Die polnische Frage und der Wiener Kongress 1814-1815: Herausgegeben:Dybas, Boguslaw 9783700185802

After the third partition of Poland-Lithuania, which was tantamount to the demise of the Commonwealth (1795), and the Na

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Titelei
Inhalt
Einleitung
Die Situation der polnischen Gebiete während des WienerKongresses
Die polnische Frage am Wiener Kongress: Politische Akteure,„pressure groups“ und ihre Bemühungen um die Restauration des König-reichs Polen
Zur politischen Karikatur am Wiener Kongress – die „polnisch-sächsische Frage“ in Bildern
Polen und die Arbeit der „Statistischen Kommission“ aufdem Wiener Kongress
Die Polenbestimmungen der Wiener Schlussakte. Einepolitische und völkerrechtshistorische Analyse
Der Wiener Kongress und seine Folgen für die habsburgischePolitik in Galizien: Ständische Verfassung und Elitenpolitik
Die Bestimmungen des Wiener Kongresses hinsichtlich Polens vordem Hintergrund der polnischen Frage im 19. Jahrhundert (1795 –1918)
Fürst Edward Lubomirski und seine Beschreibung Wiens
Wien an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Eine Stadtzwischen Beharrung und Neuem
Der Kongress
Kartenteil
Personenregister
Geografisches Register
Über die Autoren
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Die polnische Frage und der Wiener Kongress 1814-1815: Herausgegeben:Dybas, Boguslaw
 9783700185802

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Nach der dritten Teilung Polen-Litauens (1795) und nach dem Ende der napoleonischen Kriege wurde auf dem Wiener Kongress (1814–1815) über die Zukunft der polnischen Gebiete entschieden. Die dabei erfolgte neuerliche Aufteilung des Landes zwischen Russland, Preußen und Österreich hatte wbis zum Ersten Weltkrieg Bestand. Die „polnische Frage“ während des Wiener Kongresses wird in diesem Band von Historikerinnen und Historikern aus Polen, Österreich, Deutschland und Tschechien erörtert. Abgerundet wird das Werk durch eine 1821 erschienene Darstellung des internationalen Zusammentreffens durch den Augenzeugen Edward Lubomirski (1796–1823).

Internationale Geschichte International History

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ISBN 978-3-7001-8580-2

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783700 185802 Made in Europe

BOGUSŁAW DYBAŚ (HG.)

Die polnische Frage und der Wiener Kongress 1814–1815

Bogusław Dybaś ist Professor an der Fakultät für Geschichtswissenschaften der Nikolaus-Kopernikus-Universität Thorn/Toruń.

Internationale Geschichte International History

BOGUSŁAW DYBAŚ (HG.)

Die polnische Frage und der Wiener Kongress 1814–1815

BOGUSŁAW DYBAŚ (HG.) DIE POLNISCHE FRAGE UND DER WIENER KONGRESS 1814 –1815

ÖSTERREICHISCHE AKADEMIE DER WISSENSCHAFTEN PHILOSOPHISCH-HISTORISCHE KLASSE

INTERNATIONALE GESCHICHTE / INTERNATIONAL HISTORY

HERAUSGEGEBEN VON

MICHAEL GEHLER UND WOLFGANG MUELLER

BAND 6

BOGUSŁAW DYBAŚ (HG.)

Die polnische Frage und der Wiener Kongress 1814 –1815

Angenommen durch die Publikationskommission der philosophisch-historischen Klasse der ÖAW: Michael Alram, Bert G. Fragner, Andre Gingrich, Hermann Hunger, Sigrid Jalkotzy-Deger, Renate Pillinger, Franz Rainer, Oliver Jens Schmitt, Danuta Shanzer, Peter Wiesinger, Waldemar Zachariasiewicz Veröffentlicht mit Unterstützung des Wissenschaftlichen Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien und der Fakultät für Geschichtswissenschaften der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Thorn

Übersetzungen: Joanna Ziemska, Paulina Górak, Agnieszka Chabros Lektorat: Irmgard Nöbauer Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek. Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie, detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Diese Publikation wurde einem anonymen, internationalen Peer-Review-Verfahren unterzogen. This publication has undergone the process of anonymous, international peer review. Umschlagabbildung: Wiener Kongress, nach Jean-Baptiste Isabey, Stahlstich von Jean-Jacques Outhwaite (vor 1877); Biblioteka Narodowa w Warszawie / POLONA (Nationalbibliothek Warschau / POLONA) Die verwendete Papiersorte in dieser Publikation ist DIN EN ISO 9706 zertifiziert und erfüllt die Voraussetzung für eine dauerhafte Archivierung von schriftlichem Kulturgut. Alle Rechte vorbehalten. ISBN 978-3-7001-8580-2 Copyright © Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien 2021 Satz: Max Szot, Toruń Druck: DGS GmbH, BuchDrucker.at, Wien https://epub.oeaw.ac.at/8580-2 https://verlag.oeaw.ac.at Made in Europe

Inhalt Bogusław Dybaś: Einleitung .........................................................................................

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Jarosław Czubaty: Die Situation der polnischen Gebiete während des Wiener Kongresses ................................................................................................................

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Karin Schneider: Die polnische Frage am Wiener Kongress: Politische Akteure, „pressure groups“ und ihre Bemühungen um die Restauration des Königreichs Polen ..............................................................................................................

25

Werner Telesko: Zur politischen Karikatur am Wiener Kongress – die „polnischsächsische Frage“ in Bildern ..................................................................................

43

Reinhard Stauber: Polen und die Arbeit der „Statistischen Kommission“ auf dem Wiener Kongress ............................................................................................

61

Hans Henning Hahn: Die Polenbestimmungen der Wiener Schlussakte. Eine politische und völkerrechtshistorische Analyse ..................................................

73

Miloš Řezník: Der Wiener Kongress und seine Folgen für die habsburgische Politik in Galizien: Ständische Verfassung und Elitenpolitik ...........................

107

Leszek Kuk: Die Bestimmungen des Wiener Kongresses hinsichtlich Polens vor dem Hintergrund der polnischen Frage im 19. Jahrhundert (1795 –1918) .......

133

Jarosław Ławski: Fürst Edward Lubomirski und seine Beschreibung Wiens ........

159

Ferdinand Opll: Wien an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Eine Stadt zwischen Beharrung und Neuem .........................................................................

173

Der Kongress (von Edward Lubomirski) ....................................................................

181

Kartenteil ........................................................................................................................ Karte 1: Die Teilungen Polen-Litauens 1772 –1795 .................................................. Karte 2: Polen in der napoleonischen Zeit 1807 –1815 ............................................ Karte 3: Polen nach dem Wiener Kongress 1815 ......................................................

205 205 206 207

Personenregister (erstellt von Max Szot) .................................................................... Geografisches Register (erstellt von Max Szot) .......................................................... Über die Autoren ..........................................................................................................

209 219 223

Einleitung Mit dem Wiener Kongress gingen zwei Jahrzehnte zu Ende, die in der polnischen Geschichte von besonderer Bedeutung waren, er leitete auch eine neue Epoche in der polnischen Geschichte ein. Genau zwanzig Jahre vor dem Ende des Kongresses, im Jahr 1795, wurde Polen-Litauen vom Königreich Preußen, der Habsburgermonarchie und vom Russischen Zarenreich zum dritten Mal untereinander aufgeteilt und verschwand von der Landkarte Europas. Die Teilungen Polens und das Ende von Polen-Litauen können demnach als Ursache und Ausgangspunkt für die „polnische Frage“ betrachtet werden, die das gesamte 19. Jahrhundert hindurch einen wichtigen Stellenwert in der europäischen Politik innehatte. Die Teilungen Polens beziehungsweise Polen-Litauens (Karte Nr. 1, S. 205) waren nicht nur ein traumatisches und bedeutsames Ereignis sowie eine der wichtigsten Zäsuren in der polnischen Geschichte, sie waren auch ein zentrales Phänomen der europäischen Geschichte1. Gewissermaßen griffen die Teilungen den Entscheidungen des Wiener Kongresses vor, auf dem die damaligen europäischen Großmächte über Gestalt und Schicksal einer großen Region entschieden. In diesem Kontext ist eine Analyse der Entstehung und Entwicklung der „polnischen Frage“ von den Teilungen Polens bis zum Wiener Kongress und darüber hinaus das gesamte 19.  Jahrhundert hindurch bis zum Jahr  1918 sehr aufschlussreich. Eine solche Analyse zeigt auch zahlreiche Probleme der gesamteuropäischen Geschichte im 19. Jahrhundert auf. Dem Begriff „polnische Frage“ wohnen spätestens zur Zeit des Wiener Kongresses zwei Bedeutungsebenen inne. Zum einen ist dieser Begriff in einem verfassungsrechtlichen Kontext zu verstehen beziehungsweise berührt er auch die Frage, inwieweit Polen bzw. Polen-Litauen innerhalb der Grenzen der Zeit vor den Teilungen (1772) wiedergestellt werden konnte. Ein polnisches Staatswesen innerhalb dieser Grenzen war die gesamte Teilungsepoche hindurch, bis zum Ersten Weltkrieg, Bezugspunkt für sämtliche Konzepte und Vorstellungen der Polen – unabhängig davon, ob eine solche Perspektive in realpolitischer Hinsicht 1



Michael G. Müller, Die Teilungen Polens. 1772, 1793, 1795, München 1984 (poln. Ausgabe u. d. T.: Rozbiory Polski. Historia Polski i Europy XVIII wieku, Poznań 2005). Hans-Jürgen Bömelburg, Andreas Gestrich, Helga Schnabel-Schüle, Die Teilungen Polen-Litauens als Zäsur einer europäischen Strukturgeschichte. Komparative Überlegungen jenseits der Na­ tio­nalgeschichtsschreibung, in: Hans-Jürgen Bömelburg, Andreas Gestrich, Helga Schnabel-Schüle (Hgg.), Die Teilungen Polen-Litauens. Inklusions- und Exklusionsmechanismen – Traditionsbildung – Vergleichsebenen, Osnabrück 2013, S. 9 – 35.

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Einleitung

überhaupt realistisch war. Selbstverständlich waren Konzepte dieser Art sehr optimistisch, insbesondere während des Wiener Kongresses, da in diesem Gremium den drei Teilungsmächten die entscheidende Stimme zukam. Im Zeitraum der zwanzig Jahre von der dritten Teilung (1795) bis zum Wiener Kongress waren die Hoffnungen der Polen auf die Wiederherstellung ihres Staates zunächst auf das revolutionäre Frankreich und später auf Napoleon Bonaparte gerichtet. Bereits im Jahr 1797 formierten sich unter dem Oberbefehl von General Jan Henryk Dąbrowski in Italien die polnischen Legionen. Ihr gehörten polnische Kriegsgefangene an, die zuvor in der österreichischen Armee gedient hatten. Die polnischen Formationen kämpften die ganze napoleonische Epoche hindurch auf Seiten des französischen Kaisers. Am Feldzug gegen Russland 1812 nahmen zirka 100.000 polnische Soldaten teil. In der Völkerschlacht bei Leipzig 1813 fiel Fürst Józef Poniatowski ������������������������������������������������������������ als Marschall Frankreichs. Die Hoffnungen auf die Wiederherstellung des polnischen Staats wurden mit der Gründung des Herzogtums Warschau im preußischen Teilungsgebiet im Jahr 1807 (nach der Niederlage Preußens im Krieg 1806/1807) mit dem sächsischen König Friedrich August I. Wettin als Herrscher dieses Staatswesens von Napoleon nur teilweise erfüllt. Nach der Niederlage Österreichs im Krieg des Jahres 1809 wurde das Herzogtum Warschau um jenes Gebiet vergrößert, das Österreich im Zuge der dritten Teilung 1795 erhalten hatte. Die Hoffnung, das polnische Staatsgebiet um die zu Russland gehörenden Gebiete, die früher zu Polen-Litauen gehört hatten, zu erweitern, scheiterten mit der Niederlage Napoleons in Russland im Jahr 1812 (Karte Nr. 2, S. 206). Schließlich konnte in den Jahren 1814/1815 nur das Herzogtum Warschau unter der Herrschaft des sächsischen Königs („sächsisch-polnische Frage“) Aus­ gangspunkt für eine wie auch immer geartete Lösung der Frage eines polnischen Staatswesens nach der Niederlage Napoleons sein. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es zu dieser Zeit auch eine prorussische Orientierung gab, wenngleich die pronapoleonische Orientierung unter den Polen zu Beginn des 19. Jahrhunderts dominierte. Erstere wird durch Fürst Adam Jerzy Czartoryski, Freund und Berater des jungen Zaren Alexander I., verkörpert. ���������������� Czartoryski����� hatte im politischen Leben Russlands nach der Thronbesteigung von Alexander im Jahr 1801 eine wichtige Rolle inne. Er übte auf die Reformprozesse in Russland großen Einfluss aus, insbesondere auf die Bildungsreform. In der Zeit von 1804 bis 1806 war er Außenminister. Neben dieser staatsrechtlichen Perspektive gab es einen weiteren Ansatz, den Begriff „polnische Frage“ zu verstehen und zu charakterisieren. Die letzte Phase des Bestehens der alten polnisch-litauischen Republik, die in dieser Zeit unternommenen Reformversuche sowie schlussendlich der Untergang des Staates führten zu einem sozialen und kulturellen Wandlungsprozess, an dessen Ende die „moderne polnische Nation“ stand2. Zweifelsohne wird im wissenschaftlichen 2



Vgl. das klassische Werk zum Thema: Tadeusz Łepkowski, Polska – narodziny nowoczesnego narodu 1764 –1870 [Polen – die Geburt einer modernen Nation 1764 –1870], Warszawa 1967 (22003).

Einleitung

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Diskurs auch die Frage gestellt, inwieweit die Teilungen für die von den Teilungsmächten annektierten Gebiete von Polen-Litauen zur Modernisierung der gesellschaftlichen Strukturen des Landes beitrugen. Die Konfrontation dieser Gebiete mit den relativ modernen Staatsstrukturen der Teilungsmächte (insbesondere Preußen und Österreich) nahm zweifelsohne auf diesen Modernisierungsprozess Einfluss. Der Wandlungsprozess, die Emanzipation der Stadtbürgerschaft, Agrarreformen, die Bauernbefreiung sowie schließlich die Entstehung einer neuen sozialen Schicht, der „Intelligenz“3, verlief in den einzelnen Teilungsgebieten ganz unterschiedlich und mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und Intensität. Er dauerte sehr lange an, noch lange bis nach dem Wiener Kongress. Die Entstehung der „modernen Nation“ währte das gesamte 19. Jahrhundert, erste Anzeichen für diese Entwicklung zeigten sich jedoch bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts4. Unter der „polnischen Nation“ war also nicht mehr die politische Adelsnation der Zeit der polnisch-litauischen Republik zu verstehen, da diese allmählich eine ganz andere Struktur annahm5. Spricht man über die „polnische Frage“ als einem Postulat nach der Wiederherstellung des polnischen Staates innerhalb der Grenzen vor 1772, muss hinzugefügt werden, dass eine eventuelle Wiederherstellung des Staates in den alten Grenzen keineswegs auch die Wiederherstellung der einstigen sozialen Verhältnisse bedeutet hätte. In allen Diskussionen über die Unabhängigkeit Polens im 19. Jahrhundert sowie zu Beginn des 20. Jahrhunderts stellte die soziale und nationale Frage die größte Herausforderung dar, wobei dies nicht nur den sozialen Wandel und die Emanzipation einzelner Gesellschaftsschichten betraf, sondern auch den Umstand, dass in der einstigen polnisch-litauischen Republik nicht nur ethnische Polen gelebt hatten, sondern auch Angehörige anderer Völker wie zum Beispiel Juden, Litauer, Ukrainer beziehungsweise Ruthenen – und Belarussen –, die im Laufe des 19. Jahrhunderts ihr nationales Bewusstsein entwickelten. Von diesen beiden Gesichtspunkten aus sollen die Ergebnisse des Wiener Kongresses hinsichtlich der polnischen Frage betrachtet werden − die Gründung 3



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Vgl. dreibändige Reihe u. d. T. Dzieje inteligencji polskiej do roku 1918 [Geschichte der polnischen Intelligenz bis 1918], Warszawa 2008. Englischsprachige Ausgabe der Reihe u. d. T.: A history oft the Polish Intelligentsia, Frankfurt a. M. 2014. Die Reihe enthält folgende Bände: Bd. 1: Maciej Janowski, Narodziny inteligencji 1750 –1831 ������������������������������������� (engl. Ausgabe: Birth ��������������������� of the Intelligentsia 1750 –1831); Bd. 2: Jerzy Jedlicki, Błędne koło 1832 –1864 (engl. Ausgabe: The Vicious Circle 1832 –1864); Bd. 3: Magdalena Micińska, Inteligencja na rozdrożach 1864 –1918 (engl. Ausgabe: At the Crossroads 1865 –1918). Zur Entwicklung der „bürgerlichen Gesellschaft“ am Beispiel des Militärs vgl. Andrzej Nieuważny, Auf dem Weg nach Leipzig. Die polnische Armee 1812 –1813. Rekrutierung „à la française“, in: Die Völkerschlacht bei Leipzig. Sympo­sium 8. November 2013 (Acta AustroPolonica, hg. v. Heeresgeschichtlichem Museum, Bd. 6), Wien 2014, S. 43 – 68. Ganz präzis bezeichnete diesen Augenblick der Warschauer Historiker Tomasz Kizwalter: Ders., O nowoczesności narodu. Przypadek polski, Warszawa 1999, S. 127 (deutsche Ausgabe: Über die Modernität der Nation. Der Fall Polen, Osnabrück 2013, S. 151–152).

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Einleitung

zweier Staatsgefüge, des Königreichs Polen und der Republik Krakau (Freie Stadt Krakau). Das Königreich Polen entstand auf der Grundlage des Territoriums des Herzogtums Warschau, jedoch ohne das Großfürstentum Posen und ohne Thorn und Krakau (Karte Nr. 3, S. 207). Es war eine Monarchie mit dem Zaren als König sowie mit einer verhältnismäßigen liberalen Verfassung und einer eigenen Armee. Die Republik Krakau war hingegen ein kleines Kondominium der drei Teilungsmächte. Angesichts der polnischen Hoffnungen und Bestrebungen war dieses Ergebnis sehr bescheiden. Daher wird der Wiener Kongress mitunter auch als die „vierte Teilung Polens“ bezeichnet. In realpolitischer Hinsicht waren diese Entscheidungen in der „polnischen Frage“ als optimal zu bezeichnen. In beschränktem Ausmaß bildeten sie jedoch die Rahmenbedingungen für die Weiterentwicklung des polnischen nationalen Bewusstseins. Die Autonomie des Königreiches, das auch als „Kongress-Königreich“ (poln. Królestwo ������������������� Kongresowe) oder „Kongresspolen“ (poln. Kongresówka) bezeichnet wurde, wurde nach dem Novemberaufstand 1830/1831 bedeutend eingeschränkt. Nach dem Jänneraufstand 1863/1864 wurde die Autonomie noch weiter eingeschränkt. Dennoch blieb Kongresspolen bis zum Ersten Weltkrieg das geistige Zentrum der polnischen Irredenta. Die Republik Krakau bestand etwa 30  Jahre, bis zum Jahr 1846. In diesem Jahr wurde sie Galizien einverleibt. In der zweiten Hälfte des 19.  Jahrhunderts wird Krakau nur mehr mit Galizien assoziiert. Die Zeit der Republik Krakau, deren Autonomie illusorisch war, war jedoch für den Erhalt der Rolle der alten polnischen Hauptstadt als Zentrum des nationalen und kulturellen Lebens der Polen äußerst wichtig. Die polnische Amtssprache und die zentrale Position der Universität in der verfassungsrechtlichen Struktur der Republik waren vermutlich die wichtigsten Faktoren für die Festigung der Rolle von Krakau im polnischen nationalen Leben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. * * * Der vorliegende Band ist das Ergebnis zweier Projekte, die in der Zeit von 2013 bis 2014 am Wissenschaftlichen Zentrum der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien durchgeführt wurden – das Symposium „Die polnische Frage am Wiener Kongress 1814 –1815“ am 16. Oktober 2014 sowie ein Fürst Edward Lubomirski gewidmeter Workshop am 26.  Juni  2013. Die Beiträge, die auf der Grundlage der im Rahmen der Konferenz gehaltenen Vorträge verfasst wurden, bilden den Hauptteil der vorliegenden Publikation. Im Zentrum des zweiten Teils steht Fürst Edward Lubomirski (1796 –1823), der als der erste polnische Romantiker gilt. Während des Wiener Kongresses gehörte er, im jugendlichen Alter von knapp 20  Jahren, der russischen Gesandtschaft an. Auf der Grundlage seines längeren Aufenthalts in Wien verfasste er die erste umfangreiche Beschreibung der Hauptstadt der Donaumonarchie in polnischer Sprache, in der sich auch ein

Einleitung

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Kapitel über den Wiener Kongress befindet6. Dank der Initiative des Polonisten Prof. Jarosław Ławski (Universität Białystok), zu dessen Forschungsinteressen auch Persönlichkeit und Werk von Lubomirski gehören, fand im Wiener Zentrum der Polnischen Akademie der Wissenschaften der bereits erwähnte Workshop statt7. Im ersten Teil der vorliegenden Publikation finden wir sieben Beiträge, die unterschiedliche Aspekte der „polnischen Frage“ am Wiener Kongress und in Verbindung mit dem Wiener Kongress beleuchten. Verfasser dieser Beiträge sind sieben Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Polen, Österreich, Deutschland und Tschechien. Jarosław Czubaty (Universität Warschau) skizziert in seinem Beitrag die Situation der polnischen Gebiete nach der Niederlage Napoleons in Russland sowie nach der Einnahme des Herzogtums Warschau durch Russland, was den Ausgangspunkt für die Entscheidungen des Wiener Kongresses in der polnischen Frage bildete. Karin Schneider (Universität Innsbruck, Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien, zurzeit Archiv des Österreichischen Parlaments) charakterisiert in ihrem Beitrag die polnischen Kreise bzw. jene Kreise, die sich für die Durchsetzung der polnischen Interessen während des Kongresses einsetzten. Gegenstand der Erörterungen von Werner Telesko (Österreichische Akademie der Wissenschaften, Wien) ist die politische Karikatur zur polnischen Frage in der Zeit des Kongresses als Instrument der Gestaltung der öffentlichen Meinung und Waffe im politischen Kampf. Reinhard Stauber (Universität Klagenfurt) analysiert die polnischen Aspekte in der Arbeit der „Statistischen Kommission“, eines Gremiums, das durchaus modern das Potenzial der Gebiete, über die der Wiener Kongress beriet und entschied, analysierte und auf diese Weise auf die dort getroffenen Entscheidungen einen gewissen Einfluss ausübte. Hans Henning Hahn (Universität Oldenburg) stellt in seinem umfangreichen Text die Bestimmungen des Wiener Kongresses hinsichtlich der polnischen Angelegenheiten dar, erörtert jedoch sowohl die Polen betreffenden Verhandlungen in Wien und die Bestimmungen selbst als auch das weitere Schicksal der polnischen Frage nach 1815. Eine interessante Fallstudie stellt der Beitrag von Miloš Řezník (Deutsches Historisches Institut Warschau) dar. Dieser analysiert die Situation in einem der Teilungsgebiete, nämlich in Galizien unter der Herrschaft der Habsburger. Er interessiert sich für die Folgen des Wiener Kongresses für die habsburgische Politik in Bezug auf diese Grenzprovinz der Monarchie, vor allem für deren 6



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[Edward Lubomirski], Obraz historyczno-statystyczny Wiednia. Oryginalnie 1815 r. wystawiony. Z planem tegoż Miasta [Historisch-statistische Darstellung Wiens, herausgegeben 1815 mit einem Plan von Wien], Warszawa 1821, elektronische Version des Buches: [https://polona .pl/item/obraz-historyczno-statystyczny-wiednia-oryginalnie-1815-r-wystawiony-z-planem -tegoz,MTc2MTYxNg/2/#info:metadata], eingesehen 31.8.2020. Jarosław Ławski, Fürst Edward Lubomirski und die literarischen Früchte seines Aufenthalts in Wien, in: Jahrbuch des Wissenschaftlichen Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien 4 (2013), S. 193 – 210.

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Einleitung

Politik gegenüber den polnischen Eliten Galiziens. Der letzte Beitrag von Leszek Kuk (Universität Thorn/Toruń) setzt gewissermaßen die Erörterungen des letzten Teils des Beitrages von Hans Henning Hahn fort und analysiert die Bestimmungen des Wiener Kongresses in der polnischen Frage vor dem Hintergrund der gesamten Teilungsepoche von der dritten Teilung Polen-Litauens (1795) an bis zur Entstehung des unabhängigen Polens nach dem Ersten Weltkrieg (1918). Alle in diesem Band publizierten Beiträge behandeln das Thema selbstverständlich nicht erschöpfend. Sie spiegeln jedoch die unterschiedlichen Sichtweisen auf die „polnische Frage“ während des Wiener Kongresses sowie insbesondere dessen diesbezügliche Bestimmungen wider. Ziel der Tagung sowie dieses Bandes ist es, zum einen zur Erweiterung der Kenntnisse über die „polnische Frage“ während des Wiener Kongresses beizutragen, die oft vor allem als „sächsisch-polnische Frage“ wahrgenommen wird, wobei dies klar auf jene Aspekte beschränkt wird, die gewissermaßen „rein polnisch“ sind und mit den Folgen der Teilungen sowie mit den an der Wende des 18. zum 19. Jahrhunderts beginnenden Prozessen im polnischen nationalen Leben verbunden sind. Zum anderen ist es das Ziel der vorliegenden Publikation, die Forschungsergebnisse polnischer Historiker (Czubaty, Kuk), die Forschungsergebnisse der sich mit der Geschichte Polens beschäftigenden Historiker weiterer Länder (Hahn, Řezník) sowie die Forschungsergebnisse von Wissenschaftlern aus Österreich (Schneider, Stauber, Telesko) zu vereinen. Schneider und Stauber nahmen an den wichtigsten österreichischen Projekten über den Wiener Kongress anlässlich dessen 200-jährigen Jubiläums teil8. An der Tagung nahm auch Brigitte Mazohl, zum damaligen Zeitpunkt Präsidentin der philologisch-historischen Klasse der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, als Moderatorin und Diskutantin, teil, sie leitete u. a. das Projekt „Der Wiener Kongress und die Presse“. Werner Telesko war einer der Kuratoren der Ausstellung „Europa in Wien. Der Wiener Kongress 1814/1815“ im Schloss Belvedere im Jahr 2015. Die Vielfalt der Forschungs- und Analyseansätze wird umso deutlicher, da die Autoren ihre konkreten Themenfelder im Kontext der allgemeinen Darstellung und Bewertung der Bestimmungen des Wiener Kongresses im Hinblick auf die polnische Frage analysieren. Vor diesem Hintergrund ist es ein Ziel der vorliegenden Publikation, neue Sichtweisen auf dieses Thema zu eröffnen. Auf die Beiträge folgt ein Quellenanhang. Aus dem umfangreichen Werk von Edward Lubomirski wurde wie bereits erwähnt das Kapitel über den Wiener Kongress ausgewählt, wodurch die Thematik durch eine zeitgenössische Stimme veranschaulicht werden soll. Dieser Quellenanhang gilt jedoch gewissermaßen auch als Pars pro Toto, um zur Lektüre des Werks von Lubomirski einzuladen. 8



Reinhard A. Stauber, Der Wiener Kongress, Köln, Weimar, Wien 2014; Karin Schneider, Eva Maria Werner, Brigitte Mazohl, Europa in Wien. Who is Who beim Wiener Kongress 1814/15, Wien, Köln, Weimar 2015.

Einleitung

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Das Buch des jungen polnischen Aristokraten ist weniger ein klassischer Stadtführer, sondern vielmehr eine Art Reportage über die Stadt an der Donau und deren Bevölkerung, Gesellschaft, Kultur und vieles mehr. Darüber hinaus stellt er einen sehr interessanten Beitrag zur Geschichte Wiens dar, der im polnischen Original sowie vor allem in einer deutschen Übersetzung wiederaufgelegt werden sollte. Dem Kapitel über den Wiener Kongress gehen ein einführender Beitrag von Jaro����� sław Ławski sowie eine kurze Darstellung Wiens während dieser Epoche, verfasst von Ferdinand Opll (Direktor des Wiener Stadt- und Landesarchivs i.R.), voran. Hauptaufgabe des Wissenschaftlichen Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien, dem ich in der Zeit von 2007 – 2019 als Direktor vorstand, ist es, die Errungenschaften, Leistungen und Erkenntnisse der polnischen Wissenschaft in Österreich und darüber hinaus bekannt zu machen sowie die internationale wissenschaftliche Zusammenarbeit zu fördern. Frau Univ.-Prof. Dr.  Brigitte Mazohl danke ich für die Unterstützung des Projekts und für die Möglichkeit, den im Zuge des Projekts entstandenen Tagungsband im Verlag der Österreichischen Akademie der Wissenschaften veröffentlichen zu dürfen. Univ.-Prof. Dr. Michael Gehler sowie Univ.-Prof. Dr. Wolfgang Mueller danke ich für die Annahme der vorliegenden Publikation für die Reihe „Internationale Geschichte/International History“. Meinem Nachfolger, Herrn Prof. Arkadiusz Radwan��������������������������������������������������������������������� , dem gegenwärtigen Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien, danke ich für seine Unterstützung bei der Finalisierung dieser Publikation. Um die Publikation des Bandes kümmerte sich im Zentrum von Beginn an Frau Mag. Irmgard Nöbauer, die den Band auch sehr sorgfältig lektorierte. Zwei polnischsprachige Beiträge (Czubaty und Kuk) und – was eine besondere Herausforderung darstellte – den Quellentext von Edward Lubomirski hat Frau Mag. Joanna Ziemska (Universität Wien) ins Deutsche übersetzt. Der Beitrag von Jarosław Ławski wurde von Frau Pauli������ na Górak ins Deutsche übersetzt. Für die Lektorierung der englischsprachigen Abstracts danke ich Frau Mag. Malwina Talik (Wien) und Herrn Prof. Matthew F. Stevens (Swansea University). Für die sorgfältige Vorbereitung des Buchsatzes dieser Publikation und die Erstellung der Register danke ich Herrn Max Szot sehr herzlich. Für all deren Arbeit und Engagement möchte ich sehr herzlich danken. Bogusław Dybaś

Jarosław Czubaty

Die Situation der polnischen Gebiete während des Wiener Kongresses Im Frühjahr 1814 ging die napoleonische Ära in der polnischen Geschichte zu Ende. Ein Jahr später begleitete zwar eine Schwadron der polnischen leichten Kavallerie Napoleon bei seiner Rückkehr von der Insel Elba und kämpfte bei Waterloo, jedoch beendete die erste Abdankung des Kaisers der Franzosen am 6. April 1814 de facto alle Versuche der Wiedererrichtung eines polnischen Staates unter der Ägide Napoleons. Die Generäle, welche die restlichen Truppen befehligten, wurden von Napoleon mit ehrenhaften wohlgeformten Worten entlassen und wandten sich auf seinen Rat hin an den „Agamemnon der Könige“, den russischen Zaren Alexander I., mit der Bitte um Erlaubnis zur Rückkehr der Einheiten in die Heimat und um Unterstützung bei der Wiederherstellung des polnischen Staates. Für eine symbolische Trennung zwischen zwei Zeitabschnitten in der Geschichte des geteilten Polens sind zwei Episoden charakteristisch: Am 20. April 1814 waren polnische Kavalleristen der Garde Napoleons im Hof des Schlosses von Fontainebleau Zeugen, als sich der Kaiser von der Elite seiner Armee verabschiedete. Vier Tage später nahm Alexander I. bei Paris eine Inspektion der polnischen Truppen vor: „Entlang der Soldatenreihen herrschte völlige Stille. Als etwas später General Jan Krukowiecki rief: ‚Es lebe Zar Alexander!‘, folgten nur wenige seinem Beispiel.“ Die Versöhnung zwischen den noch vor Kurzem Verfeindeten erwies sich als schwierig. Trotz größter Höflichkeit auf beiden Seiten kam es oft zu peinlichen Situationen. Erwähnt sei hier nur der wahrlich soldatische Mangel an Einfühlungsvermögen für die Situation von Oberst Józef ������������������������������������������������������������������������� Dwernicki���������������������������������������������������������������� . Im Bestreben, die gute Ausbildung seiner Kavalleristen zu präsentieren, befahl er ihnen plötzlich einen fiktiven Angriff auf den Stab des Zaren. Und „aus dem Gesichtsausdruck war zu schließen […], dass diese Überraschung auf alle nicht den besten Eindruck machte“, so ein Zeuge des Vorfalls1. Der russische Herrscher weckte jedoch bei den napoleonischen Veteranen Hoffnungen, als er über seine Absicht sprach, den alten Plan der Wiedererrichtung Polens unter seiner Herrschaft verwirklichen zu wollen. Die Rede des Zaren bot jedoch keinerlei politische Garantien, und die widersprüchlichen Interessen der europäischen Großmächte, die Gegenstand der Beratungen des Wiener Kongresses 1



Aleksander Fredro, Trzy po trzy. Pamiętniki z epoki napoleońskiej [Allerlei Gerede. Memoiren aus der napoleonischen Ära], Warszawa 1957, S. 67 – 68.

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Jarosław Czubaty

werden sollten, hatten zur Folge, dass die Zukunft der sogenannten polnischen Frage nicht viel Platz für Optimismus bot. Auch bei den an öffentlichen Angelegenheiten interessierten Bewohnern der Gebiete des ehemaligen Polens herrschte Unsicherheit. An dieser Stelle muss erwähnt werden, dass ich, wenn ich von den „polnischen Gebieten“ an der Schwelle des 19. Jahrhunderts schreibe, diesen Begriff so verwende, wie ihn die Zeitgenossen verstanden. Für diese war es selbstverständlich, dass es sich um das polnische Territorium vor der ersten Teilung Polens im Jahr 1772 handelte. Ein solches Staatsgebiet war sozusagen eine Maximalforderung bei allen Konzepten der Wiedererrichtung Polens, die an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert überlegt wurden. Allfällige Korrekturen der Staatsgrenzen aus der Zeit vor den Teilungen wurden lediglich als notwendige, aber nicht gewünschte Zugeständnisse betrachtet, die die politische Situation erzwang. Ein Teil der europäischen politischen Eliten hatte im Übrigen eine ähnliche Vorstellung vom polnischen Territorium. Es ist bemerkenswert, dass noch während der Beratungen des Wiener Kongresses die britischen Diplomaten versuchten, die Bestrebungen Alexanders I. zum Wiederaufbau eines territorial beschnittenen Königreichs Polen zu verhindern und den Vorschlag machten, den polnischen Staat in seinen Grenzen von vor 1772 wieder erstehen zu lassen, welcher für Russland, Preußen und Österreich unannehmbar war. Für das Verständnis der Situation, in der sich die polnischen Gebiete während des Wiener Kongresses befanden, hatte die Entwicklung der politischen Lage und der Kriegslage in den Jahren 1812 –1813 eine Schlüsselbedeutung. Der Krieg Napoleons gegen Russland von 1812 schürte bei den Polen größte Hoffnungen auf die Wiedererrichtung ihres Staates. Die Armee des Herzogtums Warschau, polnische Regimenter im Dienste Napoleons und polnische Einheiten, die in Litauen entstanden waren, zählten insgesamt ca. 100.000 Soldaten und stellten zahlenmäßig die zweitgrößte nationale Truppe der Grande Armée dar. Das Kriegsgeschehen war von politischer Tätigkeit begleitet. Bei der am 28. Juni in Warschau einberufenen außerordentlichen Sitzung des Sejm wurde die Wiedererrichtung Polens proklamiert und eine Generalkonföderation des Königreich Polens ernannt, die die Maßnahmen zur Wiederherstellung des polnischen Staates koordinieren sollte. In den von der Grande Armée in Litauen besetzten Gebieten wurde eine Übergangsregierung eingesetzt, die in einem feierlichen Akt den Beitritt Litauens zur Konföderation bestätigte2. Außerhalb der Einflusssphäre Napoleons blieben hingegen das weiterhin unter österreichischer Herrschaft stehende Ostgalizien sowie Wolhynien, Podolien und ein Teil der Ukraine, wo sich die napoleonischen Heere nur für kurze Zeit haben blicken lassen. Man rechnete jedoch damit, dass es Napoleon gelingen würde, mit den Habsburgern die Übergabe Galiziens an 2



Dariusz Nawrot, Litwa i Napoleon w 1812 r. [Litauen und Napoleon 1812] (Prace Naukowe Uniwersytetu Śląskiego w Katowicach, Bd. 2589), Katowice 2008, S. 142 –150, S. 335 – 337.

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die Polen auszuhandeln, im Gegenzug zur Rückgabe der Illyrischen Provinzen, und dass der Sieg über Russland die Rückkehr seiner ehemaligen südöstlichen Gebiete zu Polen zu Folge haben würde. Anscheinend legte man damals weniger Augenmerk auf die Situation jenes Teiles des polnischen Staates, der in Folge der ersten Teilung unter preußische Herrschaft gelangt war und nach 1807 außerhalb der Grenzen des Herzogtums Warschau blieb. Dies bedeutete jedoch nicht, dass man den Anspruch auf diese Gebiete aufgegeben hatte, sondern resultierte vielmehr aus der Überzeugung, dass nach einer Niederlage Russlands die Friedensverhandlungen zu einer grundlegenden Rekonstruktion der politischen Karte führen würden, mit Berücksichtigung auch dieser Frage, umso mehr, als das zu einem Bündnis mit Napoleon gezwungene Preußen sich für Polen günstigen Lösungen nicht entgegenstellen würde3. Die Niederlage der Grande Armée in Russland hatte zur Folge, dass ähnliche Überlegungen in den Bereich politischer Träume eingingen. Im Dezember 1812 besetzte die russische Armee erneut Litauen und drang bis an die Grenzen des Herzogtums Warschau vor. Im Jänner überschritt sie diese Grenzen und besetzte einen beträchtlichen Teil des Gebietes. Der von den napoleonischen Kräften kontrollierte Bereich beschränkte sich auf einige Festungen, die von polnischen und französischen Einheiten verteidigt wurden, sowie auf die Umgebung von Krakau, wo sich die polnische Armee konzentrierte, die Fürst Józef Poniatowski neuerlich aufgestellt hatte. Im Mai schrumpfte das Einflussgebiet Napoleons neuerlich. An die 20.000 polnische Soldaten unter dem Befehl von Fürst Poniatowski marschierten nach Sachsen, um die Grande Armée bei den erwarteten Feldzügen gegen die Alliierten zu unterstützen. Mit ihnen verließ der Ministerrat des Herzogtums das Land. Die Niederlage Napoleons bei Leipzig (16. –19. Oktober) und der Rückzug des Kaisers nach Frankreich machten die Hoffnungen auf einen neuerlichen Marsch der Grande Armée gegen Osten zunichte. In den folgenden Monaten kapitulierten die der Hoffnung auf einen Entsatz beraubten Festungen von Zamość (25. November) und Modlin (1. Dezember). Das gesamte Territorium des Herzogtums Warschau, das formal gesehen weiterhin unter der Herrschaft des von der siegreichen Koalition gefangen gehaltenen Königs Friedrich August von Sachsen stand, befand sich nunmehr unter russischer Besatzung 4. 1813 und 1814 entwickelte sich die Lage der polnischen Gebiete nach einem Szenario, das große Befürchtungen bei den Befürwortern der Wiedererrichtung eines selbstständigen Staates erweckte. Obwohl Alexander I. nach der Besetzung Litauens Maßnahmen zu setzen begann, um die Herzen der Polen für sich zu 3



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Marian Kukiel, Wojna 1812 r., t. 1 [Der Krieg von 1912, Bd. 1], Kraków 1937, S. 71– 78. Jarosław Czubaty, Ein Kampf um soldatische Ehre oder eine politische Chance? Die Polen in der Völkerschlacht von 16. bis 19. Oktober 1813, in: Die Völkerschlacht bei Leipzig. Symposium 8. November 2013 (Acta Austro-Polonica, hg. v. Heeresgeschichtlichem Museum, Bd. 6), Wien 2014, S. 125 –144.

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gewinnen und am 24. November 1812 eine Amnestie für polnische Untertanen erließ, die auf einen weiteren Kampf an der Seite Napoleons verzichteten, so beeinflusste die Lage in der Provinz dennoch vor allem die den Polen gegenüber feindliche Vorgangsweise der russischen Generäle und Obersten, die eine breit angelegte Verhaftungswelle und Deportationen weit ins russische Gebiet anordneten. Betroffen davon waren Personen, die pro-napoleonische Aktivitäten gesetzt hatten oder die verdächtig wurden, entlaufenen Kriegsgefangenen Hilfe geleistet zu haben. Die Vermögen und Güter derjenigen, die die Amnestie nicht in Anspruch nahmen, kamen unter die vorübergehende Verwaltung des Staates, wodurch die Eigentümer in der Regel große Verluste hinnehmen mussten. Zu den polizeilichen Repressalien kamen für die Adeligen schmerzhafte Abgaben von Naturalien und Geldmitteln hinzu, da sie die zahlreichen russischen Truppen erhalten mussten, sowie von niedrigeren Chargen angeordnete Requirierungen oder auch schlichtweg Plünderungen von Gütern jener, die früher für Napoleon gewesen waren. Manchmal nahmen diese Plünderungen ungeheure Ausmaße an, so hatte Fürst Dominik Radziwiłł, Oberst der Kavalleristen in der Garde Napoleons, enorme Verluste zu tragen, die auf mehrere Millionen Rubel geschätzt wurden. Die Verluste Litauens infolge des Durchmarsches der Grande Armée und später durch die Repressalien der russischen Verwaltung waren gleich hoch wie das Steueraufkommen der Provinz von 10 Jahren aus der Zeit vor 1812. Die verschärfte Polizeiüberwachung, die einem Machtmissbrauch gegenüber Personen, die einer feindlichen Einstellung zu Russland verdächtigt wurden, Tür und Tor öffneten, wurde auch in anderen polnischen Gouvernements des Zarenreiches angewandt, wo die napoleonischen Heere nicht einmarschiert waren5. Eine verstärkte Polizeiaufsicht der polnischen Untertanen übten auch die österreichischen Behörden in Ostgalizien aus, obwohl es dort keine Anzeichen für irgendeinen sichtbaren Widerstand seitens der Bevölkerung gab. Die österreichischen Beamten waren – nicht ganz unbegründet – von der Abneigung des polnischen Adels und eines Teils des Bürgertums gegenüber der Herrschaft der Habsburger überzeugt. Diese Abneigung war stark, wenn sie auch nicht öffentlich artikuliert wurde. Einer der Kreishauptmänner stellte fest: „Der Pole (…) ist ruhig und zurückhaltend in seinen Aussagen, denn er weiß, dass die Regierung alle seine Worte und Taten mit der größten Aufmerksamkeit verfolgt.“ 1813 befürchteten die österreichischen Behörden ernsthaft einen polnischen Aufstand. Eine Gegenmaßnahme für die spürbare antihabsburgische Haltung der Polen sollten Aktionen sein, die die Bevölkerung auch nur zu scheinbarer Loyalität zwingen sollten. Dazu gehörte die von den Behörden erzwungene Sammlung „freiwilliger“ Spenden für die österreichische Armee. Im Juli 1814 wiederum traf bei Kaiser Franz I. in Wien eine Delegation von Polen aus Galizien ein, die im Namen ihrer Landsleute ihre Freude über den Sieg der Koalition gegen Napoleon zum 5



Nawrot, Litwa i Napoleon, S. 643 – 694.

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Ausdruck brachte. Unter den von den Behörden ernannten Delegierten befanden sich bei ihren Landsleuten nicht besonders beliebte Adelige, die für ihre Loyalität gegenüber den Österreichern bekannt waren. Ihr Auftreten wurde nicht wirklich als repräsentativ für die Einstellung in der polnischen Provinz des Habsburgerreiches angesehen. Zu gleicher Zeit war nämlich die österreichische Verwaltung über Informationen beunruhigt, dass sich unter den Polen die Hoffnung auf einen Krieg Russlands gegen Österreich breit machte, infolgedessen Ostgalizien jenen polnischen Gebieten angeschlossen würde, die bereits unter der Herrschaft Alexanders I. standen6. Die Aufmerksamkeit aller an der Wiedererrichtung des polnischen Staates Interessierten zog hingegen vor allem die Situation im Herzogtum Warschau auf sich. Trotz der russischen Besatzung und der Niederlagen Napoleons bei Leipzig und dem Feldzug von 1814 blieb das Herzogtum formal weiterhin ein souveräner Staat unter der Herrschaft des Königs von Sachsen und alle Versuche, diesen Status zu ändern, bedurften eines Übereinkommens der siegreichen Mächte. Dies bedeutete die Notwendigkeit einer Aufnahme von Verhandlungen über die sogenannte „polnische Frage“, welche nach der dritten Teilung Polens im Jahre 1795 von der Liste der von den europäischen Diplomaten behandelten Themen ein für alle Mal gestrichen zu sein schien. Die polnischen politischen Eliten kannten die vertraulichen Versicherungen Alexanders I. über seine Absicht, zur Idee der Wiedererrichtung Polens zurückzukehren. Die Lage im Herzogtum konnte daher als Prüfstein für die Ehrlichkeit der Absichten des russischen Herrschers gegenüber den Polen dienen. Aus dieser Perspektive gab der reale Alltag der russischen Besatzung im Herzogtum keinen Grund für Optimismus. Der monatelange Widerstand der belagerten Festungen im Jahr 1813 sowie die Nachrichten von den Kämpfen polnischer Truppen an der Seite Napoleons hielten die pro-napoleonischen Sympathien bei den Polen aufrecht. Bestärkt wurden sie durch die Vorgangsweise der russischen Generäle, für die das Herzogtum als unmittelbares Hinterland des Kriegsgeschehens diente. Die Militärs aller in den Jahren 1806 –1813 auf polnischen Gebieten operierenden fremden Streitkräfte verlangten von den Bewohnern dasselbe: Quartiere, Essen, Pferde und Geld. In der Regel vollstreckten sie ihre Forderungen weniger rücksichtslos als die Russen, die die Beteiligung der Polen am Zug gegen Moskau noch frisch in Erinnerung hatten. Das Land, das durch die Vorbereitungen auf den Krieg von 1812 und die späteren Kosten für die Wiederaufstellung der Armee erschöpft war, fiel nun einer organisierten Plünderung zum Opfer. Die Zivilbevölkerung, für die die Erhaltung der 60.000 Mann zählenden Armee des Herzogtums eine große Belastung war, wurde verpflichtet, 6



Wacław Mejbaum, Galicja po klęsce Napoleona w r. 1812 (1813 –1814) [Galizien nach der Niederlage Napoleons im Jahr 1812 (1813 –1814)], in: Biblioteka Warszawska (1913), Bd. 2 (290), S. 105 –106, 108 –109, 117, 125.

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die Bedürfnisse von Truppen zu decken, die 300.000 Personen und 70.000 Pferde zählten – und das bei von den russischen Befehlshabern festgelegten höheren Essensrationen. Zu dem Unglück, die Armee versorgen zu müssen, kamen aus eigenem Antrieb angeordnete Requirierungen und Missbräuche der niedrigeren Chargen sowie Gewaltakte und Plünderungen ihrer Untergebenen hinzu. Dazu gab es Repressalien gegenüber den Widerstrebenden und gegenüber jenen, die verdächtigt wurden, Waffen oder aus den napoleonischen Einheiten geflohene Kriegsgefangene zu verstecken. Zuweilen wurden Bürger des Herzogtums, die einer anderen Gesinnung verdächtigt wurden, tief in das Landesinnere Russland verbracht oder rechtswidrig der russischen Armee einverleibt. In einigen Fällen führte dies zu Reibereien zwischen der Zivilbevölkerung und den Soldaten. Wie angespannt die Situation in Polen war, zeigte sich auch darin, dass im Frühjahr 1813 die russischen Militärbehörden Gerüchte über einen Aufstand, der zum Jahrestag des Kościuszko-Aufstands von 1794 in Warschau ausbrechen sollte, sehr ernst nahmen7. Formal hatte der am 13. März 1813 von Alexander I. einberufene Provisorische Höchste Verwaltungsrat die zivile Herrschaft inne. Diesem gehörten auch zwei Polen an, Tomasz Wawrzecki und Franciszek Ksawery Drucki-Lubecki, die aus dem russischen Teilungsgebiet stammten und als Befürworter der Wiedererrichtung Polens unter russischem Zepter bekannt waren. Lange Zeit jedoch konnte der Rat die Raubzüge höherer russischer Befehlshaber nicht verhindern, da diese in dienstlicher Hinsicht dem Oberbefehl der russischen Armee unterstanden8. Die russische Besatzung des Herzogtums Warschau bot jedoch eine gute Gelegenheit für Aktivitäten zugunsten einer politischen Option, die der pro-napoleonischen Ausrichtung entgegenstand. Es war dies eine kleine Gruppe von Polen aus dem russischen Teilungsgebiet mit Fürst Adam Jerzy Czartoryski an der Spitze. Der alte Freund Alexanders I. und sein ehemaliger Außenminister war seit Jahren ein Befürworter der Wiedererrichtung Polens unter dem Schutz des russischen Herrschers. Die Anwesenheit der russischen Truppen im Herzogtum erleichterte die Förderung von Maßnahmen zur Realisierung dieses Plans. 7



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Jarosław Czubaty, Księstwo Warszawskie (1807 –1815) [Das Herzogtum Warschau 1807 –1815)], Warszawa 2011, S. 526 – 527; Jacek Przygodzki, Rada Najwyższa Tymczasowa Księstwa Warszawskiego 1813 –1815. Organizacja i działalność [Der Höchste Provisorische Staatsrat des Herzogtums Warschau 1813 –1815. Organisation und Wirken], Wrocław 2002, S. 40 – 47; Rafał Kowalczyk, „Polityka solna” w Księstwie Warszawskim w latach 1807 –1815 [„Salzpolitik“ im Herzogtum Warschau in der Zeit von 1807 –1815], in: Przegląd Historyczny 100 (2009), H. 4, S. 777 – 778; vgl. auch Natalia Gąsiorowska, Rekwizycje w Księstwie Warszawskim okupowanym przez Rosję w r. 1813 –1815 ������������������������������������������������������� [Requisitionen im von Russland besetzten Herzogtum Warschau in der Zeit von 1813 –1815], in: Likwidacja ����������������������������������������������������� skutków wojny w dziedzinie stosunków prawnych i ekonomicznych w Polsce, t. 2 [Die Beseitigung der Kriegsfolgen im Bereich rechtlicher und wirtschaftlicher Beziehungen in Polen, Bd. 2], Warszawa 1917. Przygodzki, Rada Najwyższa, S. 50 – 58.

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Im gleichen, wenn nicht in größerem Maße verstärkte sie jedoch auch den Widerwillen oder die Skepsis der öffentlichen Meinung für diese Idee. Die Überzeugung vieler potenzieller Anhänger Alexanders I. wurde oft auf eine harte Probe gestellt, als die erste Kosakeneinheit im Herzogtum auftauchte. Der Alltag im Herzogtum unter russischer Besatzung trug oft zur Verstärkung von Haltungen bei der Bevölkerung bei, die in Fürst Czartoryski und der mit der Zeit anwachsenden Gruppe seiner Mitarbeiter eine große Unruhe hervorriefen. Für viele Zeitgenossen, darunter auch die im Land verbliebene politische Elite sowie Beamte, war es selbstverständlich, dass die Emigration der Verwaltungsbehörden und die Gefangennahme des Königs noch nicht den Niedergang des Landes bedeutete. Der sich in Warschau aufhaltende Senatsvorsitzende Tomasz Ostrowski stimmte nicht zu, dass seine Autorität für die Handlungsweise der Besatzungsbehörden missbraucht würde. Im Frühjahr 1813 lehnte er es auch trotz der Überzeugungsversuche Czartoryskis ab, sich an Alexander I. mit der Bitte um die Berufung einer Übergangsregierung für das Herzogtum zu wenden, mit der Begründung, dass die Macht im Land nach wie vor Friedrich August zustünde. Die anderen Senatoren folgten seinem Beispiel. In einer schwierigeren Lage befanden sich die Verwaltungsbeamten. Es wurde damals als selbstverständlich angesehen, dass sie die Anordnungen der Besatzungsmacht hinsichtlich der Sicherheit und der Versorgung der Truppen in allen europäischen Staaten befolgten. Zu Beginn des Jahres 1813 hielten sich jedoch viele Beamte nicht mehr an ihre Pflichten. Sie fühlten sich von den russischen Truppen bedroht, befürchteten einen Konflikt zwischen der Loyalität gegenüber dem König und den Forderungen der neuen Machthaber, vielleicht empfanden sie auch einen Widerwillen gegen die rücksichtslosen Anordnungen der russischen Militärbehörden. Die Situation der Beamten erschwerte die deutlich sichtbare Tendenz beim Provisorischen Höchsten Verwaltungsrat, die vorübergehende russische Besatzung des Herzogtums in eine tatsächliche Herrschaft Alexanders I. umzuwandeln. Diesem Zweck sollte eine Anordnung dienen, die neue Amtssiegel einführte oder – wie im Falle der Gerichte – neue Eingangsformeln bei Urteilen, die nunmehr im Namen des Provisorischen Höchsten Verwaltungsrats ergehen sollten. Der Befehl, der im Widerspruch zu dem Recht stand, welches den Richtern befahl, im Namen Friedrich Augusts Urteile zu fällen, rief einen Protest des Präsidiums des Appellationsgerichts des Herzogtums hervor. Im Juli 1813 richtete es an den Provisorischen Höchsten Verwaltungsrat und an Alexander I. selbst ein Ersuchen um Abberufung. Die Richter drohten mit einem kollektiven Rücktritt, sollte die kontroversielle Vorschrift in Kraft bleiben, und führten an, dass die Herrschaft Friedrich Augusts durch keinen Rechtsakt annulliert wäre und die Beamten daher an den dem König geleisteten Treueeid gebunden seien. Darüber hinaus müssten sie „durch eindeutiges Verhalten einen Beweis für ihre Sorge um den Gehorsam dem König und dem Recht gegenüber liefern“. Der Protest des Appellationsgerichts und der Gerichte in den Provinzen wurde von

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den Militärbehörden unter Androhung von Haftstrafen für die Widerspenstigen gebrochen9. Solche Haltungen der Beamten und Richter erschwerten weitgehend die Pläne Czartoryskis, der sich darum bemühte, im Land gewisse Formen einer Demonstration der Unterstützung für Alexander I. zu arrangieren, was den Zaren von der Sympathie der Polen überzeugen und ihm ein zusätzliches Argument bei den Verhandlungen mit den europäischen Mächten liefern sollte. Viele Monate hindurch zeigten die Versuche einer Aufstellung verschiedener Bürgerräte und Unterstützungskomitees für den russischen Herrscher keine bedeutenderen Erfolge. Die zur Teilnahme eingeladenen hervorragenden Persönlichkeiten – Senatoren, Bischöfe, Staatsräte –, soweit sie einer solchen politischen Aktivität zustimmten, pflegten zu betonen, dass sie nach wie vor Friedrich August als dem rechtmäßigen Herrscher zur Treue verpflichtet seien. Es scheint, dass ihre Einstellung nicht nur aus der Verbundenheit mit dem rechtmäßigen König resultierte. Angesichts der unsicheren Zukunft des Staates war die Betonung der legitimen Herrschaft Friedrich Augusts eine deutliche Zurschaustellung der Befürwortung der Existenz des Herzogtums als eines eigenständigen politischen Gebildes und der dort herrschenden verfassungsmäßigen Ordnung10. Eine eindeutige Änderung der Einstellung und der Stimmung erfolgte erst bei der Nachricht von der Abdankung Napoleons und den Ereignissen, die danach folgten. Alexander I. stimmte einer Rückkehr der polnischen Truppen zu und unterstellte sie dem Befehl seines Bruders Großfürst Konstantin. Die polnischen Einheiten marschierten im Herzogtum als ein trauriger Leichenzug ein, der den Leichnam von Fürst Józef Poniatowski eskortierte, welcher in Leipzig exhumiert worden war. Die Genehmigung des Zaren zur feierlichen Bestattung des Fürsten in Polen wurde als ein klares Signal aufgenommen, dass sich der russische Herrscher darum bemühen würde, die Herzen der Polen zu erobern11. Auf seinen Befehl hin wurden auch polnische Kriegsgefangene entlassen, zumindest diejenigen, die zuvor nicht in die russische Armee einverleibt worden waren. Eine weitere Entscheidung, welche die in Alexander I. als dem neuen Unterstützer der polnischen Frage gelegten Hoffnungen stärkte, war die Berufung eines Militärkomitees mit acht polnischen Generälen mit Jan Henryk Dąbrowski an der Spitze am 15. Mai 1814.   9

Czubaty, Księstwo Warszawskie, S. 528 – 531. Jarosław Czubaty, Zasada „dwóch sumień”. Normy postępowania i granice kompromisu politycznego Polaków w sytuacjach wyboru ��������������������������������������������������� (1795 –1815) [Der Grundsatz „zweier Gewissen“. Verhaltensnormen und die Grenzen des politischen Kompromisses der Polen in Wahlsituationen (1795 –1815)], Warszawa 2005, S. 631– 636. 11 Vgl. Małgorzata Żbikowska, Nabożeństwa żałobne po śmierci księcia Józefa Poniatowskiego. Rytuał a mit [Gedenkfeiern nach dem Tod von Fürst Józef Poniatowski. Ritual und Mythos], in: Francja – Polska XVIII – XIX w. [Frankreich – Polen, 18. –19. Jhdt.], Warschau 1983, Henryk Mościcki, Pozgonna cześć dla księcia Józefa (pogrzeb – pomniki – pieśń i legenda) [Posthume Ehre für Fürst Józef (Bestattung – Denkmäler – Lieder und Legende)], Warszawa 1922. 10

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Das Komitee sollte möglichst schnell ein neues polnisches Heer mit 40.000 Mann aufstellen. Alexander I. war sich dessen bewusst, dass die Meinungsverschiedenheiten über die Aufteilung der polnischen Gebiete während der Beratungen beim Wiener Kongress die Verhandlungspartner an den Rand eines Krieges führen könnten. Er wollte daher noch ein zusätzliches politisches und militärisches Argument in Form eines gut ausgebildeten polnischen Heeres an der Hand haben. Im Herbst 1814 richtete eine Gruppe polnischer Offiziere an Dąbrowski einen Appell mit der Bitte um Klärung der sie quälenden Zweifel hinsichtlich des Status des sich formierenden Heeres, denn „nur unsere eigene Heimat hat das Recht auf das Opfer unseres Blutes“. Sie befürchteten sichtlich, dass ihre Bemühungen zur Bildung polnischsprachiger Einheiten der russischen Armee führen würden und nicht zur Bildung einer Nationalarmee. Angesichts der aus Wien kommenden Nachrichten über die immer größer werdenden Meinungsverschiedenheiten zwischen den Großmächten hinsichtlich der polnischen Frage beschloss man jedoch die Arbeiten an der Aufstellung der Armee fortzusetzen12. Auch die Aktivitäten Czartoryskis in der Zivilbevölkerung zogen immer weitere Kreise und zogen allmählich die bedeutendsten Persönlichkeiten aus der politischen Elite an. Im Mai 1814 berief Alexander I. auch ein Ziviles Reformkomitee, das eine Änderung des Rechts, der Verwaltung und der Finanzen des Staates vorbereiten sollte. Die Arbeiten des Komitees wurden vom Vorsitzenden des Senats Tomasz Ostrowski geleitet, der von den Anhängern Napoleons als moralische Autorität betrachtet wurde und sich noch 1813 konsequent von den Aktivitäten Czartoryski distanziert hatte. Die Sympathien für Napoleon schwanden keineswegs. Sie herrschten weiterhin vor – bei radikalen jungen Menschen, niedrigeren Offizieren oder alten Haudegen, also in Kreisen, die nicht gezwungen waren, in Kategorien des politischen Realismus zu denken. Im Allgemeinen erfolgte die Übertragung der politischen Hoffnungen und der Bereitschaft zur Loyalität auf den neuen Schutzherrn Alexander I. relativ rasch, obwohl hier nicht derselbe Enthusiasmus zu spüren war wie seinerzeit beim Kaiser der Franzosen. Die Akzeptanz der pro-russischen Orientierung empfanden die einen als traurige Notwendigkeit, die anderen als einen Akt der politischen Vernunft. Die Wahl Alexanders zum neuen „Erlöser“ der Heimat schien selbstverständlich, andere Kandidaten für die von den Polen erträumte Rolle gab es nicht. Aus den politischen Debatten und aus dem öffentlichen Leben schwanden nahezu die Argumente über die Notwendigkeit der Treue gegenüber Friedrich August, obwohl der sächsische Herrscher seine polnischen Untertanen erst im Juni 1815 vom Treueeid entband13. Diese Änderung der Einstellung zur Treuepflicht lässt den Schluss 12

Wacław Tokarz, Komitet Organizacyjny Wojskowy (1814 –1815) [Das Kriegsorganisationskomitee (1814 –1815)], in: Bellona (1919), H. 11, S. 848 – 849; Ders., Armia Królestwa Polskiego [Die Armee des Königreichs Polen], Piotrków 1917, S. 21, S. 26 – 28. 13 Czubaty, Zasada „dwóch sumień”, S. 644 – 650.

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zu, dass die im Jahr 1813 im Herzogtum bei den Beamten und Richtern häufigen Fälle der Weigerung, ihre Pflichten im Namen des Provisorischen Höchsten Verwaltungsrates auszuüben – wenngleich dies mit Treue gegenüber dem rechtmäßigen Herrscher begründet wurde – in Wirklichkeit eine Demonstration der Loyalität gegenüber Napoleon und ein Festhalten an der Idee von einem eigenen, auf einer Verfassung basierenden und von Russland unabhängigen Staat waren. 1814 wurden die in Napoleon gesetzten Hoffnungen mit der Abdankung des Kaisers zunichte. Die einzige Gewähr für die Polen, zumindest ein kleines Stück eines eigenen Staates zu bewahren, schien Alexander zu bieten. Der einstige Anhänger Napoleons, General Fürst Antoni Sułkowski, bemerkte damals mit unbestreitbarer Logik: „Unser Schicksal liegt zur Gänze in den Händen Alexanders.“14 Übersetzung: Joanna Ziemska The situation in Polish territories during the Congress of Vienna Summary This paper discusses the situation in the lands of the former Polish-Lithuanian Commonwealth during the negotiations led by the European powers at the Congress of Vienna. In the Napoleonic era this territory was regarded by the Polish political elite as a sphere of Polish political influence. The Polish state, rebuilt under Napoleon’s protection, was to be composed of lands taken by the partitioning powers in the 18th century partitions of Poland. The fall of the Napoleonic empire made the realization of such a plan impossible. All lands in which Polish administration had been established in 1806 –1812 returned to Russian or Austrian rule after Napoleon’s defeat. The territory of the Duchy of Warsaw was occupied by Russian forces. The problem is presented in the context of Polish national aspirations, the development of the military situation in Europe in 1812 –1814 and the political plans of tsar Alexander I.

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Bibliothek der Poznańskie Towarzystwo Przyjaciół Nauk [Posener Gesellschaft der Freunde der Wissenschaften], Handschrift Nr. 1370; Listy Antoniego Pawła Sułkowskiego do ����������� Ewy Sułkowskiej 1812 –1814 [Briefe von Antoni Paweł Sułkowski an Ewa Sułkowska 1812 –1814], Brief aus Posen vom 15.4.1814.

Karin Schneider

Die polnische Frage am Wiener Kongress: Politische Akteure, „pressure groups“ und ihre Bemühungen um die Restauration des Königreichs Polen Die wichtigsten europäischen Herrscher, Staatsmänner und Diplomaten versammelten sich im September 1814 in Wien, um einen Schlussstrich unter die Umwälzungen der Napoleonischen Zeit zu setzen. Im Verlauf von etwa neun Monaten schufen sie die bedeutendste europäische Friedensordnung des 19. Jahrhunderts1 und verhandelten eine politische und territoriale Ordnung Europas, die in ihren Grundzügen bis zum Ende des Ersten Weltkriegs fortbestand2. Einer der zentralen Konfliktpunkte des Wiener Kongresses betraf das Gebiet des Ende des 18. Jahrhunderts zwischen Österreich, Preußen und Russland aufgeteilten Polen-Litauen. Über die Grenzziehungen in dieser Region wurde ebenso heftig diskutiert wie über die staatsrechtliche Form der Inkorporierung der Territorien in das preußische König- und das russische Kaiserreich. Die Auffassungen 1



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Heinz Duchhardt, Der Wiener Kongress. Die Neugestaltung Europas 1814/15, München 2013. Die Literatur zum Wiener Kongress ist in den vergangenen 200 Jahren stark angewachsen; vgl. dazu die Bibliographie in Heinz Duchhardt, Gleichgewicht der Kräfte, Convenance, europäisches Konzert. Friedenskongresse und Friedensschlüsse vom Zeitalter Ludwigs XIV. bis zum Wiener Kongreß (Erträge der Forschung, Bd. 56), Darmstadt 1976. Daher kann hier nur auf einige der wichtigsten und aktuellsten Publikationen verwiesen werden: Charles K[ingsley] Webster, The Congress of Vienna 1814 –1815, London 21934; Ders., The Foreign Policy of Castlereagh, Vol. I: 1812 –1815, Britain and the Reconstruction of Europe, London 1931; Jean de Bourgoing, Vom Wiener Kongress, Wien 21964; Heinz Duchhardt, Johannes Wischmeyer (Hgg.), Der Wiener Kongress – eine kirchenpolitische Zäsur?, Göttingen 2013; Karl Grie­wank, Der Wiener Kongreß und die europäische Restauration 1814/15, Leipzig 2 1954; Henry A. Kissinger, A World Restored. Metternich, Castlereagh, and the Problems of Peace 1812 –1822, London 1957; Josef Karl Mayr, Aufbau und Arbeitsweise des Wiener Kongresses; in: Archivalische Zeitschrift 45 (1939), S. 64 –127; Harold Nicolson, Der Wiener Kongreß oder Über die Einigkeit unter Verbündeten 1812 –1822, Zürich 1946; Adam Zamoyski, Rites of Peace. The Fall of Napoleon and the Congress of Vienna, London 2007 (deutsche Ausgabe: 1815 – Napoleons Sturz und der Wiener Kongreß, München 2014 und 22016); Mark Jarrett, The Congress of Vienna and its Legacy. War and Great Power Diplomacy after Napoleon, London 2013; Reinhard Stauber, Der Wiener Kongress (UTB, Bd. 4095), Wien, Köln, Weimar 2014; Thierry Lentz, 1815. Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas, München 2014; Brian Vick, The Congress of Vienna. Power and Politics after Napoleon, Cambridge Mass. 2014.

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Karin Schneider

insbesondere zwischen Preußen und Russland auf der einen, Österreich, Großbritannien und Frankreich auf der anderen Seite prallten heftig aufeinander, sodass sogar kurzzeitig Gerüchte über einen Krieg zwischen den ehemaligen Alliierten die Öffentlichkeit beunruhigten3. Doch nicht nur die Staatsmänner und Herrscher der europäischen Großmächte versuchten, ihre Interessen in Hinblick auf die polnischen Gebiete durchzusetzen, sondern auch polnische Akteure – Vertreter der polnischen Nation – hatten die Absicht, auf dem Wiener Kongress ihre Vorstellungen von der Zukunft eines eigenen polnischen Staates, ob souverän oder unter der Oberherrschaft Russlands, zu Gehör zu bringen. Die Möglichkeiten, die ihnen dabei zur Verfügung standen, waren bescheiden. Sie beschränkten sich im Wesentlichen auf den Aufbau von Netzwerken, Lobby-Arbeit und Antichambrieren. Von der Geheimpolizei wurden diese nationalen Ambitionen und ihre Protagonisten streng überwacht. Die nachfolgende Analyse der polnisch-nationalen Aktivitäten zeigt eine bis­ her wenig beachtete Facette des Wiener Kongresses. Die polnischen Akteure stehen stellvertretend für die zahlreichen anderen Interessensvertreter, die mit wenig oder gar keiner Protektion nach Wien kamen, deren Absichten den politischen Plänen der Großmächte entgegenstanden und deren Programme daher keine oder nur marginale Berücksichtigung auf der Agenda des Wiener Kongresses fanden4. 1. Die Ausgangslage: Das Herzogtum Warschau Die dritte polnische Teilung von 1795 radierte die letzten Überreste von Polen-Litauen von der europäischen Landkarte. Österreich, Russland und Preußen teilten jene polnischen Gebiete unter sich auf, welche von den beiden vorangegangenen Teilungen nicht berührt worden waren, und schlossen zudem 1797 einen Zusatzvertrag, um den Gebrauch des Wortes „Polen“ zu unterbinden5. Diese Maßnahme ist auf den anhaltenden und zähen Widerstand der polnischen Eliten zurückzuführen, die nicht bereit waren, sich mit den realpolitischen Gegebenheiten abzufinden. 3



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Vgl. z. B. Jarrett, Congress of Vienna, S. 113 –115. Zu dieser Gruppe zählen beispielsweise die Vertreter der 1803/06 mediatisierten Reichsaristokratie und der ehemaligen kirchlichen Herrschaftsträger sowie die Vertreter der mindermächtigen deutschen Staaten. Vgl. z. B. Heinz Gollwitzer, Die Standesherren: Die politische und gesellschaftliche Stellung der Mediatisierten, 1815 –1918. Ein Beitrag zur deutschen So­zial­ geschichte, Göttingen 21964; Michael Hundt, Die mindermächtigen deutschen Staaten auf dem Wiener Kongress (Veröffentlichungen des Instituts für europäische Geschichte Mainz, Bd. 164), Mainz 1996; Helmut Tiedemann, Der deutsche Kaisergedanke vor und nach dem Wiener Kongreß (Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte, Bd. 143), Breslau 1932. Jerzy Lukowski, The partitions of Poland: 1772, 1793, 1795, London, New York 1999; Klaus Müller (Hg.), Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses 1814/1815 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit, Bd. 23), Darmstadt 1986, S. 222 (FN); Norman Davies, Europe. A History, Oxford 1996, S. 722.

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Die Hoffnungen der Polen auf die Wiederrichtung eines polnischen Staates erhielten 1807 neue Nahrung, als Napoleon im Zuge der Friedensverhandlungen von Tilsit das Herzogtum Warschau als französischen Satellitenstaat schuf. Das neue Staatswesen bestand im Wesentlichen aus jenen Gebieten, die sich Preußen im Zuge der polnischen Teilungen einverleibt hatte; 1809 kamen jene Gebiete hinzu, die im Zuge der dritten polnischen Teilung an Österreich gefallen waren. Als Herrscher fungierte auf Wunsch Napoleons König Friedrich August I. von Sachsen. Die Wettiner waren traditionell eng mit dem Königreich Polen verbunden – so hatte die polnische Adelsrepublik dem damaligen sächsischen Kurfürsten bereits 1791 vergeblich die polnische Königswürde angeboten6. Das Herzogtum Warschau war allerdings nicht mehr als ein französischer Satellitenstaat. Napoleon regelte nicht nur Verfassung und Verwaltung, sondern forderte auch militärische Unterstützung bei seinen Feldzügen. Zwar hatten bereits vor 1807 polnische Kontingente in der französischen Armee gekämpft, doch war das Herzogtum nun zur Stellung von Truppen verpflichtet. So nahmen etwa 95.000 polnische Soldaten an der Seite Napoleons am Russlandfeldzug teil7. Damit war der Bestand dieses Staates aufs engste mit dem Kriegsglück und Kriegsgeschick Napoleons verknüpft. Folglich besiegelte die Niederlage des Korsen im Russlandfeldzug 1812 das Schicksal des Herzogtums Warschau. Russische Truppen rückten nach Westen vor und besetzten den französischen Satellitenstaat. Am 28. Februar 1813 schlossen Preußen und Russland den Vertrag von Kalisch ab. Dadurch lief der Hohenzollernstaat endgültig in das Lager der alliierten Mächte über und erhielt im ersten Geheimartikel seine Wiederherstellung nach dem Stand von 1806 in statistischer, geographischer und finanzieller Hinsicht in Aussicht gestellt. Nicht einbezogen in diese territorialen Überlegungen war allerdings das Herzogtum Warschau, das keine Erwähnung fand. Nur die Herstellung einer Verbindung zwischen altpreußischem Gebiet und Schlesien wurde zugesichert8. Damit hatte Russland vorläufig freie Hand bei der staatsrechtlichen Ausgestaltung des fraglichen Gebiets, das immer noch von zaristischen Truppen besetzt war. Die Situation änderte sich jedoch wenige Monate später: In der Konvention von Reichenbach vom 27. Juni 1813 legten Österreich, Preußen und Russland fest, 6



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Vgl. Monika Senkowska-Gluck, Das Herzogtum Warschau; in: Heinz-Otto Sieburg (Hg.), Napoleon und Europa, Köln, Berlin 1971, S. 221– 230. Arnon Gill, Freiheitskämpfe der Polen im 19. Jahrhundert. Erhebungen – Aufstände – Revolutionen, Frankfurt a. M. u. a. 1997, S. 55 – 62. Michael Erbe, Revolutionäre Erschütterung und erneuertes Gleichgewicht. Internationale Beziehungen 1785 –1830 (Handbuch der Geschichte der Internationalen Beziehungen, Bd. 5), Paderborn u. a. 2004, S. 235. Vgl. Frank W. Thackeray, Antecedents of Revolution. Alexander I and the Polish Kingdom, 1815 –1825 (East European Monographs, Bd. 67), Boulder 1980, S. 6. Georg Friedrich von Martens (Hg.), Nouveau Recueil des Traités, Bd. 3: 1808 –1818, Göttingen 1818, S. 237 – 238.

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welche Bedingungen Frankreich erfüllen musste, um einer Kriegserklärung durch die Alliierten zu entgehen. Darunter fiel auch „die Auflösung des Herzog­thums Warschau und die Vertheilung der Provinzen, die es bilden, unter Rußland, Preußen und Oesterreich, gemäß den Verfügungen, welche diese drei Mächte […] treffen werden“9. Der am 9. September 1813 unterzeichnete Vertrag von Teplitz bestätigte diese Vereinbarung, indem sich Russland, Preußen und Österreich darauf einigten, einvernehmlich über die Zukunft des Territoriums zu entscheiden10. Jenseits der Geheimdiplomatie der Großmächte hatten bereits im Frühjahr 1813 Verhandlungen über die Zukunft des Gebiets des Herzogtums Warschau begonnen. Eine einflussreiche polnische Magnatengruppe arbeitete auf ein teilautonomes Königreich Polen mit Zar Alexander I. von Russland als König hin. Das Herzogtum Warschau war zwar nur ein ungenügender Ersatz für die nationalen Hoffnungen der Polen, doch wurde es dennoch als Keimzelle eines eigenen polnischen Staates angesehen und stärkte das polnische Selbstbewusstsein11. Maßgeblich in diese Konzeption eingebunden war Adam Jerzy Fürst Czartoryski, ein enger Jugendfreund des russischen Herrschers und Mitglied einer der ältesten polnischen Adelsfamilien12. Dieses Programm, mitgetragen von einem großen Teil der polnischen Na­ tion, bildete schließlich die Grundlage der russischen Verhandlungen hinsichtlich Polens beim Wiener Kongress. Diese wurden maßgeblich von Zar Alexander und Czartoryski vorangetrieben. Doch noch weitere einflussreiche polnische Persönlichkeiten befanden sich in der österreichischen Haupt- und Residenzstadt, um ihre Vorstellungen eines polnischen Staates zur Geltung zu bringen. Es wäre eine Vereinfachung, die Vertreter der polnischen Nation als monolithischen Block mit einem gemeinsamen Interesse wahrzunehmen, das alle anderen Differenzen und Interessensgegensätze überwölbte. Bei genauer Analyse zeigt sich vielmehr die innere Fragmentierung dieser Gruppe. Verschiedene Fraktionen verfolgten unterschiedliche Ziele innerhalb des Gesamtthemas „Wiedererrichtung des Königreich Polens“, die von einem souveränen polnischen Staat bis zu einem unter russischer (oder preußischer) Oberherrschaft stehenden Staatswesen reichten. Dabei wurden verschiedene Netzwerke und Kommunikationswege genutzt. Auch persönliche Animositäten und Rivalitäten beeinflussten das Lobbying der Vertreter der polnischen Nation: Stanisław Potocki etwa machte aus seiner Abneigung gegenüber der Familie Czartoryski im Allgemeinen und   9

Wilhelm Oncken, Oesterreich und Preußen im Befreiungskriege: urkundliche Aufschlüsse über die politische Geschichte des Jahres 1813, Bd. 2, Berlin 1879 (Nachdruck: Hildesheim 1998), S. 364. 10 Ebd. S. 697 – 698. 11 Martin Broszat, Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik, Frankfurt a. M. 1972, S. 79. 12 Patricia Kennedy Grimsted, The foreign ministers of Alexander I: political attitudes and the conduct of Russian diplomacy 1801–1825 (Russian and East European Studies), Berkeley 1969, S. 104 –150; Erbe, Revolutionäre Erschütterung, S. 235.

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gegenüber Prinz Adam Czartoryski im Besonderen keinen Hehl13. Das hinderte ihn allerdings nicht daran, im Juni 1815 gemeinsam mit Czartoryski von Wien nach Warschau abzureisen14. 2. Russland, Polen und der Wiener Kongress Die Wiedererrichtung des Königreichs Polen war eines der wichtigsten Ziele Zar Alexanders I. auf dem Wiener Kongress. Das Engagement des russischen Herrschers für die polnische Nation – freilich im Rahmen seiner eigenen Großmachtpolitik – hatte eine langjährige Vorgeschichte: Seit seinem Regierungsantritt war Alexanders Polenpolitik von Rücksichtnahme für die Wünsche und Hoffnungen der geteilten Nation geprägt. So hatte er den nach den polnischen Teilungen in das russische Reich inkorporierten Gebieten weitgehende Autonomierechte in den Bereichen Sprache und Schule sowie auf der Ebene der lokalen Verwaltung zugebilligt15. Für diese imperiale Unterstützung der polnischen Nation war primär Adam Jerzy Fürst Czartoryski verantwortlich, der in den 1790er Jahren an den Hof von St. Petersburg gekommen war und dort gemeinsam mit dem Enkel von Katharina der Großen, dem späteren Zar Alexander I., erzogen wurde. Die beiden Männer verband, wie bereits erwähnt, eine enge Freundschaft, in deren Verlauf der russische Thronfolger sich zunehmend mit dem Wunsch der polnischen nationalen Eliten nach der Wiedererrichtung eines polnischen Staates identifizierte16. Bereits 1805 sprach sich Czartoryski für eine durch Russland unterstützte Wiedererrichtung des Königreichs Polen in den traditionellen Grenzen aus. Dieses Staatswesen sollte in seiner Vorstellung über eine eigene Verfassung verfügen17. Zu diesem Zeitpunkt bestand jedoch keine Möglichkeit zur Umsetzung dieses Plans. Mit dafür verantwortlich war das persönliche Umfeld von Zar Alexander. Die Mehrheit seiner russischen Berater stand dem Vorhaben nämlich ablehnend gegenüber. Aus historischen Gründen sahen sie in Polen den traditionellen Rivalen um die Vorherrschaft in Ostmitteleuropa. Diese Ressentiments wurden 1812 durch die Teilnahme eines großen polnischen Kontingents am Russlandfeldzug Napoleons, welches an der Einnahme von Smolensk und Moskau beteiligt gewesen war, verschärft. So verfasste der damalige Staatssekretär und spätere Au13

Bericht an Hager, dat. 3.2.1815, in: Maurice-Henri Weil (Hg.), Les Dessous du Congrès de Vienne, d’après des Documents originaux des Archives du Ministère impérial et royal de l’Intérieur à Vienne, Bd. 1– 2, Paris 1917, hier Bd. 2, S. 128. 14 Bericht an Hager, dat. 6.6.1815, in: Ebd., S. 619. 15 Broszat, Zweihundert Jahre, S. 66 – 68. Auch das in das russische Reich inkorporierte Großfürstentum Finnland verfügte über weitgehende Autonomierechte; vgl. Marie-Pierre Rey, Alexander I. The Tsar who defeated Napoleon, DeKalb 2012. 16 Grimsted, The foreign ministers, S. 109 –110. 17 Thackeray, Antecedents, S. 8.

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ßenminister Karl Robert Graf von Nesselrode 1812 eine Denkschrift, in welcher er das Vorhaben der Wiedererrichtung des Königreichs Polen scharf kritisierte18. Alexander nahm zwischen diesen widersprüchlichen Positionen lange keine eindeutige Haltung ein und schien einmal den Plänen Czartoryskis, dann wieder den Vorbehalten seiner russischen Berater zuzuneigen19. Doch als nach der Niederlage Napoleons die Frage der territorialen Neugestaltung der polnischen Gebiete akut wurde, kam Alexander auf den Plan der Gründung eines polnischen Königreichs unter russischer Oberherrschaft zurück und lud Czartoryski ein, ihm bei der Durchführung dieses Vorhabens zur Seite zu stehen. Im Sommer 1814 begleitete der polnische Fürst daher den russischen Kaiser auf der Reise nach London, wo erste Gespräche zwischen den Vertretern der alliierten Mächte über die zukünftige politische Ordnung Europas geführt wurden20. Czartoryski verhandelte zudem mit Vertretern der regierenden Tories sowie der oppositionellen Whigs über die polnische Frage und knüpfte Kontakte zum englischen Sozialreformer und Oppositionspolitiker Jeremy Bentham21. Im August 1814 kehrte Zar Alexander vorübergehend nach Russland zurück. Zwar hatte er sich in erster Linie nach langer Abwesenheit mit Familien- und dynastischen Fragen zu befassen, doch leitete er auch die Einrichtung einer provisorischen Verwaltung in den von russischen Truppen besetzten polnischen Gebieten in die Wege. So wollte er auf dem Wiener Kongress bereits klare Verhältnisse präsentieren22. Allerdings war das Projekt Alexanders mit mehreren Hypotheken belastet. Zum einen beabsichtigte er, das gesamte Gebiet des ehemaligen Königreichs Polen – also nicht nur das Herzogtum Warschau, sondern auch jene Gebiete, die in den polnischen Teilungen an Preußen und Österreich gefallen waren – zu einem Herrschaftsgebiet zusammenzufassen. Zum anderen plante er eine Personalunion zwischen dem Russischen Kaiserreich und dem zu schaffenden Königreich Polen, wodurch sich der Einflussbereich des Herrschers aller Reußen weit nach Westen ausgedehnt hätte. Darüber hinaus sollte eine von Czartoryski ausgearbeitete, liberale Verfassung implementiert werden23.

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Ebd., S. 7. Ebd., S. 8 – 9. 20 Vgl. August Fournier, Londoner Präludien zum Wiener Kongreß (Geheime Berichte Metternichs an Kaiser Franz), in: Deutsche Revue 43/I (1918), S. 125 –136 sowie S. 205 – 216 und 43/II (1918), S. 24 – 33. Ders., Zur Vorgeschichte des Wiener Kongresses, in: Ders., Historische Studien und Skizzen, Bd. 2, Wien, Leipzig 1908, S. 290 – 327. 21 Alan Warwick Palmer, Alexander I. Gegenspieler Napoleons, Esslingen 1982, S. 269. W[a­ claw] H[ubert] Zawadzki, Man of Honour. Adam Czartoryski as a Statesman of Russia and Poland 1795 –1831, Oxford 1993, S. 228. 22 Palmer, Alexander, S. 271. 23 Ebd., S. 273. 19

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Der Vorstellung einer russischen Hegemonie in Mitteleuropa konnten die anderen in Wien versammelten Staatsmänner – in erster Linie die Vertreter Österreichs und Großbritanniens – wenig Positives abgewinnen24. Österreich war außerdem nicht bereit, seine polnischen Gebiete für den russischen Plan zu opfern. So schien es wahrscheinlich, dass die Unzufriedenheit unter den unter österreichischer Herrschaft stehenden Polen angesichts eines polnischen Staates, dem sie aber nicht angehörten, wachsen und sich ein Unruheherd innerhalb der Habsburgermonarchie bilden würde25. So präsentierten sich die Verhandlungen um Polen – und in der Folge Sachsen – als Gordischer Knoten des Wiener Kongresses26. 3. Polnische Akteure auf dem Wiener Kongress Der Wiener Kongress weist, was Besucher, Teilnehmer und Zaungäste betrifft, eine überaus heterogene Struktur auf. Vertreter von Staaten, mediatisierten Herrschern oder Interessensverbänden mit offiziellem sowie ohne offizielles Mandat tummelten sich auf den Straßen, Plätzen und Audienzzimmern Wiens und versuchten auf unterschiedliche Art und Weise, ihre Interessen durchzusetzen. Nicht anders ist der Befund bei der Analyse jener Personengruppe, deren Mitglieder für die Wiedererrichtung eines polnischen Staates eintraten. Neben Zar Alexander profilierte sich Adam Jerzy Czartoryski als wichtigster Exponent dieses Kollektivs. Doch auch andere Vertreter der polnischen Nation versuchten, ihren Vorstellungen von der Zukunft der polnischen Gebiete Gehör zu verschaffen, indem sie sich bemühten, über die Bildung von Netzwerken und persönliche Gespräche Einfluss zu erlangen. Die polnischen Interessensgruppen verfügten während des Wiener Kongresses über eigene Treffpunkte. So versammelten sie sich etwa bei Graf Skarbek27, der in Nussdorf lebte, bei Stadnicki, bei Siemiński, der Fürstin Sapieha oder bei der Fürstin Lubomirska, der Tante des mehrfach erwähnten Czartoryski. Neben 24

Vgl. z. B. Castlereagh an Liverpool, dat. Wien 2.10.1814, in: Müller (Hg.), Quellen, S. 205 – 206. Talleyrand an Ludwig XVIII., dat. Wien, 13.10.1814, in: Georges Pallain ����������������� (Hg.), ���������� Correspondance inédite du Prince de Talleyrand et du Roi Louis XVIII pendant le Congrès de Vienne, Paris 21881, S. 45. Zawadzki, Man of Honour, S. 238 – 242; Stauber, Wiener Kongress, S. 78 – 90. 25 Vgl. Castlereagh an Liverpool, dat. Wien 2.10.1814, in: Müller (Hg.), Quellen, S. 204. 26 Vgl. dazu zuletzt Jonas Flöter, Gleichgewicht und Legitimität. Die sächsische Frage auf dem Wiener Kongreß, in: Dresdner Hefte 23 (2005), S. 51– 58; Stauber, Wiener Kongress, S. 78 – 90; Lentz, 1815. Der Wiener Kongress, S. 177 –195; Reiner Marcowitz, Finis Saxoniae? Frankreich und die sächsisch-polnische Frage auf dem Wiener Kongress 1814/15, in: Neues Archiv für sächsische Geschichte 68 (1997), S. 157 –184. Vgl. weiters Jarrett, Congress of Vienna, S. 96 –131. Vick, Congress of Vienna, S. 278 – 320. Enno E. Kraehe, Metternich’s German Policy, Vol. II: The Congress of Vienna, 1814 –1815, Princeton (NJ) u. a. 1983, S. 264 – 298. Die Sichtweise der österreichischen Politik erläutert Wolfram Siemann, Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, München 2016, S. 502 – 506. 27 Weil (Hg.), Dessous, Bd. 1, S. 559 (FN).

