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German Pages 133 Year 2024
Günter Scholz Die Rückkehr des Odysseus
Die Rückkehr des Odysseus Das Ende der Philosophie
Günter Scholz
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© Lehmanns Media GmbH, Berlin 2024 Helmholtzstr. 2-9 10587 Berlin Umschlag: Jasmin Plawicki Satz & Layout: LATEX(Zapf Palatino) Volker Thurner, Berlin Druck und Bindung: Totem • Inowrocław • Polen ISBN 978-3-96543-449-3
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Für Penelope, die heute Gerda heißt
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Inhaltsverzeichnis Eigentlich?!
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Die Selbstentmythisierung des Mythos
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Die Kinder der Ma’at oder die Ordnung der Welt
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Die Kernspaltung des Mythos
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Das Psycho-Intermezzo
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Phänomena und Noumena
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Die Wiedergeburt des Mythos
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Das Abbild, das Spiegelbild der Gedanken Gottes
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Mihi est propositum in taberna mori
89
Metareligion und erste Kritik
103
Der Todesstoß
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Die Erben, die Enkel
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Eigentlich?! Der gesamte Text dieses Buches ist eigentlich aus der Zeit gefallen. Also ist er nicht aus der Zeit gefallen, denn er ist es ja nur eigentlich. Wie denn nun? Also, Hand aufs Herz: Wer will heute noch wissen, wie und warum die ägyptische Göttin Ma’at das Abbild einer Gesellschaft vor vielleicht viertausend Jahren war? Wen juckt es denn, wie der mythische Held Odysseus das Bett seiner göttlichen Gastgeberin verließ? Ist die Frage nach dem Missbrauch in der Kirche nicht wichtiger als zu verstehen, wie Thomas von Aquin die Gedankenwelt des Aristoteles in die Lehre der römischen Kirche einbaute? Ist ein alter Franzose, der im frühen siebzehnten Jahrhundert die Welt neu erfinden wollte, und der gut hundertfünfzig Jahre später von einem genial denkenden „Affen der Mode“ daran gehindert wurde, heute wirklich noch relevant? Was tragen denn solche Dinge zu unserem so komplex gewordenen Leben überhaupt noch bei? Nichts anderes, nichts Geringeres, als zu verstehen, wie wir Heutigen denken und fühlen. Doch haben wir heute nicht genug damit zu tun, mit unserer so komplizierten Gegenwart fertig zu werden? Richtig, doch um damit fertig zu werden, müssen wir sie verstehen. Und um sie zu verstehen, müssen wir begreifen, wie sie zu dem geworden ist, was sie heute ist. Nun aber mal langsam! Da gibt es eine Fülle von Geistes- und Kulturgeschichten, die genau dies zum Thema haben. Da kann ich dann nachlesen, wie die Entwicklung vom griechischen 9
Mythos zum Logos ablief, welchen Einfluss die Kultur des Alten Ägypten noch heute auf unser Denken hat und die den Inhalt der „Kritik der reinen Vernunft“ sogar verständlich darstellen. Alle diese zum Teil ausgezeichneten Bücher gibt es, stehen jedermann zur Verfügung. Doch – wer liest das heute noch, wer macht sich die gewaltige Mühe, die mittelmeerisch-abendländische Geistesgeschichte durchzuarbeiten, nur um am Ende (seines Lebens) für sich sagen zu können: Hier stehe ich und ich kann nicht anders als diese Geschichte es zuließ? Egon Friedell z. B. hat schon vor hundert Jahren eine ausgezeichnete „Kulturgeschichte“ vorgelegt, die perfekte Feierabendbildungslektüre. Doch der Leser verliert sich leicht in der Fülle der Details, verliert den Überblick. Und genau um den geht es hier, den Überblick über die geistige Entwicklung der westlichen Menschheit – wie wurden wir, wie wir heute sind? Ausgesuchte Details dienen als charakterisierende Beispiele ganzer Epochen, werden in ihren Zusammenhängen und ihrer Abfolge für den notwendigen Aha-Effekt dargestellt: Es geht ums Verstehen, nicht um die Anhäufung von Wissen! Darum: Sapere aude! Um es mit Kant zu sagen. Habe den Mut, dich deines eigenen Verstandes zu bedienen, zu verstehen, wer Du bist und wie Du denkst – und wie es dazu kam.
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Die Selbstentmythisierung des Mythos Ich habe gehen gelernt, jetzt lasse ich mich laufen (Nietzsche)
Seit Jahren lagen sie nun schon vor Troja, lagen auch die Offiziere im Dreck, im Dreck des Krieges – so wie es ihnen die unsterblichen Götter befohlen hatten. Winterliche Kälte war über sie hinweggegangen und brütende Hitze des Sommers; dann waren die Fliegen das Schlimmste, die von den durchbluteten Verbänden kaum noch wegzujagen waren. Wie hatten sie Zeus, den Verscheucher der Fliegen, angefleht! Doch all ihre Bitten hatten kaum etwas genutzt, denn der Gott hatte in diesen verfluchten Zeiten anderes zu tun – beim Zeus! Der Streit der Götter, die Kämpfe im Olymp – oh, wie hatten sie diese auszubaden! Wieder und wieder donnerten die Kampfwagen über sie hinweg, mal die eigenen, mal die des Feindes. Dem quietschenden Poltern der Wagen folgte dann regelmäßig das Kriegsgeschrei der Infanterie, mit dem die Kämpfer sich selber Mut und dem Gegner Angst machen wollten, was im Laufe der Zeit immer weniger gelang – man hatte sich einfach an das Töten und das Getötetwerden gewöhnt. Die Troer waren verdammt zähe Hunde, kämpften wie in die Enge getriebene Ratten, die sich den geifernden Zähnen der Terrier durch Geschick und Mut entzogen, einem aus Todesangst, 11
aus der Wut der Götter geborenen Mut. Die wussten, wofür sie kämpften! Doch die Achäer wussten es auch, war es doch genau dasselbe, was die einen zu verzweifelter Gegenwehr und die anderen zu immer neuer Angriffswut anfeuerte: Wenn die Stadt endlich fiel, doch endlich fallen würde, dann würde man . . . ja, über die Weiber würde man herfallen, deren Kreischen dann die eigene lange angestaute Lust noch höher treiben würde; die heulenden Blagen würde man einfach in die Glut der brennenden Häuser werfen, über die Leichen der erschlagenen Kämpfer hinweg – was für eine Lust! Und sie wussten, dass die Protektion ihrer Götter ihnen auch dann sicher war. Doch noch war es nicht soweit, beileibe nicht! Immer wieder flammten die Kämpfe auf, Stoßtrupps des Gegners waren abzufangen und eigene Kommandounternehmen durchzukämpfen – ein ständiges Stürmen und Fliehen. Mal schlossen sich die erzbeschlagenen Tore der mächtigen Festung hinter den schutzund vom Kampf erholungsuchenden Verteidigern, mal öffneten sie sich den ausfallenden Kämpfern, und machten die erschöpften Angreifer zu Gejagten: Schier endlos zog sich der Krieg hin – im Olymp und in der Welt der Sterblichen –, und wenn Odysseus sich in einem der wenigen Augenblicke der Ruhe, wenn er sich mit seinen Leuten in die Etappe, ins befestigte Lager bei den Schiffen, zurückziehen konnte, dann fragte er sich manchmal, warum dieser Krieg eigentlich stattfand – und dann wusste er es nicht mehr, hatte es einfach vergessen, war es doch nicht seine Bestimmung über die Kämpfe zu wachen, denn das war die Aufgabe der Unsterblichen! Nein, in den ruhigen Momenten zwischen den Kämpfen stellte er sich schon lange keine Fragen mehr, dann war sein Kopf, war seine Phantasie mit Wichtigerem beschäftigt. Dann saß er in einer stillen Ecke und ließ Vergangenes vor seinen inneren Augen ablaufen. 12
Es waren nicht seine Heldentaten, bei denen er damals so richtig groß rausgekommen war – wie ihm der mächtige Keiler den Unterschenkel aufgerissen hatte und er ihn trotzdem mit dem Jagdspieß am Boden hielt und wie ihm der als Treiber eingesetzte Schweinehirte zu Hilfe kam, nein, es waren andere Bilder, die er sich träumend vorführte: Als er, der junge Fürstensohn am Hof von Sparta weilte, da war es nur eine Begegnung, die die lange Reise im Nachhinein rechtfertigte. Als er dort eines Morgens einem Mädchen begegnete, das dabei war Frau zu werden, und als er dieses Mädchen als Frau ansah, ganz unverhohlen ansah mit einem Blick, der es zur Frau machte, da sah er in ihrem antwortenden Blick die überdeutliche Reaktion: Ja, ich auch! Ich bin genauso begierig auf dich, den jungen kräftigen Kerl, wie du es auf mich bist. Sie hatten schnell zueinander gefunden, hatten sich wieder und wieder getroffen in den weiten Hainen, die den Palast umgaben. Und dann – er musste leise vor sich hin lächeln – nach ihrem Namen hatte er sie erst gefragt, als sie das erste Mal zusammen . . . nein, geschlafen hatten sie nicht, beim Zeus nicht; noch nie im Leben war er so wach gewesen, hatte sich selbst und einen Anderen noch nie so intensiv gefühlt wie bei diesem Mädchen. „Penelope“ hatte sie gesagt, und sie hatte es stolz gesagt. Denn sie hatte ihn besiegt: völlig fertig lag er am Boden, stöhnte noch leise in den Nachwehen eines Ringens mit der allmächtigen Aphrodite, der Bezwingerin eines jeden wirklichen Mannes im Lust gebenden Kampf um die höchste Gabe für den Anderen. Niedergerungen lag er damals am Boden, und die stolze Siegerin kniete neben ihm, ließ seine Männlichkeit hin und her taumeln und lachte, wie es ein Mädchen tut über die winkenden Arme ihrer Puppe. Eine solche Frau, dieses Weib musste er heimführen nach Ithaka, in den väterlichen Palast, denn auf solche Höhepunkte seines 13
Daseins, auf diese Schreie des Lebens, darauf würde er nie wieder verzichten. Und so führte er sie hin nach Ithaka; und ihre Glut überstand Hochzeit und Geburt des Sohnes – und sie überstand den Krieg mit all seinem Dreck, dem Dreck der blutgetränkten Erde und der zerrissenen Seele. Den Kommandierenden der Achäer war es endlich gelungen, zusammen mit ihrem Stab, zu dem auch Odysseus gehörte, einen Trick zu erdenken, die Tore der mächtigen Festung, der sicheren Heimstatt der Troer, ohne Kampf und eigene Verluste zu öffnen – nicht zu erstürmen, einfach nur zu öffnen. Er ermöglichte es den mordgierigen Belagerern, in Stadt und Festung einzudringen, den organisierten Widerstand so auszuschalten und das Feuer am Altar des Ares zu entflammen; hatte doch Pallas Athene, die Tochter des Zeus selbst die beiden Schlangen gesandt, die Laokoon, den troischen Priester, und seine Söhne getötet hatten, der dabei war, den schlauen Plan der Achäer aufzudecken und die Troer zu warnen. Doch wie er jetzt aufloderte, dieser Brand zu Ehren des Ares, des Massakers! Dieses göttliche Licht, das das Blut der Erschlagenen und das Ejakulat des Siegesrausches in heiligem Glanz erleuchten ließ; bis zum Olymp erstrahlte es, wo es gellenden Triumph, aber auch dumpfe Trauer auslöste. Odysseus war ein Achäer und er verhielt sich wie die anderen, auch sein Schwert troff von Blut, doch war da eine seltsame Begebenheit: Zwischen dem beißenden Rauch brennender Häuser tauchten plötzlich vor ihm zwei Männer in einem seltsamen Miteinander auf. Der eine trug den anderen auf den Schultern, den er offensichtlich so zu retten suchte. Beide waren gezeichnet durch Brand- und Schürfwunden, ihre Kleider waren nur noch angebrannte Fetzen. So standen sie plötzlich vor ihm. Der Jüngere, der den Greis auf den Schultern trug, war seines Alters und von kräftiger Statur und machte keiner14
lei verängstigten Eindruck – ein Troer, ein Feind! Die Faust um den Griff des Schwertes ballte sich und der Arm erhob sich zum tödlichen Hieb. Doch der Alte rief: „Ich bin Anchises, der Sohn des Kapys, einstmals der Geliebte der Aphrodite, der von Zeus Gelähmte – töte meinen Sohn nicht!“ Und das Seltsame geschah: Es schien Odysseus, als werde sein erhobener Arm aufgehalten, als wolle eine unsichtbare, eine göttliche Kraft seine Kampfeswut aufhalten – der Geliebte und der Sohn der Aphrodite direkt vor ihm, im Kampfgetümmel der Götter und der Menschen – im Neben- und Miteinander der Unsterblichen und der Sterblichen! Er schloss die Augen, sammelte seine Lebenskraft, die ihn für einen kurzen Augenblick verlassen zu haben schien, blickte dann aber erneut mit vor Rauch tränenden Augen und dennoch zum Töten entschlossen auf die beiden Troer – und sah nur Rauch und schwelendes Feuer, hörte nur knisterndes Holz und in der Glut krachende Balken, keine menschliche Gestalt war zu erblicken noch eines Menschen Stimme zu hören! Erst allmählich wieder vernahm er das Kampfesgetümmel, sah Gestalten zwischen brennenden Häusern stürmen und fliehen – erst allmählich wieder kehrte er in seine Welt, in sein Selbst zurück. Der Alte war schlau gewesen, hatte gesagt, wer er ist, hatte seinen Namen, seine menschliche Identität dem bedrohenden Feind gegenüber genannt, hatte so einen Schutzschild erhoben; denn einen Anderen, den man kennt, dessen Namen, dessen göttliche Herkunft man weiß, der einem somit fast vertraut ist, den erschlägt man nicht so ohne weiteres. Und doch – wo waren die beiden geblieben, woher waren sie gekommen? Hatte ihn ein Gott zum Narren gehalten? Wo endete die Welt der Sterblichen und wo begann die der Unsterblichen? Nur noch sanft rauschte des Meeres Brandung und wie von Ferne klangen die schrillen Rufe der nahrungssuchenden Vö15
gel. Er hatte überlebt, hatte den Sturm und den Schiffbruch tatsächlich überstanden. Seine Leute, seine Kameraden waren im Meer versunken, waren vom wütenden Gotte in den sturmgepeitschten Wogen getötet worden. Er, Odysseus aber, hatte dort sich an die zerschmetterten Planken des versinkenden Schiffes geklammert und, im schäumenden Meer nach Luft ringend, um sein von göttlicher Kraft beschütztes, um sein vergängliches Leben gekämpft. Doch dann traf ihn der Rest des gesplitterten Mastes so heftig am Kopf, dass er alles Bewusstsein verlor und von den schaumgekrönten Wellen an den Strand der Insel gespült wurde, der rettenden Insel, die sie im Gischt des aufgepeitschten Meeres vorher nicht hatten sehen, nicht hatten erkennen können, wie nah das rettende Ufer war. Doch nun erwachte er am Strande liegend, kehrte dabei nur langsam in das Leben zurück, das ihm die aus den Gefahren erlösende Insel geschenkt hatte. Zuerst hörte er nur wie von Ferne das Gekreisch der im abflauenden Wind geschickt segelnden großen Vögel, doch es kam näher und mischte sich mit dem verhaltenen Rauschen der schwächer werdenden Brandung – und dann hörte er eine Stimme, eine schöne hell klingende weibliche Stimme, die offensichtlich ihn ansprach. Doch behielt er die Augen geschlossen, konzentrierte sich völlig auf die wohlklingenden Worte: „Dir war das Schicksal aber wirklich wohlgesonnen, soviel Glück wird einem nur durch höhere Mächte zuteil. Einen solchen Sturm und einen solchen Schiffbruch überlebt man normalerweise nicht!“ Das musste einfach eine schöne Frau sein! Eine solche Stimme, eine Stimme aus einer anderen Welt, die nicht die Welt der Sterblichen war . . . nur langsam, richtig vorsichtig, unsicher was ihn auf dieser fremden Insel erwarten würde, begann der Gestrandete die Augen zu öffnen; erst eines – nur die Umrisse einer weiblichen Gestalt waren unscharf zu sehen 16
– dann auch das zweite; und aus dem Schemen wurde eine Frau, eine schöne Frau, nein, eine „schöngelockte“ Frau, die jetzt begann sich über ihn zu beugen, so als wolle sie den Gestrandeten näher betrachten, in Augenschein zu nehmen, ob und was sie da gebrauchen könne. Odysseus bewegte sich zum ersten Mal nach seiner Ohnmacht und versuchte seine Scham vor dem forschenden Blick dieses Weibes zu bedecken. „Ich glaube, du brauchst als erstes etwas zum Anziehen und etwas Gescheites zu essen; ein guter Schluck wird sicher auch nicht schaden.“ Sie sagte es in einem Ton gemischt aus mütterlicher Fürsorge und – nennen wir es mal so – aus weiblichem Interesse, drehte sich dann aber um und überließ den unerwarteten und kaum bekleideten männlichen Besucher ihren jungen Dienerinnen. Diese hatten unverhohlenen Spaß an ihrer neuen, so überraschenden Aufgabe, kicherten, wie es Mädchen zu allen Zeiten und überall in der Welt der Menschen wie des Olymp zu tun pflegen, wenn sie einem, wie in diesem Fall, prächtig aussehendem Manne – nennen wir es – helfen sollen . . . können . . . dürfen. Nach ausführlichem reinigendem Bade waren all die Schürfwunden, die er bei dem Schiffbruch erlitten hatte, sorgfältig gesalbt worden, wobei die pflegenden Hände jetzt nicht mehr von albernem Kichern, sondern von milden Worten des Mitleids begleitet wurden. Endlich stand unser Held in frisches Leinen gekleidet da und wurde so in den Speisesaal des Palastes geleitet, der so weiträumig war wie die gesamte Anlage, eine großzügig ausgebaute Grotte unweit des Meeresstrandes. Der Raum war erfüllt vom Duft des Weihrauches, des Geruches der anderen, der Götterwelt, wie ihn Odysseus aus dem Tempel des Zeus in seiner Heimat Ithaka kannte, verströmt aus mächtigen Schalen von Erz, die neben den Fackeln standen, die den Raum erleuchteten. Er war allein, blickte auf 17
die gedeckte Tafel, auf der sich erfrischendes Obst häufte und die silbernen Trinkschalen standen, die auf den Wein warteten, der gemischt mit frischem Quellwasser in einer Amphore bereitstand. Doch seine Gastgeberin ließ ihn nicht warten; mit hüftschwingendem Gang betrat sie den Raum und forderte ihren Gast mit fürsorglichem Gesicht und Tonfall auf, sich an der Tafel niederzulegen. Odysseus konnte die Augen kaum von der Gestalt seiner Gastgeberin lassen, deren feine Gewänder die Körperformen mehr betonten als verhüllten, die Rundungen einer weiblichen Gestalt, wie er sie noch nie gesehen hatte. Das hatte mit den Bauernmädchen nichts zu tun, die, eingefangen in den Bergen der Troas, vor Ilion manchmal ins Lager der ausgehungerten Achäer getrieben worden waren, die Kämpfer zu ergötzen. Kaum achtete er auf die feinen Speisen, den am Spieß knusprig gebratenen Junghammel, die saftigen Hühner und die fetten Enten, die die zartgliedrigen Dienerinnen vor ihm aufhäuften und ihn mit aufmunterndem Lächeln zum Genuss einluden. Ihm fiel auch nicht auf, dass seine Gastgeberin sich nicht an dem Schmaus beteiligte, sondern ihm dabei nur leicht amüsiert zusah. Durch den Wein ermuntert fragte er dann, eigentlich nur um etwas zu sagen, nach Lage und Ausmaß des Palastes, was seine Gastgeberin freudig aufnahm und ihm anbot, ihn durch die Räume zu führen. Doch kamen sie dabei nicht weit, denn schon bald erreichten sie das Schlafgemach, dessen Mittelpunkt eine Bettstatt, ein Lager war, groß und bequem genug für all die begierig ersehnten Dinge, die zwei Menschen verschiedenen Geschlechts, eine Frau und ein Mann, darauf miteinander treiben können. Als seine Führerin keinerlei Anzeichen machte, den Raum wieder zu verlassen, sondern wie unschlüssig verharrte, als sein vor Begierde verschleierter Blick unsicher fragend wurde, 18
und als sie gespielt gähnend und so Müdigkeit vortäuschend sich auf dem Rand des Bettes niederließ und ihr Gewand wie zufällig und doch sehr gezielt über die Schulter herabgleiten ließ, da verließen Odysseus alle Sinne und Gedanken, alles Fühlen und Trachten, nur noch die Begierde beherrschte ihn, nur an diesem Weib sich festzukrallen, sie zu unterwerfen und doch ins höchste Glück zu befreien. „Und sie genossen der Liebe!“ – so nennt der Dichter die Vereinigung der unsterblichen und der menschlichen Lust im göttlichen Mythos, im fünften Gesang der Odyssee. Der Dämmer des Morgens war auch ein Dämmer des Fühlens und Denkens, ein Erwachen hinein ins Menschsein eines sterblichen Menschen, der die Ewigkeit, der eine Welt jenseits von Raum und Zeit wieder verlässt. Während Odysseus sich den Schlaf aus den Augen rieb, sich reckte und den nur kurzen morgendlichen Schlaf abzuschütteln suchte, war seine „schöngelockte“ Bettgenossin genauso verführerisch rein wie am Abend zuvor, lächelte ihn noch immer liebreizend an, sprach mit frischer Stimme und sagte: „Mein edler sterblicher Held, mein lieber Odysseus, es wird nun Zeit, dass ich mich vorstelle und dir mitteile, wohin dich das Meer, der wütende Poseidon verschlagen hat, wohin dich aber auch ein gütiges Schicksal geführt hat – in wessen liebenden Armen du gelandet bist. Auf der Insel Ogygia bist du an Land gespült worden und ich bin die Herrin dieses Eilandes, ich, eine Unsterbliche, die Nymphe Kalypso, mit der du diese göttliche Nacht verbracht hast, du, ein Mann mit Gliedern aus Erz!“ (Es wäre unfair, bereits nach einer Nacht nicht von der Nymphe, sondern der Nymphomanin Kalypso zu sprechen, einer sexsüchtigen Göttin!) Odysseus war erstarrt und verstummt; es grauste ihn, hatte er doch die menschlichste aller menschlichen Handlungen mit 19
einer Göttin geteilt! Sofort erinnerte er sich an jenen Anchises, dem er im untergehenden Troja begegnet war, als dieser gelähmte alte Mann von seinem Sohn durch die brennenden Trümmer getragen und so gerettet wurde. Natürlich hatte er später Erkundigungen eingezogen, hatte wissende Menschen nach dem Greis und seinem Sohn gefragt, die wie eine Erscheinung aus der Welt der Götter, die die Welt der Sterblichen als ein dieses festigende Gerüst durchzieht, vor ihm im Rauch des vergehenden Ilion erschienen waren. Ein wunderschöner junger Mann war dieser Anchises einst gewesen, so schön, dass sich Aphrodite in ihn verliebte und sie beide, die unsterbliche Göttin und der Sterbliche, nicht anders konnten, als diese Liebe auszutoben. Der Sohn Aeneas war dieser Liebe entsprungen, eben der junge Mann, der seinen nun greisen und gelähmten Vater damals aus dem untergehenden Ilion trug. Ja, gelähmt war dieser Greis gewesen, der einst die Göttin des liebenden Begehrens so hatte entflammen lassen, dass sie, die Unsterbliche, ohne ihn, den sterblichen Menschen, nicht mehr ihre Bettstatt aufsuchen wollte. Doch der mächtigste aller Götter, der blitzeschleudernde Zeus, duldete dieses Begehren nicht, er, der doch selbst so manches sterbliche Weib erfolgreich verführt und mit erhobenem Penis verfolgt hatte, er strafte in seiner nur Göttern verständlichen, den Sterblichen aber willkürlich erscheinenden Gerechtigkeit den Anchises, der der schönen Göttin zu Gebote gestanden hatte, mit einem lähmenden Blitz, um die sich immer wieder vereinende Welt der Götter und Menschen zu trennen. – Genau daran musste Odysseus denken und es grauste ihn erneut. Doch schon spürte er die zarte Hand der Kalypso auf seinem nackten Körper, spürte das Begehren der Göttin und sah es in ihrem Lächeln und in ihren Augen, während sie mit klarer Stimme sprach: „Mein starker Held . . . “ und, so fährt der Erzähler des Mythos, der 20
Dichter der Götterwelt fort, „sagte ihm Unsterblichkeit und nimmer verblühende Jugend“ zu. Immerhin, großzügig ist sie, die Nymphe Kalypso, verspricht sie doch ihrem Geliebten nichts weniger als ein ewiges Leben und dazu passend die genauso ewigen Freuden der Lust. Um uns die Großzügigkeit und auch das Ausmaß dieses Angebotes vor Augen zu führen, müssen wir uns klarmachen, welche Mühen andere dafür in Kauf genommen haben und auch heute noch nehmen, um genau dieses zu erreichen. Da sprengen sich manche mit einem Sprengstoffgürtel in die Luft, zerreißen sich in blutige Fetzen, um so in die Unsterblichkeit, in das ewige Leben des Paradieses einzuziehen und dort andauernden Sex zu haben; andere haben sich auf raffinierteste Art zu Tode bringen lassen – es konnte gar nicht grausig genug sein! –, um so den göttlichen Himmel zu erreichen, „Märtyrer“ wie ihre Kollegen von der anderen Fraktion – so ein Aufwand! Doch Odysseus kommt zu genau diesem Angebot auf ganz andere Art: eine Nacht guter Sex – und schon . . . Vielleicht ist dies die klügste Art, antiken Mythos und somit Religiosität vom modernen Monotheismus zu unterscheiden – locker im Lotterbett die einen, verbiestert in von Gott befohlener Selbstqual, verbissen in Schuld und Sünde die anderen. Doch bei weitem interessanter als diese schlichten Überlegungen ist die aus unserer Sicht doch erstaunliche Reaktion des antiken, des mythischen Helden Odysseus auf dieses attraktive Angebot: „Nö, lass mal!“ so scheint er zu sagen, „keinen Bock drauf!“ Beim ebenfalls antiken Dichter klingt das etwas anders, aber es besagt genau dieses: „Ihr antwortete darauf der erfindungsreiche Odysseus: Zürne mir darum nicht, ehrwürdige Göttin! Ich weiß es selber zu gut, wie sehr der klugen Penelopeia Reiz vor deiner Gestalt und erhabenen Größe verschwindet; 21
denn sie ist nur sterblich, und dich schmückt ewige Jugend. Aber ich wünsche dennoch und sehne mich täglich von Herzen, wieder nach Hause zu gehen und schaun den Tag der Zurückkunft. Und verfolgt mich ein Gott im dunklen Meere, so will ichs dulden; mein Herz im Busen ist längst zum Leiden gehärtet! Denn ich habe schon vieles erlebt, schon vieles erduldet, Schrecken des Meers und des Kriegs: so mag auch dieses geschehen!“ Nach dieser klaren Absage des göttlichen Angebots ewiger Jugend – „forever young“ – und andauernden Spitzensexes, fährt der antike Dichter ganz lakonisch fort: „Also sprach er; da sank die Sonne, und Dunkel erhob sich, beide gingen zur Kammer der schön gewölbten Grotte, und genossen der Lieb‘, und ruheten nebeneinander.“ Wenn das nicht „cool“ ist, dann weiß ich nicht, was dieses Jugendmodewort sonst bedeuten soll: Der von einem liebeshungrigen Weib verführte Ehemann macht seiner neuen Bettgenossin etwas umständlich klar, dass er – Schönheit der neuen Geliebten hin oder her – doch lieber zu seiner Angetrauten und in die heimatliche Wohnung zurückkehren will, und dann: zum Abschied vögeln die beiden noch mal kräftig! Doch stecken hinter dem Verhalten des Odysseus – meiner Ansicht nach die bedeutendste und bedenkenswerteste Begebenheit der Odyssee – sehr ernst zu nehmende Überlegungen, Gedanken, die auch heute noch für den von seiner Sterblichkeit betroffenen Menschen existentiell sind. Erstens: Eine Ewigkeit und damit Unsterblichkeit gibt es nicht! Nur eine von Äon zu Äon, von einem Zeit und Raum umfassenden Kosmos zum anderen reichende Zeitlichkeit, und wenn sie für unsere Verhältnisse auch noch so lange dauert. (Vergleiche dazu meine Ausführungen in „Anleitung zur erfolglosen Got22
tessuche“, Berlin 2018!) Zweitens ist ein „Leben in Ewigkeit“ ein Widerspruch in sich, ein Absurdum – und wenn es auf Friedhöfen auch noch so oft wie eindringlich beschworen wird. Das Da-sein alles Lebenden, das menschliche Leben ist an zwei Bedingungen gebunden: Die Geburt, den Beginn, und den Tod, das Ende. Wer dem nicht unterworfen ist, der ist nicht lebendig, sondern der ist tot, tot auf – und hier ist dieses Unwort einmal sinnvoll gebraucht – ewig! Tot auf ewig! Odysseus erkennt offenbar diese durch menschliches Hoffen und Glauben verstellten Fakten: Ewige Liebe ist keine Liebe. Denn ich kann sie auch noch in einer Milliarde Jahren haben – und noch viel länger, eben ewig. Warum soll er jetzt noch mit dieser Frau Sex machen, wenn er es in einer Billion Jahren auch noch kann? Warum, wenn er es beliebig oft kann? Also wird es beliebig, es geht auch genauso gut ohne. Da ist keine Leidenschaft mehr! Und außerdem: Nach Hunderten von Millionen Jahren . . . und dann geht es erst richtig los – es kotzt mich einfach nur noch an! Wie konnte ich denn das einmal reizvoll finden?! Nein und nochmals Nein! Für ein lebendiges, ein fühlendes Wesen ist Ewigkeit die schrecklichste aller Höllen, die denkbar ist; zum Glück nur denkbar, real – ich wiederhole – zum größten Glück nicht machbar. Glück dagegen ist nur Glück, weil es vergänglich ist. Weil ich es nicht festhalten kann, weil es an den Augenblick gebunden ist, weil es schon bald nicht mehr da ist. Weil Odysseus weiß, dass seine Penelope irgendwann alt und schrumpelig sein wird, genau wie er selbst; genau darum ist das Glück mit ihr jetzt so vollkommen – wegen dieses Wissens! Odysseus verlässt den Mythos der unsterblichen Götter, der ewigen Wahrheiten, die nur deshalb Wahrheiten sein können, weil sie unsterblich, eben ewig sind – Wahrheit und Ewigkeit, zwei Begriffe, die jedes vernünftige Denken konterkarieren! 23
Er verlässt diese vom Dichter gestaltete, diese erdachte Welt, den Mythos, den Spiegel von Mensch und Welt, nimmt die Mühen einer Menschenwelt auf sich, um sein Glück zu finden. Das Interessante aber, das Wichtige ist, dass dies innerhalb des Mythos selbst geschieht: Der Mythos der unsterblichen Götter wird in Frage gestellt. Die Entmythisierung beginnt im Mythos selbst, der die Welt des Menschen aus seinen Zwängen, aus seinen Wahrheiten entlässt. Und so wird die Welt der Sterblichen selbstständig, reißt sich los von ihrem Spiegelbild, dem Mythos, wird letztlich zum Gegner der „von Ewigkeit zu Ewigkeit“„wahren Welt“. Doch diese wehrt sich, gibt nicht so schnell auf, verpuppt sich zu Flügel schwingenden Schmetterlingen – die vom Bauch in den Kopf wandern. So wie im griechischen Mythos die Unsterbliche, die Göttin Kalypso nicht nur auf Erden (ewig) lebt und einen Sterblichen, den Achäer Odysseus, liebt, wie im römischen Mythos die Unsterbliche, die Göttin Aphrodite den sterblichen Troer Anchises liebt und ihm einen Sohn, Äneas, den Gründer Roms gebiert, so wird später, im christlichen Mythos, der Unsterbliche, der „wahrhaftige“ Gott Jesus Christus, der genau wie seine Vorgängerinnen im griechisch-römischen Mythos auf Erden wandelt und von einer jungfräulichen „Himmelsgöttin“ geboren wurde – Vater unbekannt –, gleich alle Menschen lieben und erlösen – im Mythos. Im antik-heidnischen Mythos gelingt das, aber im damaligen wie heutigen Judentum ist Jahwe hingegen rein transzendent gedacht: so ein Gott, wie auch sein "eingeborener" Sohn, laufen niemals auf der Erde zwischen den Menschen herum! Eine solche Christus-Theologie entstammt dem antik-heidnischen Mythos, den Mysterienreligionen, die mit jüdischer Befreiungstheologie nicht kompatibel sind.
