeordnet werden sollen.12 Daß dieser Anordnung auch Folge geleistet wurde, geht aus der am 22. April 1726 ergangenen umfangreichen schriftlichen „Instruktion" für die Bürgermeister hervor. Der Inhalt dieses 94 Paragraphen umfassenden Schriftstücks betrifft sowohl den Älteren als auch den Jüngeren Bürgermeister und behandelt eine Vielzahl der bisher von der Bürgerschaft kritisierten Punkte.13 Mit dem kaiserlichen Erlaß vom 22. November 1725 begann eine neue Ära für die Bürgermeister Audienzen. Der Rat mußte sich dem kaiserlichen Druck beugen und nun endlich die im Bürgervertrag von 1613 festgeschriebenen aber bis dato verweigerten oder zumindest nicht praktizierten Vorgaben umsetzen. Der Rat ließ sich allerdings noch einige Monate Zeit bis zur Wahl der Beisitzer, so daß die Audienzen in der neuen Besetzung ihre Arbeit erst im letzten Drittel des Jahres 1726 aufnehmen konnten. Die Ratsherren wählten schließlich aus ihren Reihen die geforderten Beisitzer und stellten auch zwei Schreiber ein. Als Beisitzer für den Älteren Bürgermeister Conrad Hironimo Eberhard genannt Schwind wurden am 22. August 1726 der Schöffe Philipp Jacob Fischer und am 1. Oktober der Schöffe Archilles August von Lersner gewählt. Die Wahl des Schreibers Johann Tabor fand ebenfalls am 1. Oktober 1726 statt. Die Vereidigung aller erfolgte sieben Tage später. Bis zur ersten Sitzung am 10. Oktober nachmittags vergingen nochmals zwei Tage.14 Auch für die Wahl der Beisitzer des Jüngeren Bürgermeisters ließ man sich viel Zeit. Erst am 7. Oktober 1726 wählten die Ratsherren schließlich die beiden Beisitzer aus der zweiten Bank, Nicolaus von Uffenbach und Johann Jacob von Bertram sowie den Schreiber Philipp Christoph Nordmann. Die geforderte Vereidigung der drei erfolgte noch am selben Tag und zwar vor versammeltem Rat und in Anwesenheit des bürgerlichen Dreiers, der Vertretung der
Projekt Vergleichs §. 8. und in der lsten Kaiserl. Resolution vom 22. Nov. 1725. §.7. wieder ausgemacht und anbefohlen." 11 Paul Hohenemser, Der Frankfurter Verfassungsstreit 1705-1732 und die kaiserlichen Kommissionen, Frankfurt a.M. 1920. 12 Kaiserliche Final Resolution, in: Müller, Sammlung (wie Anm. 9), 3. Abteilung, S. 11; Rössing, Gerichtsverfassung (wie Anm. 1), S. 12f. 1 3 ISG Ffm, Eid- und Instniktionsbücher Nr. 14, Instruction vor die Herren Bürger=Meister vom 22. April 1726. " ISG Ffm, Ältere Bürgermeister Audienzen, Protokollbuch 1726/1727, Deckblatt.
Die Audienzen des Jüngeren Bürgermeisters
Bürgerschaft im Rat. Ab dem 9. Oktober 1726 morgens tagte die Audienz des Jüngeren Bürgermeisters schließlich zum ersten Mal in ihrer neuen Besetzung.15 3. Das Personal in den Audienzen Die den Audienzen Vorsitzenden beiden Bürgermeister waren Ratsmitglieder. Der Ältere Bürgermeister wurde aus der Schöffenbank, der ersten Bank des Rates, und der Jüngere Bürgermeister aus den Mitgliedern der zweiten Bank jährlich neu gewählt. Zur Wahl standen dabei jeweils die sieben ältesten Herren der jeweiligen Bank. Die Wiederwahl einer Person zum Bürgermeister war zwar möglich, jedoch nicht in dem unmittelbar auf eine Amtszeit folgenden Jahr.16 Ihre Amter übten die Bürgermeister nicht als Ehrenamt aus. Bereits die Kaiserliche Resolution vom 22. November 1725 legte eine „Salarierung der Magistrats=Personen und Stadt=Bedienten" fest. Auch die „Verbesserte Visitationsordnung" vom 31. Dezember 1725 beinhaltete Ausführungen zu dieser Thematik. Schließlich schrieb die Kaiserliche Final Resolution vom 14. März 1732 die 1725 festgelegte Besoldung zur standesgemäßen Lebensführung nochmals fest. Zukünftig erhielten der Ältere Bürgermeister ein Gehalt in Höhe von 1 700 fl. und der Jüngere Bürgermeister ein Gehalt in Höhe von 1 300 fl. ausbezahlt.17 Weder die Stadtrechtsreformation noch der Bürgervertrag oder die Instruktion der Bürgermeister verlangten ausdrücklich, daß ein Bürgermeister eine Ausbildung als Rechtsgelehrter durchlaufen oder eine der Rechte kundige Person sein mußte. Eine Tatsache, die der Zeitgenosse Orth stark kritisierte. Er war der Meinung, daß die Auseinandersetzung mit Rechtsstreitigkeiten und ihre Schlichtung von „genaue Wissenschaft der Rechte erfordern", „mithin es der gute natürliche verstand und die bloße erfarung nicht immer allein ausmachen wollen, sondern die vorkommenden rechtsfälle öfters ein weit mereres erfordern" 18 . Offensichtlich waren diejenigen Ratsherren, die die Bürgermeister wählten, eben dieser Ansicht, denn im 18. Jahrhundert wurden mehrheitlich ausgebildete Juristen in die Amter des Älteren und des Jüngeren Bürgermeisters gewählt.19 Die Beisitzer sowohl des Älteren als auch des Jüngeren Bürgermeisters stammten ebenfalls aus den ersten beiden Bänken. Sie sollten nach der auf den Bür-
ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1726/1727, Deckblatt. Ruppersberg, Aufbau, S. 57; Rössing, Gerichts=Verfassung (wie Anm. 1), S. 12, S. 129ff. 17 Müller, Sammlung (wie Anm. 9), 1. Abteilung, S. 104, Kaiserliche Resolution vom 22.11.1725; ibid., 3. Abteilung, S. 16, Verbesserte Visitationsordnung Tit. 1: „Erstlich, der Bürgermeister Amt, und was derselben gewisses salarium hinfürters seyn solle, auch was den cantzlisten darbey anbefohlen wird". Ibid, 3. Abteilung, S. 14, Kaiserliche Finalresolution „Die Salarirung Magistratspersonen, Syndicorum und Stadt=Bedienten betreffend". 18 Orth, Anmerckungen (wie Anm. 5), S. 415. 19 Barbara Dölemeyer, Die Juristen der Reichsstadt Frankfurt am Main, Frankfurt a.M. 1993 (Juristen), S. XXXIIIf. 15 16
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gervertrag von 1613 aufbauenden kaiserlichen Resolution vom 22. November 1725 erfahrene ältere Ratsherren sein, „welche nach ihrem besten wissen und gewissen, denen Bürger Meistern beyräthig seyn, mithin die Gerechtigkeit äußersten vermögen nach administriren und handhaben helfen sollen"20. Bereits im ersten Jahr nach der Umsetzung der kaiserlichen Resolutionen hatte sich auch schon wieder eine gewisse Nachlässigkeit in der Führung der Audienzen eingeschlichen. Nicht immer erschienen, wie es eigentlich vorgeschrieben war, beide Beisitzer in den Audienzen.21 Und auch Orth weiß zu berichten, daß „die besetzung der dem Jüngeren Bürgermeister zugeordneten beisitzer in neueren Zeiten, an stat der ... erforderten ... gemeiniglich die untersten (die jüngsten d.V.) auf der zweiten Bank zu diesem Amte genommen werden". Dies erfülle zwar nicht immer den in der Ordnung beabsichtigten Zweck, sei aber „ ... doch diesen beisitzern selbst solches ein gar nützliches amt und geschäft, weil sie hiedurch für sich eine gute wißenschaft und erfarung erlangen, wie sie dereinst das ihnen etwa zukommende bürgermeisteramt wol und tügtig verwalten können"22. Eine Ordnung, die eine juristische Ausbildung für die Beisitzer vorschrieb, gab es ebenfalls nicht. Allerdings ist im 18. Jahrhundert eine Mehrzahl der Beisitzer tatsächlich juristisch vorgebildet, wenn nicht sogar als Juristen promoviert.23 Die Protokollführer, „Actuarien", „Protocollisten" oder „Schreiber" genannt, hatten nunmehr „alle klagen und antworte, samt den darauf erteilten bescheiden kürzlich [zu] protokollieren, wie eben dis in seinem schriftlichen unterrichte, so dem bürgermeisterlichen beigefüget und welchen er, bei antrite seines amtes, zu beschweren hat, §.4. von neuem nachdrücklich anbefohlen werden, der parteien vorträge des klägers und beklagten getreulich und in möglichster kürze zum protokoll zu bringen"24. Auch für die Ausfertigung von Abschriften für die Parteien oder die Stadtkanzlei waren sie zuständig.25 Nach Beyerbach wurde den Actuarien „noch einige Protocollisten, als Gehülfen, beygegeben". In einem 24 Punkte langen „Formula Juramenti" beschworen sie die getreue Befolgung aller ihrer Aufgaben.26 Die Schreiber kamen vermutlich aus der reichsstädtischen Gerichtskanzlei. Über etwaige besondere Qualifikationen für eine Schreiberstelle bei den BürISG Ffm, Eid- und Instruktionsbücher Nr. 14, Instruction, § 3. ISG Ffm, Protokollbücher der Jüngeren Bürgermeister Audienzen, 1727/1728. Siehe als Vergleichsjahrgang auch die Protokollbücher aus dem Jahr 1739. 22 Orth, Anmerckungen (wie Arun. 5), S. 414. 23 Dölemeyer, Juristen (wie Arvm. 19), S. 410-417. Seit dem 18. Jahrhundert mußte jeweils ein Beisitzer Jurist sein, S. ΧΧΧΙΠ. Orth, Anmerckungen (wie Anm. 5), S. 415f. 24 Orth, Anmerckungen (wie Anm. 5), S. 418. Müller, Sammlung (wie Anm. 9), 1. Abteilung, S. 18-29, Bürgervertrag von 1613, § 15; ISG Ffm, Eid- und Instruktionsbücher Nr. 14, Instruction, §§ 4 u. 5. 25 Rössing, Gerichtsverfassung (wie Anm. 1), S. 124. 26 Rössing, Gerichtsverfassung (wie Anm. 1), S. 129. Beyerbach, 8. Thl S. 1575-1579 aus 1757. 20 21
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germeister Audienzen geben die Quellen keine Auskunft. Auch auf eine Begrenzung des Beschäftigungszeitraums gibt es keine Hinweise. Die „Actuarien" versahen ihren Dienst in den Audienzen vermutlich solange wie es ihre körperliche Konstitution zuließ.27 Sie verdienten jährlich 250 fl. „nebst denen Sportulen, welche sie von extractibus protocolli, nach einem regulierten Tax" erzielten.28 4. Die R ä u m l i c h k e i t e n Die Bürgermeister Audienzen wurden in Räumlichkeiten im Römer, dem Rathaus der Reichsstadt, abgehalten. Die Einrichtung war einfach gehalten und die Gegenstände deutlich auf die Zwecke der Audienzen ausgerichtet. Da die Bürgermeister jährlich wechselten, wurde am Ende einer jeden Amtsperiode jeweils ein Inventar der Amtsstube erstellt, das dem Amtsnachfolger übergeben wurde. In das Inventar aufgenommen wurden sowohl die Möbel, Dekorationsobjekte und sonstigen vorhandenen Gebrauchsgegenstände als auch die in den Audienzen zur Verwahrung eingelieferten Streitgegenstände, die der Amtsnachfolger bis zur Klärung der Sache weiter verwahren mußte. Ein kurzer Blick in die Räumlichkeiten des Jüngeren Bürgermeisters erlaubt den Schluß, daß auch ein Untergericht als Institution der Obrigkeit eine gewisse repräsentative Aufgabe gegenüber dem Publikum erfüllte. Gleichzeitig ist jedoch zu vermuten, daß die eher kleine wohnlich anmutende Amtsstube nicht annähernd so einschüchternd auf das Publikum gewirkt haben muß, wie etwa die Räumlichkeiten der Obergerichte. Die Amtsstube war ausgekleidet mit grün und gelb gewirkten Tapeten, die Fenster zierten weiße Stoffvorhänge, für Beleuchtung sorgte ein Leuchter aus weißem Blech mit Lichtbutz. An Möbeln standen im Raum ein großer Tisch mit einem Überwurf aus dem gleichen Stoff wie die Tapeten, ein Pult mit grauem Tuch überzogen und mit gelben Schnüren eingefaßt, sechs mit rotem Tuch überzogene Stühle und ein „tannener" Schrank. An der Wand hingen ein großer Spiegel mit einem gläsernen leicht vergoldetem Rahmen, ein Kalender, ein Verzeichnis der immatrikulierten Notare und die Tax-Rolle des Schreibers, alle schwarz gerahmt. Auf dem Schreibpult stand ein Tintenfaß und eine Sandbüchse zum Trocknen der Tinte. Weitere in der Stube befindliche in den Audienzen benötigte Utensilien waren ein eichener Block mit zwei Eisengriffen und einem hölzernen Schlägel zum Sigeln, zwei hölzerne Kapseln mit Bindfaden, ein Schächtelchen mit Tuchwerk, ein Federmesser, eine Papierschere, ein hölzernes Lineal, eine metallene Handschelle, das Amtssiegel in Stahl gestochen, ein Schächtelchen Oblaten, ein Tintenkrug, ein kleines auf dem
Ein Schreiber stand über Jahrzehnte im Dienste der Bürgermeister Audienzen. Der Schreiber Philipp Christoph Nordmann hatte seinen Dienst als „Actuarius" 1726 angetreten und war 1739 noch immer für den Jüngeren Bürgermeister tätig. ISG Ffm, Protokollbücher der Jüngeren Bürgermeister Audienzen, 1726/27 u. 1739. 28 Müller, Sammlung (wie Anm. 9), 3. Abteilung, S. 17, Kaiserliche Resolution vom 14. März 1732; ibid, 2. Abteilung, S. 231, Taxrollen als Anhang zur Visitationsordnung. 27
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Tisch stehendes „Repositorium mit fünf Gefachen" für die Dekrete, Beilagen und andere Schriftstücke sowie zwei Schlüssel, der eine für die Amtsstube der andere für den Schrank in dem die Protokolle und Beilagen verwahrt wurden.29 Ferner befanden sich in der Stube für die Beheizung eine eiserne Kohlepfanne samt Schippe, eine Kehrbürste und ein Staubbesen. 5. Vorschriften und Bedingungen für den Arbeitsalltag der Bürgermeister Die Präambel der „Instruction für die Herren Bürgermeister" von 1726, die sowohl für den Älteren als auch den Jüngeren galt, hebt hervor, daß das „Bürgermeisteramt das Erstere und ansehnlichste, darbey aber auch das Importanteste und wichtigste ist von allen Stadtämtern". Die Bürgermeister sollten sich zukünftig die ganze Woche, mit Ausnahme der Sonn- und Feiertage, vor- und nachmittags im Römer aufhalten, um „die in großer menge sich einfindenden partheyen so ihre Klage bei ein=oder dem andern derselben vorbringen" möchten, anzuhören und dieselbe zu entscheiden. Sie sollten „... sich vor allen Dingen ... äußersten Fleisses angelegen seyn ... laßen, dass Sie alle ihre Actiones wohl überlegen, und mit der grösten Behutsamkeit verrichten, insonderheit aber ... die Vorkommende Partheyen, mithin so wohl dem Kläger mit seiner Klage, als dem Beklagten mit seinen Exceptionibus genau und wohl anhören, den Casum recht fassen, alle dabey sich ergebende Umstände examiniren, und ponderiren, und sodann nach dero besten wissen und verstand einen wohl überlegten= denen Rechten und der Allhiesigen StadtReformation gemässen ausspruch ertheilen", ferner sind sie verpflichtet, „an den Herren Adjunctos ... in Parthey Sachen nicht vorbeyzugehen sondern alles mit Ihnen reiflich zu überlegen, und deren Rath sich allenfalls zu bedienen, sollen aber auf jedenfall zuvor mit ihrem beisitzer und nicht ohne sie entscheiden"30. Die Zuständigkeiten beider Bürgermeister wurden in der Kaiserlichen Hauptund Finalresolution vom 14. März 1732 nochmals bekräftigt.31 Die Bürgermeister Audienzen waren nunmehr erste Instanz in Wechselsachen und weiterhin Anlaufstelle in Sachen mit einem Streitwert bis 25 fl. Der Streitwert so mancher vor die Bürgermeister getragenen Auseinandersetzungen lag allerdings über den festgelegten 25 fl. und dennoch verhandelten die Bürgermeister auch diese Angelegenheiten. Um die Praxis rechtlich zu untermauern, reagierte der Rat im Jahr 1740. In der „Provocationsordnung" wird schließlich festgelegt, daß die Bürgermeister auch bei Streitwerten über 25 fl. Recht sprechen können.32
ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Beilagen ungeordnet, „Inventarium über dasjenige, was sich in ... Jüngern Bürgermeister Conrad von Uffenbach Audienzstube befindet". 30 ISG Ffm, Eid- und Instruktionsbücher Nr. 14, Instruction, Präambel und §§ 1-4. 31 Müller, Sammlung (wie Anm. 9), 3. Abteilung, S. 11. 32 Rössing, Gerichtsverfassung (wie Anm. 1), S. 122-125, S. 131f. Orth, Anmerckungen (wie Anm. 5), S. 412. 29
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Neben den Streitsachen, waren die Bürgermeister Audienzen auch Anlaufstelle für Verbal- und Realinjurien, Arrestanlegungen und Executionen, Appellationen33, Protestationen, Testamente und diverse weitere Angelegenheiten die der Diskretion bedurftn. Letztere verhandelte der jeweilige Bürgermeister ohne Beisitzer, auch wurde die Angelegenheit nicht in die laufenden Protokollbücher eingetragen, sondern in einem speziell für diese Zwecke eingerichteten Diarium verzeichnet.34 Jeder Bürgermeister hatte nunmehr selbst dafür Sorge zu tragen, daß sein Schreiber „alle Klagen und Antwort, so vor ihnen kommen, samt dem Bescheid, so darauf ertheilet wird" genauestens protokolliert und die in der Audienz eingereichten Unterlagen nach Eingang nummeriert und ordentlich verwahrt.35 Da beiden Bürgermeistern mit nur wenigen Ausnahmen die gleichen Kompetenzen zukamen, konnten sich die Parteien aussuchen, an welche der Audienzen sie sich wenden mochten. Erst nachdem sie sich für eine der beiden entschieden hatten, waren sie festgelegt. Ein Wechsel zwischen den Bürgermeister Audienzen im Verlauf einer Angelegenheit war nicht mehr möglich.36 Da sie nicht als zivilrechtliche Vorinstanz sondern in erster Linie als Gütestelle galten, stand es den Rechtsuchenden frei, die Bürgermeister Audienzen zu umgehen und statt deren sich direkt an Schultheiß und Schöffen oder die Schöffenreferier als nächst höhere der obergerichtlichen Instanzen zu wenden.37 Umgekehrt stand es aber auch den Bürgermeistern offen, „nach eigenem belieben die gar geringe =und Ihnen Verdriesliche und beschwehrliche Sachen, sonderlich schlechte Zänckereyen und ScheltWorte vor den Obrist Richter wohl[zu]verweisen"M. 6. Rahmenbedingungen für Rechtsuchende An der Institution der Bürgermeister Audienzen und ihrem historisch hergebrachten Auftrag für das streitende Publikum ohne Unterscheidung von Stand oder Religion als eine Gütestelle zu wirken, hatte sich offensichtlich mit dem Einsetzen der Protokollierung nichts geändert. In Wechsel- oder Schuldangelegenheiten verschob sich die Funktion der Audienzen. In diesen Fällen traten sie als Gericht auf,
Soweit bisher ersichtlich, nahmen die Bürgermeister Audienzen Appellationen gegen ergangene Beschlüsse der Obergerichte an und leiteten sie an die Ratversammlung weiter, wo diese dann nochmals verhandelt wurden. 3 4 ISG Ffm, Eid- und Instruktionsbücher Nr. 14, Instruction, §§ 8 u. 9. 35 ISG Ffm, Eid- und Instruktionsbücher Nr. 14, Instruction, § 7. 36 Moritz, Staatsverfassung (wie Anm. 1), S. 29 § 16 „ ... dass es den rechtsuchenden Partheyen frey stehet, ihre Klagen bey einem derselben (Bürgermeister d.V.), nach eigenem Belieben vorzubringen ...". ISG Ffm, Eid- und Instruktionsbücher Nr. 14, Instruction, § 1 1 . 37 ISG Ffm, Eid- und Instruktionsbücher Nr. 14, Instruction, § 14. 38 ISG Ffm, Eid- und Instruktionsbücher Nr. 14, Instruction, § 68. 33
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entschieden als solches und legten im Bedarfsfall auch Arreste und Executionen an. Es ist davon auszugehen, daß das Publikum die Bürgermeister Audienzen auch zuvor schon als „seine" Gerichtsinstanz angenommen und begriffen hatte, wie es sie für die eigenen Zwecke nutzen konnte. Die Bürgermeister Audienzen boten sich an als eine leicht erreichbare Anlaufstelle für das sein Recht suchende Publikum, das sich nicht sofort an eines der Obergerichte wenden wollte. Auch nahmen die Bürgermeister Audienzen alle Klagen, die vor sie gebracht wurden, an, eine Tatsache, die bereits der Zeitgenosse Orth beklagte.39 Das Prozedere vor den Bürgermeister Audienzen scheint auch ohne in spezifischer Ordnung zusammengefaßt, hinlänglich bekannt gewesen zu sein. Obwohl die vornehmste Aufgabe der Bürgermeister Audienzen die Schlichtung von Auseinandersetzungen war, erfolgte der Ablauf nach dem Vorbild der Obergerichte. Manche Parteien setzten dann auch alle im Prozedere der Obergerichte praktizierten Gepflogenheiten in ihren Auseinandersetzungen vor den Bürgermeister Audienzen um.40 Wollte eine Person eine Klage vorbringen, hatte sie die Möglichkeit diese mündlich direkt und persönlich in der Audienz vorzutragen. Klang das Anliegen plausibel und wünschte es die klagende Partei, ließ der Bürgermeister die gegnerische Partei in die Audienz bestellen, damit sie die Möglichkeit hatte, ihre Seite der Angelegenheit darzustellen. Kam die gegnerische Person zum bestellten Termin und trug ihre Version der Angelegenheit vor, dann erteilte der Bürgermeister einen Bescheid. Ein so reibungsloser Verlauf kam jedoch äußerst selten vor. Einer „Citation", der Vorladung vor die Bürgermeister Audienzen, überbracht durch den „Obristrichter"41, folgte die gegnerische Partei meist nicht pünktlich, häufig auch überhaupt nicht. Es kam sogar sehr oft vor, daß es mehrerer Citationen bedurfte bis sich der Betreffende dann endlich in der Audienz einfand. Folgte ein Beklagter der Citation der Bürgermeister nicht oder nicht
Orth, Anmerckungen (wie Anm. 5), S. 413. Zum Prozedere vor Gericht, siehe: Erneuerte Reformation, LI. Titul, Vom Gerichtlichen Proceß, S. 85. Eine Klage auch bei den Bürgermeister Audienzen verursachte Kosten. Diese erweiterten sich je mehr und je häufiger das Gericht in Anspruch genommen und das vor den Obergerichten übliche Gerichtsprozedere von den Parteien eingesetzt wurde. Die Höhe der Kosten, die eine Klage vor den Bürgermeister Audienzen verursachte, differierte von Fall zu Fall und war vermutlich nicht unbeträchtlich. 41 Der Obristrichter oder Oberste Richter ist der Amtsvertreter der Bürgermeister etwa bei der Übergabe von Wechselprotesten oder gerichtlich angeordneten Executionen. Außerdem obligt ihm eine eigene Gerichtsbarkeit „in den nicht viel bedeutende und geringe Leute betreffenden Streitigkeiten". Auch die Bürgermeister können geringe Fälle an ihn verweisen. Ohne obrigkeitliches Wissen kann er keine Executionen durchführen. Siehe auch Moritz, Staatsverfassung (wie Anm. 1), IV. Abschnitt „Staatseinrichtungen", S. 32. Ausführlich über die Zuständigkeiten des Obrist Richters, Orth, Anmerckungen (wie Anm. 5), Dritte Fortsetzung, S. 795. 39
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pünktlich, mußte er offenbar nicht mit ernsten Konsequenzen durch die Obrigkeit rechnen. Es lag beim Kläger, ob dieser erneut vor der Bürgermeister Audienz erschien und sein Anliegen weiter trieb in dem er erneut um Citation des Gegners bat. Diese Prozedur konnte sich mehrfach wiederholen. Der Beklagte wurde jedes Mal wieder aufgefordert zu einem erneut festgelegten Termin zu erscheinen. Insbesondere in Wechsel- und Schuldsachen, folgte mit der dritten Ladung die Androhung eines Strafgeldes bei Ausbleiben, das sich mit jeder weiteren Ladung steigerte. In wie weit die später erschienenen mehrfach Säumigen dem Strafgeld verfielen, bleibt unklar. In der Mehrzahl der übrigen Fälle scheinen die Bürgermeister jedoch keinen Zwang auf die Beklagten hinsichtlich ihres Erscheinens ausgeübt zu haben. Waren aber Kläger und Beklagter einmal erschienen und hatten sich willig geäußert, erließ der Bürgermeister einen Bescheid, mit dem er die Parteien zu einem gütlichen Vergleich aufforderte, mit ihnen Zahlungsmodi festlegte oder ihnen half ihren Zwist beizulegen. In wie weit die Parteien dann diese Vereinbarungen einhielten, kontrollierten die Bürgermeister nicht. Wenn sich eine Partei nicht an den bürgermeisterlichen Bescheid hielt, sprach gewöhnlich die gegnerische Partei erneut in den Audienzen vor und forderte die säumige Partei obrigkeitlich zur Einhaltung des Beschlusses zu ermahnen. Kläger oder Beklagte ließen sich oftmals vor den Audienzen durch von ihnen bevollmächtigte Notare anwaltlich vertreten. Mit diesem Akt wollten die Betreffenden ihrer Sache offensichtlich Nachdruck verleihen. Es liegt nahe, daß die Praxis, Notare in die Audienzen zu entsenden, aufgekommen ist, als die Bürgermeister allein als Schlichter wirkten und die vorgetragenen Angelegenheiten nicht protokolliert wurden, was für die klagende Partei hinreichendes Zeugnis für ihren zu verteidigenden Rechtsanspruch gewesen wäre. Die Entsendung eines Notars befand Orth als eine unnötige Maßnahme, denn nach seiner Meinung hatte die Notare nichts in den Audienzen zu suchen, es würden durch die Notare lediglich „die meisten sachen ins weite hinaus gespielet ... auch die parteien in größere Kosten gezogen werden"42. Wenn ein Beschuldigter einen Notar, einen Kompagnon, einen Verwandten oder sogar die Ehefrau als Vertretung an seiner statt vorschickte, dann tat er das unter Umständen um dem Termin vor der Audienz auszuweichen. In vielen Fällen handelte es sich dabei tatsächlich um eine Taktik der Verzögerung der an den Betreffenden gestellten Ansprüche. Denn meist konnten oder wollten die vorgeschickten Personen, insbesondere die Ehefrau, keine genauen Angaben zu den Geschäften des Beklagten machen. Und auch ein Notar konnte nur so viel vor der Audienz vortragen, wie er zuvor von seinem Mandanten erfahren hatte, und das stellte sich oft als zu wenig heraus. Eine andere Möglichkeit der Verzögerung war es, auf eine Klage mit einer schriftlichen Stellungnahme oder sogar Gegenklage zu reagieren. Auch dies war ein häufig 42
Orth, Anmerckungen (wie Anm. 5), S. 413.
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eingesetztes probates Mittel, um die Angelegenheit in die Länge zu ziehen und die eigenen Interessen weiterzuverfolgen - insbesondere, wenn es sich um Schuldeinforderungen handelte. 7. Verhandlungsaufkommen und -beispiele vor den Audienzen des Jüngeren Bürgermeisters Vermutet man eine zögerliche Annahme der Neuerungen vom Januar 1726, so geht vielmehr das Gegenteil bereits aus den ersten Protokollbänden beider Audienzen hervor. Das Publikum strömte geradezu in die Audienzen. Am ersten Sitzungstag mit Beisitzern und Schreibern verhandelte der Ältere Bürgermeister in seiner erst am Nachmittag beginnenden Sitzung sechs Klagen43, der Jüngere Bürgermeister, der tags zuvor schon am Vormittag mit seinen Sitzungen begonnen hatte, setzte sich mit zehn Klagen am Vormittag und sieben am Nachmittag auseinander.44 Schon der erste protokollierte Tag macht ferner deutlich, daß die Bürgermeister Audienzen tatsächlich von allen in Frankfurt vertretenen Ständen und Religionen genauso aber auch von Auswärtigen, die einen Händel mit einem Frankfurter hatten, frequentiert wurden. So klagte am ersten Tag der Protokollierung etwa ein Mann aus Oberrode, daß ihm ein Handelsmann aus der Friedberger Gasse 10 fl. aus einem Handelsgeschäft mit Tabak schuldig geblieben sei. Ein Frankfurter Jude bat um die Verabfolgung von in der Audienz durch einen Mann aus Straßburg deponierten Strafgeldern, die ihm per Schöffendekret zugesprochen worden waren. Ein anderer Frankfurter Jude klagte gegen einen dritten Frankfurter Juden wegen einer Wechselschuld in Höhe von 1 000 fl. Ein Advokat beschwerte sich, daß seine Mandantin ihre schuldige Gebühr nicht entrichtet habe. Ein Schneidermeister zeigte an, daß ihm ein Gärtner aus Sachsenhausen 65 fl. schuldig geblieben sei. In den Fällen wo es nötig war, ließ der Jüngere Bürgermeister die beklagte Partei schon für den Nachmittag einbestellen. Nur einer davon erschien, wie es ihm anbefohlen worden war.45 Mangels Quellen kann über das Aufkommen der Angelegenheiten vor dem Jüngeren Bürgermeister in der Zeit vor 1726 keine Aussage gemacht werden. Allerdings wird mit Einsetzen der Protokollierung schnell deutlich, daß die Anzahl der täglich einlaufenden Klagen eher anstieg als zurückging. Auch der Zeitgenosse Orth wies bereits auf die Prozeßsüchtigkeit des Publikums und die sich vor den Audienzen häufenden Fälle hin.46 Als Beispiel Jahr sei hier das Jahr 1739 herangezogen.47 In diesem Jahr kamen 1156 Angelegenheiten vor den Jüngeren Bürgermeister. Es wurden 2 800 Seiten Protokoll, in 5 Foliobän-
ISG Ffm, Ältere Bürgermeister Audienzen, Protokollbuch 1726/1727. ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbuch 1726/1727. 45 ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbuch 1726/1727, S. 1-8. 46 Orth, Anmerckungen (wie Anm. 5), S. 413f., S. 419f. 47 In diesem Jahr gab es keine äußeren Gründe für ein vermehrtes Aufkommen von Klagen wie sie etwa Krieg, Einquartierungen oder politische Ereignisse größerer Art mit sich gebracht hätten.
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den gebunden, produziert. Hinzu kamen 1555 Beilagen zu den vorgetragenen Angelegenheiten.48 Für alle Jahrgänge gleichermaßen und so auch für das Jahr 1739 gilt, daß manche Streitfälle schnell zu einem Ende gebracht werden konnten, manche sich auch über Jahre hinaus hinzogen und manche im Sande verliefen. Neben den unzähligen Klagen, die, nachdem sie einmal in der Audienz vorgebracht waren, von den Parteien nicht weiter verfolgt oder gleich mit einem Entscheid des Bürgermeisters beendet wurden, gab es auch Angelegenheiten, die über Jahre mitgeschleppt wurden. Nicht immer war die Langläufigkeit dieser Angelegenheiten gleich für den jeweiligen Bürgermeister wahrnehmbar. Lediglich bei solchen Fällen, bei denen es zu Beschlagnahmung oder freiwilliger Einlieferung von Streitgegenständen von Seiten der Parteien kam, wurde die Langwierigkeit auch direkt für die Bürgermeister ersichtlich. Zu ihrem Amtsantritt jedes Jahr erhielten die neuen Bürgermeister eine Liste mit Angelegenheiten, in denen sie als Verwalter von Geldern oder eingelieferten Wertsachen bis zum endgültigen Entscheid der Angelegenheit betraut waren. So erhielt am 1. Januar 1739 der nunmehrige Jüngere Bürgermeister Friedrich Maximilian von Lersner aus den Händen seines Vorgängers von Bienenthal eine solche Liste mit 18 Positionen. Unter seiner Verwaltung lagen jetzt diverse Gelder, ein silberner Becher, „ein Kästgen mit Ohrbucklen", ein „Original Wechselbrief" und ein „Konvolut Scripturen". Am Ende seiner Amtszeit mit Ablauf des Jahres 1739 hatten sich nur wenige der Angelegenheiten vorwärts bewegt, so daß er seinem Nachfolger von Klettenberg eine Liste mit 15 unerledigten Sachen übergeben mußte. Neueinlieferungen hatte es im Jahr 1739 allerdings nicht gegeben.49 Für die Langwierigkeit mancher Fälle macht der Zeitgenosse Orth die Bürgermeister selbst aber auch die Notarien verantwortlich. „... seit geraumen jaren und da alle sachen von den Bürgermeistern angenommen und bei ihren verhören gar weitläufig abgehandelt werden, ... ohne zweifei durch mit angebung der notarien, ... fast alle händel, sie sein noch so verworren, schwer und wigtig, dahin gebracht werden ... auch öfters geschiehet, dass nicht nur die sachen in das weite hinaus gespielet werden, und man davon nicht so bald das ende sehen kann ...". Ferner schreibt er, „so ist es, ... dahin gediehen, dass auch ebengedachte notarien alle processliche Weitläufigkeit, bei den bürgermeisterverhören, mit in gang gebracht haben, indem sie nicht nur lange und die sache selbst öfters verwirrende mündliche vorträge und recesse zu halten ... die sache also weitläufig zu führen pflegen"50. Die Klagen, die vor die Bürgermeister Audienzen gebracht wurden, spiegeln alle Facetten des Frankfurter Alltagslebens wieder. Diese Quellen erzählen ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, Anlagenkartons 1739. 4 9 ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Designationes, unverzeichnet. 50 Orth, Anmerckungen (wie Arun. 5), S. 413, S. 419. 48
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vom alltäglichen Umgang zwischen Nachbarn, Geschäftsleuten und anderen Konstellationen, geben Gebräuche und Handlungsweisen wieder und erzählen nicht zu letzt auch von dem Verhältnis, das die christliche Bevölkerung zu den in der Reichsstadt lebenden Juden pflegte. Auch wenn es sich ,nur' um die strittigen Angelegenheiten handelt, so ist dennoch viel vom praktischen Leben in Frankfurt im 18. Jahrhundert zu erfahren. Da hier lediglich ein kleiner Ausschnitt aus den vielfältigen Klagsachen vor den Audienzen des Jüngeren Bürgermeisters präsentiert werden kann, soll an dieser Stelle eine Auswahl an in der Sache besonders häutig vorkommenden Fällen, die gleichzeitig die verschiedenen oben beschrieben Verlaufsmuster zeigen, aufgelistet werden. Die präsentierten Fälle geben gleichzeitig einen Einblick in die alltägliche Praxis des Gerichts im Umgang mit den verschiedenen Ständen und Religionen angehörigen Klägern und Beklagten. 8. Lohneinforderung Eine Angelegenheit mit dem für alle Beteiligten bestmöglichen Verlauf vor der Audienz des Jüngeren Bürgermeisters wurde in einer Sitzung am 7. Januar 1739 vorgetragen. Erschienen war Anna Elisabeth Klein, Ehefrau des Kutschers des Grafen von Wiermont, Ernst Klein, und „brachte klagend an, das sie zu dem gewesenen aber gestorbenen Oberzöllner Umffenbach modo dessen hinterlassener erben, annoch 19fl 18xr als liedlohn zu fordern wolle also den Umffenbachischen söhn und die beide töchertmänner Wackerwald und Johann Jost Engel dazu anhalten". Mit der Klägerin waren offenbar auch zwei der Beklagten in die Audienz des Jüngeren Bürgermeiters gekommen. Jacob Wackerwald und Anna Maria Engel, die Ehefrau von Johann Jost Engel, „gestunden den eingeklagten lohn, worauf sie Engelin 3 fl. 51 xr. mit Fleisch abgetragen, und was den Rest anbelanget davon wolle Wackerwald in 14 tagen seinen 3 theil und sie Engelin ebenmäßig dasjenige was ihr noch an ihrem dritten theil Antheil zu geben gebühret an Klägerin zu bezahlen, Was aber ihren ... Bruder und Schwager Johann Phillip Umpfenbach als den 3 Erben anbeträfe, für solchen könnten sie anjetzo nicht zahlen. Doch wollen sie sorge tragen, dass klägerin auch dessen antheil wozu er Wackerwald lieber die hälfte zu beitragen wolle, bekomme." Sie baten die Klägerin ihr Angebot zu akzeptieren. Die Kleinin nahm das von Wackerwald und Engelin „gethane Erbithen an", wollte „jedoch verhoffen, dass ihr auch zu dem Überrest verholfen würde." Der Jüngere Bürgermeister beließ es bei diesem Versprechen der beklagten Seite, erinnerte diese jedoch, „ihrem versprechen gehörig nachzuhelfen"51. Der Verlauf dieser Angelegenheit kann als ideal für alle Beteiligten gewertet werden. Nicht nur waren alle Beteiligten gleich persönlich anwesend, es bedurfte also keiner zeitraubenden Citationen, sondern, es konnte auch sofort eine Einigung zwischen den Parteien erzielt werden, so daß die Angelegenheit
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ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 52f.
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in einer Sitzung erledigt war. Die Beteiligten hielten sich offenbar an ihre Vereinbarung, denn es kam zu keiner weiteren Vorsprache durch die Klägerin. Auch verheirateten Frauen war es ohne ihre Ehemänner möglich, in den Audienzen ihre Rechte suchen und vertreten zu können. 9. Mietangelegenheiten Am Vormittag des 9. Januar 1739, einem Freitag, erschien die Witwe Margarete Elisabeth Seufriedin in der Audienz des Jüngeren Bürgermeisters. Sie brachte klagend vor, daß ihre beiden Mieter ihr noch immer den verflossenen Hauszins schuldig seien. Der eine, Christian Luther, Schumacher, schulde ihr noch 7 fl., der andere, Johannes Schub, noch 9 fl. Auch im vorigen Jahr hätte sie schon Klage gegen die beiden erhoben. Ihnen sei befohlen worden, ihre Schulden zu begleichen, was die beiden aber noch immer nicht erledigt hätten. Weil sie „eine Wittib sei, welche dieses Geld gar hoch bedörfe", bat sie die „morose Debitores durch obrigkeitliche Zwangsmittel" zur Zahlung anzuhalten. Die beiden wurden auf Montag in die Audienz bestellt.52 Die beiden Beklagten erschienen jedoch nicht. Allerdings erschien auch die Seufriedin kein weiteres Mal. Möglich ist es, daß die Klage, wie etliche andere auch, nur vorgebracht wurde, um der Forderung gegenüber dem Schuldner Nachdruck zu verleihen und sich seiner Rechte zu vergewissern. Jedenfalls ist die hier dargelegte Angelegenheit unter die zahllosen Klagen einzureihen, die nur einmal vor den Bürgermeister Audienzen vorgetragen wurden, um dann aber für den heutigen Betrachter nicht mehr nachvollziehbar zu verlaufen. Am 12. Januar 1739, einem Montag vormittag, erschien der Quartierunteroffizier Gottlieb Wolff im Namen der verwitweten Frau Anna Salome von Lersner und zeigte an, „dass der in ihrem haus in der Kuh-Gaß wohnende Kutscher Conradt Reitz sowohl wegen übler Haushaltung als auch durch Gefährlichen gebrauch des feuers, allerley besorgliche Confusion ... bishero angefangen ..., so dass auch die nachbarschaft daselbst deswegen bey ihr Klage erhoben". Auch habe der benannte Kutscher „den veraccordierten hauß-Zins versprochenermassen nicht Voraus bezahlen wollen". Aus diesen Umständen habe Frau von Lersner ihn [Wolff] ausweislich bevollmächtigt „... dahin gehorsamst ansuchung zu tun den Reitz aus der Wohnung delogieren zu lassen, weilen er bisher in Güte sich hierzu nicht verstehen wollen"53. Ob der Kutscher in die Audienz bestellt wurde, geht nicht konkret aus dem Protokoll hervor, ist allerdings zu vermuten54, in der Audienz erschienen ist er jedenfalls nicht. Knapp sechs Wochen später, am Mittwoch den 25. Februar, erschien der Notar Weidinger als anwaltlicher Beistand für Johann Carl von Lersner und dessen Mutter. Auch er „bathe den in ihrem (dem Lersnerischen, d.V.) Haus wohnenISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 61. ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 80f. 54 ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 81. „Cit" als Abkürzung von Citation, allerdings ohne nähere Erläuterung. 52 53
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den aber übel sich aufführenden Kutscher Conrad Reitz umb so mehr aus demselben zu delogieren als er es in güte bis dahero nicht effectuiern können anderenteils den schuldigen hauszins blos einzig und allein nur damit er denselben einmal loswerden möge, völlig erlassen wolle". Jetzt erließ der Jüngere Bürgermeister einen klaren Bescheid. Der Beklagte Reiz soll „zwischen hier und künftigen Samstag der von Lersnerischen behausung zu räumen schuldig sein oder in dessen entstehung zu gewärtigen haben dass man ihm ... exmittieren werde". Dies wurde dem Kutscher durch den Oberstrichter Emmel mitgeteilt.55 Die schnelle Entscheidungsfindung des Jüngeren Bürgermeisters beruhte in diesem Fall vermutlich auf der Tatsache, daß es sich auf der Klägerseite um Mitglieder der Familie von Lersner, einer einflußreichen Familie handelte. Der Jüngere Bürgermeister war vermutlich sogar verwandt mit der Klägerin.56 Die obige Angelegenheit war nicht die einzige, die die Witwe von Lersner im Jahr 1739 vor der Audienz führte. Sie besaß neben ihrem Haus in der KuhGasse, in dem sie vermutlich nicht selbst wohnte, offenbar weiteres Vermögen, das sie durch Vermietung und Verpachtung sowie durch Geldleihe gegen Zinsen vermehrte. Dies geht aus zwei weiteren vor dem Jüngeren Bürgermeister anhängigen Angelegenheiten hervor.57 10. Schuld- und Wechselsachen Die Witwe Lersner besaß ein Ackergrundstück, das sie verpachtet hatte. Der Pächter, Nicolaus Winter, war die Entrichtung der Pacht für dieses Grundstück schuldig geblieben.58 Da die Angelegenheit nur zwei Mal in der Audienz vorgetragen wurde, ist anzunehmen, daß die Witwe von Lersner mit ihrer Klage vor dem Jüngeren Bürgermeister lediglich ihre Rechte and der Zahlung der Pacht unterstreichen wollte. Vermutlich wird ihr der Pachtschuldner die schuldige Summe so bald er konnte bezahlt haben. Neben der beruflichen Betätigung geben die Protokolle oftmals auch einen Einblick in die Vermögenslage der Beteiligten. Der folgende Fall zog sich deutlich länger hin als die obige Angelegenheit und stellt damit eher die Regel für den Ablauf von Schuldforderungen dar. Besonders oft wurden Klagen gegen die Hinterbliebenen von verstorbenen Schuldnern vor die Bürgermeister Audienzen gebracht. Klagen dieser Art kamen zwischen Personen aller Stände, sogar Auswärtigen und auch zwischen Juden und Nichtjuden vor. Die folgende Klage ist in verschiedener Hinsicht aufschlußreich. Sie beleuchtet einerseits die oben dargelegten Möglichkeiten des Verhaltens vor den Audienzen andererseits zeigt sie, wie alle Frankfurter, einschließlich der jüdischen Frankfurter ihre Interessen selbständig vertreten
ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 527. Der Jüngere Bürgermeister 1739 war Friedrich Maximilian von Lersner. 57 ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 80, S. 488, S. 527, S. 553, S. 591, S. 662, S. 1171, S. 1193. 58 ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 591 und S. 662.
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konnten. Sie beleuchtet aber auch, wie jüdische Schuldner hart um ihre Rechte kämpfen mußten. Am Mittwochvormittag, den 24. Juni 1739 erschien der Frankfurter Stättigkeitsjude Emanuel Moses Speyer, für sich und im Namen seines Mitvormundes Moyses Herz für die Kinder des verstorbenen Callmann Hertz. Er bat um Citation des Kaufmanns Krug, als Vormund für die Kinder des verstorbenen Metzgers Krug und dessen Witwe. Es ging um eine aus einem Wechsel restierende Schuld in Höhe von 16 fl., zu deren Bezahlung „samt Interessen" die Beklagten aufgefordert werden sollten. Dazu reichte er eine Rechnung ein. Diese Rechnung beinhaltete zwei Positionen. Die erste verzeichnete die Schulden samt Zinsen „nach Reichsüblichen Interessen zu 5 Prozent gerechnet", die sich auf 16 rthl. 82 xr. beliefen, die zweite Position war „nach der Frankfurter Judenstättigkeit zu 10 Prozent gerechnet" und machte 22 rthl. 84 xr. aus. Der gegnerische Kaufmann Krug wurde auf Montag früh 9 Uhr einbestellt.59 Auf die Citation hin erschien Kaufmann Peter Krug pünktlich am Montagvormittag, den 29. Juni, in der Audienz des Jüngeren Bürgermeisters. Er befand sich in Begleitung des Konrad Engelhardt. Beide traten auf „als Vormünder von weyl. Joh. Adam Krugs nachgelassener Tochter [Elisabetha], und zeigten auf die = von dem Juden Emanuel Moses Speyer als Vormündern über weyl. Callman Hertzens Kinder gegen gedachte Ihre Pupillen und übrige Krugische Kinder angebrachte = und ihnen vorgelesene Klage gehorsamst an, dass sie bis dato noch nicht das Inventarium [erhalten]". Aus diesem Grunde sollte dem „klagenden Juden" auferlegt werden, sich zu gedulden, denn erst mit dem Inventar würde sich zeigen, ob und was vorhanden ist, und ob die Schulden, bezahlet werden können oder nicht.60 Offenbar war auch Speyer anwesend, als Krug und Engelhardt die Lage vortrugen, denn weder reagiert das Gericht mit einer Mitteilung an Speyer noch erscheint dieser erneut in der Audienz. Drei Wochen später, am 17 Juli, einem Freitag nachmittag, erschien Vormund Peter Krug und zeigte an daß er zwar das Inventar von der Gerichtskanzlei empfangen habe, es aber dem „... Herrn Dr. Büttner, als theilungs=beystandt wegen des abwesenden Krugischen Sohns", zugestellt hätte, der sich um alles weitere kümmere. Er, Peter Krug, habe nun weder Geld noch sonst etwas in den Händen womit der Jude „bezahlet werden könnte; so bäthe er gehorsamst klagenden Juden so lange zur geduldt zu verweisen, bis die in dem Inventario enthaltenen effecten, an den meistbiethenden verkauftet worden und er solchergestalt geld in Händen bekommen, da sich ergeben und zeigen würde wie viel einem jeden von denen Creditoren pro rata bezahlet werden könne."61 Gleich am Montagnachmittag, den 20. Juli, erschien Emanuel Moses Speyer, als Vormund der Kinder von Callman Hertz und reagierte auf die von Krug
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Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 1420. ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 1457f. 61 ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 1602f. 60
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vorgetragene Anzeige. Er drängte darauf, daß bevor die Krugischen Kinder etwas erben könnten, die Schulden bezahlt werden müßten, weshalb er darum bat, „die in dem Inventario enthaltenen Effecten, durch die geschwohrenen Ausruffer verganten = und das daraus erlösende Geld, so viel nämlich zu seiner Pupillen Anforderung nöthig, Ihme Vormündern zukommen zu lassen". Schließlich hätten seine Mündel weder mit dem abwesenden Krugischen Sohn, noch dessen „Advocato oder Theylungs=beystand", Herrn Dr. Büttner, etwas zu tun gehabt. Aus diesem Grund hätten Speyer und seine Mündel die „geringste Notiz nicht zu nehmen ... von demjenigen was er [Büttner] etwann weither thun oder verrichten solle"62. Eine Woche später, am Vormittag des 27. Juli, erschien Peter Krug erneut „und zeigte duplicando an", daß der Teilungsbeistand Dr. Büttner in der inzwischen vergangenen Woche bei Rat und Schöffen vorgesprochen habe und „um die Verganthung derer in dem Inventario enthaltenen Sachen gebethen hätte." Peter Krug seinerseits bat nun den „Kläger entweder in so lange bis diesfalls Verordnung ergangen, zur geduldt" oder aber mit seinem Gesuch an die Herrn Schultheiß und Schöffen zu verweisen. Zehn Tage später, am 5. August wurden die beteiligten Parteien über folgenden Entscheid des Jüngeren Bürgermeisters informiert: Der Kläger solle sich noch solange gedulden bis Schultheiss und Schöffen die Verganthung der „Krugischen Effecten" erlauben und diese dann tatsächlich durchgeführt würde. Dann sollten die „Krugische Vormünder gehalten seyn ..., von dem erlößenden geld 16 rth. 82 xr. bis auf weitere Verordnung in die Audienz zu lieffern"63. Während Speyer weiter darauf wartete, daß Krug das geschuldete Geld aus dem Erlös des versteigerten Besitzes in die Audienz einliefern würde, lies sich die Gegenseite Zeit. Speyer erschien schließlich erneut am 17. August und zeigte beschwerend an, „dass beklagte Krugische Vormünder bis diese gegenwärtige Stunde bey ... Schultheis und Schöffen noch nicht eingekommen seyen ... auch den ... bescheidt nicht befolget" Jetzt bat er „dieselbe anzuweisen, dass sie seine Pupillen mit 16 rth 82 xr. ohne weitere Fristgestaltung umbso mehr klaglos stellen sollen, als Sie anderen Creditores auch allschon befriediget hätten." Kaufman Krug wurde für den 31. August 9 Uhr morgens in die Audienz bestellt.64 Mit der Citation Krugs endet die Auseinandersetzung zwischen den beiden Vormunden in den Protokollen der Jüngeren Bürgermeister Audienz. Das bedeutet nicht notwendigerweise, daß der Fall beendet war. Es ist gut möglich, daß die Sache bei Schultheiß und Schöffen weiter verhandelt wurde. Genauso vorstellbar ist, daß die Schuld beglichen wurde.
ISG Fftn, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 1616. ISG Firn, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 1656. 64 ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 1811.
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Letzteres entschied oftmals über Wohl und Wehe der hinterlassenen Familie. Meist handelte es sich nämlich nicht nur um einen einzigen Außenstand, um den die Vormünder vor Gericht kämpfen muJßten. Auch die Kinder des verstorbenen Callmann Herz hatten noch weitere Klagen vor dem Jüngeren Bürgermeister zu führen,65 in denen sie durch Emanuel Moses Speyer vertreten wurden. Am Mittwochnachmittag, den 26. August 1739 erschien Speyer vor dem Jüngeren Bürgermeister mit der Einforderung einer weiteren Schuld. Der Metzger Johann Heinrich Weinreich und dessen Ehefrau Anna Barbara hatten sich mit einem Schuldschein vom 15. Juli 1737 in Höhe von 80 fl. verpflichtet, die Summe samt Interessen innerhalb von 3 Monaten zurückzuzahlen. Das war allerdings nicht geschehen. Die Interessen, die Zinsen, vom 15. Juli 1737 bis zum 15. September 1739, also aus 26 Monaten betrugen 8 fl. 20 xr. nach den reichsüblichen Zinsen in Höhe von 5 Prozent und nach der Stättigkeit zu 10 Prozent gerechnet, machten sie einen Betrag von 16 fl. 40 xr. Speyer bat die Obrigkeit, die Weinreichs zur Zahlung zu bewegen. Das Ehepaar wurde einbestellt.66 Die Weinreichs erschienen allerdings nicht. Speyer sprach nochmals vor und bat um deren erneute Citation, die auch erfolgte. Die Weinreichs blieben allerdings auch dieses Mal aus und selbst als sie auf Speyers Bitten eine Woche später unter Androhimg einer Strafe in Höhe von 2 rthl. erneut einbestellt wurden, reagierten sie nicht.67 Am 23. September erschien Speyer wieder vor der Audienz des Jüngeren Bürgermeisters, legte einen Wechselbrief vor und bat um Bezahlving samt Interessen und Kosten. Ausgestellt war der Wechselbrief über 40 fl. Münz und unterschrieben am 3. Februar 1739 von Johann Henrich Weinreich. Weinreich wurde für den 28. September 9 Uhr morgens einbestellt und erschien auch dieses Mal nicht.68 Neun Tage später am Nachmittag des 7. Oktober erschien Notar Städer für die Weinreichischen Eheleute vor der Audienz. Er wandte auf die Klage von Speyer ein, daß die beiden Wechselscheine falsch seien, „... indem der erstere 80 fl. besagendt, nicht mehr als 70 seye den zweyten Wechsel Schein aber belangend à 40 fl. gestünde er zwar ein, es seien Ihme aber solche zweie Wechselscheine nicht vorgelesen worden, sondern hätte nur seinen namen auff ein Billet wie es von ihm Klägern verlanget worden geschrieben wüsste aber von keinem von ihm unterschriebenen Wechsel Scheine mithin seie solches ein offenbarer Dolus und falsum welcher darunter gehandelt worden." Ferner habe er auf diese Schuld „verschiedene jähre hindurch alle Montag 1 fl. Inte[ress]e abgelanget". Das würde er „alle zeit" beschwören können. Was jedoch die 70 fl. und eingestandene 40 fl. anbelange, so wäre es „ihm bei dieser nahrungslosen Zeit zu bezahlen, pur unmöglich, indem die (1.) über 3 bis ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister 67 ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister 68 ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister 65 66
Audienzen, Audienzen, Audienzen, Audienzen,
Index 1739. S.P. Protokollbücher 1739, S. 1906. Protokollbücher 1739, S. 1948, S. 2010. Protokollbücher 1739, S. 2160.
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höchsten 4 hämmel aus mangel des geldes nicht einkaufen und consummieren könnten. Davon müßten sie (2.) zu förderist das herrn geld (3.) die schim zinße bei verbott des handwercks entrichten, zu geschweige wovon zu leben, und sich kümmerlich zu bekleiden Inmaßen sie (4.) in keinen Posten des hauses das geringste mehr suchen könnten, (5.) auch an hausrat oder Mobilien nicht über 10 fl. mehr übrig seie wie bereits der Obristrichter bei gelegenheit der ihm aufgetragenen execution den Augenschein leider eingenommen und aliso zu dieser zeit bei diesen wahren betrübten Umständen nicht 5 fl. zu zahlen imstande seyen." Die beklagten Eheleute baten nun „höchstflehentlich ... klägern ad meliora fortunae tempora, oder bis nach sein Weinrichs vatters todt mit geduldt anzuweisen und zu vertrösten" 69 . Es verging beinahe ein Monat bis zum abermaligen Erscheinen Emanuel Moses Speyer vor der Audienz am 19. Oktober. Er akzeptierte das Schuldeingeständnis von Weinreich über die beiden eingeklagten Wechsel, „contradicionierte aber allem gegentheil. wahrheitswidrigen Einstreuen, und weilen bekl. vorschützete, dass er keine Effecten noch sonstige Mittel zu bezahlen hätte". Nun bat er dem Beklagten auf dessen „gefahr und Kosten, solange mit person a l arrest zu belegen, bis er Ihn völlig klaglos gestellet haben wird". Ferner hoffte er, daß „Ihme und einem geschehenen gesuch um so ehender gratificiret werden würde als es anderen morosen debitaren zum exempel diene, dass sie sich nicht unterstehen sollen, mehr geld aufzuborgen als er im Stand seye zu bezahlen" 70 . Gleich am nächsten Tag erschien Notar Städer für das Ehepaar Weinreich und berichtete, daß in der Woche zuvor ihr Haus „würcklich unter die fahne gekommen seye". Der Jüngere Bürgermeister erließ am 23. Oktober folgenden Bescheid: „Es hat zwar noch zur zeit der gebethene personal= arrest nicht statt, jedoch werden die beklagten Weinreichschen eheleute, nachdem sie die beede ausgestellte Schuldscheine à 80 und à 40 fl. recognociert, nunmehro als erstes angewiesen hierauf alle monath 5 fl. Und zwar solange zu bezahlen bis sie 120 fl. samt denen davon fälligen Zinsen a 5 pro centu gänzlich getilget seyn werden". Sollten sie dieser Anweisung nicht folgen, sollten die Beklagten „jedes Mal auf ihre Kosten durch die Execution zu beobachtung Ihrer Schuldigkeit angehalten werden". Wenn die beklagten Eheleute demnächst in einem separaten Rechtsgang nachwiesen, „dass sie an Klägern alle Montag 1 fl. Interessen bezahlt so ergehet in der Sache weitere rechtliche Verordnung"71. Die Angelegenheit endet in den Protokollen des Jüngeren Bürgermeisters mit diesem Entscheid. Wie sie sich weiter entwickelt hat und ob die Kinder des verstorbenen Callmann Herz zu ihrem Geld gekommen sind, ist nicht zu erfahren. Auch hier ist es möglich, daß die Sache an eine der nächst höheren
ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 2240f. ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 2317f. 71 ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 2328f.
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Instanzen weiter geleitet oder ein außergerichtlicher Vergleich geschlossen wurde. Auch wenn die jeweiligen Angelegenheiten möglicherweise nicht immer befriedigend für die klagenden Parteien ausgegangen sind, so geben Verlauf und auch Umfang der hier präsentierten Fälle verschiedne Fakten wieder. Diese spiegeln das alltägliche Miteinander im Frankfurt des 18. Jahrhundert und vermitteln Informationen, die sich aus anderen Quellen kaum erschließen lassen. Die oben beschriebenen Angelegenheiten um die Außenstände im Nachlaß von Callmann Hertz zeichnen einen Ausschnitt des Mikrokosmos nach, in dem sich der Jude bewegt hatte. Mit diesen Informationen kann auf bestimmte Muster in seiner persönlichen beruflichen Praxis wie auch auf die unter jüdischen und anderen Geldverleihern allgemein üblichen Gepflogenheiten geschlosen werden. Die Schuldner von Callmann Hertz im Jahr 1739 waren alle hochverschuldete Metzger.72 Daraus ergeben sich gleich mehrere Annahmen: 1.) Eine hier nicht näher zu bestimmende Krise im Metzgergewerbe löste erhöhten Kreditbedarf aus. Diese Männer erhielten an anderer Stelle keinen Kredit mehr, so daß sie auf die Dienste eines Juden angewiesen waren. 2.) Die Tatsache, daß Callmann Hertz vornehmlich mit Kreditnehmern aus dem Metzgergewerbe zu tun hatte, legt eine Spezialisierung seinerseits auf einen bestimmten Kundenkreis nahe. Daraus ergibt sich die weitere Frage, ob es möglicherweise im 18. Jahrhundert allgemein üblich war, Kreditgeschäfte nur in einem angestammten Kimdenkreis zu tätigen? Darüber hinaus wird in den beiden oben angeführten von Speyer vor dem Jüngeren Bürgermeister betreuten Fällen etwas Weiteres quasi im Vorbeigehen erhellt, was ansonsten bisher übersehen wurde. Den Frankfurter Juden stand nach ihrer Stättigkeit73 ein deutlich höherer Zinssatz zu als nach Reichsweitem Gebrauch. In den Genuß dieses Zinssatzes scheinen sie aber offensichtlich in strittigen Fällen nicht gekommen zu sein. Ob in Kreditgeschäften, die nicht vor Gericht endeten, der in der Stättigkeit festgeschriebene doppelte Zinssatz genommen wurde, darüber kann nur spekuliert werden. In den vor Gericht verhandelten Fällen wird ihnen entgegen der Stättigkeit der Frankfurter Zinssatz nicht zuerkannt sondern ihnen lediglich die Reichsweit gebräuchlichen Zinsen in Höhe von fünf Prozent zugesprochen. Ein Indiz für eine in den Bürgermeister Audienzen möglicherweise praktizierte Neutralität gegenüber dem Herkommen der Parteien, ist ihre Haltung hin-
Das gilt auch für die beiden anderen Fälle, die 1739 noch vor dem Jüngeren Bürgermeister verhandelt werden. Siehe auch ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Index 1739. 73 Als Stättigkeit wird sowohl die den Frankfurter Juden 1616 von Kaiser Mathias gegebene Ordnung bezeichnet, als auch gleichzeitig der reichsstädtische Schutz, den die Frankfurter Juden genossen. Als Stättigkeitsjude wird derjenige Jude bezeichnet, der den Frankfurter Schutz genießt. 72
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sichtlich der von dem Beklagten Weinreich gemachten beschuldigenden Einwürfe. Die latent judenfeindlichen Anwürfe und Unterstellungen wurden zwar protokolliert, in der Entscheidungsfindung jedoch nicht gegen den Kläger und Gläubiger verwendet. Vielmehr scheinen die Beschuldigungen das Gegenteil bewirkt zu haben, so daß die Entscheidung in diesem Fall zu Gunsten der Kläger ausfiel. 11. Gewährleistungsangelegenheiten Im folgenden Fall trat wieder eine Frau als Klägerin vor Gericht auf, allerdings ließ sie sich durch einen Notar vertreten, vermutlich um ihr Anliegen zu bekräftigen. Auch der Beklagte erschien nicht persönlich, sondern übertrug seine Verteidigung einem Notar. Ahnlich wie in den oben skizzierten Fällen, wird auch in diesem Fall deutlich, wie die Beteiligten die Spielräume, die das „System" bot, nach belieben nutzten. Am Vormittag des 11. Februar sprach der Notar Lang im Namen der Barbara Sickenburgerin74 gegen „den ehemaligen Collectoren der Mayntzischen Juwelen Lotterie", den Handelsmann Johann Peter Bauer vor. Seine Mandantin habe in besagter Lotterie mit dem Los Nr. 21 II 7 5 einen Preis getroffen, welcher einen Ring à 10 rthl. besagte, habe aber anstatt eines guten Ringes, von Beklagtem einen falschen erhalten, welcher von verschiedenen Juwelieren nicht höher als 1 fl. 40 taxiert worden sei. Der Beklagte, so verlangte der Anwalt im Namen seiner Mandantin, sollte nun „gegen Zurücknehmung des falschen Rings, den Werth von ihrem Preis, zu bezahlen, hochobrigkeitl." angehalten werden. Der Jüngere Bürgermeister bestellte den Beklagten auf den nächsten Tag um 9 Uhr ein.76 Erst am Freitagnachmittag erschien Notar Kalkbrenner im Namen Johann Peter Bauers. Er ließ sich auf die Klage der Sickenburgerin vernehmen und erklärte, daß sein Mandant ihr gegen „Retradierung eines Mayntz. Lotterie Billets" mit der Nr. 2911 einen Ring mit einem Topas, der „ad 15 fl. aestimieret, mit dem Petschaft so wie es von Mayntz Ihme gesandt worden", zugestellt habe. Sein Mandant sei lediglich Kommissionär in dieser Sache und bat „zu dringende Klägerin von hier ab= und an die Herren Directores der Chur Mayntz Lotterie zu verweisen." Ein Kommentar oder Entscheid durch den Jüngeren Bürgermeister erfolgte nicht.77 Fast ein ganzer Monat verging bis sich die Klägerin nochmals vor der Audienz des Jüngeren Bürgermeisters einfand. Dieses Mal, am Vormittag des 6. März, ließ sie sich durch einen anderen An-
74 In den Protokollen wird der Nachname der Barbara Sickenburgerin auch als Sinckenburgerin oder Senckenbergerin notiert. 75 Die Losnummer, die von der Klägerin angegeben wurde ist entweder falsch oder vom Protokollisten falsch aufgenommen worden. Die von der Gegenseite angegebene Losnummer scheint die richtige zu sein, denn es wird darauf kein Einspruch erhoben. 76 ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 387. 77 ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 425.
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wait vertreten. Notar Pelargus „replizierte" im Namen seiner Mandantin, daß diese sich nur an den Handelsmann Bauer halten wolle, denn dieser habe von ihr „5 Rthl. an guthem geldt" erhalten, weshalb sie auch einen „guthen ring, so die 10 rthl. wert seye" oder das Geld dafür von ihm verlangen könne. Bauer könne ihrer Meinung nach seinen „Regress zu Mayntz oder wo er wolle suchen", sie bittet „ihr die hochobrigkeitl. Hülfe angedeyen zu lassen". Bauer wurde erneut vorgeladen. Er sollte gleich am Montag morgen um 9 Uhr vor der Audienz erscheinen.78 Am Donnerstag, den 12. März, erschien wieder Notar Kalckbrenner für den Handelsmann Bauer vor der Audienz. Er „brachte duplicando" gegen die von der Sickenbergerin angebrachte Klage vor, daß laut gedruckter Spezifikation die Juwelen, die als Preise für die Lotterie vorgesehen waren, durch einen unparteiischen, beim Frankfurter Magistrat vereidigten Juwelier begutachtet und taxiert wurden und sofort Stück für Stück mit dem Cantzley-Insiegel des Mainzer Kurfürsten bedruckt und in das Repositor deponiert wurden. Der besagte Ring „mit einem schönen Topas" sei auf 15 fl. taxiert worden. Als in der „10. Mayntzerischen Lotterie-Liste de dato Freytags 27. Juni 1738 sub Nr. 2911 in der General Specification sub nr. 160 dieser Ring zu 15 fl. aestimieret herausgekommen", habe der Beklagte Bauer der Klägerin den Ring „so wie er mit dem Churfürstlichen Insiegel besiegelt" zugestellt, weswegen er auch keine Verantwortung für den Wert des Ringes übernehmen könne. Die Bürgermeister Audienz befand in dieser Sache, daß der Handelsmann Bauer lediglich als Kommissionär der Direktoren der „Churfürstlich Mayntzische Jubelen Lotterie" anzusehen sei, weshalb er für den Wert der gewonnenen Preise nicht haftbar gemacht werden könne. Auch eine Verwechselung des Rings durch den Beklagten sei auszuschließen, was aus dem an dem Ring befindlichen Petschaft hervorgehe. Der Beklagte wurde daher „von der gegen ihn intendierten Klage hiermit absolvieret" und die Klägerin wurde, „fals sie es dabey zu lassen nicht gemeinet damit an die Directores ermel. Lotterie verwiesen". Diese Entscheidung erhielten die Parteien am 23. März 1739 mitgeteilt.79 12. Fazit Abschließend bleibt festzuhalten, daß nach bisherigen Erkenntnissen die Bürgermeister Audienzen für das Publikum die Möglichkeit darstellten, ohne Berührung mit den Obergerichten, ihre Rechte zu vertreten und eventuell unbequeme Entscheide umsetzen zu müssen. Dabei lag es bei den Parteien selbst, je nach ihren Möglichkeiten Einfluß auf den Verlauf der Angelegenheit nehmen. Offenbar bevorzugte das Publikum die Vermeidung der Obergerichte zu Gunsten der Bürgermeister Audienzen, denn im Verlauf des 18. Jahrhunderts wurden unzählige Fälle vorgebracht, die über die vorgeschriebene Zuständigkeitsgrenze von 25 fl. und später 40 fl. hinaus gingen.
78ISG 79
Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 625f. ISG Ffm, Jüngere Bürgermeister Audienzen, Protokollbücher 1739, S. 685f.
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Ersichtlich wird auch die Entscheidungspraxis der Bürgermeister. Schwierige Angelegenheiten entschieden sie nicht im Beisein der Parteien in den Audienzen sondern Bürgermeister und Beisitzer berieten sich zu einem anderen Zeitpunkt, der Tage, Wochen oder sogar Monate später liegen konnte, womit sich auch der zu erteilende Bescheid an die Parteien verzögerte. Ob dies eine spezielle Taktik darstellte, um den Parteien die Möglichkeit zu geben, sich auch ohne einen obrigkeitlichen Bescheid zu vergleichen, muß dahingestellt bleiben. Fest steht, daß viele Parteien nachdem sie ihre Angelegenheit vor den Bürgermeistern präsentiert hatten, sich tatsächlich verglichen, dies dann aber nicht den Audienzen mitteilten, so daß die Fälle in den Protokollen nicht als abgeschlossen behandelt werden konnten. Dieser Gepflogenheit des Publikums wurde 1764 schließlich eine Ratsverordnung entgegen gesetzt.80 Das Publikum hielt sich allerdings nicht notwendigerweise an diese Verordnung. Die oben wiedergegebenen Angelegenheiten vor dem Jüngeren Bürgermeister geben nur einen kleinen Ausschnitt aus der Vielfalt der vorgetragenen Klagen in den oben benannten Kategorien wieder und dennoch wird deutlich, daß jede Angelegenheit weitere Informationen zu den unterschiedlichsten Themenbereichen wie etwa der Alltagsgeschichte, der Frauengeschichte, der Geschichte der Juden, der Handwerks- und Handwerkergeschichte und weiteren Themen enthält. Diese bisher kaum genutzten Quellen geben in ihrer Serialität Einblick in den Frankfurter Alltag im Verlauf des 18. Jahrhundert. Eine alle Jahrgänge durchlaufende Untersuchung und Auswertung könnte Aufschluß geben, nicht nur über quantifizierende Fragen, wie etwa das Aufkommen von Klagen allgemein oder im besonderen von Wechselklagen oder -protesten, sondern auch über die verschiedensten Frankfurter Milieus, deren Probleme, Sorgen und Gepflogenheiten in Zeiten der Krisen. Und nicht zu Letzt besteht mit dieser seriellen Quelle die Gelegenheit auch möglicherweise durch Gesetze und Verordnungen bewirkte im Verlauf des 18. Jahrhunderts eintretende gesellschaftliche Veränderungen aufzudecken. Ein Projekt, das sich die oben auszugsweise beschriebenen und vorgestellten Quellen und deren Analyse zum Inhalt machte, wäre wünschenswert.
Ratsentscheid vom 10. Oktober 1764, Vergleiche sollen angezeigt werden. Siehe Johann Conradin Bayerbach, Sammlung der Verordnungen der Reichsstadt Frankfurt, Teile 1-11, Frankfurt a.M. 1797-1799, hier S. 1556f. 80
Die Insinuation von Privilegien Hartmut Bock Die Insinuation von Privilegien an Reichskammergericht, Reichshofrat und Kaiserlichem Hoffgericht zu Rottweil, um sie nzue schützen und handt zu haben" 1 1. Einleitung Die Insinuation von Privilegien2 an den Gerichten der Frühen Neuzeit kann abgekürzt als die dauerhafte Öffentlichmachung von Privilegien durch ein spezielles Verfahren verstanden werden. 3 Sie erfüllte im Rechtssystem des Alten Reichs vielfältige Funktionen. Auch wenn nicht jedes Privileg insinuiert wurde und der Umfang der Privilegieninsinuationen bis heute nicht bekannt ist, kann festgestellt werden, daß sie zu den routinemäßig genutzten Standardverfahren gehörte, obgleich sie - außer für Appellationsprivilegien4 - in den Ordnungen der hier vornehmlich zu betrachtenden Gerichte - Reichskammergericht (RKG), Reichshofrat (RHR), Kaiserliches Hofgericht zu Rottweil (KHG) - oder anderen Reichsgesetzen - mit Ausnahme des KHG 5 - nicht direkt verankert gewesen zu sein scheint.6 Im Prozeßfall diente sie den Antragstellern zur Steigerung der Durchsetzungsmöglichkeiten ihrer Rechte, indem sie sicherstellte, daß das betreffende Gericht die strittigen Privilegien im Wortlaut dokumentiert hatte. De facto nutzte man die Insinuation aber auch zur Etablierung und Durchsetzung nicht ganz gefestigter oder gar
Im Rahmen meiner Untersuchungen zur Familiengeschichtsschreibung der Welser (künftig in: „Neunhofer Dialog - Wege der Welser in Politik, Wirtschaft, Gesellschaft und Kultur" [Tagung im Juli 2007]) fiel die große Bedeutung auf, die diese einflußreiche Familie der Insinuation ihrer Privilegien an den höchsten Reichsgerichten beimaß. Die Frankfurter Tagung ermöglichte es, mit Beispielen vornehmlich aus dem Frankfurter Raum über den heute wenig bekannten und nur in Ansätzen erforschten Prozeß der Insinuation ins Gespräch zu kommen sowie einige Klärungen zu versuchen. Die Herausgeber haben mit Kritik, Hinweisen und Fragen hierzu erheblich beigetragen. 2 Zur großen Bedeutung von Privilegien für die Wahrung von Rechtspositionen siehe: Bernhard Diestelkamp, Privilegien in Prozessen vor dem Reichskammergericht, in: Barbara Dölemeyer/Heinz Mohnhaupt, Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 2, Frankfurt 1999, S. 65-83. 3 Der Begriff der Insinuation war allerdings nicht auf die Öffentlichmachung von Privilegien bei Gericht beschränkt. Darüberhinaus gab es an den höchsten Reichsgerichten auch die Insinuation von Gesetzen, d.h. deren Bekanntgabe dort, im Bereich des Privatrechts die Insinuierung von Vergleichen, Verträgen oder Testamenten, um sie dort bestätigen zu lassen, und im gemeinen Prozeßrecht verstand man darunter die Zustellung von Schriftsätzen, insbesondere von Urteilen und der gerichtlichen Ladung an den Beklagten. Hierzu Johann Jakob Moser, Von der Teutschen Justiz-Verfassung, Frankfurt/Leipzig 1774, Bd. 1.2, S. 1137ff. Wolfgang Sellert, Insinuation, in: Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG) II (München 1978), S. 385-387. 4 Privilegium de non appellando: „Vorrecht der deutschen Reichsstände, Gerichte zu unterhalten, gegen deren Urteile keine Berufung (Appellation) vor dem RKG oder dem RHR eingelegt werden konnte". Siehe: Ulrich Eisenhardt, die Rechtswirkungen der in der Goldenen Bulle genannten privilegia de non evocando et appellando, in: ZRG GA 86 (1969), S. 75-96. 5 Siehe Ende von Kap. 2. Für die ältere Zeit vgl. Friedrich Battenberg, Reichshofgericht, in: HRG IV (1990), S. 615-626. 6 So wird beispielsweise in RA 1570 § 70, Deputationsabschied 1600 § 18 sowie Gemeiner Bescheid vom 27.10.1713 festgehalten, daß die Reichsstände ihre Privilegien - gemeint sind immer die Appellationsprivilegien - im Original am RKG einreichen sollen, damit sie dort eingesehen und entsprechend verfahren werden kann. 1
Hartmut Bock auf gefälschter Basis beruhender Privilegien. Obwohl sie eine bedeutsame Rolle im Rechtssystem des Alten Reichs spielte, hat sich die neuere historische Forschung - mit Ausnahme der Insinuation von Appellationsprivilegien7 - nur ansatzweise mit diesem Verfahren beschäftigt. Im Rahmen dieses Beitrages soll die Praxis der Privilegieninsinuation skizziert werden anhand einiger ausgewählter, vorwiegend auf Frankfurt bezogener Beispiele: der Privilegien der Frankfurter Juden und der Juden im Reich 1605, der Druckprivilegien von Büchern mit Insinuation „vor Ort" auf der Frankfurter Messe, die Privilegien Frankfurts selber sowie die Nobilitierung der Welser 1599/1600 bzw. 1622-25. 2. Verfahren und prozeßrechtliche Funktion der Insinuation Die Insinuationsverfahren an RHR und RKG unterschieden sich. Da der RHR seinen Sitz am Kaiserhof hatte, teilte der Kaiser seinem Rat die Erteilung zumindest wichtiger Privilegien8 durch ein Schreiben gleich selbst mit. Darüber hinaus war der RHR anders als das RKG nicht nur oberster Gerichtshof, sondern auch eine kaiserliche Verwaltungsbehörde. Er bestätigte stellvertretend für den Kaiser Privilegien.9 In diesem Fall erscheint die Insinuation lediglich als ein behördenintemer Aktenvorgang 10 . Über das Verfahren der Privilegieninsinuation am RKG gibt uns beispielsweise11 Noe Meurer Auskunft12: Nicht appelliert werden möge am RKG bei Summen bis 300 fl. bezüglich „habende Freyheiten, [... und darüber] so werden solche Freyheyten, da sie änderst [d.h. vorher] dem Cammergericht insinuirt, gehalten. Wie aber Cammerrichtern und Beysitzem die Insinuation zu thun, solches beschicht also, daß Fürsten und Herrn ire Freyheiten in Originali, er-
Kurt Pereis, Die allgemeinen Appellationsprivilegien für Brandenburg-Preußen, in: Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reichs in Mittelalter und Neuzeit, Band 3, Heft 1, Weimar 1908, S. 13ff. Jürgen Weitzel, Der Kampf um die Appellation ans Reichskammergericht (Quellen und Forschungen zur höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = QFHG 4), Köln/Wien 1976, S. 16. Ulrich Eisenhardt, Die kaiserlichen Privilegia de non appellando (QFHG 7), Köln/Wien 1980, S. 59f. 8 Dies geschah jedenfalls für Appellationsprivilegien: Moser, Justiz-Verfassung (wie Aivm. 3), S. 1136. Eisenhardt, Privilegia (wie Anm. 4), S. 59f. Pereis, Appellationsprivilegien (wie Anm. 7), S. 14f. 'Vgl. RHR-Ordnung von 1654, Tit. II § 1. Wolfgang Sellert, Der Reichshofrat, in: Bernhard Diestelkamp (Hg.), Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt (QFHG 29) Köln/Weimar/Wien 1996, S. 20. Ulrich Eisenhardt, Der Reichshofrat als kombiniertes Rechtsprechungs- und Regierungsorgan, in: Jost Hausmann (Hg.), Zur Erhaltung guter Ordnung. Festschrift für Wolfgang Sellert zum 65. Geburtstag, Köln/Weimar/Wien 2000, S. 245ff. Eva Ortlieb, Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637-1657) (QFHG 38), Köln u.a. 2001. Stefan Ehrenpreis, Kaiserliche Gerichtsbarkeit und Konfessionskonflikt. Der Reichhofrat unter Rudolf Π. 1576-1612, Göttingen 2006, S. 77-94. 10 So wurde am RHR übrigens nicht nur die Aktenkundigmachung des Privilegs als Insinuation bezeichnet, sondern auch schon ein Verfahrensstadium früher die Vorlage von Privilegien durch Reichsangehörige zur Bestätigung des Privilegs, Sellert, Insinuation (wie Anm. 3), Ziff. 2. 11 Siehe auch Moser, Justiz-Verfassung (wie Anm. 3), S. 1137ff. Sellert, Insinuation (wie Anm. 3), Ziff. 2. 12 Noe Meurer, Cammergerichts Ordnung und Proceß, Frankfurt a.M. 1567, Fol. 133f. 7
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langen und darauff begem, daß die Richter derselben inen als verkiindt, eyngedenck seyn, und in erkanntnuß der Proceß demselben gemeß halten wollen. Es wirt auch dessen ein Copey von dem Original an der Cammer behalten." Daß dieses abstrakt beschriebene Verfahren in der Rechtspraxis durchgeführt wurde, zeigt das erste anzusprechende Fallbeispiel. Dabei handelt es sich um zwei Einträge aus dem Lehrbuch des RKG-Notars Simon Günther, „Thesaurus practicantium"13. Darin werden die beiden im Jahr 1605 erfolgten Insinuationen der Privilegien der „gemeinen Judischeit in Franckfurt" und der Privilegien der „Judischeit im Heiligen Reich" auf insgesamt 44 Druckseiten ausgebreitet.14 Hieran lassen sich einige Spezifika des Insinuationsverfahrens nachzeichnen. Im ersten Fall handelt es sich um die Insinuation des von Kaiser Rudolf Π. im Jahr 1582 bestätigten Privilegs15 der „gemeinen Judischeit in Franckfurt". In der abgedruckten declaratio der Privilegienurkunde erklärt der Kaiser, daß ihm von den Frankfurter Juden ein Privileg Karls V. aus dem Jahr 1551 „sampt einer declaration und Erleuterung derselben jrer Freyheiten" durch Kaiser Maximilian II. aus dem Jahr 1570 glaubhaft gemacht wurde. Anschließend ist der Wortlaut beider Privilegienurkunden vollständig abgedruckt.16 Darin finden sich u.a. Bestimmungen bezüglich der Einschränkung des Wuchers durch die Juden; andererseits werden sie aber auch in ihren Tätigkeiten ausdrücklich unter kaiserlichen Schutz gestellt. Dabei wird sogar ein Hinweis auf ein Privileg Kaiser Sigismunds aus der ersten Hälfte des 15. Jahrhunderts gegeben, auch weitere Freiheiten werden noch angeführt. Im Anschluß an die Wiedergabe der Privilegienurkunde Maximilians Π. findet sich die nun im Jahr 1582 erklärte Bestätigimg beider Privilegien der „gemeinen Judischeit in Franckfurt" durch Rudolf Π. Am Ende des Eintrags im „Thesaurus practicantium" folgt die Mitteilung der Entscheidimg des RKG, daß der beantragten Insinuation des bestätigten Judenprivilegs stattgegeben wird. Sie stammt vom 15. Januar 1605 und hat den folgenden Wortlaut17: „In Sachen begehrter Insinuation fürbrachter Keyserli13 Simon Günther, Thesaurus practicantium omnibus in imperialis camerae iudicio postulantibus, causiasve agentibus, summè expetendus, Speyer 1620, S. 247-291. Die Separatheit der Privilegien bzw. der Insinuationen derselben spiegelt das vom Rat Frankfurts wahrgenommene partielle Einspruchsrecht bei den jüdischen Privilegien, so in Sachen „Stättigkeit" (Diskussionshinweis Stephan Wendehorst, Leipzig/Wien. Vgl. auch den Beitrag in diesem Band von Andreas Gotzmann, Erfurt, sowie Andreas Gotzmann/Stephan Wendehorst (Hg.), Juden im Recht (Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich, VI), ZHF 39, Berlin 2007). 15 Allgemein zur Funktion der Privilegienbestätigung siehe Dirk Hewig, Kaiserliche Bestätigungen von Stadt- und Landrechten, Augsburg 1969, S. lOOff. 16 Günther, Thesaurus (wie Anm. 13), S. 249-266. 17 Günther, Thesaurus (wie Anm. 13), S. 270. - Judenprivilegien sind schon früher am RKG insinuiert worden, so 1566,1580 und 1599. Vgl. Fugger-Archiv Dillingen, FA 52.7 (Abschrift in FA 7.4.12 1/2) und FA 2.1.2, Fol. 456. Vgl. Doris Pfister (Bearb.)/Peter Fassl (Hg.), Archivführer: Dokumentation zur Geschichte und Kultur der Juden in Schwaben, 1/2, Bezirk Schwaben, Augsburg 1993. Vgl. http://digbib.bibliothek.uni-augsburg.de/1174/1.2_Archivfuehrer.pdf (11.2.2007).
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chen Privilegien, gemeiner Judenscheit zu Franckfurt, den 11. diß [monats Januarii] Gerichtlich beschehen, ist dieselbe doch vorbehaltlich des heiligen Reichs Ober- und Gerechtigkeit, auch männiglichs interesse, unnd einredt, dagegen jederzeit vorzubringen, soviel Recht, hiemit angenommen, darüber auch derogestalt Urkund erkannt, und D. Engelharten [Prokurator der Judenschaft] der collation und restitution originalis halben, sein begehren zugelassen." In dieser gerichtlichen Formel finden sich alle von Meurer beschriebenen Elemente des Insinuationsverfahrens: Die Insinuation erfolgte auf Antrag18 einer Partei, welche die Originalurkunde des Privilegs bei Gericht einzureichen hatte. Das RKG prüfte darauf hin die Begründetheit des Antrages und beschied bejahendenfalls die Durchführung der Insinuation. Dann wurde von der Urkunde in der Kammergerichtskanzlei eine beglaubigte Abschrift angefertigt und diese mit dem Original verglichen („collatio"). Letzteres wurde anschließend wieder an den Antragsteller und Privilegieninhaber zurückgegeben („restitutio originalis"). Die Insinuation von Privilegien am RKG erfolgte in einem nicht streitigen Verfahren. Das Gericht hatte ex officio darüber zu befinden, ob die behauptete Privilegierung glaubhaft war.19 Es mußte sich also von der formalen Ordnungsmäßigkeit der vorgelegten Privilegienurkunde überzeugen. Dem RKG als überregionalem Gericht war es aber bewußt, daß es von Amts wegen nicht alle Momente aufdecken konnte, die über die Richtigkeit eines Privilegs Auskunft gaben. Das entsprach auch nicht der damaligen Auffassung von der prozeßleitenden Funktion eines ordentlichen Gerichts. Der Kammergerichtsprozeß lebte von der Verfahrensführung der Prozeßparteien. Es wurde hauptsächlich über das erkannt, was beantragt, vorgetragen und bewiesen wurde. Die Privilegieninsinuation hingegen fand abseits eines Rechtsstreits unter Beteiligung nur einer Partei - nämlich des Privilegieninhabers - statt. Eine Gegenpartei, die dem Gericht alle Zweifelsgründe an der Echtheit des Privilegs hätte auftragen können, gab es im Insinuationsverfahren grundsätzlich nicht. Demzufolge versah das RKG seine Insinuationsbescheide mit folgendem Hinweis20, der auch in Günthers Thesaurus enthalten ist: Die Insinuation erfolgte „vorbehaltlich des heiligen Reichs Ober- und Gerechtigkeit, auch männiglichs interesse, unnd einredt, dagegen jederzeit vorzubringen, soviel Recht". Dem zufolge wurden Privilegien insinuiert aufgrund der gerichtlichen Augenscheinnahme der Urkunde, die ordnungsgemäß alle formalen Merkmale aufweisen mußte. Kam es zu einem Prozeß, in dem das Privileg streitentscheidend war, dann konnte der Prozeßgegner weiterhin alle Einreden gegen die Echtheit des Privilegs vortragen, die außerhalb der bereits gerichtlich festgestellten formalen Richtigkeit der Privilegienurkunde lagen.
18 Im vorliegenden Beispiel war der Antrag nur kurz zuvor am 11. Januar 1605 gestellt worden. 19 Heinrich Wiggenhorn, Der Reichskammergerichtsprozeß am Ende des Alten Reiches, Diss. Münster 1966, S. 80f. 20 Günther, Thesaurus (wie Anm. 13), S. 270.
Die Insinuation von Privilegien
Allerdings hatte sich mit der Insinuation auch die Beweislast umgekehrt. Ohne Insinuation21 hätte der Prozeßgegner lediglich bestreiten müssen, daß das vom Inhaber behauptete Privileg bestand. Mit der Insinuation war das Privileg gerichtsbekannt geworden und das pauschale Bestreiten war nicht mehr möglich. Nun mußte der Prozeßgegner schlüssige Behauptungen vortragen und beweisen, warum das Privileg trotz des gerichtlichen Erkenntnisses der formalen Ordnungsmäßigkeit der Privilegienurkunde nicht Bestand hatte. Denn das war mit der Insinuation zum Ausdruck gebracht worden. Den standardmäßigen Gebrauch der eben genannten Vorbehaltsklausel belegt auch das zweite von Simon Günthers „Thesaurus practicantium" mitgeteilte Beispiel der Insinuation der Privilegien der „Judischeit im Heiligen Reich". Der Insinuationsbescheid des RKG vom 29. April 1605 hat fast denselben Wortlaut wie der zu den Privilegien der Frankfurter Juden.22 Die Insinuation von Privilegien war ein häufig genutztes Standardverfahren. So gibt es aus dem Frankfurter Raum wie anderswoher eine ganze Reihe an Beispielen von Insinuationen am RKG23 mit der Funktion der Öffentlichmachung erhaltener Privilegien, so hinsichtlich der privilegia de non appellando der Reichsburg Friedberg 1577-158024 oder der Landgrafen von HessenDarmstadt 1607-3625. Genauso ließ die Reichsstadt Frankfurt ihre Appellationsprivilegien bei deren Erweiterung von Streitwert bis 200 fl. im Jahr 1568 auf bis 1 000 fl. 1757 am RKG insinuieren.261713 erfolgte - ebenfalls am RKG - die Insinuierimg des Privilegiums de non evocando von 144227. In Frankfurt spielten auch Insinuationen von Druckprivilegien28 für besonders wichtige Bücher eine Rolle. Diese konnten gleich bei Neuerscheinen vom Gerichtsnotar des RHR „vor Ort", d.h. auf der Frankfurter Messe, vorgenommen Nach der Mitteilung Johann Jakob Mosers nahm das RKG keine Notiz von Privilegien, solange sie nicht insinuiert worden waren, „wann es auch Reichskundig wäre, und durch alle Zeitungen bekannt gemacht würde." Moser, Justiz-Verfassung (wie Anm. 3), S. 1136. Vgl. Pereis, Appellationsprivilegien (wie Anm. 7), S. 13f. Weitzel, Appellation (wie Anm. 7), S. 16. Eisenhardt, Privilegia (wie Anm. 7), S. 59f. 22 Günther, Thesaurus (wie Anm. 13), S. 290f. 23 Vgl. z.B. auch das Hessische Archiv-Dokumentationsund Informations-System HADIS, im Internet: www.hadis.hessen.de (05.07.2004). 24 HStA Darmstadt, Best. Reichskammergericht Nr. Nachweis, 1577 u. 1580. 25 HStA Darmstadt, Best. Reichskammergericht Nr. Nachweis, 1607,1632 u. 1636. 2 6 ISG (= Institut für Stadtgeschichte) Frankfurt a.M., Reichskammergericht Nr. 409. 27 ISG Frankfurt a.M., Reichskammergericht Nr. 411. Inge Kaltwasser (Bearb.), Inventar der Akten des Reichskammergerichts 1495-1806, Frankfurter Bestand. (Inventar der Akten des Reichskammergerichts 27, Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission, Bd. 21) Frankfurt a.M. 2000, Nr. 411: „Insinuation des dem Rat und den Bürgern der Stadt,gemeiniglich' von Kaiser Friedrich 1442 verliehenen Privilegium de non evocando, d.h. der Ladung und Verurteilung Frankfurter Bürger nur durch Frankfurter Gerichte: [...] ,daß niemand von selbigen anderswo dann in Frankfurth vor dem Reichsschultheiß und Schöffen zu Recht und Gericht gefordert oder gezogen werden könne." 28 Hans-Joachim Koppitz, Zur Form der Anträge auf Bewilligung kaiserlicher Druckprivilegien durch den Reichshofrat und zu den Gründen ihrer Ablehnung, in: Barbara Dölemeyer/Heinz Mohnhaupt, Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 2, Frankfurt 1999, S. 347-377. 21
Hartmut Bock werden. Anders als beim RKG erscheint hier die Insinuation in Form von Privilegienerteilung und -öffentlichmachung zugleich. Johann Christoph von Uffenbach führt hierzu aus: „Sed etiam mercatoribus Librorum intimanda sit, weil aber derer viel im Reich seyn, so pflegt man, Unkosten zuersparen, in nächster Franckfurter Meß einen Notarium cum Testibus von Buchläden zu Buchläden herumgehen, und vermittelst Vorzeigimg des Original-Impressorii die Insinuation verfügen zu lassen, wie wol solches nicht, als bey Büchern von Importanz und Pro Majori Cautela zu geschehen pflegt, indeme sonst gnug ist, daß das Privilegium gleich nach dem titul des privilegirten Operis gedruckt werde." 29 Und schließlich hatten Bürgermeister und Rat der Stadt Frankfurt gemäß ihrem oben erwähnten Privileg30 de non evocando kein Interesse daran, daß ihre „burger, underthanen, hindersassen und die inen zu versprechen stehen" vor das KHG zitiert wurden; bei dennoch und immer wieder eintretenden Fällen vor allem bei beklagten Juden 31 aus Frankfurt32 - forderten Bürgermeister und Rat solche regelmäßig vom KHG ab, was sie dort durch entsprechende Insinua
Johann Christoph von Uffenbach, Tractatus singularis et methodicus de excelsissimo Consilio Caesareo-Imperiali Aulico. Vom Kayserl. Reichs-Hoff-Rath. (Seil. DD. Ferdinand. I., Rudolphi II., Matthiae, Ferd. Π. & Ferd. ΙΠ.), Frankfurt a.M. 1700, S. 261: „De Insinuatione Diplomatimi Gratiae: Quoad Insinuationem Diplomatimi, requiritur ea praecipuè in obtentis Privilegiis, praesertim Impressoriis, ita quidem ut non solum supremo Judicio Camerali [d.h. hier: RHR] in Originali insinuanda vel ad minimum Supplicationi pro Processibus adjungenda. / Gail. I. Obs. I. / Sed etiam mercatoribus [... wie oben zitiert,...] werde." Auf der Leipziger Messe galt Entsprechendes: „Die erteilten Privilegien wurden meistens schon auf dem Titelblatt erwähnt, aber auch in vollem Wortlaut den Werken vorgedruckt. Die Bekanntmachung eines verliehenen Privilegs fand in Leipzig durch die sogenannte Insinuation durch Notare in den Geschäftslokalen der Buchhändler statt. Die Insinuation galt als wesentlich für die Wirksamkeit des Privilegs. Gegen Privilegienverletzungen waren eine Bücherkommission in Frankfurt a.M. für die kaiserlichen und eine in Leipzig für die kursächsischen eingesetzt, die im Verwaltungsverfahren gegen die Schuldigen vorgingen." Fritz Juntke, Johann Heinrich Zedler's Grosses Vollständiges Universallexikon: Ein Beitrag zur Geschichte des Nachdruckes in Mitteldeutschland. (Schriften zum Bibliotheks- und Büchereiwesen in Sachsen-Anhalt, Heft 16), Halle 1956, S. 13-32, hier: S. 21. Auch im Internet: www.zedleriana.de/zlitjuntketext.htm (07.01.2006). 30 1564 werden frühere solche von 1349 und 1372 in einer urkundlichen Zusammenfassung seitens Georg Hund von Wenckheim, Komtur des Deutschen Ordens zu Frankfurt, angezogen. (ISG Frankfurt a.M., Bestand Hofgericht Rottweil, 1361-1655, [1 Regalmeter, ohne Repertorium] hier: 1562/64,6. Stück). 31 Ebd., von mir durchgesehen: 1560-1655. „In Bezug auf die Juden existieren zwei Mandate Friedrich ΠΙ. von 1460 und 1465, die unbeschadet entgegenstehender Privilegien das Rottweiler Hofgericht als ihr zuständiges Gericht feststellten." (Mathias Fricke, Obschon gleichwol wir nit eines glaubens sein, ... Josel von Rosheim und die rechtliche Lage der Juden in der Reformationszeit, Univ. Greifswald 1999: http://www.ginguppin.de/homepage/html/literatur/kg/nodel9.html [24.03.2007]). Vgl. Regesten Hauptstaatsarchiv Stuttgart, Β 203, U 22 und U 28: 1460 April 28: Kaiser Friedrich III. gebietet dem Hofgericht Rottweil, ohne ausdrückliche kaiserliche Verfügung die Einwendungen der Juden gegen die Zuständigkeit des Hofgerichts nicht zu beachten. - 1465 April 22: Derselbe verbietet bei Strafe von 40 Mark Gold, die Juden, die dem kaiserlichen Gerichtszwang ohne Mittel unterworfen sind, vom kaiserlichen Hofge29
Die Insinuation von Privilegien tion ihrer Privilegien noch festigen ließen: 1640 fragte die Stadt Ulm an, mit welcher Urkunde die Frankfurter „Ihre habende Kayser- und Königliche Exemptions Privilegia, für frembde Gericht, an dem Kayl. Hoffgericht zu Rothweil, gebürlich haben insinuiren und intimiren lassen", und bat, „wann wir dann in dergleichen werckh auch begriffen", um Kopien; der Frankfurter Rat antwortete zustimmend. 33 Die Insinuation von befreienden Privilegien am KHG ist in der erneuerten, 1610 von Paul Matthias Wehner ausführlich kommentierten Hofgerichtsordnung 34 , festgeschrieben „Wie unnd welcher Gestalt die Abforderungen, Remissiones beschehen soll. [...] Nemblich welcher, es seyen Fürsten, Graffen, Herrn, Stätt35 oder andere Stände [...], für das jetztberührt Unser, und des Reichs Hoffgericht zu Rotweil begnadet, unnd gefreyet seynd, [...] in krafft solcher ihrer Freyheiten davon ziehen unnd abfordern wollen, daß dieselben ihre Freyheiten oder glaublich vidimus davon under eines Römischen Keysers oder Königs, oder deß berührten Hoffgericht zu Rotweil Insigel, daselbst vor Hoffgericht zu zeigen, fürzubringen, unnd zu verhören zulassen schuldig seyn soll, [...]. Es were dann, daß sie solcher ihrer Freyheit oder glaublich besigelt vidimus [...] als obstehet, davon vormals, vor dem berührten Unserm Hoffgericht fürbracht, oder insinuirt, unnd daselbst bey dem Hoffgericht gelassen, oder in das Gerichtsbuch, nach Gewonheit eingeschrieben, unnd verzeichnen lassen hetten, alsdann werden sie dieselben ihre freyheiten, oder vidimus, davon weiter fürzubringen nicht pflichtig." 36 Wehner stellt auch fest, daß die Privilegien hierzu „in glaubwürdiger Form" rieht zu Rottweil abzufordern; nur auf Grund spezieller Privilegien soll eine Ausnahme möglich sein. Vgl. Dokumentation zur Geschichte (wie Anm. 17), S. 1140. 32 Frankfurter Juden, die vor dem KHG beklagt wurden, baten häutig Bürgermeister und Rat, sie von dort „abzufordern" (ISG Frankfurt a.M., Bestand Hofgericht Rottweil, z.B. 1562-64 und 1567). 33 ISG Frankfurt a.M., Bestand Hofgericht Rottweil, 1640. 1644 wurden dann durch die Hofgerichtskanzlei für Ulm „Copia vier kayßl. Antwort- unnd Bevelch Schreiben sambt beylagen, des hayl. Reichs Stat Franckhfurth betreffendt" erstellt und bezahlt. In dem Bestand auch gedruckte Hofgerichtsordnungen bzw. Reichstagsbeschlüsse und Kommentare dazu, wobei zumindest der zweite Fall seitens des KHG an Frankfurt u.a.m. geschickt worden war: Ebd., 1651: Kurtzer Vergriff. Zu Handhab der Rom. Kays. May. etc. Uhralten Kayserlichen Hoffgerichts zu Rottweil, Konstanz 1651; u.a.m.; enthält Bestimmungen ab Ks. Konrad ΙΠ., samt zitiertem Kommentar von P.M. Wehner (s. folgende Fußnote). - Ebd., 1655: Confirmation Kaysers Ferdinandi Tertii Privilegii Kaysers Maximiliani Secundi / Uber dero kayserlich hoffgerichts zu Rottweil Ernewerte Hoffgerichts Ordnung, Rottweil 1655; das Hofgericht ,,insinuiert[e] mit reeipisse" diese Konfirmation auf „gnedigsten befehl" des Kaisers (d.h. hier, s. Einleitung: schickte amtlich mit Hofgerichtsboten und verlangte Empfangsbestätigung) an diverse Reichsstädte (Dinkelsbühl, Nördlingen, Nürnberg, Frankfurt, Heilbronn, Schweinfurt, Eßlingen) sowie an die Kanzlei des Markgrafen zu Ansbach. Dem Anschreiben war je der gedruckte Kalender der KHG-Termine eines Jahres beigelegt. 34 Alte und ernewerte Ordnung und Reformation Der Römischen Keyserlichen Majestät Keyserlichen Hoffgerichts zu Rotweil. Cum Notis et Observationibus C.L. J.C. Pauli Matthiae Wehneri von Heltenberg, Franci, Frankfurt a.M. 1610, Pars II, Titul IV, S. 79-87. 35 Im Kommentar sind auch viele Reichsstädte (so Straßburg, Augsburg, Gelnhausen, Nürnberg, Ulm) und die Reichsburg Friedberg aufgeführt, nicht jedoch Frankfurt (ebd., S. 81). 36 Ausgenommen die Kurfürsten mit ihren Freiheiten gemäß der Goldenen Bulle.
Hartmut
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oder als „glaubwürdige vidimus"37 vorgelegt werden müßten und die vom RKG bei der Insinuation formulierten Vorbehalte bezüglich des „Reichs Ober- und Gerechtigkeit" etc. (s. oben) „quo modo & Rotwilae privilegia insinuari solent",38 d.h. am KHG gleichermaßen gemacht würden. 3. Insinuation als Instrument Mit der Insinuation wurde nicht nur die leichtere Anwendbarkeit von Privilegien im gerichtlichen Prozeß erreicht, sondern durch die mit der Insinuation verbundene gerichtliche Öffentlichmachung versuchten die Inhaber von Privilegien häufig auch, ihre vom Kaiser in einem nichtöffentlichen Verfahren verliehenen Rechte und Positionen zu etablieren und durchzusetzen. Dies geschah, wie die nachfolgenden Beispiele zeigen, mit unterschiedlichem Erfolg. Als ein erstes, unmittelbar im Frankfurter Raum angesiedeltes Ereignis kann hierbei der bekannte Frankfurter Fettmilchaufstand39 genannt werden. Er erreichte 1614 mit der Plünderung der Judengasse und der Vertreibung der Juden aus der Stadt seinen traurigen Höhepunkt - trotz der eben referierten, erst wenige Jahre vorher 1605 erfolgten Insinuation der jüdischen Privilegien am RKG im nicht allzu entfernten Speyer. Mangels der fehlenden gesellschaftlichen Akzeptanz der vom Kaiser verliehenen Rechte gelang es den Juden hier auch nicht durch die Insinuation am RKG die ihnen zukommenden Rechtspositionen hinreichend zu sichern. Auf Betreiben der landesherrlichen Administration wären beinahe auch die Juden aus Darmstadt vertrieben worden40: Im Jahr 1627 schrieb Dr. Gerhard Ebersheim, Fiskal des RKG, an Dr. Johann Faber, Vizekanzler zu Darmstadt41, einige Juden hätten dieser Tage „clagweiß vorbracht", die „Juden im Darmstädtischen Land" sollten entgegen dem Privileg und „ohn all ihr Verschulden und Verbrechen, [...] nicht mehr geduldet, sondern außgetriben werden". Mit „dem Privileg" berief sich Fiskal Ebersheim ausdrücklich auf die am RKG 1605 insinuierten Privilegien der „Judischeit im Heiligen Reich". Die Insinuation dieser Privilegien bei Gericht half im vorliegenden Konfliktfall, wo die Aus-
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Hervorhebungen seitens Wehner. Kommentar, S. 85. 39 Vgl. u.a. Anton Schindling, Wachstum und Wandel vom Konfessionellen Zeitalter bis zum Zeitalter Ludwigs XIV., Frankfurt am Main 1555-1685, in: Frankfurt am Main. Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, hg. von der Frankfurter Historischen Kommission, Frankfurt am Main 1994, S. 205-260, hier: S. 229-238. 40 Zu diesem Fall siehe: Fiedrich Battenberg, Schutz, Toleranz oder Vertreibung. Die Darmstädter Juden in der Frühen Neuzeit (bis zum Jahre 1688), in: Eckhart G. Franz (Hg.), Juden als Darmstädter Bürger, Darmstadt 1984, S. 33-49. Ders., Die Privilegierung von Juden und der Judenschaft im Bereich des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, in: Barbara Dölemeyer/Heinz Mohnhaupt (Hg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 1, Frankfurt am Main 1997, S. 166. Sabine Frey, Rechtsschutz der Juden gegen Ausweisungen im 16. Jahrhundert. (Rechtshistorische Reihe, 30), Frankfurt a.M./Bern/New York 1983, S. 99f. 41 HStA Darmstadt, Best. 0 6 1 Adolf Müller Nr. 5, 1627 [Abschrift; die Originale sind Kriegsverlust.]. Friedrich Battenberg, Quellen zur Geschichte der Juden im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt 1080-1650, Wiesbaden 1995, Nr. 1761f. 37 38
Die Insinuation von Privilegien
treibung der Juden drohte. Diese mußten dem RKG bzw. dem kaiserlichen Fiskal in Speyer nicht umständlich ihre Privilegienposition aufzeigen, sondern konnten auf die zu Akten genommene, beglaubigte Abschrift verweisen. Darüber hinaus gelang es, aufgrund der gerichtsöffentlich gemachten Privilegien den Fiskal zu ihrer Durchsetzung tätig werden zu lassen. Dr. Ebersheim ließ in dem Schreiben an den Darmstädter Vizekanzler weiter verlauten: Landgraf Georg solle „es in gnaden bei dem alten herkommen verbleiben lassen und die Juden noch länger in ihren Landen gnedig gedulden. [Und daß er, der Vizekanzler,] alß hibevor gewesener subdelegirter kays. Commissarius bei der Statt Franckfurt dieser privilegien gute Wissenschaft [habe]", d.h. doch gut darüber Bescheid wisse. Er bitte, „an gehörigen Orten die anregung und Verfügung zu tun, damit dergl. klag vermitten und ermelte Judenschaft bei gedachtem ihrem privilegio manutenirt mögen". Das Gericht, bzw. der kammergerichtliche Fiskal wird also unter Bezug auf das 1605 insinuierte Privileg gegenüber Dritten tätig.42 Darauf ließ der Landgraf am 20. Juli an seinen Kanzler Wolf zur Todenwart schreiben: „Wegen der gottlosen Juden, und auf viler unserer Unterthanen an uns gebrachter desiderien ergriffenen wohlbefugten proposito man solle sich gantz und zumahl nicht perplex oder irr" machen lassen, dem Privileg entsprechend hätten als „juris Regalis" die Landgrafen nur „gewissermas ad tempus etliche Juden aufgenommen und toleriret, hiraus [könne man nicht] einige nothwendigkeit mit solchem geschmais sein land ewig beladen, beflecken und aussaugen zu lassen zu erzwingen [...]". Man solle den in der Anordnung für die Emigration vorgesehenen 1. August beobachten, er sei der Meinung, „es werden die Juden ausweichen und kein ferner difficultirens machen." Anschließend folgt ein eigenhändiger Zusatz des Landgrafen: „Ich will meinen Gott zu hülf nehmen, in mein [...] proposito fortfahren und durch dessen beystand dißes teufelischen geschmeißes wohl loß werden, maßen ich allbereits nochmahl gestern ernstlich befohlen, daz sich bey vermeydung [entsprechender] strafe [ab?] dem ersten Augusti kein Judt mehr in Darmstatt sehen lasse." In der Folgezeit verschärften sich die rechtlichen Auseinandersetzungen mit der Klage der Juden am RKG gegen die Ausweisungsverfügung. Im sich anschließenden Prozeß entschied sich das Gericht aufgrund der insinuierten Privilegien zugunsten der Juden und erklärte die Ausweisung durch den Landgrafen für rechtswidrig.43 Als im Zusammenhang mit der Nobilitierung bürgerlicher Familien aufschlußreich erweist sich der Fall Welser. Die einflußreiche Familie suchte ihre Nobilitierung, bzw. die Ausweitung derselben am Kaiserhof zu erreichen und betrieb an RKG und KHG die Insinuation der erlangten Privilegienurkunden, um sich eine rechtlich bessere Absicherung und Anerkennung zu verschaffen.
42 43
Für privilegia de non appellando vgl. Eisenhardt, Privilegia (wie Anm. 7), S. 59f. Sabine Frey, Rechtsschutz der Juden (wie Anm. 40), S. 100.
Hartmut
Bock
Der Vorgang der Nobilitierung und Insinuation fällt zwar nicht in den hier vornehmlich betrachteten Frankfurter Raum, doch ist er symptomatisch für eine reichsweit geübte Handlungsform zur Erlangung und Absicherung einer erwünschten Rechtsposition. Da die entsprechenden Akten und Urkunden im Familienarchiv der Welser außerordentlich gut erhalten sind, eignet sich der Fall zur exemplarischen Darstellung. An ihm lassen sich weitere Merkmale der Insinuation aufzeigen:44 Die „Praesentation und Petition pro Decreto Insinuationis" ihrer Privilegien betrieben die Welser 1599 am RKG (betr. Gerichtsfreiheit) bzw. 1622 an KHG und RKG (betr. ihrer Adelsprivilegien insgesamt). Diese hatten sie sich jeweils kurz zuvor vom Kaiser bestätigen45 lassen. Welchem Zweck die Privilegieninsinuation an den höchsten Gerichten im Reich zusätzlich zur kaiserlichen Bestätigung diente, erfahren wir aus berufenstem Munde, nämlich aus einem Schreiben Kaiser Ferdinands Π. von 1622 selbst.46 Dieses wurde gleichlautend beiden Gerichten zugestellt.47 Es enthält des Kaisers Begründung, es sei sein gnädigster Wille und „auch an sich billich", daß die Welser sich der beschriebenen „Confirmation und Extension" ihrer Privilegien gebührend erfreuten, weswegen er diese den Gerichten per Abschrift „Communiciere" und sie gnädigst ermahne, „die Weißer bei ermelten Ihren Privilegien zue schützen und handt zu haben". Auch wenn der Kaiser hier das Wort nicht nennt, bedeutet dies Insinuation, wie es aus den weiteren Akten hervorgeht, so in einem Anschreiben des Weiseranwalts in Nürnberg an seinen Kollegen am RKG:48 „Ihre Kay. Mayt. unser allergn. Herr, die allgemeine Weiserische Privilegia und derselben confirmation nach Spier geschicktet, unnd allda der hochloblichen kays. Cammer dieselbe Insinuiredt und Communiciret." Auch hier wird also Insinuieren im Sinne von „Einreichen" (seitens des Kaisers) verstanden. Da im Archiv der Freiherrlich von Welserschen Familienstiftung (Welser-Archiv) entsprechende Repertorien fehlen, war dies erst möglich, nachdem ich im Rahmen meiner Untersuchungen zur Familiengeschichtsschreibung der Welser detaillierte, repertorienartige Verzeichnisse erstellt hatte (Kopie im Archiv). Georg Freiherr von Welser und Dr. Stefanie Freifrau von Welser haben mich kenntnisreich und unermüdlich bei allen Schritten unterstützt. 45 Allgemein zur Funktion der Privilegienbestätigung siehe Dirk Hewig, Bestätigungen (wie Anm. 15), S. lOOff. 46 Weiser-Archiv, BO, BI (1), BS f(8) Weiserische colligirte Diplomata und Kaiserliche Privilegia, H120 (2) sowie H120 (3), 1622 Mai 22, zusammen mit Abschriften in Bebilderten Geschlechterbüchern mindestens 10 Kopien, was die seitens der Welser zugemessene Bedeutung unterstreicht; die erstgenannte Signatur mit Vidimus und Papiersiegel von „Georg Freißinger ReichshoffCantzley Registrator". 47 Die Forschungsliteratur geht davon aus, daß zumindest bei den wichtigen Appellationsprivilegien der Kaiser RHR und RKG die Privilegienerteilung mitteilte. Allerdings nur der RHR gab sich mit dieser Mitteilung zufrieden. Das RKG sah zusätzlich noch die Insinuation des Privilegs durch Vorlage des Originals vor. Pereis, Appellationsprivilegien (wie Anm. 7), S. 13f. Eisenhardt, Privilegia (wie Anm. 7), S. 59f. Vgl. Sellert, Insinuation (wie Anm. 3), Ziff. 1 [Insinuation von Gesetzen]. Hier findet sich eine Nachricht davon, daß der Kaiser auch dem RKG vom Reichstag verabschiedete Gesetze offiziell mitgeteilt hat. 48 Welser-Archiv, H120 (4), 1622 Aug. 10./16., Konzept des abgeschickten Briefes von Dr. Freundt an den Kammergerichtsadvokat Dr. Georg Krapff. 44
Die Insinuation von Privilegien
In den Jahren 1599 und insbesondere 1622 war die Sachlage für die Welser besonders wichtig und brisant. Beide Male versuchten sie, die Vorzüge der Insinuation für kaiserlich bestätigte Privilegien zu erwirken, die zu ihren Gunsten Erweiterungen aufwiesen. Ob dies gelang, konnte offenbar nicht von vorn herein mit Sicherheit gesagt werden.49 Das läßt sich daran ablesen, daß es der Kaiser selbst als geboten ansah, in dem genannten Schreiben die höchsten Reichsgerichte zur Insinuation geradezu anzuweisen. Wegen der inhaltlichen Ausweitung der Familienprivilegien scheint der Verdacht nahe gelegen zu haben, daß die Reichsgerichte die Insinuation möglicherweise nicht ohne weiteres vornehmen würden. Schließlich mußten Privilegien, um am Vorteil der Insinuation teilhaben zu können, wie oben ausgeführt, bestimmten Anforderungen genügen: Sie mußten bei Gericht „in glaubwürdigem Schein fürgebracht" werden. Bereits im Jahr 1592 hatten die Welser von Kaiser Rudolf II. eine Bestätigung erhalten, die drei frühere Privilegien zusammenfaßte und damit ein neues Privilegienkonvolut darstellte. Darunter befand sich beispielsweise die 1546 verliehene Gerichtshoheit.50 In der Privilegienbestätigung von 1592 heißt es formelhaft, „welches Sy uns in glaubwierdigem schein furbracht"51. Die Insinuation derselben erfolgte am RKG laut der in der Familienakte enthaltenen „Copia Protocolli Judicialis Insinuationis" 1599/1600. In der „Presentation und Petition pro Decreto Insinuationis" bat der Weiseranwalt das eingereichte Privilegium mit Kopie „pro insinuatis so viel recht gnädigst auff und anzunehmen, die abschrift mit dem Original collationiren, folgends dieselbig zu gleichmässigen sachen und privilegiis zu ewiger Gedächtnus registriren und besagt Original Ihme Anwalden wiederum heraus kommen und folgen zu lassen". Leider ist das speyerische Urteilsbuch, in dem der entsprechende Vorgang gerichtlicherseits dokumentiert wurde, bereits im 18. Jahrhundert verloren gegangen.52 Der eben geschilderte Vorgang von 1599/1600 wird auch Pate für die Insinuation der „bestätigten" und erweiterten Privilegien 1622-1625 gestanden haben: Ein prominentes Beispiel, wo das Gericht die Privilegieninsinuation nicht ohne weiteres durchführte, nennt Weitzel, Appellation (wie Anm. 7), S. 76f. Vgl. auch Wiggenhorn, Reichskammergerichtsprozeß (wie Anm. 19), S. 80f. 50 Welser-Archiv, a) Weiserische Kaiserl. Privilegia und WappenBrief (Barockschrank, 2. Fach von oben), S. 77-90: „Copia Protocolli Judicialis Insinuationis", 13.12.1599, „Anno 1600 Completum 22. Febr., Exped. 7. Martii.", incl. Vidimierung 1749; b) ebenso im Bebilderten Geschlechterbuch (Prachtexemplar We ΠΙ, Truhe Weiserische Familiensachen), auch hier incl. Vidimierung 1749. - Zu den Bebilderten Geschlechterbüchem vgl. generell: Hartmut Bock, Die Chronik Eisenberger. Edition und Kommentar. Bebilderte Geschichte einer Beamtenfamilie der deutschen Renaissance - Aufstieg in den Wetterauer Niederadel und das Frankfurter Patriziat. (Schriften des Historischen Museums Frankfurt a.M., Bd. 22), Frankfurt 2001, S. 271-277, S. 306, S. 370-454, S. 476-484. Vgl. www.hartmut-bock.de. 51 Welser-Archiv, Truhe Weiserische Familiensachen, Lade 3, 1592 Mai 4 (Original, in rotem Samtband gebundenes Pergamentlibell, mit großem, roten Majestätssiegel an goldener Schnur, mit eigenhändiger Unterschrift von Kaiser Rudolf II.). Welser-Archiv, Bebildertes Geschlechterbuch (Prachtexemplar We ΠΙ). 49
Hartmut Bock
1621 wurde ein auch für die Zeitgenossen erkennbar gefälschtes Privileg Kaiser Karls V. von 1525 für die Brüder Bartholomäus, Anton, Franz und Hans, das bis auf Karl den Großen und Otto den Großen zurückgeführt war, von Kaiser Ferdinand Π. bestätigt. Dabei wurde die Privilegierung pauschal auf alle Familienzweige großzügig erweitert. Das (ja gefälschte) Original habe „in beglaubter Form vorgelegen"53. 1622 wurden dann RKG und KHG in dem oben erwähnten kaiserlichen Handschreiben zur Insinuation praktisch angewiesen. Die Außergewöhnlichkeit dieses Vorgangs war offensichtlich. Selbst der Anwalt der Welser und Prokurator am KHG Dr. Hans Georg Uhi ließ verlauten, daß es solch eine Ausweitimg von Privilegien zuvor noch nie bei anderen Adelspersonen gegeben habe, er führte konkrete Beispiele an und folgerte, „aber kains hac iuncta extensione bey dem Kay. Hof, wie diß außgefertigt, und proprio motu sambt einem Kay. Hand54 schreiben von Hof inangedachtem Kay. Hofgericht übersandt worden."55 Der formale Akt der Insinuation, welcher von seiner Intention her dem Privilegieninhaber hauptsächlich prozessuale Erleichterungen bringen sollte, wird hier zum Mittel zielstrebiger, strategischer Familienpolitik zur Erlangung und rechtlichen Absicherung eines gesellschaftlichen Status.56 Der Insinuationsprozeß am RKG läßt sich anhand der guten Aktenlage in weiteren Einzelheiten studieren: In dem schon zitierten Schreiben des Weiseranwalts vom August 1622 an seinen Kollegen lesen wir auch des Ersteren Wünsche: „einen beglaubten schein des Empfanges und vorganger insinuation wie auch beglaubtes vidimus deß Kayß. schreibens". Die gerichtliche Insinuation der Privilegien geschah erst 1624, eine kaiserliche Urkunde hierüber wurde ein Jahr später, am 17.9.1625 ausgestellt.57 In ihr lesen wir: Dr. Krapf sei als
Welser-Archiv, Truhe Weiserische Familiensachen, Lade 3, 1621 Mai 28 („Original amplissima forma palatinatum" [Karteikarte H114], Pergamentlibell, eigenhändige Unterschrift von Kaiser Ferdinand Π., großes anhängendes Majestätssiegel in rotem Wachs an goldener Schnur in Holzkapsel, einwandfrei erhalten). Sowie diverse Abschriften, u.a. H114. 54 Nach dem Buchstaben H folgt ein hochgestelltes nn (o.ä.) mit Abkürzungstilde. 55 Weiser-Archiv, H120 (10), 1622 Okt. 10. 56 Die Welser betrieben die Insinuation an den Reichsgerichten erst nach einem vergeblichen Vidimierungsantrag beim Nürnberger Rat: Um ein Präjudiz auszuschließen, ließ dieser zwei Gutachten einholen: Obwohl der Rat 1618 die 1525er Urkunde vidimiert hatte, wurde festgestellt, daß ein Privileg des Reiches auch nur von dort vidimiert werden könne, weshalb die Welser in ihrer Petition an den Rat ausdrücklich Nürnberger Rechte ausschließen sollten; die Welser verzichteten und wendeten sich - mit kaiserlicher Unterstützung - an die Reichsgerichte (Welser-Archiv, BII (1,1-1,5), 1621 vor Aug. 7 bis Sept. 7). 53
Weiser-Archiv, H117, 1625 Sept. 17, Insinuationsdekret Ferdinand II. beim RKG in Speyer, Original. Es enthält das Transsumpt des Privilegs von 1621, gut erhaltenes rotes Siegel in Holzkapsel. Im Konvolut „Weiserische colligirte Diplomata und Kaiserliche Privilegia" (Welser-Archiv BS f(8), um ca. 1800) heißt diese Urkunde: „Urkund über die bey dem Kaiserlichen Cammergericht zu Speyer insinuirt und acceptierte [...] Privilegien". 57
Die Insinuation von Privilegien
bevollmächtigter Prokurator der Welser am 13.9.1624 vor dem Gericht erschienen und habe „pro decreto Insinuationis" suppliziert, die von des Kaisers unterschiedlichen kaiser- und königlichen Vorfahren gewährten und von ihm „confirmirt und ersterckhte Privilegia, in Originali cum copia präsentirt und übergeben, Innstandigen fleißes bittend, Selbige vor Gerichtlich insinuirt zu halten. So dann darüber Collatione et originalis restitutione salva, glaubhaffter Urkund mitzutheilen." Am 12. November habe dann Adolph Freiherr zu Mülendunckh, der Amtsverweser des RKG, samt den „zugeordneten Urthelern und Assessorn [...] eröffnet und außgesprochen", „In Sachen begehrter Insinuation Privilegiorum der gesampten [...] Welser [...] am dreyzehenden Septembris Jüngst Gerichtlich beschehen, Seynd dieselbe, doch vorbehaltlich deß Heyl. Reichs Ober- und Gerechtigkeit, auch Männigliches Interesse und Einwenden dagegen Jederzeit vorzubringen, soviel Recht hiemit angenommen, darüber dergestalt urkund erkannt, auch Dr. Krapffen sein der collation und restitution der Orginalien halben beschehen begehren zugelassen." Insinuation meint hier wohl zweierlei, zum einen das Einreichen des Privilegs (hier seitens des Anwalts) und zum andern die gerichtliche Aktenkundigmachung (samt Einbehalten der Kopie für den späteren Gebrauch). Für das Insinuationsverfahren am KHG erteilten die Augsburger Welser Dr. Uhi im September 1622 eine Vollmacht58, „solliche Privilegia, an gehörigen orten, sonderlich aber am hochloblichen Kayserlichen Hofgericht zue Rotweil gebürlich zue insinuiren, auch innhalts derselben zuerkhenen, und das Richterlich Decretum darüber zuerthailen, underthenig zuebitten", er möchte also die Welserschen Privilegien „iudicialiter überreichen, unnd dieselben, iuxta stylum huius Imperialis curiae offenlich59 abzueleßen bitten, nach beschehner ablö[e]sung, innhalts angehörter Kayserlichen Privilegien zue erkhennen, und hierüber daß Richterlich Decretum zuerthailen, underthenig anhalten, volgente Ime das original, relictis vidimatis et collationatis copiis widerumb zuzuestellen, bestes vleiß sollicitiren." Im Begleitschreiben verlangten die Augsburger Welser, daß das richterliche Dekret und das Privileg jeweils im Original[!] „unns unnd niemand anderm hieher gen Augspurg" zugestellt werden soll. In einem Schreiben an ihre Nürnberger Vettern60 wunderten sie sich, „wer, wie und wann, solliche Privilegia an das Hofgericht zu Rotweil gebracht". Das ging, wie wir ja wissen, vom Kaiser selber aus, wurde aber von den Welsern selber bezahlt (s. unten) und zunächst von der Nürnberger Seite betrieben. Der Bescheid des KHG erfolgte schon am 8. Oktober 1622:61 „Auff 58 Welser-Archiv, H120 (6) und H120 (7), beide 1622 Sept. 5. 59 „öffentlich undern freyen Himmel" (Welser-Archiv, H120 (5), 1622 Aug. 22, Dr. Uhi an die Augsburger Welser). 60 Welser-Archiv, H120 (8), 1622 Sept. 26. 61 Welser-Archiv, Hl 19, 1622 Okt. 8, Original mit Papiersiegel. Im Konvolut „Weiserische colligirte Diplomata und Kaiserliche Privilegia" (Weiser-Archiv BS f(8), um ca. 1800) heißt dieser Bescheid: „Bescheid wegen der von dem Kaiserlichen Hofgericht zu Rotweil beschehenen Registrirung in Betref der ganzen alt Adelichen Weiserischen Geschlechts Privilegien".
Hartmut Bock des Rom. Kayß. [etc.] Einkhommen schreiben, unndt insinuation Ν. undt Ν. dem gantzen Adellichen Geschlecht beeder familien der Welser in Augspurg unndt Nuernberg erthailter Kay. Confirmation und extension Ihrer von Uraltem hergebrachten Kay. und Kön. Privilegien, seindt solche nach dieß Loblichen Kay. Hofgerichts Ordnung (Doch demselben ahn seiner Uhralten fundation auch hinwiderumb habenden Kay. und Kön. Privilegien, derogatori undt cassatori mandaten und rescripten, sodann dem Unfiirdenckhlichen herbringenn, sonderlichen aber, deren in daß hay. Reich Publicireten und ernewerten hofgerichts Ordnung, sampt dem andern theil derselben Under dem fünfften Tituli begriffen Vndt reservireten Ehehaffts fahlen Unpraeiudicierlich, auch sonstten menigkhlichß einreden dargegen ieder Zeit Vorzubringen Vorbehalten) für gnugsamb ad acta zu registrieren angenommen. Und darauf erkhant, daß dero Ihres Inhalts gehorsamblich gelebt werden solle [...]." Auf des Kaisers Anschreiben und Insinuation (Einreichung) wurde also das Privileg für die Akten zu registrieren angenommen, hinfort solle danach gelebt werden. Die Welser aber hatten erreicht, was sie so sehnlich erstrebt hatten, den von höchster Stelle bestätigten Uraltadel für die gesamte Familie.62 Die weitgehend erhaltenen minutiösen Kostenaufstellungen63 zeigen, daß die Welser insgesamt
Dabei waren die Welser bei solchen Fälschungsvorgängen keineswegs einzig. Das genealogische Denken war im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit allgemein ein entscheidendes Erfolgsmodell. Eine Zusammenfassung der neueren Forschung zu diesem Themenkomplex bei Hartmut Bock, Familiengeschichtsschreibung, in: Karel Halla/Volker Dittmar (Hg.), Katalog Notthafft: „Auf den Spuren eines Adelsgeschlechts Die Notthaffte in Böhmen und Bayern", Grenzüberschreitende Ausstellung im Regionalmuseum Eger und Egerland-Museum Marktredwitz, Eger (Cheb) 2006, S. 291-311, hier: S. 307f, sowie im Internet unter www.hartmut-bock.de. - Übrigens kann der heute noch blühende Zweig der Welser seinen Adel durchweg auf reguläre, d.h. nicht auf Fälschung beruhende Nobilitierungen zurückführen. 63 Welser-Archiv, H120 (11), „Copia Rotweilisch Expens Zetel" [unvollständig]: Für das Kopieren des für die Welser ja so wichtigen kaiserlichen Handschreibens gab man allein 7 fl. 9 Batzen aus; das Dekret für beide Familien kostete 6 Reichstaler, fürs Abschreiben nochmals 12 Batzen plus das mit dem großen Siegel siegeln 4 fl. 30 Kronen; die Taxe am Gericht kostete 8 Reichstaler; diverse Botenlöhne kamen dazu; mitten in der Erläuterung von Dr. Uhls Leistungen bricht das Dokument ab (mindestens ein weiteres Blatt fehlt). Welser-Archiv, H120 (16), „Uncosten So auff die Confirmation und Extension der Herrn Welser privilegien am Kayß. hoff gangen seindt", 1623 Aug. 7: „jede Confirmation und Extension auß der Cantzley geliefert laut beyligender handtschrifft" 154 fl.; diverse Botenlöhne; zusammen 171 fl. 30 Kr. Diese Summe wurde von der Familienstiftung Sebastian IV. Welser erstattet, der davon 124 fl. weiter an Wilhelm Georg Weiser gab, die also die beiden Haupthandelnden für Konfirmation und Erweiterung der Privilegien (auf ja gefälschter Basis) waren; zu ihnen siehe weiter unten. Welser-Archiv, H120 (15), [1625], u.a. für die oben erwähnten kaiserlichen Handschreiben: „zwey insinuation schreiben Weißerischer Privilegien an das Hoffgericht zue Rothweihl undt Cammergericht zu Speyer undter ihr Kayß. May. handt und Secret außzuefertigen in die Reichshoffcanclei Cantzley Tax bezahlt" 9 fl., 2 vidimierte Abschriften des Privilegs, „so obermelden Kayß. insinuation schreiben mit eingeschlossen", einschließlich 1 fl. „tranckgelt" für Sekretär Huber, 7 fl.; Dr. Mutius für seine Mühewaltung 13 fl. 30 Kr.; Sekretär Huber, der sich „wegen Confirmation undt Extension [...] sehr bemühet, [...] verehrt" 20 fl.; Reichshofrat Dr. Conrad Hildebrand [Doktorenbank], „das er die sach wegen insinuirung [...] am Reichßhoffrath wiederumb de novo referirt und zu wegen gebracht, das die gar wieder änderst außgefertigt worden, verehrt" 25 fl.; für 62
Die Insinuation von
Privilegien
für die offiziellen Schritte der Bestätigung und Erweiterung der Urkunde Kaiser Karls V. 171 fl. 30 Kr.64 und für die Insinuation an beiden Gerichten mit 169 fl. 4 Kr. fast genau nochmals den gleichen Betrag seitens der Familienstiftung aufgewendet hatten, wogegen die Kosten für die Fälschung naturgemäß im Dunkeln bleiben; dabei zahlten die Welser auch Taxe an die Hofkanzlei für das kaiserliche Handschreiben (!). Wie wichtig Erlangung und Absicherung der Adelsposition durch Privilegienbestätigung und -insinuation war, zeigt ein uns erhaltenes, strategisches Papier, welches von dem Anwalt des Nürnberger Zweigs der Familie Welser erstellt wurde. Sebastian IV. Welser (1589-1634) von der Nürnberger JacobsLinie der Familie hatte das Privilegierungsverfahren (samt Fälschung davor) mit Unterstützung seines Vetters Wilhelm Georg (1572-1622) von der LucasLinie eingeleitet und dann unter Einsatz der Augsburger Vettern (AntonsLinie) samt Insinuierung durchgezogen; die gemeinsame Familienstiftung bezahlte die Aufwendungen. Sebastian und Wilhelm Georg betrieben Privilegierung und Insinuation besonders engagiert, da ihre beiden Welserschen Familienzweige bis dato noch ohne Nobilitierung waren. Die Nürnberger hatten damals keine herausragende Bedeutung am Hofe, die genutzt hätte werden können, Wilhelm Georg konnte aber seine im Dienst von vier Erzherzögen (Maximilian, Karl, Leopold und Ferdinand, dem späteren Kaiser) sowie dann als Rat Kaiser Ferdinands Π. erworbenen Beziehungen verwenden, aber ihre Augsburger Vettern sahen berechtigten Anlaß zu Zweifeln an der gefälschten 1525er Urkunde und verhielten sich zunächst eher zurückhaltend.65 In dem Strategiepapier - „Bedencken. Wegen der Herrn Welser Privilegien Confirmation und Verbeßerung"66 - machte der Anwalt der Nürnberger Welser konkrete Vorschläge zur Erlangung der Privilegienbestätigung und Verbesserung, bzw. wohl auch der Insinuation: Es sollten hohe Fürsprecher eingesetzt werden, beispielsweise der Erzkanzler des Reichs oder, „wofern die Herren [...] in diensten oder sonsten in sonderlich Gnaden" stünden, die Erzherzöge Leopold oder Karl (s. oben) oder der Kurfürst von Sachsen. Für die Erlangung der erweiterten Privilegierung heißt es im Strategiepapier: „opere preti um fuerit". Es sollten also „Tranckgelder" und Vergütungen für besondere Mühewaltung, wie es in o.a. Kostenabrechnung dann heißen wird, wohl wie üblich auch im Sinne von „Handsalbe", fließen. Und schließlich sollte man zusammen mit dem Antrag gleich den gewünschten Text des künftigen Privi-
„die insinuationes an das Cammergericht zu Speyer" in die Hofkanzlei Taxe bezahlt 4 fl. 30 Kr.; Honorar Dr. Krapff 45 fl.; 2 „vidimus auf perment und deß Cammergericht Insigel" 30fl.;diverse Botenlöhne; zusammen 169 fl. 4 Kr. Vgl. Ortlieb, Im Auftrag (wie Anm. 9), S. 295, S. 297, S. 305, S. 319 und S. 324, sowie: http://www.univie.ac.at/Geschichte/wienerhof/wienerhof2/hofstaat2.htm (24.1.2007). 64 So auch erwähnt in [Johann Michael Freiherr von Welser:] Die Welser. Des Freiherm Johann Michael von Welser Nachrichten über die Familie, für den Druck bearbeitet [hrsg. von Ludwig Freiherr von Welser], 2 Bde., Nürnberg 1917, Bd. Π, S. 17. 65 Welser-Archiv, H120 (8), 1622 Sept. 6, und H120 (13), 1622 Okt. 26. 66 Welser-Archiv, H120 (1), Dr. Herpfer, ohne Datum, vor 1621 Mai 28.
