Die polizeirechtliche Beschlagnahme von Wohnraum zur Unterbringung Obdachloser: Zulässigkeit, Inhalt und Rechtsfolgen der Inanspruchnahme und Zuweisung, Verhältnis zu zivilgerichtlichen Entscheidungen, Räumung, Kostentragungs- und Haftungsprobleme [1 ed.] 9783428510719, 9783428110711

Die juristische Auseinandersetzung mit der polizeilichen Beschlagnahme von privatem Wohnraum und dessen Zuweisung an Obd

107 90 58MB

German Pages 409 [410] Year 2004

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Die polizeirechtliche Beschlagnahme von Wohnraum zur Unterbringung Obdachloser: Zulässigkeit, Inhalt und Rechtsfolgen der Inanspruchnahme und Zuweisung, Verhältnis zu zivilgerichtlichen Entscheidungen, Räumung, Kostentragungs- und Haftungsprobleme [1 ed.]
 9783428510719, 9783428110711

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KATJA REITZIG

Die polizeirechtliche Beschlagnahme von Wohnraum zur Unterbringung Obdachloser

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 940

Die polizeirechtliche Beschlagnahme von Wohnraum zur Unterbringung Obdachloser Zulässigkeit, Inhalt und Rechtsfolgen der Inanspruchnahme und Zuweisung, Verhältnis zu zivilgerichtlichen Entscheidungen, Räumung, Kostentragungs- und Haftungsprobleme

Von Katja Reitzig

Duncker & Humblot • Berlin

Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Universität Mannheim hat diese Arbeit im Jahre 2002 als Dissertation angenommen.

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten © 2004 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Selignow Verlagsservice, Berlin Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-11071-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706©

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Meinen Eltern

Vorwort Die vorliegende Arbeit wurde im Februar 2002 an der Universität Mannheim als Dissertation angenommen. Rechtsprechung und Literatur wurden bis zum November 2001 berücksichtigt, vereinzelt konnten sie noch bis Dezember 2002 Berücksichtigung finden. An dieser Stelle möchte ich allen Dank sagen, die zum Gelingen dieser Arbeit auf so vielfältige Art und Weise beigetragen haben. Mein ganz besonderer Dank gilt zunächst meinem verehrten Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Wolf-Rüdiger Schenke, der das Thema angeregt hat, mir jederzeit als Diskussionspartner zur Verfügung stand und stets großen Anteil am Entstehen der Arbeit genommen hat. Trotz vielfältiger anderweitiger Verpflichtungen hat er innerhalb kürzester Zeit das Erstgutachten erstellt. Die Zeit als Mitarbeiterin an seinem Lehrstuhl war für mich eine große Bereicherung, die ich immer in guter Erinnerung haben werde. Zu großem Dank bin ich auch Herrn Prof. Dr. Hans-Wolfgang Arndt verpflichtet, der den Fortgang der Arbeit stets wohlwollend begleitete und ebenfalls in bemerkenswert kurzer Zeit das Zweitgutachten anfertigte. Dank schulde ich ferner dem Land Baden-Württemberg für die Gewährung eines Stipendiums und eines Druckkostenzuschusses im Rahmen der Landesgraduiertenförderung sowie Herrn Dr. Florian R. Simon für die Aufnahme in die Schriftenreihe zum Öffentlichen Recht. Herzlich danken möchte ich ebenfalls allen Freunden und Kollegen, die mich in unterschiedlicher Weise unterstützt haben. Insofern gilt mein besonderer Dank Herrn Notarassessor Dr. Johannes Beil für zahlreiche Diskussionen, die Unterstützung in so manch kritischer Phase und die Durchsicht des Manuskripts sowie Herrn Rechtsassessor Dr. Thomas Fetzer, der mich in computertechnischen Belangen beriet und insoweit eine große Hilfe war. Dank gebührt auch Herrn Notarassessor Dr. Henning Uhlenbrock für das Korrekturlesen des Manuskripts. Danken möchte ich ferner meinen lieben ehemaligen Kollegen am Lehrstuhl für vielfältige fruchtbare Diskussionen. Großen Dank möchte ich schließlich meinen Eltern aussprechen, ohne die ich nicht dort wäre, wo ich heute bin. Sie haben mich während des gesamten Studiums und der Promotionsphase in jeder Hinsicht unterstützt, waren immer für mich da und haben stets mit großer Anteilnahme meinen Werdegang begleitet. Ihnen sei diese Arbeit gewidmet. Hamburg, im Februar 2003

Katja Reitzig

Inhaltsverzeichnis Einleitung A. B. C. D.

Obdachlosigkeit als soziales Problem Rechtliche Regelungsinstrumentarien Anlaß und Gegenstand der Untersuchung Gang der Untersuchung

21 21 22 24 26

Erster Teil Polizeirechtliche Grundlagen

28

Erster Abschnitt Die rechtliche Konstruktion A. Die rechtliche Trennung von Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung B. Konstellationen der Beschlagnahme und Zuweisung von Wohnraum I. Die „Fremdzuweisung" II. Die „echte Wiederzuweisung" III. Die „unechte Wiederzuweisung"

28 28 29 29 30 30

Zweiter Abschnitt Die polizeiliche Zuständigkeit für die Beschlagnahme und Zuweisung von Wohnraum A. Die durch die Obdachlosigkeit gefährdeten polizeilichen Schutzgüter I. Obdachlosigkeit als Gefährdung der öffentlichen Ordnung 1. Das Schutzgut der öffentlichen Ordnung 2. Obdachlosigkeit als Gefährdung der öffentlichen Ordnung? II. Obdachlosigkeit als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit 1. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit 2. Obdachlosigkeit als Gefährdung der öffentlichen Sicherheit a) Obdachlosigkeit als Gefährdung der objektiven Rechtsordnung aa) § 361 Nr. 3 und Nr. 8 StGB a. F. bb) Gefahr krimineller Handlungen Obdachloser b) Unfreiwillige Obdachlosigkeit als Gefährdung subjektiver Rechte aa) Gefährdung eines Anspruchs gegen den Sozialhilfeträger? bb) Gefährdung der Rechtsgüter Leben und Gesundheit durch den Aufenthalt unter freiem Himmel

31 31 32 32 34 37 37 39 39 39 40 41 41 43

10

Inhaltsverzeichnis

cc) Gefährdung des Rechtsguts Eigentum durch den Aufenthalt unter freiem Himmel dd) Gefahr von Überfällen ee) Gefährdung der Menschenwürde ff) Gefährdung des Rechts auf eheliches und familiäres Zusammenleben c) Freiwillige Obdachlosigkeit als Gefährdung subjektiver Rechte? aa) Abgrenzung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Obdachlosigkeit bb) Selbstgefährdung als Ausdruck allgemeiner Handlungsfreiheit i.S.d. Art.2Abs.lGG cc) Grenzen der Selbstgefährdung durch den in Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gewährleisteten Schutz des Lebens und der körperlichen Integrität B. Die sachliche und örtliche Zuständigkeit der Polizeibehörden I. Die sachliche Zuständigkeit II. Die örtliche Zuständigkeit

46 46 46 51 52 52 54 58 61 61 62

Dritter Abschnitt Die Abgrenzung der polizeilichen Zuständigkeit zur Unterbringung Obdachloser zur Zuständigkeit anderer Behörden A. Die Unterbringung Obdachloser nach dem AsylVfG B. Obdachlosigkeit und Sozialhilferecht I. Rechtsgrundlagen im Sozialhilferecht 1. Persönliche Hilfe 2. Geldleistung 3. Sachleistung II. Verdrängung des Polizeirechts durch das Sozialhilferecht?

63 63 66 66 66 67 68 71

Vierter Abschnitt Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Verantwortlichkeit A. Der polizeirechtliche Verursachungsbegriff B. Der Obdachlose und die polizeirechtliche Verantwortlichkeit I. Überblick über den Meinungsstand II. Stellungnahme 1. Die Argumentation der eine Störereigenschaft ablehnenden Auffassung 2. Die Argumentation der eine Störereigenschaft befürwortenden Auffassung .. 3. Das Anscheinsetzen eines störungsverursachenden Verhaltens als Überschreitung der polizeilichen Gefahrenschwelle C. Der Wohnungseigentümer und die polizeirechtliche Verantwortlichkeit I. Inanspruchnahme eines Eigentümers von leerstehendem Wohnraum II. Inanspruchnahme des ehemaligen Vermieters

76 77 79 79 82 82 85 87 88 88 89

Inhaltsverzeichnis Zweiter Teil Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

92

Erster Abschnitt Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Inanspruchnahmeverfügung A. Die Rechtsgrundlage der Inanspruchnahmeverfügung

92 92

I. II. III. IV.

In Rechtsprechung und Literatur vertretene Ansichten 92 Die gesetzlichen Regelungen 93 Der Beschlagnahmebegriff 94 Die Inanspruchnahme des Eigentümers als Beschlagnahme i.S.d. § 33 Abs. 1 Nr. 1 bwPolG? 96 1. Beschlagnahme einer unbeweglichen Sache 96 2. Abwehr einer von der zu beschlagnahmenden Sache unabhängigen Gefahr . 96 3. Begründung hoheitlicher Sachherrschaft unter Ausschließung der Sachherrschaft des Berechtigten als Mittel der Gefahrenabwehr? 98 a) Sachherrschaftsverhältnisse im Fall der „Fremdzuweisung" und der „echten Wiederzuweisung" 98 aa) Begründung hoheitlicher Sachherrschaft unter Ausschluß des Berechtigten 98 bb) Sachherrschaft des Obdachlosen nach Bezug der zugewiesenen Räumlichkeiten 99 cc) Fortwährende Sachherrschaft der Polizei während der Nutzung des Wohnraums durch den Obdachlosen? 100 dd) Zwischenergebnis 103 ee) Auswirkungen auf das Vorliegen der Beschlagnahmevoraussetzungen 103 b) Sachherrschaftsverhältnisse im Fall der „unechten Wiederzuweisung" ... 104 4. Ergebnis 105 B. Voraussetzungen der Nichtstörerinanspruchnahme 105 I. Vorliegen einer qualifizierten Gefahr 1. Die Begriffe der „gegenwärtigen erheblichen Gefahr" bzw. „unmittelbar bevorstehenden Störung" 2. Zeitpunkt des Vorliegens einer qualifizierten Gefahr in Räumungsfällen II. Unmöglichkeit des Vorgehens gegen den Störer III. Vorrang der behördeneigenen Gefahrenabwehr 1. Unterbringung in gemeindeeigenen Obdachlosenunterkünften und Wohnungen 2. Pflicht zur Schaffung und Vorhaltung von Obdachlosenunterkünften? 3. Pflicht zur Schaffung von Behelfs- und Notunterkünften a) Wohncontainer und Wohnwagen b) Öffentliche Gebäude 4. Pflicht zur Anmietung von Räumlichkeiten 5. Berücksichtigung finanzieller Aufwendungen 6. Resümee

106 106 107 111 112 112 113 115 116 117 119 121 124

Inhaltsverzeichnis

12

IV. Zumutbarkeit der Inanspruchnahme 1. Inhalt der Pflichtengrenze der Unzumutbarkeit 2. Rechtliche Grundlage der Pflichtengrenze der Unzumutbarkeit 3. Fallgruppen a) Drohende eigene Obdachlosigkeit des Vermieters b) Gefährdung erheblicher Rechtsgüter des Eigentümers durch den Zuzuweisenden c) Insolvenz des Zuzuweisenden d) Eigenbedarfskündigung e) Abschluß eines neuen Mietvertrags C. Die Inanspruchnahmeverfügung und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit I. Bedeutung und gesetzliche Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes .. II. Geeignetheit und Erforderlichkeit der Beschlagnahme von Wohnraum 1. Mietvertrag als milderes Mittel 2. Umfang der Inanspruchnahme a) Zeitlicher Umfang der Inanspruchnahme aa) Erfordernis einer zeitlichen Befristung der Beschlagnahme bb) Zulässige Höchstdauer der Beschlagnahme (1) Rechtslage in Baden-Württemberg (2) Rechtslage in anderen Bundesländern cc) Verpflichtung zur Suche nach anderweitigen Unterbringungsmöglichkeiten dd) Verpflichtung zur Aufhebung der Beschlagnahme b) Sachlicher Umfang der Inanspruchnahme III. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne D. Die Auswahl zwischen mehreren Nichtstörern I. Keine Ermessensunterschreitung II. Ermittlungspflichten der Polizei III. Ermessensleitende Gesichtspunkte 1. Allgemeine ermessensleitende Gesichtspunkte bei der Nichtstörerauswahl .. 2. Die Konkretisierung der Ermessensgrundsätze in bezug auf die Auswahl zwischen mehreren Wohnraumeigentümern a) Berücksichtigung eines Räumungstitels b) Vörrangigkeit der Inanspruchnahme gemeinnütziger Unternehmen? c) Berücksichtigung der Interessen des Obdachlosen? E. Das öffentlichrechtliche Verwahrungsverhältnis I. Entstehen eines öffentlichrechtlichen Verwahrungsverhältnisses 1. Entstehungsvoraussetzungen 2. Verwahrungsverhältnis bei Wohnraumbeschlagnahme? II. Die anwendbaren Vorschriften

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Zweiter Abschnitt Die Zuweisungsverfügung A. Inhalt der Zuweisungsverfügung I. Auslegung der Verfügung

165 166 168

Inhaltsverzeichnis II. Rechtmäßigkeit einer Verpflichtung zum Bezug der Unterkunft 1. „Einweisungsverfügung" als Freiheitsentziehung oder Freiheitsbeschränkung i.S.d. Art. 104 GG? 2. „EinweisungsVerfügung" und Freizügigkeit i. S. d. Art. 11 Abs. 1 GG a) Eingriff in den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG b) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung aa) Gesetzgebungskompetenz der Länder bb) Zitiergebot gem. Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG cc) Qualifizierter Gesetzesvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 GG III. Terminologische Konsequenzen IV. Ermächtigungsgrundlage B. Wohnungszuweisung und Opportunitätsprinzip I. Das Entschließungsermessen 1. Objektivrechtliche Pflicht zum Einschreiten 2. Anspruch des Obdachlosen auf polizeiliches Einschreiten II. Das Auswahlermessen C. Exkurs: Rechtsschutzfragen I. Zuweisungsverfügung wurde noch nicht erlassen II. Zuweisungsverfügung wurde bereits erlassen 1. Zuweisung räumt ausschließlich Nutzungsrecht ein 2. Zuweisung enthält Verpflichtung, den Wohnraum zu beziehen

169 169 171 171 174 174 175 175 178 179 179 180 180 182 183 190 190 191 191 192

Dritter Teil Das Verhältnis zwischen zivilgerichtlicher und polizeirechtlicher Entscheidung

194

A. Die Bindung der Polizei an die zivilgerichtliche Entscheidung

194

I. Problemstellung II. Die Bindung der Verwaltung an ein rechtskräftiges zivilgerichtliches Urteil 1. Keine staatsrechtlich begründete Bindung an das Zivilurteil 2. Die Bindung der Behörde an Zivilurteile als Rechtskraftproblem 3. Bindung der Polizei an das Räumungsurteil? a) Wiederzuweisung kein Angriff auf die Rechtskraft des Urteils b) Keine Bindung an Vorfragen III. Bindung der Polizei an zivilgerichtliche Beschlüsse B. Das Verhältnis zwischen polizeilicher Wiederzuweisung und zivilgerichtlichem Vollstreckungsschutz I. Die These vom Vorrang des zivilgerichtlichen Vollstreckungsschutzes 1. Polizeiliche Wiederzuweisung und Subsidiaritätsgrundsatz 2. Stellungnahme a) Das Subsidiaritätsprinzip zum Schutz privater Rechte b) Subsidiarität im Verhältnis zu anderen Behörden II. Die These vom Vorrang der polizeilichen Wiederzuweisung III. Zusammenfassung C. Die Auswirkungen von Beschlagnahme und Wiederzuweisung auf das zivilgerichtliche Räumungsurteil

194 196 196 197 199 199 201 202 203 203 203 205 205 210 211 212 213

14

Inhaltsverzeichnis I. Die fehlende Durchsetzbarkeit des Räumungsurteils während der Beschlagnahme-und Zuweisungsdauer 1. Umgestaltung der Besitzverhältnisse? a) Die Besitzverhältnisse an der Wohnung während der Dauer der Beschlagnahme und Zuweisung b) Exkurs: Das Hausrecht an den zugewiesenen Räumlichkeiten 2. Analoge Anwendung des §775 Nr. 2 1. Alt. ZPO? 3. Wirkungen der Beschlagnahme und § 181 Nr. 3 GVGA II. Die Vollstreckbarkeit des Räumungsurteils nach Unwirksamwerden der Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung 1. Inanspruchnahme nach vollständiger Durchführung der Räumungsvollstrekkung („echte Wiederzuweisung") 2. Inanspruchnahme vor der Durchführung der Räumungs voll Streckung („unechte Wiederzuweisung") a) Die zivilrechtlichen Besitzverhältnisse nach Außerkrafttreten der Beschlagnahme und Zuweisung b) Abwicklung des öffentlichrechtlichen Rechtsverhältnisses c) Erfordernis einer neuen richterlichen Entscheidung d) Gleichstellung von Durchführung und Nichtdurchführung der Vollstrekkung e) Kompetenzrechtliche Gesichtspunkte und Billigkeitserwägungen 3. Inanspruchnahme nach Beginn der Durchführung der Räumungsvollstreckung (sog. „symbolische Räumung")

Vierter

213 214 215 220 221 222 223 224 226 227 229 231 233 234 235

Teil

Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

238

Erster Abschnitt Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung der Wohnung A. Der Folgenbeseitigungsanspruch I. Rechtsdogmatische Grundlagen II. Die Anwendbarkeit des Folgenbeseitigungsanspruchs als Anspruchsgrundlage in Drittbeteiligungsfällen 1. Auffassung von der Unanwendbarkeit des Folgenbeseitigungsanspruchs 2. Stellungnahme a) Thematischer Anwendungsbereich des Folgenbeseitigungsanspruchs b) Trennung der Rechtsverhältnisse Wohnungseigentümer-Behörde und Behörde-Obdachloser c) Möglichkeit der Folgenbeseitigung durch Erlaß eines Verwaltungsakts ... III. Erfordernis einer zusätzlichen Ermächtigungsgrundlage für die Exmittierung des Obdachlosen? 1. Die Auffassung von der Entbehrlichkeit einer zusätzlichen Ermächtigungsgrundlage

238 238 239 242 243 244 244 246 247 248 248

Inhaltsverzeichnis 2. Die Heranziehung der polizeilichen Generalklausel als Ermächtigungsgrundlage für die Exmittierung des Obdachlosen a) Folgenbeseitigungsanspruch und Vorbehalt des Gesetzes b) Trennung von Bestehen und Erfüllbarkeit eines verfassungsrechtlich fundierten Anspruchs c) § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO als Beleg für die Entbehrlichkeit einer Ermächtigungsgrundlage? d) Historische Erwägungen e) Zwischenergebnis IV. Die Voraussetzungen des Folgenbeseitigungsanspruchs in den verschiedenen Zuweisungskonstellationen 1. Fremdzuweisung und echte Wiederzuweisung a) Verfügungen sind rechtswidrig oder rechtswidrig geworden aa) Hoheitlicher Eingriff in subjektives Recht bb) Entstehen eines noch andauernden rechtswidrigen Zustands cc) Zurechenbarkeit des rechtswidrigen Zustands dd) Ergebnis b) Verfügungen sind rechtmäßig, aber infolge Fristablaufs unwirksam geworden 2. Unechte Wiederzuweisung a) Zurechenbarkeit des rechtswidrigen Zustands aa) Besitzverhältnisse (1) Besitzverhältnisse vor Erlaß der Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung (2) Besitzverhältnisse nach Außerkrafttreten der Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung bb) Weitere Nutzung durch den Räumungsschuldner cc) Öffentlichrechtliches Verwahrungsverhältnis dd) Verlust des Räumungstitels ee) Zwischenergebnis b) Inhalt und Rechtsfolgen des Folgenbeseitigungsanspruchs aa) Wiederherstellung des status quo ante? bb) Gleichstellung von frei werdender und freier Wohnung cc) Verteilung des Vollstreckungskostenrisikos c) Ergebnis V. Die rechtliche Möglichkeit der Durchsetzung des Folgenbeseitigungsanspruchs 1. Die Tatbestandsvoraussetzungen der Generalklausel a) Vorliegen eines Hausfriedensbruchs gem. § 123 StGB? b) Gefährdung durch drohende Nichterfüllung des Folgenbeseitigungsanspruchs? c) Gefährdung des Eigentumsrechts d) Der Subsidiaritätsgrundsatz 2. Das behördliche Ermessen a) Anerkennung einer Folgenbeseitigungslast in Drittbeteiligungsfällen? ... b) Folgenbeseitigungsanspruch und Ermessensbindung VI. Räumungsauflage als Nebenbestimmung zur Zuweisungsverfügung? B. Polizeiliche Generalklausel

250 250 254 256 258 259 261 262 262 263 264 265 266 267 269 271 271 271 271 275 277 278 278 278 279 282 283 284 284 285 285 287 288 289 291 291 293 297 298

Inhaltsverzeichnis

16 C. §695 BGB

299

D. §985 BGB

300

Zweiter Abschnitt Entschädigung und Schadensersatz

300

A. Entschädigungs- und Schadensersatzansprüche des Eigentümers hinsichtlich des Nutzungsausfalls 302 I. Nutzungsersatz für den Zeitraum der Inanspruchnahme 1. Rechtmäßige Inanspruchnahme a) Anspruchsgrundlage b) Höhe der Nutzungsentschädigung 2. Rechtswidrige Inanspruchnahme a) §45 Abs. 1 S.2 MEPolG und entsprechende Regelungen b) §55 Abs. 1 S. 1 bwPolG analog? c) Enteignungsgleicher Eingriff d) Amtshaftung gem. §839 BGB, Art. 34 GG e) §§717 Abs. 2, 945 ZPO analog? II. Nutzungsersatz nach Wegfall der Inanspruchnahmeverfügung 1. Nutzungsausfall bei Verbleiben des Zugewiesenen in den Räumlichkeiten nach Wegfall der Verfügungen 2. Nutzungsausfall nach Räumung B. Entschädigungs- und Schadensersatzansprüche des Eigentümers hinsichtlich der Räumungskosten I. Kosten einer wegen unechter Wiederzuweisung fehlgeschlagenen Räumung ... 1. § 55 bwPolG bzw. enteignungsgleicher Eingriff 2. Amtshaftungsanspruch gem. § 839 BGB, Art. 34 GG a) Rechtmäßige Inanspruchnahme b) Rechtswidrige Inanspruchnahme II. Kosten einer durchgeführten Räumung bei echter Wiederzuweisung III. Kosten einer Räumung nach Wegfall der Inanspruchnahme C. Beseitigungs-, Schadensersatz und Entschädigungsansprüche des Eigentümers wegen der durch den Zugewiesenen hervorgerufenen Schäden an den Räumlichkeiten

302 302 302 303 307 307 308 309 310 311 312 313 318 319 319 321 322 322 323 324 324 327

I. Beschädigungen während der Beschlagnahmezeit 327 1. §55 Abs. 1 S. 1 bwPolG (§45 Abs. 1 S. 1 MEPolG) bzw. enteignungsgleicher Eingriff 327 2. Positive ForderungsVerletzung 332 a) Anwendbarkeit 333 b) Pflichtverletzung der Behörde 334 c) Zurechnung einer Pflichtverletzung des Zugewiesenen analog § 278 BGB 334 3. Amtshaftung gem. § 839 BGB, Art. 34 GG 338 a) Rechtmäßige Inanspruchnahme 338 aa) Verletzung einer Amtspflicht als Aus wähl verschulden 338 bb) Verletzung einer Amtspflicht als „Überwachungsverschulden" 339 cc) Zurechnung des schädigenden Verhaltens des Zugewiesenen im Rahmen der Amtshaftung? 341

Inhaltsverzeichnis b) Rechtswidrige Inanspruchnahme 4. Folgenbeseitigungsanspruch 5. Zwischenergebnis II. Beschädigungen nach Wegfall der Inanspruchnahmeverfügung 1. §55 bwPolG (§45 MEPolG), enteignungsgleicher Eingriff bzw. Folgenbeseitigungsanspruch a) Fremdzuweisung und echte Wiederzuweisung b) Unechte Wiederzuweisung 2. Positive Forderungsverletzung a) Fremdzuweisung und echte Wiederzuweisung b) Unechte Wiederzuweisung 3. Amtshaftung gem. § 839 BGB, Art. 34 GG a) Unterlassen der Exmittierung als Amtspflichtverletzung b) Rechtswidrige Inanspruchnahme als Amtspflichtverletzung 4. Resümee III. Exkurs: Beweislastverteilung bei Schädigungen durch den Zugewiesenen D. Regreßansprüche der Polizei gegen den zugewiesenen Obdachlosen I. Regreßanspruch nach § 57 bwPolG (§ 50 Abs. 1 MEPolG) 1. Rechtmäßige Inanspruchnahme a) Inhalt des Anspruchs b) Auswahlermessen zwischen mehreren Störem c) Durchsetzbarkeit des Anspruchs 2. Rechtswidrige Inanspruchnahme II. Öffentlichrechtlicher Erstattungsanspruch? III. Regreßanspruch bei sonstigen zu ersetzenden Schäden

344 345 347 348 348 348 349 349 349 350 350 350 351 351 352 354 354 354 354 356 359 359 361 363

Fünfter Teil Zusammenfassung Ergebnisse Ergebnisse Ergebnisse Ergebnisse

des ersten Teils des zweiten Teils des dritten Teils des vierten Teils

365 365 368 374 375

Literaturverzeichnis

382

Sachwortverzeichnis

406

2 Reitzig

Abkürzungsverzeichnis ABl. AsylVfG BauGB bayPAG

berlASOG brandOBG bremPolG BSHG BT-Drs. BW, bw bwKAG bwPolG bwUBG DVO DVO bwPolG EinlPreußALR FS GABI. GBl. GVB1. GVGA

GVKostG hessSOG

LT-Drs. LVwVfG MB1. MEPolG

Amtsblatt Asylverfahrensgesetz vom 27.7.1993 (BGB1.I, S. 1362) Baugesetzbuch, vom 8.12.1986 (BGB1.I, S.2253) Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Bayerischen Staatlichen Polizei in der Fassung der Bekanntmachung vom 14. September 1990 (GVB1. S.397) Allgemeines Gesetz zum Schutz der öffentlichen Sicherheit und Ordnung in Berlin in der Fassung vom 30.11.2000 Gesetz über Aufbau und Befugnisse der Ordnungsbehörden Brandenburg in der Fassung vom 21.8.1996 (GVB1.I, S.266) Bremisches Polizeigesetz, vom 21.3.1983 (GBl. S. 141) Bundessozialhilfegesetz, in der Fassung der Bekanntmachung vom 23.3.1994 (BGBl. I, S. 2975) Bundestags-Drucksache Baden-Württemberg, baden-württembergisch Baden-Württembergisches Kommunalabgabengesetz, vom 15.2.1982 (GBl. S.57) Polizeigesetz Baden-Württemberg, vom 13.1.1992 (GBl. S. 1) Gesetz über die Unterbringung psychisch Kranker in Baden-Württemberg, in der Fassung vom 2.12.1991 (GBl. S.794) Durchführungsverordnung Verordnung des Innenministeriums zur Durchführung des BadenWürttembergischen Polizeigesetzes, vom 16.9.1994 (GBl. S.567) Einleitung zum Preußischen Allgemeinen Landrecht Festschrift Gemeinsames Amtsblatt Gesetzblatt Gesetz- und Verordnungsblatt Geschäftsanweisung für Gerichtsvollzieher, in Kraft getreten am 1.5.1999, (abgedruckt bei Hintzen/Wolf, Handbuch der Mobiliarvollstreckung, Anhang, S.430ff.) Gerichtsvollzieherkostengesetz, vom 19.4.2001 (BGBl. I, S. 623) Hessisches Gesetz über die Sicherheit und Ordnung, in der Fassung vom 31.3.1994, zuletzt geändert durch Gesetz vom 22.12.2000 (GVB1.1, S.577) Landtags-Drucksache Landesverwaltungsverfahrensgesetz Ministerialblatt Musterentwurf eines einheitlichen Polizeigesetzes des Bundes und der Länder vom 25.11.1977, in der Fassung des Vorentwurfs zur

Abkürzungsverzeichnis

19

Änderung des MEPolG vom 12.3.1986 (abgedruckt bei Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), S. 357 ff.) Gesetz zur Regelung der Miethöhe vom 18.12.1974 (BGBl. I MHRG S. 3603 f.) Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung in MecklenmvSOG burg-Vorpommern vom 25.3.1998 (GVB1. S.335) Niedersächsisches Gefahrenabwehrgesetz, in der Fassung vom ndsGefAG 20.2.1998 (GVB1.S.101) NW, nw Nordrhein-Westfalen, nordrhein-westfälisch Gesetz über Aufbau und Befugnisse der Ordnungsbehörden - OrdnwOBG nungsbehördengesetz in Nordrhein-Westfalen, in der Fassung der Bekanntmachung vom 13.5.1980 (GVB1. S.528) PrOVGE Entscheidungssammlung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts Preußisches Polizeiverwaltungsgesetz PrPVG Polizei- und Ordnungsgesetz Rheinland-Pfalz, in der Fassung vom rhpfPOG 10.11.1993 (GVB1. S.595) Saarländisches Polizeigesetz, vom 8.11.1989, in der Fassung der saarPolG Bekanntmachung vom 10.5.1996 (ABl. S.685) sachsanhSOG Gesetz über die öffentliche Sicherheit und Ordnung des Landes Sachsen-Anhalt (GVB1. 2000, S.595) sächsPolG Polizeigesetz des Freistaates Sachsen vom 30.7.1991, in der Form der Bekanntmachung der Neufassung des Polizeigesetzes vom 13.8.1999 (GVB1. S.465) SGBVIII Achtes Buch zum Sozialgesetzbuch shLVwG Allgemeines Verwaltungsgesetz für das Land Schleswig Holstein, in der Fassung der Bekanntmachung vom 2.6.1992 (GVBl. S.243) thürOBG Thüringer Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Ordnungsbehörden vom 18.6.1993 (GVBl. S.323) thürPAG Thüringer Gesetz über die Aufgaben und Befugnisse der Polizei - Polizeiaufgabengesetz - , vom 4.6.1992 umfangr. umfangreich/e/n Urteil Urt. Verfasser/in Verf. vergleiche vgl. Verwaltungsgerichtsordnung, in der Fassung der Bekanntmachung VwGO vom 19.3.1991 (BGB1.I, S.686) WGG Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz vom 29.2.1940 (RGBl. I, S.437) WiStrG Gesetz zur weiteren Vereinfachung des Wirtschaftsstrafrechts (Wirtschaftsstrafgesetz) vom 3. Juni 1975 (BGB1.I, S. 1313) WoAufG Bayerisches Wohnungsaufsichtsgesetz vom 24.7.1974 (BayRS 2330-1-1) WoBewiG Wohnraumbewirtschaftungsgesetz vom 31.3.1953 (BGB1.I, S.97) WoBindG Wohnungsbindungsgesetz vom 19.4.1994 (BGB1.I, S.2166) WoGG Wohngeldgesetz vom 1.2.1993 (BGB1.I, S. 183) ZwVÄndG Zwangsvollstreckungsänderungsgesetz Im übrigen sei auf Hildebert Kirchner/Cornelie Butz, Abkürzungsverzeichnis der Rechtssprache, 5. Auflage, Berlin 2002 verwiesen. 2*

Einleitung A. Obdachlosigkeit als soziales Problem „Wohnungsnot und Obdachlosigkeit gehören in Deutschland nach wie vor zu den gravierenden sozialen Problemen 1". Zwar gibt es bisher keine umfassende statistische Erfassung der Obdachlosenzahlen in der Bundesrepublik Deutschland; einen Eindruck vom Ausmaß des Problems der Obdachlosigkeit vermitteln aber die Schätzungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V., welche auf der Grundlage von Beobachtungen der Veränderung des Wohnungs- und Arbeitsmarktes, der Zuwanderung, der Sozialhilfebedürftigkeit sowie regionaler und lokaler Wohnungslosenstatistiken jährlich erfolgen 2. So hat die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. für das Jahr 1999 die Gesamtzahl der Personen in Deutschland, die ohne jedes Obdach auf der Straße leben, auf ca. 26.000, darunter ca. 2.500 bis 3.000 Frauen, geschätzt3. Im Winter 1999/2000 erfroren mindestens elf obdachlose Menschen auf der Straße4. Die Gesamtzahl wohnungsloser Personen5 wurde für das Jahr 1999 auf 550.000 geschätzt6. Zwar ist damit ein Rückgang gegenüber dem Jahr 1998, in dem sich die Schätzung wohnungsloser Personen noch auf 680.000 belief, zu verzeichnen7. Mit Blick auf die Zukunft kann jedoch von einer Entspannung des Problems der Wohnungslosigkeit nicht gesprochen werden, da 1

ErichsenlBiermann, Jura 1998, 371. Vgl. www.bag-wohnungslosenhilfe.de/index2.html. 3 Vgl. das veröffentlichte Zahlenmaterial im Internet unter www.bag-wohnungslosen-hilfe. de/index2.html. 4 Vgl. www.bag-wohnungslosenhilfe.de/index2.html. 5 Hierbei wurde allerdings ein weites Verständnis des Begriffs „Wohnungslosigkeit" zugrundegelegt und alle Personen einbezogen, die nicht über einen mietvertraglich abgesicherten Wohnraum verfügen. Erfaßt sind neben Personen ohne jegliche Unterkunft auch solche Personen, die in Notunterkünften oder sozialhilferechtlich ohne Mietvertrag untergebracht sind, wobei die Kosten durch den Sozialhilfeträger nach §§11,12 oder 72 BSHG übernommen werden, die sich in Heimen, Anstalten, Notübernachtungen, Asylen, Frauenhäusern aufhalten, weil keine Wohnung zur Verfügung steht, die als Selbstzahler in Billigpensionen leben, die bei Verwandten, Freunden und Bekannten vorübergehend unterkommen sowie Aussiedler, die noch keinen Mietwohnraum finden können und in Aussiedlerunterkünften untergebracht sind. Anerkannte Asylbewerber in Notunterkünften zählen im Sinne der Definition zwar zu den Wohnungslosen, sind aber bei den Wohnungslosenzahlen aufgrund fehlender Daten nicht berücksichtigt worden. Vgl. näher www.bag-wohnungslosenhilfe.de/index2.html. 6 Vgl. www.bag-wohnungslosenhilfe.de/index2.html. 7 Vgl. zu den näheren Ursachen des Rückgangs der Wohnungslosenzahlen www. bag-wohnungslosenhilfe.de/index2.html. 2

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in den kommenden Jahren der verfügbare Sozialwohnungsbestand, auf den einkommensschwache Haushalte angewiesen sind, weiter rückläufig sein wird und darüber hinaus die Zahl der von Wohnungsverlust bedrohten Haushalte von 1998 auf 1999 nach Angaben von Kommunen wie schon im Vorjahr angestiegen ist 8 . Nach wie vor hohe Arbeitslosigkeit und damit einhergehende wachsende soziale Armut in Teilen der Bevölkerung tragen zudem zu einer Vergrößerung des auf knappen preisgünstigen Wohnraum9 angewiesenen Nachfragesektors bei 10 . Die soziostrukturellen Ursachen der Obdachlosigkeit sind dabei vielfältig. In der sozialwissenschaftlichen Literatur werden u. a. Arbeitplatzverlust und daraus resultierende finanzielle Not 11 , Krankheit 12, Alkoholkonsum13, die desintegrierende Wirkung institutioneller Unterbringung, etwa bei Haft sowie bei längerer Behandlung in Krankenhäusern 14, Eigenbedarfskündigungen sowie fehlende soziale Kontakte15 als Faktoren genannt, wobei unter den einzelnen Faktoren vielfältige Wechselwirkungen bestehen. Der Eintritt der Obdachlosigkeit stellt in der Regel einen schwerwiegenden Schicksalsschlag für den Betroffenen dar, mit dem nicht nur unmittelbare Gesundheitsgefahren, sondern nicht selten auch psychische und soziale Folgeprobleme wie Isolation, verstärkter Alkoholkonsum und Depressionen verbunden sind 16 . Häufig setzt mit dem Verlust der Wohnung auch ein nachhaltiger Prozeß der sozialen Desintegration und des sozialen Abstiegs ein, welcher schließlich in völliger Verelendung enden kann17.