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diesen bekannten Versammlungsorten kam es nach Berichten der Geheimpolizei auch zu konspirativen Zusammenkünften bei Stryczewski28. Die Anwesenheit der Polen in Wien entging weder der Öffentlichkeit noch den österreichischen Behörden. Gerüchte über Verschwörungen beunruhigten die Geheimpolizei, sodass ihre Aktivitäten scharf überwacht wurden. So erhielt Polizeichef Hager im November 1814 etwa die Information, dass es dem mit dem pro-preußischen Antoni Radziwiłł in Kontakt stehenden Agenten O gelungen sei, sich den Ruf eines militanten polnischen Patrioten zu verschaffen29. Die Überwachung betraf auch die häufig vorkommenden Reisen: Immer wieder kamen Persönlichkeiten in Wien an, welche der Geheimpolizei suspekt erschienen. Dazu zählten etwa ein gewisser Szaniawski, ein Drohojewski sowie ein Szimiakowski, wobei letzterer besonders verdächtig erschien30. Szaniawski�������������������� ������������������������������ wiederum war angeblich mit Vollmachten eines „Patriotischen Komitees von Warschau“ ausgestattet31. So konspirativ die Aktivitäten der polnischen Akteure zuweilen erscheinen mochten – ihre politischen Ziele waren bekannt, und diese deckten sich nur zum Teil mit den Plänen von Zar Alexander: Ein großer Teil der in Wien versammelten Polen nämlich erwartete die Restauration Polens als souveränen Staat. Die Wiederherstellung unter russischer Oberherrschaft wurde als Übergangslösung betrachtet. Der britische Außenminister Robert Stewart Viscount Castlereagh berichtete bereits im Oktober 1814 nach London, dass er die stärkste Veranlassung habe zu glauben, dass „the Poles regarded this qualified restoration under Russia as only a temporary and intermediate arrangement“32. Die Geheimpolizei hatte zudem in Erfahrung gebracht, dass die Polen entschlossen seien, eine erneute Teilung ihrer Heimat zu verhindern. Zur Erreichung dieses Zieles würden sie alle in ihrer Macht liegenden Mittel einsetzen33. Diese Hoffnungen waren jedoch, wie auch Czartoryski bemerkte, völlig unrealistisch. Für ihn, den wohl profiliertesten Politiker unter den polnischen Akteuren, war die Errichtung eines unabhängigen polnischen Staats eine „chimère“34. 3. 1. Adam Jerzy Czartoryski

Adam Jerzy Czartoryski war der Spross einer alten und einflussreichen polnischen Adelsfamilie, der nach der Niederschlagung des polnischen Aufstands 1794 28

August Fournier, Die Geheimpolizei auf dem Wiener Kongress. Eine Auswahl aus ihren Papieren, Wien 1913, S. 88. 29 Bericht an Hager, dat. 14.11.1814, in: Weil (Hg.), Dessous, Bd. 1, S. 559. Hier noch weitere Beispiele. 30 Kaiser Franz an Hager und Hager an Schmidt, dat. 31.10.1814, in: Ebd., S. 435. 31 Bericht von O an Hager, dat. 8.12.1814, in: Ebd., S. 655. 32 Castlereagh an Liverpool, dat. Wien 2.10.1814, in: Müller (Hg.), Quellen, S. 204. 33 Bericht von O an Hager, dat. 8.12.1814, in: Weil (Hg.), Dessous, Bd. 1, S. 655. 34 Talleyrand an Ludwig XVIII., dat. Wien 25.10.1814, in: Pallain (Hg.), Correspondance inédite, S. 74.

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als Geisel an den russischen Hof kam. Dort fand er rasch gesellschaftlichen Anschluss und gewann die Freundschaft des Thronfolgers, des späteren Zaren Ale���� xander. Allerdings gab er nie die Hoffnung auf einen eigenen polnischen Staat auf; für ihn war „le monde entier […] dans la Pologne“35. Czartoryski war der Dreh- und Angelpunkt der polnischen Ambitionen während des Wiener Kongresses. Als Fürsprecher der Wiedererrichtung des Königreichs Polen weckte er bei den polnischen Adelsfamilie große Hoffnungen, wie Friedrich von Gentz etwas despektierlich feststellte: „[L]a majorité des Polonais s’extasie au seul nom de royaume de Pologne et il est certain que les complices de ce plan, le prince Adam Czartoryski et le prince Antoine Radziwill […] remueront ciel et terre pour le faire triompher“36. Zwar unterschied Gentz nicht zwischen den unterschiedlichen polnischen Fraktionen, indem er den pro-russischen Czartoryski und den pro-preußischen Radziwiłł in einem Atemzug nannte, doch ahnte er richtig die Schwierigkeiten bei den Verhandlungen über Polen voraus. Bei diesen Gesprächen nahm Czartoryski eine führende Stellung ein: Czartoryski, „although not in any official situation, appears now as the actual Russian Minister, at least on Polish and Saxon questions“, bemerkte der britische Außenminister Castlereagh in einem Bericht nach London. Der eigentliche russische Außenminister Karl Robert Graf von Nesselrode, wie auch die anderen russischen Ratgeber des Zaren, waren zu den Verhandlungen über Polen nicht zugezogen. Dies war, wie Castlereagh richtig analysierte, darauf zurückzuführen, dass „all the Russians, I believe without an exception, being adverse to his projects, considering them both as dangerous to himself and injurious to his allies“37. Die zentrale Rolle, die Czartoryski in den Kontroversen um die Zukunft der polnischen Gebiete spielte, und seine klaren Vorstellungen von der Restauration des Königreichs Polen führte zu zahlreichen Anfeindungen. „For me the stay in Vienna,“ berichtete er seinem Vater im November 1814, „provides little pleasure, for I encounter few friendly faces and hardly ever any kindly greeting.“38 Dennoch fand er eine gewisse Befriedigung in der Überzeugung, dass Zar Alexander seine Pläne zur Wiedererrichtung des Königreichs Polen – wenn auch unter russischer Oberhoheit – unterstützte: „�������������������������������������������������� Despite all these storm��������������������������� s [die schwierigen Verhandlungen, K.S.] I am not without hope that matters will end quite well and that

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Ebd. Gentz an Karadja, dat. Wien 3.8.1814, in: Weil (Hg.), Dessous, Bd. 1, S. 45. 37 Adam Czartoryski, Memoirs of Prince Adam Czartoryski and his Correspondence with Alexander I, Bd. 2, hg. v. Adam Gielgud, London 1888 (Nachdruck: Orone, Me. 1968), S. 284. Vgl. auch Thackeray, Antecedents, S. 12. 38 Schreiben vom 16. November 1814, Biblioteka �������������������������������������������������������� Czartoryskich w Krakowie [Czartoryski-Bibliothek in Krakau], Archiwum Domowe (Ewidencja), Czart. MS ew. 819, S. 110, zit. nach Zawadzki, Man of Honour, S. 242. 36

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Poland will emerge in some form or other. We can be certain of the Emperor’s sincerity; and that is most important“, vertraute er seinem Vater an39. Czartoryski war sich also anscheinend der Widerstände bewusst, welche der Wunsch nach einer Rekonstruktion des polnischen Staates bei den Vertretern Österreichs und Großbritanniens hervorrief. Dennoch war er bemüht, der Verantwortung gerecht zu werden, die mit seiner Position als erster Unterhändler des Zaren in der polnischen Frage verbunden war. Um die festgefahrenen Gespräche wieder in Gang zu bringen, riet er Zar Alexander im November 1814 etwa zu einer Allianz mit Frankreich, falls Großbritannien die russischen Pläne weiterhin ablehnen würde. Nicht die europäischen Kabinette, sondern die europäischen Nationen wären die natürlichen Verbündeten des russischen Herrschers in dieser Frage, lautete sein Denkansatz. Daher sollte Preußen mit Sachsen entschädigt und die ostpreußischen polnischen Gebiete dem Königreich Polen zugeschlagen werden40. Mit dieser Argumentation konnte Czartoryski bei den europäischen Mächten, welche das Nationalitätenprinzip legitimistischen, strategischen und sicherheitspolitischen Erwägungen unterordneten, nicht durchdringen; der Widerstand Österreichs und Großbritanniens blieb bestehen. Da Frankreich den König von Sachsen unterstützte, war auch der französische Außenminister Charles-Maurice de Talleyrand-Périgord nicht für diese Lösung zu gewinnen. In der Folge trat Czartoryski weiterhin als Verfasser von Vertragsentwürfen und Denkschriften betreffend Polen in Erscheinung, doch beauftragte Zar Alexander nun auch den Korfioten Joannis Kapodistrias mit ähnlichen Aufgaben41. Großbritannien respektierte allerdings den Status Czartoryskis als ersten Vertreter der polnischen Nation weiterhin: Castlereagh wurde im Dezember 1814 ermächtigt, namentlich ihm (aber auch anderen Vertretern der polnischen Nation) ein Kompromissangebot der britischen Regierung hinsichtlich Polens vorzulegen, falls dieses von Zar Alexander abgelehnt würde42. So sollte der Druck auf den russischen Herrscher erhöht werden. Es ist überdies wahrscheinlich, dass dieser Kompromissvorschlag Großbritanniens unter Einbeziehung von Vorschlägen Czartoryskis erarbeitet wurde, da dieser nach der Reise nach London im Sommer 1814 immer noch eine ausgedehnte Korrespondenz mit britischen Staatsmännern unterhielt43. Anfang 1815 war eine Annäherung der europäischen Großmächte in der polnischen Frage in greifbare Nähe gerückt, sodass am 7. Jänner eine zweiköpfige 39

41 42 43 40

Schreiben vom 31.10.1814, Czart. MS ew. 819, S. 106, zit. nach ebd. Ebd. Ebd., S. 244. Ebd., S. 243. Marian Kukiel, Czartoryski and European Unity 1770 –1871 (Die EU und ihre Ahnen im Spiegel historischer Quellen, N.R. Bd. 7), Hannover 2008 (Nachdruck der Ausgabe: Princeton 1955), S. 126 –127.

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Kommission mit der Regelung der noch ausstehenden Details beauftragt wurde. Als inoffizieller Leiter fungierte Czartoryski, der im Auftrag von Zar Alexander die Kommission bei ihrer Arbeit anleiten sollte44. Ein wichtiger Punkt, über den bis Februar 1815 keine Übereinstimmung erzielt werden konnte, war die Frage von nationalen Einrichtungen. Die Regelungen diesbezüglich sollten für alle Polen ungeachtet ihrer staatlichen Zugehörigkeit entweder zu Russland, Preußen oder Österreich Gültigkeit haben. Diese Zugeständnisse sollten, so der Wunsch Czartoryskis und anderer in Wien anwesender Polen, schriftlich in Verträgen festgehalten werden. Da Österreich und Preußen sich in diesem Punkt jedoch ablehnend zeigten, versuchte Czartoryski den österreichischen Außenminister Klemens Wenzel Fürst Metternich zu überzeugen, während Antoni Radziwiłł 45 sich bei der preußischen Delegation für diesen Punkt verwendete46. Auch ermutigte Castlereagh die beiden Polen, bei Alexander auf die Erfüllung seiner bisher nur mündlich geleisteten Zugeständnisse zu dringen, um den erzielten Kompromiss hinsichtlich Polens ratifizieren zu können47. Neben seinen Aktivitäten in Wien aktivierte Czartoryski die Kontakte, die er während des Aufenthalts in London im Sommer 1814 geknüpft hatte, um die öffentliche Meinung in Großbritannien zu beeinflussen. Dazu nützte er beispielsweise seine Bekanntschaft mit dem bereits erwähnten Jeremy Bentham48. Auf dem Wiener Kongress kursierten zahlreiche Gerüchte über Geheimbünde und andere Vereinigungen sowie über potenzielle und (angeblich) tatsächliche Mitglieder. Diese unbestätigten Informationen betrafen auch Czartoryski der, so berichtete jedenfalls die österreichische Geheimpolizei, Mitglied der „��������� Union secrète polonaise“ war. 1794 gegründet, setzte sich diese Vereinigung – wieder nach Informationen der Geheimpolizei – für die Unabhängigkeit Polens ein und war trotz ihres Verbots weiterhin aktiv. Czartoryski���������������������������������� ��������������������������������������������� war, so glaubten die österreichischen Behörden, einer der Initiatoren und überzeugtesten Anhänger dieser Bewegung49. Konkrete Hinweise für diese angebliche Mitgliedschaft liegen allerdings ebenso wenig vor wie Beweise für die Existenz der Geheimgesellschaft selbst. Zu den in Wien versammelten Vertretern der polnischen Nation unterhielt Czartoryski jedenfalls kaum persönliche Kontakte. Als Mittelsmann fungierte meist Henryk Lubomirski, der wichtigste Netzwerker für die polnischen Anliegen auf dem Wiener Kongress50.

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46 47 48 49 50 45

Zawadzki, Man of Honour, S. 244. Zu seiner Person vgl. Abschnitt 3. 3. Zawadzki, Man of Honour, S. 245. Ebd., S. 246. Ebd., S. 245. Bericht von L an Hager, dat. 27.11.1814, in: Weil (Hg.), Dessous, Bd. 1, S. 608. Bericht von O an Hager, dat. 19.10.1814, in: Ebd., S. 334.

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3. 2. Henryk Lubomirski

Lubomirski trat in erster Linie als Mäzen in Erscheinung, der seine umfangreichen Sammlungen dem Ossolineum in Lemberg zur Verfügung stellte. Ab 1809 war er darüber hinaus in der Verwaltung des Departements Krakau, damals ein Teil des Herzogtums Warschau, aktiv51. Während des Wiener Kongresses profiliertet er sich jedoch auch als wichtiger Exponent der polnischen Nationalbewegung, der über umfangreiche Netzwerke und, wie erwähnt, hervorragende Kontakte zu Adam Czartoryski verfügte. Darüber hinaus pflegte er Umgang mit anderen Vertretern der polnischen Nation wie etwa Anton Graf Lanckoroński, der als k. k. Kämmerer Zutritt zum österreichischen Hof hatte52. Die Berichte der Geheimpolizei über die Person Lanckorońskis sind widersprüchlich: Eine Information besagte, dass er der Wiedererrichtung des Königreichs Polen gleichgültig gegenüber stehe. Andererseits beherbergte er während des Wiener Kongresses den polnischen General Krukowiecki in seinem Palais53 und führte dort einen politischen Salon54. In diesem Zusammenhang wusste die Geheimpolizei auch zu berichten, dass Lanckoroński „un des meilleurs patriotes de la Pologne“ sei, der seiner Heimat zahlreiche Dienste erwiesen habe55. Um ihren Interessen Gehör zu verschaffen, versuchten die Vertreter der polnischen Nation, Kontakt zu den Vertretern der europäischen Großmächte aufzubauen, um diese von der Billigkeit und Legitimität ihrer Forderungen zu überzeugen. Henryk Lubomirski arbeitete intensiv an der Verbesserung der Beziehungen zur britischen Delegation. Besonders bemühte er sich dabei um den britischen Botschafter in Wien, Lord Charles Stewart. Nach Berichten der Geheimpolizei war ihm dabei Henriette Gräfin Zielińska behilflich. Diese war mit einem britischen Reisenden namens Griffith gut bekannt und führte einen Salon, in dem vorwiegend Polen verkehrten. Griffith wiederum stand mit Lord Stewart in enger Verbindung56. Auch mit dem Vertreter Frankreichs, Außenminister Talleyrand, trat Lubomirski in Kontakt. Noch im Herbst 1814 hatte er große Hoffnungen auf dessen Intervention zugunsten der Polen gesetzt – die sich allerdings angesichts der realpolitischen Verhältnisse am Wiener Kongress bald zerstreuten57. 51

Vgl. zu seiner Person Österreichisches Biographisches Lexikon 1815 –1950, Bd. 5, Wien 1971, S. 338; Constantin von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Bd. 16, Wien 1867, S. 118 –119. 52 Vgl. Wurzbach, Biographisches Lexikon, Bd. 14, Wien 1865, S. 65; Hof- und Staatsschematismus des österreichischen Kaiserthums, Wien 1816, S. 48. 53 Bericht an Hager, dat. 15.2.1815, in: Weil (Hg.), Dessous, Bd. 2, S. 203. 54 Fournier, Geheimpolizei, S. 88. 55 Bericht an Hager, dat. 15.2.1815, in: Weil (Hg.), Dessous, Bd. 2, S. 203. 56 Fournier, Geheimpolizei, S. 88. Bericht an Hager, dat. 19.2.1815, in: Weil (Hg.), Dessous, Bd. 2, S. 225. Bericht an Hager, 17.4.1815, in: Ebd., S. 480. Bericht an Hager, dat. 5.10.1814, in: Ebd., Bd. 1, S. 228. 57 Bericht an Hager, dat. 14.10.1814, in: Ebd., S. 283 – 284.

Die polnische Frage am Wiener Kongress: Politische Akteure, „pressure groups“

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Nicht nur Lanckoroński, sondern auch Lubomirski konnte darüber hinaus auf enge Beziehungen zum österreichischen Hof zurückgreifen. Einer seiner Cousins, Franz Fürst Lubomirski, hatte ebenfalls die k. k. Kämmererwürde inne58. 3. 3. Antoni Radziwiłł

Neben Czartoryski und Lubomirski trat während des Wiener Kongresses auch der bereits erwähnte Antoni Radziwiłł als Vertreter der polnischen Nation in Erscheinung. Dem polnisch-preußischen Adel angehörend, zählte er zu einer kleinen Gruppe einflussreicher Persönlichkeiten, welche die Herrschaft der Hohenzollern in Polen unterstützte. Durch seine Eheschließung mit Prinzessin Luise von Preußen war Radziwiłł dem Berliner Hof eng verbunden. Zudem hatte er sich als Mäzen einen Namen gemacht59. Radziwiłłs konkrete politische Vorstellungen konzentrierten sich auf die Wiedererrichtung des Königreichs Polen in Personalunion mit Preußen. Im Zuge der Umsetzung dieses Planes sollte Friedrich Wilhelm III. die polnische Königskrone annehmen60. Während des Wiener Kongresses schien sich Radziwiłł allerdings auch ein durch Personalunion mit Russland verbundenes Polen vorstellen zu können61. Die Geheimpolizei überwachte Radziwiłł scharf – doch die meisten Berichte beziehen sich auf seine amourösen Abenteuer mit verschiedenen Damen während des Kongresses. Im Februar 1815 allerdings erreichte Radziwiłł ein anonymes Schreiben, in welchem er vor den geplanten Aktivitäten zweier Polen gewarnt wurde. Diese seien heimlich aus Krakau abgereist und führten große Summen Geldes zu Bestechungszwecken bei sich. Radziwiłł solle Czartoryski raten, sich vor den beiden Männern in Acht zu nehmen62. Wie Czartoryski war angeblich auch Radziwiłł Mitglied der ominösen „Union secrète polonaise“63. 3. 4. Tadeusz Kościuszko

Tadeusz Kościuszko, eine der Gallionsfiguren der polnischen Bewegung, traf am 30. Mai 1815 unter dem vielsagenden Decknamen Graf Tadeusz Polski in Wien ein64. Er entstammte einer alten litauisch-ruthenischen Adelsfamilie, die sich be58

Hof- und Staatsschematismus, S. 48, 55 und 57. Neben Franz Lubomirski sind hier beispielsweise Ignaz Graf Skarbek und Anton Graf Lanckoroński zu nennen. 59 Tadeusz Nowakowski, Die Radziwills. Die Geschichte einer großen europäischen Familie, München 1966, S. 305 – 318. 60 Broszat, Zweihundert Jahre, S. 75 – 76. 61 Bericht an Hager, dat. 30.11.1814, in: Weil (Hg.), Dessous, Bd. 1, S. 618. 62 Anonymes Schreiben an Radziwill, dat. Berlin 18.2.1815, in: Ebd., Bd. 2, S. 249. 63 Bericht von L an Hager, dat. Wien 27.11.1814, in: Ebd., Bd. 1, S. 608. 64 Zu Kościuszko vgl. Karin Schneider, Eva Maria Werner, Brigitte Mazohl, Europa in Wien. Who is who beim Wiener Kongress 1814/15, Wien, Köln 2015; Heiko Haumann, Jerzy Skowronek ��������������������������������������������������������������������������������������� (Hgg.), Der letzte Ritter und erste Bürger im Osten Europas. Kościuszko, das aufständische Reformpolen und die Verbundenheit zwischen Polen und der Schweiz (Basler Beiträge zur

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Karin Schneider

reits im 16. Jahrhundert polonisiert hatte. Enge Verbindungen bestanden mit der Familie Czartoryski, die ihm den Besuch der Kadettenschule in Warschau ermöglicht hatte. 1769 übersiedelte Kościuszko nach Paris, wo er sich einem Kunststudium widmete. Doch vernachlässigte er auch seine militärische Ausbildung nicht und kam zudem in Kontakt mit der französischen Aufklärung. 1774 kehrte Kościuszko nach Polen zurück und arbeitete als Hauslehrer. Nach einer nicht standesgemäßen Liebesbeziehung mit der Tochter seines Arbeitgebers reiste er 1776 über Paris in die Vereinigten Staaten, um auf der Seite der USA am Unabhängigkeitskrieg teilzunehmen. 1784 kehrte Kościuszko nach Polen zurück und wurde Generalmajor in der polnischen Armee. Er war ein Anhänger der Reformpartei, welche 1791 die polnische Verfassung lancierte. Der darauf folgenden russischen Invasion trat Kościuszko als einer der führenden Befehlshaber entgegen, wodurch sich sein Ruf als polnischer Nationalheld begründete. Als der polnische König kapitulierte, entschied sich Kościuszko für das Exil. In den folgenden Jahren widmete er sich der Organisation eines polnischen Aufstands, welcher nach der zweiten Polnischen Teilung 1794 in Krakau ausbrach. Die Rebellion wurde im Herbst 1794 von russischen und preußischen Truppen niedergeschlagen und Kościuszko gefangengenommen. Nach dem Tod von Zarin Katharina II. amnestierte Zar Paul I. Kościuszko, der weiterhin für die Wiederrichtung des Königreichs Polen kämpfte. Die Gründung des Herzogtums Warschau durch Napoleon stellte ihn nicht zufrieden. Kościuszko hatte unmittelbar nach dem Fall des Herzogtums Warschau Kontakt mit Zar Alexander aufgenommen, um mit ihm über die Zukunft der polnischen Gebiete zu sprechen. Im Zuge dieser Gespräche informierte ihn der russische Herrscher, dass er die Wiedererrichtung eines polnischen Staatswesens plane, und bat Kościuszko bei diesem Unterfangen um Hilfe65. Auch Kościuszkos Reise zum Wiener Kongress war der Wiedererrichtung des Königreichs Polen gewidmet. Der prominente Gast blieb von der Geheimpolizei allerdings nicht unentdeckt, und seine Aktivitäten wurden genau überwacht. Ko��� ściuszkos erster Weg führte jedoch nicht zu Zar Alexander, sondern zu Henryk Lubomirski66. Während seiner Anwesenheit in Wien verkehrte Kościuszko in den Kreisen der russischen Kongressteilnehmer und stand unter anderem mit Adam Czartoryski und Anton Lanckoroński in Kontakt67. Als er auf seine an Zar Alexander gerichteten Schreiben keine befriedigende Antwort erhielt, verließ er die Hauptstadt der Habsburgermonarchie schließlich in Richtung Solothurn.

Geschichtswissenschaft, Bd. 169), Basel 1996. Alex Storozynski, The peasant Prince. Thaddeus Kosciuszko and the age of Revolution, New York 2010. 65 Rey, Alexander, S. 283. 66 Bericht an Hager, dat. Wien 1.6.1815, in: Weil (Hg.), Dessous, Bd. 2, S. 607. 67 Berichte an Hager, dat. Wien 7. und 8.6.1815, in: Ebd., 2, S. 625.

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4. Die Lösung der polnischen Frage Die Rückkehr Napoleons nach Frankreich im März 1815 überraschte den Kongress und führte zu einer Beschleunigung der Verhandlungen. Noch vor dem erneuten Kriegsausbruch sollten die noch offenen Fragen gelöst, die verhandelten Ergebnisse gesichert und völkerrechtlich sanktioniert werden. Die europäischen Regierungen zeigten große Nervosität angesichts der nicht absehbaren Konsequenzen, die Napoleons Erscheinung auf dem Kontinent nach sich zögen. Czarto������� ryski etwa fürchtete, dass dadurch in Polen Hitzköpfe zu unüberlegten Aktionen ermutigt und unbesonnene Träume wiederbelebt würden68. Auch Henryk Lubomirski scheint ähnliche Überlegungen angestellt zu haben. Er entfaltete hektische Aktivitäten, indem er fast täglich Briefe nach Polen und Galizien schickte69. Um die Loyalität der Polen gegenüber Russland zu unterstreichen, fragte er zudem bei Zar Alexander an, ob die polnischen Truppen in erster Reihe mit der russischen Armee gegen den Korsen marschieren dürften70. Angesichts des drohenden Krieges beschleunigten sich auch die Verhandlungen über die Polen betreffenden Fragen. Die Nachricht von Napoleons Flucht erreichte Wien am 7. März 1815. Bereits zwei Tage später diskutierten die Mächte, welche das Problem der Grenzziehung bereits im Jänner und Februar 1815 einer Lösung zugeführt hatten, wieder die strittige Frage der nationalen Rechte aller Polen, ungeachtet ihrer staatsrechtlichen Zugehörigkeit. Schließlich wurde ein entsprechender Vertragsentwurf vorgelegt. Zudem versuchte Zar Alexander durchzusetzen, dass er als „Zar oder König von Polen“ tituliert werden sollte71. Die Verträge selbst wurden am 3. Mai 1815 unterzeichnet und enthielten weitgehende Autonomierechte für die polnischen Bevölkerungsteile in Posen, Galizien, die preußisch bzw. österreichisch bleiben würden, und das Königreich Polen: In Artikel 1 wurde festgelegt, dass „die Polen, welche Unterthanen von Rußland, Österreich und Preussen sind, […] Ständeversammlungen und nationale Einrichtungen [erhalten], der politischen Existenz gemäß, welche die Regierungen, denen sie angehören, für nützlich und zweckmäßig halten werden.“72 Zwar war diese Formulierung so unbestimmt, dass sie verschiedenste Interpretationen dieser Autonomie ermöglichte – und dennoch schob sie den vor allem in Preußen üblichen Germanisierungsbestrebungen einen Riegel vor und sicherte die Tolerierung der polnischen Kultur und Sprache im Großherzogtum Posen73. 68

70 71 72

Zawadzki, Man of Honour, S. 253. Bericht an Hager, dat. Wien 15.3.1815, in: Weil (Hg.), Dessous, Bd. 2, S. 335. Bericht an Hager, dat. Wien 20.3.1815, in: Ebd., S. 357. Zawadzki, Man of Honour, S. 253. [http://www.staatsvertraege.de/Frieden1814-15/wka1815-i.htm], eingesehen am 2.2.2015. Vgl. auch Zawadzki, Man of Honour, S. 253. 73 Broszat, Zweihundert Jahre, S. 81– 84. 69

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Karin Schneider

Darüber hinaus fixierten die Verträge den neuen Titel Alexander: Zar und König von Polen. Die Polen, unter ihnen auch Czartoryski, maßen dieser imperialen Benennung große symbolische Bedeutung bei. Demgegenüber fällt ins Auge, dass in dem Text keine Bestimmungen hinsichtlich der Ausgestaltung der in Aussicht gestellten polnischen Verfassung vorgenommen worden war. 5. Zusammenfassung Die Beschlüsse des Wiener Kongresses erfüllten die Hoffnungen der Polen, namentlich jene Czartoryskis, nur bedingt74. Es wurde kein eigener polnischer Staat geschaffen, sondern vielmehr die Teilung des einstigen Königreichs – zumindest vorläufig – besiegelt. Das Territorium des ehemaligen Herzogtums Warschau, das ohnehin nur ein Teil des ursprünglich polnischen Gebiets ausmachte, wurde unter Preußen und Russland aufgeteilt; die Gründung der Stadtrepublik Krakau war nur temporär und von symbolischem Charakter. Von vielen Polen wurden die Ergebnisse des Wiener Kongresses als vierte Polnische Teilung interpretiert75. Kościuszko, enttäuscht über die in Wien erzielten Ergebnisse, begab sich nicht etwa nach Polen, sondern bevorzugte die Rückkehr in sein Schweizer Exil76. Dennoch waren die Ergebnisse aus der Sicht der polnischen Akteure nicht ausschließlich negativ: Unter russischer Oberhoheit entstand ein Königreich Polen mit eigener Verfassung und eigenen Institutionen. Auch in den an Preußen gefallenen Gebieten des Herzogtums Polen, dem Großherzogtum Posen, genoss die polnische Bevölkerung gewisse Autonomierechte. Sowohl Czartoryski als auch Antoni Radziwiłł nahmen nach dem Ende des Wiener Kongresses wichtige Positionen in der Verwaltung der polnischen Gebiete ein. Aus Czartoryskis Feder stammt die Verfassung des Königreichs Polen. Während Großfürst Konstantin die Funktion des Militärgouverneurs sowie des Oberbefehlshaber der polnischen Truppen übernahm und Józef Zajączek Vizekönig wurde, begnügte sich Czartoryski mit einem Posten in der Verwaltung und dem Rang eines Senators. Radziwiłł wiederum wurde Statthalter im Großherzogtum Posen. So zog Czartoryski am Ende eine positive Bilanz der Verhandlungen in Wien, als er seinem Vater mitteilte: „Good and evil always go hand in hand; generally our position will be much better than previously; it is surprising how much good has come out of it; it could so easily have been otherwise“77. Aus seiner Perspektive waren die in Wien erzielten Verhandlungsergebnisse zudem nicht unabänderlich 74

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Vgl. Zawadzki, Man of Honour, S. 254. Vgl. Gill, Freiheitskämpfe, S. 65. Ebd., S. 258. Schreiben vom 9.5.1815, Biblioteka Czartoryskich w Krakowie, Czart. MS ew. 819, S. 112, zit. nach ebd., S. 255 – 256.

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und die Teilung der polnischen Gebiete zwischen drei Mächten nicht endgültig. Vielmehr betrachtete er die Beschlüsse als ersten, wichtigen Schritt zur endgültigen Vereinigung der Polen in einem eigenen Staat78. So gilt auch die Gründung des unter russischer Oberhoheit stehenden Königreichs Polen „als größter Erfolg der russophilen Konzeption im polnischen Adel“79 – und somit auch als Erfolg Czartoryskis.

The Polish question at the Vienna Congress: Political actors, “pressure groups” and their efforts to restore the Kingdom of Poland Summary Discussions about the territorial affiliation of Polish territories represented one of the most important negotiating points at the Congress of Vienna. A number of politically influential personalities of Polish provenance tried to enforce their idea of a reestablishment of the Polish kingdom and formed corresponding networks and pressure groups. The present article traces their activities in the context of the political and territorial reorganization of Europe in Vienna, 1814/15, from an actor-centred perspective.

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Ebd., S. 246. Joachim von Puttkamer, Ostmitteleuropa im 19. und 20. Jahrhundert (Oldenbourg Grundriss der Geschichte, Bd. 38), München 2010, S. 24.

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Werner Telesko

Zur politischen Karikatur am Wiener Kongress – die „polnisch-sächsische Frage“ in Bildern Während des Wiener Kongresses wurde keine spezifische „visuelle Kultur“ ausgebildet, die von den künstlerischen und inhaltlichen Entwicklungen der wesentlich besser erforschten „Bildpublizistik“ der Französischen Revolution1 sowie der „Befreiungskriege“ gegen Napoleon Bonaparte2 leicht zu unterscheiden wäre. Vielmehr erfuhren zu diesem Zeitpunkt die bis dahin verbreiteten Medien – vor allem jene der Druckgraphik – eine beträchtliche quantitative Verdichtung und Vernetzung3. Ein besonderer Reiz des Kongresses dürfte auch darin gelegen haben, Bilder prominenter Handlungsträger dieses Ereignisses europaweit verbreiten zu können. Die damit verbundene Steigerung in der Produktion einerseits sowie eine – häufig zu beobachtende – Nähe zwischen den politischen Protagonisten und den künstlerischen Akteuren im Sinne einer fast greifbaren „Augenzeugenschaft“ (Peter Burke)4 andererseits machen es notwendig, die Bildkünste als wesentliche Seismographen des Kongressgeschehens sowie im Hinblick auf die weiteren Entwicklungen im 19. Jahrhundert zu befragen. Die unterschiedlichen Bildmedien übernahmen dabei nicht nur eine gleichsam reflektierende Funktion: Sie bildeten nicht nur ab, sondern griffen durch das ihnen eigene visuelle (in Bezug auf die Karikaturen auch höchst subversive) Poten1



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3



4



Klaus Herding, Rolf Reichardt, Die Bildpublizistik der Französischen Revolution, Frankfurt a. M. 1989. Hier erhielt im Kontext der jüngeren Forschung besonders die (lange unterschätzte) russische Produktion vermehrte Aufmerksamkeit: Marina Peltzer, ������������������������������������ La Révolution en filigrane de la caricature russe anti-napoléonienne, in: Wolfgang Cillessen, Rolf Reichardt (Hgg.), Revolution und Gegenrevolution in der europäischen Bildpublizistik 1789 –1889 = Révolution et contre-révolution dans la gravure en Europe de 1789 à 1889 �������������������������������� = Revolution ������������������������������ and counter-revolution in European prints from 1789 to 1889, Hildesheim, Zürich, New York 2010, S. 261– 283. Dies., Peasants, Cossacks, „Black Tsar“. Russian Caricatures of Napoleon during the Wars of 1812 to 1814, in: Alan Forrest, Étienne François, Karen Hagemann (Hgg.), War ��������� Memories. The Revolutionary and Napoleonic Wars in Modern European Culture, Houndmills (UK) 2012, S. 269 – 290. Vgl. Agnes Husslein-Arco, Sabine Grabner, Werner Telesko (Hgg.), Europa in Wien. Der Wiener Kongress 1814/1815 [Katalog anlässlich der Ausstellung „Europa in Wien. Der Wiener Kongress 1814/15“ vom 20. Februar bis 21. Juni 2015 in der Orangerie und im Unteren Belvedere, Wien], München 2015. Peter Burke, Augenzeugenschaft. Bilder als historische Quellen. Aus dem Englischen von Matthias Wolf (Wagenbachs Taschenbuch, Bd. 631), Berlin 2010 (auf Englisch u. d. T.: ����������� Eyewitnessing. The Use of Images as Historical Evidence, London 12001).

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Werner Telesko

zial auch performativ ein und gestalten gleichsam eine „eigene“ Wirklichkeit mit bestimmten Botschaften oder Postulaten an unterschiedliche Adressatensegmente. Das Mediale ist in dieser Hinsicht im Historischen selbst bereits am Werk und als „Produktivkraft des Geschichtlichen“ (Fabio Crivellari)5 zu bezeichnen. Zahlreichen Bildzeugnissen aus der Epoche des Kongresses, die auf das Generalthema des schwierigen Erreichens von Frieden abzielen, ist unter diesem Gesichtspunkt das erklärte Ziel zuzuschreiben, „Realität“ (welchen Grades auch immer) eben nicht nur darzustellen bzw. abzubilden, sondern auch herzustellen, demgemäß eine Konstruktion politischer Sinnzusammenhänge mit den Möglichkeiten der bildenden Kunst zu suggerieren. Eben unter letzterem Aspekt, dass Geschichte sich nicht einfach „ereignet“, sondern in ihrer Ereignis- und Prozesshaftigkeit stets kommunikativ bzw. medial vermittelt und dadurch erst wirklich greifbar sowie im Wortsinn angreifbar wird, kommt einer „Bildgeschichte“ des Wiener Kongresses besondere Bedeutung zu, da sie neben der Pressegeschichte bzw. der weitgehend diplomatisch verhandelten und somit nur eingeschränkt kommunizierten politischen Historie breitere Resonanz für sich beanspruchen darf. „Wir lachen oft über Dinge, die wir nicht oder nicht mehr verstehen. […]“6. Nicht allein aus diesem einleuchtenden Sachverhalt nimmt die politische Karikatur gerade im Medienkanon des frühen 19. Jahrhunderts eine wichtige Stellung ein: Sie besitzt den Ruf, prononcierte „Gegenbilder“7 zu produzieren, also in besonderer Weise vom ikonographischen Mainstream abzuweichen und dezidiert eine Zuspitzung der Argumentation zu betreiben8, die häufig dem Rang einer veritablen politischen Waffe gleichkommt9. Die Forschung hat die entsprechenden Werke (zumeist britischer und französischer Provenienz)10, die Ereignisse des   5

Fabio Crivellari, Kay Kirchmann, Marcus Sandl, Rudolf Schlögl, Einleitung: Die Me­ dia­lität der Geschichte und die Historizität der Medien, in: Diess. (Hgg.), Die Medien der Geschichte. Historizität und Medialität in interdisziplinärer Perspektive (Historische Kulturwissenschaft, Bd. 4), Konstanz 2004, S. 9 – 45, hier S. 21.   6 Werner Hofmann, Die Karikatur – eine Gegenkunst, in: Gerhard Langemeyer, Gerd Unverfehrt, Herwig Guratzsch, Christoph Stölzl (Hgg.), Bild als Waffe. Mittel und Motive der Karikatur in fünf Jahrhunderten [Ausstellungskatalog], München 1984, S. 355 – 383, hier S. 357.   7 Grundsätzlich: Hofmann, Karikatur, S. 355 – 383.   8 Max Hasse, Spott mit dem Spott treiben. Bildzitate in der Karikatur des ausgehenden 18. Jahrhunderts, in: Zeitschrift für Kunstgeschichte 47 (1984), S. 523 – 534.   9 Annie Duprat, Une guerre des images: Louis XVIII, Napoléon et la France en 1815, in: Revue d’histoire moderne & contemporaine 47 (2000), 3, S. 487 – 504, hier S. 487. 10 Der Grund dürfte in der politischen Zensur in Deutschland und Österreich, liegen (vgl. Hofmann, Karikatur, S. 379), wobei einerseits zu bemerken ist, dass die Zensurbestimmungen zwischen Ende 1813 und Sommer 1815 gelockert, mit der Gründung des Deutschen Bundes aber wieder verschärft wurden (Jürgen Döring, Zur Vielfalt und zum Scheitern der Napoleonkarikatur in Deutschland, in: Philippe Kaenel, Rolf Reichardt (Hgg.), Interkulturelle Kommunikation in der europäischen Druckgraphik im 18. und 19. Jahrhundert, Hildesheim, Zürich, New York 2007, S. 463 – 477, hier S. 465) und andererseits festgestellt werden kann, dass sich in Frankreich die Zensur 1814/1815 als weitgehend wirkungslos erwies (Duprat, Une guerre,

Zur politischen Karikatur am Wiener Kongress

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Kongresses zum Inhalt haben, bisher kaum auf die mehr oder weniger versteckten bildlichen und textlichen Anspielungen untersucht. Eine Geschichte der Karikaturen zum Wiener Kongress hat also in vieler Hinsicht – und im Gegensatz zur gut erforschten und auch als vorbildlich für den Kontinent anzusehenden11 englischen Karikatur der napoleonischen Ära12 – Neuland zu betreten.

Abb. 1. Es geht zum Ende, deutsche Fassung der Karikatur Commencement du Finale (1813/1814 von Johann Michael Voltz nach Gottfried Schadow). (© bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte)

Ein Beispiel soll eingangs die grundsätzlichen Spezifika der politischen Karikatur im frühen 19. Jahrhundert vorstellen, und zwar eine mit Commencement du S. 504). Der habsburgische Souverän war aber durch seine intensive Sammlungstätigkeit über das erschienene Material an (vor allem französischen) Karikaturen immer auf dem Laufenden, vgl. Rainer Valenta, Die Privatbibliothek Kaiser Franz’ I. Politik und Geschichte im Spiegel einer Sammlung zur Zeit des Wiener Kongresses, in: Reinhard Stauber, Florian Kerschbaumer, Marion Koschier (Hgg.), Mächtepolitik und Friedenssicherung. Zur politischen Kultur Europas im Zeichen des Wiener Kongresses (Austria: Forschung und Wissenschaft – Geschichte, Bd. 9), Berlin u. a. 2014, S. 187 – 208. 11 Claudia Hattendorff, Karikatur pro Napoleon. Eigenes und Fremdes, High and Low, in: Ekaterini Kepetzis, Stefanie Lieb, Stefan Grohé (Hgg.), Kanonisierung, Regelverstoß und Pluralität in der Kunst des 19. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2007, S. 73 – 91, hier S. 81. 12 Christina Oberstebrink, Karikatur und Poetik. James Gillray 1756 –1815, Berlin 2005.

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Werner Telesko

Finale 1813/1814 von Johann Michael Voltz (nach Gottfried Schadow) hergestellte kolorierte Radierung im Format 21,8 x 31,0 cm.13 Ursprünglich waren dieser Karikatur auf einem Beiblatt gereimte Verse beigegeben, die sich auf die bildliche Darstellung beziehen: „Der Kaiser Alexander schlägt den Tact mit der Kanone, / Und Friedrich Wilhelm streicht den Bass auf seinem ehrnen Throne, / Der Kaiser Franz und Carl Johann die spielen Geig’ und Flöte; / Als das Quartett mit Kraft begann, da sprang die grüne Kröte. / Seht wie der Schalk die Löffel hält, das will ihm nicht gefallen; / Du weltberühmter großer Held, so geht’s den Dieben allen!“. Dieses Gedicht unterstreicht die enge TextBild-Beziehung, die Karikaturen generell inhärent ist14 – ein Aspekt, der in der jüngeren Forschung auch dahingehend unterstrichen wurde, dass die Karikatur generell als „Geschwistergattung der literarischen Satire“15 Bezeichnung fand. So ist auch der Titel der genannten Graphik nicht nur ein Blatttitel im engeren Sinne, sondern bezieht sich unmittelbar auf einen Ausspruch Talleyrands, der beim Beginn von Napoleons Feldzug gegen Russland genüsslich wie emphatisch ausgerufen haben soll: „Ha! C’est le commencement de la fin.“ Diese Formulierung, die – als „Anfang vom Ende“ – sprichwörtlich geworden oder bereits gewesen ist, erhält im konkreten Fall nicht nur als historisches Zitat Bedeutung, sondern bezieht sich zugleich auf die dargestellte Szene, in der einerseits ein Bühnenstück beschrieben wird, letztlich aber auch das „Finale“ als Schlusssatz im musikalischen Sinn – die große Politik als Theater in der übertragenen wie in der wörtlich-historischen Bedeutung, da Napoleon das Theater bekanntlich sehr liebte. Letzterer gewinnt nochmals Aufmerksamkeit, da der fiktive Druckvermerk der Graphik – „erschienen in Paris bei Furioso le Petit“ (in deutscher Übersetzung)16 – eine besondere Bösartigkeit darstellt, da sie sich explizit auf den kleinen Korsen bezieht. 13

Langemeyer, Unverfehrt, Guratzsch, Stölzl (Hgg.), Bild als Waffe, S. 182, Nr. 129. Sabine Scheffler, Ernst Scheffler unter Mitarbeit von Gerd Unverfehrt, So zerstieben getraeumte Weltreiche. Napoleon I. in der deutschen Karikatur (Schriften zur Karikatur und kritischen Grafik, Bd. 3), Stuttgart 1995, S. 76 – 77, 223 – 225, Nr. 3.2, Farbtaf. X. Hans Peter Mathis (Hg.), Napoleon I. im Spiegel der Karikatur. Ein Sammlungskatalog des Napoleon-Museums Arenenberg, Zürich 1998, S. 524 – 525, Nr. 320; Döring, Zur Vielfalt und zum Scheitern, S. 469, Abb. 5; Mark Bryant, Napoléon en caricatures, Paris 2010, S. 123 (Abb.); Klaus Hofmann (Hg.), Napoleon im Zerrspiegel zeitgenössischer Karikaturen. 200 Jahre Völkerschlacht bei Leipzig [Katalog von Sonderausstellung 1. September bis 17. November 2013, Museum Burg Posterstein], Posterstein 2013, S. 155 (Abb.). 14 Besonders in englischen Karikaturen der napoleonischen Zeit nehmen Inschriften (auch in Form von „Sprechblasen“) eine zentrale Stellung ein, besonders deutlich in einer radierten Karikatur Napoleon als „korsischer Münchhausen“, 1813, vgl. Walter Koschatzky (Bearb.) mit Beiträgen von Helmut Grill, Carla Schulz-Hoffmann, Martin Schawe, Gisela Vetter, Karikatur und Satire. Fünf Jahrhunderte Zeitkritik [Ausstellungskatalog], München 1992, S. 140, Nr. 112. 15 Oberstebrink, Karikatur, S. 13. 16 Zur Tätigkeit des unter dem Pseudonym „Furioso“ („Forioso“) firmierenden Karikaturisten, vgl. Hattendorff, Karikatur, S. 84.

Zur politischen Karikatur am Wiener Kongress

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Die Hauptszene des Blattes ist zweigeteilt, stellt im Vordergrund das Orchester europäischer Monarchen dar, die aufspielen und solcherart Napoleon einheizen17. Im Hintergrund geht das Theaterstück zu Ende, da die Fürsten des Rheinbundes das Schauspiel durch die aufgestellten Kulissenwände verlassen und es somit beenden: So sind der passionierte Jäger Leopold III. Friedrich Franz, Fürst und Herzog von Anhalt-Dessau (mit der Jagdflinte), der Napoleon-treue Friedrich August von Sachsen (mit Gebetbuch), Großherzog Karl von Baden, Fürstprimas Karl von Dalberg, Großherzog Ludwig I. von Hessen sowie – im Vordergrund – Maximi­ lian I. Joseph und Friedrich I. von Württemberg wiedergegeben18. An diesem Blatt lassen sich grundsätzliche Merkmale der Karikatur in der Epoche des Wiener Kongresses festmachen: Die Darstellungen zeigen in der Regel mehrere Personen, häufig sogar eine Fülle von Herrschern und Politikern. Aus diesem Grund kann man auch kaum von spezifischen Karikaturen zur „sächsisch-polnischen“ Frage sprechen, sondern vielmehr von Blättern, in denen dieses zentrale Problem des Kongresses – neben anderen territorialen Streitpunkten – auch eine Rolle spielt. Karikaturen sind im Wesentlichen „Körperbilder“: Physiognomische Eigenschaften, Körperwuchs und Kleidung werden als zentrale Argumente eingesetzt, um mehr oder weniger hochgestellte Persönlichkeiten in Form einer anklagenden „Schaustellung und Bloßstellung“19 treffsicher bezeichnen zu können. Personifikationen von Nationen spielen hingegen eine deutlich untergeordnete Rolle20. Die typenmäßige Herkunft der Wiedergabe von Personen im Rahmen von Karikaturen – das wird am gezeigten Beispiel ebenso deutlich – ist die Herrscherrepräsentation des Staffeleibildes bzw. die davon abgeleitete Druckgraphik. Text und Bild sind in Karikaturen – wie angedeutet – durchwegs aufeinander bezogen. Des Öfteren sind eigene Kommentarblätter, die Identifikationen bzw. Interpretationen vornehmen und Missverständnisse beseitigen sollten, überliefert. Die Funktion eines solchen Beiblattes ist letztlich darauf ausgerichtet, falsche Deutungen erst gar nicht aufkommen zu lassen, da die Karikatur im Kern vom unmittelbar einsichtigen Wort- und Bildwitz lebt, der nicht erst umständlich 17

Siehe hier auch die radierte Karikatur „Napoleon tanzt nach der Musik der Allierten“ („Nicolas dansant L’Anglaise“), 1815, vgl. Koschatzky (Bearb.), Karikatur, S. 148, Nr. 127. Eine spezielle Variante der späten Napoleon-Karikatur bilden Blätter mit den drei Monarchen, die den Korsen demütigen, vgl. S. Scheffler, E. Scheffler, So zerstieben getraeumte Weltreiche, S. 94 – 95, 242 – 244, Nr. 3.27, Farbtaf. XIX; S. 138 –139, 316, Nr. 3.120, Farbtaf. XLI; S. 351– 352, Nr. 5.28. 18 Langemeyer, Unverfehrt, Guratzsch, Stölzl (Hgg.), Bild als Waffe, S. 182; S. Scheffler, E. Scheffler, So zerstieben getraeumte Weltreiche, S. 223 – 225. 19 W. Hofmann, Karikatur, S. 373, 378. 20 Erkennbar etwa in einer radierten Karikatur mit dem Titel „Kampf zwischen dem englischen Hahn und der russischen Henne“ (1791), die aber auf die Kombination von Herrscherkopf und Tierleib nicht verzichtet, vgl. Koschatzky (Bearb.), Karikatur, S. 137, Nr. 108.

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emblematisch oder allegorisch vermittelt werden muss21. In dieser Hinsicht spielt in der Gattung der Karikatur etwa die Zeichenhaftigkeit der Heraldik keine Rolle. Als emblematisch unterlegte Karikaturen können vor allem solche Beispiele angesprochen werden, bei denen sich die Komposition im Ganzen auf ein (bildlich eingängiges) Emblem bezieht oder dieses variiert. So ist jene Karikatur von Anfang Juli 1815, die mit Ils viennent se bruler à la Chandelle („Sie werden sich am Kerzenlicht verbrennen“)22 bezeichnet ist und Napoleon als kerzenhaltenden Herrscher auf einer Art Schädelstätte zeigt, nur vor dem Hintergrund der frühneuzeitlichen Emblematik verständlich, die in das Kerzenlicht taumelnde Mücken als Allegorie des Untergangs durch Verlangen nach Verbotenem zeigt23. Der antityrannische Bilddiskurs, der Napoleon in überheblicher Triumphpose auf dem Mont St. Jean bei Waterloo zeigt, gewinnt solcherart nur vor der Folie der ikonographischen Überlieferung Bedeutung. Die Fülle des von Napoleon auf dem Weg nach Waterloo verursachten Unglücks ist nun Gegenstand zahlreicher Attribute auf dem neuen „politischen“ Golgatha: Diese sind penibel beschriftet, einerseits, um die Fülle der Schandtaten zu brandmarken, andererseits, um keinerlei inhaltlichen Missverständnisse beim Rezipienten aufkommen zu lassen. Das Bild des die Fackel haltenden Napoleon ist im Wortsinn ein idealtypisches „Gegenbild“, da hier der Anspruch des prometheischen – mithin aufklärerisch agierenden – Menschen verkehrt erscheint. Die Visualisierung der polnisch-sächsischen Frage stellte eine besondere Herausforderung für die Karikatur dar, da sich diese Streitfrage am Kongress über einen längeren Zeitraum hinzog: Aus dem Konflikt der „großen Vier“ um territoriale Zugewinne in Polen entwickelten sich die Auseinandersetzungen um die Zukunft des Königreichs Sachsen. Da die Lösung beider Probleme miteinander in Zusammenhang gebracht wurde, sprachen schon die Zeitgenossen von der „polnisch-sächsischen“ Frage24. Die Prozesshaftigkeit der diplomatischen Aktivitäten zur Lösung dieses polnisch-sächsischen Problems und die damit verbundenen wechselnden Koalitionsbildungen der am Kongress anwesenden Parteien konnten dabei verständlicherweise kaum Eingang in die Gestaltung von Karikaturen finden. Diese sind letztlich – mit wenigen Ausnahmen von Blättern, die in Zeitungen erschienen, – in der Regel nie so genau datierbar, dass sie präzise auf bestimmte Abschnitte des diplomatischen Verhandlungsgeschehens bezogen

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Für die von W. Hofmann, Karikatur, S. 362, ins Spiel gebrachte „Vieldeutigkeit“ gibt es bei der politischen Karikatur allerdings kaum Anhaltspunkte. 22 Hubertus Fischer, Wer löscht das Licht? Europäische Karikatur und Alltagswelt 1790 –1990 (Schriften zur Karikatur und kritischen Grafik, Bd. 2), Stuttgart 1994, S. 130 –134, Abb. 84; Mathis (Hg.), Napoleon, S. 487 – 488, Nr. 279 (mit Abb.). 23 Ebd., S. 130, Abb. 83. 24 Reinhard Stauber, Der Wiener Kongress (UTB, Bd. 4095), Wien, Köln, Weimar 2014, S. 78 – 90.

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Abb. 2. Kupferstich zur Ersten Polnischen Teilung (1772) von Johannes Esaias Nilson. (© bpk – Bildagentur für Kunst, Kultur und Geschichte)

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werden können. Da Karikaturen kennzeichnende (in der Regel länger andauernde) „Images“ zu erzielen hatten, mussten für die Vertreter der Staaten vor allem eingängige Zuordnungen gefunden werden, die verständlicherweise nicht ständig gewechselt werden konnten. Aus diesem Grund sind die Karikaturen, welche die polnisch-sächsische Frage mitthematisieren, letztlich genau auf jene Stereotypien angelegt, denen die Bildproduktion zum Kongress generell unterliegt. Dies musste zwangsläufig zu Vereinfachungen, Verfälschungen und Plattitüden führen. Dazu kommt, dass besonders die „polnische“ Frage im Rahmen der europäi­ schen Mächtepolitik eine längere historisch-territoriale und damit ikonographische Vorgeschichte aufweist: Bereits in einem Kupferstich zur Ersten Polnischen Teilung (1772) von Johannes Esaias Nilson25 wird deutlich, welchen zentralen Stellenwert die Visualisierung von Landkarten in den Händen der Souveräne besitzt (Abb. 2). Damit ist ein höchst folgenreiches – und auch die Karikaturen der Kongresszeit bestimmendes – Motiv ins Spiel gebracht, das in anschaulicher Weise das harte Ringen um die zukünftige Aufteilung des polnischen Territoriums zeigen soll. David Low’s berühmte Karikatur vom 20. September 1939 auf den „HitlerStalin-Pakt“26 steht gleichsam am Ende dieser langen historischen Reihe der Thematisierung der Aufteilung des polnischen Territoriums. Eine anonyme radierte Karikatur mit dem Titel La restitution ou chaqu’un son compte („Die Wiederherstellung oder Jedem das Seine“)27 veranschaulicht dieses „Handeln“ mit Territorien am Wiener Kongress in besonderer greifbarer Weise (Abb. 3). Während Zar Alexander Ludwig XVIII. die Krone Frankreichs zurückerstattet, zwingt Wellington Napoleon, die annektierten Staaten und Provinzen zurückzugeben: Das geschieht auf der Basis eines Wortspiels mit dem Infinitiv „rendre“, der im Französischen sowohl „zurückgeben“ als auch „erbrechen“ bedeuten kann, wie dies im Bild auch wörtlich wiedergegeben wird. Franz II. (I.), der König von Preußen und Ferdinand VII. von Spanien haben bereits verschiedene Territorien eingesteckt. 25

Staatliche Museen zu Berlin  –  Preußischer Kulturbesitz, Kupferstichkabinett, Berlin, Inv.-Nr. 873 –107; vgl. Małgorzata Omilanowska (Hg.) unter Mitarbeit von Tomasz Torbus, Tür an Tür. Polen – Deutschland. 1000 Jahre Kunst und Geschichte [Ausstellungskatalog], Köln 2011, S. 483, Nr. 13.7a (mit Abb.). Polnische Ausgabe des Bandes u. d. T.: Obok. Polska – Niemcy. 1000 lat historii w sztuce, Köln 2011. 26 Nicholas J. Cull, David Culbert, David Welch, Propaganda and mass persuasion. A historical Encyclopedia. 1500 to the Present, Santa Barbara 2003, S. 66. 27 The British Museum, London, Inv.-Nr. 98.318, vgl. Der Wiener Kongress, 1. September 1814 bis 9. Juni 1815. Ausstellung veranstaltet vom Bundesministerium für Unterricht gemeinsam mit dem Verein der Museumsfreunde [Ausstellungskatalog], Kataloggest. v. Epi Schlüsselberger, Wien 1965, S. 68, Nr. 4h. Werner Hofmann (Hg.), Europa 1789. Aufklärung, Verklärung, Verfall [Ausstellungskatalog], Köln 1989, S. 415, Nr. 553 (mit Abb.).

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Abb. 3. Anonyme Karikatur mit dem Titel La restitution ou chaqu’un son compte. (© The British Museum, London)

In der im Journal de Paris vom 10. Juni 1815 angekündigten radierten Karikatur mit dem Titel La bouillotte28, der ein (heute nicht mehr praktiziertes) französisches Kartenspiel, aber auch „Wärmflasche“ bezeichnen kann, ist die Politik in Form eines Spiels das alles beherrschende Bildmuster (Abb. 4). Die alliierten Vertreter (von links nach rechts) Franz II. (I.), Alexander I., Friedrich Wilhelm III. und der Herzog von Wellington sind um einen Tisch versammelt (Napoleon ist dabei, den französischen König von seinem Platz zu verdrängen) und spielen um die zukünftige Machtverteilung in Europa, wie die Einsätze (Polen bei Alexander, Sachsen beim preußischen König) zeigen. Dieses Blatt unterstreicht zugleich die vorherrschenden visuellen Strategien von Karikaturen: Das politische Geschehen wird vereinfachend auf eine bestimmte Handlung zugespitzt, die als Muster für das Schachern mit Ländern – in der Tat ein Kontinuum der Verhandlungen am Kongress – herhalten muss. Handlungsträger sind die

28

The British Museum, London, Inv.-Nr. 98.660, vgl. Der Wiener Kongress [Ausstellungskatalog], S. 67, Nr. 4e. Mathis, Napoleon (Hg.), S. 392 – 393, Nr. 179 (mit Abb.). Häufig ist es – wie hier – ein zentraler Begriff, der zugleich als Blatttitel als auch als visuelles Erklärungsmuster fungiert, ebenso anschaulich bei der radierten Karikatur „La Girouette“ („Die Wetterfahne“), um 1815, vgl. Koschatzky (Bearb.), Karikatur, S. 144, Nr. 116.

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politischen Repräsentanten, die durch Kleidung und Physiognomie entsprechend ausgezeichnet bzw. überzeichnet sind.

Abb. 4. Karikatur La bouillotte, angekündigt im Journal de Paris vom 10. Juni 1815. (© The British Museum, London)

Dies trifft auch auf die berühmte französische Karikatur Le Congrès (1815)29 zu (Abb. 5), welche die Protagonisten des Geschehens tanzend – und damit offensichtlich das legendäre Zitat Fürst de Lignes aufgreifend – zeigt: im Zentrum der Zar, links der österreichische Kaiser und rechts der preußische König. Die beiden ersteren halten jeweils ihren linken Arm hinter dem Rücken des Zaren miteinander verschränkt. Über ihren Köpfen ist zu lesen: „Ils balancent.“ Links sind Lord Castlereagh und der das Geschehen abwartend beobachtende Talleyrand wiedergegeben. Rechts an die drei Protagonisten anschließend ist Friedrich August I., König von Sachsen dargestellt30, en face und seine Königskrone fest 29

The British Museum, London, Inv.-Nr. 98.681, vgl. Klaus Günzel, Der Wiener Kongress. Geschichte und Geschichten eines Welttheaters, München, Berlin 1995, S. 89 (Abb.). Frank Göse u. a. (Hg.), Preußen und Sachsen. Szenen einer Nachbarschaft [Ausstellungskatalog und Konferenzschrift], Dresden 2014, S. 442 (Abb.), 469, Nr. 7.22. 30 Eine Karikatur als kolorierte Federzeichnung mit dem Titel „Westliche Ansicht von Teutschland und dem Congress, im Jänner 1815“ (Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv und

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mit beiden Händen ängstlich am Kopf haltend. Über seinem Kopf steht: „Il danse terre-à-terre.“ Ganz rechts ist die weibliche „République de Gênes“ wiedergegeben – springend und mit der Beischrift „elle saute pour le roi de Sardaigne.“, um die zukünftige Bestimmung Genuas als Teil des Königreiches Piemont-Sardinien anzudeuten. Alle Personen sind mit Tanzschuhen ausgestattet – mit Ausnahme des preußischen Königs, dessen bekannt militärische Attitüde die Wahl der Stiefel bestimmt haben dürfte.

Abb. 5. Karikatur Le Congrès, 1815. (© The British Museum, London)

Das „terre-à-terre“ beim sächsischen König bezeichnet in der Sprache der Reiter einen kurzen, hocherhobenen Schaukelgalopp im Zwei- oder im leicht versetzten Viertakt und – was im konkreten Fall viel wichtiger ist – einen Ausdruck des Tanzes: Die Ballerina behält dabei ihre Füße die ganze Zeit am Boden bzw. hebt diese nur leicht ab. Wörtlich übersetzt bedeutet dieser französische Ausdruck „Boden an Boden“ und meint damit, dass bei einer Schrittfolge die Füße mehr über den Boden gezogen als gehoben werden. So soll das Standbein nie Porträtsammlung, Wien, Pk 5001) nimmt ebenfalls den König von Sachsen ins Visier, der sich die Hosen hält, während eine Hand in blauem Ärmel (Preußen) nach ihm greift, aber von einer zweiten Hand in weißem Ärmel (Österreich) zurückgehalten erscheint.

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den Boden verlassen und das Spielbein diesen nur ganz wenig. Die Fußspitze ist dabei ausgestreckt und hält Kontakt zum Tanzparkett, was letztlich einem Schleifen entspricht. Auf das politische Verhalten übertragen bedeutet dies nichts anderes als eine bildliche Veranschaulichung des Beharrens des sächsischen Königs auf Forderungen, die politisch nicht durchzusetzen waren: So zögerte Friedrich August, der erst im Februar 1815 aus der preußischen Gefangenschaft entlassen wurde, lange, in die Spaltung seines Königreiches einzuwilligen. Hinsichtlich einer Beurteilung der Bildsprache kann konstatiert werden, dass hier „Tanzen“ in unterschiedlichen Abstufungen deutlich gemacht wird: Während die drei tonangebenden Monarchen über ihre tänzerischen Bewegungen gleichsam frei und souverän verfügen können, sind alle anderen in mehr oder weniger unvorteilhaften Positionen gegeben: Selbst Lord Castlereagh wird als hin- und her rutschend bzw. schwabbelnd („ballotter“) gezeigt. Im Rahmen der Produktion der Karikaturen sind nicht nur auffällige Stereotypien in Bezug auf die Schilderung der dargestellten Personen zu erkennen, sondern auch solche hinsichtlich der Wahl der zentralen Handlungsmuster: So können generell Tanz, Theater sowie Schaukel und Waage als bevorzugte Themenstellungen erkannt werden31, deren gemeinsamer Nenner in einer eingängiglebensnahen Visualisierung des Suchens nach Gleichgewicht bzw. Aufzeigens von Disharmonie besteht. Die demgemäß häufig im Zentrum des Interesses stehende Balance politique32 ist auch explizit Gegenstand einer radierten Karikatur vom 15. Mai 1815 (erschienen in der Pariser Zeitung Le Nain Jaune ou journal des arts, des sciences et de la littérature33 und mit einem umfangreichen erklärenden Kommentar versehen), die an einer überdimensionierten Waage den Herzog von Wellington (links) mit Geld und Gold auf der einen Seite sowie den König von Preußen mit einem Warenpaket (bezeichnet mit „Saxe“ und „F.G.“ [für FrédéricGuillaume oder Fédération Germanique]) und Fürst Karl Philipp zu Schwarzenberg („O“ für Österreich) zeigt (Abb. 6). Letzterer, an Physiognomie und Leibesfülle identifizierbar, hält seine Hände an ein Paket, dessen Hülle bereits gerissen ist und den Inhalt, Waffen sowie lärmende Personen, freilegt. Während Friedrich Wilhelm sagt „J’en Prendrai la Moitié.“, ist die – inhaltlich eigentlich Staatskanzler Metternich zuzuordnende – Beischrift bei Schwarzenberg („J’y consens pourvu — qu’on me laisse sur le Po.“ [der Fluß Po oder Nachttopf]) wohl als Anspielung auf die norditalienischen Interessen Österreichs zu verstehen. Hinter ihm sitzt der Zar auf einem Fass, beschriftet mit „Pologn[e]“, kleine Personen auf der einen Schmalseite zeigend. Alexander 31

Vgl. die Beispiele bei Mathis (Hg.), Napoleon, S. 473 – 475, Nr. 261– 264. The British Museum, London, Inv.-Nr. 100.487, vgl. Der Wiener Kongress [Ausstellungskatalog], S. 65 – 66, Nr. 4b. Omilanowska (Hg.), Tür an Tür, S. 488, Nr. 13.18 (Abb.). Göse (Hg.), Preußen und Sachsen, S. 383 (Abb.). 33 Diese satirische Zeitung mit deutlich jakobinisch-bonapartistischer Ausrichtung ist nur zwischen dem 15. Dezember 1814 und dem 15. Juli 1815 erschienen. 32

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konferiert mit Talleyrand und ruft „J’ai ma Pologne en pièce.“, versteht also nicht, dass ihm die Polen entkommen [wollen], Talleyrand hingegen sagt überlegend „Je M’en demande — que pour un Louis.“ Sein Wortspiel bezieht sich auf seine Habgier, seine Unterstützung König Ludwigs XVIII. sowie auf die Währungseinheit Louis. Im Zentrum des in Wort und Bild gegenwärtigen Gebens und Nehmens stehen die Waage und die damit konsequenterweise verbundene Verteilung von Gewichten zum Erreichen der notwendigen politischen Balance. Das Blatt fungiert insofern auch als Membran der medialen Rezeption, als es in den Darstellungen des Herzogs von Wellington und Talleyrands ganz offensichtlich auf die berühmte Kongress-Zeichnung Jean-Baptiste Isabeys (1815)34 zurückgreift, die erst 1819 von Jean Godefroy im Druck veröffentlicht wurde.

Abb. 6. Karikatur Balance politique, 15. Mai 1815, erschienen in der Pariser Zeitung Le Nain Jaune ou journal des arts, des sciences et de la littérature. (© The British Museum, London)

Von der Verwendung des Theatermotivs im Rahmen von Karikaturen war bereits eingangs die Rede. Eine englische Karikatur vom Jänner 1815 greift ebenfalls auf den Innenraum eines Theaters zurück und ist im Untertitel mit Now perfor34

Hans-Martin Kaulbach, Cornelia Manegold (Hg.), Friedensbilder in Europa 1450 –1815. Kunst der Diplomatie – Diplomatie der Kunst [Austellungskatalog], Berlin, München 2013, S. 10 –12, Abb. 3.

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ming at the Theatre Royal Europe, with new Scenery decrorations [sic!] &c &c &c bezeichnet35.

Abb. 7. Karikatur Now performing at the Theatre Royal Europe, with new Scenery decrorations [sic!] &c &c &c, Jänner 1815. (© The British Museum, London)

Der Haupttitel Twelfth Night, or What You Will (Abb. 7) nimmt den Titel von Shakespeares Stück Was ihr wollt (verfasst um 1601) auf. Der Begriff „Twelfth Night“ ist zudem eine Anspielung auf die Epiphaniasnacht als Abschluss der zwölf Rauh­nächte. Damit setzt die Karnevalszeit ein, die bereits zu Shakespeares Zeiten mit Maskenspielen gefeiert wurde, in denen Personen durch Verkleidung vorübergehend ihre Identität wechselten – eine klare Anspielung einerseits auf eine bestimmte Phase des Wiener Kongresses, andererseits aber ein allegorischliterarisch verkleideter Hinweis auf den Kongress als „politisches“ Theater (Theatre Royal Europe, wie es im Titel heißt): Mit dem am Tisch übergroß platzierten „Twelfth Cake“, einem reich dekorierten Kuchen, dessen Erfindung an den Anfang des 19. Jahrhunderts datiert und der üblicherweise beim „Twelfth Night“Fest Anfang Jänner verzehrt wurde, ist eine zusätzliche zeitliche Fokussierung auf den Jänner 1815 gegeben. Über die Aufteilung dieses Kuchens36 disputieren 35

The British Museum, London, Inv.-Nr. 170.169. Offensichtlich eine Variation auf die berühmte Karikatur „Plumb Pudding in Danger“ (James Gillray, 1805), welche die Aufteilung der Welt zwischen Napoleon und William Pitt mithilfe des

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der Zar (rechts), der König von Preußen (links) und der Kaiser von Österreich. Lord Castlereagh sitzt zwischen Friedrich Wilhelm und Franz – ausgestattet mit Messer und Gabel im Riesenformat. Ihm ist eine Sprechblase zugeordnet, mit deren Text er überdeutlich sein Missfallen zum Ausdruck bringt: „I have been assisting to devide the Cake but I dont much like my Office the the [sic!] Gentlemen seem so dissatisfied.“��������������������������������������������������� Alexander hingegen sitzt neben einer großen Portion, die mit „Russia in Europe“ betitelt ist und damit den Expansionsdrang des Zaren verkörpert. Daran angrenzend ist „Poland“ wiedergegeben – kleiner, aber mit mehr Gebäuden ausgestattet. Alexander greift mit beiden Händen auf Polen und wendet sich zu einem russischen Offizier auf der rechten Seite, der wohl mit Großfürst Konstantin (mit Konföderationshut) zu identifizieren ist, mit der – auf den Bevölkerungsreichtum Polens (insbesondere des Herzogtums Warschau mit 3,9 Millionen Einwohnern) im Vergleich zur russischen Weite anspielenden – Bemerkung: „�������������������������������������������������������������������� Here Brother take possession of this peice [sic!] I think I can manage them both besides this has more plumbs and figures on it which will mix with mine.“ Auf Alexanders linkem Knie liegt ein Papier mit dem Anfang einer Proklamation: „Proclamation to the Poles – Ann ye Blood— Def—d“, wohl jene Konstantins (vom 11. Dezember 1814) an die Polen – eines der wenigen Beispiele einer Bezugnahme auf konkrete politische Texte in Karikaturen. Friedrich Wilhelm (mit einem kleinen Messer) sitzt vor einer kleinen Portion, die mit „Prussia“ bezeichnet ist; der Monarch zeigt aber zugleich auf das größere Stück „Saxony“. Ihm ist folgender Sprechtext beigegeben: „If I add this Saxon peice [sic!] to my Prussian one & put the figure of an Emperor on it, I think my share will look respectable.“ Der Kaiser von Österreich, ihm gegenüber sitzend, breitet seine Arme besitzergreifend über „Germany“ aus – verbunden mit den Worten „I shall get my peice [sic!] cut as large as I can, I dont think it is large enough.“ In der Mitte des Kuchens, wo alle Staaten mit Ausnahme Preußens aufeinandertreffen, klafft eine unregelmäßige Vertiefung. Hinter Konstantin sind vier ärmlich gekleidete Souveräne mit ihren Insignien im Bittgestus zu erkennen – darunter Ferdinand von Sizilien auf beiden Knien kniend. Die anderen sind wahrscheinlich als die Regenten von Sachsen, Bayern und Württemberg zu identifizieren. Sie werden aber von den um den Kuchen sitzenden gierigen Herrschern ignoriert. Auf den Wolken liegt „Iustitia“ mit der Waage in der erhobenen Rechten. Diese hält aber nicht das Gleichgewicht – verursacht durch das Blasen der Personifikationen von „Habgier/Geiz“ und „Ehrgeiz/Streben“. Verschiedene Souveräne schauen dem Geschehen aus den Logen zu. Die Musiker pausieren und blicken einander amüsiert an. Die erste Violine hat eine Partitur vor sich, welche – die Personifikationen am Himmel aufgreifend – mit „Avarice and Ambition – an Old Song to a New Tune“ betitelt ist, womit vor allem die monarchische Habgier am Wiener Zerteilens eines Kuchens veranschaulicht, siehe hier auch die Karikatur „An Imperial Bonne Bouche or the Dinner at Tilsit“ (1807), vgl. Mathis (Hg.), Napoleon, S. 212 – 213, Nr. 30 (mit Abb.).

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Kongress aufgegriffen wird. Nicht ganz zufällig ist „an Old Song to a New Tune“ aber auch eine geistvolle Umdrehung des englischen Kriegsgedichts „A New Song to an Old Tune“, das im Jahr 1804 die drohende französische Invasion in England thematisierte. In dieser Karikatur wird einerseits das Kuchen-Motiv aufgenommen, das sich hinsichtlich einer treffsicheren Visualisierung der Aufteilung Europas als besonders praktikabel erwies, andererseits rezipiert das Blatt das geläufige Motiv einer Versammlung von Staatsmännern37, hier unterstrichen durch eine rigide Trennung zwischen Großmächten und aussichtslosen Bittstellern, – eine grobe und polarisierende Vereinfachung, die dem komplexen diplomatischen modus procedendi des Kongresses nicht gerecht wird. Zugleich wird in dieser Graphik sowie in anderen Blättern ein gesteigerter Wunsch nach einer „Sichtbarkeit des politischen Handelns, einschließlich der Aushandlungsprozesse“38 als Signum moderner Politik deutlich. Gerade die Bildmotive von Versammlung und Beratung der Vertreter der Großmächte, wie sie geradezu inflationär in Druckgraphiken auftauchen, die zur Zeit des Kongresses als Reportagebilder ohne karikierenden Hintergrund konzipiert worden sind, scheinen letztlich ein wesentlicher Motor für die Gestaltung der Karikaturen, die mit den spezifischen Möglichkeiten ihrer Bildsprache eine radikale Zuspitzung und Schärfung der Argumentation vornahmen, gewesen zu sein. Damit kann die Karikatur auch aus ihrer scheinbar isolierten Stellung im Rahmen der Bildmedien der Kongresszeit herausgelöst werden – ein Aspekt, der für ihre Beurteilung generelle Bedeutung besitzt, da in den entsprechenden Zeugnissen eine deutliche Tendenz zur „Nachahmung von Motiven und Strukturen anderer Gattungen und Darstellungsformen“39 nachweisbar ist. Zusammen mit Darstellungen, wie sie etwa in Eipeldauers Briefen (Briefe eines Eipeldauers an seinen Herrn Vetter in Kakran über d’Wienstadt, […])40, verfasst von Joseph Richter ab dem Jahr 1785, zahlreich aufzufinden sind und sich karikierend sowohl auf Zustände während des Kongresses als auch auf den Kongress selbst – immer aus der Perspektive des Volkes – beziehen41 (Abb. 8), wird nun erst die ganze Breite von miteinander zusammenhängenden Sujets und 37

Zum Teil wird die Versammlung von Staatsmännern am Wiener Kongress auch mit anderen Szenen kombiniert, etwa mit der Auseinandersetzung zwischen Ludwig XVIII. und Napoleon, so in einer Karikatur von Lewis Marks (1815) mit dem Titel „La pantomime européenne“, vgl. Bryant, Napoléon, S. 140 (Abb.). 38 Christina Schröer, Republik im Experiment. Symbolische Politik im revolutionären Frankreich (1792 –1799). (Symbolische Kommunikation in der Vormoderne. Studien zur Geschichte, Literatur und Kunst), Köln, Weimar, Wien 2014, S. 653. 39 Oberstebrink, Karikatur, S. 14. 40 Grundsätzlich: Eugen von Paunel (Hg.), Die Eipeldauer-Briefe. Eine Auswahl, 2 Bände, München 1917 –1918. 41 Z. B. Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv und Porträtsammlung, Wien, Neg.-Nr. LW 74.856-C (Illustration zum Jg. 1814, H. 10, S. 44).

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Typenbildungen deutlich, für die das epochale Ereignis des Wiener Kongresses den entscheidenden Auslöser bildete:

Abb. 8. Briefe eines Eipeldauers an seinen Herrn Vetter in Kakran über d’Wienstadt, Illustration zum Jg. 1814, H. 10, S. 44. (© Wien, Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv und Porträtsammlung, Neg.-Nr. LW 74.856-C)

So ist es von der heroischen, bildlich festgefügten und mythologisch unterlegten Verklärung der drei Monarchen Franz II. (I.), Alexander I. und Friedrich Wilhelm III. in dem von Joseph Rossi anlässlich der Rückkehr des österreichischen Kaisers in seine Residenzstadt im Juni 1814 herausgegebenen Denkbuch für Fürst und Vaterland (Wien 1814/1815)42 zur oben beschriebenen Karikatur Le Congrès mit den hüpfenden Regenten letztlich nur ein kleiner Schritt: Affirmatives Bild und karikierendes „Gegenbild“ begegnen sich hier in einer zeitlichen Nähe wie sonst wohl kaum in der europäischen Medienlandschaft des 19. Jahrhunderts. Political caricature at the Congress of Vienna – “Polish-Saxon affairs” in paintings Summary Political caricatures must be given a prominent place within the vast media production of the 19th century. These documents appear to demonstrate that in visual 42

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media, as well as printed political propaganda, there was an omnipresent intensification of argumentation and a certain readiness for conflicts. The examples analysed in this contribution emphasise the undisputed British and French dominance of the genre. Moreover, they indicate that the producers of caricatures were fully acquainted with the complex and changing political claims of the diplomatic representatives of the negotiating nations who were present at the Congress of Vienna from autumn 1814 till summer 1815.

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Polen und die Arbeit der „Statistischen Kommission“ auf dem Wiener Kongress Mit dem Rücktritt Napoleons und dem Abschluss eines Waffenstillstands der alliierten Sieger mit Frankreich im April 1814 begann eine Serie intensiver diplomatischer Verhandlungen in Paris, London und schließlich in Wien, in deren Verlauf ein zentrales Thema offen blieb – die Zukunft des 1807/09 von Napoleon auf Kosten Preußens und Österreichs eingerichteten Herzogtums Warschau. Zar Alexander I. plante, das von seinen Truppen seit Frühjahr 1813 besetzte Gebiet in seinem Besitz zu behalten, zum Königreich zu erheben und dieses, nach dem Modell Finnlands, in Personalunion zu regieren. Diesen Anspruch trug Alexander am 26. September 1814, unmittelbar nach seiner Ankunft in Wien, dem britischen Außenminister Castlereagh vor und löste damit (lange bevor die Verhandlungen überhaupt eröffnet waren) eine gravierende diplomatische Krise aus. Angesichts der absehbaren Gebietsverluste gegenüber dem Territorialstand von 1805 verlangten die Vertreter Preußens Kompensationen und richteten ihren Blick dabei auf das Königreich Sachsen mit seinen rund zwei Millionen Einwohnern. Die sich aus dieser Anspruchslage entwickelnde „polnisch-sächsische Frage“ sorgte nicht nur für eine mehrfache Verschiebung der Kongresseröffnung, sondern blockierte viele Wochen lang die politischen Gespräche in Wien, bis Mitte Dezember der Kongress vor seinem Scheitern stand und sogar militärische Auseinandersetzungen drohten. Der österreichische Außenminister Metternich deutete schon im Oktober die Möglichkeit einer Teilungslösung für Sachsen an, falls dem Wettiner der größere Teil seines Landes und die Residenzstadt Dresden erhalten blieben, doch Hardenberg, Humboldt und Stein wiesen alle Vorschläge zurück und beharrten Castlereagh gegenüber noch im Dezember auf der „total incorporation of Saxony“1. 1



Klaus Müller (Hg.), Quellen zur Geschichte des Wiener Kongresses 1814/1815 (Ausgewählte Quellen zur deutschen Geschichte der Neuzeit, Bd. 23), Darmstadt 1986, Nr. 35, S. 218 (Metternich 22.10.1814), Nr. 52, S. 274 (Castlereagh 24.12.1814). Überblicksmäßige Darstellungen der Verhandlungen in der „polnisch-sächsischen Frage“ in den neuen Gesamtdarstellungen von Thierry Lentz, Le congrès de Vienne. Une refondation de l’Europe 1814 –1815, Paris 2013, S. 127 –147 (deutsche Ausgabe des Bandes u. d. T.: 1815. Der Wiener Kongress und die Neugründung Europas, München 2014). Mark Jarrett, The Congress of Vienna and its Legacy. War and Great Power Diplomacy after Napoleon, London, New York 2014, S. 96 –131. Reinhard Stauber, Der Wiener Kongress, Wien, Köln, Weimar 2014, S. 78 –102. Brian E. Vick, The Congress of Vienna. Power and Politics after Napoleon, Cambridge, London 2014, S. 278 – 320.

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Metternich erklärte daraufhin die multilateralen Verhandlungen im Kreis der Siegermächte über Polen für gescheitert und bat den britischen Außenminister formell um seine Vermittlung, um Wege zur Lösung der Differenzen zwischen Wien und Berlin über die Zukunft Sachsens zu erkunden. Castlereagh akzeptierte unter der Bedingung, dass Preußen vorher einem „suitable arrangement“ für den König von Sachsen zustimme. Dies betraf vor allem den Verbleib des Königs in seinem Stammland und damit den Verzicht auf alle Entschädigungsprojekte, die Italien oder das linke Rheinufer ins Spiel gebracht hatten. Eine deutliche Verkleinerung der sächsischen Lande um etwa die Hälfte schien dem Briten dabei unproblematisch: „This would place Saxony in Germany … a little below what Hanover and Wirtemberg will now be“2. Auf dieser Basis führte Castlereagh am 19. und 20. Dezember Gespräche mit Fürst Czartoryski, der für Zar Alexander die Agenden Polens vertrat, mit dem preußischen Staatskanzler Hardenberg, sowie mit dessen Mitarbeitern Humboldt und Stein und versuchte, die Preußen von ihren Versetzungsplänen und von der angestrebten Totalannexion abzubringen. Er qualifizierte diese Pläne als „harsh“, „strong“ und „unpopular“ und als unvereinbar mit den Interessen der wichtigsten Mächte Europas. Als realistisch scheinenden Zugewinn für Preußen auf Kosten Sachsens sah er „a considerable proportion of the Northern parts of Saxony“ mit den Festungsplätzen Wittenberg und Torgau und mit den beiden Lausitzen. Um alle Parteien im Gespräch zu halten und anstehende Lösungen in den multilateralen Rahmen des europäischen Systems einzupassen, griff Cas���� tlereagh zu einem Verfahrenstrick und brachte eine technische Kommission mit einem strikt sachbezogenen Arbeitsauftrag in Vorschlag, den niemand ablehnen konnte. Diese Kommission sollte die unter den Kabinetten bisher umstrittenen Flächen- und Bevölkerungszahlen („statistical calculations“) jener Gebiete, deren Neuvergabe zur Disposition stand, überprüfen und auf eine allgemein akzeptierte Basis bringen. Auf dieser Basis sollte dann ein präziser Plan für die flächenmäßige Rekonstruktion der preußischen Monarchie erarbeitet werden, und ein solcher Plan werde dann (so Castlereaghs Kalkül) einen Teilverzicht Preußens auf Sachsen ermöglichen3. Den Arbeitsauftrag der Kommission sah er nicht auf Preußen begrenzt, sondern nannte daneben alle deutschen Staaten sowie die Niederlande. Eine Mitarbeit Frankreichs in der Kommission hatte der Brite zunächst offen gelassen, die Möglichkeit aber ausdrücklich erwähnt, und da Talleyrand sehr dezidiert auf der Entsendung eines Vertreters beharrte und dafür auch die Unterstützung Metternichs hatte, wurde die Statistische Kommission als

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Müller (Hg.), Quellen, Nr. 50, S. 267 – 268 (Castlereagh 18.12.1814). Ebd., Nr. 52, S. 273 – 275 (Castlereagh 24.12.1814); das kurze Memorandum mit dem eigentlichen Einrichtungsvorschlag bei Charles K. Webster, The Congress of Vienna 1814 –1815, London 1919, S. 165 –166, vgl. auch ebd., S. 73, 90 – 91.