Hartmut Bock
legs einreichen. Der Welser-Anwalt führte aus, es sei „nicht ein geringes Kaysl. Gnad zu erlangn sonderley bey dem jezign unvertrauen im Reich." Trotz alledem wurde die „Bestätigung" mit wesentlicher Erweiterung des Privilegs 1621 beim Kaiser und die Insinuation an KHG bzw. RKG wie oben geschildert bereits 1622 bzw. 1625 erreicht (einschließlich der „restitution der Originalien" von 1621, die ja auf Fälschung beruhten, aber als kaiserliche Confirmation nunmehr rechtserheblich war).67 Über eventuelle spätere Prozesse an einem der beiden Gerichte in Sachen Weiserprivilegien ist nichts bekannt. Wie wichtig den Welsern die erfolgte Insinuation war, zeigt neben der vielfachen Vidimierung des „Original"-Privilegs Karls V. von 1525 und der Privilegienbestätigung Ferdinands Π. von 1621 die mehrfache Vidimierung der Insinuationsprotokolle und -bescheide 1655 und 1749-1751 durch das RKG selber bzw. kaiserliche Notare in Nürnberg bzw. den dortigen Bürgermeister und Rat,68 sowie die Abschriften in Bebilderten Geschlechterbüchern der Welser, nicht zuletzt aber die erwähnten 10 Kopien des außergewöhnlichen kaiserlichen Handschreibens. 4. Zusammenfassung Bereits die wenigen dargestellten Beispiele zeigen, daß die Insinuation von Privilegien an den höchsten Reichsgerichten ein Standardverfahren war. Es wurde reichsweit vielfältig und gerne genutzt, so auch - wie die besprochenen Privilegien der „gemeinen Judischeit in Franckfurt" aufzeigen konnten - in der hier vornehmlich zu betrachtenden Reichsstadt am Main. Seine eigenen Privilegien ließ Frankfurt sowohl am Reichskammergericht wie am Kaiserlichen Hofgericht zu Rottweil insinuieren. Insinuationen dienten zur Verbesserung der praktischen Handhabung der zum vitalen Bereich der Antragsteller gehörenden Rechte, indem das Gericht schon vor even-
Laut Mitteilung des Österreichischen Staatsarchivs Wien, Allgemeines Verwaltungsarchiv, vom 5. 3. 2003/Dr. Göbl, 304, sind Unterlagen über diese Vorgänge im Adelsarchiv dort nicht erhalten; jedoch finde sich in einem handschriftlichen Verzeichnis (angelegt 1847/48) unter allen beim RKG notifizierten und insinuierten Standeserhöhungen etc. unter Nr. 410 die Eintragung des Privilegs von 1621 mit kurzer Inhaltsangabe, „insinuiert 13. September 1624". Und allgemein: „Aus der Arbeit mit den Adelsakten, insbesondere mit den darin enthaltenen Gesuchen, kann jedoch so viel gesagt werden, daß die Beibringung von Adelsbeweisen mehrmals daran scheiterte, weil die Unterlagen der Betroffenen entweder ,leider ein Raub der Flammen', oder sonst wie vernichtet worden waren. Die Adelsbehörde handelte deshalb oftmals in gutem Glauben und bestätigte den gewünschten Adel, oder das Wappen." - Vgl. entsprechend: Otto Koser (Hg.), Repertorium der Akten des Reichskammergerichts. Untrennbarer Bestand, Bd. 1, Prozeßakten aus der Schweiz, Italien, den Niederlanden und dem Baltikum, sowie der freiwilligen Gerichtsbarkeit, Heppenheim 1933, hier: Nr. 651 und Nr. 652 (betr. die oben diskutierten Insinuationen der Weiserprivilegien). Zu letzterer Nummer kommentiert Koser: „Beschreibung des angeblich von K. Karl 810 verliehenen und von K. Otto I. 971 verbesserten Wappenbriefs." 67
Weiser-Archiv, H118,1655 Okt. 1 6 / 1 7 (kaiserlicher Notar bzw. Bürgermeister und Rat) [RKG von 1625], Welser-Archiv, Weiserische Kaiserl. Privilegia und WappenBrief (wie Aran. 50), S. 143-162, 1749 Okt. 1 (RKG) bzw. Dez. 29 (kaiserlicher Notar) [RKG von 1625], Welser-Archiv, Bebildertes Geschlechterbuch (Prachtexemplar We ΙΠ), 1751 Jan. 29 (kaiserlicher Notar) [KHG von 1622], 68
Die Insinuation von Privilegien tuellen Prozessen die Privilegien im Wortlaut dokumentiert hatte. So konnten sie bei Streitfällen leichter und effektiver genutzt werden. 69 Im Rahmen der von der Forschung bereits ausführlich behandelten und deshalb hier nicht besprochenen Appellationsprivilegien70 halfen Insinuationen, bestehende Rechtsräume zu sichern und zu festigen. Gelegentlich wurde auch mit Hilfe von Privilegieninsinuationen versucht, nicht ganz gefestigte oder gar auf gefälschter Basis beruhende Ansprüche zu sichern bzw. durchzusetzen. Die Insinuation von Privilegien läßt das Zusammenspiel von Reichsoberhaupt, höchsten Reichsgerichten und Parteien gut erkennen. Zudem ist sie ein wichtiges Beispiel für die zunehmende Verrechtlichung gesellschaftlicher Prozesse und der Verschriftlichung rechtlicher Abläufe. Der Vorteil, den die Insinuation von Privilegien den Antragstellern bot, lag darin, daß zu einer kaum zugänglichen Privilegienurkunde im Privatbesitz des Rechtsinhabers zusätzlich die jederzeit einsehbare, insinuierte, also bei einer öffentlichen Institution hinterlegte und dort akzeptierte Urkunde trat. Das Insinuationsverfahren ist heute zu Unrecht in der historischen Forschung fast vollständig in Vergessenheit geraten.71
In Johann Heinrich Zedier, Grosses vollständiges Universal-Lexicon aller Wissenschafften und Künste, Halle 1732-1754, ist entsprechend für Schenkungen die „Insinuatio Donationis" erklärt, „als eine Übergebung des Instruments, darinnen die Schenckung verschrieben ist bey der Obrigkeit, welche ihre Auctorität [Gewähr, Bürgschaft, Beglaubigung, Zustimmung etc.] dazu accomodiret, und solches ad Acta zu legen befiehlet." Die in dieser Arbeit diskutierte Insinuation von Privilegien erwähnt Zedier nicht. Zur Wortbedeutung vermerkt er: „Insinuiren heisset eigentlich überlieffern, einantworten, eine Sache vor und anbringen, es heisset aber auch, sich bey einem einliebeln, einschmeicheln, einschleichen." Vgl. im Internet: www.zedler-lexicon.de (07.01.2006). 70 Für die Reichsstadt Frankfurt siehe Eisenhardt, Privilegia (wie Anm. 7), Teil II, Nr. 15, S. 82-84, sowie Teil ΙΠ, Nr. 17 und 18, S. 193-208. 71 So kennt selbst das Deutsche Rechtswörterbuch (im Internet: www.deutschesrechtswoerterbuch.de [04.12.2005]) die hier diskutierte Insinuation von Privilegien an den höchsten Reichsgerichten nicht konkret. - Die übrigen dort erwähnten Bedeutungen von „Insinuation", wie „förmliche Eingabe, insbesondere an ein Gericht" oder „Zustellung von gerichtlichen Dokumenten", etwa von einer Vorladving (vgl. Sellert, Insinuation [wie Anm. 3], Ziff. 4), waren nicht Gegenstand dieser Arbeit. Zur Illustration der Spannweite mag ein Beispiel genügen, die Vorladung Friedrichs Π., des Großen, 1757 auf den Reichstag zu Regensburg, um dort wegen seines laut kaiserlichem Kläger erfolgten Friedensbruches über ihn die Reichsacht auszusprechen. Worauf der brandenburgische Reichstagsgesandte beim Versuch der Übergabe der Vorladung an ihn durch den kaiserlichen Notar diesen mit den Worten „Was, Du Flegel, insinuieren?" (dem Sinne nach, ich soll auch noch den Empfang bescheinigen?) die Treppe herunterwerfen ließ. Dies war laut borussischer Geschichtsschreibung ein in ganz Europa viel belachtes Ereignis. Vgl. Richard Knötel/Carl Röchling, Der Alte Fritz in 50 Bildern. Nach der ersten Ausgabe von 1895. Mit einem Nachwort von Hans Bleckwenn (Die bibliophilen Taschenbücher, Bd. 176), Dortmund 1981, hier: S. 62f. u. S. 122 (Den Hinweis auf dieses Beispiel verdanke ich Ludolf Pelizaeus, Mainz.). Entsprechend erklärt Zedier, UniversalLexicon (wie Anm. 69): „Documentum Insinuationis, ist das Adtestat oder Bekenntniß eines vor Gerichte geladenen, wodurch er zu wissen thut, daß die Citation ihm richtig insinuiret worden." 69
Frankfurt vor dem Reichshofrat
Eva Ortlieb Frankfurt vor dem Reichshofrat Der Reichshofrat Höchstgericht des Heiligen Römischen Reichs deutscher Nation und kaiserliche Behörde - verdient zweifellos Beachtung, sollen die Geschichte der Stadt Frankfurt am Main in der Frühen Neuzeit und speziell das Geflecht von Recht und Gericht auf ihrem Territorium analysiert werden 1 . Das ergibt sich bereits aus dem reichsrechtlichen Status der Stadt. Ebenso wie gegen alle anderen Kaiser und Reich unmittelbar unterworfenen Glieder des Reichs mußten Forderungen gegen die Stadt Frankfurt gerichtlich vor dem Kaiser - de facto also dem Reichshofrat - oder dem Reichskammergericht geltend gemacht werden, wobei der Klage vor dem Reichsgericht allerdings die Anrufung eines Austragsgerichts vorgeschaltet sein konnte. Umgekehrt hatte die Stadt ihrerseits Klage gegen andere Reichsstände und Reichsunmittelbare in der Regel vor Reichshofrat oder Reichskammergericht zu erheben2. Darüber hinaus unterstand die Rechtsprechung in der Reichsstadt der Kontrolle durch die Reichsgerichte, die Beschwerden wegen Rechtsverweigerung, Rechtsverzögerung und Nichtigkeit sowie Appellationen gegen Urteile städtischer Gerichte entgegennahmen - wobei die Möglichkeit zur Appellation durch Appellationsprivilegien eingeschränkt worden war 3 . Während der reichsrechtliche Status Frankfurts - als unmittelbares Glied des Reichs - Reichshofrat und Reichskammergericht gleichermaßen zu wichtigen Institutionen im städtischen Rechtsleben machten, begründete die Stellung Frankfurts als Reichsstadt eine besondere Bedeutung des Reichshofrats. Anders als dem Reich unmittelbar unterworfene Fürsten, Grafen oder Ritter hatten die Reichsstädte den Kaiser nicht nur als Reichsoberhaupt, sondern auch als Stadtherren anzuerkennen und diese Anerkennung durch die Huldigung, die jedem Kaiser nach Regierungsantritt zu leisten war, stets neu zu dokumen-
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Zum Reichshofrat vgl. die Standardwerke: Oswald von Gschließer, Der Reichshofrat (Veröffentlichungen der Kommission für neuere Geschichte des ehemaligen Österreich 33), Wien 1942. Wolfgang Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, n. F. 18), Aalen 1973. Ders. (Hg.), Die Ordnungen des Reichshofrates 1550-1766, 2 Halbbde. (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = QFHG 8), Köln/Wien 1980-1990. Kurzüberblicke: Peter Moraw, Art. ,Reichshofrat', in: Adalbert Erler/Ekkehard Kaufmann (Hg.), Handwörterbuch zur deutschen Rechtsgeschichte (HRG), Bd. 4, Berlin 1990, Sp. 630-638. Wolfgang Sellert, Der Reichshofrat, in: Bernhard Diestelkamp (Hg.), Oberste Gerichtsbarkeit und zentrale Gewalt im Europa der Frühen Neuzeit (QFHG 29), Köln/Weimar/Wien 1996, S. 15-44. Neuere Literatur: Anette Baumann/Eva Ortlieb, Netzwerk Reichsgerichtsbarkeit, in: Birgit Feldner u.a. (Hg.), Ad Fontes, Frankfurt a.M. u.a. 2002, S. 23-36, hier S. 28-34. 2 Wolfgang Sellert, Über die Zuständigkeitsabgrenzung von Reichshofrat und Reichskammergericht insbesondere in Strafsachen und in Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, n. F. 4), Aalen 1965, S. 46-64. 3 Ulrich Eisenhardt, Die kaiserlichen privilegia de non appellando (QFHG 7), Köln/Wien 1980, S. 82-84.
Eva Ortlieb tieren4. Insbesondere Fragen der Stadtverfassung, aber auch die - häufig mit Verfassungsfragen zusammenhängenden - innerstädtischen Konflikte, die von den städtischen Organen nicht geregelt werden konnten, waren dem kaiserlichen Stadtoberhaupt vorzutragen und gelangten in der Regel vor den Reichshofrat5. Das kaiserliche Gericht und insbesondere die von ihm eingesetzten kaiserlichen Kommissionen gehörten deswegen phasenweise geradezu zu den Verfassungs- und Verwaltungsorganen frühneuzeitlicher Reichsstädte6. Nur vor dem Kaiser - vertreten durch den Reichshofrat - konnten außerdem Belehnungen und die für viele Städte wichtigen kaiserlichen Privilegien bzw. ihre Bestätigimg erbeten werden 7 . Innerhalb des Kreises der Reichsstädte schließlich gehört Frankfurt zu den Kommunen, die besonders enge Beziehungen zum Reichsoberhaupt unterhielten - als Wahl-, später auch Krönungsort des Reichsoberhaupts ebenso wie als Messestadt, deren Wohlstand wesentlich von den kaiserlichen Privilegien und der Wirklichkeit der darin festgeschriebenen vorteilhaften Bedingungen für
Der Huldigungseid konnte deshalb geradezu als Quelle für die Analyse des staatsrechtlichen Verhältnisses zwischen Kaiser und Reichsstädten genutzt werden: Paul Hohenemser, Der Frankfurter Verfassungsstreit 1705-1732 und die kaiserlichen Kommissionen (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Stadt Frankfurt a.M. 8), Frankfurt a.M. 1920, S. 2f. 5 Horst Carl, Die Aachener Mäkelei 1786-1792, in: Zeitschrift des Aachener Geschichtsvereins 92 (1985), S. 103-187, spricht von einer Art gewohnheitsrechtlich begründetem Monopol des Reichshofrats bei solchen Auseinandersetzungen, S. 131, S. 135, S. 137. Vgl. auch Reinhard Hildebrandt, Rat contra Bürgerschaft, in: Zeitschrift für Stadtgeschichte, Stadtsoziologie und Denkmalpflege 1 (1974), S. 221-241, hier S. 236 mit Anm. 50. 6 Vgl. insbesondere Thomas Lau, Bürgerunruhen und Bürgerprozesse in den Reichsstädten Mühlhausen und Schwäbisch Hall in der Frühen Neuzeit (Freiburger Studien zur Frühen Neuzeit 4), Bern u.a. 1999, der auch auf vergleichbare Konflikte in anderen Städten eingeht und die ältere Literatur dazu erfaßt. Vgl. auch Christopher R. Friedrichs, German Town Revolts and the Seventeenth-Century Crisis, in: Renaissance and Modern Studies 26 (1982), S. 27-51. Hildebrand, Rat (wie Anm. 5). Zu den kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats Martin Fimpel, Reichsjustiz und Territorialstaat (FrühneuzeitForschungen 6), Tübingen 1999. Vor Fimpel zur selben Thematik Raimund J. Weber, Die kaiserlichen Kommissionen des Hauses Württemberg in der Neuzeit, in: Zeitschrift für Württembergische Landesgeschichte 43 (1984), S. 205-236. Eva Ortlieb, Im Auftrag des Kaisers (QFHG 38), Köln/Weimar/Wien 2001. Sabine Ulimann, Geschichte auf der langen Bank. Die Kommissionen des Reichshofrats unter Kaiser Maximilian II. (15641576) (Veröffentlichungen des Instituts für Europäische Geschichte Mainz 214), Mainz 2006; zugl.: Habilitationsschrift (masch.), Augsburg 2004. 7 Sellert, Zuständigkeitsabgrenzung (wie Anm. 2), S. 108. Zu (nicht nur kaiserlichen) Privilegien Barbara Dölemeyer/Heinz Mohnhaupt (Hg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, 2 Bde. (lus Commune Sonderhefte: Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte 93, 125), Frankfurt a.M. 1997-1999. Zur Frage des Lehenswesens Jean-François Noël, Zur Geschichte der Reichsbelehnungen im 18. Jahrhundert, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 21 (1968), S. 106-122. Rüdiger Freiherr von Schönberg, Das Recht der Reichslehen im 18. Jahrhundert (Studien und Quellen zur Geschichte des deutschen Verfassungsrechts Reihe A: Studien 10), Heidelberg/Karlsruhe 1977. Barbara Stollberg-Rilinger, Das Reich als Lehnsysstem, in: Heinz Schilling/Werner Heun/Jutta Götzmann (Hg.), Altes Reich und neue Staaten 1495-1806. Essays, Dresden 2006, S. 5567. 4
Frankfurt vor dem Reichshofrat
den europäischen Handel abhing8. Der Kaiser - und damit auch der Reichshofrat - gehörten auf diese Weise zu den Grundkonstanten der Frankfurter Geschichte in der Frühen Neuzeit. Der Reichshofrat fand im Rahmen der Frankfurter Geschichtsschreibung vor allem im Zusammenhang mit den großen innerstädtischen Konflikten des 17. und des 18. Jahrhunderts und ihrer Regelung durch kaiserliche Kommissionen Beachtung9. Insbesondere Paul Hohenemser hat in seiner noch immer maßgeblichen Studie über den Verfassungskonflikt der Jahre 1705-1732 - für die er ausführlich Material aus dem Archiv des Reichshofrats heranzog - nicht nur auf die Bedeutung von Kaiser und Reichshofrat für die Frankfurter Geschichte, sondern auch umgekehrt auf die Rolle Frankfurts und der Reichsstädte in der kaiserlichen Politik hingewiesen. In einer Zeit, in der sich das Reich als angeblich totes Relikt des Mittelalters keiner besonderen Wertschätzung in der Geschichtswissenschaft erfreute, gelang ihm die Vorwegnahme einer Erkenntnis, die Jahrzehnte später unter dem Titel, kaiserliche Reaktion' formuliert und expliziert werden sollte10. Ihren Ausgangspunkt nehmen Untersuchungen zur Tätigkeit des Reichshofrats im Zusammenhang mit Frankfurt dabei in der Regel von der Frankfurter Geschichte und - mit wichtigen Ergänzungen aus anderen Archiven - von der Frankfurter Überlieferung. Der vorliegende Beitrag strebt dem gegenüber eine teilweise Umkehr der Perspektive an. Analysiert werden soll das Prozeßaufkommen vor dem Reichshofrat im Zusammenhang mit der Reichsstadt Frankfurt, soweit es sich in den Findmitteln zum reichshofrätlichen Archiv nachweisen läßt. Mit der Orientierung an der Gesamtheit der Verfahren hängt zusammen, daß Frankfurt im folgenden - in Übereinstimmung mit der von
Helmut Coing, Die Rezeption des Römischen Rechts in Frankfurt am Main (Frankfurter wissenschaftliche Beiträge. Rechts- und wirtschaftswissenschaftliche Reihe 1), Frankfurt a.M. 1939, S. 23. Heinz Duchhardt, Frankfurt am Main im 18. Jahrhundert, in: Frankfurter Historische Kommission (Hg.), Frankfurt am Main (Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission 17), Sigmaringen 1991, S. 261-302, hier S. 265f. Sigrid Jahns, Frankfurt am Main im Zeitalter der Reformation (um 1500-1555), in: ebd. S. 151— 204, hier S. 152 und öfter. Anton Schindling, Wachstum und Wandel vom Konfessionellen Zeitalter bis zum Zeitalter Ludwigs XIV., in: ebd. S. 205-260, hier S. 212-214. Anton Schindling/Georg Schmidt, Frankfurt a.M., Friedberg, Wetzlar, in: Anton Schindling/Walter Ziegler (Hg.), Die Territorien des Reichs im Zeitalter der Reformation und Konfessionalisierung, Bd. 4 (Katholisches Leben und Kirchenreform im Zeitalter der Glaubensspaltung 52), Münster 1992, S. 40-59. 9 1612-1616: Christopher R. Friedrichs, Politics or Pogrom? The Fettmilch Uprising in German and Jewish History, in: Central European History 19 (1986), S. 186-228. Zusammenfassung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse bei Rainer Koch, Herrschaftsordnung und Sozialverfassung im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main, in: Michael Stolleis (Hg.), Recht, Verfassung und Verwaltung in der frühneuzeitlichen Stadt (Städteforschung A / 3 1 ) , Köln/Wien 1991, S. 175-197, hier S. 177-180.1705-1732: Hohenemser, Verfassungsstreit (wie Aran. 4). Gerald Lyman Soliday, A Community in Conflict, Hanover, New Hampshire 1974. Zusammenfassung der verfassungsrechtlichen Ergebnisse bei Koch, Herrschaftsordnimg, S. 182-185. 10 Hohenemser, Verfassungsstreit (wie Aran. 4), S. 241. 8
Eva Ortlieb
den Herausgebern betonten Vielfalt seiner ,Landschaft' - in verschiedener Form erscheint. Zu den ,Frankfurter' Verfahren zählen Klagen Frankfurter Bürger oder der geistlichen Stände in der Stadt ebenso wie Beschwerden der Reichsstadt, Klagen Dritter gegen die Stadt ebenso wie gegen einzelne ihrer Einwohner, Korporationen oder Institutionen. Auf die Analyse einzelner Verfahren muß im Rahmen des vorliegenden Beitrags allerdings verzichtet werden. Im Gegensatz zu den Erwartungen, die der Ansatz bei der reichshofrätlichen Überlieferung wecken mag, gehört das Problem der Hintergründe der kaiserlichen Eingriffe und damit die über den Reichshofrat verwirklichte kaiserliche Politik gegenüber der Reichsstadt zu den vielen Fragen, die nur gründliche Einzelstudien zu klären vermögen11. 1. Die Quellengrundlage Anders als das Archiv des Reichskammergerichts blieb das Reichshofratsarchiv nach der Auflösung des Alten Reichs 1806 im wesentlichen als Ganzes erhalten und wird heute im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien aufbewahrt12. Kern des Archivs bilden die Verfahrensakten, die - geordnet nach den Namen der Kläger bzw. Antragsteller - die einzelnen vor dem Reichshofrat geführten Verfahren dokumentieren. Die Verfahrensakten sind nicht in einer einzigen Reihe, sondern in zahlreichen verschiedenen Serien erhalten, die zu zwei Registraturen gehören. Während die sog. Judicialia als Prozeßakten abgelegte Vorgänge versammeln, liegen in den sog. Gratialia und Feudalia Akten, die aus der Tätigkeit des Reichshofrats als Behörde für Gnaden- und Lehenssachen hervorgegangen sind. Die Verfahrensakten umfassen insgesamt mehr als 13 000 archivalische Einheiten; allein die rund 10 000 Kartons der Judicialia dokumentieren mehr als 70 000 Causen. Neben den Verfahrensakten enthält das Archiv des Reichshofrats mehrere Reihen von Protokollbüchern (1544-1806), Akten zu speziellen Themenbereichen bzw. Abteilungen (z.B. Münz-, Post- und Zollwesen im Reich, Fiskalarchiv, Pienipotenz in Italien) sowie auf die Organisation der Behörde Bezug nehmendes Material (Verfassungsakten)13.
Vgl. etwa Hohenemser, Verfassungsstreit (wie Anm. 4), S. 142, S. 155f., S. 240f. Leopold Auer, Das Archiv des Reichshofrats und seine Bedeutung für die historische Forschung, in: Bernhard Diestelkamp/Ingrid Scheurmann (Hg.), Friedenssicherung und Rechtsgewährung, Bonn/Wetzlar 1997, S. 117-130. Aktenauslieferungen: Friedrich Battenberg, Reichshofratsakten in den deutschen Staatsarchiven, in: Wolfgang Seifert (Hg.), Reichshofrat und Reichskammergericht (QFHG 34), Köln/Weimar/Wien 1999, S. 221-240. 13 Lothar Groß, Die Reichsarchive, in: L(udwig) Bittner (Hg.), Gesamtinventar des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs, Bd. 1 (Inventare österreichischer staatlicher Archive V. Inventare des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs 4), Wien 1936, S. 273-394, hier S. 283-316. Findbücher: Robert Stropp, Neuordnung und Neuaufstellung der Archivbehelfe des Haus-, Hof- und Staatsarchivs, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 17/18 (1964/65), S. 611-639. 11
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Frankfurt vor dem Reichshofrat
Die verschiedenen Serien der Verfahrensakten sind durch jeweils eigene Findbücher erschlossen, die überwiegend im 19. Jahrhundert angefertigt wurden14 und neben den Namen der Parteien - bei Lehensakten des betreffenden Lehens - die Laufzeit des Vorgangs und ein Stichwort zu seinem Inhalt sowie die Bestellsignatur angeben. Die - insbesondere im Vergleich mit den seit den 1970er Jahren angefertigten Repertorien der Akten des Reichskammergerichts - Dürftigkeit, im Detail gelegentlich auch Unzuverlässigkeit dieser Angaben führt oft schon bei der Suche nach geeignetem Material für eine bestimmte Fragestellung zu Problemen - um so mehr bei einer wissenschaftlichen Auswertung. Insbesondere verhindern Verschreibungen bei Namen und fehlende Herkunftsbezeichnungen die geographische und soziale Zuordnung vieler Personen. Auch der Gegenstand des Verfahrens bleibt häufig unklar - sofern die betreffende Angabe nicht überhaupt durch einen Hinweis auf die Prozeßform (,in puncto appellationis', ,in puncto commissionis', ,in puncto mandati') ersetzt wurde. Ein zusätzliches Problem stellt die Verzeichnung der als Appellationsprozesse gekennzeichneten Verfahren dar. Die Einträge nennen als ,Beklagten' manchmal den Beklagten des Appellationsprozesses, manchmal aber auch die Institution, gegen deren Urteil appelliert wurde, in wieder anderen Fällen beide. Der Rubrik ,Beklagter' ist bei Appellationsprozessen also häufig nicht zu entnehmen, gegen wen sich das Verfahren und gegen das Urteil welchen Gerichts sich die Appellation richtete. Seit Ausgang der 1990er Jahre bemühen sich mehrere Projekte um eine schrittweise Verbesserung der Findmittel zum Reichshofratsarchiv15. Bisher konnten dabei allerdings - was angesichts der Größe der Aufgabe und der vergleichsweise bescheidenen finanziellen Mittel nicht verwundert - nur Teilerfolge erzielt werden. Die Projekte konzentrieren sich vorerst auf die elektronische Erfassimg der bestehenden Repertorien zu den Prozeßakten im
14 Zu einer Reihe kleinerer Serien der Gratialregistratur liegen maschinenschriftliche Verzeichnisse aus der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts vor. 15 Leopold Auer, Such- und Erschließungsstrategien für die Prozeßakten des Reichshofrats, in: Sellert (Hg.), Reichshofrat (wie Anm. 12), S. 211-219. Wolfgang Sellert, Projekt einer Erschließung der Akten des Reichshofrats, in: ebd. S. 199-210. Arthur Stögmann, Die Erschließung von Prozeßakten des Reichshofrats im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien, in: Mitteilungen des Österreichischen Staatsarchivs 47 (1999), S. 249-265. Gert Polster, Die elektronische Erfassung des Wolfschen Repertoriums zu den Prozeßakten des Reichshofrats im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv, in: ebd. 51 (2004), S. 635-649. Eva Ortlieb, Die Alten Prager Akten im Rahmen der Neuerschließung der Akten des Reichshofrats im Haus-, Hof- und Staatsarchiv in Wien, in: ebd. S. 593-634. Die Arbeiten wurden vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank, der Volkswagen Stiftung sowie dem Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt a.M. finanziert. Ein weiteres, allerdings primär wissenschaftlich ausgerichtetes Projekt, das in den Gesamtzusammenhang der Neuerschließung des Reichshofratsarchivs gehört, wird derzeit von der Kommission für Rechtsgeschichte Österreichs der Österreichischen Akademie der Wissenschaften durchgeführt. Ehe finanziellen Mittel dafür hat der Fonds zur Förderung der wissenschaftlichen Forschung FWF zur Verfügung gestellt: www.oeaw.ac.at/krgoe.
Eva Ortlieb Reichshofratsarchiv, wodurch die vorhandenen Informationen zwar erheblich leichter zugänglich, aber nicht wesentlich vermehrt werden. Inzwischen liegen die Findbücher zu sieben der zehn für die Geschichte des Reichshofrats im engeren Sinn relevanten Prozeßaktenserien vollständig16, zu einer weiteren teilweise in elektronischer Form vor 17 . Nur noch die Behelfe zu den Judicialia latinae expeditionis' sowie zu den,Relationen' müssen vollständig,physisch' und das bedeutet vor allem ohne Rückgriff auf die vielfältigen Such- und Filterfunktionen einer modernen Datenbank - eingesehen werden. Eine an wissenschaftlichen Anforderungen orientierte Neuverzeichnung nach dem Muster der Repertorien zu den Akten des Reichskammergerichts liegt darüber hinaus für die erste Hälfte der , Alten Prager Akten' (Klägernamenbuchstabe A - L ) vor 18 . Die folgende Analyse basiert auf den Eintragungen in den Findbüchern zu den Prozeßakten des Reichshofrats, die die Stadt Frankfurt, Frankfurter Institutionen und Korporationen oder einzelne Frankfurter als Kläger oder Beklagte ausweisen oder deren Streitgegenstandsbeschreibung auf Frankfurt Bezug nimmt 19 . Anders als in den meisten Untersuchungen zur Inanspruchnahme der Reichsgerichte aus bestimmten Territorien bzw. Regionen20 wird also nicht nur die Anrufung des Reichshofrats durch Frankfurt bzw. Frankfurter erfaßt, sondern auch die Beschäftigung des kaiserlichen Gerichts mit Frankfurter Decisa, Denegata antiqua, Denegata recentiora, Obere Registratur (= sog. Wolfsches Repertorium), Alte Prager Akten, Judicialia miscellanea, Voten. Die betreffenden Datenbanken stehen im Haus-, Hof- und Staatsarchiv zur Verfügung, die elektronische Version des Wolfcchen Repertoriums außerdem im Max-Planck-Institut für europäische Rechtsgeschichte in Frankfurt a.M. Darüber hinaus werden die Datenbanken nach und nach in die Informationsdatenbank des Österreichischen Staatsarchivs übernommen, die im Internet zugänglich ist: www.oesta.gr.at. 17 Antiqua, Klägernamenbuchstabe Α-D. Obwohl die Serie nach der nicht abgeschlossenen Neuordnung des Reichshofratsarchivs durch Nikolaus Wolf erst mit Buchstaben H beginnt, weist der phonetisch-alphabetisch geordnete Behelf AB 1/22 auch unter den Buchstaben A-F Verfahren nach (P unter Β, Τ unter D etc.). 18 Ortlieb, Alte Prager Akten (wie Anm. 15). Da die Neuverzeichnung noch nicht abgeschlossen ist und publiziert werden soll, ist die entsprechende Datenbank derzeit nicht frei zugänglich, wird aber bereits für die Beantwortung von Anfragen genützt. 19 Nicht berücksichtigt wurden die Serien,Relationen' und,Voten', da sie keine kompletten Verfahrensakten, sondern die angegebenen Aktenstücke aus - häufig in anderen Serien überlieferten - Prozeßakten enthalten. Bei einer Berücksichtigung der beiden Serien würden also viele Verfahren doppelt gezählt. 20 Tobias Freitag/Nils Jörn, Lübeck und seine Bewohner vor den obersten Reichsgerichten in der Frühen Neuzeit, in: Zeitschrift des Vereins für Lübeckische Geschichte und Altertumskunde 81 (2001), S. 161-200. Dies., Zur Inanspruchnahme der obersten Reichsgerichte im südlichen Ostseeraum 1495-1806, in: Nils Jörn/Michael North (Hg.), Die Integration des südlichen Ostseeraums in das Alte Reich (QFHG 35), Köln/Weimar/Wien 2000, S. 39-141. Nils Jörn, Greifswald und seine Bewohner vor den obersten Reichsgerichten, in: Horst Wernicke (Hg.), Greifswald, Schwerin 2000, S. 290295. Ders., Die Hanse vor den obersten Reichsgerichten in Spätmittelalter und Früher Neuzeit (im Druck). Siegrid Westphal, Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung (QFHG 43), Köln/Weimar/Wien 2002, erfaßt auch Verfahren, in denen die von ihr untersuchten Dynastien auf der Seite der Beklagten standen. 16
Frankfurt vor dem Reichshofrat
Fragen, die durch Dritte vor den Kaiser getragen wurden - eine Möglichkeit, die erst die elektronische Erfassung der Repertorien mit zumutbarem Arbeitsaufwand eröffnet. Allerdings fließen auf diese Weise noch immer keineswegs alle Verfahren mit Frankfurter Beteiligung in die Analyse ein. Das liegt einerseits daran, daß die Findbücher nicht alle Verfahrensakten verzeichnen, sondern nur diejenigen, die zum Zeitpunkt der Repertorisierung noch vorhanden waren21. Andererseits ist damit zu rechnen, daß verschiedene Einzelpersonen wegen fehlender Herkunftsangaben nicht mit Frankfurt in Verbindung gebracht wurden, obwohl sie aus der Reichsstadt stammten. Eine Reihe von Studien auf vergleichbarer Grundlage hat aber gezeigt22, daß die Analyse der Findbücher des Reichshofratsarchivs zu wichtigen Einsichten in die Beziehungen zwischen einzelnen Gliedern des Alten Reichs und einem seiner Höchstgerichte sowie zur Integration der Stände in den Reichszusammenhang führt. An einzelnen Stellen werden im folgenden darüber hinaus auch Findbücher zu den Gratialakten sowie die reichshofrätlichen Resolutionsprotokolle herangezogen. 2. Die Inanspruchnahme des Reichshofrats im Zusammenhang mit Frankfurt Die besonders engen Beziehungen Frankfurts zum Reichsoberhaupt und umgekehrt das große Interesse des Kaisers an seiner Wahl-, später auch Krönungsstadt lassen eine hohe Inanspruchnahme des Reichshofrats aus und im Zusammenhang mit Frankfurt erwarten. Tatsächlich weisen die Behelfe zum Reichshofratsarchiv mehr als 1 500 Verfahren aus, die von oder gegen Frankfurt bzw. Frankfurter angestrengt wurden oder wesentlich mit der Stadt zu tun hatten23. Frankfurt dürfte damit aus dem Kreis der Reichsstädte zu denjenigen Ständen zählen, mit denen sich das kaiserliche Gericht am häufigsten beschäftigte. Eine vergleichbare Abfrage führt für die Städte Augsburg und Nürnberg zu rund 1 200 Nachweisen, für die ebenfalls wichtige Funktionen für Kaiser und Reich erfüllende Stadt Regensburg zu lediglich ca. 500. Tobias Freitag und Nils Jörn zählten - wobei sie allerdings Nach bisher vorliegenden, punktuellen Erhebungen sind die Verluste im Reichshofratsarchiv auf ca. 50 % zu beziffern, könnten für das 16. Jahrhundert allerdings höher gelegen haben: Freitag/Jörn, Inanspruchnahme (wie Anm. 20), S. 47. Ortlieb, Auftrag (wie Anm. 6), S. 127. Barbara Staudinger, Juden am Reichshofrat, Phil. Diss, masch. Wien 2001, S. 178 Anm. 617. Fälle, zu denen sich in den reichshofrätlichen Verfahrensakten keine Überlieferung erhalten hat, lassen sich - zumindest für das 17. und 18. Jahrhundert - mittels einer Durchsicht der reichshofrätlichen Resolutionsprotokolle rekonstruieren - ein Unternehmen, das im Rahmen des vorliegenden Beitrags allerdings nicht unternommen werden konnte. Zu den reichshofrätlichen Protokollbüchern Lothar Groß, Geschichte der deutschen Reichshofkanzlei von 1559 bis 1806 (Inventare österreichischer staatlicher Archive V. Inventare des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs 1), Wien 1933, S. 247-260. 22 Wie Anm. 20. 23 Dazu zählen etwa Anträge auf kaiserliche Empfehlungs- bzw. Promotorialschreiben an die Stadt Frankfurt oder Auseinandersetzungen zwischen Dritten um Güter und Rechte in der Stadt. 21
Eva Ortlieb
nur die von Lübeck und den Lübeckern angestrengten, nicht die gegen sie geführten Verfahren berücksichtigten - 395 Lübecker Betreffe24. Die Inanspruchnahme aus Frankfurt lag demgegenüber annähernd doppelt so hoch (rund 750 Klagen von Frankfurtern bzw. der Stadt Frankfurt). Allerdings befaßte sich der Reichshofrat im Verlauf seiner Geschichte nicht stets gleich häufig mit Frankfurter Angelegenheiten. Die Entwicklung des Geschäftsanfalls im Zusammenhang mit Frankfurt, wie sie aus den Laufzeitangaben der Findbücher zum Reichshofratsarchiv hervorgeht, weist vielmehr charakteristische Konzentrationen aus. Sie lassen sich mit der allgemeinen Entwicklung der reichshofrätlichen Prozeßfrequenz25 vergleichen und auf diese Weise in den Reichskontext einordnen (siehe Seite 142, Abb. 1). Frankfurt scheint die Möglichkeiten, die der Reichshofrat - bis 1559 kaiserlicher Hofrat - bot, spät entdeckt und lange vergleichsweise zurückhaltend genützt zu haben bzw. nicht allzu häufig mit reichshofrätlichen Eingriffen konfrontiert gewesen zu sein. Das erste Frankfurter Verfahren, von dem sich Spuren im Reichshofratsarchiv erhalten haben, stammt aus dem Jahr 1533 das nächste aus dem Jahr 154126. Auch wenn sich für die Folgejahre immer wieder Frankfurter Prozesse nachweisen lassen, kann von einer einigermaßen kontinuierlichen Beschäftigung des Reichshofrats mit Frankfurt frühestens ab den 1680er Jahren, eigentlich aber erst nach der Jahrhundertwende ab ca. 1703 die Rede sein. Die ab diesem Zeitpunkt hohe Prozeßfrequenz hielt sich wenngleich mit starken Schwankungen - bis zum Ende des Alten Reichs. Damit unterscheidet sich die Inanspruchnahme aus und gegen Frankfurt deutlich von der reichsweiten Anrufung des Reichshofrats27. Zwar läßt sich auch hier eine deutliche Steigerung etwa ab dem Jahr 1705 konstatieren. Die Jahre zwischen 1705 und 1763 können als Phase der intensivsten Tätigkeit des kaiserlichen Gerichts gelten, in der rund 35 % der zwischen 1519 und 1806 anfallenden Prozesse angestrengt wurden. Zwischen 1764 und 1806 sank die Prozeßfrequenz am Reichshofrat - trotz hoher Inanspruchnahme zwischen 1764 und 1790 - aber wieder ab (28 % des gesamten Prozeßaufkommens). Für Frankfurt dagegen blieb die Nutzung des Reichshofrats ungebrochen - sowohl zwischen 1705 und 1763 als auch zwischen 1764 und 1806 fielen jeweils 45 % der gesamten von und gegen Frankfurt bzw. Frankfurter geführten Verfahren an. Der überdurchschnittlichen Beanspruchung des Gerichts im 18. Jahrhundert korrespondiert eine entsprechend geringere Tätigkeit im Zusammenhang mit Frankfurt im 16. und 17. Jahrhundert. Nur 10 % aller Verfahren wurden
Freitag/Jörn, Lübeck (wie Anm. 20), S. 167. Eva Ortlieb/Gert Poster, Die Prozeßfrequenz am Reichshofrat (1519-1806), in: ZNR 26 (2004), S. 189-216. Über mehrere Jahre laufende Prozesse werden jeweils für das Jahr gezählt, in dem das Verfahren nach Ausweis der Findbücher begonnen wurde. 26 Frankfurt in diversis, 1533-1553: HHStA, RHR, Decisa 2052. Deutscher Orden contra Frankfurt, 1541: HHStA, RHR, Alte Prager Akten 193. 27 Ortlieb/Polster, Prozeßfrequenz (wie Anm. 25), S. 213, Grafik 1. 24
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Frankfurt vor dem Reichshofrat
zwischen 1519 und 1704 geführt - reichsweit waren es rund 37 %. Darüber hinaus fehlen für Frankfurt die für die frühe Inanspruchnahme des Reichshofrats so charakteristischen Spitzenwerte in Reichstagsjahren28. Eine kurzfristig verstärkte Beschäftigung der Reichshofräte mit Frankfurt scheint eher mit spezifischen Problemlagen in der Stadt - beispielsweise dem sog. Fettmilchaufstand von 1612/13 oder finanziellen Schwierigkeiten in der letzten Phase des Dreißigjährigen Kriegs ab 1635 - zu erklären zu sein. 3. Frankfurter vor dem Reichshofrat Der mit annähernd der Hälfte größte Anteil von Verfahren vor dem Reichshofrat im Zusammenhang mit Frankfurt wurde nicht von oder gegen die Reichsstadt als Ganze, sondern von einzelnen Frankfurtern - oder gegen sie - angestrengt. Grundsätzlich trat dabei eine Vielzahl verschiedenartiger Parteien vor dem Reichsgericht in Erscheinung, einzelne Bürger bzw. Einwohner christlichen und jüdischen Glaubens ebenso wie bürgerliche bzw. patrizische Gesellschaften und die Judenschaft, einzelne Geistliche ebenso wie Frankfurter Klöster oder die Geistlichkeit, Handelsunternehmen ebenso wie verschiedene Handwerke. Mit einer gewissen Regelmäßigkeit waren jedoch nur drei dieser Gruppen von reichshofrätlichen Verfahren betroffen. Rund ein Drittel der Vorgänge betraf (christliche) Frankfurter Bürger bzw. Einwohner einschließlich verschiedener Amtsträger und Akademiker, Handwerker und Kaufleute. Diese Frankfurter zählten etwas häufiger zu den Beklagten reichshofrätlicher Verfahren als sie selbst aktiv vor dem kaiserlichen Gericht in Erscheinung traten (rund 30 % der Kläger, 40 % der Beklagten). Anders stellt sich dieses Verhältnis bei den jüdischen Frankfurtern bzw. der Frankfurter Judenschaft dar, die ebenfalls an etwa einem Drittel der reichshofrätlichen Verfahren beteiligt waren. Juden bzw. die Judenschaft strengten deutlich häufiger selbst Prozesse an als sie beklagt wurden (ca. 35 % der Kläger, 20 % der Beklagten). Diese Zahlen beleuchten nicht nur die Bedeutving der Frankfurter Judengemeinde, die zu den größten im Reich gehörte29, sondern auch die offensichtlich große Rolle, die der Reichshofrat innerhalb der jüdischen Strategien zur Sicherung und Durchsetzving ihrer Rechte spielte30. Immerhin rund ein Fünftel des reichshofrätlichen Prozeßaufkommens im Zusammenhang mit Frankfurt hatte mit den Zünften bzw. Handwerken zu tun. Sie nahmen das Reichsgericht ebenfalls stärker aktiv in Anspruch als sie als Beklagte von derartigen Verfahren betroffen waren (ca. 20 % der Kläger, 15 % der Beklagten). Eine Betrachtung der Verfahren von und gegen Frankfurter im zeitlichen Verlauf zeigt, daß sie das Reichsgericht noch etwas stärker als oben für alle FrankOrtlieb/Polster, Prozeßfrequenz (wie Anm. 25), S. 204-206. Schindling, Wachstum (wie Anm. 8), S. 21 lf. 30 Dazu zuletzt die Dissertation von Staudinger, Juden (wie Anm. 21). Eine Dissertation zum Verhältnis der Frankfurter Juden zum Kaiser auf der Basis der Reichshofratsprozesse wird derzeit von Verena Kasper (Graz) vorbereitet. 28
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Eva Ortlieb furter Prozesse festgestellt im 18. Jahrhundert in Anspruch nahmen. Nur 8 % der relevanten Vorgänge fallen in die lange Periode zwischen 1519 und 1704, 92 % dagegen in die letzten 100 Jahre des Alten Reichs. Innerhalb des 18. Jahrhunderts lassen sich keine deutlichen ,Konjunkturen' des Klageverhaltens erkennen. Mit Ausnahme der letzten ca. 10 Jahre blieb die richterliche Anrufung des Kaisers durch und gegen Frankfurter im 18. Jahrhundert ungebrochen. Inhaltlich stritten die Frankfurter - wenig überraschend - in erster Linie um Ansprüche, die den Bereichen Feldwirtschaft' (rund 40 %) bzw.,Handel und Gewerbe' (ca. 20 %) zuzuordnen sind - Gegenstände, die im Durchschnitt aller Frankfurter Verfahren deutlich geringer vertreten sind (ca. 20 bzw. 8 %)31. Bei den Prozeßformen dominiert der Appellationsprozeß (rund 80 % im Vergleich mit rund 60 % bei allen Verfahren). Auch dieses Ergebnis ist nicht überraschend, da Kaiser und Reich mittelbar unterworfene Personen - um die es sich bei der Gruppe der Frankfurter zum größeren Teil handelt - grundsätzlich zwar durchaus auch in erstinstanzlichen Verfahren vor dem Reichsgericht in Erscheinung treten konnten, meist aber zunächst die Gerichte ihrer Obrigkeit anzurufen hatten32. 4. Die Reichsstadt Frankfurt vor dem Reichshofrat Neben Frankfurter Einwohnern, Korporationen und Institutionen trat auch die Reichsstadt als Ganze vor dem Reichshofrat in Erscheinung - als Stand des Reichs, der sich mit anderen Ständen um Güter und Rechte stritt, sowie als Obrigkeit, gegen Die Klassifikation der Streitgegenstände folgt den Kategorien der methodisch maßgeblichen Studie von Filippo Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption, 2 Bde. (QFHG 17), Köln/Wien 1985, S. 282-284, prägnant zusammengefaßt bei Freitag/Jöm, Lübeck (wie Anm. 20), S. 177. Danach zählen zum Prozeßgegenstand Feldwirtschaft' Verfahren um Kaufverträge, Mietverhältnisse, Verpachtung, allgemeine Schadensersatzforderungen, Dienst- und Arbeitsverhältnisse, Honorarforderungen, allgemeine Schuldforderungen aus Schuldscheinen, Obligationen und Darlehen, Bürgschaften, Wechselschulden, Grundschulden, Hypotheken, Verschreibungen und Renten. Der Gegenstandsbereich ,Handel und Gewerbe' umfaßt Auseinandersetzungen um Gewerbe- und Handelsfreiheit, Handelsprivilegien, Marktrechte, Zunftwesen, Handelsgesellschaften, Assekuranzwesen sowie die Sicherung von Handelsforderungen. Für Frankfurt ist davon fast ausschließlich das Zunftwesen von Bedeutung, insbesondere Verfahren um die Aufnahme in ein Handwerk bzw. um die Verletzung der Handwerksordnung. Allerdings ist zu betonen, daß die Klassifikation der Gegenstände der Prozesse in so starkem Ausmaß unter fehlenden Angaben leidet, daß die Analyseergebnisse äußerst vorsichtig zu bewerten sind. Zu rund einem Drittel aller Verfahren, im Fall der Prozesse von und gegen Frankfurter wegen des hohen Anteils der Appellationen sogar fast der Hälfte, läßt sich aus den Findbucheintragungen kein Gegenstand ermitteln. 32 Der Reichshofrat war - ebenso wie das Reichskammergericht - grundsätzlich für Verfahren gegen Reichsunmittelbare zuständig, außerdem für bestimmte Verfahrensgegenstände. Eine Kaiser und Reich mittelbar unterworfene Person konnte also nur dann erstinstanzlich vor dem Reichsgericht klagen, wenn sich ihr Anspruch gegen einen Reichsunmittelbaren richtete oder sie sich beispielsweise wegen Landfriedensbruchs oder Rechtsverweigerung bzw. Rechtsverzögerung beschwerte. Sellert, Zuständigkeitsabgrenzung (wie Anm. 2). 31
Frankfurt vor dem Reichshofrat
die sich Ansprüche Dritter - gelegentlich auch eigener Bürger - richteten. Etwas mehr als ein Fünftel aller Reichshofratsverfahren im Zusammenhang mit Frankfurt können dieser Kategorie zugeordnet werden. Ihre zeitliche Verteilung über den Untersuchungszeitraum weicht deutlich von der aller Verfahren ebenso wie von der der eben untersuchten Prozesse von und gegen Frankfurter ab. Zwar trat auch die Reichsstadt als Ganze häufiger im 18. Jahrhundert vor dem Reichshofrat in Erscheinung als in den vorangegangenen Jahrhunderten, aber bei weitem nicht mit derselben Ausschließlichkeit wie die einzelnen Frankfurter Parteien. Rund ein Drittel der Verfahren fand zwischen 1519 und 1704 statt, zwei Drittel zwischen 1705 und 1806. Das auf die Reichsstadt zurückgehende Prozeßaufkommen unterscheidet sich hinsichtlich seiner zeitlichen Verteilung damit nicht wesentlich von dem gesamten Prozeßpotential am Reichshofrat33. Wertet man das Ausmaß, in dem eine Partei als Kläger auftrat, als Gradmesser für ihre aktive Nutzung des Reichsgerichts, scheint der Reichshofrat in den politischen und rechtlichen Strategien der Reichsstadt eine wesentlich geringere Rolle gespielt zu haben als in denen ihrer Einwohner und Gegner. So trat die Stadt vor dem Reichshofrat sechsmal häufiger als Beklagter auf als sie selbst Prozesse anstrengte. Während die Stadt als Ganze nur rund 7 % der im Zusammenhang mit Frankfurt vor den Reichshofräten auftretenden Klägern stellt, macht sie unter den Beklagten rund ein Drittel aus. Zu den wichtigsten Gegnern Frankfurts zählten die Nachbarn Hessen und Mainz (Kurfürst), außerdem die Grafen von Thum und Taxis - Reflex der Bedeutung Frankfurts für das Postwesen im Reich34 - sowie der Deutsche Orden. Vergleichsweise häufig war die Reichsstadt auch von Klagen der kaiserlichen Fiskale bei Reichshofrat und Reichskammergericht betroffen35. Der Streitgegenstand Feldwirtschaft', der für die einzelnen Frankfurter von so großer Bedeutung war, spielte auch für die Reichsstadt eine wichtige Rolle36. Rund ein Viertel aller von und gegen die Stadt angestrengten Prozesse drehten sich um diese Thematik. Ebenso wichtig waren die Gegenstandsbereiche staatliche bzw. hoheitliche Rechte' sowie Jurisdiktion'37. Im einzelnen
Ortlieb/Polster, Prozeßfrequenz (wie Anm. 25), S. 196f., S. 213 (Graphik). Wolfgang Behringer, Thum und Taxis, München 1990, S. 130-132. 35 Dabei ging es um den Druck von Büchern, das Postwesen, Zölle sowie Lehensangelegenheiten, vgl. z.B. Fiskal contra Frankfurt, das verbotene Bücherdrucken betreffend, 1716 (RHR, Decisa 2021), citationis in puncto violationis des Post Regalis, 1710-1711 (RHR, Obere Registratur 979/7), mandati in puncto Abschaffung der angesetzten neuen und erhöheten alten Zölle, 1636 (RHR, Jud. misc. 29), citationis das Reichslehen Klapperfeldt betreffend, 1708-1715 (RHR, Decisa 2021). 36 Vgl. Anm. 31. 37 Vgl. Anm. 31. Staatliche bzw. hoheitliche Rechte (nach der Zusammenfassung von Freitag/Jörn): Verfahren um Landeshoheit, Grenzstreitigkeiten zwischen Territorien, Reichsunmittelbarkeit, Zugehörigkeit zur Reichsritterschaft, Türkensteuer, Landsässigkeit, innerstädtische Verfassimg, kirchliche Patronatsrechte, Regalien, Berggerechtigkeit, Mühlenbann, Jagd-, Forst-, Fischereigerechtigkeit, Wehr- und Steuerhoheit, Steuerpflich33 34
Eva Ortlieb ging es dabei um Schuldforderungen - beispielsweise nach der Verpfändung der Frankfurter Reichssteuern an diverse Begünstigte oder wegen der Zahlungsverpflichtung der Stadt aufgrund des Reichsdeputationshauptschlusses von 1803 38 - , um Steuerfragen oder obrigkeitliche Rechte über bestimmte Personen in der Stadt39, um Rechtsverweigerung und die verschiedensten Arreste40. In etwa einem Drittel der Fälle handelt es sich um Appellationen — ein zwar beachtlicher, im Vergleich mit der Gesamtheit der Frankfurter Verfahren (ca. 60 %) aber geringer Anteil. Stattdessen spielte das erstinstanzliche Verfahren, insbesondere der Mandats- und Reskriptsprozeß, eine große Rolle (ca. 45 % im Vergleich zu rund 15 % bei allen Verfahren) - ein Befund, der für das Prozeßaufkommen eines Reichsstands nicht sonderlich überrascht. 5. Innerstädtische Verfassungskonflikte vor dem Reichshofrat Eine dritte Kategorie von frankfurter' Verfahren vor dem Reichshofrat läßt sich nur schwer einer der beiden oben analysierten Konstellationen zuordnen, da beide Konfliktparteien mehr oder minder deutlich den Anspruch erhoben, ,die' Stadt Frankfurt zu sein. Es handelt sich um die innerstädtischen ten. Allerdings wurde der Gegenstand ,innerstädtische Verfassung' nicht im vorliegenden Zusammenhang gezählt, sondern als eigene Konstellation (unten Abschnitt 5) erfaßt. Jurisdiktion: Zulässigkeit von Appellationen, Gerichtsbehinderung, Versendung der Akten an eine juristische Fakultät, Ausübung weltlicher und geistlicher Gerichtsbarkeit, Recht zur Ausübung der Lehnsgerichtsbarkeit, der Kriminaljurisdiktion und der Patrimonialgerichtsbarkeit. 38 Vgl. z.B.: Stotzingen contra Frankfurt, mandati in puncto Reichung des dritten Theils ihrer Stadtsteuer, 1574 (RUR, Jud. misc. 84), Erstenberg contra Frankfurt, mandati ratione Bezahlung der Stadtsteuer, 1613 (ebd. 21), Gottsleben contra Frankfurt, die vermöge des jüngsten Reichsdeputations Hauptschlußes § 64 zukommende nun aber verweigerte Pension betreffend, 1805 (RHR, Obere Registratur nicht mehr vorhanden), SalmReifferscheid-Dyck contra Frankfurt, die Verweigerung der Reichsschlußmäßig angewiesenen jährlichen Rente von 28 000 fl. betreffend, 1804 (ebd. 1332/2). 39 Bassompiere contra Frankfurt, appellationis puncto der Weinsteuer von eigenen Gewächsen, 1783-1788 (RHR, Decisa 469), Mainz contra Frankfurt, iuris collectandi, 1652 (RHR, Antiqua 291/10), Reichsritterschaft am Oberrhein contra Frankfurt, Mandati poenalis in puncto deren Zoll- und Avis-Exactionen, 1629-1630 (ebd. 730/14). Aschaffenburg contra Frankfurt, turbatae possessionis vel quasi juris obsignandi in Sterbefällen der Diözesangeistlichen, 1804 (RHR, Obere Registratur 41/5). Frankfurt contra Thum und Taxis, rescripti, die Obsignirung des Nachlasses der von Berberichischen Kammerjungfer betreffend, 1787 (RHR, Decisa 2111), Mainz contra Frankfurt, die Haustauffen und Hauscopulationen bei Katholiken betreffend, 1786 (RHR, Obere Registratur 604/5). 40 Buttenhorn contra Frankfurt, administrationis justitiae, 1643-1651 (RHR, Decisa 1070), Reineck contra Frankfurt, denegatae justitiae, 1754 (RHR, Obere Registratur nicht mehr vorhanden), Varrentrapp contra Frankfurt, rescripti puncto protractae et denegatae justitiae, 1742-1743 (RHR, Denegata recentiora 1401/2). Eckart contra Frankfurt, incompetenter arrogatae jurisdictionis et arresti, 1785-1786 (RHR, Decisa 1981), Holbach contra Frankfurt, arresti, 1733-1737 (RHR, Denegata recentiora 80/4), Thum und Taxis contra Frankfurt, rescripti de relaxando arresto, nunc commissionis, 1733-1734 (RHR, Obere Registratur 1671/1). Die hohe Anzahl der Beschwerden wegen Arreste könnte mit einer Bestimmung der Frankfurter Messeprivilegien zusammenhängen, wonach jedermann vor dem Frankfurter Gericht im Wege des Arrestprozesses belangt werden' konnte: Coing, Rezeption (wie Anm. 8), S. 28.
Frankfurt vor dem Reichshofrat
Verfassungskonflikte zwischen Rat und Bürgerschaft, die auch wegen ihrer besonderen Bedeutung für die Stadtgeschichte - und der dementsprechend großen Beachtung, die sie in der Forschung gefunden haben - eine gesonderte Behandlung rechtfertigen. In den Findbüchern erscheinen die entsprechenden Vorgänge zumeist als »Frankfurt contra Frankfurt' - das Wolfsche Repertorium als wichtigster Behelf widmet ihnen gar eine eigene Rubrik. Den auf diese Weise verzeichneten Causen wurden weitere Verfahren hinzugezählt, die erkennbar mit Fragen der Stadtverfassung zusammenhingen, so z.B. Prozesse wegen Gewährung des Bürgerrechts, der Besetzung städtischer Ämter oder innerstädtischer Regelungen41. Innerstädtische Verfassungskonflikte machen zwischen einem Viertel und einem Drittel aller Frankfurter Verfahren vor dem Reichshofrat aus. Sie fanden fast ausschließlich im 18. Jahrhundert statt (17051806: 97 % aller Vorgänge), insbesondere in dessen erster Hälfte. Diese Ergebnisse der Auswertung der Frankfurter Betreffe in den Findbüchern zum Reichshofratsarchiv ist vor allem vor dem Hintergrund der beiden großen innerstädtischen Verfassungskonflikte von 1612-1616 und 1705-1732 zu sehen, mit deren Regelung - wie seit langem bekannt ist und detailliert untersucht wurde - vom Reichshofrat eingesetzte kaiserliche Kommissionen betraut waren42. Auf der einen Seite wird deutlich, daß das Phänomen ,innerstädtischer Verfassungskonflikt' in der beschriebenen weiten Bedeutung keineswegs auf die bekannten Kommissionen im Rahmen der beiden erwähnten Auseinandersetzungen beschränkt ist, sondern weit darüber hinausgehend insbesondere im 18. Jahrhundert die Beziehungen zwischen dem Reichshofrat und der Reichsstadt Frankfurt prägte. Die Reichshofräte haben sich dabei nicht nur mit Grundsatzfragen wie dem Bürgerrecht und der Besetzung städtischer Amter beschäftigt, sondern bis ins kleinste Detail in das Verfassungs- und Verwaltungsleben der Stadt eingegriffen43. Mit Thomas Lau läßt sich der
D'Angelo contra Frankfurt, appellationis die Reception zum bürgerrecht betreffend, 1740-1745 (RHR, Decisa 178), Berdon contra Frankfurt, des biirgerrechts, 1688 (RHR, Decisa 638), Thurneisen, receptionis in civem, 1746-1750 (RHR, Denegata recentiora 1364/11). Bienenthal contra Frankfurt, die judikatswidrige Ausschließung bei Ratswahlen zweiter Bank betreffend, 1782-1785 (RHR, Decisa 800), Kellner, eligibilitatis zur Ratsherren Stelle zu Frankfurt, 1737 (RHR, Denegata recentiora 439/7), Raumburger contra Frankfurt, Schöffenwahl, 1744 (RHR, Obere Registratur 1012/11), Arnsteiner contra Frankfurt, appellationis, dessen Wiederkehr und Städtigkeit betreffend, 17791784 (RHR, Decisa 334), Sachsenhausen, Weingärtner, contra Frankfurt, confirmationis der Innungs Artikeln, 1766 (RHR, Denegata recentiora 1146/5). 42 Wie Anm. 9. 4 3 Frankfurt contra Frankfurt, commissionis, in specie die Communication der Akten und andern zum Stadtbesten gehörige Sachen aus dem Archive betreffend, 1744 (RHR, Decisa 2240), Frankfurt contra Frankfurt, commissionis, in specie die Bestellung eines eigenen Actuarii sowohl für das Landamt als für das Ackergericht betreffend, 1789 (RHR, Decisa 2252), Frankfurt contra Frankfurt, commissionis, in specie die Abschaffung der Wende auf dem Roßmarkt betreffend, 1792 (RHR, Obere Registratur 281/5). 41
Eva Ortlieb
Reichshofrat im Bezug auf die Reichsstädte als ,oberstes Appellationsgericht und [...] kommunale Aufsichtsbehörde in einem' charakterisieren44. Allerdings läßt sich auf der anderen Seite insofern ein Zusammenhang zwischen der Inanspruchnahme des Reichshofrats in innerstädtischen Verfassungsfragen und den großen Konflikten von 1612-1616 und 1705-1732 erkennen, als in ihrem Verlauf eine größere Anzahl der einschlägigen Auseinandersetzungen als sonst vor den Reichshofrat gelangte. Dabei wirkte sich der Aufstand des 17. Jahrhunderts aber insofern ganz anders aus als die langjährige Kontroverse annähernd 100 Jahre später, als sich einschlägige Verfahren zwischen 1612 und 1614 nachweisen lassen, während der Reichshofrat in den Folgejahren und im gesamten restlichen 17. Jahrhundert nicht oder nur ganz vereinzelt mit ihnen beschäftigt war. Nach 1732 dagegen geht die Anzahl der Reichshofratsverfahren in Verfassungsfragen nicht zurück, sondern steigt sogar noch an - der Spitzenwert wird 1742 erreicht, als das kaiserliche Gericht in Frankfurt tagte. Erst mit den ausgehenden 1740er Jahren pendelte sich die Inanspruchnahme des Reichshofrats in Verfassungsfragen auf einem Niveau ein, das - obwohl noch immer beachtlich - etwas geringer liegt als in der ersten Hälfte des Jahrhunderts. Bis zur Auflösung des Alten Reichs wurden Prozesse in Sachen , Frankfurt contra Frankfurt' vor dem Reichshofrat ausgetragen45. In den meisten dieser Auseinandersetzungen beauftragten die Reichshofräte kaiserliche Kommissare mit der Verhandlungsführung (mehr als 60 % im Vergleich zu 15 % für alle Frankfurter Prozesse). 6. Gnadenansuchen aus Frankfurt Der Reichshofrat hat sich nicht nur als Gericht bzw. in Vertretung des Kaisers als Oberhaupt der Reichsstädte mit Frankfurt und Frankfurter Ansuchen beschäftigt, sondern auch als kaiserliche Behörde für Gnadensachen - wenn auch im Vergleich zu den Prozessen in deutlich geringerem Ausmaß. Da die elektronische Erfassung der Findmittel zu den Gratialia im Reichshofratsarchiv, die aus dieser Tätigkeit hervorgegangen sind, erst begonnen hat, lassen sich für diesen Bereich vorerst eher exemplarische als quantitativ abgestützte Aussagen machen. Auch für die Gnadensachen gilt, daß viele Anträge von einzelnen Frankfurtern - Juden und Christen - , Frankfurter Korporationen wie den Patriziergesellschaften oder den
Lau, Bürgerunruhen (wie Anm. 6), S. 73. Volker Press, Die Reichsstadt in der altständischen Gesellschaft, in: Johannes Kunisch (Hg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte (ZHF Beiheft 3), Berlin 1987, S. 9-42, hier 29, geht davon aus, daß die Mehrheit der vom Reichshofrat behandelten innerstädtischen Auseinandersetzungen aus Frankfurt gekommen sei. 45 Frankfurt contra Frankfurt, commissionis finitae in specie die Erhöhung der Besoldung der Reichsstadt Frankfurtischen Comitialgesandten betreffend, 1806 (RHR, Obere Registratur 282/7), Frankfurt contra Frankfurt, commissionis finitae, die Rathswahlen und Anstellung eines examinatoris perpetui bey dem peinlichen Verhöramt in specie die Zuziehung des bisherigen Examinatoris perpetui Doctoris Franz Siegler zu den Rathswahlen betreffend, 1806 (ebd. 282/6). 44
Frankfurt vor dem Reichshofrat Handwerken und Frankfurter Klöstern stammten, die beispielsweise um Geleit- oder Schutzbriefe46, um die Bestätigung, Erläuterung oder Erweiterung ihrer Privilegien47, um die kaiserliche Billigung und Bekräftigung der von ihnen abgeschlossenen Verträge 48 oder die Förderung ihrer Anliegen durch kaiserliche Empfehlungs- und Promotorialschreiben49 baten. Auch die Stadt Frankfurt hat sich ihre Privilegien - in ihrer Gesamtheit ebenso wie einzelne Urkunden - bestätigen, erweitern oder erläutern lassen50 und dem Kaiser verschiedene Verträge - innerstädtische Verfassungsregelungen ebenso wie Abmachungen mit Dritten - zur Billigung und Bestätigung vorgelegt51. 7. Die Reichsstadt Frankfurt als kaiserlicher Kommissar
Das
Generalthema ,Frankfurt vor dem Reichshofrat' bietet Gelegenheit, einen Aspekt der Beziehungen zwischen dem kaiserlichen Gericht und der Reichsstadt anzusprechen, der über der Konzentration auf Parteien aus Frankfurt bzw. Frankfurt als Partei leicht in Vergessenheit geraten kann. Die Reichsstadt und
Adami, Johann, Kaufmann, aus Frankfurt, um Geleitbrief, 1548 (RHR, Geleitbriefe 1), Heusch, Abraham, Juwelier, aus Frankfurt, um Geleitbrief im Zusammenhang mit dem Verfahren Wedige contra Ranft, 1645 (ebd. 3, Konv. 2, fol. 73-76), Richter, Johann Christoph, Kaufmann, aus Frankfurt, um Geleitbrief zum Schutz vor seinen Gläubigern, 1717 (ebd. 6), Moisés ,νοη Bum', Jude, aus Frankfurt, um Schutzbrief, 1562 (RHR, Schutzbriefe 10), Sankt Maria Magdalena, Kloster in Frankfurt, um Schutzbrief, 1530 (ebd. 4). 47 Frauenstein, Patriziergesellschaft in Frankfurt, kaiserliche Vergleichung eines Ordens Zeichens, 1804 (RHR, Conf. priv. dt. Exped. 53, Konv. 1), Greifensteinergesellschaft in Frankfurt, confirmatio privilegiorum, 1614 (ebd. 50, Konv. 3), Sankt Bartholomäus Stift in Frankfurt, Propstei, Confirmatio privilegiorum, 1563-1766 (ebd. 52, Konv. 2), Judenschaft in Frankfurt, Confirmatio privilegiorum, 1566-1793 (Conf. priv. dt. Exped. sub voce Judenschaft') Judenschaft in Frankfurt, privilegii daß sie an die drei Thore den großen Adler anschlagen dürfen, 1722 (ebd.). Bernus, Jakob, Bankier, aus Frankfurt, confirmationis einer vom Fürsten zu Anhalt Schaumburg ausgestellten Obligation, 1734 (RHR, Conf. priv. dt. Exped. 16, Konv. 2), Knopfmacherinnung in Frankfurt, confirmationis ihrer Artikel, 1712 (ebd. 50, Konv. 3), Zum Liebfrauenberg Stift in Frankfurt, Confirmationis donationis der Hälfte eines Hauses daselbst, 1673 (ebd. 52, Konv. 3). 49 Caesar, Carl, aus Frankfurt, um Promotorialschreiben an den Kurfürsten von der Pfalz wegen eines Prozesses vor der Regierung in Heidelberg, 1715 (RHR, Promotoriales 1), Holsch, Georg, aus Frankfurt, um Empfehlungsschreiben an die Stadt Frankfurt wegen Einrichtung einer Tuchfarbenfabrikation, 1656 (ebd. 2), Knöpflin, Eberhard, Seidensticker, aus Frankfurt, um Empfehlungsschreiben wegen seiner Aufnahme in die Bürgerschaft, 1628 (ebd. 1). 50 Frankfurt Stadt, Confirmatio privilegiorum generalis, 1566-1793 (RHR, Conf. priv. dt. Exped. 50, Konv. 2), Frankfurt Stadt, Erweiterung eines kaiserlichen Privilegs wegen Appellationen gegen Urteile des Stadtgerichts, 1541 (ebd. Konv. 3), Frankfurt Stadt, Confirmatio der von weiland Kaiser Carl VII. dem Magistrat der Stadt Frankfurt ertheilten Concession des Prädikats Edle und respective kaiserliche wirkliche Räthe, 1791-1793 (ebd. 51, Konv. 3). 51 Frankfurt Stadt, Confirmatio des Vertrages zwischen dem Rath und der Bürgerschaft zu Frankfurt, 1613 (RHR, Conf. priv. dt. Exped. 50, Konv. 3), Frankfurt Stadt, commissionis, Confirmatio und Bestättigung der bürgerlichen Ausschuß und Steuer Privilegien und Gerechtsame, 1742-1792 (ebd. 51, Konv. 3), Frankfurt Stadt, confirmationis transactionis mit dem Erbprinzen von Hessen-Kassel, 1786 (ebd. Konv. 2). 46
Eva Ortlieb
ihre Einwohner haben nicht nur vor dem Reichshofrat geklagt bzw. sich verteidigt und ihre Ansuchen vorgebracht. In erster Linie die Stadtobrigkeit, in einigen Fällen auch einzelne Frankfurter52 waren darüber hinaus als Kommissare im Auftrag des Kaisers tätig und haben als solche die Reichshofräte bei ihrer Verhandlungsführung unterstützt und entlastet. Die Tätigkeit als kaiserlicher Kommissar beleuchtet nicht nur eine Seite der Beziehungen der Reichsstadt zum Kaiser, sondern auch ihrer Stellung im Reich und in ihrem regionalen Umfeld. Allerdings stellen die im vorliegenden Beitrag analysierten Einträge in den Findbüchern zum Reichshofratsarchiv allein keine Grundlage für eine entsprechende Untersuchung bereit, da sie zwar die Einsetzung einer Kommission in der Regel vermerken (,in puncto commissionis'), nicht aber, an wen der kaiserliche Auftrag erging. Die Ermittlung von Causen, in denen Frankfurt als Kommissar fungierte, erfordert also, was die reichshofrätliche Überlieferung betrifft, entweder die Durchsicht der Akten der überhaupt als Kommissionsfälle gekennzeichneten Vorgänge - jedenfalls mehrere Tausend - oder die Heranziehung der Resolutionsprotokolle, die die Einsetzung von Kommissionen jeweils ausweisen (,fiat commissio')· Die folgenden knappen Beobachtungen zur Tätigkeit Frankfurts als kaiserlicher Kommissar basieren auf der letztgenannten Quellengrundlage - wobei allerdings nur ein kleiner Ausschnitt, nämlich die reichshofrätlichen Kommissionsbeschlüsse in der Regierungszeit Kaiser Ferdinands ΙΠ., berücksichtigt werden kann53. Danach gehört die Reichsstadt Frankfurt durchaus zu den Ständen, auf die der Reichshofrat bei der Benennung von Kommissaren mit einer gewissen Regelmäßigkeit zurückgriff. Immerhin 19 Kommissionsaufträge lassen sich für die Jahre zwischen 1637 und 1657 in den reichshofrätlichen Resolutionsprotokollen nachweisen. Damit gingen rund 3 % der Kommissionen, die der Reichshofrat im genannten Zeitraum einsetzte, an die Stadt. Unter den Reichsstädten nimmt Frankfurt damit einen führenden Platz ein. Die Reichsstadt Nürnberg erhielt im selben Zeitraum 12, die Stadt Augsburg sechs, die Stadt Regensburg gar nur drei entsprechende Befehle. Die Tatsache, daß Frankfurt zu den ausschreibenden Reichsstädten gehörte54, scheint - analog zur besonderen Bedeutung der ausschreibenden Kreisfürsten als kaiserliche Kommissare55 - zumindest keine ausreichende Erklärung für die zahlreichen Aufträge an Frankfurt zu sein. Zwar war auch die Stadt Ulm häufig als Kommissar für Kaiser und
So bemühte sich etwa der Frankfurter Jurist Johann Pickart um einen Vergleich zwischen Walpurga Breitenbach und ihren Gläubigem: RHR, Prot. rer. res. XVII/159, fol. 213 (1653 09 30). 53 Ich greife hier auf eine auf den Resolutionsprotokollen beruhende Liste aller zwischen 1637 und 1657 vom Reichshofrat eingesetzten kaiserlichen Kommissionen zurück, die ich im Rahmen meiner Dissertation erarbeitet habe: Ortlieb, Auftrag (wie Aran. 6) S. 5 7 117. 54 Jahns, Frankfurt (wie A r m . 8), S. 153. 5 5 Ortlieb, Auftrag (wie Anm. 6), S. 82f. 52
Frankfurt vor dem Reichshofrat
Reich tätig (12 Aufträge), nicht aber die ebenfalls ausschreibende Stadt Straßburg (3 Aufträge). Entsprechend der Grundsätze des Reichshofrats bei der Auswahl seiner Kommissare übernahm die Stadt die Verhandlungsführung im Auftrag des Kaisers in der Regierungszeit Ferdinands ΠΙ. in etwa der Hälfte aller Fälle allein, während für die andere Hälfte der Causen ein weiterer Kommissar ernannt wurde. Mitkommissar Frankfurts war mit nur einer Ausnahme56 der Kurfürst von Mainz - ein wichtiger Nachbar, mit dem die Stadt also nicht nur Prozesse austrug, sondern bei der Regelung von Konflikten auf Reichsebene auch kollegial zusammenarbeiten mußte. Der Kommissar Frankfurt war wenig überraschend57 - vor allem mit Auseinandersetzungen in seinem weiteren regionalen Umfeld befaßt. Mehrfache Interventionen lassen sich zwischen 1637 und 1657 beispielsweise im Zusammenhang mit Reichshofratsverfahren der Häuser Nassau und Solms sowie in der Auseinandersetzung um die Schwalbachischen Reichslehen nachweisen58. Inhaltlich ging es dabei am häufigsten um Schuld- und Unterhaltsforderungen59. 8. Ergebnisse Die Analyse der Frankfurter Betreffe in den Findbüchern zum Reichshofratsarchiv vermittelt einen Überblick über die Zusammenhänge, in denen die Reichsstadt sowie ihre Einwohner, Korporationen und Institutionen das kaiserliche Gericht nutzten oder mit dessen Interventionen konfrontiert waren. Damit läßt sich die Funktion des Reichshofrats für die Stadt über rein formale Bestimmungen wie Zuständigkeitsregeln hinaus und jenseits der Details einzelner Fälle grundsätzlich beschreiben. Danach entwickelte sich das kaiserliche Gericht erst im 18. Jahrhundert zu einer Instanz, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit in den Konflikten der und mit der Stadt, vor allem aber ihrer Bewohner angerufen wurde. Im 16. und 17. Jahrhundert dagegen fungierte der Reichshofrat aus Frankfurter Sicht in erster Linie als Institution, vor der Dritte ihre Ansprüche gegen die Stadt durchzusetzen versuchten, sowie als Anlaufstelle für die Bewahrung der so wichtigen kaiserlichen Privilegien. Die Konzentration reichshofrätlicher Verfahren im Zusammenhang mit Frankfurt auf das 18. Jahrhundert ist so deutlich, daß sie nicht mit reichsweiten Entwicklungen wie einer generell stärkeren Inanspruchnahme des kaiserlichen Bader contra Bader, Appellation im Streit um eine Schuldforderung: RHR, Prot. rer. res. XVn/159, fol. 35f. (1653 08 13). Mitkommissar: Stadt Ulm. 57 Die räumliche Nähe gehörte zu den wichtigsten Grundsätzen des Reichshofrats bei der Auswahl seiner Kommissare: Ortlieb, Auftrag (wie Anm. 6), S. 85f. 58 Bury contra Nassau: RHR, Prot. rer. res. XVII/122, fol. 370f. (1641 12 05), Nassau contra Nassau: ebd. XVn/125, fol. 191 (1642 07 26), Solms contra Hessen: ebd. X V n / 1 2 8 , fol. 187 (1643 07 17), Solms contra seine Gläubiger: ebd. XVII/166, fol. 11 (1655 09 03), Schwalbachische Reichslehen: ebd. XVII/122, fol. 363 (1641 11 27). 59 Auch dieser Befund stimmt mit dem Ergebnis der Analyse der Gesamtheit der Reichshofratskommissionen zwischen 1637 und 1657 überein, die ,Wirtschaft' (ca. 35 %) und ,Familienverband' (ca. 30 %) als wichtigste Streitgegenstände des Kommissionsverfahrens ausweist: Ortlieb, Auftrag (wie Anm. 6), S. 92, Abb. 6. 56
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Gerichts im 18. Jahrhundert erklärt werden kann. Entscheidend für das Verhältnis zwischen Reichsstadt und Reichsgericht scheint sich weniger die bereits seit dem Mittelalter bestehende Funktion Frankfurts als Wahlstadt des Reichsoberhaupts sowie - im 18. Jahrhundert - als Krönungsstadt ausgewirkt zu haben, obwohl die Präsenz des Kaisers die Anrufung des Reichshofrats stark ansteigen lassen konnte60. Als wichtiger erwies sich offenbar das ,zweite' Aufbrechen innerstädtischer Auseinandersetzungen um die Stadtverfassimg ganz im Gegensatz zum Aufstand der Jahre 1612-161661. Dieses ,zweite' Aufbrechen brachte neben dem ,großen' Verfassungskonflikt der Jahre 1705 bis 1732 zahlreiche weitere, im Detail recht verschiedenartige Streitigkeiten vor das Reichsgericht, die sich letztlich alle um Fragen der Stadtverfassimg drehten. Darüber hinaus scheint die Präsenz des Kaisers durch kaiserliche Kommissionen und die vielen laufenden Verfahren in Verfassungsdingen die Frankfurter dazu ermuntert zu haben, auch andere Konflikte durch eine Anrufung des Reichshofrats einer Lösung näherzubringen. Insbesondere dieses Prozeßpotential, aber auch die vielen kleineren Auseinandersetzungen im Zusammenhang mit der Stadtverfassung fielen durch die Beilegung des Verfassungskonflikts 1732 nicht weg, sondern nahmen sogar noch zu. Deswegen stellt das Jahr 1732 keine Zäsur in der Inanspruchnahme des Reichshofrats im Zusammenhang mit Frankfurt dar. Eine der entscheidenden Fragen, die der im vorliegenden Beitrag gewählte methodische Zugriff offenlassen muß, betrifft die Rolle Frankfurts in den reichshofrätlichen Überlegungen und damit die Funktion der Reichsstadt einerseits für den Reichshofrat, andererseits für die kaiserliche Reichspolitik. Die Tätigkeit Frankfurts als kaiserlicher Kommissar gehört in diesen Zusammenhang; ihre weitere Analyse würde zugleich einen bisher vielleicht zu wenig beachteten Aspekt der Verankerung der Reichsstadt in der Region und ihrer regionalen und Reichspolitik beleuchten62. Weitere Aufschlüsse könnten
Im Jahr 1742, in dem der Reichshofrat des wittelsbachischen Kaisers Karl VII. in Frankfurt tagte, wird der Spitzenwert bei den Frankfurter Reichshofratsprozessen in der Frühen Neuzeit erreicht (25 Causen). Ahnlich hohe Werte lassen sich aber auch für die Jahre 1736 und 1804 (jeweils 24 Verfahren) nachweisen. Zu Frankfurt als Residenz Karls VII. Duchhardt, Frankfurt (wie Anm. 8), S. 277-281. 61 Die Analyse der reichshofrätlichen Überlieferung bzw. ihrer Verzeichnung stützt daher Interpretationen, die die Unterschiedlichkeit der beiden Konflikte im 17. und im 18. Jahrhundert betonen, so z.B. Joachim Eibach, Frankfurter Verhöre, Paderborn u.a. 2003, S. 128f. Auch Helmut Böhme, Frankfurt und Hamburg, Frankfurt a.M. 1968, S. 103-107, hat darauf hingewiesen, daß die Auseinandersetzungen um die Stadtverfassung nach dem Kompromiß des Jahrs 1732 weitergingen, dazu auch Soliday, Community (wie Anm. 9), S. 29f. Böhme geht aber - nach den im vorliegenden Beitrag erarbeiteten Ergebnissen fälschlicherweise - auch von einer verstärkten Anrufung des Kaisers nach dem Ende des Fettmilchaufstands aus (S. 99). Zum Andauern der Anrufung des Reichshofrats nach 1732 auch Duchhardt, Frankfurt (wie Anm. 8), S. 269. 62 Auf die Bedeutung der kaiserlichen Kommissionen als strukturierende Faktoren in der Region hat insbesondere Sabine Ulimann, Bank (wie Anm. 6), hingewiesen. 60
Frankfurt vor dem Reichshofrat
aus der Untersuchung einzelner Prozesse, insbesondere der reichshofrätlichen Gutachten in diesem Zusammenhang, gewonnen werden. Offenbleiben muß angesichts der Qualität der derzeit vorhandenen Findmittel auch, auf welche Weise die Tätigkeit welcher Frankfurter Institutionen und Gerichte durch die Inanspruchnahme des Reichshofrats kontrolliert und beeinflußt wurde. Die große Zahl der als Appellationen gekennzeichneten Frankfurter Verfahren böten dazu reiches Material. Erst nach einer entsprechenden Untersuchung ließe sich der Reichshofrat nicht nur als Element der Frankfurter Rechts- und Gerichtslandschaft präsentieren, sondern auch seine Funktion innerhalb dieser komplexen Gemengelage bestimmen.
Eva Ortlieb
Abb. 1: Die Inanspruchnahme des Reichshofrats im Zusammenhang mit Frankfurt (1530-1806)
Die Inanspruchnahme von furistenfakultäten
Anja Amend Die Inanspruchnahme von Juristenfakultäten in der Frankfurter Rechtsprechung. Zur Rolle der Spruchkollegien auf territorialer Ebene und ihre Bedeutung für das Reich „Auß beyliegenden hirmit wider zurück kommenden original Actis haben Wir mit mehreren ersehen, ... wie eine strittige Sache erhoben, welche so weit rechtl. ausgeführet worden, daß man die verhandelte Acta aus bewegenden Ursachen zur Einholung eines Spruchs Rechtens ad impartiales zu versenden schlüssig worden, undt selbige an Unß Decan und andere Doctores der Juristen Facultät bey gemeiner Hochfürstl. Würtemberg. Universität Tubingen zu ... verschicken beliebet, umb solche Unserer Gewohnheit nach, mit Fleiß zu durchgehen, collegialiter zu erwegen undt neben remittirung derselben Unser rechtl. Gutachten ... unseren hochgeehrtesten Herrn wieder zukommen zu lasen dem zu gehorsamster Folge Wir nicht unterlassen wollen, zu Bezeugung Unserer Dienstgeflissenheit, so gleich die Acta mit gebührendem Fleiß zu durchlesen, reifflich zu erwegen, undt... Unß folgender Urthel zu vergleichen; die hier im Fall obhabenden richterl. Ambts zu publiciren und exequiren zu laßen keine bedenken tragen wollen"1. 1. Einleitung In dem Prozess, aus dessen Dokumenten dieses Zitat entnommen ist, hatte der Frankfurter Schöffenrat die Akte an eine Juristenfakultät versandt, damit diese in der Sache ein Urteil fällen möge. Anhand einer Reichsstadt erfährt die Untersuchimg der Tätigkeit von Juristenfakultäten die Besonderheit, dass die örtliche Gerichtsbarkeit für die Einholung eines Rechtsrats zwingend auf andere Territorien zugreifen musste. Weil es in Frankfurt selbst keine Universität gab2, mussten zwangsläufig außerhalb des Frankfurter Territoriums liegende Juristenfakultäten eingebunden werden. An diese Konstellation ist eine ganze Reihe von Fragen geknüpft, denen hier nachgegangen werden soll. Dabei ist im Lichte der Tagung von ganz besonderem Interesse, ob die Spruchtätigkeit der herangezogenen Kollegien als Teil der eigenen Rechts- und Gerichtsordnung empfunden oder aber als Eingriff in eine quasi souveräne Frankfurter Staatlichkeit gesehen wurde. Denn charakteristisch für die Frühe Neuzeit sind auch der Polyzentrismus unterschiedlicher Gerichtsforen und das Fehlen eindeutiger hierarchischer Zuordnungen3. Anhand der Tätigkeit der Juristenfakultäten lässt sich demnach womöglich klären, ob mehrere Rechtsprechungsforen, die in ein und dasselbe Verfahren eingebunden waren, miteinander kollidierten oder sich aber ergänzten. Außerdem lassen sich in diesem Zusammenhang Aussagen darüber treffen, welche Bedeutung die Tätigkeit der Spruchkollegien für das Reich hatte. Denn die Entwicklung zur modernen Staatlichkeit und damit auch zur exklusiven Geltung positiven ISG (= Institut für Stadtgeschichte) Frankfurt a.M. RKG Nr. 60, fol. 1. Sie wurde erst 1914 als Stiftungsuniversität gegründet. 3 Dazu Paolo Prodi, Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat, 2. Aufl., München 2005. 1
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Rechts durch den Staat war noch nicht abgeschlossen. Kennzeichnend für die Frühe Neuzeit war vielmehr auch die Gemengelage von Rechtsordnungen verschiedener Herrschaftsgebiete4. Insofern waren die Urteilsvorschläge geeignet, Recht setzend und in dieser Form grenzübergreifend Geltung zu erlangen. In diesem Zusammenhang soll der Frage nachgegangen werden, welche Rolle dem Reichskammergericht dabei zukam. Zuvor sollen jedoch die vorgefundenen Urteilsvorschläge selbst näher beleuchtet und ausgewertet werden. 2. Aktenversendungen in der Frankfurter Rechtsprechung mit wechselrechtlichem Bezug Die Untersuchung basiert auf der Auswertung von insgesamt 195 reichskammergerichtlichen Verfahren aus dem Frankfurter Aktenbestand. Ihnen gemeinsam ist, dass sie Schuldklagen aus Wechseln zum Streitgegenstand haben bzw. der in ihnen geschilderte Lebenssachverhalt Wechselgeschäfte tangiert5. Die Untersuchung konzentriert sich demnach auf einen ausgewählten Ausschnitt der Frankfurter Rechtsprechungstätigkeit und auf ein bestimmtes Rechtsgebiet. Als Quellen für die vorliegende Untersuchung dienten neben den Schöffengerichtsbüchern also vor allem die Reichskammergerichtsakten. Ihnen ist häufig die acta priora beigefügt, denen auch der Gang des unterinstanzlichen Verfahrens zu entnehmen ist. Fast immer enthalten gerade sie, die Reichskammergerichtsakten, gegebenenfalls einen Hinweis auf die Aktenversendung an eine Juristenfakultät oder sogar eine Abschrift der rationes decidendi der Fakultätsarbeiten6. An dieser Stelle ist darauf hinzuweisen, dass bei der Inanspruchnahme der Spruchkollegien ihre Funktionen als Gutachter einerseits und als Urteiler andererseits streng voneinander zu unterscheiden sind. Für die vorliegende Untersuchung von nur sekundärem Interesse ist die Gutachtentätigkeit der Fakultäten7. In sechs der 195 untersuchten Verfahren hielten die Prozessparteien es für angebracht, eine solche Expertise einer Juristenfakultät anzufordern8.
Dazu der Kurzüberblick bei Karl Härter, Das Recht des Alten Reiches: Reichsherkommen, Reichsgesetzgebung und „gute Policey", in: Stephan Wendehorst, Siegrid Westphal (Hg.), Lesebuch Altes Reich (Bibliothek Altes Reich, Bd. 1), München 2006, S. 87-94. 5 Die Verfahren dienten als Grundlage für die noch nicht veröffentlichte Habilitationsschrift der Verfasserin „Wechselverbindlichkeiten vor dem Reichskammergericht". 6 So bei ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 21, Aktennummer 40, ohne [Q], Nr. 60, ohne [Q], Nr. 250, Aktennummer 437, ohne [Q], Nr. 448, [Q] 9, No. 6, Nr. 949, rationes dubitandi et decidendi, ohne [Q], in Aktennummer 1465, Nr. 569, ohne [Q], Nr. 578, Aktennummer 982, ohne [Q], fol. 90-109, Nr. 1018 ohne [Q], Nr. 1213, ohne [Q], Nr. 1236, Aktenummer 1858, [Q] 45, Nr. 1560, ohne [Q]. 7 Hierzu insbesondere Ulrich Falk, Das Testament des Kaufmanns. Betrachtungen zu einem berühmten Rechtsfall, in: Rainer Maria Kiesow/Regina Ogorek/Spiros Simitis (Hg.), Summa, Dieter Simon zum 70. Geburtstag, Frankfurt a.M. 2005, S. 141-177, hier S. 149ff. Ders., Consilia. Studien zur Praxis der Rechtsgutachten in der frühen Neuzeit (Schriftenreihe des Max-Planck-Instituts für Europäische Rechtsgeschichte, 22), Frankfurt a.M. 2006. Ders., In dubio pro amico? Zur Gutachtenpraxis im gemeinen Recht, in: http: / / www.forhistiur.de/zitat/0008falk.htm. 8 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 21,37,578,799,949,1236. 4
Die Inanspruchnahme von Juristenfakultäten Die Tätigkeit der Spruchkollegien wurde dann als Beweismittel in den Prozess eingeführt oder diente dazu, die rechtliche Lage der Prozesspartei zu beurteilen und prozesstaktische Hinweise zu geben. So holte die im unterinstanzlichen Verfahren unterlegene Cornelie de Rhön gleich zwei Gutachten ein, um sicherzugehen, dass ihre Appellation erfolgreich sein werde 9 . Bislang wurde vor allem die Spruchtätigkeit einzelner Juristenfakultäten beleuchtet; Ausgangspunkt der Untersuchungen bildete demnach vor allem die Institution selbst. Stellvertretend für eine ganze Reihe anderer sei hier insbesondere auf die herausragenden Arbeiten zur Spruchtätigkeit der Wittenberger Juristenfakultät von Heiner Lück und der Halleschen von Bernd Schildt hingewiesen10. Nunmehr wird - gewissermaßen umgekehrt - ausgehend von Die Universitäten Halle und Gießen bestätigten ihre Rechtsposition, ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1236. 10 Heiner Lück, Die Spruchtätigkeit der Wittenberger Juristenfakultät, Köln 1998. Bernd Schildt, Spruchtätigkeit der Halleschen Juristenfakultät nach dem Wiener Kongreß, Halle-Wittenberg 1980. Daneben zu diesen und anderen Fakultäten, freilich ohne Anspruch auf Vollständigkeit: Tilo Ahrens, Aus der Lehr- und Spruchtätigkeit der alten Duisburger Juristenfakultät (Duisburger Forschungen, Beih. 4), Duisburg-Ruhrort 1962. Gottfried Baumgärtel, Die Gutachter- und Urteilstätigkeit der Erlanger Juristenfakultät in dem ersten Jahrhundert ihres Bestehens (Deutsche rechtswissenschaftliche Hochschulschriften, 4), Erlangen 1952. Gerhard Buchda, Zur Geschichte der Jenaer Juristenfakultät bis zum Ausgang des 19. Jahrhunderts, in: Lothar Krahner/Gerhard Lingelbach (Hg.), Gedächtnisschrift für Gerhard Buchda: 22. Oktober 1901-20, Dezember 1977, Jena 1997, S. 103-122. Karl Heinz Burmeister, Einflüsse des Humanismus auf das Rechtsstudium am Beispiel der Wiener Juristenfakultät, in: Gundolf Keil/Bernd Moeller/Winfried Trusen (Hg.), Der Humanismus und die oberen Fakultäten (Mitteilung der Kommission für Humanismusforschung, 14), Weinheim 1987, S. 159-171. Sabine Dieckmann, Die Marburger Juristenfakultät in der Weimarer Republik, Marburg 2001. Wilhelm Ebel, Zur Geschichte der Juristenfakultät und des Rechtsstudiums an der Georgia Augusta (Göttinger Universitätsreden, 29), Göttingen 1960. Kurt Ebert, Die Grazer Juristenfakultät im Vormärz (Grazer rechts- und staatswissenschaftliche Studien, 22), Graz 1969. Karl Konrad Finke, Die Tübinger Juristenfakultät 1477-1534 (Contubernium, 2), Tübingen 1972. Emil A. Friedberg, Die Leipziger Juristenfakultät, ihre Doktoren und ihr Heim, 14091909 (Festschrift zur Feier des 500jährigen Bestehens der Universität Leipzig, 2), Leipzig 1909. Hartmut Frommer, Die Erlanger Juristenfakultät und das Kirchenrecht 1743-1810 (Jus ecclesiasticum, 21), München 1974. Jörgen Haalck, Die Gutachter- und Urteilstätigkeit der Rostocker Juristenfakultät in ihrem äußeren Verlauf, Jena 1957. Ders., Zur Spruchpraxis der Juristenfakultät Frankfurt an der Oder, in: Heimatkunde und Landesgeschichte. Zum 65. Geburtstag von Rudolf Lehmann (Veröffentlichungen des Brandenburgischen Landeshauptarchivs, 2), Weimar 1958, S. 151-169. Norbert Hasselwander, Aus der Gutachter- und Urteilstätigkeit an der alten Mainzer Juristenfakultät, Wiesbaden 1956. Antonius Jammers, Die Heidelberger Juristenfakultät im neunzehnten Jahrhundert als Spruchkollegium (Heidelberger rechtswissenschaftl. Abhandlungen, N.F. 14), Heidelberg 1964. Ekkehard Kaufmann, Soll man den Dieb hängen? Urteile der Göttinger Juristenfakultät am Ende des Zeitalters der Aufklärung, in: Jost Hausmann/Thomas Krause (Hg.), „Zur Erhaltung guter Ordnung", Köln 2000, S. 401-426. Werner Kellner, Consilia Hallensium jureconsultorum (Die Spruchpraxis der Halleschen Juristenfakultät in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts), Magdeburg 1908. Friedrich Eckehard Kempter, Die Gutachten- und Urteilstätigkeit der Juristenfakultät IngolstadtLandshut-München in formeller und materieller Sicht, München 1975. Johannes Gottlieb Klingelhöfer, Die Marburger Juristenfakultät im 19. Jahrhundert (Beiträge zur hessischen Geschichte, 7), Marburg 1972. Engelbert Klugkist, Die Göttinger Juristenfakultät als 9
Anja Amend einer unterinstanzlichen Gerichtsbarkeit danach gefragt, in welchem Maße und in welcher Form diese und eventuell auch die streitenden Parteien die Tätigkeit der Juristenfakultäten einerseits in Anspruch nehmen konnten und andererseits tatsächlich nahmen 11 . Die transmissio actorum war ein Verfahrensmodell, bei dem deutsche Gerichte die vollständigen Prozessakten eines Zivil- oder Strafverfahrens Professoren einer juristischen Fakultät zur Entscheidung vorlegten. Nach Aktenlage erstellten sie einen Entscheidungsentwurf, der durch seine gerichtliche Verkündung in Rechtskraft erwuchs. Trotz - oder aus Sicht der Spruchkörper gesehen gerade wegen - seiner schon zeitgenössischer Kritik ausgesetzten Schwächen, hierzu zählen insbesondere die lange Verfahrensdauer und die hohen Kosten, erfreute sich das Verfahren großer Beliebtheit; so haben statistische Auswertungen universitären Archivmaterials ergeben, dass zum Beispiel allein die Universität Jena in dem Zeitraum zwischen 1744 und 1755 durchschnittlich rund 820 Akten pro Jahr bearbeitete. Insgesamt sollen dort seit der Aufnahme der Expertisentätigkeit im Jahr 1558 insgesamt etwa 200 000 Vorgänge begutachtet worden sein12. Die Professoren verdienten sich durch die KonsiliartätigSpruchkollegium (Göttinger Rechtswissenschaftliche Studien, 5), Göttingen 1952. Martin Kretschmer, Urteil und Belehrung der Rechte durch Ihrer fürstlichen Gnaden Juristenfakultät zu Rostock (Rostocker rechtsgeschichtliche Reihe, 1), Aachen 2003. Rolf Lieberwirth, Die Außenwirksamkeit der Wittenberger Juristenfakultät, in: Heiner Lück (Hg.), Rechtshistorische Schriften, Weimar u.a. 1997, S. 237-254. Ders., Zur Spruchtätigkeit der Juristenfakultäten Halle und Wittenberg, in: Ders. (Hg.), Rechtshistorische Schriften, Weimar u.a. 1997, S. 219-226. Sönke Lorenz, Aktenversendung und Hexenprozeß. Dargestellt am Beispiel der Juristenfakultäten Rostock und Greifswald (1570/82-1630) (Studia philosophica et histórica, 1), Frankfurt a.M. 1982 u. 1983. Ders., Die letzten Hexenprozesse in den Spruchakten der Juristenfakultäten, in: Sönke Lorenz/Dieter R. Bauer (Hg.), Das Ende der Hexenverfolgung, Stuttgart 1995, S. 227-247. Ders., Die Rechtsauskunftstätigkeit der Tübinger Juristenfakultät in Hexenprozessen (ca. 15521602), in: Sönke Lorenz/Dieter R. Bauer (Hg.), Hexenverfolgung (Quellen und Forschungen zur europäischen Ethnologie, 15), Würzburg 1995, S. 241-320. Ders., Zur Spruchpraxis der Juristenfakultät Mainz in Hexenprozessen, in: Gunther Franz/Franz Irsigler (Hg.), Hexenglaube und Hexenprozesse im Raum Rhein-Mosel-Saar, Trier 1995, S. 73-87. Gerhard Muirimenhoff, Die Juristenfakultät Altdorf in den ersten fünf Jahrzehnten ihres Bestehens, 1576-1626, Erlangen 1958. Gerhard Pätzold, Die Marburger Juristenfakultät als Spruchkollegium (Beiträge zur hessischen Geschichte, 5), Marburg (Lahn) 1966. Heinz Plathe, Die Einholung von Gutachten der Juristenfakultäten durch die Stadt Breslau, Breslau 1939. Alois Schikora, Die Spruchpraxis an der Juristenfakultät zu Helmstedt (Göttinger Studien zur Rechtsgeschichte, 4), Göttingen/Zürich/Frankfurt 1973. Gerhard Schormann, Aus der Frühzeit der Rintelner Juristenfakultät (Schaumburger Studien, 38), Bückeburg 1977. Clausdieter Schott, Rat und Spruch der Juristenfakultät Freiburg i. Br. (Beiträge zur Freiburger Wissenschafts- und Universitätsgeschichte, 30), Freiburg i. Br. 1965. Stefan Suter, Die Gutachten der Basler Juristenfakultät in Straffällen (Basler Studien zur Rechtswissenschaft, Reihe C, 6), Basel 1990. Rainer Weiss, Aus der Spruchtätigkeit der alten Juristenfakultät in Kiel, Heidelberg 1965. Nicht genannt wurden hier die ebenfalls zahlreichen Arbeiten, die sich ausschließlich mit dem Studium und der Lehre an den einzelnen Juristenfakultäten beschäftigen. 11 Dazu nunmehr auch die Einzelfallanalysen bei Falk (wie Anm. 7). 12 Gerhard Lingelbach, Vom Schöppenstuhl zum Oberlandesgericht - Zu vier Jahrhunderten Rechtsprechung in Jena - , in: Hans Joachim Bauer/Olaf Werner (Hg.), Festschrift
Die Inanspruchnahme von Juristenfakultäten
keit ein erkleckliches Zubrot; für die durch die Aktenversendung zusätzlich anfallenden Gebühren hatten die Parteien aufzukommen. Deren Vermögensverhältnisse waren deshalb für die Mitglieder der Kollegien von wesentlichem Interesse. So kamen die Professoren in der Sache des Barons von Holbach, einem Pariser Bankier, gegen den Frankfurter Handelsmann Jean Noe Gogel den Älteren und seine Ehefrau Maria Elisabeth zu dem Schluss, dass die prozessbeteiligten Eheleute eine „blühende Handlung, Ihre Kinder guten theils wohl versorget wissen, und nach männiglichem Dafürhalten beträchtliche Mittel besitzen", weshalb man sich bereit erklärt habe, „die freundliche Requisition" zu bearbeiten13. Hinsichtlich des normativen Fundaments, auf dem die Aktenversendung verankert war, regelte neben einigen Vorschriften in den Reichskammergerichtsordnungen insbesondere die Halsgerichtsordnung von 1532 die Aktenversendung recht detailliert. So unterschied der Schlussartikel 219 CCC verschiedene Verfahrensarten. Danach sollten sich die Gerichte für den bei der vorliegenden Untersuchung stets vorgefundenen Akkusationsprozess, bei dem im Gegensatz zum Inquisitionsverfahren das Vorliegen einer Parteiklage für die Einleitung eines gerichtlichen Prozesses zwingende Voraussetzung ist, zunächst an ihre traditionellen Oberhöfe wenden14. Nur für den Fall, da ein solcher Oberhofzug nicht bestand, hatten sie Rechtsrat bei ihrer Obrigkeit einzuholen. In der Frankfurter Reformation von 1509 und ihren erneuerten Versionen von 1578 und 1611, die bis in das frühe 20. Jahrhundert galt, war die Aktenversendung nicht verboten, obwohl man dies aus der Äußerung eines Appellanten schließen könnte: Danach sei das von den „Herren Schultheiß und Schöffen zu Franckfurth ... publicirte Urtheil ... „... von denen auswärtigen Rechts=Gelährten wiederrechtlich [Hervorhebg. durch d. Verf.] abgefaßet[e]" worden15. Die Rechtswirklichkeit deckt sich nur zum Teil mit den Vorgaben zur Aktenversendung: Faktisch kam es zu Aktenversendungen unabhängig von einem Oberhofzug. Aus dem Fehlen eines Verbots der transmissio actorum erklärt sich einerseits, warum manchmal in einer Sache eine Fakultät gleich mehrfach für Urteilsvorschläge bemüht wurde16, obwohl die Frankfurter Reformation keine Möglichkeit einer wiederholten Revision in derselben Instanz explizit vorsah.
zur Wiedererrichtung des Oberlandesgerichts in Jena, München 1994, S. 3—44, hier S.1619. Weitere Zahlen zusammenfassend bei Falk, Consilia (wie Anm. 7), S. 21-24. Ders., Testament des Kaufmanns (wie Anm. 7), S. 147f. 13 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 578, Aktennummer 982, ohne [Q], fol. 92 r. 14 Weitere reichsrechtliche Regelungen, die die Aktenversendung betrafen, siehe HansWolf Thümmel, Art. Spruchkollegium, in: HRGIV, Sp. 1781-1786, hier Sp. 1782. 15 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 46, ohne [Q], Aktenstück D, fol. 1 r. 16 So in ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 250 und 1154.
Anja Amend
Andererseits war die Aktenversendung nicht vorgeschrieben17, was ihr lediglich sporadisches Vorkommen erklärt. Es zeigt sich außerdem, dass die Einbindung der Universitäten in die Gerichtsverfassung nicht nur im Strafprozess zweckmäßig war, bei dem eine Appellation an das Reichskammergericht nach dem Augsburger Reichsabschied von 1530 reichseinheitlich untersagt war. Auch in Wechselsachen lag der Rückgriff auf die Spruchkollegien nahe, da es bis auf § 107 des Jüngsten Reichsabschieds von 165418 kein reichseinheitliches Wechselrecht gab, sondern nur eine Vielzahl regionaler Wechselordnungen19. In vielen Fällen wurde zudem in Wechselsachen der Zugang zum Reichskammergericht angezweifelt20. Schließlich waren die Mitglieder der Frankfurter Rechtsprechungsorgane nicht zwingend ausgebildete Juristen. Allerdings hatten sich die Bürgermeister und Schöffen im Allgemeinen durch ihren intensiven gerichtlichen Umgang mit Wechselstreitigkeiten ein entsprechendes Spezialwissen angeeignet. Und da Frankfurt Gerichtsstand auch für Wechsel sein konnte, bei denen Ausstellungs- und Erfüllungsort auseinander fielen, also Sachverhalte unter Umständen auch nach fremdem Recht zu beurteilen waren, ging dieses Wissen über die Kenntnis des Frankfurter Rechts hinaus21. So bescheinigte der anwaltliche Vertreter einer aus Leipzig stammenden Prozesspartei etwa der Frankfurter Bürgermeisterlichen Audienz als Richter erster Instanz eine „vorzügliche Wechselkunde"22. In diesem Sinn stellte auch der spätere Appellant Georg Friedrich Cleynmann der Jüngere in seiner von ihm herausgegebenen Druckschrift der species facti in Frage, warum das Schöffengericht nicht selbst zu einem Urteil gelangte und unterstellt andere Motive als bloß fehlende Fachkenntnisse. Dort heißt es: „Weilen dann in dieser ... Sache in Franckfurth nicht hat wollen [Hervorhebung durch Verf.] gesprochen werden, aus was Ursachen aber, ist unbekandt", seien die Verfahrensakten zur Urteilsfindung versendet worden23.
Reformación der stat Franckenfort am Meine des heiigen Romischen richs Cammer, a 1509, Druck von Johann Schöffer, Mainz 1509, neu hg. v. Gerhard Köbler, Gießen 1984. Der statt Franckenfurt am Mayn emewerte Reformation, Druck von Sigmund Feyerabend und Georg Rab, Frankfurt 1578. Letztere nunmehr auch unter URL http://digi.ub.urii-heidelberg.de/diglit/drwFrankfurtErnRefl578, zuletzt besucht am 19.05.2007. 18 In: Emst August Koch (Hg.), Neue und vollständige Sammlung der Reichsabschiede, Dritter Theil der Allgemeinen Reichs=Gesetze, bestehend in denen merckwürdigsten Reichs=Schlüssen Des Noch währenden Reichs=Tags, Frankfurt 1747, S. 660. 19 Die älteste deutsche Wechselordnung ist die von Hamburg (1603). Bis 1847 galten in Deutschland insgesamt 55 verschiedene Wechselordnungen. 20 Dazu näher Amend (wie Anm. 5). 21 Zu der Zuständigkeit der Frankfurter Gerichte in Wechselsachen im Einzelnen Amend (wie Anm. 5) unter Punkt C.V. 22 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 799, [Q] 22, fol. 9. 23 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 250, Aktennummer 437, species facti, S. 5, ohne [Q], 17
Die Inanspruchnahme von Juristenfakultäten Der Annahme, Aktenversendungen seien wegen der nahezu ausschließlich partikularrechtlichen Ausbildung und wegen des originär deutschrechtlichen Charakters des hier relevanten Wechselrechts kaum vorgekommen, stehen sowohl ihr tatsächliches Vorkommen in den untersuchten Verfahren als auch die Tatsache entgegen, dass sich in den Publikationen zur Konsiliartätigkeit der Fakultäten viele Verfahren mit wechselrechtlichem Einschlag finden, ja sogar eine spezielle Sammlung der gesamten Spruchtätigkeit einer Fakultät auf dem Gebiet des Wechselrechts existiert24: Johann Ludwig Uhi veröffentlichte Mitte des 18. Jahrhunderts die so genannten „Franckfurtischen WechselResponsa", wobei es sich um Gutachten und Entscheidungen der Juristenfakultät der Universität Frankfurt a.d. Oder handelt25. In dem Zeitraum zwischen Dezember 1634 und August 1748 beantwortete die Juristenfakultät insgesamt 158 Anfragen. Die Gesuche stammten aus einer Vielzahl von Städten, darunter Hamburg, Berlin, Lübeck26. Ratsuchende waren nicht nur die Parteien selbst, also Kaufleute oder Handelsgesellschaften, sondern auch die Spruchkörper, die um einen Urteilsvorschlag ansuchten: Neben dem Frankfurter Schöffenrat zählen u.a. auch der Hamburger Magistrat oder die Wolfenbütteler herzogliche Kanzlei dazu. Im Gegensatz zu den Entscheidungsgründen der Gerichte und insbesondere denen des Reichskammergerichts war die Publikation der Voten der Spruchkollegien nicht untersagt 27 . Im Gegenteil, unter den gelehrten Juristen war man der Ansicht, es bestehe gar eine Verpflichtung Im Gegensatz zu den hier gemeinten Publikationen im engeren Sinn liegen in einigen Fällen die Fakultätsarbeiten den Gerichtsakten als Druckschrift bei. Handelte es sich bei der Arbeit der Fakultät um ein von einer Partei als Beweismittel eingeführtes Gutachten, wie etwa in der Sache des Peter Aull gegen die Niederländische Gemeinde Augsburger Konfession, ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 37, erklärt sich dessen Veröffentlichung aus dem Bestreben, größtmögliche Aufmerksamkeit und hierdurch die Glaubwürdigkeit des eigenen Vorbringens zu erlangen bzw. zu erhalten. Außerdem war die Bekanntmachung wohl auch dadurch motiviert, den öffentlichen Ruf zu wahren. Bei Urteilsvorschlägen erklärt sich deren Druck dadurch, dass die eingeholten Urteile die Rechtsansicht der publizierenden Prozesspartei teilen und sie hierdurch ihre persönliche Position durch die beteiligte juristische Autorität nach außen dokumentieren wollen, ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 250, Druckschrift, S. 9-12, ohne [Q], 25 Johann Ludwig Uhi, Franckfurtische Wechsel-Responsa, welche von hiesiger hochlöbl. Juristen=Facultät von Zeit zu Zeit auf Begehren sind ausgestellet und ertheilet worden ..., II Sammlungen, Franckfurt a.d. Oder 1749/1750. Einen Gesamtüberblick über die Entscheidungsliteratur, die sowohl Rechtsprechungssammlungen und Konsilien umfasst, gibt Heinrich Gehrke, in: Helmut Coing (Hg.), Handbuch der Quellen und Literatur der neueren europäischen Privatrechtsgeschichte, 2. Band, 2. Teilbd.: Neuere Zeit: 1500-1800. Gesetzgebung und Rechtsprechimg (Veröffentlichungen des Max-PlanckInstituts für europäische Rechtsgeschichte), München 1976, S. 1343ff. 26 Daneben aus Bautzen, Breslau, Bührau, Coburg, Cottbus, Dessau, Dresden, Frankfurt/Oder, Halberstadt, Halle, Laubus, Leipzig, Liegnitz, Magdeburg, Minden, Neys, Ruhland, Schlesien, Senftenberg, Zittau. 27 Zum Verbot, Entscheidungsgründe abzufassen und der Öffentlichkeit zugänglich zu machen, Heinrich Gehrke, Die privatrechtliche Entscheidungsliteratur Deutschlands. Charakteristik und Bibliographie der Rechtsprechungs- und Konsilienliteratur vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts (lus Commune, Sonderhefte Texte und Monographien, Bd. 3), Frankfurt a.M. 1974, S. 23ff. 24
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der Juristenfakultäten, die von ihnen ausgearbeiteten Konsilien zumindest auf Anfrage zu veröffentlichen28. Insgesamt erfreute sich die Aktenversendung in Frankfurt einiger Beliebtheit. In insgesamt 17 Verfahren wurden die Akten zur Entscheidungsfindung versandt29. Wie sich einem anwaltlichen Schriftsatz entnehmen lässt, initiierte nicht nur das unterinstanzliche Gremium die Urteilstätigkeit der Juristenfakultäten. Vielmehr wurde dieser Weg auch auf Antrag beteiligter Prozessparteien eingeschlagen: Danach seien „sämtliche Acten, auf Ansuchen einiger appellatischer Creditoren, ... versandt worden, worauf dann auf eingeholten Rath auswärtiger Herrn Rechtsgelehrten noch folgendes Urthel gefallen .. ,"30. Weil der untersuchte Aktenbestand Parteigutachten bzw. Urteilsvorschläge enthält, war es möglich, die Erkenntnisse miteinander zu vergleichen. Dabei zeigt sich, dass sie einem in groben Zügen stets wiederkehrenden Muster folgen, und zwar unabhängig von ihrer Herkunft. Gutachten und Urteile lassen sich sowohl äußerlich als auch inhaltlich gut unterscheiden. Dieser Befund bestätigt die erstmals 1731 von dem Hallenser Professor Johann Peter von Ludewig formulierte31 und von Clausdieter Schott durch seine Untersuchung nachgewiesene Bevorzugung von Parteigutachten vor Urteilsentwürfen seitens der Professoren bzw. der Fakultäten. Letzterer konnte belegen, dass sich das Kollegium der Juristenfakultät der Universität Freiburg im Breisgau bei den Urteilsvorschlägen fast immer auf die Tenorierung und spärliche Rechtsausführungen hierzu beschränkte. Dagegen hätten sich die Parteigutachten durch größere Sorgfalt, Ausführlichkeit und beträchtlicheren Umfang ausgezeichnet32. Auch was die hier analysierten Konsilien betrifft, sind die von den Spruchkollegien abgefassten Urteile stets kürzer und weniger akkurat abgefasst33, dies betrifft das Schriftbild34, aber auch andere Formalien. Im Üb-
August Benedict Carpzov, Processus juris in foro Saxonico, 4. Auflage, Jena 1690, Tit. XVI., Art. I., n. 8ff. Johann Brunnemann, Tractatus juridicus de processu fori legitime instituendo et abbreviando, ..., Lipsiae 1659, cap. XXVII., η. 22, p. 159 seq. Jacob Friederich Ludovici, Einleitung zum Civil-Prozeß/Darinnen Wie sich der Kläger bey anstellung und fortsetzung der Klage/der Beklagte bey seiner rechtmäßigen Verantwortung/ingleichen der Richter beym decretiren in allen und ieden Arten vorkommenden Rechtfertigungen den gantzen Proceß hindurch zu verhalten habe ..., 3. Auflage, Halle 1711, Cap. XXV., § XV., p. 216. 2 9 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 2 2 , 4 6 , 6 0 , 1 8 6 , 250, 2 8 3 , 4 4 8 , 5 6 9 , 8 0 0 , 809,949,1018,1115, 1138, 1154, 1213, 1560. Vermutlich handelt es sich jedoch bei den Urteilen von Nr. 250 und 448 um ein und dasselbe. 30 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 250, Aktennummer 437, species facti, p. 5, ohne [Q], 31 Johann Peter von Ludewig, Consilia Hallensium iureconsultorum, Tom. I, Halle 1733, Vorrede, § XLI., p. XXXVII. 32 Schott, Rat und Spruch (wie Anm. 10), S. 71. 33 So haben die in den Akten vorgefundenen Parteigutachten folgenden Umfang: Bei ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 21, Aktennummer 40, ohne [Q], 18 Seiten, bei Nr. 578, Aktennummer 982, ohne [Q], fol. 90-109,40 Seiten und bei Nr. 1236, Aktenummer 1858, [Q] 45, 46 Seiten. Die untersuchten Urteilsvorschläge dagegen umfassen selten mehr als vier bis fünf Seiten, vgl. etwa ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 569, ohne [Q], 4 Seiten, Nr. 1018 ohne 28
Die Inanspruchnahme von Juristenfakultäten
rigen stehen die Urteile stets unter der Überschrift „Rationes decidendi" - im Gegensatz zu Parteigutachten, die von den Spruchkollegien abgefasst wurden; sie sind mit „Rechtliches Gutachten"35 oder „Responsum"36 betitelt. Es folgt sodann die Nennung der Parteien: „Daxelhöffers et Copmagnie ... Kläger an einem Conrad Lützen Beklagten andern theils"37 oder „In Sachen Anton Vienne Gläubiger ctr. ..." M . Hieran schließt ein üblicherweise gedrängter Tatbestand (species facti) an, gefolgt von der Verfahrensprüfung, meist unterteilt in unstreitiges und streitiges Vorbringen und die Beweislage. Nur vereinzelt wird noch umständlich mit Worten eingeleitet, wie sie dem eingangs wiedergegebenen Zitat zu entnehmen sind. Diese Präliminarien sind eher den Parteiexpertisen vorbehalten, bei denen zunächst die tätig gewordene Fakultät vorgestellt und festgestellt wird, dass und welche Akten ihr „zugeführet worden" seien39. Dem Urteilsvorschlag in der Sache, wonach etwa Lutz „an statt Wittmann bezahlet werden solle", ist eine Entscheidung bezüglich der Kosten angeschlossen40. Häufig folgen auf das „Urthel - In Sachen ..." sodann die „Ursachen So Unß fürnehmlich bewogen in dieser Sache"41. Diese so genannten „Ursachen" gleichen inhaltlich in weiten Teilen in Sprache und Aufbau einem Gutachten42: Dort sind die jeweiligen Rechtsfragen als Überschriften förmlich kenntlich gemacht. Meist folgen den jeweiligen Fragen sogleich die rechtlichen Erörterungen hierzu, die in weiten Teilen in lateinischer Sprache abgefasst sind, seltener sind sämtliche Fragen vorangestellt43 oder die juristischen Erwägungen ausschließlich in deutscher Sprache aufgezeichnet44. Der Aufbau der Konsilien folgt demzufolge nicht mehr dem noch im 16. Jahrhundert in der Literatur geforderten dreistufigen Modell, das sich in rationes dubitandi, rationes decidendi und rationes defudandi gliederte 4 5 . Denn sämtliche vorge-
fundenen Responsen sind ohne Ausnahme dem 18. Jahrhundert zuzuschreiben46; bei dem moderneren, zweistufigen Aufbau waren die rationes defudandi
[Q], 4 Seiten. Selten sind Letztere so ausführlich wie bei ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 60, ohne [Q], wo der Urteilsvorschlag insgesamt 23 Seiten stark war. 34 Zum Vergleich siehe die beiden beigefügten Auszüge aus einem Urteilsvorschlag und einem Gutachten. 35 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 578. 36 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1236, Gießen. 37 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1018. 38 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 569. 39 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 578,1236. 40 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1018, fol. 2 r. 41 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 60, fol. 2 r. 42 Dazu insgesamt auch Schott, Rat und Spruch (wie Anm. 10). Zusammenfassend Falk, Testament des Kaufmanns (wie Anm. 7), S. 152. 43 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1236, Gießen. 44 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 21. 45 So insbesondere Tiberius Decianus, Apologia pro iuris prudentibus, qui responsa sua edunt, Francofurdi 1589, cap. 22, η. 48, p. 42. 46 Dazu näher Anm. 86.
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in den rationes decidendi aufgegangen47. Im Einzelnen werden hierbei bei den untersuchten Konsilien herangezogene Rechtsquellen und Belegstellen exakt angegeben und durch Einrücken textlich besonders hervorgehoben. Inhaltlich werden die Ausführungen bei den Urteilsvorschlägen mit einem Schlusssatz beendet, der so oder ähnlich lautet: „Aus diesen in der Vernunft und in den Gesezen gegründeten Voraussetzungen ... haben wir in dieser Sache nicht anders als geschehen, erkennen können"48. Im Gegensatz zu den Gutachten werden jedoch bei den Urteilsvorschlägen die Verfahrensbeteiligten nicht anonymisiert; bei den Gutachten werden sie üblicherweise „Titius", „Cajus" und „Sempronius" genannt49. Selten werden die tatsächlichen Prozessparteien namentlich aufgeführt50. Diese Beschreibungen entsprechen übrigens den Fallbeispielen in zeitgenössischen Lehrbüchern zum Wechselrecht51. Nach einem den Text abrundenden Satz, wonach zum Beispiel „Inhalts des abgefaßten Urtheils von Unß billig erkandt"52 wurde, der so genannten Bekräftigungsformel, markieren Datierung, Siegel und Unterzeichnung den Schluss der Urkunde. Bei den Gutachten wird die Geschichtserzählung mit einer Bemerkung beendet, wonach von den Anfragenden „die freundliche Requisition an Uns gelanget" und zu mehreren Fragen „unsern in denen Rechten gegründete Meinung, cum Rationibus Dubitandi et Decidendi" gehört werden solle53. Den förmlichen Abschluss bilden auch hier die Datierung54, das Fakultätssiegel und die rechts daneben platzierte Unterzeichnung: „Urkundlich unserer Facultät größeren Insiegels. So geschehen Altdorff d. 26ten April 1778. Decanus und andere Doctores der Juristen-Facultät bey der Nürnberg. Universität daselbst"55.
Dazu auch Schott, Rat und Spruch (wie Anm. 10), S. 63, S. 167f., S. 181. Falk, Consilia (wie Anm. 7), S. 170-172, 176. Ders., Testament des Kaufmanns (wie Anm. 7), S. 152, S. 158. 48 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 21. 49 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 578,1236. 50 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 21. 51 Vgl. statt vieler etwa Johann Adam Beck, Wechsel-Recht In sich begreiffend, so wohl die Persohnen, welche diesem Recht unterworffen sind, als auch die verschiedene Arten und Gattungen derer Wechsel und Wechsel= Brieffen, ... zu observiren ist,..., Nürnberg 1729, und Johann Ludwig Span, Der freien Stadt Frankfurt am Main Wechsel-Recht. Aus dasigen Statutis, sonderlich der jüngsten Wechselordnung de 1739, methodice verfasset und mit dem gemeinen Wechsel-Recht überall verglichen, folglich zugleich als eine Einleitung zu dem letztern eingerichtet, auch mit einem vollständigen Register versehen, Franckfurt u.a. 1752. 52 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1018, fol. 2 ν. 53 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 578, Aktennummer 982, ohne [Q], fol. 92 ν. 54 Selten am Anfang, siehe etwa ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 21. 55 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 578, Aktennummer 982, ohne [Q], fol. 109. Ebenso ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1236 und Nr. 21, fol. 9 r, ohne Siegel. 47
Die Inanspruchnahme von Juristenfakultäten
Auszug aus der Sache Höbel gegen Vienne, bei der um einen Urteilsvorschlag angesucht wurde: ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 569, ohne [Q], fol. 1. 56
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Auszug aus der Sache der Cornelie de Rhön gegen Wilhelm Moritz von SolmsBraunfels, bei der zwei Parteigutachten angefordert wurden: ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1236, Gutachten der Universität Gießen.
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Die Inanspruchnahme von Juristenfakultäten
Hinsichtlich des Tätigwerdens der Spruchkollegien finden sich in den einzelnen Verfahrensakten lediglich die Beschlüsse des Schöffenrats, wonach mit dem Verfahren „fortgefahren und die acta förderlichst verschickt werden" solle58. Ersichtlich ist aber aus den Akten weder, warum die Entscheidung auf die eine oder andere Universität fiel noch wer sie traf. Das war nicht ungewöhnlich; schließlich hätte eine derartige Aktennotiz oder ein entsprechender Beschluss, von dem die Parteien Kenntnis erlangt hätten, im Widerspruch zu der Praxis gestanden, den Versendungsort vor den Parteien möglichst geheim zu halten59. Solche Informationen wären allenfalls dem Schriftverkehr der städtischen Gerichtsbarkeit zu entnehmen gewesen, der auch die Korrespondenz mit einzelnen Fakultäten enthalten hätte. Allerdings existieren die Extrajudizialia des Schultheißen und Schöffengerichts der Stadt Frankfurt am Main, die Aufschluss über Beweg- und Hintergründe für das eine oder andere Spruchkollegium hätten geben können, nicht mehr60. So lässt sich zum Beispiel nicht mehr klären, ob die jeweilige Besetzung des Gerichts auf die Inanspruchnahme der Spruchkollegien Einfluss hatte. Außerdem erschwert die zum Zwecke der Geheimhaltung vor den Parteien eingeführte, so genannte „mittelbare Aktenversendung" auch der rechtshistorischen Forschung Schwierigkeiten bei der Ermittlung der tätig gewordenen Fakultät. Dabei wählte das versendende Gericht einen Bestimmungsort aus und schickte das Missiv nebst der gesamten Akte zunächst an einen dritten Ort. Habe etwa die Reichsstadt Frankfurt Altorf als Destination ausgewählt, könne sie die vollständigen Unterlagen nebst Begleitschreiben mit der Bitte um Weiterleitung an den Magistrat zu Speyer senden. Dort mache man „natürlicher Weise keine Schwierigkeit, da in dem Schreiben dahin die Geheimhaltung als der Grund angegeben wird, und schickt das ganze Werkchen nach Altdorf". Zuweilen werde die Behutsamkeit gar so weit getrieben, dass man einem fremden Magistrat die Auswahl des Bestimmungsortes gänzlich überlasse, und lediglich die von den Parteien ausgenommenen Fakultäten anzeige61. Obwohl demnach bei der Frage, durch welche Kriterien die Auswahl der Spruchkollegien durch das
ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 809, Acta priora, fol. 439 v. Dazu näher Carl Friedrich Elsässer, Ueber den Geschäftgang von der Versendung der Akten an Rechtskollegien an bis zur Eröfnung des eingeholten Urthels, Stuttgart 1791, in: Wilhelm August Friedrich Danz, Grundsätze des ordentlichen Prozesses, 4. Ausg., Stuttgart, 1806, S. 1-78, hier §§ 27-33, S. 21-25. Schikora (wie Anm. 10) m. w. N., S. 19f. 60 Insgesamt sind die so genannten „Akten zum Gerichtswesen" für Frankfurt nicht mehr vorhanden. Der Bestand „responsa iuris et rationes decidendi" erfasst lediglich den Zeitraum zwischen den Jahren 1728 und 1785 und gibt darüber hinaus keinen Aufschluss über das Versendungsverfahren. Was die unterinstanzlichen Bürgermeisteraudienzen betrifft, sind zwar noch „Anlagen" zu den Jüngeren Bürgermeisteraudienzen verfügbar, doch erst für die Jahre ab 1726. Abgesehen davon ist kein Fall bekannt, bei dem dieses erstinstanzliche Gremium überhaupt Akten mit der Bitte um rechtliche Belehrung versandte. An dieser Stelle seien Gabriela Schlick-Bamberger und Dr. Michael Matthäus für ihre hilfreichen Auskünfte gedankt. 61 Elsässer, Ueber den Geschäftsgang (wie Anm. 59), § 31, S. 23. 58 59
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Frankfurter Gericht motiviert war, Raum für Spekulationen bleibt, lässt sich immerhin so viel sagen: Die Auswahl der Fakultäten scheint - zumindest was ihre Urteils- und nicht ihre auf Ansuchen der Parteien aufgenommene gutachterliche Tätigkeit betrifft - ungeachtet etwaiger Erwägungen zur Praktikabilität oder Prozessökonomie vorgenommen worden zu sein. So spricht zwar in der Sache des Wiesbadeners Johann Karl von Wandel gegen den Mainzer Domkaplan Johann Peter Serarius die Beschäftigung der Universität zu Gießen62 für das Auswahlkriterium „Ortsnähe". Doch dies ist eher ein Ausnahmefall. Viel häufiger werden unterschiedliche Fakultäten bemüht, auch wenn beide Parteien aus Frankfurt stammten. Aus dem untersuchten Aktenbestand ergibt sich, dass nicht nur Fakultäten aus der näheren Umgebimg Frankfurts, sondern Wissensbestände im ganzen Reich gesucht und damit auch vorausgesetzt wurden. Denkbar ist durchaus, dass der Frankfurter Schöffenrat personelle Kontakte zu Professoren an verschiedenen Fakultäten hatte, die aus Frankfurt stammten oder hier einmal tätig waren63. Konsultiert wurden neben der soeben erwähnten Gießener64 außerdem eine Reihe anderer bedeutender Fakultäten wie Frankfurt a.d. Oder65, Tübingen66, Leipzig67, Altorf bei Nürnberg68, Helmstedt69 und Halle70. Nur manchmal lässt sich die bemühte Juristenfakultät aus dem reichskammergerichtlichen Aktenbestand bzw. anderen Quellen nicht feststellen; in der Prozessgeschichte wird dann lediglich mitgeteilt, das untergerichtlich zuständige Frankfurter Gremium habe „auf Ansuchen auswärtiger Juristenfacultät" geurteilt71. Die hier sich abzeichnende Verteilung der konsul-
62 ISG
Frankfurt a.M. RKG Nr. 1560. Diese These muss hier offen bleiben. Für ihre Klärung bedürfte es der Durchsicht der jeweiligen universitären Archivbestände. 64 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1115 und Nr. 1560. Außerdem für ein Parteigutachten bei ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1236 befragt, Aktennummer 1858, [Q] 46. 65 Für ein Parteigutachten in der Sache des bekannten Frankfurter Handelshauses Ohlenschlager gegen seinen ehemaligen Handlungsbevollmächtigten Christian Jacob Andreae befragt, ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 21. Außerdem bei ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 949. 66 In der Sache des Frankfurter Bankiers Heinrich Bartels gegen die Wechselschuldnerin Henriette Amalie verw. Fürstin zu Nassau-Diez geb. Prinzessin von Anhalt-Dessau, ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 60, ohne [Q], und Nr. 800. Außerdem für ein Parteigutachten bei ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 37, [Q] 47 befragt. 67 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 186,569,1018. 68 Für ein Parteigutachten befragt, ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 578. 69 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1213. 70 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 250 und Nr. 448. Für ein Parteigutachten bei ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1236 befragt. 71 So etwa ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 22, [Q] 26, fol. 116 v., Acta priora [Q] 30, fol. 78. ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 46, ohne [Q], Aktenstück A, fol. 1 v., Aktenstück Β, fol. 2 r., April 1718, (Schöffengerichtsbuch 1718 ist gesperrt). ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 283, [Q] 12 a., fol. 100, in der Sache des Kurmainzischen Hoffaktors Salomon Abraham gegen Maria Magdalena Balde. ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 809, Acta priora, fol. 445 v., 466 v. und auf Beschluss des Schöffenrats vom 26.4.1732, ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1154, Acta priora, [Q] 52. ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1138, [Q] 2. Hinsichtlich eines Partei63
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tìerten Spruchkollegien auf das gesamte Reich ist ein Indiz dafür, dass der Akten versendende Frankfurter Schöffenrat um Objektivität bemüht war, und darum, dem Verdacht des Klüngels entgegenzusteuern; personelle Überschneidungen zwischen einzelnen Spruchkörpern, wie sie etwa von Benedikt Carpzov bekannt sind, sind nicht nachweisbar. Letzterer gehörte sowohl dem Leipziger Schöffenstuhl als auch dem Spruchkollegium der Leipziger Juristenfakultät und dem Leipziger Oberhofgericht an72. Dieses Streben nach Neutralität kam freilich nicht von ungefähr: Bestechungen bzw. die Bestechlichkeit von Mitgliedern der Spruchkollegien hielten sowohl Parteien als auch Richter für möglich, weshalb es auch, wie bereits erwähnt, einen Katalog von Maßnahmen gab, die einen direkten Kontakt zwischen Parteien und Spruchkollegien verhindern sollten73. Daneben gibt es auch es keine Anhaltspunkte dafür, dass einzelne Spruchkollegien als besonders spezialisiert auf dem Gebiet des Wechselrechts galten und deshalb häufiger frequentiert worden wären - die bereits erwähnte Fakultät der Universität Frankfurt a.d. Oder, die die „gesammelten Wechselresponsa" veröffentlichen ließ, ist in den vorgefundenen Fällen der Aktenversendung insgesamt nur zwei Mal um Rat gefragt worden. Vielmehr zeigt die Auswertung des hier herangezogenen Aktenmaterials eine ausgewogene Verteilung der gesamten Anfragen auf verschiedene Fakultäten. Allerdings haben sämtliche eingebundenen Spruchkollegien gemeinsam, dass sie, soweit ersichtlich, protestantischen Universitäten zugehörig waren. Diese Affinität lässt sich vermutlich auf den Umstand zurückführen, dass der Frankfurter Rat lutherisch war und man sich offensichtlich bevorzugt an konfessionell Gleichgesinnte wandte. Dieser Befund ist bezüglich des hier relevanten Wechselrechts von besonderem Interesse, weil es hier bei einigen Rechtsfragen konfessionelle Unterschiede gab. So schrieben verschiedene Wechselordnungen aus katholischen Gebieten Formeln wie „Valuta erhalten" oder „Wert erhalten" vor. Insbesondere Moraltheologen verteidigten dieses Prinzip noch bis weit in die Frühe Neuzeit, protestantische Territorien hielten dagegen weniger starr daran fest74. Mit den Formeln wurde angedeutet, dass der Aussteller die genannte Summe tatsächlich erhalten habe. Seit sich die moraltheologischen Autoren mit dem Zinsverbot des kanonischen Rechts auseinandersetzten, versuchte man das Wechselgeschäft vom Darlehen abzugrenzen. Das war nur möglich, wenn man an dem Bild des Austausches Geld gegen Geld festhielt.
gutachtens ISG Frankfurt a.M RKG Nr. 1236, [Q] 45, 46 Seiten stark. ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1236, [Q] 46,30 Seiten stark. Ebenso in ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 949. 72 Peter Oestmann, Artikel Aktenversendung, in: HRG, 2. Aufl., 1. Lieferung, Sp. 128132, hier Sp. 128f. 73 Näher dazu die Angaben unter Anm. 59. 74 Dazu auch Johann Gottlieb Heineccius, Elementa iuris cambialis commoda auditoribus Methodo adornata, Amsterdam 1746, S. 28f.