B. Rechtliche Regelungsinstrumentarien Nach einer Formulierung des BVerfG ist die Wohnung „für jedermann Mittelpunkt seiner privaten Existenz", auf den der einzelne „zur Befriedigung elementarer 8

Vgl. www.bag-wohnungslosenhilfe.de/index2.html. Vgl. zur Spaltung des Wohnungsmarkts in teuren Wohnraum, der nicht knapp ist, und den sich ständig verringernden preiswerten Wohnungsbestand näher Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 9f. m. w. Nachw. 10 Vgl. auch Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 10f. 11 Vgl. Schmid, Stadtstreicher, S.50ff. 12 Schmid, Stadtstreicher, S.71 ff. 13 Nach John, NichtSeßhaftigkeit, S.468, ist die Wohnungslosigkeit bei etwa 15 % der Wohnungslosen durch Alkoholmißbrauch mitverursacht worden; ähnlich Schmid, Stadtstreicher, S. 63, nach der 13,4% der Befragten Obdachlosen als Grund für ihre NichtSeßhaftigkeit Alkoholprobleme angeben. 14 John, NichtSeßhaftigkeit, S.468. 15 John, NichtSeßhaftigkeit, S.468. 16 Vgl. näher Schmid, Stadtreicher, S. 121 ff.; siehe auch Hanesch, in: Armut in Deutschland, S. 315 ff.; John, NichtSeßhaftigkeit, S. 471. 17 So auch ErichsenlBiermann, Jura 1998, 371, 371; Hanesch, in: Armut in Deutschland, S. 316 f.; vgl. auch John, NichtSeßhaftigkeit, S. 471, nach dem es 60 % der erstmals wohnungslos gewordenen Personen nicht gelingt, innerhalb eines Jahres an dieser Situation etwas zu ändern. Im Durchschnitt aller Wohnungslosen liege der Verlust der Wohnung etwa 9 Jahre zurück. 9

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Lebensbedürfnisse sowie zur Freiheitssicherung und Entfaltung seiner Persönlichkeit angewiesen ist 18 ". Vor dem Hintergrund dieser existentiellen Bedeutung des Innehabens von Wohnraum für hochrangige Rechtsgüter des einzelnen hat auch das Rechtssystem Instrumentarien zur Verhinderung und Beseitigung von Obdachlosigkeit zur Verfügung gestellt. Neben ergänzenden präventiven Regelungsinstrumentarien 19 gehört zum einen die Sicherstellung und Erhaltung von Wohnraum als Grundlage einer menschenwürdigen Existenz zu den Aufgaben des Sozialhilferechts, welches ein ausdifferenziertes System von Leistungsansprüchen in Form von persönlicher Hilfe, Geld- und Sachleistung konstituiert 20. Zum anderen wird die Bekämpfung von Obdachlosigkeit seit jeher auch als Gegenstand des Rechts der Gefahrenabwehr gesehen21. So entspricht die Zuweisung von Wohnraum an Obdachlose bzw. von Obdachlosigkeit bedrohte Personen ständiger polizei- und ordnungsbehördlicher Praxis. Ist der Platz in gemeindeeigenen Obdachlosenunterkünften oder im sonstigen dem gemeindlichen Einfluß zugänglichen Wohnraum erschöpft, so ist vor dem Hintergrund des polizeilichen Notstandsrechts eine zeitlich befristete polizeiliche Beschlagnahme22 privaten Wohnraums mit anschließender Zuweisung an den Obdachlosen möglich. Eine solche Beschlagnahme privaten Wohnraums erfolgt in der Praxis besonders häufig in Fällen, in denen vom Vermieter ein rechtskräftiger Räumungstitel gegen den Mieter erwirkt wurde, dessen Vollstreckung unmittelbar bevorsteht; ohne daß eine Räumung überhaupt stattfindet, werden dem Räumungsschuldner hier die bisher bewohnten Räume hoheitlich wieder zugewiesen.

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BVerfG, NJW 1993, 2035. Zu nennen sind hier das soziale Mietrecht des BGB, welches die Kündigungsmöglichkeiten des Vermieters stark einschränkt (vgl. insbesondere §§564b, 556 a BGB), das soziale Vollstreckungsrecht , nach dem das Prozeßgericht Räumungsfristen (vgl. §721 ZPO) einräumen kann sowie in Härtefällen die Vollstreckung aussetzen kann (vgl. §765 a ZPO), das Wohngeldgesetz (WoGG) vom 1.2.1993 (BGB1.I, S. 183), zuletzt geändert durch Art.4 und 5 des Gesetzes zur Änderung des Wohngeldgesetzes und anderer Gesetze vom 22.12.1999 (BGBl. I, S. 2671), nach dem unter Vorliegen bestimmter Voraussetzungen bei einkommensschwachen Haushalten ein staatlicher Miet- oder Lastenzuschuß gewährt werden kann sowie auch das Wohnungsbindungsgesetz (WoBindG) vom 19.4.1994 (BGB1.I, S.2166, ber. S.2319), welches der Umsetzung der Zweckbestimmung von Sozialwohnungen dient und daher das Ziel verfolgt, innerhalb bestimmter sozial schwacher Einkommensschichten den Wohnungsmangel abzustellen. 20 Vgl. näher Hammel , Anspruch von Obdachlosen auf Erhaltung und Beschaffung von Wohnraum, 1995; Schmidt , NVwZ 1995, 1041 ff.; Schulte , NVwZ 1997, 957ff., siehe zu den Ansprüchen des Sozialhilferechts und der Abgrenzung zum Polizeirecht ausführlich unter 1. Teil, 3. Abschn., B. 21 Siehe bereits PrOVGE 75,339ff.; 97,121 ff.; vgl. zu den historischen Grundlagen Schioer, DVB1. 1989, 739, 743 f. 22 Der Begriff der „Beschlagnahme" soll hier zunächst nicht im Sinne des § 33 bwPolG, sondern in einem untechnischen Sinne verstanden werden. Vgl. zu der umstrittenen Frage der einschlägigen Ermächtigungsgrundlage näher 2. Teil, 1. Abschn, A. 19

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C. Anlaß und Gegenstand der Untersuchung Die juristische Auseinandersetzung mit dem Phänomen der polizeilichen Beschlagnahme von Wohnraum und dessen Zuweisung an Obdachlose ist nicht neu. So beschäftigte diese auch als ,,klassische[r] Fall des sog. polizeilichen Notstandes 2 3 " bezeichnete Konstellation bereits in der Nachkriegszeit Rechtsprechung und Literatur wie kein anderes Thema des Gefahrenabwehrrechts 24 . Trat zwischenzeitlich eine gewisse Entspannung auf dem Wohnungsmarkt ein, die dazu führte, daß auch die diesbezügliche Diskussion verebbte 25 , so hat angesichts der erneut eingetretenen Verschärfung der Wohnungsmarktlage auch die rechtswissenschaftliche Beschäftigung mit der Problematik eine Renaissance erfahren, was sich nicht zuletzt in einer Flut von Gerichtsentscheidungen 26 und Veröffentlichungen 27 gerade in jüngerer Zeit widerspiegelt. 23 So Götz , Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 268; vgl. auch Denninger , in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 126: „Hauptanwendungsfall für das polizeiliche Notstandsrecht". 24 Vgl. aus dieser Zeit etwa VGH BadWürtt, ESVGH 1, 234ff.; OVG Münster, OVGE 9, 130ff.; MDR 1957,188ff.; Baak , DVB1. 1953,101 ff.; Bauer , WuM 1960,150ff.; ders., WuM 1962,133 ñ.; Bettermann, MDR 1950,265 ff.; ¿fers., MDR 1957,130ffHegel, Die Unterbringung Obdachloser, 1963; Less, ZMR 1955, 353ff., ders., ZMR 1957, 221 ff.; Loppuch, NJW 1952,389; Maercks, NJW 1955,820f.; Naumann, DVB1. 1950,210ff.; Pentz, NJW 1954,432; Schmidt-Futterer , WuM 1962, 18f.; ders., NJW 1962, 471 ff.; ders., DÖV 1960, 118f. 25 Vgl. z. B. DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, § 22,3, a) S. 336: „Das Problem [Anm. der Verf.: der Bekämpfung der Obdachlosigkeit] hat gegenwärtig viel von seiner einstigen Bedeutung verloren"; siehe auch Götz, Allgemeines Polizeirecht, 7. Aufl., S. 117f.: „Die Obdachlosenunterbringung war in langen Kriegs- und Nachkriegsjahren das Hauptanwendungsgebiet des polizeilichen Notstandes [...]. Mit dem Ende der allgemeinen Wohnungsnot hat sich die Situation grundlegend gewandelt". 26 Vgl. etwa BGHZ 131, 163 ff.; 130, 332; OVG Bremen, DÖV 1994, 221 f.; VGH Kassel, NVwZ 1992, 503f.; VGH Mannheim, NJW 1997, 2832ff.; DVB1. 1996, 567f.; DÖV 1996, 1056f.; NVwZ-RR 1996, 439; NVwZ-RR 1995, 326f.; NVwZ 1993, 497; VB1BW 1993, 382f.; NVwZ-RR 1990, 476; NJW 1990, 2770f.; OVG Schleswig, NJW 1993, 413f.; OVG Lüneburg, NVwZ 1992, 502; OVG Münster, NVwZ 1991, 692; NVwZ 1991, 905f.; WuM 1990, 581 f.; WuM 1990, 582; OVG Berlin, NVwZ 1992, 501 f.; NVwZ 1991, 691 f.; VGH München, BayVBl. 1995, 503f.; NVwZ 1991, 196; VG Bremen, NVwZ 1991, 706f.; VG Frankfurt, NVwZ 1990, 498; VG Hannover, NVwZ-RR 1991, 148ff.; WuM 1990, 586; VG Köln, NVwZ-RR 1990, 414f.; OLG Köln, NJW 1994, 1012f.; NJW 2000, 3076f.; LG Bonn, WuM 1990, 585f.; AG Niebüll, NVwZ 1991, 917f. 27 Vgl. etwa Arndt, ZAP 1993, 257ff.; Baldus/Böhr, ZMR 1997, 337ff.; Cremer, VB1BW 1996, 241 ff.; Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29ff.; Eckstein, VB1BW 1994, 306ff.; Erichsenl Biermann , Jura 1998, 371 ff.; Ewer/v.Detten, NJW 1995, 353ff.; GüntherlTraumann, NVwZ 1993,130ff.; Hammel, Anspruch von Obdachlosen auf Erhaltung und Beschaffung von Wohnraum, 1995; Masing, DÖV 1999,573 ff.; Nies, DGVZ 2000,33 f.; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, 1999; Renélt/Klowait, NWVB1. 1992, 195 ff.; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, 1999; Roth, DVB1. 1996,1401 ff.; Rüfner , JuS 1997,309; Schoenenbroicher, MDR 1993,97ff.; Spannowsky, BWVPr. 1991,197ff.; Strempel, ZMR 1993, 555; Volkmann , JuS 2001, 888 ff.; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, 1999; Wollensak, BWVPr. 1995, 6 ff.

Einleitung

Dennoch können zahlreiche Fragen der Bekämpfung von Obdachlosigkeit auf polizeirechtlicher Grundlage entweder als nicht geklärt oder zumindest dogmatisch nicht befriedigend gelöst betrachtet werden. Kontrovers erörtert werden beispielsweise neben der Frage, welches polizeiliche Schutzgut im Fall der Obdachlosigkeit überhaupt gefährdet ist, nach wie vor das Verhältnis von Polizei- und Sozialhilferecht, das Vorliegen einer polizeirechtlichen Störereigenschaft des Obdachlosen, die Rechtsgrundlage der gegen den Eigentümer ergehenden Inanspruchnahmeverfügung sowie die an das Vorliegen der polizeilichen Notstandsvoraussetzungen zu stellenden Anforderungen. Immer noch einen zentralen Punkt in der rechtswissenschaftlichen Beschäftigung mit der polizeilichen Obdachlosenproblematik bildet die Frage, ob nach Wegfall der Beschlagnahme und Zuweisung auf der Grundlage des Folgenbeseitigungsanspruchs ein Anspruch des Vermieters auf Exmittierung des Obdachlosen gegen die Behörde besteht. Die diesbezüglich seit den fünfziger Jahren geführte Diskussion28 hat mit der umstrittenen 29 Entscheidung des BGH aus dem Jahre 199530, in der im Fall der Beschlagnahme und Zuweisung der bisherigen Wohnung ein Folgenbeseitigungsanspruch bejaht wurde, erneuten Zündstoff erfahren. Viele ungeklärte Probleme stellen sich auch im Zusammenhang mit Kostentragungs- und Haftungsfragen 31. Insbesondere im Fall der durch den Zugewiesenen am Wohnraum angerichteten Schäden sind sowohl Anspruchsgrundlagen als auch das Vorliegen eines hoheitlichen Zurechnungszusammenhangs höchst umstritten 32. Die nach wie vor bestehende Vielzahl offener Rechtsfragen sowie die Aktualität und die soziale Brisanz des Phänomens der Obdachlosigkeit geben somit Anlaß, sich erneut mit der Thematik auseinanderzusetzen. Den Schwerpunkt der Untersuchung bilden dabei die sich im Zusammenhang mit der polizeirechtlichen Beschlagnahme und Zuweisung von privatem Wohnraum ergebenden Probleme. Demnach sollen Rechtsfragen, die sich bezüglich der polizeilichen Unterbringung Obdachloser in Obdachlosenunterkünften stellen33 ebenso wie solche Fragen, die sich hinsichtlich der Bekämpfung von mit dem Zustand der Obdachlosigkeit häufig zusammenhängenden unerwünschten Verhaltensweisen (z.B. aggressives Betteln, öffent28 Vgl. bereits OVG Lüneburg, ZMR 1955, 253; OVG Münster, MDR 1954, 444; MDR 1957, 188, 189; LG Köln, ZMR 1958, 33, 34; Baak , DVB1. 1953, 101, 108; Bachof , Die verwaltungsgerichtliche Klage auf Vornahme einer Amtshandlung, S.98ff.; Bauer , WuM 1962, 133 ff.; Bettermann , MDR 1957, 130ff.; Haarmann , DVB1. 1957, 144, 145; Hegel , Die Unterbringung Obdachloser, S.74ff. 29 Ablehnend etwa Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 379; Masing, DÖV 1999, 573 ff.; Roth , DVB1. 1996, 1401 ff.; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 140ff. 30 Vgl. BGHZ 130, 332 ff. 31 Vgl. hierzu insbesondere Cremer, VB1BW 1996, 241 ff. 32 Vgl. BGHZ 131, 163 ff. 33 Hier stellen sich insbesondere Probleme im Zusammenhang mit Regelungen in Benutzungssatzungen, welche die Rechte des Obdachlosen einschränken, vgl. insoweit z. B. OVG Berlin, NVwZ-RR 1990, 194 (Verbot der Tierhaltung); VGH München, BayVBl. 1984, 117 (Verbot, Gegenstände in den Gemeinschaftseinrichtungen abzustellen); siehe näher Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr.76ff. m. w.Nachw.

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licher Drogen- oder Alkoholgenuß, Verrichtung der Notdurft auf der Straße etc.) in Form von Platzverweisen, Aufenthaltsverboten, Verbringungsgewahrsam, Polizeiverordnungen und straßenrechtlichen Maßnahmen34 ergeben, nur am Rande behandelt werden. Der so konkretisierte Untersuchungsgegenstand wirft eine große Spannbreite an Problemen auf, die über das Polizeirecht hinaus auch sozialhilferechtliche, zivilprozessuale, verfassungs- und staatshaftungsrechtliche Fragestellungen betreffen. Vor diesem Hintergrund sind mit einer Darstellung nicht unerhebliche Schwierigkeiten verbunden. Dennoch soll mit der vorliegenden Arbeit der Versuch einer weitgehend umfassenden Untersuchung der Rechtsfragen im Zusammenhang mit der Beschlagnahme und Zuweisung von privatem Wohnraum auf polizeirechtlicher Grundlage unternommen werden 35.

D. Gang der Untersuchung Im ersten Teil der Arbeit werden zunächst die polizeirechtlichen Grundlagen der Beschlagnahme und Zuweisung von Wohnraum erarbeitet. Hierzu gehört zum einen die Frage, welche polizeilichen Schutzgüter durch die Obdachlosigkeit gefährdet sind. Daneben wird untersucht, wie die Zuständigkeit der Polizeibehörden zur Verschaffung von Wohnraum zur von der Zuständigkeit anderer Behörden wie etwa der Sozialhilfebehörden und der Ausländerbehörden abzugrenzen ist. Schließlich soll der Blickwinkel auf die umstrittene Frage der polizeilichen Verantwortlichkeit für den Zustand der Obdachlosigkeit gerichtet werden. Der zweite Teil der Arbeit befaßt sich zum einen mit der an den Eigentümer gerichteten Inanspruchnahmeverfügung, zum anderen mit der an den Obdachlosen adressierten Zuweisungsverfügung. So werden zunächst Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Beschlagnahmeverfügung und damit zusammenhängend Fragen des polizeilichen Notstands erörtert. Anschließend wird der Regelungsinhalt der Zuweisungsverfügung sowie die Frage nach dem Bestehen eines Anspruchs auf Zuweisung eines Wohnraums näher analysiert. Den Schwerpunkt der Untersuchung bildet insoweit die Frage, ob die Zuweisung den Obdachlosen verpflichten kann, den Wohnraum auch zu beziehen. Im dritten Teil wird das Verhältnis zwischen Zivilprozeßrecht und Polizeirecht bei der Beschlagnahme und Zuweisung des bereits bewohnten Wohnraums einer näheren Betrachtung unterzogen. Hierbei wird zum einen auf die Frage der Bindung der 34 Vgl. zu dieser Problematik etwa Dolderer , NVwZ 2001, 130ff.; Holzkämper , NVwZ 1994,146ff.; Terwiesche , VerwRdsch 1997,410ff.; Wohlfarth , BayVBl. 1997,420ff.; zu straßenrechtlichen Maßnahmen gegen Obdachlose auch Kohl , NVwZ 1991, 620 ff. 35 Die Untersuchung basiert auf dem baden-württembergischen Landesrecht, wobei jedoch jeweils auf die Vorschriften des MEPolG verwiesen wird. Auf das Recht anderer Bundesländer wird in Einzelfragen Bezug genommen.

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Polizei an bereits ergangene zivilgerichtliche Entscheidungen wie Räumungsurteile und Vollstreckungsbeschlüsse eingegangen, zum anderen wird das umstrittene Verhältnis zwischen zivilprozessualem Vollstreckungsschutz und polizeilicher Zuweisung des bereits bewohnten Wohnraums untersucht. Schließlich wird das Problem des Verbrauchs des Räumungstitels durch die behördlichen Verfügungen eruiert. Im vierten Teil stehen schließlich Fragen der Folgenbeseitigung, der Entschädigung und des Schadensersatzes im Vordergrund. Einen zentralen Punkt bilden dabei die Untersuchungen zum Folgenbeseitigungsanspruch. Neben allgemeinen dogmatischen Überlegungen zum Folgenbeseitigungsanspruch im Dreiecksverhältnis wird das Problem des Bestehens eines Exmittierungsanspruchs des Wöhnraumeigentümers in den verschiedenen Konstellationen der Beschlagnahme und Zuweisung von Wohnraum untersucht. Sodann werden Entschädigungs- und Schadensersatzansprüche des Wohnraumeigentümers gegen die Polizei hinsichtlich entgangener Nutzung, entstandener Räumungskosten sowie durch den Zugewiesenen verursachter Schäden erörtert. Den Abschluß der Untersuchung bilden schließlich mögliche Regreßansprüche der Behörde gegen den Obdachlosen.

Erster Teil

Polizeirechtliche Grundlagen Erster Abschnitt

Die rechtliche K o n s t r u k t i o n A. Die rechtliche Trennung von Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung Zur Beschaffung und Gewährung von Wohnraum in Fällen von drohender oder bestehender Obdachlosigkeit unter Inanspruchnahme privater Eigentümer bedient sich die Behörde zweier Verfügungen, die sich sowohl durch den Adressaten als auch den Inhalt unterscheiden 1 : Zum einen ergeht gegenüber dem Eigentümer eine „Beschlagnahmeverfügung 2 ' 4 , mit der sich die Polizei die Verfügungsmacht über den Wohnraum verschafft. Gleichzeitig oder anschließend ergeht zum anderen ein an den Obdachlosen adressierter Verwaltungsakt, der gemeinhin als „Einweisungsverfügung" bezeichnet wird, i m Rahmen der vorliegenden Arbeit aufgrund seines rein begünstigenden Charakters jedoch mit dem Terminus der „Zuweisungsverfügung" versehen werden soll 3 . Aufgrund dieses Verwaltungsakts wird dem Obdach1 Auf diesen Umstand weisen auch ausdrücklich Eichert , BWVPr. 1983, 211,212; Enders , Verw Bd. 30 (1997), 29,33; Schock, JuS 1995,30,34; Wieser , Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 3 sowie Wollensak , BWVPr. 1995,6,8 hin. Eine Unterscheidung zwischen beiden Verwaltungsakten treffen in der Sache auch OVG Münster, NVwZ 1991, 905; VG Frankfurt, NVwZ 1990, 498; Huttner , Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 113 ff. einerseits und Rdnr. 196ff. andererseits; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.49ff.; Peppersack , Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 56 ff. einerseits und S. 81 ff. andererseits; Ruder , Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 164 und 243; Spannowsky , BWVPr. 1991,197,199; Trockels , BWVPr. 1989, 145 und 149. 2 Ob es sich hierbei tatsächlich um eine Beschlagnahme bzw. Sicherstellung im rechtlichen Sinne (vgl. § 33 bwPolG, § 21 MEPolG) handelt, ist umstritten; vgl. dazu näher unten 2. Teil, 1. Abschn., A. Zum größten Teil wird jedoch auch von denjenigen, die die Generalklausel als einschlägige Rechtsgrundlage der Inanspruchnahme ansehen, der Begriff der „Wohnungsbeschlagnahme" verwendet (vgl. z.B. OVG Münster, NVwZ 1991, 692; NVwZ 1991, 905f.; OVG Berlin, NJW 1980, 2484; VG Frankfurt, NVwZ 1990, 498; Erichsen/Biermann, Jura 1998,371,376). Die Terminologie soll deshalb hier - in einem untechnischen Sinne - ebenfalls gebraucht werden, ohne daß damit schon eine Entscheidung über die richtige Rechtsgrundlage der Inanspruchnahme getroffen ist. 3 Vgl. zur Zuweisungsverfügung näher unten 2. Teil, 2. Abschn., A.

1. Abschn.: Die rechtliche Konstruktion

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losen bzw. dem von Obdachlosigkeit Bedrohten der „beschlagnahmte" Wohnraum zur Verfügung gestellt und ein Nutzungsrecht gegenüber der Behörde eingeräumt4. Die rechtliche Trennung zwischen diesen beiden Verwaltungsakten wird indes häufig verkannt oder zumindest nicht hinreichend deutlich gemacht. So formuliert beispielsweise Bettermann 5 in seinem richtungsweisenden Aufsatz über den Folgenbeseitigungsanspruch des Eigentümers auf Exmittierung des Obdachlosen: „Die Einweisung wirkt daher als Beschlagnahme mit deren zivil- und strafrechtlichen Folgen6". Auch in der behördlichen Praxis ist teilweise zu beobachten, daß an den Obdachlosen eine sog. „Einweisungsverfügung" (nach hiesiger Terminologie Zuweisungsverfügung) ergeht und dem Eigentümer gegenüber lediglich eine nachrichtliche Übersendung dieses Bescheids erfolgt 7. Die Unterscheidung zwischen der an den Eigentümer adressierten Inanspruchnahmeverfügung und der an den Obdachlosen gerichteten Zuweisungsverfügung ist aber nicht nur sinnvoll, sondern auch rechtlich zwingend. Der Regelungsgegenstand der Zuweisungsverfügung besteht lediglich darin, daß der Obdachlose gegenüber der Behörde zur Nutzung der Wohnung berechtigt ist, besagt aber noch nichts über das Verhältnis zwischen Wohnungseigentümer und Behörde und kann daher weder förmlich noch sachlich eine korrekte Inanspruchnahmeverfügung darstellen8.

B. Konstellationen der Beschlagnahme und Zuweisung von Wohnraum Die Beschlagnahme von Wohnraum mit anschließender bzw. gleichzeitiger Zuweisung an Obdachlose bzw. an von Obdachlosigkeit bedrohte Personen erfolgt in der Praxis in drei Konstellationen, die auch hier unterschieden werden sollen.

I. Die „Fremdzuweisung" Denkbar ist zum einen die Konstellation, daß eine leerstehende Wohnung „beschlagnahmt" wird, die dann dem Obdachlosen zugewiesen wird. In diesem Zusam4

Ob darüber hinaus eine Verpflichtung besteht, den Wohnraum auch zu beziehen, ist streitig; vgl. zu diesem Problemkreis näher unten 2. Teil, 2. Abschn., A, II. 5 Bettermann, MDR 1957, 130, 132. 6 Mißverständlich auch Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnrn. 21, 116: „Einen Fall der Sicherstellung [...] stellt auch die gegenüber einem Hauseigentümer [...] erfolgte Einweisung des Obdachlosen dar"; ähnlich Roth, DVB1. 1996, 1401, 1402: „Die Zwangseinweisung wirkt als Beschlagnahme der Wohnung"; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 735 mit Fn. 942; vgl. insbesondere auch die Literatur zum zivilprozessualen Zwangsvollstreckungsrecht, etwa Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, Rdnr. 1061;Stöber, in: Zöller, ZPO, § 885, Rdnr. 17. 7 Auf diese Behördenpraxis weist Eichert, BWVPr. 1983, 211, 212, hin. 8 So auch Eichert, BWVPr. 1983, 211, 212.

1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

30

menhang wird von einer ,JF.remdeinw eisung 9" gesprochen; nach hier verwendeter Terminologie soll diese Konstellation als „Fremdzuweisung" bezeichnet werden.

II. Die „echte Wiederzuweisung" Möglich ist auch die Fallgestaltung, daß nach Beendigung der Räumungsvollstreckung auf der Grundlage eines vom Vermieter erwirkten Räumungsurteils der Wohnraum „beschlagnahmt" wird, um dann dem früheren Mieter die bereits vollständig geräumte Wohnung wieder zuzuweisen. Statt des z. T. hierfür verwendeten Begriffs der „echten Wiedereinweisung 10" soll die Bezeichnung „echte Wiederzuweisung" gebraucht werden. Diese Fallgruppe dürfte allerdings in der Praxis selten vorkommen, da die Polizeibehörde vom Gerichtsvollzieher gem. § 181 Nr. 2 der Geschäftsanweisung für Gerichtsvollzieher (GVGA 11 ) bei drohender Obdachlosigkeit von einem bevorstehenden Räumungstermin zu informieren ist und in der Regel bereits unmittelbar vor dem festgesetzten Räumungstermin die „Wöhnraumbeschlagnahme" und Zuweisung an den Obdachlosen anordnen wird 12 .

III. Die „unechte Wiederzuweisung" Die in der Praxis bedeutsamste Konstellation ist die „Beschlagnahme" von Wohnraum, der noch von einem Räumungsschuldner bewohnt wird, dessen Exmittierung im Wege der Zwangsvollstreckung unmittelbar bevorsteht13. Da der Gerichtsvollzieher gem. § 181 Nr. 2 GVGA die zuständige Polizeibehörde vorab zu benachrichtigen hat, wenn zu erwarten ist, daß durch die Vollstreckung des Räumungsurteils Obdachlosigkeit eintreten könnte, erlangt die Behörde meist schon vor dem Räumungstermin Kenntnis von der drohenden Obdachlosigkeit, so daß durch die „Beschlagnahme" bereits die Räumung im Wege der Zwangsvollstreckung verhindert werden kann 14 . Aufgrund der Zuweisungsverfügung wird dem Räumungsschuldner und ehemaligen Mieter die Wohnung hoheitlich wieder zur Verfügung gestellt, ohne daß dieser den Wohnraum jemals geräumt hatte. Da der Wohnraum somit zum Zeitpunkt der polizeilichen Zuweisung bereits vom ehemaligen Mieter bewohnt wird, wird in diesem Zusammenhang auch von einer „unechten Wiederein9

Vgl. Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S.41; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.25; Roth, DVB1. 1996, 1401. 10 Vgl. Roth, DVB1. 1990, 1401. 11 In der ab 1.5.1999 geltenden Fassung; abgedruckt bei Hintzen/Wolf, Handbuch der Mobiliarvollstreckung, Anhang, S. 430ff. 12 Zu diesem Zeitpunkt liegt bereits die für eine Beschlagnahme erforderliche qualifizierte Gefahr vor, vgl. dazu näher unten 2. Teil, 1. Abschn., B, I. 13 Vgl. Arndt, ZAP, 1993, 257, 258; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.25; Roth, DVB1. 1996, 1401. 14 Zur Auswirkung der „Beschlagnahmeverfügung" auf die Zwangsvollstreckung vgl. unten 3. Teil, C, I.

. Abschn.: Die polizeiliche Zuständigkeit

Weisung

31

15

" gesprochen; der hiesigen Terminologie folgend soll diese Konstellation

„unechte Wiederzuweisung"

genannt werden.