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Fünf-Mächte-Gremium (Russland, Österreich, Großbritannien, Preußen, Frankreich) ins Leben gerufen4. Castlereaghs Vorschlag vom 20. Dezember 1814 dürfte einen doppelten Grund gehabt haben. Zum einen war er, anders als seine Kollegen, mit den kontinentalen und den deutschen Territorialverhältnissen wenig vertraut und an einem objektiven Überblick tatsächlich interessiert. Zum anderen sah er angesichts des immer größeren Misstrauens, mit dem Metternich und Hardenberg alle Forderungen und Begründungen der jeweiligen Gegenseite zurückwiesen, in der Erarbeitung einer konsolidierten Faktenbasis wohl die einzige Möglichkeit, die Kontrahenten überhaupt im Gespräch zu halten, seiner Vermittlerrolle gerecht zu werden und für eine Teilung Sachsens schließlich Zustimmung zu finden. Die Einbeziehung der vormals unter direkter französischer Herrschaft stehenden Gebiete links und rechts des Rheins, von Briten und Franzosen gegen die Preußen betrieben, erhöhte die Chance auf die Lösung, Sachsen dem Wettiner teilweise zu erhalten, indem man Berlin am Rhein zusätzlich entschädigte. Castlereaghs Ansatz erwies sich als erfolgreich; die Aussichten auf ein „���� ami5 cable arrangement“ verbesserten sich innerhalb weniger Wochen deutlich . Mit der Einrichtung der Kommission vollzog sich außerdem ein weiterer wichtiger Schritt der Zuziehung Frankreichs zu den Verhandlungen, nachdem Vertreter des Bourbonen-Königs bereits in den Ausschüssen zu Genua und zu den Schweizer Angelegenheiten mitarbeiteten. Ab dem 29. Dezember wurden die Gespräche unter den vier Mächten neu aufgenommen, Konsens über die Zulassung Frankreichs erzielt und ein neues Gremium, der Ausschuss der Fünf Mächte, am 12. Januar 1815 etabliert. In dessen Rahmen gelang es, bis Mitte Februar einen Kompromiss in der sächsischen Frage zu erarbeiten, anschließend alle weiteren Gebietsfragen zu behandeln und so ein Scheitern der Kongressverhandlungen abzuwenden. Castlereaghs Vorschlag vom 20. Dezember wurde bemerkenswert rasch umgesetzt: Nur vier Tage später, am Heiligen Abend 1814, trat die „Statistische Grundlagenkommission“ (die vollständige Bezeichnung lautete „Commission chargée de poser des bases statistiques pour servir aux travaux des puissances réunies à Vienne������������������������������������������������������������� “) zu ihrer ersten Arbeitssitzung zusammen. Laut der von Metternich verfassten Instruktion hatte sie anhand der jeweils besten zur Verfügung stehenden Quellen alle von den Alliierten 1813/14 zurückeroberten Gebiete des vormaligen napoleonischen Empire aufzulisten und mit möglichst genauen Abschätzungen der Bevölkerungszahl zu versehen. Wichtig war die Verpflichtung der Großmächte, das herzustellende Zahlenwerk als verbindlich für die Weiter4



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Georges Pallain (Hg.), Correspondance inédite du Prince de Talleyrand et du Roi Louis XVIII pendant le Congrès de Vienne, Paris 21881, Nr. XXXIV, S. 197 – 202 (Talleyrand 28.12.1814). Müller (Hg.), Quellen, Nr. 52, S. 275 (Castlereragh 24.12.1814). Vgl. Jarrett, Congress of Vienna, S. 115 –116.

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arbeit und die zu treffenden territorialen Entscheidungen anzuerkennen, doch sollte (worauf die Preußen größten Wert legten) der Kommission keinerlei Vorentscheidungsrecht in Gebietsfragen zukommen6. Die Anregung Talleyrands, es dürfe bei der Erhebung der Zahlen nicht nur um Bevölkerungsquantitäten („quotité“) gehen, sondern es seien auch die regionalen Lebens- und Wirtschaftsumstände („espèce“) in Betracht zu ziehen, fand zwar Eingang in Metternichs Instruktion und wurde auch von Castlereagh unterstützt, doch für eine Umsetzung in die Praxis, noch dazu unter hohem Zeitdruck, fehlten den Statistikern Material und Bewertungsstandards. So blieben mögliche Gewichtungsfaktoren wie Wohlstand der Bevölkerung oder Bodenqualität der betroffenen Gebiete ausgeklammert, und gelistet wurden nur Bevölkerungszahlen („population“), die als Indikator für zu erwartende Steuerleistungen und damit Staatseinnahmen galten7. Militärische Überlegungen, wie sie etwa bei der Abgrenzung des neuen Königreichs der Niederlande gegenüber dem Gebiet des Deutschen Bundes an der Maas eine Rolle spielten, werden nirgends erwähnt. An der Maas ging es um einen schmalen Uferstreifen („lisière“) rechts des Flusses zwischen Nijmegen und Roermond mit einer Tiefe von etwa tausend rheinischen Ruten (ca. 3,7 Kilometer), der den Niederlanden zugeschlagen wurde und bis heute den Verlauf der deutsch-niederländischen Grenze darstellt8. Solche Überlegungen galten, wie etwa der lange Streit um die Schlüsselstellung Mainz zeigt, als Domäne der hohen Politik und durften nicht auf Expertenebene behandelt werden. Die statistische Unterfütterung lieferte hier nur eine Art „rationales Alibi“ für Entscheidungen, die aus anderen Gründen getroffen wurden9. Hingegen steht fest, dass die Prinzipien, Gebietsaustausch ohne Zwang und dergestalt durchzuführen, dass bevölkerungs- bzw. ertragsmäßige gleichwertige Besitzungen getauscht oder verrechnet wurden, die räumlich möglichst an den Stammbesitz anschließen sollten (wie sie zwischen Bayern und Österreich im Oktober 1813 vereinbart worden waren), eine zentrale Rolle spielten10.   6

Comte d’Angeberg [Pseudonym; eigentlich Leonard Chodźko], Le Congrès de Vienne et les traités de 1815. Précédé et suivi des actes diplomatiques qui s’y rattachent. Avec une introduction historique par M. Capefigue, Paris 1863/64, S. 561– 562, 576.   7 Pallain, Correspondance inédite, Nr. XXXIV, S. 201 (Talleyrand 28.12.1814); Müller (Hg.), Quellen, Nr. 52, S. 275 (Castlereagh 24.12.1814). Vgl. Webster, Congress of Vienna, S. 91.   8 d’Angeberg [eigentlich Chodźko], Le Congrès de Vienne, S. 1415 (Art. 66 der Wiener Schlussakte).   9 Wertung bei Lentz, Le congrès de Vienne, S. 102. Ähnlich Jarrett, Congress of Vienna, S. 130: „Populations of districts were added and substracted in a somewhat mechanical fashion to attain the desired results…“. 10 Eckhardt Treichel (Bearb.), Quellen zur Geschichte des Deutschen Bundes, Abteilung 1: Quellen zur Entstehung und Frühgeschichte des Deutschen Bundes 1813 –1830. Bd. 1: Die Entstehung des Deutschen Bundes 1813 –1815, München 2000, Nr. 7, S. 46 (Vertrag von Ried 8.10.1813, wo u. a. „������������������������������������������������������������������������� proportions géographiques, statistiques et financières������������������� “ und „������������ contigu complet“ angesprochen sind).

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Alle Großmächte entsandten hochrangige Vertreter in die Statistische Kommission: Österreich den zweiten Chefdelegierten Johann Philipp Freiherrn von Wessenberg (dem Nikolaus von Wacken und Paul Handel assistierten), Frankreich Emmerich Joseph Herzog von Dalberg, Großbritannien Richard Le Poer Trench, Earl of Clancarty, britischer Botschafter in den Niederlanden und Castlereaghs wichtigster Vertrauter in der britischen Delegation sowie Ernst Friedrich Graf von Münster (der Hannover auf dem Kongress vertrat), Russland schließlich, ab dem 28. Dezember, den erfahrenen Diplomaten Johann von Anstett. Die Preußen schickten aus ihrer großen Delegation zwei ausgesprochene Fachleute: den Juristen Johann Ludwig Jordan, seit 1799 im preußischen Außenministerium tätig (seit 1814 als Sektionschef), in den Entscheidungsjahren 1813/14 oft im Gefolge Hardenbergs unterwegs und guter Kenner der wirtschaftlichen Verhältnisse. Im Rang unter ihm stand jener Mann, dessen Arbeit für die Kommission entscheidend werden sollte: Johann Gottfried Hoffmann, in Halle, Leipzig und Königsberg ausgebildeter Jurist, Ökonom und Statistiker, seit 1803 in der preußischen Innenverwaltung tätig, 1807 auf den Lehrstuhl für Staatswissenschaften an der Universität Königsberg, 1810 auf jenen an der neuen Berliner Universität berufen. Ebenfalls 1810 war er zum Direktor des neuorganisierten Statistischen Büros des preußischen Staates, das Staatskanzler Hardenberg direkt unterstand, bestellt worden11. Als Sekretär sowie Verfasser der Protokolle und Berichte der Kommission fungierte Georg Friedrich von Martens, 1783 –1808 als Professor für Natur- und Völkerrecht an der Universität Göttingen tätig. Er gehörte zur Vertretung Hannovers auf dem Kongress und war sowohl durch sein 1785 erstmals erschienenes Lehrbuch als auch durch seine ab 1791 publizierte große Quellensammlung, den „Recueil des principaux traités“, als Mitbegründer der Wissenschaft vom Völkerrecht ausgewiesen. 1808 in die praktische Politik gewechselt und in den Staatsrat des Königreichs Westfalen eingetreten, wurde er 1810 Präsident der Finanzsektion dort und 1814 in den Staatsdienst Hannovers übernommen12. Auch an den Weihnachtstagen des Jahres 1814 wurde in Wien gearbeitet: Zu ihrer ersten Sitzung kam die Statistische Kommission am 24. und 25. Dezember 1814 zusammen. Sie legte zunächst, von Ost nach West fortschreitend, die Liste der zu bearbeitenden Gebiete fest, die von Polen bis an den Rhein reichten, große Teile Italiens umfassten und auch die Ionischen Inseln, Ragusa/Dubrovnik, das Fürstentum Neuenburg in der Schweiz und das schwedische Vorpommern 11

Vgl. Richard Boeckh, Die geschichtliche Entwickelung der amtlichen Statistik des Preussischen Staates, Berlin 1863, S. 31– 41. 12 Die Originale der Protokolle in Haus-, Hof- und Staatsarchiv Wien, Staatskanzlei Kongressakten Kart. 5 (Fasz. 9). Drucke: d’Angeberg [eigentlich Chodźko], Le Congrès de Vienne, S.  561– 569, 573 – 585, 594 – 597, 638 – 660; Johann Ludwig Klüber (Hg.), Acten des Wiener Congresses in den Jahren 1814 und 1815, Bd. 5, Erlangen 21833, S. 8 –120 (Neudruck: Osnabrück 1966). Vgl. Josef Karl Mayr, Aufbau und Arbeitsweise des Wiener Kongresses, in: Archivalische Zeitschrift 45 (1939), S. 64 –127, hier S. 104 –106.

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einschlossen. Politischer Kern des Auftrags der Kommission war es, in diesem territorial erweiterten Dispositionsrahmen die arithmetische Basis für die Neukonstituierung Preußens herzustellen, über die dann im Kreis der Großmächte (einschließlich Frankreichs) weiterverhandelt werden sollte. Die meisten Zahlen waren recht rasch erhoben; dann mussten (ein wesentlich zeitaufwändigerer Schritt) Neuschöpfungen der napoleonischen Zeit wie Warschau, Westfalen oder Berg nach den Anteilen ihrer Vorbesitzer aufgegliedert werden. Für Sachsen sollten (ein deutlicher Fingerzeig für geplante Veränderungen) die Bevölkerungszahlen auf dem Stand des Jahres 1812, nach Kreisen getrennt, bis auf die Ämterebene hinab erfasst werden. Schließlich fanden sich auch die vier hanseatischen Departements mit den wichtigen Flussmündungen von Ems, Weser und Elbe, die Napoleon Anfang 1811 direkt an das französische Kaiserreich annektiert hatte, in den Untersuchungsauftrag einbezogen13. Mit der konkreten Ermittlung der Zahlen betraut wurde Hoffmann, der seinen Kommissions-Kollegen am 28. Dezember und am 7. Januar 1815 über seine Resultate berichtete. Er stützte sich hauptsächlich auf die Bevölkerungsverzeichnisse, die Johann Georg Heinrich Hassel, vormaliger Direktor des Statistischen Büros des Königreichs Westfalen, seit 1805 vorgelegt hatte, daneben auf das Jahrbuch („Annuaire“) des Pariser „Bureau des Longitudes“14. Wo aktuelle Zahlenangaben der provisorischen Landesverwaltungen zur Verfügung standen, wurden diese übernommen; bei deutlichen Abweichungen vom gedruckten Material wurde mit Mittelwerten weitergerechnet, oder (wie im Falle der preußischen Fürstentümer Ansbach und Bayreuth in Franken) die komplizierte territoriale Entwicklung der napoleonischen Zeit nachvollzogen, um abweichende Summen zu erklären. Bemerkenswert ist der Fall der „Illyrischen Provinzen“ an der oberen Adria, wo man man keine bessere Zahlenbasis zur Verfügung hatte als Wessenbergs mündliche Angaben zum Jahr 1810, als diese Gebiete von Österreich an Frankreich abgetreten worden waren. Die an erste Stelle gereihte Ermittlung der Bevölkerungszahl für das politisch umstrittene „duché de Varsovie“ bereitete besondere Schwierigkeiten. Das Jahrbuch des „Bureau des Longitudes“ gab sie mit 3,8 Mio. Menschen an; dagegen legte Hoffmann eine handschriftliche Aufzeichnung „par une autorité varsovienne“

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Kurze Übersichten zur Arbeit der Kommission bei Lentz, Le congrès de Vienne, S. 101–103. Stauber, Wiener Kongress, S. 69 – 72. 14 Johann Georg Heinrich Hassel, Statistischer Umriss der sämtlichen Europäischen Staaten in Hinsicht ihrer Grösse, Bevölkerung, Kulturverhältnisse, Handlung, Finanz- und Militärverfassung und ihrer aussereuropäischen Besitzungen, 2 Bde., Braunschweig 1805; Ders., Statistische Übersichts-Tabellen der sämmtlichen europäischen und einiger aussereuropäischen Staaten, Göttingen 1809; Ders., Statistisches Repertorium über das Königreich Westphalen, Braunschweig 1813. Annuaire présenté à Son Excellence le Ministre de l’intérieur par le Bureau des Longitudes pour l’an 1813, Paris 1812.

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vor, die von 4,33 Mio. ausging15. War diese Differenz um eine halbe Million Untertanen schon bemerkenswert genug, so brachte der russische Vertreter Anstett in der Sitzung vom 28. Dezember mit dem trockenen Kommentar, beide Ziffern griffen deutlich zu hoch, eine dritte Zahl ins Spiel: Momentan umfasse die Bevölkerung des Herzogtums Warschau höchstens 3,4 Mio. Menschen. Dahinter stand, wie Czartoryski zu Recht befürchtete, das durchsichtige Kalkül, Russlands Gewinne möglichst kleinzurechnen, während die Preußen aus genau entgegengesetzten Gründen an einem möglichst hohen Ansatz für Warschau interessiert sein mussten. Hoffmann jedenfalls rechnete vorerst mit dem Mittelwert der beiden am 24. Dezember eingebrachten Beträge weiter, 4,07 Mio. Einwohnern, was von der Kommission zunächst als offiziell anzusetzende Bevölkerungsziffer anerkannt wurde. Diese wurde prozentual heruntergebrochen auf die zehn Departements der französisch-sächsischen Zeit und innerhalb dieser auf die Ebene der Kreise, aufgeteilt nach den Vorbesitzern Österreich bzw. Preußen16. Das Eingreifen der Vertreter Großbritanniens führte zu einem nochmaligen Neuansatz. Sicher auf Veranlassung Castlereaghs, der sich in den ersten Januartagen intensiv mit der territorialen Neukonfiguration Preußens beschäftigte, legte Clancarty am 7. Januar 1815 ein neues Kalkül für die Bevölkerungszahl Warschaus vor, und zwar auf der Basis der Gebietsabtretungen durch Preußen 1807 und Österreich 1809. Man kam dabei auf 3.929.626 Menschen, also knapp 140.000 weniger als die 4.067.459 vom 28. Dezember. Dabei entfielen auf Österreich 1,57 Mio., auf Preußen 2,36 Mio. Einwohner-Verluste17. Trotz der Proteste Hoffmanns fand diese Verlustziffer von 2,36 Mio. Eingang in den offiziellen Entschädigungsplan („Plan pour la reconstruction de la Prusse“), den die preußische Delegation am 12. Januar 1815 vorlegte. Dieser kalkulierte die Gesamtverluste der Krone Preußen während der napoleonischen Epoche auf insgesamt 3,4 Mio. Menschen (die polnischen Gebiete machten davon also, wenn man Białystok und Danzig noch einschließt, einen Anteil von drei Vierteln aus). Als größte Rekompensationen wurden dafür ganz Sachsen (2,05 Mio.), der von Russland bereits zugestandenen westlichsten Teil des bisherigen polnischen Staatswesens um Posen (810.000) und das Großherzogtum Berg (300.000) verlangt18. Inzwischen hatten, ebenfalls in den ersten Januartagen, Bündnisabsprachen zwischen Großbritannien, Österreich und Frankreich und ein zurückhaltenderer Kurs des Zaren Alexander zur Gründung jenes neuen Gremiums geführt, das 15

d’Angeberg [eigentlich Chodźko], Le Congrès de Vienne, S. 563 – 564; Klüber (Hg.), Acten des Wiener Congresses, S. 11–13, 34 (Zitat); siehe auch Karte Nr. 2, S. 206. 16 d’Angeberg [eigentlich Chodźko], Le Congrès de Vienne, S. 573 – 574; Klüber (Hg.), Acten des Wiener Congresses, S. 24 – 25, 33 – 39. Vgl. Jarrett, Congress of Vienna, S. 116. 17 d’Angeberg [eigentlich Chodźko], Le Congrès de Vienne, S. 596; Klüber (Hg.), Acten des Wiener Congresses, S. 57 – 58, 81– 82. Zur Aktivität Castlereaghs vgl. Jarrett, Congress of Vienna, S. 125 –130. 18 d’Angeberg [eigentlich Chodźko], Le Congrès de Vienne, S. 602 – 604.

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Humboldt als den „eigentlichen Kongress“ bezeichnete19 und das zur entscheidenden Clearingstelle für die Klärung der strittigen Territorialfragen in Europa wurde. In mehr als vierzig Sitzungen sorgte es bis Juni 1815 dafür, dass die Neuordnung Europas auf eine tragfähige Grundlage gestellt wurde: das Kollegium der Fünf Mächte, zu dem neben den vier alliierten Siegern Russland, Österreich, Preußen und Großbritannien nun auch das besiegte Frankreich Zutritt gefunden hatte. Es war dieses Fünfer-Gremium, dem in seiner ersten Sitzung, eben am 12. Januar, die preußischen Entschädigungsansprüche vorgelegt wurden und in dessen Rahmen innerhalb von vier Wochen die Grundzüge jener Lösung erarbeitet wurden, die eine Teilung Sachsens und die Entschädigung Berlins am Rhein und in Sachsen vorsahen. Zur Bewertung der Vorlage Hardenbergs forderten die übrigen Großmächte bei der Statistischen Kommission noch eine Reihe weiterer Bestandsaufnahmen für den süddeutschen Raum an. Die Statistische Kommission beendete ihre Tätigkeit in einer sechsten und letzten Sitzung am 19. Januar 1815 mit der Vorlage eines Schlussberichts samt umfangreicher statistischer Anhänge für 23 territoriale Einheiten. Zu den Zahlenangaben für das „Duché de Varsovie“, in denen die von den Briten durchgesetzte Schätzung der Bevölkerungszahl von 3,92 Mio. auf sieben „départements“ (Posen, Bromberg, Kalisch, Warschau, Płock, Łomża, Radom / Krakau / Lublin / Siedlce) heruntergebrochen wurde, hieß es, für ein an sich wünschenswertes, noch genaueres „dénombrement“ der Bevölkerung hinunter auf die Ebene der Kreise stünden keine offiziellen Quellen („renseignements officiels“) zur Verfügung, und der Ausschuss habe sich dagegen entschieden, für seine Arbeit andere Arten von Informationen („renseignements“) heranzuziehen20. Die Spitze gegen den anfänglichen Versuch Preußens, ein handschriftliches, angeblich lokaler Expertise entstammendes Datenblatt einzuführen, um damit die eigenen Verluste möglichst hoch anzusetzen, ist offensichtlich. Sicher nicht zufällig am 12. Januar 1815, jenem Tag also, an dem der FünfMächte-Ausschuss zum ersten Mal zusammentrat, um die Entschädigungsansprüche Preußens zu prüfen, brachte Castlereagh die polnische Frage politisch nochmals ins Spiel. In einer sorgfältig mit Whitehall abgestimmten Note, die vor allem auf Wirkung im britischen Parlament berechnet war, griff er nochmals auf seine Instruktionen und die Gespräche vom Beginn der Verhandlungen zurück: Eigentliches Ziel der britischen Politik sei gewesen, an der Nahtstelle zwischen den drei Ostmächten ein selbstständiges polnisches Staatswesen entstehen zu sehen, „qui serait régi par une dynastie distincte, et formerait une puissance intermédiaire entre les trois grandes monarchies.“ Am unüberwindlichen Widerstand 19

Karl Griewank, Der Wiener Kongress und die europäische Restauration 1814/15, Leipzig 2 1954, S. 153 mit Anm. 48 („le véritable congrès“). 20 d’Angeberg [eigentlich Chodźko], Le Congrès de Vienne, S. 646 – 660, zu Warschau hier S. 647 – 548; Klüber (Hg.), Acten des Wiener Congresses, S. 99 –120, zu Warschau hier S. 101.

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des Zaren, der das Herzogtum Warschau seinem Kaiserreich einverleiben wolle, sei dieser Plan gescheitert. Erstaunlich offen wies der Brite auf das Bedrohungspotenzial der neuen territorialen Konstellation hin, das nach seinem Eindruck „la  tranquilité du Nord et l’équilibre général de l’Europe“ gefährdete. Weniger deutlich fiel seine Herausforderung an die Ostmächte aus, allen Polen, die nun weiter aufgeteilt auf die Gebiete jener drei Reiche lebten, die ihren Staat zwischen 1772 und 1795 zergliedert hatten, ein eigenes, adäquates Administrationssystem zu gewähren („������������������������������������������������������������������� un système d’Administration dont les formes soient à la fois conciliantes et en rapport avec le génie de ce peuple“) und sie „als Polen“ zu behandeln („de traiter comme Polonais la partie de ce peuple qui pourra se trouver placée sous leur domination respective“)21. Diesem Plädoyer22 für die Konstruktion einer verfassungs- oder wenigstens verwaltungsmäßig erkennbaren, politisch aber ganz virtuell bleibenden polnischen „Nation“ folgten ebenso wortreiche wie unverbindliche, für die politische Realität der kommenden Jahre aber nicht folgenlose Zusicherungen der drei angesprochenen Monarchen. Die entsprechenden Noten wurden am 21. Februar 1815 offiziell zu Protokoll gegeben, nachdem die grundsätzliche Verständigung über die Teilung Sachsens und die weiteren Entschädigungen für Preußen erreicht und Castlereagh bereits abgereist war. Zar Alexander sprach davon, das „Los der Polen zu verbessern“, ihre „Nationalität zu schützen“ („������������������������� de contribuer à l’amélioration du sort des Polonais autant que le desir de protéger leur nationalité“) und nannte „verfassungsmäßige Bindungen“ („liens constitutionnels“) als Voraussetzung für die „Wiedervereinigung“ („réunion“) des Herzogtums Warschau mit seinem Reich. Friedrich Wilhelm III. ließ zusichern, seinen „Untertanen polnischer Nation“ alle legitimen Vorteile zu sichern („de procurer à ses sujets polonais de nation tous les avantages qui pourront former un objet de leurs voeux légitimes“) und dafür auch eigene Administrationsformen („un mode d’administration adapté aux habitudes et au génie de leur habitants“) zu erwägen. Metternich und Wessenberg schließlich gaben zu Protokoll, ihr Kaiser gehe gänzlich konform mit den „liberalen Standpunkten“ des Zaren im Sinne „nationaler Institutionen“, von denen die „Völker Polens“ profitieren sollten („partage … les vues libérales de l’empereur Alexandre en faveur des institutions nationales … d’accorder aux peuples polonais“)23. Wir haben es mit dem „offenbaren Paradox“ zu tun, dass der Wiener Kongress einerseits die Teilungen des 18. Jahrhunderts bestätigte, andererseits aber 21

d’Angeberg [eigentlich Chodźko], Le Congrès de Vienne, S. 795 – 797. Piotr S. Wandycz, The Lands of Partitioned Poland, 1795 –1918, Seattle, London 31993, S. 61 (polnische Ausgabe u. d. T.: Pod ��������������������������������������������������������������� zaborami: ziemie Rzeczypospolitej w latach 1795 –1918, Warszawa 1994), spricht von einem bloßen Lippenbekenntnis („lip service“), übernommen von Vick, Congress of Vienna, S. 282. 23 d’Angeberg [eigentlich Chodźko], Le Congrès de Vienne, S. 797 – 801.

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die Existenz einer polnischen „Nation“ anerkannte24. Dabei ging es keineswegs um die Errichtung eines souveränen Nationalstaats, sondern um frühe Spielformen national bezogener Politik, wie sie für die großen, multinationalen Imperien Europas passend schien und als „Projekte multinationaler Nationalität“ treffend charakterisiert wurden. Die Gewährung gewisser regionaler, „national“ begründeter Sonderrechte, auch in schriftlicher Form, ging dabei Hand in Hand mit der Sicherung der Loyalität der Bevölkerung zum Land, vor allem aber zur regierenden Dynastie und der Einordnung in ein föderativ-multinationales, imperiales Herrschaftssystem25. Nach dem Februar 1815 tauchte Polen als Verhandlungspunkt nur noch einmal auf der Tagesordnung der Fünfer-Runde auf, als der russische Bevollmächtigte Razumovskij am 3. April 1815 jenen Text einreichte, der, nach dem Abschluss entsprechender vertraglicher Absprachen am 3. Mai, praktisch ohne Änderungen als Art. 1 an den Anfang der Wiener Schlussakte rückte. Dort hieß es in einer den historischen Tatsachen nicht eben gerecht werdenden Formulierung, das „Herzogtum Warschau“ („le duché de Varsovie“) werde mit dem „Russischen Reich“ („empire de Russie“) unwiderruflich und auf Dauer „wiedervereint“ („réuni“). Es werde vom Zaren und seinen Nachfolgern unter dem Titel eines „Königs von Polen“ („czar, roi de Pologne“) regiert, aber getrennt von den russischen Ländern verwaltet werden und eine eigenständige institutionelle Ordnung („����������� administration distincte“) erhalten. Es folgte, als Niederschlag der Noten vom Februar, die bemerkenswerte Zusage an alle Polen, gleich ob sie russische, österreichische oder preußische Untertanen wurden oder blieben, „eine nationale Vertretung und nationale Institutionen“ zu erhalten („une représentation et des institutions nationales“). Deren politische Ausgestaltung („le mode d’existence politique“) solle jedem der drei Einzelstaaten eigens obliegen26. Zur Umsetzung dieser Zusagen muss hier der knappe Hinweis genügen, dass es nach 1815 tatsächlich etliche Maßnahmen von Seiten der Regierungen in St. Petersburg, Berlin und Wien gab, die sich im Sinn der Anerkennung nationalitätenpolitischer Rechte und der Gewährung einer gewissen kultur- und verfassungspolitischen Autonomie interpretieren lassen; die Ereignisse der Jahre 1830/31 und ihre Folgen sollten den Blick darauf nicht gänzlich verstellen27. 24

Wandycz, The Lands of Partitioned Poland, S. 62 („seeming paradox“). Wichtig hierzu Vick, Congress of Vienna, S. 281– 282, 287 (hier das Zitat von den „projects for a multinational nationality“), S. 320. 26 d’Angeberg [eigentlich Chodźko], Le Congrès de Vienne, S. 1146 –1170, 1389 –1390. 27 Vgl. Wandycz, The Lands of Partitioned Poland, S. 65 – 82. Reinhard Stauber, Innerstaatliche Ordnung und internationales System auf dem Wiener Kongress 1814/15, in: Gabriele Schneider, Thomas Simon (Hgg.), Verfassung und Völkerrecht in der Verfassungsgeschichte: Interdependenzen zwischen internationaler Ordnung und Verfassungsordnung. Tagung der Vereinigung für Verfassungsgeschichte in Wien vom 24. bis 26. Februar 2014 [Konferenzschrift] (Beihefte zu „Der Staat“, H. 23), Berlin 2015, S. 79 – 99, hier S. 82 – 84. 25

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Das neue, vom Zaren in Personalunion regierte Königreich Polen mit seinen 3,3  Mio. Einwohnern wurde auf der Basis der Teilungsgewinne Preußens von 1793 („Südpreußen“, allerdings ohne den westlichen Teil mit Posen / Poznań, der 1807 zum Herzogtums Warschau und 1815 als „Großherzogtum Posen“ wieder an Preußen kam) und 1795 („Neuostpreußen“) bzw. der Teilungsgewinne Österreichs von 1795 („Westgalizien“) territorial formiert (also ohne die russischen Gewinne aus den Jahren 1772 –1795, siehe Karte Nr. 3, S. 207) und erhielt im November 1815 eine eigene, recht liberale Verfassung, deren Grundzüge Czar����� toryski noch in Wien ausgearbeitet hatte. Die lange umstrittenen Städte Thorn / Toruń und Danzig / Gdańsk fielen an Preußen, und das symbolpolitisch wichtige Krakau / Kraków, die polnische Königsstadt, wurde zur freien, neutralen Stadt unter gemeinsamer Garantie der drei Ostmächte erklärt. In der Zusammenschau mit der Annexion Finnlands und Bessarabiens 1809 bzw. 1812 markiert die Einrichtung des sog. „Kongress-Polen“ 1815 eine zentrale Etappe der Westverschiebung des russischen Staats- und Einflussgebiets. Die endgültige Festlegung der Rekonfiguration Preußens zog sich noch bis in die letzten Tage des Kongresses im Juni 1815 hin. Die Bevölkerungsverzeichnisse, die die Statistische Kommission an der Jahreswende 1814/15 in einer kurzen, aber entscheidend wichtigen Phase der Kongressarbeiten zusammenstellte, lieferten die allseits anerkannte Grundlage für den Neuzuschnitt der Landkarte Mitteleuropas durch die Mächte der Pentarchie. Die rasche Erarbeitung der Daten innerhalb von nur vier Wochen und damit die Chance auf eine erfolgreiche Weiterführung der Verhandlungen in Wien war nur um den Preis zu erzielen, die Bevölkerungszahlen entsprechend der überkommenen Praxis des „Länderschachers“ des 18. Jahrhunderts und der napoleonischen Zeit gegenseitig zu verrechnen, wobei die von Napoleon geräumten Gebiete in Mitteleuropa als eine Art Entschädigungsfonds dienten, über den die Vertreter der Großmächte recht willkürlich verfügten28. Dies wurde bereits von Beobachtern in Wien beklagt, etwa von Erzherzog Johann: „Es ist ein jämmerlicher Handel mit Ländern und Menschen! Napoleon haben wir und seinem System geflucht, und mit Recht; er hat die Menschheit herabgewürdigt, und eben jene Fürsten die dagegen kämpften, treten in seine Fußstapfen. Also kämpfte man bloß gegen seine Person und sein System.“29 Doch welche Alternativen hätte es gegeben? Hier wirkte die Tradition der mechanistischen Lehre von der Staatsökonomie, der „Populationistik“ des 18. Jahrhunderts, weiter. Sie sah in der Bevölkerungszahl und in den daraus resultieren28

Andreas Fahrmeir, Revolutionen und Reformen. Europa 1789 –1850, München 2010, S. 132 (Zitat). Vgl. Jarrett, Congress of Vienna, S. 130 („Europe’s ‚middle zone‘ became a vast fund for compensating the great powers, upon whom the peace of Europe ultimately depended“). 29 Zit. nach Friedrich Freksa (Hg.), Der Wiener Kongreß. Nach Aufzeichnungen von Teilnehmern und Mitarbeitern, Stuttgart 21917, S. 214.

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den Steuereinnahmen die entscheidende Kenngröße zur Beurteilung der Macht eines Staatswesens und feierte in Wien einen „Triumph der Quantifikation“30. National bezogene Überlegungen waren kein Entscheidungskriterium beim Kampf um Gebiete und Untertanen, doch waren Überlegungen, wie einem föderativregionalen Typus von Nationalgefühl Respekt erwiesen werden könnte, auf dem Kongress durchaus präsent – das zeigt gerade das Beispiel Polen. Die Statistische Kommission war ein Novum auf den interstaatlichen Kongressen der Neuzeit, und es war gerade ihr sich scheinbar auf „technische“ Fragen beschränkender Arbeitsauftrag, der die Großmächte im Dezember 1814 im Gespräch hielt und somit ein Scheitern des Kongresses verhinderte. Wenn die Wiener Verhandlungen maßstabsetzend und „stilbildend“ auf die Diplomatie des 19. Jh. gewirkt haben31, dann war die Arbeit der Statistischen Kommission daran entscheidend beteiligt. Poland and the activity of the „Committee for Statistics“ at the Congress of Vienna Summary By December 1814, talks between the Great Powers at the Congress of Vienna had broken off as a result of irreconcilable differences on the Polish question and on Prussia’s claim to Saxony, and it looked as though the Congress would fail. Faced with this threat, Castlereagh made a successful attempt to bring the Powers back together by giving them a purely technical problem to solve. For each of the Central European territories that was to be ceded or exchanged, they were asked to agree on the precise numbers of the population in each area via a ‘Committee for Statistics’. France successfully argued that it should be allowed a seat on this committee, which decided to employ a statistics expert, Johann ���������������������� Gottfried Hoffmann, a political scientist from Berlin. Within a few weeks of Christmas 1814, he managed to obtain population statistics for a total of 30 million people across 23 territorial units, among them Napoleon’s ‘Duchy of Warsaw’ – an achievement that was recognised as the basis on which the Congress redrew the map of Central Europe in the following months.

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Harm Klueting, Die Lehre von der Macht der Staaten. Das außenpolitische Machtproblem in der „politischen Wissenschaft“ und in der praktischen Politik im 18. Jahrhundert (Historische Forschungen, Bd. 29), Berlin 1986, S. 289. 31 So die Wertung von Wolfram Pyta, Wiener Kongress, in: Enzyklopädie der Neuzeit, Bd. 14, Stuttgart, Weimar 2011, Sp. 1085 –1091, hier Sp. 1090.

Hans Henning Hahn

Die Polenbestimmungen der Wiener Schlussakte. Eine politische und völkerrechtshistorische Analyse* Das so genannte ‚Werk‘ des Wiener Kongresses gilt gemeinhin als Musterbeispiel von Stabilität, hat es doch – so die herrschende Meinung nicht nur der Historiographie, sondern auch der seriösen Publizistik – ein Staatensystem geschaffen, das in seinen Grundelementen und Mechanismen bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs gehalten habe. Die Stabilität einer weitgehend unangefochtenen Hegemonie von fünf Großmächten soll hier nicht geleugnet werden, auch wenn meist wenig beachtet wird, dass die Regeln, nach denen diese Hegemonie funktionierte, im Laufe des 19. Jahrhunderts immer weniger eingehalten wurden und diese Dysfunktion dann schließlich in das Desaster von 1914 führte. Nicht übersehen werden darf der Umstand, dass dieses Staatensystem von Anfang an mehrere wunde Punkte hatte, also unerledigte Probleme, die allen wichtigen politischen Akteuren der internationale Politik bewusst waren, und die sie absichtlich so behandelt hatten, dass sie als unerledigt auf der Agenda blieben. Dabei handelte es sich zum einen um die ‚Orientfrage‘, das heißt, um das Schicksal der europäischen Gebiete des Osmanischen Reiches und der politischen Aspirationen von deren Bewohnern. Zum anderen ging es um drei ‚nationale‘ Fragen, nämlich die italienische, die deutsche und die polnische Frage, bei denen es sich um die Herstellung (Italien) oder Wiederherstellung (Polen-Litauen, Deutsches Reich) einer spezifischen Staatlichkeit bzw. eines Staates handelte, der von vielen Bewohnern dieser Länder als Nationalstaat angesehen wurde bzw. worden war; die Zeitgenossen verstanden unter ‚national‘ höchst Unterschiedliches, und die jeweiligen in sich recht differenzierten und kontrovers diskutierenden Nationalbewegungen waren sich keineswegs darüber einig; die Nationskonzepte waren nur selten vorwiegend ethnisch (Ausnahme: Ernst Moritz Arndt), auch nicht unbedingt immer kulturell oder sprachlich definiert; nicht selten mischten sie moderne Inhalte mit traditionellen Reichskonzepten; da die Forderung nach der Gleichheit aller Angehörigen einer Nation kaum verwirklicht war, kann die Entwicklung im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts wohl am besten als ‚partizipatorischer Natio* Dieser Text entstand 2014/2015. Auf ein Nachtragen der seitdem erschienenen Fachliteratur wurde weitgehend verzichtet, u. a. auch, weil sie weder polnische Quellen noch die polnische Literatur berücksichtigt.

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nalismus‘ bezeichnet werden, der oft lückenlos an die Traditionen vormodernen ständischen bzw. frührepublikanischen Mitspracheverlangens anknüpften. Wie in den Verhandlungen von 1814/15 mit der nationalen Problematik umgegangen wurde, kann hier nicht ausführlich behandelt werden1. Die Ergebnisse waren aufschlussreich genug: Bei keiner der drei anstehenden Fragen wurden die – den in Wien verhandelnden und entscheidenden Staatsmännern bekannten – Wünsche der Vertreter der Nationalbewegungen berücksichtigt. Oberflächlich konnte man meinen, ,die Deutschen‘ seien noch am besten ‚weggekommen‘, denn mit dem Deutschen Bund wurde zumindest ein institutionelles Band geschaffen, das alle deutschen Staaten zu einer wenn auch nicht gesamtstaatlichen, so doch föderativen Gemeinschaft mit gemeinsamen Institutionen verband. Während für die Großmächte Aspekte des europäischen Gleichgewichts für diese Lösung sprachen, erhielt die deutsche Nationalbewegung dadurch einen Vorsprung vor den anderen, der vor allem 1848 wirksam wurde. So wurden schließlich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zwei offene nationale Fragen, die italienische und die deutsche, entschieden, wobei die Lösung der letztgenannten offensichtlich nicht auf allgemeine Zufriedenheit stieß, also nicht verhinderte, dass die deutsche Frage auf eine seltsame Weise offen blieb und deshalb auch nicht in einem europäischen Sinn friedensstiftend wirkte, sondern erst am Ende des 20. Jahrhundert friedlich vollendet werden konnte. Die polnische und die orientalische Frage blieben im 19. Jahrhundert offen, ja letztere wurde immer konfliktogener – die Kombination von Großmachtinteressen, den strukturellen Schwierigkeiten des Osmanischen Reiches mit modernisierendem Wandel und den Ambitionen zahlreicher Nationalbewegungen produzierte ständig neue internationale Krisen. Das Ende des Staatensystems, der Erste Weltkrieg, hatte allerdings damit wenig zu tun; hier waren die mittlerweile miteinander konfligierenden hegemonialen Ambitionen der Großmächte, vor allem des Deutschen Reiches, die eigentlichen Ursachen. Die Verhandlungen über die Polenbestimmungen in Wien Wie gesagt – diese vier offenen Fragen Europas waren 1814/15 bewusst nicht im Sinne der Aspirationen der Gruppen behandelt worden, die davon direkt betroffen waren, sondern hatten eine Lösung gefunden, die einzig und allein die imperialen Interessen der beteiligten Großmächte wiederspiegelte. Dabei hätte es sich ja bei zwei von ihnen, der polnischen und der deutschen Frage, um die – mögli1



Die letzte wissenschaftliche Behandlung des Themas liegt immerhin fast 80 Jahre zurück  – Hannah Alice Straus, The ����������������������������������������������������������������� Attitude of the Congress of Vienna toward nationalism in Germany, Italy and Poland (Studies in history, economics and public law, Bd. 558), New York 1940 (Neudruck: New York 1968). Der derzeitige ‚imperiale Trend‘ der Historiographie lässt es nicht erwarten, dass eine vergleichende und die verschiedenen Semantiken von ‚Nation‘ in den diversen Sprachen berücksichtigende Studie bald erscheinen und das Desiderat einer differenzierenden Betrachtung imperialer und national(staatlich)er Aspekte ermöglichen wird.

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cherweise modifizierte – Wiederherstellung von Staatsgebilden gehandelt, deren Untergang die entscheidenden Politiker noch erlebt hatten, nämlich des PolnischLitauischen Reiches und des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation, und dann hätte die Losung Restauration ja noch einen Sinn bekommen. Aber in den Debatten 1814/15 ging es weniger um Stabilität, sondern um imperialen Interessenausgleich, konnte man sich doch als Konfliktpartner lediglich Großmächte vorstellen. So fällte man über Polen, sein Territorium und seine Bevölkerung Entscheidungen, die seitdem offiziell als die Aufrechterhaltung des Ergebnisses der drei Teilungen von 1772, 1793 und 1795 gelten – dass in Wien die Teilungen gerade nicht aufrecht erhalten wurden, wie sie im 18. Jahrhundert durchgeführt worden waren, wird aus den Ausführungen dieses Beitrags letztendlich hervorgehen. Dabei leugnete einer der wichtigsten Akteure, der russische Zar Alexander  I., schon zu Beginn der Verhandlungen rundheraus die Gültigkeit der Teilungsverträge: „…il s’agit effectivement d’un nouveau par­tage et dans ce cas, les stipulations qui ont accompagné celui de 1797 n’existent plus“2 […es handelt sich in Wirklichkeit um eine neue Teilung [Polens] und in diesem Fall existieren die Bestimmungen, die jene Teilung von 1797 begleitet haben, nicht mehr]. Keine Großmacht hat dieser Interpretation widersprochen; ja, auch alle übrigen Entscheidungen, die in Wien gefällt wurden, gingen in die hier zum Ausdruck gebrachte Richtung, nämlich, dass früheres Vertragsvölkerrecht nicht mehr gültig sei. Dementsprechend ist festzustellen, dass es sich 1815 um eine eigentümliche, weil selten so klar wie oben zitiert, aber für alle Entscheidungen in Wien sehr fol­genreiche Abro­gation des früher geltenden Völkerrechts handelt. Generell gilt fortan die rechtliche Superiorität der Wiener Schlussakte samt allen Anhängseln vor früherem Recht. Dieser neue Rechtsgrundsatz (de facto: neues Recht bricht altes Recht) förderte auch den Positivismus im Völker­recht (Priorität des Vertragsvölkerrechts)3. Für Polen bedeutete das: Legitim für die drei Teilungsmächte waren nicht mehr die Teilungsverträge des 18. Jahrhunderts, sondern einzig und allein die Verträge von 1815. Die polnische Frage war auf dem Wiener Kongress4 Gegenstand der längsten und erbittertsten Auseinandersetzungen, wenn es um die territoriale Zuordnung 2



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Comte d’Angeberg [Pseudonym; eigentlich Leonard Chodźko], Le Congrès de Vienne et les traités de 1815. Précédé et suivi des actes diplomatiques qui s’y rattachent. Avec une introduction historique par M. Capefigu, Bd. 1, Paris 1863, S. 356: Memorandum Zar Alexanders I. für Castlereagh vom 30.10.1814. Vgl. Lassa Oppenheim, Die Zukunft des Völkerrechts, in: Festschrift für Karl Binding zum. 4. Juni 1911, Bd. 1, Leipzig 1911 (Nachdruck: Aalen, 1974), S. 141– 201, hier S. 146. Die Historiographie über den Wiener Kongress spiegelt keineswegs das Gleichgewicht innerhalb der Pentarchie wieder, wie es in den Darstellungen oft thematisiert wird. Auch noch in den letzten Jahrzehnten wird die Hauptrolle entweder Castlereagh oder Metternich zugeschrieben – ersterem z. B. bei Paul W. Schroeder, The Transformation of European Politics 1763 –1848, Oxford 1994 und 1996, chap. 12, letzterem u. a. bei Wolfram Siemann, Metternich. Stratege und Visionär. Eine Biografie, München 2016, auf den Punkt gebracht S. 504. Da beide

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und Grenzziehung ging. Warum dies so strittig war, lag nicht an irgendwelchen polnischen Aktivitäten, sondern daran, dass hier unterschiedliche Gleichgewichtsvorstellungen der Großmächte aufeinanderstießen und die polnische mit der sächsischen Frage verknüpft worden war, ohne dass Letzteres von der Sache her notwendig gewesen wäre. Von verschiedenen Seiten wurden, wie noch gezeigt werden wird, im Laufe des Kongresses Lippenbekenntnisse für die polnische Nation und ihr Recht auf Wiederherstellung ihres Staates gemacht. Das Motiv für diese scheinbar propolnischen Aussagen ist schwer einzuschätzen – offenbar hatte man ein schlechtes Gewissen, das man so beruhigte; ebenfalls rechnete man damit, dass die Kongresspapiere und -memoranden schon bald publik gemacht würden, also hat sich jeder moralisch erst einmal abgesichert. Insofern gab es – und das ist gegenüber dem Ancien Régime etwas Neues – in den Wiener Verhandlungen das Moment der Öffentlichkeit, und zwar in dem Sinne, dass man sich letztlich vor einer europäischen Öffentlichkeit zu rechtfertigen hatte. Das bedeutete, dass die Beschlüsse der Großmächte letztlich einer öffentlichen Legitimation bedurften, auch wenn niemand zu sagen vermocht hätte, wer eigentlich diese Öffentlichkeit repräsentiere. Dass die Auseinandersetzungen der Großmächte um die polnisch-sächsische Frage auf dem Wiener Kongress in der bisherigen Historiographie ausführlich behandelt worden sind, ist nicht weiter verwunderlich angesichts des Umstands, dass es um die Jahreswende 1814/15 fast so aussah, als führe der Streit zu einem erneuten Krieg. Das Schwergewicht der Darstellungen liegt dabei in der Regel auf den territorialen Fragen beziehungsweise genauer, wie Sachsen und wie erneut Polen zu teilen seien5. Das soll hier nicht noch einmal wiederholt werden; vielmehr wird es in den folgenden Ausführungen um die Verfassung des Königreichs Polen, um dessen Ausdehnung nach Osten und um die Zusage nationaler Rechte gehen; mit anderen Worten – es soll ein Beitrag zur Frage geleistet werden, wie es zu den spezifischen Polenbestimmungen der Wiener Verträge jenseits der Fragen der Grenzziehung6 kam und welche Bedeutung ihnen zukam.

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Staatsmänner auf dem Kongress Gegner Alexanders I. waren, ist die historiographische Einseitigkeit bei der polnischen Frage in Wien kaum verwunderlich. Dazu vor allem Enno E. Kraehe, Metternich’s German Policy. Vol. 2: The Congress of Vienna, 1814 –1815, Princeton (N.J.) u. a. 1983, mit vielen Bemerkungen über die polnische Frage, aber ohne die Berücksichtigung polnischer Quellen und Literatur, dabei mit vielen stereotypen Vorurteilen sowohl gegenüber Czartoryski als auch Zar Alexander I. Vgl. auch Ders., Metternich’s German Policy. Vol. 1: The Contest with Napoleon, 1799 –1814, Princeton (N.J.) u. a. 1963, S. 300, wo Czartoryski und ‚den Polen‘ schlechthin nachgesagt wird, es sei um die „territorial restoration of their own ‚old regime‘ “ gegangen. Eine Einordnung der Polenpläne Alexanders in die russische Deutschlandpolitik findet sich bei Ulrike Eich, Rußland und Europa. Studien zur russischen Deutschlandpolitik in der Zeit des Wiener Kongresses, Köln, Wien 1986, vor allem S. 256 – 275, allerdings auch hier weitgehend beschränkt auf territoriale Fragen. Auch für die neuere Historiographie ist kennzeichnend, dass sie sich fast ausschließlich mit den territorialen Fragen und der Gleichgewichtsdiskussion befasst, so auch die detaillierten

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Während die Großmächte über eine Reihe europäischer Probleme 1814 schon zuvor in Paris übereingekommen waren, hatten sie die polnische Frage sowie auch die Regelung deutscher Territorialfragen bewusst aufgeschoben – Charles Webster spricht in diesem Zusammenhang davon, die Hauptaufgabe des Kongresses sei „the redistribution of the conquered territories“7 gewesen. Die als propolnisch deklarierten Pläne des Zaren Alexander I. waren seinen Verbündeten kein Geheimnis geblieben. So ist es auch nicht verwunderlich, dass die drei Teilungsmächte Polens schon vorher versucht hatten, die Frage, was mit dem Territorium des Herzogtums Warschau geschehen solle, vertraglich zu präjudizieren. Jedoch sowohl im russisch-preußischen Vertrag von Kalisch (28. Februar 1813) als auch in der österreichisch-russisch-preußischen Konvention von Reichenbach (27. Juni 1813) war man über recht allgemeine Formulierungen von der Aufteilung des zur Disposition stehenden polnischen Gebietes (i. e. des Herzogtums Warschau) nicht hinausgekommen; daher hatten diese Verträge für die Wiener Verhandlungen keine Bedeutung. Alexander war der einzige, der mit einem fertigen Plan bezüglich Polen nach Wien kam8. Er wollte das Herzogtum Warschau für sein Reich annektieren und höchstens möglichst geringe territoriale Einbußen an dessen Westgrenze zugunsten Preußens zulassen; aus dem so gewonnenen Gebiet wollte er ein Königreich Polen machen mit ihm selbst als polnischem König; die Staatsform sollte eine konstitutionelle Monarchie sein, die mit dem russischen Kaiserreich, das weiterhin autokratisch regiert bleiben sollte, in Personalunion verbunden sei. Es wurde in Aussicht gestellt, dass das ursprüngliche russische Teilungsgebiet aus den drei Teilungen des 18. Jahrhunderts dem neuen autonomen Königreich angegliedert werde. Über Alexanders Motive für dieses Konzept ist viel spekuliert worden, und meist wurden emotionale Gründe, Einflüsterungen wie die seines Jugendfreundes Adam Jerzy Czartoryski oder eine unausgegorene Begeisterung für liberalen

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Darstellungen von Kraehe, Metternich’s German Policy, Vol. 2, und von Adam Zamoyski, 1815 – Napoleons Sturz und der Wiener Kongreß, München 2014 und 22016 (englische Originalausgabe u. d. T.: Rites ��������������������������������������������������������������������� of Peace. The Fall of Napoleon and the Congress of Vienna, London 2007); sogar der beachtliche tiefer gehende Interpretationsversuch Władysław Zajewskis geht letztlich nicht über die territorialen und Grenzziehungsfrage hinaus – Władysław Zajewski, Kongres Wiedeński i Święte Przymierze [Der Wiener Kongress und die Heilige Allianz], in: Władysław Zajewski (Hg.), Europa i świat w epoce restauracji, romantyzmu i rewolucji 1815 –1849�������������������������������������������������������������������������������� . T. 1 [Europa und die Welt in der Epoche der Restauration, Romantik und Revolution 1815 –1849. Bd. 1], Warszawa 1991, S. 20 – 69. Sir Charles K[ingsley] Webster, The Congress of Vienna 1814 –1815, London 1963, S. 75. Seine polenpolitischen Absichten hatte Alexander auch vorher nicht verheimlicht, sondern schon in Paris und London darüber verhandelt. Auf seinem Weg von Moskau nach Wien konferierte er im September 1815 in Puławy, einem Landsitz Czartoryskis, zwei Tage mit über 40  prominenten Polen über seine Pläne (W[aclaw] H[ubert] Zawadzki, A Man of Honour. Adam Czartoryski as a Statesman of Russia and Poland 1795 –1831, Oxford 1993, S. 231– 233.

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Konstitutionalismus angeführt, ja auch Vergleiche mit Woodrow Wilson wurden nicht gescheut9. Das betrifft die Historiographie ebenso wie die Zeitgenossen – so meinte z. B. der preußische Unterhändler Wilhelm von Humboldt: „… das Sonderbarste ist, daß er dabei gewiß viel weniger ehrgeizige Absichten hegt, als er philanthropische und nur übelangewendete Ideen hat.“10 Anstelle über Charakter und Psychologie Alexanders zu spekulieren, ist es wohl eher angebracht, anzumerken, dass der russische Zar mit seinen Polenplänen in der Kontinuität der wichtigsten russischen außenpolitischen Doktrin stand. Schon in seiner Jugend hatte er sich mehrfach gegen die Praktiken der Politik seiner Großmutter Katharina II. ausgesprochen – dazu gehörten gerade die zweite und dritte und damit endgültigen Teilungen Polens, denn diese Vorgänge hatten zwar Russland viele Gebiete eingebracht, aber auch gemeinsame Grenzen mit benachbarten Großmächten. Von Peter I. bis Peter III. hatte Russland dagegen unter verschiedenen Außenministern eine Vorfeldpolitik geführt, die darauf beruhte, dass zwischen der russischen Westgrenze und den nächsten potenziellen Gegnern, also Großmächten, sich ein Gebiet befand, das von Russland nicht besessen, aber kontrolliert wurde, auch wenn es formal unabhängig war. Konkret war dieses Vorfeld seit dem Ende des großen Nordischen Krieges das Polnisch-Litauische Reich gewesen. Diese Doktrin hatte Katharina II. verlassen, als sie sich 1771–1772 von Friedrich II. von Preußen zur ersten Teilung Polens hatte überreden lassen. Alexanders Polenpläne bedeuteten eine Abwendung von der Politik Katharinas und eine Rückkehr zur Vorfeldpolitik, jetzt natürlich angesichts der gewonnenen Auseinandersetzung mit der napoleonischen Bedrohung mit neuen Erfahrungen (Napoleons Angriff machte klar, wie schutzlos Russland war, wenn es sein Vorfeld nicht kontrollierte) und in einer neuen Situation, denn russische Truppen hatten das Herzogtum Warschau erobert und waren dann bis Paris marschiert. Insofern suchte Alexander seine eigene Variante der traditionellen russischen Vorfeldpolitik zu formulieren und zu realisieren. Sie entsprach dem russischen Sicherheitsbedürfnis. Denn im Unterschied zu der west- und mitteleuropäischen Wahrnehmung Russlands als angsteinflößendem östlichem Koloss – Staat und Gesellschaft Russlands hatten den Überfall Napoleons als Existenzkrise erlebt und wollten dementsprechend Vorkehrungen treffen: Dazu konnten sie auf Traditionen außenpolitischen Denkens in Russland zurückgreifen. Es ist ein Kennzeichen aller Gebietserwerbungen Russlands unter Alexander  I., dass sie eine Autonomie erhielten, die über die bloße Selbstverwaltung   9

Harold Nicolson, The Congress of Vienna. A Study in Allied Unity: 1812 –1822, London 1946, S. 101–103, S. 148 –150 (Neudruck: New York 2000; dt. Ausgabe u. d. T.: Der Wiener Kongress oder Über die Einigkeit unter Verbündeten: 1812 –1822, übers. von Harry Kahn, Zürich [1946]). 10 Wilhelm und Caroline von Humboldt in ihren Briefen, Bd. 4: Federn und Schwerter in den Freiheitskriegen. Briefe von 1812 –1815, hg. v. Anna von Sydow, Berlin 1910 (Neudruck: Osnabrück 1968), Brief vom 2.11.1814, S. 399.

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hinausgingen. Dies betraf die transkaukasischen Gebiete, die 1801 sowie in den Folgejahren nach und nach unter russische Herrschaft kamen, ebenso wie Finnland11 (1809), Bessarabien12 (1812) und Polen (1815). Jede dieser Autonomien hatte ihr eigenes Schicksal, das hier nicht zu untersuchen ist. Dieses Vorgehen entsprach aber, wie Andreas Kappeler schön herausgearbeitet hat, einer russischen Tradition, wie bei Gebietserwerbungen mit den sozialen und politischen Eliten umzugehen sei13. Was Alexander I. unter ‚Konstitution‘ verstand, hat Edward C. Thaden treffend folgendermaßen zum Ausdruck gebracht: „For Alexander, the word ‚constitution‘ in no way implied the willingness on his part to surrender any of his autocratic powers; it connoted, instead, a means of enabling himself to act more effectively in promoting what he considered the welfare of his subjects on the basis of a rationalized administrative structure and a detailed description of the functions and activities of the principal branches of the government.“14

Die Rolle des polnischen Aristokraten Fürst Adam Jerzy Czartoryski sowohl für die Polenpläne Alexanders I. als auch während der Verhandlungen in Wien 1814 –1815 wird nirgends geleugnet, wenn auch selten ausführlich behandelt15. Diese Aktivitäten eines auch schon damals sowohl von dessen russischer als auch nichtrussischer Umgebung als Polen eingeschätzten Politikers, dem eine außenpolitische Erfahrung nicht abgesprochen werden konnte16, auf dem Wiener Kongress macht die reale Präsenz Polens in den internationalen Beziehungen Europas deutlich, also eines 20 Jahre zuvor 1795 faktisch aufgeteilten Staates, obwohl es offiziell lediglich um die vollständige Aufteilung des 1807 von Napoleon gegründeten und in Personalunion von dem sächsischen König Friedrich August I. beherrschten Herzogtums Warschau ging. Dass Czartoryski eine derart ausschlaggebende Rolle für das Schicksal Polens 1814 –1815 spielen konnte, obwohl er lediglich Mitglied der russischen Delegation war, kann als historische Ausnahme11

Zur Autonomie Finnlands im Russischen Reich siehe zuletzt Robert Schweitzer, Uta-Maria Liertz (Hgg.), Autonomie – Hoffnungsschimmer oder Illusion? Europäische Autonomien in Geschichte und Gegenwart. Ein Seminar zum 200. Jubiläum der Autonomie Finnlands (Snellman-Seminar 8), Helsinki 2013 sowie die Quellenedition David G. Kirby (ed.), Finland and Russia 1808 –1920. From Autonomy to Independence A Selection of Documents, London 1975. 12 Vgl. George F. Jewsbury, The Russian Annexation of Bessarabia: 1774 –1828. A Study of Imperial Expansion, Boulder 1976, S. 97 –118. 13 Andreas Kappeler, Rußland als Vielvölkerreich. Entstehung – Geschichte – Zerfall, München 1992, passim und S. 87 – 93. 14 Edward C. Thaden, Russia’s Western Borderlands, 1710 –1870, Princeton N.J. 1984, S. 72. 15 An ausführlichsten bei Eugeniusz Wawrzkowicz, Anglia a sprawa polska 1813 –1815 (Monografie w Zakresie Dziejów Nowożytnych, Bd. 18) [England und die polnische Frage 1813 –1815], Kraków, Warszawa 1919, und bei Zawadzki, Man of Honour. 16 Czartoryski galt als der Hauptarchitekt der Dritten antinapoleonischen Koalition und hatte bis zu deren Niederlage bei Austerlitz im Dezember 1806 die Funktion des russischen Außenministers ausgefüllt.

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situation eingeschätzt werden, für die wohl nur wenige Vergleiche in der neueren Geschichte zu finden sind17. Gegen die Pläne des Zaren gab es eine innerrussische Opposition, auch in der engsten Umgebung des Zaren18. Erbitterten Widerstand fand Alexander obendrein bei den übrigen in Wien versammelten Großmächten. Das begann damit, dass bei einem ersten Treffen am 19. September 1814 Hardenberg und Metternich gemeinsam dem russischen Außenminister Nesselrode erklärten, die Benutzung des Wortes ‚Polen‘ für das, was Alexander aus seinem Anteil des Herzogtums Warschau machen wolle, nämlich das Königreich Polen, widerspreche dem Teilungsvertrag von 1797, wo dies explizit ausgeschlossen worden war19. Alexander konnte Preußen bald durch die Aussicht auf den Erwerb Sachsens zunächst neu­tralisieren, auch indem er geschickt die preußische Verhandlungsdelegation, nämlich den König und seine Ratgeber, auseinanderdividierte. Die übrigen Mächte aber pochten auf ihre Sicht des europäischen Gleichgewichts, das durch ein derartiges Vorrücken der russischen Westgrenze em­pfindlich gestört werde. Alexander wiederum antwortete auf zwei Ebenen: • Zum einen erklärte er rundheraus, wie oben schon zitiert, die Teilungsverträge des 18. Jahrhunderts für irrelevant, und zwar konkret mit dem Argument, beide deutschen Teilungsmächte, Preußen und Österreich, hätten sich an der Invasion Napoleons gegen Russland beteiligt20, und allgemein mit der Abrogation des bisherigen positiven Vertragsrechts, weshalb jetzt 17

Vergleichbar wären Czartoryskis Bemühungen in Wien mit den Aktivitäten Jan Amos Komenskýs (Comenius), der während der Verhandlungen, die 1648 zum Westfälischen Frieden führten, als böhmischer Exulant mit Unterstützung Schwedens und in Kontakt mit dem schwedischen Reichskanzler Axel Oxenstierna die Interessen der frühmodernen tschechischen Nation, also des Königreichs Böhmen von 1618 zu vertreten, allerdings ohne Erfolg und ohne selbst weder in Münster noch in Osnabrück auftreten zu können vgl. Josef Polišenský, Komenský. Muž labyrintů a naděje [Komenský. Mann des Labyrinths und der Hoffnung], Praha 1996, S. 86 – 95; Bedřich Šindelář, Comenius und der Westfälische Friedenskongreß, in: Historica 5 (1963), S. 71–107, sowie Ders., Vestfálský mír a česká otázka [Der Westfälische Frieden und die tschechische Frage], Praha 1969. 18 Schon 1813 verfasste Graf Nesselrode ein umfangreiches Memorandum, das den Polenplänen des Zaren entgegentrat; siehe Fjodor De Martens, Recueil des Traités et Conventions conclus par la Russie avec les Puissances étrangères, publié d’ordre du Ministère des Affaires Etrangères, Bd. 3: Traités avec l’Autriche 1808 –1815, St. Petersbourg 1876, S. 214 – 216. Ebenso Freiherr von  Jettel, Die polnische Frage auf dem Wiener Kongress, in: Deutsche Revue 42 (1917), Nr. 1, S. 63 – 76, hier S. 67 – 68; vgl. auch Frank W. Thackeray, Antecedents of Revolution. Alexander I and the Polish Kingdom, 1815 –1825 (East European monographs, Bd. 67), Boulder 1980, S. 11–12. 19 Zawadzki, Man of Honour, S. 238. Ebenfalls mit unterschiedlicher Interpretation bei Kraehe, Metternich’s German Policy, Vol. 2, S. 127. 20 Französ. Text siehe oben Anm. 2. Das Memorandum Alexanders an Castlereagh vom 30.10. 1814 auf Englisch in: Charles Kingsley Webster (Hg.), British Diplomacy, 1813 –1815. Select Documents Dealing with the Reconstruction of Europe, London 1921, S. 224 – 227.

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eben alles neu zu verhandeln und zu bestimmen sei – und so hat sich dann auch der Kongress verhalten. • Zum anderen argumentierte er auf der Basis des europäischen Gleichgewichts. Bedenken seiner Kontrahenten, Russland erhalte durch die Annexion des Herzogtums Warschau einen für das europäische Gleichgewicht zu großen Zuwachs an Gewicht, bemühte er sich durch den Hinweis auf den autonomen Status, die Verfassung und die östliche Ausdehnung, die sein neues polnisches Königreich erhalten sollte, auszuräumen. Damit handelte er allerdings gegen seine ursprüngliche Absicht, dass er in Wien nur über territoriale Fragen verhandeln und sich die Gewährung einer Autonomie, einer Verfassung sowie der östlichen Erweiterung als Akt aus eigener Machtvollkommenheit vorbehalten wollte21, quasi als autokratischen Gnadenakt, der dann – so möglicherweise das Selbstverständnis – jederzeit widerrufbar sei. Angesichts des Widerstands Österreichs, Großbritanniens und Frankreichs musste er aber mit seinen Verfassungs- und Erweiterungsplänen argumentieren, und somit wurden diese automatisch zu Verhandlungsgegenständen und fanden in der Folge zum Teil auch Eingang in die Verträge. Der Freiherr von Stein, in Wien selbst Mitglied der russischen Delegation, berichtet in seinem Tagebuch von einem Ausspruch des Zaren gegenüber dem preußischen General Karl Friedrich von dem Knesebeck von Ende September 1814: „Rußlands Macht ist für Europa beunruhigend, dennoch erfordert die Ehre der Nation eine Vergrößerung als Belohnung ihrer Opfer, ihrer Anstrengung, ihrer Siege. Sie [Rußlands Macht] kann aber nicht [anders] unschädlich gemacht werden, als indem man das russische Polen vereinigt, ihm eine Staatsverfassung, ein eigenes Militär gibt, das russische zurückzieht, und es in eine hierdurch gemäßigte Abhängigkeit von Rußland setzt.“22

Alexander formulierte hier, wie schon oben ausgeführt, seine eigene Variante der traditionellen russischen Vorfeldpolitik. Auch in einer Unterredung mit Lord Castlereagh äußerte er diese Ansicht – hier in der Wiedergabe des britischen Außenministers: „The Emperor endeavoured to defend his plan, upon the ground that, by thus establishing a Polish Kingdom, he would create a balance and check upon Russian power. That Russia, as at present constituted, was too large, but when the Russian [Polish] Provinces were united under a free system, and his Russian army withdrawn beyond the Niemen, Europe would have nothing to fear.“23 21

Siehe De Martens, Recueil, Bd. 3, S. 213. [Freiherr Henrich Friedrich Karl vom und zum Stein], Tagebuch des Freiherrn von Stein während des Wiener Kongresses, mitgeteilt und erläuterrt von Max Lehmann, in: Historische Zeitschrift (1888), Bd. 60, S. 385 – 467, hier S. 389. 23 Unterredung Castlereagh Alexander am 13.10.1814, hier zitiert in dem Bericht Castlereaghs an den Premier, Lord Liverpool, am 14.10.1814, in Webster (Hg.), British Diplomacy, S. 206 – 207. 22

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Castlereagh ließ sich von dieser Argumentation wenig beeindrucken – das britische Kabinett dagegen umso mehr: Schatzkanzler Nicholas Vansittart verfasste eigens ein Memorandum, in dem er erklärte, warum Alexanders Argumente einleuchtend seien: „With respect to the Polish question itself, I cannot help thinking there is some weight in the Emperor’s observation to Lord Castlereagh ‚that Russia would gain more power by acquiring half of the Duchy of Warsaw as a province than the whole as a kingdom‘. The Emperor, in accepting the crown of Poland, becomes bound to give the kingdom a constitution; and whether he restores the constitution of 1790 [!], or the old one, or frames a  new one, he will infallibly cripple the powers of his government, and render the Poles much less manageable than when direct subjects of Russia. There is, besides, the greatest probability that in the course of one or two generations, at the utmost, the nominal independence of Poland would become real. A minority, or a weak reign in Russia would bring about a separation which all the other powers of Europe would be inclined to countenance“24.

Adam Jerzy Czartoryski sah für die polnische Nation die größte Gefahr darin, dass sie, auch angesichts im Herzogtum Warschau schon angelaufener Modernisierungsprozesse, in den einzelnen Teilungsgebieten jeweils eine höchst unterschiedliche Entwicklung erleben würde und damit an Kohäsion verlöre. Deshalb vertrat er als polnische Option das Konzept, dass möglichst viele polnische Gebiete unter eine Herrschaft zu vereinigen seien, denn das würde die Einheit der Nation stärken, dass dieses Gebiet eine möglichst weite politische Autonomie genießen solle und dass diese Regelungen möglichst in den Verträgen auftauchen sollten. Außer dem letzten Punkt deckten sich nach Lage der Dinge seine Überlegungen weitgehend mit denen Alexanders. Andere Polen, die ebenfalls in Wien während des Kongresses für die jeweiligen Teilungsmächte tätig waren, wie z. B. Fürst Antoni Radziwiłł für Preußen, kooperierten mit Czartoryski. Während sich Castlereagh im Oktober 1814 darum bemühte, eine antirussische Front aufzubauen, formulierte Wilhelm von Humboldt, preußischer Gesandter in Wien und damit maßgebender Mitarbeiter Hardenbergs, welche gleichgewichtspolitische Folgen Alexanders Pläne hätten: „… Il y a deux questions qui entrent nécessairement dans ce m i n i m u m [all das, was beide deutsche Teilungsmächte von Rußland verlangen könnten – H.H.H.], celle de la forme à donner au Duché de Varsovie en tant qu’il sera sous la domination Russe, et celle du territoire et des frontières. 24

Ebd., S. 220. Diese Argumentation ähnelt zweifelsfrei jener des Fürsten Adam �������������������� Jerzy Czartoryski���������������������������������������������������������������������������������������������� , der seit 1813 in Kontakte mit Vansittart stand. Ein direkter Einfluss kann also nicht ausgeschlossen werden. Vgl. Eugeniusz Wawrzkowicz, Misya polityczna F. Biernackiego do Anglii (1813 –1814 r.)��������������������������������������������������������������������������������� [Die politische Mission von F. Biernacki nach England (1813 –1814)], in: ������� Biblioteka Warszawska 73 (1913), Bd. 1, S. 417 – 446; Ders., Anglia, passim.

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Jusqu’ici Lord Castlereagh m’a paru être de l’opinion que, si la Russie cédoit sur la dernière, il ne falloit point la presser sur la première, et cet avis m’a paru extrêmement sage. L’Empereur Alexandre se trouve certainement dans un grand embarras en voulant réaliser ce qu’il semble avoir promis à cet égard aux Polonois; il se prépare des difficultés énormes et des dangers évidens en exécutant ce plan, et les Puissances augmentent cet embarras, ces difficultés et ces dangers, si elles ne s’opposent point trop directement à ces vues. Sous ce rapport ce point est peut-être même un correctif apporté à l’inconvénient qui naît de l’agrandissement excessif de la Russie.“25

Humboldt schlug vor, Alexander beim Wort zu nehmen, um dessen voraussehbare Schwierigkeiten, die er sich mit seinen Polenplänen auflud, noch zu vergrößern. Damit ging er eigentlich auf Alexanders Argumentation ein, drehte sie aber um und betonte, man solle Russland in sein von seinem Herrscher selbst verursachtes Unglück laufen lassen. Als Alexander während des Besuchs der Monarchen der drei Teilungsmächte Polens in Budapest den preußischen König für sich gewann, machte sich auch Hardenberg die Argumentation des Zaren zu eigen. Dabei griff er auf das Humboldtsche Memorandum zurück und verschärfte es. Besonderen Wert legte er dabei auf drei Punkte: 1. verschiedene Staatsform Russlands und Polens (= Verfassung für Polen), 2. Vereinigung der von Russland in den Teilungen von 1772, 1793 und 1795 erworbenen polnischen Gebiete mit dem neuen Königreich Polen, also dessen möglichst weite Ausdehnung nach Osten, 3. weitgehende Trennung des Königreichs Polen (und damit aller polnischen Provinzen) vom Russischen Reich. Daraus resultierte für Hardenberg eine weitgehende Neutralisierung des russischen Machtpotenzials. Aber er ging noch weiter und malte das Bild eines kommenden russisch-polnischen Antagonismus an die Wand: „Les Polonais jouiront de privilèges que les Russes n’ont point. Bientôt l’esprit des deux nations sera tout à fait en opposition, leurs jalousies empêcheront l’unité, des embarras de tout genre naîtront, et un empereur de Russie, en même temps roi de Pologne, sera moins redoutable qu’un souverain de l’empire russe, réunissant à celle-ci la plus grande partie de ce pays qu’on ne lui dispute pas comme province.“26

Die oben zitierte spekulative Argumentation Vansittarts wurde hier noch um eine Umdrehung gesteigert. Diese Sätze, die Friedrich Wilhelm III. als zu anti25

[Wilhelm von Humboldt], Wilhelm von Humboldts Politische Denkschriften, Bd. 2: 1810 –1813, hg. von Bruno Gebhardt (Wilhelm von Humboldts Gesammelte Schriften, Bd.  11), Berlin 1903 (Neudruck: Berlin 1968), S. 179 –188: Über das Memorandum Castlereagh’s 25.10.1814, hier S. 179. Vgl. dazu Bruno Gebhardt, Wilhelm Humboldt als Staatsmann, Bd. 2: Bis zum Ausscheiden aus dem Amte, Stuttgart 1899 (Neudruck: Aalen 1965), S. 91– 98. 26 d’Angeberg [eigentlich Chodźko], Le Congrès de Vienne, S. 406 – 408: Memorandum Hardenbergs an Metternich und Castlereagh, 7.11.1814.

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russisch erbost haben sollen, schrieb Hardenberg wohl auch mit der Absicht, die beiden deutschen Teilungsmächte zu beruhigen, betrachtete man doch in Berlin und Wien die neue und unerwartete polnisch-russische Freundschaft, wie sie angesichts der Propaganda Alexanders in Warschau für seine Verfassungspläne entstanden war, mit großem Misstrauen. Im August 1814 noch hatte Metternich als Verhandlungslinie ausgegeben, die Verfassungspläne Alexanders stellten für die beiden anderen Teilungsmächte eine unmittelbare Gefahr dar; deshalb solle Alexander sich mit einer bloßen Einverleibung zufriedengeben („de se borner à la seule incorporation du Duché�������������������������������������������� “). Denn wenn die Polen eine gesonderte Verfassung erhielten mit dem Kaiser Alexander als Oberhaupt, „������������������ ils tâcheront toujours de réunir avec eux les provinces maintenant détachées pour secouer, avec le temps, aussi le joug russe lui-même“27. Drei Monate später sah die Verfassungsfrage in den Augen Metternichs schon anders aus. Während das Tauziehen vor allem zwischen Preußen und Österreich um das sächsische Territorium, damit verbunden aber auch um die Aufteilung des Herzogtums Warschau, sich im November/Dezember 1814 langsam hochschaukelte, wurden die Verfassung des Königreichs Polen und dessen östliche Ausdehnung immer mehr zum Verhandlungsgegenstand. Wenn Metternich Anfang Dezember 1814 über „la question constitutionnelle de le Pologne“ und die „réunion des ancienne provinces polonaises“ schrieb, dann betonte er jetzt, es sei unmöglich, „de ne pas faire mention de cette condition dans la marche de nos négociations ultérieures…“, vor allem auch, um eine Besitzgarantie für die Provinzen der beiden übrigen Teilungsmächte Polens zu erhalten28. Mit anderen Worten – inzwischen waren die konstitutionellen Pläne Alexanders nicht mehr bloß etwas, mit denen der russische Kaiser sowohl eine geschickte Selbststilisierung betrieb als auch gleichzeitig polnische Anhänger und fremde Diplomaten zu locken versuchte, sondern sie wurden zu einem diplomatischen Instrument der ‚Anderen‘ – es war, als ob im Diskurs ein Argument plötzlich die Seiten gewechselt hätte. Obwohl im Dezember 1814 die Spannungen zwischen den Großmächten einem Höhepunkt zustrebten, sah es so aus, als ob die polnische Verfassungsfrage und die Angliederung der östlichen Provinzen an das Königreich nicht mehr strittig wären, sondern von allen Seiten, wenn auch aus sehr unterschiedlichen Gründen, vertreten werde. Czartoryski sah die Chance, dass die Verfassung und 27

Hier wiedergegeben nach einem Bericht Humboldts, siehe Wilhelm von Humboldt, Denkschrift über die schwebenden politischen Fragen 20.8.1814, in: Humboldt, Wilhelm von Humboldts Politische Denkschriften, Bd. 2, hg. von Gebhardt, S. 145 –159, hier S. 149. 28 Siemann, Metternich, S. 502; d’Angeberg [eigentlich Chodźko], Le Congrès de Vienne, S. 505: Note Metternichs an Hardenberg 10.12.1814. Zu dieser Note vgl. auch Kraehe, Metternich’s German Policy, Vol. 2, S. 264 – 267 – Kraehe meint S. 264, diese Note „ignited one of the great diplomatic explosions of the century“, allerdings nicht wegen ihres polenpolitischen, sondern ihres deutschlandpolitischen Inhalts.

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östliche Ausdehnung des Königreichs Polen international bekräftigt, kodifiziert und damit garantiert werden. Also entwarf er einen Präliminarvertrag zwischen Russland, Preußen und Österreich, in dem die Angliederung der Ostprovinzen und die Union dieses konstitutionellen Königreichs Polen mit Russland festgehalten wurden. Als er diesen Entwurf am 17. Dezember an Ioannis Kapodistrias gab, verwarf letzterer „diese Artikel und bekämpfte von neuem diese Idee der Trennung des russischen Reiches in zwei Theile, einen despotischen und einen konstitutionellen“29. Er gab den Entwurf an seinen Kaiser weiter, und Alexander erkannte die Gefahr, nämlich dass durch die Entwicklung der Debatte seine Argumente umfunktioniert worden waren in dem Sinne, dass seine ‚großmütigen Zusagen‘ zu rechtlichen Verpflichtungen wurden. Er aber wollte freie Hand behalten, sich also gerade nicht durch internationale Verträge binden lassen30. Allerdings machte er einen Unterschied zwischen der Verfassung und der Angliederungsfrage. In Verhandlungsinstruktionen für Graf Andrej K. Rasumovskij31, den früheren langjährigen russischen Botschafter in Wien und bekannten Komponistenmäzen, wurde der soeben zitierten Argumentation Metternichs vorgeworfen, es könne keine Rede davon sein, die Angliederungsfrage als Kompensation völlig falsch zu interpretieren. Alexander lehne es ab, schon im Vorhinein eine verbindliche Erklärung zur Verfassung zu geben, als ob das eine Bedingung für den Erwerb einer durch Waffengewalt eroberten Provinz sei. Wenn allerdings die territorialen Fragen endgültig entschieden seien, dann wünsche er, „que les arrangement, qui y auront rapport, deviennent l’objet d’un traité avec ses alliés“32. Was die polnischen Ostprovinzen betraf, so forderte Kapodistria, man solle „���������������� éviter toute explication positive sur cet objet“. Auch aus einer Randbemerkung des Zaren geht klar hervor, dass hier jede verpflichtende Erklärung vermieden werden solle33. Der russische Vertragsentwurf vom 31. Dezember 1814 überließ es daher völlig dem Zaren, ob er Verfassungs- und Ausdehnungsversprechen einhalten wolle oder nicht34.

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[Stein], Tagebuch, hg. v. Lehmann, S. 414; Zawadzki, Man of Honour, S. 244. Wawrzkowicz, Anglia, S. 232. 31 Alexandre Wassiltchikow, Les Razoumowskis. Edition française par Alexandre Bückner, 3 tomes en 6 volumes, Halle 1893 –1894, Bd. 2: Le Comte André Razoumowski, 3ième partie: 1806 –1838, S. 216 – 222: Première instruction. Objet principaux de la négotiation. 32 Ebd., S. 219. 33 Ebd., S. 221: „J’ai énoncé verbalement mes intentions sur les provinces russes-polonaises, mais il m’est de toute impossibilité d’entrer dans aucun engagement formel sur ce sujet, puisque cela serait dérogatoire à la dignité de la Russie. Ma parole suffit“; diese Sätze werden von Zawadzki, Man of Honour, S. 245 Anm. 48 erst auf Februar 2015 datiert. 34 Johann Ludwig Klüber (Hg.), Acten des Wiener Kongresses in den Jahren 1814 und 1815, Bd. 7, Erlangen 1815 (Neudruck: Osnabrück 1966), S. 69 – 77, hier S. 74: „… le reste du Duché de Varsovie est dévolu à la couronne de Russie, comme état uni, auquel Sa Majesté se réserve de donner une constitution nationale et l’extension de limites qu’Elle jugera convenable“. 30

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Während Metternich auf seinen Forderungen bestand, denn sie waren ohnehin nur ein taktisches Argument gewesen, um das sächsische Problem zu lösen, reagierte die britische Regierung anders. Im Gegensatz zur bisherigen Politik Castlereaghs, der in Alexanders Plänen ein Sicherheitsrisiko für die beiden anderen Teilungsmächte gesehen hatte, erhielt er jetzt die Anweisung: wenn Großbritannien Vertragspartner bei der Regelung der polnischen Frage werden solle, „we have no objection to your agreeing to it, provided it is distinctly stipulated in the Treaty that at least the Polish provinces incorporated with Russia since 1791 shall be reunited to the Duchy of Warsaw, so as to form a distinct kingdom of Poland, under a free constitution.“35 Dies entspreche ja ohnehin dem, was Alexander angekündigt habe – und dann legte Liverpool doch Wert darauf, dass es für Großbritannien dabei um das europäische Gleichgewicht gehe: „and if the Crown of Russia is to be aggrandized to the extent now proposed, it would afford some security to Europe, however inadequate, that the empire should consist of two distinct kingdoms, and that the Crown and one of those kingdoms should be subject to the control of a government more or less popular.“36 Falls Alexander darauf nicht eingehe, dann solle Castlereagh die in Wien anwesenden Polen und vor allem Czartoryski von der britischen Initiative informieren, England solle aber dann einem solchen Vertrag fernbleiben und dagegen protestieren. Hauptgesichtspunkt war für den britischen Premier offensichtlich die englische öffentliche Meinung und die Opposition im Parlament37. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass Castlereagh den Instruktionen seines Premiers gefolgt sei und auf eine vertragliche Festlegung der Angliederung der östlichen Provinzen gedrungen habe. Zwar benutzte er das Argument der Angliederung der polnischen Ostprovinzen an das Königreich, als es darum ging, Preußen zum Verzicht auf Leipzig zu bewegen und Alexander dazu zu bringen, die Stadt Thorn und Umgebung dafür an Preußen abzugeben38, ansonsten aber verstand er die Instruktionen wohl in dem Sinne, die offizielle Haltung der britischen Diplomatie in der englischen Öffentlichkeit, in der die Unabhängigkeit Polens populär war, akzeptabel zu machen. Zu diesem Zweck verfasste er sein „Circular to the Plenipotentiaries of the Conference“ vom 12. Januar 181539, in dem er vorgab, die Grundhaltung der britischen Regierung zur polnischen Frage darzulegen. Dabei 35

Webster (Hg.), British Diplomacy, S. 263 – 264: Liverpool an Castlereagh 22.12.1814. Zamoyski, 1815 – Napoleons Sturz, S. 469 – 471. 36 Ebd. 37 Wie Castlereagh später seine Politik in Wien vor dem Parlament schilderte, siehe �������������� Charles Kingsley Webster, Harold W. V. Temperley, British Policy in the Publication of Diplomatic Documents under Castlereagh and Canning, in: The Cambridge Historical Journal 1 (1923 –1925), S. 158 –169. 38 Webster (Hg.), British Diplomacy, S. 294 – 298: Castlereagh an Liverpool 29.1.1815, hier S. 298. 39 Ebd., S. 287 – 288; auf Französisch und mit den Antworten der drei Teilungsmächte und dem Protokoll von 21.2.1815 in Johan Ludwig Klüber (Hg.), Acten des Wiener Kongresses in den

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betonte er, am liebsten hätte er die Wiedererrichtung eines unabhängigen Polens „������������������������������������������������������������������������������� more or less considerable in extent, established in Poland under a distinct Dynasty, and as an intermediate State between the 3 great Monarchies“ gesehen. Dies sei aber leider nicht möglich gewesen. Angesichts der jetzt gefundenen territorialen Lösung hoffe er nur sehr, dass dies keine schlimme Folgen zeitigen werde „to the tranquillity of the North, and to the general equilibrium of Europe“. Die folgende Ermahnung, die polnische Nation nicht zu unterdrücken, war für ein offizielles diplomatisches Dokument der damaligen Zeit recht ungewöhnlich: „… it is of essential importance to establish the public tranquillity, throughout the territories which formerly constituted the Kingdom of Poland, upon some solid and liberal basis of common interest, by applying to all, however various may be their political institutions, a congenial and conciliatory system of administration. Experience has proved, that it is not by counteracting all their habits and usages as a people, that either the happiness of the Poles, or the peace of that important portion of Europe, can be preserved. A fruitless attempt, too long persevered in by institutions foreign to their manners and sentiments, to make them forget their existence and even language as a people, has been sufficiently tried and failed. It has only tended to excite a sentiment of discontent and self-degradation, and can never operate otherwise, than to provoke commotion, and to awaken them to a recollection of past misfortunes. The undersigned, for these reasons, and in cordial concurrence with the general sentiments which he has had the satisfaction to observe the respective cabinets to entertain on this subject, ardently desires, that the illustrious Monarchs, to whom the destinies of the Polish Nation are confided, may be induced before their depart from Vienna, to take an engagement with each other, to treat as Poles, und whatever form of political institution they may think fit to govern them, the portions of that Nation, that may be placed under their respective Sovereignties. The knowledge of such a determination will best tend to conciliate the general sentiment to their rule, und to do honor to the several Sovereigns in the eyes of their respective Governments.”40

Historiker, die den Gang der Verhandlungen in der polnisch-sächsischen Frage auf dem Wiener Kongress verfolgt haben, stellten zu Recht fest, dass dieses Zirkular, wenn man Castlereaghs Verhalten verfolgt, eigentlich pure Heuchelei gewesen sei41. Der Völkerrechtshistoriker Robert Rie dagegen unterstellte Castlereagh Jahren 1814 und 1815, Bd. 9, Erlangen 1835 (Neudruck: Osnabrück 1966), S. 38 – 51, ebenso bei d’Angeberg [eigentlich Chodźko], Le Congrès de Vienne, S. 794 – 801. 40 Webster (Hg.), British Diplomacy, S. 287 – 288. 41 So z. B. deutlich Wawrzkowicz, Anglia, S. 253 – 257. Sir Charles K[ingsley] Webster, The Foreign Policy of Castlereagh, 1812 –1815. Britain and the Reconstruction of Europe, London 1963, S. 385, bemüht sich dagegen um eine Ehrenrettung seines Protagonisten: „It must be confessed that this appeal was partly made to satisfy Parliamentary criticism, though the wise

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aufgrund desselben Textes die Ansicht: „Modern ausgedrückt: der Nationalstaat ist ein guter Garant der Ruhe.“42 Das Zirkular enthielt keinerlei (Selbst-)Verpflichtung für Großbritannien. Entgegen den oben erwähnten Instruktionen Liverpools vom 22. Dezember 1814 wurden darin weder die Verfassung des Königreichs noch dessen Ausdehnung nach Osten erwähnt. Dagegen hatte Castlereagh mit dem Hinweis, auch die übrigen Teilungsgebiete sollten nationale Institutionen erhalten, eine Idee aufgegriffen, die schon in dem oben erwähnten russischen Vertragsentwurf vom 31. Dezember 1814 gestanden hatte und insofern ohnehin im Gespräch war; schließlich waren es drei nichtrussische Mitglieder der russischen Delegation, nämlich der Pole Czartoryski, der Grieche Kapodistrias und der Deutsche Stein, die in zahlreichen Gesprächen unablässig nationale Rechte und deren Rolle im internationalen Kontext thematisiert hatten43. Auf die in Castlereaghs Zirkular zum Ausdruck gebrachte Aufforderung antworteten die drei angesprochenen Teilungsmächte Polens mit ähnlich allgemeinen Erklärungen44. Die russische Note vom 19. Januar 1815 betonte den Kompromisscharakter der Wiener Polenbestimmungen zwischen Nationalitäten- und Gleichgewichts­ prin­zip („… autant que le désir de protéger leur nationalité peut se concilier avec le maintien d’un juste équilibre entre les Puissances de l’Europe“), wies auf die Unmöglichkeit hin, den alten polnischen Staat wiederherzustellen und erging sich ansonsten in allgemeinen Ausführungen über das vertrauensvolle Verhältnis zwischen Herrscher und Untertanen und über die immer bezeugte Friedensliebe des Zaren. Grundton der Note war, dass Castlereagh nur das ausgesprochen habe, was immer schon Inhalt der russischen Politik gewesen sei. Die preußische Note vom 30. Januar 1815, von Hardenberg unterzeichnet, wurde von Wilhelm von Humboldt verfasst und enthielt ursprünglich noch einen Passus über eine beabsichtigte preußische Verfassung45. Das preußische Kabinett erklärte sich ebenfalls mit der englischen Note einverstanden und sicherte die Berücksichtigung der polnischen Nation („Assurer la tranquillité de ces provinces par un mode d’administration adapté aux et au génie de leurs habitant…“) und all ihrer legitimen Wünsche zu, insoweit sie nicht den Interessen jedes Staates an der Integration seiner unterschiedlichen Teile zuwiderliefen („…de procurer à ses sujets polonais de nation tous les avantages qui pourront former un objet de

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words which nit contained as to giving the Poles national institutions represented considerable feeling on Castlereagh’s part“. Robert Rie, Der Wiener Kongreß und das Völkerrecht, Bonn 1957, S. 79. Vgl. Zawadzki, Man of Honour, S. 246 – 251 und 258. Siehe Anm. 39. Humboldt, Wilhelm von Humboldts Politische Denkschriften, Bd. 2, hg. von Gebhardt, S. 199 – 201: Note an Lord Castlereagh, einschließlich des gestrichenen Satzes. Vgl. Gebhardt, Humboldt als Staatsmann, Bd. 2, S. 113, Anm. 1. Möglicherweise beabsichtigte Humboldt damit, in der Öffentlichkeit ein Gegengewicht gegenüber den Verfassungsplänen Alexanders im Königreich Polen zu schaffen.