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Die Kinder der Ma’at oder die Ordnung der Welt „Die Ordnung und Regelmäßigkeit an den Erscheinungen, die wir Natur nennen, bringen wir selbst hinein, und würden sie auch nicht darin finden können, hätten wir sie nicht, oder die Natur unseres Gemütes ursprünglich hineingelegt.“ (Kant, KrV, AA IV, 92) Ein Ägypter des Alten Reiches hätte diesen Satz nicht verstanden, es wäre ihm völlig unmöglich gewesen, seinen Sinn zu erfassen – und genauso ergeht es den allermeisten Menschen noch heute, daran hat sich in viertausend Jahren nichts geändert! Hätte man dem gleichen alten Ägypter zu erklären versucht, dass alle Lebewesen dieser Erde, einschließlich des Menschen, sich nach den Prinzipien des Lebendigen entwickelt hätten: da ist kein (göttlicher) Plan, keine Ordnung, kein Sinn! Unser viertausend Jahre alter Freund hätte über so viel Unwissen nur den Kopf geschüttelt. Er dagegen war ein gebildeter und zivilisierter Mensch, er wusste um die Ordnung, die hinter und in der Welt stand, die den gesamten Kosmos, die die Erde mit allem darauf, die somit auch seine Existenz in einem funktionierenden Staatswesen erst möglich machte. Und innerhalb dieser Gemeinschaft, dieses Staates ging es ihm gar nicht so schlecht. Er hatte genug zu essen, er konnte sich vor den Gefahren der umgebenden Natur in seinem Haus genauso schützen, wie ihn eine organisierte Bewaffnung vor Räubern und Feinden schützte. Denn er hatte einen Herrscher 25
dieses seines Staatswesens, der als Gott mit den Göttern in Verbindung stand, die die Ordnung des Kosmos erschaffen hatten, der diese göttliche Ordnung, die das menschliche Leben erst möglich machte, der diese Ordnung, die Ma’at auf die Erde und somit in die Welt des Menschen brachte. Als RNA- und DNA-Viren zusammenfanden, als sich aus beiden Nukleinsäuren Zellkerne entwickelten, da entstand aus diesen Vorstufen das Leben auf diesem Planeten. Es entwickelten sich Prinzipien, Charakteristika des Lebens, die heute von der Biologie erkannt und beschrieben werden; die entscheidenden sind: Stoffwechsel, Vermehrung, Anpassung. Ob Einzeller schon Hunger haben, ob sie schon Lust bei der Vermehrung durch Teilung verspüren, das ist schwer zu erkennen, doch ihre Anpassung ist zu sehen. Werden die Umweltbedingungen widriger, dann überleben von der Überproduktion an Nachkommen halt nur die, die zufällig durch Mutation eine stabilere Membran haben, bis eben alle diese neue Schutzschicht umgibt. Wir nennen das heute Evolution, diese zufällige Veränderung des Erbgutes, die, auch genauso zufällig, eben auch vorteilhaft sein kann und darum, im Gegensatz zu der anderen Masse der Mutationen, überlebt und die nachfolgenden Generationen prägt. Längst nicht alle überleben den ständigen Wechsel der Umweltbedingungen, ja, die meisten verrecken wieder, bevor sie sich anpassen können. War schon der Initialfunke des Lebens ein nicht in Zahlen auszudrückender Zufall, so verhält es sich mit dem Überleben genauso. (Merke: Nietzsche, „Man nehme dem Zufall nicht seine Unschuld!“) Es ist eben völlig unbegreiflich, warum der liebe Gott sich ausgerechnet die Erde ausgesucht hat, um sein schon lange geplantes Kunstwerk Schöpfung endlich zu realisieren. Jedenfalls evolutioniert sich das Leben immer höher, und entsprechend werden die Anpas26
sungsmethoden – man kann sie jetzt schon Strategien nennen – immer raffinierter. Das Ganze geht schließlich soweit, dass die Krone dieser Evolution den Spieß einfach umdreht – oh Gott, noch eine kopernikanische Wende! – und sich eine eigene (Um)Welt erschafft, die sie naturgemäß – es ist ja ihr eigenes Produkt! – leichter versteht und darum auch besser damit umgehen, sich anpassen kann. Die erste für uns fassbare Version einer solchen beachtlichen Zivilisations-/Kulturleistung heißt Ma’at und entsteht, parallel zu Staatswesen und Zivilisation, im alten Ägypten. Es ist der erste große und klare, der selbstgefertigte Spiegel, in dem sich der Mensch selbst erkennen kann, der ihn und sein Selbstbewusstsein widerspiegelt. Als das Gebiet, das wir heute Sahara nennen, im Zuge der neueren Erdgeschichte vor zehn- bis zwölftausend Jahren wieder einmal austrocknet und die Wüste das Territorium beherrscht, da ziehen sich die weit verstreut lebenden steinzeitlichen Jäger und Sammler zuerst in die Oasen und dann in das letzte große dieser Wassergebiete, das Niltal, zurück. Aus den einst umherschweifenden Klans mit ihren Geistern und Mythen wurden die späteren Gaue des sich entwickelnden ägyptischen Staatswesens, das wir heute das Alte Reich nennen. Diese geschichtliche Entwicklung spiegelt sich hervorragend im ägyptischen Mythos wider. Verständlich dargestellt: der Schöpfergott Re, die Sonne, erschafft die Erde, auf der zusammen mit Amun die Welt des Menschen entsteht. Amun ist der in der Welt Verborgene, der sich nicht jedermann gleich offenbart, es ist der göttliche Hauch über dem lebensspendenden Wasser des Nils, der starke Widder der Herde, die jetzt statt der Jagdbeute das Fleisch liefert, so wie Osiris das Korn keimen lässt, das nun geerntet, nicht mehr gesammelt wird. In den Hieroglyphen des Götternamens Amun findet sich das lebensermöglichende Wasser (des Nils) und die Feder der Ma‘at, der göttlichen Ord27
nung der Welt: Erst das Zusammenkommen der göttlichen Schöpfung mit dem regelmäßig wiederkehrenden Wasser des großen Stromes machen nicht nur das Über-, sondern auch das geordnete Zusammenleben der Menschen, die Staatsbildung, die Staatsordnung möglich. Im Mythos ist Ma’at die Tochter des Schöpfergottes Re, dem sie untergeordnet ist, dem sie folgt. Doch es gilt auch, dass die Erde wüst und leer war –hebräisch: tohu wa bohu –; im ägyptischen Mythos heißt das Chaos Isfet, die Schwester der Ma’at. Doch der Schöpfer(-gott Re) will die Ordnung; sie, die Ma’at, ist das Lieblingskind, das der Isfet vorgezogen wird. Doch das Chaos, Isfet, die Schwester der Ma’at, bleibt weiterhin bestehen, muss immer wieder aufs Neue in den Höllenschlund zurückgeworfen werden, muss auch in Gegenwart und Zukunft weiter niedergerungen werden – Ordnung und die daraus hervorgehende Gerechtigkeit müssen immer wieder neu erkämpft werden. Ma’at ist Ziel und Zweck der Handlungen des Schöpfergottes, sie ist die kosmische Ordnung und somit Ordnung und Gerechtigkeit auf Erden und in der Welt des Menschen – die moralische Weltordnung. Die „Polizei“ dieses Ordnungssystems sind die Götter, die darüber wachen, das alles mit rechten Dingen zugeht; der Spezialist für das Abbild der göttlichen kosmischen Ordnung, der Welt des Menschen, aber ist ein Gott, der hier auf Erden wandelt, und den wir heute Pharao nennen. Wir können durchaus sagen, Ma’at bildet die gesamte altägyptische Kultur/Zivilisation ab, ist ihr Wesen. (Im Amerikanischen findet sich die unselige deutsche Trennung zwischen diesen beiden Begriffen nicht – Zivilisation gleich WC, Kultur gleich Schlagerparade der Volksmusik – sondern der Begriff Civilisation umfasst zu Recht beides Untrennbare.) Und es gilt weiterhin: Ma’at ist der Schritt vom frühen Menschen, dem in Horden lebenden Jägern und Samm28
lern, hin in ein zivilisiertes Dasein: Aufbau eines Staatswesens, „law and order“, und damit verbunden Zivilisation und Kultur – das alles ist Ma’at! Und sie existiert in zwei Versionen: im Mythos als Göttin und in der Welt des Menschen als (angestrebte) Realität, die sich im Mythos spiegelt – als Denken und Wirklichkeit (des Lebens). Im Fühlen und Denken eines Ägypters des Alten Reiches ist das ein und dasselbe: Die Götterwelt und ihre Ordnung bestimmen die Struktur der Welt des Menschen, das eine ist die Kopie des anderen. Oder anders gesagt: Die göttliche Ma’at garantiert Ordnung und Gerechtigkeit der Welt des Menschen, des Staatswesens, das den Einzelnen sichert, das ihn erhält, ihm das (zivilisierte) Dasein erst ermöglicht. Und das ist nicht nur im alten Ägypten so; überall, wo auf dieser Erde menschliche Zivilisationen, Welten des Menschen, entstehen, da vollzieht sich dieser Prozess. Der Mensch erkennt, und das heißt, er schafft (selbst) ein Ordnungssystem, das er mit der Autorität übergeordneter Mächte ausstattet, so eine Gemeinschaft, einen Staat, erschafft, der jetzt das (Über)Leben der größer werdenden Gruppe, und nur so auch des Einzelnen, der noch lange kein Individuum ist, möglich macht. Mythos und reales Leben verschmelzen zu einer Einheit – das Gedachte erklärt und begründet das Faktische: Die „wahre“ Welt – im Mythos erschaffen – ist die in einem göttlichen Schöpfungsakt hervorgebrachte Leistung des in der Evolution stärker werdenden menschlichen Bewusstseins. Die Anpassungs-, die Überlebensstrategien werden besser, raffinierter: Der Mensch, das menschliche Leben, produziert die Welt, an die er sich evolutionär anpassen muss, nun selbst, womit diese Anpassung naturgemäß besser gelingen kann. Dass dies bis heute noch so praktiziert wird und auch gelingt, dafür gibt es zwei Erklärungen, die ganz anders 29
ansetzen, aber sich durchaus nicht gegenseitig ausschließen. Zum einen spricht der Ägyptologe und Kulturwissenschaftler Jan Assmann zu Recht von einem kulturellen Gedächtnis, das entscheidende Gedanken der Menschheitsgeschichte, seiner im Mythos gesammelten Erfahrung, über erstaunlich lange Zeiträume bewahren und immer wieder neu aktivieren kann. Er belegt das in einleuchtenden Beispielen, die bis in die Gegenwart reichen. Ganz anders sieht das Immanuel Kant, der noch nichts von der ägyptischen Ma’at und von Evolution wusste, schon gar nichts vom kulturellen Gedächtnis: „ . . . alle seine" (des Verstandes) „Vorstellungen und Begriffe sind bloß seine Geschöpfe, der Mensch denkt mit seinem Verstand ursprünglich, und er schafft sich so seine Welt“ (KrV, AA VII,71). Einfacher ausgedrückt: Wenn wir sagen, dass die Schönheit im Auge des Betrachters liege, so gilt ebenfalls, dass die Ordnung der Welt im (ordnenden) Blick der Vernunft auf diese Welt liegt, in der in ihren Wesen so angelegten (Denk)Struktur. Ja, der Mensch erschafft sich eine eigene Götterwelt, er macht diese aus dem Rohmaterial, das ihm seine unendlich lange Vor- und Frühgeschichte hinterlassen hat – aus den Geistern seiner Ahnen, der gesammelten Erfahrung der langen Kette seiner Vorfahren. Er erschafft sich eine zweite Welt, die neben oder hinter, auch über seiner Lebenswirklichkeit steht – Vorbild und Unterordnung fordernde zweite Wirklichkeit zugleich, Spiegelbild der menschlichen Realität. (Beispiel: Wer die menschliche Lebenswelt des Hochmittelalters kennen lernen möchte, der lese Dantes „Göttliche Komödie“; in diesem erdichteten Mythos spiegelt sich die Realität menschlichen mittelalterlichen Daseins in perfekter Weise, besser als in jeder „diesseitigen“ Beschreibung!) Diese Götterwelt, diese Welt des Denkens, der Ideen, diese wahre Welt ist dem denkend 30
Erkennenden, der allein sie erfassen kann, genauso real und als Produkt seines Denkens vielbedeutender als die äußerst unvollkommene ihn umgebende Wirklichkeit. Aus der noch ziemlich wirren Welt der Geister der Ahnen, aus den Kräften der Natur, mit denen sich schon diese auseinandersetzen, formt das menschliche Bewusstsein Ma’at, die himmlische und irdische Ordnung, die erste große Kulturleistung des Menschen. Das Wissen, aus dem der ordnende Gedanke entspringt, nennt er Weisheit, zuerst der Ahnen, dann der Götter, die er ehrfürchtig empfängt. Der Mensch verehrt, er liebt diese Weisheit und darum nannte er sie Philosophie, die Liebe zur Weisheit. Es war die erste Philosophie, die prima philosophia, die den Kern dieses Denkens offenlegte, die sich in der altägyptischen Ma’at zum ersten Male zeigte, die viele Kinder und Enkel und weitere Nachfahren hat – das, was später Metaphysik genannt wurde und dann als die Krone menschlichen Denkvermögens geradezu angebetet wurde. Doch seinen Kern hat dieses Denken bewahrt: Um mit dieser Welt umgehen zu können, erschafft es denkend eine zweite, eine wahre (Götter)Welt, die seine Wirklichkeit spiegelt – und die kann der Mensch handhaben, denn sie entspringt ja seinem Bewusstsein, ist ihm denkerisch vertraut. Dieses Modell aber wendet er auf die Wirklichkeit an, die ihn umgibt, und siehe da – gar nicht so selten funktioniert das, nicht immer, aber immerhin. Doch die Evolution schreitet unaufhaltsam voran, auch die des Menschen. Der war als früher Mensch, wie auch noch in den ersten Phasen der Hochkulturen, nur als Teil des Clans, der Gemeinschaft, des frühen Staatswesens überhaupt existent, als Einzelner dagegen unsichtbar. Darum muss der Clan auf Gedeih und Verderb zusammenhalten: Die Clangemeinschaft, das Volk, der frühe Staat ist alles, der Einzelne nichts! Das 31
Überleben der Gemeinschaft ist identisch mit dem Überleben seiner Mitglieder! „Du sollst nicht rachgierig sein noch Zorn halten gegen die Kinder deines Volkes. Du sollst deinen Nächsten" (der deines Clans) „lieben wie dich selbst; denn ich bin der Herr.“ (3. Mose 19, 18) Denn du und dein Nächster sind im Clan identisch!
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Die Kernspaltung des Mythos Heute sind Philosophie und Theologie zwei getrennte Disziplinen an den Universitäten. Sie sind „Fächer“ geworden, die ihren eigenen Regeln folgen, ihrer eigenen, ihnen selbst innewohnenden, und nur noch dort existenten Denkweise. Im gegenwärtigen wissenschaftlichen Umfeld dagegen sind sie nicht mehr das, was sie einstmals waren, sind nur noch im Blickwinkel ihrer langen und altehrwürdigen Geschichte groß, im modernen Wissenschaftsbetrieb überhaupt noch vorhanden: Diese Vergangenheit ist ihre heutige (Noch)Lebendigkeit. Und genau diese Tradition verleiht ihnen dabei den Rest einer Erhabenheit, die sie noch haben oder besser: vorgeben zu haben; mit denen sie naive Gemüter beeindrucken und somit täuschen. Doch die schönen alten Zeiten sind vorbei, Epochen, in denen die obersten Theologen, die Päpste, noch Weltgeschichte machten, in denen Schüler von Philosophen und Theologen auf dem politischen Thron saßen. Wenn heute ein bedeutender Politiker wie Helmut Schmidt sich damit zu schmücken sucht, dass er Anhänger des Stoikers Marc Aurel und seiner Lehre sei, dann ist das höchstens noch ein netter intellektueller Gag! In den Zeiten des Pharaonenreiches waren beide Denkweisen eins, waren nicht zu trennen, ja, ein Unterschied der Fragestellungen war nicht denkbar und somit unbekannt: Die frühe religiöse Frage nach dem Wieso und Woher der Welt des Menschen wurde nicht getrennt von der philosophischen nach 33
dem, was diese „im Innersten zusammenhält“. Der Mythos ist Religion und Philosophie zugleich, besser: Er ist die Vorstufe von Religion und Philosophie, eine Form des Denkens, die noch beides umfasst. Erst die beginnende Kritik am Mythos im frühen Griechentum, der erste vorsichtige Zweifel – diese beginnende Kernspaltung zwischen Religion und Philosophie setzt ungeheure Kräfte auf beiden Seiten frei, die zuerst in gewaltige Potentiale münden, dann zu heftigen Explosionen (Christentum) führen und schließlich in einem Trümmerfeld des Mythos-Nachfolgers Metaphysik enden, auf dem das Weidenröslein, die Trümmerblume, prächtig gedeiht: Wissenschaft, Glaube, Meinung. Auf der Schwarzen Erde Ägyptens findet diese Trennung, diese Kernspaltung nicht statt. Doch auch hier vollzieht sich in der mindestens dreitausendjährigen Geschichte – einer Geschichte, die aufgrund der zumindest vorläufigen, nämlich im Alten Reich, gegebenen geographischen Isolierung geradezu lehrbuchmäßig abläuft – ein gewisser Wandel. Dem unwissenden Betrachter erscheinen figurale Darstellungen dieser alten Hochkultur immer gleich geformt, nehmen immer dieselbe Haltung ein, folgen den gleichen Proportionen – sind als „alte Ägypter“ auch für den Laien sofort zu erkennen. Und doch findet auch in dieser in ihrem künstlerischen Abbild so statisch erscheinenden Gesellschaft eine Evolution ihrer Menschen statt, die wir mehr oder weniger deutlich, mehr oder weniger schnell ablaufend überall auf der Welt finden, wo frühen Menschen der Schritt in die civilisation gelingt. Auch hier steht das Alte Ägypten für mustergültige Menschheitsentwicklung. Es ist nicht unumstritten, scheint aber doch so zu sein, dass das Alte Reich in sozialen Unruhen unterging, in Hungerrevolten. Die religiöse Perspektive des Mythos war zu einer Zwangsjacke geworden, die aus allen Nähten platzte. Ein 34
Gott-Pharao nach dem anderen verließ diese Erde, musste aber seinem Volk erhalten bleiben – um jeden Preis, denn sein Fortbestehen garantierte auch das Überleben seines Volkes. Der für die lebenden Menschen so extrem wichtige Körper des Gottes musste also durch Mumifizierung konserviert und der Totenkult mit allen dafür notwendigen Priestern garantiert werden. Diese Religionsbeamten aber mussten „bezahlt“, d. h. ernährt werden, was wiederum nur durch Land(Schenkung) für den Tempel, der für den Totenkult des entsprechenden Gott-Pharao zuständig war, möglich wurde. Im Laufe der Zeit zog sich diese im religiösen Mythos selbst geflochtene Schlinge zu: Immer mehr vom Staat zu ernährende Religionsbeamte, immer weniger Schwarze Erde, fruchtbarer Ackerboden für das Volk: Der (religiöse) Mythos wird zur Falle! Und dies wird in der nur scheinbar so statischen Kunst dieser Kultur durchaus sichtbar. Waren die steinernen Pharaonenköpfe des Alten Reiches immer von strahlender Jugendlichkeit, eben ewig junge Götter, so ändert sich das nun im Mittleren Reich. Zwar sind diese steinernen Bildnisse immer noch mit denselben Insignien ihrer Macht ausgestattet, aber – wir finden diese Unterschiede naturgemäß am deutlichsten bei Herrschern, die sehr lange auf dem Thron saßen – da sind plötzlich Veränderungen im Gesicht des Abgebildeten zu erkennen; es gibt Altersunterschiede! Da tauchen, wenn auch nur schwach angedeutet, Falten im Gesicht auf und vor allem angedeutete Tränensäcke: Kennzeichen des Älterwerdens. Götter aber altern nicht! Die Abgebildeten sind also Menschen! Was sich auch in ihren Titeln widerspiegelt: Da ist nicht mehr von Göttern sondern von Söhnen der Götter die Rede, ein mythologischer Abstieg, ein Herabsteigen vom kosmischen Mythos in Richtung der Welt des Menschen. 35
Diese Welt des Menschen gewinnt zunehmend eine eigene Bedeutung, löst sich vorsichtig aus dem Mythos. Dieser und seine Götterwelt sind zwar unangefochten, bleiben weiterhin bestehen und geben in dieser vom Zauber bestimmten magischen Welt nicht unerheblich den Ton im Leben der Menschen an, doch ein Riss, eine Trennlinie zwischen den beiden Welten wird langsam, wird Stück für Stück erkennbar: Die Welt (des Menschen) beginnt sich vom Mythos abzunabeln, der Mythos wird zum Spiegel der Menschenwelt. Die Schnittstelle aber zwischen diesen beiden Welten, der Übergang von der einen zur anderen, wird zunehmend der Tod – das Ende des einen und der Eintritt in ein anderes Dasein. Man könnte auch sagen: Das menschliche Leben bekommt einen eigenen Wert, ist nicht nur als Teil des geordneten Ganzen, der Ma’at, überhaupt erkennbar, wenn ein gelungenes Leben auch weiterhin nur im Rahmen dieser kosmischen Weltordnung vorstellbar ist. Das ist noch keine Individualisierung, eher eine frühe Vorstufe zu dem, was wir heute menschliche Existenz nennen: Der Mensch tastet sich behutsam aus dem Mythos heraus, sieht sich vorsichtig in seiner neuen Umgebung um und blickt das Ei, dem er entschlüpft ist, das ihn geboren hat, zurückschauend an – der Mythos wird zur Weltanschauung, zum Weltbild, zum Spiegel. Diese Übergangsphase aus der Welt des Mythos, einer auch geographisch wie politisch isolierten Welt des Alten Reiches, in der das Wort Mensch mit dem Wort Ägypter gleichzusetzen und die Welt identisch mit der Schwarzen Erde Ägyptens war, nennen wir heute Mittleres Reich. Aus ihm ging die strahlende neue Welt, dieses weltoffene und weltzugewandte Imperium hervor, auf dessen rauschende Feste eines wohlhabenden und selbstbewussten Bürgertums wir in einer puritanisch gewordenen Welt nur neidvoll zurückblicken können. Was aber war 36
denn in der Zwischenzeit, im Mittleren Reich geschehen, wo und wie hatte dieser Wandel stattgefunden? Die steinzeitlichen Jäger und Sammler der endlosen Savannen, in denen sich der einzelne Jäger, der ganze Clan genauso verlor wie der einzelne Mensch in der unendlichen Kette seiner Vor- und Nachfahren, diese sich aus der Natur ernährenden Frühmenschen waren vom sich ändernden Klima (eine Tatsache, die man von dem Phänomen Klima sicher sagen kann, ist nämlich, dass es sich beständig ändert und so einer unter den vielen Motoren der Evolution wird!) in der großen lebensrettenden und -erhaltenden Oase Niltal zusammengedrängt worden, mussten sich deshalb neu organisieren und schufen so das Alte Reich des „Alten“ Ägypten. Die Geschichten der Ahnen, am nächtlichen Feuer weitergegeben, die Erfahrungen der unendlichen Reihe der Vorfahren, ihre Weisheit, der Mythos bestimmte das Leben dieser frühen Menschen, machte den Umgang mit den Geistern möglich. Im engen Zusammenleben des Niltales wurde dieser Mythos durch immer wieder neue Erfahrungen angepasst, bestimmte aber auch die nun langsam in den geschichtlichen Raum tretenden Ereignisse. Doch die Lebensform der Einordnung des frühen Menschen in die Gruppe und somit in Raum und Zeit, die sich über Jahrhunderttausende entwickelt hatte, blieb auch unter den neuen Bedingungen zunächst bestehen, veränderte sich nur langsam durch Anpassung an die neuen Lebensverhältnisse – das, was wir im Mittleren Reich beobachten können und was wir dann im Neuen Reich als ein glänzendes neues Bild ägyptischen Lebens noch heute als touristisch wirksam betrachten können. Doch wir wollen hier nicht den Blick auf die verführerischen Tafelgenüsse und noch viel weitergehenden Lüste eines (wohlhabenden) Lebens z. B. der 18. Dynastie richten, sondern 37
uns der Frage zuwenden: Was sind die entscheidenden Veränderungen im Mythos dieser civilisation, Veränderungen, die diesen Lebensrahmen „fit“ für eine Zukunft machen, einer Zukunft, die in die griechisch-römische Antike, ja bis zu uns Heutigen reicht? Zuerst zwei Feststellungen: Das Leben ist zwar aus dem Mythos herausgetreten, wird aber nach wie vor wesentlich von ihm bestimmt, sodass Zauber und Magie weiterhin das Leben beherrschen. Und zweitens, das, was wir die Kernspaltung des Mythos, die Trennung philosophischen und theologischen Denkens genannt haben, hat noch nicht stattgefunden, wird in der gesamten Geschichte Ägyptens niemals geschehen. Dafür rücken die theologischen Perspektiven des Mythos ganz deutlich in den Vordergrund, die zunehmend bestimmt werden vom Schicksal jetzt des einzelnen Menschen, der nun nicht mehr nur Clanmitglied, nicht nur eingeordneter Teil einer Horde ist. Unter der beständigen Obhut der Ma’at, der geordneten ägyptischen Gesellschaft und ihres Staates ist das Leben des Einzelnen gesichert, und dieser Einzelne fragt nun auch nach seinem jetzt persönlich gewordenen Dasein, was mit ihm jenseits der Schwelle des Todes geschieht. Die Götter, die noch im Alten Reich die Geschicke ihres Volkes lenkten, die darum auch nach ihrem Erdendasein diesem Volk erhalten bleiben mussten, diese Götter waren Menschen geworden, zwar besondere Menschen, Söhne der Götter, aber immerhin sterbliche Wesen, denen darum jetzt erst recht zur göttlichen Unsterblichkeit verholfen werden musste, nämlich durch Mumifizierung, Grab, Totenkult etc. Doch das Ende des Namenlosen, dessen Tod im Verscharren unter der Roten Erde, also der Wüste, endete, der dort entweder von schakalköpfigen Wesen gefressen oder im trocken-heißen Sand austrocknete und somit mumifiziert wurde, der doch nur ein Mensch, ein Sterblicher war . . . ja, ein Mensch wie jetzt auch der Pharao 38
einer war: Sterblicher Mensch und göttlicher Pharao nähern sich einander an! Das menschliche, das sterbliche Dasein gerät in den Sog des Unsterblichen! Doch wir wollen hier nicht weiter über die Veränderungen des theologischen Mythos spekulieren, eines Mythos, der sich der geöffneten Welt des Neuen Reiches anpasst und deren Lebensverhältnisse widerspiegelt, von Menschen, die anspruchsvoller geworden sind, auch im Glauben und Hoffen. Fest steht: Das Jenseits ist jetzt für jedermann offen. Doch da ist eine (Stolper)Schwelle, die es in sich hat, die erst erfolgreich überschritten werden muss: Das Jüngste Gericht. Oh, Verzeihung! Ich meine natürlich das (ägyptische) Totengericht! Jetzt kommt alles raus! In der „Halle der Wahrheit“ kann der Verstorbene auch seine geheimsten Missetaten nicht verbergen vor dem Gericht der Götter, denen ein alter Gott vorsteht, der einen genauso typischen Wandel durchlaufen hat wie die gesamte Jenseitsvorstellung. Osiris war ein Gott, der zusammen mit Amun den Mythos der Ägypter betreten hatte, als Gesellschaft und Staat, als die Ägyptische civilisation sich entwickelt hatte: Er ist dieses Wunder der aufkeimenden Saat, das aus dem trockenen Getreidekorn die grüne fruchttragende Pflanze erblühen lässt. Dieses im Mythos beschworene göttliche Handeln, dieser Osiris, grün wie die junge Pflanze, entwickelt sich zum Garanten nicht nur des erwachenden pflanzlichen, sondern allen, eben auch des menschlichen Lebens: Aus der Mumie, trocken wie ein Saatkorn, erwächst durch die göttliche, die magische Kraft, die Osiris genannt wird, das neue, das unsterbliche Leben. Darum ist Osiris der Vorsitzende des Totengerichtes, der genau auf die Waage schaut, auf der das Herz des Verstorbenen auf der einen Waagschale und die Feder der Ma’at auf der anderen liegt. Der für die Unsterblichkeit des einzelnen Menschen so entscheidende Gott hat die für 39
das Zusammenleben innerhalb des Staates notwendige Ma’at abgelöst, die in eine wenn auch wichtige Nebenrolle abgedrängt ist. Doch keine Panik! Auch wenn das Leben nicht so ganz nach den Prinzipien der Ma’at abgelaufen ist, es gibt da einen Weg, doch noch das Ziel des ewigen Glücks zu erreichen: Eine magische Reinigung vor dem Gericht mit viel Zauber, Vorläufer des Bußetuns, und – viel Wissen. All das findet der Sterbliche im Totenbuch, das ihm Priester zu Erdenzeiten teuer verkauft haben. Wir wollen es bei diesem kurzen Blick auf den ägyptischen Mythos belassen, da wir gesehen haben, dass hier die religiöse Seite im Zuge der Zeit völlig überbetont wird, dass dieser Mythos zu einem rein religiösen Phänomen des Weiterlebens nach dem Tode wird, der die andere, die philosophische Seite, die Frage nach dem, „was die Welt im Innersten zusammenhält“, ziemlich außer Acht lässt. Doch wird dieser abgespaltene religiöse Anteil des (ägyptischen) Mythos zu Entwicklungen führen, die die Welt bis heute erschüttern. Dazu später mehr. Wir wollen uns jetzt erst einmal dem anderen, dem philosophischen Teil des Mythos zuwenden, der durch eine echte Kernspaltung ein dynamisches Eigenleben entfalten konnte. Doch da taucht noch ein anderes seltsames Wesen auf, ein Produkt mythischen Denkens: Psyche, die Seele – eine Chimäre, ein Mischwesen aus Mensch und Gott, das noch heute die Meinungen, vor allem aber Wissenschaft und Glaube erregt.