Zweiter Abschnitt

Die polizeiliche Zuständigkeit für die Beschlagnahme und Zuweisung von Wohnraum A. Die durch die Obdachlosigkeit gefährdeten polizeilichen Schutzgüter Die polizeiliche Aufgabenzuweisungsnorm schützt in Anknüpfung an die klassische Formulierung in § 14 Abs. 1 PreußPVG von 1931 die öffentliche Sicherheit und Ordnung. Welches dieser polizeilichen Schutzgüter durch Obdachlosigkeit gefährdet wird, ist allerdings bisher keiner abschließenden Klärung zugeführt worden. Traditionell wurde die Obdachlosigkeit als eine Gefahr für die öffentliche Ordnung verstanden16. Häufig findet sich auch die unpräzise und meist ohne Begründung versehene Zuordnung zur „öffentlichen Sicherheit und/oder Ordnung 17". Eine Differenzierung erscheint aber schon deshalb geboten, weil es sich bei dem Schutzgut der öffentlichen Ordnung um einen Auffangtatbestand handelt, welcher nur für den Fall greift, daß eine Gefahr für Rechte, Rechtsgüter und die Einhaltung von Normen und somit für die öffentliche Sicherheit nicht besteht18. Neuere Stimmen in der Literatur stellen hingegen überwiegend nur noch auf das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit ab 19 . Aber auch hier besteht Unsicherheit darüber, welches der von der öffent15

Vgl. Roth, DVB1. 1996, 1401. PrOVGE 81, 249, 251; BVerwGE 17, 83, 86; VGH München, BayVBl. 1963, 122; OVG Münster, OVGE 9, 130, 132; BGH, NJW 1959, 768; Drews/Wacke, Allgemeines Polizeirecht, S.51; Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S.27. 17 OVG Münster NVwZ 1982, 574; VGH Mannheim, VB1BW 1985, 18; NJW 1993, 1027; NVwZ-RR 1995, 326, 327; NVwZ-RR 1996, 439; VG München, DGVZ 1991, 126; Hecker, Rechtsgrundlagen zur Obdachlosenunterbringung, S.75ff.; Maaß, NVwZ 1985, 151, 152. 18 Vgl. Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 126; Gusy, Polizeirecht, Rdnr.98; Habermehl, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 104; Störmer, Verw Bd. 30 (1997), 233, 254; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 60; Prümm/Sigrist, Allgemeines Sicherheits- und Ordnungsrecht, Rdnr. 39; a. A. wohl Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 40, der eine parallele Anwendbarkeit der Schutzgüter bejaht. Angesichts der Schwierigkeit der Feststellbarkeit von herrschenden Wertvorstellungen und der insofern gebotenen restriktiven Handhabung des Begriffs der öffentlichen Ordnung erscheint es jedoch überzeugender, bei einem Vorhandensein von Normen des positiven Rechts auf ein Heranziehen der öffentlichen Ordnung zu verzichten. 19 Vgl. nur Eckstein, VB1BW 1994, 306; Erichsen! Biermann, Jura 1998, 371, 372; Greifeid, JuS 1982, 819, 820; Kohl, NVwZ 1991, 620, 621 ff.; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 16f.; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.62ff.; ReichertlRuder!Fröh16

32

1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

liehen Sicherheit umfaßten Schutzgüter durch die Obdachlosigkeit tangiert wird. Während mehrheitlich eine konkrete Gefahr für Leben und Gesundheit des Obdachlosen angenommen wird, wird eine solche teilweise abgelehnt und der Blickwinkel auf die Menschenwürde des Obdachlosen gerichtet 20. Im folgenden sollen daher die durch Obdachlosigkeit betroffenen polizeilichen Schutzgüter einer näheren Untersuchung unterzogen werden.

I. Obdachlosigkeit als Gefahrdung der öffentlichen Ordnung 1. Das Schutzgut der öffentlichen

Ordnung

Die öffentliche Ordnung 21 umfaßt nach der gängigen Definition im Anschluß an die amtliche Begründung zu § 14 PreußPVG „die Gesamtheit der ungeschriebenen Regeln für das Verhalten des einzelnen in der Öffentlichkeit, deren Beachtung nach den jeweils herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen als unerläßliche Voraussetzung für ein gedeihliches Zusammenleben der innerhalb eines Polizeibezirks wohnenden Menschen betrachtet wird 22 ". Bei den hier in Bezug genommenen Regeln handelt es sich um Wertvorstellungen einer Gemeinschaft über Sitte und Moral, die naturgemäß in zeitlicher und örtlicher Hinsicht starken Schwankungen unterworfen sind 23 . Der Begriff der öffentlichen Ordnung ist seit langem rechtspolitischer und verfassungsrechtlicher Kritik ausgesetzt. Rechtspolitische Einwände gehen dahin, daß es in einem pluralistischen Staat nicht Aufgabe der Polizei sein könne, als Sittenwächter für die Einhaltung der Moralordnung zu sorgen24. In verfassungsrechtlicher Hinsicht wird angesichts der Wandelbarkeit sozialethischer Normen zum einen auf die rechtsstaatlich bedenkliche Unbestimmtheit des Begriffs verwiesen, zum anderen ein Verstoß gegen das Demokratieprinzip proklamiert, da zur rechtliler, Polizeirecht, Rdnr. 316; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 38 ff.; Schioer, DVB1. 1989, 739, 745; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 8 ff. 20 Vgl. etwa Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 81 ff.; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 18 ff. 21 In Bremen (§ 1 Abs. 1 bremPolG), Niedersachsen (§ 2 Nr. 1 lit. a ndsGefAG) und Schleswig-Holstein (§ 162 schlhlVwG) ist die öffentliche Ordnung kein polizeiliches Schutzgut mehr. 22 Vgl. PrOVGE 91,139,140; OVG Münster, DVB1.1957,867; Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 25; DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, § 16, 1, S.245; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 122; Honnackerl Beinhof er, PAG, Art. 2, Anm. 2; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 102; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 40; Schioer, BayVBl. 1991, 257ff.; Würtenberger/HeckmannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 277; umfassend Hill, DVB1. 1985, 88 ff.; vgl. auch die Legaldefinitionen in § 3 Nr. 2 sachsanhSOG sowie § 54 Nr. 2 thürOBG. 23 Vgl. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 40f.; Schoch, JuS 1994, 570, 574; Stornier, Verw Bd. 30 (1997), 233, 234. 24 Vgl. Achterberg, in: FS für Scupin, 9, 32ff., 41.

. Abschn.: Die polizeiliche Zuständigkeit

33

chen Ordnung des sozialen Zusammenlebens allein der demokratische Gesetzgeber berufen sei 25 . Wenngleich den Kritikern des Begriffs der öffentlichen Ordnung zuzugeben ist, daß es in einem pluralistischen Staat, der gegenüber abweichenden Verhaltensweisen und Andersdenkenden zunehmende Toleranz aufweist, häufig schwierig ist, herrschende soziale Wertvorstellungen festzustellen, erscheint der Vorwurf der Verfassungswidrigkeit dennoch als zu weitgehend26. So ist die gesetzliche Verweisung auf gesellschaftliche Wertvorstellungen nicht etwa eine auf das Polizeirecht begrenzte Erscheinung, sondern entspricht einer verbreiteten Regelungstechnik (vgl. etwa die Begriffe „Treu und Glauben" in §§ 157, 242 BGB oder „gute Sitten" in §§ 138, 826 BGB), ohne daß dagegen rechtliche Bedenken erhoben wurden 27. Zudem erfüllt der Begriff der öffentlichen Ordnung eine Reservefunktion in all denjenigen Fällen, in denen das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit nicht tangiert ist 28 . Schließlich ist zu beachten, daß sich der Anwendungsbereich der öffentlichen Ordnung aufgrund des stetigen Vordringens der staatlichen Gesetzgebung ständig verringert, so daß die Auseinandersetzung ohnehin an praktischer Bedeutung verliert 29. Die Schwierigkeit der Feststellbarkeit von herrschenden Wertvorstellungen sollte allerdings Anlaß zu einer restriktiven Handhabung des Begriffs geben30.

25 Vgl. Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 26; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 127; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 159; Hill, DVB1. 1985, 88, 92; Peine, Verw Bd. 12 (1979), 25 ff.; kritisch im Hinblick auf das Demokratieprinzip auch Dolderer, NVwZ 2001, 130, 133f.; vgl. auch Waechter, NVwZ 1997, 729ff. 26 Für Verfassungsmäßigkeit des Begriffs auch OVG Münster, DÖV 1996, 1052; Drews/ WackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, § 16,1, S.247; Klein, DVB1. 1971, 233, 238ff.; Martens, DÖV 1982, 89, 91 f.; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 1 MEPolG, Rdnr. 44; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 42; Schoch, JuS 1994, 570, 574; Wolf/Stephan, PolG BW, § 1, Rdnr. 67. 27 Drews/Wacke/VogellMartens, Gefahrenabwehr, § 16, 1, S.247; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 42. 28 Vgl. Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 1 MEPolG, Rdnr. 44; Schoch, JuS 1994, 570, 574; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.62; vgl. neuerdings auch OVG Münster, NJW 1997, 1180 (Nacktgeher); OVG Koblenz, NVwZ-RR 1995, 30 (Veranstaltung des „Quasarspiels"); Holzkämper, NVwZ 1994, 146, 149 (aggressives Betteln als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung); Götz, NVwZ 1998, 679, 685 f. (öffentliche Ordnung als Durchsetzung gemeinverträglichen Verhaltens auf Straßen). Nicht zuzustimmen ist daher Waechter, NVwZ 1997, 729ff., der den Begriff gänzlich für überflüssig hält. 29 Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 154; Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 101; Schoch, JuS 1994, 570, 575: „Der Umfang der kritischen Stellungnahmen steht in einem auffälligen Mißverhältnis zu der relativen praktischen Bedeutungslosigkeit des Merkmals"; Schollerl Schioer, Polizei- und Ordnungsrecht, §4, V, 2, S. 68; Störmer, Verw Bd. 30 (1997), 233, 237; WölflStephan, PolG BW, § 1, Rdnr. 65; WürtenbergerlHeckmannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 277: „weitestgehend obsolet". 30 So Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 42; vgl. auch Reichertl Ruderl Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 239; Wolf!Stephan, PolG BW, § 1, Rdnr. 66.

3 Reitzig

34

1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen 2. Obdachlosigkeit

als Gefährdung der öffentlichen

Ordnung?

Nach früher ständiger Rechtsprechung 31 sowie herrschender Auffassung in der Literatur 3 2 wurde Obdachlosigkeit als eine Gefährdung bzw. Störung der öffentlichen Ordnung angesehen. Grundlage dieser Auffassung war die Annahme, daß der Zustand, ohne Dach über dem Kopf übernachten zu müssen oder zu wollen, mit den ungeschriebenen Normen des einzelnen in der Öffentlichkeit nicht vereinbar sei 3 3 . Das Innehaben einer Wohnung soll nach dieser Ansicht zu den unerläßlichen Voraussetzungen eines gedeihlichen Zusammenlebens gehören 34 . Auch heute wird diese Auffassung bisweilen noch vertreten 35 ; eine Begründung lassen die einschlägigen Judikate und Literaturstellen allerdings häufig vermissen. Indes kann in der Obdachlosigkeit ein Verstoß gegen das Tatbestandsmerkmal der öffentlichen Ordnung nicht mehr gesehen werden 3 6 . Liegt ein Fall unfreiwilliger Obdachlosigkeit 37 vor, so greift die öffentliche Ordnung als Auffangtatbestand schon deshalb nicht ein, weil hier eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit unter dem Gesichtspunkt einer Gefahr für Leben, Gesund31 Vgl. PrOVGE 81, 249, 251; 91, 139, 140; BVerwGE 17, 83, 86; BGH, NJW 1959, 768; OVG Münster, OVGE 9, 130, 132; 14, 265, 267; VGH München, BayVBl. 1963, 122. 32 Vgl. Böhrenz, ZMR 1961, 157, 158; Drews/Wacke, Gefahrenabwehr, S. 51; Eichert, BWVPr. 1983, 211, 212; Gössl, BWGZ 1984, 326; Hecker, Rechtsgrundlagen zur Obdachlosenunterbringung, S.76; Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S.27: „Es unterliegt keinem Zweifel, daß die Ordnungsbehörden wegen Gefährdung der öffentlichen Ordnung [...] zur Unterbringung von Obdachlosen befugt sind"; ReiffIWöhrle/Wolf PolG BW, § 1, Rdnr. 68; Schlüter, VB1BW 1983,417,419. 33 So Hecker, Rechtsgrundlagen zur Obdachlosenunterbringung, S.76; Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 27. 34 PrOVGE 91, 139, 140; BVerwGE 17, 83, 86; Drews/Wacke, Allgemeines Polizeirecht, S.73, 258. 35 OVG Lüneburg, NVwZ 1992,502,503; VGH Mannheim, NVwZ 1993,1220; NJW 1993, 1027; NVwZ-RR 1996, 439; NVwZ-RR 1995, 326, 327; DVB1. 1996, 567; VG Frankfurt, NVwZ 1990, 498; VG München, DGVZ 1991, 126; Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 40 einerseits - siehe aber auch Rdnr. 43 andererseits; Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 7 im Hinblick auf die unfreiwillige Obdachlosigkeit; WölflStephan, PolG BW, § 1, Rdnr. 76. 36 So auch die heute wohl herrschende Auffassung, vgl. etwa VGH Mannheim, NJW 1984, 507; BelzIMußmann, PolG BW, § 1, Rdnr. 38; DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, § 16, 3, c), S. 258; ErichsenlBiermann, Jura 1998, 371 f.; Eckstein, VB1BW 1994, 306; Greifeid, JuS 1982, 819, 820; Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 100; Kohl, NVwZ 1991, 620, 622; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 15 ff.; Münzenberg, Die moderne Auslegung des Polizeirechts, S. 214ff.; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 158; dersVB1BW 1986, 52, 53; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.63; ReichertlRuder!Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 316; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 39; Schioer, DVB1. 1989, 739, 745 f.; im Ergebnis verneinend auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 17; WürtenbergerlHeckmannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 316 b. 37 Zur Abgrenzung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Obdachlosigkeit näher unten 1. Teil, 2. Abschn., A, II, 2, c), aa).

2. Abschn.: Die polizeiliche Zuständigkeit 38

35 39

heit und Menschenwürde des Betroffenen zu bejahen ist . Allerdings verstößt auch die freiwillige Obdachlosigkeit, respektive die sog. Stadt- und Landstreicherei, unter Berücksichtigung der gebotenen restriktiven Praxis bei der Feststellung von herrschenden Wertvorstellungen nicht mehr gegen die öffentliche Ordnung. Denn zum einen ist in der Bevölkerung eine zunehmende Toleranz gegenüber Minderheiten und alternativen Lebensformen festzustellen, so daß - auch wenn dies vereinzelt anders beurteilt werden mag - nicht mehr davon gesprochen werden kann, daß das freiwillige Leben ohne Dach über dem Kopf herrschenden sozialen und ethischen Anschauungen widerspricht, die als unentbehrliche Voraussetzungen für ein gedeihliches Zusammenleben angesehen werden 40. So führt auch der VGH Mannheim in seinem die „Stadtstreichersatzung" von Baden-Baden aufhebenden Urteil aus, daß das Leben als Stadt- oder Landstreicher zwar von einer Mehrheit als „lästig" empfunden werden mag, im Grundsatz aber toleriert werde 41. Bloße Belästigungen begründen aber indes noch keine Sozialnorm und sind daher keine Gefahr für die öffentliche Ordnung 42. Dieses Ergebnis wird auch - worauf Dolderer zutreffend hinweist - durch das grundrechtliche Toleranzmodell gestützt43. Die Grundrechte haben als Abwehrrechte traditionell die Aufgabe, die Freiheit der Minderheit und damit auch die „Nonkonformitität" und „Alternativität" zu sichern. Sie lassen sich aber nicht in Grundrechte zu „werthaftem" Freiheitsgebrauch umformen, so daß „wertloser Freiheitsgebrauch" nicht als dem „gedeihlichen Zusammenleben" abträglich zu verwerfen ist 44 . Das veränderte Verständnis gegenüber dem Phänomen der Obdachlosigkeit zeigt sich auch an der Entkriminalisierung der Landstreicherei. So wurden die Vorschriften der § 361 Nr. 3 und Nr. 8 StGB a. F., welche die Landstreicherei und unter gewissen Voraussetzungen das Nichtverschaffen eines Unterkommens innerhalb einer von der Behörde gesetzten Frist unter Strafe stellten, durch Art. 326 EGStGB mit Wirkung zum 1. Januar 1975 aufgehoben 45. Die Streichung der Strafvorschriften 38

II.

39

Siehe zur Gefährdung der öffentlichen Sicherheit ausführlich unten 1. Teil, 2. Abschn., A,

Vgl. zum Verhältnis zwischen öffentlicher Sicherheit und Ordnung bereits oben 1. Teil, 2. Abschn., A; wie hier auch Drews/Wacke/VogellMartens, Gefahrenabwehr, § 16, 3, c), S.258; ReichertlRuder!Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 316; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 43; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 40. A.A. OVG Lüneburg, NVwZ 1992, 502, 503, das gerade wegen der Gesundheitsgefahren eine Gefahr für die öffentliche Ordnung bejaht. Insoweit werden aber die Voraussetzungen der öffentlichen Ordnung verkannt. 40 So zutreffend Kohl, NVwZ 1991, 620, 622; siehe auch Friauf, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Rdnr. 42: „Abweichende Lebens- und Verhaltensweisen bleiben rechtlich zulässig; die öffentliche Ordnung zwingt nicht zum sozialen Konformismus". 41 Vgl. VGH Mannheim, NJW 1984, 507, 509; ErichsenlBiermann, Jura 1998, 371, 372; Schioer, DVB1. 1989, 739, 745. 42 Siehe auch Schioer, DVB1. 1989, 739, 745. 43 Vgl. Dolderer, NVwZ 2001, 130, 134. 44 So Dolderer, NVwZ 2001, 130, 134. 45 Vgl. BGBl. 11974, S. 469. 3*

36

1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

wurde vor allem damit begründet, daß sie auch „harmlose oder nur lästige, aber nicht strafwürdige Verhaltensweisen" erfassen und daher aus der Sicht eines vom Rechtsgüterschutz bestimmten Strafrechts zu weitgehend erscheinen46. Zwar schließt die Abschaffung strafrechtlicher Sanktionierung bestimmter Verhaltensweisen noch nicht zwingend den Rückgriff auf eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung aus47. Jedoch stellt die Liberalisierung des Strafrechts durch den Gesetzgeber nur die Konsequenz eines veränderten Wertebewußtseins in der Gesellschaft dar, so daß die Abschaffung einer Strafrechtsvorschrift gewissermaßen Indizwirkung dafür hat, daß eine herrschende Sozialnorm nicht mehr existiert 48. Sieht der Gesetzgeber also bewußt von einer Pönalisierung ab, so spricht viel dafür, daß auch die Polizei nicht mehr unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Ordnung einschreiten darf, da anderenfalls eine Änderung des Strafgesetzbuchs zumindest faktisch unterlaufen werden könnte49. Eine Gefährdung der öffentlichen Ordnung durch freiwillige Obdachlosigkeit läßt sich auch nicht in dörflichen Regionen, Kurorten oder vornehmlich von Touristen besuchten Gebieten begründen. Zwar impliziert die allgemein gebräuchliche Definition der öffentlichen Ordnung, die auf das gedeihliche Zusammenleben der innerhalb eines Polizeibezirks lebenden Menschen abstellt, daß es lokal bzw. regional begrenzte Sozialnormen gibt. Allerdings läßt sich angesichts der erhöhten Mobilität der Bevölkerung und der Allgegenwärtigkeit der Massenmedien mit einer in der Literatur vertretenen Auffassung stark bezweifeln, ob sich solche regional begrenzten Sozialnormen noch ausmachen lassen50. Die Erhaltung der Anziehungskraft einer Gemeinde für Besucher stellt jedenfalls eine außerhalb des polizeilichen Güterschutzes stehende wirtschaftliche Erwägung dar, die eine lokale Ordnungsvorstellung nicht begründen kann51. Die hier propagierte Verneinung eines Verstoßes gegen die öffentliche Ordnung beschränkt sich indes nur auf den Zustand der NichtSeßhaftigkeit als solches52. Etwas anderes mag hinsichtlich solcher Verhaltensweisen gelten, die teilweise im Zusammenhang mit der Erscheinung der Obdachlosigkeit beobachtet werden können (z. B. aggressives Betteln53, öffentlicher Alkoholkonsum, gruppenweises Auftreten von 46

Vgl. den Bericht des 2. Sonderausschusses für die Strafrechtsreform v. 23.4.1969, BTDrs. V/4095, S. 48. 47 Vgl. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr.44. 48 Siehe auch Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 44. 49 Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 104; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 156; Terwiesche, VerwRdsch 1997, 410, 412; vgl. auch Eckstein, VB1BW 1994, 306; Kohl, NVwZ 1991, 620, 622. 50 Drews/Wacke/VogelfMartens, Gefahrenabwehr, § 16, 2, b), S.249; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 1 MEPolG, Rdnr. 40. 51 Vgl. Kohl, NVwZ 1991, 620, 622; im Ergebnis auch VGH Mannheim, NJW 1984, 507, 509. 52 Ähnlich ErichsenlBiermann, Jura 1998, 371, 372; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 316b. 53 Siehe hierzu Holzkämper, NVwZ 1994, 146, 149.

. Abschn.: Die polizeiliche Zuständigkeit

37

Obdachlosen von längerer Dauer unter Schaffung psychologischer Barrieren für die Nutzung öffentlicher Begegnungsräume durch die Allgemeinheit 54). Derartige Verhaltensweisen sind aber nicht derart spezifisch mit der Obdachlosigkeit verbunden, daß unter diesem Aspekt schon die Obdachlosigkeit selbst als ordnungswidrig anzusehen ist 55 . Zur polizeilichen Bekämpfung derartiger Verhaltensweisen kommen demnach auch nicht die Zuweisung von Wohnraum, sondern vielmehr andere polizeirechtliche Maßnahmen wie Platzverweise oder der sog. Verbringungsgewahrsam in Betracht 56, auf die allerdings im Rahmen dieser Arbeit nicht näher eingegangen werden soll 57 .

II. Obdachlosigkeit als Gefahrdung der öffentlichen Sicherheit 1. Der Begriff der öffentlichen

Sicherheit

Die öffentliche Sicherheit umfaßt nach gängiger Definition die Unverletzlichkeit der objektiven Rechtsordnung, der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des einzelnen sowie der Einrichtungen und Veranstaltungen des Staates und der sonstigen Träger von Hoheitsgewalt58. Der Begriff der öffentlichen Sicherheit weist dementsprechend eine doppelte Zielrichtung auf: geschützt sind zum einen individuelle und zum anderen kollektive Rechte und Rechtsgüter. Im Hinblick auf die Obdachlosigkeit sind vor allem die Schutzgüter „objektive Rechtsordnung" und „subjektive Rechte und Rechtsgüter des einzelnen" in Betracht zu ziehen. Der Schutz der objektiven Rechtsordnung stellt angesichts der zunehmenden Verrechtlichung sämtlicher Lebensbereiche den praktisch bedeutsamsten Anwendungsfall des Schutzgutes der öffentlichen Sicherheit dar 59. Erfaßt ist dabei die gesamte Rechtsordnung, insbesondere Strafgesetze und Ordnungswidrigkeitentatbestände60, aber auch sonstige Normen des öffentlichen Rechts61 sowie Privatrechts54 Verstoß gegen die öffentliche Ordnung bejahend VGH Mannheim, DVB1. 1983, 1070, 1073; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr.316b. 55 Vgl. auch Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 372. 56 Vgl. hierzu näher Mußmann, VB1BW 1986, 52ff.; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 94. 57 Vgl. zu ordnungsrechtlichen Maßnahmen gegen Obdachlose allgemein Dolderer, NVwZ 2001, 130ff., Kohl, NVwZ 1991, 620ff. 58 Statt vieler vgl. z.B. Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 15,1, S.232; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 89; Reichert/Ruder/Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 230; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 30; Schoch, JuS 1994, 570, 571; vgl. auch die Legaldefinitionen in § 54 Nr. 1 thürOBG; § 2 Nr. 2 bremPolG; § 3 Nr. 1 sachsanhSOG. 59 Vgl. Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 7; Schoch, JuS 1994, 570, 572. 60 Hier liegt wohl der Schwerpunkt polizeilicher Tätigkeit zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit; vgl. etwa Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 7; Drews! Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 15, 2, c), S.236; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 113; WölflStephan, PolG BW, § 1, Rdnr. 60; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 276.

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen 62

normen . Nach der klassischen Definition werden von der öffentlichen Sicherheit in ihrem individualschützendem Aspekt nur Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre und Vermögen erfaßt 63. Diese Sichtweise hat ihren Ursprung in der Begründung zu § 14 PreußPVG, dessen Wortlaut auch heute noch zur Konkretisierung des Begriffs der öffentlichen Sicherheit herangezogen wird 64 . Indes erscheint die Begrenzung auf die genannten Individualrechtsgüter zu eng. Ein Grund, nicht auch andere subjektive Rechte zum Begriff der öffentlichen Sicherheit zu zählen, ist vor dem Hintergrund des Postulats eines umfassenden polizeilichen Rechtsgüterschutzes nicht ersichtlich. Dies gilt insbesondere im Hinblick auf sämtliche grundrechtlich verbürgte subjektive Rechte65: so sind z. B. das Recht auf ungestörte Religionsausübung (Art. 4 Abs. 2 GG) ebenso wie die Versammlungsfreiheit (Art. 8 GG) 66 und das Wahlrecht (Art. 38 GG) vom individualschützenden Aspekt der öffentlichen Sicherheit umfaßt 67. Sinnvoller erscheint es demgemäß, unter den Begriff der öffentlichen Sicherheit in seiner individualschützenden Richtung ganz allgemein den Schutz sämtlicher öffentlicher wie privater subjektiver Rechte zu fassen 68. Ganz in diesem Sinne versteht auch die Legaldefinition des § 2 Nr. 2 bremPolG unter dem Individualschutz der öffentlichen Sicherheit „die Unverletzlichkeit [...] der subjektiven Rechte und Rechtsgüter des einzelnen." Zum selben Ergebnis gelangt man freilich, 69 wenn man wie Drews/Wacke/Vogel/Martens zwar an der enumerativen Aufzählung der individuellen Rechtsgüter festhält, aber unter dem Begriff der Freiheit nicht nur die körperliche Bewegungsfreiheit, sondern die Ausübung aller grundrechtlichen Freiheiten versteht.

61 So Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr.7; DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, § 15, 2, c), S.236: „Wer eine Rechtsnorm bricht, negiert den Staatswillen"; v.Mutius, Jura 1986, 649, 653; einschränkend Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 276: nur öffentlichrechtliche Gebots- und Verbotsnormen; ähnlich Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 113. 62 Vgl. Schoch, JuS 1994, 570, 572. Freilich ergibt sich insoweit eine wichtige Einschränkung unter dem Gesichtspunkt des Subsidiaritätsprinzips; vgl. §§2 Abs. 2 bwPolG; 1 Abs. 2 MEPolG. 63 Vgl. z.B. Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 15, 2, b), S.235; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 30; Wolf/Stephan, PolG BW, § 1, Rdnr. 50. 64 Vgl. den Abdruck bei Franzen, Lehrkommentar zum PVG, Bd. 1, S. 81 f. 65 Dafür, daß vom Individualrechtsschutz Grundrechte erfaßt werden, auch Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 91; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 148; Reichert/Ruder/ Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 316; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 273: „Die von den Grundrechten vermittelten Freiheiten und Berechtigungen sind wesentliche Schutzbereiche Gefahren abwehrender polizeilicher Tätigkeit". 66 Vgl. z.B. VGH Mannheim NVwZ-RR 1990, 602, 603. 67 So Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 91; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 148. 68 Für die subjektiven privaten Rechte ergibt sich freilich unter dem Gesichtspunkt des Subsidiaritätsprinzips (vgl. §§2 Abs. 2 bwPolG; 1 Abs. 2 MEPolG ) eine Einschränkung; vgl. zu diesem ausführlich unten 3. Teil, B, I, 2, a). 69 Drews/Wacke/Vogel!Martens, Gefahrenabwehr, § 15, 2, b), S.235.

. Abschn.: Die polizeiliche Zuständigkeit

2. Obdachlosigkeit als Gefährdung der öffentlichen

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Sicherheit

In bezug auf die Obdachlosigkeit kommt sowohl eine Gefährdung kollektiver wie individualschiitzender Rechtsgüter in Betracht, die im folgenden einer näheren Untersuchung unterzogen werden sollen. a) Obdachlosigkeit als Gefährdung der objektiven Rechtsordnung aa j § 361 Nr. 3 und Nr. 8 StGB a. F. Gemäß § 361 Nr. 3 StGB a. F. war Landstreicherei sowie gemäß § 361 Nr. 8 StGB a. F. unter gewissen Voraussetzungen das Nichtverschaffen eines Unterkommens innerhalb einer von der Behörde gesetzten Frist strafbar. Landstreicher i. S. d. § 361 Nr. 3 StGB a. F. war nach damals gängiger Definition, wer aus eingewurzeltem Hang zum Umhertreiben ziel- und zwecklos mit wechselndem Nachtquartier von Ort zu Ort umherzieht und mit seinen Lebenskosten überwiegend anderen zur Last fällt 70 . Sinn und Zweck des § 361 Nr. 8 StGB a. F. war es , die unberechtigte Inanspruchnahme der Fürsorge in den Fällen zu vermeiden, in denen die Personen in der Lage waren, sich aus eigenen Mitteln ein Unterkommen zu verschaffen 71. Demzufolge war nicht strafbar, wer die öffentliche Fürsorge gar nicht in Anspruch nahm oder wer schuldlos außerstande war, sich ein eigenes Unterkommen zu verschaffen 72, so daß auch nach damaliger Rechtslage nicht alle Fälle von Obdachlosigkeit unter diesem Gesichtspunkt strafrechtlich erfaßt werden konnten. Wie bereits erwähnt, wurden die genannten Strafvorschriften durch Art. 326 EGStGB mit Wirkung zum 1. Januar 1975 aufgehoben 73, so daß eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit unter diesem Gesichtspunkt nicht mehr in Betracht kommt. Die Aufhebung wurde insbesondere damit begründet, daß sie aus Sicht eines vom Rechtsgüterschutz bestimmten Strafrechts zu unscharf und zu weitgehend seien, so daß auch harmlose und lästige, aber nicht unbedingt strafwürdige Verhaltensweisen erfaßt seien74. Zudem wurde es als kriminalpolitisch fragwürdig eingestuft, gegen derartige „gemeinlästige Verhaltensweisen" mit strafrechtlichen Mitteln vorzugehen, da die in solchen Fällen einzig in Betracht kommende kurze Freiheitsstrafe ohnehin nicht geeignet sei, „die betreffenden Täter zu bessern 75".

70 71 72 73 74 75

Vgl. BGHSt 4, 52; Schönke/Schröder, StGB, 17. Aufl., § 361, Rdnr.4. OLG Köln, NJW 1965, 2214; SchönkeiSchröder, StGB, 17. Aufl., §361, Rdnr.45. OLG Köln, NJW 1965, 2214. Vgl. BGBl. 11974, S.469. Vgl. den Bericht des 2. Sonderausschusses, BT-Drs. V/4095, S.48. BT-Drs. V/4095, S.48.

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

bb) Gefahr krimineller

Handlungen Obdachloser

Insbesondere in der älteren Literatur wurde gelegentlich eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit mit der Begründung angenommen, daß Obdachlose zu kriminellen Handlungen neigen76. So führt Böhrenz 11 aus: „Asoziale Obdachlose werden in erster Linie zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit untergebracht, weil diese Personen, wenn ihnen nicht einmal eine Notunterkunft zur Verfügung stände, noch häufiger als es ohnehin der Fall ist, strafbare Handlungen begehen würden." Die These, daß Obdachlose erfahrungsgemäß zu kriminellen Handlungen neigen, wird bezeichnenderweise empirisch nicht belegt und läßt sich so nicht aufrechterhalten. Selbst, wenn man davon ausgeht, daß bestimmte Straftaten (§§ 113, 123, 185,240,241,248 a, 303,323 a StGB) und Ordnungswidrigkeiten (§§ 117,118,122 OWiG) vermehrt unter Land- und Stadtstreichern beobachtet werden können78, rechtfertigt dies gleichwohl nicht die Annahme, Obdachlosen generell die Begehung derartiger Delikte zuzurechnen79. Im übrigen könnte selbst bei Unterstellung der Richtigkeit der These die insoweit erforderliche konkrete polizeirechtliche Gefahr nicht begründet werden. Denn eine konkrete Gefahr liegt nach gängiger Definition nur dann vor, wenn eine Sachlage gegeben ist, die bei ungehindertem Ablauf des Geschehens in absehbarer Zeit mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für ein polizeiliches Rechtsgut führt 80 . Daß aber mit Eintritt der Obdachlosigkeit bereits eine hinreichende Wahrscheinlichkeit für die Begehung einer Straftat besteht, läßt sich kaum behaupten81. Zudem wird nach der im Polizeirecht herrschenden Theorie der unmittelbaren Verursachung 82 nur das Verhalten als gefahrverursachend angesehen, das selbst unmittelbar die Gefahrenschwelle überschreitet. Die Gefahrenschwelle überschreitet aber nicht bereits der Zustand der Obdachlosigkeit als solcher, sondern erst die konkrete Handlung des Obdachlosen, mit der zur Begehung der Straftat bzw. der Ordnungswidrigkeit angesetzt wird 83 . Nebenbei sei bemerkt, daß sich im Hinblick auf die Gefahr krimineller Handlungen durch Obdachlosigkeit nicht einmal eine für die Aufstellung einer Polizeiver76 77 78

Vgl. z.B. Böhrenz, ZMR 1961, 157, 158; Gössl, BWGZ 1984, 326. Böhrenz, ZMR 1961, 157, 158. So Göppingen Kriminologie, S. 543 ff.; hiervon geht auch Schmid, Stadtstreicher, S.70,

aus.