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Betrachtet man schließlich die Parteien der Verfahren, bei denen ein Spruchkollegium in die Entscheidungsfindung eingebunden war, lässt sich eine gewisse Prominenz ablesen: Einige Prozessbeteiligte gehörten dem Frankfurter Patriziat an75, es finden sich international bzw. überregional operierende Handelshäuser76, Bankiers77, Hoffaktoren78, Adlige79, hohe Geistliche80, der Gesandte des Kur- und Oberrheinischen Kreises Johann Noa de Neufville81, und, bemerkenswert, Mitglieder städtischer Rechtsprechungsorgane, nämlich ein Frankfurter Schöffe82 und der Wetzlarer Oberschultheiß Johann Heinrich Hobel83. Nur ausnahmsweise sind „gewöhnliche" Handelsleute an dem Streitfall beteiligt gewesen84. Dieser Befund deutet darauf hin, dass die Frankfurter Richter sich hier besonders absichern und womöglich nicht die Blöße einer Fehlentscheidung geben wollten. Auch Schott ist hinsichtlich der Tätigkeit des Spruchkollegiums der Universität Freiburg i.Br. zu dem Ergebnis gekommen, dass Gerichte glaubten, das Kollegium „nur in besonders schwerwiegenden Fällen bemühen" zu dürfen. Bei Zivilsachen habe es sich hierbei entweder um bedeutende Vermögenswerte oder um ein Verfahren zwischen gesellschaftlich privilegierten Parteien gehandelt85. Es zeigt sich somit, dass die Verfahren, bei denen ein Spruchkollegium in die Entscheidungsfindung eingebunden war, im Hinblick auf die beteiligten Parteien nicht den personellen Durchschnitt repräsentieren. Außerdem sind von den 195 Verfahren aus dem Frankfurter Bestand der Reichskammergerichtsakten, die der vorliegenden Untersuchung zugrunde liegen, nur 17 bekannt, in denen es zu einer Aktenversendung kam. Dies entspricht rund 9 %. Die demnach insgesamt als restriktiv zu beurteilende Einbindimg auswärtiger Juristenfakultäten durch die Frankfurter Gerichtsbarkeit deutet darauf hin, dass die
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Frankfurt a.M. RKG Nr. 250. ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 22 und 1018. Sie ließen im Übrigen auch geme Parteigutachten erstellen, ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 21,949 und 1236. 77 Darunter etwa das Bankhaus M.A. von Rothschild & Söhne, ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 800. Außerdem Nr. 60, 448. Auch in dieser Berufsgruppe findet sich ein Parteigutachten, ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 578. 78 Der kurmainzische Hoffaktor Salomon Abraham, ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 809. 79 Es handelte sich hierbei um Henriette Amalie, Fürstin zu Nassau-Diez, geb. Prinzessin von Anhalt-Dessau, ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 60. 80 Der Mainzer Domkaplan Johann Peter Serarius, ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1560. 81 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1115. 82 Bartholomäus von Backhausen, 1699 in den Reichsadelsstand erhoben und 1703 in den Frankfurter Senat gewählt, ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 46. Zu seiner Person Arthur Richel, Katalog der Abteilung Frankfurt, Bd. 2: Literatur zur Familien- und Personengeschichte, Frankfurt 1929, S. 22 m.w.N. 83 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 569. 84 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 186,1138, 1154 und 1213. In nur einem Fall ließ ein solcher „gewöhnlicher" Handelsmann ein Parteigutachten durch eine Juristenfakultät erstellen, ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 37. 85 Hier in Abgrenzung zu einem einzeln tätig werdenden Gerichtsberater, dessen Einbindung bei weniger spektakulären Fällen für hinreichend angesehen wurde, Schott, Rat und Spruch (wie Anm. 10), S. 63. 76
Die Inanspruchnahme von Juristenfakultäten
Aktenversendung als Einschränkung der obersten Gerichtsherrschaft angesehen wurde. Hierfür spricht auch, dass - ebenso wie an anderen Territorialgerichten allgemein üblich - auch die Urteile der Spruchkollegien in Frankfurt stets als eigene Entscheidung verkündet wurden, die Einbindung einer auswärtigen Fakultät somit nach außen zunächst nicht erkennbar war. Diesen Aspekten, die den Wunsch nach Souveränität betonen, steht allerdings entgegen, dass sämtliche vorgefundenen Urteilsvorschläge aus dem 18. Jahrhundert stammen, die letzten aus dem Jahr 179786. Damit laufen die Frankfurter Verhältnisse dem im 18. Jahrhundert einsetzenden, allgemeinen Trend zuwider, von der Aktenversendung zunehmend weniger Gebrauch zu machen. Ob darüber hinaus die Aktenversendung in Frankfurt tatsächlich erst durch die Reichsjustizgesetze von 1877/79 ein Ende fand, kann hier nicht beantwortet werden, weil der vornehmlich untersuchte Aktenbestand nur bis 1806 reicht, also bis zur Auflösung des Reichskammergerichts. 3. Das Verhältnis zwischen Reichskammergericht und Juristenfakultäten - zur Bedeutung der Spruchkollegien für das Reich In welchem Verhältnis nun standen das Reichskammergericht und die Juristenfakultäten? Wie ging das Reichskammergericht mit den Urteilen und insbesondere mit den den Akten beigefügten Entscheidungsgründen der Spruchkollegien um? Für andere bestimmte Themenkomplexe haben die Forschungen bereits ergeben, dass das Reichskammergericht durch seine Vorbildfunktion andere Gerichte und auch Juristenfakultäten beeinflusste87. Doch
86 Aus dem Jahr 1714 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1560, ohne [Q]; vermutlich aus den Jahren 1715 oder 1716 und ohne nähere Angabe ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 809; aus dem Jahr 1718 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 46, ohne [Q]; aus dem Jahr 1722 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1018, ohne [Q]; aus dem Jahr 1725 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 60, ohne IQ]; aus dem Jahr 1729 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1213, ohne [Q]; aus dem Jahr 1733 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1154, ohne [QJ; aus dem Jahr 1734 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 569, ohne IQ]; aus den Jahren 1736 und 1737 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 250, Aktennummer 437, ohne [Q], beide auch wiedergegeben in den gedruckten species facti, ebenda, ohne [Q]; aus dem Jahr 1737 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 448, [Q] 9, No. 6; aus dem Jahr 1755 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1115, ohne [Q]; aus dem Jahr 1765 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 283, [Q] 12 a., fol. 100; aus dem Jahr 1770 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 22, [Q] 26, fol. 116 v., Acta priora [Q] 30, fol. 78; aus dem Jahr 1776 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 949 und Nr. 186, [Q] 33; aus dem Jahr 1786 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1138, [Q] 2; aus dem Jahr 1797 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 800. Gleiches gilt auch für die von den Prozessparteien eingeholten Rechtsrat auswärtiger Fakultäten: Aus dem Jahr 1723 stammen die Gutachten bei ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 1236, Aktennummer 1858, [Q] 46 und [Q] 47; aus dem Jahr 1748 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 578, Aktenummer 982, fol. 90-109; aus dem Jahr 1775 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 37, [Q] 47; aus dem Jahr 1776 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 949; aus dem Jahr 1778 ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 21, ohne [Q]; ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 799 aus dem Jahr 1794. 87 Für die Hexenprozesse hat dies bereits Gerhard Schormann, Die Haltung des Reichskammergerichts in Hexenprozessen, in: Hartmut Lehmann/Otto Ulbricht (Hg.), Vom Unfug des Hexen-Processes. Gegner der Hexenverfolgungen von Johann Weyer bis Friedrich Spee, Wiesbaden 1992, S. 269-280, hier S. 280, festgestellt. Zu der umgekehrten
Anja Amend
auch umgekehrt wirkte die Spruchtätigkeit der Fakultäten auf das Reichskammergericht ein: War das untergerichtliche Verfahren durch Aktenversendung beendet worden, erhielt das Reichskammergericht neben den Prozessakten üblicherweise die Entscheidungsgründe der Konsiliatoren. Für Parteigutachten erlaubte § 96 des Jüngsten Reichsabschiedes von 1654 den Prozessbeteiligten, Konsilien nebst Entscheidungs- und Zweifelsgründen beim Reichskammergericht vorzulegen. Somit konnte das höchste Gericht in dem einen wie dem anderen Fall des Tätigwerdens von Juristenfakultäten hiervon profitieren: es war in die bequeme Lage versetzt, der eigenen Entscheidungs- und Begründungslast enthoben zu sein88. Schon Johann Brunnemann äußerte in seinem Traktat aus dem Jahr 1659 die Vermutung, das Gutachten erleichtere dem Richter die Fertigung der Relation89. Offiziell verwahrte sich das höchste Gericht wohl eher gegen eine solche Vorgehensweise; in der eben erwähnten Vorschrift heißt es, „daß ... solche Consilia aber weder in referendo noch votando Ziel oder Maaß geben, noch so viel das Factum belangt ... //90 . Doch anhand der untersuchten Verfahren, bei denen es zu einer Aktenversendung kam, lässt sich folgende Beobachtung machen: Bestätigte das Reichskammergericht in Appellationsprozessen das unterinstanzliche Urteil, lehnte es sich an dessen Entscheidungsgründe an. So machte sich das Reichskammergericht in der Sache Bucher gegen Hager die Ausführungen des Spruchkollegiums zunutze und ließ seine Erwägungen zum Teil gar wörtlich in die eigene Entscheidungsfindung einfließen91. An diesem Verfahren und einer längeren Reihe weiterer Fälle, bei denen die Assessoren des Reichskammergerichts die Voten der Spruchkollegien übernahmen92, zeigt sich demnach, dass auch und gerade die Richter am Reichskammergericht den Urteilen von Juristenfakultäten sehr wohl rechtsverbindlichen Charakter und damit eine gewisse Autorität beimaßen. In diesem Sinne interpretiert auch Schott diverse stadtrechtliche Vorschriften, die stadtherrlichen Gerichten den Rückgriff auf Inhalte eines Fakultätsgutachtens geradezu nahe legen: „Das Kollegialconsilium war bereits eine unparteiische Entscheidung, ausgesprochen von einer anerkannten Ratsund Spruchinstanz"93. Darüber hinaus gibt eine reichskammergerichtliche Anweisung zur Aktenversendung an eine Juristenfakultät Aufschluss darüber, wie das Reichskammergericht in institutioneller Hinsicht das Verhältnis zwischen Spruchkollegien und gerichtlichen Foren beurteilte. In der Sache gegen den WechselWirkung, also der Beeinflussung des Reichskanvmergerichts durch dessen Anerkennung unterinstanzlicher Rechtsprechung, siehe auch Amend (wie Anm. 5), Punkt F. ΠΙ. 88 So auch generell für Gerichte Falk, Testament des Kaufmanns (wie Anm. 7), S. 166. 89 Brunnemann, Tractatus juridicus (wie Anm. 28), cap. XXV., η. 8, p. 150. 90 Koch, Neue und vollständige Sammlung (wie Anm. 18), S. 657f. 91 BArchNr. 7917,1779, UBuchNr. 89, AR 1-1/280, fol. 86, unter § 5. 92 So etwa in der Sache Bourne gegen Küchler, ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 949. Für weitere Verfahren siehe Amend (wie Anm. 5). 93 Schott, Rat und Spruch (wie Anm. 10), S. 73.
Die Inanspruchnahme von Juristenfakultäten
Schuldner Fabricius kam das Reichskammergericht zu dem vorläufigen Ergebnis, dass sich der vorgeworfene betrügerische Bankrott nicht nachweisen lasse, ohne die Bücher des Fabricius einer eingehenden Prüfung zu unterziehen. Es ordnete hierfür an, der Frankfurter Schöffenrat solle zunächst selbst die Unterlagen eingehend prüfen und die Akten sodann an eine Juristenfakultät zur Entscheidung versenden94. Hieran wird deutlich, dass das oberste Reichsgericht die Spruchkollegien als Alternative bzw. Komplementärerscheinung zu den Gerichten jedenfalls achtete und unterstützte. Ob das Reichskammergericht die Frankfurter Richter für weniger kompetent hielt und deshalb die Einbindung einer Fakultät empfahl, oder aber sich hiervon durch die Verwertbarkeit des Votums selbst eine Arbeitserleichterung versprach, muss dahingestellt bleiben - plausibel erscheinen beide Motive. 4. Deutungsmuster 1. Die Untersuchung hat aufgedeckt, dass sich im Unterschied zum 19. Jahrhundert, das von einheitlichen Rechtssystemen und damit auch von einer einheitlichen Gerichtsverfassung geprägt war, die allgemein im Reich anzutreffenden, sich überlappenden Zuständigkeiten verschiedener Foren auch in der Reichsstadt Frankfurt wieder finden. Die Gerichtspraxis in Frankfurt und ihr restriktiver Umgang mit der Urteilstätigkeit von Juristenfakultäten deuten auf das Bemühen hin, das städtische Territorium in seinen Grenzen zu stärken. Einige Aspekte sprechen dafür, dass aus seiner Sicht die Tätigkeit der Spruchkollegien also vermutlich nicht als Bestandteil der eigenen Rechts- und Gerichtsordnung empfunden wurde, sondern vielmehr als Eingriff in eine quasi souverän verstandene Frankfurter Staatlichkeit. Ein solches herrschaftliches Selbstverständnis bestätigt das in anderen Zusammenhängen bereits skizzierte Bild des selbstbewussten und nach weitgehender Unabhängigkeit strebenden Frankfurter Patriziats. Demgegenüber steht die Tatsache, dass die faktische Durchsetzungsfähigkeit gerade der Reichsstädte weit hinter der von Landesfürsten zurückblieb. In diesem Spannungsverhältnis zwischen Wunsch und Realität erklärt sich das tatsächliche Vorkommen von Aktenversendungen als Erkenntnis, sich die fehlende Hoheitsgewalt in den Fällen zunutze zu machen, bei denen es sinnvoll erschien, die Verantwortung von sich abzuwälzen oder sich zumindest abzusichern. 2. Hinsichtlich der Vielfältigkeit der Rechtsquellen zeigt sich, dass die Aktenversendungen zu einer Professionalisierung der wechselrechtlichen Rechtsmaterie durch die Befassung wissenschaftlich ausgebildeter Juristen an den Juristenfakultäten führten, und dies, obwohl Wechselrecht nicht zum universitären Standardwissen gehörte. Das Erscheinen der Spruchtätigkeit einer Juristenfakultät in Buchform ist, auch wenn es von der Fakultät selbst in Auftrag gege-
Auf das Votum des Bericht erstattenden Assessors hin, BArchNr. 13876, 1755, UBuchNr. 65, AR 1-1/178, fol. 279. Näher zu dem Verfahren gegen Johann Friedrich Fabricius, ISG Frankfurt a.M. RKG Nr. 406. Amend (wie Anm. 5), unter Punkt A.VI.
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ben wurde, ein Zeichen dafür, dass es auch ein mit ihm korrespondierendes öffentliches Interesse an einem solchen Kompendium gegeben haben muss. Insbesondere die die Entscheidung tragenden Motive sind überaus aussagekräftig und offenbaren die hinter den Rechtsansichten verborgenen sozialen, gesellschaftlichen, politischen und nicht zuletzt ökonomischen Erwägungen der Spruchkörper95. Wie bereits Ludewig für die Gutachtentätigkeit der Fakultäten treffend bemerkte, finden sich in den Konsilien „manche schöne Nachrichten ...; wordurch man ins besondere überzeuget wird, von denen gemeinen Lehren abzugehen und, zur rechten Einsicht der [Vorgehensweise] dieses oder jenes Landes zu gelangen"96. Falk spricht in diesem Zusammenhang von der „Vorbild- und Informationsfunktion" der gedruckten Konsilien, die einen „unschätzbaren Beitrag zur Evolution des Rechts"97 leisteten. Für das hier eine zentrale Rolle spielende Wechselrecht, das in vielen Einzelfragen einer normativen Regelung entbehrte, bedeuteten die Veröffentlichungen darüber hinaus die Gelegenheit, juristische Erkenntnisse reichsweit zu verbreiten und damit auf dieser Ebene rechtsvereinheitlichend zu wirken. Die Aktenversendungen steuerten also gerade auf dem Gebiet des Wechselrechts der Rechtszersplitterung entgegen und festigten die Rechtssicherheit auf diesem Gebiet98. 3. Befördert wurde die Allgemeingültigkeit der Fakultätssprüche, indem sich das Reichskammergericht häufiger die rechtlichen Kernaussagen der Spruchkollegien zu Eigen machte. Damit sorgte das Reichskammergericht durch die reichsweite Geltungskraft seiner Entscheidungen nicht zuletzt ebenfalls für eine Rechtsvereinheitlichung. Diese trug dazu bei, auf normativer Ebene integrativ auf das Reich zu wirken.
Zu der überragenden Bedeutung konsiliatorischer Tätigkeit für die Rezeption des römischen Rechts vgl. nur Hermann Lange, Das Rechtsgutachten im Wandel der Geschichte, in: JZ 1969, S. 157-163, hier S. 161. 96 Ludewig, Consilia Hallensium (wie Anm. 31). 97 Falk, Testament des Kaufmanns (wie Anm. 7), S. 167. 98 So auch Oestmann, Artikel Aktenversendung (wie Anm. 72), allgemein für die Verbreitung der gemeinrechtlichen Lehren, Sp. 131. 95
Diplomatie und Recht
Thomas Lau Diplomatie und Recht - die Rolle des kaiserlichen Residenten bei innerstädtischen Konflikten in den Reichsstädten der Frühen Neuzeit Bremen, so führte der Rat der Stadt in einem Schreiben an den Reichshofrat vom 23.3.1683 aus, trage nicht umsonst den Schlüssel in seinem Wappen.1 Es sei als Grenzstadt gerade in Kriegszeiten von großer strategischer Bedeutung für das ganze Reich. Herrschten hier innere Unruhen, so seien die Folgen unabsehbar. Der einzige, der dies nicht zu begreifen scheine, sei ausgerechnet der kaiserliche Resident Theobald Edler von Kurtzrock. Dreimal habe er als kaiserlicher Kommissar Prozesse gegen den Rat verhandelt. Stets seien es die Kläger - die Älterleute, die Freischiachter und die Bierbrauer - gewesen, deren Rechtsposition er unterstützt habe. Seine Absicht sei es offenbar nicht, die alten „Pacte und Concordate" wieder in Kraft zu setzen. Er strebe Neuerungen an, stärke die winzige katholische Minderheit innerhalb der Stadt und tue alles, um die Autorität des Rates zu untergraben. So habe er öffentlich verlautbaren lassen, die Senatoren besäßen zu viel Macht. Man müsse sie nach dem Beispiel anderer Städte beschneiden. Am Rathaus habe er einen Anschlag angebracht, mit dem er jeden Bürger, der „etwas wieder uns hette", aufforderte, sich bei ihm zu melden. Die Bürger seien daraufhin haufenweise in sein Haus gelaufen und jeder habe Gehör gefunden. Im Laufe der Zeit habe er sich zu einer Art Rechtsberater für Unzufriedene entwickelt und mit Vorliebe streitlustige Advokaten in sein Haus gerufen. Seinem Einfluss sei es zu verdanken, dass in den sechs Jahren, die Kurtzrock in Bremen sei, mehr „Provokationen und Appellationen" aus Bremen an den Reichshofrat gelangt seien als in den 100 Jahren zuvor. Das Ergebnis all dieses Treibens sei der Umsturz der alten Ordnung hin zu einer puren Demokratie, die in letzter Konsequenz in Anarchie münden werde. Man bitte den Reichshofrat, diesem Treiben ein Ende zu bereiten und Kurtzrock endlich abzuberufen.2 War der kaiserliche Resident ein verdeckter Reichsvogt3, ein ,agent provocateur' aus Wien, der die Bürger aufhetzte, um selbst die Zügel in die Hand zu bekommen? War das Recht in den Händen dieses Diplomaten nicht mehr als ein willfähriges, machtpolitisches Instrument? Diese Schlüsse drängen sich bei der Lektüre des Beschwerdeschreibens der Bremer auf. Zumindest lädt es dazu ein, die Funktion des Gesandten als Vermittler zwischen politischen und juristischen Ebenen des Konfliktaustrages näher zu beleuchten. Im Folgenden
1 Einen Überblick über die komplexen Konfliktsstrukturen in Bremen gibt: Herbert Schwarzwälder, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen, Bd. 1, Bremen 1995. Sowie Klaus Schwarz, Die Lage der Handwerksgesellen in Bremen während des 18. Jahrhunderts, Bremen 1975. 2 HHStA Wien, RHR Decisa 973 (alt Β 208), Rat der Stadt Bremen an RHR, 10.2.1683. 3 Eine solche Position war nach Bestimmungen des Westfälischen Friedens nach 1648 de jure nicht mehr erreichbar. Zur Unwiderlöslichkeit von Reichspfandschaften: Johann Stephan Pütter, Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs, Teil 2, Göttingen (3) 1798, S. 208.
Thomas Lau
werden daher die Positionen der Residenten im reichsnahen Frankfurt und die der kaiserlichen Vertreter im reichsfernen norddeutschen Raum analysiert und miteinander verglichen. Bei Residenten handelte sich um ständige Gesandte. Als Geschäftsträger bekleiden sie - anders als Ambassadoren - einen niederen diplomatischen Rang und konnten (bzw. mussten) mit bescheidenem zeremoniellem Aufwand agieren.4 Die Stände des Reiches tauschten dergleichen Residenten regelmäßig aus und ersetzten damit den direkten Kontakt zwischen den Standeshäuptern, der spätestens nach der Einrichtung des Ewigen Reichstages in Regensburg seinen institutionellen Rahmen weitgehend verloren hatte.5 Besonders aktiv war der Kaiser, der die Residenten nutzte, um, wie Pütter meinte, die gegenseitige Kommunikation aufrecht- und „die Reichsverfassung in merklicher Thätigkeit" zu erhalten.6 Aus dieser Umschreibung des Staatsrechtlers sprach bereits eine eigenwillige Doppelfunktion. Kaiserliche Residenten waren Diplomaten und damit auf gleicher Augenhöhe mit Geschäftsträgern anderer Souveräne. Zugleich aber waren sie auch Repräsentanten eines höherrangigen Reichsorganes, das Ansprüche an das Gastland zu stellen hatte. Was sie eher waren, hing von den Rahmenumständen ab, unter denen sie agierten. Traten sie in Berlin, Stuttgart, Dresden, München oder Hannover meist in der typischen Diplomatenrolle auf, so konnten sie gegenüber den Reichsstädten ein deutlich anderes Gesicht zeigen.7 Die Tatsache, dass Wien seit Mitte des 17. Jahrhunderts verstärkt Residenten nach Augsburg, Bremen, Frankfurt, Hamburg, Köln und Lübeck entsandte, war angesichts der sinkenden politischen Bedeutung der Reichsstädte ohnehin überraschend. Ein Grund für diese Entscheidung lag zweifellos in ihrer Funktion als Schnittpunkte von Handel und Kommunikation. In Hamburg tummelten sich zu Beginn des 18. Jahrhunderts Vertreter aus England, Schweden, Dänemark, Preußen, den Niederlanden, Hannover, Florenz, Wolfenbüttel und Holstein8, die begierig Informationen über Truppenbewegungen, Handels-
Zum diplomatischen Rang des kaiserlichen Residenten: Johann Jacob Moser, Von denen kaiserlichen Regierungsrechten und Pflichten. Nach denen Reich-Gesetzen und dem Reichs Herkommen, wie auch nach denen Teutschen Staats-Rechts-Lehrem und eigener Erfahrung, Frankfurt a.M. 1772, Erster Teil, S. 1205-1206. 5 Helmut Neuhaus, Von Reichstag(en) zu Reichstag. Reichsständische Beratungsformen von der Mitte des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts, in: Heinz Duchhardt und Mathias Schnettger (Hg.), Reichsständische Libertät und habsburgisches Kaisertum (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Abteilung Universalgeschichte, Beih. 48), Mainz 1999, S. 135-149. 6 Johann Stephan Pütter, Historische Entwicklung der heutigen Staatsverfassung des Teutschen Reichs, Teil 3, Göttingen 1799, S. 219. 7 Zum kaiserlichen Gesandtschaftswesen allgemein: Klaus Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen im Jahrhundert nach dem Westfälischen Frieden (1648-1740), Bonn 1976. Müller konzentriert sich stark auf die Institutionengeschichte und gibt unentbehrliche Informationen über Verfahrensgänge, Kompetenzverteilungen und Personalauswahl. Eine prosopografische Untersuchung der Karriereverläufe der Diplomaten, der von ihnen aufgebauten Netzwerke, ihrer Funktion für die Reichsgerichtsbarkeit und ihrer Bedeutung im Prozess eines nationalen Kulturtransfers steht bislang aus. 8 HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten, Hamburg - Berichte 5c, 649r. 4
Diplomatie und Recht
hemmnisse, Seuchen und andere Ereignisse aufnahmen. 9 Man befand sich in Hamburg und Bremen ebenso wie in Frankfurt in einem Wettlauf um Informationsvorsprünge, die Handlungsspiebäume eröffneten.10 Wer beispielsweise als erster die aussichtsreichsten Kandidaten für die Würzburger Bischofswahl kannte, konnte rechtzeitig strategische Gefahren erkennen und entsprechend reagieren.11 In diesem Kontext konnten Residenten als Frühwarnsysteme von „Fünklein" dienen, die - wie der kaiserliche Resident in Frankfurt von Völckern hervorhob - rasch zu einer „großen Flamme" werden konnten.12 Neben die Sammlertätigkeit trat geradezu zwangsläufig die wechselseitige Kontaktaufnahme, die in Reichsstädten nach anderen Mustern ablief als in den Residenzstädten. Die kleinen Stadtrepubliken konnten den Akteuren des diplomatischen Spiels offenbar kaum Kommunikationsregeln auferlegen. Man interagierte gleichsam auf neutralem Boden und handelte die Bedingungen des Miteinanders immer wieder von neuem aus. Dies machte die Reichsstädte zu idealen Austragimgsorten für diplomatische Kongresse. Dies galt im besonderen Maße für die Messestadt Frankfurt, die als Tagimgsort des oberrheinischen und des kurrheinischen Reichskreises Ende des 17. Jahrhunderts zum Schauplatz weithin beachteter diplomatischer Treffen wurde. 13 Am bekanntesten sind zweifellos die Verhandlungen zwischen den Reichskreisen über eine große Kreisassoziation in den Jahren 1696 und 1697. Doch auch in den folgenden Jahren blieb die Stadt im Zuge von Verhandlungen zwischen der Kurpfalz und Frankreich eine diplomatische Bühne von Gewicht.14 Die Residenten leisteten bei diesen Großveranstaltungen vorwiegend vorbereitende und begleitende Arbeiten. Hauptvertreter des Kaisers war in dieser Zeit der Reichshofrat Johann Edler von Binder, der die intimen Kenntnisse des Residenten über die Reichsstadt und den Reichskreis in seinem Sinne zu nutzen wusste.15 Neben den Aufgaben der großen internationalen Politik trat jene der Reichspolitik. Residenten hielten Tuchfühlung zu den Reichskreisen und traten auf diese Weise in Kontakt mit den umliegenden Territorien. Kenntnisreich und loyal waren sie für den Reichshofrat daher eine naheliegende Wahl, wenn kaiserliche Kommissionen zu besetzen waren. Dies galt vor allem für den niedersächsischen Reichskreis, in dem der Reichshofrat aufgrund starker Regionalmächte und unzureichender Informationen äußerst vorsichtig agieren musste. Ob in Otterndorf tatsächlich noch ein weiterer Hauptmann installiert
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HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Hamburg - Berichte 5c, 75,113,172. Dazu gehörte auch das Bemühen, die Informationskanäle der Konkurrenz zu behindern, vgl.: HHStA Wien Decisa 973 (alt Β 208), RHR an den kaiserlichen Residenten von Kurtzrock, 10.2.1682 „in puncto imminentis periculi". 11 HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Frankfurt-Berichte, la, 98. 12 HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Frankfurt-Berichte, la, 64. 13 Deutlich wird dies auch auf dem Treffen der Verbündeten des Kaisers in Bremen 1676: HHStA Wien, Reichskanzlei Diplomatische Akten, Bremen - Berichte, 111,349. 14 HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten, Frankfurt-Berichte, la. 15 Zu Binder: Müller, Das kaiserliche Gesandtschaftswesen (wie Anm. 7), S. 252. HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Frankfurt-Berichte, la, 111. 10
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werden konnte16, ob man sich in den Erbstreit des Hauses Holstein um das Gut Rethwisch einmischen durfte17, wie die Frontlinien innerhalb des reformierten Lübecker Domkapitels verliefen18 - über all diese Fragen wusste der Hamburger Resident von Kurtzrock Auskunft zu geben. Doch nicht nur im norddeutschen Raum, sondern auch im westdeutschen nutzte Wien die besonderen Kontakte der kaiserlichen Diplomaten. Als ständiger Beobachter des oberrheinischen und des kurrheinischen Kreises versorgte der Frankfurter Resident seinen Dienstherrn laufend mit Informationen über regionale Konfliktlinien und schätzte zugleich deren Bedeutung ein.19 Dies machte auch ihn zu einem willkommenen Träger kaiserlicher Kommissionen, wenn auch der Anteil wichtiger Justizangelegenheiten im Tätigkeitsbereich von Völckerns weitaus geringer ausfiel als jener seines Hamburger Kollegen. Neben den Erbstreitigkeiten des Hauses Hessen Homburg war es die ebenso zeitraubende wie schwierige, aber auch lukrative Sequestration der zwischen Kurköln und Kurpfalz umstrittenen Stadt Kayserswerth, die ihn über Jahre hinweg regelmäßig beschäftigen sollte.20 Kommissionen wie diese waren für ihren Träger ebenso ehrenwert wie lukrativ, sie hatten jedoch auch ihre Schattenseiten. So machten die ausgezeichneten politischen Kontakte und die enge Kooperation der Residenten mit der Reichsjustiz sie für die Magistrate ihrer Gaststädte zu ausgesprochen unbequemen Gästen. Dies galt vor allem dann, wenn der Resident zugleich Postmeister der Thum und Taxischen Reichspost war, was auf die nach Hamburg berufenen Kurtzrock ebenso zutraf wie auf die in Frankfurt ansässigen von Wezel.21 Jener, der neutral Informationen weiterzuleiten hatte, war dann zugleich derselbe, der Informationen zum Nutzen seines Dienstherrn herbeischaffen sollte eine Konstellation, die die Hamburger Kaufleute 1706 aus naheliegenden Gründen zu verhindern versuchten.22 Sicher, ein Resident in den eigenen Mauern konnte auch nützlich sein. Dies stellten die Frankfurter fest, als sich Wolfenbüttler Truppen 1677 rechtswidrig in Frankfurter Dörfern einquartierten und sich der Resident massiv für die Interessen der Stadt einsetzte.23 Auch die Möglichkeit, den Kaiser auf direktem Wege auf Missstände (etwa im Münzwesen) aufmerksam zu machen, war den eigenen Interessen durchaus dienlich.24 Meist wirkte der kaiserlichen Diplomat jedoch eher als lästiger Beobachter, der Wien über die Unzulänglichkeiten und Regelverstöße des Rates berichtete. Die Berichte des Frankfurter Residenten offenbarten nicht nur pikante Details über die Neigung des Patriziats, sich 16
HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Hamburg - Berichte 5c, 30. HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Hamburg - Berichte 5c, 297ff. HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Hamburg - Berichte 5c, 342. HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Hamburg - Berichte 6a, 9. 19 HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Frankfurt-Berichte, la, 64. 20 Heck, Karl: Geschichte von Kaiserswerth. Chronik der Stadt, des Stifts und der Burg mit Berücksichtigung der näheren Umgebung, Düsseldorf 1905, S. 142,178. 21 HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Frankfurt - Berichte, lc. 22 HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Hamburg - Berichte 5c, 633,777. 23 HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Frankfurt - Weisungen, 3. 24 HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Frankfurt-Berichte, la, 25. 17
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Diplomatie und Recht Ehren- und Adelstitel ohne kaiserliches Privileg zuzulegen 25 , sie dokumentierten auch den mangelnden Eifer der Stadtoberen bei der Durchsetzung des Handelsboykotts gegen Frankreich.26 Ahnliches hatten auch die kaiserlichen Residenten in Hamburg, das in Boykottfragen ebenfalls zögerlich war, zu berichten.27 Dort trat jedoch ein weiterer Schwerpunkt in der Beobachtungstätigkeit der Residenten hinzu. Er betraf die angeblichen oder tatsächlichen Rechtsbrüche der dortigen Obrigkeiten gegenüber der katholischen Konfession. Anlass dieser Konflikte war zumeist das Verhalten der Residenten selbst, die in Konfessionsfragen aktiv die katholische Position zu fördern bemüht waren. 28 Deren Forderungen nach Privatkapellen und ihre Drohung mit strafrechtlichen Schritten, wenn katholische Bürger diskriminiert wurden, stießen in Wien auf Wohlwollen29, die reichsstädtischen Senatoren brachte man allerdings in höchste innenpolitische Bedrängnis.30 Dergleichen Profilierungsversuche auf Kosten der Magistrate gingen meist mit ähnlich prestigeträchtigen Streitigkeiten über den diplomatischen Rang der Residenten einher.31 Bezeichnend waren in diesem Zusammenhang die Begrüßungsworte des Frankfurter Rates an den künftigen kaiserlichen Vertreter von Völkern vom 23.7.1695, in denen die Senatoren der Hoffnung Ausdruck verliehen, seine Ernennung werde die Privilegien der Stadt nicht schmälern. 32 Es blieb nicht bei dergleichen verbalen Bekundungen der Distanz. Ängstlich bemüht, den Vertreter des Stadtherrn als einen diplomatischen Geschäftsträger niederen Ranges und damit wie jeden anderen Residenten zu behandeln, zweifelten die Magistrate zeremonielle Rechte beim Ratsempfang ebenso an, wie die Steuerbefreiung des Diplomaten.33 Bremen weigerte sich sogar über Jahre hinweg, HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Frankfurt-Berichte, lc, 27,80. HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Frankfurt-Berichte, lc, 27,71. 27 HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Hamburg - Berichte 5c, 223, 239. Wenn es allerdings um die Post ging, so konnte der Oberpostmeister Kurtzrock (zugleich kaiserlicher Resident) das Zögern der Stadtväter durchaus mit überzeugenden Argumenten gegenüber seinem Dienstherm in Wien rechtfertigen: HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Hamburg - Berichte 5c, 279. 28 HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Hamburg - Berichte 5c, 206. 29 Vgl. Begründung für Verleihung einer Ehrenkette an Kurtzrock: HHStA Wien, RHR Den. Ree. 462/5 (alt Κ 60). 30 HHStA Wien, RHR Decisa 973 (alt Β 208), RHR an Bischof von Münster, 5.4.1683. 31 HHStA Wien, RHR Decisa 973 (alt Β 209), „Bremen Exercitium Catholica Religionis Item Des Kayl. Residenten Wohnung daselbst betreffend". 32 HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Frankfurt-Berichte la, 23. 33 Für den Diplomaten als Experten des Zeremoniells, als Zeichensystem, mit dessen Hilfe soziale Ordnung hergestellt, verfestigt, reflektiert und vor allem immer wieder neu ausgehandelt wird, war eine protokollarische Zurücksetzung ein kaum zu verzeihende Affront. Um die eigene Ehre ebenso, wie die des Dienstherrn wiederherzustellen und wieder auf gleicher Augenhöhe mit Konkurrenz zu stehen, musste er seine Fähigkeit zum Gegenschlag unter Beweis stellen. Einen Überblick zur semiotischen Dimension des Zeremoniells geben: Barbara Stollberg-Rilinger, Zeremoniell als politisches Verfahren. Rangordnung und Rangstreit als Strukturmerkmale des frühneuzeitlichen Reichstags, in: Johannes Klinisch (Hg.), Neue Studien zur frühneuzeitlichen Reichsgeschichte (ZHF, Beih. 19), S. 91-132, hier S. 93. Dies., Zeremoniell, Ritual, Symbol. Neue Forschungen zur symbolischen Kommunikation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit, in: ZHF 27 (2000), 25 26
Thomas Lau seinem Residenten ein Haus zur Verfügung zu stellen. Der lästige Diplomat hatte sich mit einem Gasthof zu begnügen, aus dessen Zimmern regelmäßig geheime Unterlagen verschwanden. 34 Der diplomatische Kleinkrieg, der in diesem Verhalten zum Ausdruck kam, war Teil eines symbolischen Kampfes, mit dem die Reichsstädte einer schleichenden Mediatisierung entgegenzuwirken versuchten. Indem sie die Ansprüche des kaiserlichen Residenten auf eine bevorzugte zeremonielle Behandlung zurückwiesen, sandten sie auch eine Botschaft an ihren Stadtherren. Sie wollten, wie sie auch im Schriftverkehr gern bemerkten, als „Republiquen" und damit als ein den Reichsfürsten ebenbürtiger Reichsstand behandelt werden.35 Residenten und Magistrate standen damit potentiell in einem spannungsgeladenen Verhältnis. In den Augen der gereizten Diplomaten waren ihre wenig zuvorkommenden Gastgeber meist inkompetent und anmaßend. Dies machte sie, wie die Bremer Senatoren in dem eingangs zitierten Brief zu Recht bemerkten, für unzufriedene Bürger zu einem willkommenen Anlaufpunkt. 36 So auch in Frankfurt: Dort stand der kaiserliche Resident von Völckern seit seinem Amtsantritt mit dem Rat im Streit um seinen diplomatischen Rang. Er selbst sah sich als Vertreter des „höchsten Herrn und Oberhaupts" der Stadt, während die Senatoren ihn, so klagte er, wie einen Beisassen behandelten und selbst seine Steuerfreiheit zu „disputieren" begannen. Von Völckern sah dies als Angriff auf seine Reputation.37 Er revanchierte sich, indem er behutsam Kontakte zur Bürgeropposition aufnahm und deren Anliegen nach Kräften förderte. Als 1705 die offenen Bürgerproteste begannen, war von Völckern als enger Vertrauter der Bürgerkapitäns Fritsch bemüht, die Forderungen der Opposition zu unterstützen. Seine Berichte bildeten, wie ein Reichs-
S. 389—405. André Krischer, Ein nothwendig Stück der Ambassaden. Zur politischen Rationalität des diplomatischen Zeremoniells bei Kurfürst Clemens August, in: Annalen der historischen Vereins für den Niederrhein 205 (2002), S. 161-200. Dirk Schümer, Der Höfling. Eine semiotische Existenz, in: Journal für Geschichte (1990), S. 15-23. Zur Entwicklung der diplomatischen Rangstufen. Auch: Erich H. Markel, Die Entwicklung der diplomatischen Rangstufen, Erlangen 1951. Zum Diplomaten als Repräsentanten seines Monarchen: Hasso Hofmann, Repräsentation. Studien zur Wort- und Begriffsgeschichte von der Antike bis zum 19. Jahrhundert, Berlin 1974. Zur Professionalisierung der Diplomatie: William Roosen, The Age of Louis XIV. The rise of modem Diplomacy 14501919, London 1993. 34 HHStA Wien, Reichskanzlei Diplomatische Akten, Bremen - Berichte, 124. 35 Zu dieser Problematik: Moser: Von denen kaiserlichen Regierungsrechten, Erster Teil, S. 215. In diesem Zusammenhang wichtig ist das Bemühen der Reichsstädte im diplomatischen Verkehr als Republiken anerkannt zu werden. Der Republiktitel verwies auf den Besitz der vollen Landeshoheit und sollte die Eingriffsmöglichkeiten des Kaisers limitieren. Dazu: ibd. S. 1205, S. 1207-1210. Sowie: HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Hamburg - Berichte 6a, 452. Vgl. auch: Thomas Maissen, Petrus Valkeniers republikanische Sendung. Die niederländische Prägung des neuzeitlichen schweizerischen Staatsverständnisses, in: SZG 48 (1998), S. 149-176. 36 Grenzen fanden solche Sympathien, wenn die Proteste drohten, außer Kontrolle zu geraten. Bezeichnend ist etwa die Reaktion des kaiserlichen Gesandten in Hamburg von 1705: HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Hamburg - Berichte 5c, 346. 37 HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Frankfurt-Berichte lb, 155.
Diplomatie und Recht
hofratsgutachten vom 26.3.1711 deutlich zeigt, eine wichtige Grundlage für die Entscheidung des Reichsgerichts nach langem Zögern doch eine kaiserliche Kommission zu ernennen, die die inneren Verhältnis in der Stadt untersuchen und neu ordnen sollte.38 Dabei hatten die Frankfurter Senatoren noch Glück - der Resident war bei der Ernennung der Kommissare übergangen worden. Was geschah, wenn sich der Reichshofrat entschloss, seinen Residenten nicht nur um Informationen zu bitten, sondern ihn mit der Durchführung der Kommission zu betrauen, musste der Rat der Stadt Augsburg erfahren. Dort war 1716 der Resident Karl von Garbe gemeinsam mit dem Bischof von Konstanz damit beauftragt worden, eine neue „Regiments Ordnung" für die Stadt zu erarbeiten.39 Das sich bis 1739 hinziehende Unternehmen wurde für den Rat zu einem Alptraum. Stets präsent und wohl informiert, sammelt der Resident unermüdlich Materialien und Reformvorschläge. Die üblichen Versuche, den Prozess zu verschleppen, griffen in diesem Falle nicht. Der Resident beantwortete sie mit einer demütigenden Vorladung vor die Kommission. Dort beschied man den Senatoren unverblümt, man könne die Dinge auch dann entscheiden, wenn sie nicht kooperierten.40 Ahnliche Erfahrungen machten Bremen, Lübeck und Mühlhausen in Thüringen mit den kaiserlichen Kommissaren aus dem Hause Kurtzrock, die ab 1676 bis Mitte des 18. Jahrhunderts im norddeutschen Raum wiederholt in innerstädtische Konflikte eingriffen.41 Auch hier zeigte sich eine deutliche Distanz gegenüber den Senatoren. E>iese, so drückte es Theobald von Kurtzrock in einem Schreiben an den Reichshofrat vom 21.2.1684 mit Bezug auf die Verhältnisse in Bremen aus, begriffen einfach nicht, dass sie das obrigkeitliche Amt nur verwalteten. Einmal geschlossene Verträge stießen sie immer wieder um und dies mit einer provokanten Selbstgefälligkeit, die den inneren Frieden der Städte gefährde. Er habe selbst obrigkeitliche Amter innegehabt und konserviere „ihre Jura für heilig", die schlechte Verwaltung in der Stadt und die dauernden Rechtsbrüche der Obrigkeit seien jedoch nicht zu entschuldigen. Man müsse die Verfassung der Stadt endlich in einem Sinne ändern, wie dies in Lübeck und Hamburg schon geschehen sei.42 Der als Kommissar wirkende Resident tritt uns hier als eine nivellierende Kraft entgegen. Er dringt nicht nur auf politisches Wohlverhalten, sondern er setzt die Reichsstädte zugleich unter einen strukturellen Erwartungsdruck. Sie werden als einheitliche Kategorie innerhalb eines übergeordneten Rahmens
Zum Frankfurter Bürgerprozess und der Rolle von Völckerns allgemein: Paul Hohenemser, Der Frankfurter Verfassungsstreit 1705-1732 und die kaiserlichen Kommissionen, Frankfurt a.M. 1920. Das Schreiben von Völckerns an den Kaiser: ibd., S. 372-386. 39 Ingrid Batori, Die Reichsstadt Augsburg im 18. Jahrhundert. Verfassung, Finanzen und Reformversuche, Göttingen 1969, S. 35-39. 40 HHStA Wien, Reichshofrat Decisa Κ 293, Sitzung vom 31.1.1719. 41 Vgl. Thomas Lau, Bürgerunruhen und Bürgerprozesse in der Reichsstädten Schwäbisch Hall und Mühlhausen in der Frühen Neuzeit, Bern 1999. S. 404ff. 42 HHStA Wien, Decisa Κ 273 (alt 208), Kurtzrock an RHR, 21.2.1684. 38
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Thomas Lau begriffen, dem sie Treue und Konformität schulden. 43 Die Aufgabe des Residenten liegt damit in einem politisch-juristischen Kulturtransfer, den er mit Druck und Teilhabeverheißungen zu befördern weiß. 44 Er ist Teil eines Prozesses, in dessen Verlauf die Instanzen des Reiches in die Kommunikation zwischen Rat und Bürgern eingreift und deren politisches Selbstverständnis in neue Bahnen lenkt.45 Seine Einflussmöglichkeiten hatten allerdings juristische und politische Grenzen. Als Kommissar war er auf die Zustimmung des Reichshofrates angewiesen und hatte sich, wie die Rechtfertigung Kurtzrocks zeigte, in einem juristisch tragfähigen Argumentationsrahmen zu bewegen. Enger noch als dieses Korsett waren die politischen Rücksichten, die der Resident zu nehmen hatte. Seine diplomatische Stärke hing auf dieser Bühne nicht nur von seinen Kontakten zum Dienstherrn, sondern auch von seinem Geschick um Umgang mit den Vertretern den umliegenden Mächten ab. Gingen diese eigene Wege, so war er zu schwach eine selbstständige Position zu vertreten. Deutlich wurde dies während der Bürgerprozesse in den Reichsstädten Hamburg und Frankfurt, in deren Verlauf die Residenten eine zunehmend untergeordnete Funktion innehatten.46 Beide Städte spielten als politische und wirtschaftliche Zentren eine wichtige strategische Rolle und weckten daher die Begehrlichkeiten der Regionalmächte. Hier bedurfte es eines höherangigen Vertreters, eines klangvolleren Namens um dem Anspruch des Reichshofrates, Herr des Verfahrens zu bleiben, einen gewissen Nachdruck zu verleihen.47 Dies war auch der Grund, aus dem der Name von Völckern auf der Liste der Kommissare und Subdeligierten fehlte als 1716 das Untersuchungsverfahren
Thomas Lau, Die Reichsstädte und der Reichshofrat, in : Wolfgang Sellert (Hg.), Reichshofrat und Reichskammergericht. Ein Konkurrenzverhältnis (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = QFHG 34), Köln/Weimar/Wien 1999, S. 129-154. 44 Dazu grundsätzlich: Ursula Lehmkuhl, Diplomatiegeschichte als internationale Kulturgeschichte: Theoretische Ansätze und empirische Forschung zwischen historischer Kulturwissenschaft und soziologischem Institutionalismus, in: ZHF 27 (2001), S. 394423. Sven Externbrink, Internationale Beziehungen und Kulturtransfer in der frühen Neuzeit, in: Thomas Fuchs/Sven Trakulhun (Hg.), Das eine Europa und die Vielfalt der Kulturen. Beiträge zur Kulturtransfer- und Kulturvergleichsforschung in Europa 15001850 (Aufklärung und Europa, 12), Berlin 2003, S. 227-248. Den Studien zugrunde liegt ein sehr weit gefasster kognitiver und handlungsleitender Kulturbegriff. Der Prozess des Kulturtransfers wird als reziprok im Sinne eines symbolischen Warenaustausches verstanden. Vgl. Heiko Droste, Unternehmer in Sachen Kultur. Schwedens Diplomaten im 17. Jahrhundert, in: Das eine Europa und die Vielfalt der Kulturen, S. 205—226. 45 Zum Vollzug politischer Kommunikation und der Gestaltung des politischen Raumes Reichsstadt: Rudolf Schlögl, Vergesellschaftung unter Anwesenden. Zur kommunikativen Form des Politischen in der vormodemen Stadt, in: ders. (Hg.), Interaktion und Herrschaft. Die Politik in der frühneuzeitlichen Stadt, Konstanz 2004, S. 324. 46 Über den begrenzten Nutzen des Residenten für Kernaufgaben berichtet Schönborn in einem Schreiben vom 4.5.1708: HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Hamburg - Berichte 6a, 96. 47 Zu Hamburg: Gerd Augner, Die Kaiserliche Kommission der Jahre 1708-1712. Hamburgs Beziehungen zu Kaiser und Reich zu Anfang des 18. Jahrhunderts (Beiträge zur Geschichte Hamburgs, Bd. 23), Hamburg 1983. 43
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eröffnet wurde.48 Wien hatte sich in Anbetracht der zu erwartenden regionalen Widerstände für den Landgrafen von Hessen-Darmstadt und den Kurfürsten von Mainz entschieden, denen als Kommissare in Finanzfragen Graf Melchior Friedrich von Schönborn und der Hofkammerrat Edler von Nentwig zur Seite gestellt wurden. Einen von Völckern konnten ein Landgraf und ein Fürstbischof problemlos übergehen, einen von Schönborn nicht. So schlug die Stunde des Residenten erst wieder, als die Kommission ihre Aufgabe bewältigt hatte und es galt, die neuen Verfassungsvorschriften umzusetzen.49 Nein, zum inneren Zirkel der Funktionselite des Reiches gehörten die Residenten nicht. Von den gleichfalls im diplomatisch-juristischen Doppelspiel bewanderten von Metsch oder von Schönborn-Buchheim trennten sie Welten.50 Und doch waren freiwerdende oder neugeschaffene Residentenstellen im Kreise des Kleinadels ausgesprochen begehrt. Der Kampf um sie wurde mit allen Finessen geführt. Als 1695 die Stelle eines Frankfurter Residenten zu besetzen war, machte ein Bewerber das Rennen, der weniger durch seine Qualifikationen als durch den geschickten Einsatz seines sozialen Kapitals auffiel. Als er zum katholischen Glauben konvertiert sei, so teilte Georg Ludwig von Völckern dem Hof am 16.5.1695 mit, habe er dies in der Überzeugung getan, „Euer Kaiserliche Majestät allergnädigst geruhen wollten dero allerhöchsten Protection mittelst allermildester Ertheylung einer keysl. Bedienung mich genießen zulassen damit ich in der wahren Kirchen bestehen und mich ehrbar erhalten können". Bisher sei dies jedoch noch nicht der Fall und seine ganze Hoffnung ruhe nun auf der Möglichkeit, die Stelle eines kaiserlichen Residenten in Frankfurt übernehmen zu können.51 Von Völckerns Drängen war verständlich. Mit etwas Geschick konnte es einem Residenten gelingen, die geliehene Macht aus Wien zur Grundlage des familiären Aufstieges zu nutzen. Besonders eindrucksvoll tat dies zweifellos das bereits mehrfach erwähnte Geschlecht der von Kurtzrock, die als Vertreter im reichsfernen Norden ihre Position weit besser perpetuieren konnten als ihre Frankfurter Kollegen.
Eine Analyse der Konfliktstruktur bietet: Gerald L. Soliday, A Community in Conflict. Frankfurt society in the 17th and early 18th centuries, Hanover 1974. 4 9 Wie schwierig dies sein konnte, zeigte der Fall des auf Lebenszeit ernannten Handlungsfiskals Böhler, der die Bürgerschaft über Jahre hinweg als Anwalt vertreten hatte, ohne dass diese seinen Lohnforderungen nachgekommen waren. Über 5 100 fl. beliefen sich nach Böhlers Berechnung seine Forderungen und er war der ständigen Ausflüchte seiner Gläubiger müde. Wenn ihm der Reichshofrat nicht zu seinem Recht verhelfe, so ließ er durchblicken, werde er in aller Öffentlichkeit über Missstände und Korruption innerhalb der neuen Bürgervertretungen berichten. Ein Fall wie dieser bedurfte eines raschen, informellen Vorgehens durch einen diplomatisch versierten Vermittler. Die Wahl des Reichshofrates fiel auf den neuen kaiserlichen Residenten von Wezel, der den Streit zwar nicht beenden, ihm jedoch durch eine Teilzahlung die Schärfe nehmen konnte. (HHStA Wien, Reichshofrat Decisa Κ. 924 [alt Β 190]), „In Sachen Johann Jacob Böhler" (HHStA Wien, Reichshofrat Decisa Κ. 923). 50 Oswald von Gschliesser, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806, Wien 1942. 51 HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Hamburg - Weisungen, 29. Zuvor die Verhandlungen über den Berufung Ratzendorfs: ibd. 9-27. 48
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Thomas Lau Theobald von Kurtzrock stammte aus einer katholischen Adelsfamilie Thüringens.52 Sein nicht ungefährdetes Auskommen hatte er wie bereits sein Vater zunächst als Amtmann in Hildesheimer Diensten gefunden. Als Konfessionsfremder und zugleich Landeskundiger war er aus der Sicht der Reichskanzlei 1676 geradezu eine Idealbesetzung für die Residentenstelle in Bremen. Kurtzrock sollte das Vertrauen, das man in ihn setzte, nicht enttäuschen. Schnell entfaltete er eine überaus effiziente Tätigkeit als Diplomat und mehr noch als kaiserlicher Kommissar. Tatsächlich, so klagten die Bremer am 23.3.1683, sei ihr Resident alles andere als resident - eine richtige Feststellung.53 Kurtzrock übte bald von Münster über Ostfriesland bis Hamburg erheblichen Einfluss aus, heiratete die Tochter des Hamburger Reichspostmeisters, kaufte das Gut Wellingsbüttel, wurde in den Reichsritterstand erhoben und legte die Grundlage für die nächsten Generationen. Sein Sohn Maximilian Heinrich wirkte bereits als Resident in Hamburg, erwarb zum Gut eine renommierte Stadtwohnung, erhielt den Titel eines Reichsfreiherrn und wurde zum Titularreichshofrat ernannt. Der familiäre Aufstieg verlief, das deutete der eingangs zitierte Brief bereits an, dabei alles andere als geräuschlos. Die Kurzrocks waren um keinen Streit verlegen. Ob es um die Einrichtung einer katholischen Kirche in St. Pauli ging, um die Verwüstung der Kurtzrockschen Güter bei Eutin54, die Präzedenz der kaiserlichen Abgesandten, die Rechte der Familie im Hildesheimischen55, privat vorfinanzierte Truppenaushebungen56 oder die Verwaltung der Reichspost ging - die Interessen von Familie und Kaiser griffen ineinander. Die Reputation des Hofes wuchs mit der Durchsetzungskraft des Residenten und umgekehrt. Politik, Diplomatie und Justiz bildeten, dies zeigt das Beispiel, auf Reichsebene nur bedingt selbstreferentielle Systeme. Sie bedurften einer multifunktionalen Sekundärelite, die das virtuose Spiel des Konfliktsausgleichs auf diplomatischem und juristischem Parkett, auf Stadt-, Kreis-, Reichs- und europäischer Ebene gleichermaßen beherrschte. Es war dieser Teil des lokalen Reichspersonals, das sicherstellte, dass die Polypolarität von Rechtsnormen und Machtinstanzen nicht zu völligem Stillstand führte.57 Es gehörte damit zu den eigentlichen Gewinnern eines Reiches im Schwebezustand zwischen Staat und System, zwischen Verdichtung und Dauerkrise.58
Einen Überblick zur Familiengeschichte gibt: Hartmut Fiege, Geschichte Wellingsbüttels. Vom holsteinischen Dorf und Gut zum hamburgischen Stadtteil, Neumünster 1982, S. 27-63. 53 HHStA Wien, RHR Decisa 973 (alt Β 208), Rat der Stadt Bremen an RHR, 10.2.1683. 54 HHStA Wien, RHR Den. Ree. 462/7. 55 HHStA Wien, RHR Den. Ree. K. 462/8. 56 Zur Vorgeschichte des Konflikts: HHStA Wien, Reichskanzlei, Diplomatische Akten Hamburg - Berichte 5c, 113. Zum Streit: HHStA Wien, RHR Den. Ree. 462/6. 57 Anette Baumann u.a (Hg.), Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich (QFHG 46), Köln/Weimar/Wien 2003. 58 Vgl. Georg Schmidt, Geschichte des Alten Reiches. Staat und Nation in der Frühen Neuzeit 1495-1806, München 1999, S. 40-44. 52
Die Reichsstadt Frankfurt am Main
Michael Müller Die Reichsstadt Frankfurt am Main als Kur- und Oberrheinische „Kreishauptstadt" im 17./18. Jahrhundert 1. Einleitung Ein Sammelband über Frankfurt am Main als Rechts- und Gerichtslandschaft im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation in der Frühen Neuzeit wäre nicht vollständig, wenn nicht auch die Einbindung der Reichsstadt in die herrschaftsübergreifende Rechtsordnung der Reichskreise eine angemessene Berücksichtigung fände. Diesen insgesamt zehn Kreisen waren seit 1500 sukzessive wichtige Hoheitsaufgaben wie die Landfriedenswahrung, die Exekution der Reichsgesetze und der Urteile der Obersten Reichsgerichte, z.T. auch die Nomination der Assessoren des Reichskammergerichts1, die Eintreibung der Reichssteuern, die Aufstellung der Kreiskontingente zur Reichsarmee sowie die Kontrolle und Vereinheitlichung des Münzwesens übertragen worden - Aufgaben, zu deren Erfüllung sie offenkundig geeigneter waren als die seit 1648 stark
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Anders als der Kurrheinische gehörte der Oberrheinische Kreis zu den sechs ersten Kreisen, die 1500 geschaffen wurden, und präsentierte eigene Assessoren zum Reichskammergericht, während im Kurrheinischen Kreis die vier Kurfürsten jeweils für sich Nominierungen vornahmen und die kleineren Mitstände hierin überhaupt keine Mitsprachemöglichkeit hatten. Lit.: Anton Friedrich Büsching, Neue Erdbeschreibung. Siebender Theil, welcher vom deutschen Reich den westphälischen, chur-rheinischen und oberrheinischen Kreis enthält. Neueste Ausgabe mit Register. Schaffhausen, bey Benedict Hurter, 1770, im Folgenden zit.: Büsching, Erdbeschreibung, Theil 7, S. 1008, § 7. Abschied des Augsburger Reichstags vom 19.11.1530 (Auszug § 75: Bestellung der Assessoren für das RKG durch die sechs Reichskreise): Karl Zeumer (Hg.), Quellensammlung zur Geschichte der deutschen Reichsverfassung in Mittelalter und Neuzeit, 2 Teile, Teil 2: Tübingen 1904, Zweite, vermehrte Aufl. Tübingen (2) 1913, ND Aalen 1987 (Quellensammlungen zum Staats-, Verwaltungs- und Völkerrecht, hg. v. Heinrich Triepel, Bd. 2). Kt.: Zeumer, Quellensammlung 019O4), Nr. 160, S. 271; fWB), Nr. 186, S. 329-330. Johann Jacob Moser, Neues Teutsches Staats-Recht, 20 Bde., Frankfurt/Leipzig 1772-1774, Bd. 10: Von der Teutschen Crays-Verfassung. Nach denen Reichs-Gesezen und dem Reichs-Herkommen, wie auch aus denen Teutschen Staats-Rechts-Lehrern und eigener Erfahrung: Mit beygefügter Nachricht von allen dahin einschlagenden öffentlichen und wichtigen neuesten Staats-Geschäfften, so dann denen besten, oder doch neuesten, und in ihrer Art einigen Schrifften davon. Frankfurt a.M., Leipzig, bey Johann Benedict Mezler, 1773, zit.: Moser, Crays-Verfassung, Kap. XVIII, S. 778-791: „Von der Reichs-Crayse Gerechtsamen in Ansehung der Reichs-Gerichte". 1560 z.B. präsentatierte der Oberrheinische Kreis Dr. Friedrich Nordecks als Beisitzer: ISG (= Institut für Stadtgeschichte) FFM (= Frankfurt a.M.), StadtA (= Stadtarchiv), Historisches Archiv bis 1868, OrhK (= Bestand Oberrheinischer Kreis) (zit.: ISG, StadtAFFM, OrhK), Mgb Akten, Nr. 58 (alte Sign. Mgb D 31 V, fol. 1-106): OrhK-KT Worms 2.11.1559-Jan. 1560. Rep. 686, S. 16f. StAMs (= Nordrhein-Westfälisches Staatsarchiv Münster/Westfeien), Fürstbistum Münster, Kabinettsregistratur 2161: Vorschlagsrecht des Kreises NRW für RKG-Beisitzer, enthält: „Geschichtsumstände" des Kreispräsentationsrechts; Gutachten betreff Eignung des Hofrats Cramer von Clauspruch zum RKG-Assessor (ca. 1739,1780,1791-93). Kabinettsiegistratur 2162: Ernennung des speyrischen Geheimen Rats Franz Arnold von der Becke zum RKG-Assessor anstelle des zum kurmainzischen Reichsdirektorialgesandten beim Reichstag ernannten Assessors von Steigentesch. Enthält: Übereinkunft mit Kurfürst (Kfst) Carl Theodor von der Pfalz betr. abwechselnde Wahrnehmung des Kreispräsentationsrechts. Präsentationspatent des Hofrats Cramer von Clauspruch vom 17.7./14.8.1781. Prüfung und Annahme des Geheimen Rats von der Becke beim RKG (1781, 1796-98).
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Michael Müller geschwächten Zentralgewalten des Reiches.2 Zu diesen Kompetenzzuweisungen durch die Reichsverfassung, einer Form von „Auftragsverwaltung des Reiches"3, kamen weitere selbstgesteckte Aufgabenfelder wie der regionale Straßenbau, die Seuchenbekämpfung sowie Maßnahmen zur Verbrechensbekämpfung etc. hinzu, die sich die Kreise als „kollegiale und regionale Selbstverwaltungskörper"4 aufgrund ihrer Eigeninitiative selbst vornahmen - auch die Kreisassoziationen als kreisübergeifende militärische „Selbsthilfe" angesichts wachsender äußerer Bedrohungen sind in diesem Zusammenhang zu nennen.5 Die immense Aufgabenfülle der Kreise resultierte daraus, dass das Reich zwar mit dem „Immerwährenden Reichstag" eine Legislative und mit dem Reichskammergericht und dem Reichshofrat zwei Reichsgerichte besaß, aber keine handlungsfähige Exekutive, und daher ohne funktionierende Mittelinstanzen wie die Reichskreise „unregierbar" war.6
Zur Entstehung, Entwicklung und Funktionen der Reichskreise vgl. Peter-Claus Hartmann, Zur Bedeutung der Reichskreise für Kaiser und Reich im 18. Jahrhundert, in: Winfried Dotzauer/Wolfgang Kleiber/Michael Matheus/Karl Heinz Spiess (Hg.), Landesgeschichte und Reichsgeschichte, FS (Festschrift) für Alois Gerlich zum 70. Geburtstag (Geschichtliche Landeskunde, Bd. 42), Stuttgart 1995, S. 305-319. Ders., Regionen in der Frühen Neuzeit - Modell für ein Europa der Regionen? Einführung in die Thematik und Problematik des Kolloquiums, in: Regionen in der Frühen Neuzeit. Reichskreise im deutschen Raum, Provinzen in Frankreich, Regionen unter polnischer Oberhoheit: Ein Vergleich ihrer Strukturen, Funktionen und ihrer Bedeutung, in: Peter Claus Hartmann (Hg.), ZHF, Beiheft 17, Berlin 1994, S. 9-20. Ders., Rolle, Funktion und Bedeutung der Reichskreise im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, in: Wolfgang Wüst (Hg.), Reichskreis und Territorium: Die Herrschaft über der Herrschaft? Supraterritoriale Tendenzen in Politik, Kultur, Wirtschaft und Gesellschaft. Ein Vergleich süddeutscher Reichskreise (Augsburger Beiträge zur Landesgeschichte Bayerisch-Schwabens, Bd. 7), Stuttgart 2000, S. 27-37 (im Folgenden zit.: Wüst, Reichskreis und Territorium). Für die Kreisgeschichte bietet die Darstellung von Dotzauer von 1989, die 1998 in erweiterter Form erschien, einen guten Übeiblick: Winfried Dotzauer, Die deutschen Reichskreise in der Verfassung des Alten Reiches und ihr Eigenleben (1500-1806), Darmstadt 1989. Ders., Die deutschen Reichskreise (1383-1806). Geschichte und Akteneditionen, Stuttgart 1998. 3 Rudolf Vierhaus, Staaten und Stände. Vom Westfälischen Frieden bis zum Hubertusburger Frieden 1648-1763 (Propyläen Geschichte Deutschlands, Bd. 5), Frankfurt a.M./Berlin (2) 1990. 4 Peter Claus Hartmann, Regionen in der Frühen Neuzeit: Der Kurrheinische und der Oberrheinische Reichskreis, in: Michael Matheus (Hg.), Regionen und Föderalismus (Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz, Reihe Mainzer Vorträge, Bd. 2), Stuttgart 1997, S. 31-47, hier S. 35. 5 Karl Otmar Freiherr von Aretin, Die verfassungsrechtliche Stellung der Kreisassoziationen nach 1648. Kolloquium im Institut für Europäische Geschichte in Mainz, in: Jahrbuch der historischen Forschung 1, Stuttgart 1974, S. 83-85. Ders., Die Kreisassoziationen in der Politik der Mainzer Kurfürsten Johann Philipp und Lothar Franz von Schönborn 1648-1711, in: ders. (Hg.), Der Kurfürst von Mainz und die Kreisassoziationen 16481746. Zur verfassungsmäßigen Stellung der Reichskreise nach dem Westfälischen Frieden (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz = VIEGM, Beiheft 2), Wiesbaden/Stuttgart 1975, S. 31-67. Wiederabdruck in: ders. (Hg.), Das Reich. Friedensordnung und europäisches Gleichgewicht 1648-1806, Stuttgart (2) 1992, S. 167209. 6 Karl Otmar Freiherr von Aretin, Das Alte Reich 1648-1806, Bd. 1: Föderalistische oder hierarchische Ordnung (1648-1684), Bd. 2: Kaisertradition und österreichische Großmachtpo2
Die Reichsstadt Frankfurt am Main Frankfurts Stellung im Rahmen des Kur- und Oberrheinischen Reichskreises ist eine doppelte: zum einen war die Reichsstadt Oberrheinischer Kreisstand und hatte, wie auch die Städte Worms, Speyer, Friedberg und Wetzlar, auf dessen Kreistagen Sitz und Stimme auf der Bank der Reichsstädte.7 Da im Oberrheinischen Kreistag die Stimmengleichheit aller Kreisstände galt, gab es nur „Virilstimmen" - anders als im Reichstag, wo sich Frankfurt zusammen mit einem guten Dutzend weiterer Städte die Kuriatstimme der Rheinischen Städtebank teilen musste.8 Auf Oberrheinischen Kreistagen dagegen konnte die Stadt mithin ihr eigenes Votum führen. Bedeutsamer noch als die Kreisstandschaft ist aber im vorliegenden Zusammenhang die Tatsache, dass sich Frankfurt seit dem 17. Jh. als Tagungsort für die Kur- und Oberrheinischen Kreistage sowie als Sitz zentraler Kreisinstitutionen etablierte. Die Oberrheinischen Kreistage9 fanden anfänglich, im 16. Jahrhundert noch in Worms, dann seit der Mitte des 17. Jahrhunderts im früheren Frankfurter Dominikanerkloster statt, wobei im Laufe des 18. Jahrhunderts - einhergehend mit der räumlichen Stabilisierung der Kreistage - auch die
litik (1684-1745), Stuttgart 1993-1997. Ders., Das Reich in seiner letzten Phase 1648-1806. Das Problem der Regierbarkeit im Heiligen Römischen Reich, in: ders. (Hg.), Das Reich. Friedensordnung und europäisches Gleichgewicht 1648-1806, Stuttgart (2) 1992, S. 19-51. Ders., Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation, in: Otto Büsch/James W. Sheehan (Hg.), Die Rolle der Nation in der deutschen Geschichte und Gegenwart. Beiträge zu einer internationalen Konferenz in Berlin (West) vom 16.-18. Juni 1983 (Einzelveröffentlichungen der Historischen Kommission zu Berlin, Bd. 50), Berlin 1985, S. 73-83. Ders., Heiliges Römisches Reich 1776-1806. Reichsverfassung und Staatssouveränität, 2 Bde., Bd. 1: Darstellung, Bd. 2: Ausgewählte Aktenstücke, Bibliographie, Register (VIEGM, Bd. 38), Wiesbaden/Stuttgart 1967. ISG, StadtAFFM, OrhK, Kreisakten (1681-1779), Bd. 8: Acession der Stadt Frankfurt zum OrhK 1696 samt Rezeß und Nebenrezeß 1697. Rep. 145, S. 63. Bayerisches Hauptstaatsarchiv München = BayHStA, K.bl„ Nr. 142/26 (OrhK-Kreisakten): Reichsstadt Frankfurt gegen Regierung Hessen-Hanau 1768/69. K.bl., Nr. 142/36-37: Hessen gegen Stadt Frankfurt. Büsching, Erdbeschreibung (wie Aran. 1), Theil 7, S. 1222-1226. Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. ΠΙ, § 81. Gerhard Köbler, Historisches Lexikon der Deutschen Länder. Die deutschen Territorien und reichsunmittelbaren Geschlechter vom Mittelalter bis zur Gegenwart, 6., vollst. Überarb. Aufl., München 1999, zit.: Köbler, Lexikon, S. 151f. Hessisches Landesamt für Geschichtliche Landeskunde (Hg.), Geschichtlicher Atlas von Hessen, Marburg = GAH, Karte Nr. 34a: Frankfurt vom Frühmittelalter bis zur Mitte des 17. Jh. (Stadtgrundriss). Anton Schindling, Wachstum und Wandel vom Konfessionellen Zeitalter bis zum Zeitalter Ludwigs XIV, Frankfurt a.M. 1555-1685, in: Frankfurt am Main. Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen (Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission, Bd. 17), Sigmaringen 1991, (2) 1994 S. 205-260. 8 Vgl. Köbler, Lexikon (wie Anm. 7), hier. Einführung, S. X-XIX: Die Reichsmatrikel von 1521 (bis 1776 fortgeschrieben) verzeichnete 384 Reichsstände: 7 Kurfürsten, 45 bzw. 47 Fürstbischöfe, 31 weltliche Fürsten, 65 Prälaten, 13 bzw. 14 Äbtissinen, 4 Balleien, 137 bzw. 140 Herren und Grafen sowie 84 freie Städte und Reichsstädte. 9 ISG, StadtAFFM, OrhK, Mgb Akten, Rep. 686, Anhang B, S. 63-65: OrhK Kreistage 15421607. Der OrhK-Kreistag 1607 war der letzte vor dem Dreißigjährigen Krieg: ISG, StatAFFM, OrhK, Mgb Akten, Rep. 686, S. XI. Dotzauer, Reichskreise (1989) (wie Anm. 2), S. 354356. OrhK-Münzprobationstage 1557-1620: ISG, StadtAFFM, OrhK, Mgb Akten, Rep. 686, Anhang C, S. 64f. Konrad Schneider, Das Münzwesen in den Territorien des Westerwaldes, des Taunus und des Lahngebietes und die Münzpolitik des Oberrheinischen Reichskreises im 17. Jahrhundert, Urbar bei Koblenz 1977, S. 81f.
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jährliche Regelmäßigkeit der Tagungen sich als Norm weitgehend durchsetzte.10 Obwohl Frankfurt zum Oberrheinischen Kreis gehörte, hielt auch der Kurrheinische Kreis wegen der sich stetig verdichtenden Zusammenarbeit der beiden in enger territorialer Gemengelage aufeinander angewiesenen Nachbarkreise dort seine Tagungen ab. Beide rheinischen Kreise gingen im Laufe der Zeit dazu über, ihre Kreisorgane dauerhaft in Frankfurt anzusiedeln, wodurch die Stadt, die ja als Wahl- und Krönungsort der römisch-deutschen Kaiser ohnehin neben Wien und Regensburg als eine der „Hauptstädte" des Alten Reiches galt11, den Stellenwert einer Kur- und Oberrheinischen „Kreishauptstadt" bekam einen Titel, den es freilich im zeitgenössischen Kontext noch gar nicht gab. Frankfurts Stellenwert im Oberrheinischen Kreis kann durchaus mit dem Ulms im Schwäbischen Kreis verglichen werden, welches von seiner Rolle als Tagungsort sowohl politisch wie ökonomisch profitierte, da neben dem Prestigegewinn die zahlreichen vor Ort ansässigen Kreisgesandtschaften auch einen wirtschaftlichen Faktor darstellten.12 1.1. Die Quellen- und Forschungslage Die bislang noch fast vollständig un-
veröffentlichten Oberrheinischen Kreisakten aus dem 17./18. Jahrhundert die wichtigsten Quellenbestände zum Thema - verteilen sich auf mehrere Archive und Bibliotheken im deutschsprachigen Raum.13 Hinsichtlich der Kreisaktenüberlieferung ist zu unterscheiden zwischen dem eigentlichen, vom Kreisdirektorium geführten Kreis(kanzlei)archiv und den Kreisaktenbeständen der übrigen Mitstände. Das vom Fürstbischöflich-Wormsischen Direktorium geführte Oberrheinische Kreisarchiv befindet sich im Landesarchiv Speyer14, ferner ein kleinerer Teil im Stadtarchiv Frankfurt a.M., ISG (Institut für Stadtgeschichte)15, wo auch die 10
Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. X, § 16,36, S. 327, S. 355. Büsching, Erdbeschreibung (wie Aivm. 1), Theil 7, S. 902, § 4. 11 Karl Otmar Freiherr von Aretin, Das Reich ohne Hauptstadt? Die Multizentralität im Reich bis 1806, in: Theodor Schieder/Gerhard Brunn (Hg.), Hauptstädte in europäischen Nationalstaaten (Forschungsuntemehmung Fritz Thyssen-Stiftung), München/Wien 1983, S. 5-13. 12 Hans Eugen Specker, Die Reichsstadt Ulm als Tagungsort des Schwäbischen Reichskreises, in: Wüst, Reichskreis und Territorium (wie Anm. 2), S. 179-196. 13 Ein vollständiges Verzeichnis der konsultierten Quellenbestände in den Staatsarchiven und Staats-, Landes- und Universitätsbibliotheken in Wien, München, Würzburg, Frankfurt, Wiesbaden, Münster, Düsseldorf, Darmstadt, Koblenz, Speyer und Karlsruhe wird in der Vorbereitung zum Druck befindlichen Habilschrift des Vf. geboten (Drucklegung für 2008 vorgesehen). Summarische Übersicht bei: Dotzauer, Reichskreise (1998) (wie Anm. 2), S. 525-539, hier S. 534. 14 Landesarchiv Speyer = LASp, E 3 (Oberrheinischer Kreis), Nr. 1-5, 7-8,10,12-13,15-17, 22-28, 30, 32-33, 36, 38, 43-44, 48, 56, 71, 73-75, 84, 87, 89, 94,107,116,122,137,146,168, 212, 226, 230, 239, 245, 251, 269, 284, 286, 306, 318, 591, 694, 808, 1424, 1466, 1470, 14801510, 1512-1514, 1520-1527, 1531. 1575. Hilfsmittel: Masch. Repertorium (Zettelkatalog) von 1911/13 mit Register (Orts-, Personen- und Sachindex) von Fritz Kiefer von 1924. 15 Die nach den Wirren der Napoleonischen Kriege noch erhaltenen Reste des ursprünglich in der Wormsischen Residenzstadt Ladenburg untergebrachten Oberrheinischen Kreiskanzleiarchivs wurden 1829 axis Hanau an das Kreisarchiv Würzburg, später an das Kreisarchiv
Die Reichsstadt Frankfurt am Main Oberrheinischen Kreisakten des Frankfurter Stadtrats 16 sowie der Nachlass des Dr. jur. Johann Benjamin Lehnemann (1719-1781) erhalten sind, der 1752-1779 als Kreisgesandter für Leiningen-Westerburg, Pfalz-Zweibrücken, Waldeck und Stolberg wirkte. 17 Ergänzt werden diese Bestände durch den wichtigen Fonds der Oberrheinischen Kreisakten im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv. 18 Das Kreisarchiv enthält nicht nur die Kreisausschreiben, -protokolle und -rezesse, sondern auch Konzepte und Projekte (Vorarbeiten), entworfen von Kreisgesandten, Beamten und Beratern, die nicht selten vom Landesherren mit eigenhändigen Bemerkungen versehen wurden. Daran läßt sich ablesen, welche Pläne und Absichten bestanden und was davon in Beschlüsse umgesetzt werden konnte. So
Speyer (heute Landesarchiv) übergeben. Ein weiterer Teil gelangte ins Wiener Haus-, Hofund Staatsarchiv. Aus den Speyerer Akten hat der frühere Frankfurter Stadtarchivar Rudolf Jung (1888-1922) Exzerpte über Frankfurter Betreffe angefertigt ISG, StadtAFFM, OrhK, Rep. 145, S. 103-119. Lit.: Rudolf Jung, Das Frankfurter Stadtarchiv. Seine Bestände und seine Geschichte (Veröffentlichungen der Historischen Kommission der Stadt Frankfurt am Main, Bd. 1), Frankfurt a.M. 1909. 16 ISG, StadtAFFM, OrhK, Akten (1554-1806), Nr. 54-82, Kreisakten (1681-1779), Nr. 1266. Bestandsbeschreibung: (1.) Die Akten, Bücher, Rechnungen, Drucksachen 1554-1806 des OrhK umfassen 82 Nummern: Rechnungen über Kreiseinnahmen und -ausgaben, Militär- und Münzwesen, Verhandlungen um den Wiedereintritt Frankfurts, Beglaubigungsschreiben, Korrespondenzen und Verhandlungen mit anderen Kreisen, besonders KrhK. Findmittel: ISG, StadtAFFM, Repertorium 145, S. 3-53. (2.) Die Kreisakten, Dictata und Protokolle 1681-1779, mit Beilagen, Winterquartierakten, Kreisdiktata, Münzakten (266 Bde.). Findmittel: ISG, StadtAFFM, Repertorium 145, S. 63-97. 17 ISG, StadtAFFM, OrhK, Nachlass J. B. Lehnemann, Nr. 1-10: 1.) Akten 1752-1778 in 6 Faszikeln. 2). Abschriften der Protokolle und Akten der Kreismünzprobationen 9.6.1760-26.6.1764. 3.) Akten der vier Kassen des Kreises: Generalkasse, Spezialkasse, Generalschuldenkasse, Generalschulden-Spezialkasse, 1.3.1764-28.2.1770.4.) Abschriften zur Frage der Trennung der Kreiskassen und Schuldentilgung, 7.6.1764. 5.) Kreisschuldenkassenakten 1764-1773 (2 Bde.). 6.) Briefwechsel Lehnemanns mit der Fürstin von Stolberg-Gedern 1770/75. 7.) Akten der Kreisschulden 1764-74 (2 Bde.). 8.) Akten der Kreisschulden 1773. 9.) 16 Bde. Kreisprotokolle (30.4.-20.8.1750, 11.1.-30.3.1752, 4.7.10.4.1754, 10.8.-18.9.1756, 14.3.1772-10.6.1775). 10.) Abschriften Kreisdictata in 12 Bde. (24.4.1752-18.12.1767,29.2.1772-13.7.1779). Findmittel: ISG, StadtAFFM, Repertorium 145, S. 99-101. Lit.: Karl Härter/Ulrich Dingler (Hg.), Katalog der Sammlung Lehnemann: juristische Schriften des 16.-18. Jahrhunderts (lus Commune CD-ROM Informationssysteme zur Rechtsgeschichte 1), CD-ROM-Edition, Frankfurt a.M. 1997. Dies., Juristische Dissertationen im frühneuzeitlichen Alten Reich: ein Projektbericht zur Erschließung der Sammlung Lehnemann und Erstellung eines bio-bibliographischen Repertoriums, in: Informationsmittel für Bibliotheken 3 (1995), S. 705-715. 18 HHStA (= Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien), MEA (= Mainzer Erzkanzlerarchiv), KrhK (=Kurrheinische Kreisakten), Nr. 9b, 23b, 26b, 27b/c, 67, 73a/b, 76-78,80,82,84-85, 91-96, 97b-98, 107, 113, 118-136. Die Bestände des MEA im HHStA sind durch diverse Inventare und Verzeichnisse u.a. von Bittner und Bucher erschlossen: Ludwig Bittner u.a. (Hg.), Gesamtinventar des Haus-, Hof- und Staatsarchivs Wien. Aufgebaut auf der Geschichte des Archivs und seiner Bestände, 5 Bde., 1936-1940. (Inventare Österreichischer Staatlicher Archive, Bd. V/8). Editha Bucher (Hg.), Inventar des Mainzer ReichserzkanzlerArchivs im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien (Veröffentlichungen der Landesarchiwerwaltung Rheinland-Pfalz, Bd. 54), Koblenz 1990.
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Michael Müller beinhaltet das Mainzer Erzkanzlerarchiv des HHStA Wien19 wichtige Quellen in den Teilbeständen Kur- und Oberrheinische Kreisakten, Reichstagsakten, Friedensakten, Münzsachen, Militaría, Kommissionsakten und Korrespondenz. Im Wiener Hofkammerarchiv, das keine geschlossenen Kreisaktenbestände enthält, fanden sich in verschiedenen Beständen wichtige Verzeichnisse, Relationen, Korrespondenzen und Instruktionen20 sowie eine Sammlung finanzpolitischer Denkschriften (mit vielen Tabellenanhängen) im Nachlass Schirndorf21. Hinsichtlich des Oberrheinischen Kreises wurden ferner, außer den Beständen in Wien, Speyer, Frankfurt, München und Koblenz auch die Oberrheinischen Kreisakten Hessen-Darmstadts im Hessischen Staatsarchiv Darmstadt22 sowie die der Nassauischen Territorien im Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden23 19 Die Bestände des HHStA Wien sind in 19 Gruppen gegliedert, wovon die Reichsarchive (RHR, Reichskanzlei und MEA) die ersten drei Bestände bilden. 20 HKA (= Hofkanunerarchiv Wien), Reichsakten, Fasz. 27a/b, 64,66; Instruktionen (15001732), Nr. 479,574; (Reichs-) Gedenkbücher, GB 492-493,498,505,507,509,510,512,514. 21 HKA, Nachlass Schirndorf, Kart. 1, 2, 5, 7, 8. Der Nachlass des Hofkammerrats Christian Julius Schierl von Schierendorf (Schirndorf, geb. 1661 im böhm. Duppau, zunächst in poln. Diensten, 1705 Hofkammersekretär, 1720 Hofkammerrat, gest. 1726 in Wien) enthält Dokumente aus dem Zeitraum 1650-1770, insgesamt 21 Kartons (1-20 Hofrat Schirndorf-Akten, Karton 21 Kempf-Akten). 22 StAD (= Hessisches Staatsarchiv Darmstadt), E 1, C 34-35, 40, 43-47, 53. D 17-26. E 8, Β 259/2. Die Kreisaktenbestände in der Abt. E 1 (Auswärtige Beziehungen 14. Jh.-1815) umfassen folgende Gruppen (mit Umfang in lfd. Regalmetern): Reichs-Religionssachen (5m). Reichskriegs- und Friedenssachen (Unterabt. C mit lim). Reichs- und Kreismünzsachen (Unterabt. D mit 3,5m). Oberrheinischer Kreis (23m). Die Abt. D 17-D 26 enthält Münzakten des 18. Jh. Die Abt. E 8 Β enthält die Aken der Militär- und Truppenverwaltung, doch ist die Quellenlage für das 18. Jh. unbefriedigend: Die Militärregistratur ist großenteils verloren gegangen, allerdings finden sich z.B. Quellen zum Feldzug 1757 in den Kontingents-, den Reichstags- und den Kreisakten sowie in Korrespondenzen der Gesandten etc. Carl Brodrück, Quellenstücke und Studien über den Feldzug der Reichsarmee von 1757, Leipzig/Dyck 1858 = Brodrück, Quellenstücke, Einleitung, S. IX. Friedrich Battenberg, Das Hessische Staatsarchiv Darmstadt. Auswärtige Beziehungen (14. Jahrhundert-1815, Abteilung E 1 , 2 Bde., Bd. 1: Unterabt. Α-K, Bd. 2: Unterabt. M und L sowie Indices) (Repertorien des Hessischen Staatsarchivs Darmstadt, Bd. 8/1), Darmstadt 1978, hier Einleitung S. Vn-Vm und, S. 105-107. 23 HStAWi (= Hauptstaatsarchiv Wiesbaden), Abt. 131 IVa (Nassau-Usingen, Generalakten, Bestand: Kaiser und Reich), Nr. 12-15a, 376-403, 439a, 444a, 465a/b, 475a, 508a, 513/1-2, 514a, 516/1-3, 517, 534a, 597a. Abt. 150 IVa (Fürstentum Nassau-Weüburg, Oberrheinische Kreisakten) Nr. 842, 846-847, 850, 852, 860, 862-873, 1105, 1137, 1138, 1260, 1441, 1447. Abt. 172 (Landesregierung Dillenburg, Nassau-Oranien), Nr. 1064, 1182,2711,3796, 3798-3799,3801-3803,5168,5304,5565,7232. Inventare: Abt. 131: Repertorium der General-Acten von Nassau-Usingen, 2 Bde. (1882), hier Bd. 1, fol. 61-104 zu Abt. 131, IVa: Nassau-Usingen, Bestand: Kaiser und Reich, darin fol. 78-104: Oberrheinische Kreissachen, Nr. 254-619. Abt. 131: Repertorium der Urkunden, 1 Bd. Abt. 150: Fürstentum Nassau-Weilburg. Repertorium 3 Bde. Aufgestellt durch Archivsekretär Dr. Joachim 1884/85. Bd. 1: Generalia. Akten. Bd. 2: Passivlehensurkunden. Bd. 3: Urkunden. Zu Abt. 172 (Landesregierung Dillenburg, Nassau-Oranien). Vgl. Nicolaus Runge, Repertorium der Nassau-Oranischen Regierung zu Dillenburg, Abteilung 172 des Hauptstaatsarchivs Wiesbaden, neubearbeitet und vervollständigt von Archivoberinspektor Nicolaus Runge, 4 Bde., Wiesbaden (o.J.), S. 66-74 mit einem Verzeichnis der nassau-oranischen Kreisakten (Kreistage der drei rheinischen Kreise Kur- und Oberrhein sowie Niederrhein-Westfalen, Kreistruppenkontingente, Münzordnungen sowie Nieder-
Die Reichsstadt Frankfurt am Main konsultiert, darüber hinaus die Oberrheinischen Kreisakten der Markgrafen von Baden (wegen der Hinteren Grafschaft Sponheim) im Generallandesarchiv Karlsruhe im Bestand „Haus- und Staatsarchiv" 24 sowie im Bestand „Pfalz Generalia"25, wobei in Karlsruhe parallel dazu Schwäbische Kreisakten Badener 26 und Konstanzer Provenienz 27 herangezogen werden konnten. rheinisch-Westfälscher Kreis etc.). Neue Sign, durchgängig 1-7292. Alte Sign, (vor der Neuordnung des Archivs) in Klammern. Bestände aus alter Abt. 171 wurden in Abt. 172 transferiert (alte Sign, mit Buchstaben in Klammern). Die Akten sind in der Regel Einzelblätter bzw. lose zusammengeheftete Faszikel, zumeist nicht paginiert oder foliiert (überwiegend Abschriften, da die Originale der Briefe oder Berichte an den Adressaten gingen und nur eine Abschrift im Archiv verblieb). ä GLAK (= Generallandesarchiv Karlsruhe), Abt. 51 Π, Fasz. 31-129: Oberrheinische Kreissachen Baden-Baden 1532-1831 (insgesamt 129 Fasz.). Lit.: Repertorium Nr. 888 zu Abt. 51: Großherzogliches Haus- und Staats-Archiv, VI: Kreisakten, 1891/92 von Archivrat Dr. Obser neu verzeichnet und geordnet. Manfred Krebs, Gesamtübersicht der Bestände des Generallandesarchivs Karlsruhe, hg. v. Generallandesarchiv Karlsruhe, I. Teil (bis Abt. 150) (Veröffentlichungen der Staatlichen Archiwerwaltung Baden-Württemberg, Bd. 1), Stuttgart 1954, S. 131f. Hansmartin Schwarzmaier (Bearb.), Generallandesarchiv Karlsruhe: Die Bestände des Generallandesarchivs Karlsruhe, Teil 3: Haus- und Staatsarchiv sowie Hofbehörden (46-60) (VSAVBW, Bd. 39,3), Stuttgart 1991. 25 GLAK, Abt. 77, Fasz. 8854,8861,8912,8919-8920, 8922,8945,8953, 8955-8959,8986-8987, 9006-9007,9013-9014,9041,9056,9058,9073,9078,9083, 9101,9109-9112,9125-9127,9134, 9139, 9140-9141, 9153, 9191-9193, 9254, 9259, 9306, 9313, 9324, 9344, 9350, 9352, 9359, 9366, 9394, 9423, 9429, 9446, 9449, 9451, 9453, 9461, 9469, 9530, 9540, 9554, 9561, 9584. Bestand: Generalakten der kurpfälzischen Zentralbehörden (mit Ausnahme der 1778 unter Kfst. [= Kurfürst] Karl Theodor nach München übersiedelten), darunter 734 Fasz. OrhK und KrhK-Kreisakten 1533-1802 (Abhör der Kreiskassenrechnungen, Kreistage, Korrespondenzen, Protokolle), ohne chronolog. oder sachl. Ordnung. Lit.: Findbuch: GLA Karlsruhe Repertorien, Bestand 77: Pfalz-Generalia Akten, Bd. VII, S. 98-236 (zum Stichwort Reichskreise, i.d.R. Kurpfälzer OrhK- und KrhK-Kreisakten). Rainer Brüning/Gabriele Wüst, Die Bestände des Generallandesarchivs Karlsruhe, Teil 6: Bestände des Alten Reiches, insbesondere Generalakten (Abteilungen 71-228) (Veröffentlichungen der Staatlichen Archiwerwaltung Baden-Württemberg, Bd. 39/6), Stuttgart 2000. Krebs, GLAK (wie Anm. 24), S. 244-252, hier S. 250. 26 GLAK, Abt. 74 (Baden Generalia) enthält Akten der markgräflichen Zentralbehörden, soweit sie nicht dem Haus- und Staatsarchiv oder den Spezialakten der Ämter und Gemeinden einverleibt wurden. Vgl. Krebs, GLAK (wie Anm. 24), S. 236-243. Fasz. 68036813: Reichskreise 1710-1809 (11 Faszikel): Kosten der Kreisgesandtschaft und Kreisversammlung, Münzwardein und badische Offiziere beim Schwäbischen Kreis, Kosten für Fränkische Kreistruppen, Rottweil, Hauptmann Ludwig Friedrich Göler von Ravensburg, Oberst von Harling, Oberst von Roth. Fasz. 3225-3450 enthalten Akten zum Handel 1556-1809. Fasz. 3262, 3270-3272, 3274, 3288, 3300-3305, 3321: Fruchtsperren des Schwäbischen Kreises im 18. Jh. Schwäbische Kreisakten badischer Provenienz auch in: GLAK, Abt. 511, Fasz. 127-129, 343a 349a, 355,581-589,592, 813a, 887,892,1303a, 1325a, 1420a (Markgrafschaften Baden-Baden und Baden-Durlach, 1.524 Fasz.). Übersicht der Schwäbischen Kreisakten: Fasz. 1-18: Sammelbände 1529-1629. Fasz. 19-61: Einzelakten 1529-1707. Kreisakten 17.-19. Jh. Fasz. 62-725: Generalia 1601-1805. Fasz. 726-1.524: Specialia. Fasz. 738-761: Kreisassoziationen 1682-1749. Fasz. 762-776: Auflösung des Kreises 1805-12. Fasz. 915-972: Kreisanlagen 1664-1809. Fasz. 973-984: Kreisdirektorium 1662-1804. Fasz. 985-991: Kreisverfassung 1668-1804. Fasz. 991a-1.099: Kriegssachen 1652-1802. Fasz. 1.118-1.153: Matrikel 1608-1807. Fasz. 1.340-1.356: Münzwesen 16021762. 27 GLAK, Abt. 83 (Akten Konstanz Reichskreise), Fasz. 580,584,587. Bestandsbeschreibung: Die Abt. 83 mit 1.575 Fasz. und 53 Bde. (Laufzeit 1498-1805) enthält Kreisakten des Fbf.
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Michael Müller Während sich das von Kurmainz geleitete Kurrheinische Kreisarchiv in Wien befindet, gelangte der Großteil des Mainzer Regierungsarchivs (MRA), welches auch die Kreisakten der Kurmainzer Landesregierung enthielt, über viele Umwege ins Würzburger Staatsarchiv, darunter die Teilbestände „Münzwesen" und „Militaría", ferner die sog. „Aschaffenburger Archivreste"28, diverse Quellen zu Kreisangelegenheiten in den „Miscellanea" und das sog. „SchönbornKorrespondenzarchiv" 29 . Von großem Interesse ist femer der im Frankfurter Stadtarchiv für 1734-1806 erhaltene jährliche „Frankfurter Stadtkalender" mit den Namen der bei den
(= Fürstbischof) von Konstanz: Finanzen und Wirtschaft 291 Fasz. (1542-1805), u.a. Finanzund Kassenwesen (36 Fasz. 1610-1805), Steuern, Exekution, Matrikel (140 Fasz. 1570-1804), Rechnungsprüfung (41 Fasz. 1542-1798), Schulden und Anleihen (27 Fasz. 1569,1694-1799), Wirtschaft (47 Fasz. 1612-1796). Korrespondenzen der Kreisstände: 44 Fasz. (1521-1801), Kreisregierung: 44 Fasz. (1555-1801), je 22 Fasz. Kreisdirektorium (1663-1801) und Kreisstandschaft (1555-1792). Kreistage: 342 Fasz. (1544-1804): Allgemeine Kreistage, Abschiede, Aktenführung, Ausschreibung, Korrespondenz, Verhandlungen, Vorbereitung (312 Fasz. 1544-1804), Deputations- und Ausschusstage (30 Fasz. 1558-1804). Militär (430 Fasz. 1555-1805): Bewaffnung und Artillerie (31 Fasz. 1716-1800), Festungen u.a. Philippsburg, Kehl, Konstanz, Landau, etc. (31 Fasz. 1710-1799), Marsch und Verpflegungswesen (84 Fasz. 1703-1801) etc. Münzwesen: 49 Fasz. (1581-1797). Prozesse einzelner Kreisstände (142 Fasz. 1562-1805), u.a. Augsburg, Nördlingen etc. Reichssachen: 272 Fasz. (1498-1802): Bündnis- und Friedensverhandlungen, Kaiserliche Mandate, Kriegssachen und Türkenhilfe, RKG: Präsentationen der Assessoren und Eintreibung des Kammerzielers, Reichs- und Assoziationstage. Krebs, GLAK (wie Anm. 24), S. 258. Der Fbf. von Konstanz war im Schwäbischen Kreis Vorsitzender der geistlichen Fürsten, seit 1542 zusammen mit dem Hzg. (= Herzog) v. Württemberg schwäbischer Kreisausschreibender Fürst, femer Direktor eines Kreisviertels und Haupt der katholischen Kreisstände. Das Schwäbische Kreisarchiv im engeren Sinne aber, das Archiv der Kreiskanzlei, unterstand dem Hzg. von Württemberg als Kreisdirektor und befindet sich heute im HStA Stuttgart, Bestände C9-C15. Vgl. Walter Grube, Das Archiv des Schwäbischen Kreises, in: Zeitschrift für Württembeigische Landesgeschichte 22 (1963), S. 270-282. 28 Zum Bestand „Aschaffenburger Archivreste" vgl. Wolfgang Wann, Die alten Mainzer Archive, in: AZ 60 (1964), S. 100-130, hier S. 118f. 29 StAWü (= Staatsarchiv Würzburg), Korrespondenzarchiv Johann Philipp, Nr. 28, 535, 595, 625, 677, 794,1174,1211,1379,1435,1451,1437,1775,1969,1970, 2059,2183. Korrespondenzarchiv Lothar Franz: Ungebundene Korrespondenz, Nr. 157, 296, 357,376a, 446, 641a, 650, 814, 863,921,924; gebundene Korrespondenz, Nr. 4,8,10,34,44,52-53, 56, 63, 117, 127. Die Schönborns hatten seit 1671 Sitz und Stimme auf der fränkischen Grafenbank wegen der Herrschaft Reichelsberg. 1704 durch Heirat Erwerb der reichsunmittelbaren Herrschaft Wiesentheid (heute: LK Kitzingen). 1692 aus Verband der fränkischen Reichsritterschaft gelöst. Im 18. Jh. Sitz auf Schloss Pommersfelden (heute: LK Bamberg). Das Schönborn-Korrespondenzarchiv ist durch Repertorien erschlossen: StAWü, Korrespondenzarchiv Johann Philipp: 4 Bde., Repertorium + 2 Bde. Register (A-L, M-Z). Korrespondenzarchiv Lothar Franz von Schönbom: Register zum Repertorium des Kurfürsten von Mainz Lothar Franz von Schönbom, 2 Bde. Hatto Kallfelz, Die Repertorien des Staatsarchivs Würzburg. Erklärung - Erläuterung - Anleitung zu ihrem Gebrauch, Bd. ΙΠ: Bestände nichtstaatlicher Herkunft, Reinschrift Margarete Seidensticker, Würzburg 1986, darin: 0 1 9 : Archiv der Grafen von Schönbom zu Wiesentheid, O 20: Archiv der Grafen von Schönbom zu Pommersfelden. Werner Wagenhöfer, Archiv der Grafen von SchönbornWiesentheid, Schönbom-Archiv Wiesentheid. Korrespondenzarchiv Lothar Franz, gebundene Korrespondenz, 2 Bde., 1996, Rep. ΙΠ: 0.19.2,21/Ι-Π.
Die Reichsstadt Frankfurt am Main Frankfurter Kreistagen akkreditierten Kreisgesandtschaften und -agenten 30 Reichs- und Kreisgesandte waren in der Regel Geheimräte, Kanzler und Minister in hohen landesherrlichen Diensten oder auch reichsstädtische Räte. Die genannten Quellen sind schon deswegen nach wie vor so unverzichtbar, weil die neueren allgemeinen Editionen zur Reichsverfassungsgeschichte31 relativ wenig spezifische Quellen zur Kur- und Oberheinischen Kreisgeschichte enthalten. Neben den Uberblicksdarstellungen von Winfried Dotzauer32 und Peter Claus Hartmann33 liegen für den Kurrheinischen Kreis nur eine maschinenschriftliche Dissertation von Günther Loch34 über die Zeit von 1697 bis 1714 und ein Zeitschriftenaufsatz von Helmut Neuhaus35 über die Rolle der Kurfürsten im Kreis im 16. Jahrhundert vor. Die wichtigsten bisherigen Forschungserträge zum Oberrheinischen Kreis bilden Studien von Hans Philippi36, Kurt Andermann37, Traugott Malzan38, Gustav Adolf Süss39 und Konrad Amann.40 Die Verfassung des Kur- und des Oberrheinischen Kreises, die Kreisämter und -Institutionen (DiFür 1806 werden z.B. als OrhK-Gesandte Frankfurts Friedrich Maximilian von GündeiTode und Franz Brentano, Kurtrierischer Wirklicher Rat genannt: ISG, StadtAFFM, Lesesaal: Des H.R. Reichs Freyen Wahl= und Handels= Stadt Franckfurt am Mayn allgemeiner Raths= und Stadt= Kalender (...). Worinnen Alle Ehren= Aemter und Bedienungen, Taxa, Zoll= Rollen und Ordnungen, Decreta publica, Gerichts-Ferien, Posten und alles andere so die Stadt Franckfurt betrifft, nebst denen Jetzt= lebenden Häusern von Europa, wie auch einem Judenkalender befindlich, Frankfurt a.M., Franz Varrentrapp, 1806, S. 38f. 31 Zeumer, Quellensammlung (wie Aran. 1). Arno Buschmann (Hg.), Kaiser und Reich. Verfassungsgeschichte des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation vom Beginn des 12. Jahrhunderts bis zum Jahre 1806 in Dokumenten, Teil Π: Vom Westfälischen Frieden 1648 bis zum Ende des Reiches im Jahre 1806, 2. ergänzte Aufl., Baden-Baden 1994. Kt.: Buschmann, Kaiser und Reich. Heinz Duchhardt (Hg.), Quellen zur Verfassungsentwicklung des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation (1495-1806), Darmstadt 1983 (Winfried Baumgart [Hg.], Quellentexte zur Neueren und Neuesten Geschichte). Kt.: Duchhardt, Quellen zur Verfassungsentwicklung. 32 Winfried Dotzauer, Der Kurrheinische Reichskreis in der Verfassung des Alten Reiches, in: Nassauische Annalen, Jahrbuch des Vereins für Nassauische Altertumskunde und Geschichtsforschung 98 (1987), S. 61-104. Ders., Reichskreise (1998) (wie Anm. 2), S. 204-296. Deis., Der Oberrheinische Kreis, in: Regionen in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 2), S. 97-125. 33 Hartmann, Regionen in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 4), S. 31-47. 34 Günther Loch, Der Kurrheinische Kreis von Ryswijk bis zum Frieden von Rastatt und Baden (1697-1714), Diss. Masch., Bonn 1951. 35 Helmut Neuhaus, Die rheinischen Kurfürsten, der kurrheinische Kreis und das Reich im 16. Jahrhundert, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 48 (1984), S. 138-160. 36 Hans Philippi, Der Oberrheinische Kreis, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd. 1 (1983), S. 634-657. 37 Kurt Andermann, Eine Martikel des Oberrheinischen Reichskieises aus dem Jahre 1531, in: Jahrbuch für westdeutsche Landesgeschichte 5 (1979), S. 83-90. 38 Traugott Malzan, Geschichte und Verfassung des oberrheinischen Kreises von den Anfängen bis zum Beginn des Dreißigjährigen Krieges, Diss. Masch., Mainz 1951. Zit.: Malzan, Oberrhein. 39 Gustav Adolf Süss, Geschichte des Oberrheinischen Kreises und der Kreisassoziationen in der Zeit des Spanischen Erbfolgekrieges (1697-1714), in: ZGO 103 (1955), S. 317-425 und ZGO104 (1956), S. 145-224. 40 Konrad Amann, Der Oberrheinische Kreis im Wandel, in: Wüst, Reichskreis und Territorium (wie Anm. 2), S. 335-347. 30
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Michael Müller rektorium und Ausschreibeamt 41 , Kreisobrist42, Kreiskanzlei und -archiv 43 ), die Einberufung und Durchführung der allgemeinen Kreiskonvente und Münzprobationstage sowie das Abstimmungsverfahren der „Umfrage" 44 , die Verabschiedung der Beschlüsse (Kreisabschiede und Münzrezesse) und deren anschließende Umsetzung, ferner die Führung von Kreiskanzlei und -archiv sind schon verschiedentlich in zeitgenössischen Darstellungen insbesondere von Johann Jacob Moser sowie in der neueren Forschung u.a. von Peter Claus Hartmann45 und Winfried Dotzauer46 in den wesentlichen Grundzügen beschrieben worden. Die rheinische Kreismünzpolitik und die Abhaltung der Münzprobationstage hat Konrad Schneider47, die Kreispoliceypolitik Karl Härter schon über weite Strecken erschlossen48. Hinsichtlich der Forschungslage bestehen aber trotz aller genannten Fortschritte jedoch immer noch in vielen Bereichen große Lücken, denn gerade das 18. Jahrhundert wurde bisher nur sporadisch erforscht.49 Johann Jacob Moser, Neues Teutsches Staats-Recht, 20 Bde., Frankfurt/Leipzig 17721774, zit.: Moser, Staats-Recht, Bd. 27 (1746), ΙΠ. Buch, Kap. 146, S. 154-450: „Von denen hohen Crays-Aemtern, besonders denen Crays-Ausschreib-Aemtern und CraysDirectoris". Ders., Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. VI, S. 171-244: „Von denen Crays-Ausschreibeämtem und Crays-Directoriis". 42 Zum Kreisobristenamt sowie den Nach- und Zugeordneten und Kriegsräten vgl. Moser, Staats-Recht (wie Anm. 41), Bd. 29 (1747), m. Buch, Kap. 152, Sectio Π, Membrum I, S. 18-38. Ders., Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. XII, S. 443-591: „Von Crays-MilitairSachen". 43 Moser, Staats-Recht (wie Anm. 41), Bd. 27 (1746), m. Buch., Kap. 147, S. 450-470. Ders., Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. VU, S. 244-253: „Von denen nidrigen CraysBedienten, wie auch der Crays-Cantzley und dem Crays-Archiv". 44 Zum Verfahren der „Umfrage" (requisitionem votorum) vgl. Johann Gottlieb Gonne, De Directorio Circvli Mixti Diatribe Académica in qva I. De Directorio Vniversim, II. De Directorio Circulorvm Imperii, ΙΠ. De Directorio Secvlari Circuii qvoad Conditionem Statwm Mixti, IV. De Directorio Evangelico Circvli qvoad Religionem Mixti, V. De Directorio Circvli Franconici et Secvlari et Evangelico ad Legvm Imperii Observantiae atque Pactorvm Rationes agitur. Avctore Ioanne Gottlieb Gonne (...). Erlangen, Müller, 1754, zit.: Gonne, De Directorio Circuii, S. 33. Moser, Crays-Verfàssung (wie Anm. 1), Kap. ΠΙ, § 45, S. 86. 45 Hartmann, Regionen in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 4), S. 31-47. Ders., Zur Bedeutung der Reichskreise für Kaiser und Reich (wie Anm. 2), S. 305-319. Ders., Rolle, Funktion und Bedeutung der Reichskreise im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, in: Wüst, Reichskreis und Territorium (wie Anm. 2), S. 27-37, hier S. 29f. 46 Dotzauer, Reichskreise (1989) (wie Anm. 2), S. 80-105, hier S. 82f. Ders., Reichskreise (1998), S. 258-296, hier S. 258-260. Ders., Der Kurrheinische Reichskreis in der Verfassung des Alten Reiches, in: Nassauische Annalen 98 (1987), S. 61-104. 47 Vgl. Konrad Schneider, Die Münz- und Währungspolitik des Oberrheinischen Reichskreises im 18. Jahrhundert (Veröffentlichungen der Gesellschaft für Historische Hilfswissenschaften, Bd. 4), Koblenz 1995, die wegen der engen Verbindung der rheinischen Kreise im 18. Jh. auch den Kurrheinischen Kreis berücksichigt. Dort auch ein Überblick über die Forschungsliteratur zum rheinischen Kreismünzwesen. 48 Überblick des Forschungsstands bei: Karl Härter, Von der Friedenswahrung zur „öffentlichen Sicherheit": Konzepte und Maßnahmen frühneuzeitlicher Sicherheitspolicey in rheinländischen Territorien, in: Rheinische Vierteljahrsblätter 67 (2003), S. 162-190. 49 Die in 2008 zur Veröffentlichung anstehende Habilschrift des Vf. untersucht die Geschichte des Kurrheinischen Kreises im 18. Jahrhundert, insbesondere die engen perso-
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Die Reichsstadt Frankfurt am Main 1.2. Konfessions- und Bevölkerungsverhältnisse Während der Ende des 18. Jahrhundert gut eine Million Einwohner zählende Kurrheinische Kreis weitgehend katholisch geprägt war, die geistlichen Kreisstände einen Territorienanteil von 76 ϋ/ο bildeten50 und die Katholiken 79 % der Bevölkerung ausmachten 51 , stellten sich die Verhältnisse in dem ca. 1,5 Millionen Menschen zählenden, überwiegend protestantischen Oberrheinischen Kreis genau umgekehrt dar, denn hier waren die Protestanten mit 74 % gegenüber den Katholiken mit 25 % 52 sowie die weltlichen Territorien mit 82 % gegenüber den geistlichen Kreisständen mit nur 13 % in der Überzahl53. Die Zahlenverhältnisse im Oberrhein entsprachen damit weitgehend den von Peter Claus Hartmann ermittelten Durchschnittswerten für das Reich insgesamt, wo ca. 84 % der Einwohner in weltlichen, und nur ca. 12 % in geistlichen Territorien lebten.54 Aber gerade diese spiegelbildlich umgekehrte Konfessionsstruktur der beiden rheinischen Kreise, sowie ihre territoriale Gemengelage und die engen, durch Personalunionen bewirkten politischen Verflechtungen, schufen, so Hartmann, gute Voraussetzungen für eine gedeihliche und enge kreisübergreifende Zusammenarbeit in dieser konfessionell weitgehend paritätischen „politischen Region" 55 , die zusammen eine Fläche von ca. 960 Quadratmeilen umfasste 56 und mit insgesamt knapp 2,5 Millionen Untertanen ca. ein Zehntel der Reichsbevölkerung ausmachte. 57 Die geographisch-territoriale Auslangslage58 zwang geradezu zur Zusammenarbeit. nellen und strukturellen Verflechtungen mit dem Oberrheinischen Kreis, u.a. in den Kreisassoziationen. VgI.:http://www.uramainz.de/FB/Ges^chte/histl/121.php#L_Forschungssch (3.3.2007). 50 772 500 Ew. (75,8 %) des Kurrheinischen Kreises lebten in geistlichen, 246 000 (24,2 %) in weltlichen Territorien. Peter Claus Hartmann, Bevölkerungszahlen und Konfessionsverhältnisse des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation und der Reichskreise am Ende des 18. Jahrhunderts, in: ZHF 22 (1995), S. 345-369, zit.: Hartmann, Bevölkerungszahlen, hier S. 350. 51 KrhK-Kreisbevölkerung nach Konfessionen 1795:1018 500 Kreisbewohner, davon 803 900 (78,9%) katholisch, 193000 (19%) protestantisch, 2,1 % Juden. Hartmann, Bevölkerungszahlen (wie Anm. 50), S. 358. 52 OrhK: 1 447 100 Kreisbewohner, davon 364 661 Katholiken (25,2 %), 1 067 439 Protestanten (73,8 %), 15 000 Juden (1 %). Hartmann, Bevölkerungszahlen (wie Anm. 50), S. 365f. Zahlenangaben ohne das formal noch zum OrhK gehörige, kath. Herzogtum Savoyen, das de facto nicht mehr zum Reich gehörte. 53 OrhK: 82,3% in weltlichen Territorien, 13,2 % (191200 EW) in geistlichen sowie 4,5 % in Reichsstädten. Hartmann, Bevölkerungszahlen (wie Anm. 50), S. 351f. Dort auch Zahlenangaben zur Bevölkerung der übrigen Reichskreise. 54 Hartmann, Bevölkerungszahlen (wie Anm. 50), S. 349. 55 Hartmann, Regionen in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 4), S. 34. 56 Büsching, Erdbeschreibung (wie Anm. 1), Theil 7, S. 902, § 2. 57 Diese betrug 1789 nach Büsching 24-26 Millionen (Büsching, Erdbeschreibung [wie Anm. 1], Theil 5, S. 26), nach Angaben von Georg Franz von Blum (1795) dagegen genau 25 473 678 in den zehn Reichskreisen (HHSTA, MEA, RTA, Fasz. 678), worin nur kreissässige Territorien enthalten sind, d.h. nicht die ca. 250 000 Ew. der Reichsritterschaften und die Bevölkerung Schlesiens (1796:1 776 000), womit die Einwohnerzahl des Reiches genau 27 499 678 betrug. Vgl. Hartmann, Bevölkerungszahlen (wie Anm. 50), S. 346-348.
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Michael Müller 2. D a s regionale „Innenleben" d e r beiden r h e i n i s c h e n K r e i s e ihre V e r f a s s u n g und O r g a n e 2.1. Kreisausschreibeamt und -direktorium Während im Oberrheinischen Kreis das Direktorium und das Kreisausschreibeamt beim Fürstbischof von Worms 59 lagen und sich der Herzog von Pfalz-Simmern mit dem Mitausschreibeamt und dem (durch Wahl vergebenen) Kreisobristenamt zu begnügen hatte60, war die Machtkonzentration im Kurrheinischen Nachbarkreis noch deutlicher: dort waren das Kreisdirektorium und das Ausschreibeamt ausschließlich in der Hand des Mainzer Erzbischofs und Kurfürsten, der darüber hinaus als „zweiter Mann im Reich" nach dem römisch-deutschen Kaiser61 eine einzigartige Machtfülle innehatte: als Reichserzkanzler besaß er das Visitationsrecht bei den beiden obersten Reichsgerichten. Er fungierte in Regensburg als Reichstagsdirektor und hatte eine bestimmende Funktion bei Wahl- und Krönungstagen. Als Metropolit der größten Kirchenprovinz nördlich der Alpen und Primas der deutschen Kirche war er der bedeutendste Kirchenfürst im Reich, und als einziger Kurrheinischer Kreisausschreibender Fürst und Direktor kam ihm zudem gewohnheitsrechtlich das Direktorium der Kreisassoziationen zu. Die Bedeutung von Kurmainz als
Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. II, § 9, S. 37. Worms hatte Sitz im Reichsfürstenrat auf der geistlichen Bank und alternierte mit Würzburg. Matrikel: zwei Reiter und 13 Fußsoldaten = 76 fl. Kammerzieler: 50 Reichstaler und 64 kr. Domkapitel Worms = 13 Kapitulare und 9 Domizellare. Zur Wormser Regierung vgl. Büsching, Erdbeschreibung (wie Anm. 1), Theil 7, S. 1009-1011, § 7-10. Johann Christoph Wagner, Der Pfaltz am Rhein Staat= Land= Staedt= Und Geschicht= Spiegel. (...) Derne (...) beygefüget eine vollkommene Erzehlung alles dessen, so seit An. 1687 in Ober- und Nider-Hungam (...) außgerichtet worden, Augsburg/Koppmayer 1690, S. 72-85. Ut.: Art. „Bistum Worms", in: Lexikon des Mittelalters, Bd. IX, Sp. 330. Köbler, Lexikon (wie Anm. 7), S. 626. Günter Sofsky, Die verfassungsrechtliche Lage des Hochstifts Worms in den letzten zwei Jahrhunderten seines Bestehens unter besonderer Berücksichtigung der Wahl seiner Bischöfe (Der Wormsgau, Beiheft 16), Worms 1957, zugl. Diss., Mainz 1955. 60 Gedruckte Quellen zu Kreisverfassung und Kreisämtem des ObeiTheinischen Kreises: Büsching, Erdbeschreibung (wie Anm. 1), Theil 7, S. 1003-1227. Das durch innerliche Kriege bedrängte Teutschland, von deren ersten Ursprung hergeleitet, und historisch beschrieben, auch mit dazu gehörigen Land-Karten und Plans erläutert, Teil I, Augsburg, Verlag Georg Christoph Kilian, 1759, S. 1: Geographische Beschreibung von Teutschland, nach der im Jahr 1512 von Kaiser Maximiliano I. geschehenen Eintheilung in X. Kreise. Nach dem Jure Public. German, eingerichtet, Nr. V: „Der Ober-Rheinische Kreis". Johann Baptist Homann, S.R.I. Circulus Rhenanus Superior, in quo sunt Landgraviatus Hasso-Casselensis, Darmstadtensis (...) ex conatibus loh. Baptistae Homanni, Norimbergae (Nürnberg) ca. 1720. Lit.: Köbler, Lexikon (wie Anm. 7), Einführung, S. XIV, S. 381. Dotzauer, Reichskreise (1998) (wie Anm. 2), S. 204-257. Ders., Der Oberrheinische Kreis, in: Regionen in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 2), S. 97-125. Konrad Amann, Der Oberrheinische Kreis im Wandel, in: Wüst, Reichskreis und Territorium (wie Anm. 2), S. 335-347. 61 Peter-Claus Hartmann (Hg.), Der Mainzer Kurfürst als Reichserzkanzler. Funktionen, Aktivitäten, Ansprüche und Bedeutung des zweiten Mannes im Alten Reich (Geschichtliche Landeskunde, Bd. 45), Stuttgart 1997. Ders. (Hg.), Kurmainz, das Reichserzkanzleramt und das Reich. Am Ende des Mittelalters und im 16. und 17. Jahrhundert (Geschichtliche Landeskunde, Bd. 47), Stuttgart 1998. 58
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wichtigste Triebfeder der Assoziationen wurde schon von Zeitgenossen wie Johann Jacob Moser in einem eigenen Kapitel seiner „Einleitung in das Churfiirstliche Maynzische Staats-Recht"62 hervorgehoben: „Chur-Maynz hat das meiste dazu bey getragen, dass zu End des vorigen Jahrhunderts die vorliegende Crayse Chur- und Ober-Rhein, Oesterreich, Francken und Schwaben, sich in eine Association, oder Defensiv-Allianz, zusammen begeben, und solche bishero (...) fortgesetzet haben."63 Die Konferenzen der assoziierten Kreise wurden im Kurmainzer Quartier gehalten. Mainz hatte, wie auch im Kurrhein, das Ausschreibeamt der Assoziation inne, d.h. es berief diese ein und schlug die Deliberanda vor. Dabei war aber Usus, dass es sich vorher mit den anderen Ausschreibenden Fürsten der assoziierten Kreise in Verbindung setzte, es sei denn, die Einberufung geschah auf kaiserliches Verlangen oder bei Gefahr im Verzuge. Ein formelles Direktorium der Kreisassoziation gab es nicht, de facto aber gestanden die übrigen Kreise diese Aufgabe Kurmainz als dem vornehmsten Stand (Reichserzkanzler und Direktor des Kurrheins) zu. Einen rechtlichen Anspruch auf das Direktorium konnte Kurmainz nicht erheben, weil es einen solchen nicht gab, und es auf die Zustimmung der Übrigen angewiesen blieb. Daher, so Moser, musste „ChurMaynz sich hierinn sehr behutsam aufführen" 64 . Gegenüber der Ämterhäufung bei Kurmainz musste sich der Pfälzer Kurfürst mit dem Kurrheinischen Kreisobristenamt zufrieden geben - ein pfälzisches Mitausschreibeamt gab es im Kurrhein nicht, und ein entsprechendes Kondirektorium existierte in beiden Kreisen nicht. Dass die Kreisausschreibenden Fürsten das alleinige Propositionsrecht innehatten, war insofern bedeutsam, als es ein wichtiges Instrument zur Steuerung der Kreispolitik darstellte - beinhaltete es doch die Festlegung der Tagesordnung der zu behandelnden „Proponenda", die den übrigen Mitständen im Ausschreiben mitgeteilt wurden und für welche sie dann ihren Kreisgesandten Instruktionen erteilten. Nur die in der Proposition genannten Punkte durften verhandelt werden, d.h. das Verhandlungs- und Abstimmungsgeschehen wurde bereits im Vorhinein durch eine entsprechende Selektion der Inhalte bzw. deren Formulierung präjudiziert. Anders als im Oberrheinischen Kreis, in dem es neben dem Wormser Direktorium noch einen zweiten, weltlichen Kreisausschreibenden Fürsten, den Pfalzgrafen von Simmern gab, hatte im Kurrheinischen Kreis Kurmainz beide Führungsämter ausschließlich inne - obwohl das Reichsrecht
Vgl. Johann Jacob Moser, Einleitung in das Churfiirstliche Maynzische Staats-Recht, vermittelst kurzer Säze, und Anzeigung vieler derer besten oder neuesten Scribenten, allwo mehrere Nachricht davon anzutreffen ist, Franckfurt am Mayn, Johann Benjamin Andreae, 1755, Kapitel IV, S. 77-83, §§ 1-16: „Von der Churfürsten zu Maynz Gerechtsamen, in Ansehung derer Reichs-Crayse", hierin besonders: § 12: Chur= Maynz befördert die Crays=Association, § 13: Beschreibt die associierte Crayse, § 14: Ob und wie feme es ein Directorium dabey führe? § 15: Sein Kontingent, § 16: Verschiedener Crayse Concurrenz zu der Stadt Maynz. 63 Ibid., § 12, S. 81. 64 Ibid., § 14, S. 82f. 62
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das Gegenteil vorsah: das Edikt Ferdinands I. von 1559 bestimmte in § 158, dass das Kreisausschreibeamt zwei Fürsten zustehen solle, je einem geistlichen und einem weltlichen.65 Der Kurfürst von der Pfalz hatte jedoch als ranghöchster weltlicher Fürst mit dem Kreisobristenamt lediglich die militärische, aber keine politische Leitungsposition inne66. Die enge Verflechtung der beiden Kreise und die dominierende Rolle der Kurstaaten in ihren Führungsämtern wurde z.T. durch Personalunionen noch verstärkt. In diesem Zusammenhang ist besonders die Schlüsselstellung der Mainzer und der Pfälzer Kurfürsten in beiden Kreisen zu erwähnen: Sowohl die Mainzer Erzbischöfe, die ab 1663 mehrfach in Personalunion Fürstbischöfe von Worms waren, als auch die Pfälzer Kurfürsten, die seit 1559 auch das Herzogtum Pfalz-Simmern innehatten, übten in beiden Kreisen Leitungsfunktionen als Direktoren und Kreisausschreibende Fürsten (Mainz) und Kreisobristen (Pfalz) aus, wodurch diese Kreise auch institutionell engstens miteinander verbunden waren. Die Bündelung aller Macht im Kreis in Händen von Mainz, d.h. eines katholischen Erzbischofs war zumindest im Kurrhein in konfessioneller Hinsicht nach dem Übergang der Pfälzer Kur vom Hause Simmern an Neuburg 1685 unproblematisch, waren doch seither alle vier rheinischen Kurfürsten katholisch. Der Oberrheinische Kreis dagegen war zu drei Vierteln protestantisch, und diese konfessionelle Problematik lähmte ihn.67 Während im Kurrheinischen Kreis das Corpus Evangelicorum stets eine Minderheit bildete und seit 1685 keine kreispolitische Rolle mehr spielte, setzten sich diese Auseinandersetzungen im Oberrhein bis ins 18. Jahrhundert hinein fort, wobei sich konfessionelle mit mindestens ebenso mächtigen reichs- und hausmachtpolitischen Erwägungen vermischten. 65
Gonne, De Directorio Circuii (wie Anm. 44), S. 35. Zur Kreismilitärverfassung des Kurrheins vgl. Moser, Staats-Recht (wie Anm. 41), Bd. 29 (1747), ΙΠ. Buch, Kap. 152, Sectio Π, Membnim VI, S. 141f. Zum Kreisobristenamt vgl. Jakob Brunnemann/Rudolph August von Lautensack, De Circulis et Judiciis publicis Imperii. Präses: Jakob Brunnemann. Respondent: Rudolph August von Lautensack. Halle/Saale [ca. 1702], S. 201-220. Dissertatio XI in: Introducilo in Juris Publici Prudentiam quâ Satus [sic!] S. Imperii Germanici praesens delineatur una cum Controversiis illustrioribus statuum. In Illustri Regia Fridericiana Publicis Dissertationibus proposita a D. Iacobo Brunnemanno (...), Diss, iur., Halle/Saale 1702, S. 201, § 7. 67 StAWü, Mise. 6495: Bericht des fürstlichen wormsischen Rates Johannes Koler vom 16.10.1593 an den Kfst. von Mainz über den Kreistag in Worms 2.10.1593 (6 Seiten, Provenienz: Kanzlei). Rudolf Schatz/Aloys Schwersmann (Hg.), Inventar des Aktenarchivs der Erzbischöfe und Kurfürsten von Mainz aufgrund der Verzeichnisse in den heutigen Eigentümer-Archiven, Zusammengest. v. Rudolf Schatz/Aloys Schwersmann i.A.d. Landesarchiwerwaltung Rheinland-Pfalz Koblenz, Bde. 2-5: Inventar des Mainzer Regierungsarchivs; Kurfürstentum und Reich; Zentralbehörden; Amter und Centen; Öffentliche Ordnung; Verwaltung der Gemeinden; Landwirtschaft, Forsten, Jagd und Fischerei; Wirtschaft, Handel, Verkehr und Münzen; Militär und Krieg; Steuern, Abgaben, Leistungen; Lehen, Pfandschaften, Arreste, Depositen; bearb. v. Aloys Schwersmann (Veröffentlichungen der Landesarchiwerwaltung Rheinland-Pfalz, Bde. 55-56,5960), Koblenz 1990-1993., zit.: Schatz/Schwersmann, Inventar, Bd. 2, S. 19, Nr. 131. 66
Die Reichsstadt Frankfurt am Main Im Oberrheinischen Kreis lag das alleinige Direktorium beim Fürstbischof von Worms, der im Untersuchungszeitraum durchgängig zugleich in Personalunion entweder Kurfürst von Mainz 68 oder von Trier war 69 und der zusammen mit dem Pfalzgrafen zu Simmern auch das Kreisauschreibeamt innehatte.70 Das pfälzische Mitausschreibeamt implizierte, dass die Propositionen zu Oberrheinischen Kreistagen durch Worms und Simmem gemeinsam kommuniziert wurden, so etwa die Proposition von 169571. Damit war, anders als im Kurrheinischen Nachbarkreis, dem bereits zitierten Edikt Ferdinands I. von 1559 Genüge getan, wonach das Kreisausschreibeamt zwei Fürsten zustehen solle, je einem geistlichen und einem weltlichen.72 Da der Pfälzer zwar am Ausschreibeamt, nicht aber am Direktorium partizipierte, blieb seine Position gegenüber Worms eine mindermächtige. Noch einseitiger war die konfessionelle Situation im Kurrhein, in welchem der Mainzer Kurfürst als alleiniger Kreisausschreibender Fürst und Direktor agierte. Die Kurpfalz als protestantische Führungsmacht strebte in beiden rheinischen Kreisen erfolglos ein Kondirektorium an. 73 Im Kurrhein war dies schon wegen des katholischen Übergewichts ein aussichtsloses Unterfangen74, doch im gänzlich gegensätzlich strukturierten Oberrhein ließ sich diese Forderung plausibel vertreten.75 Eine entsprechende Änderung der Kreisverfassung jedoch setzte ein Übereinkommen zwischen den beiden Führungsmächten Worms und Pfalz voraus, woran bis 1685 nicht zu denken war. Das Wormser Direktorium hatte verschie-
Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg, Kfst. Mainz 1729-32, Fbf. Worms 1694-1732. Johann Friedrich Karl von Ostein, Kfst. Mainz 1743-63, Fbf. Worms 1756-63. Emmerich Josef Freiherr von Breidbach zu Bürresheim, Kfst. Mainz 1763-74, Fbf. Worms 1768-74. Friedrich Karl Joseph Freiherr von Erthal Fbf. Worms 1774-1802. Karl Theodor von Dalberg, Fbf. Worms 1802/03. BayHStA, Abt. ΠΙ: Geheimes Wittelsbacher Hausarchiv (Korrespondenzakten Kurpfalz IV), Nr. 1271: Bischofswahl zu Worms des Kfst. Mainz 1767/68, Rep. 634. 69 Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg, Kfst. Trier 1716-29, Fbf. Worms 1694-1732. Franz Georg von Schönborn-Puckheim, Kfst. Trier 1729-56, Fbf. Worms 1732-56. Johann Philipp Freiherr von Waldersdorf, Kfst. Trier 1756-68, Fbf. Worms 1763-68. 7Í Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. VI, § 18, S. 198-203, hier S. 198. LASp, E 3 (Oberrheinischer Kreis), Nr. 1424: Beschwerde der Kreisausschreibenden Fürsten (Fbf. v. Worms und Pfalzgraf v. Simmem) an den Kaiser wg. ihrer Umgehung bei den Prozessen und Exekutionen ihrer Mitstände durch den Reichshofrat (Konzept sine dat.). Büsching, Erdbeschreibung (wie Anm. 1), Theil 7, S. 1005f., § 4. 71 GLAK, 77/8854: Korrespondenz des Kfst. Johann Wilhelm mit der Kuipfalz. Kreisgesandtschaft in Frankfurt und Berichte derselben (Okt. 1694-März 1695), fol. 308r-309v. 72 Gonne, De Directorio Circuii (wie Anm. 44), S. 35. 73 Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. VI, § 17, S. 198. 74 Auch im 18. Jh. noch verfolgten die beiden Wittelsbachischen Kurstaaten Pfalz und Köln das Ziel eines KrhK-Kondirektoriums: BayHStA, K.bl., Nr. 143/13: Beschwerden von Kurköln und Kurpfalz gegen Kurmainz als KrhK-Kreisdirektor und daraus entstehende Veranlassung des KrhK-Kondirektorialkonvents von dem kurkölnischen und kurpfälzischen Gesandten „und was dahin einschlägig" 1746/47 (3 Fasz., pag.). 75 BayHStA, K.bl., Nr. 139/lla: Korrespondenzen wegen des OrhK-Direktoriums zwischen Kupfalz und Kurmainz 1664. GLAK, Abt. 77 (Pfalz Generalia) 8953: Kurpfälzische Akten das OrhK-Direktorium betreffend (1690-1741). 68
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Michael Müller dene Vorrechte (Jura praecipua)76 gegenüber dem Pfälzer Mitausschreibeamt. Da die Kurpfalz nicht nur im Kur-, sondern auch im Oberrheinischen Kreis eine Gleichberechtigung der Evangelischen anstrebte, bemühte sie sich auch hier, ebenso erfolglos, um ein Kondirektorium.77 Erst der Übergang der Pfälzer Kur an die katholische Neuburger Linie 1685 eröffnete neue Perspektiven für einen inneren Ausgleich und die stärkere Teilhabe an der Leitung des Kreises. Im Weinheimer Vergleich von 1690 wurde zwar das alleinige Wormser Direktorium bestätigt, jedoch vereinbart, dass es mit Pfalz-Simmern „kommunizieren"78, d.h. seine Kreispolitik mit der zweiten Führungsmacht abstimmen und um einvernehmliche gemeinsame Lösungen bemüht sein mußte. Über die konkrete Ausgestaltung dieser Zusammenarbeit gab es aber auch nach 1690 noch Meinungsverschiedenheiten.79 Daher wurde in einem zweiten Vergleich zwischen Worms und Kurpfalz vom 26.8.170580 bestimmt, dass dem Fürstbischof weiter das alleinige Recht zukam, die Kreisausschreiben zu ingrossieren und zu expedieren: Jedoch musste er diese vor- und nachher zur Lesung und Revision an die Pfalz-Simmerschen Deputierten kommunizieren.81 Die beiden Oberrheinischen Kreisausschreibenden Fürsten Pfalz-Simmern und Worms teilten sich die Kreisausschreiben.82 2.2. Kreisobrist Vornehmste Aufgabe des Kreisobristen - das von der Reichsexekutionsordnung von 1555 83 eingerichtete Kreisobristenamt84 (vorher:
Kaiser Karl VI. garantierte in seiner Wahlkapitulation von 1711 die reichs- und (seit 1648) völkerrechtlich verbrieften Rechte des Kreisdirektoriums: StAWü, MRA-7/L 62/Π: Wahlkapitulation Kaiser Karls VI. 1711 (Druck 56 Seiten), 30 Artikel, hier Artikel XII, S. 27f. Schatz/Schwersmann, Inventar (wie Anm. 67), Bd. 2, S. 15, Nr. 101. 77 BayHStA, K.bl., Nr. 133/1 (Abschriften von OrhK-Rezessen): Korrespondenz Mainz-Pfalz über das Oberrheinische Kreisdiiektorium 1674. Kreisabschied Frankfurt 26.5.1690. Abschrift des Briefswechsels zwischen Worms und Pfalz-Simmem über das strittige Kreisdirektorium (30.8.1690-1705). Rezeß zwischen Hessen-Kassel und den Westerwäldischen Ständen, Frankfurt 2./12.3.1690. Allianz zwischen Kurpfalz und einigen Oberrheinischen Westerwäldischen Kreisständen, Frankfurt 1.9.1696. Kreisrezeß Frankfurt 11.3.1697. 78 Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. VI, § 18, S. 199. 79 GLAK, Abt. 51II/36: Schreiben des Kfst. Johann Wilhelm von der Pfalz an den Markgrafen Ludwig Wilhelm von Baden-Baden, Jan. 1705, über Differenzen mit dem Fbf. von Worms wegen des Kreismitausschreibeamts und Einberufung eines OrhK-Kreistages auf den 3.2.1705 nach Frankfurt. GLAK, Abt. 77 (Pfalz Generalia) 9306: Korrespondenz der kurpfälzischen Kreisgesandten von Sickingen und Zachmann in OrhK-Kreisangelegenheiten 1695. 80 Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. VI, § 18, S. 202f.: Deklaration des Bischofs von Worms vom 28.10.1697 sowie Vergleich zwischen Kurpfalz und Worms vom 26.8.1705. 81 Büsching, Erdbeschreibung (wie Anm. 1), Theil 7, S. 1005f. 82 GLAK, 77/8854: Korrespondenz des Kfst. Johann Wilhelm mit der Kuipfalz. Kreisgesandtschaft in Frankfurt und Berichte derselben (Okt. 1694-März 1695), hier fol. 78r-79r. 83 Zur Reichsexekutionsordnung (REO) 1555 vgl. Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. V, § 3, S. 166. Buschmann, Kaiser und Reich (wie Anm. 31), S. 215-283, hier S. 239, S. 241-251, §§ 51, 56-79 zur Stellung der Kreisobristen. Günderrode, Johann Maximilian von: Abhandlung des Teutschen Staats-Rechts, worinnen alle dahin gehörige Materien, hauptsächlich nach Maßgabe der Reichs-Gesetzen und besonders Ihro glorwiirdigst76
Die Reichsstadt Frankfurt am Main „Kreishauptmann") ist nicht zu verwechseln mit dem Offiziersgrad eines Obersten bei einem Kreisregiment85 - war die Durchführung von Reichsexekutionen86 gegen innere Friedensbrecher im Kreisgebiet auf Grundlage der Reichsexekutionsordnung sowie älterer Ansätze wie der Reformgesetzgebung Kaiser Maximilians I. auf dem Wormser Reichstag vom 7.8.1495, insbesondere des „Ewigen Landfriedens" 87 und der „Handhabung Frieden und Rechts" 88 sowie des Landfriedens Karls V. vom 30.6.154889. Während das Kurrheinische Kreisobristenamt fest in Kurpfälzischen Händen war, schon weil keiner der drei geistlichen Kurfürsten dafür in Frage kam, wechselten im Oberrheinischen Kreis verschiedene Häuser einander in der Ausübung dieses Amtes ab.90 Gleichwohl beanspruchte die Pfalz als weltlicher Ausschreiber
regierenden Kayserlichen Majestät Wahl-Capitualtion vorgestellet werden, dass solche zugleich zu deren Erläuterung dienen kan. Gießen, Johann Philipp Krieger, 1734, hier 1. Buch: „Von dem Teutschen Staats=Recht insgemein, und denen dazu dienenden Mitteln", hier Kap. VIH: „Von der Exekutionsordnung". Die Augsburger REO von 1555 bestimmte die Kreisordnung als Grundlage der Reichsexekution. Die Wahl des Kreisobristen erfolgte durch die Stände unter Leitung des Kreisausschreibenden Fürsten. Nur falls sich die Stände nicht einigten, trat das Ernennungsrecht des Kaisers ein: Jähns, Kriegsverfassung, S. 118. 84 Moser, Staats-Recht (wie Anm. 41), Bd. 29 (1747), ΙΠ. Buch, Kap. 152, Sectio Π, Membrum ΧΠ, S. 245-263: „Noch einiges von denen Crays-Obristen, auch Nach- und Zugeordneten". Laut RKGO ΙΠ., Teil, Tit. 48 § 8, 49 sowie Reichsexekutionsordnung von 1555 § 71 hatten die Kreisobristen die Urteile der Obersten Reichsgerichte zu exekutieren. Später ging diese Aufgabe vom Kreisobristen auf die Kreisausschreibenden Fürsten über, da das Obristenamt oft vakant war: Moser, Johann Jacob: Abhandlung verschiedener besonderer Rechts-Materien, 20 Theile in 5 Bde., Frankfurt a.M./Leipzig 1772-1777, hier Stück 8, Teil 2, S. 707-732: „Von mehreren wichtigen Stücken der Teutschen Staats-Verfassung, welche bloß zufälliger Weise entstanden seynd", hier § 9, S. 726f. 85 HStAWi, Abt. 131 IVa 444a (Nassau-Usingen, Generalakten, Bestand: Kaiser und Reich): Gesuche des Herren von Bozheim, des Gf. (= Graf) Solms und des Majors Worthmann bzgl. Nassau-Usingens Votum bei Vergabe der Majors- bzw. Oberstenstelle beim OrhK-Kontingent (1743-46), Abt. 131, IVa 465a: Betr. Oberstenstelle der OrhKKompanie 1750-52. 86 Zur Exekution der Reichsschlüsse vgl. Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. XI, § 10, S. 435f. 87 HStAWi, Abt. 131, IVa 15a (Nassau-Usingen, Generalakten, Bestand: Kaiser und Reich): Landfrieden Kaiser Maximilians vom 7.8.1495 (Druck, Nürnberg). Zeumer, Quellensammlung (wie Anm. 1) ('1904), Nr. 148, S. 225-228 (21913), Nr. 173, S. 281-284. Buschmann, Kaiser und Reich (wie Anm. 31), S. 157-164. 88 Zeumer, Quellensammlung (wie Anm. 1) (Ί904), Nr. 150, S. 235-238; fl913), Nr. 175, S. 291-294. Buschmann, Kaiser und Reich (wie Anm. 31), S. 165-171. Lit.: Heinig, PaulJoachim: Der Wormser Reichstag von 1495 als Hoftag, in: ZHF 33 (2006), Heft 3, S. 337357. 89 Zeumer, Quellensammlung (wie Anm. 1) 019O4), Nr. 161, S. 271-282; ^1913), Nr. 187, S. 330-340. Zu Landfrieden und Exekution vgl. u.a. Rolf Decot, Religionsfrieden und Kirchenreform. Der Mainzer Kurfürst und Erzbischof Sebastian von Heusenstamm 1545-1555, Diss. Kath. Theol. Mainz 1979 (VIEGM, Abt. Abendländische Religionsgeschichte, Bd. 100), Wiesbaden/Stuttgart 1980, S. 228-230. 90 Für 1718-23,1739/40,1742,1748-1750,1763,1769-71,1773-75,1786 vgl. BayHStA, K.bl., Nr. 140/18-26. Zur Oberrheinischen Kreisoberstenstelle: K.bl., Nr. 139/31 (Pfälzer Kreisakten 1771-73). LASp, E 3 (Oberrheinischer Kreis), Nr. 1525/1526: OrhK-
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Michael Müller und ranghöchster weltlicher Stand des Kreises auch dieses Amt für sich, welches jedoch später an die Landgrafen v o n Hessen ging, u n d zwar 1750 an HessenDarmstadt 91 und 1775 an Hessen-Kassel 92 . D e m Amt waren Nach- und Zugeordnete zur Seite gestellt, u m möglichst viele der größeren armierten Stände in die Verantwortung einzubinden. 93 Der Oberrheinische Kreismilitäranschlag betrug nach der Reichskriegsordnung v o m 30.8.1681 i m Simplum insgesamt 491 Reiter und 2 853 Infanteristen. 94 2.3. Zentrale Kreisorgane: Kanzlei, Archiv und Kasse Die Führung v o n Kreiskanzlei und -archiv lag beim jeweiligen Kreisdirektor, d.h. bei Kurmainz im Kurrheinischen bzw. Worms i m Oberrheinischen Kreis. Die Oberrheinische Kreiskanzlei, die Registratur und das Archiv unter Leitung des Wormser Direktoriums waren in der fürstbischöflichen Residenz (bis 1705) Ladenburg untergebracht. 95 Auch die gemeinsame Kur- und Oberrheinische Kreiskasse hatte ihren Sitz in Frankfurt96 und der für beide Kreise gemeinsam zuständige Kreiskassierer bzw. Obereinnehmer war seit 1681 zumeist ein Frankfurter Bankier oder Kaufmann. 97 Der Kreiskassierer sowie seit 1760 der Münzwardein 98 , waren im Kreisoberstenstelle. Zur Kreismilitärverfassung des Oberrheins vgl. Moser, Staats-Recht (wie Anm. 41), Bd. 29 (1747), ΙΠ. Buch, Kap. 152, Sectio Π, Membrum VE, S. 142-181. 91 Moser, Johann Jacob: Teutsches Staats-Archiv, oder Sammlung derer neuest- und wichtigsten Reichs-, Crays- und anderer Handlungen, Deductionen, Urtheile derer höchsten Reichs-Gerichte, Verträge, und anderer Staats-Schrifften und Urkunden, welche in denen Staats-Angelegenheiten des gesamten Teutschen Reichs, wie auch dessen Corporum, Collegiorum und Stände, nicht weniger deren Unterthanen, zum Vorschein gekommen seynd. Mit Anmerckungen und gelehrten Neuigkeiten von Teutschen StaatsSachen begleitet von Johann Jacob Moser, 24 Teile in 4 Bde., Frankfurt a.M., Knoch und Esslinger, und Hanau, Christlich Leberecht Reinheckel, 1751-52. Zit.: Moser, Staats-Archiv, Bd. 1, 2. Theil (1751), Kap. 5, S. 51-67. Vgl. ders., Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. X, § 72, S. 406. LASp, E 3 (Oberrheinischer Kreis), Nr. 36: Ernennung des Landgrafen Ludwig von Hessen-Darmstadt zum OrhK-Obristen 1750. Büsching, Erdbeschreibung (wie Anm. 1), Theil 7, S. 1007, § 6. Dieser Rezeß ist, wie Moser, Staats-Archiv, Bd. 1, 2. Theil (1751), Kap. 5, S. 51 bemerkt, „sonderlich darum merckwürdig, weil I. dadurch die schon lang vacante und in denen wenigsten Craysen mehr übliche Crays-Obristen-Stelle, (welche hohe Charge nicht mit der Obristen-Stelle über ein Crays-Regiment confundiret werden muß), wiederum besetzet, so dann 2. der Crays durch einen neuen Mit-Stand, nemlich den Herrn Baron von Roll, vermehret worden ist." 92 LASp, E 3 (Oberrheinischer Kreis), Nr. 33: Übertragung des OrhK-Oberstenamts 1775. 93 ISG, StadtAFFM, OrhK, Mgb Akten, Nr. 58 (alte Sign. Mgb D 31 V, fol. 1-106): OrhK-KT Worms 2.11.1559-Jan. 1560. Rep. 686, S. 16f. 94 BayHStA, K.bl„ Nr. 144/10 (1), fol. 173r. 95 Büsching, Erdbeschreibung (wie Anm. 1), Thal 7, S. 1007, § 5. Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. VII, § 1, S. 245: 1597 reskribierte Kaiser Rudolf Π. an den Oberrhein wegen der dem Hochstift Worms zustehenden Kreiskanzlei, Registratur und Repositur, audi Custodiae Actorum. 96 Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. VII, § 5, S. 249-252, hier S. 250. 97 Dotzauer, Reichskreise (1989) (wie Anm. 2), S. 82f. Eckhart G. Franz, Der Finanzplatz Frankfurt und die Hof- und Staatsfinanzen der hessischen Fürstenstaaten, in: Blätter für deutsche Landesgeschichte, Neue Folge, 125 (Düsseldorf 1989), S. 43-62. 98 HHStA, MEA, OrhK 141b: Anstellung eines General-Münzwardeins am KrhK 1778-80. MEA, OrhK 148: KrhK Münzwardein-Stelle; Stelle des KrhK-Kreiskassierers 1788-90. Inventar Nr. 514/1,520/1-2.