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Das Psycho-Intermezzo Auf dem Weg unserer kurzen Geschichte des Denkens, den wir nur unter tausend Vorbehalten beschreiten können, hatten wir angedeutet, dass diese Straße, mal Autobahn, mal überwucherter Wald- oder Feldweg, den uns ein eigenmächtig erdachtes Navigationssystem weist, dass dieser Weg untrennbar mit der Geschichte des Lebens verbunden ist. Wenn Leben Stoffwechsel, Vermehrung und Anpassung bedeutet, dann ist diese Anpassung des Lebendigen an eine wie auch immer gestaltete Umgebung der Urknall des Denkens überhaupt, besser: Er ist identisch mit dem Denken oder vielmehr dem, aus dem sich dieses Denken entwickelt und weiterentwickelt – auch heute noch. Dieses erste Leben, diese urtümlichen Einzeller standen damals vor dem Eintritt in einen gewaltigen Urwald, den Dschungel der Evolution, der die tollsten Früchte des Lebens tragen werden wird. Wir dagegen stehen mitten in diesem verwirrenden Dschungel, können eine kurze Strecke zurückblicken und versuchen uns einen Pfad durch das dichte Gehölz zu hacken. Zwar gibt es kein rettendes Ufer, kein Eldorado, das in seiner goldenen Pracht vor uns im Dschungel auftaucht – endlich, endlich! –, zwar sind wir nicht am Ende dieses Dschungels, wie wir als „Krone der Schöpfung“ lange hoffend geglaubt haben, zwar steht uns weder Rettung aus dem Chaos noch Belohnung bevor, doch können wir, uns orientierend, einen kurzen Blick zurückwerfen auf den letzten Teil des Weges, den wir zurückgelegt haben, den uns der My41
thos freigibt und der uns bei der Standortbestimmung hilft. Der Faden der Ariadne weist dem Chaos-Bezwinger Theseus den Weg zurück – niemals nach vorn auf einen noch nicht freigehackten, noch nicht existierenden Weg! Doch dieser Blick zurück dient vor allem dieser Standortbestimmung und damit der Orientierung, der Blick in die Geschichte – und der Blick in die weiten Räume, die gewaltige Vorhalle dieser Menschheitsgeschichte. Er zeigt uns die gesammelte Erfahrung, die Weisheit der Ahnen, wie auch deren Standortbestimmungen – die Beantwortung der Fragen nach Warum und Wie dieser Welt und zeigt uns erste Lösungsversuche, erste „Wahrheiten“ auf. Sieht man auf dieses frühe Verständnis von Mensch und Welt zurück, das wir in den frühgeschichtlichen Bereichen finden, in denen sich civilisation entwickelt, wo jetzt der Mensch diese Schwelle überschreitet, wo er aus der unendlichen Reihe seiner Ahnen in den geschichtlichen Raum tritt, in den er nun die Summe dieser Vorgeschichte als sein Erbe einbringt, dann ist all diesen frühmenschlichen Standortbestimmungen des jetzt zivilisiert werdenden Menschen gemeinsam, dass dabei von zwei „Welten“ ausgegangen wird: In irgendeiner Form gibt es überall und zu allen Zeiten, in denen dieser Umschwung stattfindet, die Überzeugung – hinter, über oder versteckt in der Welt des Menschen findet sich eine zweite Welt, die diese Welt der lebenden Menschen beeinflusst oder sogar bestimmt, auf jeden Fall spiegelt. Ja, es scheint so zu sein, dass die Entwicklung zum Menschen, die in einer mehrere Millionen Jahre andauernden Evolution stattfindet, der Entwicklung dieser Vorstellung entspricht, an sie gebunden ist – wie an die Entwicklung von Armen und Händen aus Vorderläufen und Pfoten. Und diese Vorstellung scheint so sehr an die Tatsache des (zivilisierten) Menschen gebunden zu sein, dass er sie auch 42
nur dann mit größter Mühe oder überhaupt nicht abschütteln kann, wenn er diese bereits intellektuell überwunden hat. Ein exzellentes Beispiel für dieses Verhalten ist die gute alte Seele – ein Besucher aus dieser anderen Welt, der ewigen, der „wahren Welt“, der uns noch immer heimsucht, den wir einfach nicht loswerden. Und dieses Phantom, dieser umgehende Geist berichtet uns aus dieser fremden und doch so vertrauten Welt von all diesen wunderbaren Dingen, die sich seit alters her dort angesammelt haben und die so schön exotisch anmuten. Wir finden diesen Botschafter aus der zweiten Welt, die der Mensch offensichtlich braucht, um „zivilisiert“ zu werden, diesen Gesandten der Götter, der in beiden Welten heimisch ist, überall in den frühen (Hoch)Kulturen. Ich hatte in meinem Buch „Anleitung zur vergeblichen Gottessuche“ (Berlin 2018) in dem Kapitel „Seele“ diesen Gedanken schon einmal angesprochen, dort aufgezeigt, wie der Altphilologe Erwin Rohde in seinem fundamentalen Werk „Psyche“ (1895) die Traumerfahrung des Menschen als Ursprung dieses Phänomens betrachtet. Natürlich hatten auch die „alten“ Ägypter ihre Seelenvorstellungen, wobei der Traum, wie auch bei anderen Kontakten mit der anderen, der göttlichen Welt, eine wichtige Rolle spielt. Dieses Hin und Her zwischen beiden Welten, dieser zwischenweltliche Verkehr über die von der Ägyptologie heute „Scheintüren“ genannten Wege, dieser rege Austausch zwischen den Welten wird im ägyptischen Mythos besonders genau und eifrig beschrieben – eine Selbstverständlichkeit im altägyptischen religiösen Kultbetrieb. Doch wir wollen hier die möglichen Entstehungen der alten Seelenvorstellungen genauso links liegen lassen, wie ihre Ausformungen in der abendländischen Geistesgeschichte, denn allein mit diesem (Lexikon)Thema könnte man Bibliotheken füllen: Die Evolution der Seelenvorstellungen ist vielfältig wie die Evolution 43
des Lebens selbst. Wie welche Kirchenväter und wie welche Konzilien im Mittelalter für den naiven Katholiken festgelegt haben, was der Kirchenuntertan auch heute noch für seine Kirchensteuer als „Ewige Seele“ bekommt, das sei dahingestellt wie auch z. B. die Seelenvorstellungen eines Eurobuddhisten und ähnlich schlichter Gemüter. Uns interessiert vielmehr, wie dieser (Kultur)Botschafter aus einer frühen „wahren“ Welt noch heute als selbstständig agierendes Wesen im Kultur- aber auch im Wissenschaftsbetrieb der Gegenwart wahrgenommen wird. Da gibt es Ärzte, die für den Körper, soma, zuständig sind, und andere für die psyche – den Teil des Menschen, der einer anderen Welt angehört. Und da sind drittens Apostel aktiv, die vermitteln zwischen diesen beiden Ansätzen des Heilens und vor allem des Begreifens des menschlichen Organismus, die Psychosomaten – Mediatoren aus der Welt des Geistes, die dem materiellen Körper Hilfe leisten. Natürlich weiß die moderne Medizin, dass der Seelenbegriff nichts anderes ist als die Gesamtheit der Gefühlswelt, deren einzelne Bestandteile sehr wohl „somatisch“ zu begreifen sind. So folgt z. B. auf eine Hepatitis sehr oft das posthepatische Syndrom, eine „Verstimmtheit“ der Seele. Hier kann man nun sagen, dass es sich dabei um ein Symptom dieser Lebererkrankung handelt, so wie Müdigkeit („Schmerz der Leber“), Übelkeit und andere Krankheitszeichen auch. Man kann aber auch von einer somatischen, von der Leber ausgehenden Störung eines Wesens ganz anderer Natur, eben der Seele, ausgehen, was Psychosomaten, Psychologen, Psychotherapeuten und andere mit diesem geheimnisvollen Wesen befasste Berufsgruppen auch tun. Die Medizin ist heute eine Naturwissenschaft, die mit naturwissenschaftlichen Methoden den Organismus von Mensch und Tier zu begreifen und zu beeinflussen sucht. Die Psychologie, 44
die Lehre von der Seele, ist dagegen eine Geisteswissenschaft – jedenfalls bei uns; in den USA ist das anders, was auf eine andere geistesgeschichtliche Tradition zurückzuführen ist (vgl. dazu meine Ausführungen in „Warum ist das Wasser nass?“, Berlin 2023), die auf dem Wissenschaftsgedanken fußt, nicht auf dem „Geist“, einem Kind der vorwissenschaftlichen Metaphysik; dazu später mehr! Dieser „Geist“, der seit Wilhelm Dilthey zumindest von seinen Anhängern als wissenschaftsfähig angesehen wird, dieser säkulare Verwandte des Heiligen Geistes, dieser mittelalterliche spiritus sanctus, Symbol der völligen Unbegreifbarkeit Gottes und der (unsterblichen) Seele, steht von seiner Natur her dem, was hier und heute unter Psyche verstanden wird, durchaus nahe. René Descartes „beweist“ in einem Atemzug die Existenz Gottes und die der dazugehörigen (göttlichen und darum unsterblichen) Seele. Da ist, zumindest bei kritischem Blick, eine gewisse „Wahlverwandtschaft“ durchaus zu erkennen: der Psychologe, der (metaphysische) „Philosoph“, der (katholische) Theologe – eine altehrwürdige Stammtischrunde, bei der „geistige“ Getränke geschlürft und an süddeutschen „Seelen“ geknabbert wird. (Für Nord- und Mitteldeutsche: die „Seele“ ist ein kleines mit Salz und Kümmel bestreutes längliches Weizenbrot, das an Arme verteilt wurde mit der Auflage, dass diese für die Seelen ihrer Spender beten; bestens geeignet als Begleiter zu geistigen Getränken.) Die Arbeit eines „Seel-sorgers“ und eines „Psycho-logen“ sind nicht nur sehr ähnlich, sondern auch häufig deckungsgleich! Denn ob wir nun Seele oder Psyche sagen, auch gleichgültig, welche ihrer unendlich vielen Ausformungen im Gewirr von Glauben und Meinen wir gerade anschauen – hier haben wir ein Relikt des frühmenschlichen Mythos vor uns, das nicht nur, z. T. sogar im Original, erhalten geblieben ist, sondern es überdies 45
in die moderne Wissenschaftswelt geschafft hat. Ein Bote aus einer zweiten Welt, die der Mensch brauchte, um zu lernen, diese seine Welt zu verstehen und zu beherrschen – um ein (zivilisierter) Mensch zu werden. Es ist nicht der einzige Bote aus dieser zweiten, dieser „wahren“ Welt der Götter, der Ideen – des Denkens.
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Phänomena und Noumena Wir hatten angedeutet, dass im ägyptischen Mythos der religiöse Anteil im Zuge der Geschichte dieser alten Kultur mehr und mehr in den Vordergrund rückt, und dass das „ewige Leben“ immer mehr zentraler Religionsinhalt wird. War im Alten Reich der postmortale Einzug in das ewige Reich der Götter noch dem Gott-Herrscher allein vorbehalten, so wandelte sich dies im Mittleren Reich. Im Rahmen einer Sozialdemokratisierung der Gesellschaft erhält nun jedermann die Möglichkeit dieses Einzuges in die göttliche Ewigkeit, jedenfalls derjenige, der sich Grab und Mumifizierung leisten kann. Doch musste zuerst das Totengericht bestanden werden, in dem das Herz des Verstorbenen, die Summe seines Lebens, gegen die Feder der Ma’at auf die Waagschale des Gerichtes gelegt wurde. Die Ägypter waren nun allerdings Realisten genug zu sehen, dass genau dies für den Betroffenen oft, wenn nicht gar meistens, in die Hose gehen würde, nein, musste. Also suchte man nach (religiösen) Tricks, diese Klippe erfolgreich zu umschiffen: Magische Zauberformeln wurden entwickelt, wie der Verstorbene die richtenden Götter hinters Licht führen konnte, um ein der Ma’at entsprechendes Leben vortäuschen zu können. Damit er die dafür notwendigen Zauberformeln und magischen religiösen Rituale auch nicht vergisst – war er doch in den letzten Jahren seines irdischen Daseins recht vergesslich geworden –, gab man ihm diese hilfreichen Anweisungen lieber schriftlich mit auf den gefährlichen Weg: das Totenbuch wurde 47
mit in die Ewigkeits-bereite Mumie gewickelt. Theologie wird zum magischen Zauber zur Erlangung des Paradieses! Dass auch der heutige Katholik noch dergleichen braucht – Beichte zur Vergebung der Sünden, seiner Verstöße gegen die göttlichen Gesetze (Ma’at!), den Zauber der letzten Ölung, des Abendmahls, die rituell vorgeschriebenen Gebete (magisches Ritual) etc. –, um in das göttliche Reich einzuziehen, all das ist kein Zufall: Das äußerst langlebige kulturelle Gedächtnis der Menschheit reicht es weiter – von Generation zu Generation, von Volk zu Volk, von Kulturraum zu Kulturraum. Während die Ägypter also den aus der Kernspaltung des Mythos hervorgegangenen religiösen Anteil überproportional weiterentwickelten, betonten die Griechen hauptsächlich den denkerischen, den die Welt zu erkennen suchenden Teil. Es ist hier besser zu sagen, dass die Sicht des frühmenschlichen Mythos auf die Welt zugleich sichtbar machender Spiegel und Deutung des Phänomens Welt ist: Der menschliche Blick auf die Welt, ihre Beschreibung, ist „von Natur aus“, damals wie heute, erklärender, interpretierender, um Verstehen bemühter Blick; beides, das Sehen und das Verstehen sind in diesem Blick, in der Anschauung vereint – sind im Mythos identisch! Auch das, was wir Kernspaltung des Mythos genannt haben, diese daraus folgende Überbetonung des einen Anteils des Wesens des Mythos ändert daran erst einmal nichts. Deutlich wird das bei einem anderen Ansatz, denkerisch den Mythos weiterzuentwickeln, wie wir ihn im frühen Griechenland finden, genauer bei den ionischen Naturphilosophen, die gemeinhin auch als Vorsokratiker bezeichnet werden. Nehmen wir einen Denker aus dieser Zeit vor über zweieinhalbtausend Jahren, Xenophanes von Kolophon (ionisches Kleinasien). Er ist ein aufmüpfiger Geist, der darum auch seine Heimat verlassen muss und „in die Kolonien“ auswan48
dert, nach Magna Graecia, was wir heute Süditalien nennen und das damals eine der fortschrittlichsten Gegenden früher civilisation war. Xenophanes stand noch mit einem Fuß im Mythos, schritt aber mit dem anderen kritisch weit darüber hinaus. Er schrieb in Versen wie Homer, ließ dessen mythische Götterwelt unangetastet, ironisierte und kritisierte sie aber gleichzeitig: Nicht die Götter hätten die Menschen erschaffen, sondern diese die Götter! Die Wahrheit (in der Welt, hinter der Welt) sei für den Menschen nicht erkennbar, aber er könne sich ihr annähern etc. Aber, und das ist für uns hier entscheidend, es gibt sie, diese Wahrheit, diese wahre Welt! Die Götter als Garanten der wahren Welt, die sich in oder hinter der sichtbaren Welt (des Menschen) verbirgt, treten zurück, sind nur noch anthropomorphe Statisten – das Denken dagegen wird der neue Hauptdarsteller auf der Bühne der wahren Welt. Sein Schüler und Nachfolger wird dann deutlicher: Parmenides nennt alles Veränderliche, alles Vergängliche dieser Welt bloßen Schein, der sich in der Meinung (doxa) der einfachen Gemüter spiegelt. Die Wahrheit des unveränderlichen Seins, die wahre Welt, dagegen kann nur durch die Vernunft erfasst werden – aus heutiger Sicht kritisch gesagt: Sie ist ein Produkt der (menschlichen) Vernunft. Hier kündigt sich das an, was später Metaphysik genannt wird, was als erste Philosophie (prima philosophia), als Philosophie überhaupt in die mittelmeerisch-abendländische Geistesgeschichte eingehen wird, ja, diese beherrschen wird. Es spiegelt sich genauso im Platonismus und seiner Welt der Ideen wie in Abaelards „Name der Rose“, der als Gedanke ewig bestehen wird, auch wenn es die Blume Rose schon lange nicht mehr geben wird, und es beherrscht ebenso die Gedankenwelt des Rationalismus, „Meditationes de prima Philosophia . . . ", die Frage nämlich nach 49
dem Verhältnis von sinnlich erfassbarer Welt, Phänomena, und einer davon unabhängigen Welt des Denkens, Noumena, einer Welt des Geistes, die sich gerne Philosophie nennt. Im Mythos, so hatten wir gesagt, steckt im Blick auf die Welt immer schon die Frage nach dem „wahren“ Wesen der Welt, es zeigt sich ein „metaphysisches Bedürfnis“, ein Bedürfnis nach Letztbegründung allen Seins: „Warum ist überhaupt etwas und nicht vielmehr nichts?“. Es ist dies der Kern allen philosophischen Fragens, allen philosophischen Denkens. Und dieser stammt direkt aus dem Mythos, diese (vor)theologische und gleichzeitig (vor)philosophische Frage, die sich aus den Tiefen der Menschheitsevolution entwickelt, die mit dem Menschen gemeinsam den vor- und dann geschichtlichen Raum betritt, die zusammen mit dem Sich-Erkennen des Menschen als Mensch auftritt, die nach dem Woher und Warum sucht und die Antwort bereits umfasst – die Phänomena und Noumena jetzt trennt. Diese Trennung ist der denkerische Schritt in das, was wir civilisation nennen: das Unterscheiden zwischen einer sichtbaren Welt der Erscheinungen und der nur dem Denken sich offenbarenden Welt der Götter und/oder der Welt der reinen Gedankendinge. Die Ägypter blieben in der magisch-religiösen Welt stecken, sie fanden aus dem Gewirr einer magisch-mythischen Welt, in der die Kraft des Zaubers das Diesseits wie das Jenseits beherrschte, nicht heraus. Doch das religiöse Bedürfnis, dieses Drängen des (menschlichen) Lebens nach Über-, nach Weiterleben, das konnten sie befriedigen – und, wie wir sehen werden, an andere Menschen weitergeben, die es mit der „wahren Welt“ des Denkens zu neuem Mythos vereinigen. Das Denken der Griechen dagegen erfasst die Welt (des Menschen) als Noumena, nicht als religiösen Traum, und es lässt diese Phänomena nicht nur als (gleichwertige) Realität zu, es ermuntert geradezu zum 50
Widerspruch, zu denkerischer Kritik: Die Metaphysik bleibt nicht unwidersprochen. Aristoteles kritisiert die Ideenlehre Platons und Epikur stellt ein Gegenkonzept zur „wahren Welt“ der Metaphysik auf, das viele denkende Menschen erreicht: griechisches Denken und Leben im Spannungsfeld zwischen Phänomena und Noumena! So können sich Denkweisen entwickeln, die ihren Ursprung nicht direkt im Mythos haben, sondern etwas Neuem im menschlichen Denken entspringen: der Neugier und damit dem Wissensdrang. Ein großer Verfasser solcher „Historien“, gewürzt mit vielen Anekdoten und viel Menschlich-Allzumenschlichen ist im 5. Jh. v. u. Z. Herodot aus Halikarnassos. Noch heute ist sein Werk beste Unterhaltungsliteratur, die gleichzeitig Wissen vermittelt, manchmal – oft? – zweifelhaftes Wissen. Diese persönlichen – oder wie bei Karl May erfundenen? – Reiseberichte haben es in sich, sie sind eine umfassende Geographie der damaligen bekannten Welt einschließlich ihrer (makabren) Randgebiete. Je weiter die geschilderten Länder und Völker von der griechischen Zivilisation entfernt sind, desto grotesker werden die Schilderungen, es werden aber nie unglaubwürdige Fantasie-Geschichten. So beschreibt Herodot ein Volk, bei dem sich die Frauen bei jedem eroberten Mann, den sie sich zum Sex erfolgreich ins Bett holen konnten, ein weiteres Lederbändchen stolz um den Fußknöchel legen – je mehr solche Lederbändchen, desto höher das soziale Ansehen! – oder andere Menschen mit einem interessanten Hochzeitsbrauch, bei denen jeder Überbringer eines Hochzeitsgeschenkes zu einem Quickie mit der Braut eingeladen wurde. Gar nicht so schlecht und warum eigentlich nicht? So oder ähnlich werden die damaligen griechischen Zuhörer der Vorlesungen des Herodot gedacht haben – zu dem und seinen tollen Geschichten kommen wir wieder! Moralisch mokiert werden sie sich sicher nicht 51
haben. Und genau darum mutet diese Schreibweise so modern an – auch der heutige Leser ist interessiert und amüsiert. Und er ist ebenfalls äußerst angetan z. B. von dem Geschichtsschreiber, manchmal besser: Kriegsberichterstatter Herodot, der die Perserkriege exakt und mit Episoden gewürzt schildert, die jeweiligen Hintergründe erläutert und somit verständlich macht, der auch psychologische Hintergrundmusik dazu anstimmt. So schildert er die Sitzung des persischen Kronrates, als der Großkönig seinen Entschluss mitteilt, die Griechen in einem gewaltigen Vernichtungsschlag anzugreifen. Xerxes begründet sein Vorhaben vor den Mächtigen des Reiches damit, dass ihm die Götter dies im Traum befohlen hätten. Keiner widerspricht, nur der Onkel des Xerxes wagt eine psychologische Analyse: Nicht der Wille der Götter, mein lieber Neffe, war der Vater dieses Traumes, nein, es war vielmehr dein eigener Wunsch, dein Ehrgeiz, der dir in diesem Traum erschienen ist. Solche Schilderungen machen die Berichte des Herodot ungemein lebendig, lassen sie modern erscheinen, so modern, dass es dem heutigen Zeitgenossen überhaupt nicht auffällt, dass Thomas Mann in „Josef und seine Brüder“ ganze Passagen aus Herodots Ägyptenschilderungen übernehmen kann, ohne damit Plagiatsjäger auf den Plan zu rufen. Es ist das allgemein und unverblümt Menschliche, das in all diesen Berichten und Schilderungen zutage tritt, das Kuriose aus dem Alltag von ganz normalen Menschen; hier wird nicht von prä- und postexistenter Seele gesprochen, von philosophischen Gedanken, Ideen, die das Wesen von Mensch und Welt ergründen, nein, es ist der „normale“ Mensch, der Mensch aus Fleisch und Blut in all seinen (verrückten) Facetten, der in der Geschichten-Welt, der Welt der Phänomena – besser: der Welt als Phänomenon – des Herodot im Zentrum des Geschehens steht, was den Au52
tor schon damals ungemein erfolgreich machte und bis heute anhält. Ich hatte betont, dass ich das griechische Leben der Zeit nach Homer und Hesiod als vom Spannungsfeld zwischen Phänomena und Noumena getragen ansehe, während die ägyptische civilisation im Magisch-Mythischen verhaftet bleibt. Und doch – auch hier blitzt das Menschlich-Allzumenschliche auf, lässt auch diese Welt, die im religiösen Mythos und seinem Ewigkeitsstreben erstarrt zu sein scheint, ganz normale Menschen von Angst, Heimweh und anderen Gefühlen getriebene Sterbliche sein. Das (ältere) ägyptische Pendant zu den Erzählungen, den „Historien“ des Herodot, ist im ägyptischen Kulturraum die „Autobiographie“ des Sinuhe. Es ist das wichtigste, das bedeutendste literarische Werk des alten Ägypten, es ist Literatur in dem Sinne, den wir heute noch dieser erzählenden Form des Schreibens geben. Der Autor bleibt allerdings unbekannt und auch die Frage, ob die Erzählung tatsächliche Begebenheiten der ägyptischen Geschichte schildert, ist nicht zu klären. Der Inhalt ist bekannt oder kann leicht im Internet nachgelesen werden; für uns aber sind hier folgende Feststellungen wichtig: Die Geschichte spielt im Mittleren Reich und stammt auch aus dieser Zeit, einer Epoche, in der der staatsbegründende und -erhaltende Mythos sich wandelt, in der die den Staat lenkenden Götter zu Menschen und der Einzelne zum Mitglied einer Gemeinschaft wird, aus der Anonymität der Frühgeschichte herauszutreten beginnt, als Einzelwesen wahrgenommen wird und jetzt auch Anspruch auf die im Mythos versprochene Ewigkeit hat – das Ganze der (Staats)Gemeinschaft löst sich auf in die Summe seiner Mitglieder. Ein solcher ist der königliche Haremsbeamte Sinuhe, verwickelt in Intrigen – wo könnten die besser Raum finden als in 53
einem Harem? –, der in die Fremde fliehen muss und dort (erstaunt) feststellt, dass Mensch- und Ägyptersein nicht unbedingt identisch sein muss, ja, dass es einen Blick von außen auf seine Heimat gibt. Und dann zeigt dieser in der Fremde zwar erfolgreiche, aber letztlich doch nicht integrierbare „Staatenlose“ auch noch richtig menschliche Gefühle: Er hat starkes Heimweh. Bei seiner Rückkehr menschelt es dann immer mehr und der Empfang beim Pharao ähnelt dem Gleichnis vom verlorenen Sohn; doch der Gipfel (der Sentimentalität) ist dann, dass der König Frau und Kinder kommen lässt, um das Wiedersehensglück mit ihnen zu teilen. Das Ganze mutet an wie das Happy End eines deutschen Heimatfilms aus der Mitte des 20sten Jhs. Doch dann wird’s wieder ganz ägyptisch: Sinuhe bekommt als Geschenk das Höchste, was in der Schwarzen Erde seiner Heimat möglich ist: ein eigenes fest gemauertes und im ägyptischen Mythos verwurzeltes Grab im heiligen Umfeld der Pyramide des Pharao – ägyptischer geht’s nicht! Hier tritt der Einzelne aus der Anonymität der Geschichte heraus, bleibt aber dennoch im vorgeschichtlichen Mythos verwurzelt. Szenenwechsel: Wir werfen einen Blick auf Raffaels Monumentalgemälde „Die Schule von Athen“, eine Augenweide der Farben und Gestalten, deren verwirrende Vielfalt allein die Vielfalt des Denkens des klassischen Griechentums bereits widerspiegelt. Im Zentrum des Bildes, also des antiken Denkens, finden sich zwei Gestalten, die sich nicht nur von den anderen deutlich abheben, sondern die aus der Tiefe des (antiken) Raumes auf den Betrachter zuzukommen scheinen. Beide Männer, die im vertrauten Gespräch miteinander vertieft sind, kann man leicht erkennen. Man braucht nicht länger zu rätseln, wer die beiden sind, denn ihre Gesichter finden sich in jedem (Schul)Buch zur Geschichte der Antike, wären in jeder 54
Fernsehratesendung leicht zu bestimmen – Platon und sein Schüler Aristoteles. Sie sind heute geradezu Identifikationsfiguren für das, was gemeinhin als Philosophie bezeichnet wird – eine Weltdeutung, die vom „Geist“ – und eben nicht vom sinnlichen Ansehen! – getragen wird. Bezogen auf die Begriffe in unserer Überschrift zu diesem Kapitel ist der ältere der beiden, Platon, den Noumena zuzuordnen, während Aristoteles mehr für die Erforschung der realen Dinge dieser Welt, der Phänomena steht. Es scheint so zu sein, dass die Entdeckung des alter ego, eines zweiten immateriellen Ichs im menschlichen Traum, auf den Weg zu einer prä- und postexistenten Seele, also zu einem geistigen Wesen führte, das denn auch konsequenterweise in einer immateriellen, also geistigen, Welt beheimatet ist. Jedenfalls unterscheidet Platon konsequent zwischen einer sinnlich wahrnehmbaren und einer Welt der „Ideen“, des Denkens, dessen irdischer, körperlicher Abklatsch etwas gegenüber dem Geistigen Minderwertiges – Phänomena – darstellt. Dazu passend wird die (menschliche) Seele als ein Teil dieser dem Geist zugehörigen Welt des Denkens angesehen, die nur vorübergehend in das Gefängnis des (menschlichen) Körpers schlüpft. So entwickelt sich eine Lehre, die dem Denken, dem Gedachten, dem Geistigen den Vorrang vor einer Welt einräumt, die wir heute – jedenfalls im winzigen Anteil des wissenschaftlich denkenden Teiles der Menschheit – als die einzig reale bezeichnen würden. Diese Art des Denkens spaltet sich, seiner subjektiven Natur entsprechend, in unzählige Formen und Unterformen, in die verschiedensten Wege, Seiten- und Abwege auf und nähert sich, vor allem in seiner Spätform, dem Neuplatonismus, mehr und mehr der Esoterik, den Gnostikern, den „Wissenden“, und dem Religiösen, dem aus den Mysterien hervorgehenden Christentum an.