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Vgl. auch Kohl, NVwZ 1991, 620, 623; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.67. 80 Vgl. etwa BVerwGE 28, 310, 315; 45, 51, 57; BVerwG, NJW 1970, 1890, 1892; OVG Münster, NJW 1980,956; Drews/WackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, § 13,1, S. 220; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 161; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 46; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 278; siehe auch die Legaldefinition in § 2 Nr. 3 lit. a bremPolG; § 2 Nr. 1 lit. a ndsGefAG; § 54 Nr. 3 lit. a thürOBG. 81 So auch Kohl, NVwZ 1991, 620, 623. 82 Vgl. hierzu ausführlich unten 1. Teil, 4. Abschn., A. 83 Vgl. VGH Mannheim, NJW 1984, 507, 509; Kohl, NVwZ 1991, 620, 623; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 67 f.

. Abschn.: Die polizeiliche Zuständigkeit

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84

Ordnung ausreichende abstrakte Gefahr begründen läßt . Denn definiert man diese als Verhaltensweisen oder Zustände, bei denen nach den Erfahrungen des täglichen Lebens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit ein Schaden aufzutreten pflegt 85, so läßt sich auch dies in bezug auf die Begehung von Straftaten bei Obdachlosigkeit nicht annehmen. b) Unfreiwillige Obdachlosigkeit als Gefährdung subjektiver Rechte Hat sich somit gezeigt, daß das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit in seiner gemeinschaftsschützenden Richtung durch die Obdachlosigkeit nicht betroffen ist, ist des weiteren zu untersuchen, inwieweit eine Gefährdung individueller Rechte in Betracht kommt. Hierbei ist zunächst der Fall der unfreiwilligen Obdachlosigkeit zugrundezulegen86.

aa) Gefährdung eines Anspruchs gegen den Sozialhilfeträger? Ausgehend von der Annahme, daß ein Anspruch des Obdachlosen auf Bereitstellung einer Unterkunft gegen die Sozialhilfebehörde nach dem BSHG gegeben sei, sieht Eichert bei Nichterfüllung dieses Anspruchs durch die zuständige Behörde die öffentliche Sicherheit in ihrem individualschützendem Aspekt als gefährdet an 87 . Diese Ansicht kann indes nicht überzeugen. Zum einen kann richtiger Auffassung zufolge ein materiell subjektives Recht des Obdachlosen auf Bereitstellung einer Unterkunft nach den Vorschriften des BSHG allenfalls in Ausnahmefällen angenommen werden 88. Zum anderen kann selbst bei Unterstellung eines derartigen Anspruchs ein polizeiliches Einschreiten unter diesem Gesichtspunkt nicht begründet werden. Maßnahmen zur Gefahrenbeseitigung gegen den Träger der Sozialhilfebehörde kommen grundsätzlich mangels formeller Polizeipflichtigkeit von Hoheitsträgern nicht in Betracht. Nach überwiegender Ansicht sind Polizeibehörden nicht berechtigt, in den Kompetenz- und Aufgabenbereich anderer juristischer Personen einzugreifen, soweit letztere dadurch in ihrer hoheitlichen Tätigkeit tangiert werden89. Anderenfalls würde die Polizei eine Art Aufsichtsfunktion ausüben, was mit 84

Vgl. VGH Mannheim, NJW 1984, 507, 509; Kohl, NVwZ 1991, 620, 623. Vgl. Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 324; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 327 a; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 450. 86 Vgl. zur Abgrenzung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Obdachlosigkeit unten 1. Teil, 2. Abschn., A, II, 2, c), aa). 87 Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 118 f. 88 Vgl. ausführlich zu diesem Problemkomplex unten 1. Teil, 3. Abschn., B, I, 3. 89 Vgl. nur Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 15, 3, b), S.240; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 240; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 147; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 319; a. A. Schoch, JuS 1994, 853. 85

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

der gesetzlich vorgesehenen Kompetenzordnung nicht zu vereinbaren wäre 90. Das Problem des Übergriffs der Polizeibehörde in den Kompetenzbereich eines anderen Hoheitsträgers würde sich in diesem Fall sogar in besonderer Schärfe stellen. Handelt es sich bei den ansonsten im Hinblick auf die Polizeipflichtigkeit von Hoheitsrägern diskutierten Fällen um solche, in denen anläßlich der Aufgabenerfüllung des Hoheitsträgers eine Gefährdung von Rechtsgütern erfolgt 91 , bestünde hier die Gefährdung gerade darin, daß der Hoheitsträger einen originär gegen ihn gerichteten subjektiven Anspruch nicht erfüllt. Könnte die Polizeibehörde in diesem Fall gegen den Sozialhilfeträger einschreiten, so käme dies der Weisungsbefugnis einer Fachaufsichtsbehörde gleich. Dieses Problem erkennt denn auch Eichert 92, so daß sein Vorschlag dahin geht, die Zuständigkeit der Polizeibehörde unter dem Gesichtspunkt des vorläufigen Einschreitens gem. § 1 a MEPolG (§ 2 Abs. 1 bwPolG) anzunehmen93. Aber auch dieser Ansatz ist Einwänden ausgesetzt. § 1 a MEPolG (§ 2 Abs. 1 bwPolG) setzt voraus, daß zur Wahrnehmung einer polizeilichen Aufgabe nach gesetzlicher Vorschrift eine andere Stelle zuständig ist, deren rechtzeitiges Tätigwerden aufgrund von Gefahr im Verzug nicht möglich ist. Nach einhelliger Ansicht fallen unter den Begriff der „anderen Behörde" i. S. d. § 1 a MEPolG („andere Stelle" i. S. d. § 2 Abs. 1 bwPolG lediglich Verwaltungsbehörden, die zumindest zum Teil im Aufgabenbereich der Gefahrenabwehr tätig sind 94 . Dies trifft allerdings für die Sozialhilfebehörde entgegen der Ansicht Eicherts, der in deren Tätigkeit auch „deutliche Züge der Gefahrenabwehr" sehen will 9 5 , nicht zu. Bei der Tätigkeit der Sozialhilfebehörden handelt es sich um elementare sozialstaatliche Daseinsvorsorge und damit um einen klassischen Fall der Leistungsverwaltung 96. Die Verwaltung der Daseinsvorsorge wird aber seit der Ausgliederung der Wohlfahrtspflege aus dem polizeilichen Tätigkeitsfeld klassischerweise nicht mehr als Gefahrenabwehrtätigkeit verstanden97. 90

Vgl. WürtenbergerlHeckmannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr.319. Als Beispiele mögen der (durch die Privatisierung der Post überholte) vom OVG Lüneburg (OVGE12,340 ff.) entschiedene Postpaketverladefall, bei dem der nächtliche Verladebetrieb eines Paketpostamtes den Schlaf des Nachbarn störte, sowie ein vom BGH (DVB1.1970,499 ff.) entschiedener Fall dienen, in dem ein Öltanker der Bundeswehr das Grundwasser gefährdete. 92 Vgl. Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 123. 93 Vgl. Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 131 ff. 94 Vgl. Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 1 a MEPolG, Rdnr. 1; Stephan, VB1BW 1984,47,48f.; Wolf/Stephan, PolG BW, §2, Rdnr. 11; WürtenbergerlHeckmannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 88. Streitig ist insoweit, ob unter den Begriff der anderen Stelle i. S. d. § 2 Abs. 1 bwPolG auch allgemeine und besondere Polizeibehörden fallen, vgl. Würtenbergerl HeckmannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 129 m. w. Nachw. 95 Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 132 96 Zuzugeben ist allerdings, daß sich die Grenzen zwischen Eingriffs- und Leistungsverwaltung zunehmend verwischen. So trägt auch das Polizeirecht Züge einer Leistungsverwaltung, was sich gerade am Beispiel der Bekämpfung von Obdachlosigkeit zeigt; vgl. hierzu v. Unruh, DVB1. 1972, 469 ff.; ebenso auch Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 2. 97 Vgl. Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 2; ausführlich zur historischen Entwicklung einer umfassenden Wohlfahrtspolizei zur Polizei, deren Aufgabe sich auf die Ge91

. Abschn.: Die polizeiliche Zuständigkeit

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War die Armenfürsorge lange Zeit ein Teil der umfassenden Wohlfahrtspolizei, so entwickelte sich seit dem Ende des 18. Jahrhunderts eine eigene Armengesetzgebung, die mit einer völligen Ausgliederung der staatlichen Fürsorge aus dem Polizeirecht endete98. Ausgehend von diesem historischen Befund kann die Sozialhilfebehörde nicht als Behörde, die im Bereich der Gefahrenabwehr tätig ist, angesehen werden, so daß auch ein vorläufiges Einschreiten der Polizei nach § 1 a MEPolG (§ 2 Abs. 1 bwPolG) nicht in Betracht kommt. bb) Gefährdung der Rechtsgüter Leben und Gesundheit durch den Aufenthalt unter freiem Himmel Die überwiegende Ansicht in Rechtsprechung und Literatur bejaht bei unfreiwilliger Obdachlosigkeit eine Gefährdung der öffentlichen Sicherheit unter dem Gesichtspunkt des gem. Art. 2 Abs. 2 GG geschützten Rechts auf körperliche Integrität und Leben99. In der Tat läßt sich kaum bezweifeln, daß der durch die Obdachlosigkeit erzwungene Aufenthalt unter freiem Himmel bei extremen Witterungsverhältnissen - wie z. B. im Winter - eine polizeirechtlich relevante Gefahr für die Gesundheit oder gar das Leben des Obdachlosen begründet. Fraglich erscheint indes, ob auch ohne das Hinzutreten besonders widriger Witterungsverhältnisse der bloße Aufenthalt unter freiem Himmel eine insoweit erforderliche konkrete Gefahr begründet oder ob nur eine sog. „latente Gefahr" vorliegt, welche für ein polizeiliches Einschreiten nicht ausreichend ist 100 . Insbesondere von fahrenabwehr beschränkt, Boldt, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, A, Rdnrn. 20ff.; Drews/ WackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, § 1,3,4, S. 3 ff.; Freu, Polizeibegriff und Staatszwecklehre, S. 167 ff.; v. Unruh, in: Jeserich/Pohl/v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.I., S. 388 ff.; WürtenbergerlHeckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr.3ff. 98 Vgl. hierzu Badura, Das Verwaltungsrecht des liberalen Rechtsstaates, S.38f.; Schioer, DVB1. 1989, 739, 743; dies konstatiert bemerkenswerterweise auch Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S.76, 117. 99 Vgl. OVG Berlin, NJW 1984, 2484; OVG Bremen, DÖV 1994, 221, 222; VGH Kassel, NJW 1984, 2305; VGH Mannheim, NJW 1993, 1027; VG München, DGVZ 1991, 126; Baldus/Böhr, ZMR 1997, 337, 338; Behl Mußmann, PolG BW, § 1, Rdnr.38; BernerI Köhler, PAG, Art. 11, Rdnr. 10; Drews/Wacke/VogellMartens, Gefahrenabwehr, § 16, 3, c), S.258; Eckstein, VB1BW 1994, 306, 307; Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 372; Ewerlv.Detten, NJW 1995, 353, 354; Greifeid, JuS 1982, 819, 820; Gössl, BWGZ 1984, 326; Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 273; Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 39f.; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.73 ff.; ReichertlRuderIFröhler, Polizeirecht, Rdnr. 316; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 735; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr.43; Schioer, DVB1.1989,739,745; Schoch, JuS 1995,30,33; Trockels, BWVPr. 1989, 145, 145 f.; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 8 f.; WürtenbergerlHeckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 316 b. 100 Zum Begriff der „latenten Gefahr" vgl. Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 127; Knemeyer, Polizeiund Ordnungsrecht, Rdnr. 93, 99, 515 f.; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 167; ReichertlRudertFröhler, Polizeirecht, Rdnr. 223. Da hier mangels hinreichender Möglichkeit eines

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

Autoren, die ohnehin für einen Vorrang des Regimes des Sozialhilferechts zur Bekämpfung der Obdachlosigkeit unter Annahme einer Verdrängung oder nur subsidiären Geltung des Polizeirechts plädieren, ist das Vorliegen einer konkreten Gefahr für die genannten Rechtsgüter angezweifelt worden 101. So führt beispielsweise Eichert 102 aus, daß der bloße Aufenthalt unter freiem Himmel noch keine konkrete Gefahr für Leben oder Gesundheit bedeute, wie die unzähligen Beispiele von Clochards zeigen würden. Eine kühle Nacht lasse sich mit Decken schadlos überstehen. Auch die Tatsache, daß sich persönliche Hygiene nicht im erforderlichen Umfang realisieren lasse, bedinge noch keine konkrete Gefahr. Nur besondere Umstände könnten die nur latente Gefahr in eine polizeirechtlich relevante konkrete Gefahr umschlagen lassen. Ähnlich argumentiert Lübbe103, indem sie ausführt, daß der bloße Hinweis der h. M. auf Gesundheitsgefahren durch ungünstige Witterung und mangelnde Hygiene den Anforderungen an den Nachweis einer konkreten Gefahr in der Regel nicht gerecht werde. Im Sommer sei gesundheitsgefährdende Kälte nicht zu befürchten; eine Brücke könne Schutz vor Regen bieten. Diese Argumentation überspannt indes die Anforderungen an den Gefahrenbegriff und wird dem Stellenwert der Rechtsgüter Leben und Gesundheit nicht gerecht. Die für ein polizeiliches Einschreiten erforderliche konkrete Gefahr ist nach gängiger Definition dann anzunehmen, wenn eine Sachlage vorliegt, die bei ungehindertem Ablauf des Geschehens mit hinreichender Wahrscheinlichkeit zu einem Schaden für ein polizeiliches Rechtsgut führt 104 . Dabei genügt die völlig entfernte Möglichkeit einer Rechtsgutsbeeinträchtigung nicht; Gewißheit des Schadens ist aber andererseits ebensowenig erforderlich 105. Anerkannt ist in diesem Zusammenhang auch, daß die Anforderungen an die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts abhängig von der Schwere des zu erwartenden Schadens sowie der Bedeutung des betroffenen Rechtsguts sind: je gewichtiger das betroffene Rechtsgut, desto geringere Anforderungen sind an den Gefahrengrad zu stellen106. Schadenseintritts keine konkrete Gefahr bejaht werden kann, wird der Begriff teilweise für irreführend und entbehrlich gehalten, vgl. Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 127; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 56. 101 Vgl. Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 81 ff.; Münzenberg, Die moderne Auslegung des Polizeirechts, S.221 f.; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 18; auf eine genaue Prüfung der Umstände des Einzelfalls abstellend auch Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 354. 102 Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 82 f. 103 Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 18. 104 Vgl. hierzu die Nachweise in Fn. 80. 105 Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 13, 2, b), S.223; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 1 MEPolG, Rdnr. 8. 106 BVerwGE 45, 51, 61; 47, 31, 40; OVG Münster, NWVB1. 1998, 64f.; VGH Mannheim, VB1BW 1984, 20, 21; Brandt/Smeddinck, Jura 1994, 225, 228; Drews/Wacke/VogellMartens, Gefahrenabwehr, § 13,2, b), S.224; Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 116; Reichertl Ruder! Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 215; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 54; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 284.

. Abschn.: Die polizeiliche Zuständigkeit

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Hiervon ausgehend läßt sich sagen: Zwar ist zutreffend, daß ein kurzfristiger Aufenthalt unter freiem Himmel bei günstigen Witterungsverhältnissen nicht zwangsläufig zu einem Schaden für die Gesundheit führen muß. Ein zwangsläufiger Schadenseintritt ist aber für das Vorliegen einer konkreten Gefahr auch nicht erforderlich. Jedenfalls besteht eine reale und keinesfalls nur völlig entfernte Möglichkeit eines Gesundheitsschadens bei schutzlosem Aufenthalt unter freiem Himmel 107 . Nach einer im Jahre 1976/77 unter Obdachlosen durchgeführten Studie litten 62,6% der untersuchten Personen unter Lungenemphysemen (schwere Lungenerkrankung mit stark verkleinerter Lungenoberfläche durch geplatzte Lungenbläschen), 41,1 % an chronischer Bronchitis, 16,8% an Cor pulmonale (Herzschädigung durch chronische Lungenerkrankung), 34,9 % an Magengeschwüren, 31,3 % an Schlafstörungen sowie 67,9% an einem behandlungsbedürftigem Zahnstatus108. Zu ähnlichen Ergebnissen gelangt auch eine im Jahre 1999 durchgeführte empirische Untersuchung unter Obdachlosen109. Hiernach sind rund 90% der untersuchten Personen dringend ärztlich behandlungsbedürftig. Wesentlich häufiger als in der übrigen Bevölkerung waren bei den Obdachlosen Herz-Kreislauf- und Hauterkrankungen sowie akute Infektionen und Probleme der Atmungs- und Verdauungsorgane festgestellt worden. Entscheidender Gesichtspunkt dürfte insoweit - worauf Erichsen/ Biermann zutreffend hingewiesen haben - die Unkalkulierbarkeit von Gesundheitsrisiken sein 110 . Auch im Sommer kann eine kühle Nacht eine Erkältung oder gar Lungenentzündung hervorrufen. Hinzu kommt der hohe Stellenwert der Rechtsgüter Leben und Gesundheit und die damit verbundenen niedrigeren Anforderungen an die Gefahrenprognose. So formulieren auch Drews/Wacke/VogellMartens: „Wo es Schutz besonders hochwertiger Rechtsgüter geht, kann deshalb auch schon eine entferntere Möglichkeit eines Schadens die begründete Befürchtung seines Eintritts auslösen111". Vor diesem Hintergrund erscheint es überzeugend, bei Aufenthalt unter freiem Himmel auch ohne Hinzutreten besonderer Umstände eine Gefahr im polizeirechtlichen Sinne zu bejahen112.

107

So auch Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 372. Vgl. die statistischen Auswertungen von John, NichtSeßhaftigkeit, S. 459ff. Vgl. insbesondere John, aaO, S.466: „Zusammenfassend ist zu den organisch-medizinischen Befunden festzustellen, daß auch ohne Berücksichtigung von Alkoholismus, Zahnstatus und anderen hier nicht genannten Krankheiten sicher die Mehrzahl aller Wohnungslosen akut organisch behandlungsbedürftig ist." 109 Vgl. F. A.Z. v. 25.3.1999. 110 Vgl. Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 372. 111 Drews/Wacke/Vogell Martens, Gefahrenabwehr, § 131, b), S.224 m. w.Nachw. 112 Widersprüchlich insoweit Peppersack, der einerseits annimmt, daß eine konkrete Gefahrensituation das Hinzutreten weiterer Umstände wie etwa kalte Witterungsverhältnisse voraussetzt CPeppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.74), an anderer Stelle aber die Aussage trifft, eine konkrete Gefahr liege schon bei Fehlen einer Unterkunft vor, wenn Schäden infolge von Witterung nicht angesichts besonderer Umstände ausgeschlossen seien (vgl. Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.75). 108

1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

46

cc) Gefährdung des Rechtsguts Eigentum durch den Aufenthalt unter freiem Himmel Häufig wird im Zusammenhang mit der Zuweisung von Wohnraum an Obdachlose nicht nur auf eine Gefahr für Leben und Gesundheit, sondern zusätzlich auch auf eine Gefährdung des Eigentums oder „Habes" des Obdachlosen abgestellt113. Zwar wird man auch diesbezüglich (man denke hier insbesondere an die Wohnungseinrichtung bei Räumungsfällen) - jedenfalls soweit keine anderweitige Möglichkeit der Unterbringung der Gegenstände besteht und diese der Witterung ausgesetzt sind - eine konkrete Gefahr bejahen können. Eine Gefahr für das Eigentum des Obdachlosen erscheint jedoch nur im Zusammenhang mit einer Gefährdung von Leben und Gesundheit des Obdachlosen geeignet, die hier zu untersuchende Beschlagnahme und Zuweisung von Wohnraum zu begründen. Denn - isoliert betrachtet - wäre geeignete und auch ausreichende polizeiliche Maßnahme zur Abwehr einer Gefahr für das Eigentum des Obdachlosen vielmehr eine Sicherstellung gemäß § 32 bwPolG (§ 21 Nr. 2 MEPolG).

dd) Gefahr von Überfällen Bisweilen wird eine polizeirechtliche Gefahr für Gesundheit und Eigentum auch im Hinblick darauf bejaht, daß bezüglich Obdachloser ein erhöhtes Risiko bestehe, Opfer von Gewalt- und Eigentumsdelikten zu werden 114. Auch diese Annahme ist jedoch bei näherer Betrachtung Einwänden ausgesetzt. Der bloße Aufenthalt unter freiem Himmel überschreitet hinsichtlich etwaiger Angriffe Dritter noch nicht die polizeirechtliche Gefahrensch welle. Denn nach der Theorie der unmittelbaren Verursachung kann erst die Handlung als gefahrverursachend angesehen werden, die selbst unmittelbar die Gefahrenschwelle überschreitet 115. Diese Handlung liegt jedoch erst in dem konkreten Angriff durch den etwaigen Täter.

ee) Gefährdung der Menschenwürde Mitunter ist zur Begründung einer polizeilichen Gefahr für die öffentliche Sicherheit auch die in Art. 1 Abs. 1 GG verankerte Menschenwürde herangezogen wor113

Z.B. Drews/Wacke/VogellMartens, Gefahrenabwehr, § 16, 3, c), S.258; Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 372; Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 273; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.74f.; ReichertlRuder!Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 315; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 29; Schioer, DVB1. 1989, 739, 745; Trockels, BWVPr. 1989, 145 f.; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.9. 114 Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 372; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.74; WürtenbergerlHeckmannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 316 b. 115 Siehe näher zur Theorie der unmittelbaren Verursachung unten 1. Teil, 4. Abschn., A.

. Abschn.: Die polizeiliche Zuständigkeit

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116

den . Bei näherer Betrachtung dieser These stellen sich zwei Fragen: zum einen erscheint es erörternswert, ob die Menschenwürde überhaupt zu den polizeilichen Schutzgütern der öffentlichen Sicherheit gezählt werden kann. Bejaht man dies, so ist zum anderen klärungsbedürftig, ob das Fehlen einer Unterkunft den Menschenwürdegehalt antastet. Oben wurde bereits herausgearbeitet, daß richtigerweise unter den Begriff der öffentlichen Sicherheit in ihrem individualschützenden Aspekt nicht nur die enumerativ aufgezählten Rechtsgüter Leben, Gesundheit, Freiheit, Ehre und Vermögen fallen, sondern vielmehr - wie auch in der Legaldefinition des § 2 Nr. 2 bremPolG sämtliche private wie öffentliche subjektive Rechte geschützt sind 117 . Ob allerdings Art. 1 Abs. 1 GG Grundrechtscharakter hat und damit ein subjektiv öffentliches Recht vermittelt, war bereits früher durchaus umstritten 118. Schien dieser Streit zeitweise dahingehend entschieden, daß eine Qualifikation der Menschenwürde als Grundrecht weitgehend anerkannt wurde 119 , ist von unterschiedlichen Begründungsansätzen aus in jüngerer Zeit die subjektiv-rechtliche Qualität des Art. 1 Abs. 1 GG wieder in Frage gestellt worden 120 . Systematisch-teleologische Erwägungen sprechen indes für die Annahme eines subjektiven Rechts. So wohnt dem Grundgesetz eine klare Tendenz zur wirkungsvollen Gewährleistung von Rechten inne, die insbesondere in der Rechtsschutzgarantie des Art. 19 Abs. 4 GG zum Ausdruck kommt. Angesichts dieser verfassungsimmanenten anspruchsfreundlichen Tendenz des GG wäre es aber geradezu systemwidrig, die Fundamentalnorm der Menschenwürde allein als objektiv-rechtliche Verpflichtung zu inter116 So OVG Bremen, DÖV 1994,221, 222; Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 372; Geißler, DGVZ 1996, 161, 164; ausführlich Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 18f., 25f.; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.76f.; Reichert/Ruder/Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 315; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 29; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 43; Schoch, JuS 1995,30,32; siehe auch schon Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 37; kritisch Steinmeier/Brühl, KJ 1989, 275, 283 f.; a. A. explizit Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 13 f. 117 Siehe näher oben 1. Teil, 2. Abschn., A, II, 1. 1,8 Vgl. stellvertretend für die frühere Diskussion einerseits Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1, Rdnr. 4ff.: „subjektiv-rechtlicher Würdeschutz vollzieht sich allein in den thematisch differenzierten nachfolgenden Grundrechten"; andererseits Nipperdey, Grundrechte, Bd. II., S. 12: Art. 1 Abs. 1 sei „Wurzel und Quelle aller später formulierten Grundrechte und damit selbst das materielle Hauptgrundrecht". 119 Vgl. z.B. Badura, JZ 1964, 337, 342; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rdnr.3; ders., JuS 1995, 857 f.; Häberle, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. I., §20, Rdnr. 74; Ipsen, Staatsrecht, II, Rdnr. 219; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 1, Rdnr. 3; Stern, Staatsrecht, Bd. III/1, S. 26f.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 380. Auch das BVerfG geht in ständiger Rechtsprechung - zumeist implizit - von einer Grundrechtsgewährleistung aus; vgl. etwa BVerfGE 1,332, 343; 12,113,123; 15,283,286; 28,151,161; 61,126, 137. 120 Vgl. z. B. Dreier, in: Dreier, GG, Art. 1, Rdnrn. 69 ff.; Enders, Die Menschenwürde in der Verfassungsordnung, S. 113 ff.; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. \61ff.;_Gröschner, Menschenwürde und Sepulkralkultur, S.45.

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen 121

pretieren . Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG begründet zum einen ein Abwehrrecht gegen den Staat („zu achten") und zum anderen eine Schutzpflicht des Staates („zu schützen") 122 . Nicht nur die abwehrrechtliche Funktion, sondern auch die Schutzdimension sind dabei als subjektiv-rechtliche Gewährleistungen zu verstehen 123. Geht man somit von einem aus Art. 1 Abs. 1 GG folgenden subjektiven Recht aus, dann wäre es unverständlich, wenn gerade die Menschenwürde als „höchster Rechts wert 124 " oder „materielles Hauptgrundrecht innerhalb der Verfassungsordnung 125 " nicht zu den polizeilichen Schutzgütern zählen sollte. So führen denn auch m Denninger 126, Mußmann 127 sowie Würtenberger/Heckmann/Riggert die Menschenwürde zutreffend als Schutzgut der öffentlichen Sicherheit auf, ohne allerdings diese Qualifikation näher zu begründen. Freilich wird nicht verkannt, daß die Eingrenzung des Gewährleistungsinhalts der Menschenwürde gewisse Schwierigkeiten bereitet. Allgemein anerkannt dürfte aber inzwischen sein, daß die Unterschreitung eines gewissen materiellen Mindeststandards die Menschenwürde tangiert 129. Prägnant formuliert insoweit Dürig: Die Menschenwürde „als solche ist auch getroffen, wenn der Mensch gezwungen ist, ökonomisch unter Lebensbedingungen zu existieren, die ihn zum Objekt erniedrigen 130 ". Hat das BVerfG zu Anfang seiner Rechtsprechung eine staatliche Schutzpflicht vor materieller Not noch abgelehnt131, so hat es sich später dahingehend geäußert, daß der Staat den Bürgern „jedenfalls die Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Dasein" zu sichern habe und somit der einzelne einen Anspruch auf das materielle Existenzminimum habe132. Zwar stellt das Existenzminimum keine konstante Größe dar, sondern ist durchaus Schwankungen unterworfen, die vom Wandel der Verhältnisse und allgemeinen Anschauungen abhän121 So Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rdnr. 5; ähnlich Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1, Rdnr. 25. 122 Vgl. Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 1, Rdnr. 29. 123 Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rdnr. 38; Ipsen, Staatsrecht, I, Rdnr. 221. 124 Vgl. BVerfGE 45, 187, 227. 125 Vgl. Nipperdey, Grundrechte, Bd. II., S. 12. 126 Vgl. Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 18. 127 Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 147. 128 Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 273. 129 Vgl. BVerfGE 40,121,133; 78,104,118; 82,60,85; BVerfG, NJW 1994,991; BVerwGE 80,349, 353; 87,212,214; Bachof, VVDStRL Bd. 12 (1954), 37,42; ErichsenlBiermann, Jura 1998, 371, 372; Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rdnr. 24f.; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 1, Rdnr. 30; Starck, in v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 1, Rdnr. 36. 130 Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1, Rdnr. 43. 131 Vgl. BVerfGE 1,97,104f.: Mit der Schutzpflicht sei der staatliche Schutz gegen Angriffe auf die Menschenwürde wie Erniedrigung, Brandmarkung, Ächtung und Verfolgung gemeint, die Gewähr eines Mindestmaßes an Nahrung, Kleidung und Wohnung sei hingegen Aufgabe des Sozialstaats. 132 Grundlegend BVerfGE 40,121,133; siehe auch BVerfGE 45,187,228; 48,346,361; 82, 60, 85.