Die Reichsstadt Frankfurt am Main 18. Jahrhundert durchweg auch für den Kurrheinischen Kreis zuständig.99 Die Amtsstellung des gemeinsamen Generalmünzwardeins des Kur- und des Oberrheinischen Kreises ging 1800 von Johann Georg Dietze100 auf seinen Sohn Christian Josef Dietze über.101 Die enge Zusammenarbeit der Kreise Kur- und Oberrhein verdeutlicht darüber hinaus das in der bisherigen Forschving praktisch unbeachtet gebliebene Projekt eines gemeinsamen „Kreiskalenders"102. Auch gemeinsame Kur- und Oberrheinische Kreistage wurden im 18. Jahrhundert vermehrt in Frankfurt abgehalten, so z.B. am 28.2. und am 10.7.1748. 103 2.4. Die Kreistage Durch reichsverfassungsrechtliche Vorgaben war festgelegt, dass Kreistage entweder auf Verlangen von Kaiser und Reichstag, oder auch auf Grund der Eigeninitiative eines Kreises einberufen werden konnten.104 Die HäuMoser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. VII, § 6, S. 252. HHStA, MEA, KrhK 76: Prüfung und Verpflichtung des KrhK- und OrhK-Generalmünzwardeins Johann Otto Trümmer (19.9.1765-16.7.1766). 100 Johann Georg Dietze, Betrachtungen über die am oberrheinischen Kreiß gemachten Anträge wegen Einführung der K. K. Ducaten - Souverändor und Kronen-Thalern wie auch der K. Preußischen-Thalern und andern Gold- und Silber-Sorten. Im April 1793 (Druck 28 Seiten, ohne Erscheinungsort); Exemplar in der BLB Karlsruhe, Sign. 98 Β 76293 RH. 101 StAD, E 1, D 26/6: Prüfung des C. J. Dietze, Sohn des Generalmünzwardeins J.G. Dietze zu Frankfurt, und seine Verpflichtung auf die Stelle seines Vaters im Kur- und Oberrheinischen Kreis 1800-1804. Die Akten betreffe Pension des C. J. Dietze in: StAD, E 1, D 137/2. Lit.: Konrad Schneider, Johann Georg und Christian Josef Dietze, Generalwardeine des Kurrheinischen und Oberrheinischen Kreises und die Probleme des süddeutschen Münzwesens um 1800, in: ZGO151 (2003), S. 385-414. 102 BayHStA, Kbl., Nr. 139/17 (für 1771). HStAD, Kurköln VI, 1854 (fol. 1-12): Plan eines Kur- und Oberrheinischen Kreiskalenders 1772-1776, hier fol. 1-lv: An den kurkölnischen Residenten zu Frankfurt, Kreiskassierer und Geheimen Rat Georg Blasi Rosalino (Repertorium, Bd. Π, S. 653), den Kur- und Oberrheinischen Kreiskalender betreffend, Bonn 4.4.1772. Fol. 2-2v: Georg Blasi Rosalino, April 1772 an den EB/Kfet. Köln (2 Seiten). Wie ein Vermerk auf fol. 3 belegt, sollte der geplante KrhK- und OrhK-Kreiskalender im Kurkölnischen Verlag des „Bönnischen Intelligenzblattes" verlegt werden. Das „Gnädigst-Privilegirte Bönnische Intelligenz-Blatt" ist als Microfilm sowohl in der ULB Bonn als auch im Stadtarchiv/Stadthistorische Bibliothek Bonn für den genannten Zeitraum erhalten, enthält jedoch keinen Kreiskalender (freundliche Auskünfte durch Dr. Hans Dieter Gebauer, ULB Bonn, 11.9.2003 sowie Frau Irmtrud Meyer, Stadtarchiv/Stadthistorische Bibliothek Bonn, 22.9.2003). Auch: Wolfgang Reuter, Die Kurkölnische Hofbuchdruckerei zu Bonn 1652-1794, in: Bonner Geschichtsblätter 12 (1958), S. 156-183, hier S. 169-175 über Ferdinand Rommerskirchen als Drucker des Intelligenzblattes bietet keinen Hinweis. Dass ein gemeinsamer Kreiskalender der beiden rheinischen Kreise diskutiert wurde, zeigt, wie eng die Zusammenarbeit im 18. Jh. geworden war. 103 LHAK, Bestand IC, 1069 (KrhK-Protokolle 1745-48), fol. 399,799. 104 Moser, Staats-Recht (wie Anm. 41), Bd. 28 (1746), Kap. 149, S. 44-82: „Von denen Conventen aller oder einiger Crayße". Kap. 150, S. 82-476: „Von denen so wohl allgemeinen, als engeren und particular-Conventen derer Stände derer eintzelen Crayse". Kap. 151, S. 476-510, Supplemente, S. 510-534: „Von denen Geschafften, welche auf Crays-Tägen verhandelt zu werden pflegen, überhaupt, und besonders von Staats-Sachen". Ders., Crays-Verfassung, Kap. IX, S. 285-302: „Von denen Conventen aller oder einiger Crayse". Kap. X, S. 302-427: „Von denen so wohl allgemeinen als engeren und ParticularConventen der Stände deren einzelnen Crayse". Kap. XI, S. 427-443: „Von denen Ge99
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figkeit bzw. Regelmässigkeit der Einberufung war nicht verbindlich geregelt. Fest stand nur, dass auf Verlangen von Kaiser und Reichstag ein Kreiskonvent angesetzt werden musste.105 Mehrmals wurde von Reichs wegen angeordnet, dass alle zehn Kreise Konvente abhalten sollten.106 Ansonsten wurden Kreistage nach Bedarf von den Kreisausschreibenden Fürsten einberufen. Johann Jacob Moser definitierte einen „Kreistag" als die „Zusammenkunfft derer in einem Crays Sitz und Stimme habender Stände, um sich mit einander über die gemeinschafftliche Angelegenheiten des Crayses zu besprechen, und einen Schluß darinn zu fassen."107 Entsprechend der jeweiligen spezifischen Voraussetzungen wurden unterschiedliche Formen herausgebildet: Einer der auffälligsten Unterschiede zwischen den beiden rheinischen Kreisen war die Organisationsform der Kreistage: Während sich die Kurrheinischen Stände am „runden Tisch" versammelten108, waren Oberrheinische Kreistage in vier Bänke gegliedert, für (1.) geistliche sowie (2.) weltliche Fürsten, (3.) Grafen und Herren sowie (4.) Reichsstädte.109 Grund für die Einteilung in Bänke war nicht zuletzt die - auch noch im 18. Jahrhundert - relativ große Zahl der Kreisstände: während der Kurrheinische Kreis im 16. Jahrhundert maximal fünfzehn Stände zählte (vier Kurfürstentümer und elf kleinere Stände), im 18. Jahrhundert aber nur noch zehn Stände existierten bzw. an den Konventen teilnahmen, umfasste der Oberrheinische Nachbarkreis anfänglich 72 Stände110, wovon, wie bereits erwähnt, im 18. Jahrhundert - mit gewissen Schwankungen nur noch 42 zum Kreis zählten.111 Angesichts der großen Zahl der Kreisstände und den Rangstreitigkeiten untereinander112 gab es, anders als im Kurrheinischen Kreis, häufige Kontroversen um die Reihenfolge bei Umfrage und Abstimmung.113
schafften, welche auf Craystägen verhandelt zu werden pflegen, überhaupt, und besonders von Staatssachen". 105 Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. XVI, S. 763-769: „Von der Reichs-Crayse Gerechtsamen in Ansehung des Kaysers". Kap. XVII, S. 769-778: „Von der ReichsCrayse Gerechtsamen in Ansehung des Reichs und dessen Stände". 106 Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. X, § 4, S. 306. 107 Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. X, § 3, S. 306. 108 Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. X, § 37, S. 356. Dotzauer, Reichskreise (1998) (wie Anm. 2),S.260. 109 GLAK, Abt. 77 (Pfalz Generalia) 9007: OrhK-Kreisakten zur Titulatur, zum Kreisausschreibeamt, und einem Gutachten über die Bankordnung bei Kreistagen 1700-47. Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. X, § 37, S. 356. Dotzauer, Reichskreise (1998) (wie Anm. 2), S. 260. Zu Kreisständen im Grafenrang vgl. Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. ΙΠ, § 66. 110 Dotzauer, Reichskreise (1989) (wie Anm. 2), S. 238-240. 111 Brodrück, Quellenstücke (wie Anm. 22), S. 34. 112 Zu den Rangstreigkeiten im Oberrhein vgl. Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. ΠΙ, §§ 54, S. 89f. 113 Für die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts ist die Abstimmungsordnung („ordo votantium") der Oberrheinischen Kreisstände bei Büsching (1770) und Moser (1773) angegeben: Büsching, Erdbeschreibung (wie Anm. 1), Theil 7, S. 1004f., § 3. Moser, Crays-
Die Reichsstadt Frankfurt am Main Zum Kurrheinischen Kreis dagegen gehörten neben den vier rheinischen Kurfürsten im 16. Jahrhundert noch elf weitere kleinere, zumeist gemischt konfessionelle Kreisstände, in denen insgesamt nach Angaben von Peter Claus Hartmann nur ca. 18 000 Menschen lebten114 und deren kreispolitische Bedeutimg meist sehr gering war. Von den ursprünglich elf Mindermächtigen haben am Ende fünf gar nicht mehr als Stände existiert bzw. nicht mehr selbständig am Kreisleben teilnehmen können: Im 18. Jahrhundert noch aktiv waren dagegen Arenberg, Thum und Taxis, die Deutschordens-Ballei Koblenz, NassauBeilstein, Nieder-Isenburg und Rheineck. Bei der „Umfrage" („Ordo Votantium", „Votorum exquisitio") auf Kurrheinischen Kreistagen wurden die Stände in einer festgelegten, durch Rang und Würde bestirnten Reihenfolge aufgerufen und gaben ihre Voten ab115: Das erste Votum hatte Kurtrier116, es folgten Kurköln und Kurpfalz, dann die mindermächtigen Stände: der Herzog von Arenberg, der Fürst von Thum und Taxis, die Deutschordensballei Koblenz, der Fürst von Nassau-Diez wegen der Grafschaft Beilstein, dann Kurtrier wegen der Grafschaft Nieder-Isenburg und der Graf von Sinzendorf wegen des Burggrafentums Rheineck. Am Schluß der „Umfrage" führte Kurmainz als Direktorium das abstimmungstaktisch entscheidende „letzte" Votum, das es
Verfassung (wie Anm. 1), Kap. ΙΠ, S. 57-154: „Von den dermaligen Ständen aller Reichs=Craysen", hier Oberrhein (§§ 53-86, S. 89-99). 114 Hartmann, Bevölkerungszahlen (wie Anm. 50), S. 358. Zu den kleineren, nichtkurfürstlichen Kurrheinischen Ständen vgl. Circuii Rhenani inferioris succincta descriptio. Das ist: Kurz-gefasste Beschreibung des Chur- oder Nieder-Rheinischen Craises, worinnen die vier berühmte Chur= Fürstenthiimer/als nemlich Mainz/Trier/Cölln und Pfalz/nach ihren Bisch= Erz= Bischöff= und Churfiirsten/von dem ersten an/biß auf heut zu Tag höchst löblich regierenden etc. Item die Grafschafften NassauBeilstein/Gremsau/Nevenar/Nieder-Isen oder Eysenburg/Reifferscheid/und die Herrschafft Rheineck/so dann ferner die bekandte Reichsstadt Gelnhausen/samt dessen darzu gehörigen Städten/Vestungen/Klöstem/Schlössem etc. ihre merkwürdigste Curiosa/Seltenheiten/Glücks- und Unglücksfälle/auch Belagerungen/insonderheit die in diesem jetzigen blutigen Krieg vorgefallene/betreffend/abgehandelt zu finden. Derne über dieses die Abbtheyen S. Maximini/und Prüm/nebst der Balley Coblenz/und die Probstey Seltz beygefüget. Alles auf das accurateste beschrieben/mit hierzu dienlichen schönen Kupffern gezieret/in gewisse Capitul eingetheilet/und endlich mit einem nutzlichen Register versehen. Franckfurt und Leipzig, zu finden bei Joh. Leonhard Buggel, 1704, hier S. 554-564. 115 Moser, Staats-Recht (wie Anm. 41), Bd. 27 (1746), ΙΠ. Buch. Kap. 143. Ders., CraysVerfassung (wie Anm. 1), Kap. ΠΙ, S. 57-154: „Von den dermaligen Ständen aller Reichs= Craysen", darin Kurrhein (S. 86-89, §§ 45-52), hier S. 86, § 45. Büsching, Erdbeschreibung (wie Anm. 1), Theil 7, S. 902, § 3. Köbler, Lexikon (wie Anm. 7), Einführung, S. ΧΙΠ und S. 282f. 116 Dem Erzbischof und Kurfürst von Trier kam direkt nach Mainz, im Reich wie auch im Kreis, die nächstrangige Würdenstellung unter den geistlichen Kurfürsten zu. Der Kurfürst von Trier hatte das „erste Votum" sowohl bei der römischen Königswahl durch die Kurfürsten zu Frankfurt am Main nach den Bestimmungen der Goldenen Bulle Karls IV. vom 10.1./25.12.1356 als auch bei Umfrage und Abstimmung auf Kreistagen. Während dem Trierer Erzbischof das Recht zukam, seine Stimme als erster abzugeben, hatte der Mainzer dagegen die mitunter entscheidende, letzte Stimme: Büsching, Erdbeschreibung (wie Anm. 1), Theil 7, S. 937, § 10.
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erlaubte, auf die bereits abgegebenen Vota zu reagieren.117 Zudem war es Kurmainz, welches zum Abschluss des Kreiskonvents die Beschlüsse ausformulierte und zu einem Rezess bündelte, der dann zur Abstimmung gestellt wurde. Auch dies bot die Möglichkeit, die Kreisbeschlüsse maßgeblich im eigenen Sinne zu interpretieren. Die Kombination verschiedener wichtiger Rechtspositionen118 wie alleinigem Ausschreibeamt und Direktorium, dem letzten Votum und der Formulierung der Beschlußfassung bei Kreistagen sicherte Kurmainz im Kurrheinischen Kreis fraglos eine dominante Vormachtstellung. Während im Kurrheinischen Kreis Mitte des 18. Jahrhunderts neben den vier Kurfürsten nur noch sechs kleinere Stände als aktiv gelten konnten, waren im Oberrheinischen Kreis - nach Angaben Brodrücks119 - immerhin noch 42 Kreisstände - sechs weltliche und vier geistliche Fürsten, 24 Grafen und Herren, drei geistliche Stifte und fünf Reichsstädte - am Kreisleben beteiligt. Im Kurrhein dominierten die vier Kurfürsten, die in der Reichsverfassung eine hervorragende Stellung einnahmen120, in den Kurfürstentagen und dem Kurfürstenkollegium im Reichstag über eigene exklusive Gremien der Beratung und Willensbildung verfügten und auch auf Kreisebene sämtliche Führungspositionen besetzten, über wenige kleinere, meist von ihnen abhängige und oft mitvertretene mindermächtige Mitstände. Im Oberrhein dagegen war die Kluft zwischen „Kleinen" und „Großen" sehr viel geringer und zudem weniger grundsätzlich, denn die beiden Führungsmächte, das Fürstbistum Worms und das Herzogtum Pfalz-Simmern, waren keine kurfürstlichen Stände, auch wenn sie in Personalunion von den Mainzer und Pfälzer Kurfürsten regiert wurden. Auch waren im Oberrhein sowohl die Zahl als auch das reichspolitische Gewicht der Mitstände - man denke etwa an die Hessischen Landgrafschaften Darmstadt und Kassel - viel größer als im Kurrheinischen Kreis, dessen Funktionsfähigkeit primär von der Zusammenarbeit der vier dominierenden Kurfürsten abhing. Diese hatten nur wenig Interesse an einer engeren Kooperation mit den anderen, ihnen an Rang und Würde weit unterlegenen, mindermächtigen
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Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. ΠΙ, § 45, S. 86. Büsching, Erdbeschreibung (wie Anm. 1), Theil 7, S. 902, § 4. Dass das entscheidende letzte Votum vom Kurmainzer Direktorium ausgeübt wurde, findet seine Entsprechung z.B. im Obersächsischen Kreis, wo die kursächsischen Direktorialgesandten nicht nur den Vorsitz, sondern auch das „letzte" Votimi führten, während den kurbrandenburgischen Delegierten das verhandlungstaktisch ungünstigere „erste" Votum zustand. Thomas Niddas, Macht oder Recht. Frühneuzeitliche Politik im Obersächsischen Reichskreis, Habil. Uni. Erlangen-Nürnberg 2001, Stuttgart 2002, hier S. 168f. 118 Moser, Einleitung (wie Anm.62), Kap. IV, § 3, S. 78f. 119 Brodrück, Quellenstücke (wie Anm. 22), S. 34. 120 Zur Stellung der vier rheinischen Kurfürsten in der Reichsverfassung vgl. Winfried Becker, Der Kurfürstenrat. Grundzüge seiner Entwicklung in der Reichsverfassung und seine Stellung auf dem Westfälischen Friedenskongreß (Schriftenreihe der Vereinigung zur Erforschung der Neueren Geschichte, Bd. 5), Münster 1973.
Die Reichsstadt Frankfurt am Main Kurrheinischen Kreisständen: „Kreispolitik war letzten Endes nur die Politik der vier Kurfürsten"121, wie Günther Loch kurz und prägnant feststellt. Wie auch in den übrigen Kreisen erschienen die Landesherren bei Kreiskonventen nicht persönlich, sondern ließen sich durch Kreisgesandte vertreten 122 , meist Beamte und Diplomaten aus dem Hof- und Landesdienst im Range von Geheimräten. Die Kreisgesandten hatten mit herrschaftlichem Siegel versehene sog. „Kreditive" vorzulegen, welche sie namentlich als Bevollmächtigte ihrer Landesherren auswiesen 123 und genossen in Ausübung ihrer Kreisgeschäfte, auch außerhalb der Kreistage, die volle gesandtschaftliche Immunität 124 . Ein Beleg für die enge Zusammenarbeit der beiden rheinischen Kreise ist z.B., dass die Kurpfalz seit 1730 von den jeweils gleichen Gesandten bei Kurwie Oberrheinischen Kreistagen in Frankfurt vertreten wurde. 125 Grundsätzlich galt die Präsenzpflicht aller Stände, d.h. eine Anwesenheit erforderte eine formelle Entschuldigung, doch wurde diese Rechtsnorm in der Praxis häufig übergangen. 126 Im 18. Jahrhundert fehlte aus den verschiedensten Gründen eine Vielzahl von Ständen zeitweilig oder permanent. Zulässig war die Mitvertretung durch andere Kreisstände,127 denn die Stände mussten 121 Günther Loch, Der Kurrheinische Kreis von Ryswijk bis zum Frieden von Rastatt und Baden (1697-1714), Diss. Masch., Bonn 1951, S. 16. 122 LASp, E 3 (Oberrheinischer Kreis), Nr. 239: Verzeichnis der Vertretung der OrhKStände durch ihre Kreisgesandten (18. Jh.). Nr. 591: Vollmachten für Delegierte zu den OrhK-Kreiskonventen etc. 1704-1769. BayHStA, K.bL, Nr. 142/41 (Korrespondenzen des Kreisgesandten Jodoci mit Auszügen aus älteren OrhK-Rezessen). Zur den Kreisgesandtschaften vgl. Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. X, § 20, S. 333-336. Zu den Frankfurter Gesandten auf den OrhK-Kreis- und Münzprobationstagen 1542-1620: ISG, StadtAFFM, OrhK, Mgb Akten, Rep. 686, Anhang D, S. 66f. 123 HHStA, MEA, OrhK 141a: Kreditive für 1781. Inventar Nr. 516/1. KrhK 119, Nr. 3-71 (KrhK- und OrhK-Akten 1801/02): Vollmacht für den Kreisdirektorialgesandten von Kieningen. Inventar Nr. 543. HStAD, Kurköln VI, 181: Kurkölnische Gesandte beim Kurrhein. Kreis zu Frankfurt: Georg Blasius Rosalino 1764, Philipp Karl Schmauss von Livonegg 1777-85 (Patente, Kreditive und Kosten betr.), hier fol. 84-98v: Kreditive an Schmauss. StAWü, Korrespondenzarchiv Johann Philipp, Nr. 1379,1451: Creditive für den Kurmainzer Gesandten Jodoci zu Kurbiaunschweig und zu Kursachsen. BayHStA, Kbl., Nr. 138/2,1-ΙΠ: Akkreditierungsschreiben von Kreisgesandten beim Oberrhein. Kreis 18. Jh. GLAK, Abt. 77 (Pfalz Generalia) 9111: Kurpfälzer OrhK-Kreisakten, Akkreditierungen und Vollmachten 1780,1790-92, Bestätigung des Grafen von Schlik. 124 ISG, StadtAFFM, OrhK, Kreisakten (1681-1779), Bd. 206a/b: Immunität der OrhKGesandten, 2 Bde., 1773, 1775-1807. Rep. 145, S. 84. Zur „Consumtions-Freyheit" der Kreisgesandten vgl. ISG, StadtAFFM, OrhK, Kreisakten (1681-1779), Bde. 121, 206. Rep. 145, S. 74. 125 Repertorium der diplomatischen Vertreter aller Länder seit dem Westfälischen Frieden (1648), veröffentlicht vom Internationalen Ausschuß für Geschichtwissenschaft, 3 Bde., Nachdruck Schaan/Liechtenstein 1983, hier Bd. 2, S. 274: identische Gesandtschaften der Pfalz bei Kur- und Oberrhein. 126 Der Kreisabschied vom 1./11.12.1638 beklagte ausdrücklich, dass viele Kreisgesandte ohne förmliche Entschuldigung fehlten: Moser, Crays-Verfassung (wie Anm. 1), Kap. X, § 19, S. 332f. 127 So Hess sich z.B. Wetzlar beim OrhK-Kreistag in Worms im Jan./Febr. 1556 durch Frankfurt vertreten: ISG, StadtAFFM, OrhK, Mgb Akten, Nr. 51 (alte Sign. Mgb D 31 N, fol. 1-37), 50 Blatt, Rep. 686, S. 14.
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für Entlohnung, Ausstattung und Unterbringung ihrer Gesandten selbst aufkommen128 und viele kleinere Territorien scheuten die nicht unerheblichen Kosten. Ein aussagekräftiges Beispiel für die Praxis der Mitvertretung bieten die Oberrheinischen Kreistagsakten von 1772-73: Der Kreisdirektorialgesandte von Deel vertrat außer dem Hochstift Worms auch Odenheim, Salm-Salm, Salm-Kirburg, Bretzenheim, der Direktorialgesandte von Busch PfalzSimmern, Lautern, Veldenz und Sponheim, das Hochstift Speyer und die Propstei Weißenburg, der Direktorialgesandte Freiherr von Bentzel die Hochstifte Straßburg und Basel, Fulda, das Johanniter-Meistertum, BadenSponheim, Nomeny, Königstein, Haldenstein, Dagstuhl und Ohlbrück.129 2.5. Der Ablauf eines Oberrheinischen Kreistages Der Bericht des Kreisgesandten von Günter an den Kurfürsten von der Pfalz aus Frankfurt vom 13.2.1793 schildert exemplarisch die Kreisversammlung vom 7.2.1793.130 Anwesend waren der Wormser Direktorialgesandte und die Stände außer Straßburg, Darmstadt, Waldeck, Hanau-Lichtenberg, Greweiler, Grumbach und Dachstul. Als kaiserlicher Bevollmächtigter nahm der Graf von Schlik teil. Die Sitzung wurde vom Fürstbischöfüch-Wormser Direktorium eröffnet („Worms proponebat") und begann mit der Verlesung des kaiserlichen Rescriptum excitatorium vom 19.12.1792131, das angesichts des Reichskrieges gegen das revolutionäre Frankreich die sofortige Aufstellung der Kreiskontingente zur Reichskriegsarmee132 im Triplum von 1681 forderte und jeglichen Handel mit und die Ausfuhr von Gütern nach Frankreich verbot. Nach Worms sprach der zweite (weltliche) Ausschreiber, Pfalz-Simmern, dann die fürstlichen Stände, zuletzt die Grafen, wie z.B. Salm-Salm, Dhaun, Salm-Kirburg, etc. Auffällig war, dass Pfalz-Zweibrücken keine Instruktion mitbrachte und daher nicht mit abstimmen konnte („nondum instruitus"), ebenso Königstein. Es folgten Nassau-Usingen, Nassau-Saarbrücken mit Ottweiler, Solms-Lich und Hohen-Solms, Stollberg, Leinigen-Westerburg, die Reichsstadt Friedberg und Nassau-Weilburg. Ferner meldeten sich SolmsBraunfels, Solms-Rödelheim und Pfalz-Simmern zu Wort. Dem Obristen wurden 89 fl. und 44 kr. aus der Kreisgeneralkasse für Fourage bewilligt.133 Bei der nächs-
128 GLAK, Abt. 51 11/80: Baden-Badische OrhK-Kreisgesandter, dessen Gehalt und Auslagen 1755-59. 129 HHStA, MEA, KrhK 80: OrhK Kreisakten 1771-83, nicht fol./pag. Inventar Nr. 509. 130 BayHStA, K.bl., Nr. 144/10 (1), foL 1-210, hier fol. 171-187v (Abschrift 34 Seiten). 131 BayHStA, K.bl., Nr. 144/10 (1), fol. 172r. Vgl. K.bL, Nr. 144/10 (1), fol. 1-210, hier fol. 153: Brief des Mainzer Kfst. Friedrich Karl Joseph aus Heiligenstadt, 22.1.1793 an Kfst. Pfalz über das Rescriptum excitatorium des Kaisers an alle 10 Reichskreise wg. Aufstellung der Kontingente zur Reichsarmee (1 Seite). Kbl., Nr. 144/10 (1), foL 1-210, hier fol. 87-87v: von Obendorff an von Günter, Ratificationsdekret „in Materia Securitatis publica" und die Kreiskontingente betreffend, Mannheim 19.1.1793 (2 Seiten). 132 Bezüglich der Stellung des Kreiskontingents erging der Verweis auf Art. 3 der Wahlkapitulation Kaiser Franz Π. von 1792, in: StAWü, MRA-7/L 62/ΙΠ: Nr. 6 2 / V : Druck (Mainz 1792) 120 Seiten, XXX Kapitel. Schatz/Schwersmann, Inventar (wie Anm. 67), Bd. 2, S. 15, Nr. 101. 133 BayHStA, Kbl., Nr. 144/10 (1), fol. 174v-187v.
Die Reichsstadt Frankfurt am Main
ten Sitzung vom 15.2.1793 fehlten Straßburg, Waldeck, Greeweiler, Grumbach und Dachstul.134 3. Frankfurt als Sitz des rheinischen Kreissteuer und -finanzwesens 3.1. Die Eintreibung der Reichssteuern Die Kammerzieler wie auch die Matrikularbeiträge einzutreiben war Aufgabe der Reichskreise.135 Die Reichsstadt Frankfurt, damals schon ein bedeutender Messestandort und „Finanzplatz", war die gemeinsame „Legstatt" der beiden rheinischen Kreise, d.h. der Sitz der Kreiskasse, wo die fälligen Beiträge zu „hinterlegen" waren.136 Dagegen wurden die von religiösen Minderheiten als Äquivalente zu den Reichssteuern zu erbringenden Sonderabgaben wie die „Kronsteuer" und der „Opferpfennig" der Juden137 nicht durch die Kreise eingetrieben, sondern von den Landesherren an die Reichskameraldeputation überwiesen.138 Anfänglich erfolgte die Überwachung der Kreissteuereintreibung noch ausschließlich und direkt durch hierzu bestellte Reichspfennigmeister. Jedoch wurden später analog zu diesem Amt durch die einzelnen Reichskreise Kreispfennigmeister ernannt, welche die Abgaben von den einzelnen Ständen einzogen und weiterleiteten: So ernannten der Kur- und der Oberrheinische Kreis 1653 Georg Mensheng zum gemeinsamen Kreispfennigmeister, der mit Reichspfennigmeister Hubert Bleymann zusammen arbeitete.139 Im 18. Jahrhundert wurde das Amt des Kreispfennigmeisters öfters an Bankiers übertragen; offenbar engagierten die Kreisverantwortlichen gerne Fachleute aus dem Bankwesen für die Regelung der Kreisfinanzen. Auch das Amt des Kurrheinischen Kreiskassierers wurde bevorzugt an Bankiers vergeben, so 1747 an David de Neufville.140 Zum einen entlastete und unterstützte der Kreis- den Reichspfennigmeister in seiner Arbeit und war daher auch der kaiserlichen Finanzverwaltung willBayHStA, K.bl., Nr. 144/10 (1), fol. 198-207v (20 Seiten). Moser, Crays-Verfassung (wie Aran. 1), Kap. XI, § 13, S. 438. Kap. ΧΠΙ, S. 591-727: Von Crays-Matricular- und Oeconomie-Sachen. 136 HKA, Reichsakten, Fasz. 27b, fol. 532r/v: Verzeichnis der von den OrhK-Ständen bewilligten Defensionalbeiträgen, die bei der Legstadt Frankfurt am Main zu hinterlegen waren, Worms, März 1597. Gez. Laurentius Pyracker, Frankfurter Ratsschreiber. 137 HKA, Nachlass Schirndorf, Karton 7, Konv. 28, nicht fol.: Reichskameral-DeputationsProtokolle über die Giebigkeiten der Frankfurter Juden (1722-25,1727-33,9.7.1738). Die Kronsteuer und der Opferpfennig der Juden waren exklusive kaiserliche Regalrechte (Reservatum Majestatis Imperialis). 138 HKA, Nachlass Schirndorf, Karton 2, Konv. 7, nicht fol., num. 1-101 (Protokolle 170738). 139 StAWü, Korrespondenzarchiv Johann Philipp, Nr. 677. Auch z.B. der NRW-Kreis bestellte einen Kreispfennigmeister. 1697 hatte ein gewisser Weipeler das Amt inne: StAMs, Fürstbistum Münster, Landesarchiv Akten 468, Nr. 289, Bd. 1/1, fol. 120r-121r, 124r-174r Kreiskassenrechnung, Köln 12./19.11.1697:116 527 fl„ 53 % kr. (fol. 173r), 82 001 fl., 1 kr. (fol. 174r). 140 BayHStA, Kbl., Nr. 143/13 (3), pag. 48-19. 134
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Michael Millier kommen; zum anderen aber kommt darin erkennbar das Bestreben der Kreise zum Ausdruck, selbst in subsidiärer Weise an der Erfüllung der Reichsaufgaben verantwortlich mitzuwirken und so viele Kompetenzen wie möglich selbst vor Ort wahrzunehmen, statt sie an die Reichsebene zu delegieren. Die kaiserlichen Möglichkeiten, säumige Stände zur Zahlung zu bewegen, waren daher äußerst begrenzt. Das Reichsoberhaupt war auf den „good will" der Kreise angewiesen, um neue Steuern bewilligt zu bekommen, die bewilligten tatsächlich einzutreiben und Zahlungsverweigerer durch Exekutionen zur Verantwortung zu ziehen. Es war das stets unstrittige Recht des Kaisers, zu jeder Kreisversammlung Kommissare abzuordnen, 141 so z.B. in Finanz- und Steuerfragen die Reichspfennigmeister. Die Kommissare wurden von den Ausschreibenden Fürsten in die Kreisversammlung geführt142 und verlasen zu Beginn die kaiserliche Proposition, waren jedoch nicht befugt, an den Verhandlungen teilzunehmen. Die Antwort der Stände wurde ihnen schriftlich mitgeteilt, worauf sie erneut die Möglichkeit hatten, Stellung zu beziehen. Jedoch waren die Kommissare wie auch der Kaiser selbst nicht berechtigt, Kreisbeschlüsse zu annullieren noch bedurften sie seiner Zustimmung. 143 Wenngleich die Kommissare an den offiziellen Verhandlungen nicht beteiligt waren, so hatten sie jedoch die Möglichkeit, in separaten bilateralen Gesprächen mit einzelnen Ständen144 informellen Einfluss auf die Kreispolitik zu nehmen. Sofern es den kaiserlichen Emissären gelang, ein Einvernehmen mit den Kreisdirektoren und -ausschreibern herzustellen, gemeinsame Interessen zu formulieren und Überzeugungskraft an den Tag zu legen, konnten sie den Gang der Dinge mit bestimmen. Befehle erteilen jedoch konnte der Kaiser den
141 BayHStA, K.bl., Nr. 139/23:1737 fungierte Gf. Colloredo als Kaiserlicher Gesandter beim Oberrhein (Instruktionen 1737). HHStA, MEA, KrhK 43, Nr. 1-105 (KrhK-Protokoll 1754/55 mit Beilagen): Korrespondenz des kaiserl. Gesandten Grafen von Pergen mit Freiherren von Bentzel. Inventar Nr. 494. HKA, Instruktionen (1500-1732), Nr. 479: Instruktionen Ferdinands ΠΙ. (1637-1657) für die kaiserl. Kommissäre zu den bevorstehenden Kreistagen im Reich im November 1638, dat. 25.9.1638. Inventar des Wiener Hofkammerarchivs, Wien 1951, S. 69. Es handelt sich um eine Formularvorlage, in die Name und Titel (ponantur nomina) sowie der Name des Kreises und der Ort des Kreistages (addatur locus) nachträglich einzufügen waren. Bezugnahme auf das kaiserl. Credentialschreiben. Themen: Kosten der kaiserl. Truppenrekrutierungen, Quartiere, Proviant und Munition (nach Angaben des Generalstabes) und Beteiligung der Kreise im Rahmen der Reichsmatrikel. Aufstellung der Reichsarmatur durch die Kreise. HKA, Reichsakten, Fasz. 27b, fol. 411r: „Beygefügte Relation" zu den Kur- und Oberrheinischen Kreistagen, an Hanniwaldt. „Per Imperatorem 10.1.1595. Dem Kaiserlichen Hofkammerpräsidenten zuzustellen 13.1.1595". Von 1606 bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges erschien kein kaiserlicher Kommissare auf einem OrhK-KT. Malzan, Oberrhein (wie Anm. 38), S. 234 (weitere Beispiele aus dem 16./17. Jh. S. 225f.) 142 LASp, E 3 (Oberrheinischer Kreis), Nr. 116: Auszug aus dem Ceremoniale wegen des Empfangs eines kaiserl. Gesandten beim OrhK-Konvent (s.d.). 143 Eine namentliche Nennung der kaiserl. Kommissare ist leider nicht möglich, da ihre Namen in den Abschieden nur selten erscheinen. Vgl. Malzan, Oberrhein (wie Anm. 38), S. 226. 144 Hans Erich Feine, Zur Verfassungsentwicklung des Heiligen Römischen Reiches seit dem Westfälischen Frieden, in: ZRG GA 52 (1932), S. 65-133, hier S. 93.
Die Reichsstadt Frankfurt am Main
Kreisdirektoren nicht: wenn diese sich seinen Wünschen verweigerten und seine Anschreiben ignorierten - am Beispiel der beiden sächsischen Kreise könnte dies eindrucksvoll gezeigt werden - waren seine Handlungsoptionen sehr gering. Während der Oberrheinische Kreis insgesamt 531 Reiter und 2 531 Fußsoldaten für das Reichsheer zu stellen hatte,145 entfielen davon allein auf die Reichsstadt Frankfurt am Main 60 Reiter und 420 Fußsoldaten.146 Frankfurt hatte mithin stets, gemäß seiner immensen Wirtschaftskraft, den mit Abstand höchsten monatlichen Matrikularanschlag aller oberrheinischen Reichsstädte zu zahlen.147 Gleiches galt auch für den sog. „Kammerzieler", der zum Unterhalt des Reichskammergerichts bestimmt war: Oberrheinische Reichsstädte
Fl. monti.
Kammerzieler
Worms
24
118 Rr., 34 kr.
Speyer
24
118 Rr., 34 kr.
Frankfurt
500
676 Rt„ 26 ¥* kr.
Friedberg
24
29 Rt., 29 kr.
Wetzlar
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Die wohlhabende Messestadt am Main sollte also einerseits nicht nur von den Vorteilen profitieren, Tagvingsort der Kreistage zu sein, sondern auch gemäß ihrer hohen finanziellen Leistungskraft zu den Kreislasten in überproportionaler Weise beitragen. Die Frankfurter Bevölkerung beklagte sich auch, wie die reichsstädtischen Kreismilitärakten zeigen, immer wieder über große Belastungen durch Truppendurchmärsche und Winterquartiere. Ungezählte Berichte, Klagen und Verhandlungen sind darüber erhalten, die verdeutlichen, dass nicht erst Kriegshandlungen, sondern schon die bloße Präsenz von Militär in
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HKA, Nachlass Schimdorf, Karton 1, Konv. 1, fol. 38r-40r. ISG, StadtAFFM, OrhK, Mgb Akten, Nr. 84 (alte Sign. Mgb D 32 SS Nr. 1-25). StAD, E1, C 45/1: Abschiede, Relationen, Anschläge und Matrikel der Reichsstände zum Reichssteueranschlag 1567. 147 ISG, StadtAFFM, OrhK, Mgb Akten, Rep. 686, Anhang A, S. 60-62: Verzeichnis der Oberrheinischen Kreisstände gemäß der Martikel von 1531/32 sowie Moderation von 1567. StAD, E 1, C 45/2: Verzeichnis der Reichsmatrikularbeiträge der Oberrheinischen Kreisstände (Provenienz Hessen-Darmstadt, ca. 1635). LASp, E 3 (Oberrheinischer Kreis), Nr. 44: Minderung des Reichsmatrikelanschlags 1750. Lit.: Andermann, Martikel des Oberrheinischen Reichskreises (wie Anm. 37), S. 88-90. Malzan, Oberrhein (wie Anm. 38), S. 25-28. Dotzauer, Reichskreise (1989) (wie Anm. 2), S. 238-240. Büsching, Erdbeschreibung (wie Anm. 1), Theil 7, S. 1220-1227. GLAK, Abt. 77 (Pfalz Generalia) 9134: OrhK-Kreisakten 1706, den Matrikulanschlag der Städte Friedberg und Frankfurt betreffend. 146
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der Stadt immense und bedrückende Belastungen für die Zivilbevölkerung mit sich brachte.148 Andererseits profitierte die Frankfurter Wirtschaft und das städtische Bürgertum in starkem Maße von Aufträgen z.B. des Kreismilitärs: Zur finanziellen Abwicklung der Proviant-, Fourage- und Holzlieferungen für seine Truppen bediente sich der Oberrheinische Kreis gerne der Dienste Frankfurter Bankiers wie z.B. des Hauses Göll & Sohn. In den Kreisrechnungsbüchern im Landesarchiv Speyer findet sich z.B. eine Schuldforderung für den Bedarf der 160 Mann starken Kompanie des Kapitäns Hettinger über 674 fl. und 55 kr. durch das Bankhaus Göll und deren Berichtigung durch das Wormser Kreisdirektorium, das am 6.7.1758 darauf verwies, bereits die Summe von 670 fl. und 30 kr. zum 11.3.1758 bezahlt zu haben, und daher nur noch einen Zahlungsrückstand von 4 fl. und 25 kr. zu haben. Zu den 674 fl. und 55 kr. für August forderte das Bankhaus für März und April weitere 251 fl. und 12 kr. und 266 fl. und 30 kr., insgesamt 1192 fl. und 37 kr.149 Insbesondere die Fouragerechnungen machen einen bedeutenden Teil der Überlieferung in den Kur- und Oberrheinischen Kreisrechnungsbüchern aus. Sie umfassend auszuwerten, was bisher noch nicht geschehen ist, wäre Gegenstand einer eigenen Monographie und ist an dieser Stelle nicht zu leisten - ein Desiderat der Forschung, zumal eine solche Untersuchung aufschlußreiche Ergebnisse auch für die Wirtschafts- und Sozialgeschichte zu erbringen verspricht. 3.2. Die rheinischen Kreishaushalte
Gleiches gilt für die Kur- und Oberrhei-
nischen Kreisakten des Mainzer Erzkanzlerarchivs im Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchiv, das u.v.a. auch zahlreiche Kreishaushaltsakten für das 17./18. Jahrhundert enthält. Die viele laufende Archivmeter umfassende Überliefe148
ISG, StadtAFFM, OrhK, Akten (1554-1806), Nr. 66: „Kurzgefaßte Vorstellung" wg. Beschwerden der Reichsstadt Frankfurt bei der Verteilung der Winterquartiere 1734/35 (Druck, 2 Exemplare á 250 Seiten, 1737). Nr. 67: „Supplication" Frankfurts an den Kaiser betr. gerechte Verteilung der von Braunschweig-Liineburg für die Winterquartiere 1734/35 lind 1735/36 bezahlten Verpflegungsgelder (Druck, 2 Exemplate á 32 Seiten, ca. 1737). Rep. 145, S. 41. Nr. 68: Die drei Frankfurter Druckschriften „Supplication", „Kurzgefaßte Vorstellung" und „Monitum" von 1742 in Sachen der Winterquartier-Verteilung (1737-42, ein Band). Rep. 145, S. 43. Nr. 69: „Summarischer Begriff" betreff die Differenzen beim Kreis betr. die ungleich getragenen Winterquartiere 1734/35 und 1735/36 (ca. 1740), Druck, 3 Exemplare á 8 Seiten. Rep. 145, S. 45. Nr. 70: „Kurtze Nachricht" betr. Verhandlungen der Stadt Frankfurt mit dem Kreis über die häufige Einrichtung der Winterquartiere (ca. 1742), Druck, 4 Seiten, 2 Exemplare. Rep. 145, S. 45. Nr. 72: Abdruck des Schreibens Frankfurts an den Kaiser 3.5.1746 betreffs Winterquartiere 1734/35 und 1735/36 (Druck, 3 Exemplare, 12+124 Seiten, 1746). Rep. 145, S. 47. ISG, StadtAFFM, OrhK, Kreisakten (1681-1779), Bde. 78-85,120: Acht Aktenbände mit Frankfurter Winterquartier-Akten 1734-36,1739-46 u.a. der Kaiserl. u. Kgl.-Ungarischen Truppenquartiere. Rep. 145, S. 70f., S. 74. 149 LASp, E 3 (Oberrheinischer Kreis), Nr. 56. Sehr oft, so: Peter Claus Hartmann, Kulturgeschichte des Heiligen Römischen Reiches 1648 bis 1806. Verfassung, Religion und Kultur (Studien zu Politik und Verwaltung, Bd. 72), Wien 2001, hier S. 69, handelte es sich bei den Frankfurter Bankiers und Geschäftsleuten um Kalvinisten oder jüdische Hoffaktoren.
Die Reichsstadt Frankfurt am Main
rung dieses Bestandes ist bisher noch gar nicht umfassend untersucht worden, und auch dieser Stelle kann dies auch nicht annähernd geleistet werden. Exemplarisch soll aber anhand der Oberrheinischen Kreiskassenrechnungen ab 1801150 der Quellenwert dieser Haushaltsakten veranschaulicht werden: Beachtenswert ist, dass im Ober- wie auch im Kurrheinischen Kreis die regulären laufenden Einnahmen stets größer waren als die Ausgaben, so dass stets ein Überschuss in der Kasse verblieb - auch wenn dieser von gut 692 fl. (1801) auf zuletzt nur noch gut 95 fl. (1806) abschmolz. Vor dem Hintergrund des sich in Auflösung befindenden Reiches - der letzte Oberrheinische Haushalt datiert vom 28.2.1806 - war es an sich schon eine nicht gering zu schätzende Leistung, überhaupt noch einen ausgeglichenen Haushalt vorlegen zu können. Die Oberrheinischen „Restanten", d.h. die Zahlvingsrückstände bzw. Schulden der einzelnen Stände gegenüber dem Kreis - wuchsen von gut 283 190 fl. (1801) auf zuletzt gut 345 467 fl. (1806), eine Zunahme der Ausstände um knapp 22 % in nur fünf Jahren, was aber angesichts der äußeren Bedingungen fast zwangsläufig war: das Reich war infolge der Koalitionskriege gegen das Napoleonische Frankreich und der Friedensschlüsse von 1797, 1801 und 1805 nur noch ein Schatten seiner selbst, und viele kleinere geistliche wie weltliche Reichsstände waren durch den Reichsdeputationshauptschluss von 1803 säkularisiert bzw. mediatisiert worden. Folge war, dass deren Steuern und Abgaben i.d.R. nicht mehr weiter gezahlt wurden, und an eine effiziente Schuldeneintreibung war unter diesen Umständen nicht mehr zu denken - gleichzeitig fielen seit 1792 für die Reichsverteidigung gegen Frankreich laufend neue finanzielle Lasten an, die von vielen Ständen nicht mehr bezahlt wurden bzw. werden konnten. 4. Das Ende des Reiches und seiner Kreise - Bilanz und Ausblick Beide rheinischen Kreise haben - ungeachtet der nach 1797 eingetretenen massiven Umwälzungen - bis zum Ende 1806 eine kreispolitische Aktivität entfalten können und ihre Aufgaben im Rahmen des Möglichen erfüllt. Angesichts der Rahmenbedingungen waren ihnen zwar - buchstäblich - enge Grenzen gesetzt, doch der Wille und die Bereitschaft, sich den anstehenden Problemen nach Kräften zu widmen, war bis zum Schluss gegeben. Angesichts einer gleichzeitig zu beobachtenden „Selbstverabschiedung aus dem Reich" vieler größerer Reichsstände - v.a. Preußens Neutralität gegenüber Frankreich seit dem Sonderfrieden von Basel 1795, aber auch der Habsburger (erbliches Kaisertum Österreich seit 1804), und zuletzt die Gründung des Rheinbunds 1806 - ist den beiden rheinischen Kreisen, mit Ausnahme der zumeist „kreisabstinenten" evangelischen Oberrheinischen Stände, eine bis zuletzt ungebrochene „Reichstreue" zu attestieren. Trotz aller Geschäftigkeit ist jedoch eine
HHStA, MEA, KrhK 121. Vgl. GLAK, Abt. 51 Π//108: Zustand der OrhK-Kreiskasse 1803.
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gewisse Hilflosigkeit unübersehbar, denn die Kreise hatten keinen substantiellen Einfluss mehr auf den Gang der Dinge, die seit spätestens 1792 in Paris, Berlin und Wien entschieden wurden - und nicht mehr im Sitzungssaal des Frankfurter Dominikanerklosters, welches bis zuletzt Tagungsort der Kreistage blieb. Die Kreise konnten nicht agieren, sondern nur noch reagieren, und waren zum Spielball der europäischen Mächte, insbesondere des Napoleonischen Frankreichs geworden, welches maßgeblich eine seinen machtpolitischen Interessen dienende Neuordnung Deutschlands zu Beginn des 19. Jahrhunderts herbeiführte - für die überkommenen Reichskreise war in dieser Konzeption kein Platz mehr. Die unter Führung des Fürstprimas Dalberg betriebene Verkündung der Rheinbundakte am 12.7.1806151 und der Austritt der Rheinbundstaaten152 aus dem Heiligen Römischen Reich am 1.8.1806153 besiegelten de facto dessen Ende: Kaiser Franz Π. legte am 6.8.1806 die römisch-deutsche Kaiserkrone nieder.154 Die seit 1648 immer offenkundigere Schwächung der zentralen Reichsgewalten bildete den Hintergrund für die subsidiäre Übertragung von staatlichen Aufgaben an die regional verfassten Reichskreise, die im 17./18. Jahrhundert als überterritoriale Mittelinstanzen den Fortbestand des Reichsganzen sicherten, durch ihre koordinierenden und ordnenden Aktivitäten zu den wichtigsten Trägern einer funktionierenden „Reichsmaschinerie" wurden und nach der Definition von Peter Claus Hartmann als politische Einheiten „im Rahmen und gleichsam unter dem Dach" des Reiches „ein starkes Eigenleben führten".155 Wenn man, wofür vieles spricht, das Alte Reich als ein föderales, nichtzentralistisches „Mitteleuropa der Regionen" (Peter Claus Hartmann) auffasst, dann bildeten die Reichskreise die föderale Ebene der politischen Regionen, ein Aspekt, der ihre Erforschung insbesondere im Hinblick auf eine, wie zu
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Zeumer, Quellensammlung (wie Anm. 1) fl904), Nr. 185 (21913), Nr. 214, S. 532-536. Zur Gründung des Rheinbundes (frz. Confédération du Rhin, Etats confédérés du Rhin, engl.: Confederation of the Rhine) vgl. Ernst Walder (Hg.), Das Ende des Alten Reiches. Der Reichsdeputationshauptschluss von 1803 und die Rheinbundakte von 1806. Nebst zugehörigen Aktenstücken, bearb. v. Emst Walder, 2., durchges. Aufl., Bern (2) (Quellen zur neueren Geschichte, Historisches Seminar der Universität Bern, Bd. 10), Bern 1948. Georg Schmidt, Der napoleonische Rheinbund, ein erneuertes Reich? In: Volker Press (Hg.), Alternativen zur Reichsverfassung in der Frühen Neuzeit? München 1995, S. 227-246. 153 Erklärung der Rheinbundstaaten über ihren Austritt aus dem Reich 1.8.1806, in: Buschmann, Kaiser und Reich (wie Anm. 31), S. 650-652. Zeumer, Quellensammlung (wie Anm. 1) C1904), Nr. 187 (?1913), Nr. 216, S. 537-538. Ebenda, ('1904), Nr. 186 (Ί913), Nr. 215, S. 536-537: Erklärung des frz. Gesandten am RT Regensburg 1.8.1806 154 Niederlegung der römisch-deutschen Kaiserkrone durch Franz Π. 6.8.1806 in: Zeumer, Quellensammlung (wie Anm. 1) ('1904), Nr. 188 (21913), Nr. 217, S. 538-539. Buschmann, Kaiser und Reich (wie Anm. 31), S. 653-655. iss p e t e r çiaus Hartmann, Regionen in der Frühen Neuzeit. Modell für ein Europa der Regionen? Einführung in die Thematik und Problematik des Kolloquiums, in: Regionen in der Frühen Neuzeit (wie Anm. 2), S. 11. 152
Die Reichsstadt Frankfurt am Main
hoffen steht, von den Leitideen des Föderalismus und der Subsidiarität geprägte europäische Integration besonders wichtig erscheinen lässt.156 Die Reichsstadt Frankfurt konnte sich im Rahmen der Rechtsordnung des „Alten Reiches" eine politische, rechtliche, soziale und ökonomische Sonderstellung bewahren, die sich nicht nur in ihrer Funktion als Wahl- und Krönungsort der römisch-deutschen Kaiser, sondern auch als, wenn auch „informelle", kur- und oberrheinische „Kreishauptstadt" manifestierte. Wie stark z.B. die kreispolitische Bedeutung der Stadt zu ihrer wirtschaftlichen Prosperität in der Frühneuzeit beitrug und inwiefern das Kreisleben auch weiterreichende Einflüsse auf ihre Entwicklung als Rechts- und Gerichtslandschaft hatte, ist noch nicht umfassend untersucht worden - ein Forschungsdesiderat, auf das hinzuweisen sich an dieser Stelle lohnt.
156 pefgj çiaus Hartmann, Die Reichskreise als Regionen des neuzeitlichen Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation. Struktur, Bedeutung und Funktion, in: Michael Henker u.a. (Hg.), Bavaria - Germania - Europa. Geschichte auf Bayerisch, Kataloghandbuch zur Landesausstellung des Hauses der Bayerischen Geschichte mit den Museen der Stadt Regensburg 18.5.-29.10.2000 (Veröffentlichungen zur Bayerischen Geschichte und Kultur 42/2000), Regensburg 2000, S. 40-15, hier S. 40.
Die Reichshofratsprozesse des Deutschen Ordens gegen die Stadt Frankfurt
Jörg Seiler Die Reichshofratsprozesse des Deutschen Ordens gegen die Stadt Frankfurt 1. Rechtsstellung der Deutschordenskommende in der Stadt Frankfurt Die Komture der Frankfurter Niederlassung des Deutschen Ordens hatten eine ganz eigene Wahrnehmung vom städtischen Umfeld. Blickten sie von der barocken Schauseite der Kommende am Mainufer auf die Stadt hinüber oder verließen sie durch das Kommendentor ihr Ordenshaus und promenierten auf den Sachsenhäuser Straßen, so befanden sie sich mental oder konkret in einem anderen Rechtsraum: jenem der Reichsstadt Frankfurt. Es machte rechtlich einen Unterschied, ob man sich „intra saepta" oder „extra saepta" der Kommende befand. Innerhalb des ummauerten Kommendenbezirks galt das hoch privilegierte Recht einer geistlichen Gemeinschaft. Entstanden aus königlichen und päpstlichen Privilegien seit Ende des 12. Jahrhunderts wurde es bis ins Spätmittelalter hinein immer wieder bestätigt und stand als solches auch später nicht zur Disposition (es sei denn, der Privilegierende selbst hatte es geändert). Es war dem städtischen Recht nebengeordnet, wurde jedoch zunehmend als „Sonderrecht" erlebt, das von einer dadurch abweichenden Norm, die das Leben des weitaus größten Teils der Bevölkerung bestimmte, zu unterscheiden war.1 Außerhalb des Kommendenbezirks galten jene normativen städtischen Rechtsordnungen, die je längere je mehr zu einem Rechts- und Gesetzeskorpus zusammengewachsen waren (Reformationen von 1509,1578 und 1611) und in die Alltagsregelungen frühneuzeitlicher Policeyordnungen mündeten.2 Neben dieser territorialen Zuordnung zu einem Rechtsraum stand jedoch auch eine korporative Zuordnung, die vom Rechtsstatus des Einzelnen bestimmt wurde und somit abhängig war von einem Personenverband, dem dieser Einzelne zugehörte. Ein Frankfurter Bürger, der
1 Über die Entwicklung beider Rechtsbereiche in ihrer gegenseitigen Beeinflussung vgl. Paolo Prodi, Eine Geschichte der Gerechtigkeit. Vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat, München 2003. Hier etwa S. 284 die grundlegende These: „Es gibt [in der Neuzeit] einen Kampf um das Normenmonopol, doch dieser führt nicht zu einer Assimilierung jedes menschlichen Forums an den staatlichen Pol, so wie wir im Mittelalter auch keine Assimilierung des Forums an den theokratischen Pol hatten. Die Entwicklung von Freiheit und Demokratie ist im Abendland gerade deshalb möglich geworden, weil die Macht und ihre letzte Bezugsgröße, die Wahrheit, niemals voll zur Deckung gekommen sind, weder im Mittelalter noch in der Neuzeit." Zu den Frankfurter Rechtsquellen vgl. Armin Wolf, Die Gesetze der Stadt Frankfurt am Main im Mittelalter (Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission, Bd. 13), Frankfurt 1969 und ders., Gesetzgebung und Stadtverfassung. Typologie und Begriffssprache mittelalterlicher städtischer Gesetze am Beispiel Frankfurts am Main. (Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission, Bd. 13, Beih.), Frankfurt 1968. Unverzichtbar für die frühneuzeitliche Rechtsgeschichte Frankfurts ist die Sammlung von Johann Conradin Beyerbach, Sammlung der Verordnungen der Reichsstadt Frankfurt, 11 Bde., Frankfurt 1797-1799. Zu den Quellen insgesamt vgl. Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Bd. 5: Henrik Halbleib/Inke Worgitzki (Hg.), Reichsstädte 1: Frankfurt am Main (Studien zur europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 169), Frankfurt 2004, S. 12-19.
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Jörg Saler
ins Deutschordenhaus floh, verlor nicht seine aus dem Bürgerrecht erwachsenen Rechte und Pflichten. Garant dieser war die Zugehörigkeit zur Reichsstadt Frankfurt, deren Rechtssystem auf diesen flüchtenden „Untertanen" weiterhin Zugriff. Und dennoch konnte sie seiner nicht ohne weiteres habhaft werden. Denn der angegangene Rechtsraum einer Ritterkommende (oder eines Klosters oder einer Pfarrkirche), zu dem er sich Zutritt verschafft hatte, schützte ihn durch das ihr zukommende Asylrecht. Im konkreten Fall galt es dann immer, einen Ausgleich zwischen beiden Systemen zu finden. Die Kommendenmauern bildeten also die Grenze zweier unterschiedlicher Rechtsräume. Die Uneindeutigkeit ihrer gegenseitigen Bezogenheit - in sich waren sie jeweils schlüssig - musste zwangsläufig zu Streit führen. Diesen zu gewinnen, um die eigenen Rechte klar bestätigt und geschützt zu sehen, war Anlass für vielfältige Rechtsklärungsverfahren vor Dritten (König, delegierten Schlichtern, später: Reichskammergericht, Reichshofrat). Diesen zu ordnen, bestenfalls zu klären, war Bestreben regelmäßiger Verträge zwischen beiden Institutionen. Dadurch hatte mein über Jahrhunderte hinweg die je eigenen Rechtsbereiche durchlässig werden lassen. Sechs kleinere Abmachungen zwischen der Deutschordenskommende und der Stadt Frankfurt datieren aus den Zeiten zwischen 1291 und 1596. Grundlagenverträge schloss man 1610,1668 und ein letztes Mal 1775.3 Mindestens gleichermaßen wichtig für das rechtliche Verhältnis der beiden Institutionen Stadt und Orden war die aus konkretem Handeln zu erschließende rechtliche Alltagspraxis. In Auseinandersetzungen um Immobilienzinse war etwa das Frankfurter Stadtgericht zuständig. Bereits seit Ende des 13. Jahrhunderts musste die Kommende eine miteinander abgestimmte Besteuerungspraxis und wenig später die Zuständigkeit der städtischen Behörden in Fragen der Fischerei-, Holznutzungs- und Waidrechte akzeptieren. In Besitzangelegenheiten der Kommende traten städtische Behörden als Siegler auf, und aus dem 16. Jahrhundert haben sich Urkunden überliefert, in denen die Stadt Auseinandersetzungen zwischen Kommende und Pachtnehmern schlichtete. Unser imaginierter Komtur verließ nicht nur als Deutschordensmitglied, sondern - in Stellvertretung seiner geistlichen Institution - auch als Frankfurter Bürger seine Kommende. Dieses Bürgerrecht war um 1270 verliehen und 1463 offiziell bestätigt worden.4 Es spielte, abgesehen von den Jahrzehnten um 1300,
Zur Frankfurter Deutschordenskommende: Jörg Seiler, Der Deutsche Orden in Frankfurt. Gestalt und Funktion einer geistlich-ritterlichen Institution in ihrem reichsöffentlichen Umfeld (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, Bd. 61), Marburg 2003; hier S. 230-253 zu den vertraglichen Abmachungen und zum Bürger-Status der Kommende. Erste grundlegende Informationen zum Deutschen Orden bietet Klaus Militzer, Die Geschichte des Deutschen Ordens, Stuttgart 2005. 4 Deutschordenszentralarchiv Wien, Urkunden (abgekürzt: DOZA Uk) 1269-1273 (frühere Signatur: „13. Jahrhundert") und DOZA Uk 1463 August 12. Vgl. Udo Arnold (Hg.), Die Urkunden des Deutschordenszentralarchivs in Wien, Regesten Bd. 1: 11223
Die Rächshofratsprozesse des Deutschen Ordens gegen die Stadt Frankfurt
im gesamten Mittelalter interessanterweise keine Rolle. Konflikte zwischen Orden und Stadt, die mit dem Bürgerstatus der Kommende begründet wurden, gab es im Mittelalter also nicht. In der Hauptsache jedoch war jener Komtur Vertreter einer standesbewussten, vom niederen Adel geprägten Ordensgemeinschaft. Vermutlich hatte er sich nicht aus „geistlicher Berufung" in diese Gemeinschaft begeben - dafür konnte der Orden eigentlich nie herhalten - , sondern weil er dort einem Beruf nachkommen konnte, der seinem Selbstverständnis und den Vorstellungen seiner Familie entsprach: Er war Diplomat in Angelegenheiten des Ordens und Verwaltungsfachmann mit rudimentären Organisationskenntnissen. Für die Neuzeit wesentlich interessanter: Er repräsentierte vor Ort die Gesamtkorporation „Deutscher Orden". Angesichts der Veränderungen, denen sich der Deutsche Orden seit dem 16. Jahrhundert unterzogen hatte - als Stichworte seinen genannt: Verzicht auf das kommunitäre Leben, Wiederbelebung der Heidenkampfideologie durch die Türkenkriege - ist diese Repräsentationsfunktion zentral. Der Komtur innerhalb einer Kommende machte das ideelle Selbstverständnis einer ganzen Gemeinschaft vor Ort gegenwärtig. Konkret geschah dies dadurch, dass man die eigenen Rechtstraditionen ebenso wie die liturgischen Traditionen, die gerade im 17. und 18. Jahrhundert ausdrücklich auf mittelalterliche Regelungen und Verbindlichkeiten zurückgriffen, lebendig erhalten wollte. In diesem Kontext sind die Reichshofratsprozesse des Deutschen Ordens gegen die Stadt Frankfurt zu interpretieren. Hier ging es nicht nur um die Klärung, ob ein Rechtsanspruch „zu Recht" besteht. Im Hintergrund stand immer auch das neuzeitliche Selbstverständnis einer geistlich-ritterlichen Institution, die mental aus einer bedeutenden Vergangenheit heraus lebte, die es unter den Bedingungen der Jetztzeit aktiv zu halten galt. Wichtiges Transformationselement war hierbei die Aufrechterhaltung des hoch privilegierten Rechtsstatus. 2. Die Nutzung der Reichsgerichte durch den Deutschen Orden Diese Privilegien, erwachsen aus der engen Bindung an Kaiser und Reich im 13. und 14. Jahrhundert, die aufgrund politischer Opportunität ungeachtet persönlicher Verbundenheit problemlos den oftmals konfliktreichen Wechsel vom einen auf den anderen Herrscher mitmachen konnte, standen im politischen Alltagsgeschäft immer zur Disposition.5 Sie mussten konkret
Januar 1313 (QStGDO = Veröffentlichungen der Internationalen Historischen Kommission zur Erforschung des Deutschen Ordens 11/I), Marburg 2006, Nr. 677. 5 Zu den Privilegien des Deutschen Ordens vgl. generell Eduard Gaston Pöttickh Graf von Pettenegg, Die Privilegien des Deutschen Ritterordens, Wien 1895. Eine systematische Untersuchung des privilegierten Status des Deutschen Ordens und seiner Rezeption in der Neuzeit steht weiterhin aus. Die Grundlagen werden ermöglicht durch die Veröffentlichung der Urkundenregesten aus dem DOZA (s. Anm. 4). Zum Themenkomplex des Privilegs als „objektives Sonderrecht" (Heinz Mohnhaupt) vgl. die konstruktiven Beiträge, in: Barbara Dölemeyer/Heinz Mohnhaupt (Hg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, 2 Bde., Frankfurt 1997-1999. Bei der Verletzung kaiserlicher Privilegien
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Jörg Stíler
durchgesetzt werden. Hierbei bediente sich der Orden souverän, wenn auch in der Neuzeit zunehmend erfolglos, jener Instanzen, denen man den eigenen besonderen Rechtsstatus verdankte. Den Papst ging man an, wenn es um kirchliche Immunitätsfragen ging - ein letztes Mal bei den Diskussionen, wie die Bestimmungen des Konzils von Trient auf den Orden hin zu adaptieren sind. Im Ergebnis kam dies einer Aushebelung der kirchenrechtlichen Reformvorschläge gleich. Der Kaiser und wohl gesonnene Reichsstände wurden aufgesucht, wenn es galt, den Besitz- und Rechtsstatus einer Kommende im Spiel regionaler Kräfte abzusichern und zu verteidigen. Solch regionale Kämpfe betrafen nie nur einen marginalen Gegenstand, obgleich dies uns heute so scheinen mag, sondern verwiesen stets auf Grundsätzliches, nämlich die Integrität des eigenen Rechtsbereichs. Vor dem Reichskammergericht strengte der Deutsche Orden gegen die Stadt Frankfurt insgesamt acht Rechtsverfahren an. Kläger war, wie in der Regel bei allen Prozessen des Ordens vor den beiden Reichsgerichten, nicht der einzelne Komtur, sondern der (Hoch- und) Deutschmeister als gefiirsteter Reichsstand.6 Zwei Prozesse datieren zwischen 1538 und 1544, also in einer durchaus angespannten Situation. Frankfurt war nach zehnjährigem konfessionspolitischem Taktieren dem Schmalkaldischen Bund beigetreten (1535/36) und hatte sich der Reformationsprozesse durch den Mainzer Erzbischof vor dem Reichskammergericht, ebenso wie der Klagen durch die Frankfurter Dominikaner und Karmeliten zu erwehren. Konkret ging es dem Deutschen Orden um Bewässerungsrechte und um Baumaßnahmen auf dem so genannten Sandhof, einem bedeutenden Hofkomplex im Kommendenbesitz, der bereits während der Unruhen von 1525 Gegenstand von Auseinandersetzungen geworden war. Der Plan, gegen die Stadt zu prozessieren, wurde offiziell wohl erstmals auf dem Ellinger Balleikapitel vom Februar 1537 verhandelt, 1538 wurde die Klage eingereicht. Möglicherweise wandte sich der Orden in dieser Sache auch an den Reichshofrat, da sich in dessen Überlieferung ein kaiserliches Schreiben aus dem Jahr 1541 befindet, mit dem Karl V. die Stadt aufforderte, die Übergriffe gegen den Orden abzustellen.7 Zugeständnisse der Stadt bezüglich des Bewässerungsrechts wurden
konnte in erster Instanz sowohl das Reichskammergericht als auch der Reichshofrat angerufen werden. Vgl. Wolfgang Sellert, Über die Zuständigkeitsabgrenzung von Reichshofrat und Reichskammergericht insbesondere in Strafsachen und Angelegenheiten der freiwilligen Gerichtsbarkeit (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte NF., Bd. 4), Aalen 1965, S. 86, S. 109 (zur Zuständigkeit des Reichshofrats bei der Erteilung und Aberkennung kaiserlicher Privilegien ebd., S. 108). 6 Die Prozesse sind dokumentiert bei Inge Kaltwasser, Inventar der Akten des Reichskammergerichtes 1495-1806, Frankfurter Bestand (Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission, Bd. 21), Frankfurt 2000, S. 1000-1006. 7 Zum Ellinger Kapitel: DOZA Balleikapitel 2/1 Bl. 252r v. Das Schreiben Karls V. an den Rat der Stadt Frankfurt (6.9.1541) befindet sich als Konzept in: Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien Reichshofrat - Alte Prager Akten Κ 193 (abgekürzt: HHStAW RHR APA). Hierbei handelt es sich überhaupt erst um das zweite Frankfurter „Verfahren", das Spuren im Reichshofratsarchiv hinterlassen hat. Vgl. hierzu den Beitrag von Eva Ortlieb,
Die Rríchshofratsprozesse des Deutschen Ordens gegen die Stadt Frankfurt
schließlich durch das Versprechen des Ordens „erkauft", die Prozesse vor dem Reichskammergericht einzustellen. Entsprechende Abmachungen über die Sistierung beider Prozesse wurden im Vertrag zwischen Kommende und Stadt vom 3.10.1543 festgehalten.8 Das Jagdrecht in der Sachsenhäuser Gemarkung stand zwischen 1576 und 1604 und zwischen 1606 und 1610 zur Verhandlung an. Hier zeigte sich der Rat zum Einlenken bereit. Etwa zeitgleich waren Prozesse wegen der zweimaligen Gefangensetzung von Ordensschäfern (16041612 und 1607-1615) beim Reichskammergericht anhängig. Im ersten Prozess brachte der Orden u.a. die Privilegienbestätigung von 1403 zur Untermauerung seiner Argumente vor, die auch beim großen Asylprozess von 1699-1703 vor dem Reichshofrat eine bedeutende Rolle spielen wird. Die Stadt hingegen argumentierte mit dem Vertragswerk von 1543.9 Ein für ungültig zu erklärender Kaufvertrag über den dem Deutschen Orden gehörigen Lurenberger Hof in Sachsenhausen, der ohne dessen Wissen verkauft worden war, führte zwischen 1626 und 1628 zu einem weiteren Prozess. Beklagte waren hier Bürgermeister, Rat und Schöffen der Stadt Frankfurt und zwei Frankfurter Bürger. Vorausgegangen war in der gleichen Sache ein Appellationsprozess in zweiter Instanz gegen den Frankfurter Bürger Michael Ottinand, den der Hochmeister zusammen mit dem Frankfurter Komtur 1624-1626 angestrengt hatten. Erstinstanzlich war zuvor das Frankfurter Stadtgericht (1624) angegangen worden.10 Nach diesen Rechtsstreitigkeiten, die um 1600 intensiv vor dem Reichskammergericht geführt worden waren, wurde dieses Reichsgericht seitens der Frankfurter Kommende für die nächsten eineinhalb Jahrhunderte nicht mehr angerufen. Erst 1751 stand erneut die zur Anklage gebrachte Nicht-Beachtung kaiserlicher Privilegien im Mittelpunkt einer Beschwerde. Konkret ging es um die Erhebung von Siegel- und Flaschengeld seitens der Stadt, gegen die sich der Orden zur Wehr setzte. Hierbei verwies der Hochmeister auf einen entsprechenden Vertrag aus dem Jahr 1449, der 1668 erneuert worden war.11 Möglicherweise kam es zu einem Vergleich. Interessant bei all diesen Prozessen ist die Tatsache, dass sie, abgesehen von der Klage 1751, jeweils im Vorfeld oder Kontext vertraglicher Abmachungen standen. Im Hintergrund des Prozessendes 1544 stand der Vertrag zwischen Stadt und Kommende vom Vorjahr. Der Vertrag von 1596 nahm auf die schwelenden Reichskammergerichtsprozesse Bezug.12 Und auch die Prozesse, die 1610 bzw. 1612 zum Ende kamen, verhandelten Gegenstände, die im Vertrag von 1610 thematisiert wurFrankfurt vor dem Reichshofrat, in diesem Band. Zu den beiden Prozessen zwischen 1538 und 1544 vor dem Reichskammergericht vgl. Kaltwasser, Inventar (wie Arun. 6), S. lOOOf. 8 DOZA Uk 1543 Oktober 3. 9 Kaltwasser, Inventar (wie Anm. 6), S. 1002-1004. 10 Kaltwasser, Inventar (wie Anm. 6), S. 1004f. 11 DOZA Uk 1449 Oktober 2. DOZA Uk 1668 August 29/19. DOZA Mergentheim (Merg) 310/5. 12 DOZA Uk 1596 Juni 30.
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den.13 Auffällig ist darüber hinaus die Häufigkeit, mit der um 1600 das Reichskammergericht angerufen wurde. Dies ist typisch für die Nutzung dieses Reichsgerichts generell, das zwischen der Mitte des 16. Jahrhunderts und etwa 1615 seine Hochzeit erlebte. Eine statistische Auswertung der für den Deutschen Orden wichtigsten Bestände staatlicher und kommunaler Archive bestätigt diesen Befund auch für den Orden und seine Rechtstitel auf dem Gebiet des Alten Reichs.14 Zwischen 1512 und 1781 wurden 387 Prozesse vor dem Reichskammergericht aktenkundig, bei denen der Deutsche Orden 306 Mal als Kläger und 81 Mal als Beklagter auftrat. Der Schwerpunkt jener Prozesse, bei denen der Hochmeister Klage erhob, lag hierbei mit 209 Prozessen im halben Jahrhundert zwischen 1571 und 1621. Zwischen 1550 und 1570 rief der Orden in 46 Fällen das Reichskammergericht an, zwischen 1522 und 1569 insgesamt nur neun Mal. In lediglich 40 Fällen wandte man sich zwischen 1622 und 1779 an dieses Gericht. Auffällig ist hierbei die Abstinenz unter Hochmeister Johann Kaspar von Ampringen (1664-1684) und die geringe Klagetätigkeit unter den Hochmeistern aus dem Haus Pfalz-Neuburg (1684-1732; zwischen 1693 und 1732 lediglich 13 Fälle). Mit 64 Prozessen (1536-1743) war BrandenburgAnsbach der am häufigsten beklagte Prozessgegner (zwischen 1571 und 1603 allein in 58 Verfahren). Ihm folgten die verschiedenen öttingischen Häuser (60 Prozesse zwischen 1536-1766)15, der Bischof von Würzburg (16 Klagen, 1553-1752) und Brandenburg-Bayreuth (15 Klagen, 1608-1751). Unter den Klägern gegen den Deutschen Orden ragen die Herren von Adelsberg mit 12 Prozessen zwischen 1550 und 1765 hervor, sieben Mal prozessierte Brandenburg-Ansbach gegen den Orden (1556-1597). Auch hier ist der Höhepunkt mit dem ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts überschritten.
DOZA Merg 310/7. "Die nachfolgenden Angaben erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Doch zeigen sie eine repräsentative Tendenz an. Ausgewertet wurden die bislang publizierten Repertorien zu den Reichskammergerichtsprozessen aus dem Bayerischen Hauptstaatsarchiv München, dem Hauptstaatsarchiv Stuttgart, dem Hessischen Hauptstaatsarchiv Wiesbaden, dem Landeshauptarchiv Koblenz, dem Landeshauptarchiv Magdeburg, dem Staatsarchiv Osnabrück und dem Institut für Stadtgeschichte Frankfurt. Die Jahreszahlen beziehen sich im Folgenden auf den Beginn des jeweiligen Prozesses. Nicht berücksichtigt wurden die rechtlichen Auseinandersetzungen um die Wiedergewinnung des preußischen Ordenslandes. Hierzu war 1532 ein Reichskammergerichtsprozess gegen Albrecht von Brandenburg mit dessen Achterklärung zu Ende gegangen. 1536 verfielen auch die preußischen Stände der Acht. Dieser juristische Erfolg stand jedoch in krassem Gegensatz zum politischen Misserfolg, da der Orden die Exekution der Acht gegen Albrecht nicht erlangen konnte. Hierzu vgl. Udo Arnold, Mergentheim und Königsberg/Berlin. Die Rekuperationsbemühungen des Deutschen Ordens auf Preußen, in: Württembergisch Franken 60, 1976, S. 14-54 und Axel Herrmann, Der Deutsche Orden unter Walter von Cronberg (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, Bd. 35), Bonn/Bad Godesberg 1974, S. 92-109. 13
15 Hierzu: Josef Hopfenzitz, Kommende Oettingen Deutschen Ordens (1242-1805). Recht und Wirtschaft im territorialen Spannungsfeld (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, Bd. 33), Bonn/Bad Godesberg 1975, S. 149-184.
Die Reichshofratsprozesse des Deutschen Ordens gegen die Stadt Frankfurt Vor dem zweiten Reichsgericht, dem Reichshofrat, strengte der Hochmeister zwischen 1594 und 1757 fünf Prozesse gegen die Reichsstadt Frankfurt an, um sich gegen (vermeintliche) Übergriffe der städtischen Behörden gegenüber der Frankfurter Kommende zur Wehr zu setzen.16 Die Streitgegenstände sind typisch: 1684-1686 ging es um die Besteuerimg des Deutschordenshofes (bzw. des Hofmannes als Beständer) in Bornheim und um dortige Einquartierungen. 1757 stand die Rechtmäßigkeit einer Lotterie im Kommendengebäude zur Verhandlung an. Bedeutender sind die umfangreichen Akten zu zwei Asylprozessen, die 1594-1603 und 1699-1703 geführt wurden. Nicht zum rechtlichen Austrag kam eine Beschwerde des Hochmeisters gegen die Stadt Frankfurt aus dem Jahre 1631. Der Orden sah sich hier in seinem Recht des Bier- und Weinschänke auf dem Sandhof beeinträchtigt.17 Sofern das geringe Prozessaufkommen überhaupt als aussagekräftig gewertet werden kann, so ergibt sich im Schwerpunkt auf die Zeit bis 1703 ein Unterschied zur Häufigkeit jener Prozesse, die von oder gegen einzelne Frankfurter (Bürger, Einwohner, Korporationen oder Institutionen) angestrengt wurden. Die überwiegende Anzahl dieser letztgenannten Prozesse stammen aus den letzten 100 Jahren des Reichshofrats (92 %; zwischen 1519 und 1704 nur 8 %).18 Eine erste statistische Analyse der Reichshofratsprozesse des Ordens ergibt im Vergleich mit den Prozessen vor dem Reichskammergericht eine leichte Verschiebung.19 In 84 %
16 Zum Reichshofrat vgl. Oswald von Gschließer, Der Reichshofrat. Bedeutung und Verfassung, Schicksal und Besetzung einer obersten Reichsbehörde von 1559 bis 1806 (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte des ehemaligen Österreichs, Bd. 33), Wien 1942. Wolfgang Sellert, Prozeßgrundsätze und Stilus Curiae am Reichshofrat im Vergleich mit den gesetzlichen Grundlagen des reichskammergerichtlichen Verfahrens (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, NF. 18), Aalen 1973. Wolfgang Sellert, Die Ordnungen des Reichshofrates 1550-1766 (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = QFHG 8), 2 Bde., Köln u.a. 1980-1990. Sellert, Zuständigkeitsabgrenzung (wie Anm. 5). Über die Frühgeschichte des Reichshofrats informiert Eva Ortlieb, Vom Königlichen/Kaiserlichen Hofrat zum Reichshofrat. Maximilian I., Karl V., Ferdinand I., in: Bernhard Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht. Der Weg zu seiner Gründung und die ersten Jahrzehnte seines Wirkens (1451-1527) (QFHG 45), Köln u.a. 2003, S. 221-289. 17 HHStAW RHR APA Κ 201. Als Betroffene waren die Frankfurter Komture ein letztes Mal beim Reichshofratsprozess gegen die Reichsburg Friedberg ab 1777 involviert, als der Ausschluss des Frankfurter Komturs und des Marburger Landkomturs von der Burggrafenwahl 1777 verhandelt wurde, an der teilzunehmen beiden als geborenen Burgmannen eigentlich zugestanden hätte. Dass hier kein Urteil zu erwarten war, erhellt die Tatsache, dass der Orden zwischen September 1782 und Februar 1795 insgesamt 24 Mal um den Erlass eines Urteils einkam. Der Schriftverkehr war bereits Ende 1781 für beendet erklärt und die Sache zum Rechtsspruch vorgelegt worden; HHStAW RHR Obere Registratur 1648/1. 18 Vgl. hierzu den Beitrag von Eva Ortlieb, Frankfurt vor dem Reichshofrat, in diesem Band. 19 Die Auswertung basiert auf der Abfrage der Datenbank zum Wolfechen Repertorium im HHStAW, das die Bestände Decisa, Denegata antiqua, Denegata recentiora und Obere Registratur berücksichtigt. Damit sind vier von elf Serien der Judizialregistratur des Reichshofratsarchivs erfasst. Hinzu kommt der Bestand „Antiqua". Die Daten, die jedoch lediglich eine Tendenz wiedergeben, wurden mir freundlicherweise mit Schrei-
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der Fälle war hier der Deutsche Orden Kläger (Reichskammergericht: 79 %), in 16 % der Fälle Beklagter (Reichskammergericht: 21 %). Die Nutzung beider Reichsgerichte war für den Orden demnach eine klare Option, wenn es galt, eigene Rechtspositionen durchzusetzen. In insgesamt 13 Prozessen suchte sich der Orden gegenüber (vermeintlichen) Übergriffe durch die Stadt Frankfurt und die Beeinträchtigung des Rechtsstatus seiner dortigen Kommende zu wehren. Die Reichsstadt selbst hingegen erscheint nie als Kläger gegen den Deutschen Orden. Im Folgenden gelangen die vier großen Prozesse vor dem Reichshofrat zur Darstellung, zu denen sich ausreichend Material in den Reichshofratsakten des Wiener Haus-, Hof- und Staatsarchivs überliefert haben. 3. Reichshofratsprozess 1594-1603: Asylrecht Im ersten Prozess (1594-1603) stand ein Vorfall aus dem Jahr 1593 zur Untersuchung an.20 Der Frankfurter Bürger und Steinmetz Wilhelm Bechthold hatte am 22. Juli 1593 seinen Mitbürger, den Buchbinder Michael Jäger, vorsätzlicher Weise erschossen. Um dem Zugriff der städtischen Behörden zu entgehen, floh er zunächst in den Cleeberger Hof, von dort jedoch in die Deutschordenskommende, da das Asylrecht im Cleeberger Hof als nicht gesichert galt. Der Deutschordenskomtur Adam von Klingelbach21 nahm ihn ohne weiteres in die Freiung seines Ordenshauses auf, schließlich konnte er sich hierbei auf die reiche Privilegierung seines Ordens berufen. Der städtische Magistrat sah aufgrund des Deliktes (Mord) diesen Asylanspruch als nicht gegeben an und forderte die Überstellung an die städtischen Gerichte. Da Klingelbach dies verweigerte, holten städtische Vertreter den Mörder am 26. Juli unter „zerstoßung der Thüre" gewaltsam aus dem Ordenshaus heraus. In seinem Schreiben an den Hochmeister argumentierte der Rat, „daß der Thätter alß ein Mörder, welcher sich keiner Freyhung zue erfreuen, noch dero zu geniesen hat, uns mit keinen fugen, noch rechten vorenthalten werden konnte". Die Deutschordensfreiheiten - „soweit sich solche erstrecken" - wollte man dadurch nicht verletzen.22 ben vom 23. und 24.3.2006 von Mag. Dr. Eva Ortlieb und Hofrat Professor Dr. Auer vom Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien zur Verfügung gestellt. 20 Zum Vorgang vgl. Seiler, Frankfurt (wie Anm. 3), S. 263-267. Die archivalische Überlieferung befindet sich im HHStAW RHR Antiqua 972 Nr. 5 (abgekürzt: HHStAW RHR Ant.) und in DOZA Uk. Hieraus das Folgende. Zur historischen Entwicklung und Bedeutung des Kirchenasyls vgl. Markus Babo, Kirchenasyl - Kirchenhikesie. Zur Relevanz eines historischen Modells im Hinblick auf das Asylrecht der Bundesrepublik Deutschland (Studien zur Moraltheologie, Bd. 20), Münster 2003, S. 21-151. 21 1558 Aufnahme in den Orden, 1574 Komtur in Vimsberg, 1590 Komtur in Frankfurt, 1599 Komtur in Mergentheim und Statthalter des Hoch- und Deutschmeisters, 1601 Komtur in Heilbronn, 1604 Komtur Donauwörth. Seiler, Frankfurt (wie Anm. 3), S. 514. 22 Bürgermeister und Rat der Stadt Frankfurt an Hochmeister; DOZA Uk 1593 Juli 26. Die einschränkende Klausel „soweit sich solche erstrecken" wurde nachträglich unterstrichen, vermutlich durch Dr. Leonhardt Kirchheimer, dem Mergentheimer Kanzler (1589—1609). Im notariellen Instrument vom 28. Juli betonte die Stadt ein weiteres Mal, sie sei zu dieser „Defensionshandlung" verpflichtet gewesen, um die Obrigkeitsrechte
Die Reichshofratsprozesse des Deutschen Ordens gegen die Stadt Frankfurt Bechthold erhielt sein, aus der Position der Stadt heraus, gerechtes Urteil und wurde einige Tage später hingerichtet.23 Nun begann der rechtliche Konflikt über dieses Vorgehen. Das über den Tathergang angefertigte notarielle Instrument aus der Feder von Kaspar Helmut konnte vom Orden nicht anerkannt werden, da es einseitig aus städtischer Perspektive berichte. Trotz wiederholter Geldzahlung zur Ausfertigung eines neuen Dokuments, weigerte sich der Notar, ein solches herzustellen.24 Nun wandte sich der Hoch- und Deutschmeister Maximilian von Österreich an Rudolf Π., seinen kaiserlichen Bruder, und erreichte nach einer wiederholten Intervention die Einsetzung einer Untersuchungskommission unter dem Vorsitz des Mainzer KurfürstErzbischofs Wolfgang von Dalberg (1583-1601). 25 Die direkte Einschaltung des Kaisers musste in Frankfurt mit Sorge zur Kenntnis genommen werden. Mit der Einsetzung einer reichshofrätliche Kommission war der typische Fall eingetreten, dass benachbarte Reichsstände die Nachbarschaftskonflikte zu untersuchen hatten. Den geistlichen Reichsständen (gut 35 % der verhandelten Fälle) und insbesondere dem Mainzer Kurfürst-Erzbischof kam hierbei eine besondere Rolle zu. 26 Eine gewisse Brisanz konnte diese Personalentscheidung I der Stadt aufrecht zu erhalten. Weder dem König noch dem Orden wolle man dadurch „Despect" zukommen lassen; DOZA Uk 1593 Juli 28. 23 Auf Mord und Totschlag stand die Todesstrafe. Zu den rechtlichen Bedingungen zur Verhängung der Todesstrafe in Frankfurt und deren Vollzug vgl. Karl-Emst Meinhardt, Das peinliche Strafrecht der freien Reichsstadt Frankfurt am Main im Spiegel der Strafpraxis des 16. und 17. Jahrhundert, Diss. phil. Frankfurt 1957, S. 121-135, S. 213-217 und Joachim Eibach, Frankfurter Verhöre. Städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahrhundert, Paderborn 2003, S. 386-409. 24 Instrumentum requisitionis des kaiserlichen Notars Adam Mechler, 21.8.1693; DOZA Uk z. D. 25 Maximilian war eben erst zum steierischen Gubernator für den minderjährigen Erzherzog Ferdinand II. eingesetzt worden und stand von daher in engem Kontakt zu Rudolf. Der Mainzer Erzbischof hatte etwa zeitgleich begonnen, in der Religionspolitik einen konsequenteren Kurs zu fahren. Die Intervention beim Kaiser durch Maximilian (27.7.1593 und Februar 1594) ergibt sich aus dem Schreiben der Mergentheimer Deutschordensregierung an den Reichshofrat vom 13.10.1594 und einem Schreiben des Kaisers an Dalberg vom 8.2.1594; HHStAW RHR Ant. 972 Nr. 5. Leider stand mir die in Druck befindliche Arbeit von Stefan Ehrenpreis noch nicht zur Verfügung: Kaiserliche Gerichtsbarkeit und Konfessionskonflikt. Der Reichshofrat unter Rudolf II. 1576-1612 (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 72), Göttingen 2006. 26 Eva Ortlieb, „Reichspersonal"? Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und ihre Subdelegierten, in: Anette Baumann u.a. (Hg.), Reichspersonal. Funktionsträger für Kaiser und Reich (QFHG 46), Köln u.a. 2003, S. 59-87, hier: S. 66-72 und 75. Hier auch (73) der Hinweis, dass in den Fällen, in denen Geistliche als Parteien vor Kommissionen auftraten, diese überwiegend - wie in unserem Fall - Kläger waren. „Städte traten - im Gegensatz zur Geistlichkeit - deutlich häufiger als Beklagte denn als Kläger in Erscheinung" (ebd.). Zu den Kommissionen des Reichshofrats vgl. Eva Ortlieb, Im Auftrag des Kaisers. Die kaiserlichen Kommissionen des Reichshofrats und die Regelung von Konflikten im Alten Reich (1637-1657) (QFHG 38), Köln u.a. 2001. Zur Kommissionstätigkeit der Reichsstadt Frankfurt, der - falls ein solcher überhaupt mit eingesetzt wurde - in der Regel Kurmainz als Mitkommissar zur Seite stand vgl. den Beitrag von Eva Ortlieb, Frankfurt vor dem Reichshofrat, in diesem Band.
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Jörg Säler jedoch dadurch erlangen, dass gerade zu Beginn des Frühsommers 1594 Dalberg seine bislang relativ moderate Religionspolitik, wohl auch unter dem Druck Roms verschärft hatte.27 Dalberg legte einen Verhandlungstag auf den 13./23. Mai fest. Trotz der städtischen Bitte um Verlegung (29.4.1594) - man wollte ausreichend Zeit zur Vorbereitung haben - konnte Dalberg die Aufnahme der Kommissionsarbeit nicht stoppen, da ihn das Schreiben erst am 17. Mai auf dem Regensburger Reichstag erreicht hatte.28 Mittlerweile hatte er nämlich Subdelegierte ernannt. Diese, es handelte sich um den Mainzer Vizedom Caspar von Eitz und den Mainzer Rat Dr. Johann Reichardt Scheffer, hatten daher bei den ersten Verhandlungen am 13./23. und 14./24. Mai hauptsächlich Verfahrensfragen zu regeln. Die Stadt wurde hierbei vertreten durch den Altern Bürgermeister Johann Ludwig von Glauburg, den Jüngeren Bürgermeister Philipp Rücker, den Schöffen Daniel Braumann, einen weiteren Schöffen und den Stadtsyndikus Johann Baptist Caesar. 29 Neben Adam von Klingelbach vertrat der Mergentheimer Rat und Sekretär Johann Stoer die Sache des Ordens. Städtischerseits versicherte man ein weiteres Mal, „mehr zu gueter Nachbarschafft als zu einigem Unwillen geneyget" zu sein. Man habe beim Erzbischof um eine Fristverlängerung gebeten, um ausreichend Zeit zur Vorbereitung zu haben. Insbesondere seien drei Fragen grundsätzlicher Art zu klären: Zunächst ginge es um die Frage, ob es für die Stadt tunlich sei, sich überhaupt auf die Kommission einzulassen. Zweitens sei zu untersuchen, ob die Austragung mittels einer Kommission nicht die Rechte der Stadt schmälere. Und schließlich kritisierte die Stadt die vom Orden geforderte Zeugenbefragung und bat den Erzbischof, es bei einer schriftlichen Einlassung durch die
Im Dezember 1593 hatte der päpstliche Nuntius Ottavio Mirto Frangipani mit Dalberg persönlich elf Reformanliegen verhandelt. Rolf Decot, Das Erzbistum im Zeitalter von Reichsreform - Reformation - Konfessionalisierung (1484-1648), in: Handbuch der Mainzer Kirchengeschichte, Bd. 3: Neuzeit und Moderne Teil 1 (Beiträge zur Mainzer Kirchengeschichte, Bd. 6,3/1), Würzburg 2002, S. 21-232, hier: S. 133-136. 28 Bürgermeister und Rat der Stadt Frankfurt an Dalberg, 29.4.1594. Dalberg an Bürgermeister und Rat der Stadt Frankfurt, 20.5.1594. HHStAW RHR Ant. 972 Nr. 5. 29 Zu Eitz und Scheffer vgl. Alexander Jendorff, Verwandte, Teilhaber und Dienstleute. Herrschaftliche Funktionsträger im Erzstift Mainz 1514 bis 1647 (Untersuchungen und Materialien zur Verfassungs- und Landesgeschichte, Bd. 18), Neustadt/Aisch 2003, passim. Hier auch (S. 117-134) eine Beschreibung der politischen Relevanz des Amts eines Vizedom. Zu Johann Ludwig von Glauburg (1547-1603), Philipp Rücker (15571617), Daniel Braumann (gest. 1635) vgl. Hans Körner/Andreas Hansert, Frankfurter Patrizier. Historisch-Genealogisches Handbuch der Adeligen Ganerbschaft des Hauses Alten-Limpurg zu Frankfurt am Main, Neustadt/Aisch 2003, S. 84f., S. 110, S. 203. Zu Johann Baptist Caesar vgl. Barbara Dölemeyer, Frankfurter Juristen im 17. und 18. Jahrhundert (lus Commune, Sonderheft 60), Frankfurt 1993, S. 394. Zu den Subdelegationen generell vgl. Ortlieb, „Reichspersonal"? (wie Anm. 26), S. 77-82. Die Anwesenheit des Jüngeren Bürgermeisters verdient von daher Beachtung, als ihm qua Amt die Aufsicht über die Sicherheitspolicey zukam. Glauburg und Caesar waren bereits 1595 neben Hieronymus zum Jungen, Johann Stallburg und Christoph Keller die städtischen Vertreter auf einem Schiedstag, der dem Vertrag von 1596 vorausging. Vgl. Seiler, Frankfurt (wie Anm. 3), S. 244. 27
Die Reichshofratsprozesse des Deutschen Ordens gegen die Stadt Frankfurt
Stadt bewenden lassen zu können.30 Im Hintergrund der städtischen Argumentation standen wohl auch die zeitgleichen Proteste gegen das Überhandnehmen kaiserlicher Kommissionen, die auf dem Reichstag 1594 formuliert wurden und denen sich auch Frankfurt angeschlossen hatte.31 Immerhin gewährte Dalberg die Verschiebung der Kommissionsarbeit auf Ende August. In der Zwischenzeit intervenierte die Stadt beim Hochmeister (15.6.1594) und beim Kaiser (16.7.1594). Beide Male galt der Protest nicht zuletzt der Verfahrensform und dem Gericht, das angegangen worden war. Dem Kaiser gegenüber hielt man fest: „[...] so ist die sache ahn irselbsten hochwichtig und dermassen beschaffen, das sie ohne sondere volkommene Cognition und vor einem andern Richter, oder durch andere mittel und wege nicht als [gemäß] Iro und des H. Reichs Constitutiones, Insonderheit aber des in anno d. 1555 ufgerichten Reichsabschieds und damals im Reich Publicirte Cammergerichtsordnung ausgeführt werden sollte." Auch gegenüber dem Orden bat die Stadt um den Verzicht auf die Kommission oder aber „diese unserer seits unverhoffte Irrunge zu Ordentlichem Rechtstande und an gehörigen Ortenn außführen" zu wollen. Auch befreundete protestantische Reichsstände intervenierten zugunsten Frankfurts.32 Die diplomatischen Initiativen Frankfurts zeigten Erfolg. Als Dalberg am 10. September dem Kaiser seinen Kommissionsbericht übersandte, bezog sich dieser lediglich auf die Untersuchungen vom 22. Mai; Ende August war man wohl gar nicht mehr zusammen gekommen. Dalberg überließ es nun dem Kaiser, für den Fortgang oder die Aussetzung der Untersuchung zu sorgen.33 Mitte Oktober 1594 ging die Klageschrift des Ordens beim Reichshofrat ein. Ausdrücklich argumentierte sie gegen ein Verfahren vor dem Reichskammergericht, da hieraus unendlicher Rechtsstreit entstehen würde, dessen Ende nicht abzusehen sei. Wiederholt habe man Frankfurt I
Vgl. Eitz an Bürgermeister und Rat der Stadt Frankfurt, 16.5.1594; HHStAW RHR Ant. 972 Nr. 5. Da die zu befragenden Zeugen Frankfurter Bürger und Ratspersonen waren, versuchte der Orden auf dem Regensburger Reichstag vom Kaiser ein Reskript zu erwirken, das diese von ihrem Eid auf die Stadt entpflichtet. Vgl. Scheffer an Dalberg, 17./27.5.1594; HHStAW RHR Ant. 972 Nr. 5. Die Untersuchungskommissionen hatten weitreichende Kompetenzen. Ihnen oblag die gesamte Vorbereitung und Begutachtung des Rechtsstreites. Sie führten zu permanenten Auseinandersetzungen zwischen den Reichsständen und dem Kaiser. Diese „gründen einerseits in dem ständig schwelenden Kompetenzkonflikt zwischen dem RHR und RKG und andererseits in dem Gegensatz zwischen den Religionsparteien". Vgl. Sellert, Prozeßgrundsätze (wie Anm. 16), S. 198208 (Zitat 198). Auf die auffallende Häufung von Kommissionen im 16. und beginnenden 17. Jahrhundert verweist Ortlieb, „Reichspersonal"? (wie Anm. 26), S. 62f. 31 Hierzu Sellert, Prozeßgrundsätze (wie Anm. 16), S. 200. 32 Bürgermeister und Rat der Stadt Frankfurt an Hochmeister, 15.6.1594; DOZA Uk z. D.; Bürgermeister und Rat der Stadt Frankfurt an Kaiser, 16.7.1594; HHStAW RHR Ant. 972 Nr. 5. Für die Frankfurter Argumentation setzten sich die Reichsstädte Worms und Heilbronn ein. Sie intervenierten bei Landgraf Moritz von Hessen-Kassel und bei Friedrich von der Pfalz. Landgraf Moritz bat in seinem Schreiben an den Mainzer Erzbischof (22.8.1594), die Kommission ruhen zu lassen, da sie den Reichskonstitutionen und der Reichskammergerichtsordnung zuwider liefe; HHStAW RHR Ant. 972 Nr. 5. 33 Dalberg an Kaiser, 10.9.1594; HHStAW RHR Ant. 972 Nr. 5. 30
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Jörg Seiler darauf aufmerksam gemacht, dass man niemanden von seinem Asylrecht ausschließen dürfe. Die Beeinträchtigung des Ordens sei ein Angriff auf den Kaiser selbst, dem man in Friedens- und Kriegszeiten treu diene. Erbost zeigte man sich über die Verschleppung der Untersuchung, die zusammen mit der Unterstützung durch andere protestantische Reichsstände ein Indiz dafür sei, wie „krank" diese Reichsstädte seien.34 Der Ausgang der Sache bleibt unklar. Am 21. Juli 1603 beklagte der Hochmeister gegenüber seinem kaiserlichen Bruder, dass die Angelegenheit noch immer unverhandelt wäre, was angesichts erneuter Übergriffe in Frankfurt besonders ärgerlich sei. Mittlerweile sei zu befürchten, dass das Asylrecht der Kommende keine Rechtssicherheit mehr gewährleiste. Andere Reichsfürsten, so die kluge Argumentation des Ordensoberen, würden zunehmend mit Verwunderung wahrnehmen, dass solche Gewalttaten gegen alte Privilegien in Frankfurt ungeahndet geschehen könnten.35 Nun reagierte der Kaiser und beauftragte den neuen Mainzer Oberhirten, Adam von Bicken, das Kommissionsgeschäft weiterzuführen.36 Einen Niederschlag in den Akten des Reichshofrats fand dieses jedoch nicht. Lediglich in der alten Stadtgeschichte von Ludwig Kirchner findet sich der Hinweis, dass die Stadt zur Zahlung eines Bußgeldes verpflichtet wurde.37 4. Reichshofratsprozess 1699-1703: Asylrecht Schärfer war der Prozess, der zwischen 1699 und 1703 vor dem Reichshofrat geführt wurde.38 Im Hintergrund stand der Vorwurf gegen zwei Handwerksgesellen, die einen Hutmachergesellen während eines Tumultes auf der Kleinen Eschersheimer Straße nach einem Handgemenge im Anschluss an einen Umtrunk umgebracht haben sollten.39 Beide waren in ein vor elf Jahren erworbenes Gebäude geflohen, das außerhalb des Kommendenkomplexes lag, zu diesem jedoch einen Durchgang besaß. Ein städtischer Wollweber, der es bewohnte, hatte den beiden dort in Vertretung des Ordens Asyl gewährt. Abends erschien ein städtischer Adjutant mit zehn Musketieren40 und verlangte Eintritt in den Regierung Mergentheim an Reichshofrat, 13.10.1594; HHStAW RHR Ant. 972 Nr. 5. Am 29. Januar 1595 wurde die Eingabe wiederholt; ebd. 35 Hochmeister an Kaiser, 21.7.1603; HHStAW RHR Ant. 972 Nr. 5. 36 Dies ergibt sich aus einem Schreiben des Deutschordensanwalts beim Prozess von 1699-1703 (praes. 18.6.1700); HHStAW RHR Denegata antiqua (Den. ant.) 972. 37 Anton Kirchner, Geschichte der Stadt Frankfurt am Main, Bd. 2, Frankfurt 1810, S. 314. 38 Zum Vorgang insgesamt vgl. Seiler, Frankfurt (wie Anm. 3), S. 270-275. Die archivalische Überlieferung befindet sich in HHStAW RHR Den. ant. 972 und in DOZA Uk. Hieraus das Folgende. 39 Auf die für Frankfurt typische Tatsache, dass in der Regel Kontrahenten mit ähnlichem (und weniger: gleichem) Beruf und Status aneinander gerieten, etwa Handwerker aus unterschiedlichen Gewerben verweist Eibach, Frankfurter Verhöre (wie Anm. 23) und ders., Provokationen en passant: der Stadtfrieden, die Ehre und Gewalt auf der Straße (16.-18. Jahrhundert), in: Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst 68, 2002, 5. 201-215, hier: S. 211f. 40 Bereits seit Beginn des 17. Jahrhunderts hatte sich in Frankfurt eine zunehmende obrigkeitliche „Durchdringung und Militarisierung des Stadtfriedens" durchgesetzt,
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Die Reichshofratsprozesse des Deutschen Ordens gegen die Stadt Frankfurt
Kommendenkomplex, um diesen zu visitieren. Unter Androhimg von Gegengewalt verweigerte der Verwalter Philipp Werner von Hörnigk41 diesen Übergriff in die obrigkeitlichen Rechte des Deutschen Ordens. Nachdem die städtischen Vertreter abgezogen waren, schaffte Hörnigk die beiden Flüchtigen in sein eigenes Verwaltergebäude innerhalb des Kommendenkomplexes. Zugleich verwahrte er sich gegenüber den beiden Bürgermeistern gegen die drohende Beschädigung der Ordensrechte. Die Stadt hingegen brachte bürgerrechtliche Argumente vor: Da der Hausbewohner Frankfurter Bürger sei, hätte die Stadt das Recht, auch dessen Haus zu visitieren, „da zumahlen die laster und Verbrechen abgestrafft seyn müssen". Das Asylrecht erstrecke sich zudem nur auf Schuldner, für die es gerne zugestanden würde. Eine Limitierung auf Schuldensachen wies Hörnigk umgehend zurück. Da man sich nicht einigen konnte, eskalierte die Angelegenheit. Ein weiteres Mal erschien der Adjutant und wurde abgewiesen. Unter der Anwesenheit eines Notars und zweier Zeugen ließen schließlich die städtischen Vertreter die vorsorglich abgesperrten Türen zum Kommendenkomplex gewaltsam öffnen - eine eigentliche Visitation fand wohl nicht mehr statt.42 Umgehend protestierte die Mergentheimer Zentralregierung des Deutschen Ordens bei der Stadt. Diese werde den „begangenen Unfug von selbst leicht erkennen, und sich dahero solche satisfactions Consilia beygehen lassen, damit Mann ex parte ordinis damit allerdings wohl zufrieden seyn möge". Näherhin erwarte man eine urkundliche Bestätigung, dass der Eingriff in Ordensrechte kein Präjudiz sei; dann seien die Soldaten zur Rechenschaft zu ziehen, und schließlich möge die Stadt bestätigen, dass jedermann sich des in der Bibel begründeten und im kanonischen Recht bestätigten Asylrechts in der Kommende erfreuen dürfe, das konform sei mit den weltlichen Privilegien des Ordens.43 Bürgermeister und Rat sahen die Sache anders.44 Unter Bezug auf den Jesuiten Paul Laymann (1574-1635) vermutlich griff man auf dessen „Pacis compositio inter principes et ordines imperii romani catholicos atque Augustanae confessioni adhaerentes" (1629) deren Kennzeichen die Übernahme von Polizeiaufgaben durch Soldaten war. Um die Mitte des 18. Jahrhunderts standen etwa 200 Soldaten für diesen Wachdienst zur Verfügung. Zu diesem „Prozeß der Verobrigkeitlichung" vgl. Eibach, Frankfurter Verhöre (wie Anm. 23), S. 79-89 und ders., Provokationen (wie Anm. 39), S. 206. 41 Seit Beginn des 17. Jahrhunderts waren in der Hauptsache weltliche Bedienstete für die Verwaltung der Kommende zuständig. Während der Amtszeit Hörnigks (1698-1712) bildete sich diese Praxis zum System aus. Ein Komtur residierte fortan nur noch selten für längere Zeit in seiner Kommende. Der Bestallungsbrief für Hörnigk (1698) erhielt bei den Bestimmungen, die Rechte der Kommende zu wahren, zum ersten Mal den Zusatz „soweit [sich diese Rechte] nicht gegen die Rechte von Frankfurt oder anderer Herrschaften" richteten. Seiler, Frankfurt (wie Anm. 3), S. 370-383, S. 540f. 42 So im Bericht Hörnigks an die Mergentheimer Deutschordensregierung, 24.10.1698; HHStAW RHR Den. ant. 972. 43 Deutschordensregierung Mergentheim an Bürgermeister und Rat der Stadt Frankfurt, 6.11.1698; HHStAW RHR Den. ant. 972. 44 Bürgermeister und Rat der Stadt Frankfurt an Deutschordensregierung Mergentheim, 15.11.1698; HHStAW RHR Den. ant. 972.
Jörg Seiler
zurück - bestanden die städtischen Behörden darauf, dass das „Jus Canonicum in der Augspurg. Confessions Verwandten Fürsten und Ständten Territoriis nicht weither gültig [sei], als es Gottes Worth conform und recipiret ist". Die kaiserlichen Privilegien seien dem Orden gerne gegönnt, doch besäßen sie selbst von alters her das „Exercitium Juris gladii illimitatum". Es sei bei Mördern, die Asyl in der Kommende beanspruchten, seit 200 Jahren üblich, dass diese notfalls gewaltsam herausgeholt würden, wobei die Stadt jedes Mal bestätige, dadurch nicht die Ordensfreiheiten beeinträchtigt zu haben.45 Für Mörder sei städtischerseits das Asylprivileg niemals gestattet worden. Im Übrigen könne man sich nicht zum Asylprivileg des Ordens äußern, da es der Stadt bislang noch nie insinuiert worden sei. Der Rekurs auf das göttliche Wort und die kaiserlichen Rechte jedoch taugten nichts, da das Asylrecht im Alten Testament gründe und dort angesichts der Gefahr der Blutrache auch nötig war. Dies gehöre allerdings zur „Jüdischen Policey", die mittlerweile ihr Ende genommen habe „und heutigen Tages darumb wohl cessiren mueß, Weilen in keiner wohlbestelten Christi. Republiq einigen particulier den Todt Seiner anverwandten aigenmächtig zu vindiciren vergönnet ist, sondern solches alles authoritate Magistratus publica" verrichtet wird. Es stehe heute „in Eines Christlichen Magistrats Willkühr [...], ob Er denen Kirchen, und geistl. Häußern solche freyheit zugestehen wolle oder nicht". Ein praktisches Problem ergebe sich aus der Tatsache, dass die Kommende kein Gefängnis46 besitze, daher bestünde permanent Fluchtgefahr. Auch von daher habe man eingreifen müssen. Andernfalls würde der Asylanspruch konsequent „eine impunität der Laster einführen [...], und [könnten] Mordt- und Todtschläger bey Unser starckhen Commun desto weniger Verhuetet werden". Und schließlich verwies die Stadt darauf, dass das Asylrecht nicht auf das Haus eines städtischen Beisassen ausgedehnt werden dürfe. Die Ordensregierung gab sich hiermit natürlich nicht zufrieden47 und schaltete den Hochmeister, Franz
Zu dieser Praxis vgl. Seiler, Frankfurt (wie Anm. 3), S. 286f. Insgesamt lassen sich in der Deutschordenskommende 127 Asylfälle zwischen 1392 und 1769 nachweisen. In 17 Fällen ging es um Mord bzw. Totschlag (zwischen 1680 und 1730 nachweislich in sechs Fällen). 77 Mal standen Schulden im Hintergrund, wobei sich Schuldsachen zwischen 1580 und 1629 auffällig häuften (56 Fälle). 1497 wurde erstmals ein Mörder gewaltsam aus der Kommende geholt; zum Gesamtkomplex vgl. Seiler, Frankfurt (wie Anm. 3), S. 257-291. 46 Zum Frankfurter Gefängniswesen vgl. Meinhardt, Strafrecht (wie Anm. 23), S. 68-73. 47 Deutschordensregierung Mergentheim an Bürgermeister und Rat der Stadt Frankfurt, 2.12.1698; HHStAW RHR Den. ant. 972: „also finden auch zumahle unnöthig, uns mit denen Herren in weitere Theses oder schriftlegung einzulasen", da diese sämtliche Rechtsbezüge in der Argumentation des Ordens (Altes Testament, kanonisches Recht, kaiserliche Privilegien) irrig auslegten. Der städtische Bürger, der die beiden Asylbewerber aufgenommen hatte, wurde einige Tage gefangen genommen und musste schließlich die Stadt verlassen; Hörnigk an Deutschordensregierung Mergentheim, 28.10.1698; HHStAW RHR Den. ant. 972. 45
Die Ráchshofratsiprozesse des Deutschen Ordens gegen die Stadt Frankfurt
Ludwig von Pfalz-Neuburg 48 , einen Schwager von Kaiser Leopold I., ein. Im Namen des Hochmeisters überreichte im März 1699 Adam Ignaz Edler von Heunisch, kurtrierischer Geheimer Rat und Resident am Kaiserhof die Klageschrift beim Reichshofrat. Heunisch verwies auf das grundlegende Privileg König Ruprechts vom 19. August 1403, das das Asylrecht bestätigt, jedoch nicht limitiert habe. Nach diesem sei niemandem, so „in ein Teutsches Haus vor seine persohn, oder mit den seinigen, umb schuz, schirm, und freyheit zusuchen, sich begeben und fliehen thut, die geringste gewalt anzuthun [erlaubt], sondern Gottes Ehre, und derselben häuser freyheit gänzlich zuschonen"49. Ruprechts Asylrechtsbestätigung stünde in Übereinstimmung mit den Privilegien von Pius IV., Pius V., Gregor ΧΙΠ., Sixtus V., Gregor XIV. und Clemens VIII., also jener Päpste, die zwischen 1559 und 1605 die katholische Reform vorantrieben. 50 Auch Karl V. (1541)51 und Ferdinand II. (1625) hätten die entsprechende Rechtsposition des Ordens bestätigt. Der gesamte bisherige I 48
Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg (1663-1732) war zu diesem Zeitpunkt Bischof von Breslau (seit 1683), „Obrister Haubtmann des Herzogtums Ober- und Niederschlesien" (seit 1684—1719), Domherr in Köln (1683-1729), Münster (seit 1687), Lüttich (seit 1694) und Mainz (seit 1694; Koadjutorenwahl scheitert 1694), Fürstpropst von Ellwangen (seit 1694) und Fürstbischof von Worms (seit 1694) - als solcher kreisausschreibender Fürst des Oberrheinischen Reichskreises, dem auch Frankfurt angehörte. Trierer Kurfürst wurde er schließlich 1716. Beim einzigen Generalkapitel, das Franz Ludwig abhielt (21.6.-12.7.1700), ging es im wesentlichen auch um die Privilegiensicherung, die an der päpstlichen Kurie, am Kaiserhof und am Madrider Hof vorgenommen werden sollte. Zu seiner Person und den vielfältigen Beziehungen zum Kaiser vgl. Bernhard Demel, Franz Ludwig von Pfalz-Neuburg als Hoch- und Deutschmeister (1694—1732) und Bischof von Breslau (1683-1732), in: Jahrbuch der schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 36/37,1995/96, S. 93-150. 49 Heunisch an Reichshofrat, praes. 10.3.1699; HHStAW RHR Den. ant. 972. Das Diplom König Ruprechts befindet sich in DOZA Uk 1403 August 19; gedruckt bei Hermann Schmid, Das Asylrecht der Deutschherren und ihres Hauses in Freiburg, in: ZGO 133, 1985, S. 179-207, hier: S. 195f. 50 Wichtig waren die Privilegienbestätigungen durch Pius V. am 13.3.1568 und durch Gregor XIII. am 3.5.1578, mit denen de facto für den Deutschen Orden die für die exemten Orden ungünstigen Bestimmungen des Konzils von Trient aufgehoben wurden. Vgl. hierzu Bernhard Demel, Das Verhältnis des Deutschen Ordens zu den Päpsten und zur römischen Kurie vom 16. bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts, in: Bernhard Demel, Der Deutsche Orden einst und jetzt. Aufsätze aus seiner mehr als 800jährigen Geschichte (EHS ΙΠ, Bd. 848), hg. v. Friedrich Vogel. Frankfurt u.a. 1999, S. 212-302, besonders S. 244—248. Über den Orden im 16. Jahrhundert und die Hintergründe für sein Desinteresse an Trient vgl. Jörg Seiler, „[...], daß der Teutsch Orden noch nit erloschen [...],". Strukturelle Wandlungen des Deutschen Ordens im Reich im Gefolge der Reformation, in: Hans Mol/Klaus Militzer/Helen Nicholson (Hg.), The Military Orders and the Reformation (Bijdragen tot de geschiedenis van de Balije Utrecht van de Ridderlijke Duitsche Orde 3), Hilversum 2006, S. 139-144, S. 161-189. 51 Am 17.7.1530 hatte Karl V. das Privilegium Rupertinum von 1403 erneuert. Es wurde auf dem Reichstag von Regensburg 1541 bestätigt. Die Generalkonfirmation der Ordensrechte vom 1.9.1530 hob darüber hinaus alle fixierten Privilegienbestätigungen auf, die diesen Freiheiten entgegenstanden. Vgl. Herrmann, Cronberg (wie Anm. 14), S. 244. Dennoch offenbarte gerade der Reichstag von 1541 das Scheitern der Rekuperationsversuche des Ordens auf das preußische Ordensland, was zu einer Distanzierung zum Reichsoberhaupt führte; hierzu insgesamt: ebd., S. 126-132.