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leurs vœux légitimes et qui seront compatibles avec les rapports de sa monarchie, et le premier but de chaque État de former un ensemble solide des différentes parties qui le composent������������������������������������������������������� “). Hier wurde doch ein leichter zentralisierender Zungenschlag bemerkbar, der dann ab den 1830er Jahren auch administrativ durchgesetzt wurde. Die österreichische Note ließ zunächst auf sich warten. Czartoryski berichtet in seinen sporadischen Tagebuchnotizen von einem Gespräch mit Metternich in der ersten Hälfte Februar 1815: „Gespräch mit Metternich. Er produziert seine Wortkaskaden: er will alles für Polen und die Polen; er wollte die Unabhängigkeit und gab auf, denn er sah die Unwahrscheinlichkeit; jetzt lässt sich Österreich nicht von Russland und Preußen überholen. Er fragt, was der Kaiser [Alexander] machen will. Darauf hatte ich Schwierigkeiten zu antworten. Dass [Metternich] Österreich mit dem Titel und mit allem einverstanden sein wird, wenn es nur wüßte, was passieren werde. Dass [Kaiser] Fränzchen [Franuś] schon mit einer Konstitution [für Galizien] beschäftigt sei. Er sprach von zwei Kammern und weiteren Pairs, Majoraten, worin ich ihn bestätigte. Verschiedene Personen empfehle ich ihm und bemühe mich darum, seinen Argwohn und seine Befürchtungen sowohl gegenüber dem Kaiser [Alexander] als auch den Polen zu mildern.“46

Die russische Seite wurde offensichtlich ungeduldig. In den Instruktionen Alexanders vom 6./18. Februar 1815 findet sich die Anweisung an den russischen Bevollmächtigten Rasumovskij „sur les clauses à insérer dans le traité en faveur des sujets polonais des trois puissances������������������������������������������ “ wiederholt zu bestehen („��������������� à insister itérativement“), „pour que le traité assure aux Polonais placés sous les dominations respectives tous les égards qui réclame leur nationalité.“47 Die österreichische Note wurde erst am 21. Februar 1815 zu Protokoll gegeben48. Metternich wies darin, entsprechend seinen Aussagen, die er ��������� Czartoryski gegenüber gemacht hatte, darauf hin, dass Österreich die Wiederherstellung 46

Szymon Askenazy, Polska i Europa 1813 –1815 podług dziennika Adama ks. Czartoryskiego [Polen und Europa 1813 –1815 nach dem Tagebuch des Fürsten Adam Czartoryski], in: ������� Biblioteka Warszawska 69 (1909), Bd. 2, S. 1– 30, 209 – 237, 417 – 445 und Bd. 3, S. 32 – 74, hier S. 64 (Übersetzung – H.H.H). Ebenfalls in der Neuausgabe der Tagebücher: Adam Jerzy Czartoryski, Dziennik Ks. Adama Jerzego Czartoryskiego 1813 –1817, hg. von Małgorzata Karpińska, Warszawa 2016, S. 383 [„Rozmowa z Metternichem. Swoje słowoskłady produkuje: chce wszystko dla Polski i Polaków; chciał niepodległości i odstąpił, bo widział niepodobieństwo; teraz Austria nie da się ubiec przez Rosję i Prusy. Pyta się, co cesarz chce czynić; na to trudno mi było odpowiedzieć. Że Austria na tytuł i wszystko się zgodzi, byle by wiedziała, co będzie. Że Franuś [Kaiser Franz I. – H.H.H.] już się trudni konstytucją. Mówił o dwóch izbach i o następnych parach, majoratach, w czym go utwierdziłem. Różne osoby mu rekomenduję i staram się ugładzić bojaźni i podejrzenia, tak na cesarza, jak na Polaków“]. 47 Wassiltchikow, Les Razoumowskis, Bd. 2, 3, S. 223 – 228, hier S. 227. 48 Siehe Anm. 39.

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eines unabhängigen Polen mehrmals vorgeschlagen habe und an den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert unschuldig sei. Im Übrigen stimme Wien mit den Ansichten der britischen und russischen Note überein. Ein Garant der Ruhe sei die Zufriedenheit der Völker, letztere sei untrennbar mit der Berücksichtigung der Nationalität und Sitten der Untertanen durch die Regierung verbunden. Von einer Konstitution für Galizien war allerdings nicht mehr die Rede. Zar Alexander war offensichtlich recht ungehalten über die österreichische Note, wie der neue britische Bevollmächtigte Wellington berichtete: „He was much displeased with the note which Prince Metternich put upon the protocol of the conference of the 21st, in answer to that of Your Lordship [Castlereagh] as His Majesty conceived it was calculated to render him unpopular among the Poles“49. Aus den drei Noten der Teilungsmächte lässt sich relativ mühelos eine indirekte Selbstcharakterisierung der drei Staaten ableiten: Aus der österreichischen Note geht deutlich hervor, dass die erreichte Lösung der polnischen Frage so nicht von Österreich angestrebt wurde; daher wird auch der historischen Seite des Problems viel Raum gewidmet; zudem kommt, wenn von den polnischen Untertanen des Habsburgischen Reiches die Rede ist, ein etwas paternalistisch klingender Zug hinein. Russland konnte sich trotz einiger Einschränkungen als der eigentliche Gewinner betrachten; die wortreiche russische Note befasste sich – hier auch den Intentionen und Hauptinteressen des Zaren folgend – fast ausschließlich mit dem internationalen Aspekt der Lösung; der Kompromisscharakter der Regelung, die Friedensliebe des Zaren und die Solidarität der Mächte standen im Vordergrund. Preußen stand vor dem Problem, wie es aus seinem neuen zersplitterten und heterogenen Territorium ein „ensemble solide“ formen könne und wies daher auch darauf hin, dass partikulare, hier polnische Rechte, im Ernstfall dabei zurückzustehen hätten. Die Folge der russischen Initiative im Dezember 1814 sowie der britischen Note vom 12. Januar 1815 war, dass die Rechte der polnischen Nation Eingang in das Wiener Vertragswerk fanden. Um den Wortlaut ging es in den Verhandlungen der folgenden drei Monate, ebenso wie um kleinere territoriale Fragen, vor allem das Schicksal Thorns und Krakaus. Die Verhandlungen fanden in einer speziellen Kommission für Polen statt, in der Russland durch Johann von Anstett, dem späteren russischen Gesandten beim Deutschen Bund in Frankfurt, und Józef Kalasanty Szaniawski, einem Philosophen und früheren Jakobiner sowie engen Mitarbeiter Czartoryskis, vertreten war; beide agierten unter der direkten Aufsicht Czartoryskis. Für letzteren waren die wichtigsten Fragen zum einen die Bezeichnung des neuen russischen Teilgebiets als „état“, die Erwähnung der Verfassung im Vertrag, ebenso die östliche Ausdehnung des Königreichs und schließ49

Arthur Wellesley Duke of Wellington, Supplementary Despatches, Correspondence, and Memoranda of Field Marshal Arthur Duke of Wellington, edited by his son, vol. 9: Southern France, Embassy to Paris and Congress of Vienna [April, 1814, to March, 1815], London 1862, S. 569 – 572: Wellington an Castlereagh 18.2.1815, hier S. 571– 572.

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lich nationale Rechte in allen Teilungsgebieten. Der Widerstand der Delegationen der drei Teilungsmächte, auch der russischen Unterhändler, war erheblich50. Nach Castlereaghs Abreise aus Wien im Februar 1815 versuchten Czartoryski und Antoni Radziwiłł, dessen Nachfolger Wellington in die Auseinandersetzungen einzubeziehen und mit britischer Unterstützung eindeutigere Formulierungen zu erreichen, indem sie darauf drängten, dass die polnische Frage nochmals von den fünf Mächten gemeinsam behandelt werden solle. Sie beabsichtigten auf diese Weise dem schwankenden Zaren den Rücken gegen seine eigene russische Umgebung zu stärken und ihn auf seine liberalen Zusagen festzunageln. Wellington allerdings lehnte mit der Begründung ab, er könne sich nicht einmischen, mehr als die Note vom 12. Januar sei von britischer Seite nicht zu erwarten51. Die Verhandlungen stagnierten. Napoleons Rückkehr am 1. März 1815 nach Frankreich schließlich beschleunigte die Entscheidungsfindung und Abwicklung der ‚Geschäfte‘. Die Furcht vor pronapoleonischen Strömungen in der polnischen Gesellschaft und Armee52 ließ die Diplomaten erheblich nachgiebiger gegenüber den Forderungen Czartoryskis werden. Erst Anfang April war der grundsätzliche Artikel (später der erste Abschnitt des Art. I der Schlussakte) über den Status des Königreichs Polen unterschriftsreif. Man stritt weiter um die Zusagen an die polnische Nationalität. Eine Bemerkung Humboldts, er habe mit Mühe eine Garantie der polnischen „Nationalität“ verhindert53, lässt vermuten, dass noch weitergehende Forderungen auf dem Tisch lagen, als dann im 2. Abschnitt des Art. I der Schlussakte über die polnische Nation gesagt wurde. Schließlich waren die Polen betreffenden Verträge am 3. Mai unterschriftsreif 54 und deren wichtigste Artikel einen Monat später in die Schlussakte von 9. Juni 1815 übernommen. Die Polenbestimmungen von Wien Was war nun das textuelle Ergebnis der Verhandlungen über Polen in Wien, und wie ließ es sich umsetzen? Wie stand es mit dem völkerrechtlichen Status der ehemals polnischen Gebiete gemäß den Wiener Verträgen?55 50

Askenazy, Polska i Europa, hier S. 61– 65 und S. 69. Ebd. S. 65. Das Gespräch Radziwiłłs mit Wellington fand offensichtlich am 17.2.1815 statt, siehe Wellington, Supplementary Despatches, vol. 9, S. 569 – 572: Wellington an Castlereagh 18.2.1815, hier S. 571– 572. 52 Askenazy, Polska i Europa, S. 66. 53 W. und C. von Humboldt, Briefe, hg. v. Sydow, Bd. 4, S. 550 – Brief vom 15.5.1815: „Überhaupt ging die ganze Tendenz dieser Herren [die Polen] dahin, aus den Polen e i n e Nation (was bei ihnen immer eine andere Bedeutung hat als die bloß menschliche, immer auch eine politische hat) unter drei Herren zu machen. Ich habe mit diesem ganzen Wesen nichts zu tun gehabt …. Allein einen Artikel über die Rechte der Nationalität, der viel zu weit ging, habe ich doch verhindern können“. 54 Marceli Handelsman, Adam Czartoryski, Bd. 1, Warszawa 1948, S. 111–112. 55 Vgl. als Literatur dazu etwas enttäuschend Ladislas Feinstein: La question polonaise au point de vue du droit des gens. Étude de droit international et d’histoire diplomatique, Thèse Lau51

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Verhandelt wurde offiziell in Wien nur über die Aufteilung des 1807 aus Teilen des preußischen und 1809 des österrei­chischen Teilungsgebiets (aus der 2. und 3. Teilung Polens 1793 und 1795) gebildeten Herzogtums Warschau. Der Besitz der übrigen polnischen Gebiete war unstrittig. Trotzdem ist in den Verträgen mehrfach vom Territorium des alten Polen in den Grenzen von 1772 die Rede. Wenn wir letztere, also Polen in den Grenzen von 1772, als Ausgangspunkt nehmen, dann wurde Polen 1815 in 6 Teile geteilt: 1. das an das Russische Reich angegliederte Königreich Polen (�������������� Królestwo Polskie); 2. das eigentliche russische Teilungsgebiet aus den 3 Tei­lungen – später die „weggenommenen Gebiete“ („ziemie zabrane“) ge­nannt; 3. das nun preußische Großherzogtum Posen (������������������������ Wielkie Księstwo Poznańskie) – es war zuvor preußisches Teilungsgebiet seit 1793 gewesen, ab 1807 der westliche Teil des Herzogtums Warschau; 4. der preußische Gewinn aus der ersten Teilung, also das frühere „Königliche Preußen“, geo­graphisch genannt Pommerellen samt Danzig, dann administrativ als Westpreußen be­zeichnet, sowie das Ermland (Warmia); 5. Galizien bzw. genauer das Königreich Galizien und Lodo­merien – das österreichische Teilungsgebiet aus der ersten Teilung von 1772; 6. Die Freie Stadt Krakau. Allerdings beschränkte man sich in den Wiener Verträgen nicht darauf, die staatliche Zugehörigkeit der einzelnen polnischen Gebiete festzulegen. Bedeutsam ist, was im Vertragstext über den rechtlichen Status dieser Gebiete gesagt wurde. Der Vertragstext machte schon in Art. I der Schlussakte einen deut­lichen Unterschied zwischen dem Königreich Polen und den übrigen polnischen Gebieten. Dem Königreich wurde ein politisch autonomer Status zugesichert („jouissant d’une administration distincte�������������������������������������������������� “), ja, es wurde sogar ausdrücklich als „état“ bezeichnet. Dieses mit dem Kaiserreich Russland durch eine Personalunion verbundene König­reich wurde damit „ein Staat mit einer besonderen Verwaltung“. Als wichtigstes Verbindungselement zwischen dem russischen Kaiser­reich und dem Königreich Polen wurde neben der Person des Souver­äns die Verfassung genannt: „…il y sera lié irrévocablement par sa constitution“. Die bloße Tatsache einer

sanne 1918; zutreffender, wenn auch mehr auf die staats- als auf die völkerrechtlichen Aspekte eingehend Władysław Mieczysław Kozłowski, Autonomia Królestwa Polskiego (1815 –1831) [Die Autonomie des Königreichs Polen (1815 –1831)], Warszawa 1907; vgl. meine eigene frühere Studie: Hans Henning Hahn, Der polnische Novemberaufstand von 1830 angesichts des zeitgenössischen Völkerrechts, in: Historische Zeitschrift (1982), Bd. 235, S. 85 –119, dort ausführlich über die Frage, inwiefern die Schlussakte aufgrund ihrer Multilateralität ein Garantievertrag war.

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politischen Auto­no­mie und die Existenz der Verfassung des Königreichs Polen waren damit Vertragsbestandteil, also positives Völkerrecht. Das be­deu­tete um­ gekehrt, dass später die Abschaffung der polnischen Konstitution – nicht aber ihr Bruch oder ihre Veränderung – einen Vertragsbruch und da­mit völkerrechtliches Unrecht darstellte. Wie oben geschildert, ist hier zweifellos ein Erfolg der Bemühungen Adam Jerzy Czartoryskis zu konstatieren. Alexanders Taktik, zwar mit Autonomie, Staatlichkeit und Verfassung auf dem diplomatischen Parkett zu argumentieren, sich aber gleichzeitig dabei vorzubehalten, dass er dies aus freier kaiserlicher Gnade gewähre, ohne diesbezüglich vertrags- und damit völkerrechtliche Verpflichtungen einzugehen, war nicht aufgegangen. Durch die Aufnahme in die Wiener Schlussakte hatten diese Festlegungen höheren völkerrechtlichen Rang erhalten. Allerdings hatte der Zar in der Frage, das neue Königreich nach Osten auszudeh­ nen und ihm die polnischen Ostgebiete, die „ziemie zabrane“, an­zugliedern, nicht nachgegeben – hier hieß es lediglich: „Sa Majesté se réserve de don­ner à cet état l’extension intérieure qu’elle jugera convenable����������������������������������� “ – dies wurde also nur als Eventualität angekündigt, ohne dass irgend­wer daraus einen Rechtstitel herleiten konnte. Es ging dabei um die russische Beute aus den drei Teilungen bis 1795. Alexander I. er­wähnte die Angliederung der Ostgebiete nochmals in seiner Rede an­lässlich der Eröffnung des Sejms im April 181856, ebenfalls in zahl­reichen Privatgesprächen, erfüllte jedoch sein Versprechen nie. Allen übrigen Polen, die als russische, preußische oder österrei­chische Untertanen außerhalb der Grenzen des Königreichs Polen auf ehemals polnischen Gebieten lebten57, wurden repräsentative Körper­schaften und nationale Institutionen zugesagt („…��������������������������������������������������������� obtiendront une représentation et des institutions nationales…“); damit wurde zwar der Grundsatz, nach dem die Teilungsmächte ihre polnischen Untertanen zu behandeln hatten, völkerrechtlich vorgeschrieben, die konkrete politische und institutionelle Ausführung aber ganz in das Belieben der Regierungen gestellt. Das entsprach ja auch dem oben geschilderten Notenaustausch der Großmächte im Januar und Februar 1815. Der völkerrechtliche Status der Freien Stadt Krakau wurde sowohl in der Wiener Schlussakte als auch in einem zusätzlichen Additio­nalvertrag zwischen den drei Teilungsmächten, unter deren Schutz diese „����������������������������������� cité libre, indépendant et strictement neutre“ stehen soll­te, genau beschrieben.

56

Andrzej Ajnenkiel, Historia sejmu polskiego. T. 2, cz. 1: W dobie rozbiorów [Die Geschichte des Polnischen Sejms. Bd. 2, Teil 1: In der Epoche der Teilungen], Warszawa 1989, S. 45. 57 Ein Teil der Literatur macht einen Fehler, wenn er den letzten Satz des Art. I auch auf das Königreich Polen gemünzt versteht – die in diesem Satz gemachten Zusagen betreffen eindeutig die Bewohner aller Teilungsgebiete außerhalb des Königreichs. Fehlerhaft z. B. bei Reinhard Stauber, Der Wiener Kongress, Wien, Köln, Weimar 2014, S. 92.

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Neben der Schlußakte befassten sich noch drei weitere Verträge mit Polen58. Dort wurde eine wirklich li­berale Regelung des Optionsrechts festgelegt sowie, dass es „sujets mixtes quant à la propriété“ geben könne. Personen, die Besitztümer in verschiedenen Herrschaftsgebieten des alten Polens besaßen, mussten sich zwar für eine Staatsbürgerschaft entscheiden, verloren damit aber nicht das Recht, in anderen Teilungsgebieten weiterhin Besitz zu haben – dies war ein Geschenk vor allem für die pol­ni­schen Magnaten, die man damit offensichtlich als die politisch gewich­tigste Schicht der polnischen Nation für die Wiener Lösung der polnischen Frage zu gewinnen suchte. Am konkretesten und für die polnische Nation vielversprechendsten waren die Beschlüsse über ungehin­derte Flussschiffahrt59, freien Warenaustausch und den Transithandel auf dem gesamten Gebiet des alten Polen in den Grenzen von 1772. Es stellt eine seltsame Besonderheit dar, dass in den Verträgen mehrfach davon die Rede ist, dass die Polenbestim­mun­gen sich auf „toutes les parties de l’ancienne Pologne (années 1772)“ beziehen sollten. Ob auch hier Czartoryski die Feder geführt hat, wissen wir nicht genau, anzunehmen ist es. In ei­nem Brief an den britischen Philosophen und Juristen Jeremy Bentham vom 8. Februar 1815 beschrieb er seine Kon­zeption: „Le partage originaire ne pouvant être effacé, il a fallu tirer de cette si­tuation le meilleur parti possible en cherchant à établir sous chaque domination un gouvernement et une constitution nationale, une grande liberté de commerce et de communications entre les dif­férentes parties … [C’est] un but aussi bienfai­sant, qui, s’il ne rend pas l`entière indépendance au pays, lui assure cependant la jouissance de sa nationalité, lui laisse des moyens d’avancer sa culture, et de préserver paisiblement une sorte d’unité mo­rale“60. [Da die ursprüngliche Teilung nicht aufgehoben werden konnte, musste man aus dieser Situation das möglichst Beste herausholen, indem man versuchte, unter jeder Herrschaft eine Regierung und eine nationale Verfassung zu etablieren, große Handelsfreiheit und Kommunikationsfreiheit zwischen den unterschiedlichen Teilgebieten. … [Das war/ist] ein ebenso wohltuendes Ziel, das, wenn es auch nicht dem Land die volle Unabhängigkeit bringt, ihm zumindest den Genuss seiner Nationalität sichert, ihm die Mittel lässt, seine Kultur fortzuentwickeln und auf friedliche Art und Weise eine Art moralische Einheit bewahrt] (Übersetzung – H.H.H.). 58

Der russisch-österreichische Vertrag, der russisch-preußische Vertrag und der Additionalvertrag zwischen Russland, Österreich und Preußen über die Freie Stadt Krakau, alle drei datiert auf den 21.4./3.5.1815. 59 Auf dem Wiener Kongress wurde mithilfe einer Kommission für internationale Flussschifffahrt ein Übereinkommen über die Freiheit der internationalen, also der grenzüberschreitenden Flussschifffahrt getroffen, vgl. Rie, Wiener Kongreß, S. 135 –138. Bei den Verhandlungen zur polnischen Frage hatte vor allem Österreich von Anfang an für eine Freiheit der Schifffahrt auf der Weichsel plädiert. 60 Brief Czartoryskis an Bentham 8.2.1815, zit. nach: Wawrzkowicz, Anglia, S. 459.

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Das klingt als politische Konzeption recht verständlich und stellt eine zunächst richtig erscheinende politische Analyse des Vertragstextes dar; man muss allerdings sofort hinzufügen, dass sie nie verwirklicht wurde. Wenn wir die Buchstaben der Verträge nehmen, dann lässt sich eine seltsame Zweigleisigkeit bei der Behandlung des Themas Polen feststellen. Dieser Dualismus findet sich auf mehreren Ebenen: 1. Ausgangspunkt waren zwei ehemalige polnische Staatsgebilde, nämlich einmal das Herzogtum Warschau, um dessen Aufteilung es vordergründig ging, und zum anderen der alte polnische Staat in den Grenzen von 1772. Letzterer wurde mehrfach erwähnt, ja seine Grenzen sollten sogar in gewissen Bereichen (z. B. Handel) noch Gültigkeit haben. Er sollte zwar keine politische Einheit mehr sein, aber trotz der politischen Grenzen, die ihn jetzt durch­schnitte, sollte er einen einheitlichen Wirtschaftsraum bilden. 2. Es wurden einerseits zwei autonome polnische Staatsgebilde mit wenn auch begrenzter Souveränität geschaffen, die aber viele At­tribute normaler Staatlichkeit trugen, nämlich das Königreich Polen und die Freie Stadt Krakau, andererseits wurden Bestimmungen nicht nur territorialer Art über die übrigen polnischen Provinzen, sondern auch über die nationalen Rechte ihrer Bewohner in die Verträge aufgenommen. 3. So ging man zum einem von einem ‚staatlichen Prinzip‘ aus, indem der völkerrechtliche Status und auch die staatsrechtliche Form (z. B. durch die Aufnahme der Krakauer Verfassung in das Vertragswerk) der neuen polnischen Staatsgebilde relativ exakt umrissen wurden. Zum anderen war aber auch eine gewisse Berücksichtigung des ‚nationalen Prinzips‘ festzustellen, wenn für alle polnischen Gebiete in den Grenzen von 1772 Vereinbarungen getroffen wurden, deren einziger Sinn der Schutz einer nationalen Existenz der Polen sein konnte – so die Zusage repräsentativer und nationaler Insti­ tutionen und die Konzeption eines zusammengehörigen polnischen Wirtschaftsraums. Gerade alle Bestimmungen, deren Ziel es war, möglichst viele Bindungen und Kommunikation zwischen den polnischen Teilungsgebieten bestehen zu lassen, waren eindeutig ein Zugeständnis an die Polen als letztlich doch zusammengehörige Nation. Diese Doppelgleisigkeit ist wohl als der Hauptgrund dafür anzuse­hen, warum später die Polenbestimmungen der Wiener Verträge oft als unklar bezeichnet wurden. Das Nebeneinander von ‚staatlichem Prinzip‘ und ‚nationalem Prinzip‘ in einem Vertragswerk, wobei derselbe Vertrag ja festschrieb, dass diese Nation in ihrer Gesamt­heit keinen eigenen Nationalstaat bilden dürfe, stellte wohl doch eine Überforderung des damaligen Völkerrechts in Theorie und Praxis dar. Ich bin mir keineswegs sicher, dass dies nicht auch noch heute die internationale Rechtswirklichkeit überfordern würde.

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Die obige Gegenüberstellung von ‚staatlichem‘ und ‚nationalem Prinzip‘ entspricht allerdings nur partiell der damaligen Problematik. ‚Nation‘ verstanden Czartoryski und seine Mitstreiter keineswegs im ethnischen Sinn, sondern in der Kontinuität der polnisch-litauischen Republik. Es ging ihnen also nicht um die Konstituierung eines ethnisch begründeten Nationalstaats, sondern um die Wiederherstellung ihres ja erst zwei Jahrzehnte zuvor durch die Verfassung vom 3. Mai 1791 reformierten und dann untergegangenen Staates, und von daher leitete sich ihr Nationsverständnis ab. Heute modische Interpretationen, das nationale Prinzip sei konfliktogen, imperiale Lösungen dagegen seien eher dazu geeignet, dauerhafte Friedenslösungen zu verbürgen, sind daher für die Interpretation des Wiener Vertragswerks kaum adäquat. Die vier ‚wunden Punkte‘ der Wiener Ordnung haben im Laufe des 19. Jahrhundert für viel Unfrieden gesorgt, sowohl innerstaatlich wie zwischenstaatlich. Sie führten später allenthalben zu einer zunehmenden Ethnisierung des Nationsbegriffs, die in den meisten Ländern erst später stattfand – Nationalismus, wie er heute verstanden wird, entstand vorwiegend erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entweder durch ein Zusammengehen nationaler und imperialer Zielvorstellungen (in den meisten Großmächten), als Irredenta-Bewegungen oder als nationalseparatistische Abspaltungsbewegungen. Im Kontext des Wiener Kongresses wird die Vereinbarkeit der Wiederherstellung untergegangener Staaten, national begründetem Separatismus und internationaler Ordnungsstiftung indirekt durch einen Vergleich der polnischen Bestrebungen 1814 –1815 mit dem gleichzeitigen zweiten serbischen Nationalaufstand unter Karadjordje und Miloš Obrenović deutlich. Da das Osmanische Reich in den Wiener Verhandlungen bewusst ausgeklammert wurde (entsprechende britische Bemühungen scheiterten an den imperialen Interessen Russlands61), wurde der serbische Aufstand nicht Verhandlungsgegenstand, obwohl alle Teilnehmer sich über dessen Verlauf ständig informieren ließen. Nationale Fragen unterschiedlicher Art lagen also keineswegs außerhalb des damaligen Horizonts, wurden aber unterschiedlich behandelt – Serbien eben nicht, Polen aber schon. Die – zumindest verbale – Berücksichtigung polnischer Ansprüche im Wiener Vertragswerk beruhte sicherlich vor allem auf den Plänen Alexanders I. und Czartoryskis; dahinter aber stand offensichtlich auch, dass noch wenig Vertrauen in die Stabilität der neu zu gründenden Ordnung herrschte. Das solidarische Staatensystem, das man zu stiften beabsichtigte, von Anfang an auf offensichtliche Unrechtakte zu begründen, widerstrebte doch vielen Akteuren in Wien, und das betraf nicht nur die territorial glimpfliche Schonung Frankreichs und auch des Königreichs Sachsen, sondern eben auch die Behandlung der polnischen Frage. Dem widerspricht nicht, dass an der Oberfläche jeweils vorwiegend mit Gleichgewichtsüberlegungen argumentiert wurde. 61

Webster, Congress of Vienna, passim.

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Czartoryski interpretierte die Wiener Polenbestimmungen als in gewissem Sinne eine Rekompensation, ja einen Ersatz für die aus­ge­bliebene Wiederherstellung Polens, und, wohl gleichzeitig als Rechtfertigung seiner eigenen Bemühungen in Wien, machte dabei einen interessanten polnisch-deutschen Vergleich: „Pour prix de ce démembrement, les cours ont stipulé de conserver sur toute l’étendu de l’ancienne Pologne la nationalité, des lois, des institutions, de manière que quoique partagé l’unité morale du pays et les rapports ne soyent pas troublés, et que la Pologne comme l’Allemagne quoique morale fasse un même corps.“62 [Als Preis für diese Teilung haben die Höfe (Großmächte) bestimmt, im gesamten Raum des alten Polen die Nationalität zu erhalten, die Gesetze, die Institutionen, dergestalt dass obwohl geteilt die moralische Einheit des Landes und die Beziehungen untereinander nicht gestört sein sollen, und dass Polen ähnlich wie Deutschland zumindest moralisch einen einzigen Körper darstellt] (Übersetzung – H.H.H.).

In diesem polnisch-deutschen Vergleich liegt sehr viel Wahrheit – in beiden Fällen wurde ein altes Staatsgebilde, dessen Existenz erst nach der Französischen Revolution beendet worden war, nicht wiederhergestellt; in beiden Fällen gab es Lippenbekenntnisse für die nationalen Bestrebungen der nationalen Gesellschaften, und in bei­den Fällen fielen die Bestrebungen der Nationalbewegungen den so genannten europäischen Interessen zum Opfer, das heißt konkret der europäischen Ordnung, die die Großmächte als notwendig für Schaffung und Erhalt des europäischen Friedens erachteten, eines Friedens, der gleichzeitig aber Ausdruck der Interessen der Großmächte war. Czartoryskis polnisch-deutscher Vergleich gibt noch einmal Anlass, die schon oben genannte Trias der in Wien ungelösten nationalen Frage noch einmal Revue passieren zu lassen. Czartoryski übersah hier – möglicherweise absichtlich – einen großen Unterschied: Die ‚Lösung‘ der deutschen Frage enthielt, wenn auch in ungenügender Form, eine politische Institutionalisie­rung jener „unité morale“ der deutschen Nation in Gestalt des Deutschen Bundes. Für Polen war nichts Ähnliches vorgesehen. Das Fehlen irgend­einer gesamtpolnischen Institution stellte einen wesentlichen Man­gel der Wiener Lösung der polnischen Frage dar, und hier kann man die Situation Polens eher mit der italienischen Fra­ge vergleichen: 1848 konnte aus dem Deutschen Bundestag eine Deutsche Nationalversammlung entstehen mit einem halbwegs legalistischen Übergang. Zur Bildung eines ita­lienischen oder polnischen Parlaments bestand 1848 keine Chance – obwohl gerade Polen bzw. die polni­sche Gesellschaft über die längsten parlamentarischen Erfahrungen über­haupt in Eu­ropa verfügte. Weiterhin ist nicht zu übersehen, 62

Biblioteka Czartoryskich w Krakowie [Czartoryski-Bibliothek in Krakau], Sign. 5239, S. 193 – 204: „Sur le rétablissement de la Pologne“, handschriftlicher Entwurf eines Memorandums Czartoryskis 1817, partiell veröffentlicht in: Marceli Handelsman, Pomiędzy Prusami i Rosją [Zwischen Preußen und Russland], Warszawa 1922, S. 163 –166.

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dass es sowohl im polnischen wie im italienischen Fall um einen Kampf gegen Fremdherrschaft ging – in Italien gegen das Habsburger Imperium, in Polen gegen gleich drei Imperien. In Deutschland dagegen stand kein deutscher Mitgliedstaat des Bundes unter Fremdherrschaft63. In Gestalt des Heiligen Römischen Reiches Deutscher Nation und der polnisch-litauischen Republik (Rzeczpospolita) gehörten die staatlichen Bezugspunkte der deutschen und polnischen Nationalbewegung noch zur persönlichen Erinnerung der politisch aktiven Generation64. Reichsitalien (das Regnum Italiae des Heiligen Römischen Reiches) jedoch spielte für die italienischen Patrioten keine konkrete Rolle, und das napoleonische Royaume d’Italie war zu sehr Fragment gewesen. Ansonsten aber war die Situation aller drei Nationalbewegungen recht unterschiedlich: Die Ziele der italienischen Nationalbewegung kollidierten mit den Interessen einer Großmacht; an der deutschen Frage waren notgedrungen die beiden deutschen Großmächte beteiligt – die Nationalbewegung konnte sich gegen beide stellen oder sich mit einer verbünden; die polnische Nationalbewegung hatte drei Großmächte, wie unten noch weiter auszuführen sein wird, zum Gegner. Dementsprechend konnten die deutsche und die italienische nationale Frage in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert ‚gelöst‘ werden im Sinne der Bildung eines Königreichs Italien und eines Deutschen Kaiserreichs, und zwar im Rahmen des 1815 gegründeten europäischen Staatensystems. Demgegenüber ist es erstaunlich, dass in den Vertragstexten von Wien so explizit von der polnischen Nation bzw. Nationalität die Rede ist, nicht aber von der deutschen und italienischen Nation. Die beiden Letzteren waren, obwohl als Problem durchaus bewusst, kein Verhandlungsgegenstand, die polnische, wie hier ausgeführt wurde, schon. Es ist zwar davon auszugehen, dass die hier genannten politischen Akteure wohl recht unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, was genau unter ‚Nation‘ zu verstehen sei. Auch sei keineswegs geleugnet, dass die nationalen Konzepte in Polen, Deutschland und Italien zu Beginn des 19. Jahrhunderts ebenfalls höchst unterschiedlich waren. „La nationalité polonaise ne périra pas“, wie es ab 1831 jährlich in der französischen Kammeradresse hieß65, hätte man aber schon aus den Wiener Verträgen herauslesen können. 63

Auch wenn die schleswig-holsteinische Bewegung seit den 1840er Jahren in ihrer Propaganda derartiges zu konstruieren versuchte. 64 In welchem Ausmaß die Erinnerungen an beide Staatsgebilde die Erinnerungskulturen beider Länder geprägt haben, behandelt Hans-Jürgen Bömelburg, Altes Reich und ������������� Rzeczpospolita����������������������������������������������������������������������������������������� (Polnisch-Litauische Adelsrepublik). Hymne auf die Vielfalt und Geschichte eines Niedergangs, in: Hans Henning Hahn, Robert Traba (Hgg.), Deutsch-Polnischer Erinnerungsorte. Bd. 3: Parallelen, Paderborn, München, Wien, Zürich 2012, S. 21– 36. 65 Hans Henning Hahn, Außenpolitik in der Emigration. Die Exilpolitik �������������������� Adam Jerzy Czartoryskis 1830 –1848 (Studien zur Geschichte des neunzehnten Jahrhunderts, Bd. 10), München, Wien 1978, S. 175 (Online-Ausgabe: Berlin, München, Boston 2020); polnische Ausgabe u. d. T.: Dyplomacja ����������������������������������������������������������������������������������� bez listów uwierzytelniających. Polityka zagraniczna Adama Jerzego Czartoryskiego 1830 –1840, übers. von Maryla Borkowicz, Warszawa 1987.

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Die polnische Frage nach 1815 Im Folgenden seien die polnische Frage und ihre Situation in Eu­ropa noch etwas genauer betrachtet bzw. die Frage aufgeworfen, was die polnische Frage genau bedeutet und was sich daraus für Europa ergab? In der Petersburger Konvention vom 15./26. Januar 1797, die die dritte Teilung Polens besiegelt hatte, ist vom „démembrement général, définitif et irrévocable“66 die Rede. Schon die Ereignisse der er­sten Jahrzehnte danach bewiesen, dass diese Vertragsbestimmung nicht in die Tat hatte umgesetzt werden können und insofern als Tatsachenbe­hauptung unrichtig war, denn es war rasch deutlich geworden, dass Polen weiterhin in Europa präsent war. Diese Prä­senz ist auf zwei Ebenen festzustel­len: 1. die direkten und indirekten Folgen des Verschwindens des großen Flächenstaates Polen von der politischen Landkarte Europas, Folgen für das internationale Mächtesystem sowie Folgen der Tat­sache, dass drei Großmächte Teilungsmächte Polens waren; 2. alle Anstrengungen von polnischer Seite, die polnische Staatlichkeit wiederherzustellen, also den polnischen Staat wiederzuerrichten. Also – die realen Folgen der Teilungen Polens und alle Aktivitäten mit dem Ziel der Wiederherstellung Polens, dies zusammen konstitu­iert den Begriff ‚die polnische Frage‘. Eine notwendige Voraussetzung dafür, dass die polnische Frage als europäisches Problem überhaupt für die europäische Öffentlichkeit bewusst blieb, war der politische Lebenswille der politisch aktiven Gesellschaftsschichten, die im Namen der polnischen Nation sprachen und handelten mit dem Ziel der politischen Unabhängigkeit. Dieser Lebenswille definierte nicht die polnische Frage, sondern stellte eine Voraussetzung ihrer Existenz dar. Für Polen ergab sich daraus im Laufe des 19. Jahrhunderts eine zunehmende Identifikation von Nation und Gesellschaft. Jede Teilungsmacht hatte ihre polnische Frage, und das meint alles, was die Problematik der Behandlung der polnischen Untertanen, die Bekämpfung ihres Widerstands und Integrationsversuche betraf. Auf dieser Ebene blieb die polnische Frage für jede Teilungsmacht ein Destabilisierungsfaktor für 120 Jahre, mal mehr, mal weniger intensiv. Keine Teilungsmacht fand wirklich eine politische Formel (und konnte dies, vielleicht mit Ausnahme Österreichs nach 1866, auch gar nicht finden), um diesen Destabilisierungsfaktor wirklich zu entfernen oder zumindest zu neutralisieren, also die polnischen Gebiete und ihre Einwohner wirklich zu integrieren. 66

Fjodor De Martens, ����������������������������������������������������������������������� Recueil des Traités et Conventions conclus par la Russie avec les Puissances étrangères, publié d’ordre du Ministère des Affaires Etrangères, Bd. 2: Traités avec l’Autriche 1772 –1808, St. Petersbourg 1875, S. 291.

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Aber das ist noch nicht alles. Die polnischen Bestrebungen und Ak­tivitäten beschränkten sich nicht auf den innerstaatlichen Bereich der einzelnen Teilungsmächte, sondern sie waren in der Intention und oft genug auch tatsächlich gesamtnational angelegt. Damit überschritten sie die 1815 gezogenen Grenzen, wurden also interna­tional (denn alles, was Grenzen überschreitet, ist ex definitione international bzw. transnational). Dass gesamtnational in Polen international, weil grenzüberschreitend, bedeutete, klingt wie ein Paradox, gerade dies aber kennzeichnet die Situation einer geteilten Na­tion in den internationalen Beziehungen. Damit ist aber erst einer der beiden Gründe oder Aspekte benannt, warum die polnische Frage ein Problem des europäischen Staatensystems bzw. der internationalen Beziehungen in Europa war. Der zweite Grund ist in den Folgen der Teilung Polens, also im gänzlichen Verschwinden Polens von der politischen Landkarte Europas zu sehen. Polen war seit Kasimir dem Großen im 14. Jahrhundert, spätestens aber seit der polnisch-litauischen Union (1386 und 1569) und dem Sieg über den Ordensstaat im 15. Jahrhundert, eine osteuropäische Großmacht, ja zeitweise d i e osteuropäische Führungsmacht gewesen. Deren Niedergang und schließlich Untergang im 18. Jahrhundert war eng verbunden mit dem Aufstieg zuerst Russlands, dann Preußens zu europäischen Großmächten. „Negative Polenpolitik“67, wie es Klaus Zernack formuliert hat, war die Grundbedingung der Großmachtwerdung dieser beiden Mächte, und das bedeutete in deren Selbsteinschät­zung, dass auch weiterhin negative Polenpolitik ein notwendiger Faktor bei der Erhaltung des Status einer europäischen Großmacht sein werde. Erst durch den Niedergang und das Verschwinden Polens war im 18. Jahrhundert die Pentarchie entstanden, und als es 1815 um eine Rekonstituierung der Pentarchie ging, war es kein Zufall, dass wiederum die polnische Frage im Mittelpunkt stand. Neben den aktuellen Grenzfragen, um die es an der Oberfläche ging, ist hier der tiefere Grund dafür zu suchen, warum die polnische Frage so sehr im Mittelpunkt der Verhandlungen in Wien stand. Mit anderen Worten – zwischen dem Untergang Polens und dem Entstehen der Pentarchie gab es einen kausalen Zusammenhang, der gewissermaßen 1815 nochmals unter Beweis gestellt wurde bzw. sich sogar wieder­holte. Das bedeutete aber: Solange die Pentarchie eines der be­stimmenden Strukturelemente des europäischen Mächtesystems blieb, war eine andere als eine negative Lösung der polnischen Frage, d. h. eine Lösung gegen den Willen der polnischen Gesell­ schaft zum Nationalstaat, unmöglich. Durch den Besitz polnischer Gebiete war eine interessenpolitische Gemeinsamkeit der drei Teilungsmächte entstanden, aus der sich ein langfristiger 67

Klaus Zernack, Negative Polenpolitik als Grundlage deutsch-russischer Diplomatie in der Mächtepolitik des 18. Jahrhunderts, in: Uwe Liszkowski (Hg.), Rußland und Deutschland. Georg von Rauch zum 70. Geburtstag (Kieler historische Studien, Bd. 22), Stuttgart 1974, S. 144 –159.

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Kooperations-, ja Allianzzwang entwickelte, der fast das gesamte 19. Jahrhundert hindurch gültig und wirksam blieb68. Für die Dauerhaftigkeit dieses Kooperationszwangs gab es zwei Gründe: 1. Der gesamtnationale Anspruch der polnischen Nationalbewegung stellte einen gemeinsamen Destabilisierungsfaktor dar, den es ge­meinsam niederzuhalten galt, denn er bedrohte sowohl die innere Ordnung als auch die gemeinsamen Grenzen; 2. Es bestand eine ständige Gefahr, auch wenn sie nur manchmal formuliert wurde, dass im Fall eines Konflikts zwischen den drei Teilungsmächten eine oder mehrere gezwungen sein würde(n), die polnische Karte auszuspielen, sobald sich ein Krieg länger hinziehen würde. Das galt vor allem für einen Krieg einer der deutschen Mächte mit Russland als dem Besitzer des Löwenanteils Polens. Diese Option war allen Politikern während des gesamten 19. Jahrhunderts präsent, und schließlich hat – trotz des inzwischen wachsenden nationalen Antagonismus zwischen Deutschen und Polen – der Erste Weltkrieg die Richtigkeit dieser Überlegung unter Beweis gestellt. Die Teilungen Polens im 18. Jahrhundert hatten ebenso wie die erneute Teilung 1815 einen Machtkomplex geschaffen, dessen innere und äußere Stabilität wesentlich von der Aufrechterhaltung der Teilungen abhing, d. h. davon, dass Polen als Staat nicht wieder auf die politische Landkarte Europas zurückkehren werde. Gleichzeitig wurden die Ende des 18. Jahrhunderts und in der napoleonischen Zeit angelaufenen Modernisierungspro­zesse in den polnischen Gebieten gestoppt, ja revidiert, und dies lief auf die Zementierung einer sozialkonservativen Ordnung in Ost- und Ostmitteleuropa hinaus. Die sog. „ideologische Blockbil­ dung“69 Europas, d. h. die Spaltung Europas in einen tendenziell li­beralen Westen und einen neo-absolutistischen Osten, gehört daher ebenfalls zu den Folgen der Teilung Polens. Diese Folgen sind für das Ost-West-Verhältnis in Europa bis heute spürbar, wenn auch mit unterschiedlichen Grenzen. Das Verhältnis zwischen den drei Teilungsmächten war ebenfalls betrof­fen. Die Interdependenz zwischen internationaler Ordnung und inne­rer gesellschaftlich-politischer Verfasstheit brachte es mit sich, dass für jede der drei Mächte die Liberalisierung und ‚Nationalisierung‘ einer Macht eine potenzielle Gefahr für die beiden anderen darstellte, denn je­des Mal war, so jedenfalls wurde es

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Diese Folge der in Wien erneut erfolgten (vierten) Teilung Polens war genau das Gegenteil von dem, was Castlereagh in seinen Argumenten vorgebracht hatte – „sollte der Zar sein Projekt für Polen verwirklichen, würde Polen, so die Auffassung Großbritanniens, zu einem Krisenherd Europas werden. Die Rivalität Russlands, Österreichs und Preußens werde sich dann auf diesen Raum konzentrieren“ (Wolf D. Gruner, Der Wiener Kongress 1814/15, Stuttgart 2014, S. 109). 69 Der Begriff wurde geprägt von Heinz Gollwitzer, Ideologische Blockbildung als Bestandteil internationaler Politik im 19. Jahrhundert, in: Historische Zeitschrift (1965), Bd. 201, S. 306 – 333.

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wahrgenommen, die polnische Frage in spezifischer Weise mit dabei. Es schien, dass einer Lösung der polnischen Frage im polnischen Sinne nicht nur der Konservativismus der Regierungen der Teilungsmächte entgegenstand und nicht nur den Besitz von ein paar Provinzen betraf, sondern es ging, ganz sicher im Fall Russlands, aber auch für Preußen, um die Aufrechterhaltung des Status als europäische Großmacht. Angesichts dieser Situation sahen sich alle Richtungen der polnischen Nationalbewegung gezwungen, wenn sie nicht auf das Ziel einer vollen Wieder­ herstellung polnischer Staatlichkeit verzichten wollten, auf den Aufstand, die Insurrektion als einziges Mittel zu setzen, sich gegen den Status quo zu wehren. Denn irgendeine evolutionäre Option na­tionaler Emanzipation ohne Insurrektion konnte nicht zum Ziel führen. Darüber gab es, wenn man sich die verschiedenen Lager und Parteien der polnischen Nationalbewegung ansieht, eine erstaunli­che Gemeinsamkeit, vor allem nach der Niederlage des Novemberaufstands nach 1830. Die Unterschiede auf dem Gebiet der national­politischen Strategie betrafen 3 Punkte: 1. wann ist der günstigste Zeitpunkt für einen Aufstand? 2. wer sind die besten Verbündeten (Revolutionsbewegungen, andere Nationalbewegungen, die Westmächte, eine der Teilungsmächte)? 3. soll ein nationaler Aufstand gleichzeitig eine soziale Revolu­tion sein, also das Junktim zwischen national- und sozialrevolu­tionärem Aufstand bestehen? Darüber, wie und wann die günstigsten Aussichten bestehen, welche Strategie die beste sei, um Polen wiederherzustellen, wurde das gesamte 19. Jahrhundert hindurch diskutiert. Wenn man diese Fragen vom Standpunkt des europäischen Staatensystems aus betrachtet, dann ergibt sich Folgendes: Das europäische Staatensystem war ein sich als Staatengemeinschaft bildendes und verstehendes Bündnis von fünf Großmächten, eine Ordnung, an deren Aufrechterhaltung alle Beteiligten ein Interesse hatten. In einem solchen System war die (Re-)Konstituierung eines Staates nur denkbar und möglich mit einer wie auch immer gearteten Mitwirkung der übrigen Staaten. Eine Wiederherstellung Polens war nur vorstellbar als internationale Lösung, und das bedeutete eine radikale Veränderung des existierenden Staatensystems. Es war eine Illusion, zu glau­ben, dass dies auf friedlichem Wege und ohne großen Widerstand von­statten gehen könne. Die Wiederherstellung eines Polen, wie es die polnische Nationalbewegung erstrebte, bedeutete zwangsläufig eine Reduzierung, ja den Verlust des Großmacht-Status für Russland, denn es bedeutete den weitgehenden Verlust russischer Ein­flussmög­lich­keiten auf Mitteleuropa und auf Südosteuropa. Das war wohl ohne Krieg nicht zu haben, und zwar einen allgemeinen europäischen Krieg, denn ohne ihn war eine so radikale Veränderung der europäischen Ordnung nicht herbeizuführen. Aus der Struktur und Geschichte des Staatensystems ergab sich

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kaum etwas anderes70. Ein neues Polen konnte entweder eine konstitutionelle Monarchie oder eine Republik sein – die letztere Option brachte sozialrevolutio­näre Elemente fast notwendigerweise mit ins Spiel; dies war aber praktisch notwendig, denn ohne die Beteiligung nichtadliger Massen hatte ein breiter Aufstand wohl kaum Erfolgschancen. Ein Krieg um die Wiederherstellung Polens war also nur vorstellbar entweder als allgemeiner revolutionärer Krieg ganz Europas gegen alle drei Teilungsmächte, oder so, dass (zumindest) eine der deutschen Großmächte einen Krieg gegen Russland führen würde mit dem erklärten Kriegsziel, Polen wiederherzustellen – letzteres konnte aber nur geschehen, wenn die betreffende Macht darin ein Eigeninteresse gesehen und Russland zumindest subjektiv als existenzielle Bedrohung empfunden hätte, und zwar letzteres in einem solchen Ausmaße, dass die Risiken und Kosten eines solchen Krieges und der Verlust des eigenen polnischen Teilungsgebiets als geringer ange­sehen würden als der Nutzen, den man daraus ziehen könnte. Das be­deutete aber, dass die entsprechende Großmacht in diesem Moment eine revolutionäre Politik geführt hätte. Dies alles mag wie eine Spekulation klingen, aber es läuft auf eines hinaus: Eine Wiederher­stellung Polen bedeutete und ist auch heute retrospektiv nur denk­bar als eine Totalrevision des europäischen Status quo und des europäischen Gleichgewichts, eine Veränderung von Grenzen und des Status mehrerer Großmächte, d. h. als Ergebnis der Revolutionierung und völligen Umstürzung der aktuellen bzw. in Wien geschaffenen europäischen Ordnung und der Schaffung einer neuen internationalen Ordnung. Das aber wiederum meint: als Ergebnis eines allgemeinen Kriegs mit stark revolutionären Elementen, oder als Ergebnis einer großen Revolution, in deren Folge ein großer Krieg ausbrach. Dass die polnische Frage im 19. Jahrhundert in Form einer bloßen Teil­modifikation des internationalen Systems hätte gelöst werden kön­nen, d. h. mit Veränderungen, die sich auf die polnischen Gebiete beschränkt hätten, war eine Illusion, im Grunde kaum möglich. Die Nichtberücksichtigung der po­litischen Wünsche und Ziele der Nationalbewegungen in Deutschland, Italien und Polen auf dem Wiener Kongress hatte so erhebliche Folgen für das 1815 einge­richtete Staatensystem, dass sie als dessen ‚wunde‘ Punkte und somit als Teil der Struktur dieses Staatensystems bzw. dessen Strukturelement bezeichnet werden können. Die Folge nämlich war, dass an mehreren Stellen Europas Unruheherde entstan­den, die sowohl für die betroffenen Großmächte als auch für die internationalen Beziehungen von erheblicher Bedeutung waren. Es war insofern nur konsequent, dass die Mächte versuchten, diese Bedrohung der inneren und der äußeren Ordnung auszuschalten und die Nationalbewegungen rigoros zu unterdrücken. Die kompromisslose Un­terdrückung bewies den Protagonisten der Nationalbewegungen, den sog. Patrioten, ebenso 70

Die Möglichkeit einer gewaltlosen Implosion einer Großmacht wurde im 19. Jahrhundert noch nicht in Betracht gezogen.

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Hans Henning Hahn

wie den Vertretern vieler liberaler Bewegungen, dass die liberalen Parolen direkt nach 1815 nur Phrasen gewesen waren, und dass auch evolutionäre Konzepte nationaler Entwicklung keine Chance hatten, von der Pentarchie geduldet zu werden. Dem­entsprechend kompromisslos mussten auch sie selbst sein. Bald sa­hen die Patrioten ihre Hauptgegner nicht nur in einheimischen Für­sten oder in einer Großmacht, sondern im gesamten Staatensystem. Es existierte eine fast totale Unvereinbarkeit zwischen den Zielen der Nationalbewegungen, auch wenn sie noch so gemäßigt waren, und der internationalen Ordnung, die vor allem die Interessen der Großmächte spiegelte. Adam Mickiewiczs Gebet „um einen allgemeinen Krieg für Völker-Freiheit“71 meine beides, die allgemeineuropäische Revolution und den großen europäischen Krieg, denn die Situation wurde so interpretiert, dass nur der allgemeine Krieg den Völkern die Freiheit bringen könne. Diese Kriegssehnsucht war nicht deshalb verbreitet, weil man den Krieg als ‚aller Dinge Vater‘ (Heraklit) erachtete, sondern weil es schien, dass nur der Krieg den Weg zu einem grundlegenden Wandel des Status quo ermögliche. Insofern befand sich Europa in einer recht fatalen Situation: dass nämlich Frieden mit Unterdrückung und Freiheit mit Krieg zu assoziieren war. Freiheit (zumindest die Freiheit der polnischen Nation) und Frieden schlossen also einander aus. The stipulations concerning Poland in the Final Act of the Congress of Vienna. An analysis in the history of politics and international law Summary The treaty of Vienna, 1815, is considered the basis of international stability in the 19th century, but it contained several sore points that caused a considerable degree of permanent instability. This paper deals with the most long-standing sore point, the Polish question, how it was dealt with by European statesmen during the congress of Vienna and worded in its Final Act, and its implications for international law. The Vienna negotiations concerning the Polish question dealt not only with territorial affairs and a new partition of Poland. Simultaneously at stake were the constitution of the newly established Kingdom of Poland and its eastwards extension, as well as the conferring of national rights to the inhabitants of the former Polish territories. In these discussions Castlereagh’s and Metternich’s conceptions of international equilibrium were opposed by Alexander I’s specific version of the 71

Adam Mickiewicz, Die Bücher des Polnischen Volkes und der Polnischen Pilgerschaft. Aus dem Polnischen des Mickiewicz übersetzt von P.-J. B.-G…r [P. J. B. Gauger], Deutschland [in Wahrheit Paris] 1833, S. 12.

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traditional Russian strategy (since Peter I) of building a buffer zone between its own territory and that of the next great power. That is why the tsar put his specific ideas of balance of power into play when justifying his Polish constitutional plans. The substantial role of the Polish aristocrat Prince Adam Jerzy Czartoryski as a member of the Russian delegation is treated in detail. As a result of complex negotiations, in the spring of 1815 the rights of the Polish nation found their way into the wording of the Final Act of the Congress of Vienna. The Vienna stipulations concerning Poland covered not only a new partition into six parts, but also contained equally extensive statements about constitutional, national and commercial rights. Their two-track character is assessed in detail, in comparison with the Vienna solution regarding two other national questions, regarding Germany and Italy. The essay analyses the Polish question throughout the whole 19th century, as a cornerstone of the international system based on the supremacy of the pentarchy. A reconstitution of Poland was only possible either by a general revolution or a great European war. Poland and Europe were in a dire situation; peace meant oppression, freedom implied war.

Miloš Řezník

Der Wiener Kongress und seine Folgen für die habsburgische Politik in Galizien: Ständische Verfassung und Elitenpolitik 1. Einleitung Zur Zeit des Wiener Kongresses dauerte die habsburgische Herrschaft über Galizien seit der ersten Teilung von Polen-Litauen bereits über vier Jahrzehnte an (siehe Karte Nr. 1, S. 205). Galt das auf diese Weise akquirierte Land in der ersten Phase teilweise als eine vorübergehende Eroberung, die als Verhandlungsmasse bei der Lösung anderer Territorialfragen in Europa einsetzbar wäre, folgten gleichzeitig bald Maßnahmen, mit denen eine neue politische Ordnung eingeführt werden sollte. Seit dem Ausbruch der französischen bzw. Napoleonischen Kriege und insbesondere seit dem Moment, in dem diese Mitteleuropa einschließlich der polnischen Länder erreicht haben, stand die Zukunft des habsburgischen Galiziens mehrmals unmittelbar oder potenziell offen – sowohl hinsichtlich dessen staatlicher Zugehörigkeit als auch im Hinblick auf die innere Ordnung und die Verfassung des Landes. Seit dem Ende der josephinischen Zeit herrschte zwar einerseits Stillstand bezüglich weiterer Reformen und langfristiger Entscheidungen im Inneren Galiziens (abgesehen von den Maßnahmen der Inbesitznahme des „neuen“ Galiziens während der dritten Teilung Polens, das jedoch 1809 wieder verloren ging), andererseits jedoch beschäftigte man sich in Wien zwischen 1795 und 1815 mehrmals mit möglichen Änderungen in der politischen Organisation des Kronlandes. In der Regel kam es zu den entsprechenden Beratungen ad hoc unter dem unmittelbaren Eindruck der Krisensituationen in jenem Bereich, der bald als polnische Frage bezeichnet werden sollte. Da diese Aktivitäten nie zu realen Ergebnissen führten und bald von der weiteren Entwicklung überholt wurden, kann die gesamte, ein Vierteljahrhundert dauernde Periode zwischen dem Ende der josephinischen Zeit und dem Abschluss der Napoleonischen Kriege als eine Epoche des Abwartens, der Provisorien und der Improvisationen in der galizischen Politik der Wiener Regierung bezeichnet werden. Erst danach erschien eine langfristige und systematische Lösung einiger Grundsatzfragen der österreichischen Herrschaft in den ehemaligen polnischen Ländern möglich und sinnvoll. Im Folgenden wird diese Wende zu systematischen Lösungen im Sinne der Suche nach einer Ordnung am Beispiel eines seit 1772 zentralen Bereichs der habsburgischen Politik im Kronland beschrieben – einer durch die zentralen

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Miloš Řezník

Hofstellen weitgehend gesteuerten, aber den vor Ort entstehenden Zwängen und Interessen sowie Strategien der galizischen Aristokratie und des Besitzadels begegnenden Elitenpolitik. Diese manifestierte sich nicht zuletzt vor dem Hintergrund der Problematik der ständischen Verfassung in Galizien. Da sich gerade in diesem Bereich mit der endgültigen Niederlage Napoleons nach langer Zeit neue Perspektiven, aber auch Handlungsbedarf eröffneten, stellt das Ständewesen und dessen Neuorganisation den Schwerpunkt des vorliegenden Beitrages dar. 2. Galizien und der Wiener Kongress Die Zeit des Wiener Kongresses bedeutete in der Tat die letzte Phase hinsichtlich der Unsicherheit des österreichischen Besitzes von Galizien, das nach dem verlorenen Krieg von 1809 fast in dem ursprünglichen Umfang aus der ersten Teilung Polens bestand. Eine chronische bzw. periodische Unsicherheit kehrte mit wechselnder Intensität seit der Mitte des vorherigen Jahrzehntes mehrmals zurück. Insbesondere im Hinblick auf den offenen Charakter der „polnischen“ Frage in den diplomatischen Verhandlungen erschien auch 1814/1815 ein Herrschaftswechsel für das Land nicht ausgeschlossen1. Auch wenn er nicht ernsthaft auf dem Tagesprogramm stand, schien diese Eventualität nicht unwahrscheinlich in Bezug auf den österreichisch-russischen Streit um die Zukunft Polens und die territorialen Expansionsinteressen Russlands in Ostmitteleuropa. Fürst Adam �������������������� Jerzy Czartoryski als russischer Vertreter bei den diplomatischen Verhandlungen verlieh dem russischen Anspruch auf Polen noch mehr Nachdruck, indem er eine Erneuerung polnischer Staatlichkeit unter russischer Ägide auch bei den polnischen Eliten des bisherigen Herzogtums Warschau (siehe Karte Nr. 2, S. 206) propagierte, was nicht ohne Einfluss auf die Stimmung innerhalb der galizischen Aristokratie, des Adels und der geistigen Eliten bleiben konnte. Unter diesen Umständen verwundert die Bedeutung nicht, die der galizische Gubernialchef Johann Peter von Goëß und insbesondere Kanzler Metternich gegenüber dem Kaiser auf die Absicherung der Verbundenheit der Galizier an Österreich beimaßen2. Dagegen fehlte es auch auf der österreichischen Seite nicht an Plänen für eine Neugestaltung des polnischen Raumes unter dem dominierenden Einfluss der Habsburgermonarchie. Schließlich musste sich Österreich mit einer deutlichen Ausdehnung der russischen Präsenz an seinen nordöstlichen Grenzen, mit der Gründung eines polnischen Staates in der Personalunion mit Russland sowie mit der Abtretung 1



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Heinrich von Srbik, Metternich, der Staatsmann und der Mensch, Bd. 1, München 1925 (Neudruck: München 1957), S. 184 –185. Hans-Christian Maner, Galizien. Eine Grenzregion im Kalkül der Donaumonarchie im 18. und 19. Jahrhundert, München 2007, S. 61. In dem Sinne u. a. Metternich an Kaiser Franz I. im April 1815. Arthur G[ustav] Haas, Metternich, Reorganization and Nationality 1813 –1818: A Story of Foresight and Frustration in the Rebuilding of the Austrian Empire (Veröffentlichungen ����������������������������������������������������������� des Instituts für Europäische Geschichte, Mainz, Bd. 28), Wiesbaden 1963, S. 167.

Der Wiener Kongress und seine Folgen für die habsburgische Politik in Galizien

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Krakaus, wo eine formal selbstständige „Republik“ entstand, zufrieden geben. Nicht einmal eine Zurückdrängung Preußens aus diesem Gebiet konnte als eine positive Seite dieses Wandels angesehen werden, denn die Hohenzollernmonarchie wurde durch markante Gewinne im deutschen Raum entschädigt. Während das Habsburgerreich Gebietserweiterungen in seinem Süden und Südosten verzeichnete, musste es im Nordosten auf umfangreichere Erwerbungen und Verstärkung verzichten und eine Entwicklung hinnehmen, die für Wien alles andere als günstig galt: der enorme Bedeutungszuwachs Russlands, ein konstitutionelles polnisches Königreich mit polnischen Staatseliten in einem Kompromiss mit Sankt Petersburg und die Etablierung Krakaus als ein weiteres Zentrum der polnischen Nationalbewegung direkt an der österreichischen Grenze (siehe Karte Nr. 3, S. 207) – dies alles erschien aus der Perspektive an der Donau mehr als bedenklich. Die einzige Kompensation für Wien war zum einen die Aussicht auf eine zumindest mittelfristige Stabilisierung des Status quo in Ostmitteleuropa, wozu unter anderem die Grundprinzipien der Heiligen Allianz mit Russland und Preußen zunächst ausreichende Garantie zu geben schienen und womit auch die österreichische Zugehörigkeit Galiziens sichergestellt wurde, zum anderen konnte Österreich kleine Teile der Gebietsverluste von 1809, jene an Russland, zurückgewinnen. Das Gebiet um Tarnopol wurde damit wieder an Österreich angegliedert. Außerdem erhielt die Habsburgermonarchie die alleinige Herrschaft über die Salzgruben von Wieliczka sowie deren Ertrag zurück. Da der Weichsellauf die Grenzlinie zu Krakau bilden sollte, kam auch die Siedlung Podgórze (Josephstadt) am rechten Weichselufer zu Galizien3. 3. Neuorganisation der Stände Nach dem Abschluss der Wiener Verhandlungen erhielt Österreich zum ersten Mal seit über zwei Jahrzehnten die Möglichkeit, sich angesichts einer stabilen internationalen Situation den inneren Fragen Galiziens zuzuwenden4. Vor dem Hintergrund dieser Stabilisierung sowie der Entwicklung in Kongresspolen und Krakau standen erstens die Klärung und Ordnung der inneren Verhältnisse in Galizien in jedem Bereich – dem politischen, sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen – auf der Agenda, weiters die Notwendigkeit, durch Entgegenkommen und bedachte Vorgehensweise eine für die Habsburgermonarchie günstige Stimmung innerhalb 3



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Stanisław Grodziski, Historia ustroju społeczno-politycznego Galicji 1772 –1848 [Geschichte des gesellschaftlichen und politischen Systems Galiziens 1772 –1848] (���������������������� Prace Komisji Nauk Historycznych, Bd. 28), Wrocław, Warszawa, Kraków u. a. 1971, S. 28. Vgl. zu militärischen und strategischen Aspekten insb. Maner, Galizien, vgl. auch Burkhard Wöller, Galizien als geografisches Integrationsproblem. Fremdverortungen und mentale Kartierungen das habsburgischen Kronlandes in der deutschen und österreichischen Geografie, in: Kakanien Revisited, 03.06.2010, [http://www.kakanien.ac.at/beitr/fallstudie/BWoeller1.pdf], eingesehen 25.02.2015.

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der galizischen aristokratisch-adligen Eliten zu sichern: Diese zeigte sich während des Krieges von 1809 fragwürdig, und auch die Versuche der folgenden Jahre, die galizische Oberschicht zu eindeutigeren Beweisen der Staatstreue zu bewegen, hatten mäßigen Erfolg5. Seit Frühling 1815 war daher die Reform der inneren politischen Struktur Galiziens einschließlich der Einführung einer neuen ständischen Verfassung unter Berücksichtigung der polnischen Nationalität ein häufiges Thema im Austausch zwischen der Landesstelle in Lemberg und den Zentralstellen in Wien. Insbesondere Landesgouverneur Goëß beschäftigte sich im letzten Jahr seiner Tätigkeit an der Spitze des Guberniums intensiv mit diesen Fragen, neben ihm aber auch Staatskanzler Metternich, der die galizische Problematik aufgrund deren enger Verbindung mit außenpolitischen Fragen stets im Auge behielt. Zudem war aufgrund des gleich ersten Artikels der Wiener Kongressakte vom 8. Juni 1815 eines der wichtigsten Beschlüsse in den polnischen Angelegenheiten zu berücksichtigen: In allen Teilen des ehemaligen Polens, die jetzt zu eigenen politischen Entitäten innerhalb „ihrer“ Teilungsmächte wurden, waren landständische Repräsentationen einzuführen („Die Polen, welche Unterthanen von Rußland, Österreich und Preussen sind, erhalten Ständeversammlungen und nationale Einrichtungen, der politischen Existenz gemäß, welche die Regierungen, denen sie angehören, für nützlich und zweckmäßig halten werden.“). Die Planungen einer neuen Reform der ständischen Verfassung Galiziens und der Wiedereinführung eines galizischen Landtags liefen damit parallel zur Konstituierung der Abgeordnetenversammlung in Krakau sowie der Landtage im Großherzogtum Posen (dieser trat zum ersten Male erst ein Jahrzehnt später zusammen) und im Königreich Polen. Doch bereits vor dem Abschluss der Wiener Verträge galt das besondere Augenmerk nach wie vor einer vollständigen Integration und „Normalisierung“ Galiziens im Rahmen der Monarchie in einem solchen Sinne, dass jedwede Form einer besonderen Behandlung möglichst ein Ende finden sollte. Damit wurde an jene Grundsätze angeknüpft, die bereits seit 1772 Gültigkeit hatten. Diese Doktrin bedeutete aber auch, den Galiziern alle Hürden für ihre Aufstiegschancen in Österreich aus dem Weg zu räumen und den latent misstrauischen Umgang mit dem Land seitens Wiens zu beenden. Es ging darum, „daß den Galliziern auch nicht ein Scheingrund verbleibe, sich als minder begünstigt oder wohl gar zurück 5



Michał Baczkowski, W służbie Habsburgów. Polscy ochotnicy w austriackich siłach zbrojnych w latach 1772 –1815 [Im habsburgischen Dienst. Polnische Freiwillige in den österreichischen Streitkräften in den Jahren 1772 –1815], Kraków 1998; Kazimierz Krzos, Z księciem Józefem w Galicji w 1809 roku. Rząd Centralny Obojga Galicji [Mit Fürst Josef in Galizien im Jahre 1809. Zentralregierung Beider Galizien], Warszawa 1967; Wacław Mejbaum, Rządy austryackie w Galicyi pomiędzy wojną roku 1809 a 1812 [Österreichische Herrschaft über Galizien zwischen den Kriegen von 1809 und 1812], Warszawa 1910 (Separatdruck aus: ��������������� Biblioteka Warszawska [1910], Bd. 4, H. 1, S. 21– 38). Bronisław Pawłowski, Historja wojny polsko-austrjackiej 1809 roku [Geschichte des polnisch-österreichischen Krieges von 1809], Warszawa 1935 sowie weitere.

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gesetzt zu betrachten“. Der Wunsch Metternichs ging dabei ausdrücklich dahingehend, dass „endlich einmal auch dort [in Galizien] die so sehr erwünschliche lebhafte Überzeugung entstehe, daß bei dem gerechtesten Monarchen gleiche Ergebenheit und Treue immer auf gleiche väterliche Sorgfallt, Huld und Milde mit Zuversicht rechnen dürfen.“6 Wie wir sehen, sollte dem Verständnis der Zentrale zufolge die Normalisierung Galiziens vordergründig nicht in der Unterdrückung polnischer Traditionen und galizischer Sonderinteressen bestehen, sondern in der Integration und vor allem in der Gleichbehandlung der galizischen Eliten und Bevölkerung – zumal beide Komponenten eng miteinander verbunden waren. Aus diesen Gründen unterbreitete Goëß bereits im Frühling 1815, also noch während der diplomatischen Verhandlungen in Wien, einige konkrete Vorschläge, wie in Galizien Sympathien gewonnen werden könnten oder zumindest eine loyale Einstellung erreicht werden könne. Bereits damals sprach er auch einige der Fragen der ständischen Verfassung sowie der polnischen Nationalität an. Goëß zufolge galt es nun, mehr Rücksicht auf die nationalen Gefühle der polnischen Eliten zu nehmen. Bezeichnenderweise für die spätere Bedeutung der symbolischen Frage der ständischen Uniform im Vormärz – nicht nur in Gali­ zien – schlug er beispielsweise vor, eine an polnischen nationalen Vorbildern orientierte eigene galizische ständische Uniform einzuführen, schon allein deswegen, dass sie „allgemein lebhaft gewünscht“ sei7. Des Weiteren sollten nicht nur die von Maria Theresia eingerichteten Landeserzämter neu besetzt werden, sondern dem galizischen Adel auch die Stellen der Kreisräte und der Schiedsrichter in Aussicht gestellt werden. Diese Schritte blieben nicht ohne Echo unter den polnischen Eliten Gali­ziens. Sie führten vermutlich zu jener Bereitschaft, mit der zahlreiche Aristokraten in den Jahren 1815 und 1816 die österreichische Armee finanziell und materiell unterstützt haben8. Dies würde den Bemühungen von Goëß Recht geben, der mit seinen Reformvorschlägen gezielt einer propolnischen (d. h. an Kongresspolen orientierten) bzw. prorussischen Orientierung entgegenwirken und dem Einfluss des Zaren auf die Stimmungen der galizischen Oberschichten enge Grenzen setzen wollte9. Dass sich die weit gehenden Vorschläge von Goëß nicht durchgesetzt haben, ist unter anderem auf die zunächst durchaus rasche Stabilisierung und Sicherung 6

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Haas, Metternich, S. 169, zit. bei Maner, Galizien, S. 62 – 63. Haas, Metternich, S. 168, zit. bei Maner, Galizien, S. 62. Baczkowski, W służbie Habsburgów, S. 102; vgl. auch Wacław Mejbaum, Galicja po klęsce Napoleona w r. 1812 (1813 –1814) [Galizien nach der Niederlage Napoleons im Jahr 1812 (1813 –1814)], Warszawa 1913, S. 118 –126 (Separatdruck aus: Biblioteka Warszawska [1913], Bd. 2). Stanisław Starzyński, Kilka słów o Stanach Galicyjskich [Einige Worte über die galizischen Stände], in: Kwartalnik Historyczny 20 (1906), H. 1– 2, S. 166 – 216, hier S. 171–172; Grodziski, Historia ustroju, S. 148; Baczkowski, W służbie Habsburgów, S. 105.

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des österreichischen Besitzes von Galizien seit 1815 zurückzuführen. Goëß selbst wurde bereits 1815 aus Lemberg zurückgezogen und als Gouverneur nach Venetien versetzt. Auf seinen Lemberger Posten folgte Franz Seraph Freiherr von Hauer. Dieser damals noch relativ junge hohe Beamte unterschied sich von Goëß unter anderem dadurch, dass er im Moment seiner Ernennung bereits über weitreichende Erfahrungen mit dem Land verfügte und aus der Perspektive Wiens als bewährter Galizien-Experte gelten konnte10. Hauer traute sich auch, in dieser Position durchaus selbstbewusst aufzutreten: Als er anfangs Zivil- und Militärgouverneur Prinzen von Württemberg lediglich als Gubernialpräsident adlatus zur Seite gestellt wurde, wehrte er sich gleich Anfang Februar 1816 beim Kaiser offen gegen die Entscheidung, die Zivil- und Militärverwaltung in einer Hand zu vereinigen. Dabei argumentierte er nicht nur mit den negativen Folgen einer solchen Vereinigung in der russischen Praxis sowie mit der Tatsache, dass diese Aufgaben in Galizien seit 30 Jahren konsequent geteilt wären, sondern auch mit der von ihm behaupteten Inkompetenz des Militärchefs. Hauer bekräftigte, Prinz von Württemberg sei zu alt und „ein gänzlicher Neuling in Geschäften, dem sogar die Berufsstudien fehlen, unbekannt mit dem Lande.“11 Hauer stellte sogar seine Funktion zur Verfügung und betonte unmissverständlich, bei Konflikten mit dem Prinzen hätte er, Hauer, aufgrund seiner Sachkenntnisse und seiner direkten Beziehungen zu anderen Beamten mehr Gewicht, doch würde dies dem Ansehen des Prinzen schaden. Offensichtlich setzte er sich mit seinen Interessen durch, denn bald wurde er als alleiniger Zivilgouverneur bestätigt und blieb weitere sechs Jahre, bis zu seinem Tod, im Amt. Die stabilisierte Lage konnte jetzt zur durchaus ruhigen Vorbereitung einer neuen Verfassung für Galizien genutzt werden. Die politischen Umstände ermöglichten es, dass die Arbeiten ohne großes Aufsehen und unter Ausschluss direkter oder nennenswerter Teilnahme der galizischen Aristokratie verliefen. Sie waren Ausdruck einer neuen Selbstsicherheit Wiens und einer Stabilität Galiziens, die es seit der josephinischen Zeit nicht mehr gegeben hatte. Die Vorbereitung und Bestimmung der neuen ständischen Verfassung in Galizien waren Bestandteil der Neustabilisierung der politischen Ordnung in Österreich zu Beginn des Vormärz. Zugleich sollte sie das jahrzehntelange Provisorium in Galizien beenden. Die neue ständische Verfassung wurde schlussendlich mit dem kaiserlichen Patent vom 13. April 1817 gemeinsam für Galizien und Bukowina erlassen12. 10

Constantin von Wurzbach, Biographisches Lexikon des Kaiserthums Oesterreich, Bd. 8, Wien 1862, S. 59. 11 Franz von Hauer an Kaiser Franz I., Lemberg 3.2.1816, Haus- Hof- und Staatsarchiv Wien, Kabinettsarchiv, Kaiser-Franz-Akten, Fasz. alt 80 / neu Kart. 88, hier Fasz. Franz von Hauer. 12 Fortsetzung der allgemeinen Verordnungen und Edikte, welche in den Königreichen Galizien und Lodomerien […] 1817 erlassen worden sind, Lemberg 1818, S. 28 – 34; veröffentlicht auch in Gazeta Lwowska (1817), S. 289 – 291; Karl Heinrich Ludwig Pölitz (Hg.), Die europäischen Verfassungen seit dem Jahre 1789 bis auf die neueste Zeit, Bd. 3, Die Verfassungen Polens, der

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Damit erhielt Galizien eine politische Grundordnung, die bis zum Jahr 1848 in Kraft bleiben sollte13. Die neue ständische Verfassung übernahm vom früheren System aus den Jahren 1775/178214 beim Adel die wichtigste Regelung, die Unterteilung in zwei besondere Stände – den aristokratischen Herrenstand und den landadligen Ritterstand, wobei ersterem nach wie vor Fürsten-, Grafen- sowie Freiherrenfamilien angehörten, während letzterer den Trägern der Ritter- und der einfachen Edler­titel vorbehalten war. Voraussetzung für die Zugehörigkeit zur ständischen Gemeinde blieb die Legitimation des adligen Status gemäß dem Patent von 20. Januar 1782 und die Immatrikulation. Zugang zur galizischen Ständegemeinde und zum galizischen Landtag sollten auch Angehörige des Adels aus anderen habsburgischen Ländern genießen, die sich in Galizien immatrikulieren ließen und Landesindigenat erhielten. Eine klare formale und rechtliche Abgrenzung der eigenen Ständegemeinde blieb damit erhalten. Eine umwälzende Neuerung und zugleich auch dezidierte Abkehr von den josephinischen Prinzipien stellte die Einführung eines besonderen geistlichen Standes im Landtag dar, dessen Repräsentanten im theresianisch-josephinischen Ständesystem zum Herrenstand gezählt wurden15. Den geistigen Stand im Landtag bildeten ab 1817 die römisch-katholischen und griechisch-katholischen Erzbischöfe, Bischöfe, Äbte und Vertreter der Domkapitel. Der bürgerliche Stand war nach wie vor durch zwei Repräsentanten der Landeshauptstadt vertreten, wobei allerdings die Regelung nun als eine nicht-definitive festgelegt wurde – bis zu dem freien Stadt Cracau, der Königreiche Galizien und Lodomerien, Schwedens, Norwegens, der Schweiz und Griechenland enthaltend, Leipzig 1833 (Neudruck: Hildesheim 1999), S. 54 – 58; vgl. auch Moritz Drdacki von Ostrow, Lexikon der politischen Gesetze für Galizien und die Bukowina, Bd. 1, Wien 21842, S. 556 – 560. Im Weiteren gehen die Quellenhinweise auf die Paragraphierung des Patents und die Seitenangaben im Abdruck bei Pölitz zurück. 13 Zur Organisation der Stände s. v. a. auch Bronisław Łoziński, Galicyjski Sejm Stanowy 1817 –1845 [Galizischer Landtag 1817 –1845], Lwów 1905 und zuletzt insbesondere mit Hinblick auf den Ständeausschuss aus der rechtshistorischen Perspektive Marian Małecki, Wydział Krajowy Sejmu Galicyjskiego. Geneza, struktura i zakres kompetencji, następstwo prawne [Der Landesausschuss des galizischen Landtags. Genese, Struktur, Umfang der Kompetenzen, rechtliche Folgen] (Studia Galicyjskie, Bd. 2), Kraków 2014, S. 36 – 56. 14 Die entsprechenden Gesetze („Patent, die Einrichtung- und Verfassung der galizischen Landesstände betreffend“), auf die auch im Weiteren bei Vergleich mit dem System von 1775/1782 Bezug genommen wird, finden sich in: Continuatio Edictorum et mandatorum universalium in Regnis Galiciae et Lodomeriae a die 1. Mensis Januar. Anno 1775 emanatorum. Leopoli 1776, S. 98 –106; Ebd., 1782, Nr. 4, S. 17 – 23. Beide abgedruckt auch in: Siebmacher’s �������������������� Wappen������� buch, Bd. 4, Abt. 14: Der Adel von Galizien, Lodomerien und der Bukowina, Nürnberg 1905 (Neudruck als: J. Siebmacher’s großes Wappenbuch, Bd. 32, Der Adel von Galizien, Lodomerien und der Bukowina, Neustadt an der Aisch 1985), S. 46 – 48 (das theresianische Patent in Auszügen relevanter Paragraphen, das josephinische in extenso). 15 Horst Glassl, Das österreichische Einrichtungswerk in Galizien (1772 –1790) (Veröffentlichungen des Osteuropa-Institutes München. Reihe Geschichte, Bd. 41), Wiesbaden 1975, S. 104 –105.

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Moment, in dem der Landesherr eine andere Verfügung über die Vertretung weiterer königlicher Städte erlassen würde. Zusätzlich, seit 1820, kam auch der Rektor der 1817 erneuerten Universität von Lemberg hinzu16. Nicht jedes Mitglied der Stände sollte allerdings landtagsfähig sein. Diesbezügliche Beschränkungen betrafen vor allem die Angehörigen des Adels, bei dem geklärt werden musste, welche Personen das Recht von Sitz und Stimme genießen sollten. Automatisch sollten alle Träger der galizischen Landeserzämter einen Sitz im Landtag haben und hier auch die symbolisch vornehmste Stellung einnehmen, mit dem römisch-katholischen Erzbischof von Lemberg als Primas des Königreiches an der Spitze. Des Weiteren sollten alle männlichen Besitzer jener Güter als landtagsfähig gelten, deren Dominikalsteuer im Jahr 1782 auf mindestens 75 fl. rh. festgesetzt wurde. Dieses Recht war persönlich gebunden und nicht übertragbar17. Mit der Beibehaltung des Steuerzensus in der gleichen Höhe wie im Jahr 1782 blieb die Grenze für die Landtagsfähigkeit des Adels zwar formal unberührt, dennoch bedeutete dies bei der Devaluation der Währung in den dazwischenliegenden Jahrzehnten eine faktische Senkung der Hürde und eine Erweiterung des Zugangs zum Landtag, wie Stanisław Grodziski richtig feststellte18. Dabei ergab sich aber noch kein Automatismus zwischen der formalen Landtagsfähigkeit und dem tatsächlichen Genuss von Sitz und Stimme im Landtag – dazu benötigte man noch eine formale, persönliche Introduktion (Einführung). Im Unterschied zur Schlussfolgerung von Walerian Kalinka19 ging es allerdings eher nicht um den Ausschluss eines Erbschaftsprinzips bei einem Sitz im Landtag, sondern vielmehr um die Einführung eines Mechanismus, der es ermöglichen sollte, das Vorhandensein aller Voraussetzungen, auch der faktischen erblichen Nachfolge, zu verifizieren. Der ständische Landtag wurde mit gewissen Kompetenzen ausgestattet, die etwas umfangreicher waren als beim Landtag der 1780er Jahre. Dennoch ging es nach wie vor nicht um gesetzgeberische Gewalt, sondern der Landtag blieb auf seine frühere Unterstützungs-, Beratungs- und Repräsentationsfunktion beschränkt20, die teilweise um einige Verwaltungsaufgaben, ein Initiativrecht in der Legislative sowie ein beschränktes Remonstrationsrecht ergänzt wurden. Im Allgemeinen wurden als Tätigkeitsbereich Fragen rund um das Wohl des ganzen Landes, der Stände oder eines Standes bezeichnet. Gerade hier sollten die Landes16

Pölitz (Hg.), Die europäischen Verfassungen, § 2, S. 55; Walerian Kalinka, Galicya i Kraków pod panowaniem austryackim��������������������������������������������������������������� [Galizien und Krakau unter österreichischer Herrschaft] (����� Dzieła ks. Waleryana Kalinki, Bd. 10), Kraków 1898. 17 Pölitz (Hg.), Die europäischen Verfassungen, § 4, S. 56. 18 Grodziski, Historia ustroju, S. 149. Jacek Goclon, Statut Krajowy Galicji z 1861 r. [Landesstatut Galiziens aus dem Jahre 1861], in: Marian Kallas (Hg.), Konstytucje Polskie. Studia monograficzne z dziejów polskiego konstytucjonalizmu, t. 1�������������������������������������� [Polnische Verfassungen, Bd. 1], ���� Warszawa 1990, S. 359 – 435, hier S. 377. 19 Kalinka, Galicya, S. 26. 20 Grodziski, Historia ustroju, S. 150.