. Abschn.: Die polizeiliche Zuständigkeit

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gig sind 133 . Ebenso läßt sich mit guten Gründen bezweifeln, ob sich aus Art. 1 Abs. 1 GG konkrete Wert- und Mengenangaben für ein Existenzminimum ableiten lassen134. Als auch in der Rechtsprechung gesicherte Erkenntnis dürfte allerdings gelten, daß die Menschenwürde jedenfalls das umfaßt, „was zur notdürftigen Fristung des Lebens, d. h. zur Verhütung [...] der Obdachlosigkeit unbedingt erforderlich ist 1 3 5 ". Wer unfreiwillig 136 nicht über eine Unterkunft verfügt, in der er Schutz und Zuflucht suchen und sich gegen unerwünschte Dritte abschirmen kann, der muß das entbehren, was zu den existentiellen Grundlagen der Lebensführung in einer zivilisierten Gesellschaft gehört und ihn befähigt, sich als sittlich-verantwortliche Persönlichkeit in seiner Umwelt bewähren und behaupten zu können137. So geht es bei der Verhinderung von Obdachlosigkeit um die Bereitstellung des physiologisch Notwendigen des Überlebens bzw. um den „Menschenwürdesockel" des Leistungsrechts 138, der nicht zur Disposition des einfachen Gesetzgebers steht. In einem Fall von Obdachlosigkeit läßt sich mithin nicht bezweifeln, daß die Menschenwürde in ihrem - wenn auch schwer definierbaren Gehalt - betroffen ist 139 . Der Einbeziehung der Menschenwürde in das Schutzgut der öffentlichen Sicherheit kann nicht entgegengehalten werden, daß dies ein Rückfall in den polizeilichen Wohlfahrtsstaat des Absolutismus sei, da seit der Ausgliederung der Wohlfahrtspflege aus dem polizeilichen Aufgabenbereich im Zuge des Liberalismus des 19. Jahrhunderts die Polizei nur noch auf die Gefahrenabwehr beschränkt sei und keine Aufgaben der Leistungsverwaltung mehr wahrnehmen dürfe 140 . Denn inzwischen dürfte als anerkannt gelten, daß die Grundrechte dem Bürger nicht nur eine Schutzfunktion zur Abwehr polizeilicher Maßnahmen, sondern auch ein subjektives Recht auf polizeiliches Einschreiten vermitteln 141 . Zuzugeben ist, daß mit der Bejahung eines sich aus Grundrechten ergebenden subjektiven Anspruchs auf poli133

Vgl. Höfling, in: Sachs, GG, Art. 1, Rdnr. 25; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 1, Rdnr. 30 m. w. Nachw. zur Rechtsprechung; Neumann, NVwZ 1995, 426, 428. 134 Vgl. Neumann, NVwZ 1995,426,429, der als Kontrollmaßstab für die Bestimmung des Existenzminimums nicht die Menschenwürde („Ist ein Leben ohne Fernseher wirklich menschenunwürdig?"), sondern den Gleichheitssatz fruchtbar machen will. „Die Quantifizierung der Würde führt zu deren Banalisierung"; vgl. Neumann, aaO. 135 BVerwGE 14, 194, 196f. 136 Vgl. zur freiwilligen Obdachlosigkeit unten 1. Teil, 2. Abschn., A, II, 2, c. 137 So Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 38. 138 So die Formulierung bei Hufen, VVDStRL Bd. 47 (1989), 142, 163. 139 Ebenso im Ergebnis Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 372; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.76; vgl. auch Geißler, DGVZ 1996, 161, 164; Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 37; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 18 f., 25 f. 140 So Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 13 f. 141 Vgl. BVerwGE 11, 95 ff.; 37, 112, 113; OVG Münster, NVwZ 1983, 101 f.; Dietlein, DVB1. 1991, 685 ff.; Drews/Wacke/VogellMartens, Gefahrenabwehr, § 24, 8, b), ß), S. 402ff.; Pietzcker, JuS 1982,106ff.; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 75; Wilke, in: FS für Scupin, 831 ff.; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 324. 4 Reitzig

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

zeiliches Einschreiten das traditionell der Eingriffsverwaltung zugeordnete Recht der Gefahrenabwehr teilweise auch Aufgaben der leistenden Verwaltung übernimmt 142 . Dies als Rückfall in den Wohlfahrtsstaat des Absolutismus zu bewerten, entbehrt indes jeder Grundlage. Unterlag die Gewalt des Monarchen zur Zeit des Absolutismus keiner rechtlichen Beschränkung und ging es darum, zur Beförderung der allgemeinen Wohlfahrt, deren Definition dem Monarchen oblag, mit polizeilichen Zwang reglementierend in die Freiheiten der Bürger einzugreifen 143, so geht es hier gerade darum, die Freiheit des Bürgers gegenüber dem Staat durch Bejahung aus Grundrechten resultierender staatlicher Schutzpflichten zu stärken. Die Argumentation Wiesers ist schon insoweit in sich widersprüchlich, als diese offensichtlich ohne Bedenken eine Gefährdung der Individualrechtsgüter Leben und Gesundheit annimmt 144 . Auch diesbezüglich würde die Polizei aber zum Schutze elementarer Grundrechte und somit eher im Sinne einer Leistungsverwaltung tätig werden. Ist mit der Bejahung einer Gefährdung der Rechtsgüter Gesundheit und Leben des Obdachlosen durch die herrschende Meinung aber implizit anerkannt, daß polizeiliche Schutzmaßnahmen auch dann zu ergreifen sind, wenn der Schaden nicht durch Eingriffe Dritter, sondern durch materielle Mangellagen droht, so ist nicht einsichtig, warum dies nicht auch im Hinblick auf die Menschenwürde zu bejahen sein sollte 145 . Gegen die Qualifizierung der Menschenwürde als polizeiliches Schutzgut läßt sich auch nicht einwenden, daß sich somit über die polizeiliche Generalklausel ein gegen die Polizeibehörden gerichteter subjektiver Anspruch des einzelnen auf allgemeine Erhaltung seiner Lebensgrundlage und seines Existenzminimums bei Mangellagen ergeben könne, der die Zuständigkeit der Sozialhilfebehörden unterlaufen könne 146 . Ergibt sich ein verfassungsrechtlich fundierter Anspruch auf Sicherung der elementaren Lebensgrundlage, so ist es grundsätzlich dem Gesetzgeber überlassen, wie er diesen Anspruch einfachgesetzlich umsetzt und welche Behördenkompetenzen er statuiert. Grundsätzlich ist aber das Sozialhilferecht zur Behebung sozialer Notlagen und zur Sicherung und Erhaltung des Existenzminimums das insoweit speziellere Recht, so daß die Kompetenzen der Sozialverwaltung inso142

Vgl. auch v. Unruh, DVB1. 1972, 469, 473, der gerade am Beispiel der Obdachlosenunterbringung zeigt, daß der Polizeitätigkeit zunehmend auch Elemente der leistenden Verwaltung innewohnen; ebenso Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 2: „Die Bekämpfung der Obdachlosigkeit und der durch sie verursachten Lebens- und Leibesgefahren ist ebenso polizeiliche Gefahrenabwehr wie elementare sozialstaatliche Daseinsvorsorge"; vgl. auch Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S.90f. 143 Vgl. hierzu näher Boldt, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, A, Rdnr. 14 ff.; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 2; v. Unruh, in: Jeserich/Pohl/v. Unruh (Hrsg.), Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.I., S. 388 ff.; WürtenbergerlHeckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 3 ff. 144 Vgl. Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.9. 145 Ebenso Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 26. 146 Dies erscheint wohl die Befürchtung von Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 13 f. zu sein.

2. Abschn.: Die polizeiliche Zuständigkeit

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weit nicht angetastet werden . Aus dem Charakter des Polizeirechts folgt, daß es sich bei den polizeilichen Maßnahmen immer nur um Gefahrenabwehrmaßnahmen hinsichtlich konkreter Gefahrentatbestände handeln kann. Die langfristige Sicherung und Erhaltung der Lebensgrundlagen verbleibt hingegen Aufgabe der Sozialverwaltung und wird durch die polizeiliche Tätigkeit nicht angetastet. Dementsprechend kann die Polizei eine wichtige Ergänzungsfunktion zum Schutze der Menschenwürde ausüben, keinesfalls aber das Sozialhilferecht in seinem Anwendungsbereich verdrängen 148. Ist bereits eine Obdachlosigkeit eingetreten, d. h. liegt ein Aufenthalt im Freien ohne die Verfügung über eine Unterkunft vor, so dürfte im Hinblick auf die Menschenwürde nicht nur eine Gefahr vorliegen, sondern angesichts der eingetretenen Minderung des Rechts bereits eine Störung zu bejahen sein 149 . ff)

Gefährdung des Rechts auf eheliches und familiäres Zusammenleben

Handelt es sich um ein Ehepaar oder eine Familie, so ist auch eine Gefährdung des durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützten Ehe- und Familienlebens denkbar. Aus Art. 6 Abs. 1 GG folgt ein Grundrecht in all seinen Funktionen: Die Norm gewährleistet zum einen eine Institutsgarantie 150 sowie eine wertentscheidende Grundsatznorm 151, aber nach überwiegender Auffassung auch ein Freiheitsrecht, welches gegen nicht gerechtfertigte Eingriffe in den Schutzbereich von Ehe und Familie schützt152. Der Schutzbereich erfaßt neben der Freiheit der Eheschließung und der Familiengründung dabei nach allgemeiner Ansicht auch das Recht auf eheliches und familiäres Zusammenleben153 und gewährleistet insofern einen geschlossenen, 147

So auch Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 28. Vgl. näher zum Verhältnis der Zuständigkeit der Sozialhilfebehörden und der Polizeibehörden unten 1. Teil, 3. Abschn., B, II. 149 Vgl. zur Definition des Begriffs der Störung näher DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, § 13, 1, S.220; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr.65; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 279. 150 Vgl. hierzu BVerfGE 76, 49f.; Gröschner, in: Dreier, GG, Art. 6, Rdnr. 19; SchmittKammler, in: Sachs, GG, Art. 6, Rdnr. 27; E. M. v. Münch, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 6, Rdnr. 9; zu Instituts- und Einrichtungsgarantien des Grundgesetzes ausführlich Stern, Staatsrecht, Bd.III/1, S.751 ff. 151 Vgl. BVerfGE 6, 55, 72f.; 24, 119, 135; 31, 58, 67ff.; Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 6, Rdnr. 6; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 6, Rdnr. 1; Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 6, Rdnr. 8; Schmitt-Kammler, in: Sachs, GG, Art. 6, Rdnr. 27; E.M. v.Münch, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 6, Rdnr. 19. 152 Vgl. BVerfGE 80, 81, 82; Gröschner, in: Dreier, GG, Art. 6, Rdnr. 20; Schmitt-Kammler, in: Sachs, GG, Art.6, Rdnr.20ff.; E.M. v.Münch, in: v.Münch/Kunig, GG, Art.6, Rdnr. 12. 153 Siehe näher BVerfGE 31,58,67; 33,236,238; 66,84,94; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 6, Rdnr. 3; Schmitt-Kammler, in: Sachs, GG, Art. 6, Rdnr. 20. 148

*

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

gegen den Staat abgeschirmten Autonomie- und Lebensbereich 154. Handelt es sich somit um ein subjektives Recht, so muß auch dieses konsequenterweise zu den Schutzgütern der öffentlichen Sicherheit gezählt werden. Bei einem unfreiwilligen Verweilen eines Ehepaares bzw. einer Familie unter freiem Himmel erscheint das durch Art. 6 Abs. 1 GG geschützte Recht auf eheliches bzw. familiäres Zusammenleben insofern beeinträchtigt, als ein Rückzug ins Private nicht mehr möglich ist und somit der staatlich garantierte Autonomie- und Lebensbereich tangiert ist. Bezüglich der genannten Personengruppen ist daher auch im Hinblick auf Art. 6 Abs. 1 GG eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit zu bejahen155. c) Freiwillige Obdachlosigkeit als Gefährdung subjektiver Rechte? Neben dem bisher diskutierten Fall der unfreiwilligen Obdachlosigkeit, die meist Folge einer zivilrechtlichen Zwangsräumung ist, gibt es ebenso Fälle, in denen das Leben ohne Unterkunft der Überzeugung oder Lebensphilosophie einer Person entspricht oder Folge einer Entwicklung ist, die in Resignation und Selbstaufgabe mündet. Zu denken ist in diesem Zusammenhang an Nichtseßhafte wie Weltenbummler, Vagabunden oder sog. „Land- und Stadtstreicher". Insbesondere in Großstädten entscheiden sich gerade zahlreiche jüngere Menschen für ein Leben ohne Obdach als alternative Lebensform. Fraglich erscheint, ob auch hinsichtlich dieser in der polizeirechtlichen Terminologie als sog. „freiwillige Obdachlose" bezeichneten Personen eine Gefährdung subjektiver Rechte und damit eine polizeiliche Zuständigkeit angenommen werden kann. Da die Obdachlosigkeit in diesem Fall gerade Ausdruck des Willens des Betreffenden ist, käme hier nur ein polizeiliches Einschreiten im Wege des Eingriffs in Betracht. Es stellt sich mithin das insbesondere in grundrechtsdogmatischer Hinsicht diskutierte Problem des Schutzes einer Person gegen sich selbst156. aa) Abgrenzung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Obdachlosigkeit Die Abgrenzung zwischen freiwilliger und unfreiwilliger Obdachlosigkeit ist nach subjektiven Gesichtspunkten vorzunehmen und hängt ausschließlich vom 154 Vgl. BVerfGE 91, 130, 134; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 6, Rdnr. 1; Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6, Rdnr. 8; Schmitt-Kammler, in: Sachs, GG, Art. 6, Rdnr. 20. 155 So auch Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 32; Trockels, BWVPr. 1989,145, 146; wohl auch Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.74: „Darüber hinaus liegt eine Verletzung [...] des Rechts auf Ehe und Familie nahe"; a. A. - allerdings ohne nähere Begründung - Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 14. 156 Vgl. zu dieser Problematik ausführlich Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst; Schwabe, JZ 1998, 66 ff.

. Abschn.: Die polizeiliche Zuständigkeit

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Willen des Betroffenen ab. Entscheidend ist insoweit, ob jemand aufgrund einer selbstbestimmten und rechtlich anzuerkennenden Willensentscheidung ohne Dach über dem Kopf leben will und die damit einhergehenden Gefahren bewußt eingeht 157 . Die Freiwilligkeit muß dabei nachweislich feststellbar sein und tatsächlich vorliegen 158. Nicht überzeugen kann in diesem Zusammenhang die Annahme, daß bei Vorliegen eines vollstreckbaren Räumungstitels schon die fehlende Bemühung des Räumungsschuldners um einen Ersatzwohnraum eine freiwillige Selbstgefährdung mit der Folge des Ausschlusses der polizeilichen Gefahrenabwehrbefugnis 159 bedeutet 160 . Zwar kann die fehlende Bemühung um einen Ersatzwohnraum sich durchaus in zivilrechtlicher Hinsicht insoweit auswirken, als die Gewährung von Vollstrekkungsschutz gem. § 765 a ZPO zu versagen ist 161 . Eine die polizeirechtliche Gefahrenabwehr ausschließende Selbstgefährdung kann jedoch nur dann angenommen werden, wenn die betreffende Person aufgrund eines selbstverantwortlichen, freien Willensentschlusses ohne Dach über dem Kopf leben will und die damit zusammenhängenden Gefahren bewußt eingeht. Eine eventuelle Mitverursachung der Obdachlosigkeit kann jedoch nicht einem freien Willensentschluß zur Gefährdung der eigenen Rechtsgüter gleichgesetzt werden. Wendet sich der Betroffene an die Behörde mit dem Antrag auf Zuweisung einer Unterkunft, so zeigt er gerade damit deutlich, daß die (drohende) Obdachlosigkeit nicht seiner freien Willensentscheidung entspricht. Ebensowenig folgt aus der Nichteinlegung eines möglichen Rechtsbehelfs gegen das Räumungsurteil oder im Rahmen der Zwangsvollstreckung notwendigerweise eine freiwillige Selbstgefährdung 162. Dies gilt unabhängig davon, ob ein eventueller Rechtsbehelf Aussicht auf Erfolg gehabt hätte oder nicht. Die Nichteinlegung eines von vornherein aussichtslosen Rechtsbehelfs kann ohnehin schwerlich als eine freiwillige Selbstgefährdung qualifiziert werden. Doch selbst das - aus welchen Gründen auch immer - verschuldete Unterlassen eines aussichtsreichen Antrags kann nicht einer selbstbestimmten Gefährdung der eigenen Rechtsgüter gleichgesetzt werden. Hinzu kommt, daß es nicht Aufgabe der Polizei sein kann und es deren Anforderungen auch bei weitem überspannen würde, die Erfolgsaussichten eines zivilrechtlichen Rechtsbehelfs zu überprüfen 163. 157

Vgl. VGH Kassel, NVwZ 1992, 503, 504; Reichertl Ruder!Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 315; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 13 ff. 158 Vgl. BVerfGE 58,208,225, welches für einen Suchtkranken eine sorgfältige Prüfung der Freiwilligkeit verlangt. 159 Siehe hierzu sogleich unter 1. Teil, 2. Abschn., A, II, 2, c), bb). 160 So aber Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 10. 161 H. M., vgl. Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 33 m. w. Nachw.; siehe dazu auch unten 3. Teil, B, I, 2, a). 162 Vgl. auch Jochum, in Jochum/Rühle, Polizei- und Ordnungsrecht, E, Rdnr. 93: „Der von Obdachlosigkeit Bedrohte wird bei solcher Untätigkeit trotz der Pflicht, sich für seine Rechte einzusetzen, für sich selbst und seine Rechte eine Gefahr. Darauf muß der Staat unabhängig vom Stand des zivilrechtlichen Verfahrens mit Gefahrenabwehr reagieren". 163 Dies erkennt auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 11, an.

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

Aus dem Umstand, daß die freiwillige Obdachlosigkeit allein vom Willen des Betroffenen abhängt, folgt, daß eine freiwillige Obdachlosigkeit jederzeit in eine unfreiwillige Obdachlosigkeit umschlagen kann 164 . Eine freiwillige Selbstgefährdung ist ab dem Zeitpunkt zu verneinen, ab dem eine Person ihr Leben nicht mehr im Freien verbringen will und somit eine Gefährdung der eigenen Rechtsgüter nicht mehr in Kauf nimmt. Beantragt somit ein Nichtseßhafter bei der Gemeinde die Zuweisung eines Wohnraums und manifestiert somit nach außen hin den fehlenden Willen, das Leben weiterhin im Freien zu verbringen, so ist die polizeiliche Gefahrenabwehrbefugnis eröffnet. Zutreffend führt insoweit der VGH Kassel im Rahmen einer einstweiligen Anordnung eines Obdachlosen auf Gewährung einer Unterkunft aus: „Für den Anordnungsgrund ist dabei grundsätzlich unerheblich, auf wessen Verschulden' der Verlust der bisherigen Unterkunft oder die eingetretene Obdachlosigkeit zurückzuführen ist. Unerheblich ist insoweit auch, daß sich der Ast. erst nach einiger Zeit der Obdachlosigkeit mit der Bitte um Unterbringung an die Ag. gewandt hat. [...] Entscheidend ist allein, daß der Ast. jedenfalls nicht mehr ohne Obdach sein wollte 165 ". Ist allein die autonome Willensentscheidung maßgeblich, bleibt es der Person, der bereits eine Unterkunft zugewiesen wurde, umgekehrt unbenommen, aus dieser wieder auszuziehen und in die freiwillige Obdachlosigkeit überzugehen166. bb) Selbstgefährdung Handlungsfreiheit

als Ausdruck allgemeiner i. S. d. Art. 2 Abs. 1 GG

Fraglich ist, ob ein (belastendes) polizeiliches Einschreiten auch im Fall freiwilliger Obdachlosigkeit zulässig ist. Weitgehend anerkannt ist, daß der polizeiliche Individualschutz seine Grenzen in Art. 2 Abs. 1 GG findet, der jedem das Recht auf freie Selbstentfaltung einräumt, soweit er nicht die Rechte anderer verletzt und nicht gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder das Sittengesetz verstößt. Die durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte freie Entfaltung der Persönlichkeit, wenn man sie mit der herrschenden Meinung im Sin164

So VGH Kassel, NVwZ 1992,503,504; implizit auch OVG Lüneburg, NVwZ 1992,502, 503; siehe auch Ehmann, Obdachlosigkeit, S. 21; ReichertlRuder!Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 315; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 20; wenig überzeugend hingegen Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 12, nach der die Erklärung eines Obdachlosen, nunmehr ein Obdach zu wünschen, obwohl er durch sein Verhalten eine billige Inkaufnahme der Obdachlosigkeit dokumentiere (Anm.: Wann soll eine derartige Dokumentation vorliegen?) als widersprüchlich und unbeachtlich anzusehen sein soll. Die Äußerung, nunmehr eine Unterkunft zu wünschen, ist freilich einziges äußerliches Indiz einer nun nicht mehr bestehenden freiwilligen Gefährdung der eigenen Rechtsgüter. 165 Vgl. VGH Kassel, NVwZ 1992, 503, 504. 166 So zutreffend Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 20.

. Abschn.: Die polizeiliche Zuständigkeit

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167

ne einer allgemeinen Handlungsfreiheit versteht , sowie das allgemeine Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG i.V. m. Art. 1 Abs. 1 GG) schließen in gewissen Grenzen auch die Befugnis ein, die eigenen Rechtsgüter wie z. B. die Gesundheit zu gefährden oder zu verletzen 168. Tatsächlich wäre es mit dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht, welches durch die zentralen Grundrechtsrechtsnormen des Art. 1 Abs. 1 GG und Art. 2 Abs. 1 GG gewährleistet wird, nicht vereinbar, dem Bürger durch staatliche Behörden vorzuschreiben, was er im Interesse des Eigenschutzes zu tun hat 169 . Ein Eingriff in dieses Recht ist nur durch überwiegende Gründe des Allgemeinwohls legitimiert 170 , welche aber in den Fällen ausschließlicher Selbstgefährdungen, ohne daß Dritt- oder Allgemeininteressen berührt werden, gerade nicht vorliegen 171. Rechtsdogmatisch kann dieses Ergebnis mit einer verfassungskonformen Auslegung des polizeilichen Gefahrentatbestands begründet werden. Tatbestandlich wird dem zumeist dadurch Rechnung getragen, daß das öffentliche Interesse an der Gefahrenabwehr, welches teilweise explizit normiert ist (vgl. § 1 Abs. 1 bwPolG), sich aber auch sonst aus dem Begriff der öffentlichen Sicherheit ergibt, in Fällen ausschließlicher Selbstgefährdung verneint wird 172 . Entschließt sich somit eine Person freiwillig, als Nichtseßhafter ohne Dach über dem Kopf leben zu wollen und geht sie somit die damit einhergehenden Gefahren für ihre Gesundheit bewußt ein, so ist dies Ausdruck der durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützten allgemeinen Handlungsfreiheit, die mangels berührter Allgemeininteressen eine polizeiliche Gefahrenabwehr im Regelfall ausschließt173. 167 So die st. Rspr. des BVerfG seit dem Elfes-Urteil, vgl. nur BVerfGE 6, 32, 36; BVerfG, NJW 1994, 1578; aus der Literatur ausführlich Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 112ff.; Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S.78f.; Kunig, in v. Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rdnr. 12ff. 168 Vgl. BVerwGE 82, 45, 48 f.; VGH Mannheim, VB1BW 1999, 101, 104; ausführlich Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S.75ff. m. w. Nachw. auch zur Persönlichkeitskerntheorie; aus der polizeirechtlichen Literatur z. B. DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, § 14, S.231; Frotscher, DVB1. 1976, 695,701; Martens, DÖV 1976, 457, 459 f.; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 34; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 274. 169 So BVerwGE 82, 45, 49. 170 BVerfGE 58, 225. 171 Vgl. VGH Mannheim, VB1BW 1998, 25 (Tauchverbot am Teufelstisch im Bodensee); Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 21; ErichsenlBiermann, Jura 1998, 371, 373; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnm. 104ff.; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 34; Schoch, JuS 1994, 570, 573; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 274. 172 Vgl. Erichsenl Biermann, Jura 1998,371,373; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 64f.; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 33; Schoch, JuS 1994, 570, 573. 173 Allgemeine Auffassung; vgl. z.B. VGH Mannheim, VB1BW 1996, 233; NVwZ-RR 1995,328; OVG Lüneburg, NVwZ 1992,503,504; VGH Kassel, NVwZ 1992,502; BelzIMußmann, PolG BW, § 1, Rdnr. 38; Eckstein, VB1BW 1994, 306; Erichsenl Biermann, Jura 1998,

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

Ist somit geklärt, daß gegen die freiwillige Obdachlosigkeit nicht aufgrund einer Gefährdung der eigenen Gesundheit polizeilich eingeschritten werden kann, ist damit aber noch nicht die Frage beantwortet, ob die Polizei nicht unter dem Aspekt der Gefährdung der Menschenwürde im Hinblick auf deren Unverzichtbarkeit 174 eingreifen kann. Dies anzunehmen hieße freilich im Ergebnis, ein Recht des Staates zu bejahen, den einzelnen von würdelosem Verhalten abzubringen bzw. es notfalls zu verbieten. Das Problem läßt sich allgemein mit dem Stichwort „Würdeschutz gegen sich selbst^ 15" umschreiben. Das BVerwG hat in seinem vielbeachteten eep-ShowUrteil 176" eine derartige Eingriffsbefugnis des Staates bejaht. Es geht dabei davon aus, daß die zur Schau gestellte Frau durch die Art und Weise der Darbietung erniedrigt und dadurch in ihrer Menschenwürde verletzt werde. 177 Aufgrund seiner verfassungsrechtlichen Schutzpflicht sei der Staat in einem solchen Falle gehalten, die mit der Rechtsanwendung gegebenen Möglichkeiten zur Abwehr eines solchen Angriffs auszuschöpfen 178. Die Verletzung der Menschenwürde werde nicht dadurch ausgeräumt oder gerechtfertigt, daß die in der Peep-Show auftretende Frau freiwillig handele. Die Würde des Menschen sei ein objektiver, unverfügbarer Wert, auf dessen Beachtung der einzelne nicht wirksam verzichten könne 179 . Vielmehr müsse die Menschenwürde wegen ihrer über den einzelnen hinausreichenden Bedeutung auch gegenüber der Absicht des Betroffenen verteidigt werden, seine vom objektiven Wert der Menschenwürde abweichenden subjektiven Vorstellungen durchzusetzen180. Überträgt man diese Argumentation auf den Fall der freiwilligen Obdachlosigkeit, so wäre auch hier aufgrund der Unverzichtbarkeit der Menschenwürde eine polizeiliche Eingriffsbefugnis zu bejahen. Zu Recht ist das Urteil des BVerwG indes überwiegend auf Ablehnung gestoßen 181 . In der Tat erscheint es bereits äußerst zweifelhaft, bei einem auf einem freien 371, 373; Friauf, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Rdnr. 35, Fn. 106; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 64 f.; ReichertlRudertFröhler, Polizeirecht, Rdnr. 315; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 17; Schenke, Polizeiund Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 34; Schioer, DVB1. 1989, 739, 745; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 10; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 316b. 174 H. M., vgl. etwa BVerfGE 45, 187, 229; BVerwGE 64, 274, 279; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 86 m. w. Nachw.; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 106; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 1, Rdnr. 12; Robbers, JuS 1985,925,929. 175 Vgl. Dreier, in: Dreier, GG, Art. 1, Rdnr. 90. ]76 BVerwGE 65, 274ff.; ausführlich zu dieser Entscheidung Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 104 ff. 177 BVerwGE 64, 274, 279. 178 BVerwGE 64, 274, 278. 179 BVerwGE 64, 274, 279 m. w. Nachw. 180 BVerwGE 64, 274, 280. ,81 Mit unterschiedlichen Begründungen ablehnend z.B. OVG Hamburg, GewArch 1985, 125; GewArch 1987, 298, 299; Dreier, in: Dreier, GG, Art. 1, Rdnr. 91; DrewslWackelVogel/ Martens, Gefahrenabwehr, § 16, 3, b), S.257; Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatli-

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Willensentschluß beruhenden Verhalten die Menschenwürde überhaupt als tangiert anzusehen. Denn Menschenwürde ist keine absolute Größe, sondern äußert sich in erster Linie in Selbstbestimmung und Autonomie 182 . Menschenwürde ist daher auch dann vorhanden, wenn der einzelne die Möglichkeit freier Selbstgestaltung zur Selbsterniedrigung gebraucht, denn gerade die Möglichkeit der freien Selbstgestaltung und die Freiheit, selbst die maßgebliche Instanz für die Bestimmung der eigenen Würde zu bilden, ist wesentlicher Bestandteil des Menschenwürdebegriffs 183. Es erschiene äußerst problematisch und mit dem der Menschenwürde innewohnenden Autonomiebegriff nicht vereinbar, wenn der Staat dem einzelnen seine Vorstellung darüber aufdrängen könnte, ob seine eigene Menschenwürde durch ein bestimmtes freiwilliges Verhalten tangiert wird. Eine „Menschenwürdepflicht" ist mithin nicht anzuerkennen184. Die Argumentation des BVerwG ist darüber hinaus auch in grundrechtsdogmatischer Sicht großen Bedenken ausgesetzt. Würde die Menschenwürde beschworen, um den einzelnen durch einen Eingriff in die individuelle Selbstbestimmung gleichsam vor sich selbst zu schützen, hieße das im Ergebnis, das dem Grundgesetz immanente Grundrechtsverständnis zu verkehren: Aus einer Freiheitsverbürgung gegenüber staatlichen Eingriffen würde somit eine Eingriffsbefugnis des Staates, mit Hilfe dessen er staatliche oder gesellschaftliche Vorstellungen von menschenunwürdigem Verhalten durchsetzen könne, ohne daß dies, wie bei den nachfolgenden Grundrechten, anhand der Beschreibung von Grundrechtstatbestand und Grundrechtsschranke erkennbar wäre 185 . Dieser grundrechtliche Befund zeigt, daß ein polizeiliches Einschreiten gegen den Willen des freiwillig Obdachlosen auch unter dem Gesichtspunkt der Menchen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 189ff., Gusy, DVB1. 1982, 984ff.; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 104ff.; Höfling, NJW 1983, 1582, 1584; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 1, Rdnr. 36; Littwin, Grundrechtsschutz gegen sich selbst, S.94ff.; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 45; Stober, NJW 1984, 2499, 2500; v. Olshausen, NJW 1982, 2221 ff.; Würkner, NVwZ 1988, 600. 182 Vgl. Dreier, in: Dreier, GG, Art. 1, Rdnr. 91; Drews/Wacke/VogellMartens, Gefahrenabwehr, § 16, 3, b), S. 257; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 88 ff.; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 1, Rdnr. 34; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr.45; v.Olshausen, NJW 1982, 2221, 2222. 183 Dreier, in Dreier, GG, Art. 1, Rdnr. 91; Drews/Wacke/VogellMartens, Gefahrenabwehr, § 16, 3, b), S. 257; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1, Rdnr. 21; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S. 89 f.; Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 192; kritisch Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 105, der der Ansicht ist, unsittliches oder unwürdiges Verhalten könne nicht vom unbedingten Anspruch auf Achtung des personalen Eigenwerts erfaßt sein, da sonst der Begriff der Menschenwürde seines positiven Gehalts beraubt sei. Hier drängt sich allerdings der Verdacht eins Zirkelschlusses auf, da gerade in Frage steht, wann ein Verhalten als „unwürdig" einzustufen ist. 184 So Blankenagel, KJ 1987, 379, 385. 185 Vgl. Drews/Wacke/Vogell Martens, Gefahrenabwehr, § 16, 3, b), S.257; Fischer, Die Zulässigkeit aufgedrängten staatlichen Schutzes vor Selbstschädigung, S. 191; Geddert-Steinacher, Menschenwürde als Verfassungsbegriff, S.89; Höfling, NJW 1983, 1582, 1584.

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

schenwlirde nicht zulässig ist. Auch insoweit muß daher das öffentliche Interesse an einer polizeilichen Gefahrenabwehr verneint werden.

cc) Grenzen der Selbstgefährdung durch den in Art. 2 Abs. 2 S.l GG gewährleisteten Schutz des Lebens und der körperlichen Integrität Das durch die allgemeine Handlungsfreiheit gewährleistete Recht der freien Selbstbestimmung und das diesem innewohnende Recht der Gefährdung der eigenen Rechtsgüter findet allerdings seine Grenzen. Die Möglichkeit polizeilichen Einschreitens und damit der Ergreifung staatlicher Zwangsmaßnahmen zum Schutz gegen sich selbst wird von der überwiegenden Meinung in Rechtsprechung und Literatur dann bejaht, wenn ein Fall akuter Lebensgefährdung vorliegt, was insbesondere im Fall des Suizidversuchs, aber auch dann angenommen wird, wenn ein Verhalten mit an Sicherheit grenzender oder jedenfalls hoher Wahrscheinlichkeit zum Tode führen wird 186 . Die dogmatische Begründung für diese im Ergebnis zutreffende These ist durchaus unterschiedlich. Früher wurde teilweise eine polizeiliche Gefahr unter dem Gesichtspunkt der öffentlichen Ordnung bejaht 187 ; andere Autoren argumentieren, Art. 2 Abs. 1 GG gewährleiste nur die Entfaltung, nicht aber die Zerstörung der eigenen Persönlichkeit, so daß ein selbstgefährdendes Verhalten, welches zu einer akuten Lebensbedrohung führt, nicht vom Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG erfaßt sei 188 . Diese Begründungsansätze sehen sich aber jeweils starken Zweifeln ausgesetzt. So kann der Rückgriff auf die öffentliche Ordnung schon deshalb nicht überzeugen, weil es letztlich um den Schutz des betreffenden Menschenlebens geht und nicht um den Schutz der öffentlichen Ordnung. Zutreffend ist deshalb dieser Ansatz als „Verkehrung der Werte" angesehen worden 189 . Die Auffassung, die die Selbstzerstörung nicht unter den Schutzbereich des Art. 2 Abs. 1 GG subsumieren will, sieht sich dem Einwand ausgesetzt, daß es sich hierbei um eine Variante der sog. „Persönlichkeitskerntheorie" handelt, die von der Grundrechtsgarantie des Art. 2 Abs. 1 GG nur wertvolle, die geistige und sittliche Anlagen des Menschen entfalten186 Vgl. VG Karlsruhe, NJW 1988,1536ff.; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 14, S.230; Frotscher, DVB1.1976,695,702; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 109; Martens, DÖV 1976,457,459; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 34; Wolf/Stephan, PolG BW, § 1, Rdnr. 52; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 274. 187 So noch Drews, Preußisches Polizeirecht, S. 15. 188 So VG Karlsruhe, JZ 1988,208,209; Frotscher, DVB1. 1976,695,702; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 109; ähnlich Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 274. 189 So Götz, Allgemeines Polizeirecht, 11. Aufl., Rdnr. 100; ablehnend auch Drews/Wacke/ Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 14, S.230; Hill gruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 86; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 137.