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Dem Denken des Aristoteles, des Schülers des Platon, dagegen ist seine Herkunft aus der Gedankenwelt der platonischen Akademie durchaus noch anzusehen, doch wendet er sich mit aller Kraft den Phänomena dieser Welt zu, wird der erste „Wissenschaftler“ von Weltbedeutung – bis heute. Hier wird die Welt aufgeteilt in Fachgebiete – von der Biologie bis zur Ethik –, die scharfsinnig geordnet und hinterfragt werden, die in ihrem Wesen begründet werden. Aber auch die Mittel, die dieses Erforschen möglich machen, das logische sowie andere Formen des Denkens werden analysiert und selbst zum Forschungsobjekt – ein Universalgelehrter, ein Polyhistor, wie ihn die Welt nie wieder gesehen hat! Doch auch Aristoteles stellt – gewissermaßen als Krönung alles wissenschaftlichen Denkens – die Frage nach dem „Sein des Seienden“, nach dem „Sinn von Sein“, nach dem, was sich in und hinter allem Seienden verbirgt. Es muss – anderes lässt das (aristotelische) Denken nicht zu – einen „unbewegten Beweger“ hinter allem Seienden, hinter der Welt des (denkenden) Menschen geben – es muss so sein, etwas anderes ist im logischen Denken nicht möglich! Wir können diesen „unbewegten Beweger“ auch Gott nennen – warum eigentlich nicht? –, denn so machen wir ihn auch den Nicht-Philosophen, also der absoluten Mehrheit der Menschen, zugänglich. Nur – offenbart hat sich dieses höchste Wesen damit nicht; es ist aus der Sicht von dem, was wir heute Religion nennen, (nur) theoretisch erschlossen, gedacht, erdacht. Aus genau diesem Grunde wird viele Jahrhunderte später Blaise Pascal beten, nicht zum (gedachten) „Gott der Philosophen“, sondern zum (geoffenbarten) „Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs“. Diese denkende Frage nach dem „Sein alles Seienden“ nannte Aristoteles „Erste Philosophie“, also die eigentliche, die echte Philosophie oder auch – sehr verräterisch! – „Theologische Wissenschaft“. 56
Die Wiedergeburt des Mythos Ich hatte andeutungsweise zu zeigen versucht, wie die Kernspaltung des Mythos, dieses uralten Weltverstehens des sich entwickelnden Menschen, in seinen religiösen, nach Ewigkeit, Unsterblichkeit strebenden, vor allem ägyptischen Anteil und in seinen (theoretisch) denkenden griechischen Teil zu einem Spannungsfeld zwischen Phänomena und Noumena führt, das allerdings kein leerer Raum bleibt, in dem ich nun mal bin. Die Kernspaltung hatte ungeheure Kräfte freigesetzt, zwischen denen Gedankensplitter der mächtigen Explosion in großer Vielfalt herumwirbelten: Denkerische und religiöse Kräfte hatten sich in überwältigender Vielfalt entwickelt. „Nun bleibt doch mal auf dem Teppich!“, scheint Epikur dem Platonismus entgegenzuhalten, „was schert mich eine ewige Seele, mit der ich in die (jenseitige) Welt der Ideen flüchten kann!?“ Nein, so sagt dieser Denker, ich lebe, und das weiß ich ganz sicher, im Hier und Jetzt, und darum will ich ein zufriedenes, ein gutes Leben haben. Und das ist durchaus möglich – man muss es nur richtig anstellen. Darum: Weg mit allem Streben, aller Gier nach Unerreichbarem, bescheide dich, lebe genügsam aber genüsslich – „lebe im Verborgenen!“ Was schert dich das politische Gezänk, dieses Streben nach Macht, was soll das nervenzerreibende Geschachere der Kaufleute, diese Gier nach Geld? Du kannst es nach deinem Tode sowieso nicht mitnehmen, denn mit dem Tod endet – glücklicherweise! – alles Leben. Da ist kein göttliches Gericht, kein Hades, kein 57
Ort der (göttlichen) Strafe, kein Tartaros! Überwinde den Glauben an all diesen Unsinn! Es ist doch so: Solange du da bist, gibt es keinen Tod und wenn der Tod kommt, dann gehst du einfach fort, bist nicht mehr da! Es ist dies zweifelsohne eine sehr „vernünftige“, eine sinnvolle und gut zu praktizierende, eine auch schon damals „moderne“ Lebenseinstellung, die einfach nur die Frage zu beantworten sucht: Wie komme ich hier im Leben, in dem in nun mal bin, wie komme ich mit diesem meinem Leben gut zurecht, wie mache ich das möglichst Beste daraus? Das leuchtete vielen gebildeten Menschen der Hoch- und Spätantike ein, sodass der Epikureismus zu einer weit verbreiteten Lebenshaltung wurde, bis ihn eine sich neu entwickelnde, aus der Magie des Orients schöpfende neue Religion verdrängte, die es geschickt verstand, sich mit den Mächtigen zu verbünden, um so selbst an die Macht zu gelangen. Dieses Christentum stellte ein völlig fiktives ewiges Paradies erfolgreich gegen ein gelungenes tatsächliches Leben hier auf Erden und verdrängte so das vernünftige Denken Epikurs mit einem neuen magisch fundierten Mythos, der dieses menschliche Denken als oberflächlich hinstellte, da es nicht aus der göttlichen Tiefe des Magisch-Mythischen schöpfte. Man kann auch sagen, es ist der Aufstand der Habenichtse, derer die da „geistig arm“ sind, bei denen niemals ein solches gutes Leben zu erwarten ist, die nur eine absurde und kostenlose Hoffnung, einen Traum haben – vergleichbar dem heutigen Stütze-Empfänger, der nur noch auf den großen Lottogewinn hofft. Und so kommt der gegenwärtige christliche Fundamentalismus, das von kirchlicher Tradition und theologischer Sophisterei befreite Christentum, auch überwiegend bei den unterprivilegierten schwarzen Massen der USA, Brasiliens und Afrikas gut an. 58
Zur gleichen Zeit mit Epikur, in der Epoche des Aufstiegs der makedonischen Monarchie und des damit verbundenen Niedergangs der (selbstständigen) griechischen Poleis, tritt ein anderer griechischer Denker an die Öffentlichkeit, Zenon von Kition, der seine Lehre zum ersten Mal in der Athener (Markt)Halle Stoa verkündet, was namensgebend für diese Denkschule wird, so wie die Akademie für die Platoniker und der Peripatos für die des Aristoteles. So wie sich einst im Alten Reich Ägyptens das Kind des Schöpfergottes Re, Ma’at, die kosmische Weltordnung, und die sich darin spiegelnde Gesellschaftsform des Ägyptischen Staates als ein Einordnung forderndes (Staats)Wesen, das synonym mit „Welt“ ist, darstellt, so gilt es für den Stoiker, die Einordnung seines persönlichen Lebens in die vom allumfassenden Logos bestimmte Natur wie auch die menschliche Gesellschaft so zu gestalten, dass sich dadurch ein erfülltes Leben und privates Seelenheil ergibt. (Der Satz des Paulus „jedermann sei untertan der Obrigkeit, die Gewalt über ihn hat, denn es ist keine Obrigkeit ohne von Gott“ spiegelt durchaus den Zeitgeist der Stoa.) Der Ansatz dieser beiden großen Denkschulen der Hoch- und Spätantike, der Epikureismus und die Stoa, ist derselbe, genauso wie das Ziel, ein gelungenes Leben – bei (leicht) unterschiedlichen Wegen: Es ist derselbe (Zeit)Geist, aus dem sie beide geboren werden. Es folgen dann mindestens zwei Jahrhunderte eines gewaltigen geistesgeschichtlichen Umbruchs: Die aufstrebende griechische Welt zerschlägt das morsch gewordene Perserreich, den Orient, doch der große Alexander demütigt seinen ehemaligen Gegner nicht, wie dieser es andersherum sicher getan hätte, nein, der aufgeklärte Schüler des Aristoteles reicht dem Unterlegenen die Hand, vermählt sich nicht nur selbst mit einer Perserin, sondern drängt auf eine viel größere Hochzeit beider Völker, beider Kulturen. Der Hellenismus ist das (groß59
artige) Kind dieser Verbindung – und der Logos ist der Pate dieses Kindes. Auch politisch tut sich einiges: Nachdem der Grieche Pyrrhus, der den Alexanderzug im Westen zu wiederholen suchte und dabei genau an den Falschen geraten war, als der sich zu seiner endgültigen Niederlage gesiegt hatte, begann das siegreiche Rom seine Macht systematisch auszudehnen, zuerst einmal nach Osten. Griechenland wurde besetzt – von Eroberung kann kaum die Rede sein, denn es war eher andersherum: Griechischer Geist, griechisches Denken eroberte sehr schnell Rom, und schon bald sprach man zurecht von der griechisch-römischen Welt, einer (Geistes)Welt, die dann mehr und mehr vom Hellenismus geprägt wurde. Und in dieser Welt herrschten neben einem zurückgedrängten Platonismus und Neuplatonismus vor allem die Lehren des Epikur und die des Zenon, die Stoa. Die beiden Weltanschauungen und die daraus im Einzelnen resultierenden Lebensentwürfe scheinen auf den ersten Blick gegensätzlicher Natur zu sein – Hedonisten, Genussmenschen, contra pflichtbewusste Beamte –, doch sind bei genauerem Hinsehen diese beiden philosophischen Begegnungen mit der Welt des Menschen fast deckungsgleich. Beide stellen die Frage nach der Möglichkeit eines gelungenen menschlichen Lebens und antworten übereinstimmend mit Bescheidenheit, nicht nur im alltäglichen Leben. Epikur mied alle Lustbarkeiten, aber er verachtete, verteufelte sie nicht etwa, lebte jedoch auch, wie alle großen Stoiker ebenfalls, nicht wie ein Bettelmönch. In ihrer persönlichen Geisteshaltung war nichts Radikales zu finden. Sie sahen nicht das Leben als den größten Fehler des Lebens an wie Siddhartha Gautama, sie lehnten nicht alle Freuden des Lebens ab wie Franziskus oder Savonarola, nein, sie lehrten das normale menschliche (also sterbliche) Leben, 60
das seine Freude, sein Glück im (bescheidenen) Genuss eines zurückgezogenen Lebens (Epikur) oder in der unaufgeregten Einordnung in die Dinge der Welt findet (Stoa). Sie strebten weder nach absoluter Erkenntnis noch nach vollständiger Erlösung – sie waren und blieben Menschen, unvollkommene sterbliche Menschen, die aber „wissen, dass sie nichts wissen“. Und darum waren sie kluge, wirklich kluge und gebildete Leute! Menschen, die um ihre Grenzen wussten, die aber auch Einblick gewinnen konnten in die Möglichkeiten des Menschen, des Menschseins. Und genau das unterscheidet sie auch von der großen Mehrheit der anderen, der Dummen – damals wie heute. Denn der Dumme weiß alles, ja, noch mehr: Er weiß sogar alles besser! Es ist geradezu eines der signifikanten Merkmale der Dummheit, dass ihre stolzen Besitzer sich für die Inhaber dessen halten, was bei ihnen die Wahrheit heißt. Da gibt es Philosophen, die diese Wahrheit denkerisch erschließen, besser: sie denkend erfinden, oder Theologen, die sie empfangen haben, die ihnen aus lauter Gnade völlig unerwartet – „Ich hätte so etwas nie für möglich gehalten!“ – als ein göttliches Wunder in den unvorbereiteten Schoß gelegt wurde. Echtes Wissen hat seine Grenzen, die allerdings schrittweise und sehr mühsam hinausgeschoben werden können – Dummheit aber ist grenzenlos! So ist es auch heute noch und so war es schon damals, denn unserer Zeit und der damaligen der Hoch- und Spätantike ist gemeinsam, dass der Mythos, die mythische Welt, das Erbe der Evolution zum Menschen hin, damals zusammengebrochen war, ein Bruch, den wir Kernspaltung des (einheitlichen) Mythos genannt haben, und der zu einer gewaltigen Explosion seiner Bestandteile geführt hat, nämlich in die Aufspaltung von Religion und Denken – der Religion zu Offenbarung und Denken zu Logik hat werden lassen. Und heute ist es genauso: Ein neuer einheitlicher Mythos – wir 61
werden ausführlich darauf kommen! – ist ca. 200 Jahre vor unserem Heute zerrissen, und auch diese Explosion hat – jetzt aber heute! – gewaltigen Staub aufgewirbelt und die jetzige Welt des Menschen in unendlich viele Fetzen zerrissen und kaum erkennbar gemacht. Doch bleiben wir zunächst in der Epoche, die wir Hellenismus genannt haben, in einer Zeit, die der fruchtbare Boden für vielerlei kluge Gedanken, aber auch für den Blick verstellenden Explosionsstaub war. Das Wort Hellenismus betont die Herkunft dieser Kultur – „Hellenen“ sind Griechen – aus der griechischen civilisation, dem griechischen Denken. Und das hatte sich inzwischen von der ionischen Naturphilosophie und ihren grundsätzlichen Seins-Fragen genauso abgewendet wie von den logistischen Gedankenspielen der Sophisten und sich dem Menschen und den realen Problemen seiner Existenz zugewandt. (Wir nennen diese Wende heute die „sokratische“, da dieser Straßenphilosoph aus Athen ihr herausragender Vertreter ist; der Begriff „Existenz“ aber wird im Sinne einer Existenzphilosophie des 20. Jhs. gebraucht: das sich selbst reflektierende Dasein des Menschen.) Die großartigsten Ergebnisse dieser antiken „Existenzphilosophie“ sind der Epikureismus und der Stoizismus, die nicht nur diese Epoche perfekt spiegeln, sondern die auch noch heute äußerst vernünftige, ja erstrebenwerte Einstellungen für gelungene Lebensentwürfe sind. (siehe Helmut Schmidt!) Doch der Hellenismus ist nicht nur einfach das Fortführen griechischen Denkens, der durch den Alexanderzug geöffnete Orient, seine vor allem religiösen Empfindungen faszinieren jetzt auch manche Menschen der griechisch-römischen Welt. Gerade diese Mischung aus beiden so verschiedenen Kulturen, die durchaus zu einer echten Verbindung werden kann, macht das Typische des hellenistischen Denkens, seiner Kultur, seines gesamten Wesens aus. Dies gilt 62
in hervorgehobenem Maße für all das, was wir heute Esoterik und ihr (religiöses) Umfeld nennen würden. Wir hatten die philosophischen Kräfte, die bei der Kernspaltung des Mythos frei wurden und sich vor allem in Griechenland entfalteten, zuerst angesprochen und wollen uns nun dem anderen Teil des Mythos, dem religiös-esoterischen, zuwenden. Diese Esoterik blüht im Hellenismus, sie blüht in den exotischsten und grellsten Farben, in den seltsamsten Formen und Gestalten – sie stellt sich gegen alles „vernünftige“ Denken Epikurs und der Stoa. Und es ist das Wesen aller Esoterik – damals wie heute! –, dass sich der diesem Glauben verfallene allen anderen Menschen, jedem anderen Wissen und Denken, himmelhoch überlegen fühlt. Er (und seine Gruppe) hat exklusiven Zugang zu einer höheren Wahrheit, die ihm geoffenbart worden ist und die für andere versperrt ist, für diese anderen bedauernswerten Geschöpfe, die sich in einem Zustand des Nicht-Wissens, der Un-Wahrheit, des Nicht-Erlöstseins befinden. Wir spüren hier sofort das Gemeinsame von Esoterik und Offenbarungs-(Erlösungs-)Religion. Doch es gibt nicht nur (viele) Gemeinsamkeiten, nein, beide, diese Religionsform und die Esoterik, sind dasselbe, waren es zumindest in dieser Zeit, der Zeit der Entstehung und Entwicklung von Erlösungsreligionen, deren Wiege der Hellenismus, dieses Zusammentreffen und dann Verschmelzen der Kultur des Westens mit der des Orients ist. Der Name für die Esoterik dieser Zeit ist Gnosis. Der Gnostiker ist der „Wissende“, und allein diese (Selbst)Bezeichnung entlarvt diese Form des „Wissens“ als typische Esoterik, als Religion dieser Zeit. Die Gnosis unterscheidet einen guten, einen allumfassenden Gott – ähnlich, wenn nicht sogar identisch mit dem christlichen „lieben“ Gott – von einem bösen Gott, dem Demiurgen, dem Schöpfer dieser (bösen) 63
Welt, identisch mit dem (jüdischen!) Jahwe des Tanach, den heiligen Schriften der Juden, unserem Alten Testament, und weist Wege der glaubenden Erlösung des Menschen aus diesem Jammertal, das sich Welt nennt. Nun, der entscheidende Unterschied zu dem sich entwickelnden Christentum ist der, dass die Gnosis keine (innere) Struktur entwickelt, die Ordnung in dieses vielfältige Wirrwar des Offenbarens und Glaubens bringt: Die Gnosis zerfällt in tausend Formen und Unterformen, in Strömungen und Abweichungen aller Art – was beim sich entwickelnden Christentum anfänglich genauso ist, ist es doch genauso ein esoterisches und somit typisches Kind seiner Zeit. Doch dann formt sich hier eine Ordnung, die sogar gottgewollt, also heilig ist, die heilige Ordnung, die Hierarchie der (sich entwickelnden) Kirche. Und diese Hierarchie ordnet, d. h. vereinheitlicht den Glauben nicht nur nach innen, erstickt alle Abweichungen mit brutaler Gewalt bereits möglichst schon im Keim, sondern grenzt ihn dadurch auch zunehmend scharf nach außen ab – macht ihn politik- und somit auch machtfähig. Doch zurück zur religiösen Welt des Hellenismus, um zu verstehen, was damals geschah: So wie nach der Kernspaltung des Mythos sich seine philosophischen Anteile bei den Griechen geradezu sprunghaft entwickelten, so geschah es mit dem ägyptischen, mit dem – nicht nur dort, aber vor allem dort – beheimateten, dem religiösen Anteil ebenfalls. Mit der Möglichkeit jedes einzelnen Bewohners der Schwarzen Erde, egal ob Mann oder Frau, ob Kind oder Greis – ja, sogar Tieren wurde die Möglichkeit von Mumifizierung und Grab geboten – mit dieser grundlegenden Prioritätenverschiebung in der Gesellschaft änderte sich auch der Mythos, das Spiegelbild dieses Geschehens: Das Streben nach Unsterblichkeit, nach persönlicher Ewigkeit, rückte in den Vordergrund und mit 64
ihm der Mythos des Göttergeschwisterpaares Osiris und Isis. Diesen Mythos reichte das sterbende „Alte“ Ägypten an die neuen Herren der Welt, an das römische Imperium weiter, wo dieser zum Glauben mutierende Mythos im hellenistisch werdenden griechisch-römischen Kulturbereich begierig aufgesogen und assimiliert wurde. Die alten Götter aber, ob sie nun Zeus oder Jupiter, jeweils mit Anhang, oder Jahwe – hier ist seine Variante vor dem babylonischen Exil gemeint–, sie alle waren Staatsgötter, die für das Wohlergehen des gesamten Volkes, für den Staat, zuständig waren – der Einzelne (Mensch) wurde, von herausragenden Führungspersönlichkeiten abgesehen, nur als Teil des Ganzen wahrgenommen: Ging es dem Volk, dem Staat, durch Wohlwollen der Götter gut, dann war auch für die Gesamtheit der Gruppenmitglieder alles in Ordnung, waren aber Götter verärgert, z. B. durch einen Kultfehler seiner Anhänger, dem typischen Vergehen gegen die Götter der frühen Antike, dann wurde es auch für die einzelnen Mitglieder der Gemeinschaft ungemütlich. Das änderte sich in und unter der pax romana: Das politische und damit gesellschaftliche und wirtschaftliche Umfeld war jetzt überwiegend durch Frieden und Ordnung, durch law and order bestimmt, was allerdings am persönlichen Schicksal des Einzelnen, an Krankheit und Tod, nichts änderte. Dies ist der Boden, auf dem sich eine neue Form des religiösen Mythos entwickelt, der zwar auf den aus der Vorzeit erwachsenen Mythen der frühen Kulturen basiert, darauf aufbaut, aber der diese auch entscheidend weiterentwickelt. Und hier und jetzt rückt der Einzelne und sein persönliches Schicksal in das Zentrum des Mythos und damit seiner persönlichen Religiosität. Am deutlichsten wird dies, weil wohl am besten belegt, beim ägyptischen Unsterblichkeitsmythos, der an dem Göttergeschwisterpaar Isis und Osiris festmacht. Die65
ser Kult, wie andere ähnliche auch, stellt ein gelungeneres Leben im Diesseits wie ebenso phantastische Aussichten für ein Jenseits in Aussicht. Wir nennen diese im Hellenismus sich entwickelnde neue Form von Religion Mysterienreligionen, Mysterienkulte oder einfach nur Antike Mysterien. (Als ausgezeichnete Literatur, vor allem für Christen, die die Entstehung ihrer Religion besser begreifen wollen, sei dringend empfohlen: Walter Burkert, Antike Mysterien, München 1990!) Zu den allgemeinen Merkmalen dieser Mysterienkulte gehören: • Der sterbende und auferstehende Gott • Der Mutterkult • Die Wiedergeburt und Unsterblichkeit Ich hatte beim ägyptischen Totengericht auf eine Reinigung des zu richtenden Toten im ägyptischen Mythos bereits hingewiesen, hatte dort schon von einem Vorläufer der Beichte gesprochen, was jetzt in den Isis-Mysterien deutlicher und ins hiesige Leben übertragen wird: Diese religiöse Reinigung, Katharsis, ermöglicht dem Initianten ein „neues Leben“ bereits in dieser Welt – ein durchaus nachzuvollziehender psychologischer Effekt! –, verspricht ihm zugleich jenseitiges Glück, und den Uneingeweihten, den Ungläubigen, ein schreckliches Schicksal – die Hölle! Voraussetzung dafür ist allerdings, dass man dies auch tatsächlich glaubt. An die alten Götter brauchte man nicht zu glauben – die Blitze des Zeus oder Jupiter waren Tatsachen, genauso wie das liebend geschlechtliche Verlangen der Aphrodite/Venus oder die Schrecken des Krieges, die Mars/Ares verursacht. Doch einen jenseitigen Glückszustand, den kannte man hier im Leben nicht, es fehlte jegliche Anschauung dazu – den musste man eben glauben! 66
So wird dieser Glaube zu einem zentralen Aspekt für den Anhänger eines Mysterienkultes, für das Gemeindemitglied wird dieser gemeinsame Glaube verbindend und identitätsstiftend! Alles dies- und jenseitige Glück aber machte das Leiden und Sterben desjenigen Gottes möglich, der im Mittelpunkt der jeweiligen Mysterien stand, egal ob er nun Osiris, Attis, Baal (Taras) oder Dionysos (der Gekreuzigte), Jesus (der Gekreuzigte) oder, oder . . . hieß. Entsprechend gefeiert wurde der Tod des Gottes durch tiefe Trauer, aber dann war die Auferstehung, die auch das eigene Weiterleben nach dem Tod versprach und zugleich garantierte, das größte Fest, das „Ostern“ des Kultes. Die Herkunft all dieser Kulte aus dem frühen Fruchtbarkeitsmythos wird bei Osiris wie auch bei Baal besonders deutlich: Im Herbst vergeht, stirbt die Vegetation, im Frühjahr aber erweckt göttliche Kraft das scheinbar tote, jetzt grün werdende Samenkorn, also den grünfarbenen, den grüngesichtigen Gott Osiris des (im Jenseits) wiedererweckten Lebens. Was nun sind die Besonderheiten eines dieser Kulte, aus dem sich ein neuer Mythos entwickeln sollte, der über lange Jahrhunderte eine Nachfolgekultur dieser antiken Welt uneingeschränkt beherrschte, eine Kultur, die wir dann „das Abendland“ nennen werden? Als ein kleiner Landadeliger aus der spanischen La Mancha, Hauptfigur des weltberühmten Romans des Cervantes, sich so in die Figuren seiner Lieblingsliteratur, die er immer mehr und dann wie besessen las – die edlen und tapferen Ritter der Vergangenheit seiner Heimat –hineinsteigerte, dass er sich irgendwann selbst für einen solchen hielt, da gingen die (amüsanten) Erlebnisse dieses Helden am Schluss recht glimpflich aus. Viel schlimmer allerdings endete ein durchaus vergleichbares Abenteuer eines einfachen Handwerkersohnes ca. 1700 Jahre früher im damals 67
jüdischen Galiläa, das zum Militärprotektorat Judäa der römischen Provinz Syria gehörte. Seine Eltern in dem kleinen Dorf Nazareth (damals ca. 400 Einwohner) werden ihn wohl Jeschu gerufen haben in der Kurzform von Jehoschua. Der Junge soll natürlich in die handwerklichen Fußstapfen seines Vaters treten, zeigt aber schon früh Interesse an jüdischer Bildung, lernt lesen und schreiben und liest immer mehr und intensiver im Leseraum der örtlichen Synagoge in den heiligen Schriften Israels, besonders in den Propheten, ganz besonders seinem Lieblingspropheten Daniel. Und so trifft ihn dasselbe Schicksal wie viele Jahrhunderte später Don Quijote, den Mann aus La Mancha: Er steigert sich so in seine Lektüre hinein, dass er sich irgendwann, wie dieser sich für einen edlen Ritter, sich selbst ebenfalls für einen Propheten hält. Wie die alten Propheten den Sieg Israels über die damaligen Feinde weissagten, so verkündet der neue Prophet, der akuten Situation entsprechend, nun die Befreiung vom „römischen Joch“. Um seinen Lebensunterhalt als Wanderprediger zu sichern, schult der neue Prophet auf (Wunder)Heiler um, der erfolgreich auf die Suggestionskraft seiner Worte vertraut, ähnlich einem heutigen Homöopathen. Doch das ansonsten gerade in religiösen Dingen so tolerante Rom – eine der wichtigsten Stützen für seine so dauerhafte Macht! –, kennt in Fragen eben dieser Macht allerdings keinerlei Spaß. Als der junge Mann sich selbst zum „König der Juden“ ausrufen lässt, als „Sohn Davids“, da beendet der zuständige römische Statthalter diesen Spuk schnell und mit klarer Ansage: Bei Aufruhr gegen römischen Machtanspruch gibt es nur eine unmissverständliche Reaktion – Tod am Kreuz, Punkt, Ende der Diskussion! Den im einfachen Volk weit verbreiteten magischen Vorstellungen dieser Zeit entsprechend glauben seine (wenigen) Anhänger allerdings 68
an seine Auferstehung und die Vollendung seines (göttlichen) Auftrages. Doch das tritt genauso wenig ein wie die Prophezeiung ihres Meisters – es passiert nichts, und all diese Ereignisse, diese tragische Quijoterie wäre im Dunkel der Geschichte sangund klanglos verschwunden, wenn nicht . . . ja, wenn nicht ein hochbegabter „Mythenschmied“ aufgetaucht wäre, der in dieser Geschichte seine einmalige, seine gewaltige, seine die Welt verändernde Chance erkannte. Wie alle anderen großen Religionsstifter, wir können sie auch Gründer oder Erfinder nennen, also wie Mose, Siddhartha Gautama oder auch Mohammed, ist der junge Scha’ul, ein Diaspora-Jude aus Tarsus in Kilikien, der heutigen Süd-OstTürkei, auch ein ehrgeiziger junger Mann, der mehr, der aufsteigen will. Doch er scheitert bei diesem Karriereversuch, und er scheitert bei zwei unterschiedlichen Anläufen gleich zweimal hintereinander. Der erste Anlauf, nämlich ein Pharisäer zu werden, geht schon gleich am Anfang schief, da er die Voraussetzung für die Aufnahme in die Schule – er hatte sich natürlich eine besonders renommierte ausgesucht! – nicht mitbringt: Er beherrscht kein Hebräisch, die Sprache der heiligen Schriften Israels. Der neue Versuch, jetzt bei der jüdischen (Geheim)Polizei, lässt sich zuerst gut an, ihm fällt dabei sogar der Ruhm zu, den ersten Jesus-Anhänger als Märtyrer ans Messer, besser: an die geworfenen Steine seiner Henker geliefert zu haben. Doch dem hoffnungsfrohen Beginn folgt der Absturz, ein jähes Ende der eben begonnen Karriere. Denn ein Auslandseinsatz in Damaskus scheitert kläglich und unser Scha’ul muss eine Zeitlang verschwinden, bis Gras über die Sache gewachsen ist, und er ändert sogar seinen Namen in Paulus („der Kleine“), um so besser untertauchen zu können. Im Untergrund hat er Zeit, über einiges nachzudenken, seinen letzten Einsatz und auch über die (potentiellen) Staatsfeinde 69
Roms, die er für die jüdische, von Rom abhängige Polizei verfolgen sollte. Und dabei, genau jetzt kam ihm der erlösende Gedanke, die Idee, die ihn aus seiner ganzen Misere, aus seinem gescheiterten Leben befreien sollte: Wie war das noch mal? Ich kannte das doch von Kindesbeinen an, habe die wiederkehrenden Feste, die Prozessionen, die Feierlichkeiten zu Ehren des Baal Taras wieder und wieder erlebt, des Gottes, der für die Menschheit stirbt, der diese so (zumindest) für die Gläubigen zu ewigem Glück erlöst. Oh ja, es waren tolle, rauschende Feste gewesen, die er als Jude allerdings mit einem gewissen Abstand gesehen, mehr von außen beobachtet hatte – oder war es eher Neid gewesen? Vertraut aber waren ihm diese religiösen Gedanken, diese religiösen Gefühle! Doch ein klares „Du sollst . . . !“, das harte jüdische Gesetz hinderte ihn an der Teilhabe. Und so stürzte jetzt alles recht plötzlich über ihn herein – Gedanken, Vergleiche, Analogien. Unser, des Menschen, Gedankenapparat hat die Eigenart, die wahrgenommen Dinge, auch Gedanken und Gefühle, zu ordnen, einander zuzuordnen und Beziehungen aufzubauen, sodass die Dinge zueinander passen, dass das Ganze einen Sinn, einen Zweck bekommt – auf diese Weise das Chaos der Ereignisse zu einem geordneten und sinnvollen Ganzen zusammenzustellen. D. h. ganz und gar nicht, dass die Dinge („an sich“) sich tatsächlich so verhalten, doch in der Verarbeitung unserer Informationen werden diese „automatisch“ als sinnoder zweckhaftes Ganzes wahrgenommen – eben als geordneter Zusammenhang! Und so – ganz einfach – entstand das Christentum, diese neue Religion, die aus einer Verschmelzung des jüdischen Prophetenmythos – es wird ein Erlöser des erwählten Volkes kommen! – mit dem paganen Mythos vom sterbenden, auferstehenden und die Menschheit erlösenden Gotte hervorging; zusammengefügt im Denkapparat eines 70