Jörg Seiler
Briefwechsel wurde in Abschrift dem Schreiben an den Reichshofrat beigelegt. Der Kaiser möge feststellen, dass die Stadt gegen die Privilegien des Ordens verstoßen habe und bestraft werden müsse. Frankfurt solle angewiesen werden, „von dergleichen verkleinerlichen abbruch, und beschimpfung und des hohen ordens Immunitet, privilegien, unndt freyheiten höchst praeiudicirlich abziehlenden Vergewaltigungen und ärgerlichen attentaten sich fürohin gänzlich zu enthalten".52 Im Namen des Kaisers erging am 16. März 1699 das erwünschte „Mandatum inhibitorium de non turbando in immunitatibus Ecclesiasticis et in specie exercitio iuris asyli poenale".53 Künftig solle sich die Stadt, so das kaiserliche Mandat, bei Androhimg einer Geldstrafe von 30 Mark Gold, der Eingriffe in das Asylrecht des Ordens gänzlich enthalten. Dem Ordensanwalt ging dies nicht weit genug, da zwar eine Strafandrohung pro futuro ausgesprochen, jedoch kein Strafmaß für den bereits begangenen Übergriff festgelegt worden sei. Den entsprechenden Protest wies der Reichshofrat zunächst ab.54 Nun intervenierte der Hochmeister persönlich und bat um die Zitation der Stadt vor dem Reichshofrat, zumal der Deutsche Orden Gefahr laufe, „weitershin und von mehr anderen besonders aber ab Acatholicis [in seinen Privilegien] getrübet und unterdrücket zu werden". Daraufhin zitierte der Reichshofrat die Stadt Frankfurt binnen einer Zweimonatsfrist vor den kaiserlichen Hof. Sie sei nach Ausweis alter Urkunden zur Zahlung von 100 Mark Gold verpflichtet oder könne zur Rechtsklärimg eine Gegenschrift einreichen.55 Die Stadt wehrte sich gegen das ergangene Reichshofratsmandat und die drohende Zitation. Sie fertigte über ihren Syndicus Fabricius56 eine umfangreiche Rechtfertigungsschrift an, in der sie die Argumente, die sie bereits gegenüber dem Orden vorgebracht hatte, wiederholte. Es sind dies im Einzelnen: Die angeführten Originaldokumente seien der Stadt nie ordnungsgemäß insinuiert worden; der Grund und Boden der Kommende sei einst Bürgerbesitz gewesen und die Komture und Ordensritter selbst hätten sich nie geschämt, den Bürgerrechtsstatus anzuerkennen, woraus ein Visitationsrecht abzuleiten sei; die bisherige Praxis, Mörder aus der Kommende zu holen mit der Bestätigung, dadurch nicht deren Rechte prinzipiell verletzt zu haben, habe sich bewährt;
Heimisch an Reichshofrat, praes. 10. März 1699; HHStAW RHR Den. ant. 972. Die Ausfertigung des Mandats wurde auf dem Schreiben Heunischs vermerkt; ein Konzept liegt den Akten bei; HHStAW RHR Den. ant. 972. 54 Heunisch an Reichshofrat, praes. 7. April 1699 mit Rückvermerk: „Man lasses bey vorigem conclus nochmahls bewenden"; HHStAW RHR Den. ant. 972. 5 5 Hochmeister an Kaiser, praes. 18.5.1699; Reichshofrat an Bürgermeister und Rat der Stadt Frankfurt, 26.6.1699; HHStAW RHR Den. ant. 972. Zur Zitation vgl. Sellert, Prozeßgrundsätze (wie Anm. 16), S. 173-175, S. 216-219. 56 Er begegnet in HHStAW Ant. 9 6 2 / 3 als Franz Fabricius bzw. Georg Fabricius. Ein Syndicus dieses Namens lässt sich jedoch in der städtischen Überlieferung nicht nachweisen; vgl. Dölemeyer, Frankfurter Juristen (wie Anm. 29), S. 394-396. Auch eine Überprüfung der Bestände „Dienstbriefe" und „Ratswahlen und Amterbestellungen" blieb erfolglos (freundliche Mitteilung von Dr. Michael Matthäus, Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, 2.2.2006). 52
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Die Rtíchshofratsprozesse des Deutschen Ordens gegen die Stadt Frankfurt
die Kommende besitze kein Gefängnis und keine Strafgewalt bei Kapitalverbrechen, so dass Delinquenten nicht sicher verwahrt oder bestraft werden könnten - ohne Bestrafung könne eine Stadt wie Frankfurt aber nicht regiert werden; die beiden Flüchtigen seien eindeutig tatverdächtig; das Haus, in das die beiden geflohen waren, befinde sich zwar in Ordensbesitz, liege jedoch auf städtischem Grund und sei zuvor ein bürgerliches Haus gewesen, das derzeit auch von einem städtischen Bürger bewohnt sei, der unrechtmäßigerweise die Täter durch die Tür zur gemeinen Gasse hin eingelassen habe; durch die Fluchthilfe des Deutschen Ordens habe der peinliche Prozess nicht ausgeführt werden können; das Privileg von 1403 weise nicht eindeutig nach, dass es sich auch auf Mörder erstrecke; solche Privilegien würden niemals auf Totschläger angewandt, weswegen die Stadt Mörder immer aus der Kommende geholt und dann gerichtet hätte. Diese Praxis und die Dokumente zur Untermauerung der eigenen Argumente wurden anschließend in umfangreichen Beilagen dem Schreiben beigelegt. Die zusätzlich beigegebenen Zeugenaussagen und das medizinische Untersuchungsprotokoll erhellen den genauen Tathergang. Darüber hinaus werden minutiös die vergleichbaren Asylfälle der vergangenen Jahrhunderte und deren Regelung beschrieben und ein letztes Mal unter Berufung auf das kirchliche und weltliche Recht festgestellt, dass Mörder keinerlei Asylanspruch geltend machen könnten. Angesichts der rechtswidrig geleisteten Fluchthilfe möge der Kaiser den Orden zur Rechenschaft ziehen. Zu all diesen Ausführungen nahm der Orden im Juni 1700 in einer umfangreichen Replik - die Frist zu deren Einreichung wurde dreimal vom Reichshofrat verlängert57 - Stellung. Die Gründung der Kommende durch die Münzenberger in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts widerspreche der städtischen Vorstellung eines aus dem Bürgerstatus sich ergebenden Aufsichtsrechts, zumal die Stadt in einem Schreiben vom 3.4.1687 der Kommende ausdrücklich die „ordentliche Jurisdiction" bestätigt habe.58 Neben einer minutiösen Analyse der bisherigen Asylpraxis, die man selbstredend anders interpretierte als die Stadt, bemerkte der Ordensanwalt, dass das Fehlen eines Gefängnisses ebenso wenig wie der eindeutige Tatverdacht mit der konkreten Privilegienverletzung in Zusammenhang zu bringen sei. Auch ließ man die anderen Argumente nicht gelten. Der Kaiser möge nun endlich die Strafe verhängen, da es im kaiserlichen Interesse liegen müsse, „daß dero allerhöchst venerirliche kayl. Privilegia rein, und illibat erhalten, und gegen die infractores et turbatores mit der darinn ausgetruckten straf exemplariter, und ernstlich verfahren, auch von dero kayl. Fiscalambt, umb seines dabey versirenden interesse willen darauf stricte beharret, und hierinnfalls dem beleydigten Teutschen
Zum Problem der Prozessverschleppung aufgrund von Fristverlängerungen - es wurden seit dem Jüngsten Reichsabschied von 1654 höchstens drei gewährt - s. Sellert, Prozeßgrundsätze (wie Anm. 16), S. 153f. 58 Heimisch an Reichshofrat, praes. 18.6.1700; HHStAW RHR Den. ant. 972. 57
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orden ex officio und der gebühr nach kräfftiglich assistieret".59 Die Stadt Frankfurt nutzte ihr Recht, als Beklagte eine letzte Stellungnahme zu den Argumenten des Ordens abzugeben. In dieser Stellungnahme betonte der Rat ein letztes Mal, dass die Deutschordenskommende auf ehemals bürgerlichem Grund stünde und die Komture sich als Mitbürger auch der städtischen Obrigkeit unterwerfen müssten, es sei denn, die Kommende könne rechtsverbindlich das Gegenteil beweisen. Dies sei bislang nicht geschehen. Von daher erstrecke sich das städtische Recht, Mörder zu verfolgen und abzuführen, auch auf die Kommende. In einem anachronistisch - abenteuerlichen Analogieschluss argumentierte die Stadt, dass es auch im 13. Jahrhundert nicht ungewöhnlich gewesen sei, dass ehemaliger Reichsbesitz, der veräußert würde, unter der „Land Obrigkeit" der entsprechenden Reichsstände gestanden habe.60 Auch in diesem Fall blieb die Angelegenheit über zwei Jahre lang unverhandelt, bis Anfang Dezember 1702 unter Anwesenheit der gegnerischen Anwälte die Schließung der Akten erfolgte.61 Aufgrund einer weiteren Intervention des Ordens im Juli 1703 erfolgte die Relation im Plenum des Reichshofrats, der am 7. August 1703 sein (salomonisches) Urteil fällte: Die Stadt wurde aufgefordert, dem kaiserlichen Mandat von 1699 Folge zu leisten und dies in einem notariellen Instrument vor dem Reichshofrat nachzuweisen. Am 30.10.1703 verlas ein Notar vor zwei Zeugen und dem Verwalter der Kommende das kaiserliche Mandat, das Urteil des Reichshofrats und die Zusicherung der Stadt, „daß wie Wir wohlerwehnten orden weder in denen immunitatibus Ecclesiasticis, noch dem Jure Asyli, soweit derselbe solche besitzlich hergebracht, zu turbiren Jemahls gemeint geweßen, alßo Er sich auch ins künftig Von Vnß dergleichen nicht zubefahren haben sollte".62 Der Orden musste sich mit dieser Erklärimg zufrieden geben, obgleich sie weiterhin die einschränkende Klausel betreffend des Umfangs des Asylrechts enthielt. Nicht nur in Frankfurt, auch am Kaiserhof war man nicht bereit, dem Orden ein imbeschränktes Asylrecht zuzugestehen. Ein solches wäre anachronistisch gewesen und hätte weder weltlichem noch geistlichem Recht entsprochen. 5. Reichshofratsprozess 1684-1686: Besteuerung des Hofmannes zu Bornheim Der städtische Syndicus Franz (bzw. Georg?) Fabricius, der beim zweiten Asylprozess die Stadt vor dem Reichshofrat vertreten hatte, war bereits zwischen 1684 und 1686 als städtischer Anwalt vor dem Reichshofrat tätig gewesen. Der Orden hatte im November 1684 eine Klageschrift einge-
Heunisch an Reichshofrat, praes. 18.6.1700; HHStAW RHR Den. ant. 972. Zum Reichshoffiskal vgl. Gernot Peter Obersteiner, Das Reichshoffiskalat 1596 bis 1806. Bausteine zu seiner Geschichte aus Wiener Archiven, in: Reichspersonal (wie Anm. 26), S. 89-164. 60 Fabricius an Reichshofrat, praes. 19.7.1700; HHStAW RHR Den. ant. 972. 61 Dies ergibt sich aus einem Vermerk auf einem Schreiben des Deutschordensanwaltes Heimisch an den Reichshofrat, praes. 29.11.1702; HHStAW RHR Den. ant. 972. 62 Fabricius an Reichshofrat, praes. 3.12.1703; HHStAW RHR Den. ant. 972. 59
Die Reichshofratsprozesse des Deutschen Ordens gegen die Stadt Frankfurt reicht, um ein Urteil gegen die Einquartierungen und Besteuerungen zu erwirken, die der Deutschordenshofmann Nielas Heylmann in Bornheim seit Jahren zu erdulden hatte.63 Dies widerspreche der kaiserlichen Steuerbefreiung von 1221 und den Bestimmungen des Vertrags von 1291, der den Ordensbesitz zum Zeitpunkt des Vertragsabschlusses für steuerfrei erklärte (hierunter fiel auch der Besitz in Bornheim, der zum Großteil bereits 1222/1282 an die Kommende gekommen war). 64 Eskaliert war der Konflikt, da der Hofmann und seine Mutter sich neuerdings geweigert hatten, entsprechende Zahlungen zu leisten. Die Gemeinde Bornheim hatte daraufhin zwei Ochsen gepfändet. Beim Reichshofrat erwirkte der Orden ein „Mandatum de relaxandis arrestis et restituendis et de non amplius turbando sive de non contraveniendo vero privilegiis et pactis". 65 Die Exzeptionen der Stadt hielten zunächst fest, dass die Gemeinde Bornheim und nicht die Stadt Frankfurt die Pfändimg zu verantworten habe. Es sei allerdings üblich, dass sich jeder an den gemeinen Lasten (Hirten- und Feldschützenlohn, Straßenbau, Unterhalt von Brunnen und Backhäusern etc.) - gemeint sind also nicht Bede, Atzung oder Frondienste - zu beteiligen habe. Dies habe der Vater des jetzigen Pächters so auch gehandhabt. Zudem sei nicht Deutschordenseigentum, sondern der Eigenbesitz des Pächters, zu dem auch die Überbesserung aus den Hofgütern gezählt wurde, gepfändet worden. Darüber hinaus bemängelte man einen Verfahrensfehler: Da der Rat der Stadt Frankfurt, angerufen durch die Mutter des jetzigen Pächters, I
63 Archivalische Überlieferung befindet sich in: HHStAW RHR Ant. 962/3. Für die auswärtigen Kastnereien (Alzey/Weinheim, Friedberg, Gelnhausen, Kloppenheim, Wöllstadt, Ober-Mörlen und Weilbach) und Höfe (Sand-, Wild- und Seehof, Hohenradmühle, Mühle zu Münster, Ordenshöfe zu Bornheim und Zeilsheim) beanspruchte der Orden die Immunität. Vgl. hierzu neben den allgemeinen Ordensprivilegien auch entsprechende Vermerke bei der Visitation der Kommende im Jahre 1743: Staatsarchiv Ludwigsburg Β 324 Bd. 47,1104, 1111,1215. In Bornheim lagen neben großen Ackerbauflächen auch ertragreiche Weingärten der Kommende. Vgl. Seiler, Frankfurt (wie Anm. 3), S. 321f., S. 347-351, S. 576. 64 Johann Friedrich Böhmer (Hg.), Codex diplomaticus Moenofrancofurtanus. Urkundenbuch der Reichsstadt Frankfurt, Bd. 1, neu bearbeitet von Friedrich Lau, Frankfurt 1901, Nr. 57 (1222 Mai; Übertragung durch Elisabeth von Hagen), Nr. 458 (1282 April 11; Schiedsspruch des Mainzer geistlichen Gerichts mit dem Verzicht der Herren von Heusenstamm; vgl. Nr. 451 [1281 Dezember 3]), Nr. 602 (1291 August 2; Vertrag zwischen Kommende und Stadt Frankfurt). Regest der Urkunde vom April 1221 bei Eduard Gaston Pöttickh Graf von Pettenegg, Die Urkunden des Deutsch-Ordens-Centralarchives zu Wien in Regestenform, Prag/Leipzig 1887, Nr. 65. Über die hier in Tarent ausgestellten Urkunden des Kaisers für den Deutschen Orden und ihren Zusammenhang mit der päpstlichen Privilegierung zwischen Dezember 1220 und März 1221 vgl. Helmuth Kluger, Hochmeister Hermann von Salza und Kaiser Friedrich II. Ein Beitrag zur Frühgeschichte des Deutschen Ordens (Quellen und Studien zur Geschichte des Deutschen Ordens, Bd. 37), Marburg 1987, S. 20-30. Zu den Bestimmungen von 1291 vgl. Seiler, Frankfurt (wie Anm. 3), S. 231-233 und speziell zum Amortisationsgrundsatz auch: Felicitas Schmieder, „[...], von etlichen geistlichen leyen wegen". Definitionen der Bürgerschaft im spätmittelalterlichen Frankfurt am Main, in: Jahrbuch des Historischen Kollegs 1999, München 2000, S. 131-165, hier: S. 155f. 65 Gegen dieses Mandat vom 29.11.1684 konnte binnen zweier Monate Einspruch erhoben werden; HHStAW RHR Ant. 962/3.
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in dieser Sache bereits entschieden habe, so hätte es dem Hofmann zugestanden, sein Recht „per ordinarium remedium appellationis zu suchen, und nicht recta ad summum hoc Tribunal zu gehen". Und schließlich wurde die Rechtspraxis bemüht: Bereits in den Verträgen zwischen der Kommende und der Stadt Frankfurt von 1610 und 1668 sei diese Praxis strittig gewesen, in der Folgezeit jedoch nie gerichtlich anhängig gemacht worden.66 Im Oktober 1685 reichten beide Anwälte - der Orden wurde durch Johann Dummer vertreten Generalvollmachten zur Besorgung der Rechtssache beim Reichshofrat ein. Dummer hatte zeitgleich die städtischen Argumente in umfangreichen Remonstrationes für unerheblich erklärt. Er betonte, dass es sich beim Pfändungsobjekt um Ordens- und nicht um Privatbesitz gehandelt habe. Die Bäuerin habe nie direkt bei der Stadt Klage erhoben, sondern sämtliche Rechtsgeschäfte über den Orden laufen lassen, dessen Rechte ja auch beeinträchtigt worden seien. Zur Zahlung eines Beitrags zu den gemeinen Lasten sei die Bäuerin bereit, doch müsse ihr der gepfändete Besitz erstattet werden. Ordensgüter seien aufgrund der alten Privilegien von jeder Abgabenlast befreit. Und wenn der Orden in Ausnahmefällen dennoch Beiträge geleistet oder diese zu leisten zugelassen habe, so sei dies, wie im Kontext der Verträge von 1610 und 1668, „auß liebe und freundschafft, keines weges aber auß schuldigkeitt" geschehen.67 Die Akten wurden Ende Oktober 1686 offiziell geschlossen. Ein Urteilsspruch ist nicht überliefert. Im Unterschied zu den beiden Asylprozessen spielten hier Vertragsrecht und die bisherige Rechtspraxis eine bedeutende Rolle. Die beiden Grundlagenverträge von 1610 und 1668 hatten dauerhaft das Verhältnis beider Institutionen zueinander im 17. Jahrhundert geregelt.68 Sie sind weitaus umfassender und grundsätzlicher als die häufigeren Abmachungen, die im 15. und im 16. Jahrhundert - mit jeweils vier Verträgen - getroffen wurden. Interessant ist das pragmatische Vorgehen, das man 1610 an den Tag legte. Streitpunkte, über die man sich nicht einigen konnte, wurden zwar schriftlich festgehalten, ihre Klärung jedoch auf später verlegt. Dies betraf
Syndicus Fabricius an Reichshofrat, o. D. (vermutlich April 1685); HHStAW RHR Ant. 962/3. 67 Deutschordensanwalt Dummer an Reichshofrat, (Anfang Oktober 1685); HHStAW RHR Ant. 962/3. 68 Benutzt wurden die Ausfertigungen des Vertrags vom 28.4./8.5.1610 in DOZA Merg 310/7 und des Vertrags vom 29./19.8.1668 in DOZA Merg 310/5. Zu den Verträgen zwischen der Stadt Frankfurt und der Kommende zwischen 1291 und 1775 vgl. Seiler, Frankfurt (wie Anm. 3), S. 230-253. Lediglich aus dem Jahre 1663 datiert ein kurzer Vergleich zwischen der Kommende und der Stadt betreffend die Abholzung von Erlen beim Sandhof; DOZA Merg 310/6.1610 brachte die Stadt 21 Beschwerden, der Orden 13 Klagepunkte vor. 1668 waren es städtischerseits neun, seitens des Ordens 16 strittige Verhandlungsgegenstände. Das Vertragswerk von 1610 wurde neben Hieronymus Augustus zum Jungen (1570-1630), Hieronymus Augustus von Holzhausen d. J. (15711624), Achilles von Heynsberg, Christoph Schwerdt und Caspar Schacher auch von Philipp Rücker besiegelt, der bereits bei der Kommissionsarbeit von 1594 begegnete. Biographische Nachweise zu den Genannten teilweise bei Kömer/Hansert, Frankfurter Patrizier (wie Anm. 29) und Dölemeyer, Frankfurter Juristen (wie Anm. 29). 66
Die Reichshofratsprozesse
des Deutschen Ordens gegen die Stadt Frankfurt
auch die hier strittige Besteuerung des Hofmanns in Bomheim (Punkt 8 der Ordensbeschwerden). Während der Orden - wie auch im Reichshofrats verfahren - auf seine 1291 fixierte Steuerfreiheit verwies, betonte die Stadt die gängige Rechtspraxis, nach der auch andere Herrschaften zur Begleichung allgemeiner Auslagen herangezogen würden. „Von Ordens wegen aber hinwiderumb replicirt, daß zwischen des Ordens und anderer Herrschaften Hoffleuth mit dergleichen Bestandt ein Unterschied zumachen: Ist dieser puncth uff ferner relation und Berathschlagung verschoben." 69 Die Stadt nutzte die Vertagung. In ihrer Argumentation vor dem Reichshofrat verwies sie dezidiert darauf, dass der Orden sich kaum über die Verletzung seiner Freiheiten beschweren könne, da die zur Diskussion stehenden Abgaben seit 1610 geleistet worden waren und auch durch den Vertrag von 1668 (Punkt 5 der Ordensbeschwerden) nicht beseitigt wurden. In den Beilagen für den Reichshofrat weist der städtische Anwalt durch Abschriften aus den Bürgermeisterrechnungen und aus Hebezetteln und -registern tatsächlich die entsprechende Praxis für die letzten Jahrzehnte nach, was sich auch durch verschiedene Zeugenaussagen bestätigt fand.70 6. „Reichshofratsprozess" 1757 Völlig anders gelagert war der Rechtsstreit, der 1757 vor dem Reichshofrat geklärt werden sollte. In ihrem Conclusum vom 11.10.1757 hielten die Richter fest: „Hat das gebettene Mandatimi nicht statt. Wan aber das implorantischen Teutschen Ordens dasiges haus sonsten in seinen Immunitäten, Exemptionen, Rechten und Freyheit, auch erlangten kayl. Privilegien in einiger arth mit würcklicher That sollte gedranket oder beschweret werden, so ergehet alßdan fernere kayl. Entschliesung."71 Damit wurde der Streitfall erst gar nicht zu einer weiteren gerichtlichen Untersuchung zugelassen. Die Frankfurter Kommende war mit ihrem Ansinnen ein erstes Mal vor dem Reichshofrat gescheitert. Folgt man dem Wortlaut des Conclusum, so handelte es sich bei den vermeintlichen Übergriffen der Stadt Frankfurt, die der Orden zur Anklage bringen wollte, nicht um eine „würckliche That". Was war geschehen? Am 7. Oktober 1756 hatte der Hochmeister Clemens August von Bayern (1732-1761) dem Frankfurter Bürger Johann Philipp Seckehagen eine Lotterie, die er zuvor in Offenbach gehabt hatte, im Deutschordenshaus durchzuführen erlaubt. Hiergegen verwahrte sich der Magistrat mit dem Hinweis, das Recht, Lotterien zu privilegieren, gehöre „unstrittig ad Regalia undt ad Superioritatem territorialem", also in den Zuständigkeitsbereich des Magistrats, und keineswegs in jenen des Deutschen
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Vertrag 1610, Ordensbeschwerden Nr. 8; DOZA Merg 310/7. Syndicus Fabricius an Reichshofrat, o. D. (vermutlich April 1685); HHStAW RHR Ant. 962/3. 71 Conclusum als handschriftlicher Vermerk auf der Klageschrift des Ordens gegen den Rat der Stadt Frankfurt, praes. 29.8.1757; HHStAW RHR Denegata recentiora (Den. ree.) 1327/1. 70
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Ordens. Die Stadt verwies hierbei auf eine Policeyordnung von 1747, durch welche alle fremden, nicht privilegierten Lotterien im Stadtgebiet verboten wurden.72 Dieses Verbot ist bezeichnend für die Monopolisierung des Lotteriespiels im 18. Jahrhundert, die wohl aus finanziellem Interesse der jeweiligen Landesherrschaften ebenso herrührte wie aus sittlich-religiösen Motiven („Bekämpfung der Laster") oder solchen sittlich-ökonomischer Rationalität (Vermögensverschwendung, Arbeitsethos).73 Der Orden argumentierte nach dem bereits bekannten Muster. Er beklagte, dass das Verbot der Lotterie (verbunden mit der Drohung der Stadt an Seckehagen, im Weigerungsfall das Bürgerrecht zu verlieren) den immediaten Status der Kommende in Frage gestellt und die Stadt dadurch gleichsam die Landeshoheit über dieselbe beansprucht habe. Hiergegen verwies der Orden auf die kaiserlichen Privilegien durch Otto IV. und Friedrich II., die ihn von jeder fremden Gewalt befreit hätten. Der Hochmeister sei mit seinen Besitztiteln unmittelbarer Reichsfürst. Darüber hinaus sei im Vertrag von 1610 die Austragung von „Glückshäfen" zugestanden worden.74 Gegenüber dem Reichshofrat wurde auf die Verträge von 1543, 1595 und 1668 verwiesen, um städtische Entschuldigungen für (vermeintliche) Übergriffe der Stadt gegen die Rechte des Ordens oder Bestätigungen durch die Stadtbehörden über den immediaten Status der Kommende zu belegen. Vor dem Reichsgericht sollte das Bild einer in ihrem Rechtsstatus nie geschmälerten Institution entstehen. Die Privilegien des Ordens und Reaktionen auf
Magistrat der Stadt Frankfurt an Deutschordensregierung Mergentheim, 3.11.1756; HHStAW RHR Den. ree. 1327/1. Die erwähnte Verordnung wurde am 20.6.1747 erlassen; Repertorium der Policeyordnungen: Frankfurt am Main (wie Anm. 2), Nr. 3333. Das Verbot auswärtiger Lotterien wurde 1768 (ebd., Nr. 3803), 1772 (ebd., Nr. 3884), 1779 (ebd., Nr. 4083) und 1791 (ebd., Nr. 4484) erneuert. Das generelle Lotterieverbot von 1780 (ebd., Nr. 4114), 1789 (ebd., 4373) und 1790 (ebd., 4466) war dauerhaft nicht durchsetzbar. Zum Lotteriespiel und seiner Abgrenzung zu den so genannten „Glückshäfen" in Deutschland vgl. Helma Houtman-de Smedet, Nord-West Europe under the Spell of Lotteries in the Eighteenth and Ninteenth Centuries, in: Homo ludens 7,1997, S. 89-99, hier: S. 86-94 und Harry Kiihnel, Der Glückshafen. Zur kollektiven Festkultur des Spätmittelalters und der frühen Neuzeit, in: Jahrbuch für Landeskunde von Niederösterreich I NF. 62,1996, S. 319-343. 73 Die Kategorisierung wurde übernommen aus: Josef Pauser, „Verspilen/ist kein Spil/noch Scherz". Geldspiel und Policey in den österreichischen Ländern der Frühen Neuzeit, in: Karl Härter (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft. (Studien zur Europäischen Rechtsgeschichte, Bd. 129), Frankfurt 2000, S. 179-233, hier: S. 217-227. Als Beleg für die Monopolisierung mag die Häufigkeit gelten, mit der v.a. seit Mitte des 18. Jahrhunderts die Lotterien Gegenstand von Policeyordnungen ist. Vgl. hierzu die bislang sieben Bände des von Karl Härter und Michael Stolleis herausgegebenen „Repertorium der Policeyordnungen der frühen Neuzeit", Frankfurt 1996-2006. 74 Hochmeister an Deutschordensregierung Mergentheim, 14.11.1756; HHStAW RHR Den. ree. 1327/1. Die Bestimmung von 1610 (Punkt 10 der städtischen Beschwerden) lautet: „[...] ein Erbar Rath zu Franckfurt sich dahin erclären lassen, dergleichen Glückkäffner in Ihrer Statt nit mehr zu dulden, Ist von wegen des Ritterlichen Teutschen Ordens, doch derselben Freyheit unbegeben, ingewilliget, ein solches in des Ordens Behausung zu Sachsenhaussen gleicher massen zu thun und hiermit nachbarliche Correspondentz hin und wider zuhalten"; DOZA Merg 310/7. 72
Die Reichshofratsprozesse des Deutschen Ordens gegen die Stadt Frankfurt
frühere Vorfälle standen für die Stadt im vorliegenden Fall jedoch gar nicht zur Debatte. Es ging ihr zunächst um die richtige Interpretation des Vertrags von 1610. Hierbei bestand der Magistrat in seinem Schreiben an die Mergentheimer Ordensregierung vom 7. Dezember 1756 auf der Deutung, wonach der damals verwendete Begriff „Glückshafen" gar nicht auf eine „so importante Lotterie", wie jener Seckehagens, anzuwenden sei. Im Übrigen sei, so die weitere Argumentation, die Genehmigung kleiner Glückshäfen in der Kommende von Zeit zu Zeit deswegen erteilt worden, weil man sich an den Vertrag von 1610 nicht mehr erinnere. Zukünftig seien solche jedoch kategorisch verboten.75 Auf die Ebene einer Auseinandersetzung um Ordensprivilegien wollte der Reichshofrat die Sache nicht gehoben sehen. Insofern sah er im vorliegenden Fall keine nachweisbare Beeinträchtigung der Ordensprivilegien. Möglicherweise hing dies auch mit dem Rechtsstatus von Seckehagen zusammen. Da er der eigentlich Geschädigte war, hätte er gegebenenfalls persönlich eine gerichtliche Klärung anstrengen müssen, die ihn dann jedoch zunächst vor das Frankfurter Stadtgericht geführt hätte. Der Entscheid aus Wien ist jedoch auch ein spätes Zeugnis für die grundsätzliche Dignität, die dem privilegierten Rechtsstatus des Deutschen Ordens und seiner Frankfurter Kommende zukam. Wäre hiergegen offensichtlich verstoßen worden, hätte der Orden beim Kaiser und seinem Reichshofrat Schutz suchen können und diesen wohl auch erhalten. Im konkreten Fall blieben die Gestaltungsspielräume der Stadt, im Rahmen etwa von Policeyordnungen das Alltagsleben zu normieren und zu kontrollieren, gewahrt. Auf eine Diskussion um die Abwägung der Rechtskraft von solchen Verordnungen und dem privilegierten Sonderstatus einer geistlichen Gemeinschaft ließ sich der Reichshofrat nicht ein. 7 . E r g e b n i s s e 1. Die Privilegien des Ordens behielten ungeachtet ihrer politischen Umsetzbarkeit bis zum Ende des Alten Reichs ihre rechtliche Relevanz. Insofern blieben auf dem Frankfurter Stadtgebiet territoriale Einheiten mit entsprechendem Sonderrecht - als nichts anders musste je länger je mehr der Rechtsstatus einer exemten geistlichen Gemeinschaft aufgefasst werden erhalten. 2. Die Sicherstellung seiner Privilegien war für den Deutschen Orden eine Aufgabe von höchster Priorität. Schließlich waren solche Traditionsbezüge und Rechtfertigungsmodelle eingebunden in den neuzeitlichen SelbstbegrünMagistrat der Stadt Frankfurt an Deutschordensregierung Mergentheim, 7.12.1756; HHStAW RHR Den. ree. 1327/1. Wie ungewiss den Ordensbrüdern im 18. Jahrhundert die Gründungsphase der Frankfurter Kommende war, aus der heraus die Unabhängigkeit vom stadtfrankfurtischen Rechten zu erhellen gewesen wäre, erweist der Rekurs auf Verzichtserklärungen der Münzenberger Erben von 1253/55 (Urkundenbuch Frankfurt Bd. 1 [wie Anm. 64], Nr. 176 und 191) und auf eine Schenkung von 1276 Mai 30 (Urkundenbuch Frankfurt Bd. 1 [wie Anm. 64], Nr. 366) und nicht auf die komplizierten Gründungsvorgänge und Dokumente der Jahre 1219-1221. Diese sind analysiert bei Seiler, Frankfurt (wie Anm. 3), S. 14-26. 75
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dungskomplex der auf ein personelles Minimum geschrumpften Gemeinschaft. Der Orden existierte in der Neuzeit schließlich eher als politisches Traditionsunternehmen denn als geistliche (Lebens-) Gemeinschaft. Konfliktfälle mit den städtischen Behörden, so wenig sie gesucht wurden, boten von daher die Möglichkeit, diese Tradition zu verlebendigen, indem der Orden beharrlich auf der Gültigkeit von Privilegien und Sonderrechten bestand. Die dadurch vollzogene Abgrenzung des eigenen Rechtsbereichs wurde durchlässig gemacht durch ein ergänzendes, pragmatisch gestaltetes Vertragswerk zwischen beiden Institutionen, in dem das alltägliche Miteinander auf einen tragfähigen Grund gestellt wurde.76 3. Im Konflikt mit nebengeordneten Rechtsansprüchen, etwa solchen der Reichsstadt Frankfurt, konnten Sonderrechte jedoch nur pragmatisch gehandhabt werden. Hier liegt der politische Handlungsspielraum der Stadt begründet, den diese meisterhaft zu nutzen verstand (das Asylrecht der Kommende galt weiterhin eben nur, „soweit es sich eben erstreckte" - eine Festlegung hierüber musste nicht getroffen werden). 4. Dieser Pragmatismus ermöglichte der Stadt jedoch nicht, eine vollständige (umfassende und einzige) Eigengesetzlichkeit in ihrem Territorialbereich durchzusetzen. Der Bürgerstatus der Deutschordenskommende bedeutete nicht deren Einbindung in das städtische Rechtssystem. Landesherrliche Ansprüche konnten als unzulässige Übergriffe abgewehrt werden. Hier schufen erst Säkularisierung und Säkularisation seit Ende des 18. Jahrhunderts einen Wandel. Dass diesem Wandel in gewissem Sinn der Orden ebenso wie das Alte Reich zum Opfer fiel, verweist auf ähnliche traditionale Begründungskontexte, denen beide ihre Existenz verdankten. 5. Diese traditionsgebundene Nähe und Bindung an das Reich korrelierte mit einem politisch sicheren Instinkt der Ordensoberen und ihrer Mergentheimer Zentralregierung, die unter Berücksichtigung der Zuständigkeitsabgrenzungen möglicherweise den Schutz der Ordensprivilegien in höherem Maß durch den Reichshofrat gesichert sehen konnten als durch das Reichskammergericht. Vor dem Reichskammergericht ging es dem Orden um konkrete hoheitliche Rechte und Fragen der Jurisdiktion. Vor dem Reichshofrat standen in stärkerem Maße die Privilegien generell zur Disposition. Die enorme Prozesstätigkeit des Ordens vor dem Reichskammergericht bis in die ersten Jahrzehnte des 17. Jahrhunderts hinein mahnt zur Zurückhaltung gegenüber dem Argument der größeren Reichs- und Kaisernähe, die der Orden beim Reichshofrat zu nutzen versucht hätte. Allerdings erlaubten erst weitere Forschungen über Gegenstände und zeitliche Verteilung der Prozesse vor dem Reichshofrat eine gültige Wertung dieser Frage. Aus städtischer Perspektive vgl. etwa Rainer Koch, Lebens- und Rechtsgemeinschaften in der traditionalen bürgerlichen Gesellschaft: Frankfurt am Main um 1800, in: Christoph Jamme/Otto Pöggeler (Hg.), „Frankfurt aber ist der Nabel dieser Erde". Das Schicksal einer Generation der Goethezeit, Stuttgart 1983, S. 21-41. 76
Die Reichshofratsprozesse des Deutschen Ordens gegen die Stadt Frankfurt
6. Der jeweils eigene Rechtsanspruch wurde seitens des Ordens zunächst immer grundsätzlich mit dem privilegierten Status als höchster Rechtsnorm, idealtypisch ablesbar an den Asylprozessen, begründet. Kam durch die städtischen Argumente der Bereich des Vertragsrechts und der beidseitig akzeptierten Rechtspraxis ins Spiel, so parierte der Orden entsprechende Argumente durch eine andere Lesart dieser Bereiche, die jeweils ähnlich plausibel untermauert wurde wie die städtische Argumentation. Die Achtung der auch von den Reichsgerichten niemals angezweifelten Privilegien stärkte möglicherweise angesichts des vertragsrechtlich und durch die Rechtspraxis hergestellten „Patt" die Position des Ordens. 7. Ihren Höhepunkt erreicht die Prozesstätigkeit des Ordens vor beiden Reichsgerichte in der Zeit zwischen 1570 und 1620. Die Reichsstadt Frankfurt war hierbei stets Beklagte und trat dem Orden nie als Klägerin gegenüber.
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Gabriele Marcussen-Gwiazda Die Liquidation der Juwelenhandlung des Daniel de Briers in Frankfurt am Main. Ein Beitrag zu konsensualen Konfliktlösungsstrategien bei Handelsstreitigkeiten im nordwesteuropäischen Kontext „Dass sich zwischen so guten Freunden und Parteien die Freundschaft erhalten möge" - diese Hoffnung hegten alle Beteiligten an der Auflösung der zwischen dem Juwelenhändler Daniel de Briers und seinem Geschäftspartner Ruland Benoit gen. von Cassel1 bestehenden Gesellschaftshandlung, die im Jahr 1633 in Frankfurt am Main stattfand. Das waren neben den genannten Geschäftspartnern folgende als sog. „Compromissarien" bestellten Frankfurter Kaufleute: der Bankier und Seidenhändler in Frankfurt Sebastian de Neufville d.J.2, Arnold de Witte 3 , ein Diamantenhändler in Antwerpen ansässig und Jakob Moors d.Ä.4, neben Daniel de Briers einer der führenden Juweliere in Frankfurt. Alle drei waren auch Geschäftspartner der Juwelenhandlungsgesellschaft gewesen. Weil das Auflösungsverfahren auch für die zahlreichen Geschäftspartner der Juwelenhandlung außerhalb Frankfurts und außerhalb des Alten Reiches verbindlich sein mußte, bot sich die Liquidation mittels „Compromissarien" an, die zu dieser Zeit eine europaweit bekannte Institution darstellte. Im Folgenden soll deshalb zunächst die Integration Frankfurts in das europäische Handelssystem kurz skizziert und die Juwelenhandlung des Daniel de Briers vorgestellt werden. Die Zeit vom Ende des 16. bis weit in das erste Drittels des 17. Jahrhunderts gilt als „Frankfurts Blütezeit" - trotz innerstädtischer Konflikte, die sich im sog. „Fettmilchaufstand" manifestierten und trotz des Beginns des Dreißigjährigen Krieges. Die Einwanderung niederländischer Glaubensflüchtlinge diesem Personenkreis gehörten alle oben genannten Kaufleute an - aus den südlichen und westlichen Niederlanden hatte diesen Aufschwung bewirkt und dafür gesorgt, daß sich ein starker eingesessener Handel in der Stadt entwickelt hatte und sich nicht nur zu Messezeiten eine rege Geschäftstätigkeit in der Stadt entfaltete. Die wichtigsten Handelswaren dieser Kaufleute waren Tuche und andere Webstoffe, Wolle, femer alle Arten Metalle, vornehmlich Kupfer, sodann Edelsteine, Perlen, Goldschmiedewerke und Bücher. „Die größte Bedeutung hatte der Seidenhandel: zahlreiche Großhändler haben sich ihm gewidmet. Außerdem bürgerten die Ankömmlinge in der Mainstadt I Im weiteren Verlauf nur Ruland von Cassel. Alexander Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte, Frankfurt a.M. 1921 (ND Glashütten 1972), Bd. ΙΠ, S. 268. Sebastian de Neufville d.J. war 1634 verstorben. Dietz gibt sein Vermögen zum Zeitpunkt seines Ablebens mit 180 000 Reichstalem und 270 000 Gulden an. Ders., ebd., Frankfurt a.M. 1925 (ND Glashütten 1974), Bd. IV/2, S. 739. 3 Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte (wie Anm. 2), Bd. II, S. 234. Roland Baetens, De nazomer van Antwerpens welvart, Bd. 2, (Gemeentekrediet van Belgie, Historische Uitgaven Pro Civitate, reeks in-8°, nr. 45), 1976, S. 78f., S. 102f. 4 Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte (wie Anm. 2), Bd. Π, S. 223-224; die Juwelierswitwe Barbara Moors gibt ihr Vermögen 1652 mit 150 000 Gulden an, Bd. IV/2, S. 740. 1
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Gewerbe ein, die sie in ihrer Heimat kennen gelernt hatten, die Seidenverarbeitung, sowie die Juwelierkunst. Wenn man den Zustand des deutschen Wirtschaftslebens jener Tage gern mit den Worten kennzeichnet, daß kein kraftvoller Trieb sich bemerkbar gemacht habe, daß das Leben eines wohlhabenden Rentners das Ideal gewesen sei, so trifft dies auf Frankfurt nicht zu. In ihm war frisches, lebhaftes Ringen und Streben, wohin man blickte."5 Im Zuge der Rezeption von Max Webers „Protestantischer Ethik" schreibt man diesen Innovationsschub gerne ausschließlich den von der calvinistischen Wirtschaftsethik geprägten reformierten Einwanderern zu.6 Es wird dabei übersehen, daß sich in einer zweiten Einwanderungswelle am Ende des 16. Jahrhunderts vorwiegend Großkaufleute, teilweise mit Zwischenstationen in Köln und Hamburg, in Frankfurt niederließen, die zur lutherischen Kaufmannselite Antwerpens gehört hatten. Mitglieder dieser niederländischen Bevölkerungsgruppe waren z.B. Frankfurts erster Guldenmillionär Johann von Bodeck d.Ä. und auch der Juwelier Daniel de Briers, dessen Juwelenhandlung hier im Mittelpunkt steht. Im Gegensatz zu den Reformierten, die bis ins 18. Jahrhundert zum Gottesdienst nach Bockenheim ausweichen mußten, hielt die „Niederländische Gemeinde Augsburgischer Konfession" von 1592 bis 1788 unbehelligt ihren französischsprachigen Gottesdienst in der Weißfrauenkirche ab. Hier im Gebiet zwischen alter Mainzer- und Schüppengasse, Korn- und Roßmarkt und Hirschgraben konzentrierten sich die Seidenfabriken, Färbereien, Bierbrauereien und Diamantschleifereien der Neueinwanderer. Auch ihre Integration in die Stadtgesellschaft war nicht unproblematisch, wichen ihr Habitus und ihr Lebensstil doch sehr von dem des Frankfurter Stadtpatriziats ab. Fragen standesgemäßer Lebensführung gewannen in dem Zusammenleben von Patriziern und Großkaufleuten an Relevanz, manifester Ausdruck dafür ist die Frankfurter Polizeiordnimg des Jahres 1621, in der geregelt wird, „Wie es hinfüro mit Kleidungen / Hochzeiten / Kind Tauffen / Gevatterschafften und dergleichen / gehalten werden sol"7. Diese neue „Policey-Ordnung" war u.a. deswegen erlassen worden, „wie gar kein Vnderscheid der Personen / eins oder deß andern standes / solcher Vbermaß (in Kleidung und Prachtentfaltung, d.Verf.) wegen erkandt vnd abgenommen werden mag"8.
Friedrich Bothe, Geschichte der Stadt Frankfurt a.M., Frankfurt a.M. 1977, S. 130. Vgl. Heinz Schilling, Niederländische Exulanten im 16. Jahrhundert. Ihre Stellung im Sozialgefiige und im religiösen Leben deutscher und englischer Städte, Gütersloh 1972. Matthias Meyn, Die Reichsstadt Frankfurt vor dem Bürgeraufstand von 1612-1614, Frankfurt a.M. 1980. 7 Michael Stolleis, Pecunia nervus rerum. Zur Staatsfinanzierung in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 1983, S. 155ff. 8 Stolleis, Pecunia nervus rerum (wie Anm. 7), S. 155.
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Den Niederländern beider Glaubensrichtungen war es aber schlußendlich zu verdanken, daß Frankfurt Anschluß an den Weltmarkt fand bzw. den Status behielt, den es im vorigen Handelssystem mit Venedig als europäischem Zentrum innehatte und handelstechnische Innovationen aus der Antwerpener Praxis hier Usus wurden. Ihre verwandtschaftlichen Beziehungen und geschäftlichen Verbindungen etablierten ein weitreichendes Handelsnetz mit Frankfurt als Mittelpunkt, das die traditionellen Handelsverbindungen Frankfurts zu Osteuropa und Venedig effizient erweiterte. Wie die Gründung der Vereinigten Ostindischen Compagnie (VOC) in Amsterdam nicht ohne Antwerpener Kapital hätte bewerkstelligt werden können, so waren die Gründung der Frankfurter Börse 1585 und die Etablierung des Wechsels als Kaufmannspapier mit Zahlungsmittelfunktion ihrer Initiative zu verdanken. Als wesentlich gilt es noch hervorzuheben: so wenig der soziale Status der am Geschäftsleben Beteiligten zu dieser Zeit noch eine Rolle spielte, sowenig war die Religionszugehörigkeit in diesem Zusammenhang relevant. Vertrauen und Kreditwürdigkeit waren zu diesem Zeitpunkt schon die ausschließlichen Kriterien für erfolgreiche Geschäfte. Der Juwelier Daniel de Briers, seine Geschäftstätigkeit steht hier beispielhaft für die erfolgreichen niederländischen Kaufleute in Frankfurt, war, von Antwerpen kommend, 1599 Bürger von Frankfurt geworden und hatte hier im Jahr 1600 Anna von Brüssel9 geheiratet, Tochter von David von Brüssel, eines Hofjuweliers Kaiser Rudolfs II. Daniel de Briers gründete 1620 mit seinen beiden Geschäftspartnern Gerhard Heusch und Ruland Benoit gen. von Cassel in Frankfurt am Main eine Compagnie - „Handlung, die Comp.a van twee te juelen"10, zur Herstellung und Vermarktung von hochwertigen Bijouteriewaren: Schmuckstücken aus Gold, besetzt mit Diamanten und Edelsteinen (z.B. Rubinen und Saphiren). Daniel de Briers und Gerhard Heusch hielten gemeinsam einen Teil des Kapitals dieser Gesellschaft, Ruland Benoit den anderen. Der erste heute deren Existenz dokumentierende Eintrag befindet sich in einem als „Memoriael" bezeichneten Geschäftsbuch in niederländischer Sprache und ist auf den 11.1.1621 datiert.11 Ein schriftlicher Gesellschaftsvertrag ist nicht bekannt. Ruland Benoit charakterisierte diese Handelsgesellschaft als keine „General, sondern eine Particular Compagnie, und wie es die Handelsleuth zu nennen pflegen, eine Compagnie volante (...), welche zwischen ihren alten, und auch deren so ich zwar mit Daniel de Briers gehabt, geschwebt und derselben anhengig geweßen, ohne daß sie solche aufgehoben oder sonsten einem und dem anderen seine vorige Freyheyt benommen"12 hätte.
„von Brüssel" bezeichnet hier allein den Nachnamen, nicht den Herkunftsort. HStA Wiesbaden, Nachlaß Bodeck 1145, R 2 / l r . 11 HStA Wiesbaden, Nachlaß Bodeck 1145, R 2 / l r . 1 2 ISG (= Institut für Stadtgeschichte) Frankfurt a.M., RKG 243/426,311.
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Gabriele Marcussen-Gwiazda Die infrastukturellen Voraussetzungen für ein solches Unternehmen waren durch die Tradition als Messestadt mit einem funktionierenden Informationsund Kommunikationssystem gegeben, sodaß die Handelsaktivitäten sich bis nach Ostindien ausdehnen konnten und sogar der Diamantenhandel von Frankfurt aus und die Produktion der Juwelen in Frankfurt selbst mit Erfolg betrieben werden konnten. Der Umsatz auf der Frankfurter Herbstmesse des Jahres 1629 betrug allein 37 465 flämische Pfund, das entsprach 93 662 Vi Reichstalern. 13 Die Juwelenhandlung unterhielt in Wien und Prag Filialen, die in regelmäßigen Abständen monatlich mit Juwelen aus Frankfurt beschickt wurden. Böhmische Adlige, wie z.B. die Familien Trczka, Wallenstein und Harrach, wie auch Mitglieder des Hofstaats Ferdinands II., genannt sei hier Fürst Karl von Liechtenstein, der 1623 seinen Herzogshut (die liechtensteinische Fürstenkrone) bei Daniel de Briers zu verfertigen in Auftrag gab, ließen bei de Briers arbeiten. Das Kaiserhaus selbst gehörte auch zu den Abnehmern, wie die Eintragungen in den Hofzahlamtsrechnungen und den Geschäftsbüchern belegen. Interessant ist eine Offerte, die Daniel de Briers 1622 Ferdinand Π. machte. Darin bot er dem Kaiser Kleinodien im Wert von 300 000 bis 400 000 Gulden unter der Bedingung an, daß ihm bei der Lieferung die Hälfte des Kaufpreises bezahlt, die andere Hälfte aber mit 6 % verzinst würde. Der allergrößte Teil der Diamanten wurde aus Antwerpen bezogen, dort ansässige Makler vermittelten die Geschäfte zu den portugiesischen Händlern, die die Ware in Lissabon einkauften, ein kleiner Teil kam aus Amsterdam und von Frankfurter Händlern, aber auch eher „handelsferne" Kreise beteiligten sich am lukrativen Geschäft. So gehörten die Mitglieder des Frankfurter Rats Johann Jacob Jeckel und Hans Jakob Müller zu den Geschäftspartnern, wie auch der bekannte Hamburger Jurist Dr. Rütger Rulandt 14 , der aber sozusagen einen „Grenzfall" darstellt, weil er berufsweise mit der Materie vertraut war.
HHStA Wien, Handschriften W1058/2-170 u. 252. 1568 Aachen - 1630 Hamburg; von seinen zahlreichen Publikationen seien nur genannt: „Speculum Coniugale. Theologice, Politice Et Iuridice (...). Das ist: Ein außführlich Bedencken über einen Fall / so zwischen Eheleuten / sonderlich aber der Frawen und Creditoren entstanden: da dan[n] fümemlich von unterschiedenen Fremden / sowohl als Deutschen / sonderlich aber der Stadt Hamburg Statutorum und gewonheit (...) Ob eine Fraw ihren Mann deßwegen / daß er in Schuldenlast gerathen / deseriren (...) uud in sequester zulegen befugt? bey welchem (...) expliciret, auch mit etzlicher Exemplis / wie ungleichen hoher Schulen Decisionibus erkläret und bekräfftiget / Durch (...) Rütger Rulant / der Rechten Doctorn auff erfordern abgefast", Hamburg 1630; „Erledigung einer schweren / in Assecuration Sachen / vorgestalter fragen / Ob nemlich / wann einer auff ein Schiff versichern lest / aber kein praemium bezahlet / und hemacher zur See schaden erfolget / als dann denselben er als Assecuratus, von den Assecuratoribus mit rechte zu fordern vermüge?: Alles / theils auß den gemeinen beschriebenen Rechten / (...) abgefasset / (...) Durch (...) Herrn Rutgem Rulant (...)", Hamburg: Mose, 1630. 13
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Er betrieb mit Daniel de Briers eine eigene Handlungsgesellschaft15, deren Handelszeichen ein Kleeblatt war, was von den üblichen Handelszeichen abwich und durchaus als der Vorläufer eines „Firmenlogos" angesehen werden kann. Auf die Bedeutung der Juwelenhandlung für die Geschichte der deutschen Unternehmung und die Wirtschafts- und Sozialgeschichte wies zunächst Alexander Dietz in seiner Frankfurter Handelsgeschichte16 hin, die jüngste Erwähnung stammt von Leopold Auer, der „auf den Prozeß des Handelshauses De Briers, der ganz Frankfurt für längere Zeit in Atem hielt"17 aufmerksam macht. Auf dem Appellationsweg war der Prozeß vom Frankfurter Schöffengericht an den Reichshofrat gekommen. In seinem Zuge kamen 1703 eigens für den Prozeß kompilierte Handelsbücher der Firma für die Jahre 1627-32 nach Wien zu den Akten des Reichshofrates. Diese „Wiener Geschäftsbücher" der Juwelenhandlung, zum anderen ein neu aufgefundener Wiesbadener Bestand, der sich dort im Nachlaß Bodeck18 befindet und Reichskammergerichtsakten19 des Instituts für Stadtgeschichte in Frankfurt am Main20 bilden die Grundlage für die Beschreibung der Geschäftaktivitäten der Juwelenhandlung. Hier steht nun die Auflösung der Gesellschaft im Jahr 1633 im Mittelpunkt. Die Schweden waren ein Jahr zuvor in Frankfurt einmarschiert, die Ereignisse des Dreißigjährigen Krieges hatten normale Geschäftsabläufe jetzt unmöglich gemacht. Die beiden verbliebenen Gesellschafter der Juwelenhandlungsgesellschaft Daniel de Briers und Ruland von Cassel wollten nun mit Hilfe von „Comprommissarien" die Gesellschaft außergerichtlich auflösen. „Compromissarien" sind in der Handeisspraxis erfahrene Vertreter von Kaufleuten, deren Schiedssprüche in der Regel von den streitenden Parteien anerkannt wurde. Sie können als Vorläufer der kaufmännischen Parere gelten. Es geht in der Konsequenz um den Versuch die ordentlichen gerichtlichen Instanzen zu vermeiden. Bekannt wurden diese Schiedssprüche, wie im Fall der Juwelenhandelsgesellschaft de Briers nur, wenn der Schiedsspruch nicht anerkannt wurde und es doch zu einem Prozeß kam. I
15 Es war für den Handelsmann dieser Zeit typisch, daß er mit verschiedenen Geschäftspartnern parallel eigene Handelsgesellschaften gründete. 6 Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte (wie Anm. 2), Bd. II, Die Juwelenhandlung des Daniel de Briers und seiner Gesellschafter Gerhard Heusch und Ruland von Cassel, S.230-243. 17 Leopold Auer, Das Archiv des Reichshofrates und seine Bedeutung für die historische Forschung, S.124, in: Bernhard Diestelkamp/Ingrid Scheurmann, Friedenssicherung und Rechtsgewährung. Sechs Beiträge zur Geschichte des Reichskammergerichts und der obersten Gerichtsbarkeit im alten Europa, Bonn/Wetzlar 1997, S. 117ff. 18 Siehe Anm. 11. 19ISG Frankfurt a.M. RKG 243, RKG 562. 20 Eine detaillierte Quellenbeschreibung führte im Rahmen dieses Aufsatzes zu weit, ich darf auf meine in Arbeit befindliche Dissertation verweisen.
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Denn viel besser als einen gerichtlichen Prozeß zu führen und ihn auch schließlich zu gewinnen, war es für den Kaufmann es gar nicht erst zu diesem Prozeß kommen zu lassen. Persönliche Integrität, die Lebensführung nach einem bestimmten Verhaltenskodex, also Reputation und Vertrauen in die Kreditwürdigkeit der sich im Großhandel engagierenden Kaufleute, gehörten zum marktkonformen Verhalten und bildeten die Grundlage erfolgreicher, d.h. gewinnbringender, Geschäftsabschlüsse. „Lieber Geld verlieren als Vertrauen",21 diese Maxime, die der Unternehmer Robert Bosch zu Beginn des 20. Jahrhunderts äußerte, galt nämlich auch für die Kaufleute an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Schon die Teilnahme als Zeuge an einem Prozeß konnte zu Reputations- und Vertrauensverlust führen, mithin zur Minderung der Kreditwürdigkeit. Deshalb wollten die Mitglieder der Juwelenhandelsgesellschaft de Briers, ihren Konflikt außergerichtlich lösen. Über diesen Verhaltenskodex hinaus ist die Kenntnis von den dem frühneuzeitlichen Handel immanenten Praxisbedingungen, vom Handelsalltag der Vormoderne überhaupt, nur lückenhaft, und dafür sind keineswegs nur die einer mangelhaften Quellenlage geschuldeten Defizite ursächlich. Selbst wenn man dem Kaufmann die Kenntnis aller handelspraktischen Usancen unterstellt, so lag es doch ganz in seinem Ermessen, wie detailliert er seine Geschäfte aufzeichnete, d.h. wie exakt er seine Bücher führte. Ob und in welchem Umfang die Geschäftskontakte z.B. durch die doppelte Buchführung dokumentiert wurden, blieb jedem Kaufmann, jeder Handlungsgesellschaft selbst überlassen. Ab einem bestimmten Geschäftsvolumen und über eine bestimmte geographische Ausdehnving der Geschäfte hinaus schien diese Praxis der Buchführung allerdings dringend geboten. Die Schwierigkeiten der Liquidation der Juwelenhandlungsgesellschaft de Briers hatten sich auch erst durch die mangelhafte Buchführung ergeben, die „Richtigmachung der Bücher" war, wie in so zahlreichen anderen Streitfällen auch, einer der Hauptstreitpunkte in den Auseinandersetzungen. Kenntnisse vom reibungslosen Geschäftsverlauf und von der außergerichtlichen Beilegung von Handelsstreitigkeiten sind also eher selten. Eine Ausnahme in diesem Zusammenhang stellen die Geschäftsbücher des Amsterdamer Kaufmannes Hans Thijs dar, die den „normalen" Geschäftsablauf dokumentieren und die die Grundlage für die Publikation Oscar
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Hartmut Berghoff, Die Zähmung des entfesselten Prometheus? Die Generierung von Vertrauenskapital und die Konstruktion des Marktes im Industrialisierungs- und Globalisierungsprozeß., S.143 in: Hartmut Berghoff/Jakob Vogel (Hg.), Wirtschaftsgeschichte als Kulturgeschichte. Dimensionen eines Perspektivenwechsels, Frankfurt/New York 2004.
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Gelderbloms über südniederländische Kaufleute im Zeitraum 1578-1630 bilden.22 Die Art und Weise wie der Amsterdamer Kaufmann Hans Thijs seine Geschäfte führte kann auch als ein gelungenes Beispiel für außergerichtliche Konfliktlösungen gelten. Hans Thijs mochte im Jahr 1596 nichts mit dem Bankrott seines Schwagers zu tun haben, trotz der Ansprüche, die er an ihn hatte, aus Angst, wie er in einem Brief äußerte, dessen Gläubiger würden ihn selbst als Bankrotteur betrachten.23 Von Hans Thijs haben sich die gesamten Geschäftsunterlagen aus dem Zeitraum 1595-1611 erhalten.24 Er hatte mit hunderten von Kaufleuten, Handwerkern und Schiffskapitänen zu tun. Die Geschäftsvorfälle umfaßten allein innerhalb dieses Zeitraums 1000 Verkäufe und 200 Einkäufe von Juwelen, 400 Anweisungen an Goldschmiede und Diamantschneider, 300 Einund Verkäufe von Ledererzeugnissen, 700 Schuldverschreibungen (IOUs)25, 100 Anteile an Schiffahrtslinien und Fernhandelskompagnien (Vorkompagnien, VOC), ungezählte Wechselbriefe; sehr viele Geschäftsabschlüsse im Namen Dritter als Kommissionär und Faktor, sowie das gesamte übrige Spektrum geschäftlicher Transaktionen. Hans Thijs führte in diesem Zeitraum und bei dieser Quantität der Geschäftsvorfälle nur eine einzige gerichtliche Auseinandersetzung und zwar um eine Handwerkerrechnimg26, aber der Erbgang seines Vermögens wurde auch nicht bestritten, wie im Fall der Juwelenhandlungsgesellschaft de Briers. Das kann natürlich nicht heißen, daß die Führimg seiner Geschäfte konfliktfrei gewesen wäre. In welchem Umfang er Compromissarien bemüht hat, geht jedoch aus seinen Geschäftsunterlagen nicht hervor. Das Sanktionspotential, das den Kaufleuten sonst bei betrügerischem oder geschäftsschädigendem Verhalten zur Verfügung stand, reichte vom Ausschluß von künftigen Transaktionen bis zur Ächtung durch die gesamte Kaufmannsgemeinschaft, bedeutete in der Konsequenz den Verlust des gesamten sozialen Kapitals und starke finanzielle Einbußen. Aber das alles auszufechten, kostete Zeit und Geld und manchmal war es deshalb auch kostengünstiger für den Kaufmann die Beziehungen zu einem fragwürdigen Handelspartner einfach abzubrechen. Aber auch die Minderung des Geschäftsrisikos durch die Beschränkung der Handelsbeziehungen auf Verwandte und Freunde war zum Ende des Oscar Gelderblom, Zuid-Nederlandse kooplieden en de opkomst van de Amsterdamse stapelmarkt (1578-1630), Hilversum 2000. 2 3 Ders., TTie Resolution of Commercial Conflicts in Bruges, Antwerp, and Amsterdam, 1250-1650 (www.lowcountries.nl: Economy and Society of the Low Countries. Working Papers, Draft, Februar 2005; last updated: 8 Dec. 2005; 22.1.2006), S. 5, Anm. 25. 24 Vgl. Gelderblom, The Resolution (wie Anm. 23), S. 5. 2 5 IOU bedeutet „I owe you" und ist die zeitgenössische englische Bezeichnung für Schuldverschreibungen. 26 Gelderblom, The Resolution (wie Anm. 23), S. 5. 22
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16. Jahrhunderts keine adäquate Lösung mehr. Die von Mark Häberlein27 in „Brüder, Freunde und Betrüger" beschriebenen sozialen Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft unterschieden sich von der Handelspraxis in Nordwesteuropa am Anfang des 17. Jahrhunderts. Die Lösimg der Frage in welchem Umfang wem Vertrauen geschenkt werden muß bzw. kann, konnte sich mit der europäischen Expansion nicht mehr nur allein auf familiäre Netzwerke beschränken. Diese Netzwerke behielten zwar ihre grundsätzliche Relevanz, aber in dem Maße wie die Aktiengesellschaften, die joint stock companies, mit den Gründungen von East India Company (EIC)28 und VOC populär wurden, so trat der „Credit" des Kaufmanns in den Vordergrund und nicht mehr primär die Familien - oder Korporationszugehörigkeit. Der zeitgenössische Begriff „Credit" impliziert aber nicht nur die ökonomische Leistungsfähigkeit des Kaufmanns, „sondern ,Creditiren' bedeutete zugleich in einem Übergreifenderen Sinn, jemanden für geschäftstüchtig, oder - in der Sprache der Zeit - für einen ehrenwerten Kaufmann zu halten"29. So sind auch die quasi ritualisierten Netzwerkbeziehungen, wie sie Selzer/Ewert in ihrem Aufsatz „Verhandeln und Verkaufen. Vernetzen und Vertrauen" bezüglich des hansischen Handels beschreiben zu diesem Zeitpunkt eher schon obsolet.30 Sie waren nicht mehr flexibel genug für die sich neu konstituierenden Marktbeziehungen. Diese Marktbeziehungen bilden die Schnittstelle zwischen ständisch organisierter und rein marktmäßig sich regulierender Gesellschaft. Der soziale Status der am Marktgeschehen Beteiligten spielte eben keine Rolle mehr, als der Konsumbedarf der absolutistisch - barocken Ständegesellschaft stark anstieg und die Zahl der Kaufleute die diesen Bedarf deckten in ebenso starkem Maß zunahm. Die Juwelenhandlung de Briers lieferte diejenigen Luxuswaren, Diamanten und Edelsteine, die am eindrucksvollsten im Sinne von stilisierter Lebensführung den Exclusivitäts- und Herrschaftsanspruch der Träger der Ständegesellschaft vinterstrichen.31
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Mark Häberlein, Brüder, Freunde und Betrüger. Soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts, Berlin 1998. 28 East India Company, Gründungsdatum 1600; Vereinigte Ostindische Companie, Gründungsdatum 1602. 29 Stefan Gorißen, Der Preis des Vertrauens. Unsicherheit, Institutionen und Rationalität im vorindustriellen Fernhandel, in: Ute Frevert (Hg.), Vertrauen. Historische Annäherungen, Göttingen 2003, S. 109. 30 Stephan Selzer/Ulf Christian Ewert, Verhandeln und Verkaufen, Vernetzen und Vertrauen. Über die Netzwerkstruktur des hansischen Handels., in: Hansische Geschichtsblätter 119 (2001), S. 135-161. 31 Max Weber, Wirtschaft und Gesellschaft. Grundriß der verstehenden Soziologie, 5. Aufl., Tübingen 1980, S. 534ff.
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Die sich verändernde Angebots- und Nachfragestruktur hatte auch Auswirkungen auf die Organisation des Marktes.32 Diese Umstrukturierung hatte mit dem risikoreichen und gewinnträchtigen Handel am Beginn des 17. Jahrhunderts begonnen. „Ortsgebundene Interaktionszusammenhänge" und „gewachsene Face-to-Face Gemeinschaften", die gängigen Schlagworte im Zusammenhang mit vormodernem Handel, hatten sich nicht erst im Industrialisierungsprozeß aufgelöst und nach neuen Regelungsmechanismen verlangt. Auf der anderen Seite: so hoch entwickelt Marktmechanismen in der frühen Neuzeit zumindest in bestimmten europäischen Regionen gewesen waren, handelte es sich dabei aber nicht „um offene, kompetitive und sich selbst regulierene Märkte im Sinne der neoklassischen Theorie"33. Wenn z.B. „die komplexen Strukturen des hansischen Handels ein besonderes Vertrauensverhältnis' notwendig gemacht (hatten, Anm.d.Verf.), das offenbar innerhalb der Familie und unter Freunden besonders ausgeprägt war"34, so war die Welt mit dem Beginn der europäischen Expansion noch komplexer geworden und die Grundlage für Handelsbeziehungen waren nicht mehr nur Familienbande und Freundschaften, sondern auch die Kenntnis der Vermögenssituation des unbekannten Geschäftspartners. Der Faktor der „Georg Fuggerischen Erben" in Köln, Hans Fritz, schrieb im Auftrag eben dieses Handelshauses am 22. Januar 1579 ein „Verzaichnuß Der Fürnembsten Kauffleut von Italianern, Spaniern und Portugessern, so in Antorff handien"35. „Das ,Verzaichnuß' sollte (...) in erster Linie Auskunft geben, wie man in Antwerpen die Leistungsfähigkeit der genannten Kaufleute und besonders ihre momentane Liquidität beurteilte. Diese Frage war vor allem für den Zahlungsverkehr, z.B. bei der Einlösung von Wechseln, wichtig. Wer kam von den spanischen, portugiesischen und italienischen Kaufleuten in Antwerpen als Geschäfts-, besonders als Wechselpartner in Betracht und gegebenenfalls bis zu welcher Höhe?"36 Es ging dabei um eine allgemeine Verminderung des Geschäftsrisikos, keinesfalls nur um die Einlösung von Wechseln, auch die Vermeidung der Möglichkeit in ein weitläufiges kostspieliges Konkursverfahren gezogen zu werden bildeten den Hintergrund solcher Auskünfte. Ein anderes Verhalten wäre bei Großkaufleuten praxisfern gewesen, die in Antwerpen ungeduldig auf Nachrichten von der Ankunft der Ostindien-Flotte in Lissabon warteten, weil deren Geschäftspartner in Frankfurt einem Juwelier in Prag eine Lieferung Diamanten und Rubine zu einem bestimmten Termin
Vgl. dazu Hartmut Berghoff, Die Zähmung (wie Anm. 21), S. 143-168. Josef Ehmer/Reinhold Reith, Märkte im vorindustriellen Europa, in: Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte, Berlin 2004, S. 22. 34 Selzer/Ewert, Verhandeln und Verkaufen (wie Anm. 30), S. 151. 35 Reinhard Hildebrandt, Die Bedeutung Antwerpens als Börsenplatz 1579, in: Scripta Mercaturae, München, 1 / 2 (1974), S. 6. 36 Hildebrandt, Die Bedeutung Antwerpens (wie Anm. 35), S. 9. 32
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zugesagt hatte. Dieses ungeachtet der Tatsache, daß von drei in Goa ausgelaufenen Schiffen wahrscheinlich nur eines, wenn überhaupt, in Lissabon ankam - Schiffsverluste waren die Ursache, entstanden einmal durch Untergang einzelner Schiffe oder durch das Kapern ganzer Flotten. Dieses Problem taucht auch in einer Frankfurter Handelskorrespondenz auf. Der Frankfurter Kaufmann Johann von Bodeck d.J. schreibt am 13.2.1627 an Caspar von Uffelen d.J. in Venedig: „unser Postmeister hat von Brüßel, wie auch Rulandt von Cassel von Antorff, daß der Marquis Spinola aus Frankreich ein express bekommen, mit awiso, daß die eine Caraque mit 3 Gallionen zu Boloignien37 sollte ankommen sein, uns verlangt also nach dem ersten Brief, von dannen die Gewißheit zu erfahren, Gott gebe daß es wahr seie."38 Trotz Kaperung des Schiffes in Boulogne-sur-Mer an der französischen Kanalküste war die Fracht für den Frankfurter Markt wahrscheinlich nicht verloren.39 Zu den Großkaufleuten, deren Geschäftstätigkeit weit über das Alte Reich hinausreichte, gehörten - wie skizziert - die meisten Niederländer, die sich um die Wende zum 17. Jahrhundert in Frankfurt angesiedelt hatten. Innerhalb eines von den Patriziern gestalteten administrativen Rahmens hatte sich der Kaufmannsstand in Frankfurt am Main separate Institutionen geschaffen, die es ihm ermöglichten, den reibungslosen Geschäftsablauf nach seinen Bedürfnissen zu organisieren, natürlich in Auseinandersetzung mit, aber anerkannt von, der städtischen Obrigkeit. Die Gründung der Frankfurter Börse im Jahr 1585 ist das prominenteste Beispiel. Die Börse, die eine durch ein besonderes kaufmännisches Recht und Rechtsanschauungen verbundene Gemeinschaft war, bevor sie sich in eine formalisierte Institution entwickelte, war 1585 gegründet worden, „weil zuvor in den Meß-Zahlungen allerhand Unordnungen eingerissen / und ein jeder die Müntz zu steigern / seines gefallene außzugeben / und andern auffzutringen / oder die Bezahlung zu protahiren und also seine Creditores darmit zu trutzen unterstanden. Warauff dann erfolgt / daß der mehrertheils vornehmer Kauff- und Handels-Leut / so auß fast allen Landen und Stätten damals allhie zu Franckfurt in der Meß gewesen / sich eines gewissen Valors der Müntzen unter einander verglichen / und solche unter ihnen nicht höher einzunehmen / und außzuzahlen vereinbart / so lang und viel / biß durch ein allgemeine Vergleichung aller Reichs-Stände ein anders beschlossen und verordnet werde Boulogne-sur-Mer an der französischen Atlantikküste. Frankfurt a.M. RKG 1498, Acta priora, fol. 89, Johann von Bodeck d.J. in Frankfurt a.M. an Caspar von Uffelen d.J. in Venedig. 39 Die Kanal-Piraterie war eine der Hauptplagen für die Handelswelt im Rahmen des spanisch-niederländischen Krieges im 16. und 17. Jahrhundert. Vgl. dazu: R.A. Stradling, The Spanish Dunkirkers, 1621-1648: a record of plunder and destruction, in: Tijdschrift voor Geschiedenis 93 (1980), S. 541-558. R. Baetens, The Organization and Effects of Flemish Privateering in the Seventeenth Century, in: Acta Historiae Neerlandicae. Studies in the History of the Netherlands, DC, Den Haag 1976, S. 48-75. 37
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/ auch E.E. Rath allhie underthänig fleißes ersucht und gebeten / ihme solches als belieben zu lassen / und sie darbey handzuhaben"40. Die Frankfurter Kaufmannschaft schuf sich mit den Börsenversammlungen auf dem Samstagsberg vor dem Frankfurter Rathaus, dem Römer, einen zunächst informellen Rahmen, der aber durch regelmäßige Zusammenkünfte und die gemeinsamen Interessen institutionellen Charakter bekam. Die Versammlungsmitglieder bekamen so den Status einer vorinstitutionellen Kaufmannskorporation. Die Zugehörigkeit zu dieser Korporation erhöhte wiederum dann den „Credit" der Mitglieder, auch in seiner kulturellen Konnotation, hob sie als Berufs- und Interessengruppe aus der übrigen Stadtgesellschaft heraus, verlieh ihren spezifischen Interessen und deren Durchsetzung Gewicht. In der Frankfurter Notariatsordnung von 1589 findet sich eine Begründung für diesen Sonderstatus innerhalb der Stadtgesellschaft. Es heißt dort, daß bei Geschäften unter Kauf- und Handelsleuten „es ihrer Gelegenheit und Gefallen nach, sonderlich in Meßzeiten, von wegen stracken laufs der Gewerb, und Kauffmannschafften, auch in Ansehen ihres Credits, Trauens und Glaubens, ein andere Meinung hat, als mit dem gemeinen Bürgers, und Bauersmann"41. In diesem Zusammenhang sind auch die kaufmännischen „Compromissarien" zu sehen, die zur Beilegung von Streitigkeiten in Handelsangelegenheiten herangezogen wurden, denn schiedsrichterliche Einigungen mittels Compromissarien finden sich auch bei anderen gesellschaftlichen Institutionen. So wurde z.B. bei der Propstwahl des Jahres 1580 im Stift Sankt Bartholomäus in Frankfurt „via compromissi" verfahren.42 „(...) die Kompromissare holte man wieder aus einem befreundeten Stift: Dekan Elias Deublinger und Johann Dopff von Liebfrauenn (...)." Kaufmännische Schiedskommissionen dieser Art finden sich in England bereits im 13. Jahrhundert, im 16. Jahrhundert kennt man sie in ganz Europa.43 Im Alten Reich ist die Institution der Compromissarien außer in Frankfurt noch in Leipzig44 und in Hamburg45 nachweisbar. Nachrichten über kaufmännische Schiedsgerichte in Frankfurt finden sich z.B. bei Johann Jacob Heydiger. Er beschreibt sie in seiner, „Kurtzen Anleitung zu gründlichem Verstand Des Wechsel-Rechts" aus dem Jahr 1715: „In der Authaeus, Collectanea Monetaria 1652 (bei Goldast, Catholicon Rei Monetariae 1662), zitiert nach: Handelskammer zu Frankfurt a.M., Geschichte der Handelskammer zu Frankfurt a.M: (1707-1908), Frankfurt a.M. 1908, S. 8. 41 Johann Conradin Beyerbach, Sammlung der Verordnungen der Reichsstadt Frankfurt, Bd. Vili, S. 1606 (Nr. 43: Erneuerte Ordnung, von den Notarien und dero Amt, etc. (...), 23.12.1669, darin vollständig Ordnung von 1589). 42 Günter Rauch, Pröpste, Propstei und Stift von Sankt Bartholomäus in Frankfurt. Studien zur Frankfurter Geschichte Heft 8, Frankfurt a.M. 1975, S. 136. 43 Gelderblom, Commercial Conflicts (wie Anm.3), S. 9. 44 Facti Species betr. Die Handlungs-Compagnie zwischen Gerhard und Michael Heusch und Johann Stör 1652-1701, o.O. und o.J. 45 Vgl. HStA Hamburg RKG U 2 (Overbeck Prozeß). 40
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Kayserlichen freyen Reichs- Wahl- und Handels-Stadt Franckfurt am Mayn / haben die Herren Handels-Leut zwar keinen absonderlichen Magistrat / der die zwischen ihnen fürfallende strittigkeit sua authoritate erörtern dörffte: Bemühen sich aber indessen nicht wenig untereinander selbsten / solchen in der Enge absque strepitu judicii und ohne sonderbahre Bemühung Eines Wohl-Edlen / Hochweisen Raths / so viel möglich und an Ihnen / per modum compromissi, oder da solches nicht seyn könnte / per modum deputa tionis, vel commissionis, ihre abhelffliehe Maaß zu geben."46 Zediere Universal-Lexicon führt sie unter dem Stichwort „Arbiter Compromissarius, ein Schieds-Richter" auf.47 So „wird genennet derjenige, welcher von zweyen streitenden Partheyen freiwillig angenommen wird, um ihre streitige Sache unter ihnen auszumachen (...). In Wechsel-Sachen pflegen auch die Kauff- und Handels-Leuthe ex suo ordine willkührliche Schieds-Richter oder arbitros compromissarios zu erwehlen, und selbige entscheiden lassen, mithin die Sache in der Enge unter sich selbst, als die sie am besten verstehen, auszumachen, wie unter denen Franckfurther Kauff- und Handels-Leuthen Vogt d. Camb. p.m. 207. Und Heydeger in der Ani. zum Verstand des W.R. p.114 anzeigen." Die bibliographischen Angaben beziehen sich auf den zitierten Heydiger und auf Johann Martin Vogts „Tractatus Analyticus De Cambiis", der, neben anderen, namentlich genannten Frankfurter Großkaufleuten gewidmet ist.48 Aus dem Jahr 1663 liegt eine Dissertation der Juristischen Fakultät der Universität Leipzig vor, verfaßt von Johann Jacob von Ryssel49 mit dem Thema „Disputatio Iuridica De Arbitro Compromissario". Alexander Dietz erwähnt Compromissarien in seiner Handelsgeschichte, wie auch die „Geschichte der Handelskammer" aus dem Jahr 1908, nur am Rande. Im Fall der Juwelenhandlung stellte sich den Compromissarien folgende Aufgabe: In der Compagnie-Handlung kam nach dem Proporz des Gründungskapitals die Hälfte Daniel de Briers, Ruland Benoit gen. von Cassel und den Heusch'schen Erben - Gerhard Heusch war 1628 verstorben - je ein Viertel zu. Nun wollten sie diese Handlung aber nicht länger fortsetzen, sondern sich in Freundschaft trennen und die Handlungsgesellschaft liquidieren. Ausdrücklich intendiert war die Verhinderung eines Prozesses. Die Verhandlun-
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Johann Jacob Heydiger, Kurtze Anleitung zu gründlichem Verstand Des WechselRechts Collen 1715, S. 114. Bd. 2,1732, S. 599. 48 Johann Martin Vogt, Tractatus Analyticus De Cambiis, Tarn Regularibus quam Irregularibus, Frankfurt a.M. 1670; die Frankfurter Kaufleute sind: David Malapert, Daniel d'Orville, Johannes Ochs, Joachim Creuzenhauer, Martin du Fay, Franz Bein, Abraham Schelkens, Jacob de Famars. 49 Johann Jacob von Ryssel, „Disputatio Iuridica De Arbitro Compromissario", Leipzig 1663; Lebensdaten: 1627-1699; er ist wahrscheinlich ein Verwandter der Leipziger Juweliere Heinrich und Jacob von Ryssel, die in den Geschäftsbüchern de Briers oft als Geschäftspartner genannt sind. Heinrich von Ryssel d.Ä., s. Dietz, ebd., Bd. Π, S. 231. 47
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gen wurden mit dem Ziel geführt, wie eingangs schon zitiert, „dass sich zwischen so guten Freunden und Parteien die Freundschaft erhalten möge"50. In diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß seit 1631, also kurz bevor Daniel de Briers seine Juwelenhandlungsgesellschaft mit Ruland von Cassel und den Heusch'schen Erben liquidieren wollte, bereits ein ihn betreffendes Schiedsgerichtsverfahren in Frankfurt anhängig war. Es betraf Daniel de Briers und einen Hamburger Geschäftspartner, den Juwelier Peter Lulls und bezog sich auf einen Handelskonflikt zur Zeit der Leipziger Ostermesse des Jahres 1605, an dem außer den beiden genannten noch der Leipziger Juwelier Heinrich von Ryssel beteiligt war.51 Es ging dabei darum „offenstehenden unliquidierte die courente Rechnungen betreffende posten und partiten in der gutte zu entscheyden." Als Frankfurter Compromissarien fungierten in diesem Handelskonflikt der Bankier Jacob Bartheis, der Handelsmann Jonas Lappa, und die bereits bekannten Sebastian de Neufville d.J. und Jacob Moors d.Ä., sowie Johann Campoing. Im Falle der Auflösung der Juwelenhandlung des Daniel de Briers sind nicht nur der Schiedsspruch selbst, sondern auch die Konditionen seiner Aufrichtung und Einhaltung in der Prozeßakte enthalten. Die Compromissare Jakob Moors d.Ä., Arnold de Witte und Sebastian de Neufville d.J. waren unter der Voraussetzung tätig geworden, daß Daniel de Briers und seine Mitgesellschafter „geloben (...) vor guth rest und von vollkommenen Würden zuehalten alles das Jenige, was durch die Meister Stimmen der guthen Männer resolvirt und geschloßen werden mag, alles bey unserm Corperlichen Aydt und einer Poen von zweytausent Reichsthalern, zuerstatten, Ein tausent den armen diesser Stadt Franckfurt, und Ein tausent dem gutwilligen welchen den Accord und Ausspruch der Hn. Schiedtsfreunde approbiren und halten wirdt. Geloben und verspechen auch austrücklich hiermit in keinerley weis gegen den Ausspruch der guthen Männer zuethun oder zuehandeln, weder inn- noch außerhalb Rechtens Begehren und Ersuchen darumb alle Herren und Richter uns kein gehör zu geben noch Processen zu gestatten die und bevor der Ausspruch der guten Männer vollkommenlich vollbracht und deme ein genügen geschehen (...)" 52 . Die Compromissarien waren bezüglich der Juwelenhandlung dann zu folgendem Urteil gekommen:53 1. Daniel de Briers soll Ruland von Cassel 10 000 Rtlr. bezahlen und zwar jede Messe 2 000 Rtlr., beginnend mit der Herbstmesse 1633 bis zur Tilgung der 10 000 Rtlr., jedoch ohne Zinsen.
Vgl. ISG Frankfurt a.M. RKG 243/426, fol.l7-17v. ISG Frankfurt a.M., Bürger wider Fremde Ugb D 27/16. 52 ISG Frankfurt a.M. RKG 243/426, S. 18-19. 53 ISG Frankfurt a.M. RKG 243/426, S. 19ff. 50 51
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2. Zum andern soll Daniel de Briers Ruland von Cassel für 10 000 Rtlr. Waren aus dieser Handlung liefern, zu Preisen wie sie in den Büchern angegeben sind, Daniel de Briers soll die übrigen Waren zu den in den Büchern angegebenen Preisen erhalten, auch hier ohne die Berechnung von Zinsen. 3. Zum dritten soll Daniel de Briers Ruland von Cassel aus ihrer Compagnie an „guten und bösen" ausstehenden Schulden, wie die Zeitgenossen sagten, pro rato 20 000 Rtlr. überliefern, welche am bequemsten als möglich geteilt werden sollen, um die betreffenden Posten könne auch gelost werden. In diesem Punkt konnten die Parteien sich nicht vergleichen und die Compromissarien behielten sich weitere Entscheidung vor. „Ferners sollen die Partheyen mit dem ehisten und mit allem fleiß umb lebens und sterbens willen ohn Zeit Spielerung und Verzug oder Nachlaßigkeit die bûcher von dießer ihrer Handlung zur Richtigkeit bringen, (...) alle Rechnung, die mann kann saldieren laßen, auf daß man ufs längste in zuekommender Franckforter Ostermeß an uns Compromissarien eine vollkommene general bilanz Überlieffern könne (.. .).//54 Wenn auch die Compromissarien sich qua Funktion ausbedungen hatten, daß „bevor der Ausspruch der guten Männer vollkommenlich vollbracht" wäre keine weiteren juristischen Schritte unternommen werden sollten, so war ihr Schiedsspruch mit dem Tod Daniel de Briers im Oktober 1633 augenscheinlich hinfällig. Daniel de Briers und die Mitgesellschafter hatten zwar den ersten Schiedsspruch anerkannt, die ersten Zahlungen waren geleistet worden, aber unvorgreiflich der weiteren Entwicklung wäre z.B. die „Richtigmachung" der Bücher im Halbjahreszeitraum unmöglich gewesen. Die Sache wurde auf Betreiben der de Brierischen und Heusch'schen Erben neu verhandelt und es kam 1636 zu einem zweiten Compromiß - Vorschlag. Die Kontrahenten wähnten sich gegenseitig übervorteilt und konnten wegen der mangelhaften Rechnungslegung keine Basis für eine tragfähige Einigung finden. Von den 10 000 Reichstalern, die Ruland Benoit erhalten sollte, sollte eine bestimmte Summe wieder abgezogen werden und eine Schuld des Kurfürsten von Sachsen, von der vorher keine Rede war, spielte in der Argumentation eine zentrale Rolle.55 Dieser Kompromiß war für Ruland von Cassel nicht akzeptabel. Arnold de Witte, einer der Compromissare, formulierte in einem Brief an Adrian de Briers, den Sohn von Daniel de Briers, am 15.5.1636 aus Antwerpen noch ganz zuversichtlich: „Ich zweifle nicht Herr von Cassel werde unsern Anspruch annehmen, dann ich nicht wüßte worüber er sich sollte können beklagen."56 Aber dann hieß es in einem Schreiben an denselben vom 9.6.1636: „Daß Herr von Cassel unsern Ausspruch nicht will halten dünket mir, daß er Unrecht
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habe, dann ich nicht befinden kann, daß er im geringsten dabei verkürzet, sondern nach meinem Gutdünken Ihme favorisiert sei. Daß ihr unsern Ausspruch annehmet, daran tut ihr wohl und ist Euch nützlicher, etwas Schaden dabei zu leiden, als im langwierigen Streit und Uneinigkeit zu bleiben. Ich vermeine Herr von Cassel, dafern er wohl tun will, sich auch damit contentiren werde."57 Aber Herr von Cassel gab sich damit nicht zufrieden und es kam zu gerichtlichen Auseinandersetzungen durch alle Instanzen bis hin zum Reichshofrat. Streitpunkt in allen Instanzen waren die nicht ordnungsgemäß geführten Bücher der Juwelenhandlung. Diese Geschäftsunterlagen bildeten die Entscheidungsgrundlage für den Schiedsspruch der Compromissarien. Sie standen damit in Einklang mit den diesbezüglichen Bestimmungen der Frankfurter Reformation, der Stadtverfassimg, in der Version des Jahres 1611.58 Darin werden die Besonderheiten kaufmännischer Administration ausdrücklich anerkannt. Sämtliche Geschäftsunterlagen, „Handtschrifften / Brieff / Handelsbüchere", konnten als Beweismittel herangezogen werden und auch die Probleme der Auflösung einer nur mündlich verabredeten Handelsgesellschaft werden dort ausführlich behandelt. Diese Form des Vertragsabschlusses war in Frankfurt wie auch in Antwerpen und Amsterdam rechtlich bindend. Im Titel 23: „Von Gesellschaften" werden die Bedingungen für die „Auffrichtung einer Gesellschaft / zwischen Handthierenden Personen" dargelegt: vor allen Dingen müssen die „darinn verleibte Abreden / Pacta, und Geding / ehrbar / ziemlich / und dem Rechten gemäß" sein. U.a. heißt es darin weiter, daß die Gesellschafter „deß Handels Gelegenheit bey sich in geheim behalten / und andern darzu nicht gehörigen / nicht offenbahren wollen." Prinzipiell sollen die Verträge so, „wie sie abgeredt / und verbriefft / under ihnen den Gesellschaftern / gehalten werden." Im folgenden werden dann Geschäftsregeln formuliert die in Frankfurt ihre Gültigkeit haben, und die dann zur Anwendung kommen, wenn nicht alle Punkte eines Gesellschaftervertrages von den Vertragspartnern schriftlich formuliert worden waren. Wörtlich: „Weren aber etliche nothwendige Articul in der Gesellschafft Verschreibimg (vielleicht auß Unfleiß) nicht außtrücklich eingesetzt / und / wie es damit gehalten solt werden (...)". Im Titel 27: Von Verträgen / und Gütlichen Rachtungen werden die kaufmännischen Geschäftsunterlagen ausdrücklich als Beweismittel vor Gericht anerkannt. Delinquenten sollen „ihre angegebene Crédita oder Schulden / durch unverdächtige Handtschrifften / Brieff/ Handelsbüchere /
ISG Frankfurt a.M. RKG 243/426, S. 106. Der Statt Franckfurt am Mayn ernewerte Reformation: Wie die in Anno 1578 außgangen und publicirt/(Verf.: Johann fichará), Jetzt abermals von newem ersehen, an vielen underschiedtlichen Orten geendert, verbessert und vermehrt. Franckfurt am Mayn: Rosa, 1611: Ander Theil der Reformation. Von Contracten / Handthierungen / und was denen anhangt. 57 58
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oder glaubwürdige Extract (...) bescheinen / (...) Auch darneben mit dem Eydt durch sich selbst / oder ihre hierzu Gevollmächtigte vor unserm Stattgericht / oder Scheffen-Raht betheuren / daß solche Handtschrifften / Bücher / Brieff / und Extract / So wol Just / und gerecht / und daran nichtzit bezahlet". Voraussetzung für eine Tätigkeit als Compromissar war kaufmännischer Sachverstand, was Handelspraxis und Rechtslage der Geschäftspartner betraf, bei gleichzeitiger Wahrung des Arkanum der Geschäftsinterna. Zugleich war von Seiten der Kaufleute eine Standardisierung ihrer Aufzeichnungen gefordert, denn doppelte Buchführung und Inventarisierung bildeten die Grundlagen für die Vergleichbarkeit ihrer Bücher, sei es im schiedsrichterlichen Vergleich oder im gerichtlichen Prozeß. An der Unmöglichkeit der Rechnungslegung scheiterte der außergerichtliche Vergleich, „weil die bûcher so voller errorum steckten, daß darauß keine redliche bilance gemacht werden können"59. Das erklärte sich aus der Tatsache, daß „von dießer Compag. dreyerley Hauptbücher fürhanden, deren die erste bey Anbeginn dieser Compagnie als mit Ao. 1621 angefangen, und erstlich durch Nicolaus Ruland gehalten, aber hernacher durch Orlando Heusch continuirt und vollzogen, welche sich erstrecken bis zum Ende des 1623. Jahres, und in allem mit ihren dabey gelegten Bilanzen ganz richtig sein; darauf folgen die Bücher, welche angefangen sein im Anfang des 1624. Jahres und wehren bis in die Ostermeß Anno 1627, als das sie in sich begriffen, dasjenige, was in drei und V* Jahren gehandelt, und dieses sein des Johan Preß Bücher, welche nicht allerdings richtig, und dann drittens diejenige Bücher, welche im April ao. 1627 angehen, von Conrad Henning Luz angefangen, und durch Hans Hübner continuirt worden, in welche alles schon bis auf Ostermeß 1632 richtig eingebracht ist"60. Ruland von Cassels Wunsch „die Brierische und Heusische Erben zuvorderst und vor allen Dingen zu schleuniger ohncorigerlicher richtigmachung der Compagnie bûcher Rechnung und General bilanz" zu bewegen und daß sie dem „hierinnen dazu bestellten buchhalter durchaus lenger nicht verhinderlich seyen" blieb also unerfüllt. 1703, also siebzig Jahre nach dem ersten Kompromiß wurden ein Journal und ein Kontenbuch der Juwelenhandlung de Briers beim Reichshofrat eingeliefert. Diese beiden Bücher umfassen den Zeitraum von 1627-1632. Sie stellen ein einzigartiges Dokument den Handel und die Produktion von Juwelen betreffend dar, sind aber keinesfalls ein zeitnah verfasstes authentisches Dokument der Geschäftstätigkeit der Juwelenhandlung. In einem Protokoll der Kaiserlichen Kamerai - Kommission „In sachen Wedige contra Franckfurt, (...) den
ISG Frankfurt a.M. RKG 1571, Quadrangel 26: Auß dem Protocollo Kayser. Cameral Commis. In sachen Wedige contra Franckfurt Sessio 40, freytags gegen neun Uhr den 8ten Juny 1657 gehalten. 60 ISG Frankfurt a.M. RKG 243/426 S. 353-353. 59
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8ten Juny 1657 gehalten"61 heißt es „Herr Thoir (einer der Sachverständigen, d. Verf.) habe gestern nur ein einziges buch von Anno 1617 bis 1622 durchgangen, aber darinnen selbsten die große Unvollkommenheit gesehen, es seye zwar das (...) buch zimlicher massen eingeschrieben, habe aber dennoch kein Haupt noch Fundament." Auch das Konvolut von 24 Geschäftsbüchern, das sich im Nachlaß Bodeck62 in Wiesbaden befindet und das „in einem Kistlein in den kleinen Römer" gebracht worden war, trug letztendlich nicht zum für die Parteien befriedigenden Ausgang der Auseinandersetzungen bei. Sicher ist auf jeden Fall, daß ohne die gerichtliche Auseinandersetzung wir überhaupt keine Kenntnis von der Juwelenhandlung de Briers und ihren weitreichenden Geschäften hätten. Konfliklösungen mittels Beiziehung von Compromissarien in Frankfurt sind auch im Prozeß Lappa ca. Neufterre nachzuweisen.63 Sie finden sich des weiteren auch in Leipzig. Die „Facti Species betr. Die Handlungs-Compagnie zwischen Gerhard und Michael Heusch und Johann Stör 1652-1701" beinhalten einen „Vergleich zwischen Gerhard Heusch & Johann Stöer / und Daniel Heusch", der in Leipzig geschlossen worden war, weil „bey gehaltener und zugelegter Abrechnung unterschiedene Irrungen entstehen wollen / und aber der nahen Anverwandschafft / und sonsten gepflogenen Freundschafft halber / sie zu beyden Seiten vorträglicher befunden / mit Zuziehung guter Freunde / solche Irrungen zu überlegen und in Güte abzuthun / zu solchem Ende auch den Wol=Edlen und Vesten Herrn Anthon Günther Böschen und Herrn Michael Wiedemann ersuchet / sich hierzu abzumüssigen und dieselben sich hierzu willigst finden lassen / als ist vermittelst deren Bemühung / alles was streitig gewesen / in Güthe abgethan (...). ,/64 Ein Hamburger Fall bei dem Compromissarien zur Entscheidung strittiger Fragen beigezogen worden waren betraf die Erben von Peter von Overbeck und die Erben von Jobst von Overbeck.65 Der 1676 veröffentlichte „Extractus Actorum, (...), Alles dessen / Was zwischen seel. Petern von Overbeck Erben / Als Klägern und Wiederbeklagten / Eines und dann Jobst von Overbeck auch seel. Erben / Als Beklagten Wiederklägern / Andern Theiles in Puncto Societatis Et Tutelae, Vor denen Darzu erwehlten IV. Compromissariis (...)
ISG Frankfurt a.M. RKG1571, Quadrangel 26 (wie Anm. 59). HStA Wiesbaden, Nachlaß Bodeck (wie Anm. 11). 63 ISG Frankfurt a.M. RKG 988; hier fungierten die Kaufleute Samuel Jordis und Johann du Fay ab Compromissare. 64 Daniel Heusch, Juwelier in Dresden (1616 Frankfurt a.M. - 1670 Dresden) war der Bruder von Gerhard Heusch, einem der Mitgesellschafter der Juwelenhandlung Daniel de Briers. 65 Dietz, ebd., Bd. Π (wie Anm. 3), S. 260f. Es handelt sich um die Geschwister Peter und Jobst von Overbeck, die 1602 mit ihrer verwitweten Mutter und drei weiteren Geschwistern aus Antwerpen nach Frankfurt gekommen waren. 1614 siedelte die sehr wohlhabende Familie nach Hamburg über. 61
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Verhandelt worden"66 bezog sich auf einen Streitfall, der sich aus einem Wechsel-Geschäft im Jahre 1623 ergeben hatte. Die Compromissarien stammten aus der wohlhabenden Hamburger Kaufmannschaft.67 Sie unterstanden in diesem Fall in Hamburg dem vom der Römisch Kaiserlichen Majestät verordneten Obmann und Oberalten der Hansestadt Simon Focke. 68 Weil aber die Vermittlung durch „Compromissarien" oder „gute Männer" (goede mannen), wie sie auch genannt wurden, von den streitenden Parteien meist selbst organisiert wurde und sie keiner Dokumentationspflicht unterlagen, gibt es über die exakte Verbreitung dieser Institution nur mittelbare Nachrichten aus den Gerichtsakten und Kaufmannskorrespondenzen. Daneben gab es aber noch die Möglichkeit, daß die „guten Männer" vom Gericht bestellt wurden, wie in Hamburg.69 Aus Antwerpen und Amsterdam sind ebenfalls Fälle bekannt, sie betreffen Versicherungspolicen und Compagnie-Kontrakte, bei denen eine Schlichtung durch Compromissarien schon im voraus vertraglich festgelegt worden war.70 Auch die schier unübersehbare Menge der Streitfälle, die sich aus dem Zusammenbruch der großen Tulpenspekulation in den nördlichen Niederlanden im Jahre 1637 ergeben hatte, wurden durch derartige Schlichtungkommissionen gelöst. Diese „Freundschaftsstifter" genannten Schlichter „verfügten über die Autorität jeden einzuberufen, der in einen Prozeß oder Streit verwickelt (war); sie sollten auf freundschaftliche Weise vermitteln und eine Schlichtung herbeiführen und Differenzen beilegen und beenden"71. Die Tulpenzüchter und ihre Kunden hatten ihre Streitfälle ausnahmslos außergerichtlich beigelegt.72 Die Nachrichten über Compromissarien und ihre schiedsrichterliche Funktion bei Handelsstreitigkeit sind spärlich, aber im Fall der Juwelenhandlung de Briers äußerst spektakulär. Die Bemühung der allerhöchsten Gerichtsinstanzen des Reiches war sicher nicht die Regel, schon aus den eingangs beschriebenen Gründen der Reputation und des Credits. Ob die mangelhafte Führung der Bücher wie im Falle de Briers kaufmännischer Usus oder doch die Ausnahme war, wird sich aufgrund der Quellenlage nicht mehr feststellen lassen.
„Extractus Actorum, Oder Wahrhaffte Vorstellung, Alles dessen / Was zwischen seel. Petern von Overbeck Erben / Als Klägern und Wiederbeklagten / Eines und dann Jobst von Overbeck auch seel. Erben / Als Beklagten Wiederklägem / Andern Theiles in Puncto Societatis Et Tutelae, Vor denen Darzu erwehlten IV. Compromissariis (...) Von Anfang biß zu dem An.1676 erfolgten Laudo Verhandelt worden" ca. 1676. 67 Vgl. Martin Reißmann, Die hamburgische Kaufmannschaft des 17. Jahrhunderts in sozialgeschichtlicher Sicht, Hamburg 1975. 68 Reißmartn, Die hamburgische Kaufmannschaft (wie Anm. 67), S. 97, S. 382. 69 Extractus Actorum (wie Anm. 56). 70 Gelderblom, The Resolution (wie Anm. 23), S. 10. 71 Mike Dash, Tulpenwahn. Die verrückteste Spekulation der Geschichte, München 2002, S. 235. 72 Dash, Tulpenwahn (wie Anm. 71), S. 237.
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Die Liquidation der Juwelenhandlung des Daniel de Briers in Frankfurt am Main
Die den Compromissaren zur Verfügung stehende Gesetzestexte wie die Frankfurter Reformation und die gewohnheitsrechtlichen Handelsusancen, die die Grundlage für ihre schiedsrichterlichen Entscheidungen bildeten zeigen ein entwickeltes Rechtssystem, bei dem es der einzelnen Gesellschaft oder dem einzelnen Kaufmann ins Belieben gestellt war sich nach den Regularien effizient und erfolgreich zu verhalten.
Im Spannungsfeld externer und interner Machtfaktoren
Andreas Gotzmann Im Spannungsffeld externer und interner Machtfaktoren. Jüdische Gerichtsbarkeit im frühneuzeitlichen Frankfurt am Main Die Frage nach der Organisation und nach dem Umfang jüdischer Rechtsprechung im 17. und 18. Jahrhundert steht zweifellos im Zentrum des Verständnisses jüdischer Geschichte dieser Epoche. Dennoch ist der Stand der Forschung ungewöhnlich unbefriedigend; die Bewertungen bleiben schematisch. Dabei lassen sich generell zwei Trends beobachten, die sich - wiewohl sie gegenläufig sind - letztlich ergänzen. Die historische Bewertung in der frühen Forschung zur jüdischen Geschichte sah in der innerjüdischen Gerichtsbarkeit und im Rabbinat als dessen Träger vor allem ein Bollwerk von Antimodernität und ein Zeichen dafür, dass die rechtliche Tradition des Judentums anlässlich der als notwendig erachteten Zurückdrängung von Religion letztlich ein Hindernis darstelle.1 Seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts änderte sich dieses Bild mit der Entwicklung modernisierungskritischer Perspektiven. Was zuvor als ein diskreter historischer Nationaldiskurs definiert worden war, wandelte sich nunmehr in einen offen nationalistischen. In der Geschlossenheit jüdischer Lebenswelt vor der Emanzipation und insbesondere in einer eindimensionalen Vorstellung von organisatorischer sowie geistiger Autonomie wurde nun jene Überlebenskraft des Judentums gesehen, die nach der Ernüchterung im Bezug auf Integration und Anerkennimg sowie nach dem vermeintlichen Bankrott der neuen Identitätsmodelle wieder eine Zukunftsperspektive bot.2 Beiden Sichtweisen ist eines gemein, und dies charakterisiert die Forschungsliteratur bis heute: Recht durchgängig findet sich die essentialistische Vorstellung einer weitgehenden Eigenständigkeit jüdischer Verwaltungs- und Wahrnehmungsstrukturen zugunsten eines monolithisch gedachten, vom jeweiligen Standpunkt aus ideologisch überhöhten Wesens des Judentums. Im Gefolge der einflussreichen Arbeiten von Jakob Katz betrachtete man seit den 1960er Jahren gerade die Frühe Neuzeit als Periode des Zerfalls eines ,wahrhaft' jüdischen Lebens, als eine Zeit der Entartung und des Niedergangs beispielsweise des Rabbinats.3 Erst der For1 Z.B. Reuven Michael, Das deutsche Rabbinat im Spiegel der zeitgenössischen Geschichtsschreibung, in: Julius Carlebach (Hg.), Das aschkenasische Rabbinat. Entstehung, Entwicklung, Krise und Erneuerung, Berlin 1995, S. 191-204. 2 Hierzu insgesamt Andreas Gotzmann, Historiography as Cultural Identity: Towards a Jewish History beyond National History, in: Andreas Gotzmann/Christian Wiese (Hg.), Modern Judaism and Historical Consciousness. Identities - Encounters - Perspectives, Brill, Leiden/Boston 2007, S. 494-528. Ders., Eigenheit und Einheit. Modernisierungsdiskurse des deutschen Judentums der Emanzipationszeit (Studies in European Judaism, 2), Leiden 2002, S. 114-211. 3 Insbesondere Jacob Katz, Exclusiveness and Tolerance. Studies in Jewish-Gentile Relations in Medieval and Modern Times, London 1961, z.B. S. 53ff. Oder ders., Tradition und Krise. Der Weg der jüdischen Gesellschaft in die Moderne, München 2002, S. 84-108. Asriel Schochat, Der Ursprung der jüdischen Aufklärung in
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Andreas Gotzmann schling zum obrigkeitlichen Privilegienwesen gelang es in Ansätzen, dieses einseitige Bild zu relativieren, bis neue Zugänge erschlossen werden konnten. 4 All dies geschieht vor dem Hintergrund eines in den letzten Jahren zunehmenden Interesses an der jüdischen Frühen Neuzeit, wiewohl die Wahrnehmung gerade dieses zentralen Aspekts schematisch blieb.5 Eine grundlegende Herausforderung für jede Synthetisierung ist die organisatorische Zersplitterung der jüdischen Gemeinden im Heiligen Römischen Reich in diesem Zeitraum, was durch die vorherrschende territoriale Orientierung der Forschung zudem verstärkt wurde. 6 Daher wird man nicht mehr als grundlegende Modelle eines neuen, treffenderen Zugangs zu den jeweils spezifischen Zuständen und Entwicklungen erwarten dürfen. In diesem Beitrag werden zugespitzt auf die Situation in der Reichsstadt Frankfurt am Main erstmals grundlegende Strukturen und Problematiken der jüdischen Rechtsautonomie dargestellt. 7 Dies ist für Frankfurt deshalb Deutschland (Campus Judaica, 14), Frankfurt 2000, S. 129-217. Chimen Abramsky, The Crisis of Authority within European Jewry in the 18th Century, in: Siegfried Stein/Raphael Loewe (Hg.), Studies in Jewish Intellectual and Religious History, Alabama 1979. 4 Z.B. Guido Kisch, Jews in Medieval Germany. A Study of their Legal and Social Status, Chicago 1949. Friedrich Battenberg, Die Privilegierung von Juden und der Judenschaft im Bereich des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation, in: Barbara Dölemeyer/Heinz Mohnhaupt (Hg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 1, (Studien zur europ. Rechtsgeschichte, 93), Frankfurt a.M. 1997, S. 139-190. Hedwig Heider, Die Rechtsgeschichte des deutschen Judentums bis zum Ausgang des Absolutismus und die Judenordnungen in den rheinischen Territorialstaaten, Bielefeld 1973. Keinen wirklichen Umschwung, doch eine neue Qualität stellten die Arbeiten von Daniel J. Cohen dar, z.B. ders., Die Landjudenschaften in Deutschland als Organe jüdischer Selbstverwaltung von der frühen Neuzeit bis ins neunzehnte Jahrhundert. Eine Quellensammlung, 3 Bde., Jerusalem 1996-2001. Insbesondere aber Andreas Gotzmann, Strukturen jüdischer Gerichtsautonomie in den deutschen Staaten des 18. Jahrhunderts, in: HZ 267, 1998, S. 313-356. Hinzu kommt ein neues Interesse an derlei Fragen mit Bezug auf das ausgehende Mittelalter, wiewohl die Argumente zugunsten einer Gemeinschaftsorganisation auf Reichsebene nicht über vage Mutmaßungen hinausreichen. Yaakov Guggenheim, A suis paribus et non aliis iudicentur. Jüdische Gerichtsbarkeit, ihre Kontrolle durch die christlich Herrschaft und die obersten rabi gemeiner Judenschafft im heiigen Reich, in: Christoph Cluse/Alfred Haverkamp/Israel J. Yuval (Hg.), Jüdische Gemeinden und ihr christlicher Kontext in kulturräumlich vergleichender Betrachtung, von der Spätantike bis zum 18. Jahrhundert, Hannover 2003, S. 405-439. Bzw. allenfalls lose Zweifel an derlei stabilen Strukturen angemeldet werden, Birgit E. Klein, Jewish Legal Autonomy in the Middle Ages. An Unchallenged Institution?, Zutot 3 (2003), S. 121-134. 5 Mordechai Breuer, Frühe Neuzeit und Beginn der Moderne, in: Michael A. Meyer/Michael Brenner (Hg.), Deutsch-jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 1, München 1996, S. 160-243. 6 Für einen neuen, stärker auf die durch Kaiser und Reich bestimmten Rahmenbedingungen jüdischer Existenz hin ausgerichteten Zugang plädiert Stephan Wendehorst, Imperial spaces as Jewish spaces - the Holy Roman Empire, the Emperor and the Jews in the early modern period; some preliminary observations, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts 2 (2003), S. 437-474. 7 Der Stand der Forschung zu Frankfurt geht bislang kaum über die Archiverhebungen Isidor Kracauers hinaus. Ders., Geschichte der Juden in Frankfurt a.M.,
Im Spannungsfeld externer und interner Machtfaktoren vergleichsweise gut zu leisten, da hier die Aktenlage obrigkeitlicher Provenienz das Leben in der jüdischen Gemeinde in ganz ungewöhnlicher Breite und Differenziertheit dokumentiert. Hinzu kommt eine vergleichsweise gute Überlieferung jüdischer Gemeindearchivalien, die - abgesehen von punktuellen Einsichtnahmen - bislang allerdings weitgehend unbearbeitet blieben und weiterhin nur schwer zugänglich sind. Diese Quellenfülle erlaubt es, eine allgemeine Charakteristik der innerjüdischen Gerichtsbarkeit sowie präzisere Einschätzungen der sie betreffenden zentralen Fragen zu erstellen. Dieser Beitrag muss sich auf eine Analyse der normativen Aspekte beschränken, während die Praxis und der Umfang der jüdischen Gerichtsbarkeit nur angedeutet werden können. 8 Bevor der Blick auf die innerjüdische Gerichtsbarkeit gerichtet wird, ist in aller Kürze festzuhalten, dass diese Teil eines mehrfach gegliederten Rechtssystems war, das weitgehend von christlicher Seite bestimmt wurde. Jüdisches Leben in christlichen Ländern definierte sich seit dem Mittelalter über das System des Judenschutzes, das gegen jährliche Steuerzahlungen die Unbeschadetheit von Leib und Leben, Hab und Gut, stark beschränkte Erwerbsmöglichkeiten und die Ausübung der eigenen Religion zusicherte. Während dieses ehemals kaiserliche Recht sukzessive auf Kurfürsten, Landesherren und schließlich auch die Reichsritterschaft überging, wurden der jüdischen Gemeinde in Frankfurt a.M. ihre Schutzprivilegien weiterhin direkt vom Kaiser gewährt, wobei sich dieser teils mit der Stadt abstimmte, teils die kaiserliche Oberherrschaft über die Juden bewusst gegen die Stadt ausspielte. Dieses doppelte Untertanenverhältnis war die Ursache grund-
Bd. 2, Frankfurt 1925-27. Ders., Beiträge zur Geschichte der Frankfurter Juden im dreißigjährigen Kriege, in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 3 (1889), S. 130-156, S. 337-372, 4 (1890), S. 18-28. Ders., Die Juden Frankfurts im Fettmilch'schen Aufstand (1612-1618), in: Zeitschrift für die Geschichte der Juden in Deutschland 5 (1892), S. 1-26. Paul Arnsberg, Neunhundert Jahre „Muttergemeinde in Israel": Frankfurt am Main 1074-1974. Chronik der Rabbiner, Frankfurt 1974. Markus Horovitz, Frankfurter Rabbinen. Ein Beitrag zur Geschichte der israelitischen Gemeinde Frankfurt a.M. Mit Ergänzungen von Josef Unna, Hildesheim 1972. Zur Einbettung Eike Wolgast, Frankfurt - das christliche Umfeld jüdischen Lebens im 16. und 17. Jahrhundert, in: Michael Graetz (Hg.), Schöpferische Momente des europäischen Judentums in der frühen Neuzeit, Heidelberg 2000, S. 97-112. Die schwierige Frankfurter Situation stellt sich dennoch als ideal dar, denn der Grossteil der jüdischen Bevölkerung lebte weit verstreut auf dem Lande, ohne die typischen Institutionen, weshalb die Klagen zwangsläufig vor christliche Gerichte gebracht wurden; dazu Monika Preuss, ,aber die Krone des guten Namens überragt sie'. Jüdische Ehrvorstellungen im 18. Jahrhundert im Kraichgau (Veröff. der Komm, für gesch. Landeskunde in Baden-Württemberg, Reihe B, 160), Stuttgart 2005 ° Derzeit in Vorbereitung Andreas Gotzmann, Jüdische Autonomie in der Frühen Neuzeit. Recht und Gemeinschaft im deutschen Judentum, (im Druck, Wallstein: Göttigen 2007/8). Ders./Stefan Ehrenpreis/Stephan Wendehorst, Von den Rechtsnormen zur Rechtspraxis: Ein neuer Zugang zur Rechtsgeschichte der Juden im Heiligen Römischen Reich? in: Birgit Feldner u.a. (Hg.), Ad Fontes. Europäisches rechtshistorisches Forum, Frankfurt a.M. 2002, S. 97-119.
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legender Konflikte, da die Judenschaft ihr direktes Verhältnis zum Kaiser gegen die Machtansprüche des Rats der Stadt einzusetzen wusste.9 Wiewohl das Privilegiensystem der Judenschaft im Rahmen der ständischkorporativen Verfasstheit des Reiches überhaupt erst einen Freiraum schuf, bedingte es auch starke rechtliche Verbindlichkeiten für die Bewohner des zwischen zwei Stadtmauern eingeschlossenen Ghettos. Dabei war der gewährte Entscheidungsbereich grundlegend ambivalenten Charakters: Das Konzept der Gewährung eines spezifischen Handlungsrahmens schuf nur geduldete, prinzipiell aber weiterhin der obrigkeitlichen Entscheidungsebene unterstellte Zuständigkeiten. In diesem Sinne war der interne Handlungsbereich stets in Frage gestellt, da die Obrigkeit theoretisch jederzeit in interne Entscheidungen eingreifen bzw. diese vintersagen und aufheben konnte. Die Praxis zeigte jedoch, dass der gewährte Rechtsrahmen von außen weitgehend unangetastet blieb. Dies führte unter dem Einfluss der in den jüdischen Gemeinden durchaus verbreiteten, theologisch überhöhten Bewertung der Rechtsautonomie dazu, dass der privilegierte Entscheidungsfreiraum intern mitunter als ein unabhängiger und legitimerweise - nicht mehr zu beeinflussender Bereich betrachtet werden konnte. Diese gegensätzlichen Bewertungen des Rechtsverhältnisses trafen sich in einer täglichen Praxis der weitgehenden Duldung innerjüdischer Entscheidungen. Dieses quer zur theoretischen juristischen Einschätzung liegende gemeinsame Einvernehmen wurde jedoch immer dann erschüttert, wenn eine Seite grundlegende Rechte beschnitten sah. In diesen regelmäßig wiederkehrenden Kontroversen pochten dann die Juristen der Stadt darauf, dass der jüdischen Gemeinde eine eigene Gerichtsbarkeit niemals zugestanden worden sei, im Sinne eines autonomen Handelns auch gar nicht zugebilligt werden könne, während sich die jüdische Seite auf das eingespielte Herkommen, aber auch auf ihre Privilegien berief. Zu grundsätzlichen Änderungen führten derlei, zum Teil bis vor die höchsten Reichsgerichte in Wien und Wetzlar gebrachte Konflikte aber nicht. Üblicherweise fiel dies bald wieder auf den schon zuvor kennzeichnenden status quo zurück, auf die beiderseitige pragmatische Anerkennung interner jüdischer Entscheidungsbefugnisse. Aus obrigkeitlicher Perspektive war die Judenschaft kompetent, in religiösen Angelegenheiten, autonom zu handeln. Dies bedeutete allerdings Z.B. Andreas Gotzmann, At Home in Many Worlds? Thoughts about New Concepts in Jewish Legal History, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts, 2 (2003), S. 412-436. Cilli Kasper-Holtkotte, Jüdisches Leben in Friedberg (16.-18. Jh.), in: Andreas Gotzmann (Hg.), Kehilat Friedberg, Bd. 1 (Wetterauer Geschichtsblätter, 50), Friedberg/Hess. 2003. Stephan Wendehorst, Die Kaiserhuldigungen der Frankfurter jüdischen Gemeinde im 18. Jahrhundert, in: Fritz Backhaus/Gisela Engel/Robert Liberles/Margarete Schlüter (Hg.), Die Frankfurter Judengasse: Jüdisches Leben in der Frühen Neuzeit, 2. Aufl., Frankfurt 2006, S. 213-235, S. 339-345. 9
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nicht, dass sich die christliche Seite keine Oberaufsicht vorbehielt.10 In Frankfurt a.M. war hierfür neben Rat, Konsistorium und dem Reichshofrat, der etwa in Fragen der Zensur und Druckprivilegierung hebräischer Schriften, insbesondere des Talmuds entschied, auch das Mainzer Vicedomsamt zuständig, wobei von Mainzer Seite offenbar nur selten interveniert wurde. Die externe Definition des religiösen Eigenbereichs umfasste erhebliche Rechtsbelange, üblicherweise als Ceremonialia bezeichnet, wobei diese externe Systematik teilweise mit einer Rechtskategorie des internen Religionsrechts, der Halacha, korrespondierte, nämlich der religiös verbotenen und erlaubten' Dinge (Issur waHeter). Hinzu kamen zudem alle Fragen des Familien- und Erbrechts, so dass über das jus circa sacra als einem grundlegenden Aspekt des Judenschutzes den Juden erhebliche Entscheidungsbereiche tatsächlich zugestanden wurden. Aber auch jenseits dessen legten Privilegien Rechtskompetenzen fest. Im Gegensatz zu anderen Herrschaften schritt die Privilegierung der Frankfurter Judenschaft allerdings kaum voran. Während die Privilegierung im Absolutismus in dem Bestreben, klarere und funktionstüchtigere Verwaltungsstrukturen zu schaffen, häufig einem erheblichem Wandel unterworfen war, veränderten sich die weit gefassten, grundlegenden kaiserlichen Privilegien offenbar kaum.11 Auch die parallel dazu existierende sogenannte Frankfurter Judenstättigkeit, das mit dem Rat der Stadt ausgehandelte Privileg für alle Mitglieder der jüdischen Gemeinde, blieb was ihre zentralen Inhalte anging im 17. und 18. Jahrhundert recht stabil. Da diese Stättigkeit durch die Reichshofratkommission vermittelt wurde, wurde sie von der Gemeinde in gewisser Weise auch als ein kaiserlich bestätigtes Privileg betrachtet. In den meisten Auseinandersetzungen mit der Obrigkeit spielte sie die entscheidende Rolle, wobei die kaiserlichen Privilegien eher bei vermeintlichen oder tatsächlichen Eingriffen in diese Rechte durch die
Ich kann mich hierbei mit Dank auch auf Mitteilungen von Dr. Cilli KasperHoltkotte beziehen, die derzeit in dem Projekt des Lehrstuhls für Judaistik der Universität Erfurt (Prof. Dr. Andreas Gotzmann) sowie des Max-Plank-Instituts für europäische Rechtsgeschichte (Prof. Dr. Michael Stolleis), Die jüdische Gemeinde Frankfurt am Main in der Frühen Neuzeit. Ökonomische und familiäre Beziehungsnetzwerke, arbeitet. 11 Entscheidend in den durch Leopold I. bestätigten, im Vergleich zur Stättigkeit sehr weit und allgemein gefassten kaiserlichen Privilegien für das hier Diskutierte sind die Punkte, die den Frankfurter Juden zubilligte, dass sie nur vor dem Frankfurter Gericht verklagt und verhaftet werden dürfen, dass auch kein fremder Rabbiner sie vorladen oder ihnen Vorschriften bzw. mit dem Bann belegen dürfe, und die Baumeister (Gemeindevorsteher) den Bann gegen ungehorsame Mitglieder und Schuldner verhängen durfte. Die intern danach klarer ausformulierten und gefestigten Zuständigkeiten und Befugnisse hatten demnach bereits eine externe Sicherung, z.T. insbesondere was den Bann angeht gegen die Interessen der Stadt, und vermutlich auch einen internen spezifischen Vorlauf, der sich jedoch nicht rekonstruieren lässt. Isidor Kracauer, Geschichte der Juden in Frankfurt am Main (1150-1824), Bd. 2, Frankfurt a.M. 1927, S. 75-76. 10
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Andreas Gotzmann Stadt zur Sprache kamen, etwa hinsichtlich der Verteidigung des Rechts auf das eigenständige Verhängen des privilegierten Grossen Banns. Abgesehen von einigen wenigen wirklichen Ergänzungen fand die Rechtsentwicklung einerseits vor allem im Bereich städtischer Dekrete statt, die wie ein Handexemplar der 1616 überarbeiteten Neuen Stättigkeit belegt dieser vereinzelt angegliedert und dann auch in den eigentlichen Text übernommen wurden; diese dokumentieren insbesondere den sich verändernden Interpretationsrahmen der eigentlichen Ordnung. Andererseits wurde dies durch das Spannungsverhältnis zwischen Stättigkeit und kaiserlichen Privilegien, das durch den Reichshofrat interpretiert wurde, vorangetrieben. 12 Im Gegensatz zu der für die aufgeklärte Entwicklung des Judenschutzes typischen Instrumentalisierung innerjüdischer Organisationsstrukturen allen voran der Vorsteher sowie des Rabbinats, was häufig zu einer Ausweitung der Kompetenzen etwa der Rabbinatsgerichte führte - , findet sich derlei in Frankfurt nur ansatzweise. Hier wurden die Rabbiner von der Obrigkeit weder bestätigt noch mit eigenen Privilegien ausgestattet. 13 Dies lag weitgehend im alleinigen Entscheidungsbereich der Gemeinde, wie Einträge im Pinkas, dem Protokollbuch ihrer Vorsteher, Beisitzer und Kassenmeister belegen. 14 Die externe Zurückhaltung gegenüber einer sich als 12 Dieses wichtige Dokument ist nicht ediert, in der Regel bezieht man sich auf Johann Jacob Schudt, Jüdische Merckwürdigkeiten. Vorstellend Was sich Curieuses und Denckwürdiges in den neuem Zeiten bey einigen Jahrhunderten mit denen in alle IV Teile der Welt, sonderlich durch Teutschland, zerstreuten Juden zugetragen. Sammt einer vollständigen Franckfurter Juden-Chronik, 4 Bde., Franckfurt/Leipzig 1714-1718. Dieser präsentiert von der alten und der neuen Fassung je eine der Druckversionen; hier wird zitiert nach dem Bestand des Instituts für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (= ISG Ffm) Bestand Untergewölbe (= Ugb) D 7, Β 1; zur Privilegierungspraxis des Reichshofrats siehe Eva Ortlieb, Kaiserliche Privilegienpraxis in der Formierungsphase des Reichshofrats (1519-1584), in: Stephan Wendehorst (Hg.), Die Anatomie frühneuzeitlicher Imperien. Herrschaftsmanagement jenseits von Staat und Nation: Institutionen, Personal und Techniken, München (derzeit in Vorbereitung). Speziell zur reichshofrätlichen Privilegierungspraxis der Frankfurter Juden siehe Stefan Ehrenpreis/Andreas Gotzmann/Stephan Wendehorst, Jüdisches Heiliges Römisches Reich. Erträge und Perspektiven eines Projekt-Clusters zur Geschichte der Juden in der Frühen Neuzeit, (im Druck: Leipzig 2007/8).
Hier, wie bei allen Vergleichen zu anderen Territorien und Gemeinden siehe Gotzmann, Strukturen jüdischer Gerichtsautonomie (wie Anm. 4), S. 313-56. Mit dem Terminus Oberrabbiner wird im Weiteren vereinheitlichend das Amt des Aw Beit Din - des Gerichtsvorsitzenden - im Vergleich zu anderen Rabbinern bezeichnet. ISG Ffm, Ugb D 7, Β 7; vom 6.8.1623; es findet sich nur der Vermerk der Vereidigung eines Rabbiners Zacharias zur Eichel auf die Stättigkeit selbst, wobei sowohl neue Gemeindemitglieder als auch Vorsteher gleichermaßen auf diese vereidigt wurden, so dass es sich auch lediglich um die Bestätigung seines Zuzugs handeln mag. 14 Pinkas deKehila Keduscha Frankfurt deMaina (= Pinkas Ffm), National and University Library Jerusalem, Ms. Hebr. 4, 622. Dieses Manuskript ist leider trotz jahrzehntelanger Anläufe immer noch nicht ediert und bleibt der Forschung weiter weitgehend entzogen. Ich bin der Nationalbibliothek Jerusalem dankbar, dass mir 13
Im Spannungsfeld externer und interner Machtfaktoren
eigenständig begreifenden internen Rechtsprechung lässt sich in den Frankfurter Akten auch in der Wahrung einer abschätzigen Distanz seitens des Rats und der Bürgermeister gerade zum Rabbinat erkennen: Ansprechpartner für die städtischen Gremien waren fast durchgängig allein die Vorsteher der Gemeinde, Parnassim, Zehner oder Baumeister genannt. Sogar der Schriftverkehr an das Rabbinat lief in Frankfurt üblicherweise indirekt, über die Baumeister. Ebenso bezeichnend ist, dass sich die städtische Seite gegenüber Anfragen aus anderen Territorien zur Gerichtsbarkeit des Rabbinats bedeckt hielt und mehr als einmal erwiderte, dass es derlei hier nicht gäbe, sondern allenfalls einige Rabbiner, die sich gemeinsam berieten.15 Dies hebt sich deutlich von der auch dem Rat vertrauten und mehr als tolerierten Praxis ab und zeigt, dass man - insbesondere nach außen hin - im gestischen Sinn immer wieder auf die alleinige Gerichtsbarkeit pochte, um keinerlei Zweifel an der eigenen Autorität aufkommen zu lassen. Bei Auseinandersetzimg zwischen Juden und Christen war ausschließlich die christliche Obrigkeit zuständig. Da die Mehrzahl rechtlicher Konflikte schon aufgrund der jüdischen Gewerbe zweifellos auf dieser Ebene statt fanden, waren die Juden mindestens in demselben Maß in die christliche Gerichtslandschaft eingebunden wie sie ihre Dinge intern regelten. Die in den Protokollen des in Frankfurt für die Judenschaft zuständigen Schöffenrats und der beiden Bürgermeisteraudienzen dokumentierten nahezu täglichen Klagen von Juden belegen, dass diese Gerichtsbarkeit auch selbstverständlich genutzt wurde, wobei sie nicht grundlegend anders als andere Kläger behandelt wurden.16 Jenseits der städtischen Gremien stand den I dennoch eine, wenn auch mangelhafte Verfilmung der bislang niemals durchgängig ausgewerteten Handschrift zur Verfügung gestellt wurde. Dies geschah allerdings mit der eigenartigen Auflage, aus dieser auch nicht auszugs- oder anmerkungsweise zu zitieren, weshalb dies hier als Paraphrase geschieht - hier nach der nachträglich eingefügten, mit wenigen Ausnahmen durchgängigen Paragraphenzählung und nicht nach den z.T. fehlenden, oft unzuverlässigen Blattzahlen. 15 Z.B. ISG Ffm, Ugb D 32, Nr. 107; Anfrage und Mahnimg der kölnischen Regierung von Bonn an den Rat Frankfurt; 12.5.1777. Ebd.; Rat Frankfurt an die kölnische Regierung Bonn, Entwurf und Kopie; 9.7.1777: „so wird dem hiesigen Oberrabbiner aufgegeben, sein Parere hierüber zu erstatten; ob derselbe andere Gelehrte oder Unterrabbiner dazu nimmt, und die verlangte Gutachten mit selbigen überleget, solches ist uns unbekannt, wenigstens aber wird es ihnen von uns nicht anbefohlen". 16 ISG Ffm, Ugb D 7, Β 1; darin u.a. eine Kopie der Judenstättigkeit, die von den kaiserlichen Kommissarien am 28.2. und 9.3.1616 bei der Restitution der Juden in die Gassen öffentlich abgelesen; v.a. die §§ 1, 1 0 , 1 3 ; in letzterem, dass sie nur hiesigem Rat und sonst niemand anders verbunden seien. Ausnahmen von der Gleichbehandlung dürften hier sicherlich die Criminalia darstellen, bei denen deutlich höhere Strafen für Juden verhängt wurden. Otto Ulbricht, Criminality and Punishment of the Jews in the Early Modern Period, in: R. Po-chia H s i a / H a r t m u t Lehmann (Hg.), In and Out of the Ghetto. Jewish-Gentile Relations in Late Medieval and Early M o d e m Germany, Cambridge University Press/Cambridge 1995, S. 49-70;
Andreas Gotzmann Frankfurter Juden zudem der Weg an die höchsten Reichsgerichte offen, eine Möglichkeit, die auch in erheblichem Umfang genutzt wurde. 1 7 Sie waren wohl noch mehr als andere Teile der frühneuzeitlichen Bevölkerimg ,Bewohner vieler Rechts weiten', zumal ihr Handel sich über unterschiedliche Territorien erstreckte, für Frankfurt von der näheren Umgebung zwischen Worms, Mainz, Friedberg und Fulda bis in die Niederlande sowie nach Prag, Wien oder Krakau. 18 Jenseits dieses Eingebundenseins durch die allgemeinen Rechte, über das von christlicher Seite definierte sogenannte Judenrecht, das den generellen Umgang von Christen mit Juden regelte, besaß die Gemeinde durch ihre Privilegien in Angelegenheiten ,unter Juden' einen gewissen Handlungsfreiraum. Betrachtet man die Frankfurter Judenstättigkeit von 1616, so fällt nicht nur die Vereidigung der Baumeister und Rabbiner auf deren Einhaltung ins Auge. 19 Es wurde zudem ein eigenständiger Handlungsbereich festgelegt: „die Jüdische Vier-Zehener [= dies ist das 1 6 2 1 / 2 2 aus dem Zehner genannten Vorstand entstandene erweiterte Vorstehergremium] sindt befugt geringe Sachen undt Händel, so die Juden gegen einander zu sprechen, mit Zuziehung der Rabbiner oder wen sonst die Partheyen leiden mögen, zu vergleichen undt zuvertragen, undt sindt die Partheyen einem solchen veranlassten gütlichen Sprüch zu geloben gehalten". 20
S. 51. Maria R. Boes, Crime and Punishment in the City of Frankfurt am Main from 1562 to 1596, New York 1989. Dies., Juden als zweifache Opfer. Das frühmoderne Strafrecht, in: Andreas Gotzmann/Stephan Wendehorst (Hg.), Juden im Recht. Neue Zugänge zur Rechtsgeschichte der Juden im Alten Reich, Duncker & Humblot/Berlin 2007 (ZHF/Beihefte; 39), S. 221-244. Allgemein Rainer Koch, Grundlagen bürgerlicher Herrschaft. Verfassungs- und sozialgeschichtliche Studien zur bürgerlichen Gesellschaft in Frankfurt a.M. (1612-1866), Wiesbaden 1983. Ralf Roth, Stadt und Bürgertum in Frankfurt a.M. Ein besonderer Weg von der ständischen zur modernen Bürgergesellschaft (1760-1914), München 1996. Anja Johann, Kontrolle mit Konsens. Sozialdisziplinierung in der Reichsstadt Frankfurt am Main im 16. Jahrhundert (Studien zur Frankfurter Geschichte, 46), Frankfurt a.M. 2001. 17 Für die Nutzung des Reichskammergerichts durch Frankfurter und Hamburger Juden siehe den Beitrag von Anette Baumann, Jüdische Reichskammergerichtsprozesse aus den Reichsstädten Frankfurt und Hamburg. Eine quantitative Annäherung, in: Gotzmann/Wendehorst, Juden im Recht (wie Anm. 16), S. 297-316. 18 Das derzeit noch laufende Projekt von Dr. Kasper-Holtkotte wird solche Einblicke bieten. Michael Toch, Wirtschaft und Geldwesen der Juden Frankfurts im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit, in: Jüdische Kultur in Frankfurt am Main, 1997, S. 25-46; v.a. für das 16. Jahrhundert. Da es wohl nicht generell möglich war, alle Prozesse nach Frankfurt zu ziehen, mussten Juden die unterschiedlichen Rechtssysteme kennen, um erfolgreich tätig sein zu können. Andreas Gotzmann, At Home in Many Worlds?, in: Jahrbuch des Simon-Dubnow-Instituts, 2 (2003), S. 412^436. " ISG Ffm, Ugb D 7, Β 1, darin das Handexemplare des Auszugs aus der Stättigkeit zur jährlichen Verlesung in der Synagoge von 1616, mit Zusätzen aus dem Jahr 1622 etc.; ebd., Tit. II § 1. 20 Ebd., Tit. II § 5.
Im Spannungsfeld externer und interner Machtfaktoren
Zugleich wurde aufgrund des Vorwurfs des Missbrauchs klarer definiert, dass: „zwar den Vier-Zehnern [Marg.: dicker Randstrich] Rabbinern, auch andern unpartheyischen Juden zugelassen, wann jüdische Partheyen in Sachen, da keinen dritten Nachtheil zu gezogen wirdt, [...] freywilliglich compromittiren, undt ihrem Entscheidt sich untergeben wollen, dass die also erkisete Jüdische Schiedts Freundt darinnen erkennen mögen, sie sollen sich aber, außerhalb erlangten sonderbaren Raths Decrets, keines Zwangs und Exekution, weder mit Verbiethung der Hochzeiten, Begrebnüssen, Beschneidungen, noch in anderer Weg gebrauchen".21 Dabei wurde die Gerichtsbarkeit nicht nur wie in anderen Territorien auch üblich auf geringfügige Dinge' begrenzt, um die relativ schwache obrigkeitliche Rechtsorganisation von der Menge unrentabler Klagen freizuhalten. Während in anderen Herrschaften klarere Zuständigkeits- bzw. Appellationsgrenzen festgeschrieben wurden, blieben diese Inhalte in Frankfurt jedoch weiterhin uneindeutig.22 Da die Auslegung dieses Begriffs auf jüdischer Seite immer wieder von den sich ebenfalls ändernden Vorstellungen auf Seiten des Rats differierte, entstand ein erheblicher struktureller Graubereich, der dauerhaft zu Konflikten führte. Zugleich wurde damit festgeschrieben, was zuvor in dem vom Reichshoffiskal angestrengten Verfahren der Jahre 1609-12 gegen die gesamte Judenschaft im Reich - allem voran gegen die Frankfurter Juden - wegen angeblicher Verschwörung gegen den Kaiser moniert worden war: Dass die Juden des Reiches sich in ihren gemeindlichen und rechtlichen Dingen als autonom begriffen und dies in einem Maße, dass sie die gesetzten Schranken durchbrächen und ihre An-
Ebd., Tit. II § 6. Vgl. auch § 8: außer in spezifischen Fällen - Münzvergehen, Eheversprechen im Hinblick auf die Vermögenslage und die Mitgift, - wo den Baumeistern die Verhängung des Eids aufgelegt wurde „sonsten aber und außer diesen Special Fallen, sollen sich sowohl die Vier-Zehener und Baumeister, als auch die Rabiner bey Vermeidimg hoher und starcker Straff genzlich enthalten einigen Juden ein Aidt uff zu erlegen ohne sonderbare erlangte Special Bewilligung E.E. [die üblichen Titulaturen werden hier stereotyp vereinfachend als ,eines hochedlen und ehrbaren' wiedergegeben] Raths". 22 Gotzmann, Strukturen jüdischer Gerichtsautonomie (wie Anm. 4)), S. 313-56; beispielsweise in der Markgrafschaft Baden. Heinz Schmitt/Ernst Otto Bräunche/Manfred Koch (Hg.), Juden in Karlsruhe. Beiträge zu ihrer Geschichte bis zur nationalsozialistischen Machtergreifung (Veröffentlichungen des Karlsruher Stadtarchivs, Bd. 8), Karlsruhe 1988, S. 512-515: Judenordnung für die Untere Markgrafschaft Baden-Durlach (31.5.1715); Ergänzungen für die unter- und oberländische Judenschaft (31.5.1727); beides in: Stadtarchiv Karlsruhe, 5, Durlach A 1435; Generallandesarchiv (= GLA) Karlsruhe, 2 3 6 / 9 4 7 . Zur weiteren Begrenzung der Strafhöhe siehe GLA Karlsruhe, 2 0 6 / 2 1 9 2 ; Erlaß der Änderungen der Judenordnung (2.4.1753), Bl. 295b; später wurde allerdings wieder die höhere Berufungsgrenze von 10 fl. bestätigt; GLA Karlsruhe, 3 5 7 / 3 3 3 : Entscheidungen des Rabbiners in Ceremonialsachen (29.[9.]1770). 21
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gelegenheiten der Obrigkeit verschleierten und entzögen. 23 Die Überarbeitungen der Stättigkeit gehen dezidiert auf diese Auseinandersetzung ein, etwa wenn betont wurde, dass es sich bei dem zugestandenen Entscheidungsfreiraum keineswegs um eine Gerichtsbarkeit, sondern nur um ein freiwilliges Güteverfahren handele. Als Unterscheidungsmerkmal gegenüber einer Rechtsprechung galt, dass der jüdischen Entscheidungsinstanz keinerlei Strafmittel zustünde, es sei denn, diese würden fallspezifisch bei der Obrigkeit beantragt und von dieser gewährt. Zugleich schrieb die erneuerte Stättigkeit vor, dass keine innergemeindliche Ordnung ohne amtliche Zustimmung vereinbart werden dürfe. 24 Allein der Pinkas der Gemeinde belegt jedoch eindrücklich, dass dieses Verbot intern nicht beachtet wurde. 25 Dies auch, da schon in der so genannten Rabbinerverschwörung auf jüdischer und sogar auf städtischer Seite davon ausgegangen worden war, dass die Gemeinde ihre interne Organisation ebenso wie andere Korporationen einvernehmlich selbständig regeln könne.26 Nach den Auseinandersetzungen im Rahmen der so genannten Rabbinerverschwörung sowie interner Skandale der Jahre 1621-22, nach der Wiederzulassung der kurzzeitig vertriebenen Gemeinde, in deren Verlauf mehrfach die Frage nach der Legitimität eines eigenständigen gerichtlichen Handelns gestellt wurde, war die grundlegende Tendenz von außen, jede interne Gerichtsbarkeit streng zu kontrollieren. Dementsprechend findet sich in dem der städtischen Seite wichtigen Paragraphen zur Überwachung des jüdischen Münzhandels, der Münzschneiderei sowie gegen Frevel, „Schlägerey und Excess" zwar, dass die Vorsteher dem nachzugehen und
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Dieses vom Reichshoffiskal angestrengte Verfahren wurde unter der Bezeichnung der Frankfurter Rabbinerverschwörung des Jahres 1603 bekannt. Hierzu Birgit E. Klein, Wohltat und Hochverrat. Kurfürst Emst von Köln, Juda bar Chajjim und die Juden im Alten Reich (Netiva, 3), Hildesheim 2003. Volker Press, Kaiser Rudolf II. und der Zusammenschluss der deutschen Judenheit. Die sogenannte Frankfurter Rabbiner Verschwörung von 1603 und die Folgen, in: Alfred Haverkamp (Hg.), Zur Geschichte der Juden im Deutschland des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit, Stuttgart 1981, S. 243-292. Marcus Horovitz, Die Frankfurter Rabbinerversammlung vom Jahre 1603 (Beilage zur Einladungsschrift der Israel. Religionsschule), Frankfurt a.M. 1897, S. 20-30. 24 ISG Ffm, Ugb D 7, Β 1, Tit. II §§ 2-3; wie man denn auch eine ältere interne Regelung zu den Zuzugsgeldern amtlich bestätigte. Auch 1754 verwies man von städtischer Seite erneut darauf, dass intern stets nur freiwillig gütlich entschieden werden dürfe, ISG Ffm, Ugb D 32, 65, Tom VII; (Nr. 565) Städt. Bericht zum Reglementsprojekt; ad § 57, 59. 25 Pinkas Ffm, z.B. die Gemeindeordnungen von 1672 bzw. 1685, §§ 320, 337. 26 ISG Ffm, Ugb E 48 Κ, Bd. 2; zur Reichsklage von 1609-12, hier die erneute Gegeneingabe vermutlich der Frankfurter Judenschaft (ohne Datum); das Argument gegen diese Differenzierung war, ebenso wie die jüdischen Gemeinden für die Vorladung zu dem Treffen 1603 Zwangsmittel angedroht hatten, würden sich Handwerke auf mehr als hundert Meilen zu Treffen „vertagen und beschreiben, auch die Ausbleibenden mit Vermehrung der Gesellen und Lehrjungen und anderen Strafen so sie herbracht, belegen".