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de Verhaltensweisen erfaßt sieht . Indes hat das BVerfG seit dem ,JElfes-Urteil m" in ständiger Rechtsprechung einer derartigen Einschränkung des Schutzbereichs eine Absage erteilt. Eine überzeugende Begründung für die im Ergebnis richtigerweise bejahte Möglichkeit staatlichen Einschreitens im Falle der akuten Lebensbedrohung bietet m. E. folgender Ansatz: Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG gewährt das Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit. Wie jedes Grundrecht gewährleistet Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG nicht nur ein Abwehrrecht, sondern verpflichtet auch den Staat, seinerseits das Leben und die körperliche Unversehrtheit seiner Staatsbürger zu schützen192. Gefährdet nun ein Bürger seine körperliche Integrität bzw. sein Leben , so entsteht eine Kollision zwischen der aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgenden staatlichen Schutzverpflichtung und dem aus Art. 2 Abs. 1 GG folgenden Abwehrrecht des einzelnen, die nach der Wertigkeit der betroffenen Rechtsgüter im Verfassungsgefüge aufzulösen ist 193 . Aufgrund des zentralen Gewichts, welches dem allgemeinen Persönlichkeitsrecht in der Verfassung zukommt, ist grundsätzlich ein Vorrang des sich aus der Selbstbestimmung ergebenden Rechts der Selbstgefährdung anzuerkennen194. Lediglich im Ausnahmefall hat dieses Recht zugunsten der staatlichen Schutzverpflichtung zurückzutreten. Ein Vorrang der Schutzpflicht ergibt sich aufgrund der überragenden staatlichen Aufgabe, das menschliche Leben zu schützen, grundsätzlich dann, wenn eine akute Lebensgefahr besteht195. Ob dies auch im Fall eines eindeutig und unzweifelhaft auf einer freiwilligen Entscheidung beruhenden Freitodes oder eines sogenannten Bilanzselbstmordes gilt, ist starken Bedenken ausgesetzt196, muß hier aber nicht entschieden werden, da kaum davon ausgegangen werden kann, daß sich der - etwa aufgrund extremer Witterungsverhältnisse - einer Lebensgefahr aussetzende freiwillige Obdachlose aufgrund reiflicher Überlegung freien Willens dazu entschlossen hat, seinem Leben ein Ende zu setzen. Im Hinblick auf die in der Regel gegebene Unerkennbarkeit der Motive der eigenen Lebensgefährdung sowie den bei Verletzung der staatlichen Schutzpflicht eintretenden irreparablen Schaden ist daher bei einer akuten Lebensgefährdung des Obdachlosen grundsätzlich eine poli190

So Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 83 f. BVerfGE 6, 32 ff. 192 St. Rspr. des BVerfG, vgl. z.B. BVerfGE 39, 1, 36ff.; 45, 187, 254f.; 46, 160, 164f., 49, 89, 141 f.; 53, 30, 57f.; 56, 54,73; 77, 170, 214; 77, 381,402f.; 79, 174, 201 f.; 85, 191, 212; 88, 203, 251; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 Abs. 2, Rdnr.47. 193 Ähnlich BVerwGE 82,45,49 ff.; in diese Richtung gehend auch Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rdnr. 50; Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 89 f.; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 274. 194 Vgl. BVerwGE 82, 45, 49. 195 Ebenso BVerwGE 82, 45, 49; im Ergebnis - mit unterschiedlicher Begründung auch -Erichsen!Biermann, Jura 1998,371,373; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 34; WürtenbergerlHeckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 274. 196 Vgl. hierzu ausführlich Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 86 ff.; kritisch auch Lisken/Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, 2. Aufl., D, Rdnr. 15. 191

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

zeiliche Eingriffsbefugnis zu bejahen197. Ein Vorrang der staatlichen Schutzverpflichtung und damit eine polizeiliche Eingriffsbefugnis ergibt sich auch dann, wenn die Selbstgefährdung nicht aufgrund eines freien, autonomen Willensentschlusses erfolgt ist 198 , was beispielsweise bei Kindern und Jugendlichen, die die Tragweite ihrer Entscheidung nicht überblicken können, aber auch bei einem sonstigen Ausschluß der freien Willensbestimmung, etwa durch Alkohol- oder Drogenkonsum, der Fall ist. Zwar umfaßt die Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG grundsätzlich auch diesen Fall, jedoch muß in die Abwägung das Schutzbedürfnis dessen, der die Risiken seines Handelns nicht überblicken kann, einbezogen werden, so daß sich in diesen Fällen ein Übergewicht der staatlichen Schutzpflicht aus fürsorgerischen Gesichtspunkten ergeben kann 199 . Auf den Fall der Obdachlosigkeit übertragen bedeutet dies, daß eine polizeiliche Eingriffsbefugnis auch bei freiwilliger Obdachlosigkeit dann besteht, wenn sich z. B. aufgrund extremer Witterungsbedingungen eine akute Lebensgefährdung für den Obdachlosen ergibt. Ebenso ist eine solche bei minderjährigen Obdachlosen sowie dann zu bejahen, wenn sich der Obdachlose z. B. aufgrund eines überhöhten Drogen- oder Alkoholkonsums in einem seinen freien Willen ausschließenden Zustand befindet 200. Aufgrund des Vorrangs der staatlichen Schutzverpflichtung besteht insoweit ein öffentliches Interesse an der Gefahrenabwehr. Allerdings kommt eine Wohnungszuweisung als polizeiliche Eingriffsmaßnahme gegenüber dem Obdachlosen in diesen Fällen nicht in Betracht 201. Denn selbst wenn man der Wohnungszuweisung insoweit einen belastenden Charakter zuspricht, als diese auch die Verpflichtung enthält, die Unterkunft zu beziehen202, so fehlt es an der Geeignetheit einer solchen Maßnahme zur Abwehr der konkreten Gefährdung. Denn unzweifelhaft verpflichtet auch eine Wohnungszuweisung mit Bezugsverpflichtung den Obdachlosen nicht dazu, sich ständig in den Räumlichkeiten aufzuhalten, so daß eine Lebensgefährdung bei extremen Witterungsverhältnissen oder eine Gesundheitsgefährdung bei Ausschluß der freien Willensbestimmung hierdurch nicht verhindert werden könnte. Dem Obdachlosen bliebe es nämlich auch unter Zugrundelegung der Verpflichtung zum Bezug der Unterkunft selbstverständ197 Zutreffend insoweit Hillgruber, Der Schutz des Menschen vor sich selbst, S. 90; Mußmann:, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 173. 198 BVerwGE 82, 45, 49; im Ergebnis auch Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 373; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 173; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 34. 199 Vgl. Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 373; Frotscher, DVB1. 1976, 695, 701. 200 Ebenso Eckstein, VB1BW 1994, 306,307; Erichsen!Biermann, Jura 1998,371, 373; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.65f.; Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 354; Reichertl Ruder! Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 315; Schioer, DVB1. 1989, 739, 745. 201 Dies wird zumeist nicht erkannt, wenn bei der Lebensgefährdung des Obdachlosen von einer polizeilichen Eingriffsbefugnis ausgegangen wird. 202 Vgl näher zum Inhalt der Wohnungszuweisungsverfügung unten 2. Teil, 2. Abschn., A.

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lieh unbenommen, diese während der Tag- oder auch Nachtstunden nicht zu nutzen und sich somit weiterhin der Gefährdung seiner Rechtsgüter auszusetzen. Geeignete polizeiliche Maßnahme zur Abwehr einer akuten Lebensgefahr bzw. Gesundheitsgefahr bei Ausschluß der freien Willensbestimmung ist insoweit vielmehr die Ingewahrsamnahme von Personen (vgl. § 28 Abs. 1 Nr. 2 lit. b und c bwPolG; § 13 Abs. 1 Nr. 1 MEPolG) 203 . Kinder und Jugendliche, die die Tragweite ihrer Entscheidung in der Regel nicht überblicken können, müssen vom Jugendamt gem. § 42 Abs. 3 SGB VIII in Obhut genommen werden, wenn eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes oder des Jugendlichen die Inobhutnahme erfordert. Bei psychisch erkrankten obdachlosen Personen ist des weiteren eine Unterbringung nach den Unterbringungsgesetzen der Länder denkbar 204.

B. Die sachliche und örtliche Zuständigkeit der Polizeibehörden I. Die sachliche Zuständigkeit Für die Durchführung von Maßnahmen der Obdachlosenunterbringung sind grundsätzlich die Gemeinden als Ortspolizeibehörden sachlich zuständig (§§ 60 Abs. 1, 62 Abs. 4 S. 1, 66 Abs. 2 bwPolG). Der Polizeivollzugsdienst nimmt gemäß § 60 Abs. 2 bwPolG die polizeilichen Aufgaben wahr, wenn ein sofortiges Tätig werden erforderlich erscheint, also eine sog. Gefahr im Verzug besteht. Eine derartige Zuständigkeit des Polizeivollzugsdienstes, die nach der Rechtsprechung dann bejaht wird, wenn ein Abwarten bis zum Einschreiten der an sich zuständigen Behörde den Erfolg der notwendigen Maßnahme - also die Beseitigung der Gefahr für die öffentliche Sicherheit - erschweren oder vereiteln würde 205 , wird bzgl. der Obdachlosensachverhalte nur in Ausnahmefällen anzuerkennen sein, etwa bei Brand- oder Katastrophenfällen 206. Die sachliche Zuständigkeit der Gemeinde als Ortspolizeibehörde zur Unterbringung besteht auch dann, wenn es sich bei der von Obdachlosigkeit betroffenen Person um einen Ausländer handelt207. Unerheblich ist dabei der ausländerrechtliche Status des Betroffenen oder der Grund des Aufenthalts in der Bundesrepublik. 203

So auch ErichsenlBiermann, Jura 1998, 371, 374. Vgl. z.B. das Gesetz über die Unterbringung psychisch Kranker in Baden-Württemberg (bwUBG) in der Fassung v. 2.12.1991 (GBl. S. 794), zuletzt geändert am 3.7.1995 (GBl. S.510). 205 VGH Mannheim, VB1BW 1990, 300, 301. 206 So Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 24; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 49. 207 VGH Mannheim, DVB1. 1996, 569, 570; OVG Bremen, DÖV 1994, 221; VGH München, BayVBl. 1995, 503; Bernerl Köhler, PAG, Art. 11, Rdnr. 10; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 51. 204

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

Selbst ein nach ausländerrechtlichen Maßstäben illegaler Aufenthalt im Bundesgebiet ändert nichts an der Verpflichtung der Gemeinde zur Bereitstellung einer Unterkunft 208 . Besonderheiten ergeben sich lediglich im Hinblick auf Asylbewerber, deren Verfahren noch nicht abgeschlossen ist. Insoweit hält das AsylVfG besondere Regelungen für die Unterbringung bereit, die dem allgemeinen Polizeirecht als leges speciales vorgehen 209.

II. Die örtliche Zuständigkeit Mangels einschlägiger Spezialregelungen ist gem. § 68 Abs. 1 S. 2 bwPolG jene Polizeibehörde örtlich zuständig, in deren Polizeibezirk die polizeiliche Aufgabe wahrzunehmen ist 210 . Entscheidend ist hierbei, ob die polizeilich zu schützenden Interessen innerhalb eines Dienstbezirks gefährdet oder verletzt werden 211. Im Hinblick auf die Unterbringung Obdachloser ist richtiger Auffassung zufolge die Ortspolizeibehörde, in deren Zuständigkeitsbereich sich der Obdachlose tatsächlich aufhält und die Unterbringung begehrt, örtlich zuständig212. Nicht überzeugen kann hingegen die teilweise vertretene Ansicht, daß diejenige Polizeibehörde zuständig ist, in deren Zuständigkeitsbereich wegen Verlusts der bisherigen Wohnung die Obdachlosigkeit eingetreten ist, auch wenn sich der Obdachlose im Bezirk der dortigen Polizeibehörde nicht mehr aufhält 213. Denn die polizeirechtlich relevante und abzuwehrende Gefahr liegt nicht in dem in der Vergangenheit liegenden Eintritt der Obdachlosigkeit und wirkt sich lediglich in Bezirk des letzten Wohnsitzes aus. Sie liegt vielmehr in der weiterhin bestehenden Dauerbeeinträchtigung für die Gesundheit und die Menschenwürde des Betroffenen. Da sich die genannten Gefahren in der Person des Obdachlosen verwirklichen, sind sie daher an den jeweiligen Aufent208

Vgl. VGH Mannheim, DVB1. 1996, 569, 570; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 51. Eine davon zu trennende Frage ist freilich, ob eine bestehende Obdachlosigkeit zu ausländerrechtlichen Maßnahmen führen kann. Gem. §48 Nr. 5 AuslG kann beispielsweise ein Ausländer dann abgeschoben werden, wenn er längerfristig obdachlos ist. Nach § 7 Abs. 2 AuslG ist die Verlängerung einer Aufenthaltsgenehmigung regelmäßig zu versagen, wenn sie ihren Lebensunterhalt nur dadurch ohne Inanspruchnahme von Sozialhilfe bestreiten können, daß sie über Jahre hinweg auf Kosten der Allgemeinheit in einer Obdachlosenunterkunft wohnen, vgl. VGH Mannheim, VB1BW 1988, 68. 209 Siehe ausführlich hierzu unten 1. Teil, 3. Abschn., A. 210 So oder ähnlich auch die Formulierung in den meisten anderen Landesrechten, vgl. hierzu näher m. w. Nachw. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 259. 2,1 Wölfl Stephan, PolG BW, § 68, Rdnr. 3. 212 VGH Mannheim, NVwZ-RR 1996,439; VGH Kassel, ES VGH Bd. 42,158; VG Hannover, NVwZ-RR 1991,148,149f.; NVwZ-RR 1991,257,258; Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 29; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 58; Wölfl Stephan, PolG BW, § 68, Rdnr. 3; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 316c. 213 So aber VG Meiningen, ThürVBl. 1995, 212; wohl auch VGH München, BayVBl. 1995, 503; BayVBl. 1995, 729, 730-jeweils unter Zugrundelegung des einschlägigen Landesrechts.

3. Abschn.: Die Abgrenzung der polizeilichen Zuständigkeit

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214

haltsort des Betroffenen gebunden . Aus der Vorschrift des § 3 Abs. 1 Nr. 3 a LVwVfG, wonach bei Angelegenheiten, die eine natürliche Person betreffen, die Behörde, in deren Bezirk die natürliche Person ihren gewöhnlichen Aufenthalt hat oder zuletzt hatte, zuständig ist, läßt sich eine Zuständigkeit der Polizeibehörde des Bezirks, in dem die Obdachlosigkeit eingetreten ist, ebenfalls nicht ableiten, da die Regelung des § 68 Abs. 1 S. 2 bwPolG bezüglich der örtlichen Zuständigkeit von Polizeibehörden spezieller ist und der allgemeinen Regelung des § 3 LVwVfG vorgeht 215 . Gegen die Annahme einer Zuständigkeit der Ortspolizeibehörde des jeweiligen Aufenthaltsorts des Obdachlosen läßt sich auch nicht einwenden, daß sie zu einer unerwünschten Überlastung weniger Gemeinden, insbesondere solcher, in denen sich Beratungs- oder Betreuungseinrichtungen befinden oder die in sonstiger Hinsicht eine Anziehungskraft auf Obdachlose ausüben, führt 216 . Dies mag zwar zutreffen, kann aber nicht zu einer Korrektur der insoweit eindeutigen Rechtslage führen. Insoweit wäre es Sache des Gesetzgebers, diesen Belastungen de lege ferenda im Rahmen seiner Gesetzgebungskompetenz Rechnung zu tragen 217. Dritter Abschnitt

Die Abgrenzung der polizeilichen Zuständigkeit zur Unterbringung Obdachloser zur Zuständigkeit anderer Behörden A. Die Unterbringung Obdachloser nach dem AsylVfG Besonderheiten ergeben sich für die Unterbringung von Obdachlosigkeit bedrohter Asylbewerber, deren Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Gemäß § 44 Abs. 1 AsylVfG sind die Länder verpflichtet, für die Unterbringung von Asylbegehrenden die erforderlichen Aufnahmeeinrichtungen zu schaffen. Gemäß § 47 Abs. 1 AsylVfG sind Ausländer, die ihren Asylantrag bei einer Außenstelle des Bundesamts zu stellen haben, verpflichtet, bis zu sechs Wochen, längstens jedoch bis zu drei Monaten, in der für ihre Aufnahme zuständigen Aufnahmeeinrichtung zu wohnen. Die Verteilung der Asylbewerber innerhalb der Länder erfolgt dann nach den Vorschriften der §§ 50 ff. AsylVfG. Gemäß § 50 Abs. 2 AsylVfG wird die Landesregierung ermächtigt, durch Rechtsverordnung die Verteilung zu regeln, soweit dies 214 Vgl. auch VG Hannover, NVwZ-RR 1991, 148, 150. A.A. VG Meiningen (ThürVBl. 1995,212), welches - ohne Begründung - auf den erstmaligen Eintritt dieser Gefahren abstellt. 215 Vgl. Wolf!Stephan, PolG BW, § 68, Rdnr. 1; siehe auch VG Hannover, NVwZ-RR 1991, 257, 258. 216 So die Argumentation der Gemeinde als Antragsgegnerin im Beschluß des VG Hannover, NVwZ-RR 1991, 257, 258. 217 So auch VG Hannover, NVwZ-RR 1991, 257, 258.

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

nicht durch Landesgesetz geregelt ist 218 . Asylbewerber, die nicht mehr verpflichtet sind, in einer Aufnahmeeinrichtung zu wohnen 219 , sollen von den Gemeinden in der Regel in Gemeinschaftsunterkünften untergebracht werden. Die Errichtung derartiger Gemeinschaftsunterkünfte für Asylbewerber durch die Gemeinden ist allerdings gesetzlich nicht vorgeschrieben. Die Gemeinden sind lediglich zur Aufnahme der ihnen zugewiesenen Flüchtlinge verpflichtet; wie sie dieser Verpflichtung nachkommen, entscheiden sie indes in eigener Verantwortung 220. Sie können daher neben der Möglichkeit der Unterkunftserrichtung in eigener Regie auch auf vorhandene Räume zurückgreifen oder sich der Hilfe nichtstaatlicher Personen oder Organisationen bedienen221. Bei der Unterbringung in einer Gemeinschaftsunterkunft i. S. d. § 53 AsylVfG handelt es sich um eine durch die zuständige Ausländerbehörde nach Maßgabe des § 60 Abs. 2 AsylVfG angeordnete Unterbringung, die von einer Unterbringung durch die Polizeibehörde auf polizeirechtlicher Grundlage zu unterscheiden ist 222 . Die Vorschrift des § 60 Abs. 2 AsylVfG ermächtigt die Ausländerbehörde, den Asylbewerber zu verpflichten, in einer bestimmten Gemeinde oder bestimmten Unterkunft zu wohnen (Nr. 1), in eine bestimmte Gemeinde oder bestimmte Unterkunft umzuziehen und dort Wohnung zu nehmen (Nr. 2) oder in dem Bezirk einer anderen Ausländerbehörde desselben Landes Aufenthalt und Wohnung zu nehmen. Der Ausländerbehörde stehen mit der Möglichkeit der Verpflichtung des Asylbewerbers zum Bezug einer Unterkunft mithin Befugnisse zu, die der Polizeibehörde nach der hier vertretenen Auffassung nicht zustehen223. Anders als bei der polizeirechtlichen Unterbringung deutscher Staatsangehöriger, die den Schutz des nur durch einen qualifizierten Gesetzesvorbehalt einschränkbaren Art. 11 GG genießen, bestehen gegen die Verpflichtung eines ausländischen Staatsangehörigen zur Nutzung einer bestimmten Unterkunft keine verfassungsrechtlichen Bedenken224. Zwar wird auch deren Recht auf Freizügigkeit nach überwiegender Auffassung durch Art. 2 Abs. 1 GG als Ausdruck der allgemeinen Handlungsfreiheit geschützt225, jedoch weist 218 Vgl. für Baden-Württemberg das Gesetz über die Aufnahme und Unterbringung von Flüchtlingen vom 24.11.1997 (GBl. S.465). 219 Vgl. §§48,49 AsylVfG. 220 Es handelt sich daher um eine Pflichtaufgabe ohne Weisung, vgl. hierzu BVerwG, DVB1. 1990,1066,1068; Glauben, DÖV 1994, 821 ff. Vgl. allgemein zum Begriff der Pflichtaufgabe der gemeindlichen Selbstverwaltung Reichert/Baumann, Kommunalrecht, Rdnr. 61 ff. 221 Vgl. Kanein!Renner, AuslR, §53 AsylVfG, Rdnr. 9. 222 Hailbronner, in: Hailbronner, AuslR, § 60 AsylVfG, Rdnr. 9; Marx, AsylVfG, § 53, Rdnr. 5, Kanein!Renner, AuslR, § 53 AsylVfG, Rdnr. 11. 223 Siehe ausführlich zur Unzulässigkeit der Verpflichtung eines Obdachlosen, eine bestimmte Unterkunft zu beziehen unten 2. Teil, 2. Abschn., A, II, 2. Wie hier im Ergebnis auch OVG Bremen, DÖV 1994, 221; Hailbronner, in: Hailbronner, AuslR, §60 AsylVfG, Rdnr. 9. 224 Vgl. zur verfassungsrechtlichen Problematik der Verpflichtung zum Bezug einer Wohnung im Hinblick auf Art. 11 GG näher unten 2. Teil, 2. Abschn., A, II, 2. 225 BVerfGE 35,382,399; BVerwG, DVB1.1997,165,167; BeckmannlWiethoff, DÖV 1991, 722,725; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 11, Rdnr.45; Isensee, VVDStRL Bd. 32

3. Abschn.: Die Abgrenzung der polizeilichen Zuständigkeit

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Art. 2 Abs. 1 GG als personales Auffanggrundrecht angesichts der weit gezogenen Schrankentrias einen geringeren Grundrechtsschutz auf, als ihn Art. 11 GG für Deutsche bietet 226 . Bei der verpflichtenden Unterbringung von Asylbewerbern während des laufenden Asylverfahrens handelt es sich aber um eine insbesondere im Hinblick auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip nicht zu beanstandende Maßnahme und daher um eine verfassungsgemäße Einschränkung des Grundrechts 227. Fraglich erscheint, wie sich die Zuständigkeit der Ausländerbehörde zur Unterbringung von Asylbewerbern zur Zuständigkeit der allgemeinen Polizeibehörden verhält. Grundsätzlich handelt es sich bei den Regelungen hinsichtlich der Unterbringung von Asylbewerbern im AsylVfG um leges speciales, die die Zuständigkeit der allgemeinen Polizeibehörden verdrängen 228. Ist nach den Vorschriften des AsylVfG eine Unterbringung erfolgt, so fehlt es mangels (drohender) Obdachlosigkeit an einer Gefahr, die ein Einschreiten der Polizei begründen könnte. Ist eine Unterbringung nach den rechtlichen Instrumentarien des AsylVfG jedoch nicht gewährleistet, was angesichts der defizitären Wohnraumversorgungslage in den Städten keine Seltenheit ist 229 , und ist daher der Asylbewerber von Obdachlosigkeit betroffen oder bedroht, so kommt subsidiär eine Anwendung der polizeirechtlichen Regelungen unter Zuständigkeitseröffnung der allgemeinen Polizeibehörden in Betracht 230 . Der Rückgriff auf das allgemeine Polizeirecht ist in Fällen nicht gewährleisteter Unterbringung in Gemeinschaftsunterkünften insbesondere deshalb von besonderer praktischer Bedeutung, weil dieses Ermächtigungsgrundlagen zum Eingriff in Rechte Dritter bereithält und somit eine Beschlagnahme von privatem Wohnraum ermöglicht 231 . Das Asylverfahrensrecht dürfte aber auch in diesem Fall als spezielleres Recht ergänzend zum allgemeinen Polizeirecht heranzuziehen sein 232 . So kommt auch bei der Beschlagnahme von privatem Wohnraum durch die zuständige Polizeibehörde eine auf der Grundlage des § 60 Abs. 2 AsylVfG angeordnete Verpflichtung der Unterkunftsnahme seitens der Ausländerbehörde in Bei l 974), 49, 80 f.; Krüger, in: Sachs, GG, Art. 11, Rdnr. 11; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 11, Rdnr. 9; Pernice, in: Dreier, GG, Art. 11, Rdnr. 18; Randelzhofer, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 11, Rdnr.91 f.; a. A. Erichsen, Jura 1987, 367, 369f.; v.Mutius, Jura 1988, 30, 33. 226 Vgl. Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 11, Rdnr. 45. 227 Vgl. Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 89; im Ergebnis auch OVG Bremen, DÖV 1994,221,222. Siehe zur Verfassungsgemäßheit der räumlichen Beschränkung der Aufenthaltsgestattung für Asylbewerber auch BVerfG, DVB1. 1997,895 f.; vgl. auch BVerfG, BayVBl. 1998, 112f.; BVerwGE 100, 335, 343ff. 228 Ygi Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.92. 229

Siehe auch KaneinlRenner, AuslR, § 53 AsylVfG, Rdnr. 6, wonach die Beschaffung von Wohnraum für Asylbewerber oft erhebliche Schwierigkeiten bereitet. 230 OVG Bremen, DÖV 1994, 221; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 92; a. A. wohl VGH München, BayVBl. 1995, 503, 504, der eine Pflicht der Ortspolizeibehörde zur Unterbringung obdachloser Asylbewerber grundsätzlich ablehnt. 231 Vgl. OVG Bremen, DÖV 1994, 221. 232 Wohl auch OVG Bremen, DÖV 1994, 221; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 92. 5 Reitzig

1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

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tracht . Hat die Ausländerbehörde tatsächlich eine solche Anordnung getroffen, so darf nach der Rechtsprechung des OVG Bremen die Polizeibehörde dieser Maßnahme nicht entgegenwirken 234.

B. Obdachlosigkeit und Sozialhilferecht Nicht nur das Polizeirecht, sondern auch das Sozialhilferecht stellt Regelungsinstrumentarien zur Verhütung und Bekämpfung von Obdachlosigkeit zur Verfügung, deren Verhältnis zu den polizeirechtlichen Regelungen nach wie vor ungeklärt ist 235 . So ist in der Literatur immer wieder versucht worden, die polizeiliche Zuständigkeit zur Unterkunftsverschaffung zugunsten der Kompetenzen der Sozialhilfebehörden zu verdrängen. Bevor auf das umstrittene Verhältnis von Sozialhilfe- und Polizeirecht näher eingegangen wird, soll zunächst das sozialhilferechtliche Anspruchssystem einer kurzen Darstellung unterzogen werden.

I. Rechtsgrundlagen im Sozialhilferecht Nach § 1 Abs. 2 S. 1 BSHG ist es die „Aufgabe der Sozialhilfe [...], dem Empfänger die Führung eines Lebens zu ermöglichen, das der Würde des Menschen entspricht". Gem. § 8 Abs. 1 BSHG sind Formen der Sozialhilfe dabei die persönliche Hilfe, die Geldleistung sowie die Sachleistung. §4 Abs. 2 BSHG bestimmt, daß über die Form und das Maß der Sozialhilfe nach pflichtgemäßem Ermessen zu entscheiden ist, soweit das Gesetz das Ermessen nicht ausdrücklich ausschließt; ein Rangverhältnis zwischen den einzelnen Formen der Sozialhilfe besteht demgemäß nicht 236 . 1. Persönliche Hilfe Gem. § 8 Abs. 2 BSHG umfaßt die persönliche Hilfe außer der Beratung in Fragen der Sozialhilfe auch die Beratung in sonstigen sozialen Angelegenheiten, soweit letztere nicht von anderen Stellen oder Personen wahrzunehmen ist. Darüber hinaus ist unter persönlicher Hilfe die auch die persönliche Betreuung, die Beistandschaft und die helfende Beziehung zu verstehen 237. In Obdachlosenfällen kommt dieser persönlichen Hilfe insoweit Bedeutung zu, als der Sozialhilfeträger bei der Beschaffung einer Wohnung für den Hilfeempfänger beratend und unterstützend tätig wer233

OVG Bremen, DÖV 1994, 221. OVG Bremen, DÖV 1994, 221; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 92. 235 So auch Götz, NVwZ 1994, 652, 658: „Das Verhältnis des polizeirechtlichen Schutzanspruches (gegen die Gemeinde) zu den sozialhilferechtlichen Ansprüchen (gegen den Landkreis) erscheint noch als klärungsbedürftig. 236 Vgl. auch BVerwGE 72, 354, 355; VGH Kassel, NJW 1994,471. 237 Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, § 8, Rdnr. 6; GottschickIGiese, BSHG, § 8, Rdnr. 7. 234

3. Abschn.: Die Abgrenzung der polizeilichen Zuständigkeit

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den kann, wozu sich in Einzelfällen aufgrund einer Ermessensreduzierung auch eine Pflicht ergibt 238 . 2. Geldleistung Geldleistungen sind an den Empfänger ausgezahlte Geldbeträge oder ihm gewährte geldwerte Berechtigungsausweise, die als endgültige Leistungen, aber auch als Darlehen gewährt werden können239. Hauptanwendungsfall ist hier die Hilfe zum Lebensunterhalt gem. § 11 Abs. 1 BSHG, auf die ein Anspruch besteht, wenn der notwendige Lebensunterhalt nicht oder nicht ausreichend aus eigenen Kräften und Mitteln beschafft werden kann 240 . Gem. § 12 Abs. 1 S. 1 BSHG umfaßt der notwendige Lebensunterhalt dabei auch die Unterkunft. § 15 a Abs. 1 BSHG regelt, daß Hilfe zum Lebensunterhalt auch bei NichtVorliegen der genannten Voraussetzungen gewährt werden kann, wenn dies zur Sicherung der Unterkunft gerechtfertigt ist; sie soll gewährt werden, wenn sie gerechtfertigt und notwendig ist und ohne sie Wohnungslosigkeit einzutreten droht. Eine in diesem Zusammenhang wichtige Norm bildet auch § 15 a Abs. 2 BSHG, nach der das Gericht bei Eingang einer Räumungsklage bei Vorliegen gewisser Voraussetzungen unverzüglich dem zuständigen Träger der Sozialhilfe Mitteilung zu machen hat 241 . Sinn der Vorschrift ist es, in diesen Fällen eine Übernahme der Mietkosten durch den Sozialhilfeträger zu ermöglichen, um eine erfolgreiche Räumungsklage des Vermieters im Vorhinein zu verhindern. Gem. § 22 Abs. 2 BSHG i.V. m. § 3 Abs. 1 S. 1 Regelsatzverordnung (RSVO) sind laufende Leistungen für die Unterkunft in Höhe der tatsächlichen Aufwendungen zu gewähren. Dies geschieht in der Regel durch die Übernahme der Miete durch den Sozialhilfeträger 242. Soweit die Aufwendungen für die Unterkunft den der Besonderheit des Einzelfalls angemessenen Umfang übersteigen, sind sie gem. § 3 Abs. 1 S. 2 RSVO so lange anzuerkennen, als eine Senkung der Kosten durch einen Wohnungswechsel, durch Vermieten oder auf andere Weise nicht möglich oder nicht zuzumuten ist. Die Angemessenheit der Kosten einer Unterkunft bestimmt sich dabei zum einen nach der Zahl der Familienangehörigen, ihrem Alter und ihrem Gesundheitszustand sowie zum anderen - ausgehend von den ermittelten Verhältnissen des Hilfesuchenden - nach der Zahl der vorhandenen Räume, dem örtlichen Mietniveau und den Möglichkeiten des örtlichen Wohnungsmark238

Vgl. Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, §8, Rdnr. 18. Vgl. Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, § 8, Rdnr. 8 ff.; Fichtner, in: Fichtner, BSHG, § 8, Rdnr. 8. 240 Beim Begriff des „notwendigen Lebensunterhalts" handelt es sich dabei um einen unbestimmten Rechtsbegriff, der der vollen gerichtlichen Überprüfung unterliegt; vgl. BVerwGE 69, 177, 180 f. 241 Vgl. zur Mitteilungspflicht der Gerichte gem. § 15 a Abs. 2 BSHG Schulte, NVwZ 1997, 957, 959. 242 Vgl. Wenzel, in: Fichtner, BSHG, § 12, Rdnr. 8 ff. 239

5*

1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

68 243

tes . Nach § 3 Abs. 1 S. 5 RSVO können auch Wohnungsbeschaffungskosten und Mietkautionen bei vorheriger Zustimmung übernommen werden. Zu den vom Sozialhilfeträger zu übernehmenden Kosten zählt auch die bei Zuweisung von Räumlichkeiten in einer gemeindlichen Obdachlosenunterkunft fällige öffentlichrechtliche Nutzungsgebühr 244. 3. Sachleistung Sachleistungen sind Leistungen der Sozialhilfe, die dem Hilfeempfänger nicht in der Form des Bargelds, sondern unmittelbar in der Form des zu befriedigenden Bedarfs zukommen245. In diesem Zusammenhang stellt sich die umstrittene und für das Verhältnis von Sozialhilfe- und Polizeirecht durchaus relevante Frage, ob der Obdachlose bzw. der von Obdachlosigkeit Bedrohte gegen den Sozialhilfeträger einen Anspruch auf Zurverfügungstellung einer Wohnung als Sachleistung hat. Die Literaturstimmen, die für einen Vorrang des Sozialhilferechts bei der Zuweisung von Wohnraum an Obdachlose plädieren, halten einen solchen Anspruch grundsätzlich für möglich 246 . Sie argumentieren vorwiegend damit, daß § 8 Abs. 1 BSHG ausdrücklich die Sachleistung als Form der Sozialhilfe benennt. Zwar räume § 4 Abs. 2 BSHG dem Sozialhilfeträger grundsätzlich ein Ermessen bezüglich der Form der Hilfegewährung ein; eine Ermessensreduzierung sei aber dann gegeben, wenn der Obdachlose mit den Geldmitteln der Sozialhilfe nicht in der Lage ist, aus eigener Kraft einen Wohnraum zu finden 247. Noch weitergehend meinen Steinmeier/Brühl, daß die Ermessensreduzierung bereits aus der Vorschrift des § 3 Abs. 2 BSHG folge, wonach Wünschen des Hilfesuchenden zu entsprechen ist, soweit sie angemessen sind, was bei dem Wunsch auf Bereitstellung einer Wohnung zu bejahen sei 248 . Um seiner Verpflichtung auf Verschaffung einer Wohnung nachzukommen, habe der Sozialhilfeträger entsprechende Vorsorge zu treffen; eine solche Vorsorgepflicht ergebe sich aus § 17 Abs. 1 Nr. 2 SGB I i.V. m. § 93 Abs. 1 BSHG 249 . 243 Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, § 12, Rdnr. 14f.; vgl. auch Wenzel, in: Fichtner, BSHG, § 12, Rdnr. 8 ff.; BVerwGE 72, 88, 89. 244 Vgl. BVerwG, NJW 1996, 1838; VGH München, ZfSH 1963, 283; Gottschick/Giese, BSHG, § 12, Anm.3.2; Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 376; Wenzel, in: Fichtner, BSHG, § 12, Rdnr. 28; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.46; SchellhornlJirasek/Seipp, BSHG, § 3 RegelsatzVO, Rdnr. 4. 245 Schellhorn!Jirasek/Seipp, BSHG, § 8, Rdnr. 11. 246 Vgl. Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 104ff.; Steinmeier/ Brühl, KJ 1989,275,287 ff.; Münzenberg, Die moderne Auslegung des Polizeirechts, S. 157 ff., 235 ff.; Brühl, Rechtliche Hilfen für Obdachlose, S.57. 247 Vgl. Brühl, ZfF 1991,49 ff.; Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 107; tendenziell auch Schmidt, NVwZ 1995, 1041, 1045, der allerdings meint, daß der Sozialhilfeträger die Bereitstellung einer Wohnung als Sachleistung dann verhindern könnte, wenn er auch höhere Unterkunftskosten, z.B. in Pensionen oder Hotels, übernimmt; vgl. auch Kunkel, NDV 1994, 225 ff. 248 Vgl. Steinmeier/Brühl, KJ 1989, 275, 290; vgl. auch Brühl, ZfF 1991, 49, 50. 249 Vgl. Steinmeier/Brühl, KJ 1989, 275, 291.