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stände nicht nur Antworten auf Fragen und Vorschläge der Landesstelle oder der Zentralstellen bzw. des Landesherrn geben, sondern auch aus eigener Initiative handeln dürfen und dem Gubernium bzw. durch seine Vermittlung dem Herrscher eigene Vorschläge und Vorstellungen machen. Von staatlicher Seite wurde hier am Grundprinzip festgehalten, dass die Stände keinen direkten Kommunikationskanal zum König haben sollen, sondern dieser über das Landesgubernium laufen würde. Zur Entsendung einer ständischen Deputation an den Kaiser benötigte man zudem die vorläufige Einwilligung der Vereinigten Hofkanzlei in Wien21. Dies entsprach sowohl den Grundsätzen in Galizien aus der theresianisch-josephinischen Zeit als auch der Praxis in anderen Kronländern noch während des gesamten Vormärz. Ein zentraler Punkt jedes Landtags vor 1848 blieb die Annahme der Grundsteuerpostulate des Landesherrn und die daran anschließende Evidenz und Repartition der Steuerlast sowie der damit zusammenhängenden Leistungen, „nach den von Uns [dem Landesherrn] festgesetzten und künftig noch festzusetzenden Grundsätzen“. In diesem Zusammenhang wurde auch die Verwaltung des Landesbeitrags zur Einquartierung des Militärs erwähnt22. Eine gewisse Bedeutung sollte allmählich der Domestikalfonds erhalten – ein Fonds, der aus dem Zuschlag zur Grundsteuer finanziert wurde und zur Finanzierung der ständischen Ämter sowie einiger ständischer Unternehmungen und Tätigkeiten dienen sollte. Der Domestikalfonds sollte der Verwaltung durch die Stände unterliegen, doch sämtliche Verfügungen benötigten eine königliche Sanktion23. Die Bestätigung des Landesherrn brauchte man in konkreten Fällen auch bei der Ausübung eines weiteren Rechtes – der Erteilung des galizischen Landesindigenats, die allerdings in den folgenden Jahren nur in Einzelfällen erfolgte und meist auf habsburgische hohe Beamte im Lande gerichtet war24. Des Weiteren sollte die ständische Gemeinde bzw. der Landtag die Führung der Adelsmatrikel sichern, über die Einstellung der Landesbeamten und der Landesbediensteten entscheiden sowie Vorschläge zur Besetzung der für Galizien reservierten Stiftungsstellen machen25. Dies betraf aufgrund der Zuteilungen aus den Jahren 1803 und 1816 insgesamt 19 Plätze in der Theresianischen Akademie, 40 Plätze in der Militärakademie in Wiener Neustadt, 20 Plätze in der Wiener Ingenieurakademie, vier Plätze im Ökonomischen Institut in Wien sowie einige Plätze für junge verarmte adlige Frauen im Salesianerinnenkloster der Heimsuchung Mariens in Landstraße bei Wien26. Der ständische Landtag sollte in der Regel – musste aber nicht – einmal jährlich stattfinden, wobei die Initiative zu seiner Zusammenberufung und die Be21

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Ebd. Pölitz (Hg.), Die europäischen Verfassungen, § 5, S. 56. Ebd. Vgl. Siebmacher’s Wappenbuch. Pölitz (Hg.), Die europäischen Verfassungen, § 5, S. 56. Kalinka, Galicya, S. 27.

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stimmung des genauen Termins ausschließlich dem Landesherren zustand. Dies galt auch für die eventuellen außerordentlichen Landtage. Dagegen war nicht nur der Kaiser, sondern unter Umständen auch das Landesgubernium berechtigt, den Landtag für beendet zu erklären und damit mit sofortiger Wirkung dessen Verhandlungen abzubrechen27. Mit der neuen ständischen Verfassung von 1817 wurde der Landesausschuss wieder eingeführt28. Wie ehemals in den 1780er Jahren, bestand auch jetzt seine Aufgabe darin, die weniger wichtigen oder laufenden Angelegenheiten zwischen den Abhandlungen einzelner jährlich stattzufindender Landtage zu erledigen. Der Ausschuss bestand aus sieben Mitgliedern – der Herren-, Ritter- sowie der geistliche Stand delegierten jeweils zwei Vertreter, ein Mitglied stellte die Landeshauptstadt Lemberg. Wie schon früher und ähnlich wie in anderen Ländern war der Vorsitzende sowohl des Landtages als auch des Ausschusses als dessen achtes Mitglied der Landesgouverneur, der damit zugleich als Chef der Stände galt. An oberster Stelle wurden damit die landesherrliche Verwaltung und die ständische Repräsentation vereinigt, wobei das Primat der landesherrlichen Komponente garantiert wurde. Der Landesgouverneur und ständische Chef hatte einen wichtigen Einfluss auf die Behandlung einzelner Programmpunkte bei den Landtagen und Sitzungen des Landesausschusses. Er übte auch Kontrolle bei den Abstimmungen aus29. Dem Landesausschuss stand ein Büro mit einigen durch die Stände bestellten subalternen Beamten und Bediensteten zur Verfügung30. Während die ordentlichen Deputierten des Ausschusses ein jährliches Gehalt von 900 fl. im Falle des Vertreters von Lemberg und bis zu 2000 fl. bei den Vertretern beider adliger Stände bezogen, gab es später auch ehrenamtliche Mitglieder aus den Reihen der Herren und Ritter31. Den Ständen wurde das Lemberger Landrecht als der zuständige Gerichtshof („forum privilegiatum“) zugeteilt. Damit blieben sie nach wie vor ein privilegierter Gerichtsstand – hier allerdings ohne ausdrücklichen Bezug auf seine Zuständigkeit für den Adel32. In diesem Sinne würde es sich also eher um ein Privilegium der Ständegemeinde im Allgemeinen als ein adliges Vorrecht handeln. Schließlich beinhaltete die Verfassung „als ein Merkmal Unserer besondern Gnade“ die Einführung einer eigenen ständischen Uniform für Galizien „nach den Grundfarben des Landeswappens“ (dies waren blau, schwarz und rot), d. h. nicht nach polni27

Pölitz (Hg.), Die europäischen Verfassungen, § 10, S. 57. Zur Einrichtung des Ständeausschusses s. Instrukcja dla Krajowego Wydziału Królestwa Galicji i Lodomerii [Instruktion für den Landesausschuss des Königreichs Galizien und Lodomerien], Wiedeń 1817, und Małecki, Wydział Krajowy, S. 40 – 52. 29 Pölitz (Hg.), Die europäischen Verfassungen, § 8, S. 57. 30 Kalinka, Galicya, S. 28. 31 Bekanntmachung des Landesgouverneurs Hauer vom 5.5.1817, in: Pölitz (Hg.), Die europäischen Verfassungen, S. 58. 32 Ebd., § 11, S. 57. 28

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schen Farben33. Das Recht, diese Uniformen zu tragen, sollte den Mitgliedern der Stände mit Sitz und Stimme im Landtag zustehen34. Damit wurde ein wichtiges distinktives Zeichen eingeführt, und zwar nicht nur gegenüber den Personen, die keine Mitglieder der ständischen Gemeinde waren. Die Uniform setzte zudem deren Träger etwa aus dem Adel gegenüber ihren Standesgenossen ab, die keine Landtagsfähigkeit genossen. Gleichzeitig symbolisierte sie den eigenständigen Charakter des Königreichs Galizien und Lodomerien gemeinsam mit der Bukowina gegenüber den anderen Ländern der Monarchie. Mit dieser Bestimmung wurde auch einem der Wünsche des galizischen Adels entsprochen. Der symbolische Wert dieser Angelegenheit war dermaßen hoch, dass es schwer fällt, den abwertenden Urteilen in der späteren Forschungsliteratur zuzustimmen, die darin eine reine Formalität und den Beweis der Bedeutungslosigkeit der Stände sahen. So bezeichnete etwa Jacek Goclon das Privilegium, Uniform zu tragen, als Beispiel ihrer „grotesken Rechte“35. Zu den Fragen, die in dem Patent von 1817 nicht gelöst wurden, gehörte die Amtssprache in den ständischen Geschäften. Darin bestand kein Unterschied zu den früheren Patenten von 1775 und 1782. Erst die anschließende Praxis brachte hier eine praktische Lösung, die auf den Vorschlag von Gubernialchef Hauer zurückging. Gegen die Absicht, Latein als Landtagssprache einzuführen, setzte er die Regel durch, dass die Verhandlungen auf Polnisch stattfinden sollten, sämtliche Korrespondenz mit dem Gubernium und den Zentralstellen allerdings auf Deutsch erfolgen müsste. Dieses Provisorium blieb den gesamten Vormärz hindurch erhalten36. Parallel auf Polnisch und Deutsch wurden ab 1821 auch die gedruckten Berichte aus den Landtagsverhandlungen veröffentlicht, die vom Sekretär des Landesausschusses Jan Bojarski37 redigiert wurden und die wichtigsten formalen Gegenstände und Beschlüsse des Landtags einschließlich Angaben über Teilnehmer, königliche Kommissäre sowie verfasste Remonstrationen an den Kaiser und dessen Antworten enthielten38. 33

Die zeitgenössische Abbildung der Uniform ist abgedruckt bei Łoziński, Galicyjski Sejm sowie Małecki, Wydział Krajowy (unpag. Anlagen). 34 Pölitz (Hg.), Die europäischen Verfassungen, § 12, S. 57. 35 Goclon, Statut Krajowy, S. 378. Vgl. für das damalige Böhmen im ähnlichen Ton Antonín Okáč, Český sněm a vláda před březnem 1848. Kapitoly o jejich ústavních sporech���������� [Der böhmische Landtag und die Regierung vor März 1848. Kapitel über ihre Verfassungskonflikte], Praha 1947, S. 68. 36 Grodziski, Historia ustroju, S. 150; Goclon, Statut Krajowy, S. 377. 37 Grodziski, Historia ustroju, S. 151. 38 Bspw. für das Jahr 1821: Czynności Seymu, który w Królestwach Galicyi i Lodomeryi na dniu 15. października w roku 1821 zgromadził się, i trwał do dnia 20, Miesiąca i roku tegoż������� / Verhandlungen des in den Königreichen Galizien und Lodomerien am 15. Oktober 1821 eröffneten, und am 20. desselben Monats und Jahrs geschlossenen Landtags, Lemberg 1822, gedruckt bey Joseph Johann Piller, k. k. Gubernial-Buchdrucker. Diese Berichte erschienen in den Jahren 1821–1827, 1829, 1830, 1833 –1841 und 1843 –1845, in der Regel für den Landtag im vergangenen Jahr.

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4. Adlige Privilegien Die Wiedereinführung der ständischen Verfassung vom April 1817 beendete jahrzehntelange Provisorien. In der Tat wurde, hinsichtlich der doch begrenzten Wirksamkeit der Regelungen aus den Jahren 1775 bzw. 1782 bezüglich des Landtags, zum ersten Male seit der Angliederung des Landes an die Habsburgermonarchie eine stabile Regelung eingeführt, die Kraft und Wirksamkeit bis zum Ende des ständischen Systems in Österreich behielt. Bei dieser Gelegenheit wurden die Rolle und die vornehme Position des Adels als privilegierter Stand nochmals bestätigt, diesmal mit geringeren Problemen als in der josephinischen Zeit. Zahlreiche weitere adlige Privilegien blieben in diesem Zusammenhang für den ganzen Vormärz erhalten, obwohl sie teilweise Einschränkungen erfahren mussten. Trotzdem blieb die Exklusivität der Angehörigen des Herren- und des Rittersstandes in vieler Hinsicht erhalten oder wurde bestätigt. Dies galt etwa für die Voraussetzungen zur Hoffähigkeit und andere Würden und Rechte, die an Ahnenproben geknüpft waren. Einen zentralen Bereich stellte nach wie vor der ausschließliche Besitz qualifizierter (tabellarischer) Güter mit grundobrigkeitlicher Qualität: Neben dem Adel durften nur die Bürger der Landeshauptstadt Lemberg solche erwerben. Lediglich bei dem Lizitationsverkauf der Kameralgüter ab 1818, bei dem der Staat am größtmöglichen Gewinn und daher an möglichst großer Konkurrenz seitens der Kaufwilligen interessiert war, waren alle Interessierten ohne ständische Beschränkungen zugelassen39. Dies hatte Folgen für die Vertretung im Landtag, denn mit dem Erwerb solcher Güter, bei denen der Dominikalsteuerzensus überschritten war, konnten die nichtadligen Besitzer Landtagsfähigkeit erreichen. Auf ausdrückliche Anfrage des Landtags von 1821 legte ein Ministerialreskript vom 15. Mai 1822 fest, dass die introduzierenden Personen nicht den adligen Status, sondern den Besitz tabellarischer Güter nachweisen sollten40. Dies war ein gewisser Durchbruch der adligen Exklusivität. Doch erst nach 1848 sollten formale ständische Hürden beim Ankauf von Tabellargütern zusammen mit dem Ende der patrimonialen Verwaltung wegfallen. Dagegen erfuhr das freie Dispositionsrecht über die tabellarischen Güter bereits 1814 eine Einschränkung, indem aus ökonomisch-politischen Gründen deren Erbteilungen verboten wurden. In gewissem Sinne ging der Staat hier den Prinzipien der sonst in Wien nicht gerade gerne gesehenen Majorate nach. Dabei wurde ein gemeinsames ungeteiltes Eigentum durch mehrere Erben ermöglicht41. Andere Beschränkungen folgten auf verschiedenen Gebieten: Als zum Beispiel im Jahr 1811, während der äußersten Finanznot in Zusammenhang mit dem österreichischen Staatsbankrott, der Verkauf der durch den Adel auf Lebenszeit gehaltenen königlichen Domänen angeordnet wurde, waren die adligen Besitzer 39

Kalinka, Galicya, S. 44. Ebd., S. 26. 41 Grodziski, Historia ustroju, S. 47. 40

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die Verlierer dieser Entscheidung. Sie erhielten als Gegenleistung eine minimale Jahrespension in Papiergeld, deren Höhe auf der Grundlage der polnischen Lustrationen des Jahres 1768 berechnet wurde: Für eine Domäne, die damals ein Jahreseinkommen von 1000 polnische Gulden (złoty) aufgewiesen hat, wurden nun 187 Gulden 30 Kreuzer in Bankozetteln ausgezahlt42. Diese Maßnahme betraf jedoch ausschließlich die ehemaligen königlichen Domänen und hing mit dem Problem des Adelsstatus und dem Exklusivrecht auf Dominikalbesitz wenn überhaupt, dann sehr indirekt zusammen. Ein wichtiger Umstand war die formale Abschließung des Adelsstandes nach gleichen Prinzipien wie in anderen österreichischen Kronländern. Mit dem Erlass der ständischen Verfassung von 1817 wurde der seit Jahrzehnten andauernde Prozess der Legitimierung des polnischen Adels, deren Hauptphase allerdings in den 1780er Jahren stattfand, für beendet erklärt43. Damit fielen viele vorübergehende Bestimmungen nach langen Verschiebungen der endgültigen Frist weg. Teile des ehemaligen Kleinadels waren jetzt definitiv aus dem Adelsstand ausgeschlossen, allerdings verloren manche Familien während dieses Prozesses auch ihr ausgeprägtes adliges Bewusstsein44. Der Adelsstand wurde damit definitiv abgeschlossen, der einzige Weg dazu führte über die Nobilitierung durch den Kaiser. Nobilitierungen und Standeserhebungen blieben nach wie vor dessen alleiniges Recht, wobei sich noch verstärkt die Tendenz zeigte, österreichische Untertanen beim Erwerb von Adelstiteln im Ausland zu behindern45. 5. Der erste Landtag und der kaiserliche Besuch Das kaiserliche Patent vom 13. April 1817, mit dem die neue ständische Verfassung eingeführt wurde, legte gleich den Termin für den ersten nach ihm berufenen galizischen Landtag fest. Er sollte am 16. Juni zum Zweck der formalen Einführung des neuen Systems und der Wahl des Ständeausschusses in Lemberg stattfinden46. Als Landesgouverneur Freiherr von Hauer dies Anfang Mai bekannt gab, blieben den Interessierten nur etwa fünf Wochen dafür, ihre Kandidaturen bei dem Gubernium anzumelden, wobei die genaue Art der Wahl noch nicht entschieden war47. 42

Kalinka, Galicya, S. 37. Krzysztof Ślusarek, Drobna szlachta w Galicji 1772 –1848 [Kleinadel in Galizien 1772 –1848], Kraków 1994, S. 118 –119. 44 Vgl. z. B. den Fall von Seweryn Łusakowski, der erst später mit Überraschung über den Adelsstatus seiner Ahnen erfahren hat. Seweryn Łusakowski, Pamiętnik zdeklasowanego szlachcica [Erinnerungen eines deklassierten Adligen], Warszawa 1952. 45 Vgl. bspw. Jan Županič, Nová šlechta rakouského císařství [Der neue Adel des Kaisertums Österreich], Praha 2006, S. 44. 46 Pölitz (Hg.), Die europäischen Verfassungen, S. 58. 47 Bekanntmachung des Landesgouverneurs Franz von Hauer vom 5.5.1817 in: ebd., S. 58. 43

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Die Einführung der ständischen Verfassung, die Einberufung des ersten Landtags48 sowie die Neueinrichtung der ständischen Institutionen gaben noch im Juli 1817 den Anlass zur ersten Reise von Kaiser Franz I. nach Galizien, die er gemeinsam mit seiner Gattin Maria Ludovika unternahm und die als Manifestation der festen Bande und der Verbundenheit zwischen dem Souverän und dem Land inszeniert wurde. Nach den Inspektionsreisen Josephs II. in den 1780er Jahren war dies der erste Besuch des Landesherrn in diesem Königreich seit drei Jahrzehnten. Franz gründete dabei unter anderem Anfang August die Universität in Lemberg neu, die ehemalige Josephina, die 1805 in der Universität Krakau aufging. Sie bot dann zunehmend auch den Söhnen aus den adligen Familien neue Perspektiven – im Jahre 1829 war etwa die Hälfte der Jurastudenten adliger Abstammung, meistens allerdings stammten sie nicht aus dem Landadel, sondern aus Familien von Offizieren und Zivilbeamten49. Der Kaiser wurde, wie der gegenüber der österreichischen Herrschaft alles andere als unkritische Zeitzeuge Ludwik Jabłonowski im positiven Sinne betonte, „mit großen Demonstrationen“ aufgenommen. Es wurde ein prächtiger ständischer Ball organisiert, Jabłonowski erwähnt auch eine Schenkung von 15.000 Dukaten, die allerdings in den zeitgenössischen Quellen keinerlei weitere Bestätigung findet50. Besuch und Programm wurden nicht nur zum Kennenlernen des Landes und dessen Situation sowie der Repräsentation des Kaisers vor Ort und zur Legitimation seiner Herrschaft und der neuen Ordnung in Galizien genutzt, sondern auch außerhalb des Landes zur Darstellung der stabilen und glücklichen österreichischen Herrschaft im ehemaligen Polen genutzt. Dazu sollten aber nicht offizielle Berichte, sondern ein positives Bild in der „öffentlichen Meinung“ genutzt werden, das „unabhängige Beobachtungen“ wiedergeben würde. Zu diesem Zweck wurde die damals bereits veraltete Form der „unpartheischen“ Briefe eines anonymen Betrachters (der sich, wie unten noch gezeigt wird, als Angehöriger des galizischen Adels bezeichnete) an seinen Freund außerhalb des Landes herangezogen, die im letzten Viertel des vorigen Jahrhunderts besonders beliebt 48

Für den Landtag von 1817 s. auch Czynności pierwszego sejmu w r. 1817 [Die Aktivitäten des ersten Sejms im Jahr 1817], Lwów 1817. Franciszek Serafin Hauer, Zagajenie pierwszego Sejmu Postulatowego we Lwowie [Eröffnung des ersten Landtags in Lemberg], Lwów 1818; K. L., Odgłos powszechnej radości z wskrzeszenia Stanów Galicyjskich przez naj. Cesarza Franciszka I, jako króla Galicji i Lodomerii, i wyboru na Wielkiego Komisarza Nadwornego przy Sejmie Narodowym JW. Kazimierza Rzewuskiego byłego pisarza koronnego i kawalera orderów polskich [Das Echo der allgemeinen Freude über die Wiederbelebung der Galizischen Stände durch S.M. den Kaiser Franz I., König von Galizien und Lodomerien, und die Wahl des Kazimierz Rzewuski, des ehemaligen Kronschreibers und Ritters der polnischen Order, zum Hofkommissar bei dem Nationallandtag], Lwów 1817. 49 Isabel Röskau-Rydel (Hg.), Galizien (Deutsche Geschichte im Osten Europas, begr. v. Werner Conze, hg. v. Hartmut Boockmann), Berlin 1999, S. 47. 50 Ludwik Jabłonowski, Pamiętniki [Erinnerungen], hg. v. Karol Lewicki, Kraków 1963, S. 71.

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war. Die Allgemeine Zeitung aus Augsburg und nach ihr das in Prag und Brünn erscheinende gelehrte Blatt Hesperus druckten einen solchen, höchst wahrscheinlich fiktiven Brief eines adligen Gutsbesitzers aus Galizien an seinen Freund in Wien (datiert am 6. September 1817 in Tarnów) unter dem aussagekräftigen Titel Franz I. als Vater und Beglücker seiner lieben Polen51. Nicht überraschend bildeten hier die positiven Auswirkungen der österreichischen Herrschaft, die landesväterliche Fürsorge von Seiten des Kaisers sowie die allgemeine Anerkennung, der er sich in Galizien erfreue, das Leitmotiv des ganzen Berichtes, der die Stabilität der österreichischen Zugehörigkeit Galiziens suggerieren sollte, zugleich aber die Interessen der gutsbesitzenden Elite des Landes geschickt thematisierte. Doch interessanterweise wurde hier unmissverständlich auf die Schwierigkeiten und den ungünstigen Eindruck eingegangen, die die habsburgische Verwaltung seit 1772 im Lande gemacht hatte: Indem das Bild eines guten Herrschers gegenüber einer schlechten Beamtenschaft gezeichnet wird, ging man mit einem allgemein genutzten Kunstgriff nicht nur auf die sich seit den 1770er Jahren hinziehenden Beschwerden der galizischen Eliten über die schlechten Beamten ein; man kann sich zudem schwer des Eindrucks erwehren, dass hier indirekt, aber klar ein grundsätzlicher Abschied von dem in Galizien so unbeliebten josephinischen Stil und Erbe angekündigt wurde. So wurde Franz I. gezielt in einen Gegensatz zu früheren Erfahrungen gestellt: „Die Hauptsache ist, daß die Gegenwart des Kaisers, sein gefälliges Benehmen und sein schlichter eindringender Verstand (unschätzbare Eigenschaften, besonders bei einem Souverain) ihm in dieser Provinz mehr Liebe und Verehrung gewonnen haben, als alle Bemühungen und Opfer der österreichischen Regierung bisher durch 46 Jahre nicht vermochten. Man hat in diesem Lande endlich die wahren Gesinnungen, Absichten und Eigenschaften des Landesfürsten, den man in einer scheuen Entfernung von uns erhalten hatte, besser kennen, man hat das herrschende Haus auszuzeichnen und zu verehren, man hat Missbräuche, die in die öffentliche Verwaltung eingeschlichen sind, von des Monarchen Willen zu unterscheiden gelernt. Der Kaiser seinerseits hat ebenfalls ganz andere Begriffe von der Kultur des Landes und seiner Einwohner erhalten.“52

Die weiteren Worte lassen allerdings doch die Frage offen, ob es hier um gezielte Propaganda aus Wien oder doch um eine Darstellung der adligen bzw. grundobrigkeitlichen Interessen ging, wenn wieder die seit den josephinischen 51

Franz I. als Vater und Beglücker seiner lieben Polen. (Schreiben eines adelichen Güterbesitzers an einen Freund in Wien), in: Hesperus. Encyclopädische Zeitschrift für gebildete Leser (1817), S. 566 – 567, eine Übernahme aus der Allgemeinen Zeitung (1817), Nr. 299. 52 Franz I. als Vater und Beglücker seiner lieben Polen. (Schreiben eines adelichen Güterbesitzers an einen Freund in Wien), in: Hesperus. Encyclopädische Zeitschrift für gebildete Leser (1817), S. 566.

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Zeiten so schwierige Frage des Urbarialwesens in einem für die Obrigkeiten günstigen Sinne angesprochen wird. Der Kaiser „sah den Ackerbau blühend, so weit dessen Gedeihen in dem großen Wirthschaftsbetrieb besteht und darauf begründet ist; er hat erkannt, daß die Reluition der Unterthanspflichten auf Geldabgaben eine schädliche Täuschung, daß die der Natur angemessene und am wenigsten lästige Leistung des Bauers seine Handarbeit ist, wenn Gesetze sie bestimmen und Missbräuche hindern; er hat eingesehen, wie wichtig der Besitz dieses Landes in landwirthschaftlicher Hinsicht sey; er hat sich überzeugt, daß man hier zwar keine Vereine für die Nothleidenden gebildet, keine SuppenVertheilungs-Anstalten angelegt hat, aber in den Zeiten der Noth, die dieses Land nicht weniger als ganz Europa fühlte, nicht ein einziger Mensch des Hungertodes gestorben ist, der in andern Ländern Hunderte hinweggerafft oder zur Auswanderung gebracht hat. […]“53

Schließlich wurde ein direkter Übergang zum Thema der Sonderstellung und des Sondercharakters des Landes im Rahmen der Monarchie gemacht, um gleich auch die „polnischen“ Interessen wie Sprache, Tradition und Identität anzusprechen: „Der Kaiser hatte Gelegenheit zu erkennen, daß jedes Land nach seinen individuellen Verhältnissen behandelt werden müsse; daß […] der Adel dieses Landes (ich darf es sagen, wenn ich schon selber zu dieser Kaste gehöre) den gebildetsten und aufgeklärtesten Menschen in Europa zuzuzählen ist. […] Man hat dem Kaiser gesagt, Er würde mit Beschwerden und Bitten überlastet werden, und die Zahl aller überreichten Bittschriften war sehr klein, ihr Inhalt meisten von geringem Belange. Man hat Sr. Majestät gesagt, daß meine Landesleute Titel und Auszeichnungen lieben und der Kaiser hat sie mit freigebiger Hand gespendet. Die Polen verlangen nur zwei Dinge, ihre Sprache, das Ureigenthum ihrer Nation und die Anstellung ihrer Landesleute bei der öffentlichen Verwaltung. Der Kaiser hat das Billige dieser Wünsche erkannt. Sein Scharfblick ließ ihn sehr wohl begreifen, daß ohne Zwangsmittel jedes Volk mächtige Bewegungsgründe habe, sich auf die Sprache der Staatsverwaltung zu verlegen. Eben so erkannte der Kaiser, daß kein Grund des Misstrauens vorhanden sey, um die Eingebornen von der Landesverwaltung auszuschließen, und daß die Gewalt, die ein Theil der Nation gegen die andere ausübt, bei weiten der unerträglichste Despotismus ist. Auch diesem Wunsche hat der Kaiser, so weit es der Zustand des Landes erlaubte, gewillfahrt und mehr noch für die Zukunft verheißen. Um so lebhafter werden unsre Rührung, unsre Dankbarkeit und unsre Verehrung.“54 53

Ebd. Ebd.

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Diese und noch viele weitere Äußerungen des „adelichen Güterbesitzers“ aus Galizien würden eigentlich eindeutig den Schluss nahe legen, dass hinter dem Bericht tatsächlich einer oder mehrere galizische Aristokraten standen. Sie nutzten diese Gelegenheit, um auf die seit dem 18. Jahrhundert in den österreichischen aufgeklärten Eliten so virulenten, äußerst negativen Stereotype des galizischen Adels zu reagieren und dazu direkt den Kaiser als „Zeuge“ zu vereinnahmen55. Doch ist hinsichtlich der damaligen Lage nicht ganz ausgeschlossen, dass zu solch weit gehenden Formulierungen, die ja zum Teil den Eindruck eines Programms, eines Desiderienkatalogs machen, selbst die Regierung griff oder solche bewusst duldete. Zwar galt der österreichische Besitz von Galizien seit dem Wiener Kongress zumindest so sicher wie nie zuvor seit 25 Jahren. Dennoch zeigten sich gerade damals, im Jahr 1817, unter dem polnischen Adel sowie von russischer Seite Signale, die in Wien noch für Beunruhigung und unter den galizischen Eliten für aufgeregte Stimmung sorgten. 6. Propolnische (prorussische) Sympathien und innerpolitische Implikationen Es war kein Geheimnis, dass die auf dem Wiener Kongress festgelegte Gründung des Königreichs Polen auch Teile der galizischen ständischen und intellektuel55

Vgl. dazu Miloš Řezník, Formierung der Galizien-Stereotype und die Adelskritik in der Habsburgermonarchie. Zur Rolle der Reiseberichte und „Briefe“ aus dem späten 18. Jahrhundert, in: Renata Skowrońska u. a. (Hgg.), Selbstzeugnisse im polnischen und deutschen Schrifttum im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit (15. –18. Jahrhundert), Toruń 2014, S. 305 – 348; zur Galizien-Stereotypie des späten 18. und des 19. Jahrhunderts im Allgemeinen s. insb. ��� Maria Kłańska, Daleko od Wiednia. Galicja w oczach pisarzy niemieckojęzycznych 1772 –1918 [Weit von Wien. Galizien in den Augen der deutschsprachigen Schriftsteller 1772 –1918], Kraków 1991, bzw. Dies., Problemfeld Galizien in deutschsprachiger Prosa 1846 –1914, Wien, Köln, Weimar 1991; Larry Wolff, The Idea of Galicia. History and Fantasy in Habsburg Political Culture, Stanford 2010, S. 19 – 62. Eine neue, knappe Analyse einiger Reiseberichte über Galizien (Kratter, Traunpaur, Hacquet) legt im Rahmen einer chronologisch breiter angelegten Monographie Anna de Berg, „Nach Galizien“. Entwicklung der Reiseliteratur am Beispiel der deutschsprachigen Reiseberichte vom 18. bis zum 21. Jahrhundert (Gießener Arbeiten zur neueren deutschen Literatur und Literaturwissenschaft, Bd. 30), Frankfurt a. M., Wien 2010, S. 55 – 79, sowie kurz Ritchie Robertson, „Das ist nun einmahl slawische Sitte!“. Die Bewohner Galiziens in Reiseberichten des späten 18. Jahrhunderts, in: Paula Giersch, Florian Ulrich Krobb, Franziska Schössler (Hgg.), Galizien im Diskurs. Inklusion, Exklusion, Repräsentation, Franfurt a. M., Wien 2012, S. 41– 56, vor. Zum literarischen „Mythos“ Galizien s. auch, ebenfalls auf ähnlichem Quellenkanon aufbauend, Dietlind Hüchtker, Der „Mythos Galizien“. Versuch einer Historisierung, in: Michael G. Müller, Rolf Petri (Hgg.), Die Nationalisierung von Grenzen. Zur Konstruktion nationaler Identität in sprachlich gemischten Grenzregionen (Tagungen zur Ostmitteleuropa-Forschung, Bd. 16), Marburg 2002, S. 81–107. Zuletzt vgl. auch einzelne Essays im Katalogband Mit Galicji [Mythos Galizien], Kraków 2014 (zur gleichnamigen Ausstellung, die 2014/2015 im Internationalen Kulturzentrum Krakau und 2015 im Wien Museum stattfand).

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len Eliten bewegte. Kongresspolen und in persona auch dessen König, der russische Zar Alexander I., der aufgrund seines (früheren) liberalen Herrschaftsstils bekannt war, erfreuten sich in diesen Kreisen einer gewissen Beliebtheit. Noch herrschte ein durchaus ungestörter Kompromiss zwischen den polnischen, na­ tio­nal gesinnten Eliten im Königreich und in den westrussischen Gouvernements einerseits und dem Zaren-König andererseits. Gerade im Sommer 1817, kurz nach der Einberufung des ersten galizischen Landtags, initiierte eine Gruppe von Adligen eine Aktion, in deren Rahmen sie sich darum bemühten, das politische Interesse des Zaren auf sich zu lenken. Sie entsandten einen geheimen Emissär nach Polen sowie zum Zaren und baten den Statthalter des Königreichs Polen, General Józef Zajączek, den Veteranen des Kościuszko-Aufstandes sowie der polnischen Legionen, um politische Unterstützung. Dabei ging es um nichts Geringeres als einen angeblich im Namen sämtlicher Stände Galiziens gemachten Vorschlag der Übernahme des Landes durch Alexander I. – ein Hochverrat par excellence. Galizien und seine Stände wurden dabei als „ehemals durch Verrat und Gewalt von Polen entrißen, seit fast einem halben Jahrhundert unter der schwersten österreichischen Herrschaft stehend“ bezeichnet, geplagt von „immer größerem Unglück und Verfolgungen, sowohl im Einzelnen als auch im Allgemeinen von der Seite der Regierung, ohne jegliche Hoffnung der Verbesserung der eigenen Lage und der Wahrung der Landesnationalität“. Es wurde von einer Zusammenkunft „im Namen der Nationalen Versammlung“ (w Imieniu Zgromadzenia Narodowego) gesprochen, in der der Vorschlag diskutiert und angenommen worden wäre. Unter dem Dokument, in Lemberg mit 30. Juni 1817 datiert, standen 40 Namen, die teilweise auch auf bekannte galizische aristokratische Familien hinwiesen (Poniatowski, Starzeński, Małachowski) und unter denen auch jeweils drei Vertreter aus dem Bürgertum der Städte Lemberg und Halicz genannt sind56. Nicht uninteressant erscheint in diesem Zusammenhang die Verwendung des Nationsbegriffs durch den entsandten geheimen Emissär, der sich aufgrund einer angeblichen Krankheit schriftlich aus Lublin an Zajączek wandte, statt sich persönlich zu stellen: Denn einerseits wurde hier wiederholt direkt oder indirekt von einer galizischen Nation gesprochen, für deren Mitglied sich der Verfasser hielt, was für eine territoriale und ständische Auffassung sprechen würde. Gleichzeitig aber wird diese galizische Nation mit Nachdruck als Teil der polnischen Nation bezeichnet57 – ein Hinweis auf einen Begriff, der auf Staatlichkeit, Tradition, Geschichte, aber auch ethnisch-kulturelle Merkmale zurückgehen würde. 56

���������������������������������������������������������������������������������������������� Projekt obywateli galic. przedstawiony namiestnikowi Kr. Polskiego [Józ. Zajączkowi] przez delegowanego o wydobicie Galycji z pod iarzma Austryjackiego i przyłączenie do Kr., Lemberg 30.7.1817. Dazu auch ein Brief eines Emissärs an Zajączek, �������������������������������������������� Lublin 25.9.1795. Biblioteka Czartoryskich, Krakau, Sign. 5223 IV, 3, S. 13 –16. 57 Ebd.

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Das Abenteuer konnte kaum jemanden in Warschau oder St. Petersburg dazu bewegen, eine Initiative aufzunehmen, doch wäre das sicherlich Grund genug, die damit suggerierte Stimmung bei einem Teil des Adels zu beobachten. Anklänge einer politischen Koketterie mit prorussischen Stimmungen unter den galizischen Adelseliten scheinen sich insbesondere im Zusammenhang mit dem Besuch des Zaren bei den Fürsten Czartoryski auf deren galizischer Residenz in Sieniawa am Ende des Jahres 1818 abgezeichnet zu haben. Anwesend waren nicht nur die wichtigsten Angehörigen der Gastgeberfamilie – das greise Familienoberhaupt Fürst Adam Kazimierz und dessen Gattin Izabela, deren Tochter Maria Anna Czartoryska (Maria Wirtemberska) und Sohn Adam Jerzy, sondern auch der Majoratsherr von Zamość Stanisław Kostka Zamoyski und zahlreiche andere Aristokraten, Generäle und Damen aus angesehenen galizischen Familien (Baworowski, Dembiński, Drohojowski, Fredro, Kochanowski, Krasicki, Mier, Stadnicki). Trotz der Anwesenheit einiger staatlicher Verwaltungsbeamter des zuständigen Kreisamts und trotz seines Aufenthalts in Österreich als Verbündeter sparte Alexander nicht an schmeichelnden Sympathiebekundungen gegenüber dem Gastgeber sowie weiteren Anwesenden. Als man ihn zur Übernachtung in Sieniawa überreden wollte, wies Alexander in seiner ablehnenden Antwort angeblich auf die Gefahr hin, man würde seine offensichtlichen Sympathien dem galizischen Adel gegenüber übertrieben deuten können: „Je y ai des personnes qui m’observent, qui sont à mon insu, on pourrait dire en Galicie, que je veux corrompre les coeurs, et je ne veux que les gagner������������������������������������������������������ “, worauf allerdings weitere Bekundungen seiner Sympathien für Polen folgten58. Den Anwesenden entging vermutlich, dass �������� Adam Jerzy Czartoryski gerade damals vom Zaren und König deutliche Signale erhielt, sich zukünftig von politischen Geschäften fernzuhalten, und dass dies mit seinen Aktivitäten anlässlich des ersten polnischen Landtags in Warschau sowie vor dem Hintergrund seiner Enttäuschung über die bisherigen Ergebnisse prorussischer Orientierung geschah59. All diese Tendenzen, die sich in Galizien nach 1815 allmählich verbreitet haben, waren in Wien zunächst kein Grund zur Gelassenheit. Die Stabilisierung der territorialen Fragen in Mitteleuropa schuf zwar die Voraussetzungen für langfristige politische Entscheidungen, diese wurden jedoch auf der anderen Seite dadurch motiviert, weitere Stabilität angesichts möglicher Gefahren zu gewährleisten. Auch in diesem Kontext erhoffte man sich von der Einführung des neuen ständischen Systems und des Landtags, von weiteren politischen Schritten und konkret vom Besuch des Kaisers eine positive Einwirkung auf die Stimmung im galizischen Adel sowie die Möglichkeit, dessen Verbundenheit zu demonstrieren – nicht zuletzt gegenüber Warschau und St. Petersburg. Das Fazit der Gali­ 58

Franciszek Siarczyński an Salomea Żychlińska, Sieniawa 28.12.1818, Abschrift durch Adam Rościszewski, Biblioteka Instytutu Narodowego im. Ossolińskich, Wrocław, Ms. 2256/I. 59 Marceli Handelsman, Adam Czartoryski, Bd. 1, Warszawa 1948, S. 125 –126; Jerzy Skowronek, Adam Jerzy Czartoryski 1770 –1861, Warszawa 1994, S. 224.

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zienreise von Franz I. (1817) wurde im Hinblick auf den hinterlassenen Eindruck in Österreich entsprechend positiv formuliert, und zwar unter unmissverständlichem Bezug auf die Bemühungen unter dem Adel, eine Orientierung hin zu Warschau und Russland zu propagieren und einen Herrschaftswechsel vorzubereiten: „Die Anwesenheit des Monarchen hat eine Menge Vorurtheile zerstreut. Es lag in den Maximen fremder Mächte, die Völker ihren Regenten zu entziehen […]. Den Galiziern ist die Binde abgenommen worden. Alle sind von Verehrung gegen den Monarchen und die Monarchin durchdrungen. Die vertheilten Ordenszeichen, Kron- und Erzämter und Hofwürden sind nun ein Gegenstand des Strebens auch der noch unbetheilten unter dem Adel geworden, der außerdem durch Constituirung der Landstände diejenigen Auszeichnungen vor andern Klassen der Staatseinwohner wieder erlangt hat, die er einstens genoß, alle andern Nachbarn genießen sah und selbst entbehren mußte. Diese Gleichstellung mit dem Adel andrer Provinzen wendet itzt Augen, Herz und Sinn, die sonst nur nach Warschau gerichtet waren (wo hier entbehrte Auszeichnungen gewährt wurden) nur nach Oestreichs Thron.“60

Wie wir sehen, wurde hier die Gleichstellung mit anderen habsburgischen Kronländern, die innere ständische Verfassung nach dem Vorbild anderer habsburgischer Provinzen und damit auch eine erfolgreiche Integration in der Monarchie als Voraussetzung für eine positive Entwicklung des Kronlandes und des Wohlergehens galizischer Eliten suggeriert. Die Verbindung der Integration mit dem Akzent auf Landes- und nicht Zentralebene war hier nicht zufällig. Auch mit Hinblick auf die politische Entwicklung in Polen war die österreichische Regierung mit einer zu weit gehenden, offenen Zentralisierung etwas zurückhaltender. Minister Metternich persönlich plädierte eher dafür, im begrenzten Umfang die althergebrachten territorialen und landesspezifischen Strukturen zu berücksichtigen, auch wenn seine Vorstellungen vom Programm einer Rückübertragung wichtigerer Rechte auf die Provinzen weit entfernt waren – ein Hintergrund, der für die Erlassung des Patents über die ständische Verfassung ausschlaggebend war61. Entsprechende Tendenzen zur stärkeren symbolischen Berücksichtigung der Besonderheiten der Kronländer zeigten sich zugleich bei anderen Gelegenheiten. Am Hof wurde ein Vorschlag des Fürsten Franz Joseph von Dietrichstein (er war von 1809 bis 1815 als Hofkommissar nach Galizien entsandt) erörtert, im Rahmen der Vereinten Hofkanzlei einen eigenen Kanzler für Galizien zu ernennen. Schließlich setzte sich aber im Dezember 1817 eine Verbindung der böhmischen, mährischen, schlesischen und galizischen Angelegenheiten in einer gemeinsamen Kanzlei durch, mit dem aus Böhmen stammenden, durchaus noch durch 60

Anwesenheit des Monarchen. Bessere Hoffnung für die Zukunft [Bericht aus Lemberg, 8.1.1818], in: Hesperus. Encyclopädische Zeitschrift für gebildete Leser (1818), S. 119. 61 Vgl. Maner, Galizien, S. 65 – 66.

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Josephinismus geprägten Hofkanzler Grafen Prokop Lažanský62 an der Spitze63. Der gemeinsame Rahmen der Vereinten Hofkanzlei für die böhmischen, österreichischen, norditalienischen und illyrischen Länder sowie Galizien blieb bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts erhalten. 7. Ausblick: Ständewesen als adliges Forum im Vormärz Nicht nur aufgrund des Umstands, dass in Personalunion mit dem Zarenreich ein weitgehend autonomes Königreich Polen mit polnischen Gesetzen, Regierung, Armee, Amtssprache, Schulwesen usw. entstand, konnte ein Teil der galizischen Eliten für Warschau und Russland gewonnen werden. Durch die konsequente Reservierung aller Posten und Stellen im Militär, Verwaltung und Justiz für Polen bot Kongresspolen nun nicht nur die Vision einer eigenen nationalen Staatlichkeit, sondern auch alle üblichen Versorgungs- und Aufstiegschancen, die den polnischen Eliten in Österreich entweder versperrt oder nur in begrenztem Umfang offen standen, zum Teil auch deswegen, weil die vorhandenen Möglichkeiten in der polnischen Gesellschaft Galiziens zum damaligen Zeitpunkt von keiner besonders starken Anziehungskraft waren. Zwar bemerkt Stanisław Grodziski richtig, dass gerade nach 1817 erst eine neue Generation von Aristokraten und Adligen kam, die sich auch durch ein Studium für die öffentliche Tätigkeit stärker geöffnet haben, doch dies geschah eher außerhalb des staatlichen Dienstes64. Dieser blieb trotz mancher wichtiger Beispiele erfolgreicher Karrieren als adlige oder aristokratische Option nur begrenzt populär, ähnlich wie etwa der Militärdienst, der manchmal sehr kritisch gesehen wurde. Jędrzej Rogoyski, ein mittelgalizischer Edelmann, verurteilte die militärische Laufbahn seines Standesgenossen Cyprian Komorowski und anderer prinzipiell scharf 65. Eine Ausnahme unter dem galizischen Adel, insbesondere was den Beamtendienst betrifft, stellten im Vormärz vor allem neue Familien fremder Herkunft oder nobilitierte Beamtenfamilien aus Österreich und anderen Ländern dar, die sich damals oder schon früher in Galizien niedergelassen und eingekauft hatten und sich häufig im dortigen Umfeld einschließlich seiner Polonität adaptiert haben, bis hin zur Übernahme einer polnischen Identität (bspw. Familien Haller, Helcel, Baum)66. Sie waren Mitglieder 62

Prokop Lažanský (1771–1823) war in den Jahren 1803 –1805 kurze Zeit Vizepräsident des galizischen Landesguberniums in Lemberg. Wurzbach, Biographisches Lexikon, Bd. 14, Wien 1865, S. 240 – 241. 63 Haas, Metternich, S. 179 –188; Maner, Galizien, S. 63. 64 Stanisław Grodziski, Studia galicyjskie. Rozprawy i przyczynki do historii ustroju Galicji [Galizische Studien. Abhandlungen und Beiträge zur Verfassungsgeschichte Galiziens], hg. v. Grzegorz Nieć, Kraków 2007, S. 171. 65 Jędrzej Rogoyski, Pamiętniki moje [Meine Erinnerungen], hg. v. Andrzej Jastrzębski, Warszawa 1972, S. 29. 66 Grodziski, Historia ustroju, S. 173. Vgl. zu diesem Komplex mit Hinsicht auf die Beamtenschaft und ihre Familien insb. Isabel Röskau-Rydel, Zwischen ���������������������������������� Akkulturation und Assimi-

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der galizischen Gemeinde. Doch diese Gruppe machte sich erst im Verlauf des Vormärz stärker bemerkbar. Dagegen bot das Königreich Polen zahlreiche Möglichkeiten, in einem polnisch dominierten Land in den Staats- und Militärdienst mit polnischen Eliten und polnischer Amtssprache einzutreten, in einem Staat, der von vielen für eine kontinuierliche Form ihrer eigenen „nationalen“ Staatlichkeit gehalten wurde, zumal man zunächst darauf hoffte, dass die westrussischen Gouvernements im östlichen Teil der ehemaligen polnisch-litauischen Rzeczpospolita in das Königreich einverleibt würden. Der relativ liberale Charakter Kongresspolens konnte daher die Angehörigen der polnischen Eliten Galiziens sowohl zu einer reservierten Haltung als auch zu Begeisterung motivieren. Polen hat prinzipiell das rechtliche System des Herzogtums Warschau mit seinen Reformen übernommen und in vieler Hinsicht in der Zeit von 1807 bis 1814 auch eine personelle Kontinuität bewahrt. Alexander I. galt in diesen Jahren nicht als Herrscher einer Teilungsmacht, sondern er erfreute sich als authentischer König von Polen allgemeiner Anerkennung und in der Anfangsphase des Königreichs auch der Popularität. Doch ein noch wichtigerer Umstand war der Verfassungscharakter des Königreichs Polen: Gemäß den Beschlüssen des Wiener Kongresses erließ Alexander für das Land eine Verfassung im konstitutionellen Sinne und gewährte den polnischen Institutionen eine beinahe vollständige Autonomie und dem polnischen Sejm weitreichenden Einfluss. Er wurde in der Verfassung auch ausdrücklich als „nationale Repräsentation“ der „polnischen Nation“ für „ewige Zeiten“ eingerichtet67. Seine erste Zusammenkunft gerade im Jahre 1818 demonstrierte diese Tatsachen ebenso wie die Eintracht zwischen Polen und Alexander. Wenn also die galizischen Zeitgenossen die Kompetenzen und die Rolle des Sejms im Königreich Polen und der Abgeordnetenversammlung der – ab Juli 1817 ebenfalls konstitutionellen – Freien Stadt Krakau mit denen des galizischen Landtags verglichen, blieb ihnen wenig Grund zur Zufriedenheit oder sogar Begeisterung68. Eine solche Vergleichsebene fehlte bisher (seit der dritten Teilung Polens) komplett, sehen wir von den regionalen Wahlversammlungen in den russischen Teilungsgebieten ab69. In der Zeit nach 1817 war nur der Landtag des neu errichteten Großherzogtums Posen im Rahmen der preußischen Monarchie, der aber lation. Karrieren und Lebenswelten deutsch-österreichischer Beamtenfamilien in Galizien (1772 –1918), München 2015. 67 Ustawa Konstytucyjna Królestwa Polskiego [Verfassungsgesetz des Königreichs Polen] vom 27.11.1851, Art. 31, bspw. in: Marian Stolarczyk (Hg.), Wybór tekstów źródłowych z historii Polski 1795 –1864, t. 1 [Anthologie der Quellentexte zur Geschichte Polens 1795 –1864. Bd. 1], Rzeszów 21999, S. 112 –130, hier S. 116. 68 Stanisław Grodziski, Sejm krajowy galicyjski 1861–1914, [t. 2]: Źródła [Der Landtag von Galizien 1861–1914. Quellen], Warszawa 1993, S. 19. 69 Vgl. Jörg Ganzenmüller, Russische Staatsgewalt und polnischer Adel. Elitenintegration und Staatsausbau im Westen des Zarenreiches (1772 –1850) (Beiträge zur Geschichte Osteuropas, Bd. 46), Köln, Weimar, Wien 2013.

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erst 1827 zum ersten Male tagen sollte, hinsichtlich der Kompetenz und des Einflusses, aber auch der ständischen Gliederung mit der galizischen Versammlung vergleichbar70, nämlich auf ähnlich geringem Niveau71. Allerdings sollte der galizische Landtag viel mehr als der Posener zumindest informell und gesellschaftlich eine gewisse Relevanz erlangen (dies insbesondere in den 1840er Jahren)72 und vor allem eine längere Lebensfähigkeit aufweisen, als das in Posen der Fall war. Vor diesem Hintergrund entwickelten sich in den darauffolgenden Jahren auch die Aktivitäten und die Bedeutung des galizischen Landtags. Bis in die 1840er Jahre blieb er ohne eine größere politische Rolle und auch ohne besondere Anziehungskraft für die galizische Aristokratie und den Adel, wiewohl sich in den 1820er Jahren ein fester Kern an loyalen Standesgenossen entwickelte, die dem Landtag beiwohnten und dort zum Teil auch formale Funktionen übernommen haben73 – bei weitem nicht nur Aristokraten, sondern auch Angehörige des Ritterstandes. Manche aus diesem Kern stellten sich als königliche Kommissäre oder ordentliche und außerordentliche Beisitzer des Ständeausschusses zur Verfügung, darüber hinaus waren einige von ihnen Träger der Landeserzämter – durchaus also die Elite des loyalen Adels und der Aristokratie. Darüber hinaus gab es eine Reihe von Aristokraten und Edelleuten, die gelegentlich oder einmalig an den Verhandlungen des Landtags teilgenommen haben. Insgesamt wurde der Landtag während des gesamten Vormärz relativ regelmäßig zusammenberufen, nicht nur im Vergleich zu Posen, sondern sogar zu Warschau, wo der Sejm am Ende bis zum Novemberaufstand von 1830 doch nur viermal tagte. Durch Remonstrationen, die sich meistens gegen die – ohne Schwierigkeiten angenommenen – Steuerpostulate des Königs richteten, sowie durch manche weitere Anträge, Bitten und Vorstellungen konnte der galizische Landtag durchaus auch ständische und provinzielle, nach wie vor aber vor allem grundobrigkeitliche Interessen vertreten und äußern, auch wenn dies auf zurückhaltende Weise und ohne direkte reale Ergebnisse geschah. Schon 1818 musste festgelegt werden, dass die Landtagsbeschlüsse ohne Rücksicht auf den Umfang der Teilnahme Gültigkeit erlangten74. Meistens nahmen an den Landtagen zwischen 50 und 70 Aristokraten und Edelleute teil, was 70

Grodziski, Sejm krajowy, S. 19. Zur Errichtung des Großherzogtum Posen und dem Posener Landtag s. Jerzy Kozłowski, Wielkopolska pod zaborem pruskim w latach 1815 –19������������������������������������� 18 [Großpolen unter preußischen Herrschaft 1815 –1918], Poznań 2004, S. 54 – 78. 72 Zur ständischen Oppositionsbildung in den 1840 bis heute am ausführlichsten Hanns Schlitter, Aus Österreichs Vormärz, Bd. 1: Galizien und Krakau, Zürich, Leipzig, Wien 1920. 73 In den 1820er Jahren beispielsweise Łukasz ����������������������������������������������������� Augustynowicz, Kazimierz Badeni, Graf Jan Wincenty Bąkowski, Jan Batowski, der Gubernialräte Józef Bobowski und Tomasz Dąmbski von Lubraniec, Józef Dzierzkowski, Freiherr Kajetan Karnicki, Graf Józef Kuropatnicki, Piotr Łodyński, Józef Niezabitowski, Grzegorz, Ignacy und Jan Nikorowicz, Józef Pawlikowski, Franciszek Poniński, Hilary Siemianowski, Jan Szeptycki, Jan Uruski. Czynności Seymu (s. Anm. 38). 74 Goclon, Statut Krajowy, S. 378. 71

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Goclon zufolge weniger als ein Viertel der Berechtigten war. Allerdings erscheint sein Schluss, dass dies an sich ein Beweis der Unpopularität des Kaisertums gewesen wäre, äußerst voreilig75. Vielmehr spielten hier vermutlich die begrenzte reale Bedeutung des Landtags, das persönliche Desinteresse an Politik bei vielen potenziellen Teilnehmern, organisatorische Schwierigkeiten und die hohen Teilnahmekosten sowie die habituellen Voraussetzungen von Adel und Aristokratie eine entscheidende Rolle. Dies alles müsste aber für die 1820er und 1830er Jahre gründlich untersucht werden, im Vergleich nicht nur zu Kongresspolen, Krakau und Posen, sondern vor allem zu anderen österreichischen Landtagen. Nicht nur der Landtag selbst, sondern vor allem informelle, private Treffen entwickelten sich vermutlich in den 1820er bis 1840er Jahren zu einem Forum, auf dem Strategien und Einzelheiten des bevorstehenden oder laufenden Landtags besprochen wurden. Zur politischen Belebung sowie zur Diskussion über weitreichende Änderungen sowohl bezüglich der Struktur und Form der ständischen Vertretung als auch hinsichtlich des Urbarialwesens kam es auf Initiative eines Teils der Aristokratie erst in den 1840er Jahren76, zeitgleich mit der Herausbildung einer nennenswerten ständischen politischen Opposition. Die damals erarbeiteten Ansätze wurden allerdings durch die Politik Wiens, durch den Krakauer Aufstand und die galizische „Rabacja“ von 1846 sowie durch die Entwicklung im Völkerfrühling überholt. 8. Fazit Die politische Lage in Mitteleuropa, wie sie sich insbesondere im Hinblick auf die „polnische Frage“ am Wiener Kongress gestaltete, leitete eine neue Phase der Wiener Politik in Galizien ein. Dies wirkte sich besonders stark im Bereich des Ständewesens sowie der Adels- bzw. Elitenpolitik aus. Entscheidend war dafür die Einstellung auf langfristige Maßnahmen in einem Kronland, dessen Besitz nun durchaus als endgültig und relativ stabil angesehen werden konnte. Die neue Organisation des Landtags und des Ständewesens wies zahlreiche Kontinuitäten zur theresianisch-josephinischen Epoche auf, sodass trotz vieler Änderungen (z. B. die Einführung des geistlichen Standes) die Jahrzehnte um 1800 aus formaler Sicht zunächst keine Zäsur darstellen. Doch die politischen und gesellschaftlichen Umstände haben sich so weit geändert, dass für das Funktionieren der Stände neue Bedingungen gegeben waren. So traten die Konfliktlinien zwischen den galizischen Eliten und der Wiener Zentrale, nicht zuletzt aufgrund der Erfahrungen der letzten 25 Jahre, im Vergleich zur josephinischen Dekade deutlich zurück. Vielmehr begann sich vor diesem Hintergrund ein Kompromiss zwischen 75

Ebd., S. 378. Vgl. zu diesem Komplex insb. Krzysztof Ślusarek, Uwłaszczenie chłopów w Galicji zachodniej [Die Grundentlastung im westlichen Galizien], Kraków 2002, S. 17 – 33.

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der Monarchie und den aristokratisch-adligen Oberschichten in den einzelnen Provinzen abzuzeichnen. Zwar gab es nach 1815 in Kongresspolen einen neuen Referenzpunkt für die patriotischen Aktivitäten, die aus Sicht Wiens ein gewisses Destabilisierungspotenzial in sich trugen, doch haben diese zugleich die Elitenkompromissbereitschaft teilweise gefördert. So konnte sich das ständische System zu einem stabilen Faktor entwickeln, das bis in die 1840er Jahre ohne größere Umwälzungen funktionierte. Seine beschränkten politischen Befugnisse wurden auf der symbolischen Repräsentationsebene des Landes als Entität und dessen Stände mindestens teilweise kompensiert. Einerseits erfreute sich der Landtag bis zur Intensivierung der ständischen Aktivitäten in den 1840er Jahren nicht des aktiven Interesses der potenziellen Teilnehmer, andererseits ermöglichte das ständische System nach wie vor eine sowohl symbolische als auch juristische und politische Disktinktion des Besitzadels und der Aristokratie und bildete damit einen potenziellen institutionellen Rahmen der spätständischen Elitenvergesellschaftung. Zudem wurde auf dieser Basis die selbstständige Ständegemeinde des eigenen Landes abgegrenzt, die somit die „Identität“ des Landes verkörperte. Damit konnten die patriotischen Interessen der galizischen Ständeelite teilweise sowohl repräsentiert als auch kanalisiert werden. Das Ständewesen, wie es sich infolge des Wiener Kongresses gestaltete, wies daher die gleiche Lebensdauer wie die innenpolitische Ordnung in Österreich und das europäische Mächtesystem des Vormärz auf. Es sollte auch zusammen mit ihnen sein Ende finden. The Congress of Vienna and its consequences for Habsburg policy in Galicia: the state system and policy towards the elite Summary The new organization of Central Europe at the Congress of Vienna, primarily the regulation of so-called “Polish affairs”, enabled the Habsburg monarchy to make new political decisions with regard to Galicia. It also made it possible to base Vienna’s policy concerning Galicia on a more solid foundation. After the Congress, Galicia eventually lost its uncertain status (concerning its future), which enabled the government to formulate long-term strategies and to open new spaces for the co-opting of the Galician elites in Austria. On this basis, Galicia was given a new estates system, which was reintroduced as part of a compromise with the elite. From this perspective, the Congress of Vienna marked an important stage in the integration of Galicia within the monarchy. However, this did not negate the Polish patriotism of the Galician elite.

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Die Bestimmungen des Wiener Kongresses hinsichtlich Polens vor dem Hintergrund der polnischen Frage im 19. Jahrhundert (1795 –1918) Die sogenannte polnische Frage, also der gesamte umfangreiche und vielschichtige Komplex politischer Probleme im Zusammenhang mit der Neugestaltung des weiten geopolitischen Raumes, der vor 1772 das Staatsgebiet von Polen-Litauen darstellte, das seit 1569 durch die polnisch-litauische Union mit dem Großfürstentum Litauen verbunden war, schien während des Wiener Kongresses besonders schwer lösbar zu sein. Dennoch erwies sich der in den „polnischen“ Fragen mit so großer Mühe erreichte Kompromiss als über Erwarten dauerhaft. Zwar kann man dies nur mit gewissen Vorbehalten hinsichtlich der Entscheidungen über die staatlichen Institutionen sagen, welche in den polnischen Gebieten von den drei Teilungsmächten unter dem unmittelbaren Einfluss der Kongressbestimmungen eingesetzt wurden, mit Sicherheit jedoch kann man dies hinsichtlich der Grenzen, die auf den polnischen Gebieten zwischen den Staaten verliefen, behaupten. Abgesehen von einer geringfügigen Korrektur galten diese Grenzen 100 Jahre. Es bedurfte erst des Ersten Weltkriegs, um einen Änderungsversuch zu unternehmen und danach diese Grenzen zu verändern. Die Dauerhaftigkeit dieser Grenzen spricht deutlich für die These von der überaus großen Problematik der polnischen Frage und den Ängsten der Großmächte vor ihrer Veränderung. Wie allgemein bekannt, kam es gegen Ende des 18. Jahrhunderts zur Auflösung der polnisch-litauischen Adelsrepublik infolge der drei Teilungen. Angesichts der enormen Größe des zu teilenden Staates sowie seiner langen Existenz – wenn wir ihn als eine staatliche Struktur betrachten, die das mittelalterliche Königreich Polen fortsetzte, so waren es ohne Unterbrechung 800 Jahre – muss dieses Ereignis als beispiellos in der Geschichte angesehen werden. Die Zeitgenossen waren sich dessen mit Sicherheit bis zu einem gewissen Grad bewusst. Interessant ist, dass die Auflösung des polnischen Staates in einer sehr komplexen und sehr dynamischen politischen Situation durchgeführt wurde. Die erste Teilung erfolgte unter völlig anderen politischen Umständen auf der internationalen Bühne als die beiden folgenden. Die erste Teilung fand 1772 statt, zu einer Zeit, als die europäische politische Ordnung nicht bedroht zu sein schien. In Frankreich regierte noch Ludwig XV. Die zweite und dritte Teilung, die rasch

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hintereinander in den Jahren 1793 und 1795 erfolgten, erfolgten unter bereits geänderten Umständen: die Vereinigten Staaten hatten bereits ihre Unabhängigkeit erlangt und die Französische Revolution war in ihrer radikalsten Phase. Die junge Französische Republik befand sich nun mit den alten europäischen Monarchien im Kriegszustand. Nicht genug, dass die aufeinanderfolgenden Teilungen – einerseits die erste, andererseits die zweite und dritte – in einer völlig veränderten politischen Situation stattfanden, sie betrafen auch ein Land, das im letzten Vierteljahrhundert seiner Existenz eine sehr wichtige und bedeutende Entwicklung durchgemacht hatte. Der polnische Staat war zu Beginn der 1770er Jahre völlig anders als zu Beginn der 1790er Jahre. Zusammenfassend kann man somit ein gewisses historisches Paradoxon aufzeigen: Nach der ersten Teilung Polens im Jahr 1772 blieb das Land sehr beschnitten zurück, aber noch selbstständig handlungsfähig. Jedoch die Teilung selbst wie auch die internationale politische Situation, in der sie stattgefunden hatte, verhießen den unausweichlichen Untergang des Staates. Die zweite und dritte Teilung hingegen brachten zwar die völlige Vernichtung des Staates, sie erfolgten jedoch unter solchen inneren sowie äußeren Umständen, die einen Kampf um seine Restitution verhießen und die Hoffnung auf seinen Wiederaufbau zuließen. Die Vernichtung des Staates und die Umstände, unter denen sie geschah, ließen keine eindeutige Prognose über das zukünftige Schicksal des seines Staates beraubten Volkes zu. Der internationale Kontext brachte zusätzliche Erschwernisse: Mitte der 1790er Jahre stand Europa eher vor der Perspektive tiefgreifender enormer Umwälzungen als vor einer Stabilisierung der bestehenden Ordnung. Aus der Auslöschung der polnisch-litauischen Adelsrepublik zog Europa eine relativ eindeutige, für Polen überaus ungünstige und stets als ungerecht empfundene Schlussfolgerung – einfacher ausgedrückt, die Schlussfolgerung, dass die Polen nicht fähig seien, einen eigenen Staat zu besitzen und ihn zu regieren. Die Ereignisse der zwanzig Jahre, die zwischen der dritten Teilung und dem Wiener Kongress lagen, zielten jedoch in eine völlig entgegengesetzte Richtung, was zu einer beträchtlichen Verwirrung hinsichtlich des Verständnisses der polnischen Frage führte. Die Folge dieser Verwirrung erkennen wir problemlos in jenen Punkten hinsichtlich der polnischen Frage, die in die aufeinanderfolgenden großen Verträge aufgenommen wurden, die nach 1795 zustande kamen. Diese Bemerkung bezieht sich selbstverständlich in erster Linie auf die Bestimmungen des Wiener Kongresses. Polen-Litauen wurde zum Symbol eines überaus unordentlichen, schlecht regierten, ja sogar von niemandem regierten, völlig anarchistischen Staates, der gleichsam jenseits der realen Zeit und des realen Raums funktionierte. Seine Entwicklung seit dem Ende des 17. Jahrhunderts verlief nahezu in entgegengesetzter Richtung zu der anderer Staaten, zumindest der führenden europäischen Staaten. Die aktive Rolle Polens in der europäischen Geschichte erlosch mit dem Tod

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von König Jan III. Sobieski (1697). Teilungspläne gab es längst vor der Thronbesteigung dieses Monarchen, und die Vernichtung des Staates drohte real bereits Mitte des 17. Jahrhunderts. Nahezu das ganze 18. Jahrhundert hindurch, also ab der Inthronisierung des ersten der beiden sächsischen Könige aus dem Hause Wettin (1697) bis hin zur dritten Teilung, demnach fast genau 100 Jahre, befand sich der ehemalige polnische Staat in einem Zustand, der Teilungen ermöglichte, ja geradewegs dazu ermutigte. Man muss sich in diesem Zusammenhang eher wundern, dass die mächtigen und expansiven benachbarten Mächte so lange damit zögerten. Polen wäre in völliger Schmach untergegangen, wenn sich seine Adelseliten in den letzten 25 Jahren der Existenz des Staates nicht zu einer wahrlich bedeutenden reformatorischen Anstrengung aufgeschwungen und dadurch ihre Ehre teilweise gerettet hätten. Diese Anstrengung zeigte ein bedeutendes intellektuelles und politisches Potenzial der polnischen Eliten, das bis dahin in einem Dämmerzustand zu verweilen schien. In kurzer Zeit führte man eine ernsthafte Staatsreform durch und ersetzte die anachronistische Wahlmonarchie durch eine konstitutionelle Monarchie. Man gab dem Staat eine moderne Verfassung in Schriftform. Modernisiert wurden die Verwaltung, das Bildungssystem und die Armee. Man setzte auch gewisse Maßnahmen, um die rückständige soziale und wirtschaftliche Struktur des Landes zu ändern. Das Lager der Reformatoren erwies sich als schwach und die internationale Lage als ihren Unternehmungen äußerst abgeneigt. Sie stießen auf entschiedenen Widerstand der dominierenden konservativen Adelskreise. Die drei Teilungsmächte begannen Nervosität und Unruhe zu verspüren, als sie die Perspektive der Modernisierung und Stärkung des polnischen Staates wahrnahmen, den sie bereits als leichte Beute ansahen. Auch der größer werdende Konflikt mit dem republikanischen Frankreich bewog sie zu schnellem und entschlossenem Handeln – daher die in kurzem Zeitabstand rasch erfolgten zwei weiteren Teilungen. In den ersten Jahren nach der Katastrophe, die dem polnischen Staat widerfuhr, verhielt sich der polnische Adel weitgehend passiv und gleichgültig. Unter dem Schock infolge dieser Katastrophe schienen sich die Adeligen zum Großteil mit dem Schicksal abzufinden. Sie brachten den neuen, immerhin fremden Herrschern1 keinen nennenswerten Widerstand entgegen. Es sollte sich aber binnen 1



Eine grundlegende und die neueste Publikation, die die Einstellung der polnischen Gesellschaft angesichts des Verlustes der Unabhängigkeit aufzeigt: Jarosław Czubaty, Zasada „dwóch sumień”. Normy postępowania i granice kompromisu politycznego Polaków w sytuacjach wyboru (1795 –1815) [Der Grundsatz „zweier Gewissen”. Verhaltensnormen und die Grenzen des politischen Kompromisses der Polen in Wahlsituationen (1795 –1815)], Warszawa 2005, 719 S., besonders Kap. 1 (S. 20 –104) und 2 (S. 105 – 295, in Kap. 2 vor allem Unterkapitel 2.1, S. 105���������������������������������������������������������������������������������������  –140); ������������������������������������������������������������������������������������� darüber hinaus gibt er zahlreiche bibliographische Angaben. Die Situation spiegelt das folgende Zitat deutlich wider: „������������������������������������������������������ Po kilku latach od trzeciego rozbioru sytuacja na ziemiach dawnej Rzeczypospolitej nie dawała przedstawicielom władz zaborczych powodów do

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kurzer Zeit zeigen, dass Polen jetzt ein anderes Land war als noch 25 Jahre zuvor. Der entschiedene Protest gegen den neuen Ist-Zustand ging von der zahlenmäßig nicht sehr starken politischen Emigration aus, der es unter Mitwirkung des revolutionären Frankreichs gelungen war, in Norditalien polnische Militärtruppen, die sogenannten Legionen, aufzustellen. Dies geschah bereits im Jahr 1797. Die Entstehung und die Kämpfe der Legionen, so bedeutend im Hinblick auf die späteren polnischen Bestrebungen und Unabhängigkeitsaktionen, hatten eine enorme unmittelbare Bedeutung für den Beginn der nahezu zwanzig Jahre währenden Kooperation polnischer Patrioten mit dem zunächst republikanischen, danach kaiserlichen Frankreich. Die Wirkung konnte nicht hoch genug geschätzt werden. 1807, nach dem Sieg Napoleons über die 4. Koalition, entstand aus einem Teil des preußischen Teilungsgebiets das Herzogtum Warschau. Zwei Jahre später, infolge des Sieges im Krieg gegen die 5. Koalition, wurde das Herzogtum auf Kosten von unter österreichischer Herrschaft stehenden Gebieten wesentlich vergrößert. Es war damals bereits ein großer und geachteter Staat von der Größe des halben Territoriums des heutigen Polens (155.000 km2). Der Marsch gegen Russland im Jahr 1812 wurde von Napoleon als dritter polnischer Krieg bezeichnet. In der Absicht des Kaisers lag es, das Herzogtum um weite Gebiete im Osten zu erweitern, die nach der dritten Teilung unter russischer Herrschaft standen. Das Herzogtum war stark vom napoleonischen Frankreich abhängig, im Grunde genommen war es ein französisches Protektorat. Es war aber gleichzeitig ein Staat mit modernen napoleonischen Einrichtungen, geschickt verwaltet und militärisch stark. Für den erwähnten Krieg gegen Russland brachte das Herzogtum ein Heer von 100.000 Mann auf. Im Staat wurde eine Reihe radikaler Reformen durchgeführt, die die sozialen und wirtschaftlichen Strukturen modernisierten, mit der Aufhebung der Leibeigenschaft der Bauern an erster Stelle. Der Code Napoleon wurde eingeführt. Das Herzogtum, das im Übrigen ethnisch polnische Gebiete umfasste, kann als Urgebilde des polnischen Nationalstaates angesehen werden. Die polnische Bevölkerung empfand es eindeutig als einen polnischen Staat, wenn auch in einer stark beschnittenen Form. Daher erfreute er sich großer Sympathie und gesellschaftlicher Unterstützung, trotz der Beschwerlichkeiten aufgrund der französischen Dominanz. Innerhalb von nicht ganz 20 Jahren, die zwischen dem Fall der ehemaligen polnisch-litauischen Adelsrepublik (Rzeczpospolita) und dem Fall des Herzogtums Warschau lagen, kam es für die polnische Bevölkerung zu einer enormen und vielversprechenden Veränderung. szczególnego niepokoju. (…) Większość dawnych obywateli Rzeczypospolitej, jeśli nawet nie pogodziła się z sytuacją, która zapanowała na ziemiach polskich po 1794 r., na ogół potrafiła się w niej odnaleźć.“ [Einige Jahre nach der dritten Teilung war die Lage in den Gebieten des einstigen Polen-Litauens für die Vertreter der Teilungsmächte kein Anlass zur Beunruhigung. (…) Die Mehrheit der Bevölkerung konnte sich – sofern sie sich nicht überhaupt mit der Lage abgefunden hatte – in der neuen Situation gut wiederfinden.], (ebd., S. 171).

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Aufgrund der Erfahrungen aus den letzten Jahren der Existenz von PolenLitauen als auch jener aus der Zeit des Herzogtums Warschau erwies sich im Jahr 1815 in den polnischen Gebieten die Rückkehr zu der 1795 festgelegten Ordnung als unmöglich, sowohl hinsichtlich der Grenzen als auch hinsichtlich der internen Institutionen, die in den polnischen Gebieten von den Teilungsmächten eingeführt worden waren. Die Hauptursache war selbstredend der Widerstand Russlands gegen eine solche Lösung. Russlands Bestrebungen zielten darauf ab, das gesamte Herzogtum Warschau Russland anzuschließen, was dem Zarenreich nicht nur in den polnischen Gebieten, sondern generell in ganz Mitteleuropa eine sehr starke Position gesichert hätte2. Wichtig war dabei die Tatsache, dass der Ehrgeiz und die Bestrebungen Alexanders I. eine weitgehende Zustimmung bei polnischen politischen Eliten fanden. Bis kurz zuvor waren sie noch zum Großteil treu zu Napoleon gestanden – der erwähnte Fürst Adam Jerzy Czartoryski war dabei die Ausnahme. Die Niederlage des Kaisers der Franzosen rief in diesen Kreisen ein wahres Trauma hervor. Unter diesen Umständen und angesichts der Niederlage Napoleons wurde das Angebot eines polnisch-russischen Zusammenwirkens, das Alexander I. unterbreitete, als wahres Geschenk des Himmels angesehen, umso mehr, da man wusste, dass Alexander nicht nur von dem Wunsch geleitet wurde, die Unterstützung des polnischen Volkes zu gewinnen, um das gesamte Herzogtum Warschau zu übernehmen. Man wusste, dass er die Unterstützung der polnischen Eliten bei der beabsichtigen Reform des Zarenreichen im Geiste des Liberalismus benötigte. Man stellte sich vor, dass in naher Zukunft die Gründung eines polnisch-russischen Dualstaates möglich wäre, in dem die polnischen Elemente eine gleichwertige Stellung wie die russischen Elemente innehätten und die Polen alle nationalen Rechte zugestanden bekämen. Man begann sogar dahingehend erste Projekte auszuarbeiten. Von diesem Standpunkt aus war es wesentlich, unter der Herrschaft des russischen Zaren und zukünftigen Königs von Polen möglichst viele polnische Gebiete zu vereinen. Dies sollte ein Gleichgewicht zwischen den beiden riesigen Hälften – der polnischen und der russischen – der künftigen gemeinsamen Monarchie gewährleisten. Der Anschluss des gesamten Herzogtums Warschau an Russland war von diesem Standpunkt durchaus gerechtfertigt. * * * Der Wiener Kongress fasste seine Entscheidungen unter dem unmittelbaren Eindruck der Naturgewalt und der expansiven Rücksichtslosigkeit, mit der das zunächst revolutionäre und später das napoleonische Frankreich, das den Prototyp eines modernen Nationalstaates darstellte, ein Vierteljahrhundert seine Interessen 2



Man darf nicht vergessen, dass dies bereits der zweite Versuch Russlands war, die polnischen Gebiete zur Gänze oder nahezu zur Gänze zu übernehmen. In der 2. Hälfte des 18. Jhds. strebte Russland danach, die Kontrolle über die polnisch-litauische Adelsrepublik zu übernehmen. Die zusammen mit Preußen und Österreich durchgeführten Teilungen Polens machten diesen Plan zunichte.

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verfolgte. Bevor es infolge der vielen erschöpfenden Kriege besiegt wurde, gelang es Frankreich, nicht nur das europäische Kräftegleichgewicht vollkommen zu verletzen, sondern auch die politische und gesellschaftliche Ordnung sowohl einzelner Staaten als auch nahezu von ganz Europa zu erschüttern. Es vernichtete zahlreiche Staaten oder brachte sie an den Rand der Vernichtung. So war der Wiener Kongress indirekt noch von der Macht der nationalen Idee beeindruckt, die er als gefährlich und destruktiv erachtete. Daher bemühte er sich, bei seinen Lösungen einen solchen institutionellen Rahmen und eine solche staatlich-rechtliche Ordnung in Europa zu schaffen, die nationale Bestrebungen nicht so sehr ignorieren, sondern deren zerstörerisches Potenzial vielmehr im Keim ersticken würde. Es sei noch hinzugefügt, dass diese Haltung nicht ganz unbegründet war. Der Zusammenbruch des Werkes des Wiener Kongresses fällt nämlich in zeitlicher und räumlicher Hinsicht mit dem Beginn des Zeitalters hemmungsloser und tatsächlich zerstörerischer nationaler Bewegungen zusammen. Die Haltung der politischen Elite Europas unmittelbar nach dem Sieg über das napoleonische Frankreich ist vor allem an den Lösungen sichtbar, die der Wiener Kongress den Deutschen, Italienern und Polen aufoktroyierte. Die Gründung eines deutschen oder italienischen Nationalstaates lag ebenso jenseits des Willens, der Vorstellung und der Möglichkeit der Politiker – unabhängig davon, welchem Staat oder welcher Nation sie angehörten – wie der Wiederaufbau des polnischen Staates, ganz besonders in den Grenzen wie vor 1772. Man kam ziemlich einstimmig darin überein, dass die politische Ordnung, die man in dem politisch zerschlagenen Italien und Deutschland (also auf dem Gebiet des gerade im Entstehen begriffenen Deutschen Bundes) schuf, nicht mit den kulturellen, ja sogar mit den nationalen Bestrebungen jener Völker kollidieren würde. Entgegen dem Anschein nahm der Kongress eine ganz ähnliche Haltung in der polnischen Frage ein. Er schuf hier ein komplexes System, das nicht nur die wirtschaftliche Verbindung aller Gebiete garantierte, die zu Polen-Litauen vor der ersten Teilung gehört hatten, sondern auch nationale Institutionen für die Polen innerhalb der drei Teilungsgebiete, die verschiedenen Mächten einverleibt waren. Dies stellte einen außergewöhnlichen Fortschritt im Vergleich zu den Lösungen dar, die in den Teilungsverträgen etwas mehr als zwanzig Jahre zuvor angenommen worden waren. Polen war beim Wiener Kongress nicht vertreten. Der polnische Kongressteilnehmer Fürst Adam Jerzy Czartoryski (1770 –1861), ein polnischer Magnat und einer der seltenen polnischen Politiker der Zeit nach den Teilungen, der die Bezeichnung Staatsmann verdiente und damals noch ein enger Verbündeter von Zar Alexander I. war3, hatte zwar die Interessen seines Staates vor Augen und 3



Von den zahlreichen den Aktivitäten der langen, nahezu 70-jährigen und überaus vielfältigen und reichen Tätigkeit von Fürst A. J. Czartoryski gewidmeten Arbeiten, werden hier nur die „klassischen“ Werke erwähnt: Marceli Handelsman, Adam Czartoryski, Bd. 1– 3, hg. v. Stefan Kieniewicz, Warszawa 1948 –1951; Marian Kukiel, Czartoryski a���������������� ����������������� nd European Unity 1770 –1871 (Die EU und ihre Ahnen im Spiegel historischer Quellen, N.R. Bd. 7), Hannover

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verteidigte sie, jedoch nur insoweit, als dies mit den Interessen des russischen Zarenreiches zu vereinbaren war und zum Standpunkt der russischen Delega­ tion passte. Man muss hier jedoch hinzufügen, dass Czartoryski die Deckung der polnischen und russischen Interessen sehr umfassend verstand, sein Handeln war von hehrem Patriotismus geleitet. Aus mannigfaltigen Gründen erweckte die polnische Frage, die bis zu einem gewissen Grad mit dem Problem Sachsens verbunden war, die größten Kontroversen zwischen den Großmächten4. Es gab sogar einen Zeitpunkt, wo es beinahe zu einem Krieg zwischen ihnen gekommen wäre. Dies war einer der Gründe, warum der Wiener Kongress trotz seiner Hoffnungen und seines Bestrebens diese Frage nicht löste, sondern sie lediglich in ein neues Licht rückte; er schlug gewissermaßen ein neues Kapitel auf. Der Kongress errichtete den polnischen Staat in jener territorialen Form, die an das einzige bisher existierende Muster angeknüpft hätte, also wie 1772, nicht wieder. Er hat sich nicht einmal dazu entschlossen, das Herzogtum Warschau beizubehalten. Als Vorwand diente ihm der Kampf gegen die Überreste des verhassten napoleonischen Systems. Die Wiedererrichtung des polnischen Staates in der Gestalt wie vor dem Jahr 1772 (oder annähernd) war in den Augen Europas mit dem höchsten politischen Risiko behaftet, eine überaus gefährliche Operation vom Standpunkt der Beziehungen zwischen den Großmächten sowie des europäischen Gleichgewichts. Eine solche Forderung wurde als derart unrealistisch, ja sogar unseriös angesehen, sodass sich die englische Diplomatie angesichts der politischen Sackgasse, in der sich die Großmächte befanden, während des Wiener Kongresses ihrer bediente, um dadurch zu provozieren. Zwar wäre dann der soeben von der Landkarte Europas verschwundene Staat wieder aufgetaucht, aber man war sich dessen wohl bewusst, dass die Bestrebun-

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2008 (Nachdruck der Ausgabe: Princeton 1955); Jerzy Skowronek, Adam Jerzy Czartoryski 1770 –1861, Warszawa 1994. Zuletzt hat folgender Artikel ein zusätzliches Licht auf die Sicht der Tätigkeit A. J. Czartoryskis in der polnischen Bevölkerung des 19. Jhds. geworfen: Jerzy Zdrada, Książę Adam Czartoryski w oczach pokolenia powstania styczniowego [Fürst Adam Czartoryski in den Augen der Generation des Jänneraufstandes], in: Hubert Chudzio, Janusz Pezda (Hgg.), Wokół powstania listopadowego. Zbiór studiów [Rund ������������������������� um den Novemberaufstand. Studiensammlung], Kraków 2014, S. 381– 417. Die polnische Frage beim Wiener Kongress wird in zahlreichen polnischen Arbeiten behandelt, jedoch ist keine der bedeutendsten Arbeiten ausschließlich diesem Thema gewidmet. Klassische Darstellung: Andrzej Zahorski, Historia dyplomacji polskiej (1795 –1831) [Die �������� Geschichte der polnischen Diplomatie (1795 –1831)], in: Ludwik Bazylow (Hg.), Historia dyplomacji polskiej, t. 3: 1795 –1918 [Die Geschichte der polnischen Diplomatie, Bd. 3: 1795 –1918], Warszawa 1982, S. 5 – 229, v. a. Kap. 3, Unterkap. 1, 2, 3, S. 116 ff. Dieser Band bietet gleichzeitig ein vollständiges Bild der diplomatischen Bemühungen und daher auch ein Bild der polnischen Frage im weit gefassten 19. Jhd. in dieser Zeit. Zu den Entscheidungen des Wiener Kongresses in der polnischen Frage vgl. interessante Bemerkungen: Hans Henning Hahn, Der polnische Novemberaufstand von 1830 angesichts des zeitgenössischen Völkerrechts, in: Historische Zeitschrift (1982), Bd. 235, S. 85 –119.

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gen der polnischen Patrioten nicht darauf abzielten, das ohnmächtige und unlenkbare ehemalige Polen-Litauen auferstehen zu lassen, das Spielball fremder Armeen wäre und von fremden Botschaften regiert würde. Sie wollten vielmehr einen modernen, funktionierenden und auf internationaler Ebene aktiven Staat errichten. Die Rückkehr Polens auf die politische Landkarte Europas hätte demnach nicht die unlängst vergangene Situation zurückgebracht, sondern jene aus der Zeit vor 17005, als der Staat noch ein Akteur in den internationalen Beziehungen war und in der Lage war, große politische und militärische Anstrengungen auf sich zu nehmen. Niemand war fähig oder bereit, ein so abstraktes Szenario zu schaffen, am wenigsten die drei Teilungsmächte, die in den darauffolgenden Jahrzehnten die polnische nationale Befreiungsbewegung solidarisch bekämpften. Der Wiener Kongress bestätigte und fixierte die Entscheidungen hinsichtlich der Teilungen lediglich in dem Sinne, dass er den unabhängigen polnischen Staat nicht wiedererrichtete und die Aufteilung der Gebiete des ehemaligen Polen-Litauen zwischen den drei Teilungsmächten bestätigte. Die wichtigsten Bestimmungen in der polnischen Frage stammen aus zwei Hauptverträgen, die am 3. Mai 1815 zwischen Russland und Österreich sowie Preußen geschlossen wurden. Rufen wir sie kurz in Erinnerung: • Das Herzogtum Warschau wurde aufgelöst und sein Territorium zerschlagen – weite Gebiete im Norden und Westen kamen zu Preußen, aus Krakau wurde ein eigener Ministaat gemacht. • Die übrigen Gebiete des Herzogtums Warschau wurden Russland zuerkannt; aus ihnen entstand „für ewige Zeiten“ das Königreich Polen (Kongresspolen), das jedoch durch die Verfassung mit dem russischen Zarenreich verbunden war, der Zar sollte den Titel König von Polen tragen. • Der russische Zar versprach eine zukünftige „innere Ausweitung“ des Königreichs. • Man versprach für alle polnischen Untertanen der drei Teilungsmonarchien Institutionen zu schaffen, die ihnen die Erhaltung ihrer nationalen Rechte garantieren würden, der Umfang dieser Freiheiten war der Wahl der Herrscher dieser Staaten vorbehalten. • Großgrundbesitzern, die ihren Grundbesitz in verschiedenen Teilungsgebieten Polens hatten, sicherte man volle Eigentumsrechte zu. • Man garantierte das Recht auf freien Wirtschafts- und Handelsverkehr zwischen allen Gebieten, die vor 1772 zu Polen-Litauen gehört hatten. 5



In Mittel- und Osteuropa erfolgte innerhalb weniger Jahre um 1700 ein wahrer politischer Umsturz: Österreich war es gelungen, die Gebiete der Ungarischen Krone zurückzuerobern; die Grenze mit der Türkei wurde so gezogen, wie sie, abgesehen von geringen Änderungen, bis zum Ende der Monarchie verlief; Preußen und Russland erwuchsen zu Großmächten; Schweden verlor den Status einer Großmacht; die Türkei wurde in die Defensive gedrängt und schließlich – am spektakulärsten – Polen wurde von einem Subjekt zum bloßen Objekt in den internationalen Beziehungen.