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die Schuldigen sogar zu bestrafen hätten. Allerdings mit dem Zusatz, dass sie dies „mündtlich oder schriftlich zuerkennen geben, welche dieselbe E.E. Rat für zu tragen, undt dessen Ausschlags zu erwarten, ob die Bestrafung durch die Jüdische Vier-Zehener vorzunehmen, oder für E.E. Rath zu bringen" sei.27 Erst nach der Entscheidung der städtischen Gremien wurde der Gemeindeleitung zugestanden, anderweitige Interessen' durch eine nachgeordnete interne Bestrafung zu befriedigen, weshalb ihr zubilligte wurde: „nicht desto weniger der Jüdischheit ihres eigenen Interesse und den Aergerlichen Consequenz halben (.ebot) einen solchen Delinquenten auch mit ihrer vorlengst under der Jüdischheit verlihenen undt confirmirten Ceremonialischen Straff, nemblich dess nicht Ruffens für die Zehengebott, undt Cappentragens zu belegen, welche dann auch ein solcher Delinquent entweder ausstehen, oder mit einer Summ Geldt ablösen soll". 28 In dem handschriftlichen Exemplar der Judenstättigkeit, das die Zusätze der Jahre 1621 und 1622 enthält, wurde demgemäß auch jener Paragraph neu formuliert, der schon zuvor den Baumeistern und Rabbinern bei hoher Strafe untersagt hatte „kein Bann, Acherosa, Heram oder wie er sonst Nahmen haben mag" zu verhängen - außer zur Inquisition von Diebstählen.29 Obwohl die kaiserlichen Privilegien dies ausdrücklich zubilligten, sollte auch dies künftig wegen des angeblich großen Missbrauchs ohne Zustimmung des Rates verboten sein, wobei durch die Auflage, darüber stets ein Verzeichnis auf Deutsch zu führen, eine Kontrollmöglichkeit geschaffen wurde. In diese Richtung ging auch eine Entscheidung des Rates vom Mai 1622, die zusätzlich in der Synagoge verlesen wurde: Alle Ungebührlichkeiten und Beleidigungen durften nur vor den städtischen Gremien ausgetragen und in keinem Fall bei hoher Strafe vor die Gemeindeleitung und Rabbiner - weder an Frankfurter, noch gar an auswärtige - gebracht werden.30 I Ebd., Tit. II § 7. Vgl. auch die im Pinkas verzeichnete obrigkeitliche Verordnung, die offenbar intern ausformuliert wurde, Pinkas Ffm, § 390 (1737). 28 Ebd., Tit. II § 9; wobei die Strafgelder hälftig an die Obrigkeit und das jüdische Armenwesen fielen und mit der Obrigkeit abzurechnen waren, was eine nachgelagerte Kontrolle bedeutete. Ebd., Tit. II § 10; bezieht sich auch auf das Nachfolgende. Der gesamte § wurde gestrichen und ersetzt. Gemeint sind die in Frankfurt intern gebräuchlichen Stufen des jüdischen Banns, nämlich die Hachrasa, den Ausruf, und die verschärfte Form des Cherems, des eigentlichen Banns, der v.a. in zusätzlichen Ehren- und soziale Ausschlussstrafen bestand. 30 ISG Ffm, Ugb D 7, Β 1; Rats-Bekanntmachung in der Synagoge, 3.5.1622; „nit in unguten Gedancken noch mit Wort oder Wercken einigermassen (ein)ander schelten, übel nachreden, oder in anderer Weg zu wider syn, viel weniger solche Sachen vor den Obristen, noch andere Rabiner oder Ortten bringen, und entscheiden lassen, sondern was sich fürters zwischen ihnen sämptlich und jedermann besonders solchem zuwider, zutrage, würde solches gehörigen Orts vor der Christlichen Obrigkeit, dahin sie in der erwehnten Stettigkeit gewissen, clagen". 27
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Dennoch zeigt selbst der Text der Stättigkeit, dass diese Linie immer wieder durchbrochen wurde, um die Gemeindegremien für obrigkeitliche Interessen nutzen zu können. In einer zeitgleich zu dem genannten Ratsdekret ergangenen Entscheidung des städtischen Rechneiamts - jener Institution, die mit der Abrechnung der Steuern und Strafgelder der Frankfurter Juden befasst war - wurde festgelegt, dass die Baumeister in den „indisputirlichen schlechten Frevelfällen, auch geringen und solche Sachen so der Erkändtnus nach vor Jüdische Rabiner verwillkhürt", Personen, die ihnen nicht gehorchten, mit internen Strafen religieren dürften. Erst wenn jene nicht einlenkten, sollte dies dem Rechneiamt vorgetragen werden, das dann über die weitere Vorgehensweise zu entscheiden habe.31 Auch zwei Paragraphen der Stättigkeit eröffneten den Vorstehern und Rabbinern zur Entlastung der städtischen Gerichte einen Entscheidungsfreiraum, allerdings nicht im Sinne wirklicher Rechtsentscheide sondern gütlicher Vergleiche.32 Wiewohl gerade in Frankfurt mehrfach argumentiert worden war, dass diese Kompromissverfahren keine Strafbewährung besitzen dürften, billigte der Rat der Gemeinde sogar eigenständige Geldstrafen bis zu zwei Gulden zu.33 Jede weitere Maßnahme, vom Ausruf in der Synagoge, über Ehrenstrafen bis hin zum vollständigen Ausschluss aus der Stättigkeit - also dem Verlust des Schutzes - , all dies hing von einer vorherigen Entscheidung der städtischen Gerichte ab.34 Dennoch wurde den Vorstehern wegen der angeblich so auffälligen Streitereien in der Judengasse zugestanden, dass die: „Zehenders und Baumeistern gesampt, [...] ufferleget und befohlen, dass dieselbe solche Frevel, Schlegerey und Excess entweder mit Verbrechen der Müntz od. andere ungebürli. (ausserhalb Mord Totschlag und andere wichtige Sachen, die ihrer Art nach vor E.E. Raht und die Herren Bürgermeister gebracht werden müssen) sich in der Gassen unt. den Juden und Jüdinnen, [in dieser Fassung folgt hier ein Einschub: bey dieser gewesenen Unruhe] vorgangen, od. ins künftig in u. zwischen der Messen sowohl frembden als inheimischen hinfürters begeben und zutragen möchten, nach Beschaffenheit der Sache mit scharfen Geltstraffen od. ganz aus der Ebd., Conclusum Rechnei, 21.5.1622; an die Vorsteher Simon zum Krachbein, Eisemann zur Weissen Lilien, Elias zum Trichter, Samuel zur St[i]egen und Haiumb zum Weinfass. 32 Ebd., nach dem Exemplar der Stättigkeit aus dem Jahr 1616; §§ 98, 99; diese Paragraphen gehen auf ein altes Rechneidekret vom 20.5.1560 zurück. Deutlich erkennbar ist auch der antijüdische Duktus. 33 Siehe dazu auch das parallele Zugeständnis des Bannrechts in der Stättigkeit, ebd.; § 91; etwa bei Missbrauch des Klamens - s.u. - zudem mit 20 Rtlr., aber auch beim Reinigungseid der Creditoren und anlässlich eines Bankrotts als Zwangsmittel, dies durchaus im Sinne der kaiserlichen Privilegien, die in diesem Punkt im 18. Jahrhundert der Gemeinde durch den Rat dennoch immer wieder - meist erfolglos - streitig gemacht wurden. 34 Ebd., nach dem Exemplar der Stättigkeit aus dem Jahr 1616; § 99. 31
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Stettigkeit auszulassen, gegen den Verbrechers und Frevlers also verfahren, dass andere sich davon zustossen Uhrsach haben sollen". 35 Da diese letzten Bestimmungen explizit Teil jenes Auszugs aus der länglichen Stättigkeit von 118 Paragraphen, die sich auf 62 Manuskriptseiten erstreckte, darstellten, der jährlich allen Schutzjuden verlesenen wurde, kann man davon aus gehen, dass diese in der Gemeinde auch bekannt waren. Im Gegensatz zu der allgemeinen Entwicklung des Privilegienwesens zugunsten größerer Klarheit und Systematik verblieben die Frankfurter Regelungen in der typischen Ambivalenz zwischen Kontrollversuchen mit einem vergleichsweise restriktiven Verweigern von Eigenständigkeit und den durchaus üblichen Zugeständnissen, den Korporationen zumindest die unprofitablen Anteile des Rechtswesens zu überlassen. Es ist bezeichnend für den frühneuzeitlichen Begriff von Rechtsetzung, dass die Praxis durchaus anders aussah. Wie das Rechtswesen innerhalb der Judengasse vor dem 17. Jahrhundert geregelt war, lässt sich bei der für die früheren Zeiträume sehr viel problematischeren Quellenlage nur schwer sagen: Man wird aber weder Entwicklungen des 17. und 18. Jahrhunderts zurückprojizieren noch davon ausgehen dürfen, dass die in den Privilegien und den obrigkeitlichen Entscheiden durchgehend bemängelte ,Anmaßung' autonomen Handelns die Verhältnisse adäquat beschreibt. Dafür sind diese Bemerkungen zu stereotyp antijüdisch gefärbt, wobei jüdische Gemeinden prinzipiell der Subversion, der Herrschsucht und eines letztlich anti-christlichen, die Herrschaftsverhältnisse unterwandernden Beharrens auf Autonomie verdächtigt wurden. Die frühesten innergemeindlichen Vereinbarungen und Fallentscheide im Frankfurter Pinkas stammen von der Mitte des 16. Jahrhunderts und präsentieren eine von der Privilegierung nahezu unabhängige Parallelwelt: Erst parallel zum Erlass der neuen Stättigkeit wurde das interne Rechtswesen klarer definiert und gestärkt.36 Dies erklärt sich vermutlich als Reaktion auf die in vielerlei Hinsicht restriktivere Handhabung seitens der Stadt nach der Wiederaufnahme, aber auch durch das sich allgemein festigende Rechtsverständnis. Dabei entwickelte diese Neuregelung bezeichnenderweise eine gegenläufige Dynamik im Verhältnis zur weitgehenden Verweigerung von Eigenständigkeit auf christlicher Seite. Insbesondere seit den 20er Jahren des 17. Jahrhunderts begann die Gemeindeleitung, die internen Gerichtsstrukturen klarer zu definieren. Diese wurden zudem hierarchisiert, um die Rabbinatsgerichtsbarkeit zunehmend zu einem funktionstüchtigen Bestandteil der gemeinschaftlichen Organisation auszubauen. Dies war vor allem deshalb wichtig, da es keineswegs nur das Rabbinat
Ebd., dieselbe Fassung; § 100. Allgemein Matthias Meyn, Die Reichsstadt Frankfurt vor dem Bürgeraufstand von 1612 bis 1614. Struktur und Krise, Frankfurt 1980. 35
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war, das als Rechtsforum diente. Wie dies schon in den Privilegien angesprochen wurde, entschieden auch die Gemeindevorsteher, die in der Regel keine formale rabbinische Ausbildung besaßen, also juristische Laien waren. Wiewohl die in dieser Analyse vorgenommene Systematisierung der vielen unterschiedlichen Verordnungen im Protokollbuch der Gemeinde erst eine schlüssige interne Organisation konstruiert und damit den ohnedies erzeugten Eindruck weitgehender, selbstverständlicher Eigenständigkeit zwangsläufig bestärkt, existierte beides so sicherlich nicht. Leider kann im Rahmen dieses Beitrags nicht dezidiert auf die Praxis eingegangen werden, man muss sich jedoch stets vergegenwärtigen, dass die Differenz von Norm und Praxis die Regel war. Normative Vorgaben dienten dabei meist nur als fallspezifisch Zielsetzungen für notwendig gewordene Kompromisse. Nach der Entschärfung eines spezifischen Konflikts wurde üblicherweise kaum oder gar kein Bezug mehr auf die zuvor mit einigem Aufwand vereinbarten Regeln genommen. Schlussfolgerungen von der einen Ebene auf die andere sind daher nur mit äußerster Vorsicht möglich. Vorab müssen einige Besonderheiten der Halacha, des Jüdischen Rechts bedacht werden. Ungeachtet des rabbinischen Ideals eines in all seinen Aspekten durch das religiöse Recht geregelten privaten und gemeinschaftlichen Lebens, das von der Forschung bislang unbesehen übernommen wurde, öffnete sich die Halacha in vermögensrechtlichen Angelegenheiten bereits für einvernehmliche Vereinbarungen, die nicht prinzipiell nach Jüdischem Recht geschehen mussten. Zudem besteht die grundlegende Tendenz, anstelle der Entscheidung eines Konflikts zu Ungunsten einer Partei seiner Beilegung durch einen Kompromiss den Vorzug zu geben, was dazu führte, dass Güteverhandlungen in der Regel als das angemessene Instrument wahrgenommen wurden. Dies bedeutete, dass zumindest vermögensrechtliche Streitigkeiten (Dine Mamonot) oft gütlich beigelegt wurden, eine Praxis, die sich schon in der Formulierung der Privilegien widerspiegelte.37 Die Folge war in den meisten Gemeinden, dass steuerliche Entscheidungen ebenso wie private Vermögensklagen üblicherweise von den Vorstehern beurteilt wurden. In wieweit man sich jenseits dessen auch wirklich privater' Schlichter bediente, bleibt ungewiss.38 In Frankfurt wollte der Gemeindevorstand dies klar regeln, um die Vermögensverhältnisse als die entISG Ffm, Ugb D 7, Β 1; Judenstättigkeit, Tit. II § 6; wo neben den Vorstehern und den Rabbinern auch „erkisete Jüdische Schiedts Freundt" genannt werden. 38 Auch von privater Seite war man aufgrund der Rechtsverbindlichkeit solcher Absprachen natürlich ebenso an anerkannten Entscheidern interessiert. Der vereinzelte Eintrag eines letztlich privaten Partnerschaftsvertrags im Pinkas von 1722 zeigt, dass man hier schon vorab mögliche Schlichter festschrieb; beide Personen trugen Rabbinertiteln und waren nachweislich Frankfurter Dajanim. Vgl. Pinkas Ffm, § 383a. 37
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scheidende Grundlage des Überlebens im christlichen Umfeld kontrollieren zu können. All dies stand im Gegensatz zu dem externen Beharren auf dem Status der Freiwilligkeit, was den - wie sich hier zeigt - durchaus zutreffend gegen die Gemeinde gerichteten Vorwurf, diese baue ein unabhängiges Rechtssystem auf, verstärkte. Schon vor der 1603 in Frankfurt vereinbarten Ordnung eines Großteils der jüdischen Gemeinden des Reichs, die eine Stärkung rechtlicher Selbständigkeit verfolgte - was auch zentraler Inhalt des Verfahrens des Reichshoffiskals war - , hatte die Frankfurter Gemeinde intern versucht, ihre lokale jüdische Gerichtsbarkeit gegen Übergriffe von außen zu schützen. Dies richtete sich vermutlich vor allem gegen Eingriffe durch andere jüdische Gerichte, wobei die eigenen Gemeindemitglieder gegen deren Vorladungen, Urteile und weitläufige Verfahren geschützt werden sollten. Bekannt ist eine im Frankfurter Pinkas 1628 erneuerte Verordnung, die auf eine auf das Jahr 1542 datierte Vereinbarung unter anderem der Gemeinden Frankfurts und Worms Bezug nimmt, nach der Vorladungen und Urteile externer Rabbinatsgerichte, gleich wo diese angesiedelt seien, nicht anerkannt und kassiert wurden, um - wie auch 1603 intendiert worden war - die eigene Rechtssphäre zu schützen.39 Zugleich wurde eine Begrenzung der Klagemöglichkeiten angestrebt, da andernfalls der unterlegene Teil das Verfahren je nach Vermögen stets von neuem aufrollen konnte. Parallel dazu wurde schon versucht, den Gerichtszwang in der Gemeinde durch Strafbewehrung zu stärken und den christlichen Instanzen so ein funktionstüchtiges eigenes Gerichtswesen entgegenzusetzen.40 Bevor wir uns der internen normativen Ausgestaltung der Rechtsprechung im Gegensatz zu seiner externen Begrenzung zuwenden, sei darauf hingewiesen, dass auch in Frankfurt galt, was in anderen Gemeinden mit einem weit weniger starken Rabbinat meist ohnedies die Regel war: Selbst gegenüber dem als bedeutend wahrgenommenen Frankfurter Rabbinat beI
Eric Zimmer, Jewish Synods in Germany During the Middle Ages (1286-1603), New York 1978, S. 140-147. Der Eintrag stammt allerdings aus dem Jahr 1628 und bezieht sich nur auf ein ältere Verordnung der Gemeinden Frankfurt, Worms usw. aus dem Jahr 1542, stellt also keineswegs wie oft behauptet wirklich die Ordnung des 16. Jahrhunderts dar; im Pinkas Ffm, § 46. Derlei Schriftstücke sollten eingezogen und verbrannt werden. Generell zur Datierung der Einträge im Frankfurter Pinkas: diese wurde hier nur grob vorgenommen und kann einen Jahrestauscher beinhalten aufgrund der unterschiedlichen Jahreswechsel zwischen dem Jüdischen und den unterschiedlichen christlichen Kalendern. Z.B. ISG Ffm, Ugb E 48 Κ, Bd. 1; 1/5, Klageschrift des Reichsfiscals gegen die Judenschaft des Reichs (ohne Datum); neuerdings auch Klein, Wohltat und Hochverrat (wie Aran. 23). 40 Ebd., § 77 (1606). Die Ordnung von 1603 sei der Einfachheit halber hier nach Eric Zimmer, Jewish Synods (wie Anm. 39), S. 148-197; übernimmt den hebr. Text (bei Horovitz), verändert ihn jedoch geringfügig, und fügt drei zeitgenössische Übersetzungen zum Vergleich bei, gefolgt von dem kursorischen und unzuverlässigen, nur leicht erweiterten Wiederabdruck der Übersetzung von L. Finkelstein, Jewish SelfGovernment in the Middle Ages, 2. Aufl., New York 1964, S. 257-264. 39
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Andreas Gotzmann hauptete sich die Gruppe der Gemeindevorsteher durchweg. 4 1 So belegen sowohl die erhaltenen Anstellungsverträge zwischen der Gemeinde und den gewählten Rabbinern als auch gemeindeinterne Bestimmungen die klare Abhängigkeit des Rabbinats von den Vorstehern, und dies selbst in seiner richterlichen Funktion. 4 2 Eine Verordnung aus dem Jahr 1621, die v o m Oberrabbiner Schmuel ben Josef von Hildesheim und seinem zufällig anwesenden Amtsvorgänger, dem Prager Oberrabbiner Jeschajahu Horovitz gegengezeichnet wurde, legte fest, dass die Rabbiner nur im Hinblick auf die im engeren Sinne religiösen Angelegenheiten des Verbotenen und Erlaubten ohne Zustimm u n g der Gemeindeleitung eigenständig agieren durften, eine Vereinbarung, die 1684 wieder aufgegriffen wurde. Selbst Personen, die den Morenu-Titel - das Rabbinatsdiplom - verliehen bekamen, blieben in ihren Aktivitäten gleichermaßen eingeschränkt. 4 3 Nicht nur, dass sie keine Rechtsentscheide fällen und so in Konkurrenz zu den Gemeindegerichten treten durften. Es war ihnen wie den anderen Gelehrten auch untersagt, in Frankfurt und außerhalb ohne Erlaubnis der Parnassim etwas zu beschließen,
Die allgemeine Literatur zum Rabbinat stützt sich immer noch weitgehend ausschließlich auf Responsen, als gelehrte Rechtsliteratur für sozialhistorische Studien eine überaus schwierige Quelle. Für das osteuropäische Judentum liegen dagegen neue ausgezeichnete Studien vor von Adam Teller, The Laicization of Early Modern Jewish Society. The Development of the Polish Communal Rabbinate in the 16th Century, in: Graetz, Schöpferische Momente (wie Aran. 7), S. 333-350. Ders., Der Blick nach Osten. Rechtlicher Status und Rechtssystem der polnischen Judenheit vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, in: Gotzmann/Wendehorst (Hg.), Der Kaiser, das Reich (wie Aran. 16). Simon Schwarzfuchs, A Concise History of the Rabbinate, Oxford 1991. Simcha Assaf, Lekorot HaRabanut beAschkenas, Polonia weLita, Reschumot 2 (1922), S. 5-46. Israel J. Yuval, Chachamim beDoram. HaManhigut haRuchanit schei Jehude Germania besilche Jeme haBinajim., Jerusalem 1988. Mordechai Breuer, „Tausend Jahre aschkenasisches Rabbinat. Der Werdegang einer Institution", in: Julius Cariebach (HgJ, Das aschkenasische Rabbinat. Entstehung, Entwicklung, Krise und Erneuerung, Berlin 1995, S. 15-23. Peter Freimark, „Das Oberrabbinat Altona-Hamburg-Wandsbek", in: Arno Herzig (Hg.), Die Juden in Hamburg 1590-1990, Hamburg 1991. Günter Marwedel, „Die jüdische Gerichtsbarkeit", in: Ders. (Hg.), Die Privilegien der Juden in Altona, Hamburg 1976, S. 80-88. Eric Jitzchak Zimmer, Gahaltan schei Chachamim. Perakim beToldot haRabanut beGermania baMea 15.-17., Beer Sheva 1999. 42 Bezeichnenderweise wurde hiervon lediglich der Bereich des religiöse Erlaubten und Verbotenen (Issur waHeter) ausgenommen. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts zeichnet sich eine immer stärkere interne Zuweisung des Rabbinats zu diesen Bereichen ab, was deutlich gegen die bisherige Wahrnehmung der frühneuzeitlichen jüdischen Kultur spricht. Für diese ,religiösen' Anteile galt auch stets der jährliche Pauschbetrag des Fixgehaltes, während für die anderen Tätigkeiten Fallpauschalen festgelegt wurden. Andreas Gotzmann, Jüdisches Recht im kulturellen Prozeß. Die Wahrnehmung der Halacha im Deutschland des 19. Jahrhunderts (Schriftenreihe wiss. Abhandl. des Leo Baeck Instituts, 55), Tübingen 1997, S. 86-106. 43 Pinkas Ffm, § 110, 1621; auch hier, die Bene Jeschiwa erhalten nur für Dajanimsdienste und Vergleichsverhandlungen eine Vergütung. Horovitz, Frankfurter Rabbinen (wie Anm. 7), S. 61-2. 41
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jemanden mit dem Bann zu belegen, Schreiben zu verfassen oder etwas zu besiegeln.44 Wie schon der Vertrag für R. Schmuel von Hildesheim, dann auch die überlieferten für dessen Nachfolger, Jeschajahu Horowitz, Petachja ben Josef, Aron Schmuel Chone sowie Schmuel ben Zwi von Krakau festschrieben, galt dies sogar für die Oberrabbiner, die nur mit Genehmigung der Vorsteher bzw. der Gabbaim, der Kastenmeister, handeln durften, da diese ganz offenkundig die Aufsicht über derlei konfliktanfällige Vorgänge behalten wollten.45 In einer internen Verordnimg von 1663 über die Tätigkeit der rabbinischen Richter - Dajanim bzw. Unter- oder Nebenrabbiner genannt - wurde sogar festgehalten, dass diese anfallende Gerichtsgebühren den Kastenmeistern vorab bekannt geben, also sich genehmigen lassen mussten.46 Anders als bei den jeweils geschäftsführenden Monatsvorstehern bzw. den Gabbaim gab es kaum einen Freiraum für eigenständige Strafbefugnisse - wie dies in anderen Gemeinden, zum Teil sogar mit obrigkeitlicher Zustimmung üblich war.47 Dabei muss man sich vor Augen halten, dass die Oberrabbiner gerade in vermögenden Gemeinden wie Frankfurt am Main häufig von weit her geholt wurden, da diese mit den eng vernetzten Gemeinden in familiärer und geschäftlicher Hinsicht möglichst nicht in Verbindimg stehen sollten. Dies gerade im Gegensatz zur Mehrzahl der ansässigen Richter, bei denen sich auch in Frankfurt durchweg die Frage der Unabhängigkeit stellte.48 Zugleich waren die Rabbinatsverträge in der Regel befristet, in Frankfurt meist auf drei bzw. fünf Jahre, und selbst innerhalb dieser Zeit war ein
Ebd., § 332; abermals, mit Ausnahme von Entscheidungen aus dem Bereich des religiös Verbotenen und Erlaubten. 4 5 Pinkas Ffm, §§ 463, 464 (Vorauswahl zur Rabbinerwahl bzw. Wahl des R. Abraham von Lissa zum Oberrabbiner). Ebd., § 81 (R. Schmuel b. Josef, datiert auf ca. 1 6 1 0 / 1 4 ; der erste Vertragstext wurde gestrichen); § 106 (o.D.; nochmals für denselben); § 79 (R. Jeschajahu Horowitz; 1 6 2 1 / ? ) ; §§ 119, 120 (R. Petachja b. Josef; Datum unklar/1622); § 305 (R. Aron Schmuel Chone; 168?); § 459 (R Schmuel b. Zwi; 1690); § 473, der Rabbinatsvertrag mit R. Nathan Maas aus dem Jahr 1771 fällt aus dem Rahmen, da dieser zuvor schon interimsweise Tätigkeiten des Oberrabbinats übernommen hatte, aber letztlich nicht zum Oberrabbiner gewählt wurde, weshalb man nun die Tätigkeit des Rosch Jeschiwa, des Leiters der Talmudschule(n), vom Oberrabbinat abtrennte und ihm verlieh, mit dem Zusatz, zugleich Vertreter des Oberrabbiners in Abwesenheit zu sein. 46 Ebd., § 202. 47 Ebd., § 79; und Verordnungen für die Parnassim bzw. Gabbaim. Gotzmann, Strukturen jüdischer Gerichtsautonomie(wie Anm. 4), S. 313-56. 48 Dies galt weitgehend nur für diese Funktion, die restlichen Rabbiner kamen auch in Frankfurt meist direkt aus der Gemeinde oder aus dem engeren lokalen Einzugsbereich, so dass von einer Überfremdung etwa durch ein ,polnisches Rabbinat' keine Rede sein kann. 44
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Andreas Gotzmann Rabbiner prinzipiell kündbar. Diese Umstände brachten ihn in erhebliche Abhängigkeit von der Gemeindeleitung. 4 9 Erst 1690 scheint sich die Erkenntnis durchgesetzt zu haben, dass dem Oberrabbiner schon z u m Schutz seiner Amtsautorität, aber auch aus organisatorischen Gründen eine eigenständige Strafbefugnis zustehen musste, weshalb in den Rabbinervertrag für Schmuel von Krakau eingeschoben wurde, dass er Personen, die sich ungebührlich betrugen, mit immerhin sechs Reichstaler Strafe belegen durfte, allerdings nur bei Zustimmung der Gabbaim. 5 0 Den Parnassim stand dagegen stets eine unabhängige Strafbefugnis zu, die erst auf wiederholten Druck aus der Gemeinde hin zunehmend begrenzt und kontrolliert wurde, bis 1754, in einem Entwurf neuer Takkanot, wieder der ursprüngliche Betrag erscheint. 5 1 Zugleich wurde der Frankfurter Oberrabbiner an das übrige, im Dienst der Gemeinde tätige Rabbinat rückgebunden: Bannverhängungen durfte er nur gemeinsam mit den Bene Jeschiwa, den für die Gemeinde tätigen Gelehrten, vornehmen, ebenso Rabbinatsdiplome verleihen. Doch selbst hierbei machte der Vorstand seinen Einfluss geltend, und dies so sehr, dass der Entscheidungsfreiraum des Oberrabbiners bald darauf mit dem Hinweis, dass er wegen derlei Titelvergaben nicht ungebührlich unter Druck gesetzt werden dürfe, wieder gesichert werden musste. 5 2
Ebd., z.B. §§ 81, 277, 305. Siehe auch die typischen Verhandlungen hinsichtlich der Ansässigmachung von Familienmitgliedern, was zum einen die enge Personenmatrikel der Gemeinde geschwächt hätte, zum anderen aber auch den Grad familiärer Vernetzung erhöht. Ebd., § 277, Entlassungen nur durch das 40köpfige Wahlkomitee. ISG Ffm, Ugb D 32, Nr. 65, Tom VII: Jüdisches Reglement (22.3.1754), § 104; muss der Oberrabbiner der Bannverhängung der Parnassim zustimmen, darf selbständig jedoch keinen verhängen. 50 Ebd., § 459. Ebd., § 283, 1660; findet sich ein Eintrag einer entehrenden Beleidigung gegen das Rabbinatsgericht durch Seligmann Kulp, der außer einer öffentlichen Entschuldigung mit dem Bann belegt wird und 25 Rtlr. Strafe zahlen musste. In den Akten der Stadt finden sich durchaus weitere vergleichbare Fälle, die ebenso wie hier nicht allein vom Gericht bzw. Oberrabbiner geahndet wurden. 51 Nun durfte die Strafe nur dann allein verhängt werden, wenn der Bestrafte selbst zustimmte, ansonsten war dies nur unter Hinzuziehung eines fünfzehnköpfigen Kontrollgremiums aus der Gemeinde möglich, dem mit 39 fl. ebenso eine Grenze gesetzt wurde - hier ist anzumerken, dass der Frankfurter Rat die erste Strafgrenze noch anzuerkennen bereit war, die zweite schien ihm dagegen als nicht akzeptabel. ISG Ffm, Ugb D 32, Nr. 65, Tom VII: Jüdisches Reglement, 22.3.1754, § 53. Ebd., Ugb D 32, 65, Tom VII; Entwurf Schreibens der Stadt Frankfurt an den Kaiser, ohne Datum; anbei als Anlage (Nr. 565) Bericht zum Reglementsprojekt; „kann man, ohne Abbruch Obrigkeitlicher Jurisdiction, anderergestallt nicht nachgeben, als, wann beyde strittige Theile gutwillig, und ohne den mindesten Zwang mit dem Bann oder sonsten". Vgl. ebd., Ugb D 32, 65, Tom VII; D. M. Juda an Schultheiss und Schöffen Frankfurts, 30.9.1754; Beilage D: Castenmeisterordnung, Pkt. 3. 52 Ebd., § 106; Rabbinatsbrief für R. Schmuel b. Josef, o.D.; dies scheint jedoch über dessen Amtszeit hinaus gegolten zu haben, da sich Bezüge hierzu auch später noch finden. Ebd., § 112,1621. Dass der Begriff Bene Jeschiwa, Mitglieder der Talmudschule, alle Lehrenden und Lernenden an den unterschiedlichen Lehrhäusern in der Gemeinde einbezog, ist unwahrscheinlich. Er bezeichnete vermutlich alle Rabbiner, 49
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In der Abfolge des intern Verordneten lässt sich deutlich erkennen, wie zunehmend Erfahrungen eingebracht wurden und gegenläufige Dynamiken ausgeschlossen werden sollten. Während in den beiden Rabbinatsverträgen für Schmuel von Hildesheim vermerkt worden war, dass dieser unter anderem gemeinsam mit zwei Gabbaim entscheiden solle, findet sich bald danach eine Aufspaltung der Zuständigkeiten: Ahnlich wie die christliche Obrigkeit die jüdischen Gremien nutzte, um ihre Rechtsprechung von Kleinigkeiten zu entlasten, wurde hier intern eine Grenze eingezogen. In vermögensrechtlichen Entscheidungen musste der Oberrabbiner eine Klage nicht annehmen, wenn der Streitwert unter 20 fl. lag, dies mit dem Hinweis, dass die Gabbaim ohnedies verpflichtet' seien, diese Dinge zu erledigen.53 Gleiches galt für die nachfolgenden Oberrabbiner, wohl auch aus dem Grund, da diese Tätigkeit nicht Anteil ihres jährlichen Fixgehaltes war und die prozentualen Gerichtsgebühren unterhalb dieser Summe den Aufwand kaum rechtfertigten. Vergleicht man dies mit Daten aus anderen Herrschaftsgebieten, so zeigt sich, dass dort ab Mitte des 17. Jahrhunderts der jüdischen Entscheidungsebene von außen häufig mit 10 fl. eine maximale Zuständigkeitsgrenze gesetzt wurde.54 In Frankfurt kam es nicht zu einer klareren Abgrenzung von jüdischer und obrigkeitlicher Gerichtsbarkeit und zu festgesetzten Appellationszügen. Die internen Regelungen lassen bereits erahnen, dass die Zuständigkeiten aus binnenjüdischer Perspektive sehr viel weiter ausgelegt wurden, als dies die externen Normen vorgaben, wobei der Umfang der eigenen Rechtsprechung offenbar deutlich über dem in anderen Territorien Üblichen lag. Zugleich deutet die Entlastung des Oberrabbiners bis hin zu einer sogar für die mittlere Einkommensschicht erheblichen Summe an, dass ein Großteil der vermögensrechtlichen Verfahren in der Regel nicht durch den Oberrabbiner, sondern von den Gabbaim entschieden wurde. Diese Klagen dürften wohl die Mehrzahl der Verfahren dargestellt haben, denn andernfalls macht die vergleichsweise niedrig angesetzte Berufungsgrenze keinen Sinn. Möglicherweise gelangten diese Vermögensklagen später vor das kurz darauf eingerichtete Beit Din kawua, ein festes Rabbinatsgericht. In den drei erhaltenen sukzessiven Ordnungen für dieses findet sich nämlich kein solcher Mindeststreitwert und ab 1653 sollten alle Vermögensklagen vor dieses gebracht werden.55 Wie der Entwurf I
die für die Gemeinde tätig waren, im Gegensatz zu Personen, die das Amt zumindest nicht in deren Namen ausübten, also etwa in Abgrenzung zu den für Bruderschaften oder auswärtige Gemeinden tätigen Gelehrten. Horovitz, Frankfurter Rabbinen (wie Anm. 7), S. 36. Die Erklärung scheint weit hergeholt, vermutlich handelt es sich lediglich um eine lokale Begrifflichkeit. 53 Pinkas Ffm, §§ 81, 106, und dies findet sich in den anderen Rabbinatsbriefen ebenso; siehe dazu oben. 54 Gotzmann, Strukturen jüdischer Gerichtsautonomie (wie Anm. 4), S. 313-56. 55 Pinkas Ffm, §§ 111 (1621), 202 (1663), 273 (1658), § 251 (1653), §§ 252, 253.
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des nach jahrelangen internen Auseinandersetzungen auf einen kaiserlichen Erlass hin vereinbarten Gemeindereglements von 1754 zeigt, ging die jüdische Gemeinde 100 Jahre danach allerdings wieder davon aus, dass „Klag-Sachen, [...] Inhaber eines Jüdischen Staarbriefs [= Vertrags, hier Schuldscheins], oder Jüdischen Rechtsspruchs" ebenso wie „Schlägerey und Ehrenrührige Accasiones" vor die Baumeister zu bringen seien. 56 Die Vereinnahmung der Gerichtsbarkeit durch die Vorsteher war entweder durchgängig oder erneut so stark, dass diese sogar mehrfach verpflichtet werden mussten, keine Klagen an sich zu ziehen, wenn eine Partei diese nach „Jüdischen Rechten" entschieden haben, also vor das Rabbinatsgericht gehen wollte. Ihnen wurde im Gegenteil strengstens auferlegt, dies zu unterstützen und zudem die Vorladungen des Gerichts zu sichern. 57 War schon die Zuständigkeit des Rabbinatsgerichts in zivilrechtlichen Dingen unklar, so bestand offenbar keine Verpflichtung, seine Klagen vor den Oberrabbiner zu bringen, denn alle Frankfurter Rabbinatsverträge beinhalten die bezeichnende Formulierung, wenn , Personen vor ihm klagen möchten' - was dezidiert nur die Möglichkeit dazu eröffnet. 58 Dies wird kaum aus Rücksicht auf eine Kollision mit den Privilegien so formuliert worden sein, schon da die sonstigen Vereinbarungen zur Gerichtsbarkeit der Obrigkeit sehr viel klarere Anhaltspunkte für ein Eingreifen geboten hätten. Für das angespannte Verhältnis zur Reichsstadt war ohnedies kennzeichnend, dass in Frankfurt alle als wichtig oder problematisch empfundenen internen Verordnungen - wie schon bei den Takkanot von 1603 die Floskel, dass dem Frankfurter Rat durch derlei Regelungen ,nichts von seiner Herrlichkeit benommen sei', als ein vermeintliches Bindeglied zwischen den gegenläufigen Ebenen angefügt wurde. 59
ISG Ffm, Ugb D 32, Nr. 65, Tom VII; Jüdischer Reglementsentwurf, 22.3.1754; § 55, 107. Wobei nach städt. Vorgabe bei „in groben Iniurien-Sachen und wichtigen Schlaghändel wovon wir an das hiesige Stadtgericht, so aber vor das officium Examinatorium gehören, haben die Baumeister aller Procedur sich zu enthalten"; ebd., (Nr. 565) Städt. Bericht zum Reglementsprojekt; Kommentierung zu § 107. 57 Ebd., Jüdischer Reglementsentwurf, 22.3.1754; § 59. Umgekehrt sollte das Rabbinatsgericht Fälle öffentlichen Betrugs oder die Beschneidung von Rechten, die zu einer Benachteiligung der anderen Partei bzw. zu der schwierigen Situation eines nach Jüdischem Recht zu vermeidenden möglichen Falscheides führten, an die Baumeistern verweisen; ebd., § 58. Dasselbe ebd., D.M. Juda an Schultheiss und Schöffen Frankfurts, 30.9.1754; Beilage D: Castenmeisterordnung, Pkt. 4. 58 Denn man hätte dies ja selbst neutral formulieren können. Ebd., s.o.; ,„hamerozim ladun bifne haAw Beit Din' - die vor dem Gerichtsvorsitzenden klagen wollen/möchten", wie bislang stets überlesen wurde. Dies findet sich ähnlich auch in der Gemeindeordnungen von 1672, ebd., § 320, Pkt. 39 ,die klagen kommen'; oder von 1702; ebd., § 364, ,wenn zwei Gemeindemitglieder vor das Beit Din gehen'. 59 Zimmer, Jewish Synods (wie Anm. 39) S. 179-182; § 13. ISG Ffm, Ugb E 48 Κ, Bd. 2; (zweite) Verteidigungsschrift der Frankfurter Judenschaft (ohne Datum). Eine solche Formulierung - wie sie mir aus anderen Territorien nicht bekannt ist - sollte die von der Stadt Frankfurt behauptete durchgängige Zuständigkeit in einer formelhaften Geste entschärfen, ein Befriedungsversuch, der vom Rat allerdings kei-
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Das ab 1621 fest eingesetzte Rabbinatsgericht machte aber nur Sinn, wenn es auch genutzt wurde. Zunächst erhielten die Dajanim im Gegensatz zu dem zwar noch als Aw Beit Din, als Gerichtsvorsitzenden, titulierten, aber nicht prinzipiell tätigen Oberrabbiner kein jährliches Grundgehalt.60 Ihre Vergütung bestand aus den fallspezifischen prozentualen Aufwandsentschädigungen - gemäß rabbinischem Verständnis lediglich ein Zeitentgeld, da aus dem Richten und Lehren kein Lebensunterhalt bezogen werden sollte. Dies scheint jedoch keine ausreichende finanzielle Grundlage für die Richter geboten zu haben, weshalb die Frankfurter Gemeinde 1658 dazu überging, diesen dem jährlichen Fixgehalt des Oberrabbiners entsprechend für ihre je halbjährige Amtszeit ein Gehalt von 50 fl. zu zahlen, bei möglichen weiteren Zulagen. Wenn der Richterdienst sich aber nur so attraktiv genug gestalten ließ, muss man davon ausgehen, dass die erwähnten geringen Klagen weiterhin bei den Gabbaim verblieben und die Anzahl interner Klagen vor dem Rabbinatsgericht - selbst im Bereich der finanziell lukrativeren Belange - eher gering ausfiel. Damit ergibt sich ein ganz anderes Bild, als die Systematisierungen des Gerichtswesens im Pinkas zunächst vermittelt, was durch eine andere Handschrift der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zudem gestützt wird.61 Dieses permanente Rabbinatsgericht war auch deshalb nötig geworden, da das sonst übliche fallspezifische Zusammenstellen eines Richterkollegiums mit drei ausgebildeten Rabbinern zeitaufwendig und aufgrund der familiI neswegs so verstanden oder ernst genommen wurde. Pinkas Ffm, z.B. §§ 6 (1555), 10 (1557), 237 (1653), 277 (?), 371 (17??), 379 (17??), 408 (1761), 412 (176?), 337 (1685); häufig in der Formulierung ,der Obrigkeit in ihre Herrlichkeit nicht eingegriffen und allzeit vorbehalten'. 60 Dies war eindeutig eine Neuerung, z.B. wird dies deutlich bei den Gerichtsordnungen; ebd., §§ 111 (1621), 202 (1663), 273 (1658); wobei die letzten beiden im wesentlichen Gebührenordnungen sind; auch hier lässt die Abfolge der Verordnungen klar erkennen, dass es sich um eine allmähliche Systematisierung und organisatorische Differenzierung und Ausformulierung eines neu geschaffenen Gerichtswesens handelt, wobei man im Verlauf aufkommende Probleme zunehmend regelte. 61 Die als Piske Beit Din deFrankfurt deMaina bezeichnete Handschrift, ursprünglich Teil der Nathan Elkan Adler Collection des Jewish Theological Seminars in New York, befindet sich nun im Jüdischen Museum Frankfurt am Main. Sie hat leider eine etwa hundert Jahre danach liegende Laufzeit und ist nicht ganz vollständig erhalten, beginnt mit Einzeleinträgen für die Jahre 1748, 1757 - ab 1768-1793/94 ist sie durchgängig. Ich danke Dr. Johannes Wachten, dem stellvertretenden Direktor des Museums, herzlich für diese Informationen; leider liegt noch keine Aufschlüsselung der im Inhaltsverzeichnis gelisteten Fälle vor, es handelt sich überwiegend um Erbfälle, Käufe und Verkäufe von Häusern, Chalizafälle, was mit dem oben Konstatierten in Übereinstimmung wäre, aber auch um Darlehens- und Pfandgeschäfte; insgesamt waren es für die Gesamtlaufzeit 283 Klagen - mit laufenden Einträgen von 1768-1793/94, also etwa für 30 Jahre. Nur für das Jahrzehnt zwischen 1774/5 und 1784/5 sind zwischen zehn und zwanzig Klagen beim Rabbinatsgericht pro Jahr aufgelistet. In den anderen Jahren waren dies weit weniger, oft nur eine einzige, häufiger zwischen fünf und zehn Klagen, bei einer zeitgleichen Anzahl von weniger als 450 Hausgesäßen insgesamt eine sehr geringe Zahl an Klagen.
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ären Vernetzung mit der Gemeinde schwierig blieb, zumal jedem Klagenden nach Jüdischem Recht zusteht, einen Richter wegen Befangenheit abzulehnen.62 Die in einem aufwendigen Verfahren jährlich festgelegten zwei Richtergruppen wechselten sich Sommers und Winters ab; hinzu kam eine Nachrückliste, um schnell Ersatzmänner parat zu haben. Nur für eine kurze Periode entschied die Gemeindeleitung sich aber für die nahe liegende Variante und nutzte die jeweils nicht amtierende Gruppe als Ersatz. Vermutlich geschah dies, um mehr Gelehrte an dem Ehrenrecht und zumindest prinzipiell an dieser Verdienstmöglichkeit teilhaben zu lassen. Ein wesentlicher Grund dürfte erneut gewesen sein, dass eine größere Anzahl die Möglichkeit erhöhte, in der eng verflochtenen Gemeinde unabhängige Personen zu finden. Demgegenüber blieben die eigentlichen Richtergruppen erstaunlich stabil, bezeichnenderweise im Widerspruch zu ihrer verdeckten jährlichen Auslosung. 63 Zudem wurde ein Messegericht eingerichtet, in dem auch auswärtige Rabbiner saßen: Diese Einrichtung gewährleistete auf der Grundlage des über die unterschiedlichen christlichen Rechtssysteme hinweg allen Juden vertrauten Jüdischen Rechts schnelle Entscheidungen und eidliche Absicherungen geschäftlicher Vereinbarungen während der Messen. Das Hinzuziehen gemeindeexterner Richter befreite das von der Frankfurter Gemeinde eingesetzte Gericht zudem vom Verdacht der Parteilichkeit. 64 Jenseits dessen wurden nun feste Gerichtstage vereinbart, wobei es eher um die generelle Verfügbarkeit der Rabbiner ging, etwa um Rechtsakte zeitnah durch Eide bestärken zu können, was Rabbinern vorbehalten war. Damit erhielt das Gericht einen entscheidenden Stellenwert im Wirtschaftsleben der Gemeinde. Zugleich wurde das Sitzungswesen zunehZ.B. Pinkas Ffm, § 337 (1685); ebenso § 111 (1621), § 202 (1663), § 252 (1654), § 253 (1656), § 364 (170?). Dies galt natürlich gleichermaßen für die Gerichtsbarkeit der Pamassim; wie 1754 festgehalten wurde; ISG Ffm, Ugb D 32, Nr. 65, Tom VII; Jüdischer Reglementsentwurf, 22.3.1754; §§ 51, 53, 72, 73,114; auch für die Dajanim. 63 Die gesamte Aufschlüsselung der Rabbinerkollegien würde hier den Rahmen sprengen, siehe Pinkas Ffm, §§ 188-199 (1643- ca.1655), 203 (1664), 205 (1665), 206 (?), 275 (?), 300-304 (1669-1673), 306-309 a + b (1674-?), 312-319 (1683-1689), 335 (?), 347 (1690), 349-364 (1691-170(5)), 365 (1708), 494 (1795). § 198 wird erstmal je Gremium eine Ersatzliste gestellt, die Gesamtzahl der Rabbiner erhöht sich damit von 9 auf 12; § 205 gilt dies ebenso, wobei für Mosche Levi und Josef Taub eine Sonderregelung vereinbart wird, sie müssen 50 % ihrer Einnahmen an Jitzchak (Halb-) Mond abführen, vermutlich ist dieser identisch mit Jitzchak Kulp, der zuvor in einem festen Gremium saß. Ebd., § 206, wird die Sitzungsperiode einmalig von 6 Monaten auf je 4 Monate verändert. Anfang des 18. Jhds. (§ 364) gibt es offenbar wieder einmal eine doppelte Ersatzgruppe, ebenso laut § 365. Es gibt also durchaus etwas Flexibilität, allerdings auch hier deutlich von der Regel abgehoben. Ebd., § 337; Takkanot (1685) gibt eine weitere Fassimg der Wahlordnung für die Dajanim an mit Klassenwahlrecht der Hausväter bei eingeschaltetem Losverfahren zur Losung der Rabbiner. 64 Ebd., § 111 (1621); wobei das Messegericht zunächst wohl auch als Pool für mögliche Ersatzrichter diente. 62
Im Spannungsfeld externer und interner Machtfaktoren mend besser organisiert, z.B. wurden wiederholt die offenbar üblichen Störungen der Verhandlungen untersagt, um Einflussnahmen auf die Verfahren zu verhindern und diesen einen offiziellen Charakter zu verleihen. 65 Auch andere Details dokumentieren die Versuche der Festigimg der Rechtsorganisation, etwa eine Bestimmung der 1685 erneuerten Gemeindeordnung, dass die Richter ihre Urteile gemeinsam zu besiegeln hätten und schon zuvor, dass jeder Dajan die gültigen Gemeindebestimmungen stärken müsse oder dass sich ein dissentierender Richter bei der Urteilsfindung stets dem Mehrheitsvotum zu beugen habe. 66 Zudem verordnete die Gemeindeleitung in mehreren Schritten, dass nach außen hin, aber auch unter den Richtern kein Informationsfluss zu spezifischen Klagen stattfinden dürfe, um größere Vertraulichkeit zu gewährleisten, was aufgrund des engen sozialen Verbands von entscheidender Bedeutung war. 67 Die schon ansatzweise dokumentierten Zweifel, ob das Gedachte wirklich so funktionierte, finden allenthalben Nahrung, wobei die Schritte zunehmender Organisation mitunter eher das Versagen derselben dokumentieren, etwa die wiederholten Anweisungen, dass Klagen innerhalb bestimmter Fristen zu erledigen seien. 68 Ebenso ging es immer wieder um die Verwandtschafts-, Geschäfts- und Freundschaftsverhältnisse zwischen Kläger und Richter, bis das Verfahren letztlich nahezu umgekehrt und gefordert wurde, dass solche Beziehungen von den Richtern vor Eröffnimg des Verfahrens selbst offen zu legen seien. 69 Erneut gelang es nicht, ein grundlegendes Problem zu entschärfen. Dabei waren schon zu Beginn des
Ebd., §§ 180 (1639), 187 (1642). Am Montag und Donnerstag - zunächst wohl in der Hauptsynagoge, später in gesonderten Räumen der Gemeinde. Dabei ging es keineswegs nur um die Ungestörtheit bzw. den Ausschluss von (interessierter) Öffentlichkeit; es wurde auch den Frauen der Rabbiner verboten, während der Verhandlungen in den Sitzungsraum zu kommen. 1639 erging eine Verordnung, dass die Rabbiner dabei moralisch auf die Schwörenden einwirken sollten, was 1642 erneut differenzierter aufgegriffen wurde. ISG Ffm, Ugb D 32, Nr. 65, Tom VII: Jüdisches Reglement (22.3.1754), § 74. Ebd., § 120; wurde verordnet, dass die wichtigsten Regeln der Rechtsorganisation im Gerichtsraum auf einer Tafel angeschrieben und diese von den Richter beeidet werden mussten. 66 Ebd., § 320 Takkanot der Gemeinde (1672), darin z.B. Pkt. 82, 91 bzw. § 337 Takkanot (1685). Dasselbe 1754, ISG Ffm, Ugb D 32, Nr. 65, Tom VII; Jüdischer Reglementsentwurf, 22.3.1754; § 118; nur zu dritt verabschiedet und nur gemeinsam signiert gültig. 67 Ebd., § 202 (1663), Dajanimsordnung. 68 Ebd., z.B. § 459 (1690); Rabbinatsbrief für Schmuel b. Zwi; innerhalb von drei Tagen ein Urteil auszufertigen. Wobei man gleichermaßen auch Klägern bei Verlust der Klagemöglichkeit Fristen auferlegte, um die Verzögerung von Verfahren zu verhindern; ISG Ffm, Ugb D 32, Nr. 65, Tom VII; Jüdischer Reglementsentwurf, 22.3.1754; § 56. 69 Pinkas Ffm, §§ 198 (nicht zu datieren od. o.D.), 199 (1662), 202 (1663). § 337 Takkanot (1685), wo nochmals jedem Klagenden zugestanden wird, dass er Richter als befangen ablehnen kann. 65
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17. Jahrhunderts komplexe Wahlordnungen erlassen worden, um dem Problem Herr zu werden. Ähnliche Entwicklungen charakterisierten auch die Gerichtsbarkeit der Parnassim. Ihnen wurde z.B. nach zahlreichen Beschwerden wegen Vetternwirtschaft 1654 und 1656 das formalrechtlich ohnedies Verbindliche erneut auferlegt, nämlich dass auch sie in ihrer Gerichtsbarkeit die Verwandtschaftsverbote einzuhalten hätten - was spätestens seit 1621 schon für die Besetzung des Vorstands galt.70 Ein Jahr danach wurde festgehalten, dass ein Parnass oder Gabbai für die Dauer von zwei Monaten von der Erledigung aller Angelegenheiten für Personen ausgeschlossen seien, die ihnen synagogale Ehrenämter zukommen ließen.71 1754 wurden derlei Regelungsversuche durch den Zusatz verstärkt, dass Amtsträgern vor Gericht kein anderer Status zukomme, als jedem anderen Gemeindemitglied. 72 Für das Rabbinatsgericht mussten zusätzliche Affiliationen berücksichtigt werden: 1662 wurde festgeschrieben, dass ein Dajan durchaus in Frankfurt amtieren und zugleich von einer externen Gemeinde als Rabbiner besoldet werden könne. 73 Dagegen durfte ein Kollege, der von einer Bruderschaft der Gemeinde als Rabbiner angestellt worden war, nur nach einer spezifischen Erlaubnis im Richtergremium der Gemeinde tätig sein, da Interessensverquickungen befürchtet wurden. 74 Zugleich - hierfür gibt es einige 70 Ebd., §§ 252, 253; § 109 (1621); Ausschluss von der Beurteilung von Gegenständen bei naher Verwandtschaft offenbar hier nur für die Parnassim geregelt. Dasselbe findet sich in der überregional mit jüdischen Gemeinden der Landschaft vereinbarten Ordnung, § 141 (1628), darin Pkt. 2. 71 Ebd., § 268 (1657). 72 ISG Ffm, Ugb D 32, Nr. 65, Tom VII; Jüdischer Reglementsentwurf, 22.3.1754; § 59; ebd., § 113; damit keine Missverständnisse aufkamen, sollte das Amt für die Dauer des Verfahrens ruhen: „Gleiche Bewandtnuß [hat es], da Baumeister Kinder und Tochtermänner, solcher Art Schiedts-Leuthe waren, deren Vatter und respec. Schwieger-Vatter der Baumeisterl. Handlung in hoc causa praeludirt". Dasselbe ebd.; D.M. Juda an Schultheiss und Schöffen Frankfurts, 30.9.1754; Beilage D: Castenmeisterordnung, Pkt. 4. 73 Ähnliche ab 1622 für das Rabbinatsgericht, dessen Urteile verzeichnet werden sollten; ebd., § 273 (1658). Ab den 1680er Jahren wurde dann festgelegt, dass die beiden sich abwechselnden Richtergruppen nicht gemeinsam tagen sollten und dass die Dajanim in Rechtsangelegenheiten mit Bezug aufeinander wie ,Verwandte' einzuschätzen seien, also z.B. nicht zu Schwur und Eid zugelassen werden durften. Ebd., § 333 (?). 74 Es war offenbar gar nicht selten der Fall, dass externe, insbesondere wohl ärmere Gemeinden bzw. Landschaftsverbände Frankfurter Rabbiner als verbindliche Ansprechpartner besoldeten, wiewohl diese weiter in Frankfurt wohnen blieben. Pinkas Ffm, § 460 (1699) gestand einem Beit Midrasch, einem Lehrhaus, zu, einen Rabbiner anzustellen, dieser durfte sich aber nicht Rosch Jeschiwa nennen, um mit dieser sonst üblichen Titulatur nicht in Konkurrenz zum Oberrabbiner zu treten, dem offenbar eine Art Oberaufsicht über die unterschiedlichen Lehranstalten in der Gemeinde zustand. Eine zentrale Gemeindejeschiwa gab es so nicht, dies war in anderen Gemeinden jedoch auch unüblich, schon da diese meist aus Erinnerungsstiftungen hervor gingen. Da die Fixgehälter den Dajanim und zweifellos die zufäl-
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Hinweise - gab es trotz dieser Versuche, die Rechtsprechung zu zentralisieren, weiterhin die Möglichkeit, untereinander private Schlichter zu vereinbaren.75 Dennoch war das allmählich problemorientiert vereinbarte Modell aber kaum gegen die Dynamik der lockeren innerjüdischen Rechtsorganisation gefeit. Nach bald 100 Jahren musste die Gemeindeleitung den Richtern sogar erneut vorschreiben, dass es ihnen untersagt sei, das Urteil eines regulären jüdischen Gerichts zu hinterfragen und den Fall wieder aufzurollen. Nur wenn ein Gerichtsgremium insgesamt Zweifel an einem Urteil anmeldete, sollte eine Revision möglich sein.76 Ebenso wollte man die Baumeister 1754 verpflichten, in laufende Verfahren nicht einzugreifen bzw. diese über den turnusmäßigen Wechsel der Monatsvorsteher hinaus weiterzuführen.77 Auch die 1603 schon problematische Frage der Unsicherheit der Rechtsprechung war demnach nicht einmal nach innen hin gelöst worden. Ungewöhnlich ist bei alledem, dass der Oberrabbiner nicht prinzipiell Teil des Rabbinatsgerichts war. Wiewohl sein Amtstitel weiterhin Gerichtsvorsitzender (Aw Beit Din) und Oberhaupt der Talmudschule (Resch Metiwta) lautete, bildete sich aus der religionsrechtlichen Gerichtsordnung mit einem Vorsitzenden und zwei Beisitzern - üblicherweise als Aw Beit Din und zwei Dajanim bezeichnet - Ende des 18. Jahrhunderts in Frankfurt sogar eine neue Bezeichnung, nämlich die des , Vorsitzenden der Richter' (Rosch Dajanim), die diesen spezifischen Usus einer weitgehenden Trennung jener Funktion vom Oberrabbiner wider gibt.78 Auch weitere Zuständigkeiten lassen sich nachzeichnen: Während die Gabbaim und Parnassim für die vor sie gebrachten Schlichtungsansinnen und zumindest zeitweise auch für die geringfügigen Vermögensklagen zuständig waren, erledigten sie zugleich - in Konformität mit den Privilegien - alle Angelegenheiten
ligen Gerichtskosten den bei Befangenheitsanträgen nachrückenden Richtern keine gesicherte Lebensgrundlage garantierten, war es auch hier üblich, dass sich die Gelehrten durch vielerlei Verpflichtungen, Gedächtnisstiftungen und ähnliche Aufgaben zusätzlich absichern mussten, was sie für die Rechtsprechung jedoch in unzulässige Abhängigkeiten brachte. Ebd., §§ 199 (1662), 202 (1663); hier wird unter anderem auch ein Ersatzgremium von sieben Männern genannt, die bei Untauglichkeit eines Dajans einen Ersatzmann wählen sollen. 75 Ebd., §§ 402 (1705), bestimmt, dass bei Schlichtungsverfahren für Finanzklagen die Schlichter aus einer Urne gezogen werden, also zumindest teilweise von der Gemeinde beaufsichtigt wurden, vermutlich was deren Qualifikation anging, was einen weiteren, jenseits der Rabbinatsgremien und der eigentlich ergangenen Verweise aller Vermögensklagen vor dieselben liegenden Versuch einer Verrechtlichung freier Güteverhandlungen darstellt. 76 Ebd., § 364 (170(?)). ISG Ffm, Ugb D 32, Nr. 65, Tom VII; Jüdischer Reglementsentwurf, 22.3.1754; § 119. 77 Pinkas Ffm; § 55. 78 Ebd., § 473 (1771); Maas musste laut Vertrag keine Klagen unter 50 Rtlr. annehmen.
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des Münzhandels sowie die Aufsicht und Verurteilung kleinerer Schlägereien und Beleidigungsklagen - letzteres jedoch nicht ganz im Sinne der obrigkeitlichen Verordnungen. Während dem Oberrabbiner intern ausschließlich Testamentssachen, aber auch der Reinigungseid der Witwen im Hinblick auf ihre Vermögensansprüche übertragen wurden, darüber hinaus - vermutlich aber nicht exklusiv - ehe- und verlobungsrechtliche Dokumente aufzusetzen, sollten Immobilienklagen generell vor das Rabbinatsgericht und den Oberrabbiner gebracht werden.79 Auch der mit R. Schmuel von Krakau 1690 geschlossene Anstellungsvertrag bestätigt dies und erweitert seine Zuständigkeit auf Anzeigen von Beschlagnahmungen bei Handelsschaften.80 Dies macht Sinn, denn da die Stadt in den Schutz nur aufnahm wer über ein gewisses Eigentum an einem Haus in der Judengasse verfügte, mussten diese Angelegenheiten nachvollziehbar geregelt werden. Den Parnassim wurde vom Rat mehrfach sogar explizit aufgetragen, bei Fragen des Immobilienbesitzes zu gutachten bzw. eine Aufsicht zu führen. Zugleich erforderten hier die komplexen Dokumente und rechtlichen Formalien - wie dies auch für die ehe- und nachlassrechtlichen Urkunden gilt - zugunsten ihrer Gültigkeit eingehende juristische Kenntnisse und ein rechtliches Verfahren, was die Vorsteher und Zahlmeister als Laien so nicht gewährleisten konnten.81 Eine durchgehende Trennung zwischen Oberrabbiner und Gericht wurde nicht angestrebt, wobei das Rabbinatsgericht insbesondere Zeugenverhöre, die unterschiedlichen Eidabnahmen sowie Ortstermine bei Immobilienstreitigkeiten übernehmen sollte.82 Zugleich wurde erneut betont, dass Eheverträge und Testamente vor den Oberrabbiner gehörten. Bei Beleidigungsklagen sollte er einer anderen Verordnung gemäß von den ParnasEbd., § 337, Takkanot (1685). Dasselbe in den Takkanot von 1754; ISG Ffm, Ugb D 32, Nr. 65, Tom VII: Jüdisches Reglement (22.3.1754), §§ 94, 122. 1796 wurde abermals der Immobilienverkauf - wozu auch der Besitz der Ständer, der Synagogenplätze, zählte - reorganisiert, nun ergänzt durch eine Beeidung vor den Parnassim, um den Überblick über die Vermögensverhältnisse zu behalten. Zwei Jahre danach folgte ein erneuter Regelungsversuch über das Rabbinat. Pinkas Ffm, Paragraphenzählung fehlt beide Male, folgt auf § 511 (1796); folgt offenbar auf § 517 (1798), wobei der Anfang des Textes auf dem Film fehlt und später offenbar folgt; dann auch für Mietwohnungen. ISG Ffm, Ugb D 32, Nr. 65, Tom VII: Jüdisches Reglement (22.3.1754), § 121; geschieht dies bei Anwesenheit des Oberrabbiners, des Schulklöppers, eines Kastenmeisters in Abrechnung mit etwaigen Schulden beim Hospitalmeister, d.h. mit der Armenkasse, in die i.d.R. Strafgelder gezahlt werden mussten. 80 Pinkas Ffm, § 459 (1690). 81 Ebd., § 374 (1701), Übertrag eines Ratsdekrets (4.4.1701), bei Hypothekaufnahmen sollen die Parnassim über den Hausbesitz gutachten; ebd., § 295 (?); zur Form und Zeichnung von Schriftstücke. 82 Z.B. ebd., § 106 (16??) Rabbinatsvertrag für Schmuel ben Josef. Im 18. Jahrhundert sollten Eheschließungen nur noch vom Oberrabbiner vollzogen werden, der dies jedoch anderen gegen eine Abschlagszahlung überlassen konnte. Ebd., § 202 (1663); Dajanims- und Gebührenordnung. 79
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sim hinzugezogen werden, wiewohl diese weiterhin auch allein entscheiden und bestrafen konnten.83 Wenige Jahre danach ging man anlässlich einer spezifischen Ordnung zur Tätigkeit der Vorsteher allerdings dazu über, derlei Vergehen gemeinsam mit acht gewählten Gemeindemitgliedern abzuurteilen. Dies belegt erneut, dass derlei nicht als primäre Anteile eines rabbinischen Entscheidungsbereichs angesehen wurde, was mit den Privilegien Hand in Hand ging.84 Die Zusammenarbeit von Oberrabbiner und Rabbinatsgericht scheint bei Entscheidungen in der Gemeindeleitung weniger problematisch gewesen zu sein, da hier die Grenzen der Kooperation ohnedies eng gezogen waren: Der Oberrabbiner und in spezifischen Fällen auch die weiteren Gemeinderabbiner wurden in der Regel zur Unterstützung von Entscheidungen der Gemeindeleitung sowie zu notariellen Beglaubigungen hinzugezogen, da diese bei rechtsspezifischen Aspekten auf ihre juristische Kompetenz nicht verzichten konnte oder wollte. Ausschließlich vom Rabbinat, dann gemeinsam mit den Dajanim, eingebrachte Verordnungen und Entscheidungen sind im Pinkas deutlich die Ausnahme und beziehen sich meist auf ,religiöse' und moralische Angelegenheiten. Der Skandal um die 1793 geschehene unehrenhafte Beerdigung des als irreligiös wahrgenommenen Wechselmaklers Moses David Wohl belegt das Ineinandergreifen der letztlich getrennten Entscheidungsgremien, wobei der Oberrabbiner aufgrund der prinzipiellen Gefährdung der religiösen Eigenständigkeit der Gemeinde eine geschlossene Phalanx mit dem übrigen Rabbinat und dem Vorstand bildete.85 In diesem spezifischen Fall wird die in Frankfurt kaum sichtbare Ebene bruderschaftlicher Entscheidungsbereiche fassbar, deren Mitglieder zunächst an die Entscheidung eines für diesen Zweck angestellten Rabbiners gebunden blieben, die in einer Art Instanzenzug erst danach vor das Gemeinderabbinat gebracht werden durfte.86 Als im Gefolge dieses Ereignisses einige Gemeindemitglieder eine neue Beerdigungsbruderschaft gründeten, versuchten Gemeindeleitung und Rabbinat diese zunächst zu verhindern. Um diese wenigstens in das bestehende Machtgefüge einzupassen, gutachtete der Oberrabbiner Pinchas Horowitz mehrfach, dass der neuen Chewra nicht zuzu-
Ebd., § 262 165{1/7), § 323 (1679); eine ähnliche Zusammenarbeit wurde 1679 abermals für leider inhaltlich unklare besondere Fälle im Sinne einer Schiedsstelle vereinbart, was zumindest abermals verdeutlicht, dass diese Vermischung der Gremien als Ausnahme und Sonderregelung gesehen wurde. 84 Ebd., § 277 (?). 85 Gotzmann, Jüdisches Recht (wie Anm. 42), S. 77-86. 86 Das Netzwerk war allerdings auch hier eng geknüpft; der Rabbiner der einflussreichen Beerdigungsbruderschaft war jener Nathan Maas, der zugleich von der Gemeinde als Leiter der Talmudschule angestellt worden war. Horovitz, Frankfurter Rabbinen (wie Anm. 7), S. 196-7. Gotzmann, Jüdisches Recht (wie Anm. 42), S. 79-82. 83
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gestehen sei, »Übeltäter' neben ehrbaren Personen zu beerdigen - wie im Fall des M. D. Wohl strittig gewesen war - , weshalb ihr anders als den bestehenden Bruderschaften jede Qualifikation für eigenständige rechtliche Entscheidungen versagt wurde.87 Diese voranschreitende, aber keineswegs immer schlüssige Verrechtlichung im Spannungsfeld ambivalenter externer Vorgaben und interner Autonomiebestrebungen war insbesondere durch die starke externe Rechtskonkurrenz gekennzeichnet gegen die erst eine möglichst autonome Organisation aufgebaut werden sollte. Da der Frankfurter Rat außer bei rituellen Fragen zumindest prinzipiell jede innerjüdische Klage annahm auch nach einem Urteil und sogar in Fällen, die auch aus christlicher Perspektive nach Jüdischem Recht beurteilt werden mussten, was die christliche Seite denn auch versuchte - , war jede interne Entscheidung stets gefährdet. Die jüdische Gemeinde begegnete dem auf verschiedene Weise: Eine Möglichkeit war das Ausnutzen des erheblichen Interpretationsraums der Stättigkeit, was dadurch möglich wurde, dass die städtische Obrigkeit primär ungestört sein wollte, zumal solange sie regelmäßige Einkünfte erwarten durfte, sowie der Spannung zwischen Normen und deren Interpretation durch den Reichshofrat. Dies ging direkt in eine subversive Übung der Gerichtsbarkeit über, was intern natürlich erhebliche soziale Druckmittel voraussetzte, um verurteilte Personen von externe Berufungen abzuhalten, da diese die Gemeindeleitung direkt gefährdeten, was letztlich auf einen generellen Gerichtszwang hinauslief. Dieser griff bei den finanziell weniger gut gestellten Personen offenbar recht gut. Die Subversivität ist auch einer der Gründe, dass sich der interne Umgang mit Strafen und generell Abrechnungen häufig als undurchsichtig und als eine Gängelei darstellt, da gerade die Unkontrollierbarkeit von Schulden und Strafgeldern den Einzelnen über die dadurch bedingten andauernden Abhängigkeiten wieder in die Gemeinschaft zwang. Finanziell potente Personen konnten ihrerseits meist über das für die jüdische Gesellschaft der Frühen Neuzeit bestimmende Konzept von Ehrbarkeit und Prestige zur Kooperation gezwungen werden. Trotzdem blieb dies oft eine Gratwanderung, gerade in die Enge gedrängte bzw. sehr reiche Personen klagten dennoch bei den städtischen oder den Reichsgerichten. Dass dabei sogar eine hochgradig den Privilegien widerstreitende Gerichtsbarkeit Erfolg hatte, erklärt sich wohl auch aus dem besonderen Stellenwert, den diese Eigenständigkeit in der verbreiteten jüdischen Wahrnehmung besaß, ein Aspekt, der durch Fremdheit und über die GefährPinkas Ffm, § 512 (1795), wobei eines der Gründungsmitglieder der neuen Chewra ein Dajan der Gemeinde, Mendele Samst, war. § 511 (1795), § 517 (?), §§ 412 (176(4 od. 7), 271 (1658). Es bestanden zuvor schon zwei separate Bruderschaften, die sich die traditionell in die Beerdigungsbruderschaft gehörenden Tätigkeiten teilten, die Chewrat deKawronim und die Chewrat deGomle Chasadim. 87
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dung durch zuviel Offenheit verstärkt wurde. Um nur ein Beispiel zu geben: Während der großen Inquisitionsverfahren zu Beginn des 17. Jahrhunderts wurde die Frage, ob intern etwa Fälle von Hurerei - also Ehebruch, Prostitution und außereheliche Schwangerschaften - abgeurteilt würden, von der Gemeindeleitung und dem Rabbinat umgangen, aber auch direkt verneint. Einträge im Pinkas belegen dagegen, dass dies durchaus geschah, und in der Regel mit sehr empfindlichen Strafen.88 Da dies eindeutig Angelegenheiten der Kriminalgerichtsbarkeit waren, die in der Frankfurter Stättigkeit sogar explizit genannt - grundsätzlich der Obrigkeit vorbehalten blieben und sicher nicht als ,minder wichtig' eingestuft werden konnten, handelt es sich hier eindeutig um ein Unterwandern des obrigkeitlichen Machtanspruchs. Als die Gemeinde 1754 in den neuen Takkanot festschreiben wollte, dass sie sich auch mit dem Problem der ,,Geschwängerte[n], und von der Geburth erlösste[n], unverehelichte^] Weibs-Persohnen" befassen wolle, reagierte der Rat entsprechend empfindlich. Die: „Baumeister [dürften hier nur] dem Consistorio, bey Strafe 20. Rtlr allemahl zeitliche Nachricht davon zu geben, damit selbiges sein Straf-Amt exerciren, auch allenfallss der Geschwächten zu ihren Satisfaction gegen den Impraegnatorem, [...] verhelfen könne". 89 Ähnlich verhielt es sich mit den internen Zwangsmitteln, wobei diese Kontrollversuche an Grenzen stießen, wie bleibende Klagen aus der Gemeinde ahnen lassen. Gerade im Hinblick auf die schärfste Strafe, den Verweis aus der Gemeinde, war die Mischung aus Subversivität und Unklarheit entscheidend, denn auch dies war eindeutig eine obrigkeitliche Entscheidung, da der Judenschutz nur Territorialherren zustand.90 Hier behalf man sich mit extrem unterschiedlichen Auslegungen der Privilegien, die den Vorstehern nach obrigkeitlichem Verständnis eine Gutachterfunktion im Aufnahmeverfahren zugestanden, was intern als zwingend angesehen wur-
ISG Ffm, Ugb E 48 Κ; Reichsverfahren von 1609-12; darin 1. Verhörkatalog: Aussage Israels zum Grünen Herd (könne sich jedoch nicht entsinnen, dass dies einmal geschehen sei); Low zum Kessel dagegen (Low zum Roseneck sei in Bann getan wurden, da er die für ein moralisches Vergehen typische Buße für die Schwängerung einer Magd, im kalten Wasser sitzen, nicht vollzogen habe). Die Tendenz, als extrem bewertete Vergehen eher nicht oder indirekt zu benennen, erschwert die Analyse zwar, der Pinkas verzeichnet - soweit lesbar - bei etwa 11 Fällen 13 Verurteilungen wegen Hurerei; Pinkas Ffm, §§ 146 (1628), 246 (1650/60), 247-8 (1664), 250 (1680), 292 (1663), 447-8 (1793), 480 (1779). 89 ISG Ffm, Ugb D 32, Nr. 65, Tom VII: Jüdisches Reglement (22.3.1754), § 115. ISG Ffm, Ugb D 32, 65, Tom VII; (Nr. 565) Städt. Bericht zum Reglementsprojekt; Kommentierung ad § 115. 90 Andreas Gotzmann, Die Grenzen der Autonomie. Der jüdische Bann zwischen Bewahrung und Gewährung im deutschen Judentum der Frühen Neuzeit in: Ders./Wendehorst (Hg.), Der Kaiser, das Reich (wie Anm. 16). 88
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Andreas Gotzmann de. 91 Dementsprechend finden sich zahlreiche Belege unterschiedlicher Ausgrenzungen aus dem religiösen und sozialen Leben, bis hin zu zeitweiligen, vereinzelt auch zu generellen Ausweisungen aus der Gemeinde, sogar das Verbot der Durchreise oder Übernachtung. 92 Erneut duldete der Frankfurter Rat dies, solange es in seinem Sinn war - etwa wenn es sich um arme oder kriminelle Personen handelte. 93 Neben dieser ,regulären Subversivität' war für die konkurrierende interne Rechtsprechung entscheidend, dass sie auch die Bedürfnisse der jüdischen Bevölkerung erfüllte. Dementsprechend zeigt sich diese ganz im Sinne des gesamtgesellschaftlichen Verständnisses einer ständisch-korporativen Organisation: Die Angelegenheiten wurden möglichst innerhalb der eigenen Gruppe geregelt, um Konfrontationen und Einblicknahmen, die - was die jüdische Bevölkerung anging - stets auch eine Gefährdung darstellten, zu vermeiden. Aufgrund der nahezu durchgängig kaufmännischen Tätigkeiten der Gemeindemitglieder galt zudem, dass die Dinge schnell und pragmatisch erledigt werden mussten. Sowohl finanziell, aber auch im Hinblick auf den Erhalt eines guten Rufs und damit der Kreditwürdigkeit war es entscheidend, dass Verfahren auch kostengünstig und möglichst geräuschlos von statten gingen. Zwar hatte der Rat der Stadt Frankfurt bereits eine vergleichsweise schnell arbeitende Gerichtsbarkeit eingerichtet. Doch auch hier entstanden Kosten, die Verhöre, die Eingaben bis zur Die städtische Haltung dokumentiert der Kommentar auf die internen Reglementierungsvorschläge von 1754; ISG Ffm, Ugb D 32, 65, Tom VII; (Nr. 565) Städt. Bericht zum Reglementsprojekt; ad §§ 66, 67,125. 92 Pinkas Ffm, der Begriff des Cherems, des Banns, war eher ein Sammelbegriff, wobei es durchaus eine gewisse Systematisierung der Strafen gab, was auch mehrfach über Verordnungen geregelt werden sollte; Ausweisungen finden sich direkt an den Verbrechern bzw. deren Angehörigen (z.B. Söhnen, denen das Zuzugsrecht verwehrt wurde) vor allem bei ,extremen' Vergehen, ebd., §§ 236 (1653), 242 (1659), 246 (1650), 257 (1655), 293 (1664), 331 (1684), 340-1 (1688 u. 1690), 348 (1690), [381] (1704), 394 (1743), 480 (1778); 242 (1650); keinen Durchzug od. Übernachtung, 292 (1663), 331 (1684). 93 Ahnliches galt für die intern geübte Praxis, von einer verhängten Strafe einen Gnadenerlass zu gewähren, was von städtischer Seite als Anmaßung obrigkeitlicher Handlungen verstanden worden war; als Teil einer Gerichtsbarkeit belegte ihr die als ,willkürlich' wahrgenommene Strafpraxis, dass es sich nicht um ein geregeltes, also nicht um ein rechtliches Verfahren handele. Dennoch war und blieb dies intern üblich. Pinkas Ffm, z.B. §§ 237 (1653), vermutl. wegen Konkurs (Chilul HaSchem Entweihung des göttl. Namens - was insbesondere dafür synonym gebraucht wurde), ihm durfte bei Strafe keine Gnade gewährt werden; 242 (1650), wegen unlauterem Handel, Gnade durfte gewährt werden bei Reue u. Befriedigung der Gläubiger; 248 (1664) Hurerei, von beiden Personen durfte erst nach 7 Jahren ein Gnadengesuch angenommen werden; 290 (vor 1669) im Rahmen einer andauernden Angelegenheit wird letztlich der Frau des ursprüngl. Beklagten auf 20 Jahre ein Gnadengesuch verwehrt; 347, 344, 346 (1690) wegen Bannübertritts wird ihm stückweise zugestanden, dass er bei Busse und Zahlung die Verweigerung eines guten Begräbnisses antun könne, die restlichen Strafen aber nicht, 1692 werden ihm aber auch diese nachgelassen, mit Ausnahme des Verlustes des aktiven und passiven Wahlrechts bei Vorsteherwahlen. 91
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juristischen Begutachtung und Entscheidung benötigten in der Regel viel Zeit. Demgegenüber versuchte die Gemeindeleitung schon früh, die internen Verfahren - auch der rabbinischen Vorstellung von Gerichtsbarkeit entsprechend - schnell, direkt, kostengünstig und bevorzugtermassen verschwiegen zu gestalten. So wurde schon Ende des 16. Jahrhunderts die Zuhilfenahme von Bevollmächtigten, letztlich Rechtsbeiständen, sowie die Anerkennung schriftlicher Vorgänge zugunsten direkter, mündlicher Verfahren weitgehend untersagt, was etwa 100 Jahre danach nochmals eine Bestärkung erfuhr, wobei im Rahmen der zunehmenden Regelung des Vertragsrechts nun zudem z.B. für Testamente pragmatischerweise Deutsch als Amtssprache zugelassen wurde.94 Außerdem sollte das Jüdische Gericht generell Dokumente in jeder Sprache annehmen und bewerten, und dies, obwohl die hebräische Schrift und Sprache eine der wesentlichen Barrieren gegen die Übernahme der Verfahren durch christliche Behörden darstellten. Zugleich wurde den Vorstehern und den unterschiedlichen rabbinischen Gremien Entscheidungsfristen auferlegt, in der Regel wenige Tage, und Klägern die traditionelle Möglichkeit, eine Entscheidung zu erzwingen, geboten - wiewohl das Recht des Klamens, der Unterbrechimg des Gemeindegebets zur Erzwingung eines Verfahrens, wegen Missbrauchs stetig eingeschränkt wurde.95 Auch die zunehmende Festlegung und Begrenzung der Gerichtskosten - etwa der Folgekosten innerhalb eines Prozesses sowie der Gesamtkosten überhaupt - diente dazu, die internen Verfahren konkurrenzfähig zu halten und ein Unterwandern der labilen Rechtsprechung nicht zu begünstigen.96 Da die freien Schlichtungsverfahren mit dem Aufbau einer zumindest verbindlich gedachten Rechtsorganisation nicht durchweg vereinbart waren, wurden diese attraktiver und verbindlicher gestaltet, indem ihnen eine gewisse rechtliche Form und zusätzliche Sicherheit verliehen wurde.97 Dabei bot das Jüdische Recht gerade auch in den kritischen handelsrechtlichen Angelegenheiten den Vorteil, dass dieses Juden und Jüdinnen selbst über das Reichsgebiet hinaus eine gemeinsame Rechtsbasis bot, was dieses trotz der eher geringen Durchsetzungskraft attraktiv machte. Die immer wieder geschehenen Klagen vor den städtischen Gerichten selbst in ehe- oder
Ebd., § 52 (158(4)). So etwa ISG Ffm, Ugb D 32, Nr. 65, Tom VII: Jüdisches Reglement (22.3.1754), §55; §72. 96 Z.B. Pinkas Ffm, siehe die Pauschsummen für das Gericht, §§ 111 (1621), 202 (1663), § 273 (1658); vergleichbar für die Pamassim, § 277 (etwa 1660); bzw. in den Gemeindeordnungen, § 337 (1685), Pkt. 28-30; § 320 (1672). § 364 (1702); die Gerichtskosten dürfen - außer mit Sondergenehmigung der Gemeindeleitung - insgesamt 15 Rtlr. nicht überschreiten. 97 Ebd, § 323 (1679); wurde eine Schiedsstelle für bestimmte Fälle mit den Parnassim und dem Beit Din eingerichtet. ISG Ffm, Ugb D 32, Nr. 65, Tom VII: Jüdisches Reglement (22.3.1754), § 118, Ende. 94 95
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erbrechtlichen, also eigentlich in als religiös geschützten Fällen belegen aber, dass sich die Obrigkeit gerade bei erheblichen Streitwerten auch diese Möglichkeit nicht nehmen ließ. Dieses Hinausgehen über den in entscheidendem Maß durch sozialen Druck gesicherten internen Entscheidungsfreiraum musste fallspezifisch gegen einen zu erwartenden Prestigeverlust in der Gemeinde abgewogen werden. Diese Möglichkeit, sich sein Recht zu holen, und dies durchaus auch über die städtischen Foren hinaus bis nach Wetzlar und Wien, stand insbesondere jenen im Großhandel tätigen, vermögenden Gemeindemitgliedern offen, die Konflikte mit der Gemeindeleitung weniger scheuen mussten. Damit lässt diese zwischen Autonomiebestrebungen und obrigkeitlichen Beschränkungen lavierende jüdische Eigengerichtsbarkeit zudem einen Aspekt erkennen, der über die korporative Verfasstheit des Rechtswesens hinauszuweisen scheint.
.Zur Ehre Gottes, zum ewigen Heil und ..." Gudrun Petasch „Zur Ehre G o t t e s , z u m e w i g e n Heil und zur Ordnung in u n s e r e n K i r c h e n A l l t a g und G r e n z e n reformierter S e l b s t v e r w a l t u n g in Frankfurt um 1650 Auf d e n „Polizentris-
mus der Rechtsquellen, Rechtsordnungen und Gerichtsforen, das Fehlen klarer hierarchischer Zuordnungen und die sich daraus ergebenden Zwänge zum Aushandeln" als wichtiges Kennzeichen frühmodernen Rechts hat Paolo Prodi mit Nachdruck hingewiesen.1 Diesem Ansatz zufolge war das Rechtswesen der Frühen Neuzeit im Vergleich zu dem der Moderne eine hochgradig vielfältige Rechts- und Gerichtslandschaft. Teil dieser dem 19. und 20. Jahrhundert fremden Vielfalt waren auch die in unterschiedlichem Maß mit korporativen Rechten ausgestatteten religiösen Gemeinschaften. Diese verfügten über eine teilweise weitreichende Autonomie, die besonders in einem spezifischen Eigenrecht zum Ausdruck kam. Anhand eines ausgewählten Beispiels soll in diesem Beitrag untersucht werden, wie die interne Autonomie der Französisch-reformierten Kirche in Frankfurt um 1650 konkret gehandhabt wurde. Welches Recht wollte die Französisch-reformierte Kirche in Frankfurt aus welchen Gründen intern wahrnehmen? Wie weit konnte sie dies nach außen durchsetzen? Vor welchen Foren spielten sich innergemeindliche Konflikte ab und warum? Wie reagierte die Kirchenselbstverwaltung, wenn Mitglieder ihre Beschlüsse nicht akzeptierten? Die zeitgenössische Praxis des französisch-reformierten kirchlichen Eigenrechts unter den Herrschaftsbedingungen der lutherisch regierten Reichsstadt wird am Beispiel eines großen Kirchenzuchtkonflikts, den man als Fall des internen Strafrechts analysieren kann,2 untersucht. Wie sich zeigen wird, ist I 1 Dazu grundsätzlich Paolo Prodi, Eine Geschichte der Gerechtigkeit: vom Recht Gottes zum modernen Rechtsstaat, aus dem Italienischen von Annette Seemann, München 2003. Peter Oestmann, Rechtsvielfalt vor Gericht. Rechtsanwendung und Partikularrecht im Alten Reich, Frankfurt a.M. 2002, insbes. S. 681ff. Call for Papers für die 5. Tagung des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit sowie Tagungsbericht von Steffen Wunderlich vom 16. Januar 2006 zum Thema „Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft im Römisch-Deutschen Reich der Frühen Neuzeit, www.HsozKult.geschichte.huberlin.de 2 Dies ist ein analytischer Begriff; die Betroffenen reden von Disziplin oder Bußzucht. De facto zeigen jedoch die Detailanalysen, daß die sogenannte Kirchenzucht sehr wohl säkularen Strafrechtscharakter hat und das Strafrecht auch teilweise substituiert, bis hin zu Begriffen wie „Verbrechen" und dem Verhängen von Geldbußen. Kapitalverbrechen waren jedoch nie von der Kirchenzucht betroffen. Ibid. Heinz Shilling (Hg.), unter redakt. Mitarbeit von Lars Behrisch, Institutionen, Instrumente und Akteure sozialer Kontrolle und Disziplinierung im frühneuzeitlichen Europa, Frankfurt a.M. 1999, insbes. die Einleitung von Heinz Schilling: Die Kirchenzucht im frühneuzeitlichen Europa in interkonfessionell vergleichender und interdisziplinärer Perspektive - eine Zwischenbilanz, S. 11-40. Ferner Heinz Schilling (Hg.), Ausgewählte Abhandlungen zur europäischen Reformations- und Konfessionsgeschichte, Hg. von Luise Schorn-Schütte und Olaf Mörke, Berlin 2002, IV. Konfessionalisierung und nationale Identitäten, S. 433ff. Heinz Schilling (Hg.), Kirchenzucht und Sozialdisziplinierung im frühneuzeitlichen Europa (mit einer Auswahlbibliographie), ZHF, Beiheft 16, Berlin 1994. Eberhard Schmidt, Einführung in die Geschichte der deutschen Strafrechtspflege, 3. Aufl., Göttingen 1995, S. 141ff. Karl Härter (Hg.), Policey und frühneuzeitliche Gesellschaft, Frankfurt a.M.
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für eine französisch-reformierte Exilgemeinde des 17. Jahrhunderts die religiöse Perspektive entscheidend: Als Störung des Kirchenfriedens fallen im Grunde alle Verstöße gegen das Sittengesetz unter die Bußzucht und haben damit religiöse Bedeutung. Andererseits ist eine andersgläubige Exilkirche dem Herrschafts- und Strafanspruch der einbettenden Herrschaft unterworfen. Religiöse Grundlagen und historische Machtverhältnisse bestimmen über die konkrete Ausgestaltung. Bei der Affäre de L'Isle, die sich über den Zeitraum von 1648 bis 1660 erstreckte, handelte es sich um eine auch von Zeitgenossen als extrem empfundene Kirchenkrise. Sie strahlte in andere reformierte Exilkirchen und in zwei, diese einbettenden Herrschaften aus. Damit beleuchtet sie nicht nur die Binnenstruktur des Eigenrechts, sondern auch die Unterschiede in der externen Handhabung der Autonomie dreier Diasporakirchen, Frankfurt und Hanau. Die bisherige Kirchengeschichtsschreibung hat sich kaum für die interne Strafrechtspraxis der Französisch-reformierten Kirche in Frankfurt interessiert, sondern vor allem für ihren Kampf um die Freiheit der öffentlichen Religionsausübung. Die früheren Historiographien wie Appia3, Mangón und Ebrard4, meist reformierte Pfarrer, verschwiegen schamhaft oder gleichgültig Alltagsleben und interne Krisen der reformierten Gemeinde aus dem praktischen Interesse heraus, die Reputation der Altvorderen nicht zu beschädigen und diese den zunehmend säkularisierten Zeitgenossen als Glaubensvorbilder vorhalten zu können.5 Zudem sahen sie in internen Konflikten eine Gefahr für die rechtliche Lage der Kirche insgesamt. So wird beispielsweise die Affäre de L'Isle in der neuerdings auch gedruckt zugänglichen Ausgabe der Chronik von Abraham Mangón nicht erwähnt, obwohl sie zwölf Jahre lang bei den
2000. Ders. , Policey und Strafjustiz in Kurmainz: Gesetzgebung, Normendurchsetzung und Sozialkontrolle im frühneuzeitlichen Territorialstaat, 2 Bde., Frankfurt a.M. 2002. Karl Kroeschell, Deutsche Rechtsgeschichte 2 (1250-1650), 8. Aufl., Opladen 1980, S. 281ff. 3 Pfarrer Appia, Zur Geschichte der Frankfurter französisch reformierten Gemeinde 1554-1842. ISG f= Institut für Stadtgeschichte) Frankfurt a.M., FRG 140. 4 Friedrich Clemens Ebrard, Die französisch-reformierte Gemeinde in Frankfurt a.M. 1554-1904 (Gemeinde), Frankfurt a.M. 1906, S. 90-99. Abraham Mangón, Kurze und wahrhafftige Beschreibung der Geschichte der Reformierten, in: Irene Dingel (Hg.), Frankfurt 1554-1712 (Beschreibung), Leipzig 2004, S. 153ff. 5 Ibid. hierzu Gudrun Petasch, Das erste Neu-isenburger Konsistorienbuch als Ausdrucksgestalt historischer Subjektivität - methodologische, forschungsstrategische und editorische Anmerkungen, in: Gudrun Petasch (Hg.), Le Livre du Consistoire. Konsistorienbuch der französischen reformierten Kirche Neu-Isenburg 1706-1737 (1722-1731) (Konsistorienbuch), 2. vollst. Überarb. und erw. Aufl., Neu-Isenburg 2002, S. 70ff. Auch Irene Dingel sieht in Mangons Chronik vom Anfang des 18. Jahrhunderts in erster Linie ein „Dokument der kulturellen Selbstbehauptung einer Minderheit". Mangón (wie Anm. 4), Beschreibung, S. 12.
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Kirchenoberen erhebliche Ressourcen gebunden hatte und der Großonkel des Verfassers, Jean Mangón, als Ältester maßgeblich involviert war. 6 Zunächst werde ich einen kurzen Überblick über die Ansiedlung der Französisch-reformierten Kirche in Frankfurt geben bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges berichten. Da der Hintergrundkonflikt im Fall de L'Isle lebensweltlich im Schulsystem und im Bildungsmarkt wurzelt, berücksichtigen die folgenden Erläuterungen auch die Vorgeschichte und Rechtsgrundlagen des Schulwesens. Anschließend werde ich - nach einigen Anmerkungen zum Material und zur angewandten Untersuchungsmethode - den Ablauf der Ereignisse in Frankfurt, Hanau und Frankenthal kurz zusammenfassen und einige zentrale Strukturmerkmale herausarbeiten. 1. Religiöse Motive französisch-reformierter Selbstverwaltung7 In der Ursprungsheimat der Französisch-reformierten Kirche in Frankfurt, den Spanischen Niederlanden, auch Wallonie genannt, hatten sich schon in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts selbstverwaltete Gemeinden gebildet, die das Abendmahl nach calvinistischem Verständnis, also in beiderlei Gestalt und als symbolisches Erinnerungsmahl, feierten. Die Kirche Calvins kennt kein Amtscharisma, keine Ámterweihe, sondern wird von weitgehend demokratisch gewählten Laien verwaltet, dem Consistoire oder Konsistorium8. Diese werden nach universalistischen Kriterien ausgewählt, nach den leistungsethischen Motiven der individuellen Bewährung. 9 Das Predigeramt ist eines von vier Ämtern bei Calvin. Diese Kirchen, die sich nach urchristlich-biblischem Modell als reformiert verstehen, kennen nur noch zwei Sakramente, die Taufe und das Abendmahl. Es sind puritanische Gruppen von Religionsvirtuosen10, die anspruchsvolle 6
Laut Irene Dingel, die sich weitgehend auf Zissler beruft, ist der Autor höchstwahrscheinlich der Großonkel väterlicherseits von Jean Mangón d. Ä.; Mangón, Beschreibung (wie Aran. 4), S. 22ff. 7 Aus Platzgründen kann hier nicht die Kirchenstruktur aus den Quellen entwickelt werden; die folgenden Ausführungen verstehen sich als Kurzcharakteristika calvinistischer Theologie und calvinistischer Selbstverwaltung zum besseren Verständnis der Affäre de L'Isle und ihrer Praxisformen. 8 Ich benutze die wörtliche Übersetzung, auch wenn das französisch-reformierte Konsistorium als leistungsethisch und weitgehend demokratisch legitimiertes Beratungs- und Beschlußgremium einer selbstverwalteten Kirche eine ganz andere Funktion als die zeitgleichen Konsistorien im Katholizismus oder im Luthertum besaß. Die lateinische Wortwurzel consistere bringt diese Funktion besser zum Ausdruck als das gebräuchliche „Presbyterium". 9 Da bei unterschiedlichen Konzepten sich Urwahl, Akklamation, Kooptation und geheime Wahl mischen, verwende ich im folgenden den Begriff „protodemokratisch". 10 Der Religionsvirtuose führt als Heiliger, Priester oder Mönch, etwa im Katholizismus, ein besonders heiliges Leben und genießt dank seiner Weihe einen privilegierten Zugang zu Gott. Das gemeine Kirchenvolk der Laien hingegen wird als schwach aufgefaßt; die Anforderungen an es sind geringer: Sein Zugang zur göttlichen Gnade vollzieht sich üblicherweise vermittelt durch den Priester. Der Protestantismus hingegen denkt die
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Gudrun Petasch Aufnahmeriten praktizieren, also mit stark sektenhaften Tendenzen, allerdings nicht täuferisch. Die Kirche Calvins ist keine Gnadenanstalt, keine Heilsspenderin, sondern eine Veranstaltung zur Ehre Gottes, für Erwählte und Verdammte. Nach Calvins Prädestinationslehre hat ein allmächtiger und unerforschlicher Gott die meisten Menschen zur Verdammnis verurteilt, nur wenige vorab und unabänderlich für das ewige Leben erwählt. Diese harte Lehre, die das Seelenheil der Menschen zunächst vollständig von ihrer Praxis und ihrem Verdienst abkoppelt, führt laut Weber in der Folge zu einer Alltagsethik der innerweltlichen Askese: Im verzweifelten Bemühen, im außerreligiösen Erfolg11 Anzeichen der ersehnten Rettung im Jenseits zu suchen, werden die Reformierten zu Hauptrepräsentanten der modernen methodischen Lebensführung als subjektiver Voraussetzung zur systemischen Durchsetzung des modernen Kapitalismus in Westeuropa. 12 In der „Protestantischen Ethik", vor allem aber in seinem Spätwerk, den „Abhandlungen zu Religionssoziologie", untersucht Weber das Grundverhältnis von Religion und gesellschaftlicher Rationalisierung und kommt zu dem Schluß, daß nur auf der Basis der im Okzident verbreiteten abrahamitischen, monotheistischen Religionen die westliche Moderne entstehen konnte. Das „im Dienste Gottes methodisch rationalisierte Alltagshandeln" wird zur subjektiven Voraussetzung der zentralen Bestimmungen der westlichen Moderne, von Ökonomie, Staat, Recht und
Offenbarung Gottes in jedem Gläubigen. Insbesondere der asketische Calvinismus mit seiner Ablehnung des Amtscharismas und seinem hohen Anspruch an die methodische Lebensführung jedes Einzelnen hat, wie Sebastian Franck bei Weber zitiert wird, die Glaubenspflicht zum System erhoben und aus jedem Gläubigen einen Mönch gemacht, sein Leben lang. Nun muß jeder ein Religionsvirtuose sein. Ibid. Max Weber, in: Johannes Winckelmann (Hg.), Die Protestantische Ethik, 2 Bde., Bd. 1, S. 137. 11 Ursprünglich und rein analytisch ist die Bewältigung der Lebensnot, überhaupt nicht religiös; im Gegenteil: Die vorreformatorische Soziallehre sah im Armen die einzige Chance des Reichen, zum jenseitigen Heil zu gelangen. Diese extrem wirtschaftsfeindliche Ethik war auch der Ausgangspunkt für Webers Überlegungen, welche mächtigen seelischen Kräfte ein dem systemischen okzidentalen Kapitalismus günstiges Arbeitsethos hätten hervorrufen können. So gelangte er u.a. zur calvinistischen Wirtschaftsethik als Resultat eines Vergewisserungsprozesses, der als Habitus langfristig die systemische Durchsetzung der methodischen Lebensführung bewirkt. Ibid. Weber, Protestantische Ethik (wie Anm. 10), Bd. 1, insbes. S. 133ff. Daß ein derart harter Monotheismus sich rationalisieren, in der Lebenspraxis der Gläubigen allmählich aufweichen muß, ist selbstverständlich. Schon bei Calvin selbst findet sich die Unterscheidung von einfacher Prädestination zur Gnade - in den Predigten - und doppelter Prädestination - zu Gnade oder Verdammnis - in der Institutio. Ibid. Wilhelm H. Neuser, Calvin als Prediger, in: Michael Beintker (Hg.), Gottes freie Gnade: Studien zur Lehre von der Erwählung, Wuppertal 2004, S. 69ff., insbes. S. 87ff. Calvins Nachfolger Beza wollte schon in der sittlichen Lebensführung ein Anzeichen jenseitiger Erwählung erblicken; ibid., S. 88. Daß im Zuge dieses alltagsethischen Rationalisierungsprozesses die methodische Lebensführung zunehmend religiöse Bedeutung im Bewußtsein der Gläubigen gewinnen mußte, liegt auf der Hand, ändert jedoch nichts an der für das Verständnis notwendigen analytischen Trennung beider Sphären. Weber, Protestantische Ethik, insbesondere: Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus, Bd. 1, S. 27ff. 12
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Kunst. Unter ihnen entwickelt der asketische Protestantismus mit seinen Sekten das höchste Rationalisierungspotential.13 Innerhalb dieser puritanischer Kirchen bewirkt die Ablehnung des Amtscharismas, daß die Reinheit des Sakraments abhängig wird von der Reinheit der Spender und Teilnehmer, weshalb diese Kirchen zur Überwachung der Sakramentsheiligkeit ein eigenes, religiös begründetes Strafrecht ausbilden, die sogenannte „Kirchenzucht". Wie bereits Max Weber dargelegt hat,14 dreht sie sich um die permanente Aufgabe, einerseits möglichst alle Kirchenmitglieder der Teilnahme am Abendmahl zuzuführen, andererseits jedoch jeden, der durch Ärgernisse, also Sünden, Streitigkeiten, Störungen des Kirchenfriedens das Sakrament entheiligen könnte, von der Teilnahme fernzuhalten. Diese Aufgabe ist die wichtigste Amtspflicht des Consistoire, des Konsistoriums, und aus ihr erwächst ein gnadenloses und totalitäres Überwachungs- und Formierungsprogramm, die gemeinschaftliche Produktion des gläsernen Menschen, auch unter legitimer Mithilfe der Kirchenmitglieder, also Denunziation. Dieser Formierungsprozeß unter Gleichen, also in antiständischer Struktur, ist eine bedeutende Triebfeder zur Herausbildung des modernen gewissensgeleiteten Individuums. Da ein Ärgernis, etwa in Form eines Streites unter Kirchenmitgliedern oder eines Gerichtsverfahrens, in nahezu allen Lebensbereichen entstehen kann, erstreckt sich die Zuständigkeit der Kirchenzucht, die es beseitigen soll, de facto auf weite profane Bereiche. Diese Autonomie wird nach Möglichkeit gewahrt und ausgeweitet; die religiöse Vergemeinschaftung regelt auf diese Weise breite nichtreligiöse Bereiche mit, aus religiösen Motiven. Die erforderliche Sakramentsreinheit bezieht sich daher nicht nur auf den Glauben, sondern auf die vollständige Alltagspraxis nach dem als göttlich verstandenen Sittengesetz. Letzteres hat im Calvinismus eine größere religiöse Heilsbedeutung als etwa im Luthertum, das auch eine Kirchenzucht praktiziert. Schließlich ist die antiständische Zucht unter Gleichen erheblich wirksamer als eine Züchtigung des normalen Kirchenvolks durch eine geweihte, hierarchisch herausgehobene Elite. Zugang zum Abendmahl gewährt ein aktuelles Testat der makellosen bürgerlichen Lebensführung, dem die Kirchenöffentlichkeit zustimmen muß.15 Ein widersetzlicher Sünder muß seine Frevel im Wiedergutmachungsritual in einer Art Prangerlogik öffentlich bekennen und bereuen. 13 Max Weber, Gesammelte Aufsätze zur Religionssoziologie, 4. photomechanisch gedruckte Auflage, Tübingen 1947, insbes. Vorbemerkung, S. Iff., Einleitung, S. 237ff„ Zwischenbetrachtung, S. 537ff. 14 Max Weber, Die protestantischen Sekten und der Geist des Kapitalismus, in: Ders., Protestantische Ethik (wie Anm. 10), Band 1, S. 279ff., insbes. 291ff. 15 Das Begehren einer solchen Bescheinigung einer einwandfreien Lebensführung, wurde im Gottesdienst öffentlich mitgeteilt; ein einzelner begründeter Einwand führte zur Ablehnung. Auch de L'Isle wird später in Hanau am Einspruch von Kirchenmitgliedern scheitern, als er um ein Attestat bittet; ibid., S. 239.
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Diese drastischen Anforderungen an Religionsvirtuosen können nur in der Übersichtlichkeit Entscheidungsfähigkeit und Kleinräumigkeit autonomer Kirchen überwacht werden, erzeugen also tendenziell eine Sektenstruktur. Die auch für die Französisch-reformierte Kirche Frankfurt später rechtsbedeutsamen nationalen Zusammenschlüsse der wallonischen oder flämischen calvinistischen Kirchen oder der französischen Hugenottenkirchen bilden einen stufenförmigen, synodalen Zusainmenschluß unabhängiger Einzelkirchen, ohne Bischof.16 Doch auch die frühe, oft prekäre Situation dieser puritanischen Kirchen als Minderheiten in einer katholischen Diaspora begünstigte die Herausbildung sektenartiger Strukturen. Bereits Weber hat darauf hingewiesen, daß die hugenottischen Kirchen bereits in Frankreich bzw. in den katholischen Niederlanden „faktisch auf die Bahn der voluntaristischen Gemeinschaftsbildung gedrängt wurden"17, also im 16. Jahrhundert: „Bei den täuferischen Gemeinschaften lag das im Begriff der ,Kirche', was bei den Reformierten als praktischer Zustand vorkam."18 Dieses Argument wirft ein besonderes Licht auf eine Kirche wie die französisch-reformierte in Frankfurt, die mit dem Exil von der katholischen in eine lutherische Diaspora wechselte. Zudem hing diese religiöse Minderheit nicht der oben beschriebenen Prädestinationslehre an. Während die hugenottischen Kirchen und die protestantischen Kirchen der Niederlande unter Diasporaverhältnissen ihr Überleben organisieren und ihr Eigenrecht entwickeln, emigrieren einzelne Gruppierungen in aufnahmebereites Ausland. Aus religiösen Gründen stellen also die calvinistischen Kirchen des 16. und 17. Jahrhunderts mit ihrer leistungsethisch legitimierten Selbstverwaltung eine antiständische Insel innerhalb der noch feudal und partikularistisch verfaßten Landschaft der sie einbettenden Herrschaften dar - nicht hinsichtlich der politischen Programmatik ihrer Mitglieder und Kirchenoberen, sondern als objektive Struktur ihrer religiös legitimierten Selbstverwaltung.19 2. Die Französisch-reformierte Kirche in Frankfurt am Main um 1648 - Ansiedlungsmotive und Rechtsgrundlagen 2.1. Die Ansiedlung der Vergemeinschaftung 1554 Der Kern der Gruppe reformierter Flüchtlinge um Valérand Poullain, die sich 1554 in Frankfurt niederließ, kam ursprünglich aus Tournai, Valenciennes oder Möns im calvinistischen Kernland der Spanischen Niederlande. Während der ZwischenDaher spreche ich auch von Kirchen statt Gemeinden, wie die Zeitgenossen. Weber, Protestantische Ethik (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 164, Hervorhebung durch den Autor. 18 Weber, Protestantische Ethik (wie Anm. 10), Bd. 1, S. 240, Anm. 174; Hervorhebung durch den Autor. 19 Auf die Besonderheiten der Umwandlung in Staatskirchen in den Niederlanden und der Schweiz kann hier nicht eingegangen werden. 16 17
Zur Ehre Gottes, zum ewigen Heil und ..." etappe im englischen Glastonbury hatten sie bereits als Exilkirche autonom unter einer eigenen Kirchenverfassung gelebt, die Poullain auf der Basis der frühen Straßburger Kirchenordnung Calvins verfaßt hatte.20 Als Führer seiner exilierten Gruppe reichte er 1554 eine deutsche Bittschrift beim Frankfurter Rat ein.21 Die Neuankömmlinge waren ökonomische Modernisierer aus dem Zentrum der damaligen Moderne, verfügten über modernste Techniken, besaßen internationale Verbindungen und praktizierten eine rationale Verwaltungsund Arbeitsorganisation, vertraten Freihandel und freies Unternehmertum und kamen nach Frankfurt vor allem, wie schon Poullain freimütig schrieb, „des gewerbs und zweyer Messen halben" 22 . Das harmlos klingende Angebot, die neu zugezogenen Weber würden gern die Frankfurter Bürger das Bursatmachen lehren, war eine äußerst lukrative und bedeutende Offerte in einer Zeit, als englisches Tuch und deutsches Leinen vom Markt verdrängt wurden23 von den sog. new draperies: Bedeutete es doch, daß die fortschrittlichen Immigranten die technisch rückständigen Frankfurter Handwerker in die Produktionsgeheimnisse eines neuen, boomenden Textilmarktes einweihen wollten.24 Doch die Frankfurter zünftigen Weber wollten die neue Technik nicht lernen, sich nicht am freien Markt mit ihren modernen Produkten bewähren, sondern forderten in althergebrachter Weise ein Verbot der Konkurrenz und Nahrungsschutz für die alteingesessenen Zünfte.25 Poullain ließ die abgewandelte Kirchenordnung von Glastonbury, die Liturgia sacra, drucken und legte sie dem Rat der Stadt Frankfurt mit Erfolg zur Genehmigung vor.26 Sie enthält eine Gottesdienstordnung, ein Glaubensbekenntnis, Regeln interner Selbstverwaltung sowie ein Kapitel zur sog. Discipline, der Kirchenzucht. Ein zusätzlicher Abschnitt über die öffentliche Wiedergutmachung für öffentliche Ärgernisse stammt aus der Feder von Johannes a Lasco.27 Dieser kam fast zeitgleich mit einer Gruppe flämischer Reformierter
Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 30f. Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 51f. 22 Poullains Bittschrift in: Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 157. 23 Ibid. Frank Berger, Frankfurt um 1550, in: Jan Gerchow (Hg.), Glaube - Macht - Kunst, Ausstellungskatalog, Frankfurt a.M. 2005, S. 39. 24 Der Bursat, einer der neuen und leichten Mischgewebe aus Wolle und Seide, war relativ preiswert und vereinigte die guten Eigenschaften seiner beiden Bestandteile Wolle und Seide trotz oft minderwertigen Ausgangsmaterials. Er beruhte auf komplizierten und gut gehüteten mechanischen und chemischen Verfahren, mit denen die Niederländer den bisherigen hohen Abfallanteil des Seidenkokons verspinnen konnten. Die so produzierte Chappeseide bildete die stabile Kette des Bursats, während der Schuß aus Kammgarn war. Ibid. Johann Georg Krünitz (Übers.), Oeconomische Encyklopädie, Berlin 1773-1858, 242 Bde., Mikroreproduktion, Hildesheim/New York 1981? 25 Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 90. Die einheimischen Produzenten nahmen besonders an dem von den „Welschen" eingeführten Akkordlohn Anstoß. 26 Ibid. Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 67. 27 Pollanus, Liturgia sacra, seu ritus ministerii,..., Francofordiae 1554, gedruckt bei Peter Brubach, u.a. Stadtbibliothek Frankfurt. Ibid. Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 62ff. 20 21
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Gudrun Petasch aus London nach Frankfurt und bildet mit den Wallonen bis 1555 zunächst eine eigene Kirche. Die Liturgia sacra von Frankfurt sieht im Vergleich zu der von Glastonbury für die Ältesten nur eine Amtszeit von drei Jahren vor. 28 Sie gilt heute als erste voll ausgebildete presbyteriale Kirchenordnung, in enger Anlehnung an die frühe Straßburger Ordnung Calvins.29 Der Pfarrer ist völlig den Ältesten gleichgestellt.30 Poullain und a Lasco teilen das Calvinsche Abendmahlsverständnis, nicht jedoch dessen Prädestinationslehre. A Lasco vertritt die universalistische Anschauung, „daß zwar jeder Mensch von seiner Geburt an verdorben und des ewigen Todes schuldig ist, daß aber alle diejenigen, die das Evangelium annehmen, in den vorigen Stand gesetzt werden" 31 . Wie die späteren Arminianer in den Niederlanden, vertreten sie eine Art Heilsuniversalismus, der sich allerdings in den jahrzehntelangen heftigen Auseinandersetzung um die Entwicklung einer eigenen Rechtsordnung der Reformierten in Frankreich und den Niederlanden nie durchsetzen konnten.32 Mit der Anerkennung der Liturgia sacra in Frankfurt wird 1554 eine fremde, andersgläubige Gemeinschaft mit einem weitgehend demokratisch legitimierten, religiös fundierten Eigenrecht in die Freie und Reichsstadt implantiert. Sowohl bei der Reichsstadt als auch bei der reformierten Gemeinde handelte es sich sowohl um sakrale als auch um weltliche Vergemeinschaftungen, was die zeitgenössischen Praxisquellen jedoch nicht so sahen.33 Bereits in seiner Bittschrift von 1554 an den Frankfurter Rat fordert Valérand Poullain, die
Ebrard, Gemeinde (wie Aran. 4), S. 55. Ebrard, Gemeinde (wie Aran. 4), S. 35. 30 Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 25. 31 Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 39. 32 Ibid. Wilhelm H. Neuser, Calvin als Prediger, in: Michael Beintker (Hg.), Gottes freie Gnade: Studien zur Lehre von der Erwählung, Wuppertal 2004, S. 69ff., insbes. S. 87ff. 33 Wie Schilling gezeigt hat, gibt es durchaus Konzepte, die diese Doppelheit wahrnehmen, etwa das Modell „civitas celestis, civistas terrestris". Meine Analysen gehen aber von den wahrnehmbaren praxisleitenden Motiven und Überzeugungen der Personen in den Quellen aus, die diesem Theoriekonzept widersprechen: So versteht sich etwa das Konsistorium der Hugenottengemeinde Neu-Isenburg um 1725 sehr wohl als rein religiöse Instanz, die religiöse Strafen verhängt, und bemüht sich in elitärer Haltung, die ihm anvertrauten delinquenten Kirchenmitglieder nicht in die Gewalt des „weltlichen Arms" (bras séculier) fallen zu lassen, d.h. in die Gewalt des reformierten Landesherrn und seiner Gerichte. Z.B. Petasch (Hg.), Konsistorienbuch (wie Anm. 5), S. 603. Gleichzeitig bemüht sich die Kirche, möglichst weite säkulare Alltagsbestandteile der religiösen Selbstverwaltung zu unterwerfen. Im obigen Beispiel steht sogar der Verdacht einer Tötung im Raum, da einer früheren Entgleisung des Kirchenmitglieds Valentin Luft eine Totgeburt der Ehefrau folgte. Zur Grundhaltung des Konsistoriums gegenüber der reformierten! - landesherrlichen Justiz ibid. auch Gudrun Petasch, Das Neu-isenburger Gerichtsbuch als Quelle der Rechtspraxis. Zum Rechtshorizont der Hugenottengründung im frühen 18. Jahrhundert, insbes. 3.5.2. Neu-isenburger kirchliche und zivile Gerichtspraxis im Spiegel des ersten Konsistorienbuchs, in: Gudrun Petasch (Hg.), Gerichtsbuch der Gemeinde Isenburg. Protokolle der Jahre 1727-1733 (Gerichtsbuch), NeuIsenburg 2005, S. 52ff.; vollständiges Transkript des Unikats unter www.stadt-neuisenburg.de/Gerichtsbuch. 28 29
„Zur Ehre Gottes, zum ewigen Heil und ..." lutherische Stadtregierung möge „eine ernstliche Kirchenzucht under inen anzurichten bevelen, damit nichts Unordentliche noch Schedlichs bey solicher Kirchen und Versandung inreisse"34. Am 18. März 1554 sichert der Rat in einem Beschluß wunschgemäß die Aufnahme der Fremden, Bürgerrecht und freie Religionsausübung in der Stadt zu, erteilt jedoch kein förmliches Privileg. Die lutherische Kirche der Reichsstadt ist vom Patriziat dominiert, ihr Predigerministerium oder seine Vorform, das Scholarchat, eine Art Unterabteilung der vom lutherischen Patriziat dauerhaft beherrschten Stadtregierung. Obwohl sich die Neuankömmlinge zunächst nur sprachdifferent präsentieren und damit ihren Wunsch nach eigenem Gottesdienst begründen, 35 zeigt sich bald die dogmatische Abweichung von der herrschenden lutherischen Lehre, vor allem im Abendmahlsverständnis. Ein weiterer Immigrationsschub aus Antwerpen, vor allem äußerst wohlhabender Lutheraner, macht Frankfurt ab 1585 für 40 Jahre zum führenden europäischen Handels- und Finanzplatz. An der Gründung der Börse sind allein sechs Mitglieder französisch-reformierter Familien in Frankfurt beteiligt.36 Deren Nachkommen sind später Älteste im Fall de L'Isle. Die Wallonen sind zwar im Durchschnitt weniger wohlhabend als die Antwerpener, aber immer noch reicher als die Patrizier. Deren Furcht um das Stadtregiment führt u.a. bald zur Abschaffung des Bürgerrechts für die Calvinisten, was zumindest für Arme auch umgesetzt wird. 37
34 Ibid. Poullains Bittschrift an den Frankfurter Rat vom März 1554, Abdruck des Textes bei Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 157. 35 Ibid. bei Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 157. 36 Noë du Fay, Bastien de Neufville, Nicolas und David Malapert, Jean und Louis de Bary. Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. HOf. 37 Nach anfänglich üblicher Zulassung zum Bürgerrecht - Berger meldet einen Höhepunkt tun 1577 - mehren sich schon in den achtziger Jahren des 16. Jahrhunderts die Ablehnungen. Meinert erstellt eine Statistik von 1585-1596 und betont, vor allem reiche Reformierte würden zum Bürgerrecht zugelassen. Hermann Meinert (Hg.), Die Eingliederung der niederländischen Glaubensflüchtlinge in die Frankfurter Bürgerschaft: 15541596. Auszüge aus den Ratsprotokollen (Eingliederung), Frankfurt a.M. 1981, S. XXXVII. Berger, Frankfurt um 1550 (wie Anm. 23), S. 44. Kurz darauf soll sogar niemand mehr zum Beisassen angenommen werden. Meinert, Eingliederung, S. XXXIX. Bauer berichtet von einem Ratsbeschluß von 1628, „Reformierten in Zukunft erst nach der Heirat einer Bürgertochter oder -witwe das Bürgerrecht zu gewähren", der die Reformierten auf das Beisassenrecht verweise. Thomas Bauer, Bürger, Fremde, Minderheiten, in: Frankfurt 1200. Traditionen, und Perspektiven einer Stadt, Sigmaringen 1994, S. 110. Ibid. auch Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 109ff. Der Verweis auf das mindere Beisassenrecht ist auch Hintergrund der heftigen Kämpfe der Reformierten gegen die neue Beisassenordnung 1708, die dieser Bevölkerungsgruppe ihre wirtschaftlichen Rechte massiv beschneiden sollte. Ibid. Abschriften über den Kampf der Reformierten gegen die Beisassenordnung von 1708, ISG Frankfurt a.M., FRG 104. Selbst die reformierten Bürger waren noch nach dem Verfassungsvertrag von 1613 weiterhin vom Stadtregiment ausgeschlossen. Frank Berger, Frankfurt um 1630, in: Jan Gerchow (Hg.), Glaube - Macht Kunst, Ausstellungskatalog, Frankfurt a.M. 2005, S. 197.
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Gudrun Petasch 2.2. Demographischer Wandel und der Kampf um Kultus und Selbstverwal-
tung Die von den lutherischen Prädikanten beargwöhnten Unterschiede im Abendmahlsverständnis, die Furcht des Rats vor politischer Entmachtung und die vor allem ökonomisch motivierte Feindschaft des städtischen Handwerks setzten bald eine Kette entrechtender Maßnahmen für die Französischreformierten Kirche in Frankfurt und ihre Mitglieder in Gang. Bereits am 28. August 1561 wurde die Abhaltung reformierter Gottesdienste und reformierter Taufen in der Öffentlichkeit verboten und die Kirche der „Welschen" geschlossen.38 1594 und 1596 verbot der Rat auch die Privatgottesdienste. Von den Querelen um den reformierten Gottesdienst waren ebenso die reformierten Lehrer und Schulen in der Stadt betroffen. Es ist zu vermuten, daß die Sicherung der Bildving als kircheneigene Aufgabe wie in Frankreich aus der Defacto-Sektenexistenz erwuchs, also der religiösen Diaspora.39 Ob es von Anfang an neben der Diakonie auch eine eigene Kirchenschule mit einem vom Konsistorium angestellten Lehrer gab, ist eher unwahrscheinlich. Meinert berichtet jedenfalls schon bald von zahlreichen reformierten Lehrern, die Privatunterricht erteilten und den Scholarchen wie den deutschen lutherischen Lehrern ein Dorn im Auge waren: „Bereits am 18. Juli 1592 beschwerten sich die lutherischen Prädikanten beim Rat über die aufrührerischen Händel der Fremden: sie würden aus eigener Gewalt Prediger berufen, Schulen halten, in denen sie den Calvinischen Katechismus lehrten, sie hätten ihren eigenen Rat und Konsistorium, Kasten und Almosenpfleger, und das alles öffentlich, ohne Erlaubnis des Rates."40 Die zünftig organisierten deutschen Lehrer forderten, der Rat möge zu den zugelassenen - wohl privaten - 16 Schulen keine mehr hinzufügen. Bei den aus zünftiger Logik abzuwehrenden „Winkelschulen" kann es sich nur um die Privatschulen der Reformierten gehandelt haben, die sich in möglichst freier Konkurrenz entfalten wollten.41 Ebenfalls 1592/93 beschwerten sich die Scholarchen über einen welschen Schulmeister, den Vorsinger42 Johann de Massy, der trotz mehrmaliger Verbote nicht aufhöre, Schule zu halten. Er sei kein Bürger, habe keine Ratserlaubnis. Seine Bitte, der Rat möge ihm die Annahme zusätzlicher Kostgänger - also deutscher lutherischer Kinder - erlauben, damit er sich besser ernähren könne, Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 98f. und S. 107. Die französischen und niederländischen Hugenottenkirchen gründeten nicht nur eigene Schulen, sondern die Konsistorien übernahmen, vor allem im Süden, eine Art Friedensrichterrolle, um teure Prozesse vor - in der Regel katholisch besetzten - Gerichten zu vermeiden. Garrisson, Le Protestantisme en France au XVI.e siècle, S. 197. 40 Roman Fischer, Die Gründung der Neustadt Hanau aus Frankfurter Sicht (Gründung), in: Magistrat der Stadt Hanau, Wallonisch-Niederländische Gemeinde, Hanauer Geschichtsverein von 1844 e. V. (Hg.), Auswirkungen einer Stadtgründung (Stadtgründung), Ausstellungskatalog, Hanau 1997, S. 28-43, hier Anm. 21, S. 42. Fischer verweist auf Meinert, Scharff und Dechent. 41 Meinert, Eingliederung (wie Anm. 37), S. 581f. 42 Meinert, Eingliederung (wie Anm. 37), S. 572, vom 15. Juni 1596. 38
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,Zur Ehre Gottes, zum ewigen Heil und ..." wurde abgeschlagen. Er mußte binnen Monatsfrist die Stadt verlassen." 43 Um 1600 hatte der Rat sechs französische Schreib- und Leseschulen konzessioniert.44 Die Entwicklung des Schulwesens in Frankfurt wird sich unter anderem wegen der Vernichtung der Scholarchatsakten nicht mehr im Detail aufklären lassen.45 Als Reaktion vor allem auf die Kultusverbote hatten beide Frankfurter reformierte Kirchen mit massiven Abwanderungen zu kämpfen: Die erste Abwanderungswelle von flämischen Reformierten nach Frankenthal 1561 betraf noch nicht die Französisch-reformierten46, aber nach dem Verbot auch der französischen Privatgottesdienste verließen ca. 1 000 Wallonen 47 Frankfurt und zogen in die neugegründete Hanauer Neustadt. Daß das Verbot des reformierten Gottesdienstes in Frankfurt auch die reformierten Schulen betraf, bestätigte indirekt die Hanauer Kapitulation von 1597. In Frankfurt seien den Reformierten „ihre kirchen und christliche Zusammenkünften undt schulen daselbst nicht lenger haben wollen gegont und verstattet werden" 48 . Nach der mühsam ausgehandelten Kapitulation vom 1. Juli 1597 blieben allerdings die Begütertsten im Vertriebszentrum Frankfurt wohnen, liessen nur preiswert in Hanau fertigen.49 Der Rat der Stadt Frankfurt, der auf die reichen Steuerzahler nicht verzichten mochte, gestattete schließlich den Bau eines Holzkirchleins vor dem Bockenheimer Tor. Einen Prozeß vor dem Reichshof-
Meinert, Eingliederung (wie Anm. 37), S. ΧΧΧΧΙΠ. Meinert, Eingliederung (wie Anm. 37), S. 572, vom 15. Juni 1596. 45 Helfenstein, der noch auf die inzwischen vernichteten Bestände zugreifen konnte, berichtet, die Scholarchen hätten immer wieder den Rat veranlaßt, auch die Hauslehrer der Reformierten zu verbieten, um diese zu zwingen, ihre Kinder in die lutherische Lateinschule zu schicken, so auch 1623. Jacob Helfenstein, Die Entwicklung des Schulwesens in seiner culturhistorischen Bedeutung (Entwicklung), 1. Abt., Frankfurt 1858, S. lOOff. 46 Etwa 60 flämische reformierte Familien verließen Frankfurt Richtung Frankenthal. Edgar Hürkey, Abänderung nach Frankenthal, in: Gerchow, Glaube - Macht - Kunst (wie Anm. 23), S. 152. 47 Etwa 1 000 Reformierte sollen nach Hanau gezogen sein, überwiegend Wallonen. Fischer, Gründung (wie Anm. 40), S. 37. Dölemeyer beruft sich auf neuere Berechnungen und konstatiert zwischen 1585 und 1595 insgesamt ca. 4 000 Exulanten in Frankfurt, wo jedoch die lutherischen Immigranten aus Antwerpen Inbegriffen sein dürften. Barbara Dölemeyer, Kapitulation und Transfix, in: Magistrat Hanau (Hg.), Stadtgründung (wie Anm. 40), S. 44. In der derzeit aktuellsten Publikation, dem Ausstellungskatalog „Glaube - Macht - Kunst.", nennt Fischer die Zahl von ca. 4 000 Exulanten zwischen 1575 und 1595 in Frankfurt, bei einer Gesamtbevölkerung von 16 000 Personen. Gerchow, Glaube - Macht - Kunst (wie Anm. 23), S. 60f. Berger meint, etwa die Hälfte von ca. 3 000 niederländischen Reformierten seien 1596 nach Hanau-Neustadt gezogen, nämlich ca. 1 500 Personen. Berger, Frankfurt um 1550 (wie Anm. 23), S. 47. Wichtiger als die Anzahl dürfte die Abwanderung der vorwiegend ärmeren und der Verbleib der reichsten Wallonen gewesen sein. 48 Dölemeyer, Kapitulation und Transfix (wie Anm. 47), S. 52. 49 Fischer, Gründung (wie Anm. 40), S. 38f. 43 44
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Gudrun Petasch rat um ungerechtfertigt verhängte Geldstrafen für Abwandernde verlor er. 50 Als das Bockenheimer Holzkirchlein 1608 abgebrannt war, bestätigte der Rat 1608 jedoch noch einmal endgültig das Verbot des reformierten Exercitium Religionis auf Frankfurter Gebiet. 51 Das Vorherrschen wirtschaftlicher Motive vor den religiösen und politischen zum Verbleib vieler Reformierter in Frankfurt zeigt ein Blick auf die großzügigen Bedingungen der Hanauer Kapitulation: Der Graf, selbst reformiert, gewährte allen Zuwanderern das öffentliche Exercitium Religionis und das Bürgerrecht. 52 Ausdrücklich wurden Liturgie, Kirchenzucht und Kirchenordnung der Herkunftsregionen garantiert: für die Wallonen die Discipline des Eglises Réformées de France von 1559 s3 , für die Flamen die Middelburgher Artikel von 1581. 54 Damit wird deutlich, daß die reformierten Exilkirchen sich bereits am neu entstehenden Eigenrecht der reformierten Diasporakirchen in ihren Herkunftsländern orientierten, das eine weitestgehende Unabhängigkeit vom katholischen Staat anstrebte. Das Transfix von 1601 trennte beide Hanauer Gemeinden und sicherte der französisch-reformierten Neustadt eine eigene Ratsverfassung und Einkünfte zu. Der folgende Absatz erlaubte die selbständige Berufung und Besoldung von Pfarrern und Lehrern; alle Neustadtbewohner mußten sich der wallonischen oder flämischen Kirchendisziplin unterwerfen. 55
Der Rat der Stadt Frankfurt wollte den Bau der Neustadt Hanau verhindern - mit Verweis auf das Privileg einer Fünfmeilenzone für neue Bauten - und auch die eigenen reichen Reformierten nicht nach Hanau-Neustadt ziehen lassen. Zumindest verlangte er 10 Prozent Nachsteuer, also Vermögenssteuer auf wegziehendes Kapital, von den abziehenden reformierten Bürgern. Diese wurden auch häufig bezahlt. Ibid. Heinrich Bott, Gründung und Anfänge der Neustadt Hanau 1596-1620 (Gründung), 2 Bde., Marburg 1971, Bd. 1, S. 161f., S. 338ff. Fischer und Bott berichten von einem „Poenal-Mandat" des Reichshofrates an die Stadt Frankfurt wegen der ungerechtfertigten Bestrafung zweier Bürger, die von der Stadt mit Strafe belegt worden seien, weil sie ,ihrer Gelegenheit nach' in Hanau gebaut hätten, obwohl man ihnen gleichzeitig in den , Abschieden' ihr Wohlverhalten bescheinigt habe", vermutlich betreffend Hans de Hollande und Franz del Boë, vom 10. August 1605. Der Rat zahlte zurück, auch in anderen Fällen. Ibid. Bott, Gründung, Bd. 2, S. 95, S. 125, S. 216. Roman Fischer, Emigration nach Hanau, in: Gerchow, Glaube - Macht - Kunst (wie Anm. 23), S. 179. 51 Entsprechende Supplik abgedruckt in. Franckfurtische Religions=Handlungen I Beylagen Nr. 106, vom 8. September 1608, div. weitere ibid., Beylagen Nr 108,109,111,112, 113,114,119. Ibid. auch Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 13f. 52 Barbara Dölemeyer, Transkript der Kapitulationsurkunde, in: Magistrat Hanau (Hg.), Stadtgründung (wie Anm. 40), S. 52. 53 La Discipline Ecclésiastique des Eglises Réformées de France, imprimée selon l'Edition faite en Hollande en 1710 sur celle donnée par M. d'Huisseau Ministre & par luy dediée de Saumur le 30. Avril 1666 ... (DERF), abgedruckt in: Emst Mengin, Das Recht der französisch=reformierten Kirche in Preußen. Urkundliche Denkschrift (Das Recht), Berlin 1929. Die Erstfassung von 1559 enthielt nur 40 Artikel, die Fassung von Saumur, die erstmals 1666 gedruckt wurde, bereits 14 Kapitel mit jeweils zahlreichen, am Krisenalltag der Einzelkirchen entwickelten Bestimmungen. 54 Ibid. Dölemeyer, Kapitulation und Transfix (wie Anm. 47), S. 46. 55 Dölemeyer, Transkript der Kapitulationsurkunde (wie Anm. 52), S. 54. 50
.Zur Ehre Gottes, zum ewigen Heil und ..."