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Auch der VGH Kassel hat in einem Beschluß vom 10.1.1986 unter engen Voraussetzungen einen Anspruch gegen den Sozialhilfeträger auf Zuweisung einer Wohnung bejaht. Hiernach sei in Fällen des § 72 BSHG, in denen Personen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten Hilfe zu gewähren ist, das grundsätzlich bestehende Ermessen über die Art der Hilfe als Sachleistung oder auf andere Weise „ausnahmsweise dann auf Null reduziert, wenn dem Hilfesuchenden in Anbetracht seiner besonderen Lage nur durch die Bereitstellung einer für den Träger der Sozialhilfe verfügbaren Wohnung die Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht werden kann 251 ". Anderer Ansicht zufolge ist hingegen ein Anspruch gegen den Träger der Sozialhilfebehörde auf Bereitstellung einer Wohnung grundsätzlich ausgeschlossen252. So führt beispielsweise der VGH Mannheim 253 aus, daß sich aus § 22 BSHG i.V. m. § 3 RSVO ergebe, daß zwar laufende Leistungen für die Unterkunft gewährt werden, aber eine Verpflichtung zur Verschaffung einer Unterkunft nicht bestehe. Zudem wird auf den Wortlaut der Vorschrift des § 72 Abs. 2 BSHG verwiesen, wonach in Fällen von Personen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten die sozialbehördlicherseits zu leistende Hilfe Maßnahmen „bei der Erhaltung und Beschaffung einer Wohnung" umfasse, nicht aber die Beschaffung einer Wohnung selbst254. Richtigerweise dürfte ein Anspruch eines Sozialhilfeempfängers auf Bereitstellung einer Wohnung als Sachleistung allenfalls in Ausnahmefällen anzuerkennen sein. Ein gebundener Anspruch kann sich zunächst nicht aus § 11 Abs. 1 S. 1 i.V. m. § 12 Abs. 1 S. 1 BSHG ergeben. Auch wenn § 12 Abs. 1 S. 1 BSHG statuiert, daß der notwendige Lebensunterhalt auch die Unterkunft umfaßt, ergibt sich doch aus dem Regelungszusammenhang mit § 3 Abs. 1 RSVO, welcher den Umfang der Hilfe zum Lebensunterhalt näher konkretisiert, daß das Vorhandensein einer Unterkunft vorausgesetzt ist und dementsprechend die Sicherung einer Unterkunft im Rahmen der Hilfe zum Lebensunterhalt nach § 11 Abs. 1 S. 1 BSHG nur über die Übernahme der Unterkunftskosten erfolgt 255 . Zwar kann nach § 8 Abs. 1 BSHG die Sozialhilfe auch in der Form der Sachleistung erbracht werden, so daß grundsätzlich auch die unmittelbare Bereitstellung 250

VGH Kassel, FEVS 35, 417 ff. Vgl. VGH Kassel, FEVS 35,417,421; in diese Richtung auch VGH Kassel, NJW 1994, 471; vgl. auch OVG Lüneburg, info also 1992, 31; für vertretbar hält diese Ansicht VG Hannover, NVwZ-RR 1991, 257, 258; allerdings zieht das Gericht daraus nicht die Konsequenz, daß das Polizeirecht verdrängt wird; für eine Verpflichtung zur Verschaffung einer Wohnung in Ausnahmefällen auch Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 131 f.; SchellhornlJirasek/Seipp, BSHG, § 12, Rdnr. 15 c. 252 So insbesondere VGH Mannheim, FEVS 43, 470ff.; OVG Saarlouis, FEVS 37, 242ff.; grundsätzlich auch Schmitt, BSHG, § 12 , Rdnr. 9; vgl. auch Sbresny, ZfF 1981, 269 f.; kritisch auch Hesse-Schiller, ZfF 1991, 157; Wenzel, in: Fichtner, BSHG, § 12, Rdnr. 27. 253 VGH Mannheim, FEVS 43, 470, 472. 254 So VGH Mannheim, FEVS 43, 470, 472; Sbresny, ZfF 1981, 269f. 255 So zutreffend VGH Kassel, NJW 1994, 471. 251

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einer Wohnung als Sozialhilfeleistung denkbar ist. Das insoweit gem. § 4 Abs. 2 BSHG bestehende Ermessen des Sozialhilfeträgers hinsichtlich der Form der Hilfegewährung dürfte aber nur in Ausnahmefällen derart auf Null reduziert sein, daß alle anderen Entscheidungen als die, den Unterkunftsbedarf des Hilfsbedürftigen durch die unmittelbare Bereitstellung einer Wohnung zu decken, rechtswidrig wären. Eine Ermessensreduzierung läßt sich entgegen der Auffassung von Steinmeier/ Brühl 256 jedenfalls in der Regel nicht aus § 3 Abs. 2 S. 1 BSHG ableiten. Dies ergibt sich bereits aus der Norm des § 3 Abs. 2 S. 3 BSHG, wonach Wünschen nicht entsprochen zu werden braucht, wenn sie mit unverhältnismäßigen Mehrkosten verbunden sind. Verfügt der Sozialhilfeträger nicht über freie Wohnungen, müßte er durch Bau oder Anmietung Wohnungen vorhalten, was zu unkalkulierbaren Vorhaltekosten führen würde, zumal zu bedenken ist, daß die Dauer der Sozialhilfeberechtigung nicht vorhersehbar ist und die Möglichkeit besteht, daß der Sozialhilfeempfänger jederzeit wieder aus der Wohnung auszieht257. Auch aus der Norm des § 17 Abs. 1 Nr. 2 SGB I kann ein Anspruch auf Bereitstellung einer Wohnung nicht folgen, da diese Vorschrift kein subjektives Recht gewährt 258. Schließlich wäre die Anerkennung einer Ermessensreduzierung dergestalt, daß grundsätzlich ein Anspruch auf Bereitstellung eines konkreten Wohnraums besteht, auch nicht mit der Zielsetzung des Bundessozialhilferechts vereinbar. Ziel der Sozialhilfe ist es gem. § 1 Abs. 2 BSHG zwar, dem einzelnen ein menschenwürdiges Leben zu ermöglichen. Andererseits läßt sich kaum sagen, daß sich aus dem Menschenwürdepostulat ergibt, daß die Hilfegewährung ausschließlich durch die dauerhafte Bereitstellung einer Wohnung erfolgen kann 259 . Zum einen gehört ebenso zur Würde des Menschen die Möglichkeit, im Rahmen der zustehenden Mittel die Bedarfsdekkung frei zu gestalten260; zum anderen ist es sicher nicht Aufgabe der Sozialverwaltung, jedes persönliche Lebensrisiko abzunehmen261. Der schwierigen Situation auf dem Wohnungsmarkt sind aber auch Nichtsozialhilfeempfänger ausgesetzt. Die Würde des Menschen gebietet es jedenfalls nicht, Sozialhilfeempfänger anders als die übrige Bevölkerung von den Schwierigkeiten der Wohnungssuche völlig zu entlasten262. 256

Steinmeier/Brühl, KJ 1989, 275, 290; vgl. auch Brühl, ZfF 1991, 49, 50. So zutreffend VGH Kassel, NJW 1994, 471. 258 Vgl. VGH Kassel, NJW 1994, 471; Schellhorn, in: Burdenksi/v. Maydell/Schellhom, GK-SGB, AT, § 17, Rdnr.6; Rode, in: Bochumer Kommentar, SGB-AT, § 17, Rdnr.2. 259 Hier liegt kein Widerspruch zu der These vor, daß das Fehlen jeglicher Unterkunft eine Gefährdung der Menschenwürde als Schutzgut der öffentlichen Sicherheit darstellt. Denn eine den sozialhilferechtlichen Maßstäben genügende Wohnung geht über die Anforderungen hinaus, die an eine Unterkunft, die polizeirechtlichen Maßstäben genügt, zu stellen sind. Anders formuliert fordert das Menschenwürdepostulat zwar das Vorhandensein irgendeiner menschenwürdigen Unterkunft, nicht aber eine wohnmäßige Unterbringung, vgl. dazu sogleich. 260 Vgl. BVerwGE 72, 354, 357. 261 Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, § 1, Rdnr. 13. 262 Vgl. VGH Kassel, NJW 1994, 471. 257

3. Abschn.: Die Abgrenzung der polizeilichen Zuständigkeit

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Eine Ermessensreduzierung dahingehend, daß ein Anspruch des Hilfsbedürftigen auf Bereitstellung einer konkreten Wohnung besteht, dürfte allenfalls in Einzelfällen dann anzunehmen sein, wenn besondere Defizite in der Person des Hilfsbedürftigen vorliegen und dementsprechend die Übernahme von Unterkunftskosten oder die persönliche Hilfe und Beratung nicht ausreicht, um einen bestehenden Wohnbedarf zu decken, die betreffende Person also aus eigener Kraft nicht in der Lage ist, eine Wohnung zu finden und nur durch die Zurverfügungstellung einer Wohnung eine Teilnahme am Leben in der Gemeinschaft ermöglicht werden kann 263 . Solche Personen sind als Personen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten insbesondere von der Norm des § 72 BSHG erfaßt. Nach § 1 Abs. 2 S. 1 1. Alt. DVO zu § 72 BSHG 264 fallen hierunter auch Personen mit fehlender oder nicht ausreichender Wohnung265. Zur Verschaffung und Vorhaltung von genügend Wohnraum, etwa durch Ankauf oder Anmietung ist der Sozialhilfeträger jedenfalls nicht verpflichtet 266. Eine solche Verpflichtung ergibt sich entgegen teilweiser vertretener Auffassung auch nicht aus § 17 Abs. 1 Nr. 2 SGB I i.V. m. § 93 Abs. 1 BSHG, wonach die Leistungsträger verpflichtet sind, darauf hinzuwirken, daß die zur Ausführungen von Sozialleistungen erforderlichen sozialen Einrichtungen ausreichend zur Verfügung stehen. Denn der Begriff der sozialen Einrichtung erfaßt vor allem anstaltsartige Institutionen, die dem fürsorgespezifischen Bedarf und einer besonderen fürsorgespezifischen Betreuung dienen; Wohnungen sowie auch Obdachlosenunterkünfte dienen aber lediglich einer allgemeinen Zweckbestimmung und können demgemäß nicht unter den Begriff der Einrichtung subsumiert werden 267.

II. Verdrängung des Polizeirechts durch das Sozialhilferecht? Ausgehend von der Annahme, daß es die Pflicht der Sozialhilfebehörden sei, bei Obdachlosigkeit eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen, ist immer wieder ver263 Ebenso auch VGH Kassel, FEVS 35,417,420f.; NJW 1994,471; für vertretbar hält dies auch VG Hannover, NVwZ-RR 1991, 257, 258; vgl. auch Hammel Anspruch von Obdachlosen auf Erhaltung und Beschaffung von Wohnraum, S.49f.; Kunkel, NDV 1994, 225, 228 ff.; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 131 f.; Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, § 12, Rdnr. 15c; Spannowsky, BWVPr. 1991, 197, 198f.; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.23f.; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 316a. 264 Verordnung zur Durchführung des §72 des Bundessozialhilfegesetzes vom 24.1.2001 (BGB1.I, S. 179). 265 Von einem Vorrang der persönlichen Beratung und der persönlichen Unterstützung geht dabei offensichtlich auch die Vorschrift des § 4 Abs. 1 DVO zu § 72 BSHG aus. 266 v g l Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 24; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 316 a. 267 Schellhorn/Jirasek/Seipp, BSHG, §93, Rdnr. 13; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 51 f.; a. A. Gottschick/Giese, BSHG, § 93, Rdnr. 5; ohne nähere Begründung auch Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S.45; Steinmeier/ Brühl, KJ 1989, 275, 291.

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

sucht worden, die polizeibehördliche Zuständigkeit zur Abwehr von Obdachlosigkeit zugunsten der Kompetenzen der Sozialhilfebehörden zu verdrängen. Ausgangspunkt der Diskussion war ein Aufsatz von Franz mit dem insoweit aussagekräftigen Titel „Obdachlose sind Hilfsbedürftige und nicht Störer 268 ". Nach Franz beruht die Zuordnung des Obdachlosenrechts zum Polizeirecht auf „fossilen Leitvorstellungen aus der Zeit vor Inkrafttreten der Reichsfürsorgeverpflichtungsverordnung vom 13.2.1924, als Armut noch für eine Störung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung gehalten und demzufolge mit den Mitteln des Polizeirechts bekämpft wurde 269 ". Dieses System staatlicher Armenfürsorge sei hingegen überholt und auf dem Gebiet der Sozialhilfe sei eine Tätigkeit der Polizeibehörden ausgeschlossen. Besonders deutlich haben auch Steinmeier/Brühl 210 für eine Verdrängung des Polizeirechts zugunsten des Sozialhilferechts plädiert. Sie führen aus, daß mit Blick auf die Vielschichtigkeit der soziostrukturellen Ursachen Obdachlosigkeit nicht in die Regelungsmaterie des Polizeirechts passe, welches sich nur an den Kategorien von Gebot und Verbot orientiere 271. Seit der Entscheidung des BVerwG vom 24.6.1956 sei anerkannt, daß Fälle der sozialen Notlagen keine Frage der staatlichen Gefahrenabwehr sei, sondern als individueller Rechtsanspruch gegen die Fürsorgebehörden zu begreifen sei 272 . Nachdem die repressiven Mechanismen der traditionellen Armenfürsorge allmählich schwänden, sei die „Befreiung der Obdachlosen aus den Klauen des Polizeirechts unausweichlich273". Es sei vielmehr ausschließlich das Sozialhilferecht anzuwenden, aus dem sich ein konkreter Anspruch des Obdachlosen auf Bereitstellung einer Wohnung ergebe. In diese Richtung gehend argumentieren auch andere Autoren. So erscheint nach Gusy unfreiwillige Obdachlosigkeit eher als ein Unterfall des § 72 BSHG als des Polizeirechts 274. Auch nach Eichert besteht ein Anspruch auf Bereitstellung einer konkreten Unterkunft nach dem BSHG; nach seiner Auffassung schreite die Polizeibehörde aber vorläufig ein, um diesen Anspruch zu erfüllen 275 . Nach Lübbe besteht zwar eine Zuständigkeit der Polizeibehörden zur Zuweisung von Wohnraum, letztlich sei diese aber gegenüber der Zuständigkeit der Sozialhilfebehörden subsidiär 276. Schließlich plädieren auch Drews/Wacke/Vogel/Martens dafür, die Obdachlosenproblematik aus dem Regime des Rechts der Gefahrenabwehr herauszunehmen und der Sozialverwaltung zuzuweisen277. 268

Franz, DVB1. 1971, 249 ff. Franz, DVB1. 1971, 249, 251. 270 Steinmeier/Brühl, KJ 1989, 275 ff. 271 Steinmeier/Brühl, KJ 1989, 275, 280. 272 Steinmeier/Brühl, KJ 1989, 275, 285. 273 Steinmeier/Brühl, KJ 1989, 275, 287. 274 Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 100. 275 Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 107 ff. Vgl. hierzu schon ausführlich oben 1. Teil, 2. Abschn., II, 2, b), aa). 276 Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.29ff. 277 Drews/Wacke/Vogel/Martens, § 16, 3 c), S.258. 269

3. Abschn.: Die Abgrenzung der polizeilichen Zuständigkeit

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Diesen Auffassungen ist entgegenzutreten. Gegen eine Verdrängung des Polizeirechts zugunsten des Sozialhilferechts spricht bereits die unterschiedliche Zielrichtung beider Rechtsmaterien. Aufgabe des Sozialhilfeträgers ist die Wohnraumsicherung auf Dauer, während es bei der Zuweisung einer Unterkunft auf polizeirechtlicher Grundlage ihrer Natur nach um eine vorübergehende Maßnahme der Gefahrenabwehr geht 278 . Das zeigt sich deutlich am Normengefüge des Sozialhilferechts: Zum einen soll durch präventive Maßnahmen Wohnraumverlust von vornherein verhindert werden. Durch die Übernahme von Mietschulden gem. § 15 a Abs. 1 BSHG - ggf. nach Anzeige durch das Gericht gem. § 15 a Abs. 2 BSHG - soll beispielsweise bereits im Vorfeld der Gefahrentstehung einer erfolgreichen Räumungsklage des Vermieters vorgegriffen werden. Ist Obdachlosigkeit bereits eingetreten, so sieht das BSHG differenzierte Hilfemöglichkeiten vor, hierbei stehen insbesondere materielle Hilfen sowie Hilfe bei der Wohnungssuche im Vordergrund; im Einzelfall kann sich aber - wie dargelegt - auch aufgrund einer Ermessensreduzierung ein Anspruch auf Zuweisung einer konkreten Wohnung ergeben. Daß das Sozialhilferecht im Gegensatz zum Polizeirecht auf eine Unterkunftssicherung auf Dauer gerichtet ist, zeigt sich dabei auch an den gestellten Anforderungen an den Wohnraum. Die Polizei hat nur eine zur Abwendung der unmittelbar aus der Obdachlosigkeit drohenden Gefahren geeignete, zwar menschenwürdige, aber doch nur Mindestanforderungen genügende Unterkunft bereitzustellen 279. Dementsprechend genügen auch etwa Obdachlosenunterkünfte diesen Anforderungen. Sozialhilferechtliche Ansprüche hingegen beziehen sich auf zur dauerhaften Wohnnutzung angelegte und geeignete Räumlichkeiten, so daß hier insgesamt ein höherer Standard zu fordern ist 280 . Daß das Polizeirecht nicht von vornherein gegenüber dem Sozialhilferecht subsidiär ist, zeigt sich auch daran, daß nach sozialhilferechtlichen Normen - anders als nach dem Polizeirecht 281 - nur in Ausnahmefällen ein Anspruch auf Bereitstellung einer konkreten Unterkunft anzuerkennen ist. Hinzu kommt, daß es angesichts einer 278 Vgl. VGH Mannheim, DVB1. 1996, 569f.; NVwZ 1993, 1220; VG Hannover, NVwZ 1991, 257, 258; Eckstein, VB1BW 1994, 306, 307; ErichsenlBiermann, Jura 1998, 371, 374; Hammel, Anspruch von Obdachlosen auf Erhaltung und Beschaffung von Wohnraum, S.65f.; Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 56; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 142, Fn.243; ReichertlRuder!Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 323; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnrn. 128, 135; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 116; Wohlfarth, BayVBl. 1997,420,422; Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 9. 279 So explizit VG Hannover, NVwZ-RR 1991, 257, 258; VGH Mannheim, DVB1. 1996, 569, 570. 280 Vgl. auch OVG Lüneburg, info also 1992,31; VGH Mannheim, VB1BW 1993,229,230; Hammel, Anspruch von Obdachlosen auf Erhaltung und Beschaffung von Wohnraum, S.60f.; wohl auch Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 136. Bezeichnenderweise gehen hiervon auch Steinmeier/Brühl, KJ 1989, 275, 291 aus, wenn sie betonen, daß der Sozialhilfeträger seiner Verpflichtung zur Wohnraumbeschaffung nicht dadurch enthoben sei, daß der Hilfesuchende in einer Obdachlosenunterkunft untergekommen sei. 281 Vgl. zum polizeirechtlichen Anspruch auf Zuweisung einer Unterkunft ausführlich unten 2. Teil, 2. Abschn., B.

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

fehlenden Verpflichtung, Wohnungen vorzuhalten 282, selbst bei Bestehen eines Anspruchs denkbar ist, daß dieser mangels verfügbarem Wohnraum faktisch nicht durchsetzbar ist. Eine Rechtsgrundlage, die zum Eingreifen in Rechte Dritter berechtigt, und insofern einen Zugriff auf privaten Wohnraum ermöglicht, ist im Gegensatz zur polizeirechtlichen Rechtslage im Sozialhilferecht gerade nicht vorhanden 283 . Vor diesem Hintergrund ermöglicht gerade das Polizeirecht einen effektiven Schutz der Grundrechte und dabei insbesondere der Menschenwürde des Obdachlosen, indem es das dafür nötige Instrumentarium auch zum Eingriff in Rechte Dritter zur Verfügung stellt. Zeigt sich somit, daß Polizeirecht und Sozialhilferecht zum einen unterschiedliche Schutzrichtungen haben und zum anderen in den Obdachlosenfällen das Sozialhilferecht nicht in jedem Fall einen effektiven Schutz der Grundrechte der Betroffenen sicherstellen kann, ist der Verweis auf sozialhilferechtliche Normen nicht geeignet, polizeirechtliche Handlungspflichten zu verdrängen. Vielmehr sind beide Normbereiche nebeneinander anwendbar 284. Ist eine Wohnraumversorgung nach sozialhilferechtlichen Normen erfolgt, so entfällt zwar die polizeirechtliche Gefahr, so daß ein polizeiliches Einschreiten nicht mehr in Betracht kommt 285 . Gerade an dem Umstand, daß umgekehrt eine vorläufige polizeirechtliche Unterbringung in einer Notunterkunft den Sozialhilfeträger nicht seiner Pflicht entledigt, eine dauerhafte Wohnraumversorgung sicherzustellen 286, wird jedoch deutlich, daß sich beide Regelungsregimes gegenseitig ergänzen und erst so einen umfassenden Schutz des Obdachlosen schaffen. Fehl geht schließlich auch die Annahme, der Rückgriff auf das Polizeirecht sei anachronistisch, da dessen Zwangsinstrumentarium auf die Überwindung einer sozialen Notlage nicht passe287. Denn auch vom hier vertretenen Standpunkt aus kommt eine polizeiliche „Bekämpfung" der Obdachlosigkeit mit den Mitteln des Zwangs nicht in Betracht 288. Zwar ist der Gegenauffassung zuzugeben, daß früher in 282

Siehe bereits oben 1. Teil, 3. Abschn., B, I, 3. Vgl. auch Eckstein, VB1BW 1994, 306, 306; Spannowsky, BWVPr. 1991, 197. 284 Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 374; Eckstein, VB1BW 1994, 306, 307; Spannowsky, BWVP 1991, 197, 198. 285 Allein insoweit ließe sich von einer Subsidiarität des Polizeirechts sprechen, vgl. auch Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr.316a. 286 Dies wird jetzt auch durch die explizite Regelung des §4 Abs. 3 DVO zu § 72 BSHG bestätigt, wonach Maßnahmen der Gefahrenabwehr den Anspruch auf Hilfe zur Überwindung besonderer sozialer Schwierigkeiten bei der Erhaltung und Beschaffung einer Wohnung unberührt lassen. 287 Vgl. insoweit Steinmeier/Brühl, KJ 1989, 275, 287; Münzenberg, Die moderne Auslegung des Polizeirechts, S. 211 ff.; in diese Richtung gehend auch Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S.86ff. 288 Dies gilt jedenfalls im Hinblick auf die polizeirechtliche Zuweisung einer Unterkunft aufgrund der Gefährdung eigener Individualrechte. Möglich sind freilich Eingriffsmaßnahmen gegen häufig mit Obdachlosigkeit verbundenen Verhaltensweisen, die Rechte anderer gefährden. 283

3. Abschn.: Die Abgrenzung der polizeilichen Zuständigkeit

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der Tat eher der Schutz der Allgemeinheit vor der Obdachlosigkeit in den Vordergrund gestellt wurde, was sich im Begreifen der Obdachlosigkeit als Verstoß gegen die öffentliche Ordnung und damit gegen ein gedeihliches Zusammenleben widerspiegelte. Dementsprechend erfolgte die „Einweisung" des Obdachlosen in eine Unterkunft als belastende Eingriffsmaßnahme. Inzwischen hat sich jedoch in Rechtsprechung und Literatur ein eindeutiger Perspektivenwandel vollzogen. So wird überwiegend Obdachlosigkeit nicht mehr als ein Verstoß gegen die öffentliche Ordnung, sondern vielmehr als Gefährdung der Individualrechte begriffen 289, so daß Ziel der Zuweisung einer Unterkunft nicht der Schutz der Allgemeinheit, sondern allein der Schutz des Obdachlosen selbst ist. Daraus folgt, daß bei freiwilliger Obdachlosigkeit grundsätzlich schon mangels Bestehens eines öffentlichen Interesses kein eingreifendes polizeiliches Einschreiten möglich ist 290 . Ebenso wenig kann aber nach der hier vertretenen Auffassung auch bei unfreiwilliger Obdachlosigkeit eine Verpflichtung zum Bezug der Unterkunft statuiert werden 291. Anachronistisch ist demnach allein die Vermutung, der Obdachlose sei gezwungen, die zugewiesene Unterkunft zu beziehen, was einer Art Zwangseinweisung gleichkäme. Sieht man hingegen allein subjektive Rechte des Obdachlosen und damit die öffentliche Sicherheit in ihrer individualbezogenen Schutzrichtung als betroffen an und faßt man die Zuweisung von Wohnraum als rein begünstigenden Verwaltungsakt auf, der vom Betroffenen angenommen kann, aber nicht muß, so ergibt sich eine auch sonst im Polizeirecht geläufige Konstellation: es werden bei Gefährdung von Individualinteressen Schutzmaßnahmen zugunsten eines Betroffenen ergriffen, auf die dieser im Falle einer Ermessensreduzierung ein materiell subjektives Recht und damit einen Anspruch hat. Wenn Steinmeier/Brühl zur Verdeutlichung der angeblichen Inadäquanz des polizeirechtlichen Regimes in bezug auf soziale Notlagen weiter vortragen, daß bisher auch niemand in der polizeilichen Literatur erwogen habe, Nahrungsmittel für sozial Schwache zu beschlagnahmen292, so kann auch dies freilich nicht überzeugen. Denn bei Nahrungsmitteln handelt es sich um ein jederzeit verfügbares Gut, das mit Geldmitteln erworben werden kann, während es sich bei Wohnraum um ein knappes Gut handelt, so daß zur Überbrückung von Notlagen eine Beschlagnahme unter Umständen unausweichlich werden kann. Im Ergebnis bleibt somit festzuhalten, daß eine Verdrängung des Polizeirechts zugunsten des Sozialhilferechts nicht anzuerkennen ist.

289

Siehe hierzu bereits oben 1. Teil, 2. Abschn., A, I, 2. Vgl. hierzu und zu den Ausnahmen bei Bestehen einer akuten Lebensgefährdung oder Ausschlusses der freien Willensbestimmung ausführlich oben 1. Teil, 2. Abschn., A, II, 2, c), bb) sowie cc). 291 Vgl. hierzu ausführlich unten 2. Teil, 2. Abschn., A, II. 292 Steinmeier/Brühl, KJ 1989, 275, 285. 290

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

Vierter Abschnitt

Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Verantwortlichkeit Maßnahmen zur Gefahrenabwehr sind grundsätzlich gegen den polizeirechtlich Verantwortlichen, der auch Störer genannt wird, zu richten. Verantwortlich sind nach dem allgemeinen Polizeirecht der Verhaltens- und der Zustandsstörer. Verhaltensstörer ist derjenige, der durch sein Verhalten die öffentliche Sicherheit oder Ordnung stört (§ 6 bwPolG; § 4 MEPolG). Geht vom Zustand einer Sache eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung aus, so ist der Eigentümer oder der Inhaber der tatsächlichen Sachherrschaft als Zustandsstörer in Anspruch zu nehmen (§7 bwPolG; §5 MEPolG). Eingriffsmaßnahmen sind jedoch ausnahmsweise auch gegenüber Personen möglich, die polizeirechtlich nicht verantwortlich sind. In einem solchen Fall kommt eine polizeiliche Inanspruchnahme unter den strengen Voraussetzungen des sog. polizeilichen Notstands in Betracht (§ 9 Abs. 1 bwPolG; § 6 Abs. 1 MEPolG). Die Bestimmung der polizeirechtlichen Verantwortlichkeit gehört zu den nach wie vor umstrittensten Problemen des Gefahrenabwehrrechts 293. Ebenso wie in anderen Rechtsgebieten entzündet sich dabei der Streit beim Versuch der Klärung des Begriffs der Verursachung einer Gefahr. So wird bis zum heutigen Tag eine lebhafte Diskussion zur Herausarbeitung geeigneter Zurechnungskriterien geführt 294. Auch im Zusammenhang mit den Obdachlosenfällen hat die Frage nach der polizeirechtlichen Verantwortlichkeit der Beteiligten eine herausragende Bedeutung. So ist nach wie vor äußerst umstritten, ob die von Obdachlosigkeit bedrohte Person als Handlungsstörer im polizeirechtlichen Sinne für die Gefahr verantwortlich ist. Die Diskussion des Problems ist dabei nicht nur in dogmatischer Hinsicht interessant, sondern hat auch durchaus praktische Auswirkungen. So ist der polizeirechtlich Verantwortliche verpflichtet, die im Zusammenhang mit der Gefahrenabwehr bzw. Störungsbeseitigung entstandenen Kosten zu tragen. Insbesondere hinsichtlich der an den Eigentümer zu zahlenden Nichtstörerentschädigung besteht bei Bejahung der Störereigenschaft ein Regreßanspruch gegen den Obdachlosen gem. § 57 bwPolG (§ 50 MEPolG), während die eine Störereigenschaft ablehnende Auffassung hier, will sie nicht - was allgemein als unbillig empfunden wird - die Polizei letztlich mit den Kosten belasten, einen anderweitigen Kostenerstattungsanspruch konstruieren muß 295 . 293

Vgl. Brandner, Gefahrenerkennbarkeit, S. 1. Vgl. hierzu insbesondere Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 20, 3, S.310ff.; Gantner, Verursachung und Zurechnung; Gusy, Polizeirecht, Rdnr.265ff.; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 322ff.; Pietzcker, DVB1. 1984,457 ff.; Schenke, Polizeiund Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 154ff.; SchollerlSchioer, Polizei- und Ordnungsrecht, § 10,1, S.240ff.; Schoch, JuS 1994, 932ff.; neuerdings Muckel, DÖV 1998, 18ff. 295 Vgl. zu diesem Problem näher unten 4. Teil, 2. Abschn., D, II. 294

4. Abschn.: Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Verantwortlichkeit

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In bezug auf den in Anspruch genommenen Wohnungseigentümer besteht Einigkeit darüber, daß dieser als Nichtverantwortlicher anzusehen ist und somit nur unter den Voraussetzungen des polizeilichen Notstands herangezogen werden kann. Bei näherer Untersuchung dieser Frage zeigt sich jedoch, daß nur das Ergebnis, nicht aber die zugrundeliegende Argumentation überzeugen kann. Demgemäß soll auch diese Frage einer näheren Betrachtung unterzogen werden.