Mannes namens Scha’ul/Paulus. Ein neuer Mythos ist geboren, ein neuer Gott, der jetzt nicht mehr jüdische Mensch Jesus/Messias sondern der griechische Gott Christos, der dann zum lateinischen salvator mundi aufsteigt. Ein neuer Zweig erwächst aus dem uralten Mythos vom sterbenden und wiederauferstehenden Gott, der sich zum Kristallisationspunkt eines neuen Denkens, einer neuen Kultur, einer neuen Metaphysik entwickeln wird, die manches aus der alten Welt übernimmt – und die doch, ihrer neuen Natur entsprechend, so ganz anders, so furchtbar herrschsüchtig sein wird. Es ist ein neuer Mythos, ein reiner, ein typischer (antiker) Mythos, eine Götterlegende, die hier erdacht, erfunden und gleichzeitig – denn das gehört unbedingt zum Mythos! – geglaubt wird. (Hyam Maccoby, ein angesehener jüdischer Talmudphilologe und ausgewiesener Kenner der antiken Geistesgeschichte, nennt Paulus einen „Mythenschmied“, den „Erfinder des Christentums“; es gibt unendlich viel belehrende christliche Literatur über das Judentum, hier äußert sich ein äußerst gelehrter Jude umgekehrt über das Christentum: H. Maccoby, Der Mythenschmied. Wer es sicherheitshalber lieber christlich, deutsch-hochschullehrerhaft und theologisch-wissenschaftlich genau haben möchte, dem sei ein evangelischer Neutestamentler empfohlen: Gerd Lüdemann, Paulus, der Gründer des Christentums. Dass für diese Arbeiten Lüdemann die Lehrerlaubnis durch die evangelische Kirche entzogen wurde – wen wundert’s?) Es ist dies ein „modernerer“ Mythos als die uralten aus Ägypten, dem Orient und dem frühen Griechenland stammenden magischen Erzählungen. Der entscheidende Unterschied zu den aus mythischer, also unbestimmter Zeit stammenden Ereignissen dieser antiken Göttergeschichten, die um die Erlösung des Menschen vom irdischen Leben kreisen, ist nämlich, dass das 71
hier geschilderte Erlösungsgeschehen aus der damaligen Gegenwart stammt. So betont Paulus immer wieder, es gibt noch heute lebende Menschen, die haben diese Ereignisse mit ihren eigenen Augen gesehen. Fragt sie doch! Wir können bei der Lektüre, bei sehr aufmerksamer Lektüre der neutestamentlichen Schriften noch heute regelrecht zusehen, wie ein Mythos, wie die Geschichte vom sterbenden und auferstehenden Gott, von der Welterlösung aus der christlichen Taufe gehoben wird, Voraussetzung ist allerdings Glauben, „credo quia absurdum“! Aus einem ganz normalen geschichtlichen Geschehen wird Stück für Stück ein Erlösungsmythos, aus einem historisch gut verständlichen, einem für die damalige Zeit völlig normalen Ereignis wird, gespeist und animiert aus alten Mythen, ein neuer Mythos, der die uralten religiösen Vorstellungen aufgreift und an die neue Zeit anpasst. Ein jüdischer Prophet verkündet das, was die meisten seiner Landsleute sehnlichst erhoffen; doch die Prophezeiung ist religiöser Wahn, den sein Verkünder mit dem Leben bezahlt. Bevor nun aber das Gras der Geschichte über diese unerfreuliche Begebenheit gewachsen ist, deutet ein von religiösen Bedürfnissen erfüllter Zeitgenosse diesen Tod um und passt ihn einem ihm gut bekannten uralten Mythos an. Unter dem Eindruck dieser „Theologie“ werden jetzt auch die „Biographien“ dieses neuen Gottes verfasst; sein Leben wird so umgeschrieben, dass es in die Voraussagen der jüdischen Propheten passt. Albert Schweitzer schreibt im Nachwort seines bedeutendsten theologischen Werks „Geschichte der Leben-Jesu-Forschung“: „Der Jesus, der uns in den Evangelien gelehrt wird, hat nie existiert“. Was nicht bedeutet, dass es ihn nie gegeben hätte, nein, auf keinen Fall! Aber es heißt, dass es sich um Erzählungen handelt, die von glaubender Phantasie und nicht von Tatsachen getragen sind. Das Leben des Mannes aus Nazareth wird so zurechtgelegt, 72
dass es sich wie ein Mosaik aus Prophezeiungen der großen Propheten Israels liest, zumindest für die damaligen Leser, die diese Schriften noch kannten: „Auf dass erfüllet werde die Schrift . . . “ Doch es gibt auch Teile in den Evangelien, die offensichtlich auf den geschichtlichen Jesus zurückzuführen sind, was sich dadurch beweist, dass sie in sein tatsächliches Prophezeiungsund Predigtkonzept passen. Es ist dies seine „Ethik“, wie sie am deutlichsten in der sogenannten Bergpredigt, aber auch an anderen Stellen hervortritt. Da werden religiös-moralische Maximen formuliert, die nur verständlich sind, wenn man den Prophezeiungshintergrund ihres Urhebers berücksichtigt. Da werden Forderungen erhoben, die zwar an die jüdische Tradition anknüpfen, so z. B. die Nächstenliebe (3. Mose 19,18), die Jesus als nun veraltet zurücklässt: „Ich aber sage euch: Liebet eure Feinde!“ (Matthäus 5, 44), was nur auf der Basis des direkt bevorstehenden Anbruches des Gottesreiches verständlich ist. Dies hat sich als größter Irrtum „christlicher Moral“ erwiesen und sich in das Gegenteil gewandelt, denn es passte einfach nicht in das nach sehr irdischer Macht strebende Konzept der Kirche, nämlich dem Befehl des Tötens der Feinde, dem den Schwerthieb begleitenden „Gott will es!“ der Kreuzfahrer oder dem „Gott mit uns!“, das den Bajonettstich in den Bauch des Franzosen zu einer gottgewollten heroischen Tat machte. Diese Bergpredigtethik ist eine reine Übergangsmoral, die als Vorbereitungsritual für das jetzt bald kommende Gottesreich gedacht war, eine Zeit, in der sowieso alles sich ändern wird; eine Anweisung, den gesamten Besitz zu verschenken, macht sonst nicht den geringsten Sinn. Das ist der eine Teil, der vergängliche Teil der neuen Religion, der andere aber ist der ewige, der im Mythos festgeschriebene, der dem unabdingbaren Glauben unterliegende Anteil des 73
Christentums, seines Heilsversprechens: die ewige Seligkeit, das Paradies, der Himmel. Aber Achtung, ganz so einfach war es denn doch nicht, man musste schon etwas geleistet haben, z. B. als Märtyrer. So erklärt es sich, dass frühe Christen sich geradezu nach dem Märtyrertod drängelten, dafür Schlange standen – es konnte gar nicht grausig genug sein! (Siehe hierzu den Briefwechsel: Plinius d. J. – Trajan!) Manche gemalte Darstellung des Martyriums eines Heiligen im christlichen Barock empfindet dies noch bildgewaltig nach: Der grässlich Leidende blickt verzückt in das sich in göttlicher Pracht für ihn öffnende Paradies. Der neue Mythos strebt zwar wie der Jude Jesus auch die Herrschaft Gottes auf Erden an, mit dem feinen Unterschied allerdings, dass sich der Allmächtige jetzt von der sich entwickelnden Kirche vertreten lässt, legt aber das Hauptaugenmerk auf das Jenseits, das für die sich ebenfalls formende Theologie ganz andere, viel mehr Möglichkeiten bietet. Es ist darum so wichtig, diese neue Religion zu verstehen, weil sie ein späteres, ein neues Zeitalter prägen wird – einen neuen Äon. Und diese neue Religion belässt es nicht bei dem neuen, alten Mythos, obwohl dieser immer, bis heute, ihre zentrale Aussage, ihr zentraler Glaubensinhalt bleiben wird. Da sind zudem antike Geistesströmungen, philosophische Gedanken, die sich geradezu dafür anbieten, mit der neuen Religion zu verschmelzen. Der Platonismus predigte vor allem die unsterbliche, die postmortale Seele. Diese Vorstellung von Psyche, aus den menschlichen Traumerfahrungen erwachsen (vgl. Erwin Rhode, Psyche), ordnete schon Platon einer göttlichen, einer ewigen und jenseitigen, einer „wahren“ Welt zu, ein fiktives Phänomen, das nur vorübergehend den (minderwertigen) menschlichen Körper bewohnt. Dieses Phantasma eines ansonsten anspruchsvollen philosophisch-religiösen Denkens, das 74
Schritt für Schritt von den griechischen Gemeinden ausgehend in das sich entwickelnde Christentum eindringt, bietet sich für diese Religion in statu nascendi geradezu an, nämlich als die jetzt denkerische Variante eines naiven Jenseitsglaubens, der mit der Einverleibung dieses platonischen Gedankens nun zwei Möglichkeiten des individuellen Weiterlebens nach dem Tode kennt. Da ist zum einen die Form des jenseitigen Weiterlebens, die für die, „die da geistig arm sind“ (Bergpredigt), also für die schlichten Gemüter, genau das Richtige ist. Jesus hatte es mit Lazarus und sich selbst ja vorgemacht; Gott haucht dem Körper, egal in welchem Zustand dieser ist – von Lazarus hieß es, dass er bereits recht streng roch, die Verwesung also schon eingesetzt hatte –, seinen Lebenshauch wieder ein, er wird einfach wieder so lebendig, wie er vorher einmal war – fertig, eben ein Wunder. Dafür muss natürlich noch etwas von dem vorher mal Lebendigen übrig sein, eine Mumie wäre ideal, die durch die Mundöffnungszeremonie des Priesters wieder ins (jenseitige) Leben zurückkehrt. Für diese aber nicht nur geistig, sondern auch pekuniär armen Christen ist das allerdings kaum möglich, aber verbrennen, was die Römer mit den Leichen ihrer Verstorbenen taten, das kam auf keinen Fall infrage, könnte dies doch bei der „Auferstehung der Toten“ zu (technischen) Problemen führen. Darum nennt Paulus die Toten (Christen) denn auch die „Schlafenden“, was sich bis heute – wider jegliches bessere Wissen! – gehalten hat, wenn man noch heute vom „Entschlafen“ redet und den Tod meint – des Schlafes Bruder. Also mussten die Toten beerdigt werden, wozu allerdings in der Großstadt Rom kein Platz war, warum die „Entschlafenen“ also unter der Stadt in Katakomben „gebettet“ werden mussten. Doch da ist die zweite Variante des ewigen Fortlebens, die dem Platonismus 75
entliehene, schon eleganter und für die gebildeten unter den Christen einfach besser geeignet für jenseitiges Glück oder auch Strafe für die Ungläubigen. Beide Vorstellungen stehen noch heute unvereinbar nebeneinander – gewissermaßen ein postmortales „Leib-Seele-Problem“! Wir finden also in der Spätantike eine geistesgeschichtliche Situation vor, in der kluges und am Menschen, seinen realen Lebensbedingungen und Möglichkeiten orientiertes Denken, der Epikureismus und die Stoa, auf der einen Seite – es ist dies das Denken der (intellektuellen) Oberschicht bis weit in „bürgerliche“ Kreise hinein – einer Vorstellung gegenübersteht, die diese Welt als den minderwertigen Abklatsch einer „wahren“ Welt versteht – vor allem also dem Platonismus, der Gnosis und den Mysterienkulten, unter denen sich seine „moderne“ Variante, das Christentum, immer mehr profiliert. Die Kirche hat es dem Sokrates und seinem Schüler Platon gedankt und sie aus der Hölle geholt, wo diese jetzt nicht-christlichen Vorläufer des wahren Glaubens – so eine Art pagane Heilige – ja als Nicht-Glaubende von Rechts wegen hingehörten, und hat sie in einem Art Zwischenreich (nicht zu verwechseln mit dem erst später eingerichteten und entfachten Fegefeuer), nicht Hölle aber auch nicht Himmel – aber immerhin! – Platz nehmen lassen. Man kann auf das kluge Wort von Alfred Loisy, dass Jesus das Reich Gottes zwar verkündet habe, die Kirche aber gekommen sei, in diesem Zusammenhang nicht oft genug hinweisen, denn es trifft genau den entscheidenden Punkt, den man allerdings auch den wunden Punkt (des Glaubens) nennen kann. Zeichneten sich Gnosis und Mysterienkulte noch und vor allen Dingen durch den Glauben des Einzelnen aus, nämlich ein individuelles Streben nach Erlösung, so formt sich jetzt der organisierte, der genormte Glaube, verbindlich 76
für alle Glaubenden – die Dogmatisierung des Christentums innerhalb der hierarchischen Organisation Kirche. Es ist dies etwas vollkommen Neues in der (Geistes)Geschichte und meines Erachtens auf zwei Umstände vor allem zurückzuführen: Einmal bilden sich in den zerfallenden Machtstrukturen des Imperiums immer mehr weiße Flecken, die nach neuer Füllung streben, zum anderen basieren die Glaubensgrundsätze, die jetzt Dogmen heißen, die Säulen des mächtiger werdenden neuen (Kirchen)Staates im zerfallenden alten Imperium, auf absoluten Ansprüchen, was im Wesen des Monotheismus und des damit verbundenen Wahrheitsanspruches – göttliche Wahrheit ist immer absolut! – begründet ist (vgl. Jan Assmann, Die mosaische Unterscheidung. Bitte möglichst erste, nicht überarbeitete Ausgabe lesen!). Und dieser geordnete, dieser organisierte Glaube, diese sich entwickelnde Kirche wird, auch dies begründet im absoluten Wahrheitsanspruch ihres Glaubens, mit zunehmender Macht immer gewalttätiger – im Inneren gegen Häretiker und nach außen gegen alle „Heiden“, gegen alle Nichtchristen, die (ebenso mit viel Gewalt) überzeugt oder vernichtet werden müssen. Noch braucht man einen ach zu willigen Staat (vor allem Theodosius und Justinian), um die Vernichtung der antiken Kultur, ihres aufgeklärten und vor allem auch vielfältigen Geistes, ihrer nach (irdischer und darum verwerflicher) Schönheit strebenden Kunst und ihres (irdischen) Wissens voranzutreiben – mit der Bücherverbrennung in Ephesus unter der Regie des Paulus, wie uns die Apostelgeschichte glaubend stolz berichtet, fing es an und erreichte einen ihrer Höhepunkte im gezielten Abfackeln der Bibliothek von Alexandria durch einen von Priestern und Mönchen angeführten christlichen Mob. Dass die Philosophenschulen, sprich das Denken, verboten wurden, ist schon so selbstverständlich, dass es kaum erwähnt 77
werden muss: Die antike Welt, ihr hoch entwickelter Geist, werden gezielt und systematisch verfolgt und zerstört – das von Jesus (angeblich) verkündete Reich Gottes ist damals tatsächlich politische, ist gegenwärtige, fassbare Realität geworden! Es ist das Ende von Geist, Kultur und lebenswertem (irdischen) Leben. Die Zerstörung war so umfassend und gründlich, dass von den großen Werken der antiken Philosophie nichts mehr übrigblieb, kein einziges Exemplar, weder in den großen öffentlichen Bibliotheken, die sicherheitshalber gleich vollständig abgefackelt wurden, noch in privaten Bücherschränken. Viele Jahrhunderte später musste man sich diese wertvollen Werke bei den islamischen Arabern ausleihen, wohin sich einige Exemplare vor dem Bilder- und Kultursturm, vor der Hexenjagd auf den Geist gerettet hatten. Der Gottesstaat ist da! Ja, die christliche Spätantike ist gekennzeichnet durch einen christlichen Gottesstaat, der dem heutigen Gottesstaat im Iran nicht nur stark ähnelt, sondern ihn an Geistes- und Kulturfeindlichkeit auch noch teilweise weit übertrifft (bitte unbedingt lesen: Catherine Nixey, Heiliger Zorn). In unseren Geschichtsbüchern, in einer christlichen Geschichtsschreibung klingt das natürlich alles ganz anders; da ist die Rede vom Sieg der christlichen „Wahrheit“ – endlich beherrscht die göttliche Liebe die Welt! – über ein vom Bösen getragenes Heidentum, über eine dunkle Welt Satans. Endlich erleuchtet das strahlende Licht göttlicher Gnade und christlicher Nächstenliebe diese Welt. Die antike Welt, diese griechisch-römische Antike, hatte ihren Anfang genommen mit der Destillation des Logos aus dem Mythos, mit der denkenden Überwindung von uralten Vorstellungen, die die Welt durch eine zweite, ein gedachtes Spiegelbild der Welt des Menschen, zu begreifen suchten. Die ionischen Naturphilosophen wenden sich dieser Welt zu, 78
ausschließlich der realen Welt des Menschen, die sie nicht mit der Willkür der Geister und Götter, sondern mit der Vernunft verstehen wollen. Doch die in der Vorstellung des Menschen fest verankerte Götterwelt, ihre mythischen „Wahrheiten“ sind nicht durch Ratio einfach zu verscheuchen wie der Albtraum beim Erwachen. Sie leben weiter, manchmal im Verborgenen, und treten unter den unterschiedlichsten Masken erneut zu Tage. Die Geister der Ahnen werden jetzt zu unsterblichen (platonischen) Seelen und der (heidnische) Mythos wandelt sich zum (christlichen) Mysterium, das eine jenseitige Welt wieder neu entdeckt, das den Glauben an eine Erlösung in dieser fiktiven Welt mit politischer Macht und Gewalt wie auch mit Versprechungen einfordert. Ein neuer Mythos, eine neue Göttergeschichte formt sich, die sich ihren Versprechungen gemäß „Heilsgeschichte“ nennt, was der harte und unangefochtene Kern eines neuen Denkens sein wird, einer neuen prima philosophia – der christlich-abendländischen Metaphysik. Diese neue Metaphysik tritt zuerst im Gewande der Theologie auf, denn beide Denkformen sind jetzt identisch, die alte Philosophie ist nur noch die Magd des neuen Denkens.
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Das Abbild, das Spiegelbild der Gedanken Gottes So ist es denn auch charakteristisch, dass es ein Kleriker der römischen Kirche ist, der den Schlussstrich unter die griechischrömische Antike zieht, der die Summe bildet und diese aufbereitet für ein neues, ein völlig anderes Zeitalter. Aurelius Augustinus ist ein Mensch der Antike, der hier verwurzelt ist: In diesen Verhältnissen kennt er sich aus, hier wurde er geboren, wurde in diesem Geist erzogen – er dachte und fühlte als ein Kind der antiken Welt, eben wie ein (spät)römischer (Welt)Bürger. Ja, die persönliche Entwicklung des Augustinus spiegelt geradezu die geistige Verformung des untergehenden römischen Imperiums. Natürlich kennt er die unter Intellektuellen vorherrschenden Geistesströmungen des Epikureismus und der Stoa, natürlich sind ihm auch Platons Gedanken bekannt und vor allem der Neuplatonismus Plotins; doch es zieht ihn mehr hin in eine esoterisch-religiöse Welt, er wird Manichäer, einer Strömung innerhalb der Gnosis, die als Erlösungsreligion manche Gemeinsamkeit mit dem Christentum – nur eben keine Kirche hat. Doch dann wird Augustinus Christ, was er eindrucksvoll in seinen „Bekenntnissen“, den confessiones, so einer Art Missionswerk und gleichzeitig herausragende Weltliteratur, darstellt. Die große Stunde dieses Mannes, der mittlerweile Bischof von Hippo Regius in Nordafrika geworden ist, schlägt aber, als im Jahre 410 das Ende des Weströmi81
schen Reiches durch die Westgoten besiegelt wird. Gleichzeitig wurde damit aber auch die Vorstellung eines Gottesreichs auf Erden angegriffen, eines Gottesreichs, das seit Theodosius mit dem von Christen beherrschten Imperium – „ . . . denn Dein ist das Reich!“ – mit diesem verkündeten, versprochenen Gottesreich gleichgesetzt wurde. Und dieses Gottesreich wird von Barbaren zerstört! Unmöglich!! Da muss etwas falsch verstanden worden sein! Drei Jahre später beginnt der Bischof eines seiner Hauptwerke zu schreiben, an dem er dreizehn Jahre arbeitet – De civitate dei, contra paganos. Wir wollen uns nun die Geisteswelt dieses Mannes etwas genauer ansehen, die sich vor allem in diesem Werk niederschlägt, um zu verstehen, warum wir diesen Kleriker als den Schlussstrich zu dem ansehen, was wir griechisch-römische Antike nennen und warum es gleichzeitig die Basis von dem sein wird, was als christlich-rationalistische Metaphysik über lange Jahrhunderte die sich entwickelnde germanische Welt des Abendlandes bestimmen wird. Wir hatten in der antiken Welt zwei Hauptgeistesströmungen ausgemacht, einmal eine metaphysisch ausgerichtete, die sich zurückführen lässt bis in das Schamanentum der Vor- und Frühzeit und der Entwicklung der ersten Zivilisationen: Die Welt wird erklär- und begreifbar gemacht durch eine zweite, eine über dieser irdischen Realität stehende „höhere“, durch eine „wahre“ Welt – ob sie nun „Welt der Geister“, „Welt der Ideen“ oder die „Wahrheit Gottes“ heißt –, dieses über dem irdischen Dasein stehende (höhere) Sein aber ist nur denkerisch oder im Glauben erfassbar. Doch in der gesamten Antike gab es auch heftige Kritik an diesem Weltentwurf: Von den ionischen Naturphilosophen – Xenophanes: „Nicht die Götter haben die Menschen, sondern die Menschen die Götter erschaffen!“ – über Aristoteles zu Epikur und (bedingt) der Stoa haben sich denkende Menschen 82
gegen dieses Weltverständnis gestellt und die (einzige) Wirklichkeit dieser hiesigen Welt und des menschlichen Lebens betont, dieses nur aus sich selbst zu gestalten versucht. Mit der Erlösungsreligion Christentum aber gelang es einer solchen esoterischen Bewegung, an die politische Macht zu kommen und sich so an die Spitze aller metaphysischen Bewegungen – seien sie nun philosophischer oder religiös-esoterischer Art – zu setzen und den Zeitgeist diktatorisch zu beherrschen. Der zweite Teil des Titels dieses Mammutwerkes, der oft unterschlagen wird, heißt „contra paganos“, also gegen die Heiden. Wir stellen uns heute unter solchen Heiden häufig immer noch lendenbeschürzte Neger vor, mit einem Knochen durch die Nase gebohrt und um einen über einem Feuer hängenden Topf tanzend, in dem ein Missionar sitzt, doch bei Augustinus ist ein völlig anderer Menschentyp gemeint: die Intellektuellen seiner Zeit, vor allem die Anhänger Epikurs und der Stoa, was sich durchaus überschneiden kann. Diese paganos sind also eher zu vergleichen mit Friedrich Schleiermachers „Verächtern der Religion, vor allem die Gebildeten unter ihnen“. Doch was kann dieser Christ der Spätantike – das Christentum ist noch immer eine deutliche, wenn auch eine gut organisierte Minderheit – denn eigentlich diesen „Heiden“ entgegenhalten? Hier schildert Augustinus sehr lebensnah, schlicht und vor allem einleuchtend und bedrängend die Übel des Lebens, denen kein Mensch – auch kein Weiser, Stoiker und Epikureer werden ausdrücklich genannt – entgehen kann. Da niemand Krankheiten und Gebrechen – lebensnah beschrieben bis zur Demenz hin –, entkommen kann, bleibt nur noch die Flucht vor dem Leben in den Selbstmord! Doch, so fragt er eindringlich, was ist das für eine Tugend des Weisen, die als Ausweg nur noch den Mord kennt!? 83
Liest man den Originaltext, so fällt eine sehr persönliche Schreibweise, wie in den „Bekenntnissen“, auf; die Gedanken und Argumentationen sind nicht theologisch abgehoben, sondern menschlich eindringlich – auch heute noch! – und durchaus überzeugend, eben nicht sophistisch überredend, sondern im besten Sinne überzeugend. Es ist dies die mit Abstand beste Glaubensbezeugung, die ich je zu Gesicht bekommen habe und für Christen wie Nicht-Christen auch noch in unserer Zeit höchst lesenswert! Und in diesem Werk sind es ebenfalls philosophische Gedanken dieser Zeit, geboren aus dem Geist eben dieser antiken Welt – Gedanken, Ideen des Platonismus und des Neuplatonismus, die von Augustinus, der damit bestens vertraut ist, z. T. wörtlich und ohne Bedeutungswandel in die christliche Theologie übernommen werden. Da ist auf der einen Seite die unveränderliche Welt der Ideen, die göttliche Welt des Geistes, der (philosophischen) Begriffe, der ewigen Werte, von der die menschliche, die prä- und postexistente Seele ein göttlicher, ein ewiger Teil ist. Die Gesamtheit dieser Gedanken macht „das Eine“ (Neuplatonismus) oder „Gott“ (christliche Theologie) aus. Und jetzt: wahre Erkenntnis des Menschen ist nur durch die Schau dieser unwandelbaren Ideen, der Gedanken Gottes, möglich, auf keinen Fall aber durch einen Blick auf die wandelbaren Dinge der materiellen Welt. Dieser aus dem Platonismus/Neuplatonismus stammende, dieser weltabgewandte, dieser weltfeindliche Denkansatz, der dem Menschen nur die intellektuelle bzw. gläubig geoffenbarte Hinwendung zu den Ideen, also den Gedanken Gott, zugesteht, alles andere aber, auch das scheinbar ethisch wertvollste Handeln zur Sünde erklärt, diese Ideologie, diese „Lehre von den Ideen“ wird das Abendland als christliche Theologie wie auch, in ihrer philosophischen Variante, als christliche Metaphysik über lange Jahrhunderte beherrschen. 84
Wir müssen uns das in aller Deutlichkeit klarmachen, um zu verstehen, was der erste Satz Kants in der „Kritik der reinen Vernunft“ (1781) für eine Revolution bedeutet(e), der da lautet: „Dass alle unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anfange, daran ist gar kein Zweifel“ und eben nicht durch die Schau der Ideen/Gottes durch die ewige, die göttliche Seele! Ein Schlag ins Gesicht des Augustinus, der abendländischen christlichen Metaphysik – und der (katholischen) Kirche, die dieses bedeutendste Buch der menschlichen Geistesgeschichte nicht nur auf den Index setzte, also, mal wieder, Denken zur Sünde erklärte, sondern die Kant – bis heute! – durch Verdrehen und Verfälschen als armen Sünder zu bekämpfen sucht. Man kann es auch moderner, drastischer mit Peter Sloterdijk ausdrücken, der den exklusiven Anspruch einer esoterischen Gruppe von „Erwählten“, von Gläubigen zum Zugang zur „Wahrheit“ – was immer das auch bedeuten mag!? – als eine „Orgie des Irrsinns“ bezeichnet. Doch das ist aus heutiger Sicht gesehen und kritisiert eine fünfzehnhundert Jahre alte Denkweise, die damals modern und revolutionär war, wobei die Kritik allerdings gerechtfertigt ist, wenn diese Gedanken heute noch als göttlich, ewig, als „wahr“ verkündet werden. In seiner Zeit allerdings räumte Augustin mit christlichen Irrtümern auf: Nein, das jetzt christlich gewordene Imperium, die civitas terrena, ist nicht das verkündete Gottesreich, diese civitas dei ist ganz anderer Natur, sie hat einen geistigen Leib – den corpus christi verum, der auch heute noch nichts anderes ist als – dreimal darfst Du raten, lieber Leser – nichts anderes ist als die römische Kirche, die una sancta! (Für besonders Interessierte: Genau das ist das Thema der Dissertation von Joseph Aloisius Ratzinger, dem großen Reformer der Kirche der Gegenwart – so jedenfalls in seinen eigenen Augen und denen seiner Anhänger!) 85
Es sind noch zwei Lehrmeinungen des Augustinus für die (Geschichte der) Kirche von Bedeutung und müssen darum hier erwähnt werden. Da ist einmal der Gedanke der Erbsünde, den dieser Vater der Kirche – nicht des Christentums, das war ein gewisser Paulus! – erfunden hat, oder in kirchlich-heiliger Sprache: der ihm von Gott persönlich geoffenbart worden ist. Adam ist der erste Sünder, alle Menschen aber stammen von Adam ab und sind darum von Geburt an ebenfalls Sünder, was noch dadurch potenziert wird, dass sie in einem zutiefst sündigen Prozess produziert werden, der zu allem Überfluss auch noch mit Lust verbunden ist. (Verstehen Sie jetzt, lieber Leser, warum sich die Kirche so heftig gegen den abgebrochenen Theologiestudenten Charles Darwin wendet(e) – hätte der doch lieber sein Studium zu Hause beendet anstatt in der Weltgeschichte herumzukutschieren!) Also, jeder Mensch ist ein „Verworfener“, auf den die Hölle wartet – jeder, egal wie er gelebt und was er geglaubt hat! Und darum musste Maria den Jesus in Parthenogenese empfangen haben, denn sonst wäre die Heilsgeschichte schon vom Anfang her ein Irrtum! Ja, wenn das so ist . . . Doch Vorsicht, keine voreiligen Schlüsse! Denn Gott ist Güte, Liebe und Gnade! Und in dieser seiner Gnade, aus purer unverdienter Gnade hat er Menschen erlöst von der Erbsünde und der konsequent folgenden Hölle. Ja, diese Gnade ist völlig unverdient, hat nichts zu tun mit einem anständigen Leben oder anderen kümmerlichen menschlichen Versuchen, Gottes Entschluss zu beeinflussen, nein, Gottes Ratschluss, seine Weisheit sind völlig unergründlich. (Genau an dieser Stelle wird Kant später seine Kritik am Christentum ansetzen, indem er Gott mit einem absolutistischen Herrscher und den Christen mit seinem Favoriten vergleicht, der die Gnade des Herrschers durch einschmeichelnden Glauben und nicht durch ein anständiges Leben zu erreichen sucht.) 86
Aber diese unergründliche Weisheit, diese aus seiner Liebe zu dem Menschen stammende Gnade hat zwei Haken, zumindest für die unverständigen Menschen: Erstens kommen nur sehr wenige Menschen in den Genuss dieser unverdienten Gnade – ja, und warum nicht mehr oder sogar alle? Zur Beantwortung dieser (durchaus berechtigten) Frage: siehe unergründliche Weisheit Gottes! Zweitens weiß keiner, auch die Betroffenen selbst nicht (!), wer diese Glücklichen sind; das erfahren sie erst beim Betreten des Paradieses. Diese lästige Unsicherheit – die Kirche schwächte im Laufe ihrer Geschichte diese Prädestinationslehre mehr und mehr ab – wurde erst ca. tausend Jahre später aufgehoben, nämlich durch den Reformator Johannes Calvin, der es zwar nicht in seine offizielle Theologie übernahm, der es aber für den praktischen Gebrauch des christlichen Glaubens doch empfahl, nämlich den (wirtschaftlichen) Erfolg hier auf Erden als ein Anzeichen der positiven göttlichen Gnadenwahl zu akzeptieren, was wiederum noch einmal vierhundert Jahre später Max Weber veranlasste, den (amerikanischen) Kapitalismus auf das zurückzuführen, was er „protestantische Ethik“ nannte, obwohl er selbst religiös recht „unmusikalisch“ war (und vielleicht darum persönlich nie wohlhabend wurde)! Quintessenz Augustinus: Überzeugend und menschlich klug in seiner Glaubensbezeugung, doch genauso menschlich auch in seinen . . . nun gut, nennen wir es Paradoxien!