Angesichts dieser großzügigen Bedingungen stieß das Verbleiben einer beträchtlichen, finanziell potenten Minderheit in Frankfurt bei den HanauNeustädtern auf wenig Verständnis; ja, es kam sogar zu einem Synodalbeschluß gegen die in Frankfurt verbleibende Restkirche, wodurch man den Nachzug der Übrigen erwirken wollte.56 2.3. Restitution des Kirchenlebens ab 1638 und Fortentwicklung der rechtlichen Grundlagen Dagegen war seit dem endgültigen Kultusverbot in Frankfurt das gesamte Bemühen der stark verkleinerten Französisch-reformierten Kirche in Frankfurt als Korporation darauf gerichtet, die Kultusfreiheit in der Stadt wiederzuerlangen und eine Kirche bauen zu dürfen. Zeitweilig war die Kirche ohne Pfarrer; das Kirchenleben lag danieder.57 Die Ältesten durften nicht arbeiten, weshalb man sie vermutlich in adjoincts umbenannte.58 Versuche des Rates, der Französisch-reformierten Kirche in Frankfurt durch die Zuteilung eines französischen lutherischen Pfarrers ihr reformiertes Bekenntnis auszutreiben, mißlangen.59 Damals, so vermutet Ebrard, hatte sich die Selbstverwaltung notgedrungen derart demokratisiert, daß dem Pfarrer nicht einmal mehr Mitsprache in finanziellen Dingen gestattet wurde60: „Diese Änderungen bedeuteten zweifellos nicht nur ein Verlassen der ursprünglichen, Calvin-Poullainschen Grundsätze, sondern gingen selbst über die von a Lasco festgesetzte Gleichberechtigung der lehrenden und nichtlehrenden Ältesten noch hinaus."61 In den Quellen der Frankfurter Französisch-reformierten Kirche ist schon knapp hundert Jahre nach ihrer Genehmigung nicht mehr von der Liturgia sacra als Eigenrecht die Rede, sondern von den Kirchenordnungen der französischen Hugenotten, der Discipline des Eglises Réformées de France und der Kirchenordnung von Middelburgh. Beide haben im Gegensatz zur Frankfurter Französisch-reformierten Kirche die radikale Calvinsche Prädestinationslehre Die von Bott zusammengestellten und kommentierten Protokolle des Hanauer Stadtschultheißen Sturio dokumentieren über Jahre hinweg die Auseinandersetzungen zwischen Abzugswilligen, Abgewanderten und dem Hanauer Fürsten. Die Bewohner der Hanauer Neustadt wollten unbedingt den Nachzug aller anderen Frankfurter Reformierten nach Hanau erzwingen und agierten sogar beim Hanauer Grafen gegen die Verbliebenen, als diese um die Religionspraxis in Bockenheim baten. Der ursprüngliche Beschluß der Synode der pfälzischen „Classe" der Flüchtlingsgemeinden, also einer Regionalsynode französisch-reformierter Exilkirchen, wurde 1602 in Frankenthal abgeschwächt. Die Synodalen erkannten nunmehr die Frankfurter Französisch-reformierte Kirche als Kirche wieder an und verlangten nicht mehr von jedem Kirchenmitglied die Abwanderung nach Hanau; ibid. Bott, Gründung (wie Anm. 50), Band 1, passim, insbes. S. 239ff„ Band 2, S. 19. 57 Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 104ff. 58 Die Kirche lagerte sogar ihre Akten aus. Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 104ff. 59 Ebrard, Gemeinde (wie Arm. 4), S. 109. 60 Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 56f. Betrachtet man die dominante Rolle der späteren Pfarrer im Falle de L'Isle, so spricht vieles dafür, daß die Übernahme der hugenottischen Kirchenordnung auch zu einer Stärkung des Pfarreramtes führte. 61 Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 57 56
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angenommen.62 Die Vermutung liegt nahe, daß die regelmäßigen Nationalsynoden der großen Nachbarkirchen, die ja auch teilweise in prekärer Diasporasituation organisiert werden mußten, den Exilkirchen im Römisch-Deutschen Reich aktuelle Orientierung und Handlungsgrundlagen durch protodemokratisch legitimierte Beschlüsse verschafften. Die Affäre de L'Isle zeigt, daß die Frankfurter Ältesten gut unterrichtet waren und ihnen die Beschlüsse schriftlich vorlagen.63 Nach langen Verhandlungen mit dem Hanauer Fürsten und zahlreichen vergeblichen Supplikationen beim Rat der Stadt Frankfurt hatte die Französischreformierten Kirche in Frankfurt seit 1638 wieder einen eigenen Pfarrer, Jaques-Victorien Leisler aus Frankenthal, zunächst zuständig für die deutsche und die französische reformierte Kirche in Bockenheim, auf Hanauer Territorium, bald nur noch für die französische. Er wohnte in Frankfurt; den Gottesdienst jedoch hielt er in einer zur Kirche umgebauten Scheune des Bockenheimer Wirtshauses „Zur Krone". Selbst dieses Ausweichmodell wollten die lutherischen Prädikanten nicht dulden und setzten den Rat unter Druck, den Reformierten das Hinausfahren nach Bockenheim zu verbieten oder sie daran zu hindern. Es blieb jedoch bei einem Verbot für lutherische Frankfurter Kutscher, Reformierte zum Gottesdienst nach Bockenheim zu fahren.64 Pfarrer Leisler erhielt problemlos das Frankfurter Bürgerrecht.65 Diese Wiedererrichtung der Kirche, Chance zur Erneuerung, Konsolidierung und Rückbesinnung auf ein geordnetes Kirchenleben66, findet ihren Ausdruck in zahlreichen organisatorischen Neuerungen: Angesichts des demographischen Schrumpfungsprozesses wird die Zahl der von den Hausvätern zu wählenden Ältesten von acht auf sechs reduziert.67 Die Jugend spricht mittlerweile fast kein Französisch mehr, soll nun sogar auf Deutsch im Katechismus unter-
62 Auf der Synode von Dordrecht 1618/19 bzw. auf der ersten Nationalsynode Frankreichs 1559 in Paris. 63 So zitiert Pfarrer Richier völlig sinnkorrekt und nur mit geringer formaler Abweichung den Passus zur Möglichkeit von Delinquenten, in Kirchenzuchtfragen einzelne Älteste abzulehnen: „la connoissance des scandales et le iugement d'iceux appartient a La Compagnie des Pasteurs et Anciens, et ne pourront les Consistoires entiers estre recusez, ni plus delà moitié". DERF Chapitre Cinqieme. Des Consistoires, Art. IX, abgedruckt in: Mengin, Das Recht (wie Anm. 53), S. 100. ISG Frankfurt a.M., FRG 31, vom 21. Januar 1657, S. 71 (38). 64 Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 120f. Daß der Rat mit dieser Lösung sehr zufrieden war, die innerhalb Frankfurter Mauern das reformierte Bekenntnis aus-, die Steuern der Reformierten jedoch weiterhin einschloß, ist auch daran zu sehen, daß sich der Rat von nun nicht mehr in die Pfarrerberufungen mischte und die jeweiligen Amtsinhaber problemlos ins Bürgerrecht aufnahm, ibid., S. 121. 65 Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 116f. 66 Am 29. Dez. 1641 vermerkt Pfarrer Leisler die erste Taufe in der Kirche „depuis elle a esté redressée; ISG Frankfurt a.M., FRG 38, S. 154B. 67 ISG Frankfurt a.M., FRG 38, vom 4. Mai 1642, S. 155.
Zur Ehre Gottes, zum ewigen Heil und
richtet werden, „& ce pour un Interim, iusques à ce q' DIEU leur face la grace d'entendre mieux le François"68. Seit Januar 1651 suchte das Konsistorium einen Lehrer für eine neu einzurichtende eigene Schule in Bockenheim, eine langwierige Aufgabe, die sich bis Mai 1643 hinzog.69 Auslöser der Entscheidung waren vermutlich die anhaltenden Querelen um die privaten reformierten Lehrer in der Stadt Frankfurt.70 Gemäß der Discipline des Eglises Réformées de France, nach der sich die Kirche offenbar bereits richtete, gehörten die Einrichtung, das Betreiben und die disziplinarische Überwachung eigener Schulen aus theologischen Gründen zu den Kernaufgaben der französisch-reformierten Kirchen: Die Religion forderte die eigenständige Bibellektüre jedes Gläubigen und stellte auf dessen theologisches Wissen ab. Die Dienstaufsieht über die Schulen lag beim Konsistorium als Arbeitgeber des Lehrers. Im Rahmen der Wiederbelebung und Intensivierung des reformierten Lebens wurde auch die Kirchenzucht streng gehandhabt. Pfarrer und die nach Wohnvierteln eingeteilten Ältesten griffen in ihrer Amtsausübung weit in das profane und auch intime Alltagsleben der Kirchenmitglieder ein, gemäß der Logik des Ärgernisses.71 Die durch die Kirchenzucht geregelten Gegenstände waren weitgehend mit der zeitgenössischen sog. „guten Policey" identisch: private Streitigkeiten und Beleidigungen, Störungen der öffentlichen Ordnung, vorehelicher Geschlechtsverkehr und Eherecht. Wer einmal nicht in seiner eigenen Kirche zum Abendmahl gehen wollte, bedurfte eines aktuellen Attestats über den einwandfreien Lebenswandel. Wegen vermeintlich laxer Handhabung dieser Fälle durch die Bruderkirche im calvinistischen Offenbach schrieb Pfarrer Leisler in diesem Sinne an die dortigen Ältesten ebenso wie an den Präses der Klasse vom Bomheimer Berg, also an den Vorsitzenden einer benachbarten deutsch-reformierten Synode.72 Die Adressaten sicherten Besserung zu.73
68 „und dies für eine Zwischenzeit, bis Gott ihnen die Gnade erweisen möge, daß sie besser Französisch verstehen"; Hierzu soll der Heidelberger Katechismus verwendet werden. Die Anordnungen ist auch Indiz für die fortbestehende Ablehnung der Prädestinationslehre; ISG Frankfurt a.M., FRG 38, S. 153B, vom 11. August 1641; alle Übersetzungen G. P. 69 FRG 38, S. 150B, 152B, 154,157. 70 „Messieurs ayant deffendu à Jacob Sixt et à Anne unefille,l'instruction de la ieunesse, le Consistoire trouvant la chose estre de grande Consequence, a trouvé bon d'en parler aux Freres Flammands pour adviser s'il ne serait de besoin d'en représenter la difficulté au Magistrat, et prier qu'on nous ottroye l'instruction de nos enfants par des gens à ce faire capables." ISG Frankfurt a.M., FRG 38,28. Februar 1644, S. 161B. 71 Im Fall Miché Sandrats informiert sich das Konsistorium, obwohl für zivile Prozesse nicht zuständig, dennoch bei den Prozeßgegnern, als Sandrat auf Befragen die Verwicklung in zwei Prozesse als Grund seiner Abwesenheit vom Abendmahl angibt. ISG Frankfurt a.M., FRG 38,20. Februar 1647, S. 172. 72 Diese deutsch-reformierten Zusammenkünfte waren jedoch nicht demokratisch organisiert, sondern unterstanden den landesherrlichen Konsistorien. 73 ISG Frankfurt a.M., FRG 38,2. September 1646, S. 171.
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Die Affäre de L'Isle fällt demnach in eine Zeit der Neuordnung des Kirchenlebens und der Kirchenselbstverwaltung, mit öffentlicher Religionspraxis in Bockenheim. Gleichzeitig mußte die Französisch-reformierte Kirche in Frankfurt unter weiterhin prekären politischen Bedingungen in Frankfurt um eine Restitution ihrer früheren religiösen Rechte kämpfen. Nach dem Frieden von Münster und Osnabrück wurden die Ältesten immer wieder beim Rat vorstellig74, erbaten die Religionsfreiheit mit Verweis auf § 7 dieses Vertrages.75 Bei Kaiserkrönungen und den Reichstagen legten befreundete protestantische Reichsfürsten ein gutes Wort ein. 76 Später, im Jahre 1711, versuchten die Frankfurter Reformierten sogar, den Magistrat der Stadt über den Reichshofrat zu zwingen, das öffentliche Exercitíum Religionis zuzulassen - vergeblich.77 Bei der Durchsetzung ihrer religiösen Eigeninteressen nutzte die Frankfurter Französisch-reformierten Kirche souverän sämtliche Foren der Frankfurter wie der Reichsgerichtslandschaft; die religiöse Selbstverwaltung sollte erhalten, nach Möglichkeit sogar ausgebaut werden.78 3. Die Affäre de L'Isle 3.1. Methodische Vorbemerkung Als autonome Institution legte das Konsistorium über seine Amtstätigkeit urkundenförmig Rechenschaft ab im sogenannten Livre du Consistoire, dem Konsistorienbuch, nach der Logik der anfallenden Geschäftsfälle. Hierzu gehörten Verlobungsgenehmigungen, kirchenpolitische Entscheidungen, interne Wahlen, Finanzfragen etc., aber auch die Praxis der Kirchenzucht. Die Affäre de L'Isle erstreckte sich in zwei Bänden über 95 Protokolle.79 Die folgenden Strukturbefunde entstammen der sequenzanalytischen Rekonstruktion nach den Regeln der Objektiven Hermeneutik, wie Ulrich Oevermann sie entwickelt hat, und zwar einer sekundär
74 ISG Frankfurt a.M.., Ratsprotokolle, Bände 1654-1659, Bürgermeisterbuch 1656, vom 8. Januar 1657. 75 Osnabrücker Friedensvertrag zwischen dem Kaiser und Schweden, Art. VII. § 1. Instrumenta Pacis Westfalicae, dritte, durchges. Auflage, bearb. v. Konrad Müller, Bern und Frankfurt 1975, S. 132ff.; Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 125. 76 Ebrard nennt den großen Kurfürsten, das Haus Hohenzollem, desgleichen England, Dänemark, Schweden und die niederländischen Generalstaaten, also keineswegs nur reformierte Häuser. Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 125. 77 Im Jahre 1746 wandte mein sich sogar an den Regensburger Reichstag, erreichte jedoch nur eine mehrjährige Anwesenheit einer kaiserlichen Hofkommission in Frankfurt; Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 125. 78 Dies legt auch die französische Kirchenordnung fest, indem in Kirchenzuchtfällen ausdrücklich darauf hingewiesen wird, daß zusätzliche Strafansprüche des „Magistrats" bei öffentlichen Ärgernissen die kirchliche Jurisdiktion nicht berühren. Ibid. DERF, Chapitre cinquième. Des Consistoires, Art. XX., abgedruckt bei Mengin, Das Recht (wie Anm. 53), S. 109. 79 ISG Frankfurt a.M., FRG 31 und 38.
Zur Ehre Gottes, zum ewigen Heil und ..." erstellten Ablaufchronologie sowie hauptsächlich der Rekonstruktion zentraler Geschehnisse aus den Protokollen. 80 Die Analyse sieht sich ausdrücklich in der Tradition der Weberschen Forschungen zur Modernisierungsbedeutsamkeit der monotheistischen Religionen, insbesondere des Calvinismus, der den für die Autonomisierung des Individuums anspruchsvollsten Bewährungsmythos der abrahamitischen Religionen bereitstellt. 81 Wie der Fall de L'Isle zeigen wird, vollzieht sich der okzidentale Rationalisierungsprozeß zwangsläufig, aus eigeninduzierten Widersprüchen heraus und meist gegen den Willen der Protagonisten. Als Material dienen die Protokolle aus der Lebenspraxis der Frankfurter Französisch-reformierten Kirche u m 1650, also ein ediertes Protokoll, das diese Lebenspraxis selbst angelegt hat. Protokollanten sind die damaligen französisch-reformierten Pfarrer, Leisler und Richier. 82 Die Zugehörigkeit v o n Protokollen z u m Fall ist zunächst durch - vermutlich nachträgliche - entsprechende Randvermerke des zweiten Protokollanten, Pfarrer Richier, markiert. Da aus diesen allein der Sachhintergrund des Falles nicht verständlich ist, habe ich durch Sichten aller anderen vorgängigen und parallelen Protokolle zusätzliche I 80
Als sequenzielle Sinnrekonstruktion textförmiger Ausdrucksgestalten schmiegt sich die Methode der Sequentialität der Lebenspraxis an, wie sie in den Protokollen der Konsistorienbücher niedergelegt ist. Ihre Befünde sind keine repräsentativen Ergebnisse, sondern reale Fallstrukturen, die gemeinsam mit den ebenfalls realen, aber aus nachvollziehbaren Ursachen verworfenen Entscheidungsalternativen an jeder Sequenzstelle rekonstruiert werden. Diese Methode ist in der Lage, die Habitusformation zu erschließen als Resultat von Prozessen, die sich zwangsläufig quasi im Rücken der Individuen vollziehen, auch von Konflikten zwischen unterschiedlichen gesellschaftlichen Aggregierungsebenen. Da die Objektive Hermeneutik nicht Gemeintes oder subjektives Wollen rekonstruiert, sondern Gesagtes, enthüllt sie als objektive Bedeutung eines Textes eine zweifelsfrei nachweisbare Fallstruktur, die nicht mit dem Willen oder Wissen der Protagonisten oder ihrem theoretischen Selbstverständnis zusammenfallen muß. Sie ist daher für die Rekonstruktion unbewußter Sinnstrukturen besonders geeignet. Ibid. Ulrich Oevermann, Die Methode der Fallrekonstruktion in der Grundlagenforschung sowie der klinischen und pädagogischen Praxis, in: Klaus Kraimer (Hg.), Die Fallrekonstruktion, Frankfurt a.M. 2000. Ders., Die objektive Hermeneutik als unverzichtbare methodische Grundlage für die Analyse der Subjektivität. Zugleich eine Kritik der Tiefenhermeneutik, in: Thomas Jung/Stefan Müller-Doohm (Hg.), ,Wirklichkeit' im Deutungsprozeß, Frankfurt a.M., 2. Auflage 1995. Ders., Genetischer Strukturalismus und das sozialwissenschaftliche Problem der Erklärung der Entstehung des Neuen, in: Stefan Müller-Doohm (Hg.), Jenseits der Utopie, Frankfurt a.M. 1991; weitere Hinweise auf der Website der AG Objektive Hermeneutik www.objektivehermeneutik.de. 81 Näheres zum Konzept des Bewährungsmythos und der Rationalisierungsstufen ibid. Ulrich Oevermann, Ein Modell der Struktur von Religiosität. Zugleich ein Strukturmodell von Lebenspraxis und von sozialer Zeit, in: Monika Wohlrab-Sahr (Hg.), Biographie und Religion. Zwischen Ritual und Selbstsuche, Frankfurt/New York 1995, S. 84ff. Ders., Partikularistische und universalistische Momente religiöser Systeme. Am Beispiel des Vergleichs polytheistischer und monotheistischer Religionen und der gegensätzlichen Folgen des puritanischen und islamischen Fundamentafismus, unveröffentlichtes Manuskript, Frankfurt, Mai 1995 (Download unter: http://www.uni-frankfurt.de/~hermeneu /bib_oev.htm. 82 Jacques-Victorien Leisler war Pfarrer der Kirche von 1638-1653, sein Nachfolger Jean Richier aus Metz diente 1653-1695. Ebrard, Gemeinde (wie Anm. 4), S. 161.
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Gudrun Petasch Informationen zusammengetragen, die die Schulpolitik des Konsistoriums und die berufliche Situation der reformierten Lehrer als lebensweltlichen Hintergrund des Falles enthüllen. Die folgende Zusammenfassung der wichtigsten Vorgänge enthält daher Informationen aus den als zugehörig markierten Protokollen in Normaldruck, solche, die sich erst durch meine Recherche als inhaltlich zugehörig herausgestellt haben, in Kursivdruck. 3.2. Abläufe Am 18. Mai 1643 werden „Jean Hurlepelle dit L'lsle", seine Frau Marie de Milly und Sohn Jean Ganelle auf ein gutes Zeugnis der Kirche von Den Haag hin in die Frankfurter Kirche aufgenommen,S3 Kurz vorher wurde „M. Arnould"Si aus Metz als neuer Lehrer der kircheneigenen Schule eingeführt. Zweieinhalb Jahre später, 1645, bittet er das Konsistorium, zu seiner finanziellen Besserstellung private Kostgänger aufnehmen zu dürfen. Es wird ihm erlaubt. Um Ärger mit den Lutheranern zu vermeiden, soll er die Kinder zum übrigen Unterricht in deren Schulen schicken.85 Im März 1648 erscheint de L'lsle86 im Konsistorium auf Vorladung ohne seine ebenfalls geladene Frau wegen einer angeblich von ihm gemachten Äußerung, das Konsistorium habe durch einen Beschluß ihm und den anderen Schulen Kinder zugunsten des Kirchenlehrers Arnould entzogen. Er wittert eine Parteilichkeit des Konsistoriums gegen sich, will dessen Jurisdiktion nicht anerkennen. Das Gremium leugnet den Beschluß und stellt ihn zur Rede, weil er Arnould wegen einer vergangenen Justizsache in Metz verleumdet habe. In der Folge kommt es zu zahlreichen nicht befolgten Vorladungen, zu Verspätungen, Beschimpfungen und dem Fernbleiben L'Isles vom Abendmahl. Auch seine Frau wird einbestellt; sie soll das Konsistorium öffentlich als parteiisch bezeichnet haben. Am 23. November 1648 kommt L'lsle um ein Zeugnis ein, damit er Mitglied einer anderen Kirche werden könne, erhält angesichts seiner
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Frankfurt a.M., FRG 150 Catalogue des Membres de L'Eglise françoise ... le 24 Juillet 1648:18. Mai 1643. Der Sohn wird wohl erwähnt, weil er bereits konfirmiert, also mindestens 15 Jahre alt ist. Eine später im Fall thematische Tochter Marie ist zu diesem Zeitpunkt wohl noch ein Kind und wird nicht eigens aufgeführt. 84 Nirgends in den einschlägigen Protokollen ist sein Vorname erwähnt; lediglich eine genehmigte Verlobung im Konsistorienbuch vom 18. Januar 1649 nennt einen Witwer Nicholas Arnould aus Metz, der eine Marguerite Robert, Witwe Didier, heiraten will; FRG 38, S. 184B. Dessen Identität mit dem Lehrer verdanke ich einem Hinweis von Monsieur Calbat in Blois zu den Kirchenbüchern von Metz. 85 Kobu 38, S. 168B: Ce 5. d 9.bre 1645. M'r Arnould n're lecteur ayant proposé, s'il pourroit bien tenir des pentionaires', ρ la pluralité /d voix/ il luy a esté permis à condition qu'il les face aller à l'Eschole Lutherienne pour eviter le bruit des Maistres d'Eschole Lutheriens, co'e si la presence du diet Arnould leur seroit preiudiciable. ; ISG Frankfurt a.M., FRG 38, S. 168B. 86 Der Nachname des Protagonisten wird in unterschiedlichster Form berichtet. Eigentlich Hurlepelle oder Urlepel, also flämisch „Ohrlöffel", verweist sein Zweitname „de L'lsle" möglicherweise auf eine Herkunft aus Lille (bisher nicht nachweisbar). Die anfängliche Benennung im Konsistorienbuch als „le sieur de L'lsle" deutet auf eine, vom Konsistorium zunächst unterstützte adelige Selbstcharismatisierung hin. Später heißt er nur noch „Hurlepelle" oder „L'lsle". Ich verwende nachfolgend „L'lsle".
.Zur Ehre Gottes, zum ewigen Heil und ..." nicht erfolgten Genugtuung nur das Versprechen eines „wahrheitsgemäßen"87, was ihn erbost. Die Drohung des Konsistoriums, die Sache vor die Versammlung aller Hausväter zu bringen, begeistert ihn. Daraufhin wird diese Versammlung verschoben. L'Isle möchte nun in Hanau in der dortigen wallonischen Kirche zum Abendmahl gehen, was ihm aber das dortige Konsistorium mit Verweis auf die Kirchenordnung verweigert. Auf seine Bitte schreibt es aber vermittelnd nach Frankfurt und erhält eine nicht näher erläuterte Antwort. Dort beschwert sich Lehrer Arnould schriftlich über L'Isle beim Konsistorium. 1650 leistet L'Isle Genugtuung in einer Versammlung der Hausväter, deren Verlauf aber nicht berichtet wird. Sofort verlangt L'Isle wieder seine Entlassung aus der Frankfurter französisch-reformierten Kirche, obwohl er noch eine Weile dort wohnen bleiben will. Man bedeutet ihm, zunächst müsse er seine Versprechen halten, nämlich sich mit Arnould aussöhnen und zur Frankfurter Kirche halten. Die Pfarrer der Hanauer französisch-reformierten und der Bockenheimer flämisch-reformierten Kirche88 vermitteln; L'Isle fordert immer wieder, man solle ihm seine Eintragungen im Konsistorienbuch vorlesen bzw. diese tilgen. Am 5. November 1651 bietet ihm das Konsistorium eine völlige Amnestie an, falls er sich an seine Versprechen halte. 1652 gehen beide L'Isles zum Abendmahl in Frankfurt; alles scheint beigelegt. 1653 teilt L'Isle den Frankfurtern mit, er gehöre nicht mehr zu ihnen, sei Kirchenmitglied in Hanau geworden. Das Frankfurter Konsistorium bittet die Hanauer Kollegen mit Verweis auf die Kirchenordnung, das Ehepaar L'Isle ohne neues Attestat nicht mehr zum Abendmahl zuzulassen. Der Briefwechsel mit Hanau bleibt zunächst imbefriedigend. Nach mehreren Mahnungen erscheint L'Isle am 14. Juni 1654 im Frankfurter Konsistorium, um sich für seine Abwesenheit von Kirche und Sakrament zu rechtfertigen. Er erhält als Strafe drei Monate Suspension vom Abendmahl, vorbehaltlich einer Woche Bedenkfrist. Er reagiert mit der Übersendung eines als „Supplikation" bezeichneten Beschuldigungsschreibens, in dem er die Ältesten mit biblischen Ketzern vergleicht. Nachdem seine Frau ebenfalls nicht auf Vorladungen erscheint, wird der Fall zum Fall L'Isle-Milly. Als er schließlich doch vorspricht, betont das Konsistorium mahnend die Notwendigkeit kirchlicher Ordnung, beruft sich auf den Hl. Paulus.89 Ein Monat ist längst resonanzlos verstrichen, da lädt das Konsistorium 32 Honoratioren der Kirche in das Haus des Ältesten Malapert
„forme à la vérité", ISG Frankfurt a.M., FRG 38, S. 184. Im Zuge der Auseinandersetzungen um den Abzug nach Hanau hatten sich 1601 die Frankfurter und die Hanauer bzw. Bockenheimerflämisch-reformiertenKirche verfeindet und offiziell getrennt; Bott, Gründung (wie Anm. 50), Band 1, S. 248ff. Die Frankfurter flämisch-reformierte Kirche, gegründet 1555 von Superintendent Johannes a Lasco, nannte sich ab 1636 deutsch-reformiert. 89 „Alles aber geschehe wohlanständig und in Ordnung!"; Die Heilige Schrift des Alten und des Neuen Testaments, Verlag der Zürcher Bibel, 20. Aufl., Zürich 1991,1. Kor 14,40. An dieser Briefstelle geht es allerdings nur um die gemeindliche Praxis des Zungenredens. 87 88
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Gudrun Petasch ein, ehemalige kirchliche Amtsträger, von denen trotz Winter und außerhalb der Messen nur 21 erscheinen. Aus dieser Sitzung stammt das Zitat im Titel: Pfarrer Richier, der Protokollant, legitimiert die rigorose Durchsetzung der Kirchendisziplin als Basis der „Aufrechterhaltung der guten Ordnung in unserer Kirche"90. Man beschließt die öffentliche Suspension L'Isles für den 3. Dezember 1654 im Gottesdienst, was der Delinquent in letzter Minute mit einem lauen Versprechen verhindert. Nach langem Hin und Her spricht L'Isle erneut im Januar 1655 vor, gibt auf Anfrage zu, er habe seine Genugtuung „gayement, volontairement, et de coeur et sans aucune supercherie"91 geleistet, verspricht wieder Pflichterfüllung. Als die Familie nun die Stadt verläßt, erhält seine Frau mit Beschluß vom 30. Mai 1655 kein Attestat, wohl aber die Tochter. Im Juli 1655 - die Familie wohnt seit einigen Wochen in Hanau - erreicht die Frankfurter ein harter Brief vom dortigen französisch-reformierten Konsistorium. Gegen Vorwürfe von Böswilligkeit, Hinterlist und Kompetenzüberschreitung verteidigt sich das Frankfurter Gremium und verlangt, die Hanauer sollten mit ihnen, nicht mit den Frevlern gemeinsame Sache machen, um nicht einen irreparablen Autoritätsverlust der Institution herbeizuführen. Pfarrer Richier gibt zu bedenken: „Et si on Laissoit un chacun asa conscience, ne feroit on pas fort souvent des bresches qui soient extrêmement difficiles a reparer?"92 Er verweist auf die Kirchenordnungen von Frankreich und Middelburgh, die gleichermaßen nach einem Skandal mit Widersetzlichkeit (obstination) erst eine Genugtuung verlangten, bevor der Sünder zum Abendmahl gehen dürfe.93 Schließlich sei Gott ein Gott der Ordnung. Bei einer erneuten Konfrontation behauptet L'Isle nun, er habe seine Wiedergutmachung leisten müssen; da werfen die Ältesten ihm Heuchelei vor. Im Oktober 1655 verlängert das Konsistorium für zwei Jahre das Gehalt von 36 Gulden für den Kirchenlehrer Mittallat als Vorsänger und Vorleser, sowie 30 Gulden für seinen Schulunterricht, unbeschadet der Schulgelder seiner Schüler. Er ist Nachfolger des verstorbenen Arnould. In Januar 1656 beauftragt es ihn mit Privatunterricht in Französisch für die Schüler, bei denen die Diafonie auch die sonstige Schule bezahlt, für 5 1/3 Gulden pro Schüler und Jahr. Trotz dieser massiven Unterstützung wird er im Oktober 1657 wegen zu geringer Schülerzahl nach Hanau gehen.
ISG Frankfurt a.M., FRG 31: 1. Dezember 1654, S. 30/31 bzw. 17/18; Protokoü der Zusammenkunft der Gemeindeelite im Hause Malapert. 91 „freudig, freiwillig und von Herzen und ohne jede Betrügerei", ISG Frankfurt a.M., FRG 31:17. Januar 1655, S. 35 (20), im Unikat unterstrichen. 92 „Und wenn man jeden seinem Gewissen überlassen würde - schlüge man dann nicht sehr oft Breschen, die sehr schwierig zu reparieren wären?", ISG Frankfurt a.M., FRG 31: S. 42f (23B/24) und S. 42 (31B), Unterstreichung im Unikat. 93 Pfarrer Richier bezieht sich hier vermutlich auf DERF Chapitre Cinquième, Art. XXV. Allerdings geht diese Bestimmung davon aus, daß die obstinaten Personen wegen ihrer Widersetzlichkeit bereits von der Kirche ausgeschlossen waren. Dazu ist es im Fall L'Isle nie gekommen. Mengin, Das Recht (wie Anm. 53), S. 109. 90
.Zur Ehre Gottes, zum ewigen Heil und ..." Im Oktober 1656 verbreitet L'Isle eine selbstverfaßte, gedruckte Streitschrift, im Protokoll stets „Schmähschrift" genannt, gegen das Frankfurter Konsistorium, Titel: „Apologie d'Antipas contre le jugement donnée contre luy par Calaziris et ses Collegues". 94 Dieser Vorfall macht aus dem sieur endgültig einen Feind. Die Attackierten schreiben an die Kollegen in Genf, Metz, Amsterdam, Den Haag, Sedan, Heidelberg und Frankenthal, sie sollten den Anschuldigungen L'Isles nicht glauben, falls ein Exemplar des Machwerks sie erreiche. Sie befragen auch das deutsch-reformierte Konsistorium in Frankfurt. Im Januar 1657 schreibt das Hanauer Konsistorium an die Frankfurter Kollegen, es wolle nun das Ehepaar in Hanau zum Abendmahl zulassen; den Frankfurtern bleibe ja noch der zivile Rechtsweg. Davon entsetzt, schicken letztere erneut eine Delegation nach Hanau und verlangen, das Hanauer Gremium müsse seine religiöse Jurisdiktion wahrnehmen, die Ehre des Frankfurter Kollegiums wiederherstellen und den Frevler bestrafen.96 Man bescheide sich auch mit einer nichtöffentlichen Genugtuung vor dem Hanauer Konsistorium. L'Isle verlangt vergeblich eine Anhörung vor den reformierten Hausvätern der ganzen Region. In Frankfurt hat mittlerweile der Rat dem Lehrer Mittallat und einem Fräulein Le Coulon die Unterrichtserlaubnis entzogen, was der Frankfurter Pfarrer brieflich als Folge des Skandals nach Hanau berichtet.97 I
„Verteidigung des Antipas gegen das über ihn durch Kalasiris und seine Kollegen verhängte Urteil", ISG Frankfurt a.M., FRG 31: 27. Dezember 1556, S. 65 (35); Unterstreichung im Unikat. Der Titel spielt in insgesamt schiefen und nicht harmonisierten Analogien an auf den damals populären antiken Roman von Heliodor, Die Abenteuer der schönen Chariklea. Äthiopika, Zürich 1970. L'Isle vergleicht den dort vorkommenden ehemaligen Isispriester Kalasiris, eine durchaus positive und humanistische Gestalt, mit dem Frankfurter Konsistorium und sich selbst mit dem christlichen Märtyrer Antipas von Pergamon. Argumente und Inhalt der Streitschrift werden nirgends berichtet. 96 Das Frankfurter Konsistorium behandelt also die Kränkung seiner eigenen Ehre als einer Art Obrigkeit als religiöses Delikt, das vor einem religiösen Gericht zu bestrafen sei, wodurch auch die Ehre des angegriffenen Gremiums wiederhergestellt würde. Wie Eibach belegt hat, wurden solche Beleidigungsdelikte zeitgenössisch vor Frankfurter Kriminalgerichten abgeurteilt. Joachim Eibach, Frankfurter Verhöre, Paderborn 2003, S. 136ff. 97 Hierzu erwähnt das Bürgermeisterbuch am 3. Februar 1657 die Supplikation Mittallats vom selben Tag, in der er um eine befristete Genehmigung zum privaten Französischunterricht bittet. Sie wird erteilt. Über das im Konsistorienbuch miterwähnte Fräulein Le Coulon ist in den Ratsprotokollen nichts bekannt. ISG Frankfurt a.M., Bürgermeisterbuch 1656: 3. Februar 1657, S. 146B. Die Supplikation ist erhalten. Mittallat bittet um eine befristete Genehmigung des Französischunterrichts für deutsche Schüler, für ein Jahr bis zum Wegzug, nachdem kürzlich die Scholarchen ihm das Unterrichten verboten hätten, weil er keine städtische Genehmigving hatte. Dies hat vermutlich Pfarrer Richier gemeint; ein Zusammenhang zur Affäre L'Isle ist nirgends zu erkennen. ISG Frankfurt a.M., Ratssupplikationen 1657: Nr. 1382,3. Februar 1657, S. 33-34. 94
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Gudrun Petasch Als L'Isle ein zweites Libelle diffamatoire ankündigt, sind auch Konsistorium und Magistrat der französisch-reformierten Neustadt Hanau bereit, ihm das Handwerk zu legen. Der Syndikus der Neustadt, vom dortigen Konsistorium um Rat gebeten, hat seinen französisch-reformierten Magistrat eingeschaltet. Dieser läßt L'Isle in seinem eigenen Haus festsetzen; als er an die gräfliche Kanzlei berichtet, läßt diese L'Isle ins Rathaus überstellen. Das Frankfurter Konsistorium will vor der gräflichen Kanzlei nicht als Akteur auftreten, das Hanauer die Sache möglichst von sich fernhalten.98 In der vom Präsidenten Moscherosch 99 präsidierten Gerichtsverhandlung behandelt das Gericht das Frankfurter Konsistorium und L'Isle als gleichberechtigte Kontrahenten eines zivilen Beleidigungsfalles.100 Obwohl Moscherosch freundlich und geduldig nach den Motiven L'Isles fragt, antwortet dieser nicht, ist kleinlaut, trägt keinerlei inhaltliche Argumente vor. Den Drucker der Schmähschrift hat er angeblich vergessen; die Druckerwerkstatt in einem Gäßchen am Frankfurter Kornmarkt, so will er sich nur erinnern, habe ein Buch als Aushängeschild.101 Er leistet widerspruchslos drei Genugtuungen, für die Konsistorien von Frankfurt und Hanau und für den Hanauer Grafen. Die restlichen Exemplare der Realer Hintergrund dieser, den Kirchenprotokollen nicht klar zu entnehmenden Handlungen ist das Bemühen der mittlerweile lutherischen Hanauer Herrschaft, die Privilegien der Minderheiten zu beschneiden und diese partikularistischen Gruppen unter Kontrolle zu bringen. Der französisch-reformierte Magistrat der Neustadt kann keine Arrestfälle allein verhandeln. Dies muß dessen Syndic Herfer jedoch gewußt haben. Auch nach der Trennung von Alt- und Neustadt durch die Ratsordnung vom 8. April 1601 und das Transfix vom 1. August 1601 blieb es im materiellen Recht dabei, „daß die Neustädter keine Sonderstellung genossen, sie waren den einheimischen Rechten unterworfen (gemeines Recht, Solmser Landrecht, Hanauisches Gewohnheitsrecht, ...)". Dölemeyer, Kapitulation und Transfix (wie Anm. 47), S. 48. Bereits 1611 will der Graf die Verwaltungsautonomie der Reformierten beschneiden und sicherstellen, daß sie nicht ohne sein Wissen verhaften und strafen. Bott, Gründung (wie Anm. 50), Band 2, S. 316. 99 Johann Michael Moscherosch 1601-1669, geboren im hanau-lichtenbergischen Dorf Willstädt bei Straßburg, bekannter unter dem Pseudonym Philander von Sittewald, unter dem er sein Hauptwerk verfaßte, die „Wunderliche und wahrhafftige Geschichte Philanders von Sittewald". Er studierte in Frankreich, war u.a. 10 Jahre Fiskal des Polizeigerichts der Stadt Straßburg (Frevelvogt), kam mit 55 Jahren nach Hanau, wo er bald „zum Präsidenten bey der Cantzeley, Cammer und Consistorio" wurde und es bis 1660 blieb. Als polyglotter, weltmännischer, aber patriotisch gesinnter Mann, ein Mann der Feder und der Bildung, des lutherischen Glaubens und des Rechts, war er eher bürgerlich als landesherrlich gesinnt. Als Gatte von Frauen dreier Bekenntnisse und als Verehrer des ehemals reformierten Königs Heinrich IV. kann ihm die religiös gestiftete Rationalität der Hanauer Reformiertengemeinden nicht entgangen sein. Seine eigene literarische Tätigkeit als Satiriker und - auch gerichtlich belangter! - Kritiker der politischen Ordnung dürfte ihm L'Isle gegenüber zunächst Wohlwollen eingeflößt haben. Ibid. Walter E. Schäfer, Johann Michael Moscherosch. Staatsmann, Satiriker und Pädagoge im Barockzeitalter, Oberkirch 1982, passim; Allgemeine Deutsche Biographie, 22. Bd., S. 351ff. 100 Wie allerdings das Ende zeigt, muß L'Isle auch eine Genugtuung für die hanauische Landesherrschaft leisten, die durch den Fall auch ihr öffentliches Interesse verletzt sieht. 101 Der Drucker läßt sich nicht nachweisen; auch gibt es keinen Hinweis darauf, daß L'Isle sein Werk dem kaiserlichen Zensor präsentiert hätte, wie geboten. 98
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Schmähschrift muß er abliefern. Der Fall seiner Frau Marie de Milly wird miterledigt. Sofort teilt das Frankfurter Kollegium dies den zuvor alarmierten ausländischen Kirchen mit, jeweils unter Beifügung einer Genugtuungsabschrift. Im Mai 1659 verlangt L'Isle nun in Hanau sein schon vor Monaten beantragtes Attestat102, damit er nach Bockenheim in die flämische (mittlerweile deutschreformierte) Kirche übersiedeln könne. Das Konsistorium verweigert es ihm, da öffentlich dagegen Einspruch erhoben worden sei und er der Kirche einen Skandal bereitet habe, für den er zuvor Genugtuung leisten müsse.103 Auch in Frankfurt reicht L'Isle 1660 nochmals eine Bittschrift ein, fragt, ob das Konsistorium seine frühere Drohung, ihn öffentlich zu exkommunizieren, wahrgemacht hätte. Man wimmelt ihn sybillinisch ab. Am 8. Mai 1661 ist die Familie offenbar in Frankenthal, da das Hanauer wallonische Konsistorium die dortigen Amtsbrüder auf Anfrage brieflich über ihn aufklären.104 In Frankenthal heiratet die Tochter Marie de L'Isle am 27. Juni 1761 den Frankenthaler Gemeindepfarrer Burkard Müller, Sohn eines ebenfalls hochrenommierten französisch-reformierten Pfarrers.105 Jean de L'Isle selbst wird bereits am 20. April 1662 als verstorben gemeldet.106 Die Kinder des jungen Paares haben zu Paten die regionale Elite Frankenthals.107 3.3. Sachhintergrund und Niederlegungspolitik der Affäre Gleich in den ersten Protokollen enthüllt sich eine Grundstruktur des Konflikts. Da die markierten Niederlegungen den Fall inhaltlich nicht erhellen, der Sachhintergrund nur aus zusätzlichen Eintragungen mühsam erschlossen werden kann, erweist sich die Niederlegungspolitik der Protokollanten bzw. des Konsistoriums108 als wirksame Waffe und Zeichen ihrer Parteilichkeit. Die aus den Zusatzinformationen hervorgehende inhaltliche Verknüpfung zweier religiös bedeutsamer Selbstverwaltungsbereiche, Kirchenzucht und kirchliches Schulwesen, soll nicht zutage treten. Der daraus ermittelte Sachzusammenhang müßte zunächst das Konsistorium ins Unrecht setzen, denn den von L'Isle beanstandeten Be-
102 Archiv der Niederländisch-Wallonischen Gemeinde Hanau (NWGH), Protocol de nostre E'glise Depuis L'an 1658 Jusques'a L'an 1677 ... No 3, unpaginiert, 25. November 1658. 103 Hierbei muß es sich um einen neuen Konflikt handeln, der jedoch nirgends berichtet wird. 104 NWGH, Protocol No 3: 25. Mai 1659,27. Juli 1659,6. Juli 1660,20. Juni 1660,8. August 1660,24. April und 8. Mai 1661. 105 Catalogue des Espousez en L'Eglise francoise commenceant depuis le mois d'Octobre 1623, p. XV. Stadtarchiv Frankenthal 106 Repos ailleurs. Troisième Protocolle des batesms de l'eglise francoise de Franckenthal 1622, 33b. Die Mutter Marie de Milly fungiert als Patin des gleichnamigen Täuflings, bezeichnet als „vefue du fue Jean de L'Isle". Stadtarchiv Frankenthal. Das Totenregister der Gemeinde für diese Zeit ist komplett verschollen. 107 Stadtarchiv Frankenthal, Ibid., 1663,1664, 1668 etc.; die Eintragungen zeigen Bürgermeister, Schöffen etc. als Paten der weiteren Müller-Kinder. 108 Auf Indizien für Haltungsunterschiede innerhalb des Konsistoriums kann hier nicht eingegangen werden.
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schluß hat es sehr wohl getroffen, auch korrekt durch denselben Protokollanten Leisler im Konsistorienbuch verzeichnet, allerdings nicht explizit als gegen L'Isle gerichtete Maßnahme, sondern als Lizenz für Arnould, in Ausübung der schulbezogenen Arbeitgeberrolle.109 Tatsächlich hat das Gremium damit indirekt, jedenfalls aber wissentlich in einen Bereich eingegriffen, für den es nicht zuständig ist und auch keine Zuständigkeit beansprucht, den privaten Bildungsmarkt des Sprachunterrichts. Dieser ist sittlich und religiös neutral, es sei denn, es würde sich ein abendmahlsrelevanter Konflikt in diesem Sektor ereignen. Die Erlaubnis für Arnould, sich privat sein Salär mit Französischstunden aufzubessern, macht aus der bisherigen Arbeitsteilung zwischen L'Isle als privatem Französischlehrer und Arnould als französischsprachigem Lehrer der kircheneigenen Primarschule eine Konkurrenz, die L'Isle schaden muß. Dessen private Schule kennt das Konsistorium, und es gibt hier offenbar keinerlei inhaltliche Beanstandungen. Auch daß L'Isle Französischlehrer ist, wird in den markierten Niederlegungen nur einmal am Rand indirekt erwähnt.110 Durch das gezielte Vermeiden, den Sachhintergrund zu erwähnen, auch der Vorgeschichte mit Arnould (die offenbar zugunsten Arnoulds beigelegt wurde), erscheint L'Isle in den Niederlegungen zum Fall als cholerischer Verleumder, noch dazu einer Person, die, wie Arnould, angeblich als eine Art religiöser Märtyrer den Fängen der katholischen Justiz in Metz entkommen war. In Wirklichkeit ist also das Konsistorium der Unfriedensstifter. Es hat durch sein eigenes Handeln erst den Kirchenzuchtsfall erzeugt, den es anschließend jahrelang unerbittlich betreibt. Diese Politik der Verschleierung setzt sich durch alle Niederlegungen fort. Nie werden L'Isles Argumente berichtet. Auch die Überschrift der Streitschrift, das einzige von L'Isle erhaltene authentische Textelement, erfährt der Leser nur quasi zufällig, im Rahmen der Abschrift der Briefe ins Ausland. Daß beide Pfarrer von sich fast nur in der dritten Person sprechen und weitgehend ihre eigene Parteilichkeit und Beteiligung verschleiern, ist zeitüblich.111 Ibid., S. 234, Eintragung vom 5. November 1645. Sein Beruf bzw. seine Schule werden nur zweimal am Rande erwähnt: im ersten Protokoll im Rahmen seines Vorwurfs, das Konsistorium habe mit seinem Beschluß seiner Schule und der der anderen Schüler entzogen, und im Protokoll vom 8. August 1655. Hier erwähnt der Pfarrer in einem Brief an die Hanauer Amtsbrüder, selbst die ehemaligen Kirchenhonoratioren, die ihre Kinder zum Französischunterricht zu ihm und seiner Frau geschickt hätten und dort zufrieden gewesen seien, hätten sich nun von ihm abgewandt: „Et eneffect quelle apparence que tant de notables Personnes, Pasteurs, Anciens et Diacres, qui ont suscedé Les uns aux autres en nostre Consistoire pendant L'espace detant d'années; Et dont lapluspart de ceux qui ont eu des enfants les ont envoyé chez eux pour apprendre LaLangue françoise; Et sesont mesme contentés deleur instruction; Quelle apparence, disons nous, quêtant degens debien et d'honneur ayent pris plaisir aleur faire tort et aies offenser de guet [apend]". In der Schule arbeitete also auch Madame L'Isle. ISG Frankfurt a.M., FRG 31, S. 42 (23B). 111 Zur Scheinneutralität der Eigenhistoriographen und deren Auswirkungen ibid. Gudrun Petasch, Das erste Neu-isenburger Konsistorienbuch als Ausdrucksgestalt historischer Subjektivität - methodologische, forschungsstrategische und editorische Anmerkungen, in: Petasch, Konsistorienbuch (wie Anm. 5), insbesondere Kap. IV. und V., 109 110
Zur Ehre Gottes, zum ewigen Heil und
Der Skandal wurzelt also eindeutig in einer Ungerechtigkeit des Konsistoriums gegen L'Isle; dessen Leugnen und formales Beharren auf dem nicht gefaßten Beschluß ermöglicht es dem Kirchengremium, den Konflikt als Kirchenzuchtsfall zu behandeln und sich mit Verweis auf die Kirchenordnung selbst ins Recht zu setzen. Jede neue Runde erneuert die Wunde für L'Isle; jede neue Empörung seinerseits heizt die Affäre zusätzlich an. Warum? 3.4. Der Ausgangskonflikt als Beispiel reformierter Eigenlogik
Sieht man
einmal von möglichen Seilschaften zugunsten Arnoulds, Antipathien etc. ab, so darf als Motiv des Konsistoriums seine rechtmäßige Amtsführung nicht unbeachtet bleiben: Durch die Lizenz für Amould hat es unter den schwierigen Bedingungen einer Diasporasituation, in einer Rekonstruktionsperiode der Kirche, versucht, angesichts sinkender Schülerzahlen den mühsam gefundenen Schullehrer zu behalten und damit den Fortbestand der Schule zu sichern. Diesem, der auch Vorleser und Vorsänger in der Kirche ist, wird vom Dienstaufsichtsgremium der Schule gestattet, in seiner Freizeit ein privates Zusatzeinkommen zu erwirtschaften. Diese notwendig wahrgenommene Zuständigkeit gemäß Kirchenordnung greift jedoch de facto in den privaten Bildungsmarkt ein. Für die offensichtlichen und jedenfalls in Kauf genommenen Folgen ist das Konsistorium also politisch verantwortlich, formal jedoch nicht zuständig. Letzteren Formalismus vertritt es verbal, indem es den Beschluß einfach leugnet, und erzeugt dadurch erst den Kirchenzuchtkonflikt. Ein Eingeständnis des Eingriffs ins Wirtschaftsleben wäre ein Eingeständnis der Kompetenzüberschreitung; die Logik der Selbstverwaltung jedoch, die aus religiösen Gründen unter extremen Diasporabedingungen in weite Bereiche des profanen Lebens eingreift, wirkt sich hier in der Schulpolitik ebenso aus wie bei ökonomisch bedingten oder privaten Streitigkeiten zwischen Kirchenmitgliedern. Auch L'Isle ist als echter Reformierter der Meinung, daß die Kirche sich aus dem Wirtschaftsleben und dem Arbeitsmarkt heraushalten solle: Er verlangt keine Pfründe und stellt sich zunächst der Konkurrenz, protestiert inoffiziell erst, als er nach zweieinhalb Jahren wohl finanziell mit dem Rücken zur Wand steht. Wie sich auch aus anderen Kirchen wie Neu-Isenburg oder Offenbach belegen läßt, ist die Wirtschaft einer der ersten Sektoren, auf dem die Individuen Autonomie beanspruchen und die Kirche hinausdrängen wollen, die aus Disziplingründen häufig konservativ und gegen die Profitinteressen der Einzelnen votiert.112 S. 47-73. Dort sind dieselben manipulativen Phänomene für den Pfarrer nachgewiesen, der das Protokollbuch der Niederländischen Reformierten Gemeinde Frankfurt führt. Selbst dessen Herausgeber Meinert lobt in seinem Vorwort am Protokollanten die „protokollarische Aufzeichnung des tatsächlich Geschehenen". 112 Ibid. hierzu die Weigerung des Neu-isenburger Konsistoriums, „papistische" Knopfmacher im Ort aufzunehmen, aus Gründen der öffentlichen Sittlichkeit, nicht etwa wegen der Religion. Das Wirtschaftsinteresse des Einzelnen, religiös legitimiert, gerät in
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Gudrun Petasch Die Amtspflicht des Konsistoriums erzeugt also eine lebensweltliche Ungerechtigkeit, für deren Ursachen es sich nicht interessieren, deren Folgen für den Kirchenfrieden es jedoch nicht ignorieren darf. 3.5. Der Konflikt innerhalb der Kirchenelite Die Kirche wird, wie erwähnt, vertreten von der Elite der Kirche, dem Kaufmanns- und Finanzadel der Stadt. Die bekanntesten und reichsten wallonischen Reformiertenfamilien stellen immer wieder die Ältesten und Diakone. Aber auch die Delinquenten gehören zur Elite der Kirche, den Honoratioren. Der Konflikt resultiert nicht aus dem Kontrast von Triebhaftigkeit und methodischer Lebensführung, sondern daraus, daß eine bereits weitgehend der methodischen Lebensführung verpflichtete, gewissensgeleitete Person die religiöse Aufforderung, sich seines Gewissens zu bedienen, ernst nimmt. L'Isle ist einer unter Gleichen, ein gebildeter sieur, anerkannter Lehrer, seine Frau Dame de L'Isle. Er ficht mit Wort und Feder, ist biblisch belesen, hat illustre und zufriedene Kundschaft in mehreren Kirchen der Region. L'Isles Gerechtigkeitsgefühl ist Resultat der religiös erwünschten und erzwungenen Gewissensimplantation. Seine Berufsauffassimg ist, wenn auch zeitbedingt noch erfolglos, an Autonomie orientiert. Sein Glaube steht nie in Frage. Er will persönlich religiös gebunden bleiben; jedoch stört ihn die Abhängigkeit von der religiösen Schulaufsicht, nicht theologisch, sondern als Eingriff in den Sprachenmarkt. Nur darin kann sein Motiv zu seinen verschiedenen Genugtuungen liegen, denn zu dieser Zeit hätte er seine berufliche Existenz völlig verloren, wenn die religiöse Aufsicht ihn als Störer des Kirchenfriedens gebrandmarkt hätte. Sein Umgang mit dem Ritual der Wiedergutmachung zeigt deutlich den Übergangscharakter des religiösen Beschämungsrituals: Längst übt es die Funktion eines bürgerlichen Unbescholtenheitszeugnisses aus, aber noch ohne dessen säkulare Form. Verbittert kämpft L'Isle daher gegen die seinen Ruf und Beruf schädigenden Elemente der Kirchenzucht, die - Mahnung, Vorladung, Genugtuung vor dem Konsistorium oder gar öffentlich, Niederlegung eines Protokolls - längst die Form einer fein abgestuften bürgerlichen Ehrbarkeit angenommen haben. 3.6. Der eigenlogische Säkularisierungsprozeß der religiös fundierten Eigenherrschaft Zeitbedingt reklamiert L'Isle seine Gerechtigkeit und seine Autonomie mit querulatorischen Zügen, er vertritt noch kein gefolgschaftsfähiges neues Programm. Er ist kein geschmeidiger, kluger Charakter. Indem er stört, das Konsistorium beleidigt und öffentliche Schmähschriften drucken läßt, das Konsistorium in Frankfurt in Verruf bringt, schädigt er die prekäre kirchenrechtliche Autonomie, das Renommee der Kirche und ihren Handlungsspielraum. Diese beruhen auf Religion. Daß er die religiös begründete weitgehende
offenen Konflikt zur sittenstrengen Ordnungspolitik des Kirchengremiums. Petasch, Konsistorienbuch (wie Anm. 5), Vorschlag zur Aufnahme eines papistischen Mieters in diesem Ort, vom 3. November 1725, S. 367ff.
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Autonomie gefährdet, zeigt das Ende: Erst durch die Hanauer gräfliche Kanzlei wird schließlich der Fall - zumindest in Frankfurt - offiziell und förmlich beigelegt. Hier gestattet sich L'Isle keinerlei Ausspielen, keine Ausfälle, tritt kleinlaut auf. Sein offensichtliches und berechtigtes Kalkül, daß das Frankfurter Konsistorium aus religiösen Gründen nicht die Landesherrschaft einschalten würde, keinen privaten Beleidigungsprozeß vor einem städtischen Gericht führen will113, ist durch eine nicht vollständig zu erklärende Intervention des Hanauer reformierten Konsistoriums nicht aufgegangen, das den Fall gern an den französisch-reformierten Magistrat der Neustadt abschieben wollte, sicherlich aber nicht begeistert ist, daß die lutherische Kanzlei als landesherrschaftliches Gericht ihn an sich reißt. Die gräfliche Kanzlei hat sofort L'Isles Arrest verschärft und bedroht nun die prekäre Autonomie der aus religiösen Gründen modernen insulären Herrschaft. L'Isle selbst kommt noch einmal glimpflich davon. Der Verlauf der Affäre zeigt auch die religiös induzierten Widersprüche des Wiedergutmachungsrituals, deren sich die Kirchenoberen durchaus bewußt sind und die sie dennoch nicht entschärfen können: Da zeitbedingt noch nicht alle Individuen die religiös geforderte Implantation des Gewissens voll verwirklicht haben, muß das Konsistorium, um die Ordnimg zu wahren, die Autonomie des reuigen Gewissens, wenn nötig, programmatisch abfordern und de facto erzwingen. Religiös jedoch ist eine Buße vor Gott nur gültig als spontane und authentische Gewissensregung. Folglich muß das Konsistorium auf dem formalen Bekenntnis dieser Authentizität beharren und gleichzeitig erwünschtes Verhalten autoritär durchsetzen - ein performativer Selbstwiderspruch, der die Individuen langfristig in die Säkularisierung treibt: Je stärker sie bereits die Anforderung der Gewissensgeleitetheit verwirklicht haben, desto mehr werden sie sich mit Ekel abwenden und auf ihrer Gewissensautonomie beharren. Löst ein Individuum das Dilemma über formale Anpassung und gibt es zu, wie L'Isle, so wirft man ihm Heuchelei vor. Über dieser Heuchelei waltet also auch ein Tabu, das ebenfalls die Säkularisierung begünstigt. Das Konsistorium sieht das Problem und kann ihm dennoch nicht entrinnen. Im prekären Kampf des Selbstverwaltungsgremiums um die Aufrechterhaltung seiner Sanktionsmacht ist die Kirche in einem unauflöslichen Dilemma, das letztlich zu ihrer Abschaffung führt: Sie darf sich die religiösen Grundlagen nicht aus der Hand nehmen lassen, denn sie sind ihre raison d'être. Sie darf aber auch nicht die Erzwingungsthematik auf Dauer stellen, denn dies offenbart ihre Durchsetzungsschwäche. Schließlich darf sie ihre Probleme nicht von der Landesherrschaft lösen lassen, denn so verführt sie diese zur Einmischung und Nivellierung der religiös legitimierten eigenrechtlichen
113 Diese Strategie verficht, wie erwähnt, auch stets das Neu-isenburger Konsistorium, denn das Rechtssystem der Landesherrschaft gilt als rückständig und drakonisch; es vernichtet leicht Existenzen. Ibid. Petasch, Gerichtsbuch (wie Anm. 33), S. 52f.
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Freiheiten. Mit alldem spielt L'Isle und erweist sich damit als zerstörerisch. Indem er erst durch den Eingriff der Hanauer Kanzlei als Repräsentanz der einbettenden Landesherrschaft unterworfen wird, offenbart und verstärkt er die Durchgriffschwäche sowohl des Frankfurter als auch des Hanauer Konsistoriums. In dieses Modell paßt auch das eigentliche Ende des Konflikts mit dem Tod de L'Isles in Frankenthal: Es ist fraglich, ob das Frankenthaler Konsistorium, das in derselben pfälzischen Synode organisiert war, den Verfolgungen der Hanauer gegenüber völlig resistent hätte bleiben können, wäre L'Isle noch länger am Leben geblieben. So aber konnte seine unbescholtene Tochter problemlos den dortigen Pfarrer heiraten und in die ortsansässige Honoratiorenschaft hineinwachsen. Es ist jedoch zu vermuten, daß die kirchenrechtliche Struktur der Frankenthaler wallonischen Kirche, in der die französische Kirchenordnung keine Rolle spielte und die Pfarrer unter relativ direkter Aufsicht der landesherrlichen Kirche standen, L'Isle geschützt und dem örtlichen reformierten Pfarrer einen gewissen Handlungsspielraum verschafft hätten. 3 . 7 . Gesetzesgemeinschaft und Radikalisierung des Eigenrechts
Der Verlauf
des Konflikts zeigt deutlich, daß die ursprüngliche Gesinnungsgemeinschaft längst gespalten ist: Auf Seiten des Konsistoriums steht eine Minderheit aktueller und ehemaliger Amtsinhaber, während L'Isle sich im Schutz der eher kirchenfernen teilsäkularisierten Mehrheit sieht.114 Diese fürchtet das Konsistorium und präpariert sie, wenn sie sie zur Absicherung seiner Entscheidungen einberufen muß, sorgfältig. Allerdings macht L'Isle den naiven Fehler, die Stammtischzustimmung seiner Umgebung für die Vorstufe einer Revolte gegen das Konsistorium zu halten. Zur Aufrechterhaltung seiner prekären, nichtständisch und protodemokratisch strukturierten Selbstverwaltung bemüht sich das Konsistorium folgerichtig, aber letztlich vergeblich, um die Wahrung der Gesetzesherrschaft, also um die äußere Aufrechterhaltung der kircheneigenen Ordnung und Jurisdiktion. Um den Anfängen einer Ordnungsauflösung entgegenzuwirken, setzt es auf die rigorose Befolgung des eigenen Regelwerks, duldet keine Abweichler und radikalisiert die Rechtsbestimmungen. So wird aus der eher sanften Regelung der Discipline des Eglises Réformées de France, daß Leute, die hier zum Gottesdienst und dort zum Abendmahl gingen, getadelt werden und sich an die nächste und bequemste Kirche halten sollen115, eine rigide Vorschrift, die kei-
114 L'Isle verlangt, wie bereits erwähnt, daß er seine Sache vor der Hausväterversammlung vertreten darf, sogar später, vor der Versammlung der Hausväter aller regionalen Exilkirchen. Das Konsistorium hingegen vermeidet und verschiebt nach Möglichkeit solche Foren und sichert sich seinerseits vor der Gruppe ehemaliger kirchlicher Amtsträger ab, die nur teilweise erscheinen. 115 „& se rageront à la plus prochaine, & plus commode, par l'avis du Colloque." DERF, Chapitre Douzième. De la Cene, Art. ΧΙΠ, in: Mengin, Das Recht (wie Aran. 53), S. 160.
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nerlei zeitlichen Übergang von Wohnen und Kirchenzugehörigkeit dulden will, nicht einmal in Zeitnähe eines Umzugs.116 In Hanau versucht man sich zunächst unter milderen politischen Verhältnissen in der Strategie der Nachgiebigkeit und des kleinsten gemeinsamen Nenners: Der Konflikt ist weit, L'Isles Auftreten offenbar suggestiv; man will ihn als Lehrer dort gewinnen. Beide Strategien dienen der Aufrechterhaltung der Gesetzesgemeinschaft; beide führen notwendig in die Säkularisierung. Allerdings reagiert das Hanauer Konsistorium auch hart, sobald L'Isle dessen Autorität antastet. Spätestens nach dem Erscheinen der Schmähschrift hätte sich das Frankfurter Konsistorium auch an ein städtisches oder landesherrschaftliches Gericht wenden können, doch dies hätte die ohnehin gefährdete religiöse Autonomie weiter unterminiert. Die Schikanen in Frankfurt gegen reformierte Schulen sind unstrittig. Dennoch muß im Fall Mittallat der Verdacht aufkommen, daß der Protokollant hier zumindest irrt, wenn nicht intrigiert. Der Fall de L'Isle wirft auch ein Licht auf die unterschiedliche Radikalisierung der exilkirchlichen Autonomiebestrebungen, je nach Bekenntnis der einbettenden Landesherrschaft. Obwohl Frankfurt und Hanau sich an der französischen Kirchenordnung orientieren bzw. an den Middelburgher Artikeln, neigen die Hanauer dazu, Konflikte in die französisch-reformierte Zivilverwaltung abzudrängen. Geradezu bereitwillig wendet das Hanauer französischreformierte Consistoire immer wieder an den französisch-reformierten Magistrat der Neustadt, um seine Disziplinprobleme wie von einem Büttel lösen zu lassen117, wohingegen ihre Frankfurter Amtsbrüder unbedingt ihre Konflikte vor der lutherischen Stadtregierung verheimlichen wollen. Grundsätzlich jedoch behandeln sie den Konflikt als Ehrverletzung einer Obrigkeit, also ein weltliches Problem als religiöses.118 Der Fall endet vorläufig mit einem formellen Sieg des Selbstverwaltungsorgans. Der kurzfristig weitere Verlauf zeigt, daß dies ein rein formaler Sieg der kirchlichen Autorität war, auch weil die kirchliche Öffentlichkeit, keineswegs
Eine ähnliche Radikalisierung des Eigenrechts zeigt die Praxis des Neu-isenburger Konsistoriums, indem es grundsätzlich bei erwiesenem Geschlechtsverkehr vor der Trauung das Aufgebot der Brautleute verweigert. In der DERF heißt es hierzu nur, in solchen Fällen solle das Konsistorium sofort zur Heirat schreiten und dabei die Feierlichkeiten gestatten, die es für angemessen halte. Ibid. DERF, Chapitre XVIII. Des Mariages, Art. XXV., in: Mengin, Das Recht (wie Anm. 53), S. 169. In den Akten des Hanauer Konsistoriums gibt es zahlreiche Hinweise darauf, daß der französisch-reformierte Magistrat der Neustadt vom dortigen Konsistorium als Erfüllungsgehilfe seiner geringen Durchgriffsmacht benutzt wird, eine Praxis, die, wie der Fall de L'Isle gezeigt hat, durch den Konfessionswechsel des Grafen und seine absolutistischen Interessen zunehmend zurückgehen dürfte. NWGH, Protocol de nostre E'glise Depuis L'an 1658 Jusques'a L'an 1677... No 3, unpaginiert, passim. 118 Daher reagieren die Frankfurter Deputierten vor der Hanauer Kanzlei auch besonders verärgert, als man sie nicht als Obrigkeit, sondern als gleichberechtigte Partei behandelt. ISG Frankfurt a.M., FRG 31, S. 44ff. 116
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mehr geschlossen hinter dem Konsistorium steht. In dieser Situation, in der sich die Kirchenoberen für eine strenge Observanz des Eigenrechts entschieden haben, um ihre religiös gegründete Autonomie zu retten, schwächt jeder interne Konflikt ihre geringe Durchsetzungsmacht. Jede Verschärfung der Disziplinierung wird gerade die Individuen zum Widerstand anregen, die am weitesten bereits die methodische Lebensführung internalisiert haben und ihre eigenen Normen befolgen wollen - zunächst im wirtschaftlichen und privaten Raum. Der Konflikt kann sich zu einer jahrelangen und breit streuenden Krise auswachsen, weil das aus religiösen Gründen demokratisch und leistungsethisch legitimierte Gremium keine Amtsautorität hat und die religiöse Basis seiner Autorität mit zunehmendem eigenlogischem Säkularisierungsdruck verdampft. 4. Zusammenfassung Die moderne proto-demokratische, antiständische, insuläre Eigenherrschaft der Reformierten in der lutherisch regierten Reichsstadt Frankfurt ist die für die damalige Zeit strukturell modernste auf Frankfurter Territorium. Ihre Eigenrechtspraxis ist von Anfang an prekär, kann sich deshalb dauerhaft zunächst nur im benachbarten, reformiert regierten Bockenheim etablieren. Der eigenrechtliche Kern, die religiös legitimierte rigorose Kirchenzucht, formiert die autonome Lebensführung, billigt auf dieser Stufe jedoch dem Individuum noch keine Autonomie zu. Die internen, religiös induzierten Widersprüche der französisch-reformierten Selbstverwaltung führen langfristig in die Säkularisierung. Die Dynamik dieses Prozesses wird durch die Einbettung in die lutherisch dominierte Frankfurter Stadtherrschaft verschärft. Der Fall de L'Isle zeigt, wie sich aufgrund der geschilderten Prozesse eine zunehmende Individuierung119 und Privatisierung der Religion anbahnt und die Religionsgemeinschaften die Kontrolle über ihre Mitglieder verlieren. Sie müssen sich zunehmend vor allem aus den Bereichen zurückziehen, mit denen sich säkulare/wirtschaftliche und sakrale Interessen vermischen. Sie werden jedoch andererseits durch ihre Sektenexistenz dazu gezwungen, sich gerade damit verstärkt auseinanderzusetzen. Wie der Fall de L'Isle zeigt, bleibt in diesen Konflikten um die Aufrechterhaltung der religiös gegründeten institutionellen Autonomie die Autonomie des Einzelnen zunächst auf der Strecke.
119 Während der Begriff ,Individualisierung' nur ein beliebiges Phänomen, auch ein Blütenblatt oder eine Reißzwecke, als in Ort und Zeit verschieden von den übrigen Exemplaren zweifelsfrei definiert, bezieht sich das Wort ,Individuierung' nur auf die Lebenspraxis der Person, die, sprachfähig und daher zur Reflexion begabt, ihre Lebenskrisen durch Entscheidungen meistert und dadurch ihre eigene Identität entwickelt angesichts einer offenen Zukunft und der irdischen Begrenztheit ihrer Existenz.
Die Grenzen des Sagbaren und des Machbaren Robert Brandt Die Grenzen des Sagbaren und des Machbaren. Anmerkungen zur Rechtsgeschichte des Frankfurter „Zunfthandwerks" während der Frühen Neuzeit Aus dem weiten Feld der Frankfurter Handwerksgeschichte sollen in diesem Aufsatz drei Aspekte vorgestellt werden, welche für die Rechtsgeschichte der Handwerksmeister sowie für die historiographische Beschäftigung mit dem Thema zentral sind. Zunächst wird auf die enge Verzahnung der Rechtsgeschichte des Handwerks mit der politischen Entwicklung der Stadt hingewiesen; der Konflikt zwischen Handwerksmeistern und Rat bzw. Stadtadel prägte ganz maßgeblich die Rechtsgeschichte des Frankfurter Handwerks zwischen Mittelalter und frühem 19. Jahrhundert. Zweitens soll herausgestellt werden, daß dieser Konflikt weitreichende Konsequenzen für die Überlieferung des Handwerks hat und daß es um das, was Arnold Esch vor einigen Jahren als „ÜberlieferungsChance" bezeichnet hat, bei den Frankfurter Handwerksmeistern eher schlecht bestellt ist.1 Abschließend sollen noch einige skeptische quellenkritische Anmerkungen zu der Überlieferung gemacht werden, aus der für gewöhnlich die Lebenswelt des Frankfurter Handwerks rekonstruiert wird. Dabei soll vor allem auf Probleme bei der Auswertung von Verhörprotokollen hingewiesen werden, die man vielleicht in der Frage zusammenfassen könnte: Grenzen des Sagbaren und Machbaren - Wer spricht eigentlich für die Geschichte des Frankfurter Handwerks?2 Zwischen dem 14. Jahrhundert und dem Ende der Reichsstadt 1806 wurde die Rechtsgeschichte des Frankfurter Handwerks ganz entscheidend geprägt von dem Konflikt zwischen den Handwerksmeistern auf der einen und dem von den Geschlechtern bzw. dem Patriziat dominierten Rat auf der anderen Seite.3 Eine erste Peripetie in dieser Auseinandersetzung stellen bereits die Bürgerund Zunftunruhen Mitte des 14. Jahrhunderts dar. Nach ihrer Niederlage in diesem gut zwei Jahrzehnte andauernden Konflikt verloren die Institutionen des Handwerks nach 1377 entscheidende Teile ihrer Mitte des 14. Jahrhunderts I
1 Arnold Esch, Überlieferungs-Chance und Überlieferungs-Zufall als methodisches Problem des Historikers, in: HZ 240,1985, S. 529-570. Für Lektüre und Diskussion des vorliegenden Aufsatzes danke ich Thomas Buchner (Linz) und Gabriele Marcussen-Gwiazda (Frankfurt a.M.). 2 Diese Frage nimmt natürlich, das dürfte den Lesern nicht verborgen geblieben sein, Anleihen sowohl in ihrer Semantik als auch bei dem methodischen Problem, das benannt wird, bei einem ganz anderen Autor: Willibald Steinmetz, Das Sagbare und das Machbare. Zum Wandel politischer Handlungsspielräume, England 1780-1867, Stuttgart 1993. Vgl. auch Achim Landwehr, Geschichte des Sagbaren. Einführung in die historische Diskursanalyse, Tübingen 2001. 3 Die stadtadligen Familien wurden im Mittelalter die „Geschlechter" genannt, der Begriff „Patriziat" kam unter dem Einfluß des Humanismus „etwa im 16. Jahrhundert" auf (Andreas Hansert u.a., Aus Auffrichtiger Lieb Vor Franckfurt. Patriziat im alten Frankfurt, Frankfurt a.M. 2000, S. 14). Das Wort „Obrigkeit" als Selbst- und Fremdbeschreibung dieser den Rat dominierenden Familien ist anscheinend seit der Zeit um 1500 gebräuchlich, vgl. beispielsweise die Reformationsartikel von 1525, in: Günther Franz (Hg.), Quellen zur Geschichte des Bauernkrieges, Darmstadt 1963, S. 455-461.
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noch schriftlich niedergelegten Autonomie. Zwar gab es weiterhin die innerhalb der Bürgerschaft privilegierte Gruppe der ratsfähigen Handwerke, die bis 1806 die dritte Bank des Rates besetzten sollte - es handelte sich dabei um: Bäcker, Metzger, alle Feuerhandwerke, Schuhmacher und Wollweber mit je zwei Sitzen; mit je einem Sitz Fischer, Gärtner, Kürschner und Löher. Doch war deren Einfluß gegenüber den beiden oberen, von den Geschlechtern bzw. dem Patriziat besetzten Bänken doch eher marginal. Seit 1377 waren die Zünfte, geht man nach den normativen Quellen, „in allem, was sie taten und ließen, von der Zustimmung des Rates abhängig"; der Rat verordnete seitdem sämtliche neuen HandWerksartikel!4 Zwar durften die Zünfte ihre Vorsteher selber wählen, doch bekam jedes Handwerk Ratsherren, „zugeordnet, die in allen wichtigen Angelegenheiten entscheidend mitzureden hatten"5. Gebote der Meister durften nur auf Geheiß oder mit Wissen des Rates abgehalten werden, Beschlüsse der Zünfte erlangten nur mit Einwilligung des Rates Gültigkeit; die Zunftgerichtsbarkeit wurde stark zugunsten des Rates beschnitten. Aufnahme in die Zunft sollte nur mit Erlaubnis des Rats und nach vorheriger Erlangung des Bürgerrechts erfolgen; vor der Aufnahme in die Zunft und dem Erwerb des Bürgerrechts hatten in der Stadt ansässig werdende Handwerker zukünftig dem Rat einen Treueeid zu schwören. Weitergehende Forderungen nach geänderter Zusammensetzung und Bestellung des Rates, wie sie noch während der Unruhen gestellt worden waren, standen nach 1377 zunächst einmal nicht mehr zur Debatte. Und obwohl die Gruppe der ratsfähigen Handwerke eine von drei Bänken des Rats besetzen konnte, läßt sich in Frankfurt sicher nicht von einer „politischen Zunft" sprechen, welche die spätmittelalterliche Stadt prägte.6
Benno Schmidt (Hg.), Frankfurter Zunfturkunden bis zum Jahre 1612, Frankfurt a.M. 1914, S. 17-92, S. 44. Vgl. außerdem: Georg Ludwig Kriegk, Frankfurter Bürgerzwiste und Zustände im Mittelalter, Frankfurt a.M. 1862, S. 22-80, S. 354-404. Eugen Elkan, Das Frankfurter Gewerberecht von 1617-1631. Ein Beitrag zur Geschichte des Gewerberechts im 17. Jahrhundert, Tübingen 1890, S. 1-52. Emmanuel Fromm, Frankfurts Textilgewerbe im Mittelalter, in: AFGK 1899 (Dritte Folge 6.), S. 1-160, S. 2-44. Friedrich Bothe, Geschichte der Stadt Frankfurt am Main, Frankfurt a.M. 1913, S. 76-82, S. 115-125, S. 128f., S. 146-151, S. 178-182. Michael Rothmann, Die Frankfurter Messen im Mittelalter, Stuttgart 1998, S. 57-60. Felicitas Schmieder, Einigkeit und Adelsferne. Überlegungen zu Entstehung und Abgrenzung der Frankfurter städtischen Oberschicht (im Vergleich mit rheinischen Bischofsstädten), in: Heribert Müller (Hg.), "(...) Ihrer Bürger Freiheit". Frankfurt am Main im Mittelalter. Beiträge zur Erinnerung an die Frankfurter Mediaevistin Elsbet Orth, Frankfurt a.M. 2004, S. 75-88, S. 85. 5 Frank Göttmann, Die Frankfurter Bäckerzunft im späten Mittelalter. Aufbau und Aufgaben städtischer Handwerkergenossenschaften. Frankfurt am Main 1975, S. 8-18, S. 9198 (Zitat 17). 6 Knut Schulz/Robert Giel, Die politische Zunft. Eine die spätmittelalterliche Stadt prägende Institution?, in: Wilfried Ehbrecht (Hg.), Verwaltung und Politik in Städten Mitteleuropas. Beiträge zu Verfassungsnorm und Verfassungswirklichkeit in altständischer Zeit, Köln u.a. 1994, S. 1-20. Falsch ist der Hinweis von Schulz/Giel, daß es in Frankfurt „überhaupt zu keiner verfassungsmäßig verankerten Mitwirkung der Zünfte gekommen" sei (Ebd., S. 19. Der gleiche Fehler nochmals bei Knut Schulz, Art. Zunft, -wesen, 4
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In den großen innerstädtischen Unruhen im Kontext der Reformation sowie während des Fettmilch-Aufstandes Anfang des 17. Jahrhunderts versuchten die Handwerke nun Teile ihrer Autonomie zurückzuerlangen. So enthielten beispielsweise die Frankfurter Reformations-Artikel von 1525 auch die Forderung, das „mindern oder mehren" der Handwerksartikel durch den Rat an „Willen und Wissen ein Hantwerks" zu binden; auch sollte Kommunikation ohne obrigkeitliche Kontrolle möglich sein und deshalb nur das Handwerk die „Macht habe", die an sie gerichteten Briefe „ufzutun und zu leßen". Außerdem wurde die Einhaltung des Zunftzwangs angemahnt bzw. die Aufnahme von unqualifizierten Kandidaten ins Handwerk kritisiert: Zukünftig sollte wirklich nur aufgenommen werden, wer „reddlich ausgelernet und mit sirtner Hand [das jeweilige Handwerk, R. B.] bewißet"7. Während des Fettmilch-Aufstandes 1612-1614, d.h. während der vor allem vom Handwerk getragenen innerstädtischen Unruhen, die gegen den Stadtadel und gegen die jüdische Minderheit gerichtet waren, gingen die Zünfte sogar noch einen Schritt weiter. Sie forderten nicht nur Selbstverwaltung für ihre Institutionen zurück, sondern konnten für kurze Zeit sogar ihr eigenes Vergesellschaftungs- und Ordnungsmodell auf die übrige Bürgerschaft übertragen. Im Bürgervertrag von 1612/13 wurde gleich im dritten der 71 Paragraphen festgehalten, daß zukünftig alle Bürger in „gewisse Gesellschaften und Zünfte" zu organisieren waren.8 Mit der Niederschlagung des Aufstandes 1614, die nur durch das entschiedene Eingreifen der kaiserlichen Seite möglich war, kam der im Spätmittelalter einsetzende Prozeß der Entmachtung und Kontrolle in gewisser Weise zu einem „Ende", als der Kaiser nämlich sämtliche Zünfte aufheben ließ und ihr gesamtes Vermögen sowie alle schriftlichen
-recht A. Westen I. Allgemein und deutscher Bereich, in: LexMA 9, Sp. 686-91, S. 688f.). 7 Die Artikel der Frankfurter Gemeinde, in: Franz, Quellen (wie Anm. 3), S. 455-461, S. 459f. Zu den Artikeln und den unterschiedlichen Versionen des Textes vgl. Rudolf Jung, Zur Entstehung der Frankfurter Artikel von 1525, in: AFGK 3. F. 2, 1889, S. 198208. Marita A. Panzer, Sozialer Protest in süddeutschen Reichsstädten 1485 bis 1525. Anhand der Fallstudien Regensburg, Augsburg/Frankfurt a.M./München 1982, S. 192255, S. 315-32 (S. 205, Anm. 1: Liste der unterschiedlichen Drucke und Fassungen der Artikel). Zur Reformation in Frankfurt vgl. Kriegk, Bürgerzwiste (wie Anm. 4), S. 137203. Bothe, Geschichte (wie Anm. 4), S. 266-324. Isidor Kracauer, Geschichte der Juden in Frankfurt a.M. (1150-1824), Bd. 1, Frankfurt a.M. 1925, S. 284-308. Sigrid Jahns, Frankfurt am Main im Zeitalter der Reformation (um 1500-1555), in: Frankfurter Historische Kommission (Hg.), Frankfurt am Main. Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, Sigmaringen 1991, S. 151-204. 8 Kommissionsabschied oder Bürgervertrag 24. Dec. 1612/3. Januar 1613, in: Friedrich Bothe (Hg.), Frankfurts wirtschaftlich-soziale Entwicklung vor dem Dreissigjährigen Kriege und der Fettmilchaufstand (1612-1616), Zweiter Teil: Statistische Bearbeitungen und urkundliche Belege, Frankfurt a.M. 1920, S. 492-510, S. 496 und S. 501. Matthias Meyn, Die Reichsstadt Frankfurt vor dem Bürgeraufstand von 1612 bis 1614. Struktur und Krise, Frankfurt a.M. 1980, S. 68. Zum Fettmilch-Aufstand vgl. außerdem Bothe, Geschichte (wie Anm. 4), S. 409-138. Kracauer, Geschichte (wie Anm. 7), S. 358-398. Robert Brandt u.a., Der Fettmilch-Aufstand. Bürgerunruhen und Judenfeindschaft in Frankfurt am Main 1612-1616, Frankfurt a.M. 1996.
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Robert Brandt Aufzeichnungen konfisziert wurden. Die vom Rat nach 1616 neu gegründeten Institutionen des Handwerks waren schließlich nur noch Berufsverbände mit begrenzten ökonomischen Regelungskompetenzen und minimaler Selbstverwaltung; die Vorsteher der Handwerke, die sogenannten Geschworenen, wurden seitdem vom Rat ernannt.9 Und während bis 1616 noch eine partielle gerichtliche Autonomie der Zünfte existiert hatte, über deren genaues Ausmaß und die dahinter stehenden Praktiken sich die Forschung mangels Quellen nur ansatzweise im klaren ist10, wurden nach dem Aufstand die letzten Reste handwerksinterner Gerichtsbarkeit zunächst einmal beseitigt; in den unmittelbar nach 1616 vom Rat erlassenen neuen Handwerksordnungen wurde das Richten und Strafen untereinander ausdrücklich ausgeschlossen.11 In den Artikeln aus dem 18. Jahrhundert dagegen wird eine handwerksinterne BagatellElkan, Gewerberecht (wie Anm. 4), S. 53-69, S. 139-145 (Kaiserliches Kommissionsdekret von 1616). Die Auflösung der Zünfte hatte anscheinend auch eine interessante Zäsur in Semantik und Pragmatik der Obrigkeit zur Folge: Der Rat und seine Ämter achteten seitdem peinlichst darauf, daß in den Texten nicht mehr von „Zunft" bzw. „zünftig", sondern nur noch von „Handwerk" in der disziplinierten Variante gesprochen wurde. 10 Die Literatur zur Handwerksgerichtsbarkeit vor 1616 ist widersprüchlich, vgl. beispielsweise: Göttmann, Bäckerzunft (wie Anm. 5), S. 27-33. Bruno Herberger, Die Organisation des Schuhmacherhandwerks zu Frankfurt am Main bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, wirt.-sozwis. Diss., Frankfurt a.M. 1931, S. 56 u. S. 127. Wilhelm Lüttecke, Das Benderhandwerk zu Frankfurt am Main bis zur Einführung der Gewerbefreiheit, Borna/Leipzig 1927, S. 35, S. 37, S. 40, S. 81. Georg Spaett, Das Frankfurter Fischereigewerbe als Beitrag zur Zunftgeschichte, Grimberg i.H. 1927, S. 48-54, S. 81. Emil Wolff, Zur Geschichte des Braugewerbes in Frankfurt a. M. vom Jahre 1288 bis 1904, Nürnberg 1904, S. 14. Vielleicht am kompaktesten sind die Ausführungen zur handwerksintemen Gerichtsbarkeit bei Fromm, Textilgewerbe (wie Anm. 4), S. 13 u. S. 158: Auch für die Textilgewerbe liegen, wie für die übrigen Handwerke, überwiegend nur normative Quellen (Ordnungen, Urkunden) vor. In dieser eher disparaten Uberlieferung ist die Zunftgerichtsbarkeit nach 1377 kaum noch wahrnehmbar. Die Strafen für alle denkbaren gewerblichen Vergehen waren im Zunftbuch festgelegt und die auch vom Rat bestätigten Zunftvorsteher urteilten auf der Grundlage dieser Normen. Wem diese Urteile nicht „paßten", der konnte sich danach an den Rat wenden. In strafrechtlich relevanten Vorfällen, beispielsweise nach Schlägereien auf der Zunftstube, konnte ein Meister gleich beim Rat sein Recht suchen und die Zunft durfte ihm den unmittelbaren Weg zur höheren Instanz nicht verstellen. Auch gingen nach 1377 die Strafgefälle nur noch zur Hälfte an die Zunft, der übrige Teil fiel an den Rat. Nur bedingt hilfreich sind in diesem Zusammenhang die Ausführungen in einer neueren rechtshistorischen Dissertation von Bettina Günther, Die Behandlung der Sittlichkeitsdelikte in den Policeyordnungen und der Spruchpraxis der Reichsstädte Frankfurt am Main und Nürnberg im 15. bis 17. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2004, S. 39: Die Autorin mixt wahllos einige wenige Frankfurter Quellen mit älterer Handwerksliteratur (Rudolf Wisseil), wobei ihr auch noch ein Fehler unterläuft (Ebd. verwechselt sie die Bäckerordnungen von 1355 und 1377 und damit den Zeitpunkt, an dem die Gerichtsautonomie der Handwerke eingeschränkt wurde. Vermutlich hat sie diese beiden Quellen - ohne es anzumerken - aus Rudolf Wisseil, Des alten Handwerks Recht und Gewohnheit. Zweite, erweiterte und bearbeitete Ausgabe, hg. v. Ernst Schraepler, Bd. 2, Berlin 1974, S. 187 übernommen, der aber die beiden Ordnungen korrekt zu unterscheiden weiß). 11 Vgl. beispielsweise die Ordnungen der Schuhmacher von 1617, Goldschmiede von 1617 und Feuerhandwerker von 1623, abgedruckt bei Elkan, Gewerberecht (wie Anm. 4), S. 146-183 (S. 147, S. 157 u. S. 174).
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Die Grenzen des Sagbaren und des Machbaren gerichtsbarkeit wieder erwähnt. Ob und gegebenenfalls in welchem Umfang diese Konfliktregulierung praktiziert wurde, muß an dieser Stelle offen bleiben, da sie in den Quellen kaum Spuren hinterlassen hat.12 Während des Verfassungskonflikts im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts starteten die Handwerke abermals einen Versuch, sich der obrigkeitlichen Kontrolle und Disziplinierung zu entledigen. In den Gravamina an die kaiserlichen Kommissare tauchen dabei die bekannten Forderungen auf, also: Satzungsautonomie statt „Mehren und Mindern" durch den Rat; Kommunikation ohne obrigkeitliche Kontrolle etc. Außerdem wurde die Wahl der Geschworenen durch die Meister verlangt sowie die Einrichtung einer von den Meistern selbst ausgeübten Handwerksgerichtsbarkeit. Lediglich bei der Auswahl der Geschworenen konnte ein Teilerfolg errungen werden: Das Handwerk durfte zukünftig drei Meister vorschlagen, aus denen der Rat den neuen Geschworenen auswählte, eine Praxis, welche die Frankfurter Handwerksmeister erst im Revolutionsjahr 1849 beenden und durch die freie Wahl ihrer Vorsteher ersetzen konnten.13 Will man an dieser Stelle ein vorläufiges Resümee ziehen, so kennzeichnete aus der Makroperspektive betrachtet - nicht Vielfalt oder Komplementarität, sondern Alternativlosigkeit die Rechtsgeschichte des Frankfurter Handwerks bis Anfang des 18. Jahrhunderts. Die Partikularrechte des Handwerks waren spätestens 1616 beseitigt und dem Gewalt- und Rechtsmonopol des Rates
12 Vgl. z.B. die Artikel der Perückenmacher von 1750, in: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt am Main (= ISG Ffm) Handwerkerbuch Nr. 86, 1-18, 8: Keine handwerksinterne Gerichtsbarkeit, straffällig Gewordene müssen die Geschworenen der Obrigkeit melden. Aber in Handwerkssachen dürfen die Geschworenen bei Strafen bis zu drei Gulden während des Meistergebots und bei offener Lade richten. Problematisch sind deshalb die Ausführungen bei Joachim Eibach, Frankfurter Verhöre. Städtische Lebenswelten und Kriminalität im 18. Jahrhundert, Paderborn u.a. 2003, S. 59, der - auf der Basis älterer Literatur - keine eigene Strafgerichtsbarkeit des Handwerks nach 1616 sieht. 13 Zum Handwerk während des Verfassungskonflikts ausführlich und mit Belegen: Robert Brandt, Autonomie und Schutz der „Nahrung", Bürgerrecht und Judenfeindschaft. Das Frankfurter Innungshandwerk während des Verfassungskonflikts 1705-32, in: Mark Häberlein/Christoph Jeggle (Hg.), Vorindustrielles Gewerbe. Handwerkliche Produktion und Arbeitsbeziehungen in Mittelalter und Früher Neuzeit, Konstanz 2004, S. 229-248. Zu dem neuen Modus bei der Wahl der Geschworenen seit 1849 vgl. ByungJik Ahn, Handwerkstradition und Klassenbildung. Eine sozialgeschichtliche Studie zum Verhältnis von Handwerksmeistern und -gesellen in Frankfurt am Main 1815-1866, phil. Diss., Bielefeld 1991, S. 41. Bei dem Konflikt zwischen Handwerk und Stadtadel um Macht und Status in der Stadt gelang es den Meistern in dem langen Zeitraum zwischen 14. und frühem 19. Jahrhundert bezeichnenderweise nur in einer Krisensituation um 1400, als die Unabhängigkeit der Stadt in Gefahr war, aus ihren Reihen Bürgermeister zu stellen; in der übrigen Zeit besetzten immer nur Vertreter des Patriziats die beiden Bürgermeisterstellen. Vgl. dazu Georg Ludwig Kriegk, Bürgerzwiste (wie Anm. 4), S. 81-103. Ders., Deutsches Bürgerthum im Mittelalter. Nach urkundlichen Forschungen und mit besonderer Beziehung auf Frankfurt a. M., 2. Bde., Frankfurt a.M. 1886, ND 1969, Bd. I, S. 479-507 (Liste der Bürgermeister 1311-1866). Bothe, Geschichte (wie Anm. 4), S. 146-151, S. 175.
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unterworfen. Man hat es nicht mit einer Vielfältigkeit der Gerichts- und Rechtslandschaft zu tun, sondern mit einer dominanten Obrigkeit und mit eingespielten Instanzenzügen. Wenn man unbedingt den modernen Staat mit seiner scheinbar effektiveren Normdurchsetzung und Strafpraxis als Maßstab wählen möchte14, könnte man im Anschluß an den Call for paper für die Tagung „Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft" festhalten, daß „die Entwicklung hin zum modernen Staat, zur exklusiven Geltung positiven Rechts und zu klar geordneten Zuständigkeiten der Foren" für das Frankfurter Handwerk anscheinend schon recht früh abgeschlossen war. 15 Seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert und mit Beginn des Verfassungskonflikts liegt aber eine wesentlich dichtere Überlieferung für das Handwerk vor als für die beiden Jahrhunderte zuvor. Und wenn die Proportionen der Überlieferung die Proportionen der vergangenen Wirklichkeit nicht ganz verzerren, dann dürfte im Kontext des Verfassungskonflikts ein Strategiewechsel im Handwerk eingeleitet worden sein. Denn seitdem wurden sowohl von den ca. 50 „Zunfthandwerken", die sich für das 18. Jahrhundert nachweisen lassen, als auch in Individualklagen einzelner Meister wesentlich öfter als zuvor Konflikte vor den Rat und die anderen gerichtsähnlichen Institutionen gebracht, um dort, häufig durch Supplikationen eingeleitet, vornehmlich ökonomische Interessen geltend zu machen. Prozeßgegenstand war dabei durchweg das, was in der Geschichtsschreibung meist etwas vorschnell und ohne genauer auf die Quellen zu schauen als „Nahrungsschutz" bezeichnet wird: also Fragen des Marktzugangs und der Marktkontrolle, der Preis- und Qualitätskontrolle; Konflikte um illegale Importe, Abgrenzung von Arbeitsfeldern; der Zugang zum Handwerk; Fragen der Ausbildung; Witwenrecht etc. pp. - also all das aus der vormodernen Ökonomie, was vielleicht angemessener mit Selbsterhaltung, ökonomischem Interesse und „Kampf um Anerkennung" umschrieben werden kann als mit „Nahrungsschutz".16 Zugleich läßt sich mit Beginn des Verfassungskonflikts - neben den schon seit dem 16./17. Jahrhundert vor dem Reichskammergericht in Wetzlar geführten Prozessen - eine größere Zahl an Gerichtsverfahren nachweisen, welche die Frankfurter Handwerke vor dem Reichshofrat zur Durchsetzung ihrer Forderungen anstrengten bzw. mit denen sie ihre innerstädtische Ohnmacht aus14 Skeptische Bemerkungen zur vermeintlichen Modernität moderner Staaten sowie den vielleicht gar nicht so defizitären strukturellen Vollzugsdefiziten frühneuzeitlicher Staaten bei Karl Härter, Soziale Disziplinierung durch Strafe? Intentionen frühneuzeitlicher Policeyordnungen und staatliche Sanktionspraxis, in: ZHF 26, 1999, S. 365-379, S. 369f. 15 Call for papers, Die Reichsstadt Frankfurt als Rechts- und Gerichtslandschaft, 5. Tagung des Netzwerks Reichsgerichtsbarkeit, 1./2. Dezember 2005, in: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de. 16 Robert Brandt/Thomas Buchner (Hg.), Nahrung, Markt oder Gemeinnutz. Werner Sombart und das vorindustrielle Handwerk, Bielefeld 2004. Zu den Begriffen Anerkennung und Selbsterhaltung vgl. Axel Honneth, Kampf um Anerkennung. Zur moralischen Grammatik sozialer Konflikte, Frankfurt a.M. 1992.
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zugleichen versuchten. Bei fast allen der über einhundert zwischen 1712 und 1805 in Wien geführten Prozessen waren die oben erwähnten ökonomischen Konflikte Gegenstand der Klage.17 Noch während der Verfassungskonflikt lief und durch das Eingreifen Wiens die Waage zugunsten der Bürger auszuschlagen begann, eigneten sich die Handwerke mit der Anrufung der Wiener Reichsjustiz ein neues politisches Instrument an, das zuvor im Kontext des Verfassungskonflikts nur von der Elite des Stadtbürgertums genutzt worden war. Die Meister versuchten also die für rechtliche Normen konstitutive Ambivalenz zu ihren Gunsten zu nutzen: Das Frankfurter Recht unterwarf die Handwerke einer umfassenden Beobachtung und Kontrolle, es überwachte und kontrollierte zugleich aber auch die Obrigkeit, welche die Normen erlassen hatte. Obwohl die Prozesse vor dem Reichshofrat, soweit man das in den Wiener Quellen erkennen kann, alle verloren gingen, dilatorisch behandelt oder gar nicht entschieden wurden, dürfte der Reichshofratsprozeß im 18. Jahrhundert auch in Frankfurt phasenweise den offenen innerstädtischen Konfliktaustrag zwischen Obrigkeit und Untertanen ersetzt haben.18 Betrachtet man nun die Handwerksprozesse aus dem 18. Jahrhundert näher, die geschätzt 3—4 000 Akten im Institut für Stadtgeschichte ausmachen19, so lassen sich auch für Frankfurt etliche Praktiken, Mentalitäten und säkulare Trends nachweisen, welche von der internationalen Forschung - auf unterschiedlicher konzeptioneller Grundlage - als typisch für das vormoderne Rechtswesen Europas herausgestellt worden sind: also u.a. Verrechtlichung innerstädtischer Konflikte; Justiznutzung durch die Untertanen; der Siegeszug von Schriftlichkeit und juristischem Beweis; die „Unübersichtlichkeit" des Justizwesens - mit konkurrierenden Institutionen in zivilrechtlichen Fragen,
Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Archivbehelf 1 / 1 / 7 , fol. 232v-247v. Eine Auswahl dieser Prozesse ist aufgelistet bei Johann Anton Moritz, Versuch einer Einleitung in die Staatsverfassung derer Oberrheinischen Reichsstädte; Erster Theil: Reichsstadt Frankfurt, Frankfurt a:M. 1785, S. 143-183. Zu den Prozessen vor dem Reichkammergericht vgl. den Aufsatz von Robert Riemer in diesem Band sowie Inge Kaltwasser, Inventar der Akten des Reichskammergerichts 1495-1806, Frankfurter Bestand, Frankfurt a.M. 2000, S. 109ff. 18 Zur Justiznutzung vgl. allg. Martin Dinges, Justiznutzungen als soziale Kontrolle in der Frühen Neuzeit, in: Andreas Blauert/Gerd Schwerhoff (Hg·), Kriminalitätsgeschichte. Beiträge zur Sozial- und Kulturgeschichte der Vormoderne, Konstanz 2000, S. 503544. Zum Reichshofratsprozeß als Ersatz für den offenen innerstädtischen Konflikt vgl. die anschaulichen Beispiele bei Thomas Lau, Bürgerunruhen und Bürgerprozesse in den Reichsstädten Schwäbisch Hall und Mühlhausen in der frühen Neuzeit, Bern u.a. 1999. Die obigen pauschalen Ausführungen zu den Prozessen vor dem Reichshofrat basieren auf eigenen Nachforschungen im Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, die aber wegen der dortigen jahrelangen Umbauten und wegen der nicht gerade optimalen Arbeitsbedingungen nur im begrenzten Rahmen möglich waren. Die Erforschung der Prozesse des Frankfurter Handwerks vor dem Reichshofrat bleibt also ein Desiderat, wie überhaupt die vielen Frankfurt betreffenden Prozesse, die sich in den Wiener Findbüchern nachweisen lassen, noch der Untersuchung harren; zur Nutzung des Reichshofrats durch Frankfurter Kläger vgl. auch den Beitrag von Eva Ortlieb in diesem Band. 19 Vgl. ISG Ffm Repertorium Nr. 692. 17
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Robert Brandt mit institutioneller und personeller Überschneidung von Justiz und Verwaltung sowie strukturellen Vollzugsdefiziten. Bei ihren Anzeigen, Supplikationen und Prozessen hatten die Meister vor allem mit dem Rat und seinen Amtern zu tun sowie mit dem Jüngeren Bürgermeister und dem Schöffenrat; außerdem wurden auch, wie erwähnt, Wien oder Wetzlar eingeschaltet. 20 Nachweisen lassen sich auch Anfragen des Rats bei anderen Reichsstädten sowie Gutachten, die bei auswärtigen Juristenfakultäten eingeholt wurden. 21 Ausschlaggebend war bei all den ökonomischen Auseinandersetzungen meist das städtische Recht, mit dem Reichsrecht als Alternative wurde eher selten argumentiert. Wenn aber einzelne reichsrechtliche Normen ins Spiel gebracht wurden, beispielsweise aus der sogenannten Reichshandwerksordnung von 1731, dann konnte dies zum Teil rechtssetzende Folgen haben: Einer Gruppe von Bäckermeistern gelang es, u.a. mit Hinweis auf die Reichshandwerksordnung die Begrenzung der Gesellenzahl pro Werkstatt zu modifizieren; und im Metzgerhandwerk wurde 1745 auf der Grundlage des Reichsabschieds der langjährige Streit zwischen Alt- und Neuschirnern, also zwischen Metzgerhandwerk und unzünftigen Metzgern, durch die Vereinigung der beiden Gruppen beigelegt. 22 Die Artikel der Handwerkerbünde dagegen spielten
Dies alles wird hier ohne Nachweise ausgeführt. Details demnächst in meiner Dissertation über das Frankfurter Handwerk. Zur Frankfurter Justizwesen im 18. Jahrhundert vgl. Eibach, Frankfurter Verhöre (wie Anm. 12), S. 58-89. Barbara Dölemeyer, Frankfurter Juristen im 17. und 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 1993, S. XXXI-XXXVII. Erhard Zimmer, Die Zivilgerichtsbarkeit in Frankfurt am Main im 19. Jahrhundert; Erster Teil: Die Zeit von 1800 bis 1806, in: AFGK 57,1980, S. 87-123. Johann Georg Rössing, Versuch einer kurzen historischen Darstellung der allmählichen Entwickelung und Ausbildung der heutigen Gerichts-Verfassimg der Stadt Frankfurt am Mayn und ihres Gebietes, 2. Aufl., Frankfurt a.M. 1810. 21 Siehe dazu den Beitrag von Anja Amend in diesem Band. 22 Das „Reichs=Verordnung" zur „Abstellung der Handwercker-Mißbräuchen" wurde gleich 1731 vom Rat in Frankfurt veröffentlicht, vgl. Johann Conradin Beyerbach (Hg.), Sammlung der Verordnungen der Reichsstadt Frankfurt, 11 Bde., Frankfurt a.M. 17981818, Bd. 4, S. 707-731. Ein kaiserliches Kommissionsdekret vom April 1772, das abermals u.a. die Beschränkungen der Betriebsgrößen aufhob, wurde ebenfalls sogleich nach Erscheinen im Juni 1772 publiziert (Ebd., S. 732-737, S. 734f.) und im Juli desselben Jahres wurde mit Bezug auf das kaiserliche Patent auch noch einmal ausdrücklich der blaue Montag verboten. Im November 1789 veröffentlichte der Rat einen „Auszug aus dem Reichsschluß vom Jahr 1731", der an die Gesellen adressiert war und der deshalb nur die Artikel umfaßte, welche die Gesellen betrafen (Ebd., S. 738-743). Die Implementation der sogenannten Reichshandwerksordnung (RHO) bzw. ausgewählter Passagen der nach 1731 veröffentlichten Verordnungen ist nicht nur in Frankfurt unübersichtlich; bis heute fehlen dazu systematische Untersuchungen. Mit Hinweis auf die RHO konnte beispielsweise eine Gruppe Frankfurter Bäckermeister 1749/50 beim Rat durchsetzen, daß die Zahl der pro Werkstatt zugelassenen Gesellen von zwei auf drei erhöht wurde (ISG Ffm Handwerkerakte 3783). In den 1760er Jahren versuchte ein Frankfurter Zinngießer das gleiche - von sechs auf sieben Gesellen - und scheiterte dabei sowohl vor dem Rat als auch vor dem Reichskammergericht; das RKG beschloß, daß einzig der Rat aufgrund des kaiserlichen Kommissions-Dekrets von 1616 Handwerksartikel verändern durfte (ISG Ffm Reichskammergerichtsakten 919 - Κ 39/1827). Ähnlich wird übrigens im führenden Frankfurter Gesetzeskommentar des 18. Jahrhunderts argumentiert; vgl. Johann Philipp Orth, (...) Anmerkungen über die sogenante Reformation der Stadt 20
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anscheinend nach 1616, im Unterschied zum Mittelalter, nur noch eine marginale Rolle.23 Wichtig war vor allem auch das Bürgerrecht: Wenn beispielsweise Konkurrenten von den Märkten verdrängt werden sollten, die weder eine
Frankfurt am Main/dritte Fortsetzung (...). (Frankfurt am Main) 1751, S. 726-728, S. 727 und ders., Zusätze vieler (...) materien (...), welche zu einer weiteren erleuter- und ausführung (...) der meisten über die sogenante erneuerte Reformation der Stadt Frankfurt am Main gemachten (...) anmerkungen (...) dienen können (...). (Frankfurt am Main) 1775, S. 172: Rat darf RHO auch mehren und mindern, d.h. die RHO auf die lokalen Bedingungen anpassen. Zu den Veränderungen im Metzgerhandwerk vgl. Franz Lerner, Geschichte des Frankfurter Metzger-Handwerks, Frankfurt a.M. 1959, S. 259. Vgl. auch Friedrich Heinemann, Die Entwicklung des Sattlerhandwerks zu Frankfurt a.M. bis zur Einführung der Gewerbefreiheit, wirt.-sozwis. Diss., Frankfurt a.M. 1934, S. 34. Die Teile der RHO, welche auf die Disziplinierung der Gesellen zielten, wurden in Frankfurt letztlich, nach eher halbherzigen Versuchen während des 18. Jahrhunderts (u.a. Einführung der Kundschaften), ab 1800 mit der Zerschlagung der Gesellenschaften umgesetzt (vgl. Andreas Grießinger, Das symbolische Kapital der Ehre. Streikbewegungen und kollektives Bewußtsein deutscher Handwerksgesellen im 18. Jahrhundert. Frankfurt a.M./Berlin/Wien 1981, S. 255-285, S. 272-285). Die gegen die Meister und Zünfte gerichteten Abschnitte sind zum Teil schon 1616, abo lange vor Erlaß der RHO, in Frankfurt durchgesetzt worden (Zünfte als reine Berufsvertretung unter Leitung der Obrigkeit etc.). Unklar ist, ob die Passagen, die sich mit Wettbewerb beschäftigen, dem Rat nach 1731 als Handlungsanleitung dienten. 1764 ließ er untersuchen, inwieweit die RHO von den Handwerken befolgt wurde, insbesondere ob sie die Zahl der Gesellen und Lehrlinge beschränkten (Karl Bücher, Frankfurter Buchbinder-Ordnungen vom XVI. bis zum XIX. Jahrhundert, in: AFGK 1888, dritte Folge 1., S. 224-296, S. 235. Bücher gibt übrigens fälschlicherweise das Jahr 1765 als Terminus der Prüfung an, vgl. ISG Ffm Senatprotokolle 1764 p. 300v, 337v-338r und 364r). Es ist wahrscheinlich kein Zufall, daß Johann Anton Moritz, Versuch einer Einleitung in die Staatsverfassung derer Oberrheinischen Reichsstädte, Zweyter Theil: Reichsstadt Frankfurt, Frankfurt a.M. 1786, S. 281f. als Beleg für die Durchführung der RHO in Frankfurt nur Ratsverordnungen auflistet, die gegen die Gesellen gerichtet waren. Im Dalbergschen Reform- und Satellitenstaat wurden nach 1806 die einzelnen Handwerks-Ordnungen überarbeitet und neu publiziert. Die Artikel mit den Begrenzungen der Zahl der Hilfskräfte wurden dabei in den neuen Ordnungen „in der Regel" herausgelassen. Eine Ausnahme findet sich bei den Seilern, bei denen ein Artikel aufgenommen wurde (Art. 46), der die Begrenzung ausdrücklich aufhob, vgl. Artikel und Ordnung für das Seiler-Handwerk zu Frankfurt am Main, 1809, in: Sabine Hock (Hg.), Chronik der Frankfurter Seilerfamilie Reutlingen o.O. 1989, S. 33-47, S. 43. Wolfram Fischers Einschätzung von 1955 - die noch heute Konsens in der Handwerksforschung sein dürfte - , daß „außer dem Artikel über die Kundschaften (...) sich kaum eine Bestimmung des Gesetzes" (d.h. der RHO) durchgesetzt haben dürfte, wäre sicher noch einmal einer grundsätzlichen Überprüfung wert (Wolfram Fischer, Handwerksrecht und Handwerkswirtschaft um 1800, Berlin 1955, S. 25).23 Frank Göttmann, Handwerk und Bündnispolitik. Die Handwerkerbünde am Mittelrhein vom 14. bis zum 17. Jahrhundert, Wiesbaden 1977. Zum Bund der Wagner vgl. Heinz Lenhardt, Feste und Feiern des Frankfurter Handwerks, Frankfurt a.M. 1950 (= Archiv für Frankfurts Geschichte und Kunst, Fünfte Folge, 1, 2. Heft), S. 35f. In der Ordnung der Wagner vom Ober- und Mittelrhein wird eine bundesinterne Gerichtsbarkeit erwähnt, über deren praktische Bedeutung aber keine Informationen vorliegen.
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obrigkeitliche Gewerbegenehmigung für das jeweilige Handwerk noch das Frankfurter Bürgerrecht besaßen oder vielleicht sogar auch noch katholischer oder reformierter Religion waren, dann wurde gerne auch das Bürgerrecht als Argument ins Feld geführt. Für einen Teil der Meister war das Bürgerrecht anscheinend identitätsbildend, häufig verbunden mit der lutherischen Religion. Die Funktion des Bürgerrechts war oft das Abgrenzen nach innen und außen, es sollte bürgerliche Ordnungsvorstellungen im Rahmen einer hierarchisch strukturierten, durch rechtliche und soziale Ungleichheit gekennzeichneten stadtbürgerlichen Gesellschaft legitimieren und sichern.24 Dem Rat hatten die vielen Anzeigen und Prozesse des Handwerks anscheinend überhaupt nicht „geschmeckt". Im April 1789 erließ er deshalb die „Ordnung gegen üble Oeconomie der Künstler und Handwerker", welche von einer „Proceßsucht" der Geschworenen sprach, die es zu unterbinden galt: Geschworene sollten nur noch mit Vorwissen der Deputierten, d.h. der jedem Handwerk zugeordneten Ratmitglieder, und mit der ausdrücklichen schriftlichen Einwilligung von wenigstens zwei Drittel der Mitglieder des Handwerks Prozesse beginnen, sei es als klagende oder beklagte Partei, sowie „gegen hiesige Raths- oder Schöffen=Raths Erkänntnisse und Verfügungen, Appellationen oder Revisionen einlegen"; dabei anfallende Kosten hatte nicht die gemeinsame Kasse des jeweiligen Handwerks, sondern hatten alle Mitglieder, welche die Einwilligung zum Prozeß gegeben hatten, privat zu tragen. Außerdem wurden eine exakte Buchführung durch die Geschworenen mit jährlicher Präsentation vor dem gesamten Handwerk sowie generell die Einhaltung aller Vorschriften durch die Geschworenen und die Deputierten angemahnt. Ob und wie diese „Ordnung" umgesetzt wurde, ist nicht bekannt. Ihr Erfolg war anscheinend begrenzt, denn in den politisch wie ökonomisch ausgesprochen krisenhaften Jahren nach 1789 gingen die Handwerke den Rechtswege nicht wirklich seltener, wie allein ein Blick in die Repertorien des Instituts für Stadtgeschichte verdeutlicht.25 In den letzten Jahren ist in den deutschsprachigen Geschichtswissenschaften intensiv über den Stellenwert rechtlicher Normen in der frühneuzeitlichen Gesellschaft diskutiert worden. Betrachtet man in diesem Zusammenhang diejenigen Frankfurter „Fälle" des Handwerks näher, die ökonomische Grundsatzfragen zum Gegenstand hatten, beispielsweise die recht zahlreichen Auseinandersetzungen in den Nahrungsmittelhandwerken wegen des illegalen Imports auswärts produzierter Lebensmittel, so sieht man bei den Auseinandersetzungen mit wirklich solider Überlieferung, daß es bei der frühneuzeitlichen Gesetzgebung eben nicht nur um die symbolische, rituelle Selbstdarstellung der kommunalen Obrigkeit ging (Jürgen Schlumbohm) oder um Brandt, Autonomie (wie Anm. 13), S. 241-243. Beyerbach, Sammlung (wie Anm. 21), Bd. 2, S. 272-274, S. 273. In den Artikeln des Seilerhandwerks von 1809 wurde die „Ordnung" fast wörtlich übernommen, vgl. Hock, Chronik (wie Anm. 21), S. 44f. ISG Ffm Repertorien Nr. 6,12-14,16f. und 692. 24 25
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„die Definitionsmacht über die Wahrnehmung der Wirklichkeit" (Achim Landwehr), sondern auch um die Implementation von Normen und damit verbunden um handfeste materielle Interessen.26 Die Untertanen erwarteten von ihrer Obrigkeit eben nicht nur eine schier unendlich laufende politische „Bewußtseinsindustrie", die mehr und mehr Papier produzierte, sondern auch die Durchsetzung von Normen und damit die Anerkennung ihrer Rechte sowie die Sicherung ihrer ökonomischer Interessen in den vorindustriellen Verteilungskonflikten. Selbst wenn die Obrigkeit nicht unbedingt alle Normen implementieren wollte, so hatten die Untertanen bei einzelnen Themen offensichtlich sehr konkrete Vorstellungen, was der Rat und seine Amter eigentlich zu leisten hatten, nachdem die Normen einmal in der Welt waren. Bei den besagten Importkonflikten erwarteten die Frankfurter Bäcker, Metzger oder Bierbrauer „natürlich" zunächst einmal, daß die Obrigkeit den Beschwerden der Meister nachging. Häufig veröffentlichte der Rat daraufhin noch einmal ältere Verordnungen, welche die Einfuhr auswärts produzierter Handwerkerwaren an bestimmte Auflagen band oder gänzlich unter Verbot stellte. Stellte sich nach Einschätzung der Meister keine Besserung der Lage ein, wurden sie abermals vorstellig. Und gewannen sie schließlich den Eindruck, daß die Obrigkeit nur unzureichend die häufig auch noch von Personen ohne Bürgerrecht ausgehenden Normverstöße ahndete, dann griffen die Handwerksmeister auch zur Selbstjustiz und stellten beispielsweise eigene Wachen an die Stadttore oder attackierten auf offener Straße und am heilichten Tag Personen, die sie für „Illegale" hielten. Half das alles nichts, zog mein sogar vor die Reichsgerichte.27 Sprachliche Anerkennung der Anliegen der Untertanen durch die Obrigkeit und umgekehrt die semantische und symbolische Anerkennimg des Rats als Obrigkeit durch die Meister spielten bei diesen Import26 Aus der alten Debatte um Norm und Praxis frühneuzeitlicher Herrschaft vgl. einige jüngere Beiträge: Jürgen Schlumbohm, Gesetze, die nicht durchgesetzt werden - ein Strukturmerkmal des frühneuzeitlichen Staates, in: GG 23, 1997, S. 647-663. Achim Landwehr, Die Rhetorik der „guten Policey", in: ZHF 30, 2003, S. 251-287, S. 287. Ders., „Normdurchsetzung" in der Frühen Neuzeit? Kritik eines Begriffs, in: ZfG 48, 2000, S. 146-162. Ders., Normen als Praxis und Kultur. Policeyordnungen in der Frühen Neuzeit, in: Wiener Zeitschrift zur Geschichte der Neuzeit 4,2004, S. 109-113. Dinges, Justiznutzungen (wie Anm. 18). Michael Stolleis, Was bedeutet „Normdurchsetzung" bei Policeyordnungen der frühen Neuzeit?, in: Richard H. Helmholz u.a. (Hg.), Grundlagen des Rechts. Festschrift für Peter Landau zum 65. Geburtstag, Paderborn u.a. 2000, S. 739757. Härter, Soziale Disziplinierung (wie Anm. 14). Ulinka Rublack, Frühneuzeitliche Staatlichkeit und lokale Herrschaftspraxis in Württemberg, in: ZHF 24,1997, S. 347-376. 27 Robert Brandt, Frankfurt sei doch eine „Freye=Reichs=Statt, dahin jedermann zu arbeithen frey stünde". Das Innungshandwerk in Frankfurt am Main im 18. Jahrhundert - zwischen Nahrungssemantik und handwerklicher Marktwirtschaft, in: Brandt/Buchner (Hg.), Nahrung (wie Anm. 16), S. 155-199, S. 189-199. Lerner, Metzger-Handwerk (wie Anm. 21), S. 217ff., S. 303ff. Wolff, Bierbrauergewerbe (wie Anm. 10), S. 19. Alexander Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1910/ND Glashütten im Taunus 1970, S. 337. Gottlieb Schnapper-Arndt, Studien zur Geschichte der Lebenshaltung in Frankfurt am Main während des 17. und 18. Jahrhunderts, Bd. 1, Frankfurt a.M. 1915, S. 127-129. ISG Ffm Handwerkerakten Nr. 734,3680,3683 und 3694.
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Robert Brandt konflikten sicher eine wichtige Rolle. Nur war die Kommunikation zwischen Obrigkeit und Untertanen bei diesen Themen aufs engste auch an ökonomische Interessen und Praktiken gebunden, welche die Anwendung von Normen voraussetzen. Frühneuzeitliche Gesetzgebung auf „Erziehung von Untertanen in akkulturierendem Sinn", d.h. auf schrittweise Anpassung der Untertanen an die expandierende frühmoderne Staatlichkeit, zu reduzieren, greift zu kurz.28 Bei ihren Versuchen, das handwerkliche Aneignen von obrigkeitlichen Normen zu erklären, stützt sich die internationale Handwerksgeschichtsschreibung durchweg „auf schriftliche Quellen. Gleichwohl wissen wir nur wenig über die Bedeutung der Schrift bzw. die Rolle des Schreibens als Praktik im Handwerk. Das damit verbundene Problem erschöpft sich nicht in der Frage, ob bzw. in welchem Ausmaß Handwerker mit den Techniken des Schreibens oder Lesens vertraut waren". Für Frankfurt dürfte man, dies sei hier kurz angemerkt, von einem relativ hohem Maß an Literalität unter den Meistern während des 18. Jahrhunderts ausgehen können.29 „Sehr viel folgenschwerer ist die Tatsache, daß die gewichtigsten Aussagen der Handwerksgeschichte auf Texten beruhen, deren Produktionskontexte und Funktionen noch nicht systematisch untersucht worden sind (...) Insbesondere die grundlegende Frage, aus welcher Feder diese Texte stammen, wurde bislang kaum ernsthaft diskutiert. Auch die Frage, warum manche Sachverhalte verschriftlicht wurden, andere jedoch nicht, fand für das Handwerk noch keine erschöpfende Antwort."30 Wie läßt sich die Frankfurter Überlieferung bewerten, welche Quellen liegen für das Frankfurter Handwerk vor? Die frühneuzeitliche Überlieferung, welche über das Frankfurter Handwerk informiert, ist zunächst einmal in hohem Maße obrigkeitlich geprägt. Nach der Niederschlagung des Fettmilch-Aufstandes wurden nicht nur die Zünfte aufgelöst, sondern auch das gesamte Eigentum der Handwerke eingezogen, darunter auch sämtliche schriftlichen Aufzeichnungen. Darüber hinaus ist zu berücksichtigen, daß zu Beginn des 19. Jahrhunderts höchstwahrscheinlich das Handwerk betreffende Quellen vom Archiv kassiert worden sind, darunter vermutlich auch Quellen, die nichts Konfliktträchtiges, eher Alltägliches und Regelmäßiges festhielten, beispielsweise „Meisterrechtsgesuche", bei denen, wie es in einem Archivbe-
Martin Scheutz, Zwischen Mahnung und Normdurchsetzung. Zur Rezeption von Normen in Zeugenverhören des 18. Jahrhunderts, in: Ralf-Peter Fuchs/Winfried Schulze (Hg.), Wahrheit, Wissen, Erinnerung. Zeugenverhörprotokolle als Quellen für soziale Wissensbestände in der Frühen Neuzeit, Münster 2002, S. 357-397, S. 394f. Die zahlreichen von der Frankfurter Obrigkeit erlassenen Normen sind aufgelistet bei Henrik Halbleib/Inke Worgitzki (Hg.), Repertorium der Policeyordnungen der Frühen Neuzeit, Bd. 5, Reichsstädte 1: Frankfurt am Main, Frankfurt a.M. 2004, S. 21ff. 29 Belege dazu in meiner Dissertation. 30 Thomas Buchner, Möglichkeiten von Zunft. Wiener und Amsterdamer Zünfte im Vergleich (17.-18. Jahrhundert), Wien 2004, S. 31. 28
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rieht aus dem Jahre 1811 heißt, „keine besondere Rechtsfrage zur Entscheidung kam" 31 . Die große Masse der Quellen, die uns heute vorliegen und aus denen wir handwerkliche Lebenswelt zu rekonstruieren versuchen, wurde nach 1616 entweder von der Obrigkeit angelegt - also Vernehmungs- und Verhörprotokolle aus der Audienz des jüngeren Bürgermeisters, Conclusa des Rats, Schöffenratsprotokolle, Berichte der Ämter, Korrespondenz etc.32 - oder von Advokaten aufgezeichnet, die im Auftrag ihrer Mandanten aus dem Handwerk Supplikationen und andere Prozeßunterlagen erstellten. Die sogenannten Handwerkerbücher, die vermutlich meist von den Geschworenen geführt wurden und interne Verwaltung der Handwerke in mehr oder weniger ausführlicher Form dokumentieren, machen nur einen Bruchteil der Überlieferung aus und sind auch inhaltlich von unterschiedlicher Aussagekraft - vermutlich auch auf Grund der obrigkeitlichen Kontrolle.33 Die Folgen dieser einseitigen Überlieferung liegen auf der Hand: Letztlich kann die Geschichte des Frankfurter Handwerks über weite Strecken nur aus der Perspektive der Obrigkeit oder aus der Sicht von uns doch weitgehend unbekannten Juristen geschrieben werden. Welche Strategien und Semantiken beispielsweise die Advokaten wählten, um im Auftrag ihrer Mandanten mit der Obrigkeit zu kommunizieren und wie sie damit bis heute unser Bild vom Handwerk prägten, ist bisher nicht untersucht worden.34 „Möglichkeiten und Grenzen sinnvoller Rede" über das Frankfurter Handwerk bzw. „kohärenten sozialen Handelns" des vorindustriellen Handwerks werden also bis heute vor allem von der reichsstädtischen Obrigkeit und von Juristen festgelegt sowie von einer Geschichtsschreibung, die seit dem 19. Jahrhundert diesen Quellen ohne wei-
Rudolf Jung, Das Frankfurter Stadtarchiv. Seine Bestände und seine Geschichte, Frankfurt a.M. 1909, S. 329-345, S. 335; auch wurden „alle Handwerksangelegenheiten betreffende Schreiben, z.B. Erkundigungen etc." zur Kassation vorgeschlagen (Ebd.). 32 Die Quellen der Obrigkeit sind fast durchweg in der Form von Texten abgefaßt, serielle Daten oder datenähnliche Informationen finden sich in den Akten selten. 33 Liste der Handwerkerbücher im Repertorium Nr. 539 (ISG Ffm). Zu den wenigen Beispielen handwerklicher Chronistik vgl. Stephanie Dzeja, Geschichte der eigenen Stadt. Städtische Chronistik in Frankfurt am Main vom 16. bis zum 18. Jahrhundert, Frankfurt a.M. 2003, S. 99-103, S. 257f. 34 Vgl. Dölemeyer, Frankfurter Juristen (wie Anm. 20), mit ausführlichen biobibliographischen Daten zu den Frankfurter Juristen, aber ohne auch nur irgendwelche Angaben zu deren Praktiken. Vgl. dazu wenigstens die bei Beyerbach, Sammlung (wie Anm. 21), Bd. 8, S. 1579-1646 abgedruckten normativen Texte des Frankfurter Rats für Advokaten, Notare und Prokuratoren. Sehr interessant, aber leider ohne Beispiele aus Frankfurt am Main ist in diesem Zusammenhang Ulrich Falk, Consilia. Studien zur Praxis der Rechtsgutachten in der frühen Neuzeit, Frankfurt a.M. 2006, der zeigt, daß auch „die Praxis der Rechtsgutachten in der frühen Neuzeit (...) als Markt zu verstehen (ist), auf dem professionelle jurististische Dienstleistungen in großer Zahl angeboten und nachgefragt wurden" (XIX), und daß sich die Aktivitäten der Juristen in den seltensten Fällen als interessenfreie Parteilosigkeit charakterisieren lassen. 31
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tergehende Quellenkritik oder Diskusanalyse folgt.35 Emphatisch könnte man sagen: Echte, authentische Stimmen des Handwerks, die sozusagen „unmittelbar" in die Lebenswelt der Handwerksmeister zurückführen, sind in Frankfurt rar; das Sagbare und das Machbare bzw. das sinnvolle Schreiben über das Handwerk legten vermutlich ganz andere soziale Gruppen fest. Dieser Kreis der „Anderen" läßt sich aber vielleicht noch weiter eingrenzen, wenn man die Quellen nochmals genauer betrachtet. Die Handwerkerakten im „Institut für Stadtgeschichte" bestehen in der Regel aus drei Gruppen von Quellen: Zunächst hat man die Supplikationen und Briefe, die meist von den Advokaten im Auftrag des Handwerks kamen und die selten von den Meistern selbst oder von Handwerkerwitwen geschrieben worden sind; dann die Unterlagen, die auf diese Supplikationen und Anzeigen reagierten und die von städtischen Schreibern für Rat, Bürgermeister oder Schöffenrat angelegt wurden (also Verhörprotokolle, Korrespondenz, Auszüge aus den Stellungnahmen der Amter etc.); und drittens im Idealfall sogar die Texte der Amter selbst, welche auf Anfrage von Rat, Bürgermeister etc. aufgeschrieben wurden (beispielsweise Rechneyamt, Kornamt etc.). Gerade auf letztere Texte, auf das Wissen und die Argumente, welche die Amter zur Verfügung stellten, griffen der Rat und die anderen Gerichte relativ häufig zurück, wenn sie Entscheidungen in Sachen Handwerk trafen. Über die Praktiken dieser Amter, über die formalen wie über die informellen Regeln dieser Institutionen wissen wir nur ganz vereinzelt etwas; wie sie beispielsweise ihre vielen Informationen gewannen, wie sie ihr Wissen organisierten - das alles entzieht sich doch weitgehend unserer Kenntnis.36 Ähnliche Probleme ergeben sich, wie bereits angedeutet, auch bei der Auswertung der Quellen, die von den Advokaten aufgezeichnet wurden. Und auch bei den Verhörprotokollen des jüngeren Bürgermeisters sowie bei der Überlieferung des Rates, von dem die Frankfurter Stadtgeschichtsschreibung bekanntlich glaubt, ein wenig mehr zu wissen, bleiben doch grundlegende quellenkritische Zweifel. Damit sind nicht nur die bekannten Probleme gemeint, mit denen man bei der Auswertung von Verhörprotokollen, die für die Frankfurter Handwerker überwiegend in indirekter Rede die Vernehmungen dokumentieren sollen, zu kämpfen hat: Ausnahmesituation Verhör; Widersprüchlichkeiten, die sich nicht auflösen lassen, das Faktische geht häufig nicht auf; Strategien; verschiedentlich fast schon ritualisierte Antworten etc.37 - also all das, für das es in der
Philipp Sarasin, Subjekte, Diskurse, Körper. Überlegungen zu einer diskursanalytischen Kulturgeschichte, in: Wolfgang Hardtwig/Hans-Ulrich Wehler (Hg.), Kulturgeschichte Heute, Göttingen 1996, S. 131-165, S. 142. Philipp Sarasin, Geschichtswissenschaft und Diskursanalyse, in: Ders., Dass., Frankfurt a.M. 2003, S. 10-60. 36 Paul Hohenemser, Beamtenwesen in Frankfurt a. M. um 1700, in: Alt Frankfurt 3,1911, S. 65-72. Otto Ruppersberg, Der Aufbau der reichsstädtischen Behörden, in: Heinrich Voelcker (Hg.), Die Stadt Goethes, Frankfurt a.M. 1932/ND ebd. 1982, S. 51-82, S. 68-81. 37 Katharina Simon-Muscheid/Christian Simon, Zur Lektüre von Gerichtstexten: Fiktionale Realität oder Alltag in Gerichtsquellen, in: Dorothee Ripmann/Dies., Arbeit - Liebe 35
Die Grenzen des Sagbaren und des Machbaren Literatur mittlerweile so hübsche Kürzel gibt wie „fiktionale Realität" oder „Faktizität des Fiktionalen", „konkurrierende Wahrheiten" oder „erzählte Kriminalität"38. Die Zweifel beziehen sich auch nicht auf die all zu oft in den Akten anzutreffende Lückenhaftigkeit der Texte oder auf das Fehlen von Parallelüberlieferungen bzw. von alternativen Kontroll texten, weswegen eine Kontextualisierung in etlichen Fällen nahezu unmöglich ist. Nein, gemeint sind andere Fragen: Wer spricht in diesen Verhörprotokollen eigentlich? Hört man wirklich die Stimmen der „kleinen Leute" oder liest man nur die Semantik der Experten, über deren Schreib- und Aufschreibkonventionen wir für Frankfurt so gut wie gar nichts wissen? Wer ist in diesen Verhörprotokollen eigentlich der Herr bzw. die Herrin der Diskurse? Die Ratsherren? Die Advokaten? Oder vielleicht die juristisch gebildeten Stadt- und Ratsschreiber?39 Oder doch die „kleinen Leute", die Handwerksmeister und Handwerkerwit-
- Streit. Texte zur Geschichte des Geschlechterverhältnisses und des Alltags. 15.-18. Jahrhundert, Liestagl 1996, S. 17-39, S. 17-27. Zum Verhör vgl. allg. Michael Niehaus, Das Verhör. Geschichte - Theorie - Fiktion, München 2003, S. 225-372. Stefan Esders/Thomas Schärft, Die Untersuchung der Untersuchung. Methodische Überlegungen zum Studium rechtlicher Befragungs- und Weisungspraktiken in Mittelalter und früher Neuzeit, in: Dies. (Hg.), Eid und Wahrheitssuche. Studien zu rechtlichen Befragungspraktiken in Mittelalter und früher Neuzeit, Frankfurt a.M. u.a. 1999, S. 11-47. Zu dem normativen Rahmen, in dem die Verhöre in Frankfurt im 18. Jahrhundert vorgenommen werden sollten, vgl. Beyerbach (Hg.), Sammlung (wie Anm. 22), Bd. 8, S. 1538-1545, S. 1575-1579 und S. 1647-1669. 38 Ebd. Ulrike Gleixner, Geschlechterdifferenzen und die Faktizität des Fiktionalen. Zur Dekonstruktion frühneuzeitlicher Verhörprotokolle, in: WerkstattGeschichte 11, 1995, S. 65-70. Andrea Griesebner, Konkurrierende Wahrheiten. Malefizprozesse vor dem Landgericht Perchtoldsdorf im 18. Jahrhundert, Wien/Köln/Weimar 2000. Jörg Schönert (Hg.), Erzählte Kriminalität. Zur Typologie und Funktion von narrativen Darstellungen in Strafrechtspflege, Publizistik und Literatur, Tübingen 1991. 39 Zu den Schreibern im Dienst der Stadt, die seit der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts immer häufiger eine juristische Ausbildung oder wenigstens juristische Kenntnisse hatten, vgl. die kurzen Angaben bei Dölemeyer, Frankfurter Juristen (wie Anm. 20), S. XXXIXf., S. XLm. Hohenemser, Beamtenwesen (wie Anm. 35), S. 72. Man muß vielleicht nicht soweit gehen, wie einzelne Autoren in dem medienwissenschaftlich inspirierten Band von Bernhard Siegert/Joseph Vogl (Hg.), Europa: Kultur der Sekretäre, Berlin 2003, die den Sekretär respektive den Schreiber zu dem Agenten des okzidentalen Rationalismus par excellence zu stilisieren versuchen: Der Sekretär als „Ensemble aus politischen, administrativen, technischen, diskursiven - Operationen, mit denen die abendländische Schriftkultur zur Basistechnologie für die Verwaltung von Dingen und Leuten, ihrer Verhältnisse und ihrer Verkehrsformen geworden ist" (Ebd., S. 7). Im Spiegelbild erscheint das Herrschersubjekt Rat dann als eine persona ficta, „deren kohärente Rede Produkt der stillen Arbeit unzähliger Schreibkräfte ist" (Ebd., S. 131). Ob es sich bei den Frankfurter Schreibern um unsichtbare Dienstleister oder um die heimlichen Helden im Auftrag des Fortschritts handelte, muß mangels Wissen über deren Praktiken und Handlungsspielräume unbeantwortet bleiben. Hingewiesen sei aber auf die Person des Ratsschreibers Laurentius Pyrander, der während des FettmilchAufstandes eine nicht unwichtige politische Rolle spielte und bei dem sich ein Zusammenhang von Schrift, persönlicher Nähe zu den politisch Mächtigen und Geheimhaltung anzudeuten scheint, vgl. Bothe, Geschichte (wie Anm. 4), S. 409ff. Meyn, Reichsstadt (wie Anm. 8), S. 38ff.