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Diese Bestimmungen wurden in Polen und in der polnischen Tradition im Allgemeinen sehr kritisch beurteilt, häufig wurde die Meinung vertreten, der Kongress hätte eine vierte Teilung Polens vorgenommen. Dies ändert nichts an der Tatsache, dass die Teilungen zugunsten der Polen erheblich modifiziert wurden und der Kongress viel dazu beigetragen hat, um ihnen den Verlust eines eigenen Staates zu rekompensieren6. Bei der Analyse der Kongressbestimmungen in der polnischen Frage muss man drei Faktoren, die vor dem Hintergrund ihres weiteren Schicksals sowie insgesamt des weiteren Schicksals des Werks des Wiener Kongresses wesentlich sind, hervorheben. Die polnischen nationalen Rechte wurden generös und in breitem Umfang zuerkannt: Sie sollten die ganze polnische Bevölkerung im gesamten Gebiet des ehemaligen Polen-Litauen umfassen. Es fehlte offenbar nur mehr die Schaffung einer allgemeinpolnischen Institution, um die polnischen nationalen Rechte zu vervollständigen7. Auffallend ist die zweifache Erwägung der Idee einer Vereinigung aller Gebiete des alten Königreichs Polen-Litauen. Es waren damals jedoch bereits mehr als 40 Jahre seit der ersten Teilung verstrichen. Auffallend ist in diesem seriösesten von allen im 19. Jahrhundert geschlossenen europäischen Verträgen die Rückkehr zur Bezeichnung Polen und Königreich Polen8. Rufen wir uns in Erinnerung, dass die Begriffe „Polen, polnisch“ nach 1795 aus der Sprache der Diplomatie und der internationalen Beziehungen mangels eines Designats eliminiert wurden; sie traten nicht einmal in der Verfassung des Herzogtums Warschau auf. Sehr eindrucksvoll sind die freiwilligen Verpflichtungen der drei Teilungsmächte, die sie sich im Übrigen selbst auferlegt hatten, die nationalen Rechte der polnischen Bevölkerung zu respektieren. Diese Bemerkung bezieht sich vor allem auf Russland, dessen Herrscher sich nicht nur dazu verpflichtet hatte, Kongresspolen eine Verfassung zu geben, sondern auch anerkannte, dass dies eine unabdingbare Voraussetzung für die staatliche Bindung von Polen an das Zarenreich war, obwohl beide Staaten denselben Herrscher hatten. Im Vertragstext erkennt man hingegen ganz leicht vom polnischen Standpunkt aus riskante, ja sogar gefährliche Bestimmungen. Die wichtigste von ihnen war, dass man die Herrscher der Teilungsmächte nach eigenem Gutdünken entscheiden ließ, in welchem Umfang sie ihren polnischen Untertanen Freiheiten 6



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Es geht hier v. a. um die Schaffung des Königreichs Polen, die Jerzy Zdrada als „die für das polnische Volk nach der Niederlage Napoleons von allen möglichen Lösungen beste“ betrachtet, wobei diese Einschätzung zur allgemein anerkannten Meinung wurde, vgl. Jerzy Zdrada, Historia Polski 1795 –1914 [Geschichte Polens 1795 –1914], Warszawa 2005, S. 93. Vgl. Hans Henning Hahn, Außenpolitik in der Emigration. Die Exildiplomatie Adam Jerzy Czartoryskis 1830 –1840, München 1978, S. 27, Anm. 14. Der Verfasser hält die Berufung einer solchen Institution für den größten „Mangel“ der Bestimmungen des Kongresses in der polnischen Frage). Der polnische Nationalheld Tadeusz Kościuszko schrieb an den Fürsten Czartoryski, dass das polnische Volk Zar Alexander für die „Wiederbelebung des bereits verlorenen polnischen Namens“ dankbar sein sollte.

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gewähren. Es wurde hingegen kein Kontrollsystem geschaffen, das für die Einhaltung der erhaltenen nationalen Rechte hätte sorgen können. Sogar die weitgehende Zusicherung, dass das „Königreich Polen“ durch seine Verfassung mit dem russischen Zarenreich verbunden sein würde, wurde durch den Umstand abgeschwächt, dass die Verfassung dem Staat aufoktroyiert war. So wie sie dem Staat gegeben wurde, so konnte sie auch durch eine einseitige Bestimmung des Zaren widerrufen werden. Genau diese Entscheidung traf der Nachfolger Alexanders I., Zar Nikolaus I. Man muss dabei auf den Widerspruch zwischen der Eindeutigkeit der vertraglich garantierten nationalen Rechte und der Zweideutigkeit ihres Verständnisses seitens der Teilungsmächte hinweisen. Diese Garantien waren allen Polen in allen drei Teilungsgebieten zuerkannt, die drei Herrscher schienen jedoch eine Interpretation zu bevorzugen, nach der die Garantien für jene polnischen Gebiete zu gelten hätten, die infolge der Entscheidungen des Kongresses ihren Staaten angegliedert wurden. Für den Zaren wären es demnach Gebiete im Königreich Polen und für den preußischen König jene Gebiete, die vom Herzogtum Warschau an Preußen abgetreten wurden. So meinte Letzterer, er sei verpflichtet, sich nur im sogenannten Großherzogtum Posen an die Garantien halten zu müssen, das nicht das gesamte nach der Abschaffung des Herzogtums Warschau an Preußen angeschlossene Gebiet umfasste9. Auf diese Weise wurde die polnische Frage geschaffen. Im Europa des 19. Jahrhunderts gab es mehrere solche Fragen – die östliche Frage, darunter die griechische (sie entstand im Grunde genommen parallel zu der polnischen), die italienische, die deutsche, und in einem relativ kurzen Zeitraum auch die ungarische, ja sogar die rumänische10. Sie alle wurden bis zum Ende der besprochenen Epoche, also bis 1918, besser oder schlechter gelöst. Die einzige Ausnahme bildete die polnische Frage. Vom emotionalen Standpunkt aus standen der polnischen Bevölkerung die – scheinbar der polnischen Frage ähnlichste – italienische sowie die ungarische Frage am nächsten. Hinsichtlich des Ausmaßes, der Komplexität und   9

In dem alten Werk von Stanisław Karwowski, Historia Wielkiego Księstwa Poznańskiego, t. 1– 3 [Geschichte des Großherzogtums Posen, Bd. 1– 3], Poznań 1913 –1931 (Neudruck: War���� szawa�������������������������������������������������������������������������������������� 1981), können wir Schritt für Schritt die Vorgangsweise der preußischen Behörden verfolgen, welche diese einengende Sichtweise auf die Garantien der nationalen Rechte in dem übernommenen Gebiet aufzeigt (Bd. 1, S. 1– 6). 10 Vgl. Henryk Wereszycki, Sprawa polska w XIX wieku, in: Stefan Kieniewicz (Hg.), Polska XIX wieku. Państwo – społeczeństwo – kultur������������������������������������������������� a [Polen im 19. Jhdt. Staat – Gesellschaft – Kultur], Warszawa 1977, S. 121–161. Vgl. auch: Hans Henning Hahn, Polskie ����������������������� powstania i europejski system wielkich mocarstw. Rozważania nad międzynarodowymi uwarunkowaniami polskich walk niepodległościowych w XIX w. [Die polnischen Aufstände und das europäische System der Großmächte. Überlegungen zu den internationalen Determinanten der polnischen Unabhängigkeitskriege im 19. Jahrhundert], in: Hans Henning Hahn, Stereotyp – tożsamość – konteksty. Studia nad polską i europejską historią ��������������������������������������� [Stereotyp – Identität – Kontexte. Studien zur polnischen und europäischen Geschichte] (Poznańska Biblioteka Niemiecka, Bd. 33), Poznań 2011, S. 335 – 349.

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der langen Dauer kann die polnische Frage am ehesten mit der östlichen verglichen werden. Was die Wichtigkeit und die Bedeutung für Europa betrifft, steht sie hingegen der deutschen Frage am nächsten11. Unter den Bestimmungen des Wiener Kongresses in der polnischen Frage verdienen vor allem die Bestimmungen über die neue politische Teilung des polnischen Gebietes unsere Aufmerksamkeit. Die neuen Linien der territorialen Aufteilung spiegelten die gesamte „Philosophie“ der neuen politischen Ordnung in Europa, die in Wien festgelegt wurde, am besten und am deutlichsten wider. Die Grenzlinien bestimmten die Entwicklung der polnischen Frage während des gesamten 19. Jahrhunderts. Die neue Grenzordnung der polnischen Gebiete resultierte direkt aus dem Willen der Siegermächte, die von Napoleon etablierte politische Ordnung – wie überall – zu beseitigen, somit auch das Herzogtum Warschau. Erst an zweiter Stelle stand der Wille, sich mit der polnischen Frage überhaupt zu befassen12. Sogar hier ist jedoch ein gewisser Pragmatismus im Standpunkt der Kongressmächte zu bemerken, die dazu tendierten, bestimmte Aktivitäten aus Furcht vor zu hohen Kosten, die diese mit sich brächten, zu vermeiden. Sie hatten eine Schlüsselbedeutung für die Neuregelung der polnischen Frage im nächsten Jahrhundert. Sie bezogen sich aber auch ganz konkret hic et nunc auf die „Konkursmasse“ nicht des zwanzig Jahre zuvor endgültig in „Konkurs“ untergegangenen Polens, sondern auf das Herzogtum Warschau. Was den Grenzverlauf selbst betrifft, so bildeten den Ausgangspunkt für die in Wien getroffenen Grenzentscheidungen eben die Grenzen des Herzogtums. Einen weiteren Bezugspunkt stellten die durch die aufeinanderfolgenden Teilungsakte und Änderungen aus den Jahren 1807 und 1809 festgelegten Grenzen. Die Erinnerung an die Grenzen Polens vor den Teilungen spielte eine marginale Rolle. Russland war es nicht gelungen, das ganze Gebiet seinem Staatsgebiet einzuverleiben. Das neu geschaffene Königreich Polen war um etwa ein Viertel kleiner als das Herzogtum Warschau. Russland war daher gezwungen, zugunsten von Preußen auf weitläufige und wichtige Gebiete im Westen und Nordwesten des Herzogtums zu verzichten, also im Grunde genommen auf die Departements Bromberg (Bydgoszcz) und Posen (Poznań). Eine gewisse, weniger bedeutende Änderung gab es auch an der südlichen Grenze des Herzogtums mit Österreich. Vom Territorium des ehemaligen Herzogtums wurde die Stadt Krakau mit einem kleinen, künstlich abgesteckten Gebiet abgesondert und als eine separate politische Einheit (Freie Stadt Krakau), die in der polnischen Tradition als Republik 11

Vgl. Hans Henning Hahn, Deutschland und Polen in Europa. Überlegungen zur Interdependenz zweier nationaler Fragen im 19. Jahrhundert, in: Dietmar Storch, Hans Henning Hahn (Hgg.), Polen und Deutschland. Nachbarn in Europa, Hannover 1995, S. 4 –16. 12 Man kann anmerken, dass die Institutionen des Herzogtums dauerhafter waren als das Herzogtum selbst. Zahlreiche und wesentliche Elemente des Systems des Herzogtums gingen in das System des Königreichs Polen ein.

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Krakau (Rzeczpospolita Krakowska) bezeichnet wird, etabliert. Allen Verhandlungsparteien in Wien, selbstverständlich mit Ausnahme Russlands, besonders aber den zwei deutschen Mächten, war sehr daran gelegen, dass Russland nicht beide Hauptstädte des ehemaligen Polen-Litauen erhielte, also sowohl Warschau als auch Krakau, umso mehr, als die dritte Hauptstadt, also Wilna (Vilnius), die Hauptstadt des ehemaligen Großfürstentums Litauen, schon seit 1795 zu Russland gehörte. Diese Änderungen, eine Folge der Reibereien vor allem der drei Teilungsmächte, hatten vom Beginn an eine enorme Bedeutung, eine viel größere als man bei ihrer Vornahme glaubte. Bei der Durchführung richteten sich die Siegermächte ausschließlich nach dem Prinzip des Kräftegleichgewichts zwischen den Großmächten, vor allem den kontinentalen Teilungsmächten. Genauer gesagt ging es darum, ein übermäßiges und als gefährlich betrachtetes Anwachsen der russischen Macht zu verhindern. Dazu hätte es kommen können, und vielleicht wäre es auch dazu gekommen, wenn sich Russland das gesamte Gebiet des Herzogtums Warschau einverleibt hätte. Die neue Grenzziehung aufgrund der Neuentscheidung in der polnischen Frage brachte jedoch tatsächlich ein Kräftegleichgewicht in Mittel- und Osteuropa, also indirekt in der gesamteuropäischen Dimension, eine völlig neue Qualität. Die Entscheidungen des Wiener Kongresses brachten – wir wollen es wiederholen – eine neue Qualität in der Geschichte Polens nach den Teilungen. Sie schufen vom polnischen Standpunkt aus eine neue Hierarchie des Gewichts zwischen den drei Teilungsmächten und trugen so dazu bei, dass sich neue Orientierungen und neue Prioritäten in der polnischen Politik bildeten. Im Jahr 1795 hatte Russland ca. 60% der polnischen Gebiete unter seiner Herrschaft, dies waren jedoch ausnahmslos arme, schwach besiedelte Randgebiete mit einer geringen wirtschaftlichen Entwicklung; sie waren wirtschaftlich untereinander genauso wenig verbunden wie mit den Gebieten im Zentrum und im Westen Polens. Die dortige Bevölkerung war zum Großteil im ethnischen Sinne nicht polnisch, sondern vor allem ruthenisch und litauisch mit einem großen jüdischen Anteil. Im religiösen Sinne war sie nicht katholisch, sondern größtenteils griechisch-katholisch oder orthodox. Die polnische Bevölkerung war in diesem Gebiet breit, aber nicht sehr stark angesiedelt. Die zentral- und westpolnischen Gebiete, westlich der Flüsse Bug und Sbrutsch, weit besser entwickelt als die im Osten gelegenen und überdies im ethnischen Sinne polnisch und im religiösen Sinne katholisch, hatten die beiden deutschen Mächte Österreich und Preußen je zur Hälfte unter sich aufgeteilt. Als Russland die östlichen Gebiete für sich einnahm, war es auf dem besten Wege dazu, allem Anschein zum Trotz, sehr rasch den Ruf der wichtigsten und gefährlichsten Teilungsmacht zu verlieren. Die Ankündigung einer solchen Entwicklung der Beziehungen zwischen dem polnischen Element (also automatisch dem Adel) und dem russischen Staat war die Entstehung relativ korrekter Verhältnisse zwischen diesen beiden „Partnern“ in den ersten Jahren

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nach der dritten Teilung. Sie gestalteten sich dort deutlich besser als in den beiden anderen Teilungsgebieten Polens. Wäre Russland nach dem Wiener Kongress im Westen, also im polnischen Teil, bei den Grenzen von 1795 geblieben, wäre es vermutlich das Etikett des größten Feindes Polens und seiner Bevölkerung rasch losgeworden, da es ganz einfach nicht mehr dieser Feind gewesen wäre. Dadurch wären die polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen im russisch besetzten Gebiet wesentlich schwächer geworden, die antirussische Spitze wäre abgestumpft und Russland hätte die ehemals polnischen Gebiete mit den restlichen Territorien des Zarenreichs fest verbunden. Sie hätten vermutlich innerhalb des russischen Reiches ähnlich den drei sogenannten baltischen Gouvernements funktioniert, deren deutsche und protestantische Eliten es verstanden hatten, sich eine gute Position in Russland zu sichern, das Vertrauen der Behörden und noch viel stärker das der Herrschenden zu gewinnen. Russland gelangte jedoch 1815 in den Besitz des Königreichs Polen, also des überwiegenden Teiles des Herzogtums Warschau. Das polnische Gebiet war nicht nur das begehrteste und selbstverständlichste, sondern das sich den russischen Expansionsbestrebungen unmittelbar am meisten aufdrängende Gebiet. Angesichts des so wesentlichen russischen Beitrags zum Sieg über das napoleonische Frankreich konnte und wollte das Zarenreich auf dieses Land nicht verzichten. Beim Kongress blieb Russland jedoch in diesem „Drang nach Westen“ stehen oder vielmehr wurde es auf halben Weg aufgehalten. Es übernahm das Herzogtum Warschau, jedoch in den wichtigsten Teilen beschnitten, nämlich im Nordwesten und im Westen. Rufen wir uns in Erinnerung, dass die am weitesten im Nordwesten gelegenen Gemeinden des Herzogtums von Danzig, das im Übrigen Napoleon 1807 von Preußen getrennt hatte, und von der Ostsee in direkter Linie nicht ganz 100 km entfernt waren, und seine am weitesten im Westen gelegenen Gemeinden nicht viel weiter weg von Berlin waren. Alexander und die russischen Eliten, die maximale Vorteile aus dem russischen Sieg über Napoleon ziehen wollten, strebten danach, das gesamte Herzogtum Warschau zu übernehmen. Dies war auch der größte Wunsch des erwähnten Fürsten Adam Jerzy Czartoryski und gleichgesinnter polnischer Politiker. Der Anschluss des gesamten Herzogtums an Russland stellte die polnische Frage in ein neues Licht und auf ein anderes Niveau als dies bisher der Fall war und später der Fall sein sollte. Polen hätte ein viel größeres Eigengewicht gewonnen – sowohl in den internationalen Beziehungen als auch innerhalb des Zarenreiches. Zar Alexander hätte nicht so leicht hinsichtlich der von ihm so ungeschickt angesprochenen „inneren Ausweitung“ des Herzogtums, also des Anschlusses daran zumindest jener polnischer Gebiete, die Russland infolge der drei Teilungen erhalten hatte, zur Tagesordnung übergehen können. Auch wenn ein solches Projekt in eingeschränktem Umfang realisiert worden wäre, hätte dies dem polnischen Element in jeder Hinsicht eine viel stärkere politische Position beschert als dies nach

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1815 der Fall war. Die polnisch-russische Vereinbarung hätte dann anders aussehen und anders funktionieren müssen. Russland hätte nach und nach die Rolle der Teilungsmacht verloren. Eine solche Vereinbarung hätte mit Sicherheit eine weitgehende Änderung der Struktur des russischen Staates notwendig gemacht. Möglicherweise hätte sich Russland auf jenem Weg befunden, den das österreichische Kaiserreich 1859 betreten hatte und der dazu führte, dass dieses in eine dualistische Monarchie umgewandelt wurde. Was nun die zweite gefährliche Teilungsmacht, also Preußen, betrifft, so beschränken wir uns hier auf folgende Anmerkung: Hätte man für Preußen nach 1815 dieselben östlichen Grenzen, folglich jene mit Polen und Russland, beibehalten, die es 1807 hatte, dann hätte es allmählich die Position einer wichtigen und unversöhnlichen Teilungsmacht verloren. In den polnischen Unabhängigkeitsbestrebungen wäre Preußen langsam auf jenes Niveau gefallen, auf dem sich Russland befunden hätte, wenn seine Herrschaft über die polnischen Gebiete im Jahr 1815 so verblieben wäre wie im Jahr 1795. In einem solchem Kontext hätte der polnische Plan zur Erlangung der Unabhängigkeit und Wiedererrichtung des Staates gegenüber Preußen eine umsichtigere und weniger entschlossene Haltung vorgesehen und sich auf ein kleines Gebiet bezogen. Bedenken wir, dass Preußen nach 1815 in polnischen Unabhängigkeitsprogrammen und -bestrebungen sehr lange relativ mild und verständnisvoll behandelt wurde. Die Wiedererlangung von Großpolen mit Posen stand zwar stets im Zentrum der polnischen Rückgabeforderungen, und niemand konnte sich einen künftigen neu erstandenen polnischen Staat ohne diese Provinz vorstellen, aber die Rückgabeforderung von Weichselpommern (Pommerellen), das die Deutschen im 19. Jahrhundert als Westpreußen bezeichneten, und das – genauso wie Großpolen – zur polnischen Adelsrepublik gehört hatte, tauchte in diesem Kontext seltener und weniger nachhaltig auf. Was Ermland betrifft – ein kleines Gebiet, das keilförmig in das deutsche Ostpreußen hineinragte –, so sprach man von einer Rückkehr dieses Teiles in ein neuerstandenes Polen nur selten. Bis zum Jahr 1848, in mancher Hinsicht sogar bis zum Beginn der 1860er Jahre, wurde Preußen in der polnischen Meinung mit einer gewissen Zurückhaltung, ja sogar mit Nachsicht betrachtet, es galt als die am wenigsten bedrohliche Teilungsmacht. Erst als Otto von Bismarck an die Macht kam, besonders aber, nachdem er Reichskanzler des Deutschen Reiches geworden war, begann die polnische Öffentlichkeit die Bedrohung durch Preußen für das polnische Unabhängigkeitsbestreben und sogar für lebenswichtige Interessen des polnischen Volkes sehr ernst zu nehmen. Es ist lediglich anzumerken, dass dem plötzlichen „Erwachen“ der polnischen Öffentlichkeit angesichts der offen anti-polnischen und brutalen Vorgangsweise Bismarcks und seiner Kreise eine ganze Reihe von Handlungen der preußischen Machthaber vorausgingen, die die Bewohner des preußischen Teilungsgebiets tief enttäuschte. Besonders groß war die Enttäuschung über den Verlauf der Revolution von 1848 in diesem Gebiet.

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In diesem Kontext ist die Position von Österreich/Österreich-Ungarn unter den Teilungsmächten schwer eindeutig zu definieren. Als einzige Teilungsmacht hat Österreich an der zweiten Teilung nicht teilgenommen. Die bei der dritten Teilung erworbenen Gebiete verlor es nach 14 Jahren. Unter diesen Umständen ist die Stabilität der österreichischen Regierung in Galizien, das bei der ersten Teilung erworben wurde, besonders hervorzuheben. Galizien gehörte nahezu eineinhalb Jahrhunderte (146 Jahre) dem österreichischen Imperium an, ein Zeitraum, der hinsichtlich seiner Dauer mit dem Zeitraum zwischen dem Ende des Dreißigjährigen Kriegs und dem Beginn der revolutionären Bewegungen und der napoleonischen Kriege (144 Jahre) verglichen werden kann. Verwunderlich war die Stabilität des Gebiets dieses österreichischen „Kronlandes“ mit der eigenartigen Bezeichnung Königreich Galizien und Lodomerien, den völlig künstlichen Grenzen und einer eigenartigen Gestalt, das dem Hauptteil der habsburgischen Erbländer willkürlich „angehängt“ wurde. Von den wenigen Änderungen der Grenze Galiziens zwischen 1772 und 1918, die so gering waren, dass man sie auf einer Landkarte schwer zeigen könnte, war die Einverleibung der Republik Krakau im November 1846 von größter Bedeutung, obwohl sie das kleinste Gebiet betraf. Bei der Analyse der internen Verhältnisse in Galizien, seiner Stellung innerhalb der Habsburgermonarchie und seiner Bedeutung für die polnische Frage finden wir zahlreiche Paradoxa. Von den drei Teilungsmächten war Österreich an den Teilungen Polens am wenigsten interessiert. Der Besitz polnischer Gebiete hatte in diesem Fall vom Standpunkt der österreichischen Position als Großmacht eine geringere Bedeutung, als dies bei Russland und Preußen der Fall war. Bei den Entscheidungen in der polnischen Frage während des Wiener Kongresses war Österreichs Engagement ein anderes als das der beiden anderen Teilungsmächte, da es am Streit um die Aufteilung des Herzogtums Warschau nicht teilnahm, obwohl es mehr Titel dazu gehabt hätte als Russland. Dennoch lag Österreich sehr daran, an den beim Wiener Kongress getroffenen Entscheidungen in Bezug auf Polen festzuhalten, vor allem an der weiteren Herrschaft über Galizien. Dieses weitläufige Land, die am äußersten Rand der Monarchie gelegene Provinz, war von Wien sehr weit entfernt, wenig bekannt und wurde als nahezu halbwild betrachtet. Die Perspektive, Galizien zu verlieren, wurde in Wien für die Position und Stärke des Staates als weniger gefährlich angesehen, als der Verlust der polnischen Besitztümer in Russland oder Preußen erachtet wurde. Keine Regierung der Teilungsmächte zog die Möglichkeit des Tausches ihrer polnischen Gebiete gegen ein anderes, nicht-polnisches, so ernsthaft in Betracht wie die österreichische dies hinsichtlich Galiziens tat – am häufigsten wurden in diesem Zusammenhang zwei rumänische Fürstentümer genannt. Andererseits ging mit dieser geringschätzigen Haltung Wiens gegenüber Galizien die bereits erwähnte überraschende Stabilität der österreichischen Herrschaft über dieses Gebiet einher sowie eine weitgehende Akzeptanz der österreichischen Regierung in Galizien bis zur Hälfte des 19. Jahrhunderts, die in der politischen Passivität und dem Fehlen eines ernsthaften

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Widerstandes zum Ausdruck kam sowie später in einer stark manifestierten Loyalität der polnischen Bevölkerung gegenüber Wien. Im Kontext der Kongressbestimmungen über den neuen Grenzverlauf zwischen den drei Teilungsmächten muss man zwei Grenzen besonders hervorheben, die üblicherweise mit den Namen der Flüsse bezeichnet werden, die in einer beträchtlichen Länge diese Grenzen absteckten – die Flüsse Bug und Sbrutsch. Beginnen wir mit der Bemerkung, dass sich der beim Wiener Kongress festgelegte oder auch nur bestätigte Grenzverlauf der polnischen Gebiete als überraschend stabil erwies, obwohl die meisten Grenzen sehr willkürlich und weder historisch noch sozial-wirtschaftlich begründet waren. Sie bestanden so lange, wie die Teilungsmächte bereit waren, sie zu respektieren, genauer gesagt so lange, bis sie in eine militärische Auseinandersetzung gerieten, was bekanntlich erst 1914 der Fall war. Völlig unnatürlich war die Grenze zwischen Russland und Preußen im gesamten Bereich des ehemaligen Herzogtums Warschau. Historische Wurzeln hatte lediglich der alte nördliche Teil der Grenze zwischen den beiden Staaten, der gleichzeitig die Grenze zwischen Russland und Ostpreußen darstellte. Ganz willkürlich verlief auch die nördliche Grenze Galiziens, obwohl diese – erinnern wir uns daran – im Jahr 1815 bereits eine gewisse Tradition hatte, da sie während der ersten Teilung Polens 1772 festgelegt worden war. Erstaunlich dauerhaft und im Zeitverlauf widerstandsfähig erwiesen sich zwei Grenzlinien, die vom europäischen Standpunkt von großer Bedeutung sind. Die erste, weniger wichtige Grenze entlang des Sbrutsch war die östliche Grenze Galiziens. Sie verlief von Nord nach Süd durch größtenteils ukrainisch besiedelte Gebiete. Diese Grenze entstand, wie alle Grenzen Galiziens, im Jahr 1772 im Zuge der ersten Teilung Polens. Sie überdauerte den Zusammenbruch der Habsburgermonarchie und blieb als südlicher Teil der östlichen Grenze des wiedererstandenen polnischen Staates bis zu dessen Auslöschung im Jahr 1939 bestehen. Danach wurde sie unter völlig anderen historischen Gegebenheiten in den Jahren 1941–1944 als der östlichste Teil der Ostgrenze des Generalgouvernements, also jener vom Dritten Reich geschaffenen Verwaltungseinheit, die einen Teil des Staatsgebietes des Vorkriegspolens umfasste, wieder festgelegt. Mit einer kurzen zweijährigen Pause galt diese Grenze also genau 170 Jahre. Die Dauerhaftigkeit der Grenze am Sbrutsch, zu der die 1815 in Wien gefallenen Entscheidungen beitrugen, resultiert in großem Maße aus der Tatsache, dass sie bis zu einem gewissen Grad einen Teil der großen „östlichen Grenze der westlichen Zivilisation“ darstellt, also eine riesige Grenzlinie, die seit über fünf Jahrhunderten die Welt der westlichen christlichen Zivilisation von der Welt der östlichen christlichen Zivilisation trennt13. 13

Vgl. Samuel P. Huntington, Kampf der Kulturen. Die Neugestaltung der Weltpolitik im 21. Jahrhundert, Hamburg 2006, S. 251– 252 (englische Originalausgabe u. d. T.: The Clash of Civilizations).

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Die zweite und wichtigere Grenze von fundamentaler historischer Bedeutung ist die Grenze auf dem Fluss Bug. Zu ihrer Festigung und fast auch ihrer Entstehung trug der Wiener Kongress entscheidend bei. Die diesbezügliche Entscheidung auf dem Kongress wurde nicht ex nihilo getroffen, sie war bereits die Grenze zu Russland nach der dritten Teilung. Vor dem Wiener Kongress galt diese Grenze, de facto die ethnische Grenze zwischen dem polnischen katholischen und dem orthodoxen/griechisch-katholischen ruthenischen Gebiet, zwanzig Jahre lang. Zunächst trennte sie auf dem polnischen Gebiet die preußischen und österreichischen Besitztümer von den russischen, danach wurde sie zur Ostgrenze des Herzogtums Warschau, zur östlichsten Grenze des napoleonischen Europas. Nach 1815 wurde sie gemäß den Kongressbestimmungen zur Ostgrenze des Königreichs Polen und war dies nahezu genau 100 Jahre lang. Sie hatte ziemlich lange – eindeutig jedoch 15 Jahre lang nach 1815 – eine doppelte Funktion. Einerseits war sie die äußere Grenze des russischen Zarenreiches sensu stricto, ohne seine beide autonomen Teile (Königreich Polen und Großherzogtum Finnland), andererseits die innere Grenze, die das autonome Königreich vom übrigen Gebiet des gesamten russischen Kaiserreiches trennte, von dem es (ähnlich wie Finnland) ein Teil war. Sie erinnerte damit in hohem Maße an die Grenze zwischen den österreichischen Königreichen und Ländern einerseits und dem Königreich Ungarn andererseits nach 1867. Der Fluss Bug war nicht nur 20 Jahre lang vor dem Kongress ein Grenzfluss, sondern – und vor allem – 200 Jahre lang nach dem Kongress, also bis zum heutigen Tag, mit einer relativ kurzen Unterbrechung von 1913 bis 1939. In Mittelund Osteuropa ist das eine Grenze von außergewöhnlicher Stabilität. Sie wurde erst am Vortag des Ersten Weltkriegs vom zaristischen Russland verletzt, davon wird noch etwas später die Rede sein. Nachdem Polen 1918 seine Unabhängigkeit wiedererlangt hatte, hatte sie nicht mehr die Funktion der polnischen Staatsgrenze, die gemäß den Bestimmungen des Vertrags von Riga vom März 1921 weiter nach Osten verschoben wurde. Nach der Niederlage und Auflösung des polnischen Staates im Herbst 1939 wurde sie an die ursprüngliche Stelle gerückt und war wieder die westliche Grenze der Sowjetunion. War sie es von 1939 bis 1941 in beschränktem Umfang und quasi provisorisch, so wurde sie nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs aufgrund internationaler Verträge zur sowjetischen Westgrenze. Dabei hatte sie mehr als ein halbes Jahrhundert lang wieder eine doppelte Funktion: sie war die Grenze zwischen Polen und der UdSSR und gleichzeitig zu zwei Sowjetrepubliken – Weißrussland und Ukraine. Der Zerfall der UdSSR veränderte nichts an dem Verlauf der Grenze, sie verlor lediglich ihre doppelte Funktion. Somit beschränkten sich die Grenzänderungen des polnischen Gebiets in den Jahren 1815 bis 1914 auf zwei relativ unbedeutende Episoden, die vom polnischen Standpunkt natürlich viel wichtiger waren als vom europäischen. Die erste fand im November 1846 statt, als die Republik Krakau beseitigt und ihr Gebiet dem

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österreichischen Galizien angeschlossen wurde. Obwohl diese Entscheidung ein kleines Gebiet mit wenigen Bewohnern betraf, war sie in Bezug auf die Stabilität der Wiener Ordnung sehr wichtig. Sie verletzte offenkundig die Kongressbestimmungen und rief zahlreiche Proteste der polnischen Seite hervor. Die zweite Episode fand 1912, also vor dem Ausbruch des Ersten Weltkriegs, statt, und betraf die Grenze zwischen dem russischen Zarenreich und dem Königreich Polen, das ein Teil dieses Reiches war14. Die zaristische Regierung beschloss auf dem linken, westlichen und „polnischen“ Ufer des Bugs ein neues Gouvernement zu errichten, dieses vom Königreich abzutrennen und dem Zarenreich direkt einzugliedern. Da die Autonomie des Königreichs Polen als Teil des Zarenreiches niemals ganz aufgehoben worden war und seine Grenzen beim Wiener Kongress festgelegt worden waren, kann man annehmen, dass diese späte Änderung indirekt eine Revision der Kongressbestimmungen darstellte. Diese Entscheidung der zaristischen Regierung, über die sich die polnische Bevölkerung empörte, hat eine symbolische Dimension, die die Verschlechterung der polnisch-russischen Beziehungen sowie die Schwächung der politischen Position des polnischen Elements in Russland sehr gut illustriert. Zar Alexander I. hatte 1815 in Wien feierlich versprochen, er werde die „innere Ausweitung“ des soeben geschaffenen Königreichs vornehmen. Man hatte angenommen, dass er zumindest einen Teil der ehemaligen polnischen Ostgebiete, die dem Zarenreich direkt einverleibt waren, an Kongresspolen anschließen würde. Hundert Jahre später entriss Zar Nikolaus II. demselben Kongresspolen eines der Grenzgouvernements mit der Begründung, dass dort eine beträchtliche russische orthodoxe Minderheit lebe und somit das Gebiet unmittelbar zum Zarenreich gehörten sollte. Viel dynamischer und zugleich dramatischer gestaltete sich die Lage der durch willkürliche, unnatürliche und stabile Grenzen zwischen den Teilungsgebieten geteilten polnischen Bevölkerung hinsichtlich der ihr zuerkannten nationalen Rechte15. In den hundert Jahren der Geschichte Polens nach dem Wiener 14

Die komplexe Trennung des Gouvernements Chełm vom Königreich fällt in die Jahre 1911–1915; sie wurde nicht abgeschlossen, da der Erste Weltkrieg ausbrach und Russland das Königreich verlor. Alle Schlüsselentscheidungen sind jedoch bis zum Frühjahr 1915 gefallen. Vgl. Andrzej Wrzyszcz, Gubernia chełmska. Zarys ustrojowy [Das Gouvernement Cholm. Grundriss des politischen Systems], Lublin 1997. 15 Von der umfangreichen Literatur zu diesem Thema möchten wir ein grundlegendes Werk hervorheben, dass eine Art Zusammenfassung der Errungenschaften der polnischen Geschichte und Rechtsgeschichte in diesem Bereich darstellt sowie zwei kürzlich erschienene Arbeiten, die neue Erkenntnisse dieser Problematik brachten. Das erste Werk ist Historia państwa i prawa Polski [Geschichte des Staates und Rechtes Polens], Bd. 3: Juliusz Bardach, Monika Senkowska-Gluck (Hg.), Od rozbiorów do uwłaszczenia [Von den Teilungen zur Grundentlastung], Warszawa 1981. Die beiden anderen sind nach ihrem Erscheinungsdatum: Lech Mażewski (Hg.), System polityczny, prawo, konstytucja i ustrój Królestwa Polskiego 1815 –1830. W przededniu dwusetnej rocznicy powstania unii rosyjsko-polskiej [Das ����������������������������������� politische System, Recht, Verfassung und politisches System des Königreich Polens 1815 –1830. Am Vorabend der 200.

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Kongress, also zwischen 1814 und 1914, waren die ersten Jahre nach Beendigung des Kongresses für die Lage des polnischen Volkes, das doch unter Fremdherrschaft stand, die günstigsten. Eine gewisse Ausnahme bildet hier Österreich, wo die nationalen Freiheiten der Polen in den ersten 30 Jahren unmittelbar nach dem Kongress recht illusorisch waren. Später, nach der Niederlage des Novemberaufstands von 1831, begann sich die Lage der Polen in allen Teilungsgebieten ohne Ausnahme rasch zu verschlechtern. Gleichzeitig wurde der Besitzstand des polnischen Volkes immer schwächer, da es überall unter fremder und feindlicher Herrschaft stand, auch die polnische Frage geriet immer mehr in den Hintergrund, was besonders nach 1849 sichtbar war. Dies ging Hand in Hand mit der Vertiefung der Schwierigkeiten und dem langsamen Zerfall der Wiener Ordnung. Auch die Wege der einzelnen Teile Polens drifteten in dieser Hinsicht auseinander. Die einfachste Situation haben wir in Preußen, wo wir einen ständigen Verfall während des gesamten besprochenen Zeitraums beobachten, was nichts an der Tatsache ändert, dass man auch hier von geringen Modifizierungen, ja sogar von einer Abschwächung des antipolnischen Kurses sprechen kann16. Auch in Russland verschlechterte sich die Lage des polnischen Volkes zunehmend und seine nationalen Rechte wurden immer weniger respektiert, mit dem Unterschied, dass wir in diesem Fall weniger Kontinuität, also Veränderungen und Einbrüche der Politik beobachten17. Am wenigsten typisch ist die Lage in Galizien, wo sich das österreichische Königreich in den letzten 50 Jahren der Monarchie einer enormen inneren Autonomie erfreute und nahezu den Eindruck eines polnischen Landes machte. Als Galizien 1868 die Autonomie erlangte, war dies natürlich eine Folge der inneren Änderungen, die das österreichische Kaiserreich seit 1859 durchmachte. Dies ändert natürlich nichts an der Tatsache, dass in keinem anderen polnischen Teilgebiet nach 1831 die Bestimmungen des Wiener Kongresses über

Wiederkehr der Gründung der russisch-polnischen Union], Radzymin 2013, S. 416 ff. (hier vor allem einige Artikel von L. Mażewski) sowie Г. В. Макарова, Россия и создание конституционного Королевства Польского [Galina V. Makarova, Rossija i sozdanije konstitucjonnogo Korolevstva Pol’skogo; Russland und die Schaffung des konstitutionellen Königreichs Polen], in: Польша и Россия в первой трети XIX века: Из истории автономного Королевства Польского: 1815 –1830 ��������������������������������������������������������������������� [�������������������������������������������������������������������� Pol’ša i Rossija v pervoj treti XIX veka. Iz istorii avtonomnogo Korolevstva Pol’skogo 1815 –1830; Polen und Russland im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts. Die Geschichte des Königreichs Polen], Moskva 2010, S. 11–108 sowie Б. В. Носов, Государственный строй и политическое устройство Королевства Польского [Boris Vladimirovič Nosov, Gosudarstvennyj stroj i političeskoje ustrojstvo Korolevstva Pol’skogo; Verfassung und politisches System des Königreich Polens], in: ebd., S. 247 – 330. 16 Ab 1852 funktioniert das Großherzogtum Posen ausschließlich als Provinz Posen. 17 Piotr Żywiecki, Królestwo Polskie i Wielkie Księstwo Poznańskie do 1830 r. Państwo a prowincja z poszanowaniem dla polskiej odrębności narodowej [Das Königreich Polen und das Großherzogtum Posen bis zum Jahr 1830. Staat und Provinz in Bezug auf die polnische nationale Identität], in: Mażewski (Hg.), System polityczny, S. 91–103.

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die polnischen Freiheiten so wörtlich befolgt wurden wie eben in Galizien in den letzten 50 Jahren seiner Existenz. Wir wollen die wichtigsten Ereignisse und Phänomene aufzeigen, die von der schrittweisen Aushöhlung der Bestimmungen des Wiener Kongresses hinsichtlich der polnischen Frage zeugen. Noch vor dem Jahr 1830, als sich die internationale Lage zu Ungunsten von liberalen und sogenannten fortschrittlichen Kräften zu verändern begann, kam es zu einer gewissen Beschränkung der Rechte der polnischen Bevölkerung in Preußen und zur Verschlechterung der Beziehungen zwischen Kongresspolen und dem Russischen Zarenreich. Im zweiten Fall haben wir es einerseits mit Beschränkungen der durch die Verfassung von 1815 garantierten Freiheiten zu tun und andererseits mit dem Ansteigen oppositioneller, illegaler Aktivitäten und Freiheitsbestrebungen, die gegen die rechtsstaatliche Verbindung des Königreichs Polen mit dem Zarenreich gerichtet waren. Der Ausbruch des Novemberaufstands zeigte, dass bei den Bewohnern von Kongresspolen dieser zweite Trend überhandgenommen hatte. Nach der Niederlage des Aufstands erfuhr das Land starke Repressalien, die bereits nicht nur den Geist, sondern auch den Wortlaut des Wiener Vertrags unmittelbar verletzten. Die Verfassung wurde abgeschafft, obwohl Zar Nikolaus hier eine List anwandte und dem „Königreich Polen“ an ihrer Stelle eine Art Quasi-Verfassung in Form eines Organischen Statuts gab. Abgeschafft wurden das Parlament des Königreichs und die eigenständige Armee. Auch eine Reihe von Bürgerfreiheiten wurde beschnitten. Es zeigte sich jedoch, dass die „Wiener“ Formel einer polnisch-russischen Kohabitation im Rahmen der Wiener Ordnung nach 1831 noch nicht ausgereizt war. Zu Beginn der 60er Jahre, unter völlig veränderten politischen Umständen, in einer Epoche der inneren Liberalisierung in Russland, also während des sog. „Frühlings nach dem verlorenen Krimkrieg“, wurde versucht, die Autonomie des Königreichs Polen wieder aufzubauen, ganz bewusst in einer Form, die an jene der Jahre 1815 bis 1830 anknüpfte, wenn auch vorsichtiger und in geringerem Umfang. Das Bildungssystem und der Verwaltungsapparat des Königreichs wurden zur Gänze polonisiert, die jüdische Bevölkerung erhielt Rechte. Zum zweiten Mal in seiner Geschichte im 19. Jahrhundert war Polen nur einen Schritt von dem Weg entfernt, den ungarische Adelseliten, in ihrem Bestreben, einen Vergleich mit dem Habsburgerreich zu schließen, beschritten hatten. Die Reformen, von denen hier die Rede ist, wurden von Aleksander Markgraf Wielopolski, einem Mann mit stählernem Willen, in Angriff genommen. Als einer der wenigen polnischen Politiker des 19. Jahrhunderts kann er Staatsmännern wie Otto von Bismarck, Camillo Benso von Cavour oder Pjotr Arkadjewitsch Stolypin gleich gesetzt werden. Die schreckliche Niederlage des nächsten großen polnischen nationalen Aufstands der Jahre 1863 –1864, des sog. Januaraufstands, hat nicht nur das Werk Wielopolskis zunichte gemacht, sondern auch Kongresspolen eine noch viel empfindlichere Repressalienwelle gebracht als dreißig Jahre zuvor. Diese Repressalien resultierten aus dem bereits militanten russischen Nationalismus.

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Die Lage der Polen in Russland und vor allem in Kongresspolen wurde sehr schwierig. Die russischen Behörden, besonders die niedrigere Ebene, erwiesen sich als überaus einfallsreich im Erdenken aller erdenklicher Schikanen. Erst 30 Jahre später, nach der Thronbesteigung von Nikolaus II. und infolge der Revolution von 1905 – 06, wendete sich das Blatt zum Besseren, umso mehr, als Russland eine rasche sozial-wirtschaftliche Entwicklung erfuhr. Es kamen langsam konziliante Meinungen und versöhnliche Einstellungen zu Russland auf, die jedoch bis zum Schluss eine deutliche Minderheit der polnischen Bevölkerung einnahm. Vom Standpunkt der Beständigkeit des Wiener Kongresses muss man jedoch hinzufügen, dass – obwohl Russland die völlige Beseitigung sämtlicher Unterschiede in Kongresspolen anstrebte und sogar so weit ging, es in „Weichselland“ umbenennen zu wollen – es dem Königreich Polen gelang, auf offizieller Ebene seinen Namen und sein Wappen zu erhalten. Zar Nikolaus II. trug bis zum Schluss den Titel „König von Polen“. Die während den drei Teilungen offen gebliebene question polonaise erfuhr beim Wiener Kongress eine neue Dimension und einen neuen Charakter. Die Bestimmungen des Kongresses waren vom Standpunkt der emanzipatorischen Bestrebungen des polnischen Volkes viel günstiger als jene von 1795, die de facto ein finis Poloniae bedeutet hatten. Es ist daher nicht verwunderlich, dass gewisse Gruppen innerhalb der polnischen nationalen und Freiheitbewegung sich lange – obwohl mit unterschiedlicher und zumeist beschränkter Wirksamkeit – des Arguments bedienten, die Teilungsmächte, insbesondere Russland, würden die Bestimmungen des Wiener Kongresses in Hinsicht auf Kongresspolen bei der Verfolgung ihrer eigenen politischen Pläne verletzen. Der Wiener Kongress trug wesentlich dazu bei, dass beim Verständnis der polnischen Frage große Verwirrung entstand. Er brachte den Namen Polen wieder zurück, denn er schuf das Königreich Polen, aber dieses umfasste lediglich ein Sechstel des Territoriums von Polen-Litauen aus der Zeit vor 1772. Daher zogen es die Polen stets vor, dieses Land als Kongresspolen zu bezeichnen. Langsam begann man das Königreich Polen allgemein mit Polen überhaupt gleichzusetzen, was die polnischen Eliten als gefährlich erachteten. Sie strebten nämlich danach, den polnischen Staat innerhalb der Grenzen des ehemaligen Polen-Litauen aus der Zeit vor 1772 wieder aufzubauen. Diese Ansicht wurde in Polen sehr lange akzeptiert, zumindest bis zu den 1870er Jahren, also während jener hundert Jahre, die seit der ersten Teilung vergangen waren. Diese Ansicht war übrigens in breiten Kreisen vieler europäischer Völker und Eliten anerkannt, besonders jener, die für die polnische Frage Sympathie hegten. Aber gerade die Wiener Bestimmungen führten nach und nach zu einem Verblassen der Erinnerung an das polnische Staatsgebiet, was besonders im Falle der östlichen Grenzgebiete (Kresy) erkennbar war. Das Verständnis des polnischen Staatsgebiets wandelte sich allmählich, es wurde nicht mehr in historischen, sondern nur mehr in rein ethnischen Kategorien gesehen. In diesem Zusammenhang

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muss man darauf hinweisen, dass das Königreich Polen nahezu ausschließlich ethnisch polnische Gebiete umfasste und in diesem Sinne, ebenso wie das Herzogtum Warschau, gewissermaßen embryonale Eigenschaften eines polnischen Nationalstaates hatte. Die Folgen ließen nicht lange auf sich warten. Während des gesamten 19. Jahrhunderts wurde die aufständisch-freiheitsstrebende polnische Mission immer unklarer, was an den großen polnischen Nationalaufständen der Romantik erkennbar war18. Deren Ziele flossen ineinander über und führten zu einer Verwirrung bei der Bevölkerung. Was sollte nun das Ziel sein: ein Kampf um das Erlangen der Unabhängigkeit und einer weitgehenden Autonomie von Kongresspolen im Rahmen von Russland oder schlichtweg der Bruch mit dem Zarenreich? Wenn ein Bruch – sollte man dann die großen östlichen Gebiete des ehemaligen polnischen Staates, die nicht zu Kongresspolen gehörten, gewissermaßen mitnehmen oder sie bei Russland belassen? Sollte sich der Kampf auf einen Kampf gegen Russland beschränken, wo es doch drei Teilungsmächte gab? Sollte man gegen alle kämpfen, gegen zwei oder nur gegen eine von ihnen? Wie könnte man die Solidarität der Teilungsmächte zerschlagen? Die polnische Frage verschwand niemals zur Gänze aus dem Gesichtsfeld der europäischen Außenpolitik. Dies ändert nichts an der Tatsache, dass ab 1815 ein langsames Desinteresse und eine Geringschätzung der polnischen Frage im politischen Leben des alten Kontinents zu beobachten waren. Im europäischen Bewusstsein erfolgten eine Reduktion des polnischen nationalen Gebietes und die Verwischung seiner Konturen. Im Laufe des 19. Jahrhunderts wurde Polen zu einer immer nebulöseren, mythischen, ja sogar virtuellen Existenz. Der französische Schriftsteller Alfred Jarry siedelt die Handlung seines Theaterstücks „König Ubu“ in Polen an. „In Polen, also nirgendwo“ – erklärte er in den Regieanweisungen. Die Bestimmungen des Wiener Kongresses trugen entscheidend zu dieser Verwirrung bei, da sie sich einerseits auf das gesamte Gebiet des erst zwanzig

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Ein sehr gutes Beispiel aus einer Vielzahl: der Novemberaufstand wurde von jungen Kadetten angezettelt, deren eindeutiges und ausschließliches Ziel die polnische Unabhängigkeit war. Der Anführer der aufständischen Regierung und Diplomatie, Fürst Adam J. Czartoryski, erklärte indes im Dezember 1830 folgendermaßen die politischen Ziele des Aufstands in einer Instruktion für A. Wielopolski, dem Delegierten des Aufstands nach London: „Die Polen streben nicht danach, die Bindung mit dem Monarchen [d. i. mit Zar Nikolaus I.], den sie aufgrund der Verträge haben, zu zerreißen, sie fordern jedoch diese Bindung mit der entsprechenden Garantie einer Autorität beizubehalten, denn die bestehenden Garantien sind nicht ausreichend. Sie fordern auch, dass ihre Brüder [das sind Polen aus den östlichen Gebieten am Bug] dem Königreich Polen angeschlossen werden oder zumindest ein konstitutionelles System und na­tio­ nale Institutionen erhalten. Wir können denselben Monarchen haben wie Russland, aber es ist notwendig, dass die beiden Länder völlig voneinander getrennt werden“, Zitat nach: Władysław Zajewski, Powstanie listopadowe 1830 –1831 [Der Novemberaufstand 1830 –1831], Warszawa 1998, S. 156.

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Jahre zuvor ausradierten Polen-Litauens bezogen, andererseits bezeichneten sie mit „Polen“ jenes kleine Königreich, das von Russland beherrscht war. Daher können die Kongressbestimmungen in der polnischen Frage nicht eindeutig beurteilt werden. Einerseits sollte der Wiener Kongress in den Augen Polens noch an Attraktivität gewinnen – seine Verhandlungen flossen nämlich in den letzten großen und bedeutenden europäischen Vertrag ein, der sich direkt auf die polnische Frage bezog und diese auch regelte; die späteren Verträge behandelten diese Frage, als gäbe es sie nicht (per non est). Der Vertrag nahm darüber hinaus Bezug auf die Verbundenheit, ja sogar eine gewisse Einheit der polnischen Gebiete innerhalb der Grenzen aus der Zeit vor 1772. Er garantierte dem polnischen Volk weitgehende, wenn auch allgemein formulierte Garantien der nationalen Rechte, obwohl er keine Kontrollmechanismen zu deren Einhaltung vorsah. Er gab dem polnischen Volk nicht jene Rechte, die ein eigener Staat garantiert hätte, aber er gestand ihm Rechte zu, die jenen eines eigenen Staates sehr nahe kamen. Nach der dritten Teilung des Staates herrschte innerhalb der polnischen Eliten die Meinung vor, das Schicksal des Volkes sei als finis Poloniae zu betrachten. Sie fanden sich damit ab, dass das Volk für die Zukunft unausweichlich seine Eigenstaatlichkeit verloren habe. Nach 1815 gab es solche Meinungen im Großen und Ganzen nicht. Im Gegenteil, die Eliten des im Entstehen begriffenen Kongresspolens feierten festlich die Wiedergeburt des Königreichs und gingen sogar so weit, Alexander I. für die Rückerstattung des „freien Vaterlandes“ zu loben. Kein Wunder also, dass sich die Polen angesichts dieser Situation lange Zeit und häufig, besonders in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, auf die Kongressbestimmungen beriefen, um ihre nationalen Rechte zu verteidigen und jene, die sie zu beschränken oder zu ignorieren versuchten, anklagten, dass sie das Kongresswerk veruntreuen, ja sogar dessen Bestimmungen verletzen würden. Zuweilen riefen sie sogar Großmächte an, in Sachen der Verteidigung der Wiener Ordnung einzugreifen. Die Zusicherungen der nationalen Rechte erwiesen sich als unbeständig, ihre Einhaltung wurde der willkürlichen Beurteilung der Teilungsmächte überlassen. Aber die Erinnerung daran, dass sie in dem für die europäische Ordnung Europas im 19. Jahrhundert grundlegenden Vertrag anerkannt worden waren, erwies sich als sehr beständig. Andererseits stellte der Kongress zweifellos einen riesigen Schritt in Richtung Schwächung der polnischen Frage und der polnischen Nichtstaatlichkeit dar. Er schob die Zuversicht auf die Wiedererrichtung des Staates noch weiter weg als die drei Teilungsverträge, da er ein allgemein gültiger Vertrag war, der die meisten europäischen Angelegenheiten regelte. Er war ein Akt der Zustimmung Europas zur Nichtstaatlichkeit Polens. Vor allem aber trug er dazu bei, dass jegliche Hoffnung auf einen eigenen Staat mit den Grenzen aus der Zeit vor 1772 zunichte wurde. Die Vision eines wieder erstandenen polnischen Staates mit eben diesen Grenzen war im Lichte der Bestimmungen des Wiener Kongresses immer unwahrscheinlicher. Immer realer hingegen war die Vision einer Restitution Polens mit dem

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Ausgangspunkt Kongresspolen sowie den angrenzenden, unbestritten polnischen Gebieten, da vor allem für diese Gebiete die Garantien der nationalen Rechte galten. Man muss hier in Erinnerung rufen, dass Russland, als es 1895 die weiter oben erwähnte westliche Grenze des Zarenreiches in dem wichtigsten zentralen Abschnitt auf den Fluss Bug festlegte und damit riesige östliche Gebiete Polens annektierte, dies unter Berufung auf den „russischen“ und „orthodoxen“ Charakter dieser Gebiete tat. Trotz seiner zahlreichen Versprechungen, deren Aufrichtigkeit nicht einmal die Zeitgenossen verifizieren konnten, fügte Zar Alexander I. dem Königreich Polen nicht das kleinste Stückchen Land hinzu. In dieser Frage stieß er auf den entschiedenen Widerstand seiner Entourage, seines Hofes, der Eliten und des russischen Volkes, die alle den Standpunkt vertraten, dass diese Gebiete mit Russland vereint bleiben sollten, da sie orthodox und „russisch“ seien. Der Anschluss eines großen Teiles von ihnen an Polen erfolgte erst 100 Jahre später infolge des Zusammenbruchs des zaristischen Russlands und der Wiedererstehung des polnischen Staates. Diese Lösung war jedoch nicht von langer Dauer. Das Projekt der Wiedererrichtung eines unabhängigen polnischen Staates mit den Grenzen aus der Zeit vor 1772 stieß nicht nur bei den drei Teilungsmächten, bei den fünf Großmächten überhaupt, sondern auch bei ganz Europa auf heftigen Widerstand, denn von Beginn an haftete der Wiedererrichtung des polnischen Staates in den Augen Europas das höchste politische Risiko an. Man muss festhalten, dass diese Ablehnung in Wien taktvoll und milde übermittelt und dabei mit zahlreichen Zugeständnissen für die polnische Nation verbrämt wurde, die im Übrigen weder oberflächlich noch banal waren. Es scheint jedoch, dass die polnischen Eliten diese Botschaft nicht richtig zu lesen vermochten. Gleichzeitig fanden sie in ihrer Interpretation der Kongressbestimmungen in der polnischen Frage gewisse falsche Töne. Insgesamt hielt man nämlich diese Entscheidungen für willkürlich und ungerecht für das eigene Land, auf der anderen Seite jedoch verteidigte man sie, wenn man meinte, dass sie verletzt oder nicht genügend respektiert würden. Es gab noch eine Besonderheit im Verhältnis der polnischen Politiker zu den Kongressbestimmungen, sie meinten nämlich, dass die Entscheidungen ihnen gegenüber unehrlich waren. Auch jene, die darin positive Aspekte für das polnische Volk erblickten, verhehlten nicht, dass das endgültige Ziel der polnischen Politik (und auch das ihre) die Wiedererrichtung eines unabhängigen polnischen Staates mit den Grenzen aus der Zeit vor den Teilungen war, also die Vernichtung des Kongresswerkes19. In ganz Europa war man sich dieser Tatsache 19

Der erwähnte Fürst A. J. Czartoryski erläuterte dies einem Landsmann (Antoni Ostrowski) auf raffinierte Art und Weise folgendermaßen: „Die Empörung über einen gebrochenen Vertrag [also die Forderung nach dem Respektieren des Wiener Vertrags – L.K.] hat nicht unbedingt zum Ziel, die alten Bedingungen wiederherzustellen, sondern oft beabsichtigt sie eine Befreiung von ihnen. Auf diese Weise wird unsere Angelegenheit jährlich gerade eben als von den Fesseln des Wiener Traktats befreit verkündet – als nicht entschieden und auf eine gerechte Entscheidung […] wartend.“, Zitat nach: Hahn, Außenpolitik in der Emigration, S. 84 – 85.

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bewusst. So wie auf polnischer Seite häufig Vorwürfe gegenüber den Regierungen der Teilungsmächte auftauchten, sie würden die in Wien eingegangenen Verpflichtungen gegenüber Polen nicht einhalten, so tauchten auf der Seite dieser Regierungen ebenso häufig Klagen auf, die Polen wären nicht fähig, die ihnen zugestandenen Rechte im Einklang mit den Absichten jener, die diese Rechte gewährten, zu nutzen. Man darf sich also nicht wundern, dass sich von den Kongressbestimmungen in der polnischen Frage die für das Volk wichtigsten und günstigsten als am wenigsten dauerhaft erwiesen, während jene, die am meisten Unrecht zufügten, darunter jene bezüglich der Grenzen, die die einzelnen Gebiete des ehemaligen Polens voneinander trennten, nahezu ein Jahrhundert unbeschadet überdauerten. Der originelle Versuch des Wiener Kongresses, dem polnischen Volk Grundlagen einer nationalen Existenz in einigen fremden staatlichen Organismen zu sichern, scheiterte, obwohl die Niederlage nicht vollständig war. Aus allen möglichen Gründen ließ sich das polnische Volk nicht in das enge und hinderliche Korsett der Nichtstaatlichkeit drängen, welches es nie zuvor zu tragen hatte und welches ihm die adeligen Eliten weder aufzwängen wollten noch geneigt waren, ihm aufzuzwängen. Übersetzung: Joanna Ziemska

Provisions of the Congress of Vienna regarding Poland from the perspective of the history of the Polish question in the 19th century (1795 –1918) Summary At the Congress of Vienna, the Polish question proved to be extremely difficult to resolve. Viennese decisions regarding the problem failed to provide explicit assessments and interpretations. The decisions taken on the Polish question were relatively favorable. Although the Congress did not restore the independent Polish state, it also did not restore the state of affairs created in 1795, which would have been the worst possible solution. Furthermore, the resolutions of the Congress took carefully into account the national aspirations of Polish society. In all three parts of Poland, autonomous institutions and certain national rights were guaranteed. Even the name of the Kingdom of Poland was restored. The biggest weakness of Congress’s decisions, from the Polish point of view, was that the partitioning monarchies were given almost complete freedom to shape their policies regarding their Polish subjects. They quickly began to limit

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the identity of their “Polish provinces”. This evolution was partly responsible for the rapid degradation of the Congress’s work. The opinions expressed by Poles regarding the Congress reflect the same ambiguity as the Congress’s decisions on the Polish matter. On the one hand, the Congress was accused of the 4th partition of Poland. On the other hand, its provisions were referred to whenever the national rights of Polish society were limited by the partitioning powers.

Jarosław Ławski

Fürst Edward Lubomirski und seine Beschreibung Wiens* Fürst Edward Lubomirski war kein langes Leben beschieden. Er verstarb im Alter von siebenundzwanzig Jahren infolge der ihm im Zuge eines Duells zugefügten Verletzungen. Im polnischen kollektiven Gedächtnis ist er vor allem als Stifter von Krankenhäusern sowie als ausgezeichneter, modern denkender Gutsherr seiner Güter in Radzymin bei Warschau verankert. Darüber hinaus erinnert man sich an ihn als einen Freund und Kenner literarischer Werke sowie als Übersetzer. Auch dichtete er selbst, wobei ihm die Gedichte von James Macpherson literarisches Vorbild waren. Über seine Biographie hingegen ist wenig bekannt, sein Biogramm im Polski Słownik Biograficzny ist dementsprechend kurz. Auch der Eintrag über Lubomirskis schriftstellerisches Schaffen in der Bibliografia Literatury Polskiej „Nowy Korbut” ist knapp und zeugt so von der geringen Rezeption seines literarischen Werkes1. Lediglich einige Dutzend wissenschaftliche Artikel über sein Werk werden angeführt. Bis dato wurde weder eine umfassende Biographie über Lubomirski noch eine Monographie über sein diplomatisches Wirken in Wien, London und Berlin verfasst. Lubomirski entstammte dem Adelsgeschlecht Lubomirski. Sein Vater Michał war Generalleutnant des polnischen Heeres, seine Mutter Magdalena war eine geborene Raczyńska. Über Lubomirskis Bildungsweg sowie sein Wirken als Diplomat in Wien, London und Berlin wissen wir wenig2. Sein tragischer Tod wird in der polnischen Literatur des 19. Jahrhunderts hingegen oft als Beispiel für den sinnlosen Tod eines hochbegabten Schriftstellers, eines Hoffnungsträgers der polnischen Literatur, angeführt. Während also an seinen sinnlosen Tod häufig * Dieser Beitrag wurde in umfangreicherer Form unter dem Titel „Fürst Edward Lubomirski und die literarischen Früchte seines Aufenthaltes in Wien“ im Jahrbuch des Wissenschaftlichen Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien 4 (2013), S. 193 – 210, publiziert. 1 Roman Taborski, Lubomirski Edward Kazimierz (1796 –1823), in: ���������������������� Polski Słownik Biograficzny, t. 18 [Polnisches Biographisches Lexikon, Bd. 18], Kraków 1973 (Neudruck: Wrocław 1993), S. 8; Elżbieta Aleksandrowska, Tadeusz Mikulski (Hgg.), Bibliografia literatury polskiej „Nowy Korbut”, t. 5: Oświecenie. Hasła osobowe I – O [Bibliographie der Polnischen Literatur „Nowy Korbut“, Bd. 5: Aufklärung. Personen I – O], Warszawa 1967, S. 268. 2 Vgl. Roman Taborski, Polacy w Wiedniu [Polen in Wien], Wrocław, Warszawa, Kraków 1992, S. 5 – 6, 42 – 43; Henryk Barycz, Z dziejów polskich wędrówek naukowych za granicę [Zur Geschichte polnischer wissenschaftlicher Reisen im Ausland], Wrocław, Warszawa, Kraków 1969, S. 149.

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erinnert wird, wurde seinem Werk hingegen bedauerlicherweise weit weniger Beachtung geschenkt. Kazimierz Władysław Wójcicki, der für die Publikation Życiorysy znakomitych ludzi eine Biographie von Lubomirski verfasst hat, hielt den Ablauf des Duells in seinem Buch Kawa literacka w Warszawie (r. 1829 –1830) für die Nachwelt fest3. Ein noch sinnloserer Tod ist schwer vorstellbar, im 19. Jahrhundert hingegen war eine solche Todesart durchaus nicht selten. Erinnert sei an dieser Stelle lediglich an Puschkin und Lermontow. Erst heute werden Lubomirski und sein literarisches Werk langsam wiederentdeckt. Er gilt als der erste Vertreter der polnischen Romantik, der bedeutendsten Epoche der polnischen Literaturgeschichte, als deren Beginn die Veröffentlichung des ersten Gedichtbandes von Adam Mickiewicz im Jahre 1822 betrachtet wird. Bereits vier Jahre früher, 1818, publizierte Lubomirski eine Übersetzung der von August E. F. Klingemann verfassten Tragödie Faust. Letzterer erlangte später durch die Uraufführung von Goethes Faust in Braunschweig Berühmtheit. Seiner Übersetzung des Faust stellte Lubomirski ein dreißigseitiges Vorwort voran, in dem er die Idee eines polnischen Nationaldramas nach dem Vorbild des auf Mythen und Legenden beruhenden deutschen frühromantischen Dramas entwickelte, nicht jedoch nach dem Vorbild des französischen Klassizismus, wie dies zu seiner Lebenszeit verbreitet war 4. Lubomirski war demnach zu Beginn des 19. Jahrhunderts, in der Epoche der Romantik, ein wichtiges Bindeglied des deutsch-polnischen Kulturtransfers5. Nicht nur als Übersetzer von Klingemanns Faust war er für den deutsch-polnischen Kulturaustausch bedeutsam, auch als Schriftsteller leistete er für diesen einen wichtigen Beitrag. In seinem Werk Obraz historyczno-statystyczny Wiednia, das in diesem Beitrag genauer vorgestellt wird, legt Lubomirski als einer der ersten Polen sein Wissen über die deutsche Früh3



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Kazimierz Władysław Wójcicki, Kawa literacka w Warszawie (r. 1829 –1830) [Literarischer Kaffee in Warschau (1829 –1830)], Warszawa 1873, S. 56. Vgl. auch: Kazimierz Władysław Wójcicki, Edward Lubomirski, in: [Ders.], Życiorysy znakomitych ludzi wsławionych w różnych zawodach, z rycinami, t. 2 [Die Lebenswege bedeutender und bekannter Menschen in unterschiedlichen Berufen (mit Abbildungen), Bd. 2], Warszawa 1851 (Neudruck: Warszawa 1987), S. 243 – 338. Jarosław Ławski, Rok 1819. Pierwszy romantyczny program dramatu narodowego Edwarda księcia Lubomirskiego [Das Jahr 1819. Das erste romantische Programm des Nationaldramas von Fürst Edward Lubomirski], in: Jarosław Ławski, Krzysztof Korotkich, Marcin Bajko (Hgg.), Noc. Symbol – Temat – Metafora, t. 1: Wokół „Straży nocnych” Bonawentury [Die Nacht. Symbol – Thema – Metapher, Bd. 1: Rund um die „Nachtwachen“ von Bonaventura], Białystok 2011, S. 293 – 329. Vgl. Marta Kopij, Über Imitation zur Kreation. Zur Geschichte des deutsch-polnischen romantischen Kulturtransfers (Studien zum deutsch-polnischen Kulturtransfer, Bd. 1), Leipzig 2011, S. 16, 58, 107 –111, 176; Lucjan Puchalski, Österreichische Streifzüge und deutsches Mittelalter. Edward Lubomirski als Vermittler der deutschsprachigen Tradition im vorromantischen Polen in: Lenau-Jahrbuch 22 (1996), S. 53 – 72; Ders., Der Teufelbündler als empfindsame Seele. Zur Rezeption des Faust-Motivs im Vorfeld der polnischen Romantik, in: Österreichische Osthefte 38 (1996), Nr. 1, S. 53 – 68.

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romantik, den so genannten Jenaer Kreis rund um Ludwig Tieck, die Gebrüder Schlegel und Wackenroder, dar. Nicht selten, so hat es den Anschein, beschränkt sich nämlich die Wahrnehmung des Kulturtransfers zwischen Österreich und Polen sowie zwischen Deutschland und Polen nur auf jene Ideen, Werte und künstlerische Vorbilder, die von Österreich und Deutschland nach Polen vermittelt wurden. Dabei bleibt oft unberücksichtigt, dass Deutschland und Österreich von Vertretern der polnischen Kultur in tiefgehenden, kritischen, weit über nationale Stereotype hinausgehenden Reflexionen thematisiert wurden, beispielsweise in jenen von Lubomirski. Dessen Präsenz in Wien zur Zeit des Wiener Kongresses sowie sein literarisches Werk sind daher von besonderem Interesse. Lubomirskis eigenes literarisches Schaffen umfasst die folgenden vier Werke: 1. Faust. Tragedja w 5 aktach przez A. Klingemanna z niemieckiego wolnym wierszem przetłomaczona [Faust. Eine Tragödie in fünf Akten von A. Klingemann, aus dem Deutschen in freie Verse übertragen], erschienen 1819. Dieses Werk versah Lubomirski mit einem Vorwort, das auch seine Vorstellung eines romantischen Nationaldramas enthielt. 2. Groby w dniu śmierci Tadeusza Kościuszki. Dumy rycerskie oryginalnym wierszem napisane przez tłomacza tragedyi Faust. Cz. 1 [Gräber am Todestag von Tadeusz Kościuszko. Ritterliche Gesänge in Originalversen, verfasst vom Übersetzer der Tragödie Faust. Teil I], Warschau 1821. Mit diesem Werk, das sich auf die Gedichte des Ossians von James Macpherson berief, begann – noch vor Mickiewicz – die polnische Romantik. 3. Rys statystyczny i polityczny Anglii. Dzieło pogrobowe [Statistischer und politischer Abriss von England. Opus posthumus] wurde von �������������� Edward Raczyński,�������������������������������������������������������������������� dem engsten Freund des Dichters, 1829 in Posen veröffentlicht. Dieses Werk ist eine Nachlese der diplomatischen Mission von Lubomirski in London und Lubomirskis Darstellung von Wien vergleichbar, wenngleich es weniger umfangreich ist. Passagen dieses Werks wurden in der Reisezeitschrift „Kolumbus“ vorab publiziert. 4. Obraz historyczno-statystyczny Wiednia: oryginalnie 1815 r. wystawiony z planem tegoż miasta [Historisch-statistische Darstellung Wiens, herausgegeben 1815 mit einem Plan von Wien]6. Dieses Werk wurde 1815 und 1816 vom 19-jährigen Lubomirski in Wien verfasst, das Vorwort schrieb er am 4. März 1820 in Wien. 1821 veröffentlichte er das Werk in Warschau. Auf dieses Werk wird nun im Folgenden genauer eingegangen. Lubomirski bezeichnet seine Darstellung Wiens als „Reiseliteratur“, doch ist es auch ein Werk von historiographischem Charakter. Wie er in seinem Vor6



[Edward Lubomirski], Obraz historyczno-statystyczny Wiednia. Oryginalnie 1815 r. wystawiony. Z planem tegoż Miasta, Warszawa 1821, 500 Seiten, on-line [https://polona.pl/item/obraz -historyczno-statystyczny-wiednia-oryginalnie-1815-r-wystawiony-z-planem-tegoz,MTc2 MTYxNg/2/#info:metadata], eingesehen 31.08.2020.

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wort festhält, beließ der Autor das letzte Kapitel über den Wiener Kongress unverändert, „da die damaligen Erwartungen hinsichtlich des Schicksals von Polen Wirklichkeit wurden. Könnte ich ein besseres Loblied auf meinen Monarchen anstimmen?“ Lubomirski unterstreicht weiters den literarischen Charakter seines Werkes: Die Titelseite versah er mit einem Motto aus der Ars Poetica des Horaz: „Utile dulci [miscere]“ [Das Angenehme mit dem Nützlichen verbinden]. Sein Vorwort beschloss Lubomirski mit einem Zitat aus dem Epos Orlando fu­rio­so von Ludovico Ariosto, das im 17. Jahrhundert von Piotr Kochanowski übersetzt wurde, seine berühmte Übersetzung erschien 17997. Ariost gilt gewissermaßen als Schutzpatron der romantischen Literatur. Am 16. Juni 1820 erteilte die russische Zensur die Genehmigung für den Druck des Werkes. So wie zwei weitere seiner Werke gab Lubomirski auch dieses Werk anonym heraus. Für diesen Umstand waren meiner Meinung nach die aristokratische Herkunft sowie das diplomatische Wirken des Fürsten ausschlaggebend, da es für ihn als Aristokraten unstatthaft gewesen wäre, geheime Informationen zu publizieren. Als Aristokrat und Diplomat wollte er zweifelsohne nicht mit seiner Beschreibung der erotischen „Sitten“ der Wiener in Verbindung gebracht werden. Im Vorwort verrät der Autor auch, dass ihm so mancher Leser seines Manuskripts von der Herausgabe dieses Werkes abgeraten hätte. Lubomirskis Text umfasst 500 Seiten. Vor dem Namen- und Sachregister findet sich ein Inhaltsverzeichnis. Das Werk ist hervorragend konzipiert. Es umfasst zwölf Kapitel, in zehn Kapiteln wird die Stadt in ihren vielfältigen Aspekten beschrieben, weiters umfasst es ein Vorwort sowie ein ergänzendes elftes Kapitel über den Wiener Kongress. In den einzelnen Kapiteln werden die folgenden Lebensbereiche thematisiert: [Vorwort] Ein kurzer Abriss der Geschichte Wiens (I) Die Lage von Wien, berühmte Gebäude in der Stadt und in den Vorstädten (II) Allgemein bekannte Pläne, Fabriken, nützliche Regelungen, Theater, allgemein verbreitete Aberglauben, Polizei (III) Religion, Bildung, Bräuche (IV) Liebe und Gesellschaft (V) Deutsche Literatur (VI) Deutsche Schriftsteller, Schriftsteller Österreichs, Deutsches Theater (VII) Etat der Stadt, Handel, Regierung, Armee, Garde, kaiserliche Familie – diplomatisches Korps – Orden (VIII) Spaziergänge durch die Stadt – die interessantesten Tage im Jahr (IX) Provinzen von Österreich – Umgebung von Wien (X) Der Kongress (XI) 7



Ludovico Ariosto, Orland szalony / wiersz Ludwika Aryosto w pieśniach XLVI […]; z argumentami Ludwika Dolce; przekładnia Piotra Kochanowskiego, dzieło pośmiertne […] pierwszy raz we II tomach wydane […], Kraków 1799. Siehe: Włodzimierz Szturc, Ironia romantyczna. Pojęcie, granice i poetyka [Die romantische Ironie. Begriff. Grenzen und Poetik], Warszawa 1992.

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Es handelt sich also um eine ausführliche Darstellung Wiens, aus der Perspektive des neunzehnjährigen Lubomirski verfasst, die alle Lebensbereiche berücksichtigt. Nicht alles gefiel ihm, der in den wohlhabendsten Kreisen der polnischen Aristokratie verkehrte, in Österreich, seine Faszination für Österreich und Wien geht auch mit einer gewissen Distanz einher. Lubomirski ist ein loyaler Untertan des russischen Zaren und dessen Diplomat, gleichzeitig ist er ein überzeugter polnischer Patriot. Es lässt sich jedoch kein Hass gegenüber Österreich feststellen, das Polen gemeinsam mit Russland und Preußen im Jahr 1795 untereinander aufgeteilt hatte8. Einen solchen empfanden damals viele Polen. Geboren ein Jahr nach dem Untergang Polens, vertritt Lubomirski ein neues Bewusstsein, die Verzweiflung über den Verlust der Heimat ist ihm fremd. Das Leben der Wiener und deren Gewohnheiten betrachtet Lubomirski aus der Perspektive eines jungen Mannes, wobei spätere Studien zweifelsohne auf die Bedeutung der Jugend und der Erotik für die Entwicklung seiner Ansichten hinweisen werden. Den Wiener Kongress analysiert er jedoch distanziert, aus der kritischen Perspektive eines Polen. Dabei ist Lubomirski ebenso wissbegierig wie aufnahmefähig. Der Titel des Werkes, der heute etwas irreführend ist, bedarf einer kurzen Erklärung. Der Ausdruck „historisch-statistisch“ legt jedoch nahe, dass es sich um ein wissenschaftliches Werk handelt. Das Wort „statistisch“ hat jedoch nichts mit Statistik nach unserem heutigen Verständnis des Wortes zu tun. Es handelt sich um eine Darstellung der Geschichte Wiens im Hinblick auf Geschichte und Diplomatie9. 8



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Vgl. Alois Woldan, Mit Austrii w literaturze polskiej, Kraków 2002 (deutsche Originalausgabe u. d. T.: Der Österreich-Mythos in der polnischen Literatur, Wien, Köln, Weimar 1996); Marek Nalepa, „Płyną godziny pomiędzy nadzieją i bojaźnią czułą”. Polityczne i egzystencjalne rany Polaków epoki porozbiorowej. Studia i teksty [„Die Zeit verrinnt zwischen Hoffnung und Bangen“. Politische und existenzielle Wunden der Polen zur Zeit der Teilungen. Studien und Texte], Rzeszów 2010; August Antoni Jakubowski, The Remembrances of a Polish Exile, Philadelphia 1835 (polnisch- und englischsprachige Ausgabe: ���������������������������������������� Wspomnienia polskiego wygnańca ��������� = ������� The Remembrances of a Polish Exile, hg. v. Jarosław Ławski, Piotr Oczko, Białystok 2013); Jarosław Ławski, Siedem. O Auguście Antonim Jakubowskim [Sieben. Über August ��������������� Antoni Jakubowski], in: Mikołaj Sokołowski, Jarosław Ławski (Hgg.), Nihilizm i historia. Studia z literatury XIX i XX wieku [Nihilismus und Geschichte. Studien zur Literatur des 19. und 20. Jhdt.], ���� Białystok 2009, S. 17 – 78; August Antoni Jakubowski, Poezje [Gedichte], hg. v. Julian Maślanka, Kraków 1973. Es scheint, als müsste der Ausdruck „historisch-statistisch“, der bei Buchtiteln des 19. Jhdt. durchaus häufig vorkommt, umfassender übersetzt werden: Darunter sind Aufzeichnungen über die Geschichte einer Stadt sowie deren Bewohner, das soziale Leben, Kultur und die Organisation des Staates (u. a. auch über die Diplomatie als eine von vielen Komponenten) zu verstehen. Die Verfasser der „historisch-statistischen Bilder“ von Wien, Posen und Warschau konzentrieren sich entweder auf die Geschichte der Stadt und deren Bevölkerung (beispielsweise: Józef Łukaszewicz, Obraz historyczno-statystyczny miasta Poznania w dawniejszych czasach, t. 1– 2 [Historisch-statistisches Bild der Stadt Posen in alten Zeiten, Bd. 1– 2], Poznań 1838; Franciszek Maksymilian Sobieszczański, Rys historyczno-statystyczny wzrostu i stanu miasta Warszawy od najdawniejszych czasów aż do 1847 roku [Historisch-statistischer Aufriss

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Lubomirski betrachtet die Stadt auch aus der Perspektive eines Wissenschaftlers sowie eines Reisenden: „Die Stadt selbst ist klein, aber von weitläufigen Vororten umgeben, sie liegt im Zentrum eines fruchtbaren Gartens.“10 Die Lage der „von Bergen umschlossenen“, nach Ansicht des Schriftstellers „kleinen“ Stadt ist wenig günstig: „Die Luft ist unbeständig, manchmal sehr scharf, […]. Außerdem ist die große Staubentwicklung für schwache Lungen und Augen schädlich, […] die Ärzte sind der Meinung, dass Epidemien in dieser Stadt häufiger als in jeder anderen Hauptstadt Europas auftreten.“11 Diese „alte Stadt“ betrachtet Lubomirski vor dem Hintergrund von Städten wie Petersburg, Paris, Rom und Neapel und betont, dass „das größte Vergnügen dieser Städte der Verkehr, der Lärm und das Gedränge auf den Straßen ist.“12 Lubomirski beschreibt das Straßenbild Wiens folgendermaßen: „Sauberkeit der Straßen und Pflastersteine sind zwar für Fußgänger und Kutschenreisende angenehm, für Pferde können sie jedoch wenig günstig sein, für Reiter sogar gefährlich. Fast alle Häuser sind sehr hoch, zumeist haben sie drei Stockwerke, manche jedoch fünf, sechs oder mehr. Einige wurden aus Stein errichtet, der größte Teil jedoch aus Ziegeln. Man wird nie behaupten können, dass die Architektur besonders reizvoll ist, die Stadt selbst ist jedoch höchst angenehm und unterhaltsam, wie wir es von einer Hauptstadt erwarten.“13

Wir können bei Lubomirski eine gewisse weltmännische Gewandtheit feststellen, zumal er bereits andere Großstädte kennengelernt hatte. Im Vergleich zu diesen Städten war Wien hingegen eine angenehme, gemütliche Stadt, gut organisiert für die Begegnung des Menschen mit der ihm feindlich gesinnten Natur.