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Mihi est propositum in taberna mori Auch das ist eine Form der Prädestination, wie sie uns aus der carmina burana des 13. Jhs entgegen hallt! Wenn ich schon in der Kneipe sterben muss, wenn dies der göttliche Wille ist, ja, dann kann ich doch gleich hier sitzen bleiben und noch einen trinken! Im christlichen, dem dunklen Mittelalter – wir setzen die (politische) Geschichte, die dorthin und durch diese Epoche führte, hier als bekannt voraus –, im sich entwickelnden Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation und bei seinen europäischen Nachbarn, war alle Kultur und Zivilisation, alle civilisation der Antike erloschen. Die sich aus vorgeschichtlichen Bauernsiedlungen langsam bildenden Städte – von den auf römische Militärlager zurückgehenden Ansiedlungen einmal abgesehen – hatten mit einer (viel älteren!) attischen demokratischen Polis oder einer römischen antiken Stadt, wie wir sie nicht nur in Rom selbst, sondern genauso in Südfrankreich oder Nordafrika finden, nichts, aber auch gar nichts zu tun. Hier gab es keine großzügig angelegte cloaca, die für den Abfluss der Fäkalien sorgte – hier watete man in Dreck und Scheiße und hatte den immer knapper werdenden Wohnraum mit Schlachttieren und Ratten zu teilen; diese allerdings sorgten immer wieder mit einem einfachen Mittel für mehr und günstigen Wohnraum – sie verbreiteten die Pest, die die Bevölkerungsexplosion in Grenzen hielt. Hier 89
gab es keine Theater, in denen man das Geschick von Kämpfern begutachten oder sich bei humor- und geistvollen Stücken amüsieren konnte. Hier gab es keine Markthallen, in denen Philosophen ihre Lehren verkündeten, keine großzügigen Bäder, mit marmornen beheizten Becken voll sauberen Wassers, keine Massage und sportliche Übungen, keine Dichterlesungen und Musikdarbietungen – hier gab es Kirchen und unter Aufsicht des Klerus gab es Badehäuser, wo man in großen Bottichen saß, einer nach dem anderen in derselben Brühe. Essen und Trinken, besser Fressen und Saufen, gab es dort auch und, der Hauptgrund des Besuches – natürlich auch eine Massage, die aber mehr eine „Intimmassage“ mit „Happy End“ war. In der heidnischen Antike war Sex, ob käuflich oder privat, in den Bädern streng verpönt – nicht durch Religion verboten, sondern einfach nur gesellschaftlich geächtet. Im christlichen Mittelalter dagegen finden wir diese Art von Bordellen direkt neben der Kirche – wie praktisch, konnte man doch auf diese Weise gleich nebenan beichten! Ganz Europa steht jetzt unter dem Einfluss, besser: unter der Tyrannei einer neuen uralten orientalischen Religion, die Erlösung vorgibt, aber Angst und Schrecken vor der Hölle verbreitet. Waren religiöse Toleranz und (römische) Zivilisation und Wissenschaften wie auch Geltung des Rechts die wichtigsten Charakteristika des Imperiums gewesen, so sind es nun die genau entgegengesetzten Eigenschaften, die das neue, das „heilige“ Reich kennzeichnen. Statt Toleranz und Religionsfreiheit wird jetzt jede andere Götterverehrung – oder eben auch genauso keine Anbetung von angeblich höheren Wesen – erbarmungslos verfolgt und mit Folter und Tod geahndet. Griechisch-römische civilisation ist einfach weg, so als habe es sie nie gegeben; dafür gibt es Klöster, in denen Männer wie auch (minderwertige) Wesen, üblicherweise 90
Frauen genannt, als neue Träger von Kultur und (höherem) Wissen verehrt werden. Einem zivilisierten Bürger der Hochantike müsste das Ganze dieser religiös bevormundeten und denkerisch entmündigten Menschen wie ein Hexensabbat des Irrsinns vorgekommen sein – alle humanitas, alles menschliche Fühlen und Denken war erloschen. Die Despotie dieser Religion – mittlerweile von (fast) allen Menschen als normal hingenommen –, die gleichzeitig weitgehend auch die direkte oder zumindest die indirekte politische Macht hatte, ging so weit, dass Kriege um der „Wahrheit“ Willen, die völlig selbstverständlich eine religiöse Wahrheit war, dass Religionskriege begeistert aufgenommen und die Gemetzel enthusiastisch gefeiert wurden, dass diese Orgie der Massaker, bei denen man sich mit Blut besaufen konnte, auch noch gottgewollt, ja, befohlen war – „Ich aber sage euch, liebet eure Feinde!“ –, dass der „edle“ Ritter für jedes blutjunge Bauernmädchen, das er vergewaltigt hatte, nur einen Muslim erschlagen brauchte, und schon waren alle „Sünden“ wie weggeblasen, das war natürlich sehr praktisch und „lebensnah“ – „Als Kaiser Rotbart lobesam . . . “ so habe ich es noch auf der Schule gelernt, so sind wir in Geschichts- und Religionsunterricht belogen worden. Doch nicht nur das lustvolle Erschlagen von Muslimen war gottgewollt, galt es doch auch den Glauben im eigenen Lager zu verteidigen. Als im Südosten des heutigen Frankreichs, als in Okzitanien im Hochmittelalter frommen Christen das Treiben des Klerus weder fromm noch gottgefällig erschien, da bemühten sie sich um den wirklichen, den reinen Glauben. Diese Reinen (Christen), die Katharer, waren frühe Protestanten, wie später Luther und die anderen Reformatoren auch, und wollten mit dem in ihren Augen sündigen Papst und seinem Klerus nichts mehr zu tun haben. Doch die politischen Verhältnisse damals waren andere als zu Luthers Zeiten: Wäh91
rend der spätere Reformator erfolgreich auf die Unterstützung mächtiger deutscher Fürsten setzen konnte, die seine Lehre nutzten, um ihre eigenen Interessen gegen den katholischen Kaiser durchzusetzen, konnten sich die Katharer nur auf ihren eigenen Adel stützen, hatten aber die französische Krone und die Herrschaftsschicht des gesamten Königreiches gegen sich, die jetzt eine günstige Gelegenheit sahen, Okzitanien dem französischen Staat einzuverleiben. Also führten die französische Krone und die römische Dreifachkrone einen jetzt offiziell „heiligen“ Krieg, einen vom Papst höchstselbst befohlenen mörderischen Krieg gegen noch frömmere Christen und nannten es einen Kreuzzug, einen gottgewollten Krieg, der aus genau diesem Grunde besonders grausam war, besonders grausam und unerbittlich (im ursprünglichen Sinne des Wortes!) geführt wurde, wie dies bei Bürgerkriegen meistens der Fall ist. In den eroberten Katharer-Städten wurde gründlich reiner Tisch gemacht: Ob Greise, Frauen oder auch Kinder, alles fiel den gesegneten Schwertern zum Opfer und wer (aus Versehen) denn doch in Gefangenschaft geriet, da gab es nur Abschwören oder Verbrennen bei lebendigem Leibe. Doch, in unseren heutigen Augen kaum verständlich, diese frommen, diese „reinen“ Christen wählten durchweg den grausigen Feuertod – so tief war ihr christlicher Glaube und die damit verbundene Ablehnung der einzig wahren christlichen Kirche! Der religiöse Wahn dieser Zeit, der Irrsinn der religiösen Hysterie treibt die absonderlichsten Blüten, die sich jedem vernunftbezogenen Zugriff entziehen. Wir lassen hier die völlig entmenschten Judenpogrome beiseite, die man noch, allerdings nur sehr bedingt, mit (Sozial)Neid und religiöser Eifersucht auf deren Erwähltheit durch den gemeinsamen Gott „erklären“ kann und wenden uns nur kurz und beispielhaft dem sogenannten Kinderkreuzzug zu. Dass es eine Menschengruppe 92
erfasst, die besonders anfällig für radikalisierten Glauben, für Glaubenshysterie ist, dass (Spät)Pubertierende und solche, die in dieser Phase der Hormonumstellung stecken bleiben, ist zuerst einmal nicht überraschend. Doch dass die Gesellschaft, die Staatsgewalt, untätig und der Klerus wohlwollend zusehen, dieses Phänomen erschüttert zumindest den heutigen Menschen. Dieser hat natürlich, im Zeitalter der Kleinfamilie, ein ganz anderes Verhältnis zu Kindern als es im 13. Jh. der Fall war: Jedes Jahr ein neues, sodass man langsam den Überblick verliert und – vor allem! – nicht mehr weiß, wie man die hungrigen Mäuler stopfen soll. (Frei nach Schiller: „. . . oh Schreck, es sind statt sechse sieben!“) Ein (kräftiger) Aderlass an Jugendlichen war also weder persönlich, also familiär, noch gesellschaftlich eine Katastrophe, sondern eher eine Erleichterung. Aber – die Initiative für diesen kollektiven Selbstmord ging von den Jugendlichen, den Kindern selbst aus! Kein Sozialministerium plante diesen Aderlass, um die Ernährung der (Über)Bevölkerung besser sicherstellen zu können; nein, diese religiöse Hysterie ging von Jugendlichen aus. Es waren pubertierende Kinderprediger, die zu diesem kollektiven Wahnsinn aufriefen, sehr erfolgreich aufriefen. Deren Zuhörer konnten weder lesen noch schreiben, hatten nicht die geringste Ahnung wofür sie sterben, gegen wen sie antreten sollten. Nur eines wussten sie: Es ging um die heiligen Stätten im Heiligen Land in einem heiligen Kreuzzug – heilig . . . heilig . . . heilig! Sie waren vor lauter Heiligenschein so geblendet, so besoffen, dass sie nichts anderes erkennen konnten: hysterisch kreischende dreizehnjährige Mädchen, die ihren Gott, den Rockstar in Verzückung anbeten! Es lohnt sich, an dieser Stelle einen Blick in ein altes aber kluges Buch zu werfen: Gustave le Bon, Psychologie der Massen, 1895. „. . . dass die entsprechend beeinflussten Massen bereit 93
sind, sich für das Ideal zu opfern, das man ihnen suggeriert hat.“ Das hier angedeutete Phänomen tritt natürlich nicht nur im Mittelalter auf – es ist in der Geschichte, auch der neueren und neuesten allgegenwärtig, siehe Sportpalastrede! –, doch der Kinderkreuzzug offenbart es in Reinkultur. Es geht bei le Bon um „Massen“, nicht um Einzelne! Dieser Einzelne kann kaum so suggestiv beeinflusst werden, dass er (begeistert) in den Tod rennt – die Masse schon! Es ist ein Fieber, das nur im Kollektiv auftritt, dass das Aufgehen in der Gruppe, die jetzt, die dadurch zur Masse wird, zur Voraussetzung hat. Geht es dabei aber um religiöse „Gefühle“, so le Bon weiter, werden „sehr einfache Kennzeichen“ deutlich: „Anbetung eines vermeintlich höheren Wesens, Furcht vor der Gewalt, die ihm zugeschrieben wird,“ in diesem Fall ganz konkret vor der Hölle, dem einzigen theologischen Konstrukt, das man im Mittelalter genau, wirklich sehr genau kannte, „blinde Unterwerfung unter seine Befehle, Unfähigkeit, seine Glaubenslehren zu untersuchen,“ – nicht denken, sondern glauben! – „die Bestrebung, sie zu verbreiten“, weil es die „Wahrheit“ ist, „die Neigung, alle als Feinde zu betrachten, die sie nicht annehmen.“ Etwas allgemeiner äußert sich le Bon dann zum (christlichen) Glauben: „Mit dem religiösen Gefühl sind gewöhnlich Unduldsamkeit und Fanatismus verbunden. Sie sind unausbleiblich bei allen, die das Geheimnis des irdischen und himmlischen Glückes zu besitzen glauben. . . . Die Jakobiner der Schreckenstage waren ebenso tief religiös wie die Katholiken der Inquisition, und ihr grausamer Eifer entsprang der gleichen Quelle.“ Völlig anders allerdings geht es im Denken des Mittelalters zu. Strenge und Disziplin zeichnen die Scholastik aus, das Vorgehen nach exakten (Schul)Regeln. Um dies beispielhaft zu zeigen, wollen wir einen Blick auf die Denkweise des Thomas von Aquin werfen. Zuerst aber muss deutlich werden, dass die 94
Hysterie und der Wahn des Volksglaubens vollständig fehlen, die Lehre des Thomas ist geprägt durch Nüchternheit und Strenge des Denkens und auch des Empfindens. Wir finden eine eigenartige Synthese von magisch begründeter Religion – Jungfrauengeburt und Auferstehung sind Vorstellungen des frühen Mythos – und (logischen) Denkprinzipien der Hochantike vor, die nicht nur gleichrangig neben die „heiligen“ Schriften gestellt werden, sondern die dem magischen Glauben gleichsam als geistige Korsettstangen eingezogen werden. Philosophie und Theologie sind eins – die Philosophie ist Theologie und die Theologie ist Philosophie: Die der Theologie dienende Philosophie, die „Magd“, ist (gleichrangiges) Familienmitglied geworden! Hatte diese Entwicklung bereits bei Augustinus begonnen, der die Zwei-Welten-Lehre und die unsterbliche Seele des Platon als willkommene Ergänzungen ins Christentum übernahm, so ist es bei Thomas vor allem der mittlerweile bekanntgewordene Aristoteles, der dem christlichen Glauben auf die intellektuellen Sprünge helfen soll. Raffaels grandioses Bild, fest auf die Wand des Vatikans gemalt, „Die Schule von Athen“, zeigt alle Größen des antiken Denkens, wobei Platon und Aristoteles ganz klar im Mittelpunkt stehen – es zeigt diese Welt aus christlicher Sicht! Wäre es in der Spätantike als paganes Gemälde entstanden, stünden dort wahrscheinlich Epikur und Zenon, der Begründer der Stoa, im Zentrum des Geschehens. Das ist noch bis heute so: Auf die Frage, wer waren die wichtigsten Philosophen der Antike, würden die meisten Menschen, jedenfalls die, die überhaupt antworten könnten, sicherlich Platon und seinen Schüler Aristoteles nennen. Auf dem Bild lässt sich ein weiteres entlarvendes Detail erkennen: Im Getümmel der Figuren findet sich ein Mann mit Turban und orientalischem Schnauzbart! Dieser arabische Gelehrte des zwölften Jahrhunderts aus 95
Al-Andalus spielt für die Geistesgeschichte des Mittelalters eine ganz entscheidende Rolle. Sein Name ist Ibn Ruschd, lateinisch Averroes, und er ist der Überbringer des Aristoteles in das Abendland. Ich hatte darauf hingewiesen, dass das frühe Christentum, nachdem es in der Spätantike an die fast uneingeschränkte Macht gekommen war, die „Wahrheit“ seiner religiösen Botschaft dahingehend beglaubigte, dass es die pagane antike Geisteswelt auszulöschen, recht erfolgreich auszulöschen, suchte. Diesem Bilder- besser: Kultursturm fiel auch das Werk des vielleicht bedeutendsten Gelehrten der Antike zum Opfer: Keine Zeile war mehr übrig, ja, die Erinnerung an diesen so bedeutenden Mann war zugunsten der „Wahrheit“ ausgelöscht worden – eines der vielen Beispiele für die verheerenden Auswirkungen dieses furchtbaren Begriffes! (Pontius Pilatus: „Was ist schon Wahrheit!“ – eines der klügsten Worte des Neuen Testaments!) Diesem Muslim aber, diesem Ibn Ruschd lagen die Werke des Aristoteles vor – und er erkannte sehr genau ihre Bedeutung, was ihn zu ausführlichen Kommentaren veranlasste. Diese gelangten in die abendländische Welt und wurden jetzt nicht mehr verbrannt, sondern begeistert in das theologisch-philosophische Denken eingebaut – man hatte sich seit und durch Augustinus an antike Philosophie gewöhnt! So wurde auch Thomas als Schüler des Albertus Magnus „Aristoteliker“, lehnte aber den Gedanken der doppelten Wahrheit, den Averroismus – göttliche Offenbarung, bei Ibn Ruschd durch den Koran, bei den christlichen Gelehrten natürlich durch die Bibel, steht gleichwertig neben der Wahrheit der aristotelischen wissenschaftlichen Erkenntnis – konsequent ab. In der „Physik“ des antiken griechischen Denkers aber findet sich das Wort vom „unbewegten Beweger“, der als das Sein hinter allem Seienden stehen muss. Es bietet sich natürlich 96
hier an, dieses logisch erdachte Prinzip mit dem geoffenbarten Gott der Bibel gleichzusetzen, um auf diese Weise Glauben und Denken zu vereinen – aber nicht gleichzusetzen! Denn der Offenbarung ist (im Zweifelsfall) immer der Vorzug einzuräumen, sie ist das alles Entscheidende; es gilt also nicht mehr das noch dem antiken christlichen Glauben entsprungene „Ich glaube, weil es absurd ist!“ sondern: Ich glaube und dieser Glaube ist – siehe Aristoteles! – durchaus mit meinem Denken vereinbar, ja sogar hieraus (auch und neben der Offenbarung) abzuleiten und zu begründen. Aristoteles, und mit ihm Thomas, unterscheidet sehr genau zwischen Substanz und Akzidens; es ist dies eine wesentliche Aussage seiner prima philosophia, seiner Metaphysik. Während Substanz das Unveränderliche, das an und in sich ruhende, das unveränderliche Sein in einen Begriff fasst, ist Akzidens das nicht Wesentliche, das sich Verändernde, Zufällige, das der Substanz nur zeitlich anhaftet. Wir spüren hier sofort, wie die Ideenlehre des Platon im Hintergrund der Gedanken steht, nur taucht dies hier nicht in poetischer Form, sondern sehr formalisiert auf. Während bei Augustinus der theologische Gedanke noch Züge persönlicher Frömmigkeit zeigt – siehe seine „Bekenntnisse“, so wie bei seinem antiken Ziehvater Platon die Philosophie persönliche Dichtung ist –, so tritt die Gottesverehrung bei Thomas im Gefolge seines philosophischen Ratgebers Aristoteles, sehr formal auf. „accidens . . . non est ens, sed entis“ – das Akzidens ist also niemals das Sein (an sich), sondern es ist (nur) etwas Seiendes. Es entspricht den Schatten an der Wand in Platons berühmtem Höhlengleichnis, während die geistigen, die ewigen Ideen dem Sein, der Substanz, der „wahren Welt“ entsprechen. So wie Augustinus die Gedankenwelt des (Neu)Platonismus ohne Bedeutungsänderung in seine Theologie übernahm, so verfährt 97
Thomas mit den Gedanken des Aristoteles, die der arabische Muslim Ibn Ruschd für das christliche Mittelalter erhalten und aufbereitet hatte. Die Schlussfolgerung für den menschlichen Verstand aber ist, dass dieser durch (rationales) Abziehen der Akzidens, also allem Unwesentlichen und Zufälligen, zur Substanz, zum (wahren) Sein vordringen kann – zu Gott! Hier ist er dann denkerisch bei der Ursache allen Seins und auch So-Seins, denn Gott umfasst Substanz sowohl als auch (alle) Akzidens, er ist beides, er ist actus purus. Im Volksglauben aber heißt das „biblische Schöpfungsgeschichte“, eine naive Erzählung für ein schlichtes Gemüt, dem es aber jetzt, also im Mittelalter, vor allem um die nur sehr schwer vermeidbare Hölle und den kaum zu erreichenden Himmel geht. Darum nutze deine Chance und mach mit beim nächsten Kreuzzug, egal gegen wen, und erschlage möglichst viele Heiden, Muslime oder Häretiker, auch völlig egal! Hauptsache der „heilige“ Vater hat dir im Namen Gottes dafür den Himmel versprochen! Und klappt das nicht, findet im Augenblick leider kein Kreuzzug statt, dann musst du dich wohl mit der Hölle abfinden und mit dem Geld, das du eben gerade dem Kaufmann aus dem Säckel gestohlen hast, noch einen Humpen bestellen, mit der drallen Bedienung ins Stroh gehen und jetzt erst recht lauthals singen: „mihi est propositum, in taberna mori!“ Hat man bei der Lektüre der Schriften des Augustinus, der noch mitten in einer überwiegend paganen Welt lebte, das subjektive Gefühl, im Autor einem Menschen aus Fleisch und Blut zu begegnen, einem warmherzigen Menschen, der auch mit dem „Sünder“ mitfühlt, der seine Religion leidenschaftlich verteidigt, noch verteidigen muss, so fehlt dieses Empfinden bei Thomas vollständig. Der Leser sieht sich einer kalten Denkmaschine gegenüber, die ihn nicht überzeugen, 98
nicht missionieren will, so als wolle dieses Superhirn sagen, „wenn du nicht glauben, wenn du dich der heiligen Kirche nicht unterordnen willst – deine Sache, dann musst du eben die Konsequenzen im Diesseits wie im Jenseits tragen!“ Die „Wahrheit“ des Christentums und der Machtanspruch der Kirche sind völlig selbstverständlich geworden, sind mehr Teil des (alltäglichen) Lebens geworden als essen und trinken. Denken und Glauben sind bei Augustinus noch eine Mischung, bei Thomas werden sie zu einer untrennbaren Legierung, aus der noch härtere Schwerter geschmiedet werden, hart im Kampf und hart im Denken: Denken und Glauben werden eins, aus dem sich das formt, das dann die abendländische christliche Metaphysik genannt werden wird, die über Jahrhunderte das Denken Europas bestimmen wird. Kant wird es, diese Geisteshaltung damit exakt treffend, „Ontotheologie“ nennen, also die (metaphysische) „Wissenschaft“ vom Sein und von Gott, die beide eins sind, ein und dasselbe sind, besser: als eines gedacht werden. Es ist eine Synthese aus antikem und christlichem Geist, wobei der antike Geist durch Aristoteles, und zwar nur durch ihn, würdig vertreten wird und der christliche durch die geschriebenen Offenbarungen der Bibel. Beide gehen einen „ewigen“ Bund ein, sind untrennbar verbunden im heiligen Sakrament der Ehe – und sind jetzt als Paar andere Wesen, als sie als Einzelne gewesen waren. Es ist eine gute und anhaltende Ehe – keine Mischung zweier selbstständig bleibender Partner, sondern eine echte Legierung, ein neues Material! (Umberto Eco zeigt das in seinem Roman „Der Name der Rose“ sehr schön, indem er spätmittelalterliche Mönche zu Mördern werden lässt, nicht um Gutes oder Geldes willen, sondern wegen des Zugangs zu einer aristotelischen Schrift. Auch ist der Bruder, der den Fall aufklärt, ein Engländer, Vorbereiter eines neuen 99
Denkens, und der trägt auch noch – viel schöne Symbolik! – eine Brille, Produkt dieses neuen Denkens, das mit Technik einhergeht! Wird doch das englische, das empirische Denken auf Kant zuführen, der diesem ganzen Spuk intellektuell ein Ende bereitet!) Doch wir sind zunächst noch bei Thomas und wollen uns jetzt noch ein paar Zitate aus seiner Quaestio über die Wahrheit anhören, um ein wenig Gefühl für dieses Denken zu bekommen: „Die Übereinstimmung eines Seienden mit der Erkenntnis aber drückt der Name ‚das Wahre‘ aus. Jedes Erkennen aber vollzieht sich durch eine Verähnlichung des Erkennenden mit der erkannten Sache, sodass die Verähnlichung die Ursache des Erkennens genannt worden ist: so wie das Sehen dadurch, dass es durch die Species der Farbe fähig gemacht wird, die Farbe erfasst." (Goethe: Und wär das Aug nicht sonnenhaft, wie sollt‘s die Sonne sehen!?) „Das erste Verhältnis des seienden zum erkennenden Geist besteht also darin, dass das Seiende dem erkennenden Geist entspricht: dies Entsprechen aber wird als Übereinstimmung der Sache und der Erkenntnis bezeichnet; und darin bestimmt sich formaliter die Idee des Wahren.“ Und an anderer Stelle heißt es: „. . . weil das Seiende nicht erkannt werden kann, ohne dass es dem erkennenden Geist entspricht oder mit ihm übereinstimmt . . . der Philosoph ...“ (und damit ist immer Aristoteles gemeint) „... schließt, dass der ordnungsmäßige Platz einer Sache im Sein und in der Wahrheit derselbe ist; in dem Sinne natürlich, dass dort, wo sich das im höchsten Grade Seiende findet, auch das im höchsten Grade Wahre zu finden ist.“ Solche Texte klingen kompliziert und schwierig zu verstehen, genauso hochtrabend wie die heutige Bezeichnung für diese Denkoperation, diese Definition von Wahrheit, die in der heutigen Philosophie als „ontologisch-metaphysische Kor100
respondenztheorie“ bezeichnet wird. (Privater Rat an den geneigten Leser: Achtung, meinetwegen auch „cave!", wenn etwas als „ontologisch-metaphysisch“ daherkommt!) Dabei ist es genau das, was jedes Kind meint, wenn es (heulend) sagt: „Aber das ist doch wahr“! Und damit meint, dass seine Schilderung der Geschehnisse genau den Tatsachen entspricht. Doch da steckt noch etwas anderes in solchen Texten: Einem Petrus oder Paulus, schon gar nicht einem Jesus wären sie je über die Lippen gekommen – die hätten nur erstaunt mit dem Kopf geschüttelt! Nein, wir erkennen hier unschwer antikes, genauer platonisch-aristotelisches Denken: Der Mensch kann die Dinge dieser Welt nur erkennen, als wahr beschreiben, weil sein wichtigster, sein ewiger Teil, seine Seele, geistiger und somit ewiger Natur, eben göttlichen Ursprungs ist, wie überhaupt die gesamte Schöpfung, alle Substanz wie auch Akzidens dem göttlichen actus purus entsprungen sind. Bei und auch durch Thomas wird die Theologie und der Kirchengedanke gegenüber Augustinus entscheidend weitergetrieben. Die Kerngedanken dieser Kirche, Jungfrauengeburt und Auferstehung, brauchen nicht mehr überzeugend verkündigt zu werden, sie sind völlig selbstverständlich geworden. Dafür tritt die Kirche selbst als Bewahrer dieser Botschaft immer mehr in den Vordergrund – und als Herrscherin der Volksseele, als wichtiger Machtfaktor, die über ewiges Heil oder Verdammnis jedes Einzelnen entscheidet. Also wird die Kirche selbst, ihre Organe und Organisation, zum Mittelpunkt dieser Religion – wird die Hierarchie und ihr von Gott beauftragter irdischer Herrscher zum Inbegriff der göttlichen Herrschaft, ja, zum Gott selbst hier auf Erden. Hierarchie heißt „heilige Herrschaft“, die Überordnung gewährt und Unterordnung fordert – unbedingte Unterordnung! Sie ist die göttliche Ordnung seiner Kirche, der una sancta, die über aller weltlichen Ordnung 101
steht. Diese Kirche steht als Kirche, als Ehrfurcht einflößender gotischer Dom aus der Zeit des Thomas, mitten im Gewühl der Menschen, ein Petrus, ein Fels, im Fluss der Zeit und der sich ändernden menschlichen Herrschaft und Ordnung – ein ewiger Palast Gottes: Das gewaltige Gebäude, die Hülle des Glaubens, ist wichtiger geworden als die Gläubigen darin. Und wenn diese Menschen darin auch (sicherlich nur vorübergehend) weniger werden, das Gebäude bleibt immer gleich groß und in seinem Inneren hallt noch immer der mittelalterliche Gesang des gregorianischen Chorals und übertönt die Hektik und den Lärm des außen tobenden Verkehrs. Eine weitere Anmerkung sei noch gemacht: Eine solche „Wissenschaft“, die keine Wissenschaft (in unserem Sinne) ist, sondern die eine philosophische Seins- bzw. eine theologische Gottesspekulation darstellt, wenn sie auch mit viel Verstand und (in sich konsequenter) Logik vorgeführt wird, hat keinerlei Auswirkung für das menschliche Dasein; weder kann daraus (nützliche) Technik hervorgehen, noch hat sie irgendwelchen Einfluss auf den religiösen Glauben, denn der ist bei Thomas zu einer nur noch formalisierten Verstandesaktion geworden – es ist schlicht nur l’art pour l’art! Und noch eine Anmerkung sei gemacht. Thomas von Aquin – Originalton: „Die Frau ist ein Missgriff der Natur . . . mit ihrem Feuchtigkeits-Überschuss und ihrer Untertemperatur körperlich und geistig minderwertig . . . eine Art verstümmelter, verfehlter, misslungener Mann . . . die volle Verwirklichung der menschlichen Art ist nur der Mann.“ Auch das eine gelungene Synthese von aristotelischer und christlicher Anthropologie, eine Vereinigung uralter steinzeitlicher magischer Vorstellungen. Und doch: Verstehst Du jetzt endlich, liebe Katholikin, warum Du beim besten Willen kein Priester werden kannst!?