Robert Brandt wen, welche sich der „Listen der Ohnmacht" zu bedienen wußten? 40 Durften die Meister oder die Geschworenen die Verhörprotokolle vielleicht sogar einsehen und Einfluß auf die Aufzeichnungen nehmen oder waren diese ein Arkanum, gehütet von der Obrigkeit und ihren Helfern?41 Die Frage, wer eigentlich für die Geschichte des Frankfurter Handwerks spricht, muß also offen bleiben. Auch läßt sich über diese Frankfurter Verhörprotokolle nicht das Performative 42 erschließen, das sicher für eine angemessene Bewertung von Gerichtssituationen nicht unwichtig ist - das Performative meint den ganzen Komplex aus Körper, Stimme, Sprechen, Handeln vor der Justiz, ja ganz generell das Verhältnis von sprachlichen und nichtsprachlichen Praktiken, von Literalität und Oralität. Auch ermöglichen die Verhörprotokolle in den seltensten Fällen, das weite Feld aus erinnern, vergessen und verdrängen zu erklären. Selbst bei reichhaltiger Aktenüberlieferung hat man es also bei vielen Quellen, welche über das Frankfurter Handwerk berichten, wegen der Parteilichkeit der Texte häufig doch eher mit „Informationsknappheit" 43 zu tun. Sicher sind „die Akten der Armen (...) konkreter und individueller" als abstrakte und allgemeine Modelle von Paternalisten, wie E. P. Thompson vor einigen Jahren an engli-
Claudia Honegger/Bettina Heintz (Hg.), Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen, Frankfurt a.M. 1984. 41 Vgl. beispielsweise Elkan, Gewerberecht (wie Anm. 4), S. 68, Anm. 12: Nach dem kaiserlichen Kommissionsdekret von 1616 sollten die neuen, vom Rat erlassenen Artikel von diesem auch aufbewahrt und den Handwerken nicht ausgehändigt werden. Auf eine Beschwerde der Geschworenen reagierte der Rat schließlich 1617 und ordnete die Aushändigung von Kopien an. Zu Schriftlichkeit, Geheimhaltung und politischer Kontrolle vgl. die anregenden Passagen bei Valentin Groebner, Ungestalten. Die visuelle Kultur der Gewalt im Mittelalter, München/Wien 2003, S. 39-70. Ders., Der Schein der Person. Steckbrief, Ausweis und Kontrolle im Europa des Mittelalters, München 2004, S. 121-123. Diese Probleme bei der Auswertung von Gerichtsakten sind kein Frankfurter Spezifikum. Vgl. beispielsweise Martin Scheutz, Frühneuzeitliche Gerichtsakten als „Ego"Dokumente. Eine problematische Zuschreibung am Beispiel der Gaminger Gerichtsakten aus dem 18. Jahrhundert, in: Thomas Winkelbauer (Hg.), Vom Lebenslauf zur Biographie. Geschichte, Quellen und Probleme der historischen Biographik und Autobiographik, Horn-Waidhofen/Thaya 2000, S. 99-134, der an Beispielen aus Niederösterreich zeigt, daß „die äußeren Bedingungen, unter denen frühneuzeitliche Gerichtsakten produziert wurden, (...) kaum bekannt (sind) - eine von Historikern kaum füllbare Leerstelle in den Akten (...) Mit Hilfe der Akten erfährt der Leser explizit nur wenig über die informellen Regeln oder handlungsleitenden Alltagstheorien der entscheidenden Instanzen" (Ebd., S. 105). 42 Jürgen Martschukat/Steffen Patzold, Geschichtswissenschaft und „performative turn", in: Dies. (Hg.), dass. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln/Weimar/Wien 2003, S. 1-31. 43 Christof Jeggle, Gewerbliche Produktion und Arbeitsorganisation: Perspektiven der Forschung, in: Mark Häberlein/Ders. (Hg.), Vorindustrielles Gewerbe. Handwerkliche Produktion und Arbeitsbeziehungen in Mittelalter und Früher Neuzeit, Konstanz 2004, S. 19-35, S. 24. 40
Die Grenzen des Sagbaren und des Machbaren sehen Beispielen konstatiert hat. 44 Nur sind es aber nicht die Akten der Armen - was immer das eigentlich gewesen sein soll - , mit denen man es in Frankfurt zu tun hat, und es bleibt damit die nicht ganz unwichtige Frage ausgespart, wer eigentlich die Modi der Wirklichkeitsdarstellung und der Wirklichkeitsherstellung konstruierte. Trotz hoher Überlieferungsdichte für das 18. Jahrhundert müssen also letztlich nicht nur rechtshistorische Fragen der Frankfurter Handwerksgeschichte offenbleiben. Um keine Mißverständnisse aufkommen zu lassen, vorliegende skeptische Anmerkungen sollen kein Plädoyer für die Abschaffung der Geschichtsschreibung sein. Der Hinweis auf die Einseitigkeit und Uneinheitlichkeit der Frankfurter Überlieferung ist aber als Zweifel zu verstehen, als Zweifel an der schon seit etlichen Jahren in der internationalen Geschichtswissenschaften zu beobachtenden Euphorie, man könne durch Gerichtsakten, durch Verhörprotokolle die Masse der Sprachlosen, die keine Selbstzeugnisse hinterlassen haben, doch noch zum sprechen bringen.45 Justizakten erlauben jedoch nur einen schrägen und getrübten Blick auf das Leben; es gibt keinen unmittelbaren Zugang zur „Wirklichkeit", sie „wird vor Gericht bzw. in Gerichtsakten (...) nur sehr schemenhaft und verzerrt abgebildet"46. Statt „der natürlichen I Edward P. Thompson, Die ,moralische Ökonomie' der englischen Unterschichten im 18. Jahrhundert, in: Ders., Plebeische Kultur und moralische Ökonomie. Aufsätze zur englischen Sozialgeschichte des 18. und 19. Jahrhunderts, Frankfurt a.M./Berlin 1980, S. 67-130, S. 88. 45 Vgl. beispielsweise an neueren Publikationen Ralf-Peter Fuchs/Winfried Schulze (Hg.), Wahrheit, Wissen, Erinnerung. Zeugenverhörprotokolle als Quellen für soziale Wissensbestände in der Frühen Neuzeit, Münster 2002. Ralf-Peter Fuchs, Protokolle von Zeugenverhören als Quellen zur Wahrnehmung von Zeit und Lebensalter in der Frühen Neuzeit, in: Anette Baumann u.a. (Hg.), Prozeßakten als Quelle. Neue Ansätze zur Erforschung der Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich, Köln/Weimar/Wien 2001, S. 141-164. Winfried Schulze (Hg.), Ego-Dokumente. Annäherung an den Menschen in der Geschichte, Berlin 1996, S. llff., S. 149ff. und S. 275ff. Am Beispiel des Supplikenwesens zuletzt Cecilia Nubola/Andreas Würgler (Hg.), Forme della comunicazione politica in Europa nei secoli XV-ΧνΐΠ. Suppliche, gravamina, lettere/Formen der politischen Kommunikation in Europa vom 15. bis 18. Jahrhundert, Bologna/Berlin 2004. Dies. (Hg.), Bittschriften und Gravamina. Politik, Verwaltung und Justiz in Europa (14.-18. Jahrhundert), Berlin 2005. Skeptische Bemerkungen zur Erinnerungsfähigkeit von Prozeßzeugen aus einer ganz anderen Perspektive bei Johannes Fried, Der Schleier der Erinnerung. Grundzüge einer historischen Memorik, München 2004, S. 175-186, S. 197200. Grundsätzliche Zweifel an der bisherigen Lesart zentraler Quellen der Handwerksforschung finden sich auch bei Sigrid Wadauer, Die Tour der Gesellen. Mobilität und Biographie im Handwerk vom 18. bis zum 20. Jahrhundert, Frankfurt a.M./New York 2005, die Autobiographien und andere autobiographische Selbstzeugnisse von Handwerkern ausgewertet hat. 46 Scheutz, Frühneuzeitliche Gerichtsakten (wie Anm. 41), S. 131f. Vgl. auch Gerd Schwerhoff, Aktenkundig und gerichtsnotorisch. Einführung in die Historische Kriminalitätsforschung, Tübingen 1999, S. 64-67, der „die Rede von der ,historischen Wahrheit'" nach dem linguistic turn „ohnehin (für) fragwürdig" hält. Er versucht deshalb die Dilemmata bei der Arbeit mit Gerichtsakten dahingehend aufzulösen, daß er trennt zwischen der „konkreten,Wahrheit'" eines Falls, d.h. den „harten Fakten" einer Geschichte, die sich meist nicht ermitteln lassen, und der „gesellschaftlichen ,Wahrheit'", also dem 44
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Robert Brandt Versuchung (zu) erliegen, ein Vollständiges zu postulieren" und damit neue Meistererzählungen zu kreieren, sind der fragmentarische Charakter sowohl der Überlieferung als auch des von ihr vermittelten Bildes von der Vergangenheit anzuerkennen. 47
sozialen „Alltagswissen" und den gesellschaftlichen „Werthaltungen, die sich aus den Verhören und Zeugenaussagen destillieren lassen", beispielsweise zeitgenössische Identitätskonstruktionen oder klassen- und kulturübergreifende Formen der Informationsverarbeitung (Ebd., S. 65f.). 47 Esch, Überlieferungs-Chance (wie Anm. 1), S. 558. Konrad H. Jarausch/Martin Sabrow, „Meistererzählung" - Zur Karriere eines Begriffs, in: Dies. (Hg.), Die historische Meistererzählung. Deutungslinien der deutschen Nationalgeschichte nach 1945, Göttingen 2002, S. 9-32.
Hamburg und Frankfurt vor dem Reichskammergericht Robert Riemer
Hamburg und Frankfurt vor dem Reichskammer-
gericht. Ein Vergleich unter besonderer Berücksichtigung der Handels- und Handwerksprozesse 1 1. Einleitung Die Bezeichnungen Hamburgs und Frankfurts als „allerenglischste Stadt des Kontinents" und als „des deutschen Reiches Silber- und Goldloch" sind in der Vergangenheit häufig strapaziert worden, z.B. in Böhmes gleichnamiger Studie zur Verfassungsgeschichte beider Städte im 18. und 19. Jahrhundert. 2 Dennoch erscheint es an dieser Stelle gerechtfertigt, sie erneut zu bemühen - spiegeln sie doch die Charakteristik zweier Handelsstädte wider, die uns in dieser Form auch in deren Reichskammergerichts-Prozessen begegnet. Besondere Berücksichtigung finden dabei die Handels- und Handwerksprozesse, deren Heraushebung eben jener genannten Charakteristik geschuldet ist, die auf die Bedeutung Hamburgs für den seewärtigen Handel des Reiches und Frankfurts Stellung als frühneuzeitliches Messe- und Finanzzentrum verweist. Die folgenden Ausführungen gewähren einen Einblick in das mittlerweile abgeschlossene Dissertationsprojekt des Autors zu den insgesamt mehr als 3 000 Gerichtsverfahren (ca. 4 % der gesamten überlieferten Reichskammergerichts-Akten), die im Staatsarchiv in Hamburg und im Institut für Stadtgeschichte in Frankfurt am Main überliefert und in den Findbüchern von SteinStegemann und Kaltwasser benutzerfreundlich in Regestenform ediert sind. 3 Die vorhandenen Prozessakten wurden zunächst quantitativ ausgewertet und nach dem Umfang der Inanspruchnahme, der Prozessdauer und den Prozessgegenständen befragt. 4 Dadurch ist einerseits der Vergleich mit den bereits
1 Ich möchte an dieser Stelle Professor Dr. Michael North für die Betreuung meines gleichnamigen Dissertationsprojektes (Robert Riemer, Hamburg und Frankfurt vor dem Reichskammergericht. Ein Vergleich unter besonderer Berücksichtigung der Handelsund Handwerksprozesse, Greifswald 2006) und die Anregungen zu diesem Aufsatz danken. 2 Hartmut Böhme, Frankfurt und Hamburg. Des deutschen Reiches Silber- und Goldloch und die allerenglischste Stadt des Kontinents, Frankfurt a.M. 1968. 3 Hans-Konrad Stein-Stegemann (Bearb.), Findbuch der Reichskammergerichtsakten im Staatsarchiv Hamburg, 4 Teile (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Freien und Hansestadt Hamburg, ΧΙΠ) (Inventar der Akten des Reichskanvmergerichts, 21), Hamburg 1993-95. Inge Kaltwasser (Bearb.), Inventar der Akten des Reichskammergerichts 1495-1806: Frankfurter Bestand (Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission, 21), Frankfurt a.M. 2000. 4 Einer solchen einfachen „Statistik" sind zwangsweise Grenzen gesetzt: Sie kann lediglich Tendenzen anhand des überlieferten historischen Materials liefern, d.h., die in der Folge angegebenen Werte spiegeln die Trends der bekannten Prozesse wider, geben uns allerdings keine Information über etwaige Aktenverluste, die im Laufe der Jahrhunderte aufgetreten sein können (z.B. im Zusammenhang mit der Beschlagnahme des Reichskammergerichts-Archivs seitens der Franzosen 1689). Sollten diese Verluste, die zweifellos geschehen sind (beispielsweise auch bei der Verteilung der Akten innerhalb des Deutschen Bundes), nicht gleichmäßig über den Untersuchungszeitraum verteilt sein,
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Robert Riemer vorliegenden Ergebnissen5 für andere Regionen 6 , Städte und das Alte Reich im ganzen möglich, andererseits können die Teilbereiche Handel und Handwerk differenziert und einer separaten Betrachtung unterzogen werden, die Aussagen zu den Prozessparteien und deren geographischer Verteilung zulas-
2 . Prozesse/Integration/Appellationsprivilegien
Die hohe Zahl von
1 369 bzw. 1 634 Prozessen aus Hamburg bzw. Frankfurt zeugt zunächst einmal von der Akzeptanz des Reichskammergerichts bei den Bewohnern beider Städte als Vermittlungsinstanz rechtlicher Streitigkeiten sowie als Kontrollund Revisionsinstrument der städtischen Gerichtsbarkeit und belegt die Integration auch des im Norden des Reiches gelegenen Hamburgs in dessen verfassungsrechtliche Strukturen. Einschränkend muss im Vergleich Hamburgs und Frankfurts aber angemerkt werden, dass die höhere Zahl der Frankfurter Prozesse noch eine deutliche Aufwertung bei einem Vergleich der Einwohnerzahlen beider Städte erfährt. Lag Frankfurt um 1500 mit ca. 10 000-12 000 zu 14 000 Einwohnern nur knapp hinter Hamburg, konnte die Stadt an der Elbe 1600 bereits doppelt so viele Einwohner vorweisen (Hamburg [H]: 36 00040 000, Frankfurt [F]: ca. 18 000-20 000) und um 1800 sogar die dreifache Anzahl (H: 115 000, F: ca. 40 000). 7 Neben der günstigeren geographischen Lage ergäben sich Verschiebungen bei den einzelnen Trends; ansonsten würden sich wahrscheinlich nur die absolute Anzahl der Fälle, nicht aber die in ihnen ausgedrückten Trends ändern. 5 Als Basis für den Vergleich bieten sich u.a. Anette Baumann, Die Gesellschaft der Frühen Neuzeit im Spiegel der Reichskammergerichtsprozesse. Eine sozialgeschichtliche Untersuchung des 17. und 18. Jahrhunderts (Quellen und Forschungen zur Höchsten Gerichtsbarkeit im Alten Reich = QFHG 36), Köln/Weimar/Wien 2001, sowie Filippo Ranieri, Recht und Gesellschaft im Zeitalter der Rezeption (QFHG 17,1-Π), Köln/Wien 1985, an. In der ersten Untersuchung liefert Anette Baumann noch einen weiteren Hinweis auf die statistischen Grenzen, nämlich das Nichtvorhandensein bestimmter Informationen. So macht sie deutlich, dass Angaben zum Streitwert eines Prozesses widersprüchlich sind oder gar fehlen können, weshalb allgemeine Aussagen nur unter Vorbehalt möglich sind (S. 102). 6 Hier sind die Untersuchungen von Nils Jörn und Michael North (Hg.), Die Integration des südlichen Ostseeraumes in das Alte Reich (QFHG 35), Köln/Weimar/Wien 2000, sowie von Siegrid Westphal, Kaiserliche Rechtsprechimg und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten 1648-1806 (QFHG 43), Köln/Weimar/Wien 2002, und Helmut Gabel, Beobachtungen zur territorialen Inanspruchnahme des Reichskammergerichts im Bereich des NiederrheinischWestfälischen Kreises, in: Bernhard Diestelkamp (Hg.), Das Reichskammergericht in der deutschen Geschichte (QFHG 21), Köln/Wien 1990, S. 143-172), zu nennen, die ausführliche Beachtung in meiner Dissertation finden (wie Anm. 1). 7 Für Hamburg vgl. Heinrich Reincke, Hamburgs Bevölkerung, in: Heinrich Reincke (Hg.), Forschungen und Skizzen zur hamburgischen Geschichte (Veröffentlichungen aus dem Staatsarchiv der Hansestadt Hamburg, 3), Hamburg 1951, S. 167-200. Für Frankfurt siehe Konrad Bund, Frankfurt am Main im Spätmittelalter 1311-1519, in: Frankfurter Historische Kommission (Hg.), Frankfurt am Main: Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, Sigmaringen 1991, S. 53-150, hier S. 66ff. Anton Schindling, Wachstum und Wandel vom Konfessionellen Zeitalter bis zum Zeitalter Ludwigs XIV., Frankfurt am
Hamburg und Frankfurt vor dem Reichskammergericht der Stadt am Main bezüglich der Entfernung zum Reichskammergericht wirkten sich im Falle Hamburgs u.a. die zunächst deutlich höheren Appellationssummen aus. Übereinstimmung herrschte bei den städtischen Obrigkeiten darüber, die Delegierung eigener Rechtshoheit an das Reichskammergericht möglichst zu begrenzen. Die zu diesem Zweck zur Verfügung stehenden Appellationsprivilegien wurden noch im 16. Jahrhundert an Frankfurt (1512) und Hamburg (1553) verliehen. Während sich der Frankfurter Rat bis 1743 mit lediglich 300 rheinischen Gulden als Appellationssumme vergleichsweise moderat gab, erlangte Hamburg gleich in seinem ersten Privileg eine doppelt so hohe Summe sowie den Ausschluss von Injuriensachen. 1634 erwirkte die Hansestadt eine Erhöhimg auf 700 Gulden sowie den Ausschluss von Handelssachen von der Appellationsfähigkeit8, doch kann anhand mehrerer hundert Handelsprozesse bewiesen werden, dass gerade letzteres - umstrittenes Verbot wegen dessen Nichtbeachtung seitens des Reichskammergerichts wenig wirksam war 9 . In Frankfurt galten nur Urteile wegen Körperverletzung als nicht appellabel10, Einschränkung bezüglich Handelssachen bestanden dage-
Main 1555-1685, in: Frankfurter Historische Kommission (Hg.), Frankfurt am Main: Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, Sigmaringen 1991, S. 205-260, hier S. 209. Heinz Duchhardt, Frankfurt am Main im 18. Jahrhundert, in: Frankfurter Historische Kommission (Hg.), Frankfurt am Main: Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, Sigmaringen 1991, S. 261-302, hier S. 261, S. 297. Kaltwasser (wie Aran. 3), S. 34. Wolfgang Klötzer, Frankfurt am Main von der Französischen Revolution bis zur preußischen Okkupation 1789-1866, in: Frankfurter Historische Kommission (Hg.), Frankfurt am Main: Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, Sigmaringen 1991, S. 303-348, hier S. 305. 8 Tobias Freitag, Die Prozesse der Stadt Hamburg und ihrer Bewohner vor dem Reichskammergericht, Magisterarbeit, Greifswald 2001, S. 16f. Ulrich Eisenhardt, Die kaiserlichen Privilegia de non appellando (QFHG 7), Köln/Wien 1980, S. 84f. Ausgeschlossen von Appellationen waren eigentlich alle Urteile, „die Faktoreien, Bodmerei, Wechsel, Assekuranzen und alle anderen mit dem Gewerbe und dem Handel der Kaufleute zusammenhängen Streitigkeiten" zum Inhalt hatten (S. 85). Erstaunlich ist die Argumentation des Rates bezüglich der Gerichtshoheit des holsteinischen Herzogs, während zugleich gegenüber dem dänischen König auf Privilegien verwiesen wurde, welche die Stadt von eben dieser gerichtlichen Subordination ausnahmen. Die Höhe der ersten Appellationssumme ist mit jener Bremens und Lübecks zu dieser Zeit vergleichbar. Die Ablehnung der drastischen Erhöhung der Appellationssumme wurde mit der bei Gewährung dieser Forderung zu starken Einschränkung der kaiserlichen Rechtssprechung begründet. Ein weiteres Argument bringt der Reichshofrat in einem Gutachten zu einem Antrag Hessen-Darmstadts vor - dort sei von einer Erhöhung der Appellationssumme nicht nur wegen der „merklichejn] Schmälerung der kaiserlichen Jurisdiktion" sondern auch „in Ansehung der armen Parteien" abzusehen (S. 88). 9 Siehe Baumann, Die Gesellschaft (wie Aran. 5), S. 43. Hierzu schreibt Andreas EbertWeidenfeller, dass sich der Rat der Stadt mehrfach an das Reichskammergericht, den Kammerrichter bzw. den Kaiser wandte, um den „frivolen", nicht zulässigen Appellationen keine Beachtung mehr zu schenken, doch war diesen langfristigen Bemühungen (im 17. und 18. Jahrhundert) auf Dauer kein Erfolg gewährt. Ders., Hamburgisches Kaufmannsrecht im 17. und 18. Jahrhundert. Die Rechtsprechung des Rates und des Reichskammergerichtes (Rechtshistorische Reihe, 100), Frankfurt a.M. 1992, S. 253ff., Zitat S. 255. 10 Entsprechende Verfahren können nicht nachgewiesen werden, obwohl in einigen Prozessen Misshandlungsvorwürfe vorgebracht werden. Deren Hintergrund liegt jedoch
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gen nicht. Darüber hinaus gelang es der Stadt aber 1743, gegen die Empfehlung des Reichshofrates11 eine Appellationssunune von 1 000 Reichstalern durchzusetzen.12 3. Inanspruchnahme Die Inanspruchnahme des Reichskammergerichts durch hamburgische und Frankfurter Parteien verläuft nicht gleichmäßig steigend, sondern - wie das Diagramm 1 zeigt - stark schwankend. Einen Vorsprung bei der Gesamtzahl der Verfahren „erarbeitet" sich Frankfurt bereits am Anfang des 16. Jahrhunderts, als die dortigen Einwohner ihre räumliche Nähe zum in ihrer Stadt gegründeten Gericht sowie Appellationsblockaden durch den Hamburger Rat und - möglicherweise - einen Wissensvorsprung um die Existenz des Gerichts nutzen. Zwar nahmen die Hamburger die Möglichkeit eines Instanzenzuges vor das neue Reichsgericht mit nur drei Prozessen in der ersten Dekade dessen Bestehens zunächst nur zögerlich wahr, doch unterschieden sie sich darin nicht von anderen Parteien im südlichen Ostseeraum.13 Selbst aus dem „reichsnäheren" Thüringen wurden in den ersten zehn Jahren der Existenz des Gerichts nur zwei Prozesse anhängig.14 Doch machen diese Zahlen deutlich, dass die Entfernung zum Sitz des Reichskammergerichts, also die „Reichsnähe" oder „Reichsferne" bei generell größeren Distanzen keine Rolle spielt. Bis zur Etablierung des Gerichts in Speyer erreichten bereits ca. 50 Prozesse aus Frankfurt das Gericht, aus Hamburg nur ein Dutzend. Wie der Verlauf der Graphen zeigt, dauerte es bis zur zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, bevor Hamburg bei der Frequentierung des Gerichts erstmals an Frankfurt vorbeiziehen konnte, obwohl die Hansestadt gerade zu dieser Zeit das erste Appellationsprivileg erhielt.
in den meisten Fällen in einer gewaltsamen Durchsetzung von Ansprüchen und Forderungen begründet und muss darüber hinaus jeweils auf ihren Wahrheitsgehalt geprüft werden. Lediglich in einem Fall wird ein Mord erwähnt, der aber keinen direkten Bezug zum eigentlichen Verfahrensgegenstand besitzt. 11 Hamburg hatte bei der letztmaligen Privilegienerhöhung 1634 versucht, 1000 fl. zu erhalten, doch hatte der Kaiser in diesem Fall der Empfehlung des Reichshofrates auf eine geringfügigere Erhöhung - zur Vermeidung der zu starken Einschränkung der kaiserlichen Jurisdiktion - entsprochen. Es gibt weitere Beispiele dieser Art (Bremen 1768): Eisenhardt, Die kaiserlichen Privilegia (wie Anm. 8), S. 80, aber eben auch solche, wo der Kaiser die entsprechenden Verwerfungsgründe ignorierte (z.B. HessenDarmstadt 1631): Eisenhardt, Die kaiserlichen Privilegia (wie Anm. 8), S. 88. 12 Vgl. Eisenhardt, Die kaiserlichen Privilegia (wie Anm. 8), S. 82ff. 13 Tobias Freitag/Nils Jörn, Zur Inanspruchnahme der obersten Reichsgerichte im südlichen Ostseeraum 1495-1806, in: Jörn/North, Die Integration (wie Anm. 6), S. 39-141, hier S. 78. So wendeten sich Parteien aus Hamburg bzw. Lübeck zwar noch am Ende des 15. Jahrhunderts an das Reichskammergericht (1498 bzw. 1499), doch der erste Prozess aus Holstein datiert in das Jahr 1501, der erste aus Pommern sogar noch einige Jahre später. Nur Lübeck liegt bezüglich der Inanspruchnahme des Reichskammergerichts im ersten Jahrzehnt dessen Bestehens mit sieben Prozessen im Reichsdurchschnitt. 14 Freitag/Jörn, Zur Inanspruchnahme (wie Anm. 13), S. 78.
Hamburg und Frankfurt vor dem Reichskammergericht 269 Diagramm 1: Geschäftsanfall aus Frankfurt (1 634 Prozesse) und Hamburg (1369 Prozesse) 1495-1806 im Vergleich
Jahre
I
Frankfurt - - - Htnbunj J
Dabei sind einzelne Brüche bei beiden oder jeweils einer der Städte erkennbar, von denen einige hier nur kurz genannt werden sollen: Der Tod Maximilians I., der Dreißigjährige Krieg, die Vertreibung des Gerichts von Speyer nach Wetzlar, die ingelheimsche Affäre und andere Gerichtsblockaden aus religiösen und/oder machtpolitischen Motiven, die Vorgänge rund um die französische Revolution sowie verschiedene wirtschaftliche Konjunkturen und Rezessionen wirkten sich für beide Städte aus. Hinzu traten die mehrfache Bedrohung Frankfurts durch französische Expansionsbestrebungen und die Differenzen Hamburgs mit Dänemark. Die Dekaden mit der jeweils größten Frequentierung liegen für Frankfurt nach dem Ende der Blockade des Gerichts 1711 und dem Ende des spanischen Erbfolgekrieges, als 127 Prozesse nach Wetzlar getragen wurden. Hamburg erreichte seine Phase größter Inanspruchnahme nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges und der erfolgreichen Loslösung von dänischen Herrschaftsansprüchen über die Stadt. Auffällig ist zudem, dass sich die steigenden Appellationssummen nicht auf die Frequentierung des Gerichts auswirkten - dies kann sowohl für Hamburg als auch Frankfurt festgestellt werden. Da, so Ranieri, die gesteigerten Appellationssummen aber ohnehin nur einen Ausgleich für die „galoppierende" Inflation bildeten 15 , wird dieses Ergebnis verständlich, zumal ja auch die Zahl
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Ranieri, Recht und Gesellschaft (wie Anm. 5), S. 204, FN 32.
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Robert Riemer der städtischen Einwohner im Verlauf der Frühen Neuzeit wuchs 16 und damit die Zahl der potentiellen Kläger und Appellanten. 4. P r o z e s s d a u e r Das folgende Diagramm zur Prozessdauer (Diagramm 2) demonstriert nochmals eindrucksvoll, dass die lange gehegten Vorstellungen von einer besonderen Langsamkeit des Reichskammergerichts auch für die untersuchten Städte nicht belegbar sind. 17 Im Gegensatz zu Äußerungen der Zeitgenossen zogen sich die Verhandlungen nicht übermäßig lange hin. Die beiden längsten Prozesse dauern zwar jeweils mehr als 100 Jahre, im Falle Hamburgs wegen einiger Besonderheiten sogar mehr als 200 Jahre 18 , die meisten Auseinandersetzungen aus beiden Städten - jeweils über 50 % - sind jedoch innerhalb von drei Jahren abgehandelt, weitere 30 % nach zehn Jahren. Die restlichen 20 % der Fälle fassen Prozesslängen zwischen elf und mehr als 100 Jahren Dauer zusammen, wobei der Anteil der Prozesse mit einer Laufzeit von mehr als fünfzig Jahren mit jeweils unter einem Prozent verschwindend gering ist. Angesichts einer Reihe verschiedener Verzögerungen ist die weitgehend zügige Abwicklung der Hamburger und Frankfurter Fälle erstaunlich. So verstarben Prozessparteien oder Anwälte während der Verfahren, die in der Reichskammergerichts-Ordnung vorgesehene Übergabe aller relevanten Dokumentezum Prozessauftakt wurde unterlaufen oder aber eine der Parteien war
Siehe oben die Angaben zur Bevölkerungsentwicklung. Wichtige Hinweise zu den Schwierigkeiten bei der Ermittlung der Dauer von Prozessen finden sich bei Baumann, Die Gesellschaft (wie Anm. 5), S. 104ff., sowie Riemer, Hamburg und Frankfurt (wie Anm. 1), S. 96, FN 396. Sowohl bei Stein-Stegemann als auch Kaltwasser werden die Prozesslängen sorgfältig recherchiert und etwaige „künstliche" Verlängerungen - z.B. durch Sichtvermerke in den Protokollen - ausgeschlossen. 18 Der längste Frankfurter Reichskammergerichts-Prozess dauerte von 1676-1788. Der Graf zu Hanau, Rieneck und Zweibrüggen (Herr zu Münzenberg und Lichtenberg), ab 1739 der Landgraf zu Hessen-Kassel als Graf zu Hanau und dann ab 1788 die Grafschaft Hanau klagten gegen Schultheiß, Bürgermeister, Schöffen und Rat der Stadt Frankfurt wegen eines Mandats „auf die Pfandungs-Constitution den abgehauenen Wild- und Hegstock betreffend". Der Kläger fühlte sich im Besitz verschiedener Gerechtigkeiten auf angeblich hanauischem Gebiet gestört und warf der Stadt das unrechtmäßige Entfernen eines hanauischen Wild- und Hegstockes (Grenzmarkierung zwischen den Gebieten der Prozessparteien) unter Einsatz von 200 Musketieren und Pfeifern sowie die Beschimpfung des Grafen vor. Nach mehr als 100 Jahren (1785) scheint ein Hauptvertrag den Streit beendet zu haben (Vertrag nicht in den Akten, Eintrag im Protokoll 1788); siehe Kaltwasser, Inventar der Akten (wie Anm. 3), S. 435f., H17. Der hamburgische Dauerprozess muss in zwei Teile geteilt werden: Zwischen 1549 und 1618 wurde er direkt vor dem Reichskammergericht verhandelt, von 1618 bis 1769 beschäftigte sich eine Visitationsdeputation mit den Vorgängen, die zwischen dem Kaiserlichen Fiskal und dem König von Dänemark bzw. den Herzögen von Schleswig-Holstein und dem Rat der Stadt Hamburg strittig waren - die Frage der Bezahlimg der Reichssteuem seitens der reichsunmittelbaren Stadt Hamburg. Mit der Lösung Hamburgs aus den dänischen Herrschaftsansprüchen war der Fall endlich erledigt; siehe Stein-Stegemann, Findbuch (wie Anm. 3), S. 266ff„ F32. 16
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Hamburg und Frankfurt vor dem Reichskammergericht
Diagramm 2: Dauer der Prozesse aus Frankfurt (1634) und Hamburg (1369) vor dem Reichskammergericht 1495-1806 im Vergleich 600
500
400
1 o
I 300
200
100
0
flüchtig. In Hamburg bestand zudem kein „allgemeingültiger Konsens" darüber, welche Gegenstände als Handelsachen galten.19 Mehrfach äußerte der Rat Bedenken gegenüber der Praxis des Reichskammergerichts, offensichtliche Handelssachen überhaupt zuzulassen. Gerade die in solchen Fällen gewünschte Prozessbeschleunigung würde wegen der Zustimmung des Reichskammergerichts zu einem Verfahren ad absurdum geführt.20 Agierte dann das Reichskammergericht auch noch ungeschickt, d.h. wenn die Prüfung auf Zulassung des Verfahrens erst nach Abschluss der Beweisaufnahme erfolgte, dann hatten sich die Parteien bei einem negativen Bescheid völlig unnötig in Kosten gestürzt und das Gerichtspersonal Arbeitszeit verschwendet. Der deutliche Unterschied zwischen Hamburg und Frankfurt bezüglich der Kategorie „bis zu einem Jahr" resultiert aus der größeren geographischen Nähe Frankfurts zum Sitz des Reichskammergerichts. Sowohl Inanspruchnahme als auch Prozessdauer sind mit den Entwicklungen auf Reichsebene oder im südlichen Ostseeraum vergleichbar - die Zahl der Prozesse nahm
Ebert-Weidenfeller, Hamburgisches Kaufmannsrecht (wie Anm. 9), S. 29ff; Beispiele für angebliches Nichterreichen der Appellationssumme, S. 35ff.; Beispiele für Definitionsprobleme bei Handelsstreitigkeiten, Zitat S. 35. 20 Ebert-Weidenfeller, Hamburgisches Kaufmannsrecht (wie Anm. 9), S. 55f. 19
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Robert Riemer generell im Verlaufe der Frühen Neuzeit zu, obwohl die Vergabe illimitierter Privilegien an verschiedene Stände nicht allen Reichsangehörigen gleichen Zugang zum Gericht gewährte. 5. Prozessgegenstände Die Untersuchungen zu den Hamburger und Frankfurter Prozessgegenständen liefern in der Aufschlüsselung nach dem Vorbild der Kategorisierung Ranieris21 folgendes Bild (Diagramm 3): Die drei größten Kategorien bei beiden Städten sind gleich - auf die geldwirtschaftlichen Prozesse folgen in Hamburg die Handels- und Gewerbesachen sowie die Auseinandersetzungen innerhalb des Familienverbandes, bei Frankfurt ist deren Reihenfolge umgekehrt. Mit teils deutlichem Abstand folgen die weiteren Kategorien, wobei vor allem Streitigkeiten mit lehnsrechtlichem und grundherrschaftlichem Hintergrund in sehr geringer Zahl zu finden sind, deren marginaler Anteil am gesamten Prozessaufkommen dem städtischen Charakter der Untersuchungsobjekte geschuldet bleibt. Auffällig sind die Diskrepanzen in den Kategorien Handel und Gewerbe und Geldwirtschaft zwischen beiden Städten. Diagramm 3: Prozessgegenstände Frankfurts (1634 Prozesse) und Hamburgs (1369 Prozesse) vor dem Reichskammergericht 1495-1806
Pronssgeganstand jlFrankfurt
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Vgl. Ranieri, Recht und Gesellschaft (wie Anin. 5), S. 282-284.
Hamburg und Frankfurt vor dem Reichskammergericht 273 In Frankfurt dominieren geldwirtschaftliche Prozesse, deren großer Anteil am gesamten Prozessaufkommen Frankfurts Rolle als Messe- und Bankenstadt betont. In Hamburg dagegen ragen Handels- und Handwerkssachen deutlich gegenüber Frankfurt hervor, hierzu zählen neben weiteren auch die Prozesse, die von Schiffern und Reedern um Schiffsversicherungen und Schadenersatzansprüche geführt werden. 6. Handels-, Geldwirtschafts- und Handwerksprozesse Ebenso wie Hamburg profitierten Frankfurt und seine Messen am Beginn der Frühen Neuzeit von der Verlagerung des europäischen Handelsschwerpunktes an Atlantik und Nordsee, denn die Verbindungen nach Antwerpen sicherten Frankfurts Import asiatischer und amerikanischer Waren.22 Die den Fernhandel abwickelnden Kaufleute förderten durch ihre Geschäfte wiederum die lokalen Händler und die städtischen Handwerker. Während erstere den Verkauf der gelieferten Waren in der Stadt und ihrer näheren Umgebung tätigten, standen Handwerkszweige wie die verschiedenen Textilgewerbe als Produzenten für einen überregionalen Markt bereit. Die in der Frühen Neuzeit fortschreitende Entwicklung Hamburgs und Frankfurts als Seehandels- sowie Messe- und Finanzzentrum, die jeweils von einer günstigen geografischen Lage profitierten und deren Handelstätigkeit gleichermaßen das städtische Handwerk anregte, kann anhand der Reichskammergerichts-Prozesse beider Städte nachvollzogen werden. Der Anteil der Handels- und Handwerksprozesse lag in beiden Städten mit 16 % für Frankfurt und 25 % für Hamburg weit über dem Reichsdurchschnitt, der in dieser Prozesskategorie im 17. und 18. Jahrhundert einen Anteil von nur etwa 6 % erreichte23 und den insgesamt ländlichen Charakter des Reiches verdeutlicht. Mit den geldwirtschaftlichen Fällen erreichten diese beiden Kategorien zusammen jeweils mehr als 50 %. Allerdings stimmt bezüglich des Teilbereichs Geldwirtschaft die städtische mit der reichischen Entwicklung überein, denn auch hier bildeten diese Prozesse mit durchschnittlich 30-35 % im 17. und 18. Jahrhundert24 die größte Prozesskategorie. Die für die jeweilige wirtschaftliche Entwicklung ausgesprochen günstige Lage Hamburgs und Frankfurts wird in mehreren Punkten deutlich: Im Norden des Reiches profitierte Hamburg bis zum Ende des Mittelalters von der engen Anbindung an Lübeck und seiner damit verbunden Rolle als dem wichI
Bund, Frankfurt am Main (wie Aren. 7), S. 64. Baumann, Die Gesellschaft (wie Anm. 5), S. 153. Bei den anderen hamburgischen Streitgegenständen, von denen nur noch derjenige zum Familienverband in seiner zeitlichen und prozentualen Entwicklung mit dem Trend für das Alte Reich annähernd übereinstimmt, liegen die Werte wegen der herausragenden Bedeutung der Kategorien Handel und Gewerbe sowie Geldwirtschaft entsprechend niedriger oder sind praktisch nicht vorhanden (S. 154ff.). 24 Baumann, Die Gesellschaft (wie Anm. 5), S. 153. 22
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tigsten Nordseehafen der Hanse. Mit der frühneuzeitlichen europäischen Expansion verblasste die Bedeutung des hansischen Nord- und Ostseehandels zugunsten einer eigenständigen hamburgischen Entwicklung, die mit der Verlagerung des Handelsschwerpunktes vom Ost- und Nordsee- zum Überseehandel einherging. Trotz des Streits um die Handelsprivilegien der Stadt mit den benachbarten Territorialherren (Frage der freien Schifffahrt auf der Elbe, Zölle, Stapel), die jeweils ihre eigenen Landstädte förderten, konnte Hamburg sein Einzugsgebiet über die Elbe bis nach Böhmen ausdehnen, während die Seehandelskontakte vor allem in die Niederlande, nach England, auf die Iberische Halbinsel und weiterhin in den Ostseeraum hineinreichten. Eine starke Stadtbefestigung und die Versuche, sich in den diversen Konflikten im Reich und den Nachbarstaaten möglichst neutral zu verhalten, verschafften der Stadt einen zusätzlichen Vorteil, da sie von ihrer Rolle als Umschlagplatz für die Logistik gegnerischer Kriegsparteien profitierte. Im Gegensatz zu Hamburg, welches vor allem von seinem Hafen lebte, bildeten in Frankfurt die jährlich zweimal stattfindenden Messen das wirtschaftliche Rückgrat der Stadt, die im Spätmittelalter die oberdeutschen Handelsstädte als bedeutendste Handelsmetropolen in der Mitte und dem Süden des Reiches (nördlich der Alpen) ablöste. Frankfurt nutzte dabei seine Lage am Schnittpunkt von fünf wichtigen Handelrouten und die trotz zwischenzeitlicher Überwerfungen bestehenden engen Beziehungen zum Reichsoberhaupt, das immerhin in Frankfurt gewählt und schließlich auch gekrönt wurde. Vom 14. bis ins späte 17. Jahrhundert war Frankfurt am Main der wichtigste Messeplatz des Alten Reiches, bevor es diese Position an Leipzig abgeben musste.25 Die Handelsstraßen führten nach Norden (der „Hessenweg" über Paderborn und Münster nach Holland), nach Nordosten (die „Erfurter Straße" nach Frankfurt a.d. Oder und Braunschweig über Erfurt), nach Südosten (über Nürnberg, Regensburg und Linz nach Wien), nach Südwesten (über Mainz und Speyer nach Straßburg) und nach Nordwesten (über Köln nach Maastricht sowie über Wesel nach Antwerpen). Die europäische Dimension der Messe wird in ihrem Warenangebot deutlich: Hier wurden Schonen-Hering, Pelze und -waren aus Russland, Brabanter Tuche und Ochsen aus Ungarn gehan-
Vgl. Werner Jochmann/Hans-Dieter Loose (Hg.), Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner, Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Reichsgründung, Hamburg 1982, sowie Hermann Kellenbenz (Hg.), Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom ausgehenden Mittelalter bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts (Handbuch der europäischen Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 3), Stuttgart 1986, S. 871. Zu Einzelaspekten der Hamburger Wirtschaft siehe u.a. Jürgen Ellermeyer/Rainer Postel (Hg.), Stadt und Hafen: Hamburger Beiträge zur Geschichte von Handel und Schiffahrt (Veröffentlichung des Hamburger Arbeitskreises für Regionalgeschichte, 2) Hamburg 1986, sowie Otto-Ernst Krawehl/Frank Schulenburg (Bearb.), Statistik des Hamburger seewärtigen Einfuhrhandels im 18. Jahrhunderts - nach den Admiralitäts- und ConvoygeldEinnahmebüchern (Quellen und Forschungen zur Historischen Statistik von Deutschland, 20), St. Katharinen 2001. 25
Hamburg und Frankfurt vor dem Reichskammergericht
delt.26 Anders als eine solche Zusammenfassung kann ein Blick in die Frankfurter Reichskammergerichts-Akten einen noch besseren Eindruck von der Breite der Frankfurter Warenpalette vermitteln: Es wurde u.a. um Branntwein, Essig, Champagner und verschiedene andere Weine gestritten, aber auch um Vieh, Gold, Silber, Kriegsgerät, Holz, Kupfer und Perlen sowie niederländische, englische, italienische, rheinische und flandrische Tuche, von denen sogar eine Stoffprobe bis heute in den Akten erhalten geblieben ist.27 Innerhalb der Handels- und Handwerksprozesse können mehrere Teilbereiche unterschieden werden. Aus Sicht des Handwerks dominieren mit zunehmender Tendenz Streitigkeiten im Zusammenhang mit dem Zunftwesen, z.B. Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen Zünften um alleinige Herstellung und Verkauf bestimmter Produkte, Prozesse gegen Unzünftige, gegen die unter Hinweis auf Verletzung von Zunftprivilegien mit dem Argument der Nahrungssicherung vorgegangen wird, sowie den strittigen Ausschluss aus einer Zunft oder den Eintritt in selbige. Letzteres ist vor allem in Frankfurt ein Problem, da der Rat seit dem Ende des Fettmilchaufstandes die Aufsicht über die politisch machtlosen Zünfte innehatte und daher in einzelnen Fällen zugewanderte Handwerker zu zünftigen Meistern machte, wogegen die Zünftigen bis vor das Reichskammergericht klagten.28 Bei den Handelsprozessen, deren Zahl ebenfalls im Verlauf der Frühen Neuzeit steigt, treten besonders Verfahren um Handelsgeschäfte und solche zur Sicherung privater Handelsforderungen hervor. Einen kleineren, aber vor allem im 18. Jahrhundert ansteigenden Anteil haben Konkursprozesse, die in Frankfurt als Folge des Zusammenbruchs der Börse im Jahre 1720, in Hamburg bedingt durch die Wechselkrise nach dem Ende des Siebenjährigen Krieges gehäuft auftreten. Bis hierher stimmen die Tendenzen für Hamburg und Frankfurt überein, doch war schon zu Anfang auf das Assekuranzwesen hingewiesen worden, dass in Hamburg insbesondere wegen der Seeversicherungen ein Zehntel aller dortigen Handels- und Handwerksfälle ausmacht, in Frankfurt dagegen nicht in einem einzigen Fall nachzuweisen ist. Am fehlenden Handel über Wasser
Siehe dazu Kellenbenz, Europäische Wirtschafts- und Sozialgeschichte (wie Anm. 25), S. 871, sowie Michael North, Von der atlantischen Handelsexpansion bis zu den Agrarreformen 1450-1815, in: Michael North (Hg.), Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Ein Jahrtausend im Überblick, München 2005. S. 112-196, hier S. 157ff. Zur Frankfurter Messe siehe u.a. Rainer Koch (Hg.), Brücke zwischen den Völkern. Zur Geschichte der Frankfurter Messe, 3 Bde., Frankfurt a.M. 1991, und Nils Brübach, Die Reichsmessen von Frankfurt am Main, Leipzig und Braunschweig (14.-18. Jahrhundert) (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte, 55), Stuttgart 1994. 27 Kaltwasser, Inventar der Akten (wie Anm. 3), S. 44, S. 68f. 28 Genauere Ausführungen zu den Auseinandersetzungen in Frankfurt am Anfang des 17. Jahrhunderts finden sich bei Robert Brandt, Die Grenzen des Sagbaren und des Machbaren. Anmerkungen zur Rechtsgeschichte des Frankfurter „Zunfthandwerks" während der Frühen Neuzeit (in diesem Band), sowie u.a. bei Matthias Meyn, Die Reichsstadt Frankfurt vor dem Bürgeraufstand von 1612-1614. Strukturen und Krise (Studien zur Frankfurter Geschichte, 15), Frankfurt a.M. 1980. 26
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Robert Riemer kann dies nicht liegen, denn einige Mainschiffer sowie Prozesse um Behinderungen der Binnenschifffahrt als Folge französischer Expansionsbestrebungen im Südwesten des Reiches am Ende des 17. Jahrhunderts können für Frankfurt nachgewiesen werden. 29 Bei den Geldwirtschaftsprozessen spielen allgemeine Schuldforderungen aus Obligationen, Darlehen und Bürgschaften sowie Wechselschulden die größte Rolle, die zusammen jeweils mehr als die Hälfte dieser Kategorie ausmachen. Dabei steigt gerade die Zahl der Wechselprozesse im Verlauf der Frühen Neuzeit deutlich an, in Frankfurt noch stärker als in Hamburg. Beide Städte profitierten dabei von Einwanderern besonders aus den spanischen Niederlanden nach deren Eroberung am Ende des 16. Jahrhunderts. Diese sorgten in ihrer neuen Heimat für Innovationen wie die Gründung von Börsen oder Banken, wobei gerade das Reich von seiner - im Vergleich mit den westlichen Nachbarn - religiösen Toleranz profitierte und viele zehntausend Einwanderer (z.B. Niederländer und Sephardim in Hamburg) anzog. 30 Börsen und Banken beflügelten die Verbreitung von neuen Kredittechniken, die den Fernhandel zunehmend bargeldlos gestalteten. Dies traf mehr noch als für Hamburg auf Frankfurt zu, da die Stadt bereits seit dem Spätmittelalter in das europäische Clearing-System eingebunden war, wobei die Frankfurter Wechselmesse den nordöstlichen Eckpunkt dieses Systems darstellte.31
Der Frankfurter Hafen kann bezüglich des Handelsumfangs schwerlich mit seinem Hamburger Pendant verglichen werden, doch könnten angesichts der Gefahren, die der Binnenschifffahrt drohten (z.B. Kaltwasser, Inventar der Akten [wie Anm. 3], S. 1088, W72, bzw. Riemer, Hamburg und Frankfurt [wie Anm. 1], S. 273, FN 1099; ein Kaufmann hatte 1633 seine auf dem Main verschifften Waren verloren, die von Tilly beschlagnahmt worden waren) auch für letztere Versicherungen von Interesse gewesen sein. Allerdings findet sich dafür kein Hinweis in den Akten. 30 Hermann Kellenbenz, Die Wiege der Moderne. Wirtschaft und Gesellschaft Europas 1350-1650, Stuttgart 1991, S. 102f. Zu Einzelaspekten siehe u.a. Hermann Kellenbenz, Sephardim an der unteren Elbe. Ihre wirtschaftliche und politische Bedeutung vom Ende des 16. Jahrhunderts bis zum Beginn des 18. Jahrhunderts (VSWG, Beiheft 40), Wiesbaden 1958, sowie Frankfurter Historische Kommission (Hg.), Frankfurt am Main: Die Geschichte der Stadt in neun Beiträgen, Sigmaringen 1991. 31 Vgl. dazu North, Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 26), S. 165, sowie Michael North, Kommunikation, Handel, Geld und Banken in der Frühen Neuzeit (EDG, 59), München 2000. Diese Wechselmessen, auf denen die verschiedenen Kreditpapiere präsentiert bzw. verrechnet wurden, fanden nicht nur in Frankfurt statt, sondern verbanden die Stadt mit den Lyoner und den genuesischen Messen, wo ähnliche Wechselbörsen abgehalten wurden. Dies ermöglichte den Kaufleuten, ihre Geschäfte weitgehend bargeldlos abzuwickeln, da die auf den Papieren ausgewiesenen Ansprüche gegeneinander aufgerechnet werden konnten. - Siehe zu den Frankfurter Wechselprozessen am RKG auch Anja Amend, Die Beteiligung von Juristenfakultäten in Frankfurter Wechselprozessen (in diesem Band), sowie ihre Habilitationsschrift, Schuldklagen aus Wechseln vor dem Reichskammergericht (erscheint demnächst). 25
Hamburg und Frankfurt vor dem Reichskammergericht
Diagramm 4: Kläger und Appellanten aus Frankfurt (1634) und Hamburg (1369) vor dem Reichskammergericht 1495-1806 im Vergleich32
• Frankfurt E3 H a m b u r g
Angesichts der genannten Vielzahl von Prozessen mit Handels- und geldwirtschaftlichem Bezug ist es wenig überraschend, dass die Kaufleute in beiden Städten den mit Abstand größten Anteil an den Klägern und Appellanten erreichten (Diagramm 4). Dabei erfolgte die Einordnung in die Kategorien zuerst nach dem Beruf der Person und erst wenn dieser nicht feststellbar war, anhand einer rechtlichen Einteilung. Demzufolge befinden sich unter den Kaufleuten Bürger, Beisassen, Juden, Fremde, Kaufmannswitwen sowie auch Adelige - im Falle Frankfurts nobilitierte Kaufmannsfamilien wie die Barckhausens. Dabei ist für den Zugang zum Reichskammergericht weniger der rechtliche Status eines Klägers, sondern vielmehr dessen soziale Stellung entscheidend, d.h., dass vor allem privilegierte gesellschaftliche Schichten vor dem Reichskammergericht vertreten sind. Diese Beobachtung ist schon bei Ranieri für das gesamte Alte Reich im 16. Jahrhundert zu finden, der vor allem den niederen Adel (am Ende des 16. Jahrhunderts 40 %) und die städtische Oberschicht (um 12 %, vor allem städtisches Patriziat und Inhaber hoher Amter für Hof- und Landesverwaltung) als klageführende Parteien ausmachte.33 I Der Unterschied zwischen der Betitelung einer Prozesspartei als „Bauer, Kätner" oder „Bewohner der Landgebiete" ist folgender: Ein Bauer wird als solcher mit Hilfe der Nennung seines Berufes identifiziert, während ein Bewohner der Landgebiete aus den der Stadt unterstehenden Dörfern in der Umgebung stammt, wobei hier entweder andere Berufe verzeichnet sind oder aber eine Feststellung derselben nicht möglich ist. 33 Ranieri, Recht und Gesellschaft (wie Anm. 5), S. 229ff. „Die soziale Zusammensetzimg der Prozessparteien vor dem Reichskammergericht stellt in der Tat fast eine spiegelbildliche Umkehrung der damaligen Gesellschaftsstruktur dar [...] noch Ende des 18. Jahr32
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Kaum vertreten sind dagegen die bäuerlichen Schichten des Reiches, obwohl sie zwischen 80 % und 90 % der Bevölkerung ausmachen.34 Die Untersuchungen Baumanns belegen, dass sich daran im 17. und 18. Jahrhundert grundsätzlich nichts ändert. Unter den Privatparteien dominieren landsässiger Adel sowie die städtischen Eliten.35 Dieser Trend setzt sich in Hamburg und Frankfurt mit einigen, dem städtischen Charakter geschuldeten Besonderheiten fort, weshalb hier vor allem Kaufleute als Prozessparteien zu finden sind. Ihr Anteil an den Klägern und Appellanten übersteigt - wie etwa auch jener der Frankfurter Juden - ihren Anteil an der städtischen Bevölkerung deutlich. So sind beispielsweise im ersten Geschäftsjahr der Hamburger Bank (1619) von den 42 umsatzstärksten Kaufleuten und Firmen (mehr als 100 000 fl. im Jahr) mehr als 75 % auch in Prozessen vor dem Reichskammergericht vertreten.36 Vermögende Kaufleute beider Städte sowie hamburgische Reeder und Frankfurter Verleger und Bankiers sind selbst oder ihre Angehörigen teilweise in mehreren Verfahren zu beobachten, die jedoch nicht nur berufsrelevante Gegenstände aufweisen, sondern auch Familiensachen betreffen. Deutlich geringer ist daher der Anteil der Handwerker, die mit wenigen Ausnahmen gerade nicht zur städtischen Oberschicht gehören, während Gesinde vor dem Reichskammergericht fast nicht existent ist. Folgerichtig sind die Anteile der Kläger, die den Status einer armen Partei geltend machen, für Hamburg und Frankfurt mit 1,9 und 2,4 % sehr gering.37 Es handelt sich zudem vorwiegend um verarmte Kaufleute und Bürger ohne berufliche Zuordnung. Die Schichtung der Beklagten ist ähnlich, wobei besonders auffällt, dass in der überwiegenden Anzahl der Prozesse zwischen Privatpersonen beide Parteien aus der gleichen sozialen und beruflichen Gruppe stammen. Die geographische Streuung der Prozessbeteiligten für Hamburg und Frankfurt im Alten Reich zeigt, dass der überwiegende Anteil dieser Kontakte durch die Geschäftsbeziehungen der Kaufleute zustande kommt. Diese Verbindungen - 876 für Frankfurt und 386 für Hamburg - verteilen sich über große Teile des Reichsgebietes. Jedoch ist eine Konzentration in den - nach modernem
hunderts ist die Mehrheit der Rechtssuchenden städtischer Provenienz und adlige[n] Standes." (S. 232, FN 44, teilweise auch bei Freitag, Die Prozesse [wie Anm. 8], S. 70). 34 Ranieri, Recht und Gesellschaft (wie Anm. 5), S. 233. 35 Baumann, Die Gesellschaft (wie Anm. 5), S. 76ff. So differenziert Baumann nach der Häufigkeit der Klagen innerhalb der Privatparteien, die mit Titel, Beruf oder rechtlichem Status benannt werden können: An erster Stelle stehen die Kaufleute, dann die „Räte" und Akademiker, Bürger und Handwerker. Dazu gesellen sich Gastwirte, die „vielleicht [...] durch ihren kommunikativen Arbeitsplatz einen Wissensvorsprung" hatten, „der ihnen den Umgang mit offiziellen Stellen erleichterte" (S. 79). 36 Hermann Kellenbenz, Unternehmerkräfte im Hamburger Portugal- und Spanienhandel 1590-1625 (Veröffentlichungen der Wirtschaftsgeschichtlichen Forschungsstelle, 10), Hamburg 1954, S. 238ff. 37 Der Anteil der als „pauper" eingestuften Kläger ist gering, jedoch steigt ihre Zahl besonders im 18. Jahrhundert in beiden Städten stark an - eine Beobachtung, die sich mit denen Baumanns, Die Gesellschaft (wie Anm. 5), S. 79, für das Alte Reich deckt.
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Sprachgebrauch - Großräumen beider Handelszentren festzustellen. Deutlich geringer, aber dennoch eindrucksvoll ist die Anzahl der Rechtsstreitigkeiten, die Hamburger und Frankfurter Parteien vornehmlich mit Kaufleuten aus ganz Europa ausfechten, 150 in Frankfurt und 79 in Hamburg, die aber hier nicht näher erläutert werden sollen.38 Im Falle Hamburgs fällt auf, dass besonders Lübeck und Altona mit 53 und 23 Kontakten allein fast 20 % aller Kontakte im Rahmen der Prozessverfahren mit Beteiligten außerhalb Hamburgs stellen. Daneben gibt es Prozessbeziehungen in andere Handelszentren wie Köln oder Frankfurt, jedoch auch nach Speyer im 16. und 17. sowie nach Wetzlar im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert. Letzteres weist auf die Streitigkeiten von Hamburger Bürgern mit Reichskammergerichts-Personal hin, welches unter Umgehung subordinierter Instanzen direkt vor dem eigenen Gericht klagen konnte. Tendenziell jedoch befinden sich die Orte mit einer vergleichsweise hohen Kontaktfrequenz im Norden des Reiches. Festzustellen ist außerdem, dass vom 16. zum 17. Jahrhundert die Anzahl dieser Prozesse und deren Streuung zunehmen, ihre Anzahl vom 17. zum 18. Jahrhundert bei gleich bleibender Streuimg aber wieder rückläufig ist. Für Frankfurt verändern sich Anzahl und Streuung der Kontakte vergleichbar mit jenen Hamburgs, allerdings auf einem ca. 60 % höheren quantitativen Niveau. Dennoch ist auch im Falle Frankfurts eine Konzentration einer größeren Anzahl der Prozessbeziehungen im Großraum Frankfurt bzw. im Westen des Reiches zu konstatieren (also eher im nahen und ferneren Einzugsgebiet der Stadt). Darüber hinaus zeigt ihre Zahl im 15. Jahrhundert mit einem Fall für Hamburg und 17 für Frankfurt die deutlich größere Nähe Frankfurts zum neu gegründeten Reichskammergericht, welches damals in Frankfurt selbst angesiedelt war. Der Zug vor das Gericht von Hamburg aus war dagegen bedeutend zweitaufwendiger und teurer.39 Da eine Vielzahl der gesamten Prozesse aus beiden Metropolen Handel und Geldwirtschaft zum Gegenstand haben bzw. von Kaufleuten begonnen werden, kann hier von einer Aufteilung der Handelsgebiete mit einer Dominanz Hamburgs im Norden und einer solchen Frankfurts in der Mitte des Reiches
Siehe dazu ausführlich Riemer, Hamburg und Frankfurt (wie Anm. 1), S. 213ff. Hier zeigen sich deutlich die wirtschaftlichen Präferenzen beider Städte: Die Hamburger Kontakte konzentrieren sich vornehmlich auf die europäischen Küstenstädte an Ostsee, Nordsee und am Atlantik (Iberische Halbinsel), während sich die Frankfurter besonders im kontinentalen Mitteleuropa befinden. 39 Der finanzielle Aufwand spiegelt sich in Klagen des Gerichtspersonals sowie von Lastenträgern, Boten usw. an den Gerichtsstandorten wider, die um ausstehende Löhne geführt werden. Vgl. dazu u.a. Rudolf Smend, Das Reichskammergericht. 1. Teil: Geschichte und Verfassung (Quellen und Studien zur Verfassungsgeschichte des Deutschen Reiches in Mittelalter und Neuzeit, IV, 3), Weimar 1911, S. 349, sowie Riemer, Hamburg und Frankfurt (wie Anm. 1), S. 106 u. S. 119, wo sich entsprechende Beispiele finden lassen. 38
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gesprochen werden. Dies deckt sich weitgehend mit der Gliederung des Reiches in vier Handelsräume und die Zuordnung Hamburgs und Frankfurts zu zwei verschiedenen Handelsgebieten, im Falle der Elbmetropole zum hansischen, im Falle Frankfurts zum rheinischen.40 7. Schlussbemerkung Es ist deutlich geworden, dass die ca. 3 000 überlieferten Reichskammergerichts-Prozesse aus Hamburg und Frankfurt aufgrund ihrer großen Anzahl eine breite Basis für allgemeine Untersuchungen zu den Prozessparteien, -gegenständen usw. nach dem Vorbild Ranieris und Baumanns liefern. Darüber hinaus ermöglichen die vielen Handels- und Handwerksfälle (ca. 1 750) detaillierte Aussagen u.a. zu den verhandelten Gegenständen und der Reichweite der Geschäftsbeziehungen der Prozessbeteiligten. Zunächst konnte im Rahmen der allgemeinen Untersuchung festgestellt werden, dass vor allem Privatparteien Hamburgs und Frankfurts mit den entsprechenden Zugangsmöglichkeiten (Kaufleute) Verfahren vor dem Reichskammergericht anstrengten und das Gericht besonders zur Klärung ihrer wirtschaftlichen sowie - in niedrigerem Maße - familiären Streitigkeiten nutzten. Die Inanspruchnahme entwickelte sich dabei einerseits weitgehend unabhängig von einer Beeinflussung durch verschiedene Appellationsprivilegien, dokumentiert aber andererseits Frankfurts größere Nähe zum Standort des Reichskammergerichts, der sich in einer absolut höheren Prozesszahl niederschlägt. Deren Gewicht steigert sich angesichts der deutlich niedrigeren Einwohnerzahl der Stadt am Main zusätzlich, spricht Hamburg jedoch nicht die ebenfalls starke Einbindung in die Reichsjustiz ab. Bezüglich der Prozesslänge liegen beide Untersuchungsobjekte gleichauf - lediglich bei der Falldauer bis zu einem Jahr machen sich die kürzeren Wege von Frankfurt zum Reichskammergericht bemerkbar. Mit Blick auf die Gegenstände der gerichtlichen Auseinandersetzungen ergab sich wiederum ein ähnliches Bild. Geldwirtschaftliche Prozesse dominieren vor Handels- und Handwerks- sowie Familienstreitigkeiten. Dabei umfassten die geldwirtschaftlichen sowie Handels- und Gewerbesachen eine ganze Palette ökonomisch relevanter Teilbereiche, wie Schulden- und Kreditwesen, Vertragsfragen, Handelsgeschäfte und Zunftsachen. Unterschiede in der Häufigkeit des Auftretens der einzelnen Bereiche sind der differierenden Charakteristik der Untersuchungsobjekte geschuldet. Zwar ließ sich für beide Städte ein im Vergleich zum gesamten Alten Reich deutlich größerer Anteil von Handels· und Handwerksfällen am gesamten Prozessaufkommen feststellen, jeMichael North, Kommunikation (wie Anm. 31) , S. 10, und Michael North, Deutsche Wirtschaftsgeschichte (wie Anm. 26), S. 157. Hermann Kellenbenz, Deutsche Wirtschaftsgeschichte Band I. Von den Anfängen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts, München 1977, S. 262f. Zur Erinnerung: Die vier Wirtschaftsräume waren der hansische, der rheinische, der mitteldeutsche sowie der oberdeutsche. 40
Hamburg und Frankfurt vor dem Rächskammergericht
doch fielen Besonderheiten wie die Prozesse um Schiffsversicherungen im Falle Hamburgs auf. Mit diesen Ergebnissen sowie der starken geographischen Streuung der Prozesskontakte im Reich bzw. in Europa, die zugleich die Zugehörigkeit zu verschiedenen Wirtschaftsräumen abbilden, bestätigt die vorliegende Untersuchung anhand der Reichskammergerichts-Prozesse den eingangs zitierten Ruf beider Städte als Handels-, Gewerbe- und Finanzzentren von nicht nur reichsweiter sondern auch europäischer Bedeutung.
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Schulden vor Gericht Michael Rothmann Schulden vor Gericht: Die Frankfurter Messegerichtsbarkeit und der Messeprozess in Mittelalter und beginnender Früher Neuzeit Schulden und Zahlungsverzug zählen in der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Überlieferung zu den am Besten dokumentierten Geschäftsvorgängen und Delikten. Schon Fritz Rörig sah im Aufkommen des Kreditwesens eine der Wurzeln kaufmännischer Buchführung. Treffend formulierte er: „Sobald der Kaufmann überhaupt die Feder führt, wird er aufzeichnen, was andere ihm schulden."1 Das Entstehen von Schulden überschneidet sich in vielen Punkten mit den Techniken des Waren-, Geld- und Kreditverkehrs. Die Formen der Geldvermehrung über das Eigenkapital hinaus, des „Bezahlens mit geschlossenem Beutel" 2 , wie die Quellen es bezeichnen, waren dabei sehr verschieden. Sie reichten vom einfachen Warenkredit mittels Zahlungsversprechen oder Schuldbrief, über die Pfandleihe, Hypotheken, Renten bis hin zu Wechselbriefen oder Arbitragegeschäften. Das Risiko war angesichts des beim Schuldner nicht vorhandenen Bargeldes selbstverständlich höher als bei einem normalen Bargeldtransfer. Man sollte es jedoch auch keinesfalls allzu hoch einschätzen, sich von der durch die Quellenlage bedingten negativen Perspektive täuschen lassen. Denn Schulden haben weitaus bessere Überlieferungschancen, verursachen mehr „Schlagzeilen" und Papier als der normale Geschäftsverlauf, der keiner Erinnerung bedarf und der daher wiederum häufig nur aus eben diesen negativen Nachrichten zu rekonstruieren ist. Bankrotte waren die Ausnahme, nicht die Regel. Um den normalen Geschäftsverlauf im Blick zu behalten, müssen obrigkeitliche Gerichtsbücher, die kaufmännische Konflikte dokumentieren, mit kaufmännischen Rechungsbüchern, die den Normalverlauf überliefern, verglichen werden. Ansonsten wirkt das mittelalterliche Wirtschaftsleben allzu leicht wie eine Aneinanderreihung von Insolvenzen, und der Historiker tappt in die Schuldenfalle der Überlieferung. Für eine berechenbare Wirtschaft spricht denn auch der Alltag der Kreditvergabe: Sie basierte auf Vertrauen, nicht auf Misstrauen. Die Hoffnung auf Rückzahlung musste beim Gläubiger größer sein als die Wahrscheinlichkeit der Zahlungsunfähigkeit, ansonsten wäre das Geld im Beutel des Gläubigers verblieben. Die unter anderem von Van der Wee für Antwerpen vertretene These über das Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner, im 14. Jahrhundert sei Kredit nur auf Vertrauensbasis, d.h. an Verwandte oder an langjährige persönliche Bekannte gewährt worden, Darlehen und Zahlungsansprüche seien schwer übertragbar gewesen und erst im frühen 16. Jahrhundert hätten Schuldscheine und andere Kreditinstrumente auf den Messen frei zirkuliert, ist zumindest für
Fritz Rörig, Das älteste erhaltene Kaufmannsbüchlein, Hgbll. 50,1925, S. 46ff. Unter anderem: Hohenlohe Zentralarchiv Neuenstein Weinsberg, Schublade Β 40/2. Die Metapher diente jedoch auch schon zuvor zur Bezeichnung des Vorgangs. 1
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die Kreditgeschäfte auf den Frankfurter Messen wenig zutreffend.3 Sowohl die Frankfurter Insatzbücher4 als auch die Frankfurter oder die auswärtigen Gerichtsbücher, selbst die Antwerpener, zeigen bereits für das 14. Jahrhundert ein völlig anderes Bild. Zwar ist der Grad der gegenseitigen Verwandtschaft oder Bekanntschaft zwischen Gläubiger und Schuldner häufig nicht mehr rekonstruierbar, die dokumentierten Kredite, in welcher Form auch immer, sei es mit Pfandsetzimg, sei es mit Schuld- oder Wechselbrief, sind jedoch so zahlreich und räumlich so weit gestreut, dass schon im 14. Jahrhundert in den meisten Fällen von einem engen Vertrauensverhältnis nicht mehr ausgegangen werden kann, zumal Kreditvergabe immer ein gewisses Vertrauensverhältnis zwischen Kreditgeber und Kreditnehmer voraussetzt. Die Übertragbarkeit von Schuldscheinen und anderen Kreditinstrumenten nahm zwar im Laufe der Zeit und mit der Entwicklung modernerer Handelstechniken zu, war aber spätestens seit dem 15. Jahrhundert - Einzelnachweise existieren bereits für das 14. Jahrhundert - auf den Frankfurter Messen üblich. Die Klausel „bezalen uff Frankenfurter ... mess nächst künfftig nach wechseis recht im oder wer disen brief mit sinem willen inn haut"5 findet sich keineswegs selten. Häufig fehlt sogar noch der Zusatz „mit sinem willen".6 Ging dennoch ausnahmsweise etwas schief, so gewährte in Frankfurt während der Messen das Frankfurter Schöffengericht den Messebesuchern vor Ort schnelle Rechtssprechung. Die in der Regel kurze Verweildauer der Messegäste zwang das Gericht zu einem beschleunigten Verfahren, wollte man Streitfälle noch innerhalb der Messe verhandeln. Das Frankfurter Gericht wurde so in handelsrechtlichen Belangen, bestimmt von der funktionalen Notwendigkeit schneller Rechtssprechimg während der Messezeiten, zu einem rational-pragmatisch organisierten Schnellgericht.
Hermann Van der Wee, Anvers et les innovations de la technique financière aux XVIe er XVIIe siècles, in: Annales E. S. C. 22,1967, S. 1067-1089. Diese These wird geme wiederholt und häufig sozialhistorisch garniert, so etwa bei Mark Häberlein, Brüder, Freunde und Betrüger: soziale Beziehungen, Normen und Konflikte in der Augsburger Kaufmannschaft um die Mitte des 16. Jahrhunderts, Berlin 1998. Wesentlich vorsichtiger als Van der Wee beurteilt Stuart Jenks, Kredit im Londoner Aussenhandel um die Mitte des 15. Jahrhunderts, in: Michael North (Hg.), Kredit im spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Europa, Köln/Wien 1991, S. 72-102, die Situation der Kreditvergabe. Er nimmt schon für das 15. Jahrhundert geänderte Formen der Kreditvergabe an. 4 Die Frankfurter Insatzbücher enthalten vor dem Rat beglaubigte Pfandsetzungen von Schuldner-Immobilen als Sicherungen für Gläubiger. Diese erlauben den Gläubigern ohne weiteres Gerichtsverfahren den direkten Zugriff auf die als Pfand eingesetzten Immobilien. Häufig wird hierbei auch der Vorlauf des Schuldenverfahrens erläutert. 5 Hektor Ammann, Konstanzer Wirtschaft nach dem Konzil, in: Schriften des Vereins für Geschichte des Bodensees 69, 1950, S. 1-112, hier Nr. 491, S. 78. Ammann bietet hier als Quellenanhang die wirtschaftsgeschichtlich relevanten Einträge aus dem Konstanzer Ammanngerichtsbuch von 1423-1434, insgesamt 673 Einträge. Darin zeigen sich die ausgedehnten Wechselgeschäfte des Konstanzer Großhandels mit den verschiedenen großen Wechselplätzen. Die Frankfurter Messe spielt hierbei die Hauptrolle. Siehe hierzu unter anderem: Ammann, Konstanzer Wirtschaft (wie Anm. 5), Nr. 492, S. 78. 3
Schulden vor Gericht Trotz des großen Aufkommens an Handels- und Schuldverfahren und der Notwendigkeit schneller Urteilsfindung bildete sich in Frankfurt kein eigenständiger Messegerichtsstand heraus. Das Frankfurter Schöffen- bzw. Ratsgericht7 war auch zu Messezeiten die Instanz, die im Konfliktfall für Rechtssicherheit zu sorgen hatte. Zwar wurden die Sitzungszeiten verlängert, Konfliktfälle, die nicht die Messe betrafen, auf Gerichtstermine nach der Messe vertagt und den Schöffen das Sitzungsgeld verdoppelt, der urteilende Personenkreis blieb jedoch derselbe.8 Auch ohne eigenen Gerichtsstand prägte die hohe Zahl an Fällen und vor allem der komplexere Urteilsfindungsprozess auch für Nichtbürger zu Messezeiten die allgemeine Frankfurter Gerichtsbarkeit, insbesondere das Handelsrecht, denn das Frankfurter Gericht war für alle die Messe betreffenden Konflikte die durch kaiserliche Privilegien abgesicherte Instanz und der herausgehobene Gerichtsstand. Zwar blieb in vielen Fällen der Heimatort der Beklagten als Gerichtsstand aktuell, doch nutzten vor allem in Schuldsachen bereits in der Frühzeit viele Messebesucher das Frankfurter Schöffengericht für notarielle Beglaubigungen oder für ihren rechtlichen Konfliktaustrag. Das Frankfurter Schöffengericht wurde auf einer funktionalen Ebene ein Musterbeispiel für die Vermischung und Scheidung von Bürgerrecht und Fremdenrecht. Aus diesen Gründen wird im Folgenden daher ausführlich auf die allgemeine Frankfurter Gerichtsbarkeit und das allgemeine Frankfurter Handelsrecht und seine von den beiden Messen motivierten Sonderregelungen einzugehen sein. Der Handlungsort des geschilderten Geschehens, Frankfurt und seine beiden Messen, rechtfertigt sich nicht nur aus dem Titel des Tagungsbandes, sondern darüber hinaus aus der Bedeutsamkeit seiner zunächst wirtschaftlichen und wirtschaftspolitischen Verhältnisse. Jahrmärkte und vor allem große Messeplätze wie Frankfurt waren im Unterschied zu Wochenmärkten und Stapelplätzen freie Märkte, offen für fremde Waren und Besucher. Frei hieß in diesem Zusammenhang nie ungeregelt. Ein freier Markt verlangte und verlangt im Gegenteil besonders klar gefasste politische und rechtliche Rahmenbedingungen, um die Handelsfreiheit zu gewährleisten. Er bietet sich daher auch als exemplarisches Beobachtungsfeld für die Entwicklungen im Handelsrecht wie im Handelsprozessrecht an, das den Anforderungen eines solchen neuen Markttyps genügen musste.9
7 Die Quellenbegriffe sind vor allem für das Ratsgericht nicht eindeutig. So begegnet häufig auch der Begriff Schöffenrat zur Benennung der Institution, die sich um die Fälle mit niedrigerem Streitwert zu befassen hatte. Auch die Scheidung Schöffengericht und Schöffenrat ist nicht immer scharf. 8 K. Bücher/B. Schmidt (Hg.), Frankfurter Amts- und Zunfturkunden bis zum Jahre 1612,3 Bde., Frankfurt am Main 1914-1915, Zweiter Teil, Nr.1-21, S. 1-59. ISG (= Institut für Stadtgeschichte) Frankfurt a.M., Geschriebene Ordnungen und Rollen Nr. 26 und Nr. 65. 9 Zu Jahrmärkten und Messen als Keimzellen des allgemeinen „Freien Marktes", wo sich an konkreten Orten dessen Instrumentarien, Verfahren und Institutionen formierten,
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Der Untersuchungszeitraum meines Beitrags beschränkt sich - im Gegensatz zu den üblichen Gepflogenheiten dieses Bandes - nicht auf die Frühe Neuzeit, sondern umfasst auch das spätmittelalterliche, statuarische Frankfurter Handelsrecht, sind es doch die sukzessive erworbenen königlichen Privilegien des 14. und 15. Jahrhunderts, welche die Sonderstellung der Frankfurter Gerichtsbarkeit während der Messezeiten noch in der Frühen Neuzeit maßgeblich prägen sollten. Zugleich lässt sich nur unter Berücksichtigung des langsam gewachsenen und Privilegien gestützten ius proprium der Transformationsprozess zum römisch-rechtlichen Verfahren beschreiben. Bereits seit dem ausgehenden 13. Jahrhundert waren in Frankfurt Ansätze einer, die besonderen Erfordernisse der Kaufmannschaft berücksichtigenden Gerichtsbarkeit entstanden. Im Jahr 1294 hatte König Adolf von Nassau verfügte, dass das Frankfurter Schöffengericht bei Schuldforderungen und Streit über Güter von Frankfurter Bürgern die alleinige Entscheidungsinstanz sein sollte.10 Ebenso war bei in Frankfurt anhängigen Fällen die Appellation an ein auswärtiges Gericht unerwünscht. Die gesonderte Erwähnung von Prozessen wegen Schulden oder Gütern deutet bereits an, dass hier bereits an aus Handelsgeschäften resultierende Streitfälle gedacht wurde. Am 3. August 1318 urkundeten die Frankfurter über ihren Stadtfrieden. In den das Gerichtswesen regelnden Bestimmungen wird bereits ein Instanzenzug angedeutet. Für alle in Frankfurt entstehenden Streitfälle sollte allein das Schöffengericht zuständig sein, die Appellationsinstanz bildete das Königsgericht.11 Einen exemplarischen Einblick in die Mechanismen der Gerichtspraxis und des Marktes bietet ein recht früher Fall aus dem ersten Frankfurter Insatzbuch. Bezeichnenderweise gerieten gerade die Schuldner, die dort die höchste Einzelzahlung beglaubigen ließen, in Zahlungsverzug. Die beiden Frankfurter Bürger Gyselbrecht von Massenheim und Jakob Darendir schuldeten dem
bevor er zum gesamtgesellschaftlichen Leitmodell emporstieg siehe: Michael Rothmann, Die Frankfurter Messen im Mittelalter, Stuttgart 1998 sowie Ders., Überall ist Jahrmarkt. Entwicklungstendenzen der Institution des periodischen Marktes in Zentraleuropa vom 14. bis zum 17. Jahrhundert, in: Fiere e mercati nella intergrazione delle ecconomie europee Secc. ΧΙΠ- XVin (Istituto internazionale di storia econimica "F. Datini" Prato Serie II - Atti delle "Settimane di studi" 32), Firenze 2001, S. 91-108. 10 Johann Friedrich Böhmer (Hg.) und Friedrich Lau (Bearb.), Urkundenbuch der Reichsstadt Franfurt, 2 Bde., Darmstadt 1901-1905, Bd. 1, Nr. 654, S. 324. Von einer Gleichstellung von Frankfurter Bürgern und Fremden vor dem Frankfurter Schöffengericht für das Jahr 1318, wie Nils Brübach, Die Reichsmessen von Frankfurt am Main, Leipzig und Braunschweig (Beiträge zur Wirtschafts- und Sozialgeschichte 55), Stuttgart 1994, S. 96f. behauptet, kann jedoch keine Rede sein. Er übersetzt fälschlicherweise den Quellenbegriff „uzburgere" einfach mit Fremde. In der angesprochenen Quelle (Böhmer/Lau, UB Frankfurt, Bd. 2, Nr. 108, S. 97) sind jedoch die „Fremden" gemeint, die sich noch nicht über ein Jahr in der Stadt aufhielten und somit noch kein Bürgerrecht erwerben konnten, jedoch eine dem Bürger ähnliche Stellung vor Gericht genossen. Ansonsten ist jedoch Brübach in Bezug auf die Frankfurter Gerichtsbarkeit, vor allem für die Frühe Neuzeit, durchaus verlässlich. 11 Ebd., Bd. 2, Nr. 108, S. 97.
Schulden vor Gericht
Straßburger Bürger Bertschen von Halle eine Summe von 280 Pfund. Der Eintrag datierte, dies wird noch wichtig werden, auf den 31. Januar 1337. Als Zahlungstermin war zunächst die erst im Jahre 1330 privilegierte Fastenmesse vereinbart: „Das geld sullen sy ime gebin in dem nuwen merkete in der vasten nu neyst komt."12 Einer der Schuldner, Jakob Dorendir, hatte zudem bereits Häuser und Gut für Schulden in Höhe von 169 Pfund Heller mit dem Zahlungsziel Pfingsten 1337 bei Hennekin Swalbecher und dessen Frau als Sicherheit eingesetzt.13 Als gegen Ende der Fastenmesse offensichtlich wurde, dass die beiden Schuldner den Zahlungstermin für die 280 Pfund bei Bertschen von Halle nicht einhalten konnten, wurde ein neuer Verhandlungstermin auf den 14. April 1337 anberaumt. Anscheinend konnten Gylbrecht und Jakob ihren Gläubiger anlässlich des Termins vor den beiden Bürgermeistern und einigen Ratsherren noch einmal davon überzeugen, dass die Zahlungsschwierigkeiten nur momentan seien und sie ansonsten weiterhin das Vertrauen verdienten. Überdies bestanden bereits vorrangige Forderung, die im Falle der Liquidation der Häuser und des Hausrates zunächst zu befriedigen gewesen wären: „Wers auch, das Hennekin Swalbechere und Snabilis dochter, den das gut vor stet, das gud und die hus wulden verkouffen, was dan uberig ist ubir ir geld, das sullen sy Bertschen und synen erben reychin, als lange bis das ime wirt vergoldin."14 Im Falle der völligen Zahlungsunfähigkeit hätte also, wenn beim Verkauf der Vermögenswerte nicht genug erlöst worden wäre, der Gläubiger Bertschen von Halle leer ausgehen können. Daher empfahl es sich wohl, im Sinne der kaufmännischen Vernunft und in der Hoffnung der Besserung der Finanzlage der beiden Schuldner, das Zahlungsziel zu verlängern. Der Betrag sollte dabei, anders als bei der ersten Vereinbarung, nicht in einer Rate, sondern in drei Raten entrichtet werden. Als erstes Zahlungsziel wurde der 20. April 1337, also bereits 6 Tage später, mit einem Betrag von 100 Pfund vereinbart. Bertschen wollte wohl sofort einen Beweis für die Berechtigung seines Vertrauensvorschusses in Händen halten. Der zweite Termin mit einem Betrag von 40 Pfund wurde auf Pfingsten, den 8. Juni, 1337 angesetzt. Dieser Zahlungstermin dürfte mit dem Zahlungstermin in der anderen Schuldsache abgestimmt worden sein. Schließlich sollten die restlichen 140 Pfund auf den 29. August 1337 in der Herbstmesse gezahlt werden. Die Vorgehensweise bei Zahlungsverzug erweist sich im konkreten Fall als durchaus gemäßigt. Der Schuldner wurde nicht sofort gepfändet, sondern erhielt die Chance, seine Schulden in Raten abzuzahlen, und dies nachdem er das erste Zahlungsziel versäumt hatte. Vergleichbares gilt auch für die übrigen Einträge, die sich auf Vorverträge beziehen. Man versuchte, den Schuldner so lange wie nur irgend möglich im Besitz seiner Produktionsmittel zu lassen
Ebd., Bd. 2, § 89, S. 554. Ebd., Bd. 2, § 88, S. 554. 14 Ebd., Bd. 2, § 101, S. 557. 12
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und ihm die Gelegenheit zu geben, seine versprochenen Zahlungen noch zu leisten, ein recht gnädiger Umgang mit Schuldnern also. Das eher milde Vorgehen gegen säumige Schuldner dokumentieren auch die nachfolgenden Insatzbücher. Ziel der Verhandlungen war immer eine gütliche Einigung. Man wollte es dem Schuldner ermöglichen, den völligen Bankrott zu vermeiden und seine Schulden zu begleichen. Der Gläubiger sollte seinen Kredit zurückerhalten. Erst wenn keine Zahlung mehr zu erwarten war, beschlagnahmte das Gericht die Güter der Schuldner und verkaufte diese, um die Ansprüche der Gläubiger zu befriedigen. So ausgleichend und gnädig sich das Gericht in der Rechtspraxis zeigte, so stringent versuchte der Frankfurter Rat im Dienste des Rechtsfriedens und zur Instanzensicherheit den Gerichtsstandort Frankfurt sukzessive durch normative Privilegien zu stärken. Der Erwerb der kaiserlichen Privilegien von 136015, 137616 und 146517 zeigt diesen planmäßigen Ausbau und die zunehmende Abgrenzung der Zuständigkeitsbereiche der Frankfurter Gerichtsbarkeit. Von Karl IV. erwarb die Stadt 1360 ein Privileg, wonach niemand die Messebesucher oder ihre Habe wegen eines an einem Gericht des Königs oder Reiches anhängigen Verfahrens während der Messezeit und während der An- und Abreise aufhalten dürfe. Dieser Schutz wurde im Jahre 1376 auf Personen erweitert, die sich aufgrund von auswärtigen Schulden in der Reichsacht befanden. 1396 verschaffte sich Frankfurt des Weiteren ein päpstliches Privileg gegen den Kirchenbann. So urkundete Papst Bonifatius IX. in einer Bulle, die in Frankfurt angeschlagen wurde, dass keine Provinz, Stadt oder Bezirk künftig mehr wegen Schulden mit dem Kirchenbann belegt werden dürfe. Papst Nikolaus V. bestätigte 1451 für die Frankfurter Messen die Ungültigkeit jeglichen Kirchenbannes, der mit Schuldforderungen in Verbindung stand. Die hierdurch erzielten Vergünstigungen waren umso wichtiger, als die gegen verschuldete Städte ausgesprochenen Urteile sämtliche Stadtbewohner in Solidarhaftung nahmen. Für viele Besucher wurden dank der Privilegien und ihrer konsequenten Durchsetzung die Frankfurter Messen zum einzigen frei zugänglichen Markt. Zudem war der Kreis der betroffenen Städte, gerade in der Umgebung, nicht gerade klein. In der Zeit zwischen 1430 und 1460 befanden sich ganze Gruppen von Städten jähre- oder gar jahrzehntelang wegen Überschuldung in der Reichsacht: in der Wetterau: Wetzlar, Gießen, Friedberg, Butzbach, Münzenberg, Lieh, Königstein, Usingen und Weilnau; in Franken: Wertheim, Würzburg und Ochsenfurt; am Rhein: Mainz, Andernach, Linz und Bonn sowie die niederländischen Städte und in Niedersachsen Lüneburg.18 Die Kaufleute
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Frankfurt a.M., Privilegien Nr. 125. ISG Frankfurt a.M., Privilegien Nr. 202. 17 ISG Frankfurt a.M., Privilegien Nr. 355,356. 18 Alexander Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte, 4 Bde., Frankfurt 1919-1925, hier Bd. 1, S. 46ff.
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Schulden vor Gericht
wussten um die Rechte und Freiheiten, die ihnen die Frankfurter Messeprivilegien boten, und nutzten sie. Schließlich erwarb die Stadt 1465 von Kaiser Friedrich ΙΠ. die besondere Zuständigkeit für alle Messegerichtssachen. Das Privileg bestimmte, dass „... Schul theyßen und scheffen des gemei ten gerichts, und all ander darzu gehörende, die yetzundt sein oder hinfür sein werden, allen und yeden iren bürgern, inwonern auslendigen personen, kauflutten und andern, so sie messe und merckte bey ine besuchen, ... auf ir yeglichs erfordern und ansuchen, als sich das geburet und herkommen ist, alle und yegliche in was wirden, wesen oder standes der oder die weren, und ir gutte, auch wider und gegen diselben und einem yeglichen umb in pflichtige Bugere ... auch zwischen und gegen wem das were, nichts ausgenommen, ... nach desselben unssers und des Reichsgerichts und der statt Fr(ankfurt) recht ... darinne handeln, richten, urteil sprechen recht ergeen lassen und procedieren mögen ,.."19 Für Verfahren gegen Messebesucher war nun nicht mehr das heimische Gericht zuständig, sondern das Frankfurter Schöffengericht. Jeder Messebesucher genoss damit Rechtsfrieden und durfte in Frankfurt während der Messe wegen auswärtiger Schulden weder verfolgt oder in Haft genommen, noch sein Gut mit Beschlagnahmung oder Pfändung belegt werden. Jeder Messebesucher war von Reichs wegen auch auf seinem Weg von und zur Messe geschützt und durfte erst nach dem Ende seines Besuches wieder belangt werden. In der Folgezeit berief sich der Frankfurter Rat regelmäßig bei Verletzungen des ungehinderten Zugangs zur Messe auf die kaiserlichen Privilegien. Besonders, wenn es durch Auseinandersetzungen zwischen Adeligen in der Umgebung Frankfurts zu Beschlagnahmungen von Kaufmannsgut kam, war das kaiserliche Privileg ein effektives Rechtsinstrument. Noch im 17. und 18. Jahrhundert, während der Kriege zwischen dem Reich und Frankreich und der mit ihnen verbundenen Handelssperren, berief man sich erfolgreich auf die dreihundert Jahre alten kaiserlichen Privilegien.20 Nach der Einrichtung des Reichskammergerichtes wurde zu Beginn des 16. Jahrhunderts die Auslegung der Achtbestimmungen auf Drängen Frankfurts geändert. Auslöser war der letzte Achtprozess in Verbindung mit der Messe in den Jahren 1498 bis 1516. Die Hansestädte Danzig und Elbing waren auf Betreiben der ehemaligen Nürnberger Bürger Thomas Jodeck und Wilhelm Rauscher in die Reichsacht erklärt worden.21 Zur Fastenmesse 1503 legten Jodeck und Rauscher beim Frankfurter Bürgermeister Reiß das Achtungsurteil 19 Johann Philipp Orth, Ausführliche Abhandlungen von den berühmten zwoen Reichsmessen, so in der Stadt Frankfurt jährlich abgehalten werden, Frankfurt 1765, S. 608. 20 So während des dreißigjährigen Krieges: Vgl. StA Frankfurt, Rep. 23, Messe Ugb. Akten, Nr. 20. Während des Revolutionskrieges: StA Frankfurt, Handel Ugb. Nr. 100, Messe Ugb, Nr. 4. Im 18. Jahrhundert: StA Frankfurt, Handel Ugb., Nr. 115. 21 G. Frhr. v. d. Ropp (Bearb.), Hanserezesse, Abt.n, Bd. IV, Leipzig 1876-92, S. 128f. Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte (wie Anm. 18), Bd. 1, S. 47. Am ausführlichsten zum Vorgehen der beiden: StaatsA Würzburg, MRA Reichsstädte Frankfurt, Κ 528/1431.
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vor und verlangten seine Vollstreckung. Reiß lehnte dies ab. Er verwies darauf, dass nach den Messeprivilegien der Handel auf den Messen auch von Geächteten frei sei und dass außerdem aus Danzig und Elbing seit längerer Zeit niemand die Messen besucht hätte. Zur nächsten Herbstmesse legten Jodeck und Rauscher daraufhin eine Liste von Nürnberger Bürgern vor, die gegen die kaiserliche Acht gegen Danzig und Elbing verstoßend, dort Handel getrieben hätten und nun auf der Messe anwesend seien. Gegen diese verlangten sie nunmehr die Vollstreckung.22 Besonders hatten sie es auf den Nürnberger Kaufmann Hans Knopff, seine Gesellschafter und den namentlich nicht näher bezeichneten Faktor auf der Frankfurter Messe abgesehen, der „... zu herwerg gelegt mit Kunratt Schusselberger, unter den hutten, hat sin gewerb und var aida ..." Der Grund für das ständige Drängen, gegen Knopff vorzugehen, lag darin, dass dieser in Danzig geboren war und besonders enge Geschäftsbeziehungen dorthin unterhielt.23 Der Frankfurter Rat weigerte sich erneut gegen Knopff und die anderen aktiv zu werden. Als Nürnberger genössen sie auch dann Schutz, wenn sie mit Gütern aus den geächteten Städten Handel trieben, solange die Waren ihr rechtmäßig erworbenes Kaufmannsgut seien. Die Kläger hätten nicht nachweisen können, dass sie außerhalb der Achterklärung Ansprüche auf die Waren der genannten Kaufleute hätten. Jodeck und Rauscher wandten sich erneut an den Kaiser und baten darum, dass Frankfurt zu einer Änderung seines Verhaltens angehalten würde.24 Das Reichskammergericht, an das der Fall verwiesen wurde, legte daraufhin fest, dass zwischen den Geächteten und denjenigen, die mit ihnen Gemeinschaft gehabt, also auch Handel getrieben hätten, zu differenzieren sei, demzufolge nur der Geächtete selbst mit Zwangsmaßnahmen belegt werden dürfe. Als Jodeck und Rauscher 1516 sich damit nicht zufrieden gaben und sogar den Frankfurter Schöffen Bastian Schmitt verklagten, intervenierte der Frankfurter Rat beim Kaiser. Er erreichte nicht nur eine Bestätigung des Privilegs von 1376, sondern darüber hinaus eine neuerliche Erklärung des Reichskammergerichtes, in der der Achtprozess in Schuld- und Handelssachen für grundsätzlich unzulässig erklärt wurde. Somit war für die Zukunft jedem weiteren Eingriff in die Handelsfreiheit der Messen mit Hilfe einer Achterklärung die Rechtsgrundlage entzogen worden.25
StaatsA Würzburg, MRA Reichsstädte Frankfurt, Κ 528/1431, fol. l/2r. Folgende Nürnberger werden genannt: Jakob Welser und seinen, das „Lieger" betreuenenden Handelsdiener Kestrin Stroelesmid aus Frankfurt, Konyg und Lang Schott, Heinrich Redwitzer und Sohn und die Handelsgesellschaft des Hans Knopff, zu der Heinrich Ferleberger, Heinrich Knopff und Kunradt Schusselberger gehörten. 23 Knopff ist von 1498 bis 1509 regelmäßig auf den Frankfurter Messen anhand der Nürnberger Freßgeldrechnungen nachweisbar, vgl. StaatsA Nürnberg, Rep. 54a I, Nr.: 598,697,775,800,835,873,907,916a, 954a, 993,1019. 24 StaatsA Würzburg, MRA Reichsstädte Frankfurt, Κ 528/1431, fol. 5rv. 25 Orth, Reichsmessen (wie Anm. 19), S. 609f. Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte (wie Anm. 18), Bd. 1, S. 48. 22
Schulden vor Gericht Das Frankfurter Schöffengericht besaß für die Messezeiten auf der Basis der Frankfurter Privilegien die örtliche Zuständigkeit auch für Fremde und ihre Konfliktfälle, deren Gerichtsstand normalerweise ihr Heimatort gewesen wäre. Dies betraf auch diejenigen Besucher, deren Städte durch eigene Privilegien nur vor den Gerichten ihrer Heimatstädte verklagt werden konnten. Für aus der Messe herrührende Streitigkeiten war Frankfurt allein gültiger Gerichtsstand, insbesondere für Bankrotte und Pfändungen, persönlichen oder dinglichen Arrest.26 Eine Appellation war nur noch an den Kaiser, das königliche Hofgericht Rottweil, das Reichskammergericht und den Reichshofrat zulässig. Diese besonderen Privilegien und die herausgehobene Stellung des Frankfurter Schöffengerichts erklären, warum in Frankfurt keine Notwendigkeit bestand, ein besonderes Mess- oder Handelsgericht als eigenständige Institution einzusetzen. Durch die kaiserliche Privilegierung und die Verankerung im Reichsrecht waren Gültigkeit und Durchsetzbarkeit von gefundenen Urteilen gesichert. Zumal jenseits der rechtlichen Lage die Bedeutung der beiden Messen für den internationalen Handelsverkehr deren Besuch so attraktiv machte, dass man Konfliktfälle lieber einvernehmlich löste, um weiterhin freien Zugang zu besitzen. Der kaiserliche Erlass hatte denn auch anfangs besonders im Hinblick auf den umfassenden Gläubigerschutz großen Erfolg. Ein Zeitgenosse vermerkt: „Dadurch die Handlung, bevorab in meszeiten weil die gläubiger viel leichter zu ihrem Geld kommen könnten, sehr befördert wurde."27 Die besonderen Anforderungen an das Schöffengericht während der Messezeiten lagen in einer schnellen, der Sache angemessenen Urteilsfindimg innerhalb kurzer Fristen. Während der Messezeiten waren die Schöffen und zuständigen Ratsherren zur Anwesenheit verpflichtet. Die Gerichtsferien begannen regelmäßig nach den Messen. In jeder Gerichtssitzung musste der Anspruch erfüllt werden, dass „darin alle, wegen der Messen vorkommenden Streite schleunig und one alle processliche Weitläufigkeit untersuchet und abgetan würden."28 Das Frankfurter Schöffengericht befolgte den Grundsatz, dass die Streitfälle der Kaufleute von einem auf den anderen Gerichtstag entschieden werden mussten, der Prozess keinesfalls länger als vierzehn Tage dauern durfte. Ordentliche Gerichtstage wurden innerhalb wie außerhalb der Messezeiten Montag, Mittwoch und Freitag abgehalten, während der Messen bei Bedarf auch täglich.29 Die streitenden Parteien mussten ihre Anträge durch jeweils einen Fürsprecher vorbringen lassen, der jeweils vom Vorsitzer der Gerichtssitzung, dem Schultheißen, aus drei bis vier von der Stadt bestallten Fürsprechern ausgewählt wurde. Die Parteien trugen nacheinander ihre Anliegen vor, wobei immer Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte (wie Anm. 18), Bd. 1, S. 48. Orth, Reichsmessen (wie Anm. 19), S. 56. 28 Ebd., S. 258. 29 Gerhard Köbler (Hg.), Reformación der Stat Franckenfort am Meine des heiligen Romischen Richs Cammer anno 1509, Glessen 1984, S. XIX. 26
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abwechselndes Rederecht bestand. Bei Prozessen während der Messen mussten, den zu verhandelnden Gegenständen angemessen, mindestens zwei von ihnen Kaufleute sein.30 Die Fürsprecher verschwanden mit dem Verlauf des 16. Jahrhunderts zugunsten professioneller Vertreter sukzessive aus dem Verfahren. Anschließend wurden beide Parteien zum Beweis ihrer Rechtspositionen aufgefordert; die Beweislast lag beim Kläger. Die Gegenseite musste den Gegenbeweis antreten. Beweise waren durch Zeugen und/oder Urkunden herbeizuführen, wobei Kaufmannsbücher, Meßscontrobücher, Pfand- und Schuldbriefe und Wechsel öffentliche Beweiskraft besaßen.31 Alle schriftlichen Beweismittel mussten eindeutig sein, d.h. den Anspruch des Präsentierenden durch eindeutige Namensnennung ausweisen.32 Nachdem die Rechtslage eindeutig gemacht worden war, konnte der Kläger die Vollstreckung durchführen lassen. Im schuldrechtlichen Verfahren, worunter Rechtsstreitigkeiten auf den Messen in der Regel fielen, erhielt der Gläubiger vom Vorsitzer den sogenannten Richter zugewiesen, der beim Schuldner die Vollstreckungshandlung, die sogenannte Rachtung, durchführte. Bei beweglichen Sachen erfolgte diese durch die Übergabe des Streitgegenstandes an den Gläubiger, bei unbeweglichen Sachen durch eine symbolische Übergabe. Neben diesem normalen streitigen Verfahren kam der gütlichen Einigung eine erhebliche Bedeutung zu, bei dem das Schöffengericht von beiden Parteien ermächtigt wurde, „... inne der gutlichkeyt..." ein Urteil zu fällen.33 Daneben waren Schiedsverfahren üblich, die vor mehreren Schiedsleuten aus dem Kreise der Ratsherren oder Schöffen bestellt wurden. Besondere Bestimmungen galten für Säumnis- und Arrestverfahren. In diesen und anderen handelsrechtlichen Fällen wurden im Übrigen von Anfang an Regelungen für Kommissionsgeschäfte, Anweisungen und Handelsgesellschaften getroffen. Messegäste mussten ihren Wirten, Frankfurter Geschäftspartnern oder den städtisch bestellten Prokuratoren eine Vertretungsvollmacht erteilen. Dabei war es Brauch, dass bei der Vertretung fremder Parteien sich der Wirt oder Prokurator die Zwangsvollstreckung gegen seine eigenen Güter und seine Person bis zur vollen Höhe des Streitwertes gefallen lassen musste.34 Seit den sechziger Jahren des 15. Jahrhunderts lässt sich auch in Frankfurt immer stärker das Vordringen des römischen Rechtes und eine zunehmende Schriftlichkeit beobachten; obwohl es in etlichen Prozessen noch bei den alten Orth, Reichsmessen (wie Anm. 19), S. 258. Der Waren- und Geldverkehr wurde zwar in zunehmendem Maße auch von Schriftlichkeit geprägt, jedoch spielten mündliche Vereinbarung und Absprachen noch lange eine ebenso große Rolle. Allzu gute schriftliche Überlieferung lässt vermuten, dass die beteiligten Parteien und das Geschäft von vorneherein zumindest risikoreich oder von gegenseitigem Misstrauen geprägt waren. 32 Köbler, Reformación (wie Anm. 29), S. XXI. 33 Ebd., S. XX. 34 Dietz, Frankfurter Handelsgeschichte (wie Anm. 18), Bd. 1, S. 48. 30 31
Schulden vor Gericht Rechtsnormen des ius proprium blieb. Die ersten, ausschließlich schriftlich geführten Prozesse fielen in die Jahre 1467 und 1488. Anfangs waren Mischformen häufig, wobei man die Tatbestände mit den Mitteln des statuarischen Rechtes auslegte und sie dann versuchte, unter römisch-rechtliche Rechtsnormen zu fassen.35 Zuerst standen die Schöffen den Neuerungen ablehnend gegenüber, und weigerten sich beispielsweise noch 1491, die Übergabe eines Schriftsatzes ohne persönliche Anwesenheit des Beklagten als der Norm genügende Antwort anzuerkennen. Ebenso begann der Rat erst ab 1496 die Schreiber anzuhalten, in den Gerichtsbüchern Vermerke über den Austausch von Akten zwischen den Parteien zu machen. In den Schöffengerichtsbüchern waren anfangs alle bei Gericht vorkommenden Rechtshandlungen, wie Berichte über den Prozessverlauf, Schuldbekenntnisse, Prozessvertreter, Urteile und Angaben zur Vollstreckung eingetragen. Seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts wurden in den Schöffengerichtsbüchern nur noch stichwortartig kurze Eintragungen über Prozessgegner, ihre Herkunft, Streitsache und Termin gemacht. Ab 1505 wurden für einzelne Arten von Eintragungen besondere Bücher oder Sachakten angelegt, in denen die vor Gericht abgeschlossenen oder von ihm beglaubigten Rechtsgeschäfte dokumentiert wurden.36 Bereits im 14. Jahrhundert entstanden in Frankfurt die ersten „Gesetzbücher", in denen zahlreiche Verordnungen des Rates zu den unterschiedlichsten Rechtsbereichen aufgezeichnet und fortgeschrieben wurden. Erst zu Beginn des 15. Jahrhunderts wurden diese im Zuge von Abschriften in eine grobe Systematik gebracht, die zusammengenommen das sog. Gesetzbuch von 1417 ergeben.37 Sein zweiter Teil ist nahezu vollständig dem Handels- und Messerecht gewidmet. Handschriftlich wurden diese Gesetzbücher teilweise auch dann noch ergänzt, als mit der Ausbreitung römisch-rechtlicher Regelungen die Gesetze und Verordnungen in den „Reformationen" niedergelegt wurden. Privatrechtliche und prozessrechtliche Bestimmungen, die zuvor in vereinzelten Ratsverordnungen gesetzt worden waren, wurden nun systematisch in gesonderten Büchern zusammengefasst. Die erste Frankfurter Reformation entstand nach einem Beschluss des Frankfurter Rates im Jahre 1498 und wurde im Jahre 1509 gedruckt vorgelegt. Dabei war kein vollständig neuer Rechtskorpus intendiert, sondern auf Basis des römischen Rechtes das im Wesentlichen fortbestehende, ältere statutarische I
Köbler, Reformación (wie Anm. 29), S. XXV. Einen guten Überblick zur Gerichtsbarkeit gibt Brübach, Reichsmessen (wie Anm. 10), S. 145-180, der dabei im wesentlichen dem schon erwähnten Köbler sowie der zur Rezeption des römischen Rechts klassischen, rechtshistorischen Studie, Helmut Coing, Die Rezeption des Römischen Rechts in Frankfurt am Main, Frankfurt am Main 1962, folgt. 36 Köbler, Reformación (wie Anm. 29), S. XVHI. Die Bücher besaßen öffentliche Beweiskraft. 37 Armin Wolf (Hg.), Die Gesetze der Stadt Frankfurt im Mittelalter (Veröffentlichungen der Frankfurter Historischen Kommission ΧΠΙ), Frankfurt 1969, S. 15f. Zur Entstehung: S. 19ff. 35
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Recht in einzelnen Punkten neu gefasst, eben reformiert.38 Bereits 1558 entstand auf Veranlassung des Rates eine neue Gerichtsordnung und zwischen 1571 und 1578 wurde eine erneuerte Reformation vom Frankfurter Stadtsyndikus Johannes Fichard ausgearbeitet. Sie beruht nicht mehr nur auf aus dem Frankfurter Rechtsgebrauch stammenden, dem römischen Recht angepassten Regeln, sondern Fichard inkorporierte zudem Rechtssetzungen aus verschiedenen territorialen Landrechten, anderen städtischen Reformationen, Reichsabschieden und Reichskammergerichtsbeschlüssen.39 Sie bedeutete eine umfassende Neuordnung des Frankfurter Rechtes. Im Jahre 1611 wurde die erneuerte Reformation mit wenigen Ergänzungen neu publiziert. Bis in das 19. Jahrhundert bildeten die Reformationen von 1578 und 1611 gültiges Frankfurter Recht. In den Bereichen des Wechselwesens und des Kaufmannsrechts kam es 1635, zwischen 1660 und 1666 sowie 1739 durch Edikte und Ordnungen des Rates zu Ergänzungen. Daneben wurden nur noch einzelne Polizeiordnungen, die im 14. und 15. Jahrhundert noch Eingang in die Gesetzbücher der Stadt gefunden hatten, erlassen und gedruckt.40 Die Reformation von 1578 mit ihren Erweiterungen von 1611 wurde vom Rat während der Herbstmesse am 10. September 1611 verkündet.41 Sie enthält zehn Teile, von denen die ersten beiden, „Von Gerichten und gerichtlichem Prozess" und „Von Contracten, Handthierungen/und was denen anhangt" Rechtsnormen für den Handel und die Gerichtsbarkeit während der Messen enthalten. Die einzelnen Teile sind in Titel und in Paragraphen unterteilt. Die Reformation folgt damit einer Ordnung, die sich schon bei ihrer frühesten Vorgängerin findet. In den ersten drei Teilen werden die Zuständigkeit der Gerichte, die Gerichtszeiten, sowie ihre Besetzung geregelt. Die Reformation unterscheidet zwischen des „Reichs Stattgericht" und dem Schöffenrat, dessen Zuständigkeit sich auf Fälle des Familienrechts, Erbschaftsangelegenheiten und solche Fälle, „... auß Köbler, Reformación (wie Anm. 29), S. XXIX. Ebd., S. XXXIff. 40 Vgl. ebd., S. ΧΧΙΠ. Zu 1635 siehe außerdem: ISG Frankfurt a.M., Gedruckte Ordnungen und Bekanntmachungen, Kasten 7: „Edicta wider die vilfältige transportierten Wechselbrieffe ..." vom 9. April 1635. Zu 1660-1666 siehe die Verhandlungen zwischen Lyon und Frankfurt, die in die Wechsel Ordnung von 1666 mündeten. Diese ist in ihren wesentlichen Teilen der Lyoner Ordnung sehr nahe: Institut für Stadtgeschichte Frankfurt, Rep. 23, Messe Ugb, Nr. 7 sowie „Der Stadt Franckfurth am Mayn erneuerte Ordnung in Wechseln und Kauffmanns-Geschäfflen, etc, de ao 1666", ISG Frankfurt a.M., Gedruckte Ordnungen und Bekanntmachungen, Kasten 9 (Im Folgenden Frankfurter Wechselordnung 1666 genannt). Zu 1739: „Des Heiligen Reichs Stadt Franckfurth am Mayn erneuerte und vermehrte Ordnung in Wechsel- und Kauffmanns-Geschäfften de ao 1739", ISG Frankfurt a.M., Ratsverordnungen 1739. 41 Ebd., S. 285 „Der Statt Frankfurt am Mavn erneuerte Reformation / Wie in den Jahren 1578 außgangen und publicieret / Jetzt abermals von newem ersehen / an vielen unterschiedlichen Orten geendert, verbessert und vermehre", Frankfurtl611. Im folgenden: Reformation 1611. 38 39
Schulden vor Gericht
welcher Verzug ein Großer Schad und Nachteil zu befahren" beschränkte. Für Streitigkeiten, die während der Messe entschieden werden mussten, galt, die alten Ordnungen ergänzend, dass alle Prozesse, bei denen der Streitwert fünfzig Gulden nicht überstieg, an den Schöffenrat verwiesen werden sollten. Vor ihm geführte Prozesse bedurften nicht der Schriftform, insbesondere konnte das Verlesen der Akten zur Beschleunigung des Prozesses unterbleiben.42 Der Schöffenrat war somit nur für die anscheinend große Zahl kleiner und kleinster Prozesse mit einfacher Rechtslage zuständig, die sich auch während der Messen aus dem Kleinhandel ergeben konnten, und diente der Entlastung des eigentlichen Gerichts. Er war immer dann anzurufen, wenn ein formaler Prozess nicht notwendig schien und eine Entscheidung im einfachen Schiedsspruch gefunden werden konnte. Der Schöffenrat tagte regelmäßig an Samstagen zwischen neun und elf Uhr, und „... sonst in der Woche, wan es die Nothdurft erfordert".43 Seine Sitzung wurde wie diejenigen des Schöffengerichtes mit der Gerichtsglocke im Turm der Nicolaikirche eingeläutet. Der Schöffenrat war als Marktgericht nicht nur für die Messen, sondern wohl auch für die Wochenmärkte zuständig, und bildete die unterste Instanz für die entsprechenden Streitigkeiten. Das Schöffengericht blieb bei den schon oben erwähnten alten Gerichtsterminen.44 Schultheiß, Schöffen, Advokaten und Prokuratoren wurden am Abend vor der Sitzung mündlich geladen. Am Rathaus wurden die Sitzungen zudem schriftlich angekündigt. Gerichtszeit war zwischen neun und elf Uhr, nachdem zuvor zwischen acht und halb neun Uhr durch die Messglocke die Sitzung des Gerichts noch einmal öffentlich eingeläutet worden war. Dieses Läuten war keine rein symbolische Handlung, sondern für jeden Geladenen eine bindende Aufforderung, sich dort einzufinden. Selbst für Auswärtige lautete die Ladung auf den nächsten Gerichtstermin, nach Ablauf einer bestimmten Frist, und nicht auf ein festgelegtes Datum.45 Bei den außerordentlichen Gerichtssitzungen war es untersagt, an einem Sonntag und bei jüdischen Prozessbeteiligten auch an einem Samstag zu tagen. Während der Messe war das Gericht beschlussfähig, wenn mindestens acht Schöffen anwesend waren.46 Der Prozess wurde nun in der Regel schriftlich geführt, d.h. nicht nur die Entscheidungsfindung, sondern die gesamte Verhandlung hatte schriftliche Anträge, Plädoyers und Verhandlungsprotokolle als Basis.
Reformation 1611,1. Teil. 1. Titel, §§ XXI und XXII, fol. 2,3. Titel, fol. 6. Ebd., § XXVI. 44 Nach der Reformation waren Gerichtsferien an Sonntagen, Marienfeiertagen, den Aposteltagen, zwischen dem 24. Dezember und dem 14. Januar, den Sonntagen Esto mihi und Invocavit (vor der Fastenmesse), Palmsonntag und Quasimodogeniti (nach der Fastenmesse), den Sonntagen Vocem locunditatis und Exaudí, zwischen Pfingsten und Trinitatis. Es war festgelegt, dass am 14. August (vor der Herbstmesse) jegliche Vakanz zu enden hatte. Nach der Herbstmesse begann eine bis Galli (16. Okt.) dauernde Sitzungspause. Beide Messen wurden also von Gerichtsferien eingerahmt. 45 Vgl. Reformation 1611, Titel XI, § ΧΠ, fol. 27. 46 Ebd., fol. 6. 42
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Michael Rothmann Im Gegensatz zum älteren Prozess waren der mündliche Prozess und auch der Zeugenbeweis durch mündlichen Eid mehr und mehr aus der Übung gekommen. Dies unterschied neben dem Streitwert, zumindest auf der normativen Ebene, das Schöffengericht vom Schöffenrat. Zur Wahrung der Rechtssicherheit musste der Gerichtsschreiber binnen vierzehn Tagen nach dem Urteil darüber eine Urkunde ausstellen, die Kläger und Beklagtem zuging. E>iese war Rechtstitel für die Vollstreckung von Forderungen oder weiteren Klagen.47 In der alltäglichen Rechtspraxis wurde zwar nicht immer ebenso scharf zwischen Schöffengericht und Schöffenrat geschieden wie in den Rechtsreformationen, dies mindert jedoch keineswegs den von funktionalen, pragmatischen Ansprüchen getragenen gesetzgeberischen Ordnungswillen der normativen Texte, die auf eben diese teils wenig übersichtliche Rechtspraxis reagieren und ihr eine praktikable Struktur zu geben versuchen. Ausführungen zum Schuldrecht, insbesondere zum Gläubigerschutz und zur Zwangsvollstreckung, stellen den größten Teil der handelsrechtlichen Regelungen der Reformation dar. Die einfachste Form der Konfliktregulierung war ein Verfahren vor dem Bürgermeister, ohne dass es zwangsläufig zu einem Verfahren vor dem Schöffengericht kommen musste.48 Der Gläubiger ließ hierbei den Schuldner vor den Bürgermeister laden. Dort musste dieser die Rechtmäßigkeit seiner Forderung nachweisen, was nur durch die Vorlage eines Wechsel-/ Schuldbriefes oder anderer Urkunden geschehen konnte. Der Schuldner wurde befragt, ob er die Schuld anerkenne. Ebenfalls ausschließlich durch schriftliche Beweisstücke konnte er ihr Nichtbestehen oder ihre Erfüllung nachweisen. Konnte oder wollte er nicht zahlen, so setzte der Bürgermeister eine Frist zur Erfüllung der Schuld. Auf Verlangen des Gläubigers konnte der Schuldner zur Stellung von Pfändern oder Bürgschaften verpflichtet werden. Nur nach mehrfachem Verlangen des Gläubigers und bei einer Schuld in erheblicher Höhe war die Sicherstellung von Besitz des Schuldners zulässig.49 Dabei durfte der Arrest nur vom Richter vollzogen werden.50 Das Verfahren vor einem der Bürgermeister war dem Prozess vor dem Schöffengericht vorgeordnet und sondierte zunächst die Rechtmäßigkeit der vorgebrachten Forderungen. Zugleich bot sich den Parteien die Möglichkeit einer schnellen Lösung außerhalb des Schöffengerichtsverfahrens. Dieses Verfahren hatte seine Vorläufer unter anderem in jenen vor den Bürgermeistern vorgenommenen Verpfändungen, die die bereits erwähnten und mit dem Jahr 1328 einsetzenden Insatzbücher dokumentieren. Gläubiger und Schuldner erschienen zu einem vorbestimmten, regelmäßigen Termin vor den
Ebd., fol. 8. Siehe auch den Beitrag von Gabriela Schlick-Bamberger, Die Audienzen des Jüngeren Bürgermeisters in der Reichsstadt Frankfurt am Main. Ein Untergericht als Spiegel des reichsstädtischen Alltagslebens im 18. Jahrhundert, in diesem Band. ^Ebd., fol. 25r. 49 Ebd., Titel XI, § XII. 50 Ebd., Titel ΧΠ. 47
Schulden vor Gericht Bürgermeistern (es genügte auch einer), um ein Pfand zur Absicherung einer bestehenden Schuld in die Insatzbücher eintragen zu lassen. Durch die Eintragung gewann der Gläubiger die Befugnis, den Schuldner im Falle eines erneuten Zahlungsverzuges ohne gerichtliche Klage pfänden oder das verpfändete Gut zu seinem Nutzen in Besitz nehmen zu dürfen.51 Im ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhundert formte sich aus dem Verfahren vor dem Bürgermeister die unterste Instanz der Frankfurter Gerichtsbarkeit. Erst wenn es hier zu keiner Konfliktlösung zwischen Gläubiger und Schuldner kam, war der Unterlegene verpflichtet, am nächsten Gerichtstag vor dem Schöffengericht Klage einzureichen. Unterließ er die Klageerhebung, erloschen der Arrest und das Recht zur Kümmerung. Bei Anwesenheit von Gläubiger und Schuldner wurde das Verfahren sofort eröffnet und der Fall entschieden.52 Fehlte der Schuldner und hatte er keinen Anwalt mit Vertretungsvollmacht beauftragt, so hatte er binnen einer Frist von vier Wochen vor dem Gericht zu erscheinen. Eine einfache Ladung (Fürgebot) war ausreichend; sie war dem Schuldner vom Gläubiger zu überbringen. Nach Ablauf der Frist erlosch das Recht zum Arrest oder zur Kümmerung. Diese Regelung galt jedoch lediglich für Frankfurter Bürger. Bei auswärtigen Schuldnern erließ das Gericht eine „Citation", in der der Klagegrund, Kläger und ein Hinweis auf die Gerichtstage enthalten sein mussten. Wohnte der Gläubiger innerhalb eines Umkreises von zehn Meilen um Frankfurt, galt die Ladung für den nächstfolgenden Gerichtstag. Weiter entfernt wohnende Gläubiger besaßen das Recht „... je zu fünff Meilen wegs eynen Tag zu rey sen, und den fünfften Tag still zu liegen". 53 Der Gläubiger bzw. Kläger musste nach Ablauf dieser Frist an einem der folgenden vier Gerichtstage - also binnen einer Woche - zum Prozess erscheinen. Versäumte er diese Frist, erloschen sämtliche von ihm beantragten Rechtsmittel, und er musste erneut Klage erheben.54 Sobald Gläubiger und Schuldner vor Gericht erschienen waren, begann der Prozess mit der Beweisaufnahme. Der Gläubiger hatte seine Forderungen möglichst lückenlos zu belegen, der Schuldner Gelegenheit diese zu widerlegen. Diese Bestimmimg war an den Besonderheiten des Messegeschäftes orientiert, denn eine Klage musste fallengelassen werden, wenn der Schuldner beweisen konnte, dass er eine Messe, aus der heraus dieser Anspruch gegen ihn erwirkt worden war, gar nicht besucht hatte.55 Als Nachweis für den ProI
Siehe zu den Frankfurter Insatzbüchern: Rothmann, Die Frankfurter Messen (wie Anm. 9), S. 329-347. 52 Reformation 1611, fol. 25v bis fol. 27r. 53 Ebd., § ΧΠ. fol. 27r. 54 Ebd., fol. 29v. 55 Ebd., Titel XXVIII, § V.: „Als, so der Kläger wolt sagen, er hab dem Beklagten die geforderte Schuldt in der Fasten-Meß allhie geliehen, und der Beklagte dagegen fürwendte, und auch beweisen wollte, daß er solche FastenMeß nicht anherkommen, sonder soliche Zeit über zu Venedig oder Meylandt gewesen, so soll er alßdann zu solcher Beweisung auch zugelassen und dem statt gegeben werden." 51
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zess innerhalb der Messen waren neben den Dokumenten über die Schuld auch der Beweis durch Schuld- oder Skontrobücher zugelassen. Diese mussten aber nicht nur ordentlich geführt, leserlich geschrieben sein, sondern die Kontoführung musste ebenso den Namen des Käufers oder Verkäufers bzw. des Kommissionärs, den Geschäftsinhalt, wie z.B. Art und Menge der Waren, den Namen des Zahlenden, die Summe, die Währung und den Termin „... mit Vermeidung des Jahrs, Monats, Tags ..." verbuchen, um vor Gericht als Beweismittel zugelassen zu werden.54 Stimmten zwei Skontrobücher überein, wurde die Rechtmäßigkeit einer Forderung festgestellt. Damit niemand durch die Vorlage der Skontrobücher im Original gezwungen war, Geschäftsgeheimnisse preiszugeben, waren beglaubigte Abschriften der Einträge vom vereidigten Gerichtsschreiber dem Original gleichgestellt.57 Neben den Schulddokumenten und Geschäftsbüchern hatten in Ausnahmefällen auch Kerbhölzer und Chirographe Beweiskraft.58 Nachdem das Schöffengericht die Rechtmäßigkeit der Forderung geprüft und anerkannt hatte, wurde der Schuldner zur Zahlung verurteilt, wobei bis zur Leistung die Sequestration angeordnet werden konnte. Konnte der Schuldner nicht zahlen, wurden ihm die arrestierten Güter oder auch Pfänder oder Bürgschaften, die bei Geschäftsabschluss vereinbart worden waren, genommen und das Urteil über die Zwangsversteigerung, in Frankfurt als „Vergantung" bezeichnet, vollstreckt.59 Die Vergantung musste von den städtischen „Feilträgern" innerhalb von vier Wochen vorgenommen werden. Dabei durften nur so viele Waren versteigert werden, bis die dem Gläubiger zustehende Summe erzielt worden war. Der Mehrerlös oder übrig gebliebene Waren mussten nach Begleichung der Gerichtskosten an den Schuldner zurückgegeben werden.60 Konnte die Vergantimg wegen mangelndem Käuferinteresse nicht erfolgen, ging laut den Bestimmungen der Reformation von 1578 nach Ablauf der vier Wochen der gesamte sichergestellte Warenbestand, ohne Rücksicht auf seinen Marktwert, in das Eigentum des Gläubigers über. Die Reformation aus dem Jahre 1611 regelte dieses Verfahren aufgrund von offensichtlichen Missbräuchen neu, nachdem die Stadt als Gerichtsherrin in einigen Fällen zu Schadensersatz verurteilt worden war, weil der Warenwert die zu befriedigende Forderung bei weitem überstiegen hatte. Die übervorteilten Schuldner, die die Rechtsprechimg des Frankfurter Schöffengerichtes überprüfen ließen, appellierten in der Regel an das Reichskammergericht.61 Die Ausgewogenheit zwischen Gläubigerschutz und Eigentumsansprüchen des Schuldners, vor allem im Hinblick auf die Vergantungen zu Messezeiten,
Ebd., Titel XXX, §§ ΧΠ u. ΧΠΙ, fol. 50r-51r. Ebd., fol. 52v. 58 Ebd., § XIV. 59 Ebd., Titel XXX, §§ ΧΠ u. ΧΠΙ, fol. 84v.ff. und fol. 87r.f. 60 Ebd., Titel XLVn, fol. 88r.f. 61 Ebd., fol. 69r.f.
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dürften eine Neuregelung notwendig gemacht haben.62 Kaufleute, deren Absatzhoffnungen sich nicht erfüllten, liehen sich nicht selten Geld bei anderen Kaufleuten oder Frankfurter Juden, um ihre Verbindlichkeiten während der Zahlwoche zu erfüllen, und setzten dafür die unverkauften Waren ballenoder fassweise als Pfand ein. Die Waren blieben teilweise in den gemieteten Unterkünften (Kammern) bis zur nächsten Messe zurück. Konnten sie zum vereinbarten Zahlungstermin auf einer späteren Messe ihre Verbindlichkeiten nicht erfüllen, kam es zum Prozess, der meist mit der Vergantung endete. Die zur Versteigerung kommenden Güter hatten während der Feiltage nur selten einen Abnehmer gefunden, da sie nämlich nicht stückweise, sondern nur im Ganzen verkauft werden durften. Zudem lagen die Feiltage außerhalb der Messe, so dass die potentiellen Kunden, nämlich Großhändler, fehlten. Nach der Ordnung von 1578 gingen in diesem Fall die Güter nach Ablauf der Frist vollständig auf den Gläubiger über, der sie meist andernorts und im Detail gewinnbringend zu einem, die Pfandsumme übersteigenden Preis verkaufen konnte. Neben Schadensersatzforderungen vor den Frankfurter und anderen Gerichten hatte dies durchaus auch zur Folge, dass mancher ehemalige Schuldner nun seinerseits bei Gericht um den Arrest und die Kümmerung von Waren aus dem Besitz des ehemaligen Gläubigers beantragte. Unter diesen negativen Vorzeichen litt die reibungslose Abwicklung von Warenkreditgeschäften, aber auch der Warenhandel. Die Reformation von 1611 kodifizierte daher ein neues Verfahren, das das Eigentum des Schuldners gegen eine ungerechtfertigte Bereicherung seitens des Gläubigers bewahren sollte. Im Falle von Vergantungen in der Messe mussten nun die Feilträger zunächst den Warenwert bei den vom Rat vereidigten Maklern feststellen lassen und durften diese nicht unter dem festgestellten Wert verkaufen. Zweitens war der Verkauf in kleineren Mengen erlaubt, so etwa der Verkauf einzelner Tuche aus einem Tuchballen, lediglich der Kleinverschnitt in Hosen- oder Rocklänge blieb weiterhin verboten.63 Die Feilträger wurden zudem zur Buchführung über die Verkäufe verpflichtet. Auch die Übergabe der Waren an den Gläubiger im Falle von deren Unverkäuflichkeit wurde neu geregelt. Der Gläubiger musste zunächst vor dem Schöffengericht und unter Vorlage des Schulddokumentes die Herausgabe des Pfandes verlangen. Die Schöffen ließen danach an den Schuldner eine zweimalige Citation ergehen. Er wurde aufgefordert, das Pfand auszulösen. In der zweiten Citation drohte das Schöffengericht die vollständige Herausgabe des Pfandes an den Gläubiger und den Verlust aller Eigentumsrechte des Schuldners an. Erschien der Schuldner immer noch nicht vor Gericht, erklärte dieses das Pfand zum vollständigen Eigentum des Gläubigers. Der Schuldner
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Ebd., Titel XLVn,S. 90r. Ebd., fol. 90r und v.
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verlor alle Rechte am Pfand, auch wenn es den Wert des ursprünglichen Schuldbetrages überstieg.64 Präzisierungen scheinen auch im Hinblick auf die Reihenfolge der Forderungen bei mehreren Gläubigern und die Haftungsfrage bei Handelsgesellschaften notwendig gewesen zu sein.65 Anspruch auf Befriedigung seiner Forderungen hatte nur derjenige, der vor dem Schöffengericht Klage erhob. Wenn das Gericht von mehreren Gläubigern Forderungen erhielt, so ließ es während der Messen am Rathaus und an der Tür der Unterkunft des Schuldners den Klagegrund und die Namen der Gläubiger anschlagen. Ansprüche wurden folgendermaßen abgegolten: zuerst wurden Treuhänder oder Teilhaber des Schuldners befriedigt; diesen nachgeordnet Verwandte, Bedienstete und Ansprüche der öffentlichen Hand. Erst danach wurden die Forderungen anderer Gläubiger berücksichtigt, wobei Forderungen aus den Messen des laufenden Jahres bevorzugt behandelt wurden. War das Verfahren wegen Krankheit oder Tod des Schuldners eröffnet worden, so wurden zu Beginn die für die Abgeltung von Arzt- oder Bestattungskosten notwendigen Gelder abgezogen. Das Vermögen der Ehefrau blieb unangetastet, soweit es ihre Mitgift betraf oder keine gesamtschuldnerische Haftung vertraglich vereinbart war. Überstiegen die abzugeltenden Ansprüche das Vermögen des Schuldners, kam es also zum Bankrott wegen Überschuldung, so konnte sich der Schuldner durch die „cessio bonorum", die Abtretung seiner Güter zugunsten der Schuldner, von allen Ansprüchen befreien. Er musste dazu vor Gericht erscheinen und unter Angabe aller seiner Gläubiger die „cessio" beantragen. Bei der Abwicklung der „cessio" waren immer die Kleider des Schuldners und ein vom Gericht festzulegender Betrag ausgenommen, der den wirtschaftlichen Neubeginn des Betroffenen ermöglichen sollte.66 Gläubiger und Schuldner konnten sich bei Gericht durch einen Anwalt vertreten zu lassen. Bei Fällen von Arrest und Kümmerung besaßen bei auswärtigen Messebesuchern die Wirte der Messequartiere eine Handlungsvollmacht. Die Herausgabe von Gütern des Schuldners durfte nur in ihrem Beisein erfolgen, bei Fällen von Sequestration war an sie eine Quittung auszuhändigen.67 Vertretungs- und handlungsberechtigt waren daneben auch Handelsdiener, Faktoren oder Kommissionäre. Insbesondere darüber, inwieweit sie bei Zahlungsunfähigkeit haftbar gemacht werden konnten, wurde in den Wechselordnungen von 1666 und 1739 das Frankfurter Handelsrecht präzisiert. Sie waren dann in die Haftung mit eingeschlossen, wenn ihnen nachgewiesen wurde, dass sie ihre Vollmacht überschritten, oder ihr persönliches Geschäftsgebaren
Ebd., Ebd., 66 Ebd., 67 Ebd., 64
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fol. 91v. fol. 92r bis 94v. fol. 94v sowie 95r. fol. 28r und v.
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für Zahlungsunfähigkeit einer Firma mitverantwortlich war.68 Der Vertreter hatte die Vollmacht immer bei sich zu führen; ein Exemplar war bei einem hierzu vom Rat bestellten Notar zu hinterlegen.69 Auch zuvor rechtlich noch nicht gefasste Regelungen für Handelsgesellschaften wurden nun in das Frankfurter Handelsrecht inkorporiert.70 Diese wurden verpflichtet, sich durch einen Bevollmächtigten bei einem benannten Notar registrieren zu lassen und zwar unter Angabe der Mitglieder, des Zweckes der Gesellschaft und der Höhe des Einlagekapitals. Die Wechselordnung von 1666 schuf damit die Grundlage für ein rudimentäres Handelsregisters. Zusammenfassung Das Frankfurter Schöffengericht (Stadtgericht) war vor allem zu Messezeiten ein Gerichtsstand, der weit über die Frankfurter Grenzen hinaus wirkte. Bereits im Spätmittelalter stärkte der Frankfurter Rat den sachlichen und räumlichen Zuständigkeitsbereich seines Gerichtes in Handelssachen systematisch über Privilegien und Verordnungen. Die Neuordnung des alten, Privilegien gestützten Statutenrechts durch die Rezeption und Transformation des römischen Rechts und die Anforderungen des Messealltags führten im Verlauf der Frühen Neuzeit in Frankfurt zur sukzessiven Vereinheitlichung und Präzisierung von Handelsrechtsnormen und Verfahrenstechniken für Bürger und Fremde und schufen ein an pragmatischer Funktionalität orientiertes Handelsrecht für die sich entwickelnde Marktwirtschaft.
Frankfurter Wechselordnung 1666 (wie Anm. 40). Siehe auch: Paul Jacob Marperger, Beschreibung der Messen und Jahr-Märckte, 2. Teil, S. 77ff. 69 Frankfurter Wechselordnung 1666 (wie Anm. 40), §§ 1 bis 4. 70 Ebd., §§ 5 und 6. 68
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