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des Wachstums sowie der gegenwärtigen Situation der Stadt Warschau von den Anfängen bis 1847], ������������������������������������������������������������������������������� Warszawa����������������������������������������������������������������������� 1848) oder auf die Gegenwart (Lubomirski). Die Modernität von Lubomirski beruht darauf, dass er die Stadt zu einem bestimmten Augenblick, zur Zeit des Wiener Kongresses im Jahr 1815, vorstellen möchte, ohne dabei die Geschichte von Österreich und Deutschland unberücksichtigt zu lassen. Lubomirski widmet dieser jedoch nur das letzte Kapitel, denn wichtiger für ihn sind die Wiener, deren Bräuche, Religion, Kultur, Geschichte sowie das tägliche Leben. [Lubomirski], Obraz, S. 54. Die Textpassagen aus dem Werk von Lubomirski wurden von Paulina Górak aus dem Polnischen übersetzt – mit Ausnahme jener aus dem Kapitel über den Wiener Kongress. Diese wurden von Joanna Ziemska übersetzt (vgl. Edward Lubomirski: Der Kongress auf Seite 181 in dieser Publikation). Ebd., S. 55. Ebd., S. 56. Ebd., S. 56 – 57; im Folgenden werden hier polnische Originaltexte zitiert: „Czystość w ulicach i bruk ciosanego kamienia, będąc przyiemnym dla chodzących i iazdy, iest może tylko dla koni nie wygodnym, a dla jeźdźców niebezpiecznym bywa. Wszystkie prawie domy są bardzo wysokie, zwyczajnie o trzech piętrach, lecz niektóre maią ich pięć, sześć, a czasem i więcey, niektóre z ciosanego kamienia, lecz największa część z cegły iest wystawiona. Nigdy nie będzie można powiedzieć o tem mieście, że bogate iest w ozdoby, ale iest nader przyiemnem i zabawnem, a tego właściwie wymagamy po stolicy.“

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Lubomirski schildert detailliert Palais, Gärten und Straßen. Besondere Aufmerksamkeit widmet er dabei Bibliotheken und Kunstsammlungen: „Sehenswerte Galerien sind jene der Grafen Schönborn, der Fürsten Dietrichstein und der Esterházy. Im Hause des Herrn Fries befindet sich eine Statue des Theseus, die nur aufgrund ihres Schöpfers, des hervorragenden Bildhauers und Schülers der Antike, Antonio Canova, interessant ist.“14

Neugierde und Aufnahmefähigkeit eines jugendlichen Geistes, einhergehend mit umfangreichem Wissen über die Geschichte Österreichs, Polens, Deutschlands und der Türkei, prägen dieses Werk. Insbesondere letztere wird häufig genannt, gewiss nicht zufällig, erinnert wird insbesondere an Johann III. Sobieski und dessen Entsatz von Wien im Jahre 168315. Der Umstand, dass auf die Beschreibung von Geschichte, Demographie und Erscheinungsbild der Stadt eine Darstellung ihrer sozialen und karitativen Einrichtungen folgt, ist kein Zufall. Lubomirski schreibt voll Bewunderung über die vorbildlich organisierten Sozialeinrichtungen und Krankenhäuser der Stadt: „Die Wohltätigkeitseinrichtungen in Wien sind sehr verschieden, leidende Menschen erhalten Unterstützung bei all ihren Beschwerden. Hungrige erhalten zu essen, obdachlose Invalide finden Zuflucht, kraftlose Kranke, die nichts außer ihr Leben haben, werden gerettet und erhalten medizinische Hilfe, der unglückliche Taubstumme findet in der Gemeinschaft weiterer, ebenso Unglücklicher Trost. Geisteskranke bleiben nicht ohne Obhut: Wenn sie nicht in die Gesellschaft zurückkehren können, werden mitfühlende Hände die Folgen ihrer Krankheit hintanhalten. Eine Frau, die in einem Augenblick der Schwäche verführerischer Ränke nicht standhalten konnte, kann ihre Schande in einem Haus verstecken, wo kein Platz für Verzweiflung ist. Ein Säugling, der von seiner Mutter endgültig verlassen wurde (wenn sie sich von ihrem eigenen Kind trennen kann, ist sie böser als eine Stiefmutter), findet im Schoß der Wohltätigkeit eine neue Mutter und in der Verwaltung einen Vater, auf zweierlei Weise wird er zum Kind des Vaterlandes. Oh, wie ehrenwert sind die Gründer ähnlicher Anstalten! Die Menschheit wird ihre Verdienste höher schätzen als alle Erfindungen, Expansionen und Siege.“16 14

Ebd., S. 73: „Galerie godne widzenia są hrabi Schönborna, książąt Ditrichstein i Esterhazyego. W domu pana Fries jest statua Tezeusza ciekawa tylko z tego względu że jest dziełem Canowy, tego zawołanego snycerza, że tak powiem ucznia starożytności.“ 15 Ebd., S. 23 – 41, vgl. Zygmunt Radłowski, Stereotyp Jana III Sobieskiego w mentalności współczesnych wiedeńczyków [Das Stereotyp von Jan III. Sobieski im Bewusstsein der Wiener heute], in: Wiesław Śladkowski, Adam Andrzej Witusik (Hgg.), Wiktoria wiedeńska i stosunki polsko-austriackie 1683 –1983 [Der Sieg bei Wien und die polnisch-österreichischen Beziehungen 1683 –1983], Lublin 1983, S. 149 –154. 16 [Lubomirski], Obraz, S. 96 – 97: „�������������������������������������������������������� Założenia dobroczynności w Wiedniu są rozmaite, tu ludzkośc cierpiąca znajdzie wsparcie na wszystkie dolegliwości. Znaydzie ubogi łaknący chleba, pożywienie, niedołęga bez domu przytułek, podupadły na zdrowiu i siłach nic oprócz życia

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Zweifelsohne wurde Lubomirski von seinen in Wien gewonnenen Eindrücken beeinflusst, da er in seinem Testament großzügige finanzielle Mittel für wohltätige Zwecke hinterließ. Dank dieser Mittel wurde das Ophthalmische Institut in Warschau, das spätere ophthalmologische Krankenhaus in der Smolnastraße, gegründet17. Lubomirski findet in Wien eine bereits moderne Gesellschaft vor, in der seiner Wahrnehmung nach die Kluft sozialer Unterschiede besser überwunden wurde als in Paris und in London: „In Wien ist es unmöglich, einen zerlumpten Menschen auf der Straße zu treffen. Alle Gesichter strahlen vor Heiterkeit und Gelassenheit, was nur als Folge des Wohlstands interpretiert werden kann.“18 Eine Darstellung der Gewohnheiten und Bräuche der Stadt finden wir auch im spannenden Kapitel „Liebe und Gesellschaften“. Lubomirski beurteilt die Einstellung der Wiener zur Erotik mit Distanz. Einerseits betont er, wohl aufgrund seiner Jugend, die Schönheit der Wienerinnen, andererseits kann der begeisterte Leser der Leiden des jungen Werthers sowie der Werke der deutschen und englischen Romantik Enthaltsamkeit und die Rationalisierung von Leidenschaften, wie er sie bei den Wienern beobachtet, nicht verstehen19. Wien ist seiner Ansicht niemaiący, znajdzie ratunek i lekarstwo, nieszczęśliwy pozbawiony słuchu i mowy wejść może w towarzystwo równie iak on nieszczęśliwych i w niem nie czuie swoiey niedoli. Człowiek zmysłów obłąkanych nie zostaie bez opieki, ieśli go społeczeństwu wrócić nie można, zapobiegają skutkom wściekłości litościwe ręce. Kobieta która przez iedną chwilę słabości przyrodzeniu właściwey, nie mogła ustrzedz się zwodniczych sideł, może ukryć swoy wstyd w domu, gdzie rozpacz nie ma miejsca. Niemowle na ostatek, opuszczone od matki; co mówię gorszey od macochy (gdy się mogła z własnem dzieckiem rozłączyć) drugą matkę znajdzie na łonie dobroczynności, a oyca w rządzie; dwoiako staie się dzieckiem oyczyzny. O! iak godnemi są czci powszechney założyciele podobnych instytutów, większą im na to społeczeństwo ludzkie będzie mieć wdzięczność, niż za wszelkie wynalazki, niż za powiększenie kraiów i odniesione zwycięstwa.“ 17 Vgl. Władysław Henryk Melanowski, Dzieje Instytutu Oftalmicznego im. Edwarda księcia Lubomirskiego w Warszawie 1823 –1944. Opracowane na zasadzie akt dawnych i innych źródeł [Die Geschichte des Fürst-Edward Lubomirski-Instituts für Opthalmologie auf der Grundlage von Akten sowie weiterer Quellen], Warszawa 1948, S. 402; Zofia Podgórska-Klawe, Szpitale warszawskie: 1388 –1945 [Warschauer Krankenhäuser 1388 –1945], Warszawa 1975, S. 357. 18 [Lubomirski], Obraz, S. 118: „���������������������������������������������������������� W Wiedniu nigdy na ulicach obdartego nie spotkamy człowieka, i na wszystkich czołach jaśnieje tu pogoda i ta spokojnośc mogąca być jedynie skutkiem dostatku“. 19 Ebd., S. 154: „Miłość, to słowo, wszędzie tak często wymawiane, to czucie tak rzadko kiedy znane w prawdziwem i czystem iego znaczeniu, w Wiedniu tożsamo, jest w ustach wszystkich, a może rzadko w czyiem sercu. Wszyscy czuć zdolni kochają się, lecz metodyczni Wiedeńczykowie w pewne tylko dni idą palić ofiary Bożkowi Eros“ [Liebe, das Wort, das so häufig ausgesprochen wird, bezeichnet ein Gefühl, das höchst selten in seiner wahren und reinen Bedeutung erlebt wird, in Wien verhält sich das nicht anders, die Liebe ist in aller Munde und wohl nur selten im Herzen anzutreffen. Alle, die zu fühlen vermögen, lieben, die Wiener entzünden jedoch gewiss nur an wenigen Tage Opfergaben für den Gott Eros], vgl. Stanisław Wasylewski, Jaśnie oświecony romantyk [Ein hochgnädiger Romantiker], in: Ders., U księżnej pani, Lwów 1920 (neue Ausgabe: Warszawa 2012).

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nach eine Stadt der vernünftigen und sinnlichen Liebe, weniger platonische Gefühle wären nirgendwo anders zu finden. Selbst die Ehe ist hier nichts weiter als ein Vertrag, aus dem man in Romanzen fliehen kann: „Sie empfinden die Liebe nicht als Bedürfnis; nur als Ziel sowie als Verführung lockt sie beständig. Die Liebe ist nicht der Inhalt ihres gesamten Lebens, eher eine kurze Episode in einem heiteren Theaterstück. Ist diese Unterhaltung angenehm, wird sie zur Sucht. Selten hört man in Wien von einem unglücklich Liebenden, der sich aus Verzweiflung in die Donau geworfen hätte oder von einer Liebenden, die sich aus Sehnsucht nach ihrem verstorbenen Geliebten in ein Kloster hätte einschließen lassen. Hier gibt es keine Werthers – ein zurückgewiesener Liebhaber wirbt um eine neue Charlotte. Was freundliche Bitten, Werbung oder die Zeit nicht vermögen, wird mit Hilfe des Geldes zuwege gebracht. Die meisten Frauen hier sind nicht auf Gewinn aus; so manch eine, die sich modisch kleiden und einen türkischen Schal tragen könnte, den die Wienerinnen über alles zu tragen lieben, achtet wenig auf ihr Auskommen. Hier sowie in allen menschlichen Gemeinschaften gibt es verschiedene Arten der Liebe, in keiner anderen Stadt trifft man jedoch weniger platonische Gefühle als hier. Die Liebe, die zur Eheschließung führt, wird nur selten erwidert. In den niedrigen Schichten kommt es zwar öfters vor, dass die Eheleute anfangs in Liebe zueinander erglühen, die meisten Frauen dieses Standes kokettieren jedoch auch mit anderen Männern.“20

In der Darstellung Wiens finden wir zahlreiche ausgezeichnete, manchmal auch kontroverse Beschreibungen der Liebeleien durchaus nicht abgeneigten Wiener, die die Kunst der Verführung angeblich am besten beherrschen würden. In der Schilderung dieses „katholischen“ Österreichs spiegeln sich Distanz, 20

[Lubomirski], Obraz, S. 155 –156: „Nie iest u nich we krwi miłość, potrzebą; lecz przykład i uwodzenie do niey, nieznacznie ie nakłania, nie iest ona treścią całego ich życia, iak raczey krótka sceną w wesołey sztuce. Taka rozrywka staiąc się przyiemną, przeobraża się w nałóg. Rzadko więc słychać w Wiedniu o nieszczęśliwym kochanku z rozpaczy rzucaiącym się w Dunay, albo o kochance z tęsknoty po zgonie lubownika zamykaiącey się w klasztorze. Tu nie masz Wertherów, odprawiony kochanek udaie się z zalotami do inszey Charloty. Nieraz czego, sympatya próźby, starania lub czas nie dokonaią, pieniądze załatwią. Powiększey części kobiety niesą tu chciwe zysku, nie iedna byle tylko modnie ubrać się mogła i posiadać szal turecki, który nadewszystko Wiedenki przenoszą, nie dba chociażby niekiedy nie dostarczało na utrzymanie siebie. Tu iak pospolicie we wszystkich licznych zgromadzeniach ludzi, różne są rodzaie miłości, lecz niemasz miasta w któremby było mniey platniczney. Miłość doprowadzaiąca do szlubu małżeńskiego, rzadko cieszy się wzaiemnością uczucia. W niższych klassach częściey bez wątpienia zdarza się widzieć małżonków w pierwszych chwilach miłością płonących, lecz właśnie tego stanu, kobiety, naywięcey puszczają się w zawód zalotnictwa“.

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Empörung und die Moralvorstellungen Lubomirskis, dennoch gepaart mit einer gewissen Faszination, wider. Dies kommt auch in seiner Beschreibung der Prostitution zum Ausdruck: „Jeden Tag, sobald das Licht dem Dunkel der Nacht weicht, verlassen diese Unglücklichen ihre Winkel, wie Füchse ihre Höhlen, begeben sich auf die Jagd und mühen sich so lange, bis jemand in ihre Fänge gerät.“21 Lubomirski moralisiert, gleichzeitig lehnt er jedoch solches ab. Hin und wieder äußert er sich auch skeptisch gegenüber seinen eigenen Erkenntnissen und hält fest, dass man die Gewohnheiten eines anderen Landes nie zur Gänze kennenlernen kann. Er versucht jedoch, seinen Lesern die soziale Struktur der Wiener Gesellschaft näherzubringen: „Die Gesellschaft besteht aus drei verschiedenen Ständen. Ersterem gehören Händler und Bankiers an, zweiterem der neuere Adel, den wir Kleinadel nennen und der hier scherzhaft als Leonischer Adel bezeichnet wird. Ihm gehören Juden, Konvertiten, Händler und Beamte an, die erst vor Kurzem nobilitiert wurden, zumeist wird ihnen der Adelstitel eines »Barons« verliehen. Dem dritten gehören alle Magnaten und ausländische Häuser an. Die drei Schichten vermischen sich nur selten untereinander. […]“22

Lubomirski ist ein guter Erzähler, der seine Geschichten mit Anekdoten auszuschmücken vermag. Dabei erfolgen seine Schilderungen stets vor dem Hintergrund seiner polnischen Herkunft. So schildert er beispielsweise polnische Familien und deren Häuser und reflektiert vor diesem Hintergrund über die polnische Gastfreundschaft und den polnischen Einfallsreichtum. Seine Darstellung der Stadt und ihrer Gewohnheiten ist von Faszination bei gleichzeitiger Distanz gegenüber dem „Anderen“ geprägt. Österreich und Wien gehören dem großen deutschen Sprach-, Kultur- und Literaturraum an. Lebensstil, Mentalität, Sittlichkeit und Politik beurteilt er distanziert, Anerkennung hingegen zollt er, wie bereits erwähnt, der klugen Organisation des sozialen Lebens, bewundernd äußert er sich über die deutsche Literatur. In literarischer Hinsicht sind Österreich, Wien und Deutschland für Lubomirski ein Vorbild, das er der polnischen Begeisterung für Frankreich und den Klassizismus entgegensetzt. Der junge Lubomirski ist ein schonungsloser Beobachter des Wiener Kulturlebens. Er vergleicht es mit dem kulturellen Geschehen in anderen europäischen Hauptstädten und äußert sich sowohl über das Interesse der Wiener an Kunst und 21

Ebd., S. 161: „����������������������������������������������������������������������������� W każdy dzień skoro światło ustapi mroku nocy wychodzą te nieszczęśliwe z zakątków na obłowy jak lisy z nory i tak długo uwijają się aż ktoś wpadnie w ich grube sidła“. 22 Ebd., S. 167: „Całe społeczeństwo z trzech rozmaitych składa się stanów, do jednego należą Kupcy i Bankierowie, do drugiego nowsza szlachta, albo taka, którą my drobną nazywamy, a którą tu przez żart Leonische Adel zowią. Do niey liczyć można Żydów, Przechrztów, Kupców i Urzędników świeżo na ten stopień wyniesionych, i którym naywięcey daią tytuł Baronów. Do trzeciego wszyscy Magnaci i zagraniczne domy. Wszystkie te trzy społeczęstwa rzadko bardzo z sobą mieszaią się […].“

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Musik sowie über das Niveau der Theateraufführungen kritisch. Es fehle den Wienern an Kunstgeschmack, sie würden sich mit „platten Schwänken“ begnügen. Lubomirski betont, dass ihr theatralischer Sinn für Humor „ein getreues Abbild ihres Lebens und ihrer Gewohnheiten“ wäre23. Der Wiener Tonkunst bringt er hingegen Bewunderung entgegen: „In Wien gibt es viele bekannte Komponisten, die Musik- und Opernwerke schufen: Haydn, Beethoven, Weigl gehören zu den berühmtesten. Ein Orchester besteht aus guten Musikern. Es ist anzuerkennen, dass die Deutschen nach den Italienern die zweitgrößte Eignung zur Kunst der Harmonie haben. […] Wir in Warschau richten uns nach patriotischen Werten und hören lieber mittelmäßige Kompositionen unserer Landsleute als die Musik begabter Ausländer.“24

Eine beeindruckende Zahl deutscher Schriftsteller der Klassik und Romantik wird in zwei Kapiteln des Werks genannt, die eine kleine deutsche Literaturgeschichte von deren Anfängen bis zum 19. Jahrhundert sind. Es fehlt nicht an großen Namen wie Winckelmann, Klopstock, Wieland, Schiller und Jean Paul. Im siebten Kapitel ist auch ein kurzes Unterkapitel über österreichische Literatur zu finden. Lubomirski betont deren Eigenart und Unterschiedlichkeit im Vergleich zur deutschen Literatur, gleichzeitig jedoch bemerkt er deren Rückständigkeit und die „geringe Zahl an Schriftstellern.“25 Lubomirski betrachtet die deutsche Literatur als seine Inspirationsquelle. In literarischer Hinsicht ist er ein glühender Germanophiler und davon überzeugt, dass wir „mit Sicherheit in jeder literarischen Gattung stets ein besseres Werk bei den Deutschen finden würden, wenn wir die deutsche Literatur mit den Literaturen weiterer zivilisierter Länder verglichen.“26 Anzumerken bleibt, dass Lubomirski die Werke der Autoren, über die er schreibt, auch selbst gelesen hat. Seine Deutschkenntnisse waren hervorragend. Er vermag das Leben Winckelmanns genau zu beschreiben und weiß auch über alle Details über dessen Ankunft in Wien im Jahr 1768 Bescheid. Lubomirski erachtet Österreich als Ort, an dem sich das universelle Genie der deutschen Kunst zeigt und gleichzeitig die eigene Identität gewahrt wird. Lubomirski betrachtet sich als unabhängigen Beobachter Österreichs und des Kongresses, seine Perspektive bezeichnet er an einer Stelle auch als jene eines 23

Ebd., S. 176: „wiernym naśladowaniem życia i obyczajów mieszkańców“. Ebd., S. 118: „������������������������������������������������������������������������ Kompozytorów muzyki i oper wiele iuż sławnych było w Wiedniu, między innemi Hayden, Bethowen i Weigel są naysławnieysi. Orkiestra z dobrych złożona iest muzyków i należy oddać tę sprawiedliwość, że Niemcy po Włochach największa maią zdatność do sztuki harmonii, […]. W Warszawie powodowani będąc patriotyzmem, wolemy słuchać mierne kompozycye narodowców, niż cudzoziemce z talentem.“ 25 Ebd., S. 283 – 285. 26 Ebd., S. 180: „Jeżeli by porównać chciano literaturę niemiecką z literaturami innych znaczniej ucywilizowanych krajów, zaręczyć można, że w każdym rodzaju i niekiedy doskonalsze znajdą się dzieła u Niemców“. 24

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„Weltbürgers“. Gleichzeitig möchte er in der österreichischen Kultur jene hervorragenden Eigenschaften finden, die sich die Polen aneignen sollten. In seinen Worten spiegelt sich jedoch der Patriotismus der Besiegten wider: „Ihr, die ihr uns hasst, lasst uns zumindest den Trost unserer Erinnerungen und Hoffnungen. […] Wir lassen mehr Gerechtigkeit walten als Ihr.“27 Diese Haltung aristokratischen Hochmuts verbindet sich im jungen Fürsten mit dem gänzlichen Fehlen von Illusionen hinsichtlich der Absichten der Herrscher. Hinter deren schönen Worten verbirgt sich seiner Ansicht nach berechnendes politisches Kalkül: „Zu ihrer Rechtfertigung unterzeichneten sie eigenartige Verträge, denn sie kündeten den Frieden, während in ihren Herzen der Krieg wohnte. Und obwohl alles gerecht gewogen sein sollte, ersetzten bloß neue Ungerechtigkeiten die alten. Bei dem Kongress sahen wir eine Ansammlung der Genies des 19. Jahrhunderts. Man konnte sie an ihren Sternen und Ordensbändern erkennen, mit denen sie geschmückt waren. Es gab dort Helden, die niemals gekämpft hatten, große Generäle, die meist besiegt worden waren und für sich selbst gute Politik machten, nicht sie jedoch werden durch ihr Zutun jene außergewöhnliche Epoche unvergesslich machen. Vielmehr ist es die Epoche, die ihnen ewige Unsterblichkeit bescheren wird.“28

Seine Charakteristik der Kongressteilnehmer ist geistreich und bösartig zugleich, sie werden aus polnischer Perspektive beurteilt. Lubomirski vertritt als russischer Diplomat klar polnische Interessen, obwohl er gleichzeitig ein loyaler Untertan des „großzügigen Schutzherrn der Polen“29, des Zaren Alexander I., ist. Hinter dieser Rhetorik verbirgt sich jedoch seine Unzufriedenheit mit den Ergebnissen des Kongresses, die er nur als vorübergehende Lösungen betrachtet. Vielmehr sah er in ihnen mit Recht das Vorzeichen künftiger Kriege. Lubomirski schildert jedoch nicht nur die politischen Folgen des „tanzenden“ Kongresses. Bälle, Festbanketts, Toasts, das gesellschaftliche Leben, Bonmots, Ritterturniere – auch all dies beobachtet der Schriftsteller bewundernd und distanziert zugleich. Seine Pointe ist jedoch bitter: „Man ging an die Vereinbarung und schloss sie auch ab, wir lesen jedoch nur in den Verträgen, dass sie für immer 27

Ebd., S. 418 – 419: „����������������������������������������������������������������������� Wy, którzy nas nienawidzicie, zostawcie nam przynajmniej pociechę wspomnień i nadziei. […] Sprawiedliwszymi od was będziemy“. 28 Ebd., S. 428: „Dla usprawiedliwienia swego uciemiężliwe podpisywali układy, gdy w ustach brzmiał pokój, w sercu woynę karmili, choć wszystko na szali sprawiedliwości miało być ważonem, nowe niesprawiedliwości dawne zastąpiły. Na tym zjeździe, widzieliśmy zgromadzenie geniuszów XIX wieku. Poznać ich można było po gwiazdach i wstęgach któremi byli przyozdobieni. Byli tam bohaterowie którzy nigdy się nie bili, wielcy generałowie, nayczęściey zwyciężeni i dobrzy politycy, lecz dla siebie jednakże nie oni unieśmiertelnią te nadzwyczayną epokę, lecz ona im zapewnia miejsce w świątyni nieśmiertelności.“ 29 Ebd., S. 442: „[cesarza Aleksandra] wspaniałomyślnego opiekuna Polaków“.

Fürst Edward Lubomirski und seine Beschreibung Wiens

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gelten sollte.“30 Das Ende des Kongresses verbindet Lubomirski humorvoll und ironisch mit dem Ende seines Werks über Wien. „Am 11. Juni war der Kongress zu Ende. Anders ausgedrückt: Es war das Ende des Jüngsten Tages für die Unschuldigen, das Ende der Namenstage für die Minister und  Diplomaten, welche Glückwünsche und  Geschenke entgegen nahmen, das Ende des Faschings für Nichtstuer und Windbeutel, der Anfang des Fastens für alle Fürsten, die ihre Erbländer verloren hatten, und meines Werkes.“31

Unschwer ist zu bemerken, dass den humorvollen Worten des Fürsten auch eine gewisse Wehmut innewohnt. Lubomirskis Schilderung von Wien hätte in Wien wesentlich mehr Bekanntheit verdient. Es ist nicht nur ein historisches, sondern auch ein politisches Werk. Lubomirski verfasste es, wie er betont, „ohne den allgemeinen Hass“32, den die Polen gegenüber jenen Ländern empfanden, die Ende des 18. Jahrhunderts den polnischen Staat untereinander aufgeteilt hatten. Sein Werk ist ein umfassendes Panorama von Österreich und Wien sowie der Kultur der deutschsprachigen Länder33. Übersetzung: Paulina Górak Duke Edward Lubomirski and his description of Vienna Summary This article presents Duke Edward Lubomirski (1796 –1823), a Polish aristocrat who was a diplomat in the Russian service (1815 –1821). During the Congress of Vienna, as a young Russian diplomat, he was part of a diplomatic mission in Vienna. The result of this stay is the Polish translation of the tragedy Faust, by 30

Ebd., S. 487: „Przystąpiono do ugody, stanęła, lecz tylko w przymierzach czytamy, że na wieki [to ugoda]“. 31 Ebd., S. 488: „Z iedenastym Czerwca zupełny był koniec kongresu, inaczej mowiąc, koniec sądnego dnia dla niewinnych, koniec imienin dla ministrów i dyplomatów, którzy odbierali podarki i powinszowania, koniec zapust dla próżniaków i trzpiotów, początek postu dla tych wszystkich książąt, co postradali swoie dziedziny, i moiego dziełka także.“ 32 Ebd., S. 418: „bez nienawiści powszechnej w Polakach [do krajów, które dokonały pod koniec XVIII wieku podziału Polski]“. Vgl. Piotr Żbikowski, Pod rządami Franciszka Habsburga – cesarza Austrii. „Gazeta Krakowska” 1796 –1806����������������������������������������� [Unter der Regierung von Franz von Habsburg – Kaiser von Österreich. „Krakauer Zeitung“ 1796 –1806], Lublin 2012. 33 Die Neuherausgabe der polnischsprachigen Publikation von Lubomirskis Beschreibung der Stadt Wien ist als Band II der „Gesammelten Werke des Fürsten ������������������������� Edward Kazimierz Lubomirski“ geplant.

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A. E. F. Klingemann, which, in the introduction to the publication, contains the first Polish programme of national romantic literature inspired by German literature. His second work from this period is an excellent Historical and statistical description of Vienna, full of moral and historical details. It was written in 1815, printed in 1821 and immediately confiscated by the tsar’s censors. The eleventh and last chapter of Lubomirski’s work, titled The Congress of Vienna, provides an interesting description of the Congress, as seen by a participant.

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Wien an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Eine Stadt zwischen Beharrung und Neuem Es ist müßig, die so eindrucksvolle wie umfangreiche Obraz historyczno-statystyczny Wiednia. Oryginalnie 1815 r. wystawiony. Z planem tegoż Miasta ������� [Historisch-statistische Darstellung Wiens, hrsg. 1815 mit einem Plan von Wien], die Fürst Edward Lubomirski (1796 –1823) im jugendlichen Alter von bloß 19 Jahren aus dem Erleben eines Wien-Besuchers zu Zeiten des Wiener Kongresses verfasste und sechs Jahre später in Warschau – allerdings anonym – veröffentlichte, hier in extenso zu kommentieren. Viel klüger und bereichernder ist die Lektüre des Werkes selbst. Was hier freilich aus dem Blickwinkel eines Wien-Historikers geboten sein soll und kann, das ist eine Skizze der Entwicklung der Hauptstadt des Habsburgerreiches, seit 1804 in der Form des österreichischen Kaiserreichs an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert. Wien und seine Bevölkerung durchlebten zur Zeit dieser Jahrhundertwende ausgesprochen schwierige und mannigfach bewegte Jahre bzw. Jahrzehnte. Die Epoche zwischen 1780 und 1820 wird gemäß ihren wirtschaftlichen Veränderungen und ihrer hohen sozialen Dynamik als Periode der Manufaktur bzw. der Protoindustrialisierung bezeichnet. Der angesichts dieser neuen wirtschaftlichen Strukturen boomende Arbeitsmarkt schuf auch für die breite Masse verbesserte Lebensgrundlagen. Folge waren eine steigende Zahl von Haushaltsgründungen und eine ebenso steigende Geburtenziffer. Dennoch – die extreme Säuglings- und Kindersterblichkeit ließ nichts anderes als eine negative Bevölkerungsbilanz zu. Ein längeres Ansteigen der Sterbeziffer (Anzahl der Verstorbenen pro 1.000 Einwohner/Jahr) kehrte sich erst im frühen 19. Jahrhundert um. Infektionskrankheiten waren unter den Todesursachen auch nach dem Erlöschen der Pest (1713) weiterhin führend, allein im letzten Jahrzehnt des 18. Jahrhunderts gab es vier Pockenepidemien, und die Tuberkulose galt sogar als der „morbus Viennensis“. Das Ansteigen der Bevölkerungszahlen – Innenstadt und Vorstädte miteinander zählten 1783 knapp 250.000, 1830 dann bereits 380.000  Einwohner – war nicht anders als in vielen anderen europäischen Städten eine Folge der Zuwanderung. Der Fremdenanteil (Anteil der nicht in Wien gebürtigen Personen) lag 1820 bei 9,5, 1831 bereits bei 30,5 Prozent. An der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert war Wien jedenfalls die viertgrößte Stadt in Europa und im deutschen Sprachraum die größte. Im Hinblick auf die wirtschaftliche Entwicklung schwankte die Situation um 1800 je nach den politischen Rahmenbedingungen zwischen durchaus unter-

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schiedlichen Extremen. Will man ein grobes Bild zeichnen, so war vor allem die ummauerte Innenstadt eine typische Konsum- und Luxusstadt. Die Ära der napoleonischen Kriege führte zu einer Belebung der Kriegswirtschaft bei gleichzeitig starken konjunkturellen Schwankungen, der Tiefstand wurde mit dem Staatsbankrott von 1811 erreicht. Trotz einer kurzzeitigen Besserung in der Zeit des Wiener Kongresses sollten Krisenerscheinungen bis in die Mitte des dritten Jahrzehnts des 19. Jahrhunderts den Ton angeben. Handwerk und Gewerbe unterlagen einer starken Regulierung, was vor allem für die den lokalen Bedarf abdeckenden „Polizeigewerbe“ galt. Aber auch die freieren „Kommerzgewerbe“ brauchten eine Gewerbebewilligung des Magistrats oder – in den Vorstädten – der weiterhin bestehenden Ortsobrigkeiten. Beide Gewerbezweige waren in Form von Innungen organisiert, und nur die Fabriksprivilegierten standen außerhalb dieses strengen, seit dem Mittelalter bestehenden Korsetts. Der bei weitem innovativste Bereich des Wirtschaftslebens war die Manufaktur als frühe kapitalistisch-großbetriebliche Form der Produktion. Sie arbeitete zwar noch ohne Maschinen, doch zeigt das im gewässerreichen Umland von Wien (außerhalb der Vorstädte!) gut nachweisbare Anknüpfen an ältere Mühlenstandorte, wie hier schon früh vorhandene Energiequellen neu genutzt wurden. An hervorragender Stelle der manufakturellen Produktion ist der Textilsektor anzuführen, wobei für Wien selbst die Seiden„industrie“ den ersten Platz einnahm. Um 1800 gab es in Wien rund 150 Seidenfabrikanten, die auf etwa 8.000 Webstühlen produzierten. Sprichwörtlich ist etwa die Bezeichnung „Brillantengrund“ für die erst ab 1777 zu einer eigenen Vorstadt gewordene Zone des Schottenfeldes (heute: Wien 7), spiegelt sich darin doch großer Wohlstand – freilich der Inhaber der Betriebe, nicht der Allgemeinheit. Die Einführung maschinenunterstützter Produktionsformen, dies zunächst vor allem außerhalb der Vorstädte und auf dem flachen Lande, zu Anfang des 19. Jahrhunderts führte zu immer mehr um sich greifender Verelendung der Massen. Für den Wiener Bereich im engeren sollte sich dies in einem für den Staat dieser Epoche typischen Verbot von Industriegründungen auswirken, mittels dessen man der Zunahme mittelloser Industriearbeiter unter der Bevölkerung entgegenwirken wollte. Zugleich stellte der Siegeszug des Einsatzes von Maschinen freilich den Beginn des eigentlichen Industriezeitalters dar. In der städtischen Sozialstruktur spiegelte sich dieses für die wirtschaftliche Entwicklung knapp charakterisierte Schwanken zwischen Extremen in mancher Hinsicht wider. Freilich hielten die seit langem überkommenen Verhältnisse einer tiefgreifenden Veränderung noch stand. Die oberste Schicht nahm weiterhin der Adel ein, der seinen Fokus im kaiserlichen Hof, seine Residenzen in seinen Palais hatte, die schon nach der Zweiten Türkenbelagerung von 1683 in großer Zahl – und zwar sowohl innerhalb der städtischen Befestigungen als auch in den Vorstädten – entstanden waren. Deutlicher als zuvor lässt sich um 1800 allerdings eine zweite Gesellschaftsschicht fassen, in der gehobenes Bürgertum und Beamte

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den Ton angaben. Die nach ihrer Beschäftigung in Formierung befindliche Gruppe der „Angestellten“ strebte gleichfalls nach gesellschaftlicher Anerkennung, konnte dabei entweder dem mittleren oder dem kleineren Bürgertum zugehören. Mit lange Zeit hindurch 15 Prozent Anteil an der Gesamtbevölkerung, zugleich als Spiegel der damaligen Stadtgesellschaft, spielten Dienstboten eine beachtliche Rolle. Eine infolge des wirtschaftlichen Wandels zahlenmäßig immer stärker wachsende Gruppe waren schließlich die Arbeiter, die am unteren Rand des sozialen Spektrums standen, nicht selten als „Pöbel“ galten und eines der Hauptprobleme des sogenannten „Armenwesens“ waren. In räumlicher Hinsicht hatte das Stadtgebiet insbesondere im Bereich der außerhalb der noch immer bestehenden Stadtbefestigungen einen enormen Aufschwung und großen Ausbau erlebt. Die erst hundert Jahre zuvor mit der Errichtung des Linienwalls (1704) territorial umgrenzten und damit territorial fassbar gewordenen Vorstädte waren in ihrer baulichen Ausdehnung um 1800 schon nahe an diesen Wall herangewachsen. Mehrfach war es noch im 18. Jahrhundert zu Gründungsinitiativen von geistlichen wie weltlichen Grundherren gekommen (Breitenfeld, Schottenfeld), das Bürgertum, dabei vor allem Unternehmer, nahmen gleichfalls mit großem Engagement an diesem Ausbau teil. Eine große Aufwertung erfuhren die Wiener Vorstädte nicht zuletzt mit den im Rahmen der josephinischen Kirchenpolitik zahlreich entstehenden Pfarren, die diesen Zonen in vieler Hinsicht zu neuen Formen von Zentralität verhalfen. Förderungen der Stadterweiterung wie zugleich von Stadtverschönerung, wie sie zur Zeit Maria Theresias erkennbar sind, änderten freilich nichts an einer ausgesprochen reaktionären Grundhaltung, die praktisch jedes Anzeichen von Modernisierung einzudämmen wusste. Ein Spannungsverhältnis, wie es zwischen aufklärerischem Geist und restaurativ-reaktionärer Politik wohl bekannt ist, prägte auch die urbanistische Entwicklung. Während in anderen Großstädten des Kontinents die Stadtmauern fielen und man vom Einsetzen einer regelrechten „Entfestigungswelle“ sprechen konnte, hielt man in Wien am militärischen Schutz der Stadtmauer, die freilich auch soziale Grenzlinie war, weiterhin fest. Das Höchste der Gefühle waren in diesem Kontext Maßnahmen, die Kaiser Joseph II. (1765 –1790) setzte und dabei die Nutzung von militärischem Sperrgebiet – etwa der Basteien oder des Glacis’ – durch die Öffentlichkeit ermöglichte und sogar bislang ausschließlich dem Kaiserhaus vorbehaltene Gebiete, wie den Prater oder den Augarten, allgemein freigab. Die Inschrift über dem Hauptportal des ursprünglich kaiserlichen Augartens „Allen Menschen gewidmeter Erlustigungs-Ort von ihrem Schätzer“ bezeichnet die Intentionen aufs Beste. Das Innere des weiterhin von den städtischen Befestigungen eingefassten Stadtzentrums hatte im Gefolge der Klosteraufhebungen Kaiser Josephs II. eine Reihe von Veränderungen erfahren. Betroffen waren mit dem Königin- und dem Dorotheerkloster gleich zwei Ordensniederlassungen nahe der Burg, die Aufhebungen des Nikolaiklosters in der Singerstraße, der Himmelpförtnerinnen und

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der Laurenzerinnen am Fleischmarkt machten im östlichen Gebiet der Stadt Platz für Neues frei, die des Siebenbüchnerinnenklosters an der Nordseite der Stadt. Auch außerhalb der Stadtmauern in den Vorstädten kam es zu Schließungen von Ordenshäusern: Betroffen waren etwa das Trinitarierkloster an der Alser Straße und das Benediktinerstift Montserrat vor dem Schottentor. Auch unter dem zweiten Nachfolger Josephs II., Kaiser Franz II., setzten sich diese Maßnahmen trotz dessen Abgehens von der Rigorosität der josephinischen Kirchenpolitik u. a. mit der Aufhebung der Paulaner auf der Wieden, der Beschuhten Karmeliter auf der Laimgrube, des Kapuzinerklosters St. Ulrich und des Augustinerklosters St. Rochus auf der Landstraße praktisch rund um die Innenstadt fort. Etliche der alten innerstädtischen Prälatenhöfe von aufgehobenen Klöstern außerhalb Wiens fielen gleichfalls an den Staat, wurden veräußert und neuen Zwecken zugeführt. Schließlich ist die Aufhebung des Bürgerspitals, verbunden mit dem Abbruch seiner Kirche am Lobkowitzplatz bei der Albertina, zu nennen, die zwar nicht Ausdruck der Kirchenpolitik, aber eben doch der grundsätzlichen josephinischen Reformpolitik war. Und nicht zu vergessen sind auch die gleichfalls zu den josephinischen Reformen zählenden Maßnahmen der Toleranzpolitik, die es im Gefolge des Toleranzpatents (1781) sowohl den Protestanten als auch den Juden ermöglichten, ihren Glauben öffentlich zu leben. Die sich hier ergebenden Möglichkeiten von Veränderungen und Wandel stehen freilich in scharfem Kontrast zu dem bereits erwähnten unbeirrten Festhalten am Bestand des Basteiengürtels. Wiewohl der Festungscharakter Wiens bereits die eine oder andere kleinere Einbuße hatte hinnehmen müssen – man denke an die Freigabe der Basteien für die Allgemeinheit, an die Öffnung von Spazierwegen über das Glacis oder auch die Errichtung der Albertina für Erzherzog Albert von Sachsen-Teschen –, eine Entfestigung, eine Demolierung der Stadtmauern stand außerhalb jeder Diskussion. Selbst die Sprengung der seit dem 17. Jahrhundert bestehenden Außenwerke, der Ravelins, durch die abziehenden französischen Truppen 1809 änderte daran nichts – sie wurden allerdings nicht mehr wiederaufgebaut. Nur zwischen Augustiner- und Löwelbastei wurde die Stadtmauer ab 1817 etwas weiter nach außen zu verlegt und das Neue Äußere Burgtor errichtet. Die konstitutionellen Gegebenheiten in Wien verharrten trotz so mancher Reformbemühungen der Ära Kaiser Josephs II. im Wesentlichen in traditionellen, althergebrachten Formen, und daran vermochte auch die eine oder andere Auswirkung der Französischen Revolution letztlich kaum etwas zu ändern. Besonders signifikant ist dabei aus der Sicht der eigentlichen Stadtverwaltung die mehr als drei Jahrzehnte umfassende Amtszeit von Bürgermeister Josef Georg Hörl, der als am längsten amtierender Bürgermeister (1773 –1804) in die Geschichte Wiens eingegangen ist. Was freilich trotz eines hohen Ausmaßes an Konservativismus unverkennbar ist, ist eine Reihe von durchaus als Innovationen zu bezeichnenden Maßnahmen, die zumindest als Anzeichen von Modernisierung und Wandel gelten dürfen. Zu nennen wären dabei nicht nur die Josephinische Magistratsre-

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form, sondern auch die erste generelle Nummerierung sämtlicher Häuser in der Stadt und in den Vorstädten mittels der sogenannten „Konskriptionsnummern“. Im Kern eine Folgewirkung der militärischen Konskription, brachte dies doch erstmals eine Systematik und Ordnung in den städtischen Wildwuchs an Bebauung, die es bislang nicht gegeben hatte. Wenngleich mehrfache Neunummerierungen ab 1795 von neuem zu einem regelrechten Chaos führten, ist an diesem Verdikt festzuhalten. Innovationen im Bereich der städtischen Infrastruktur, bei Straßenpflasterung, Beleuchtung, Wasserversorgung oder auch im Bereich der Krankenhäuser („Allgemeines Krankenhaus“) wurden zwar gesetzt, reichten aber letztlich nicht aus, die Verhältnisse erkennbar zum Besseren zu wenden. Eines der Kernprobleme, die lange Zeit hindurch nicht wirklich zu lösen waren, stellte die Lebensmittelversorgung der an Zahl ständig wachsenden Bevölkerung dar. In politischer Hinsicht schließlich sollte Wien an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert eine Phase von besonders gravierenden Rupturen, Brüchen und Erschütterungen erleben. Schlagworte wie Französische Revolution – in Wien und Österreich in seinen Folge- und Auswirkungen zunächst mit Strenge und Härte wie auch mittels der Förderung eines markanten Patriotismus abgewehrt –, napoleonische Kriege, verbunden mit schweren Niederlagen und zweimaliger Besetzung Wiens in den Jahren 1805 und 1809, das Ende der jahrhundertealten Reichsverfassung, die Schaffung eines österreichischen Kaisertums 1804 und die Niederlegung der Krone des römisch-deutschen Reiches zwei Jahre später, schließlich der nur auf der Grundlage von großen Koalitionen mögliche Triumph über Napoleon Bonaparte und die in Wien auf dem großen Kongress fixierte Neuordnung Europas – sie vermögen diese Jahrzehnte in ausreichender Weise zu charakterisieren, ohne dass hier auf Einzelheiten genauer eingegangen werden müsste. Die Stadt muss in jedem Fall einen so jungen Menschen wie Fürst Lubomirski zu faszinieren in der Lage gewesen sein. Für den Angehörigen des hohen Adels dürfte es nicht zum Wenigsten auch das so vielfältige kulturelle Flair gewesen sein, das auf ihn in besonderer Weise Eindruck machte. Wenn er in diesem Zusammenhang etwa bedeutende und (auch von ihm) bewunderte Musiker wie Joseph Haydn und Ludwig van Beethoven, ausdrücklich nennt und zugleich die hohe Qualität der Orchestermusiker lobt, so bezeichnet er mit diesen beiden sowohl die Größe vergangenen Musikschaffens als zugleich die Exzeptionalität der gegenwärtigen Musikproduktion und -reproduktion. Theater und Literatur in Wien werden von ihm eher kritisch beurteilt, wobei freilich zu bedenken ist, dass es sich dabei um Felder handelte, die zu seinen persönlichen hohen Begabungen zählten. Aus größerer Distanz und nicht nur durch die Brille des jungen Polen gesehen, wird man freilich gerade auch auf dem Gebiet kulturellen Schaffens nicht umhinkönnen, die Fragmentiertheit der Situation zu sehen, in der sich Wien in dieser Epoche befand. Zum einen die frühe Dynamik wirtschaftlichen Aufschwungs und Ausbaus der Vorstädte, politisch hoch ausgebildetes Selbst-

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verständnis und eine gelebte Identität, zum anderen im Gefolge des Manufakturzeitalters und der einsetzenden Industrialisierung verstärkt um sich greifende Massenverelendung und zugleich politisch höchst bewegte Zeiten – zu all diesen Symptomen der Epoche zählt andererseits eine erkennbare kulturelle Blüte, insbesondere auf dem Felde des Musikschaffens, bei dem neben den Repräsentanten der Wiener Klassik, die bei Lubomirski angeführt werden, auch Franz Schubert zu nennen ist. Literatur und Theater sowie die bildenden Künste, die weniger im Blickpunkt Lubomirskis stehen, trugen ebenso maßgeblich dazu bei, Wien in diesen Jahren zu einem Brennpunkt künstlerisch-kulturellen Schaffens zu machen. Allerdings ist zu betonen, dass in diesen Bereichen die großen Persönlichkeiten und Werke den Lebensbogen des jungen Polen schon deutlich übersteigen, wenn etwa an Namen wie Ferdinand Raimund, Franz Grillparzer oder Johann Nestroy, Ferdinand Georg Waldmüller, Moritz von Schwind, Friedrich von Amerling und Friedrich Gauermann zu denken ist. Die Lubomirskische Beschreibung Wiens fügt sich nicht zuletzt in Verbindung mit ihrer Bezeichnung als „Historisch-statistische Darstellung“ in die im frühen 19. Jahrhundert gängigen Trends ein. Es war die Epoche, in der man hohen Wert auf eine möglichst exakte, „statistische“ (= vom Grundsatz her wissenschaftliche) Aufnahme des Vorhandenen legte und zugleich das Genre der Stadtbeschreibung einen wahren Höhepunkt erlebte. Nicht wenige vergleichbare Werke kamen in diesen Jahren auf den Markt, und es möge reichen, hier auf die Arbeiten eines Ignaz de Luca (1746 –1799), eines Franz de Paula Gaheis (1739 –1809) oder eines Johann Pezzl (1756 –1823) zu verweisen, deren Werke in den 1780er und 1790er Jahren sowie im frühen 19. Jahrhundert veröffentlicht wurden. Für die historische Forschung bilden solche Veröffentlichungen eine für ältere Zeiten schmerzlich vermisste Grundlage für die Analyse der Verhältnisse, ja, in gewisser Weise leiten sie als Quellentyp – zumindest teilweise – zu den in den folgenden Jahrzehnten aufkommenden amtlichen Statistiken über. Der Ansatz Lubomirskis war alles andere als frei von der Verwendung älterer Vorbilder, wenn etwa eine kurze Geschichte der Stadt ganz selbstverständlich Anfang und Einleitung seines Werkes bildete. Darüber hinaus fesselten den polnischen Adeligen aber eben nicht nur das Äußere, die Lage oder die herausragenden Gebäude Wiens, er widmete sich in umfangreichen Kapiteln Elementen der wirtschaftlichen, der sozialen und der kulturellen Verhältnisse, wobei sein Interesse durchaus auch dem Alltag, der Umgebung der Stadt bis hin zu erotischen Themen galt. Wien erlebte gerade zu Ende der napoleonischen Herrschaft und in den Tagen des Wiener Kongresses eine Situation, in der das Künftige keineswegs ausgemacht und bereits erkennbar war, vielmehr Rupturen gegenüber Althergekommenem, verbunden mit erneuter Restaurationspolitik, eine vielfach fragmentierte städtische Realität zur Folge hatten. Dass ein zweifellos hoch gebildeter, gleichwohl äußerst junger Mann diese Unausgegorenheit, ja dieses vielfache Brodeln in der Residenzstadt im Umbruch als äußerst anregend empfunden haben muss, davon legt sein Werk deutlich Zeugnis ab.

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Der Beitrag fußt im Wesentlichen auf den folgenden Nachschlagewerken: Wien Geschichte Wiki (digitale historische Wissensplattform der Stadt Wien), siehe: [https://www.geschichtewiki.wien.gv.at/Wien_Geschichte_Wiki], eingesehen 27.09.2020. Digitale Sammlungen der Wienbibliothek im Rathaus: Reiseführer und Stadtbeschreibungen, siehe: [http://www.wienbibliothek.at/bestaende-sammlungen/ digitale-sammlungen], eingesehen 27.09.2020. Csendes Peter, Opll Ferdinand (Hgg.), Die Stadt Wien (Österreichisches Städtebuch, hg. v. Othmar Pickl, Bd. 7), Wien 21999. Csendes Peter, Opll Ferdinand (Hgg.), Wien. Geschichte einer Stadt, Bd: 2: Die frühneuzeitliche Residenz (16. bis 18. Jahrhundert), hg. v. Karl Vocelka, Anita Traninger, Wien, Köln, Weimar 2003. Csendes Peter, Opll Ferdinand (Hgg.), Wien. Geschichte einer Stadt, Bd. 3: Von 1790 bis zur Gegenwart, Wien, Köln, Weimar 2006. Mayr Josef Karl, Wien im Zeitalter Napoleons. Staatsfinanzen, Lebensverhältnisse, Beamte und Militär (Abhandlungen zur Geschichte und Quellenkunde der Stadt Wien, Bd. 6), Wien 1940. Opll Ferdinand, Stadtbild und Stadtsein Wiens um 1800. Veränderungen und Wandel – Beharrung und Konstanz, in: Thomas Just, Wolfgang Maderthaner, Helene Maimann (Hgg.), Der Wiener Kongress. Die Erfindung Europas, Wien 2014, S. 146 –161.

Der Kongress (von Edward Lubomirski)* Wer auch immer dieses Kapitel zu lesen geruht, möge von dem Vorurteil Abstand nehmen, dass die nachstehenden Folgerungen aus dem bei den Polen allgemeinen Hass gegenüber den angrenzenden Völkern resultieren, die polnische Gebiete in Besitz halten1. Nachdem wir die mit der Muttermilch eingesaugten Meinungen beiseitegelassen haben und als Weltbürger räsonieren, dämpfen wir die Stimme der Leidenschaft, um leichter einen Faden zu finden, der uns aus dem Labyrinth der politischen Metaphysik herauszuführen vermag. Wenn wir jedoch von Polen sprechen – wie kann man verlangen, dass ein Pole sein Vaterland vergisst und dass er bei der aufkeimenden Erinnerung an die rühmliche Geschichte seines Volkes nicht bestrebt ist, Ähnliches zu vollbringen? Wie kann er bei dem Gedenken, wer er einst war und wie wenig er in diesem Jahrhundert gilt, ruhig sein schweres Los ertragen? Ihr, die Ihr uns hasst, lasst uns wenigstens den Trost unserer Erinnerungen und Hoffnungen. Warum seid Ihr so gegen uns eingestellt? Ist der Anblick des Gepeinigten für den Peiniger so unbequem? Wir lassen mehr Gerechtigkeit walten als Ihr – nicht die Völker, sondern die Königshöfe führten uns ins Verderben. Die Völker zu hassen wäre ein Verbrechen, die an unserem Unglück Schuldigen anzuprangern, ist eine Tugend. Allen Völkern muss man Hochachtung zollen, alle Völker sollten miteinander brüderlich verbunden sein, jedoch ihre Nationalität wahren, da diese der Hort der Unabhängigkeit ist. Die Deutschen weisen viele * Dieser Text entstammt dem von Edward Lubomirski verfassten und anonym veröffentlichten Werk: ������������������������������������������������������������������������������������ Obraz historyczno-statystyczny Wiednia. Oryginalnie 1815 r. wystawiony. Z planem tegoż Miasta [Historisch-statistische Darstellung Wiens, herausgegeben 1815 mit einem Plan von Wien], Warszawa 1821, on-line [https://polona.pl/item/obraz-historyczno-statystycznywiednia-oryginalnie-1815-r-wystawiony-z-planem-tegoz,MTc2MTYxNg/2/#info:metadata], eingesehen 31.08.2020; es ist dessen Kapitel XI. Die mit eckigen Klammern versehenen Anmerkungen in Kursivschrift stammen vom Herausgeber dieser Publikation. 1 [Dies ist eine Anspielung auf die Teilungen von Polen (Polen-Litauen), die in den Jahren 1772, 1793, 1795 von Russland, Preußen und Österreich durchgeführt wurden. Infolge der Teilungen verschwand die polnisch-litauische Republik von der Landkarte Europas. 1807 gründete Napoleon in einem Teil des preußischen Teilungsgebiets das Herzogtum Warschau. Herzog von Warschau wurde der König von Sachsen Friedrich August I. Das Herzogtum Warschau wurde infolge des Krieges im Jahr 1809 durch die Eingliederung eines Teils des österreichischen Teilungsgebiets (mit Krakau) erweitert. Auf dem Wiener Kongress wurde aus einem Teil des Herzogtums Warschau das Königreich Polen (Kongresspolen) unter dem Zepter des russischen Zaren Alexander I. gegründet.]

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hervorragende Eigenschaften auf, sie können uns im öffentlichen und privaten Leben als Vorbild dienen, ebenso im Handwerk, in den freien Künsten, in der Wissenschaft und Literatur, in der Art, die Erde fruchtbar zu machen und aus ihr durch Arbeit und Können Nutzen zu ziehen. Wer sie also verachten würde, verdiente selbst Verachtung. Mit den Russen sind wir eng verwandt, wir stammen von derselben Mutter ab. Wir loben ihren Mut, ihre Vaterlandsliebe, ihren Witz, ihre angeborene Intelligenz, ihre Fähigkeiten und ihren Verstand. Wie der berühmte Dichter Trębecki2 einst meinte: … man muss bedenken, dass der Russe mit uns hat dieselben Anfänge ein Blut, eine Sprache, eine harte Veranlagung ungebrochne Kühnheit und des Todes Verachtung.

Wenn wir allen anderen gegenüber Gerechtigkeit bekunden, werden auch sie uns Gerechtigkeit widerfahren lassen und unsere guten Eigenschaften schätzen. Solch eine Annäherung der Völker ist von gegenseitigem Nutzen. Es wurde allgemein angenommen, dass mit dem Sturz Napoleons für die Völker Europas Glück und Einheit zurückkehren würden. Man hat sich davon die Wiedererlangung der einstigen Besitztümer und Privilegien, einen stabilen Frieden und ein festes Fundament für eine neue politische Ordnung versprochen. Dass unsere Hoffnungen enttäuscht wurden, ist nicht so überraschend wie die Tatsache, dass die Monarchen ihr Versprechen nicht gehalten haben. Die Unredlichkeit der neuen Machthaber wird zum ewigen Makel an dem von ihnen erbrachten Werk, und mit der Zeit werden sie durch die Umstände gezwungen, ihr Wort zu halten und das zu gewähren, was sie freiwillig nicht geben wollten. Fürst Talleyrand soll gesagt haben: „An Napoleon wurde nicht sein Gesetzeswerk gehasst, sondern seine Siege.“ Er hatte Recht, es war nicht das Streben nach Gerechtigkeit, nicht das Leiden der Menschheit, nicht die Liebe zum Volk, sondern Neid, Hochmut und gewöhnlicher Hass, die die Menschen denjenigen entgegenbringen, die durch ungewöhnliche Kräfte überlegen sind, welche den Herrschern den Ansporn gaben, sich zu vereinen, um den Riesen zu stürzen. Ihr Handeln ist die beste Bestätigung dafür – sie haben dessen Gesetze, welche zu den Gesetzen der Menschlichkeit, dem Glück der Gesellschaft, der Entwicklung der Staaten, dem rationalen Verbreiten der Aufklärung sowie dem gesunden Menschenverstand im Widerspruch stehen, größtenteils beibehalten. Nicht für alle Gesetze gelten diese Vorwürfe, aber jedes Gesetz ist mit einigen von ihnen behaftet. Es ist wahr, dass das Tun und die Angelegenheiten der Sterblichen nicht vollkommen sind, sind wir doch alle Menschen, und all unsere Werke verraten die Fehlbarkeit

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[Stanisław Trembecki (1739 –1812), polnischer Dichter der Aufklärung und königlicher Kammerherr des letzten polnischen Königs Stanisław August Poniatowski.]

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ihrer Urheber. Man kann ebenfalls kaum verlangen, dass die Monarchen, geleitet von diversen Beweggründen, das Wohl ihres Landes zugunsten der verschiedensten Beziehungen zwischen den Völkern und dem Wohl von ganz Europa opfern. Die Eigenliebe ist bei den Menschen ebenso wie bei den Regierungen verbreitet. Seit jeher denkt der Mensch zunächst an sich selbst, und jede Regierung strebt danach, ihre Macht beizubehalten. Es ist noch nie vorgekommen, dass ein Staat aus purer Zuneigung zu einem anderen Staat diesem auch nur einen Bruchteil seiner Besitztümer oder seiner Macht freiwillig abgetreten und somit seine eigene Daseinsberechtigung geopfert hätte. Es war also leicht zu erraten, dass eine plötzliche Notwendigkeit die Verbündeten vereinte, von denen man keine beständige Freundschaft erwarten kann, da diese nie aufrichtig war. Um die Völker für diese Sache zu gewinnen, beriefen sich die Monarchen auf edle Beweggründe. Die Vorsehung bediente sich ihrer, um jenen zu stürzen, welchen man einst einen geschickten Anführer, tatkräftigen Konsul, stolzen Kaiser, ein großes Genie, den Unbesiegbaren, ja sogar einen Gott nannte, und der jetzt lediglich ein Mensch ist. Eine genaue und wahrheitsgetreue Beschreibung der Geschichte unserer Zeit stellt ein unmögliches Unterfangen dar. Alle wären beleidigt und niemand würde unser Werk lesen. Die Monarchen an ihr Versprechen zu erinnern – das bedeutet, sie anzuprangern, und einen Krieg gegen sie zu führen, ist gefährlich. Da wir nicht schmeicheln können, bleibt uns nur zu schweigen. Wir werden daher nur jene Vorkommnisse anführen, welche jene Personen, die in dieser Zeit die politische Waagschale in ihrer Hand hielten, weniger beleidigen können. Wien wurde zum Ort des Zusammentreffens von so vielen Beteiligten auserkoren, und dies wird in der Geschichte dieser Stadt wahrscheinlich das bedeutendste Kapitel bleiben. Es ist überdies fraglich, ob diese Wahl die richtige war. Eine bevölkerungsreiche Stadt, die viele Zerstreuungen und Vergnügungen bietet und gleichzeitig ein guter Ort für Intrigen ist, schien kein anständiger Platz für eine so wichtige Sache zu sein. Diese Anmerkung ist zutreffend und wurde durch die späteren Geschehnisse bestätigt. Nach der Völkerschlacht bei Leipzig fiel es den Truppen der Verbündeten leicht, die zerstreuten französischen Einheiten zu zerschlagen. Das Schicksal dieses außergewöhnlichen Mannes wendete sich und auch sein Glück, und mit dem Glück fiel auch der Zauber, in dessen Bann er Europa gehalten hatte. Das Heer hatte keinen Anführer mehr, das Volk kein Oberhaupt, das Land war erschöpft und die Hauptstadt Frankreichs befand sich in den Händen seiner Feinde. Hätte jemand die damaligen Manifeste der Verbündeten angeführt, hätte er gleichzeitig die großen Widersprüche aufgezeigt und auch viele nicht eingehaltene Versprechen. Da man erkannte, dass Napoleon keine Gefahr mehr darstellte, verzichtete man auf die angedachten Unternehmungen. Der vorläufige Friede brachte Nachteile für zahlreiche Völker, und viele Hoffnungen waren zunichte gemacht. Seine Bestimmungen erweckten allgemeinen Widerwillen, unsichtbar glomm der Funke, der zu einer großen Feuersbrunst hätte führen können.

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Der am 30. Mai 1814 unterzeichnete Pariser Friedensvertrag bestimmte, dass jene Staaten, die auf beiden Seiten gegeneinander Krieg führten, ihre Vertreter nach Wien zu einem Kongress entsenden, dieser begann jedoch erst am 1. November. Für die weiteren Ereignisse war es ein glücklicher Umstand, dass die gekrönten Häupter dorthin kamen, denn ohne sie wäre es noch schwieriger, das Werk zu vollenden, vielleicht wäre es sogar unterbrochen worden oder es hätte Missverständnisse zwischen den Abgesandten gegeben, und dann wäre ein Krieg unabwendbar gewesen. Man kann sich schwer vorstellen, was nach der Landung Napoleons in Frankreich geschehen wäre, hätte man nicht rasch so starke Kräfte gegen ihn zusammengezogen. Der Zar von Russland, die Könige von Preußen, Bayern und Württemberg mit ihren Söhnen, der König von Dänemark, die Großfürsten von Baden und Sachsen-Weimar, die Zarin von Russland, russische Großfürstinnen, die Königin von Bayern und viele regierende deutsche Fürsten bildeten die Versammlung der Herrscher. Dazu kamen die Außenminister, Mitglieder des diplomatischen Korps und viele Ausländer, so dass dieser Kongress einer der an Teilnehmern zahlreichsten war. Nicht alle Akteure jedoch, die für jenes Schauspiel vorgesehen waren, hatten die entsprechende Fähigkeit und das nötige Talent, um ihre Rollen adäquat zu spielen. Einige von ihnen hatten ihren hohen Rang und ihre Beliebtheit nur günstigen Umständen zu verdanken. Sie werden in der Erinnerung der nächsten Generationen lediglich im Zusammenhang mit den von ihnen unterzeichneten Verträgen bleiben. Niemand jedoch wird ihnen jenen Ruhm neiden, der ein ewiger Beweis für ihre kleinmütigen politischen Ideen, eine ewige Quelle von Misshelligkeiten und die Ursache künftiger Miseren sein wird. Dieser Vorwurf ist nicht an alle Teilnehmer gerichtet, wir sahen weise Männer und bedeutende Minister, die mit großem Können die Hauptrolle zu spielen wussten, obwohl infolge der letzten Ereignisse der Einfluss ihrer Höfe geringer geworden war und ihr Genie sowie ihr Verstand der Gewalt weichen mussten: die Fürsten Talleyrand und Hardenberg, Humboldt und Labrador werden für immer ihren Rang unter den besten Diplomaten einnehmen. Die sich in die Länge ziehende Anreise der Abgesandten, langatmige Beratungen vor der Unterzeichnung und die zu häufigen Vergnügungen hatten zur Folge, dass der Kongress erst am 1. November eröffnet wurde. Ganz Europa, was sage ich, vier Teile der Welt, erwarteten mit Ungeduld die erste amtliche Nachricht über die Verhandlungen der Kongressteilnehmer. Die Deklaration vom 8.  Oktober3 über die Festsetzung des Kongressbeginns öffnete den Verblendeten die 3



[Die Übersetzung aus dem Französischen lautet:] „Die bevollmächtigten Minister der Höfe, von denen am 30. Mai 1814 der Pariser Friedens-Traktat unterzeichnet wurde, haben den 32. Artikel desselben, durch welchen bestimmt war, dass die von der einen und der anderen Seite in dem letzten Kriege begriffen gewesenen Mächte Bevollmächtigte nach Wien schicken sollten, um auf einem allgemeinen Kongress die zur Vervollständigung jenes Traktats erforderlichen Maßregeln festzusetzen, in Erwägung gezogen, und nach reifem Nachdenken über die dar-

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Augen, Fürst Talleyrand soll darüber gesagt haben, dass sie die Frucht von drei Wochen Beratung und zwanzig Stunden Arbeit sei. Herr Castlereagh fügte hinzu, dass man sich bisher gut amüsiert habe. Diese beiden Anmerkungen geben das Bild der damaligen Vorgehensweise genau wieder. In der Tat war es schwer, es allen recht zu machen, da alle Völker miteinander zerstritten waren, und obwohl sie dem Bündnis beitraten, kamen so der alte Hass und Neid zum Vorschein, trotz der oberflächlichen Freundschaft. Dabei waren die einander zugefügten Kränkungen stets dazu angetan, das Feuer der Zwietracht von neuem zu schüren. Auch den Monarchen fiel es immer schwerer, ihre Untertanen, die ihre Freiheitsrechte mehr oder weniger wahrzunehmen begannen und Privilegien forderten, welche sie entweder schon genossen oder welche ihnen versprochen wurden oder auch welche sie in anderen Ländern beobachteten, in die Irre zu führen. Die von ihren Herrschern aufgerufenen Völker kamen dem Aufruf nach und sammelten sich in zahlreichen Schwadronen unter den Fahnen, die über den Schlachtfeldern an der Beresina und bei Leipzig wehten. Sie begannen ihre Macht zu spüren, als der Krieg ein erfolgreiches Ende fand: das gab ihnen das Selbstvertrauen und den Mut, eine Belohnung für ihre Mühen und Verluste zu fordern. Den Regierenden fällt es also in unserer Zeit schwer zu herrschen, denn die Völker urteilen nunmehr über sie, während sie ehedem erst von den Nachfahren beurteilt wurden. Leichter hingegen ist es für die Diplomaten, da die Politik offener ist. Doch die Diplomaten vermochten auf dem Wiener Kongress nicht so leicht die Gewohnheit von Intrigen, die bis dahin als kluge Politik erachtet wurden, abzulegen. Sie kündeten die liberalsten Regeln und dachten so lange nach, bis das Ergebnis den Worten der Deklaration entsprach: „…ein mit den Grundsätzen des Völkerrechts, den Stipulationen des Pariser Friedens, und den gerechten Erwartungen der Zeitgenossen möglichst übereinstimmendes Resultat zu erreichen…“4.

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aus entspringenden Verhältnisse und Pflichten erkannt, dass es ihre erste Sorge sein musste, zwischen den Bevollmächtigten sämtlicher Höfe freie und vertrauliche Erörterungen einzuleiten. Zugleich aber sind sie zu der Überzeugung gelangt, dass es dem gemeinschaftlichen Interesse aller Teilnehmer angemessen sein wird, eine allgemeine Zusammenberufung ihrer Bevollmächtigten bis auf den Zeitpunkt zu verschieben, wo die von ihnen zu entscheidenden Fragen den Grad der Reife gewonnen haben werden, ohne welchen ein mit den Grundsätzen des Völkerrechts, den Stipulationen des Pariser Friedens, und den gerechten Erwartungen der Zeitgenossen möglichst übereinstimmendes Resultat, nicht zu erreichen sein würde. Die förmliche Eröffnung des Kongresses ist demnach bis aus den 1. November ausgesetzt worden, und die obgedachten bevollmächtigten Minister leben der Hoffnung, dass die in der Zwischenzeit vorzunehmenden Arbeiten, zur Berichtigung der Ideen, zur Ausgleichung der Ansichten und zur Beförderung des großen Werkes, welches der Gegenstand ihrer gemeinschaftlichen Sendung ist, wesentlich beitragen werden. Wien, den 8. Oktober 1814.“ [Das Zitat im Original auf Französisch lautet:] „le resultat répond aux principes du droit public, aux stipulations du traité de Paris et à la juste, attente des contemporains“.

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Zu ihrer Rechtfertigung unterzeichneten sie eigenartige Verträge, denn sie kündeten den Frieden, während in ihren Herzen der Krieg wohnte. Und obwohl alles gerecht gewogen sein sollte, ersetzten bloß neue Ungerechtigkeiten die alten. Bei dem Kongress sahen wir eine Ansammlung der Genies des 19. Jahrhunderts. Man konnte sie an ihren Sternen und Ordensbändern erkennen, mit denen sie geschmückt waren. Es gab dort Helden, die niemals gekämpft hatten, große Generäle, die meist besiegt worden waren und für sich selbst gute Politik machten, nicht sie jedoch werden durch ihr Zutun jene außergewöhnliche Epoche unvergesslich machen. Vielmehr ist es die Epoche, die ihnen ewige Unsterblichkeit bescheren wird. Baron Stein5 hatte sich vor einem großen Auditorium in Sachen Deutschland zu verantworten; man muss nur bedauern, dass seine Heimat keine glückliche Wahl getroffen hatte. Obwohl es diesem Minister weder an Kenntnis noch an Verstand mangelt, ist er ein zu großer Unruhestifter, um bei Friedensverhandlungen konziliant zu sein, zudem schadeten seine moralischen Einstellungen seinem Ansehen, so dass seines Bleibens am Kongress nicht lange war. Es gab vielleicht Diplomaten mit weitaus gefährlicheren Ansichten; sie vermochten diese jedoch zu verbergen, wogegen Stein die neue republikanische Philosophie schamlos verkündete. Österreich fand nicht viel Hilfe und Leistung bei seinen Ministern und Diplomaten, mit Ausnahme des ehrwürdigen Herrn Gentz6. Es schien, dass seine Fähigkeiten deshalb so groß waren, da er kein gebürtiger Österreicher war; er verfasste das Protokoll der Verhandlungen, schrieb ausdruckskräftig, war stets ein Befürworter der englischen Ordnung und ein besserer Schriftsteller als Geschichtsschreiber. Vié de Cesarini, Ritter des Ordens des Heiligen Johannes von Jerusalem, überreichte beim Kongress ein Schreiben, welches das dringende Bedürfnis anführte, für den Johanniter-Orden eine Niederlassung im Mittelmeerraum zu gewährleisten. Unter anderen führte er aus: „Dieser Orden entstand in Jerusalem, erblühte auf Rhodos, wurde von Malta vertrieben, und wäre in Wien endgültig untergegangen, wenn er im Mittelmeerraum nicht lebenswichtig gewesen wäre. Da er bereits seit acht Jahrhunderten eine bedeutende Seemacht ist, ist nur er allein imstande, die unerträglichen Plünderungen der afrikanischen Herrscher im Zaum zu halten. Als Adelsorden wird er in Zukunft den jüngeren Söhnen verarmter adeliger Familien ein anständiges Einkommen gewärtigen. Dies war von Anfang an seine Bestimmung, dies wird auch weiterhin ein Beweggrund dafür sein, ihn zu erhalten.“ Im Weiteren führte er aus, die Politik aller europäischen Großmächte sei es, für einen Sitz dieses 5



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[Heinrich Friedrich Karl Reichsfreiherr vom und zum Stein (1757 –1831), preußischer Beamter, Staatsmann und Reformer.] [Friedrich von Gentz (1764 –1832), deutsch-österreichischer Schriftsteller, Staatsdenker und Politiker sowie Berater von Metternich.]

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Ordens zu sorgen. Er war mit seiner Forderung genauso erfolglos wie Herr Syd���� ney Smith mit der seinen. Der damalige russische Gesandte in der Schweizer Eidgenossenschaft, Graf Capodistrias7, zeigte auf dem Kongress ein außergewöhnliches Geschick, sodass ihm die Schweizer hinsichtlich ihrer Freiheit viel zu verdanken haben. Er gehört zum Kreis überdurchschnittlicher Menschen, die mit ihrem Verstand ein großes Wissensspektrum umfassen. Seine Analyse ist tiefgründig, er ist so weit Diplomat, soweit dies ein edler Mensch sein kann, der das Recht der Völker respektiert und die Freiheit so hoch schätzt, dass, obwohl er einem Monarchen dient, er um dessen Dankbarkeit nicht buhlt. Er ist überaus umgänglich, in der Gesellschaft ein geschätzter Philosoph, eine Konversation mit ihm ist originell und inhaltsvoll, er bringt seine Meinung zum Ausdruck und findet Gefallen daran, die Meinung seiner Gesprächspartner kennenzulernen. Ausgestattet mit der lebhaften Vorstellungskraft der Bewohner südlicher Länder, besitzt er ebenso die rege Vernunft, die Menschen aus dem Norden eigen ist. Der ehrwürdige russische Minister, Herr von Anstett8, allgemein bekannt für seine gut geführte Feder und seinen Witz, war sehr darum bemüht, die Republik Krakau9 zu gründen. Dieses eine von den vielen eigenartigen Vorhaben des Kongresses zeugt davon – wenn man die Deklaration vom 8. Oktober zitiert – dass, wenn „der Kongress der gerechten Erwartung der Zeitgenossen entgegen kommen soll“, die Menschen dieses Jahrhunderts nur geringe Erwartungen hegen. Ein ehrwürdiger Mann10 aus einem hervorragenden Geschlecht, der die republikanische Gesinnung der ersten Jahrhunderte des antiken Rom mit erhabenen Gefühlen verbindet, hatte er bereits in jungen Jahren die Freundschaft des Großfürsten Alexander gewonnen, der nach dem Besteigung des russischen Throns sein volles Vertrauen in ihn setzte. Auch bei der großen Wiener Zusammenkunft verließ sich der Zar sehr stark auf diesen Mann, der indirekt und diskret agierte. Er allein hatte das Recht, für sein unglückliches Vaterland zu sprechen, denn neben seinen anderen Tugenden ist seine größte die, ein guter Pole zu sein. Könnte ich das doch von all meinen Landsleuten sagen! Aber dieser weise Pole ist das beste Beispiel dafür, wie oft der   7

[Ioannis Kapodistrias (1776 –1831) war zu einem späteren Zeitpunkt, von 1827 bis 1831, der erste Staatspräsident des unabhängigen Griechenlands.]   8 [Johann Protasius von Anstett (1766 –1835) war russischer Diplomat.]   9 [Die Republik Krakau beziehungsweise die Freie Stadt Krakau war ein polnischer Stadtstaat, der im Zuge des Wiener Kongresses 1815 geschaffen wurde und bis 1846 unter dem Protektorat der Teilungsmächte Russland, Preußen und Österreich bestand. Nach dem Aufstand im Februar 1846 wurde er Galizien eingegliedert.] 10 [In diesem und im darauffolgenden Absatz ist von Fürst Adam Jerzy Czartoryski (1770 –1861) die Rede, der während des Wiener Kongresses als Vertreter der polnischen Interessen eine wichtige politische Rolle gespielt hat, zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Werkes von Lubomirski (1821) spielte er im politischen Leben in Kongresspolen jedoch eher eine marginale Rolle. Wahrscheinlich wollte Lubomirski ihn aus diesem Grund erwähnen.]

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Schein trügt, wie wenig man auf die Freundschaft von höher Gestellten bauen kann, wie trügerisch die Gunst des Hofes ist, denn: Die Öffentlichkeit legt nicht gleichermaßen auf die Waagschale Diejenigen, die sie verurteilt und diejenigen, die sie feiert.11

Seine Landsleute haben ihn abgelehnt, waren nicht fähig, ihm die gebührende Wertschätzung entgegen zu bringen, und diese Ungerechtigkeit kommt einer Undankbarkeit gleich. Das Lob dieses edlen Mannes soll seiner Würde entsprechend ausfallen, so nenne ich seinen Namen nicht, denn eine Unterschrift unter dem Bild ist nicht notwendig, wenn es richtig gezeichnet. Unsere Aufgabe ist es nicht, über die fortlaufenden Verhandlungen während des Kongresses genau zu berichten; darüber berichteten viele andere Bücher. Obwohl uns die veröffentlichten Verträge mit den politischen Änderungen bekannt machten, so wären jene Dokumente am interessantesten, die nicht gedruckt werden dürfen und in den Mappen der Minister verschwunden sind. Um eine Vorstellung von dem diplomatischen Stil und der Ehrlichkeit der Beratungen zu geben, zitieren wir den vertraulichen Brief des Herrn Castlereagh an den Fürsten Hardenberg. Darin kann man all das finden, was die Minister zu verheimlichen trachteten: auf falsche Behauptungen gestützte Darlegungen, eine nicht angebrachte Politik und Widersprüche zu den vortrefflichen Manifesten der Monarchen, die von deren Ministern verfasst wurden. „Ich habe die Ehre Eurer Hoheit zu berichten, dass ich den Brief Eurer Hoheit samt den beigefügten Dokumenten empfangen habe, bezüglich welcher ich unumgänglich meine Ansicht mit jener Offenheit kund tue, welche ich gegenüber Eurer Hoheit stets zum Ausdruck zu bringen pflege. Preußen sollte seine Macht wieder erlangen, das erachte ich für das Wichtigste, denn das betrifft die Politik von ganz Europa. Durch die ruhmvollen Verdienste während des letzten Krieges hat sich Preußen aufs Vortrefflichste unsere Dankbarkeit verdient. Es besteht aber ein noch wichtigerer Grund, Preußen als die einzige und beständige Voraussetzung für alle denkbaren Verträge zur Absicherung Norddeutschlands gegen die größten Gefahren, die seinen Frieden verletzen könnten, zu erachten. In so einer Krise müssen wir über das Schicksal Preußens wachen. Es steht uns an, uns mit seinen Streitkräften zusammen zu tun, und um dieses Ziel zu erreichen, ist es vonnöten, dass der preußische Staat stark und mit allen Attributen einer unabhängigen Großmacht ausgestattet ist, damit er geachtet wird und Vertrauen genießt. Was Sachsen betrifft, so erkläre ich, dass, wenn die Einverleibung 11

Molski, Stanislaida, Teil 2 [Es handelt sich um das Werk von Marcin Molski, Stanislaida, albo uwagi nad panowaniem Stanisława Augusta króla polskiego, obejmujące wydarzenia w Polsce aż po rok 1796 [Stanislaida oder Bemerkungen über die Regierungszeit von Stanisław August, König von Polen, die die Ereignisse in Polen bis zum Jahr 1796 umfassen]. Dieses Werk entstand um 1797, es kursierte in handschriftlichen Kopien, bevor es 1831 im Druck erschien.]

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des gesamten Landes durch Preußen notwendig ist, um Europa einen so großen Vorteil zu verschaffen, so fühle ich in mir weder einen moralischen noch einen politischen Ekel hinsichtlich eines solchen Unterfangens, obgleich ich persönlich bekümmert bin, dass einem so altehrwürdigen Geschlecht solche Trauer zugefügt wird. Wenn einem König solch ein trauriges Schicksal zuteil werden soll, dass er dem zukünftigen Frieden in Europa zum Opfer fällt, so meine ich, dass der König von Sachsen dafür am meisten prädestiniert ist, aufgrund seiner zahlreichen Listen, und auch deshalb, weil er Bonaparte nicht nur am meisten zugetan war, sondern auch, weil er von allen Verbündeten Napoleons am reichsten beschenkt wurde. Als Oberhaupt deutscher Staaten war er bereit, mit aller Kraft dazu beizutragen, die Bande der Abhängigkeit tief hinein nach Russland zu tragen. Ebenso sind mir verschiedene Beispiele einer ähnlichen politischen Unmoral in Deutschland selbst bekannt, keines jedoch ist ebenso abscheulich. Wenn die deutschen Fürsten, die vor einiger Zeit einen falschen Weg gewählt haben, schon nicht alle bestraft werden können, und da die meisten von ihnen das angerichtete Unrecht durch spätere Verdienste wieder gut gemacht hatten – werde ich nicht ärgerlich sein (je ne serai pas fâché), wenn man allen Schuldigen verzeiht und an einem von ihnen ein Exempel statuiert, um solch einem schweren Frevel Einhalt zu gebieten. Eure Hoheit kann sich durch diese meine Darlegung davon überzeugen, dass ich nicht zögere, die Rechtmäßigkeit der vorgeschlagenen Ordnung zu bestätigen, wenn es die Notwendigkeit erfordert, Preußen eine solche Kondition zu geben, wie dies zum Vorteil Europas unentbehrlich ist. Falls jedoch diese Einverleibung zustande kommen sollte, um Preußen dafür zu entschädigen, was die gefährliche und den Frieden störende Absicht Russlands ihm wegnehmen möchte, so dass Preußen abhängig bleibt und sich Russland unterordnet, als hätte es ungeschützte Grenzen, dann bin ich nicht berechtigt, Eurer Hoheit auch nur die geringste Hoffnung zu geben, dass Großbritannien im Ansehen Europas einem derartigen Bündnis zustimmt, denn unter der Annahme dieser letzten Schlussfolgerung würde Großbritannien nicht wollen, dass die Ehre und das Interesse aller, insbesondere Russlands, geopfert werde“ etc. (gezeichnet Castlereagh, Wien am 11. Oktober 1814). Ähnlich wie dieser Brief wurden viele weitere geschrieben, nicht wenige weitere folgten dieser moralischen Ansicht, dies um – die Worte der Deklaration über den Kongress vom 8. Dezember getreu zitierend – „ein mit den Grundsätzen des Völkerrechts, den Stipulationen des Pariser Friedens und der gerechten Erwartungen der Zeitgenossen übereinstimmendes Resultat zu erreichen“. Wenn es wert ist, der britischen Idee zu folgen, dann ist es nicht angebracht, dass sich die Politik der britischen Minister so gestaltet. In dem oben angeführten Brief kann man nicht einmal den Stil loben, welcher für gewöhnlich als Lack dient, um die Rauheit zu übertünchen. Und die ungeschickte Argumentation in einem abgeflachten Stil bringt für alle die falschen Ideen zutage. Von Ehre und Moral spricht jener, der das sämtlichen Regeln entgegen stehende und nach Vergeltung

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rufende Unrecht unterstützt. Was er am sächsischen König für tadelnswert erachtet, wird stets dessen Verteidigung dienen, da die Bündnistreue bislang keine Bestrafung verdiente. Wer aber wagt es, über Könige zu urteilen und über ihre Staaten zu verfügen? Befiehlt dies die Religion, das Völkerrecht oder ist dies ein rechtes Maß? Die heute entscheidenden Monarchen mögen daran denken, dass die Gewalt wie das Glück unstet ist, dass sie mit dieser Entscheidung für sich selbst ein Todesurteil fällen. Sie schaden ihrer Achtung, und wenn nicht einmal Monarchen gekrönte Häupter achten, wie sollen dann die Völker sie achten? Der König von Sachsen hat in seiner Ansprache vom 4. November 1814 mit großer Mäßigung gesprochen, besonders gegen Ende: „Niemals werden wir der Abtretung der von unseren Ahnen geerbten Gebiete zustimmen, noch der Annahme im Gegenzug irgendeiner Entschädigung unter welcher Bedingung auch immer…“ Wenn Castlereagh den Grundsätzen der Freiheit abtrünnig ist, so gab es ihres Staates würdigere Engländer und es fanden sich auch Mitglieder im ehrwürdigen Parlament, die sich für das Völkerrecht einsetzten und die richtige Sache sowie die Unterjochten unterstützten. Man sollte die im House of Lords bei der Sitzung am 14. November 1814 gehaltene Rede von Lord Lansdowne12 lesen. Wir zitieren nur die folgenden Worte dieses Sohnes eines freien Staates: „Die Großmächte haben erklärt, dass sie die Regelungen der gesellschaftlichen Gerechtigkeit beibehalten und dass sie gewaltsame Teilungen sowie unrechtmäßige Aneignung unabhängiger Völker verabscheuen. Die Missachtung dieser uralten Grundsätze, die der Grund für die Teilungen Polens war, jenes großen Frevels in Europa, wurde zum Auslöser für all jene Turbulenzen, die unser Jahrhundert auszeichnen.“13 12

Zu Beginn sagte er: „Welche Macht hat Europa gerettet? Waren es die regulären Truppen? Alle waren geschlagen. Waren es die Festungen? Alle haben sich ergeben. Das ganze System der militärischen Verteidigung ist wie gezähmt dem Usurpator zu Füssen gefallen. Jedem ist bekannt, dass die Macht Bonapartes eigentlich durch jenes patriotische Gefühl gefällt wurde, welches aus jedem hochgeborenen Deutschen einen Offizier und aus jedem einfachen Mann einen Soldaten gemacht hatte. Jene edlen Gefühle zu sichern und zu bewahren sollte das Ziel der Großmächte sein. Dies allein ist eine feste Grundlage für ein System des europäischen Gleichgewichts.“ [Henry Petty-Fitzmaurice, 3. Marquess of Lansdowne (1780 –1863) war britischer Staatsmann, Mitglied der Whig-Partei.] 13 Und so sprach er weiter: „Ohne die Teilung dieses Königreichs (Polen) hätte Bonaparte keine 80 bis 100 000 Polen angetroffen, die bereit waren dort zu kämpfen, wo seine Adler aufblitzten und ihm bei seinem Vorhaben einer allgemeinen Tyrannei zu helfen. Wollen wir denn aufs Neue die Konfliktherde aufleben lassen? Wollen sie denn die freundschaftlichen und heiligen Bande des Patriotismus schwächen, auflösen, durchbrechen? Man kann ein starkes europäisches Gleichgewicht lediglich auf dem Fundament der ewigen Gerechtigkeit errichten. Das unangetastete Respektieren des Völkerrechts verleiht den Regierungen eine Stärke, die die militärische Stärke weit übersteigt. Wenn wir uns an diese Regeln nicht halten, welche zu künden, zu unterstützen und zu verteidigen England sich geziemt, was kann dann eine Garantie dafür sein, dass nicht ein neuer militärischer Usurpator die politische Bühne betritt?“

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Bei der Sitzung des Parlaments am 28. November hat man Herrn Castlereagh nicht ohne Grund beschuldigt, dem österreichischen Hof wohlgesinnt zu sein. Unter anderem hat es Herr Whitbread14, unter Bezugnahme auf Gerüchte, als unwahrscheinlich erachtet, dass ein englischer Abgesandter der Teilung Sachsens hätte zustimmen können. Herr Tierney15 war ebenso von der (ebenfalls richtigen) Kunde erstaunt, dass der russische Imperator, der auf die Unabhängigkeit Polens bestand, bei seinen wohlwollenden Absichten ein Hindernis in der Vorgangsweise des englischen Abgesandten fand, welcher Gründe gesammelt hatte, dass dieses Land besetzt bleibt. In seinen abschließenden Worten meinte er: „Gebe Gott, dass Lord Castlereagh an dieser Sache nicht beteiligt gewesen sei. Wenn er jedoch bei seiner Rückkehr keine gewichtigen Argumente vorbringt, so wird er seines Namens und seiner Stellung als englischer Abgesandter zum Kongress unwürdig sein.“ So wurde Herr Castlereagh gerecht beurteilt. Dieser hat zwar mit der Zeit scheinbar die ursprünglichen Grundsätze seiner Politik geändert, vielleicht, um sich nicht allzu sehr beim russischen Zaren unbeliebt zu machen, welcher erklärt haben soll, dass er mit ihm nichts mehr zu tun haben möchte. Vielleicht auch deshalb, da er eine Kritik seitens des Parlaments befürchtete, dem er nur schwer seine Verhaltensweise hätte erklären können. Wie auch immer, er reiste nach London ab, und der Herzog von Wellington ersetzte ihn bei den Beratungen des Kongresses. Man beratschlagte über alles, aber die Beschlüsse eines Tages wurden am nächsten Tag wieder verworfen, und jeder Plan wurde durch einen anderen ersetzt, so dass keiner verwirklicht werden konnte. Daher auch die häufigen Misshelligkeiten zwischen den einzelnen Höfen, welche die Monarchen vor der breiten Öffentlichkeit durch gegenseitige Höflichkeit zu verbergen suchten. Dazu kamen die häufigen Lustbarkeiten, die im Folgenden noch beschrieben werden, welche die physischen Kräfte schwächten und gleichzeitig auch die moralischen Kräfte dämpften, so dass Fürst de Ligne16 scherzhaft meinte: „Der Kongress tanzt, aber er kommt nicht vorwärts.“ Bei der historischen Betrachtung können wir uns davon überzeugen, wie sehr die Teilung Polens die Harmonie Europas störte, das ist eine offensichtliche Tatsache. Die Konflikte zwischen Karthago und Rom waren begründet und unabdingbar und konnten nur durch die völlige Zerstörung eines dieser Reiche gelöst werden. Beide strebten nämlich die Beherrschung des Mittelmeeres an und beide wären imstande gewesen, ihre Macht zu erweitern. Hingegen sah Polen niemals die Notwendigkeit, mit den drei Staaten, an die es grenzte, um die Vorherrschaft zu rivalisieren. Denn die Politik seiner Regierenden war und – sollte das Land je 14

[Samuel Whitbread (1764 –1815) war britischer Politiker und als Verehrer Napoleons und dessen Reformen in Frankreich und Europa bekannt.] 15 [George Tierney (1761–1830) war britischer Politiker, Mitglied der Whig-Partei und später Vorsitzender dieser Partei.] 16 [Charles Joseph Fürst de Ligne (1735 –1814), von ihm stammt dieses bekannteste Bonmot über den Wiener Kongress. Er starb am 13. Dezember 1814 in Wien.]