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Metareligion und erste Kritik „Das Buch der Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben.“ Dieses Wort des Galilei wäre im Mittelalter nicht möglich gewesen – aus einem sehr einfachen Grund nicht: Weil es noch keine (brauchbare) Mathematik gab! Das Zusammenkommen zweier Faktoren führt dann zu diesem für die europäische Geistesgeschichte extrem wichtigen Punkt. Einmal ist es ein äußerer, nämlich der geistige Import des indisch-arabischen Zahlensystems aus dem Orient durch (venezianische) Kaufleute, ein Ergebnis der zunehmenden Globalisierung der Welt. Zum anderen aber ist es eine Evolution des europäischen Geistes, die zwar in keiner Weise gegen die Kirche und ihr theologisch-philosophisches Denkgebäude – imponierend und einschüchternd wie eine gotische Kathedrale – opponiert oder gar revoltiert (die Ausnahmen, die sich im Menschsein nun mal nicht verhindern lassen, werden auf bewährte Weise eliminiert, siehe Giordano Bruno!), sondern es ist eher ein allgemeiner Wandel, der heiligen und säkularen Geist gleichermaßen erfasst. Päpste interessieren sich plötzlich für so etwas Minderwertiges (siehe oben!) wie (nackte) Frauen, deren gemalte oder gebildhauerte Abbildungen jetzt auch Väter, sogar heilige Väter, künstlerisch (und vielleicht auch anders?) anmachen: Die gelungene künstlerische Darstellung wird wichtiger als der vorgebliche Inhalt, der trotzdem, sicherheitshalber und um den heiligen Schein zu wahren, sich in der Regel auf heilige Episoden bezieht. Aber der „schwache 103
Leib“, auch des Heiligen Vaters, wird jetzt ganz praktisch, ganz actus purus, denn die genauso blutjunge wie hübsche Giulia Farnese fühlt sich im Bett dieses älteren, aber auch sehr mächtigen und einflussreichen Herren (der Christenheit) mit den grauen Schläfen gar nicht so unwohl, genießt den Sex genauso wie die anderen sehr weltlichen Vorteile dieser Liaison. Sündig ist das Ganze natürlich trotzdem, wenn auch vom Heiligen Vater durchgeführt – denn die beiden sind nicht durch das heilige Sakrament der Ehe verbunden, wie es das Kirchenrecht verlangt!! Trotzdem, ein offensichtlicher geistiger Wandel ist einfach da, nicht mehr wegzuleugnen und für jedermann sichtbar. Und der betrifft nicht nur die erotisch-moralischen Vorstellungen eines Heiligen Vaters, sondern auch die Vorstellungen und das Denken ganz normaler braver Bürger. Die Höllendrohung ist zwar weiterhin präsent und wird auch noch als existentielle Bedrohung empfunden, doch sie verliert ihre alles überstrahlende Kraft – ein wenn auch sehr realistisch gemaltes Höllenbild hat eben doch nicht die Wirkung wie der Teufel selbst, der mir nach der Messe wie auch im (Alb)Traum höchstpersönlich erscheint. Und dieser Wandel macht auch das Denken freier, schafft Raum für die Erkenntnis, dass es neben dem Heiligen auch noch einen viel schlichteren säkularen, einen menschlichen Geist gibt. Die Heilige Allianz zwischen Aristoteles und Christus beginnt zu bröckeln. Da gibt es jetzt gebildete Menschen, Humanisten wird man sie nennen, die lesen „den Philosophen“ mit ganz anderen Augen. Einer dieser Gelehrten, Erasmus von Rotterdam, entdeckt sogar bei seiner Bibelübersetzung ins Lateinische – wohin denn sonst unter gebildeten Zeitgenossen? –, dass die Theologie des Neuen Testaments gar nicht so einheitlich ist, wie bisher behauptet, sondern dass die theologischen Aussagen der Evangelien von denen 104
der neutestamentlichen Briefe z. T. erheblich voneinander abweichen! Und so wird es möglich, dass immer mehr Menschen ihren Verstand auf andere Dinge richten, nicht nur pausenlos um ihr Seelenheil ringen – also z .B. auf diese neuen Zahlen. Zuerst ist es nur das Rechnen, doch aus dem Kinderstammeln dieses Anfangs formen sich schon bald die Worte einer neuen Sprache, einer phantastischen neuen Sprache, die zwar kaum gesprochen, aber umso klarer geschrieben werden kann. Ich hatte bereits darauf hingewiesen (siehe: G. Scholz, Warum ist das Wasser nass? Berlin 2023, Kap. Der Logos wird zur Mathematik), dass es sich bei der sich schnell entwickelnden Mathematik um eine Wissenschaftssprache handelt, die das Gelehrtenlatein des Mittelalters Schritt für Schritt ablöst, so wie die Wissenschaften, die ihre Aussagen in dieser neuen Sprache formulieren, die philosophisch-theologische, die metaphysische Gelehrsamkeit, in Latein ausgedrückt, verdrängen und ersetzen werden. Doch warum ist der oben zitierte Satz des Galilei, am Übergang der Renaissance zum Rationalismus gesprochen, ein diese Zeit und ihren Geist so charakterisierende Formulierung? Es sind jetzt nicht mehr die „Gedanken Gottes“, die in der Natur realisiert werden, sondern, und das ist viel spezieller, es ist die (jetzt neue Wissenschaft der) Mathematik, die sich in der Natur selbst darstellt. Und dabei gerät zunehmend in den Hintergrund, dass es der göttliche Schöpfer selbst war, der sie bei Erschaffung von Erde, Natur und Mensch aus seinem (heiligen) Geist heraus selbst geschaffen und angewandt hat. Die Natur selbst und vor allem ihr mathematischer Bauplan geraten immer deutlicher ins Zentrum des zu verstehen suchenden Denkens. Und er ist außerdem darum so wichtig, weil genau die Widerlegung dieses Gedankens dieses Zeitalter beenden wird und unser heutiges einleitet! 105
Wir wollen hier kurz innehalten, unseren Standort bestimmen und zusammenfassen, wie der Weg hierhin führte und warum er so und nicht anders in eine Zukunft gelangte, die heute für uns Geschichte ist. Aus den Tiefen der menschlichen Evolution war der Mythos in den geschichtlichen Raum getreten, also der Versuch, den Menschen und seine Welt aus der Perspektive, im Spiegel einer zweiten Welt – der Welt der Geister und Götter – zu verstehen, deren Handeln bestimmend ist für die Menschen und ihre Welt. Das, was später Religion und – nur scheinbar getrennt davon – Philosophie heißen wird, sind ein und dasselbe – sind ein Denken. In der Geschichte des alten Ägyptens wie des alten Orients wird sich das nie ändern und ist in diesen Gegenden auch heute noch weitgehend so. Um es in einer Analogie zur heutigen politischen Situation dieser Weltgegend auszudrücken: Die „Zwei-Welten-Lösung“ ist hier nach wie vor bestimmend. Auch das alte Griechenland – siehe Homer und Hesiod – ist wie alle anderen (frühen) Kulturen auch von dieser Art des Denkens von Welt bestimmt. Doch dann, und das ist die tatsächlich einmalige Leistung des Griechentums, entwickelt sich hier ein säkularer Geist, der die Welt des Menschen ohne die der Götter zu fassen versucht – die der ionischen Naturphilosophen. Aber der Mythos schlägt zurück; er tut dies in zweifacher Form, einmal in subtiler Weise, indem die die Welt des Menschen erklärende Götterwelt des Mythos vergeistigt zur Welt der Ideen und dann zur „ersten“ Philosophie, zur Metaphysik, wird, der denkerischen Variante der Religion – zur, so wollen wir es analogisch nennen, Metareligion. Beide, Religion und (erste) Philosophie bleiben unter einem Dach, sind eineiige Zwillinge ihrer Mutter, des menschlichen Bewusstseins. Das Phänomen Gott, auf welches das Streben der Religion gerichtet ist, ist genauso ein Produkt menschlichen Bewusstseins 106
wie das Ziel philosophischen Denkens, die Wahrheit, eines der seltsamsten Erzeugnisse menschlichen Geistes, dessen hervorstechendste Eigenschaft es ist, von seinem geistigen Erfinder – und nur von ihm! –mit viel Aufwand dann endlich gefunden zu werden: eine selbsterfüllende Prophezeiung, erfunden, um sich der Mühe des Weges dorthin unterziehen zu können (oder in Gnade zu dürfen)! Philosophie und Religion, also Gott und Wahrheit, werden im Mittelalter (Thomas etc.) eins – und bleiben es auch weiterhin, ein entscheidendes Erbe dieser Epoche! Die zweite Form der Antwort des Mythos auf das (säkulare) Denken ist die Fortführung des Mythos hinein in die mittlerweile aufgeklärte und tolerante Welt der Antike. Wie ein giftiger Pfeil zersetzen die betäubenden, die magischen Beschwörungen der Mysterienkulte den aufgeklärten Geist dieser Zeit, der sich in Epikureismus und Stoa ausdrückt: Erlösung von Menschsein und Welt, ewiges göttliches Glück durch ein Gottes-Menschen-Opfer sind die Botschaften, die aus uralten Mythen herausgefiltert und für die (damalige) Gegenwart aufbereitet werden. Einer dieser Kulte setzt sich politisch durch, wird zur absolutistischen Staatsmacht, wird von Augustinus und Thomas modifiziert und mit (antikem) Denken angereichert, als flüssig glühender Glaubensfluss in neue Formen gegossen und wird das neue Zeitalter, das Denken und Fühlen, den Geist der Zeit bestimmen, in der diese Metareligion, die „Ontotheologie“, und das lodernde Feuer der Scheiterhaufen dem menschlichen Geist zusammen heimleuchten. Beim ersten großen Vertreter dieses neuen Denkens, bei René Descartes, treten bereits alle charakteristischen Züge dieser Philosophie überdeutlich in Erscheinung. „Die eigentümliche Zwischenstellung der modernen Philosophie zwischen Theologie und Wissenschaft, die bis zu Hegel reicht . . . “ so nennt 107
es Gadamer und meint damit genau diese Ontotheologie, die weder eine Wissenschaft ist noch eine (offizielle, eine Kirchenkonforme) Theologie, sondern eben – Philosophie, und dies in der Form der „ersten“ Philosophie, der Metaphysik, was wir noch heute beinahe instinktiv mit dem Begriff Philosophie verbinden, ja gleichsetzen. Um uns dies ein wenig vor Augen zu führen, wollen wir einen Blick in die cartesianischen „Prinzipien der Philosophie“ werfen. Mir – als Heutigem! – kommt das Ganze allerdings so vor, als würde jemand etwas verstecken, um es dann zu suchen und mit großem Tam-Tam auch – oh Wunder! – selbst zu finden und als große und neue Entdeckung zu präsentieren. Es geht hier natürlich um die „Erkenntnis des Wahren“, um die „Erforschung des Wahren“, um den Beweis, dass „das vollkommenste Wesen existiert“. Dieses ist die „Idee Gottes“ – siehe Platons Ideenlehre, siehe „das Eine“ des Neuplatonismus, von Augustinus als (kaum noch als christlich zu erkennender) Gott übernommen, siehe auch den aus Aristoteles abgeleiteten Gottesgedanken des Thomas – all dies soll hieb- und stichfest und für alle Zeiten gedanklich sicher gemacht werden, um so (endlich) von zweifelhaften Geschichten wie dem brennenden Dornbusch etc. denkerisch unabhängig zu werden. Natürlich sagt das Descartes so nicht – der Prozess gegen Galilei ist ihm sehr wohl bewusst! –, aber der unwiderlegbare, der rationale „Glaube“ ist sein Ziel. Sein Kollege Blaise Pascal wird darum später im fast lutherischen Sinne unterscheiden zwischen dem „Gott der Philosophen“ und dem „Gott Abrahams, Isaaks und Jacobs“, dem Gott, der von sich sagt: „Ich bin, der ich bin“! Descartes aber tritt dann den allseits bekannten „Beweis“ der Existenz des „Gottes der Philosophen“ an, indem er folgert: Wenn ein unvollkommenes Wesen wie der Mensch in einer genauso unvollkommenen Welt, also ohne ein jegliches Vorbild 108
der Vollkommenheit, doch in der Lage ist, ein vollkommenes Wesen zu denken, dann kann dies nur von dem vollkommenen Wesen selbst stammen, das es also geben muss. Also, mich würde das nicht dazu bewegen, morgen in die Kirche einzutreten – und damals tat es das auch nicht und das aus einem einfachen Grund, weil sowieso alle, ohne Ausnahme, in dieser Kirche waren und deren „Wahrheiten“ für absolut hielten, wie auch Descartes selbst: Ein Gedankenspiel, eine selbsterfüllende Prophezeiung, ohne irgendwelche (praktischen) Konsequenzen! Und doch – da ist eine philosophische Absicht, ein erkenntnistheoretischer Gedanke dahinter. Es wird so möglich, die Welt aus der Sicht des jetzt sicher bewiesenen Gottes zu betrachten, aus der Perspektive der „Wahrheit Gottes“, um so wiederum „wahre“ Erkenntnis über die Welt zu erlangen: „§ 24. Weil nun Gott von Allem, was ist oder sein kann, allein die wahre Ursache ausmacht, so ist klar, dass wir die beste Methode zu philosophieren befolgen werden, wenn wir aus der Erkenntnis Gottes selbst die von ihm geschaffenen Wesen darzutun und abzuleiten suchen, um auf diese Weise die vollkommenste Wissenschaft zu erreichen, nämlich die Erkenntnis der Wirkungen durch die Ursachen.“ Oder, ein paar Seiten weiter: „. . . werden wir . . . beweisen, dass wir existieren, sofern wir denkender Natur sind, und zugleich, dass auch ein Gott ist, von dem wir abhängen, und das aus der Betrachtung seiner Eigenschaften die Wahrheit aller übrigen Wesen erforscht werden könne.“ Wir haben hier René Descartes in Reinkultur vor uns, und damit das, was Kant Ontotheologie und wir heute als Rationalismus bzw. als kontinentaleuropäische christliche Metaphysik bezeichnen, was Gadamer eine „eigentümliche Zwischenstellung der modernen Philosophie zwischen Theologie und Wissenschaft“ nannte – eine rationale Fortsetzung des vorgeschichtlichen Mythos, der folgerichtigen Erklärung der 109
Welt aus der Perspektive der Geister und Götter, das was eben Philosophie war und ist: keine Wissenschaft –aber mit deren Anspruch! –, keine Theologie, sondern ein Denk-Phantom, das keinerlei Erkenntnis zur Folge hat. Auf dem Wege zu dieser Einsicht stoßen wir unausweichlich auf die Engländer, die ihrem (Denk)Wesen nach offensichtlich andere, ich würde sagen realistischere Menschen und Denker sind als die kontinentalen Europäer, die nämlich aus dem aus Glauben und Ratio selbst gesponnen Kokon nicht herausfanden. Ganz persönliche Anmerkung: Ich bin als kleines Kind nach dem Krieg in Hamm aufgewachsen. Diese alte Garnisonsstadt hatte mehrere Kasernen, in denen Teile der englischen Rheinarmee nach dem Kriege stationiert waren, sodass englische Soldaten zum natürlichen Straßenbild gehörten: Ich spiele als Sechsjähriger mit anderen Kindern auf der Straße, was damals noch möglich und üblich war, als zwei uniformierte Engländer vorbeikommen; der eine winkt mich zu sich, greift dann in seine Tasche und gibt mir, dem verschüchterten Kind, einfach – einfach nur so! – eine Tafel Schokolade, das Größte, welches damals in der kindlichen Hoffnungsphantasie überhaupt möglich ist und hinterlässt ein vor Erstaunen und Glück erstarrtes Kind. Ich sehe noch heute diese Szene in allen Einzelheiten vor mir – bis heute, diese wunderbare menschliche Geste gegenüber einem Kind des Feindes; und es hat mein Verhältnis zu England und den Engländern geprägt – bis heute!
Das denkende England gehört zu Europa – gerade weil es anders denkt als der Kontinent, weil es ihn ergänzend korrigiert, weil es der europäischen Geistesgeschichte half, aus einer Sackgasse des logisch fundierten Glaubens, der aristotelischchristlich-kirchlichen (Denk)Dogmen herauszufinden: Die große 110
geistesgeschichtliche Wende, die kopernikanische Wende, die Kant und damit der europäische Geist vollzog, wäre ohne die Engländer und die englische Philosophie von William von Occam bis Hume, den sogenannten Empirismus, nicht möglich gewesen! Und genau auf diese Geisteshaltung wollen wir einen Blick werfen, wollen einen Zeitgenossen und englischen Gegenpol des französischen Rationalisten Descartes betrachten: Francis Bacon. In einer Art Motto zu seiner „Kritik der reinen Vernunft“ zitiert Kant Bacon mit einem Auszug aus einer „Praefatio“, in der es heißt (Original selbstverständlich in Latein): „Was jedoch die Sache betrifft, um die es sich handelt, so bitten wir: dass die Menschen bedenken, dass sie nicht eine bloße Meinung, sondern eine notwendige Aufgabe sei . . . “ Und wie dringend diese Aufgabe ist – nämlich die Kritik an der aristotelischen Logik, die Descartes noch von den Scholastikern übernimmt, die noch für ihn selbstverständlich mit dem Denken gleichzusetzen ist, mit der man die Wirklichkeit sicher erkunden, erkennen kann, indem man von Sätzen, Axiomen, ausgeht, z. B. Bibelworten oder Aristoteles-Zitaten, um aus denen durch Deduktion, also ableitend, die Wirklichkeit zu „erkennen“. Beispiel: Gott ist Liebe zu den Menschen; diese Liebe ist personifiziert in Jesus Christus, der wahre Leib Jesu aber ist die Kirche, also ist die (römische) Kirche die göttliche Liebe zu den Menschen. Ist doch logisch – oder? Erkenntniswert für den kritischen Geist: Null! Aber Glaubensbestätigung für den frommen Katholiken. Deshalb geht Descartes davon aus – wie oben erläutert –, dass erst die Erkenntnis, die Offenbarung Gottes, also der christliche Glaube den Blick auf die „Wahrheit“ der Natur möglich macht. Also auch hier die Deduktion vom Allgemeinbegriff zum Einzelfall, der aristotelische Syllogismus.
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Völlig anders denkt sein englischer Zeitgenosse Francis Bacon, dessen Anderssein und damit auch Bedeutung erst vor dem Hintergrund des Franzosen deutlich wird. Einer (scholastischrationalistischen) Methode, die nur auf logischer Schlussfolgerung basiert, stellt er die genaue Naturbeobachtung und das (wissenschaftliche) Experiment gegenüber, also die gezielte Naturbefragung, die jetzt durch Induktion, also der Deduktion entgegengesetzt, vom immer wieder bestätigten Einzelfall auf die Allgemeingültigkeit, auf ein Naturgesetz, schließt. Nicht das Dogma, und wenn es aus noch so heiligen Schriften stammt, ist bestimmend für die Wissenschaft, denn es verhindert nur deren Fortgang, sondern einzig die Beobachtung der Natur, das Experiment, die Empirie – und deren vernünftige Interpretation – kann Erkenntnisse, technisch nutzbare Erkenntnisse über die Natur liefern. Besondere Aufmerksamkeit aber gehört all den Naturerscheinungen, die nicht mit der bisherigen Interpretation übereinstimmen, d. h. die bisherige Erkenntnis muss widerlegbar sein (Popper: Falsifikationsprinzip), Dogmen gibt es nicht! Oder: Der Satz „alle Schwäne sind weiß“ gilt nur solange, bis der erste schwarze Schwan gefunden wird, und er gilt nicht, weil die Idee des Schwans, der Gedanke Gottes, ihn als weiß sieht, sondern er galt bisher nur, weil die bisherige, aber nun überholte Erfahrung, ihn so sah. Ein hervorragendes Beispiel dieses Denkens liefert uns typischerweise ebenfalls ein Engländer, nämlich Charles Darwin, dessen Motto es wurde: „Widme den Dingen, die deinem Glauben und deiner Anschauung widersprechen, besondere Aufmerksamkeit!“ So fand der bis dahin naiv-gläubige Theologiestudent auf seiner Reise Dinge vor, die nicht in das Schema damaliger (bürgerlich-frommer) Naturbetrachtung passten, und wurde so zum Entdecker des die Welt und das menschliche Denken verändernden Gedankens der Evolution des Lebens. 112
Auch hier wollen wir einen Blick auf Originaltexte des Francis Bacon werfen, um einen direkten Eindruck von seinem Denken zu gewinnen: „Der Mensch, als der Diener und Ausleger der Natur, wirkt und versteht nur so viel, als er von der Ordnung der Natur entweder durch angestellte Versuche oder durch Beobachtung bemerkt hat, und über“ (gemeint ist: über dies hinaus) „weiß und vermag er nichts.“ „. . . sodass jene herrlichen Meditationen“ (also die ’Meditationes de prima Philosophia. . . ’) „und Spekulationen und Sophistereien“ (d.h . die aristotelische Philosophie und ihre Fortsetzung im scholastischen Denken des Thomas und seine damals moderne Variante des Rationalismus) „etwas durchaus Untaugliches sind.“ Bei Kant wird daraus später die Metaphysikkritik in der „Kritik der reinen Vernunft“ und die Einsicht, dass das „Dingan-sich“, also die Natur selbst, für die menschliche Erkenntnis verborgen bleibt. „Der Syllogismus“ (das Grundprinzip der aristotelischen Logik) „wird auf die höchsten Grundsätze der Wissenschaften . . . vergeblich angewendet . . . er bemächtigt sich also nicht der Dinge, sondern des Beifalls“ (des Beifalls kirchlich-reaktionärer Kreise, die nie zu einer wirklichen, zu einer technisch brauchbaren Naturerkenntnis vordringen wollen und können). Francis Bacon aber hält sein Vorgehen zur Erkenntnis über die Natur dagegen: „. . . der Weg zur Untersuchung und Findung der Wahrheit . . . leitet aus den einzelnen Fällen, welche die Sinne hergeben, die Grundsätze so her, dass er nur bedachtsam und stufenweise höher steigt und ganz zuletzt erst zu den höchsten und allgemeinsten Sätzen gelangt.“ Hier beschreibt Bacon das schrittweise Vorgehen des Wissenschaftlers, dem die Natur nicht durch heilige Worte offenbart wird, sondern der die Natur (im Experiment) beobachtet und daraus erste Sätze über die Natur ableitet, die er auf weitere Experimente und deren Ergebnisse ausdehnt etc., 113
bis er zu einem Naturgesetz kommt, das er dann technisch anwenden kann. Denn das ist ein ganz entscheidender Unterschied dieser Methode zur Naturphilosophie: Philosophische Gedankenoperationen sind nicht praktisch, nicht technisch nutzbar, „aber von einzelnen Fällen . . . abgezogene Grundsätze zeigen und weisen leicht wieder auf einzelne Fälle hin, und machen also die Wissenschaften fruchtbar“. Gemeint ist hier: . . . machen die Naturwissenschaften technisch nutzbar, z. B. die Konstruktion eines Kühlschrankes. Bacon wollte im Experiment nachweisen, was die Naturbeobachtung schon gezeigt hatte, dass nämlich gekühlte frische Lebensmittel länger haltbar sind. Er füllte also frisch geschlachtete Hühner mit Schnee, um mit diesem Experiment zu beweisen, dass die noch ungenaue Beobachtung tatsächlich richtig sei. Dabei zog er sich eine Erkältung zu, die sich zu einer Lungenentzündung ausweitete, an der er starb. (Auch ein Experiment, das zeigt, wie der „liebe Gott“ ungebührliche Einblicke in die Geheimnisse seiner Schöpfung, die nicht auf von ihm gnädig gewährte Offenbarung zurückzuführen sind, sofort und gerecht bestraft!) Dieser neue Blick auf die Natur steht aber nicht einfach neben einer philosophisch-theologischen Sichtweise, nein, sie wird durch diese auch aktiv behindert, was wesentlich durch Vorurteile befördert wird. „. . . Vorurteile, welche durch die verschiedenen Lehrsätze der philosophischen Systeme . . . sind übertragen worden . . . weil ich glaube, dass alle bis jetzt erfundenen und aufgenommenen philosophischen Systeme sämtlich nichts anderes als Fabeln sind, die man ausheckte, vor dem Publikum aufführte, und worin man erdichtete und theatralische Welten zur Schau stellte.“ Es sind dies Welten der unterschiedlichsten Arten, die doch alle gemeinsam haben, dass sie sämtlich – im Gegensatz zur 114
realen Welt – „wahr“ sind, was genauso inhaltlos ist, wie diese Welten selbst, aber blind geglaubt oder philosophisch-logisch erschlossen werden. Hinzu kommt, dass „der menschliche Verstand die Eigenheit (hat,) dass er leicht unter den Dingen eine größere Ordnung . . . voraussetzt, als er bei ihnen antrifft.“ Anders gesagt: Der menschliche Verstand ordnet „automatisch“ die Dinge, die er sieht, er sieht die Ordnung in sie hinein, eine Ordnung, von der er überhaupt nicht weiß, ob sie in den Dingen selbst tatsächlich vorhanden ist. Man kann dieses Phänomen leicht bei Beobachtungen und ihrer verstandesmäßigen Einordnung bzw. Interpretation an sich selbst beobachten. So können wir auch Wirklichkeitsverständnisse unterschiedlicher Epochen leichter verstehen – die ägyptische Göttin Ma’at, die Ordnung von Kosmos und Welt, und auch ihre so unterschiedlichen Kinder, vom antiken Logos über die Ratio der göttlichen Schöpfung bis hin zu Carl von Linné, der diese Ordnung beschrieb. Um den Wirkmechanismus von Vorurteilen zu beschreiben und wie sie scheinbar empirisch begründet sind, erzählt Bacon folgende, ich glaube mittlerweile hinlänglich allgemein bekannte Geschichte: „Jener, dem man im Tempel eine Tafel mit den Namen derjenigen zeigte, welche, dem Schiffbruch entgangen, ihre Gelübde erfüllt hatten, und dem man mit der Frage zusetzte: ob er nicht jetzt wenigstens die göttliche Weltregierung anerkennen wollte? Dieser tat dann ganz recht daran, dass er mit zurückgegebener Frage antwortete: aber wo stehen denn alle die verzeichnet, welche, trotz ihrer getanen Gelübde, dennoch im Wasser den Tod fanden?“ Bei der durchaus auch unterhaltsamen Lektüre der Schriften des Francis Bacon wird der Schatten Immanuel Kants an der Wand immer größer, wird immer deutlicher, wie ihn die Engländer auf 115
seinen Denkweg lenkten – und wie der Geist der modernen Naturwissenschaften beginnt, Konturen anzunehmen.