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wiedererstehen – wird sein, dass es seine Grenzen schützt und durch Bündnisse sein Ansehen zu wahren sucht, als Mittler fungiert und bei Gefahr stark genug ist, um sich gegen seine Feinde zu wehren. Es hat den Anschein, als wäre Polen durch kluge Vorsehung auserkoren, zwei mächtige Staaten zu trennen, die – wenn sie aneinander grenzen würden – den Frieden von ganz Europa gefährden könnten. Ein französischer Autor hat einmal treffend festgestellt: „Die Teilung Polens ist ein beispielloses Attentat in der Geschichte, das die Fundamente der europäischen Gesellschaft erschüttert hat.“17 Wir haben das verloren, was dem Menschen das Teuerste ist. Wir sind zu bemitleiden, verdienen jedoch auch allgemeinen Respekt, denn es gibt kein Opfer, das der Pole für seine Heimat nicht bereit wäre zu bringen, und keine Mühe scheint ihm zu schwer, wenn auch nur ein Funke Hoffnung besteht, dass Polen wiedergeboren wird. Aber dieser Hoffnungsschimmer war bis jetzt trügerisch. Das Schicksal meint es nicht gut mit uns. Heute stehen wir im Mittelpunkt, alle Augen sind auf uns gerichtet, alle befassen sich mit uns. Die einen, die ebenso unglücklich sind, können sich das schmerzhafte Schicksal derjenigen vorstellen, die der Freiheit beraubt sind. Andere, die volle Freiheit genießen, fordern umso stärker unser Wiedererstehen, da wir bewiesen haben, dass die Polen der Freiheit würdig sind. Es gibt auch solche, die versuchen uns, die so oft Betrogenen, von ihrem guten Willen zu überzeugen und uns unsere nationale Unabhängigkeit wiederzugeben, man muss aber kein erfahrener Diplomat sein, um zu erkennen, dass dies nur ein Vorwand für ihre eigenen Vorteile ist und dass unser Schicksal sie völlig gleichgültig lässt. Polen ist jetzt ein Apfel der Zwietracht, die angrenzenden Mächte schonen uns, in der Befürchtung, dass wir uns allzu sehr einer dieser Mächte annähern. Denn mit wem auch immer sich die Polen verbünden, wenn man ihnen verspricht, dass sie ihre Heimat, Freiheit und politische Existenz zurückerhalten, mit dem werden sie große Stärke erlangen und im Kriegsfall siegen. Aber leere Versprechungen, schöne Worte und Schmeicheleien können uns nicht mehr dazu bewegen, Opfer zu bringen, die so oft umsonst waren. Eine bloße Hoffnung wird uns nicht mehr täuschen, aber eine reale Aussicht wird jeden Polen zu einem Helden machen, wird ihm die Tapferkeit seiner Vorfahren verleihen, wird alle Herzen mit der treuen Liebe zum Vaterland füllen, wird würdige Nachfolger solcher Männer wie Zamoyski18 oder Chodkiewicz19 hervorbringen. Wer uns jedoch die Freiheit wieder gibt, soll uns die volle Freiheit 17

[Das Zitat im Original auf Französisch lautet:] „Le partage de la Pologne est un attentat inouï dans l’histoire, et qui a ébranlé tous les fondements de la société européenne.“ 18 [Jan Zamoyski (1542 –1605) war polnischer Hochadeliger, Politiker (Kanzler) und Feldherr (Krongroßhetman) sowie eine der einflussreichsten Persönlichkeiten in Polen-Litauen an der Wende des 16. zum 17. Jahrhundert. Er war Humanist und Mäzen sowie Gründer der „Idealstadt“ ��� Zamość (1580).] 19 [Jan Karol Chodkiewicz (1560 –1605) war litauischer Hochadeliger und Feldherr in Polen-Litauen (litauischer Großhetman). Er ist insbesondere für seinen Sieg über die Schweden in der Schlacht bei Kirchholm (1605) bekannt. Als Oberbefehlshaber der polnisch-litauisch-kosakischen Armee starb er während des Krieges gegen die Türken im Lager in Chocim (Chotyn) am 24. September 1621.]

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zurückgeben. Der Pole war immer frei, Schicksalsschläge waren für ihn stets eine bittere Erfahrung – wenn er die Freiheit wiedererlangt, wird er sie nie mehr missbrauchen. Wenn ein Monarch, vielleicht Zar Alexander, der großmütige Beschützer der Polen, der das größte Reich der zivilisierten Welt hundert Jahre voran gebracht hat, der mehrmals seinen Untertanen, die sich gegen ihn erhoben, gnädig vergeben hatte, da sie Polen waren, wenn also ein Monarch meint, einem ganzen Volk etwas Gutes tun zu wollen, indem er ihm seine Freiheit wiedergibt, dann möge er sich vom edlen, aus der Tugend erwachsenden Willen leiten lassen dies zu tun, ohne sich bereichern oder sein Reich erweitern zu wollen. Wenn es eine edle Tat ist, einen unschuldigen Menschen aus dem Kerker zu befreien, wie soll man jenen beschreiben, der Millionen von Menschen die Fesseln abnimmt. Wer solch ein lobenswertes Werk beginnt, möge wissen, dass wir ihn erst dann zum Befreier erklären, wenn er es vollendet. Er möge alles zurückgeben, Freiheit kennt keine Abstufungen. Schmeichler und Treulose haben jene Monarchen gepriesen, die nur die Freiheit versprachen, ein guter Pole jedoch wird denjenigen preisen, der sie wirklich zurückgibt. Damit unserem zukünftigen Befreier ein umso größeres Verdienst zukommt und seine Tat umso ruhmvoller ist, sollte er nicht daran denken, dass es ihm zum Vorteil gereicht, wenn sein Nachbar, vielleicht sogar später sein Verbündeter, ihm verpflichtet ist. Er sollte nicht einmal wissen, dass dies ein politisches Werk ist, dank dem in Europa ein beständigerer Frieden herrschen wird als jener, der beim Wiener Kongress beschlossen wurde. Das unglückselige Schicksal eines ganzen Volkes möge sein Herz berühren, möge sein einziges Ziel sein, uns unsere Heimat zurückzugeben. Und möge die Zukunft diese so selbstlose Tat bewerten, für die man eine neue, heute noch unbekannte Bezeichnung wird finden müssen. Wer entführte Kinder bei sich hat, möge sie in den Schoß der Mutter zurückführen. Und da er damit als Vorbild für Menschlichkeit und Mäßigkeit dient, hat er das Recht, von anderen die gleiche Tat zu verlangen. Möge er das Recht aus jenen Quellen schöpfen, die er aufgrund von Erfahrung für ein Volk hilfreich erachtet, möge er auch unsere Rechte prüfen und das Recht unserem Charakter und unserer Lage gemäß anwenden, unser Land in unsere Obhut übergeben. Möge er… Wir denken zu weit, vergessen, dass unsere Worte nicht an die Ohren jener dringen, die uns verstehen könnten und verstehen möchten. Man möge einem Polen vergeben, wenn er in seinem Bericht über den Kongress vom eigentlichen Inhalt abgeht, seine Gefühle offenbart, sein Unglück darstellt und sein Leid klagt. Gleich einem Wanderer, der in Gedanken versunken zuweilen vom Weg abkommt. Die Bevollmächtigten Russlands beschäftigte am stärksten die polnische Frage. Sie folgten nur gezwungenermaßen der Idee ihres Monarchen, denn alle drei handelten gegen ihre Überzeugung, und selbst wenn einer von ihnen sich nicht

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durch etwas anderes leiten ließ, so war der Hass uns gegenüber, den er mit anderen teilte, der Grund dafür. Der Zar unterstützte unsere Sache mit großer Beharrlichkeit und dafür werden die Polen ihm dankbar sein, nicht nur diejenigen, die unter seine Herrschaft geraten sind, sondern auch jene aus allen Gebieten des ehemaligen polnischen Staates, die durch die Teilungen an Österreich und Preußen gefallen sind. Man versprach, zumindest den Namen Polen und die polnische Sprache beizubehalten, obwohl es Polen nicht wirklich gibt. Und wenn wir uns als abhängige Untertanen äußern, wenn zwischen den Teilungsmächten zu wählen ist, so ist die Abhängigkeit von Russland die leichteste, da wir dort noch manche Privilegien und eigene Schulen haben, dort könnten wir vielleicht als glückliche Menschen leben, wenn die Vaterlandsliebe in uns erlöschen sollte. Auf dem Kongress gab es viele langwierige Streitigkeiten um das unglückselige Polen. Die einen wollten einen zur Gänze unabhängigen polnischen Staat, andere wollten nicht einmal den Namen Polen beibehalten. Es endete damit, dass ein Teil Polens zum Königreich mit einer eigenen Verfassung unter dem russischen Zaren erklärt wurde. Die neuen Grenzen für die Staaten wurden so willkürlich gezogen, dass sie den allgemeinen Frieden gefährdeten. Der eine bekam zu viel, der andere zu wenig, dennoch bezeichneten die großen angeblichen Wohltäter der Völker dies als Gleichgewicht. In jedem Beschluss des Wiener Kongresses erblicken wir einen anscheinend absichtlichen Keim für zukünftige Missverständnisse und Konflikte. Die Länder wurden so auseinandergerissen, dass die meisten Untertanen in vielen Staaten sich mit der neuen Regierung nicht verbunden fühlen. Es kann zutreffen, dass, wenn benachbarte Reiche gegeneinander Krieg führen, ganze Landkreise, die durch die Beschlüsse des Wiener Kongresses abgetrennt wurden, versuchen könnten, wieder in ihren vorherigen Staat zu gelangen. Die Soldaten müssten dann zwei Feinde bekämpfen, schrecklicher ist immer der innere. Aufgrund der unterzeichneten Wiener Kongressakte erhielt Russland das Herzogtum Warschau, Preußen das Großherzogtum Posen, einige sächsische Provinzen und rheinische Besitzungen. Dem Königreich der Niederlande wurden die ehemals österreichischen Niederlande zugesprochen. Österreich hatte bisher noch nie so ausgedehnte Gebiete. Der König von Neapel erhielt sein Königreich beider Sizilien zurück. Der Herrscher von Hannover wurde zum König ernannt. Die Herzogtümer Oldenburg, Sachsen-Weimar, Sachsen-Coburg und Mecklenburg-Strelitz bekamen neue Gebiete hinzu. Die Schweiz gewann drei Kantone, die früher zu ihr gehört hatten, zurück. Das stets unglückselige Genua fiel an den König von Sardinien, Parma an die Kaiserin Marie-Louise, Dänemark verlor zahlreiche Ländereien. Einige deutsche Gebiete wurden zum Deutschen Bund zusammengefasst, es gab zahlreiche weitere Vereinbarungen und Veränderungen, und keiner fragte mehr, ob dies dem allgemeinen Wohl zum Vorteil gereichte. Dies war nicht der Fall, wo Stärkere die Regeln diktierten und wo jeder nur an sich selbst dachte.

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Die Beschreibung der Zeit des Wiener Kongresses wäre nicht vollständig, wenn man das auslassen würde, wofür manche Teilnehmer mehr als die Hälfte ihrer Zeit widmeten und was auch die Wiener Bevölkerung am meisten beschäftigte. Die Lustbarkeiten und Empfänge eignen sich besser dazu, unsere Bewunderung und die unserer Nachkommen zu erwecken als die Verhandlungsergebnisse, die uns an die Äsopsche Fabel erinnern: „Es kreißt der Berg und gebiert eine Maus.“ Der österreichische Hof war ein überaus großzügiger Gastgeber für sämtliche Gäste aus den Herrscherhäusern, die mit ihrem Hofstaat nach Wien kamen. Jeder von ihnen bekam vortreffliche Dienerschaft und ein Gefolge hochrangiger Personen, sei es aus den Reihen der Hofbeamten oder verdienter Militärs. Jeder von ihnen hatte stets vergoldete modernste Kutschen zur Verfügung. Reitpferde und Gespanne mit ausgesuchten Hengsten aus dem berühmten Gestüt des österreichischen Kaisers, geschmückt mit kostbaren Geschirren und mit Gold besticktem Zaumzeug, standen jederzeit auf ihren Befehl bereit. Die Livreen der Dienerschaft waren überaus reich, sie glänzten und funkelten mit ihren goldenen Tressen und Borten. Man war bemüht, in dem kleinsten Detail verschwenderischen Prunk und hervorragenden Geschmack zu erreichen, um das Auge nicht durch geringe Unzulänglichkeiten in dem hinreißenden Gesamtanblick zu beleidigen. In der Hofburg waren alle Monarchen untergebracht, im Hof befanden sich mehrere Wachposten. Den hohen Herren standen Adjutanten, Kammerdiener und Hofmarschälle zur Seite, den Fürstinnen Hofdamen aus bestem Geblüt. An den Hoftafeln wurden immer ausgesuchte Gerichte und ausländische Weine kredenzt, darüber hinaus hatte jeder Monarch eine eigene Tafel und lud sich Gäste ein. Die warme Aufnahme der Gäste durch den österreichischen Kaiser rief in vielerlei Hinsicht die althergebrachte deutsche Gastfreundlichkeit in Erinnerung. Man sah die langjährige Tradition der Größe und die Würde eines der ältesten Herrscherhäuser, dieser Hof glänzte nicht wie bei einem erst vor Kurzem an die Macht gekommenen Fürsten. Da war nichts erzwungen, keine Ungeschicklichkeit, die einen neuen Herrscher verrät. Es schien, als wären solche Festmähler am Hofe gang und gäbe. Weder für die österreichischen Fürsten noch für den Hof war der Besuch so vieler hoher Herren ungewöhnlich, die Gäste wurden mit jener Würde empfangen, die nur für alten Adel selbstverständlich ist. Obwohl den österreichischen Kaiser eher Einfachheit als majestätisches Gehabe auszeichnet, flößte er doch, umgeben von einer großen Schar Magnaten, unwillkürlich Respekt ein. Manche Menschen lässt allein schon die Größe der tapferen Taten ihrer Vorfahren erstrahlen. Kaiser Franz eilte jedem Monarchen mehrere Meilen entgegen, sie kamen alle kurz nacheinander nach Wien. Der Einzug von Zar Alexander war einer der eindrucksvollsten. Entlang des Weges, den er ritt, befanden sich auf einer Länge von etlichen Meilen Militärlager, aus denen Einheiten herausströmten, um den Zaren zu begrüßen. Die Nachricht von seinem Herannahen gelangte in die Stadt durch immer stärkere Kanonenschüsse; die Bevölkerung hieß ihn freudig willkommen.

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Beide Monarchen ritten zu Pferd. Die Garde und die Militärtruppen standen zum Teil Spalier ab der Leopoldstadt bis zur Hofburg, zum Teil schritten sie hinter dem Gefolge, zum Teil vor ihm. Zu Beginn war die Neugier der Stadtbewohner unerschöpflich, alle liefen dorthin, wo man meinte, dass einer der Monarchen aus dem Tor treten würde, sie umlagerten die Hofburg und standen dort viele Stunden mit grenzenloser Geduld. Die anwesenden Fürsten waren anfänglich das einzige Gesprächsthema in der Gesellschaft. Obwohl sie mit allen Mitteln danach trachteten, sich vor neugierigen Blicken zu schützen und aus diesem Grund bürgerliche Kleider trugen, konnten sie der Aufmerksamkeit von so vielen Tausend Menschen, die ihnen auflauerten, nicht entgehen. Jeden Tag erzählte man sich etwas Neues über sie: der eine schwor, dass er einen Fürsten gesehen hätte, wie er mit einem Fiaker wegfuhr, ein anderer meinte, er hätte einen Monarchen gesehen, ich weiß nicht mehr welchen, der im Schutze der Nacht an der Stadtmauer entlang zu einer gewissen, nur allzu gut bekannten Dame ging, die im ebenso allzu gut bekannten Klepperstall wohnte. Ein dritter behauptete, einer der Monarchen würde jeden Tag etliche Stunden zu verschiedenen Tageszeiten im Palais einer sehr anziehenden Fürstin verbringen und meinte, der Monarch wäre in sie verliebt, während ein anderer sagte, dass sie tugendhaft sei, und ein dritter, dass man nichts Sicheres wissen könne, da die beiden keinen Zeugen zulassen. Man munkelte auch, einer der Könige wäre von Amors Pfeil getroffen, der aus den Augen einer der schönsten Damen Wiens abgeschossen worden wäre. Aber in all diesen Gerüchten wagte man nicht, die Dame zu verleumden, da man wusste, dass sie sich zwar oft trafen, der Monarch sie anbetete, die Dame jedoch ihm Platos Grundsätze zitierte. Eines Abends, als er in ihrem Stammbuch blätterte, fand er die Eintragung einer ihrer Freundinnen: „Ich liebe Sie aus ganzem Herzen, lieben auch Sie mich ein bisschen.“20

Ohne Nachzudenken schrieb der König auf die nächste Seite: „Ich thue was sie that, Und bitte um was sie bath.“

Den Fürsten wurden verschiedenste Eigenschaften zugeschrieben, jedoch zweifle ich, dass sie dadurch in die Geschichte eingehen. So rühmte man die schöne Stimme des einen, die Kunst der Konversation des zweiten, des dritten übermäßige Neigung zur Tändelei, des nächsten große Sprachbegabung, obwohl man ihn in keiner Sprache verstand, einen hellen Verstand eines weiteren, da er wenig gesprächig war und umso mehr Zeit zum Nachdenken hatte. Einen anderen wiederum lobte und bewunderte man wegen seines riesigen Appetits, da er am Morgen schon einige Kapaunen vertilgte. 20

[Das Zitat im Original auf Französisch lautet:] „Je vous aime de tout mon cœur aimez moi un peu.“

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Aus all dem können wir sehen, dass der Aufmerksamkeit der Wiener nichts entging. Es schien, als hätten die Monarchen an dem freien Leben Gefallen gefunden, da sie in ihren Reichen durch das Hofzeremoniell eingeschränkt waren, man kann also behaupten, dass sie sich gut amüsierten. Dem hiesigen Hof war für ihre Unterhaltung nichts zu teuer, aus Paris ließ man Tänzer kommen, in den Theatern gab man aufwändige Schauspiele zum Besten. Heimische und ausländische Minister überboten sich darin, wer ein vornehmeres Bankett veranstaltet, adelige Herren gaben für die Fürsten Abendempfänge im kleineren Kreis, bei denen die Monarchen ohne jeglichen Zwang mit großer Freiheit diskutierten. Das ging so weit, dass man zuweilen ihren hohen Rang vergaß. In dieser großen Menschenansammlung innerhalb der gotischen Stadtmauern schloss man mit den bedeutendsten Persönlichkeiten aus ganz Europa Bekanntschaft. Wir trafen wahrlich viele berühmte Personen, nehmen jedoch davon Abstand, sie zu nennen, nicht deshalb, weil es so viele waren, sondern deshalb, damit sich die Übergangenen nicht beleidigt fühlen. Zahlreiche englische Familien kamen zu dieser Zeit aus Neugier nach Wien, ähnlich wie während der Karwoche oder zu St. Peter nach Rom. Ihre Behausungen wurden dafür berühmt, dass die Gastgeber ihre Gäste auf den Stiegen empfingen, da in den Wohnräumen ein zu starkes Gedränge herrschte. Ihre Empfangsbräuche waren eigenartig, sie ersuchten bei der Einladung, man möge seine Geschwister und seinen Freundeskreis mitbringen. Dies war ebenso unangenehm für die Gäste wie für den Gastgeber, der den Großteil seiner Gäste nicht kannte. Wenn man hereinkam, musste man sich nicht einmal verneigen. Herr Vizeadmiral Sidney Smith21 machte sich durch die Schönheit seiner Töchter beliebter als durch seinen Plan zur Vernichtung der Algerier. Es gab verschiedene mehr oder weniger interessante Vorkommnisse und wir bedauern sehr, dass uns viele scharfsinnige Bemerkungen, die auf diesem Kongress fielen, nicht im Gedächtnis geblieben sind. Als einer der Monarchen hörte, wie sehr man Napoleon kritisierte und dass man ihm aus übermäßigem Hass keine Tugend zubilligen wollte, soll er gesagt haben: „Seien Sie gerechter – er ist zu berühmt geworden, als dass man so schlecht von ihm spricht. Da er aber so viel Leid brachte, kann man ihn auch nicht rühmen.“ Dieses gemäßigte Urteil sollte sich der Geschichtsschreiber zu Herzen nehmen, wenn es ihm zukommt, einen an Ereignissen so reichen Lebenslauf getreu wieder zu geben. Nun schreiten wir an die Beschreibung einiger vortrefflicher Feierlichkeiten während des Kongresses. Am 29. September fand nach der Ankunft aller Monarchen das allererste Fest zu ihrer Begrüßung statt. Das war ein Feuerwerk im Prater. Angeblich war dieser

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[William Sidney Smith (1764 –1840) war ein britischer Admiral – zunächst in der schwedischen Armee, nach dem Ausbruch der Französischen Revolution kehrte er nach England zurück und diente in der britischen Flotte.]

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wunderbare Park noch nie so bevölkert gewesen, die altehrwürdigen Bäume, Zeugen so vieler Jahrhunderte, hatten unter ihren Kronen noch niemals so viele Equipagen und Pferde gesehen. Von der Hofburg bis zu dem für die Feuerwerke aufgestellten Gerüst fuhren die Kutschen in einer vorgeschriebenen Ordnung, eine hinter der anderen. Der kaiserliche Obersthofmeister Graf Trauttmannsdorff  22 ritt mit seinen Reitknechten an der Spitze, dahinter kam eine vergoldete Kutsche, gezogen von sechs Hengsten. In ihr saßen die beiden Kaiserinnen mit ihren Gemahlen, in der nächsten Kutsche fuhr die Königin von Bayern mit den Königen von Dänemark, Preußen und Bayern, in der dritten die russischen Großfürstinnen Katharina und Maria mit zwei Erzherzögen: Karl und dem Palatin von Ungarn, in der vierten der König von Württemberg, in der fünften die Thronfolger der drei Mächte, Österreich, Bayern und Württemberg, in weiteren ausländische Fürsten, Erzherzöge, Generäle und Premierminister. Die allgemeine gute Laune schien ein glückliches Omen für die Zukunft zu sein, die Eintracht so vieler Herrscher und Fürsten erfreute das Volk, das eines ruhigen Daseins entwöhnt war. So wie nach einem strengen Winter, wenn der Himmel lange Zeit mit Wolken verhangen und kein blaues Fleckchen zu sehen ist, der Frühling kommt, die wohltuenden Sonnenstrahlen die dicke Schneedecke zum Schmelzen bringen, die ausgekühlte Erde erwärmen und ihr das verlorene Grün wiederbringen. Nach den Feuerwerken, die sich an diesem Tag mit dem Glanz, welcher sich im Gefolge der gekrönten Gäste und in den Mitren widerspiegelte, nicht messen konnten, kehrte man in derselben Ordnung in die Hofburg zurück, man fuhr durch die Hauptstraßen, um die prächtige Illumination zu bewundern. Die Redoute vom dritten Oktober versetzte durch die Größe des Saales, die raffinierte Beleuchtung und die illustre Gesellschaft in Erstaunen. Die für diesen Anlass umgewidmete Reitschule war durch erlesene Dekorationen in einen vortrefflichen Saal verwandelt worden. Die 12.000 dort versammelten Personen vereinten in ihren Gewändern guten Geschmack mit Pracht. In die Redoutensäle gelangte man von den kaiserlichen Gemächern, die Gänge waren mit Topfblumen geschmückt, die Orangenbäume verbreiteten einen köstlichen Duft, wie die Orangenhaine von Sorrent. Im Blätterdickicht waren Lampen angebracht, die uns magische Gärten zauberten. Im Kleinen Redoutensaal atmete man ebenfalls den Duft der dort aufgestellten Pflanzen aus allen Teilen der Erdkugel, die an diesem Abend als Zierde dienten. Vom Großen Redoutensaal schritt man über Treppen von beiden Seiten in den Hauptsaal. Dieser, allein schon ein architektonisches Kunstwerk, war mit hellblauem Stoff und silbernen Bändern geschmückt, der Wandanstrich selbst war weiß. Mehr als 6.000 Kerzen leuchteten ihn aus, so dass nirgendwo ein Schatten fiel. Drei beachtliche Orchester spielten zum Tanz auf. Wegen der großen Menschenmenge konnte man sich kaum drehen, daher wur22

[Ferdinand von Trauttmansdorff (1749 –1827) war von 1807 bis 1827 Obersthofmeister von Kaiser Franz I. In dieser Funktion war er für die Organisation des Wiener Kongresses verantwortlich.]

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den nur polnische Tänze23 getanzt. So konnten die Monarchen und Fürsten alle Damen entsprechend hofieren. Die gleiche Redoute wurde drei Mal wiederholt, und man konnte sich vom Wohlstand der hiesigen Bewohner überzeugen und den reichen Schmuck sowie die mit Diamanten, Perlen und Edelsteinen bestickten Gewänder bewundern. Am Sonntag vor dem Advent und an anderen Feiertagen gab es ebenfalls Redouten, für die jedoch Eintritt zu bezahlen war. Man wusste diese Gelegenheit gut zu nutzen: war man während des Tages mit wichtigen Ränken zugange, so hat man dort mit gleicher Geschicklichkeit Liebeskabalen gesponnen. Vielleicht war es für die Fürsten nicht vernünftig, der Öffentlichkeit ihre Schwächen vor Augen zu führen. Wenn das Schicksal einen Menschen über das gemeine Volk gestellt hat, sollte dieser nicht die gleichen Schwächen aufzeigen oder zumindest versuchen, diese zu verbergen. Wir sahen einen Minister, Herr über die Geschicke seines Landes, wie er in einem Kabinett nach Ende einer Kongresskonferenz der Probe einer Komödie beiwohnte, welche zu dieser Zeit bei Hof von Personen der höchsten Gesellschaft aufgeführt wurde, und wie er den Laiendarstellern vermutlich bessere Ratschläge gab als bei den politischen Beratungen. Zuweilen begegnete man Diplomaten mit einer Depesche in einer Hand und dem Rollentext, den sie zu lernen hatten, in der anderen, direkt vom Büro zu den Proben eilend. Nach dem herrschenden Brauch gab es in der Umgebung verschiedene Manöver, die bekanntesten fanden bei Bruck an der Leitha statt, einem Ort, der durch das denkwürdige Zusammentreffen von Kaiser Maximilian mit dem polnischen König im Jahre 151524 bekannt ist. Kenner der Manöverkunst behaupteten, dass die Truppen bei diesem Schaumanöver nicht am besten abgeschnitten haben. Die Schau endete mit der Sprengung einer kleinen Schanze, die für diesen Anlass aufgeschüttet und von 60 Kanonen verteidigt wurde. Die den Invaliden gewidmete Feier am 6. Oktober zog viele Schaulustige in den Augarten, das Wetter spielte mit, um fünf Uhr am Nachmittag begannen die Lustbarkeiten. Sie fanden auf einem viereckigen, von Schranken umsäumten Platz statt, an zwei Seiten befanden sich Tribünen für die Zuschauer, an der Kopfseite in einer Laube saßen die gekrönten Häupter. Zu dieser Feier wurden 400 Invalide aus dem ganzen Reich geladen, sie stellten sich vor den Monarchen in zwei Reihen mit Oberst Paulisch an der Spitze auf und begaben sich danach zu den gedeckten 23

[Es handelt sich um die Polonaise.] [Im Sommer 1515 kam es in Wien zum sog. Wiener Fürstentag der drei Monarchen – Kaiser Maximilian I. von Habsburg, Sigismund I. der Jagellone, König von Polen und Großfürst von Litauen, und Wladislaus der Jagellone, König von Ungarn und Böhmen. In der Folge kam es zur sog. Wiener Doppelhochzeit der Vertreter beider Dynastien und in weiterer Folge zur Herrschaft der Habsburger über Ungarn und Böhmen. Der Wiener Fürstentag wird manchmal auch als „Erster Wiener Kongress“ bezeichnet. Die Verhandlungen wurden vor dem Treffen der Monarchen in Preßburg (Bratislava) geführt, der Kaiser kam dem polnischen König nach Bruck an der Leitha entgegen.]

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Tafeln, um das für sie vorbereitete Festmahl zu genießen. Die ehrwürdigen Ritter erhoben viele Trinksprüche auf die anwesenden Monarchen. Kaiser Franz näherte sich einem der Tische, füllte seinen Kelch mit Wein, hob ihn in die Höhe und rief aus: „Es lebe Zar Alexander!“. Dieser ergriff denselben Kelch und sprach mit dem für ihn eigenen Charme: „Alexander trinkt auf Ihr Wohl, ehrwürdige Herren, mögen Sie alle lange leben!“. Manch ein Invalider ließ vor Rührung einige Tränen in das Getränk fallen. Kanonendonner kündete nach allen Seiten von der freudigen Festlichkeit. Als die Kanonen schwiegen, begannen die Lustbarkeiten. Ihren Glanz konnte man aber nur mit einem Mond vergleichen, der in einem fremden Licht erstrahlt, da die Anwesenheit der illustren Gesellschaft weitaus attraktiver war. Es gab Wettläufe, Pferderennen, Herr Bach25 zeigte akrobatische Kunststücke, in vier Zelten tanzten Ungarn, Böhmen, Österreicher und Tiroler Volkstänze in ihren Nationaltrachten. Die allgemeine Freude machte dieses Fest im Freien zu einem der schönsten Erlebnisse. Als die Sonne am Horizont erlosch, gab es Feuerwerke, vielleicht etwas zu bescheidene für solch einen feierlichen Festtag. Wahrscheinlich deshalb, da der Veranstalter dieses öffentlichen Festes, von dem Eintrittsgeld, das jeder entrichten musste, mehr in seine eigene Tasche stecken wollte, hatte er doch über 20.000 Eintrittskarten verkauft. Nur die Darstellung des Stephansturms mit anliegenden Gebäuden war prächtig. Im gesamten Augarten gab es verschiedene beleuchtete Dekorationen, die herrlichsten waren die Nachbildung des Brandenburger Tors und das Abbild des Kanonenmonuments in Moskau. Das Fest endete mit einem Ball. Eines der prächtigsten Festmähler jener Zeit war das Hofbankett in Schönbrunn. Um sechs Uhr abends wurde im kleinen Schlosstheater die komische Oper „Johann von Paris“ gezeigt. In der Großen Orangerie fand das Galadiner für die Monarchen, Fürsten und deren Begleitung statt. Als sie sich an die Tafel setzten, ließ man die Zuschauer herein. Die Orangerie war zu beiden Seiten so reichlich mit Blumen, fremdländischen Bäumen und seltensten Pflanzen geschmückt, dass es schien, als wären wir durch einen Zauberstab ins Paradies versetzt worden. Das Plätschern der künstlichen Wasserfälle und Springbrunnen gab uns das Gefühl, als sei alles, was uns umgibt, nicht ein Werk von Menschenhand. Die erlauchten Gäste an der Tafel störten diese Harmonie, also zogen wir uns in die Gartengefilde zurück, um den Duft der Blumen einzuatmen. Die üppige Beleuchtung in der dunklen Nacht schien den Strahlen Phöbus’ gleichzukommen. Dort kamen einem die Gesänge des Ariost in den Sinn. Trotz der herbstlichen Aura fühlten wir uns in südliche Länder des ewigen Sommers versetzt. In den weitläufigen Orangerien standen Pflanzen aus verschiedenen Regionen dicht nebeneinander, sie sahen sich an und schienen sich zu wundern, dass, obwohl in gegensätzlichen Weltgegenden geboren, sie einander 25

[Christoph de Bach (1768 –1834), seit 1802 Kunstreiter und Zirkusdirektor in Wien.]

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mit ihren Ästen gleichsam die Hände reichten. Wir schritten unter den Schatten von Orangen- und Zitronenbäumen, die riesigen Spiegel erzeugten so große Trugbilder, dass die Baumhaine kein Ende zu nehmen schienen. Ein solches Fest können nur Götter feiern, denn die Natur war göttlich, und nur die Gesellschaft an der Tafel machte uns bewusst, dass wir uns nicht im Olymp befanden. Selten nur kam ein künstliches Gebilde den Vorbildern der Natur so nah. Aus dem Inneren der künstlichen Felsen floss ein silberner Bach hervor, in welchem sich das Licht widerspiegelte, und der flüssige Kristall wiederum warf hundertfach das Licht in den Spiegeln zurück. Die Göttin Flora saß auf einem Blumenthron, gleichsam auf ihren Befehl versammelte sich eine Schar von Tausenden Blumen an diesem Ort, um in allgemeiner Freude die Luft noch mehr mit ihrem Duft zu schwängern. Lichtstrahlen fielen von oben auf sie, als leuchtete der Mond in einer lauen Frühlingsnacht. Zuweilen wähnte ich mich in den Gärten der Villa d’Este oder auf den Hügeln von Tivoli. All diese Wunder glichen mehr einem Traum als der Wirklichkeit, besonders wenn man mehrmals an diesen Ort wiederkehrte, denn wenn man sich von ihm entfernte, umhüllte einen die Dunkelheit der Nacht. Im Advent wurden am Hof und in Privathäusern Komödien gespielt. Sie waren alle von gutem Geschmack, was umso mehr in dieser Stadt verwunderte, in der prächtige Feiern nicht zum Alltag gehörten. Die erlauchte Gesellschaft trug viel zu dem Glanz bei solchen Gelegenheiten bei. Alteingesessener Adel, großer Wohlstand, vornehme Manieren und die Reize der Weiblichkeit sind in kaum einer Großstadt so weit verbreitet. Daher waren die Theaterstücke in dem riesigen Saal, der in ein weißes Musselinzelt verwandelt wurde, angenehm anzusehen. Einerseits spielte man zuweilen deutsche Komödien, meist jedoch französische, es gab auch Ballett. Andererseits gab es auch Tableaux vivants, bei denen von lebenden Personen die Bilder der berühmtesten Maler mit größter Genauigkeit nachgestellt wurden. Man konnte nur schwer seinen Blick von ihnen wenden. Manchmal gab es auch neugeschriebene Stücke. Und schließlich wurden auch bekanntere französische Lieder und auch Belisar-Lieder gewählt, so dass lebende Personen deren Inhalte darstellten. Das ist eine der schönsten gesellschaftlichen Vergnügungen. Auch die Haushalte der ausländischen Gäste trugen zur Unterhaltung bei. Bei einem Gastgeber wurde getanzt, bei einem zweiten gab es Empfänge, wieder bei einem anderen wurden Komödien gespielt. Es gab dort einen französischen Küchenmeister, der seine Schürze ablegte und in Strümpfen in den Salon kam und französische Tänze anführte. Er hatte noch zahlreiche andere Aufgaben, man sagte, er sei auch der Arzt seiner Herrin. Man müsste auch den Ball im Apollosaal und viele andere Veranstaltungen erwähnen, wenn die Erinnerung daran für die Zukunft von Nutzen wäre. Bei der Beschreibung bemühen wir uns, das Bild dieses riesigen Kongresses wiederzugeben, und wir bleiben dabei, dass wir mehr über die Lustbarkeiten berichten als über die Beratungen.

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Ein besonderes Ereignis war auch das Festmahl beim Fürsten Rasumowsky, es kam keinem anderen in einem Privathaus gleich. An diesem Tag öffnete der Fürst sein ganzes riesiges Palais26, in den unteren Räumen spielten acht Orchester, in allen gab es seltene Gemälde, Skulpturen und Zeichnungen, die die Gäste bewunderten. Für diese zahlreichen Säle war die Anzahl der Geladenen zu gering. Im oberen Bereich gab es einen Empfang für 800 Personen. Ich möchte noch den Ball beim österreichischen Außenminister Fürst Metternich in seinem Garten in der Vorstadt erwähnen27. Um alle Gäste unterzubringen, wurde zu diesem Anlass ein riesiger Tanzsaal aufgestellt. Viele junge Leute kamen dorthin in Volkstrachten verschiedener österreichischer Kronländer. Diese vielfältigen bunten Kostüme, die sich im Tanz vermischten, waren ein eigenartiger Anblick. Der Kaiser tanzte mit einer „Bäuerin“ und ein zünftiger „Bergbauer“ mit der Kaiserin. Ebenso faszinierend war das berühmte Konzert in der Reitschule28 vor 700 Musikliebhabern. In keiner anderen Stadt kann man so viele von ihnen an einem Ort zusammenbringen. Nach dem Vorbild des Ritterzeitalters wurden in derselben Reitschule Ritterspiele veranstaltet, die zu den schönsten Vergnügungen des Kongresses zählten. Vierundzwanzig Paladine aus den Adelshäusern der österreichischen Kronländer, gekleidet in mittelalterliche deutsche Gewänder, erschienen auf prächtigen Pferden in der Schranke. Es folgten verschiedene Lanzengänge, danach schlugen die Ritter die Köpfe ihrer unbeweglichen Gegner ab, aufgesteckte Ringe wurden im vollen Galopp abgenommen, all das versetzte das Publikum in Bewunderung. Wie sehr jedoch unterschieden sich die gegenwärtigen jungen Deutschen von ihren großen Vorfahren, mit welcher Verachtung würden Götz von Berlichingen und Rudolf von Habsburg auf die verweichlichten Rittergeschlechter herabblicken. Jeder Ritter trug die Farben seiner sogenannten Minnedame. Alle vierundzwanzig Damen saßen gegenüber der Monarchentribüne, als Belohnung für die Tapferkeit beschenkten sie ihre Ritter mit einer Schärpe, saßen neben ihnen beim Abendmahl und verfügten sich danach zu einem Maskenball, zu dem 2.500 Personen geladen waren. Am 18. Oktober, dem Jahrestag der Schlacht bei Leipzig, begaben sich um elf Uhr Vormittag die Monarchen mit den Fürsten und einem Gefolge von erlauchten Gästen in den Prater. Nach ihrer Ankunft wurde in Anwesenheit zahlreicher Regimenter in einem zu diesem Zweck errichteten Zelt die Heilige Messe gelesen, und man sang „Großer Gott, wir loben Dich“. Danach begab sich das illustre Gefolge auf den Weg zum Lusthaus und hielt auf einer Anhöhe an, um zuzusehen, 26

[Palais Rasumofsky in der Rasumofskygasse im heutigen 3. Bezirk (Landstraße) von Wien.] [Metternich besaß im heutigen Wiener Bezirk Landstraße eine vorstädtische Residenz (Palais Kaunitz) mit Garten. Nach 1815 wurde an dieser Stelle die Villa Metternich errichtet, von 1846 bis 1848 das Winterpalais von Metternich, die heutige italienische Botschaft am Rennweg 27.] 28 [Spanische Reitschule in der Hofburg.] 27

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wie die Truppen an ihm vorbei ziehen. Am selben Tag bedachte Kaiser Franz Zar Alexander mit dem Infanterie-Regiment des Johann von Hiller. Als sich dieses Regiment den Versammelten näherte, ritt der sich neben dem österreichischen Kaiser befindende Zar an die Spitze dieses Regiments, wie es einem Befehlshaber zusteht, und senkte drei Mal seinen Degen vor dem Kaiser. Danach kehrte er an seinen Platz zurück und hielt den Degen solange gesenkt, bis alle drei Bataillone vorbeigezogen waren. Er wiederholte mit unvergleichlichem Charme die dreifache Ehrenbezeugung mit dem Degen, wonach er diesen wieder zurücksteckte. Dieser unerwartete Anblick machte auf alle sehr großen Eindruck und nahm die Herzen für Alexander ein. Es wäre interessant zu erfahren, aus welchem Grund die Monarchen einander das Kommando über die Regimenter übertrugen, sodass die Befehlshaber die Uniformen dieser Regimenter trugen. Mit der Zeit wird es ziemlich eigenartig sein, wenn die Truppen gegen ihre eigenen Befehlshaber kämpfen, und man kann annehmen, dass daraus viel Verwirrung entsteht. Nach dem Defilee von 28.000 Mann begaben sich die Honoratioren ins Lusthaus, von dem aus strahlenförmig angeordnete Alleen abgehen, in denen für die Soldaten gedeckte Tafeln standen. Alle Monarchen und Fürstinnen speisten im ersten Stock des Lusthauses, die Fürsten im Erdgeschoss. Die ganze Stadt war dort zusammengekommen, überall viel Getriebe, jedoch überall auch Ordnung, alles wurde diesem Tag gerecht, für das Festmahl der Soldaten gab es Schmuck aus Waffentrophäen, als Musik dienten ständige Kanonenschüsse. Viele Lustbarkeiten haben wir verschwiegen aus Angst, dass sie die Leser langweilen könnten. Die Namen einiger Personen konnten nicht genannt werden, daher wurden viele Ereignisse ausgelassen. Alle waren dermaßen mit Unterhaltungen beschäftigt, dass, als Fürst de Ligne erkrankte, er spaßhalber meinte, die Monarchen hätten schon so viele Feierlichkeiten zu sehen bekommen, dass er diesen Königen nun auch das Schauspiel der Beerdigung eines Feldmarschalls verschaffen wolle. Unglücklicherweise verabschiedete er sich kurz darauf aus dieser Welt. Es lag nicht in seiner Macht, die Schere der Parzen aufzuhalten und Wien das Schauspiel seines Begräbnisses entgehen zu lassen. Die Begräbnisse so hochrangiger Militärs sind üblicherweise sehr prunkvoll, dieses war darüber hinaus auch noch berührend. Dieser verdiente österreichische Held blieb als ehrlicher und anziehender Mensch in Erinnerung, aber auch als ein Beispiel für die Undankbarkeit des Monarchen, denn in den Herzen seiner liebenden Familie und seiner Freunde blieb ein untröstlicher Schmerz zurück, er selbst jedoch hinterließ gleich einem zweiten Mummius29 nicht einmal so viel, dass es für sein Begräbnis reichte. Bis zu seinem letzten Atemzug bewahrte der Fürst einen klaren Verstand und versprühte, wie es seine Gewohnheit war, Bonmots.

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Lucius Mummius zerstörte Korinth, die reichste Stadt Griechenlands, er verstarb jedoch in solcher Armut, dass für sein Begräbnis nur mit Mühe aufgekommen werden konnte.

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Nachdem er die Tröstung des letzten Sakraments empfangen hatte, trat die Fürstin an das Sterbebett, kniete nieder und küsste seine Hand, er aber sagte lächelnd zu ihr: „Madame, halten Sie mich schon jetzt für einen Heiligen?“ Von den so fröhlichen Berichten, wie die Darstellung der Lustbarkeiten während des Kongresses, sind wir zu traurigen übergegangen. Das ist jedoch der gewöhnliche Lauf der Dinge in der Welt der Sterblichen. Häufig ist bei der Geburt eines Kindes die Freude der Eltern getrübt durch das Stöhnen eines sterbenden Greises im Raum nebenan. Oder an die Ohren der Trauernden am Sterbebett, auf welchem ihr Wohltäter darnieder liegt, um bald in den ewigen Schlaf zu sinken, dringt der Lärm einer lauten Hochzeitsfeier. Häufig haben wir es nämlich mit ähnlichen gegensätzlichen Schicksalsfügungen zu tun, immer wieder gibt es etwas, das unsere Gefühle verletzt oder unsere Freude mit Schmerzen paart. Wahrscheinlich hätten die fortlaufenden Vergnügungen noch lange gedauert, wenn nicht die Kunde von der Landung Napoleons an den Ufern Frankreichs alle erschüttert hätte. Die Erinnerung an die kürzlich erlittenen Schrecken war noch sehr frisch, die kaum verheilten Wunden sind wieder aufgerissen. Die stolzen Sieger – denn nichts verdirbt mehr als der Erfolg – riefen sich die vor kurzem empfundene Unsicherheit in Erinnerung und der Furcht gelang, was die Klugheit und Besonnenheit der am Steuer eines gegen den Sturm ankämpfenden Schiffes Stehenden längst hätten bewirken sollen. Man ging an die Vereinbarung und schloss sie auch ab, wir lesen jedoch nur in den Verträgen, dass sie für immer gelten sollte. Am 13. März erklärten die verbündeten Mächte Napoleon in Acht und Bann. Somit sah sich der zuvor auf die Insel Elba Verbannte zwischen dem Thron und der Guillotine. In dem am 25. März ebenfalls in Wien unterzeichneten Bündnis verpflichteten sich Österreich, Russland, Großbritannien und Preußen, die Waffen nicht eher aus der Hand zu legen, bis sie Napoleon jede künftige Gelegenheit genommen haben, nach der höchsten Macht in Frankreich zu greifen. Die letzte Plenarsitzung des Kongresses fand am 9. Juni statt, an diesem Tag wurde von den Bevollmächtigten der acht Höfe die 121 Artikel zählende Schlussakte samt ihren 17 Annexen unterzeichnet. Darin gab es Verträge mit kleineren Staaten, Bestimmungen hinsichtlich ihrer Gebiete ohne Berücksichtigung der gegenseitigen politischen Verhältnisse, weiters die Abschaffung des Sklavenhandels und Ordnungsbestimmungen. Am 11. Juni war der Kongress zu Ende. Anders ausgedrückt: Es war das Ende des Jüngsten Tages für die Unschuldigen, das Ende der Namenstage für die Minister und Diplomaten, welche Glückwünsche und Geschenke entgegen nahmen, das Ende des Faschings für Nichtstuer und Windbeutel, der Anfang des Fastens für alle Fürsten, die ihre Erbländer verloren hatten, und meines Werkes. Ende Übersetzung: Joanna Ziemska

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Karte 1

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Karte 2

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Karte 3

Personenregister erstellt von Max Szot VerfasserInnen historiographischer Werke werden in Kursivschrift angegeben.

A Ajnenkiel Andrzej 93 Albert Kasimir von Sachsen-Teschen, Erzherzog 176 Aleksandrowska Elżbieta 159 Alexander I., Kaiser von Russland (1801– 1825) 8, 15 –17, 19 – 24, 27 – 35, 38 – 40, 46, 50 – 52, 54, 57, 59, 61, 62, 67, 69, 70, 75 – 86, 88 – 90, 93, 96, 104, 124, 125, 128, 137, 138, 141, 142, 145, 150, 154, 156, 170, 181, 184, 187, 193, 195, 196, 200, 203 Amerling Friedrich von 178 d’Angeberg, Comte → Chodźko Leonard Anstett Johann Protasius von 65, 67, 90, 187 Ariosto Ludovico 162, 200 Arndt Ernst Moritz 73 Askenazy Szymon 89, 91 August II. der Starke (poln. August II Mocny), König von Polen (1697 –1706, 1709 – 1733) und Kurfürst von Sachsen (1694 – 1733) 135 August III. (poln. August III Sas), König von Polen und Kurfürst von Sachsen (1733 –1763) 135 Augustynowicz Łukasz 129 B Bach Christoph de 200 Baczkowski Michał 110, 111 Badeni Kazimierz 129 Bajko Marcin 160 Bąkowski Jan Wincenty 129 Bardach Juliusz 150 Barycz Henryk 159

Batowski Jan 129 Baum, Adelsgeschlecht 127 Baworowski, Adelsgeschlecht 125 Bazylow Ludwik 139 Beethoven Ludwig van 169, 177 Bentham Jeremy 30, 35, 94 Berg Anna de 123 Berlichingen zu Hornberg Gottfried „Götz“ von 202 Biernacki Felicjan 82 Bismarck Otto von 146, 152 Bobowski Józef 129 Boeckh Richard 65 Bojarski Jan 117 Bömelburg Hans-Jürgen 7, 98 Boockmann Hartmut 120 Borkowicz Maryla 98 Bourgoing Jean de 25 Broszat Martin 28, 29, 37, 39 Bryant Mark 46, 58 Bückner Alexandre 85 Burke Peter 43 C Canning George 86 Canova Antonio 165 Capefigue M. 64, 75 Carl August, Herzog (1758 – ) und Großherzog (1814 –1828) von Sachsen-WeimarEisenach 184 Castlereagh, Viscount (eigentlich Robert Ste­wart, 2. Marquess of Londonderry, Vis­count Castlereagh) 25, 31– 35, 52, 54,

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Personenregister

57, 61– 65, 68, 69, 72, 75, 80 – 83, 86 – 88, 90, 91, 101, 104, 185, 188 –191 Cavour Camillo Benso di 152 Chodkiewicz Jan Karol 192 Chodźko Leonard (Pseudonym: Comte d’An­ geberg) 64, 65, 67 – 70, 75, 83, 84, 87 Chudzio Hubert 139 Cillessen Wolfgang 43 Clancarty (eigentlich Richard Le Poer Trench, 2. Earl of Clancarty) 65, 67 Comenius → Komenský Jan Amos Conze Werner 120 Crivellari Fabio 44 Csendes Peter 179 Culbert David 50 Cull Nicholas J. 50 Czartoryska Izabela 125 Czartoryska Maria Anna, Herzogin von Württemberg 125 Czartoryski, Adelsgeschlecht 28, 38, 125 Czartoryski Adam Jerzy 8, 20 – 23, 28 – 41, 62, 67, 71, 76, 77, 79, 80, 82, 84, 86, 88 – 91, 93, 94, 96 – 98, 105, 108, 125, 137 –139, 141, 145, 154, 156, 187 Czartoryski Adam Kazimierz 33, 125 Czubaty Jarosław 11–13, 15, 17, 20, 22, 23, 135, 223 D Dąbrowski Jan Henryk 8, 22, 23 Dalberg Emmerich Joseph von 65 Dąmbski Tomasz 129 Davies Norman 26 De Martens Fjodor 80, 81, 99 Dembiński, Adelsgeschlecht 125 Dietrichstein, Adelsgeschlecht 165 Dietrichstein Franz Joseph von 126 Dolce Lodovico 162 Döring Jürgen 44, 46 Drdacki von Ostrow Moritz 113 Drohojewski 32 Drohojowski, Adelsgeschlecht 125 Drucki-Lubecki Franciszek Ksawery 20 Duchhardt Heinz 25 Duprat Annie 44

Dwernicki Józef 15 Dybaś Bogusław 13, 223 Dzierzkowski Józef 129 E Eich Ulrike 76 Elisabeth Alexejewna, Kaiserin von Russland (1801–1825) 184 Erbe Michael 27, 28 Esterházy, Adelsgeschlecht 165 F Fahrmeir Andreas 71 Feinstein Ladislas 91 Ferdinand I., König beider Sizilien (1815/ 1816 –1825) 57 Ferdinand VII., König von Spanien (1808, 1813 –1833) 50 Fischer Hubertus 48 Flöter Jonas 31 Forrest Alan 43 Fournier August 30, 32, 36 François Étienne 43 Franz I., Kaiser von Österreich (1804 –1835), als Franz II. letzter deutsch-römischer Kaiser (1792 –1806) 18, 30, 32, 45, 46, 50 – 52, 57, 59, 89, 108, 112, 115, 116, 119 –123, 126, 171, 176, 195, 196, 198, 200, 203 Fredro, Adelsgeschlecht 125 Fredro Aleksander 15 Freksa Friedrich 71 Friedrich I., König von Württemberg (1806 – 1816) 47, 184, 198 Friedrich I. Barbarossa, deutsch-römischer König (1152 – ) und Kaiser (1155 –1190) 224 Friedrich II., König in (1740 – ) und von Preußen (1772 –1786) 78 Friedrich VI., König von Dänemark und Nor­wegen (1808 –1839) 184, 198 Friedrich August I., König von Sachsen (1806 –1827) und Herzog von Warschau (1807 –1815) 8, 17, 19, 21– 23, 27, 34, 47, 52, 54, 62, 79, 181, 189, 190

Personenregister

Friedrich Wilhelm III., König von Preußen (1797 –1840) 37, 46, 50 – 54, 57, 59, 69, 83, 184, 198 Fries, Familie 165 Fürst Franz → Leopold III. Friedrich Franz G Gaheis Franz de Paula 178 Ganzenmüller Jörg 128 Gąsiorowska Natalia 20 Gauermann Friedrich 178 Gauger P. J. B. 104 Gebhardt Bruno 83, 84, 88 Gehler Michael 13 Gentz Friedrich von 33, 186 Gestrich Andreas 7 Gielgud Adam 33 Giersch Paula 123 Gill Arnon 27, 40 Gillray James 45, 56 Glassl Horst 113 Gloger Zygmunt 224 Goclon Jacek 114, 117, 129, 130 Godefroy Jean 55 Goëß Johann Peter von 108, 110 –112 Goethe Johann Wolfgang von 160 Gollwitzer Heinz 26, 101 Górak Paulina 13, 164, 171 Göse Frank 52, 54 Grabner Sabine 43 Griewank Karl 25, 68 Griffith, britischer Reisende 36 Grill Helmut 46 Grillparzer Franz 178 Grimsted Patricia Kennedy 28, 29 Grodziski Stanisław 109, 111, 114, 117, 118, 127 –129 Grohé Stefan 45 Gruner Wolf D. 101 Günzel Klaus 52 Guratzsch Herwig 44, 46, 47 H Haas Arthur Gustav 108, 111, 127 Hacquet Balthasar 123

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Hagemann Karen 43 Hager von Allentsteig Franz 29, 32, 35 – 39 Hahn Hans Henning 11, 12, 92, 98, 139, 141–143, 156, 223 Haller, Adelsgeschlecht 127 Handel Paul 65 Handelsman Marceli 91, 97, 125, 138 Hardenberg Karl August von 61– 63, 65, 68, 80, 82 – 84, 88, 184, 188 Hasse Max 44 Hassel Johann Georg Heinrich 66 Hattendorff Claudia 45, 46 Hauer Franz Seraph von 112, 116, 117, 119, 120 Haumann Heiko 37 Haydn Joseph 169, 177 Helcel, Adelsgeschlecht 127 Heraklit 104 Herding Klaus 43 Hiller Johann von 203 Hitler Adolf 50 Hoffmann Johann Gottfried 65 – 67, 72 Hofmann Klaus 46 Hofmann Werner 44, 47, 47, 50 Horaz 162 Hörl Josef Georg 176 Hüchtker Dietlind 123 Humboldt Caroline von 78, 91 Humboldt Wilhelm von 61, 62, 68, 78, 82 – 84, 88, 91, 184 Hundt Michael 26 Huntington Samuel P. 148 Husslein-Arco Agnes 43 I Isabey Jean-Baptiste 55 J Jabłonowski Ludwik 120 Jakubowski August Antoni 163 Jan III Sobieski → Johann III. Sobieski Janowski Maciej 9 Jarrett Mark 25, 26, 31, 61, 63, 64, 67, 71 Jarry Alfred 154 Jastrzębski Andrzej 127

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Personenregister

Jean Paul → Paul Jean Jedlicki Jerzy 9 Jenkinson Robert, 2. Earl of Liverpool → Liverpool Jettel von, Freiherr 80 Jewsbury George F. 79 Johann III. Sobieski (poln. Jan III Sobieski), König von Polen (1674 –1696) 135, 165 Johann von Österreich, Erzherzog 71 Jordan Johann Ludwig 65 Joseph II., deutsch-römischer Kaiser (1765 – 1790) 107, 112, 113, 115, 118, 120, 121, 127, 130, 175, 176 Joseph Anton von Österreich, Erzherzog, Palatin von Ungarn 198 Just Thomas 179 K K. L. 120 Kaenel Philippe 44 Kahn Harry 78 Kalinka Walerian 114 –116, 118, 119 Kallas Marian 114 Kapodistrias Joannis 34, 85, 88, 187 Kappeler Andreas 79 Karadja Ianko 33 Karadjordje (eigentlich Đorđe Petrović, genannt Karađorđe, also Schwarzer Georg) 96 Karl von Österreich-Teschen, Erzherzog 198 Karl Ludwig Friedrich, Großherzog von Baden (1811–1818) 47, 184 Karl Theodor von Dahlberg, Kurfürst, Erzbischof und Fürstprimas (1806 –1813) 47 Karnicki Kajetan 129 Karoline Wilhelmine von Baden, Königin von Bayern (1806 –1825) 184, 198 Karpińska Małgorzata 89 Karwowski Stanisław 142 Katharina II., Kaiserin von Rußland (1762 – 1796) 29, 38, 78 Katharina, russische Großfürstin 184, 198 Kaulbach Hans-Martin 55 Kepetzis Ekaterini 45 Kerschbaumer Florian 45

Kieniewicz Stefan 138, 142 Kirby David G. 79 Kirchmann Kay 44 Kissinger Henry A. 25 Kizwalter Tomasz 9 Kłańska Maria 123 Klingemann August E. F. 160, 161, 172 Klopstock Friedrich Gottlieb 169 Klüber Johann Ludwig 65, 67, 68, 85, 86 Klueting Harm 72 Knesebeck Karl Friedrich von 81 Kochanowski, Adelsgeschlecht 125 Kochanowski Piotr 162 Komenský Jan Amos (genannt Comenius) 80 Komorowski Cyprian 127 Konstantin, Großfürst → Romanow Konstantin Pawlowitsch, Großfürst Kopij Marta 160 Korotkich Krzysztof 160 Koschatzky Walter 46, 47, 51 Koschier Marion 45 Kościuszko Tadeusz 20, 37, 38, 40, 124, 141, 161 Kowalczyk Rafał 20 Kozłowski Jerzy 129 Kozłowski Mieczysław 92 Kraehe Enno E. 31, 76, 77, 80, 84 Krasicki, Adelsgeschlecht 125 Kratter Franz 123 Krobb Florian Ulrich 123 Krukowiecki Jan 15, 36 Krzos Kazimierz 110 Kuk Leszek 12, 13, 224 Kukiel Marian 17, 34, 138 Kuropatnicki Józef 129 L/Ł Labrador Pedro Gómez 184 Lanckoroński Anton 36 – 38 Langemeyer Gerhard 44, 46, 47 Lansdowne (eigentlich Henry Petty-Fitzmaurice, 3. Marquess of Lansdowne, genannt Lord Henry Petty) 190 Ławski Jarosław 11, 13, 160, 163, 224

Personenregister

Lažanský Prokop 127 Lehmann Max 81, 85 Lentz Thierry 25, 31, 61, 64, 66 Leopold III. Friedrich Franz (genannt Fürst Franz), Fürst und Herzog von AnhaltDessau (1758 –1817) 47 Łepkowski Tadeusz 8 Lermontow Michail 160 Lewicki Karol 120 Lieb Stefanie 45 Liertz Uta-Maria 79 Ligne Charles Joseph de 52, 191 Liszkowski Uwe 100 Liverpool (eigentlich Robert Jenkinson, 2. Earl of Liverpool) 31, 32, 81, 86, 88 Łodyński Piotr 129 Low David 50 Łoziński Bronisław 113, 117 Lubomirska Izabela 31 Lubomirska Magdalena 159 Lubomirski Edward 10 –13, 159 –173 Lubomirski Franz 37 Lubomirski Henryk 35 – 39 Lubomirski Michał 159 Luca Ignaz de 178 Lucius Mummius 203 Ludwig I., Großherzog von Hessen (1806 – 1830) 47 Ludwig XIV., König von Frankreich (1643 – 1715) 25 Ludwig XV., König von Frankreich (1715 – 1774) 133 Ludwig XVIII., König von Frankreich (1814 –1824) 31, 32, 44, 50, 51, 55, 58, 63 Luise von Preußen, Prinzessin → Radziwiłł Luise Łukaszewicz Józef 163 Lukowski Jerzy 26 Łusakowski Seweryn 119 M Macpherson James 159, 161 Maderthaner Wolfgang 179 Maimann Helene 179 Makarova Galina V. 151

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Małachowski, Adelsgeschlecht 124 Małecki Marian 113, 116, 117 Manegold Cornelia 55 Maner Hans-Christian 108, 109, 111, 126, 127 Marcowitz Reiner 31 Maria, russische Großfürstin 184, 198 Maria Ludovika Beatrix von Österreich-Este, Kaiserin von Österreich (1808 –1816) 120 Maria Theresia von Österreich, deutschrömische Kaiserin (1745 –1780) 111, 113, 130, 175 Marie-Louise von Österreich (Ehefrau Napoleons I.), Herzogin von Parma (1814 – 1847) 194 Marks Lewis 58 Martens Georg Friedrich von 27, 65 Maślanka Julian 163 Mathis Hans Peter 46, 48, 51, 54, 57 Maximilian I., deutsch-römischer König (1486 – ) und Kaiser (1508 –1519) 199 Maximilian I. Joseph, König von Bayern (1806 –1825) 47, 184, 198 Mayr Josef Karl 25, 65, 179 Mażewski Lech 150, 151 Mazohl Brigitte 12, 13, 37 Mejbaum Wacław 19, 110, 111 Melanowski Henryk 166 Metternich Klemens Wenzel Lothar von 25, 30, 31, 35, 54, 61– 64, 69, 75, 76, 80, 83 – 86, 89, 90, 104, 108, 110, 111, 126, 186, 202 Micińska Magdalena 9 Miciński Tadeusz 224 Mickiewicz Adam 104, 160, 161, 224 Mier, Familie 125 Mikulski Tadeusz 159 Miłosz Czesław 224 Molski Marcin 188 Mościcki Henryk 22 Mueller Wolfgang 13 Müller Klaus 26, 31, 32, 61– 64 Müller Michael G. 7, 133 Münchhausen Hieronymus Carl Friedrich von 46 Münster Ernst Friedrich Herbert zu 65

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Personenregister

N Nalepa Marek 163 Napoleon Bonaparte, Kaiser der Franzosen (1804 –1814, 1815) 8, 11, 15 –19, 22 – 24, 27, 29, 30, 38, 39, 43 – 48, 50, 51, 56, 58, 61, 66, 71, 72, 76 – 80, 91, 107, 108, 136, 137, 141, 143, 145, 174, 177 –179, 181, 182, 184, 189 –191, 197, 204, 206, 223, 226 Nawrot Dariusz 16, 18 Nesselrode Karl Robert von 30, 33, 80 Nestroy Johann 178 Nicolson Harold 25, 78 Nieć Grzegorz 127 Nieuważny Andrzej, 9 Niezabitowski Józef 129 Nikolaus I., Kaiser von Russland (1825 – 1855) 142, 152 Nikolaus II., Kaiser von Russland (1894 – 1917) 150, 153 Nikorowicz Grzegorz 129 Nikorowicz Ignacy 129 Nikorowicz Jan 129 Nilson Johannes Esaias 49, 50 Nöbauer Irmgard 13 Nosov Boris V. 151 Nowakowski Tadeusz 37 O Oberstebrink Christina 45, 46, 58 Obrenović Miloš 96 Oczko Piotr 163 Okáč Antonín 117 Omilanowska Małgorzata 50, 54 Oncken Wilhelm 28 Opll Ferdinand 13, 179, 224 Oppenheim Lassa 75 Ostrowski Antoni 156 Ostrowski Tomasz 21, 23 Oxenstierna Axel 80 P Pallain Georges 31, 32, 63, 64 Palmer Alan Warwick 30 Paul I., Kaiser von Russland (1796 –1801) 38

Paul Jean (auch Jean Paul, eigentlich Johann Paul Friedrich Richter) 169 Paul von Württemberg, Prinz 112 Paulisch, Oberst 199 Paunel Eugen von 58 Pawlikowski Józef 129 Pawłowski Bronisław 110 Peltzer Marina 43 Peter I., Zar (1682 – ) und Kaiser von Russland (1721–1725) 78, 105 Peter III., Kaiser von Russland (1762) 78 Petri Rolf 123 Petrović Đorđe → Karadjordje Petty-Fitzmaurice Henry, 3. Marquess of Lansdowne → Lansdowne Pezda Janusz 139 Pezzl Johann 178 Pickl Othmar 179 Piller Joseph Johann 117 Pitt William 56 Podgórska-Klawe Zofia 166 Polišenský Josef 80 Pölitz Karl Heinrich Ludwig 112 –117, 119 Poniatowski, Adelsgeschlecht 124 Poniatowski Józef 8, 17, 22, 110 Poniński Franciszek 129 Potocki Stanisław 28 Przybytek Dariusz 205 – 207 Przygodzki Jacek 20 Puchalski Lucjan 160 Puschkin Alexander 160 Puttkamer Joachim von 41 Pyta Wolfram 72 R/Ř Raczyński Edward 161 Radłowski Zygmunt 165 Radwan Arkadiusz 13 Radziwiłł Antoni 32, 33, 35, 37, 40, 82, 91 Radziwiłł Dominik Hieronim 18 Radziwiłł Luise (genannt Luise von Preußen, Prinzessin) 37 Raimund Ferdinand 178 Razumovsky Andrey K. 70, 85, 89, 202 Reichardt Rolf 43, 44

Personenregister

Rey Marie-Pierre 29, 38 Řezník Miloš 11, 12, 123, 225 Richter Johann Paul Friedrich → Paul Jean Richter Joseph 58 Rie Robert 87, 88, 94 Robertson Ritchie 123 Rogoyski Jędrzej 127 Romanow Konstantin Pawlowitsch, Großfürst 22, 40, 57 Rościszewski Adam 125 Röskau-Rydel Isabel 120, 127 Rossi Joseph 59 Rudolf von Habsburg 202 Rzewuski Kazimierz 120 S/Ś/Š Sandl Marcus 44 Sapieha, Fürstin 31 Schadow Gottfried 45, 46 Schawe Martin 46 Scheffler Ernst 46, 47 Scheffler Sabine 46, 47 Schiller Friedrich 169 Schlegel August Wilhelm 161 Schlegel Friedrich 161 Schlitter Hanns 129 Schlögl Rudolf 44 Schlüsselberger Epi 50 Schmidt 32 Schnabel-Schüle Helga 7 Schneider Gabriele 70 Schneider Karin 11, 12, 37, 225 Schönborn, Adelsgeschlecht 165 Schössler Franziska 123 Schroeder Paul W. 75 Schröer Christina 58 Schubert Franz 178 Schulz-Hoffmann Carla 46 Schwarzenberg Karl Philipp zu 54 Schweitzer Robert 79 Schwind Moritz von 178 Senkowska-Gluck Monika 27, 150 Shakespeare William 56

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Siarczyński Franciszek 125 Siebmacher Johann 113, 115 Sieburg Heinz-Otto 27 Siemann Wolfram 31, 75, 84 Siemianowski Hilary 129 Siemiński 31 Sigismund I. der Alte (poln. Zygmunt I Stary), König von Polen (1507 –1548) 199 Simon Thomas 70 Šindelář Bedřich 80 Skarbek Ignaz 31, 37 Skowronek Jerzy 37, 125, 139 Skowrońska Renata 123 Śladkowski Wiesław 165 Słowacki Juliusz 224 Ślusarek Krzysztof 119, 130 Smith William Sydney 187, 197 Sobieszczański Franciszek Maksymilian 163 Sokołowski Mikołaj 163 Srbik Heinrich von 108 Stadnicki, Adelsgeschlecht 125 Stadnicki 31 Stalin Josef 50 Stanisław II. August Poniatowski, König von Polen (1764 –1795) 182, 188 Starzeński, Adelsgeschlecht 124 Starzyński Stanisław 111 Stauber Reinhard 11, 12, 25, 31, 45, 48, 61, 66, 70, 93, 225 Stein Heinrich Friedrich Karl vom und zum 61, 62, 81, 85, 88, 186 Stevens Matthew F. 13 Stewart Charles 36 Stewart Robert, 2. Marquess of Londonderry, Viscount Castlereagh → Castlereagh, Viscount Stolarczyk Marian 128 Stolypin Pjotr Arkadjewitsch 152 Stölzl Christoph 44, 46, 47 Storch Dietmar 143 Storozynski Alex 38 Straus Hannah Alice 74 Stryczewski 32

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Personenregister

Sułkowska Ewa 24 Sułkowski Antoni Paweł 24 Sydow Anna von 78, 91 Szaniawski Józef Kalasanty 32, 90 Szeptycki Jan 129 Szimiakowski 32 Szot Max 13 Szturc Włodzimierz 162 T Taborski Roman 159 Talik Malwina 13 Talleyrand-Périgord Charles-Maurice de 31, 32, 34, 36, 46, 55, 62 – 64, 182, 184, 185 Telesko Werner 11, 12, 43, 225 Temperley Harold W. V. 86 Thackeray Frank W. 27, 29, 30, 33, 80 Thaden Edward C. 79 Tieck Ludwig 161 Tiedemann Helmut 26 Tierney George 191 Tokarz Wacław 23 Torbus Tomasz 50 Traba Robert 98, 223 Traninger Anita 179 Traunpaur Alphons Heinrich 123 Trauttmansdorff Ferdinand von 198 Treichel Eckhardt 64 Trembecki Stanisław 182 Trench Richard Le Poer, 2. Earl of Clancarty → Clancarty U Unverfehrt Gerd 44, 46, 47 Uruski Jan 129 V Valenta Rainer 45 Vansittart Nicholas, 1. Baron Bexley 82, 83 Vetter Gisela 46 Vick Brian E. 25, 61, 69, 70 Vladislav II. (poln. Władysław II Jagielloń���������� czyk), König von Böhmen (1471– ) und Ungarn (1490 –1516) 199

Vocelka Karl 179 Voltz Johann Michael 45, 46 W Wacken Nikolaus von 65 Wackenroder Wilhelm Heinrich 161 Waldmüller Ferdinand Georg 178 Wandycz Piotr S. 69, 70 Wassiltschikow Alexandre 85, 89 Wasylewski Stanisław 166 Wawrzecki Tomasz 20 Wawrzkowicz Eugeniusz 79, 82, 85, 87, 94 Webster Charles Kingsley 25, 62, 64, 77, 80, 81, 86, 87, 96 Weigl Joseph 169 Weil Maurice-Henri 29, 31, 32, 35 – 39 Welch David 50 Wellington (eigentlich Arthur Wellesley, 1. Duke of Wellington) 50, 51, 54, 55, 90, 91, 191 Wereszycki Henryk 142 Werner Eva Maria 12, 37 Wessenberg Johann Philipp von 65, 69 Whitbread Samuel 191 Wieland Christoph Martin 169 Wielopolski Aleksander 152, 154 Wilson Woodrow Thomas 78 Winckelmann Johann Joachim 169 Wischmeyer Johannes 25 Witusik Adam Andrzej 165 Władysław II Jagiellończyk → Vladislav II. Wójcicki Kazimierz Władysław 160 Woldan Alois 163 Wöller Burkhard 109 Wolf Matthias 43 Wolff Larry 123 Wrzyszcz Andrzej 150 Wurzbach Constantin von 36, 112, 127 Z/Ż/Ž Zahorski Andrzej 139 Zajączek Józef 40, 124 Zajewski Władysław 77, 154 Zamoyski Adam 25, 77, 86 Zamoyski Jan 192

Personenregister

Zamoyski Stanisław Kostka 125 Zawadzki Waclaw Hubert 30, 31, 33, 35, 39, 40, 77, 79, 80, 85, 88 Żbikowska Małgorzata 22 Żbikowski Piotr 171 Zdrada Jerzy 139, 141 Zernack Klaus 100

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Zielińska Henriette 36 Ziemska Joanna 13, 24, 157, 164, 204 Županič Jan 119 Żychlińska Salomea 125 Zygmunt I Stary → Sigismund I. der Alte Żywiecki Piotr 151

Geografisches Register erstellt von Max Szot Der sehr oft auftretende Begriff „Wien“ wird nicht berücksichtigt.

A Ansbach 66 Augsburg 121 Austerlitz (tschech. Slavkov u Brna) 79 B Bayreuth 66 Beresina, Fluss 185 Berlin 37, 50, 62, 65, 70, 72, 84, 145, 159, 200 Białystok 11, 67, 206, 224 Bielefeld 223 Bratislava (dt. Pressburg) 199 Braunschweig 160 Breslau (poln. Wrocław) 125 Brno → Brünn Bromberg (poln. Bydgoszcz) 68, 143 Brünn (tschech. Brno) 121 Budapest 83 Bug, Fluss 144, 148, 149, 154, 156 Bydgoszcz → Bromberg C Chełm → Cholm Chemnitz 225 Chocim → Chotyn Cholm (poln. Chełm) 150 Chotyn (ukr. Hotin, poln. Chocim) 192 D Danzig (poln. Gdańsk) 67, 71, 92, 145, 206, 207 Dresden 61

Dubrovnik (dt. Ragusa) 65 Dzierżoniów → Reichenbach E Elba, Insel 15, 204 Elbe, Fluss 66 Ems, Fluss 66 Ermland (poln. Warmia) 92, 146 F Fontainebleau 17 Frankfurt am Main 90 Freiburg im Breisgau 223 G Galič → Halytsch Galizien (poln. Galicja) 10 –12, 16, 18, 19, 39, 71, 89, 90, 92, 107 –131, 147, 148, 150 –152, 187 Gdańsk → Danzig Genua 63, 194 Göttingen 65, 223 Göttweig, Stift 225 Graz 226 H Halicz → Halytsch Halle (Saale) 65 Halytsch (ukr. Galič, poln. Halicz) 124 Hannover 194 Heidelberg 223 Hotin → Chotyn I Innsbruck 11, 225

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Geografisches Register

J Jena 161 Josephstadt → Podgórze

Moskau 19, 29, 77, 200 München 225 Münster 80

K Kaliningrad → Königsberg Kalisch (poln. Kalisz) 27, 68, 77 Karthago 191 Kirchholm (lett. Salaspils) 192 Klagenfurt 11, 225 Köln 223 Königsberg (russ. Kaliningrad, poln. Kró���� lewiec) 65 Korinth 203 Krakau (poln. Kraków) 10, 17, 33, 36 – 38, 40, 68, 71, 90, 92 – 95, 97, 109, 110, 120, 123, 124, 128, 130, 140, 143, 144, 147, 149, 171, 181, 187, 207, 223 Królewiec → Königsberg Księstwo Warszawskie → Warschau, Herzogtum

N Nancy 224 Neapel 164, 194 Nemunas → Memel Niemen → Memel Nijmegen 64 Nussdorf 31

L/Ł Laibach → Ljubljana Lemberg (ukr. L’viv, poln. Lwów) 36, 110, 112, 114, 116, 118 –120, 124, 126, 127 Leipzig 8, 9, 17, 19, 22, 46, 65, 86, 183, 185, 202, 223, 226 Leitha, Fluss 199 Linz 226 Ljubljana (dt. Laibach) 225 Łomża 68 London 30, 32 – 34, 50 – 56, 61, 77, 154, 159, 161, 166, 191, 223 Lublin 68, 124 Lubraniec 129 L’viv → Lemberg Lwów → Lemberg M Mainz 64 Memel, Fluss (lit. Nemunas, poln. Niemen) 81 Modlin 17 Mödling 224

O Oldenburg 223 Olmütz (tschech. Olomouc) 225 Opava → Troppau Osnabrück 80 P Paris 15, 38, 46, 51, 52, 54, 55, 61, 66, 77, 78, 164, 166, 184, 185, 189, 197, 200, 226 Parma 194 Płock 68 Podgórze (dt. Josephstadt, Wohnviertel von Krakau) 109 Posen (poln. Poznań) 24, 39, 40, 67, 68, 71, 92, 110, 129, 130, 142, 143, 146, 151, 163, 194, 207 Posterstein 46 Poznań → Posen Prag (tschech. Praha) 121, 225 Pressburg → Bratislava Puławy 77 R Radom 68 Radzymin 159 Ragusa → Dubrovnik Reichenau an der Knieschna (tschech. Rych­ nov nad Kněžnou) 225 Reichenbach (poln. Dzierżoniów) 27, 77 Regensburg 225 Ried im Innkreis 64 Riga 149 Roermond 64

Geografisches Register

Rom 164, 191, 197, 224, 225 Rychnov nad Kněžnou → Reichenau an der Knieschna S Salaspils → Kirchholm Sankt Petersburg 29, 70, 99, 109, 125, 164 Sbrutsch, Fluss (ukr. Zbruč, poln. Zbrucz) 144, 148 Siedlce 68 Sieniawa 125 Slavkov u Brna → Austerlitz Smolensk 29 Sowetsk → Tilsit Straßburg (franz. Strasbourg) 224 T Tarnopol (ukr. Ternopil) 109, 206 Tarnów 121 Teplitz (tschech. Teplice) 28 Ternopil → Tarnopol Tilsit (russ. Sowetsk, poln. Tylża) 27, 57 Thorn (poln. Toruń) 12, 71, 86, 90, 207, 223, 224 Torgau 62 Toruń → Thorn

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Troppau (tschech. Opava) 225 Tylża → Tilsit V Vilnius → Wilna W Warmia → Ermland Warschau, Herzogtum (poln. ������������� Księstwo Warszawskie) 8, 10, 16, 17, 19, 20, 24, 26 – 28, 30, 36, 38, 40, 57, 61, 66 – 72, 77 – 82, 84 – 86, 92, 95, 108, 128, 129, 136, 137, 139 –145, 147 –149, 154, 181, 194, 206 Warschau (poln. Warszawa) 11, 16, 21, 29, 38, 68, 84, 125 –127, 144, 159, 161, 163, 164, 166, 169, 173, 223 – 225 Waterloo 15, 48 Weichsel, Fluss (poln. Wisła) 94, 153 Weser, Fluss 66 Wieliczka 109 Wilna (lit. Vilnius, poln. Wilno) 144 Wisła → Weichsel Wittenberg 62 Wrocław → Breslau Z Zamość 17, 125, 192 Zbruč, Zbrucz → Sbrutsch

Über die Autoren Jarosław Czubaty, geboren 1961 in Warschau, Professor am Institut für Geschichte der Universität Warschau. Forschungsschwerpunkte: Geschichte Polens 1788 –1830 unter besonderer Berücksichtigung der Napoleonischen Ära, der Militärgeschichte dieser Zeit, des politischen Denkens sowie der Ideengeschichte. Wichtigste Publikationen: Zasada „dwóch sumień”. Normy postępowania i granice kompromisu politycznego Polaków w sytuacjach wyboru (1795 –1815) [Das Prinzip der „zwei Gewissen”. Verhaltensnormen und Grenzen des politischen Kompromisses von Polen in Entscheidungssituationen], Warszawa 2005; The Duchy of Warsaw. A Napoleonic Outpost in Central Europe (1807 –1815), Bloomsbury Academic, London 2016. Bogusław Dybaś, geboren 1958, Studium der Geschichte an der Nikolaus-Kopernikus-Universität in Thorn/Toruń (Polen); in den Jahren 2007 – 2019 Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Wien; zur Zeit Professor an der Nikolaus-Kopernikus-Universität und am Institut für Geschichte der Polnischen Akademie der Wissenschaften; Forschungsgebiete: politische und verfassungsrechtliche Geschichte in der Frühen Neuzeit, Militärgeschichte, Geschichte der polnisch-litauischen Adelsrepublik. Hans Henning Hahn, geboren 1947, ist emeritierter Professor für Osteuropäische Geschichte an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg; seit 1966 Geschichts- und Völkerrechtsstudium an den Universitäten Köln und Freiburg; Archiv-Forschungen in Polen, Paris und London; 1976 Promotion und 1986 Habilitation in Köln; 1988 –1992 Lehrstuhlvertretungen in Heidelberg, Warschau, Bielefeld, Köln und Göttingen; 1992 – 2016 Professor für Moderne Osteuropäische Geschichte an der Universität Oldenburg; 1990 Gastdozent an der Universität Warschau; 2000 Gastprofessor an der Jagiellonen-Universität Krakau; 2006 – 2014 mit Robert Traba Projekt „Deutsch-Polnische Erinnerungsorte“ im Zentrum für Historische Forschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften; seit 1999 Präsidiumsmitglied der Gemeinsamen Deutsch-Polnischen Schulbuchkommission; 2009 – 2017 Präses der Societas Jablonoviana Leipzig. Veröffentlichungen und Forschungsinteressen zu Themen der Geschichte Polens in der Neuzeit, deutschpolnische und deutsch-tschechische Beziehungsgeschichte, zum europäischen Staatensystem im 19. Jh., zur europäischen Erinnerungskultur und zur historischen Stereotypenforschung.

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Über die Autoren

Leszek Kuk, geboren 1951, Studium der Geschichte an der Nikolaus-KopernikusUniversität in Thorn/Toruń (Polen); seit 1976 wissenschaftlicher Mitarbeiter an dieser Universität, zunächst (bis 1997) am Institut für Geschichte und Archivistik, seit 2000 (mit einer Unterbrechung von 2009 bis 2012) am Institut für Politikwissenschaft und Internationale Studien; Promotion 1984, Habilitation 1996, Dissertation und Habilitationsschrift betrafen das slawophile Denken der polnischen „Großen Emigration“ (nach dem Aufstand 1830/1831) im Kontext der Entwicklung der Studien über slawische Länder in Westeuropa, insbesondere in Frankreich; von 1997 bis 2000 visiting professor (Maître de conférences associé) an der Universität Nancy 2 und von 1998 bis 2002 visiting professor an der Universität Straßburg 2; in den Jahren 2009 – 2012 Direktor des Wissenschaftlichen Zentrums der Polnischen Akademie der Wissenschaften in Rom; zur Zeit Professor an der Fakultät für Politik und Sicherheit an der Nikolaus-Kopernikus-Universität; Forschungsinteressen: Geschichte der internationalen Beziehungen im 19. Jahrhundert, internationale politische Beziehungen nach 1989, polnische Außenpolitik nach 1989. Jarosław Ławski, geboren 1968, Studium der polnischen Philologie an der Außenstelle der Universität Warschau in Białystok; Doktorat und Habilitation am Institut für Literaturforschung der Polnischen Akademie der Wissenschaften; Mitglied des Literaturwissenschaftlichen Komitees der Polnischen Akademie der Wissenschaften, korrespondierendes Mitglied der Polnischen Akademie der Wissenschaften und Künste; seit 2006 Professor an der Universität Białystok; Forschungsinteressen: Literatur des 19., 20. und 21. Jahrhunderts, Beziehungen zwischen Geopolitik und Literatur in Mittel- und Osteuropa; Publikationen (Auswahl): Ironia i mistyka. Doświadczenia graniczne wyobraźni poetyckiej Juliusza Słowackiego [Ironie �������������������������������������������������������� und Mystik. Grenzerfahrungen der poetischen Vorstellungskraft von Juliusz Słowacki], Białystok 2005, Mickiewicz – mit – historia. Studia [Mickiewicz – Mythos – Geschichte. Eine Studie], Białystok 2010, Ìronìâ, ìstoriâ, geopolìtika: pol’s’ko-ukraïns’kì lìteraturnì studìï [Ironie, Geschichte, Geopolitik: Eine polnisch-ukrainische literarische Studie], Kiiv 2018, Miłosz: „Kroniki“ istnienia [Miłosz: Chroniken des „Seins“], Białystok 2014, Herausgeber der Schriften von Zygmunt Gloger und Tadeusz Miciński, leitender Redakteur der Wissenschaftlichen Reihen „Czarny Romantyzm“, „Przełomy/ Pogranicza“ sowie „Colloquia Orientalia Bialostocensia“. Ferdinand Opll, geboren 1950 in Mödling; nach dem Studium der Geschichte, Germanistik und Kunstgeschichte und Promotion in mittelalterlicher Geschichte (1974) hauptamtlicher Projektleiter „Regesta Imperii“ (Friedrich Barbarossa, 1975 –1977); ab 1977 Archivar am Wiener Stadt- und Landesarchiv, 1989 – 2010 dessen Direktor; 1985 Habilitation mit der Arbeit Stadt und Reich im 12. Jahrhundert. Forschungsschwerpunkte: mittelalterliche Reichsgeschichte, vergleichende

Über die Autoren

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Städtegeschichte, Geschichte Wiens, Kartographiegeschichte; Dozent für mittelalterliche Geschichte und historische Hilfswissenschaften (Universität Wien). Miloš Řezník, geboren 1970 in Rychnov nad Kněžnou. Studium der Geschichte und Promotion in der allgemeinen Geschichte an der Karls-Universität Prag, 2007 Habilitation an der Universität Olmütz. Seit 2009 Professor für Europäische Regionalgeschichte an der Universität Chemnitz, seit 2014 Direktor des Deutschen Historischen Instituts Warschau. Ko-Vorsitzender der Deutsch-Tschechischen Historikerkommission. Forschungschwerpunkte: Regionalität, Geschichtskulturen, Elitenwandel, 18. – 20. Jh. Karin Schneider, Studium der Geschichte sowie Publizistik und Kommunikationswissenschaften in Wien; Absolventin des Lehrgangs für Archivwissenschaften und Historische Hilfswissenschaften am Institut für Österreichische Geschichtsforschung. 2007 bis 2015 Wissenschaftliche (Projekt)mitarbeiterin am Institut für Geschichtswissenschaft der Universität Innsbruck und dem Institut für Geschichte der Universität Klagenfurt. 2016 bis 2019 Projektleiterin: „Projekte zur Staatsreform in der Habsburgermonarchie zwischen 1800 und 1820“ (Jubiläumsfonds der ÖNB), „Die Kongresse von Troppau und Laibach 1820/21“ (Wissenschaftsfonds FWF) am Institut für Neuzeit- und Zeitgeschichtsforschung (INZ) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften. Seit 2019 Archivreferentin der Parlamentsdirektion in Wien. Forschungsinteressen: Wiener Kongress und das Europäische Mächtekonzert, internationale und österreichische Geschichte im 19. Jahrhundert, Bürgertums- und Stadtgeschichte sowie Frauen- und Geschlechtergeschichte. Reinhard Stauber, geboren 1960 in Regensburg; 1990 Promotion, 1998 Habilitation aus Neuerer Geschichte und Landesgeschichte an der Universität München; nach Vertretungsprofessuren in München und Innsbruck seit 2003 Universitätsprofessor für Neuere und Österreichische Geschichte an der Universität Klagenfurt. Forschungsschwerpunkte: Aufklärung; napoleonische Epoche; Friedenssystem des Wiener Kongresses (Der Wiener Kongress, Böhlau-UTB 2014). Mitglied der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, München, und Leiter des Editionsprojekts „Die Protokolle des bayerischen Staatsrats 1799 –1817“. 2015 –2020 Mitglied des Kuratoriums des Wissenschaftsfonds FWF; seit 2020 Vizerektor für Personal und Infrastruktur der Universität Klagenfurt. Werner Telesko, Studium der Kunstgeschichte, Geschichte und Klassische Archäologie an der Universität Wien; wissenschaftliche Tätigkeit am Österreichischen Historischen Institut in Rom (1988 –1990) und in den Kunstsammlungen des Benediktinerstifts Göttweig (1990 –1993); seit 1993 ist er als wissenschaftli-

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Über die Autoren

cher Mitarbeiter der Österreichischen Akademie der Wissenschaften in Wien tätig. Habilitation im Jahr 2000 mit einer Arbeit zur Kunstpolitik Napoleons. Von 2013 bis 2017 Direktor des Instituts für kunst- und musikhistorische Forschungen (IKM) der Österreichischen Akademie der Wissenschaften; Gastprofessor an der École pratique des hautes études (Sorbonne) in Paris (Frühjahr 2009) sowie Gastwissenschaftler am Zentrum für die Kultur Ostmitteleuropas in Leipzig (Herbst 2013). Werner Telesko unterrichtet an den Universitäten Wien, Graz und Linz (Katholisch-Theologische Privatuniversität).