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Der Todesstoß Bevor Kant der abendländisch-christlichen, der rationalistischen Metaphysik den überfälligen Todesstoß versetzt, oder anders gesagt, die Luft aus einem Popanz dieses Namens herauslässt, die aufgeblasene aber ansonsten leere Hülle, von dem was sich Philosophie nannte (das Präsens ist hier durchaus auch möglich), mit einem scharfen Messer aufschlitzt, dessen Material aus England gekommen war – bevor wir diesen meisterhaft durchgeführten Greisenmord betrachten, wollen wir noch einen kurzen Blick auf die letzte Ausformung dieses einstmals so wirkungsmächtigen Phantoms richten. Christian Wolff ist, zumindest in Deutschland, der Name, der für den (traurigen) Endpunkt einer allerdings noch heute als großartig gerühmten Denklinie oder -schule steht. Es ist dies eine aus dem frühgeschichtlichen Mythos hervorgegangene Denkweise, die von dem Lehrer-/Schülerpaar Platon und Aristoteles ausging, vom spätantiken Mythos der christlichen Religion atmosphärisch kräftig aufgeladen wurde, von den Universalienrealisten des Mittelalters, allen voran Thomas von Aquin, aristotelisch-systematisch in Form gebracht, von Descartes in ein modisches Kostüm gesteckt wurde und schließlich bei Christian Wolff endete, den heute niemand mehr kennt, der aber damals, in der ersten Hälfte des achtzehnten Jahrhunderts, bestimmend für das Denken in Deutschland war. Jeder, der im immer noch Heiligen Römischen Reich deutscher Nation damals etwas auf sich hielt, war Wolffianer, die 117
Ordinariate der Hochschulen waren genauso mit Anhängern der wolffschen Schule besetzt wie das gebildete Bürgertum ihm ebenso anhing wie der (manchmal) gebildete Adel. Eine solche Position ruft natürlich auch Feinde hervor, doch deren Angriffe zeigen vor allem, für wie wichtig die wolffschen Lehren gehalten wurden. Wolff lehrte damals an der Universität Halle, was zu Preußen gehörte. Als Gegner – vielleicht kamen sie aus pietistischen Kreisen? – ihn beim Preußenkönig Friedrich Wilhelm anschwärzten, er würde das Fatum lehren, das auch das Desertieren von Soldaten (straffrei) ermögliche – auch der „langen Kerls“!! –, da gab der völlig bildungsfreie König umgehend den Befehl, Wolff habe „sämtliche königliche Lande binnen achtundvierzig Stunden bei Strafe des Stranges zu räumen“. Diese alberne Episode deutet das geistige Niveau an, das damals in Deutschland herrschte und zu dem die rationalistische „Philosophie“ des Christian Wolf hervorragend passte. Alles musste auf diese Weise erklärbar, musste, wie Gott selbst, rational, also nützlich sein. So hatte Gott bei der Schöpfung der Welt und deren Krönung, den Menschen, nämlich diesen mit der Absicht erschaffen, als Gott von ihm überhaupt erkannt und dann verehrt werden zu können – also um seiner Eitelkeit Genüge zu tun. „Die Sonne ist da, damit die Veränderungen auf der Erde stattfinden können; die Erde ist da, damit das Dasein der Sonne nicht zwecklos sei.“ – Metaphysik in ihrer plattesten Form! Trotzdem kam dieses Denken über den rationalen Gott und seine rationale Schöpfung gut an, verbreitete sich, außer bei deutschen Philosophen, besonders im – wen wundert’s? – katholischen Europa, besonders in Italien und unter den Formalisten des (katholischen) Glaubens, den Jesuiten. Dies ist das Umfeld, in dem das Denken Kants heranwächst. 118
Das Denken dieses Mannes, dieses Ausnahmegenies der „reinen Vernunft“ auch nur annähernd darstellen zu wollen, das lasse ich lieber bleiben – um mich selbst wie auch den geneigten Leser zu schonen. Trotzdem ist es unumgänglich für die Argumentation des vorliegenden Versuches, einige Ergebnisse von Kants Denken anzudeuten, um wenigstens zu ahnen, worauf ich hinauswill. Die unselige Verquickung von (christlichem) Glauben und (philosophischem) Denken hatte das Abendland bestimmt, spiegelte die abendländische „Kultur“ – das eine hemmte das andere! Die „kopernikanische Wende“, die Kants Erkenntnisphilosophie vollzog, habe ich bereits, sehr stark vereinfacht und für den heutigen Leser nachvollziehbar, darzustellen versucht. (vgl. G. Scholz, Warum ist das Wasser nass? Berlin 2023) Es soll hier nicht wiederholt werden. Wir wollen vielmehr versuchen, einen Eindruck davon zu bekommen, wie der große Königsberger die klassische Metaphysik auseinandernimmt, auf die er in Form von Christian Wolff und der schier endlosen Reihe seiner geistigen Vorfahren trifft. Die große Leistung Kants dabei ist, dass er das menschliche Denken von der klassischen Metaphysik befreit, es reinigt von der Religion im Allgemeinen und der christlichen im Besonderen, von Zauber und Magie des frühen Mythos. „Wenn aber gleich all unsere Erkenntnis mit der Erfahrung anhebt, so entspringt sie darum doch nicht alle aus der Erfahrung.“ Anders gesagt: Kontinentaler Rationalismus und englischer Empirismus haben beide ein bisschen recht, aber da fehlt etwas, da muss noch mehr sein, nämlich ein Denkapparat, der diese Erfahrung aufnimmt und vor allem, der sie auswertet, der etwas aus ihr macht, z. B. Naturgesetze. Und dann – man muss begreifen, „dass die Vernunft nur das einsieht, das sie selbst . . . hervorbringt.“ Wenden wir doch diese Feststellung gleich einmal an, nämlich auf Descartes Gottes119
beweis in den „Meditationes . . . “: Wenn dieser metaphysische Rationalist von der Tatsache, dass wir dieses vollkommene Wesen Gott denken können ohne irgendeine Anschauung von Vollkommenheit zu haben, dann kann diese Vorstellung eines vollkommenen Wesens nur von diesem selbst stammen, dessen Existenz somit bewiesen ist. Der Einwand dagegen ist nun also: Dieser Gott, dieses vollkommene Wesen, zu dem zugegebener Weise jede Erfahrung fehlt, kann nur auf diese Weise erkannt und somit bewiesen werden, weil er (vorher) von dem Beweisenden selbst hervorgebracht, geschaffen worden ist: Es werden Ostereier gesucht, die man vorher selbst versteckt hat und die jetzt „beweisen“ sollen, dass es einen Osterhasen gibt! Es sind Trugschlüsse, Zirkelschlüsse, die nichts als Scheinwissen produzieren. Wenn die Metaphysik mit Begriffen argumentiert, die nicht von Erscheinungen abhängen, wenn diese in logische Verhältnisse zueinander gebracht werden, daraus Schlüsse gezogen, „Erkenntnisse“ gewonnen werden, dann ist das nichts anderes als „Anmaßungen überschwänglicher Einsichten der spekulativen Vernunft.“ Charakteristisch für solche Denkvorgänge und ihre (Schein)Ergebnisse ist, dass sie durch nichts bewiesen werden können, aber, und das ist das Fatale daran, sie können geglaubt werden, was dann in der Realität furchtbare Folgen haben kann. Anders in den Naturwissenschaften: Das im mathematischen Naturbild selbstständig abstrakt (Weiter)Gedachte kann auf seine Richtigkeit hin genau überprüft werden – mit dem gezielten Befragen der Natur, im Experiment. Die klassische Metaphysik ist der Versuch, über das Unbedingte Erkenntnisse erlangen zu wollen, die keinerlei Grundlage in der sinnlichen Anschauung haben – man könnte auch sagen: in der Realität –, sondern hier wird mit bloßen Vernunftideen gearbeitet, mit Phantasmen, aus den unterschiedlichsten 120
Motiven geboren, deren spekulativer Gebrauch keinerlei Realitätsbezug mehr hat. Dieses Denken nennt Aristoteles Erste Philosophie – Kern und Ziel allen Erkennens. Mit Erster Philosophie aber ist die eigentliche, die wirkliche Philosophie gemeint – die Philosophie überhaupt, die angeblich höchste menschliche Erkenntnismöglichkeit, die Königin des Denkens, die aber ihr Volk, die Realität, zunehmend verliert. Und genau dieser klassischen Metaphysik bescheinigt Kant nun, eine Scheinwissenschaft zu sein, die nur Erkenntnisse vorgaukelt, die keinerlei (praktischen) Nutzen haben, haben können. Dagegen aber hält er die Naturwissenschaften, deren Wesen und Funktion er als erster beschreibt und begründet. Auf dem Trümmerhaufen, den die zerstörte Metaphysik, die somit beendete (Erste) Philosophie hinterlässt, da gedeihen und blühen nun die Weidenröschen, die Trümmerblumen, jetzt erblühen die mathematisierten Naturwissenschaften (die nun keine Naturforschung mehr sind!) und als denkerisches Unkraut wuchert dazwischen das Spekulieren – der Glaube und das Meinen. Genauso konsequent wie er die klassische Metaphysik auseinandernimmt, so geht Kant auch deren Zwillingsschwester, die (christliche) Religion und ihre Theologie an. „Vorausgesetzt: dass für die Sünden des Menschen eine Genugtuung geschehen sei, so ist wohl begreiflich, wie ein jeder Sünder sie gern auf sich beziehen möchte, und, wenn es bloß aufs Glauben ankommt . . . deshalb nicht einen Augenblick Bedenken tragen würde.“ Also, dass jeder die Gelegenheit der Sündenvergebung gern auf sich selbst bezieht, ganz besonders, wenn er das als Gegenleistung nur zu glauben braucht. „Allein es ist gar nicht einzusehen, wie ein vernünftiger Mensch, der sich strafschuldig weiß, im Ernst glauben könne, er habe nur nötig, die Botschaft von einer für ihn geleisteten Genugtuung“ – sinngemäße Er121
gänzung: nur – „zu glauben, . . . um seine Schuld als getilgt anzusehen.“ Das klingt ja eigentlich alles ganz phantastisch: Du brauchst nur an eine für dich geleistete Genugtuung zu glauben – und schon bist du alle Schuld los! Nur – leider, leider ist eine solche Behauptung für einen vernünftigen Menschen unzumutbar, einfach blanker Unsinn. Um diesem (einleuchtenden) Einwand zu entgehen, „argumentiert“ die Theologie mit göttlicher Offenbarung, einer Art göttlicher Befehle, die einer höheren, einer göttlichen – und somit dem Menschen eben nicht zugänglichen – „Logik“ folgen. Kant dazu: „Himmlische Einflüsse in sich wahrnehmen zu wollen, ist eine Art Wahnsinn, in welchem sehr wohl auch Methode sein kann . . . , der aber immer doch eine . . . Selbsttäuschung bleibt.“ Und weiter: „Der Wahn, durch religiöse Handlungen des Cultus etwas in Ansehung der Rechtfertigung vor Gott auszurichten, ist der religiöse Aberglaube . . . Es ist abergläubischer Wahn, durch Handlungen, die ein jeder Mensch tun kann, . . . Gott wohlgefällig werden zu wollen (z. B. durch Bekenntnis statuarischer Glaubensätze, durch Beobachtung kirchlicher Observanz und Zucht u.d.g.)“ Und dann bringt Kant ein Beispiel, mit dem er die Herkunft solcher Glaubensbezeugungen andeutet: „Von einem tungusischen Schaman, bis hin zu dem Kirche und Staat zugleich regierenden europäischen Prälaten, oder . . . zwischen dem ganz sinnlichen Wogulitzen, der die Tatze von seinem Bärenfell sich des Morgens auf sein Haupt legt, mit dem kurzen Gebet: ‚Schlag mich nicht tot!‘ bis zum sublimierten Puritaner . . . ist zwar ein mächtiger Abstand in der Manier, aber nicht im Prinzip zu glauben.“ Diese Herkunft heute noch gängiger Glaubenspraxis – und wenn sie sich noch so zeitgemäß, noch so modern gibt –, nämlich aus vorgeschichtlichem Geisterkult, präzisiert Kant im Folgenden: „Der 122
Mensch nun, welcher Handlungen, die für sich selbst nichts Gott Wohlgefälliges (Moralisches) enthalten, doch als Mittel gebraucht, das göttliche unmittelbare Wohlgefallen an ihm und hiemit die Erfüllung seiner Wünsche zu erwerben, steht in dem Wahn des Besitzes einer Kunst, durch natürliche Mittel eine übernatürliche Wirkung zuwege zu bringen; dergleichen Versuche man das Zaubern zu nennen pflegt.“ Das Gebet ist die religionsgeschichtliche Fortsetzung des frühgeschichtlichen Zaubers, wobei der heute dafür begleitend notwendige fromme Glaube den frühen Zauberkult fortführt. (Christlicher) Glaube und Esoterik sitzen also im selben Boot, sind derselben Wurzel entsprungen: die christlichen Sakramente sind die noch heute lebendigen Nachkommen des Zaubers aus einer magischen Welt. Beispiel: Wollte eine Frau im „alten Ägypten“ schwanger werden, so opferte sie nicht nur im zuständigen Tempel, sondern aß auf Anweisung des Priesters auch das Fleisch eines ungeborenen Lämmchens, gekocht in der Milch seiner Mutter – ein sicherer Zauber; heute pilgert dieselbe Frau nach Lourdes, vollzieht dort die vorgeschriebenen Rituale und opfert mindestens – aber sicherheitshalber bedeutend mehr! – ein paar Kerzen – auch ein sicherer Zauber. Die Zwillingsgeschwister Metaphysik und Religion, beide aus dem frühen Mythos hervorgegangen, streben nach „Wahrheiten“, die sie als Produkte menschlichen Bewusstseins selbst geschaffen und in Umlauf gebracht haben. Kant entlarvt beide, er reißt der Philosophie die Maske der Erkenntnis, der christlichen Religion die Maske des Glaubens, vom Gesicht. Noch eine Anmerkung zu Kants Erkenntnisphilosophie: Er unterscheidet sehr klar zwischen einem Denken a posteriori, also auf Erfahrung gestützt, und a priori, also einem Denken, das nicht mit Erfahrung in Verbindung steht, sondern ein reines Vernunftprodukt ist. Achtundsiebzig Jahre nach dem 123
Erscheinen der „Kritik der reinen Vernunft“ kommt ein die Gedanken der Vernunftanalyse aus einer völlig anderen Perspektive ergänzendes Werk in die heftig geführte Diskussion. 1859: Alexander von Humboldt, der geradezu exemplarische Vertreter einer klassischen Naturforschung, wie wir sie z. B. bei Goethe, vor allem in der Farbenlehre, finden, stirbt, und der die Welt verändernde Gedanke der Evolution des Lebens – und damit auch des Menschen, seines Hirns und Denkens! – erblickt die geistige Welt, Darwins „Entstehung der Arten . . . “ erscheint. Jetzt lässt sich der erste Satz der KrV – „Dass all unsere Erkenntnis mit der Erfahrung beginnt, daran besteht überhaupt kein Zweifel“ – mit einem Denken a priori zusammenbringen: So wie die Pathologie unterscheidet zwischen Nosologie (Krankheitslehre) und Teratologie (Lehre von den Missbildungen, die auf Krankheiten des sich entwickelnden Organismus zurückzuführen sind), so können wir jetzt gegenwärtige Erfahrungen und ihre denkerischen Konsequenzen von Erfahrungen aus der Entwicklungsgeschichte des Denkens unterscheiden, die auf Grund ihrer oft Jahrhunderttausende oder gar Millionen Jahre währenden Vergangenheit nicht mehr als Erfahrungen erkennbar sind – das a priori also ein a posteriori einer sehr lange zurückliegenden Zeit. Beispiel aus der frühen Jagderfahrung des Steinzeitmenschen: Trockenzeit, Wasserlöcher, Wildkonzentration, Jagderfolg – in endlosen Generationen folgt ein Analogon „logisch“ dem anderen.
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Die Erben, die Enkel Am Anfang unserer Überlegungen hatte die seltsamste aller Episoden aus dem antiken Mythos gestanden, die ein verstörendes Ereignis schildert, das im Mythos selbst diesen infrage stellt. Die Handlungen der Unsterblichen, die mythischen Taten der ewigen Götter selbst geben dem Dasein der von ihnen Geschaffenen, den sterblichen Menschen erst eine DaseinsBerechtigung und somit einen Sinn, geben dem menschlichen Dasein einen Zweck – die Aufgabe, den unsterblichen Göttern, ihren Schöpfern, ihren Vätern zu gehorchen und ihnen im Kultus zu dienen, ihre ewigen Gesetze zu befolgen. Prometheus revoltierte dann mit viel Pathos gegen diese Götter, betonte die Eigenständigkeit des sterblichen Menschen; Odysseus aber machte nicht viel Aufhebens um seinen Abschied aus der Welt der Unsterblichen, in die er auf das Liebevollste eingeladen worden war, er ging einfach in die Welt der Menschen zurück und hinterließ so eine Schar von ewigen Göttern, die ihre magische, ihre göttliche Macht über die Menschen verloren hatten – der sicherlich perfekte, der göttliche Sex der Nymphe Kalypso konnte den sterblichen Mann nicht davon abhalten, in das Bett einer ebenfalls sterblichen Frau zurückzukehren. Was für eine Niederlage für eine Frau, eine Unsterbliche, was für eine Schmach für eine Göttin, für das Göttliche als Ganzes – für seine Allmacht, für seine alles Irdische überstrahlende Wahrheit überhaupt! In dieser Episode werden nicht nur das Göttliche und seine Wahrheit hinterfragt und angezweifelt, 125
nein, sie werden vom Menschen zurückgelassen – Odysseus lässt die um den Verlust verzweifelt Trauernde, die Göttin einfach hinter sich. So wie der Mann aus der hintersten Ecke Preußens, aus der tiefsten Provinz, dem Mythos ebenfalls den Rücken kehrte, aus der zeitgemäßen Form dieser Göttergeschichten ausstieg und die untertänigsten Anhänger ihrer ewigen Wahrheiten verwirrt zurückließ. Kant zerstörte die klassische Metaphysik, diese Denkform, die neben ihrer Schwester Religion aus dem Mythos evolutionär hervorgegangen war. Beide Schwestern hatten sich die Aufgaben, die Inhalte des Mythos geteilt: Während die Religion für die ewigen Götter zuständig blieb, so war die Metaphysik jetzt die Hüterin der ewigen Wahrheiten – beide aus dem sterblichen menschlichen Bewusstsein entsprungen, beide in die Welt der Unsterblichen aufgenommen, und beide dienen nun dazu, die Welt und den Menschen darin zu verstehen. Denn der Mensch braucht einen Spiegel, um sich und seine Welt betrachten zu können – anders geht es nicht: Narziss wäre ohne das spiegelnde Wasser kein Narzisst geworden! So entstand und entwickelte sich im frühen Menschen der Mythos, die Schilderung einer zweiten, einer göttlichen, einer wahren Welt, damit sich die Welt des Menschen, die reale Welt in ihr spiegele, um so betrachtet, um so verstanden werden zu können. Doch auch Spiegel werden alt, können stumpf werden, können sogar zerbrechen. Und was dann? Die Schöne, die sich darin wohlgefällig betrachtet, sie kauft sich einen neuen, einen möglichst besseren, einen klareren, der es ihr möglich macht, auch das kleinste Fältchen zu erkennen und möglichst erfolgreich zu bekämpfen! Genauso entwickelte sich der europäische Geist, ein revolutionäres Abschütteln des alten, des überkommenen Denkens und sein Ersatz durch einen neueren, 126
einen besseren, einen genaueren Spiegel, einen Spiegel, mit dem man zwar nicht mehr zaubern kann – „Spieglein, Spieglein an der Wand . . . “ –, mit dem man dafür aber jetzt die kleinsten Pickelchen erkennen konnte: Dieser neue Spiegel ist unbestechlich, seine beschreibende, seine abbildende Sprache, die Mathematik, spiegelt gestochen scharf die Realität dieser Welt und macht so die Glättung auch des kleinsten Fältchens möglich – mancherlei verbessernde Reparatur durch die mathematisierten Wissenschaften und durch die in ihrem Gefolge entstehende moderne Technik. Anders gesprochen: Die Metaphysik, die Erste Philosophie, die Philosophie ist tot, genauso aus dem denkenden Leben geschieden wie ihre Zwillingsschwester (christliche) Religion auch. Dass sie im Volksglauben weiterhin vor sich hinvegetieren, manchmal dabei sogar richtig erblühen – das war schon immer so und wird auch so bleiben. (Schon Augustinus hielt Jungfrauengeburt und leibliche Auferstehung für nur dem naiven Volksglauben geschuldet, nur schwer vereinbar mit der wahren Religion, die er mit Begriffen des Neuplatonismus beschrieb.) Der Mythos hatte die Welt des Menschen aus der Spiegelperspektive der Geister und Götter im Licht des Zaubers und der Magie sichtbar, verständlich gemacht; also beherrschten Magie und Zauber auch das irdische Leben. Die Metaphysik hatte diese Art der Weltverständnismöglichkeit weiterentwickelt, vergeistigt und von konkreten Figuren überirdischen Daseins abstrahiert. Im Mittelalter, vor allem bei Thomas von Aquin, verbindet das strenge Schuldenken diese Metaphysik mit dem magischen Weltbild einer Religion, die in der Spätantike aus archaischem magisch-mythischem Denken hervorgegangen war und nun denkerisch mit der ihr nachfolgenden Metaphysik zu einer Einheit verschmolzen wird. Das magische Wesen, dieser Zauber, wird dabei, z. T. allerdings etwas gewalttätig, in ein 127
konsequent logisches Denkmodell eingebaut, ohne allerdings – und das ist eine beachtliche Leistung! – seinen magischen Charakter zu verlieren. Dabei wird ein sehr klares und bis in den letzten Winkel (logisch) durchdachtes Bild von Mensch und Welt entworfen, das genau gegliedert ist – einmal in Welt, Überwelt und Unterwelt (zu dem Dante dann noch eine Zwischenwelt, das purgatorium, hinzufügt) und das zum anderen aufgeteilt ist in die lateinisch-logisch durchdachte Theologie und den sehr lebenspraktischen, drastischen Volksglauben, die naive Variante, die sich wiederum wunderbar selbst spiegelt, einmal literarisch in Dantes la Commedia und malerisch bei Hieronymus Bosch. Das Ganze ist ein Erfolg, den seine Vertreter in vollen Zügen genießen, einschließlich der Macht, die ihnen durch diesen Erfolg jetzt zukommt, denn nie hatte ein geistiges Konstrukt, das Welt und Mensch widerspiegelt und somit erklärt, eine so breite Wirkung durch alle Schichten der Gesellschaft erreicht wie diese Legierung aus Philosophie und Religion, die jetzt, nach ihrer Trennung in der denkenden Antike, (endlich) wiedervereint waren und somit die naive Masse genauso wie eine intellektuelle (Ober)Schicht fest im Griff hatten. Am Ende der Renaissance, in der eine neue logische Denkmethode entwickelt worden war, die Mathematik, die dem aristotelischen Syllogismus vor allem aus praktischen Gründen deutlich überlegen war, sagt Galilei: „Die Natur ist in der Sprache der Mathematik geschrieben.“ D. h. der allmächtige und allwissende Gott, dieses vollkommene Wesen, das bei der Ordnung der Welt zuerst bei Platon und dann bei Aristoteles abgeschaut hatte, nimmt jetzt Nachhilfe in dieser neuen „Sprache“ (es ist diese Formulierung des Galilei, die meines Erachtens die wichtigste Aussage in diesem berühmten Satz des Astronomen ist!) und wird nun selbst zum Mathematiker, und mit ihm spiegelbildlich die ganze Schar 128
der Philosophen der abendländisch-christlichen Metaphysik, die in den Geschichtsbüchern Rationalismus genannt wird. Das recht kümmerliche intellektuelle Ende, wir hatten es oben kurz besprochen, nimmt diese geistesgeschichtliche Epoche mit Christian Wolff, der allerdings diesem Denken noch einmal eine gewaltige Breitenwirkung verschafft. Es ist das große Verdienst Kants, den Leichnam des metaphysischen Rationalismus, die Scherben des alten blind gewordenen Spiegels, beiseite geschafft zu haben und gleichzeitig die Konstruktionsanweisungen für einen neuen entworfen zu haben. Wir hatten gesehen, dass Gott zum Mathematiker geworden war, wogegen allerdings nicht nur die Pietisten empört Sturm liefen; aber Kant nahm ihm auch noch dieses scharfe Denkschwert aus der Hand und übergab es dem Menschen, gab es ihm wieder zurück – mit „transzendentaler Ästhetik“ wird diese Denkoperation in der „Kritik der reinen Vernunft“ beschrieben –, und so konstruiert er den neuen Spiegel, klar und unbestechlich wie kein anderer zuvor: Die „Sprache“ (Galilei) der Natur ist jetzt nicht mehr die Mathematik, sondern die Natur wird vom Menschen in der von ihm selbst geschaffenen Sprache der Mathematik beschrieben, also nicht von Gott geschrieben, sondern vom Menschen beschrieben. Jetzt kann der Mensch etwas mit der Natur anfangen, sie nicht nur zum Ruhme Gottes besingen, sondern sie effektiv nutzen. Denn mit der Natur (im Rohzustand) kann er nichts anfangen, außer vielleicht im lyrischen Gedicht. Doch mit dem mathematischen Abbild der Natur, da kann er sehr wohl etwas bewerkstelligen, denn dieses in der Sprache der Mathematik formulierte Abbild, das versteht er! Er versteht es, weil diese Sprache von ihm selbst stammt, seinem Geist entsprungen ist und somit ihm verständlich ist. Damit lässt sich etwas machen, damit kann man spielen, denken, seiner Phantasie 129
freien Lauf lassen – Technik wird möglich! Das schönste Beispiel hierfür sind für mich immer noch die mathematischen Gleichungen des schottischen Mathematikers und Physikers James Clerk Maxwell, die er in der Mitte des neunzehnten Jahrhunderts aufgestellt hatte und mit denen er das Naturphänomen Elektromagnetismus beschrieb (nicht erklärte!). Diese beschreibenden denkerisch-theoretischen Gleichungen, also Sätze der menschlichen Denkform Mathematik, ergeben zusammen einen „Aufsatz“ über Elektromagnetismus, den man, genauso theoretisch-mathematisch, weiterdenken kann, was denn auch geschehen ist, bis jemand sagte: Hoppla, ich glaube, damit können wir (technisch) etwas anfangen! Und so entstanden Rundfunk und Fernsehen! Im Denkraum der aristotelisch-christlichen Metaphysik kann man Begriffe auch zu logischen Formeln kombinieren und syllogistisch weiterdenken und dabei kommt durchaus auch etwas heraus – z. B., dass man im (erdachten) Jenseits die Hölle zu erwarten hat, wenn man sich nicht der kirchlichen Autorität unterwirft etc. Kant hatte das Denken gründlich aufgeräumt, hatte alles an seinen Platz gestellt und die Ordnung des Denkens zukunftsfest gemacht. Doch kaum ist der hellhörige und scharfsichtige Kater nicht mehr da – Kant stirbt neunundsiebzigjährig 1804 – und schon tanzen die Mäuse auf dem Tisch! Ganze Orgien des Irrationalismus feiern sie, und sie tun dies aus lauter Trotz: Es lebe die Metaphysik, es lebe das Irrationale, der spekulative Irrsinn; von wegen Grenzen der Erkenntnismöglichkeit! Wir steuern jetzt erst recht auf die absolute Erkenntnis zu! So wird z. B. bei Schelling alles „absolut“, nicht nur die Erkenntnis, da wird auch von absoluter Kausalität, von absoluter Identität geredet, vom absoluten Ich, dem letzten Realgrund unseres Wissens. Natürlich ist beim Absoluten auch Gott nicht weit weg, und die Lehre von ihm, die Theosophie, muss helfen, die 130
selbstgefertigten gordischen Knoten, die sogenannten philosophischen Probleme, durch die Umsetzung philosophischer Begriffe in religiöse Anschauungen auf mystisch-spekulative Weise zu „lösen“. Es sind dies die Erben der klassischen Metaphysik, die dieses Erbe in wilden (Denk)Orgien verprassen, die es damit aber auch verunglimpfen, regelrecht schänden. Hatte im Mittelalter noch die Philosophie als Magd treu der Theologie gedient – als ancilla theologiae – so drehte sich dieses Verhältnis jetzt um: Immer, wenn die philosophische Spekulation in die Klemme geriet, musste das Mystische, das Magische, eben die Religion helfen. So vereinen sich Philosophie und Religion erneut zu einem neuen Zerrbild der Metaphysik, die einen spekulativen Totentanz aufführt, um dann ganz plötzlich zusammenzubrechen, so „dass seither die klassische Tradition der Philosophie nur noch in der Gebrochenheit eines geschichtlichen Bewusstseins weiterlebt.“ (H.-G. Gadamer) D. h. an den Universitäten wird das Fach Philosophie fast nur noch als Geschichte der Philosophie gelehrt. Es bleibt die Einsicht „einer dem Begriff unzugänglichen Wirklichkeit, über die nur Erfahrung, religiöse, politische, wissenschaftliche Erfahrung belehren kann“ (nochmal der kluge Gadamer) - „. . . dem (philosophischen) Begriff unzugängliche Wirklichkeit“: Das ist der Punkt! Das ist das Ende der (abendländischen) Philosophie! Hier bescheinigt der „Philosoph“ Gadamer der Philosophie, dass ihr Denken die Wirklichkeit dieser Welt nicht erfassen, nicht hinterfragen kann, dass der Begriff, das Werkzeug des Denkens, auch wenn er noch so logisch kombiniert wird, dafür nicht brauchbar ist, dass dieses Denken damit schlichtweg überfordert ist; Gadamer tut dies ganz bewusst im Rückgriff auf den großen Königsberger, dessen „Critik“ er – ich habe manchmal den Eindruck fast resignierend – bestätigt: Ja, es ist leider so, trotz aller Liebe zu der großartigen Tradition des 131
philosophischen Denkens – es funktioniert heute, nachdem wir Kant erlebt und verstanden haben, nicht mehr. So wie Odysseus . . . nein, nicht noch einmal! Ich hoffe, lieber Leser, Sie haben es auch verstanden! Es bleiben die Enkel des verstorbenen Großvaters Metaphysik, auch heute noch aktive philosophische Schriftsteller, mal sehr geistvoll, mal weniger lesenswert. Von einer „Philosophie der Wahrheit“ und anderen Albernheiten sehen wir mal ab – vom Philosophieren um der Philosophie willen. Denn die beiden Zwillingsschwestern Theologie und Philosophie sind wie eine Kinderbande, die ihr Spiel für die Wirklichkeit nimmt und Menschheit eben nur spielt, Regeln und Wahrheiten verkündet, die innerhalb ihres Spiels gelten und dort sehr ernst genommen werden, aber in der Erwachsenenwelt keinerlei Bedeutung haben. Theologische und philosophische „Probleme“ werden innerhalb des in sich geschlossenen Systems „erörtert“, das jeweils einer immer fremder wirkenden Blase in der Gesellschaft gleicht, die Reste aus vergangenen Zeiten umschließt, die heute längst ohne Bedeutung sind – wer versucht noch nach der nikomachischen Ethik zu leben oder beachtet den kategorischen Imperativ? –, aber noch aus althergebrachter Ehrfurcht geachtet sind. Es gibt eine Philosophie vor Kant und eine nach ihm, die keine mehr ist, nicht mehr sein kann. Der deutsche spekulative Idealismus, der nichts über die Wirklichkeit herausbrachte, dafür aber mehr über das Deutschsein sagte, als er selbst bemerkte, führte einen irren Totentanz zu ihren Ehren auf, doch dann kamen die (Natur)Wissenschaften und sagten: Es ist genug, wir schließen die Bühne, das Theater, und gehen heim, nach Hause in die Wirklichkeit von Welt und Mensch, freuen uns auf unser Bett, in das wir eine kuschelige Wärmflasche legen können, manchmal gefüllt mit warmem Weihwasser oder 132
kochenden politischen wie auch ideologischen Phrasen, die auf dem Feuer des Glaubens und Meinens erhitzt worden sind. Und was ist gegenwärtige Philosophie außer der Geschichte der „Liebe zur Weisheit“ an den Universitäten? So sagt der Geschäftsführer auf der Betriebsversammlung: „Die Philosophie unserer Firma ist, dass die Qualität unserer Produkte an oberster Stelle steht.“ Und das ist keine Metaphysik! Und jetzt, meine lieben Leser, möchte ich mich endgültig, für immer von Ihnen verabschieden, denn ich bin ein sehr alter Mann, der diese Welt bald für immer verlassen wird. Behalten Sie das Wort Kants fest im Kopf: Habe den Mut, Dich deines eigenen Verstandes zu bedienen! Leben Sie wohl! Ihr G.S.
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