A. Der polizeirechtliche Verursachungsbegriff Einigkeit besteht darüber, daß eine Kausalität i m Sinne einer conditio sine qua non zwar notwendige Voraussetzung für eine Verursachung i m polizeirechtlichen Sinne i s t 2 9 6 , daß aber ein allein unter Äquivalenzgesichtspunkten bestimmter Verursachungsbegriff abzulehnen ist, da er die polizeirechtliche Verantwortlichkeit über Gebühr ausdehnen würde und daher zu völlig unsachgemäßen Ergebnissen führen würde 2 9 7 . Dementsprechend ist unter Heranziehung verschiedener Kriterien versucht worden, den Begriff der Verursachung einer Gefahr einzugrenzen 298 . Nach der heute herrschenden Meinung ist die Theorie der unmittelbaren Verursachung heranzuziehen: Hiernach ist das Verhalten polizeirechtlich kausal, das die Gefahr unmittelbar entstehen läßt und daher die polizeirechtliche Gefahrenschwelle überschreitet 299 . Die für die Zurechnung entscheidende Unmittelbarkeit der Verursa296 Drews/Wacke/VogellMartens, Gefahrenabwehr, §20, 3, S.311; Denninger, in: Lisken/ Denninger, HdbPolR, E, Rdnr.63; Gusy, Polizeirecht, Rdnr.265; Pietzcker, DVB1. 1984, 457, 464; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 154, nach dem Kausalität in diesem Sinn „notwendige, aber nicht hinreichende Bedingung der polizeirechtlichen Verursachung" ist; Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 167; WürtenbergerlHeckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 300. 297 OVG Lüneburg, OVGE 14, 396, 402; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 20,3, S. 311; Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 64; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 195; Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 266; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 323; Reichertl Ruder! Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 254; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 154; a. A. neuerdings Muckel, DÖV 1998, 18, 21 ff., der zwar die Äquivalenztheorie zur Bestimmung der polizeirechtlichen Verantwortlichkeit heranzieht, sich aber, um einer ausufernden Haftung entgegenzuwirken, genötigt sieht, diese unter dem Gesichtspunkt der Verhältnismäßigkeit wieder einzuschränken; kritisch hierzu mit Recht Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 241, Fn.36. 298 Vgl. zur aus dem Zivilrecht übernommenen Adäquanztheorie etwa Scholz-Forni, VerwArch Bd. 30 (1925), 11,36 f.; siehe auch die w. Nachw. bei DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, § 20, 3, Fn. 23, S. 312; zur Theorie der Sozialadäquanz siehe Hurst, AöR Bd. 83 (1958), 43, 75 ff.; vgl. auch Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 270; zum Ganzen ausführlich m. w. Nachw. Gantner, Verursachung und Zurechnung, S.76ff.; Spießhofer, Der Störer im allgemeinen und im Sonderpolizeirecht, S.32ff. 299 PrOVGE 101, 139, 141; BVerwG, NJW 1986, 1626, 1627; OVG Hamburg, DÖV 1983, 1016,1017; VGH Mannheim, VB1BW 1996,302, 303; OVG Münster, NJW 1993,2698; Behl Mußmann, PolG BW, § 6 Rdnr. 11; Friauf, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Rdnr. 76; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 196ff.; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 325; DrewslWackelVogell Martens, Gefahrenabwehr, § 20, 3, S. 313 ff.; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 155; Schoch, JuS 1994, 932,

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

chung wurde dabei früher eher als eine Frage ontologischer Erkenntnis verstanden; hiernach sollten faktische Beziehungen, insbesondere die zeitliche und räumliche Nähe des Verursachungsbeitrags zum Erfolg maßgeblich sein 3 0 0 . In der neueren Rechtsprechung und Literatur hat sich hingegen mehr und mehr die Erkenntnis durchgesetzt, daß die Frage nach der Überschreitung der Gefahrengrenze eine wertende Beurteilung erfordere 301 . Was unter diesen wertenden Kriterien zu verstehen ist, stößt freilich nach wie vor auf Schwierigkeiten 3 0 2 . Weitreichende Beachtung haben i m Rahmen der Diskussion die Arbeiten Pietzckers 303 und Gantners 304 gefunden, die die Kriterien der Pflichtwidrigkeit und Risikozurechnung als normative Wertungskriterien heranziehen. So beziehen inzwischen zahlreiche Vertreter der Theorie der unmittelbaren Verursachung den Topos der Risikozurechnung als ein die Unmittelbarkeit konkretisierendes Kriterium ein und nehmen letztlich eine an Gefahrensphären orientierte Zuweisung von Risiken v o r 3 0 5 . Maßgeblich ist dabei die Frage, in welchem Umfang der Staat zur Wahrung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung verpflichtet ist und wo die Gefahrvermeidungspflichten des Bürgers beginnen 3 0 6 . Einen wichtigen Beitrag zur Vornahme dieser Risikozuweisung hat auch die sog. Theorie der rechtswidrigen Verursachung 307 insoweit geleistet, als sie heraus933; Wolff/Bachof Verwaltungsrecht III, § 127, Rdnr. 10; Tettinger, Besonderes Verwaltungsrecht/1, Rdnr. 333; Wölfl Stephan, PolG BW, § 6, Rdnr. 8; WürtenbergerlHeckmannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 303; Würtenberger, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Achterberg/Püttner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Rdnr. 166; Zeitler, Polizeirecht, Rdnr. 197. 300 Vgl. Kirchhof JuS 1975, 237, 239: Zurechnung bei Verursachern, deren Kausalitätsbeitrag ohne weitere Wirkungsvermittlung in eine polizeiliche Störung übergehen kann; Wacke, DÖV 1960, 94f.; Vogel, JuS 1961, 91, 92. 301 Vgl. VGH Mannheim, VB1BW 1982, 371, 372; NVwZ 1987, 237, 238; OVG Münster, NVwZ 1985, 355, 356; Brandner, Gefahrenerkennbarkeit, S. 26; DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, §20, 3, S.315; Friauf Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Rdnr. 76; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 156; Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 166; Schoch, JuS 1994, 932f., Schollerl Schioer, Polizei- und Ordnungsrecht, § 10, S. 243 ff.; WürtenbergerlHeckmannlRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 303. 302 Vgl. hierzu auch Friauf, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Rdnr. 77, nach dem die Bestimmung der im einzelnen maßgeblichen Rechtswidrigkeits- und Risikokriterien zu den schwierigsten, bisher nur äußerst unvollständig gelösten Aufgaben des heutigen Polizeirechts gehöre. 303 Pietzcker, DVB1. 1984, 457 ff. 304 Gantner, Verursachung und Zurechnung, S.49ff. 305 So beispielsweise Brandner, Gefahrenerkennbarkeit, S. 28 ff.; Erichsen, VVDStRL Bd. 35 (1977), 172, 204f.; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 199; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 154ff.; Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 166; Schoch, JuS 1994, 932, 933; Schollerl Schioer, Polizei- und Ordnungsrecht, § 10, S. 244ff.; WürtenbergerlHeckmannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 303; ähnlich auch Classen, JA 1995, 608, 611: „Verantwortungssphären"; vgl. auch Schenkel Ruthig, VerwArch Bd. 87 (1996), 329, 338 f. 306 v g Freiburg, VB1BW 1994, 212f.; WürtenbergerlHeckmannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 303. 307

Vgl. hierzu grundlegend Schnur, DVB1. 1962, 1, 3 ff.; ebenso auch Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr.69ff.; Vollmuth, VerwArch Bd.68 (1977), 45, 52f.

4. Abschn.: Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Verantwortlichkeit

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gearbeitet hat, daß immer dann, wenn ein Verhalten in Ausübung eines von der Rechtsordnung zur Verfügung gestellten Rechts erfolgt, von einer Verursachung i m polizeirechtlichen Sinne nicht ausgegangen werden kann 3 0 8 . In der Tat würde es einen schwerwiegenden Wertungswiderspruch darstellen, wenn die Rechtsordnung einerseits ein Verhalten als legitim anerkennt oder sogar ein Recht zur Erreichung eines bestimmten Erfolgs einräumt und andererseits die möglicherweise aus diesem Verhalten resultierende Gefahr mit der Folge der Kostenpflicht dem Bürger zurechnet 3 0 9 .

B. Der Obdachlose und die polizeirechtliche Verantwortlichkeit I. Überblick über den Meinungsstand Ob der Obdachlose als polizeirechtlich Verantwortlicher angesehen werden kann, ist - wie eingangs angedeutet - lebhaft umstritten. Die überwiegende Auffassung bejaht eine Störereigenschaft 310 . Die dafür angeführten Begründungen sind indes unterschiedlich. Nach Spannowsky ist der Obdachlose deshalb als Handlungsstörer anzusehen, weil er der Primärverpflichtung, sich selbst ein Unterkommen zu verschaffen, nicht nachgekommen sei 3 1 1 . Ähnlich argumentiert das O V G Bremen, indem es ausführt, daß eine Handlungsstörereigenschaft deshalb vorliege, weil „jedermann selber für sein Obdach Sorge zu tragen" habe 3 1 2 . 308 VGH Kassel, ESVGH 21, 31; VG Gelsenkirchen, NVwZ 1988, 1061, 1062; BelzIMußmann, PolG BW, § 6, Rdnr. 11; DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, § 20, 3, S. 316; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 199; Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 269; Pietzcker, DVB1. 1984,457,469; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 156; Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 166; Wolf/Stephan, PolG BW, § 6, Rdnr. 11; Würtenberger/ HeckmannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 304; vgl. auch Schollerl Schioer, Polizei- und Ordnungsrecht, § 10,1, 1, b), S.245, nach denen sich die Theorie der unmittelbaren Verursachung mit ihren Wertungen häufig der Sache nach auf die Pflichtwidrigkeitstheorie bezieht. 309 Vgl. Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 20, 3, S.316. 310 Vgl. BVerwGE 17, 83, 86; OVG Berlin, DÖV 1986, 1050; NJW 1990, 2484; OVG Bremen, DÖV 1994,221, 222; VG Hannover, NVwZ 1991,148,149; Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 139; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, §22, 3, b), S. 336; Eckstein, VB1BW 1994, 306, 307; Eichert, BWVPr. 1983, 211, 212; Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29, 31; Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130f.; Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 113; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 179 ff.; Reichert/Ruder!Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 329; Renelt/Klowait, NWVB1. 1992, 195, 196; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 186; Schioer, DVB1. 1989,739,745; Schoch, JuS 1995, 30, 33; Spannowsky, BWVPr. 1991, 197, 201; Strempel, ZMR 1993, 555, 556; Trockels, BWVPr. 1989, 145, 146; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.41ff.; WolflStephan, PolG BW, §9, Rdnr. 8; Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 7; Würtenberger/HeckmannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 316 c; wohl auch Ewerlv.Detten, NJW 1995,353,354; offen VGH Kassel, NJW 1984, 2305; ErichsenlBiermann, Jura 1998, 371, 375. 311 Spannowsky, BWVPr. 1991, 197, 201. 3,2 OVG Bremen, DÖV 1994, 221, 222; ebenso Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 186.

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

Auf eine völlig andere Handlung stellt das OVG Münster in einer älteren Entscheidung ab 313 , der folgender Sachverhalt zugrundelag: die Ehemänner zweier Familien, die in einer Bergarbeiterwohnung lebten, hatten ihr Arbeitsverhältnis gekündigt, worauf (rechtmäßigerweise) eine Kündigung des Mietverhältnisses über die Werkswohnung erfolgte. Aufgrund der den Familien drohenden Obdachlosigkeit wurde die Beschlagnahme und Zuweisung der bisherigen Wohnung von der zuständigen Behörde verfügt. Nach Ansicht des OVG Münster sind die Familien deshalb als Handlungsstörer anzusehen, weil sie ihre Obdachlosigkeit dadurch hervorgerufen hätten, daß die Ehemänner durch Kündigung des Arbeitsverhältnisses sich freiwillig des Rechts auf eine Werkswohnung begeben hätten314. In eine ähnliche Richtung geht die Argumentation Peppersacks 315. Er qualifiziert das Anlaßgeben zur Kündigung seitens des Obdachlosen als die Handlung, die im Sinne der Theorie der unmittelbaren Verursachung die Gefahrenschwelle überschreitet. In Anlehnung an Pietzcker 316 und Kloepfer 317 sieht er unter Heranziehung der Kriterien der Pflichtwidrigkeit und Risikozuweisung die Gefahrenschwelle jedenfalls dann als überschritten an, wenn eine (auch privatrechtliche) Verkehrssicherungspflicht verletzt sei 318 . Das Anlaßgeben zur Kündigung ähnele durchaus der Typologie privatrechtlicher Verkehrssicherungspflichten: während die Funktion der allgemeinen Verkehrssicherungspflichten in der Abwehr von Gefahren für das Individuum als Mitglied der Allgemeinheit liege, bezwecke das bürgerlichrechtliche Mietrecht mit den speziellen Regelungen des Kündigungsschutzes den Schutz des Mieters vor einem plötzlichen Wohnungsverlust 319. Gebe der Mieters nun dem Vermieter Anlaß zur Kündigung und verletzte er damit die ihm obliegende Pflicht, dafür Sorge zu tragen, seinen vorhandenen Wohnraum nicht zu verlieren, sei er als Handlungsstörer anzusehen320. Die Vorschriften über den Kündigungsschutz wiesen auch den erforderlichen Gemeinwohlbezug auf, da der Mieter durch den Wohnungsverlust regelmäßig in elementaren Grundrechtspositionen gefährdet sei 321 . Neuere Stimmen in der Literatur, insbesondere jene, die das Regelungsregime des Polizeirechts im Bereich der Obdachlosenproblematik ohnehin ablehnen, haben demgegenüber die Auffassung vertreten, daß der Obdachlose nicht Störer sein könne 322 . Nach Franz könne der Obdachlose nur dann als Störer qualifiziert werden, 313

OVG Münster, OVGE 14, 265 ff. Vgl. OVG Münster, OVGE 14, 265, 267. 315 Vgl. Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 182ff. 316 Pietzcker, DVB1. 1984, 457 ff. 317 Vgl. insoweit Kloepfer, NuR 1987, 7 ff. 318 Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 185. 319 Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 185. 320 Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 185 f. 321 Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 186. 322 Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 86ff. (anders noch in BWVPr. 1983, 211, 212; siehe Fn.310); Franz, DVB1. 1971, 249ff.; Greifeid, JuS 1982, 819, 820; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.38ff.; Münzenberg, Die moderne Auslegung des Poli314

4. Abschn.: Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Verantwortlichkeit

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wenn das Unterlassen der Obdachverschaffung gegen eine Rechtspflicht zum Handeln verstieße, woran es aber indes fehle 323 . Des weiteren wird vorgebracht, der Obdachlose sei vielmehr der „Gestörte" und Hilfsbedürftige, dem ein subjektives Recht auf Beseitigung der Obdachlosigkeit zustehe324. Der Gestörte könne aber nicht gleichzeitig als Störer zum Schutze gegen sich selbst herangezogen werden; Störer- und Gestörteneigenschaft schlössen sich aus325. Greifeid formuliert insoweit: „Wenn die Obdachlosigkeit die sozialstaatlich gewährleistete Existenzgrundlage des Einzelnen betrifft, dann überschreitet der Obdachlose nicht seinen Rechtskreis, sondern er tritt vielmehr in einen eigenen Rechtskreis ein 326 ". Intensiver hat sich auch Lübbe mit der Frage der Störereigenschaft es Obdachlosen auseinandergesetzt. Sie wirft zunächst der herrschenden Meinung vor, keine konkrete Handlung zu benennen, welche die in der Obdachlosigkeit liegende Störung unmittelbar verursacht 327. Eine solche könne in dem komplizierten Wirkungsgefüge, das schließlich zur Obdachlosigkeit von Menschen führt, auch gar nicht benannt werden. Verursachungsbeiträge könnten etwa Arbeitsplatzverlust, wirtschaftlicher Zusammenbruch, Ehescheidung, Krankheit, Eigenbedarfskündigung, Sanierungsverdrängung, gescheiterte Resozialisierung nach Strafhaft, Mietpreissteigerungen etc. sein, die ihrerseits wieder viele Ursachen haben328. Der einzige Grund für die Annahme einer Störereigenschaft sei letztlich die Begründung eines Regreßanspruchs der Polizeibehörde gegen Obdachlosen auf Übernahme der durch die Beschlagnahme entstehenden Kosten329. Insofern bestehe aber ein öffentlichrechtlicher Erstattungsanspruch 330, so daß es der Qualifikation des Obdachlosen als Störer „entgegen den Regeln der polizeirechtsdogmatischen Kunst" nicht bedürfe. Offengelassen wird die Frage letztlich von Erichsen und Biermann, die daraufhinweisen, daß es sich bei der Zuweisung von Wohnraum an den Obdachlosen um einen rein begünstigenden Verwaltungsakt handele, der eine Störereigenschaft des Betreffenden dementsprechend gar nicht voraussetze331.

zeirechts, S. 233 ff.; Steinmeier/Brühl, KJ 1989, 275, 285; kritisch auch Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 272ff.; offen Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 375; offen VGH Kassel, NJW 1984, 2305,2306. 323 Franz, DVB1. 1971, 249, 250; dem folgend Richert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 100, insbesondere Fn. 84; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 38 f.; Münzenberg, Die moderne Auslegung des Polizeirechts, S. 215 f.; 234; Steinmeier/Brühl, KJ 1989, 275, 282. 324 Vgl. Richert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 100. 325 Vgl. Richert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 100; Greifeid, JuS 1982, 819, 821; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.40. 326 Greifeld, JuS 1982, 819, 821. 327 Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 39. 328 Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.39. 329 Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.40. 330 Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.57ff. 331 Rrichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 375. 6 Reitzig

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

IL Stellungnahme 1. Die Argumentation der eine Störereigenschaft ablehnenden Auffassung Die zur Stützung der Ablehnung einer Störereigenschaft des Obdachlosen vorgebrachten Argumente vermögen letztlich nicht zu überzeugen. Insbesondere die These, daß Störer- und Gestörteneigenschaft sich ausschlössen, ist unzutreffend 332. So sind durchaus auch andere Fälle der Identität von Inhaberschaft des gefährdeten Rechts und Adressateneigenschaft polizeilichen Handelns denkbar, was das Beispiel des polizeilichen Einschreitens gegen einen Suizidenten illustriert 333 . Nach zutreffender herrschender Auffassung ist die Polizei berechtigt und sogar verpflichtet, eine suizidgefährdete Person vom drohenden Selbstmord abzuhalten334. Gleiches gilt für den Fall der Selbstgefährdung bei fehlendem autonomen Willensentschluß. Auch in diesen Sachverhaltskonstellationen fällt die polizeirechtliche Verantwortlichkeit für die Gefahr und die Schutzbedürftigkeit in einer Person zusammen; dennoch ist die Polizei verpflichtet, die betreffende Person zum Schutz gegen sich selbst in Anspruch zu nehmen. Freilich unterschieden sich die eben erwähnten Selbstgefährdungsfälle und die Fälle unfreiwilliger Obdachlosigkeit insofern, worauf auch Eichert hinweist 335 , als sich bei ersteren die Gefahrenabwehrmaßnahme (z. B. die polizeiliche Ingewahrsamnahme) angesichts des entgegenstehenden Willens als belastende Maßnahme darstellt, während es sich bei der Wohnungszuweisung um eine rein begünstigende Maßnahme handelt, auf die der Obdachlose sogar ein subjektives öffentliches Recht hat 336 . Aber auch die These, daß eine Person deshalb nicht Störer sein kann, weil die Gefahrenabwehrmaßnahme ihrem Willen entspricht und von ihr sogar begehrt wird, ist bei näherer Betrachtung durchgreifenden Einwänden ausgesetzt. Denn die Frage nach der polizeilichen Verantwortlichkeit spielt nicht nur im Falle belastender Gefahrenabwehr bei entgegenstehendem Willen des Betroffenen eine Rolle; vielmehr gibt es durchaus auch Konstellationen, in denen sich eine polizeiliche Maßnahme als dem (mutmaßlichen) Willen des Betroffenen gemäß und daher begünstigend darstellt, die betreffende Person aber dennoch als Störer zu qualifizieren ist. Man 332

So auch Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 180ff.; ähnlich 7rockels, BWVPr. 1989, 145, 146. 333 Vgl. auch Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 181; dies erkennt auch Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 100. 334 Siehe hierzu bereits oben 1. Teil, 2. Abschn., II, 2, c), cc). 335 Vgl. Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 100: „Der Obdachlose paßt nun gerade nicht in dieses Schema. Er will die Verletzung seiner Rechtsgüter Leben, Gesundheit und Eigentum nicht absichtlich und bewußt herbeiführen [...]. Er wird sogar im Gegenteil mit Nachdruck darauf hinwirken, daß er im Rahmen der sozialen Sicherung Wohnraum zur Verfügung gestellt bekommt". 336 Vgl. hierzu ausführlich 2. Teil, 2. Abschn., A, II, und B.

4. Abschn.: Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Verantwortlichkeit

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denke beispielsweise an den Fall einer polizeilichen Rettungsaktion, die dadurch erforderlich wurde, daß sich eine Person bewußt in Gefahr begeben hat (vgl. den Mordloch-Höhlen-Fall 331). Auch hier ist der Gerettete zutreffender Ansicht zufolge als Störer anzusehen, obwohl die Rettungsmaßnahme seinem mutmaßlichen Willen entspricht 338. Für die hier vertretene Auffassung spricht auch das Verhältnis zwischen unmittelbarer Ausführung gem. § 5 a MEPolG und Sofortvollzug gem. § 28 Abs. 2 MEPolG. Grenzt man den Anwendungsbereich der unmittelbaren Ausführung gem. § 5a Abs. 1 MEPolG gegenüber dem Sofortvollzug i. S. d. § 28 Abs. 2 MEPolG dergestalt ab, daß § 5 a Abs. 1 MEPolG die Fälle erfaßt, in denen die Maßnahme dem (mutmaßlichen) Willen des Betroffenen entspricht 339 und regelt § 5 a Abs. 2 MEPolG die entsprechende Kostenpflicht des polizeilich Verantwortlichen, so implizieren bereits die Norm des § 5 a MEPolG und die dieser folgenden landespolizeirechtlichen Regelungen, daß eine begünstigende Gefahrenabwehrmaßnahme und die Annahme einer Störereigenschaft sich nicht ausschließen, wie dies von der Gegenauffassung unterstellt wird. Letztlich zeigt sich, worauf auch Peppersack zutreffend hinweist 340 , daß von der Gegenauffassung zwei Aspekte unzulässigerweise miteinander vermengt werden. Grundsätzlich muß zwischen der Qualifikation als polizeirechtlich Verantwortlicher einerseits und der Möglichkeit der Heranziehung zur Gefahrenabwehr auf der Primärebene andererseits unterschieden werden. Denn die Qualifikation als Störer besagt lediglich, daß eine Person eine Gefahr im polizeirechtlichen Sinne verursacht hat. Daraus resultiert aber nicht, daß diese auch auf der Primärebene zwingend zur Gefahrenabwehr herangezogen werden muß. Das Bestehen einer polizeilichen Verantwortlichkeit ist aber nicht nur im Hinblick auf eine Adressateneigenschaft für Gefahrabwehrmaßnahmen auf der Primärebene, sondern insbesondere auch für das Problem der Kostenheranziehung auf der Sekundärebene von Relevanz 341 . So sind - wie das angeführte Beispiel der polizeilichen Rettungsaktion zeigt - auch andere Fälle denkbar, in denen aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen eine Inanspruchnahme auf der Primärebene ausscheidet, dennoch aber eine die Kostenpflicht auslösende Störereigenschaft vorliegt. Demzufolge spricht die Tatsache, daß sich eine an den Obdachlosen gerichtete Verfügung, sich selbst 337

Vgl. VGH Mannheim, VB1BW 1984, 20 ff. Zur Kostenerstattungspflicht der als unmittelbare Ausführung qualifizierten polizeilichen Rettungsaktion VGH Mannheim, VB1BW 1984,20ff.; zustimmend Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 304, Fn. 745; a. A. Kugelmann, DÖV 1997, 153, 159; Stephan, VB1BW 1985, 121, 123; WürtenbergerlHeckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 513. 339 So Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 145; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 304; vgl. auch Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 343. 340 Vgl. Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 180. 341 Vgl. z.B. Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 120: „Schließlich ist auch die Frage nach der (endgültigen) Kostentragungspflicht sorgfältig von der Frage der Verantwortlichkeit für die Gefahrbeseitigungsmaßnahme zu trennen". Insoweit kann die Frage auch nicht, wie von Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 375, vertreten, offengelassen werden. 338

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

ein Unterkommen zu verschaffen, in der Regel als ungeeignet und daher rechtswidrig erweisen würde und daher der Obdachlose „nicht zum Schutz gegen sich selbst in Anspruch genommen werden kann 342 ", nicht gegen die Bejahung einer polizeirechtlichen Verantwortlichkeit. Im übrigen vermag die Gegenauffassung den - auch aus ihrer Sicht überwiegend für notwendig erachteten - Regreßanspruch der Polizei gegen den Obdachlosen rechtsdogmatisch nicht überzeugend zu begründen 343. Einen solchen mit der Begründung zu verneinen, daß die Polizeigesetze der Länder keine Ansprüche für den Fall vorsehen, daß ein Nichtstörer von einer Gefahrenabwehrmaßnahme begünstigt wird 344 , widerspricht jeglichen Gerechtigkeitserwägungen. Denn es wäre ein schlechthin unbilliges Ergebnis, dem Obdachlosen letztlich zu Lasten der Allgemeinheit kostenlosen Wohnraum zur Verfügung zu stellen345. Während bei Bejahung einer polizeirechtlichen Verantwortlichkeit ein Regreßanspruch aus § 57 bwPolG (§ 50 Abs. 1 MEPolG) hergeleitet werden kann, kann der von Lübbe stattdessen vorgeschlagene öffentlichrechtliche Erstattungsanspruch 346, dessen Annahme sich auch Erichsen und Biermann anschließen347, aus mehreren Gründen nicht durchgreifen 348. Insgesamt drängt sich der Eindruck auf, daß die Ablehnung der Störereigenschaft weniger auf rechtlichen als auf emotionalen Gründen beruht 349. Erkennt man an, daß oft ein kompliziertes Wirkungsgeflecht zur Obdachlosigkeit führt und sieht man den Obdachlosen als hilfsbedürftig an, so fällt es wohl schwer, ihn mit dem letztlich negativ besetzten Stigma eines „Störers" zu versehen. Dabei wird aber verkannt, daß mit der Qualifikation als „Störer" keine Wertung und insbesondere kein moralischer oder persönlicher Vorwurf verbunden ist 350 ; ebensowenig ist zwingend ein Verstoß gegen Ge- oder Verbotsnormen oder gar ein Verschulden erforderlich 351. Mit der 342

Vgl. hierzu näher unten 2. Teil, 1. Abschn., B, II. Vgl. hierzu näher unten 4. Teil, 2. Abschn., D, II. 344 So Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 138. 345 Vgl. auch Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 57: „Der Obdachlose hat zwar gegen die Polizei einen Anspruch auf Unterbringung, einen Anspruch auf kostenlose Unterbringung hat er jedoch nicht" (Hervorhebung entstammt dem Original). 346 Siehe Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.57ff. Vgl. zu dessen Existenz und Tatbestandsvoraussetzungen ausführlich Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 414ff. 347 Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 376. 348 Ablehnend auch Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 180, Fn. 190, allerdings ohne nähere Begründung. Vgl. ausführlich zu dieser Frage unten 4. Teil, 2. Abschn., D, II. 349 Ähnlich auch Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 150. 350 So auch Spannowsky, BWVPr. 1991, 197, 201; Trockels, BWVPr. 1989, 145, 146; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 177. 351 Vgl. Eckstein, VB1BW 1994, 306, 307; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 195; MußmannAllgemeines Polizeirecht, Rdnr. 270; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, §4 MEPolG, Rdnr. 12; Trockels, BWVPr. 1989, 145, 146; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 301. 343

4. Abschn.: Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Verantwortlichkeit

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Qualifizierung als Störer ist lediglich die - wertfreie - Feststellung getroffen, daß die Gefahr in einem polizeirechtlich relevanten Sinn verursacht wurde. 2. Die Argumentation der eine Störereigenschaft befürwortenden Auffassung Betrachtet man die für eine Störereigenschaft des Obdachlosen eintretenden Stellungnahmen, so stellt man fest, daß eine nähere Begründung für die Qualifizierung als Störer häufig nicht geliefert wird 352 . Doch selbst, wenn eine Begründung angeführt wird, so kann diese oftmals wenig überzeugen 353. Soweit auf einen Verstoß gegen die öffentliche Ordnung verwiesen wird, kann diese Annahme schon deshalb nicht überzeugen, weil Obdachlosigkeit richtiger Auffassung zufolge keine Gefahr für die öffentliche Ordnung darstellt 354. Ebenso geht die Annahme fehl - insoweit ist der Gegenauffassung zuzustimmen - , eine Störereigenschaft liege deshalb vor, weil der Obdachlose „seiner Primärverantwortung, für [...] seine Wohnung [...] selbst zu sorgen, nicht nachgekommen ist 355 ". Anknüpfungspunkt wäre nämlich insoweit ein Unterlassen, welches nur dann eine Handlungshaftung begründen kann, wenn eine öffentlichrechtliche Pflicht zum Handeln besteht356. Eine öffentlichrechtliche bzw. strafrechtlich sanktionierte Pflicht, sich selbst ein Unterkommen zu verschaffen, besteht jedoch seit Aufhebung der „Unterkommensverschaffenspflicht" des § 361 Nr. 8 StGB a. F. nicht mehr 357 . Auch die landesrechtlichen Meldebestimmungen schreiben nicht den Besitz einer Wohnung vor, sondern statuieren lediglich bei Bezug einer solchen innerhalb einer bestimmten Frist eine Anmeldepflicht bei der Meldebehörde 358 . Andere Normen, die dem einzelnen eine Rechtspflicht zur Beschaffung oder Innehabung eines Wohnraums auferlegen, sind nicht ersichtlich. 352

So auch der Vorwurf von Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 178; vgl. etwa die Stellungnahmen von Arndt, ZAP 1993, 257, 258; Denninger, in: Lisken/ Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 139; Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 7. 353 Unklar beispielsweise Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.42, die eine Störereigenschaft deshalb bejaht, weil sich die Gefahr für die öffentliche Sicherheit in der Person des Räumungsschuldners verwirkliche. 354 Vgl. hierzu bereits oben 1. Teil, 2. Abschn., A, I, 2. 355 So aber Spannowsky, BWVPr. 1991, 197, 201; ebenso OVG Bremen, DÖV 1994, 221, 222. 356 BVerwG, DVB1. 1986,360, 362 m. Anm. Schenke; VGH München, GewArch 1981,233; OVG Münster, DVB1.1973,924; NVwZ-RR 1988,20; Belz/Mußmann, PolG BW, § 6, Rdnr. 9; Drews/Wacke/VogellMartens, Gefahrenabwehr, §20, 1, S.307; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 274; Reichertl RuderIFröhler, Polizeirecht, Rdnr. 260; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 152; Wolf/Stephan, PolG BW, §6, Rdnr. 4; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 292. 357 Sie betraf auch ohnehin nur diejenigen, die die Fürsorge in Anspruch nahmen, obwohl sie sich selbst eine Unterkunft hätten verschaffen können und war damit in vielen Fällen der Obdachlosigkeit gar nicht einschlägig; siehe auch Franz, DVB1. 1971, 249, 250 und oben 1. Teil, 2. Abschn., A, II, 2, a), aa). 358 V g l . F m n z ^ D V B 1 > 1 9 7 1 ) 249, 250; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 16.

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

Auch der von Peppersack in Anlehnung an die Entscheidung des OVG Münster unterbreitete Vorschlag, die die polizeiliche Verantwortlichkeit begründende Handlung im Anlaßgeben zur Kündigung des Mietverhältnisses zu sehen359, kann nicht überzeugen. Dem zum einen lassen sich damit nicht alle Fälle der Entstehung von Obdachlosigkeit bezüglich der Frage der Störereigenschaft einer Lösung zuführen, was diesen Ansatz aufgrund fehlender Allgemeingültigkeit schon prinzipiell in Frage stellen muß 360 . Es mag zwar durchaus zutreffen, daß die Mehrzahl der Kündigungsfälle letztlich durch ein vertragswidriges Verhalten des Mieters bedingt sind 361 , aber es sind durchaus ebenso Fälle denkbar, in denen der Vermieter wegen Eigenbedarfs kündigt oder gar keine Kündigung vorliegt und die Obdachlosigkeit deshalb droht, weil das Mietverhältnis von vornherein befristet eingegangen wurde. Eine Antwort auf die Frage, ob auch in diesen Fällen eine Störereigenschaft des Obdachlosen vorliegt, gibt Peppersack nicht. Sie wäre wohl im Umkehrschluß zu verneinen; ein Ergebnis, was schwerlich überzeugen kann. Zum anderen kann die Argumentation Peppersacks schon deshalb nicht durchgreifen, weil er an eine Handlung anknüpft, die weit vor der Entstehung der Gefahr liegt. Bedenkt man, daß ein vertragswidriges Verhalten seitens des Mieters nicht zwangsläufig eine Kündigung zur Folge haben muß, daß selbst bei Vorliegen einer Kündigung bis zum Erstreiten eines rechtskräftigen Räumungstitels und dessen Vollstreckung noch eine lange Zeit vergehen kann, und daß insbesondere erst durch das Hinzutreten des Fehlens von anderweitigem Wohnraum zum Zeitpunkt des Räumungstermins tatsächlich eine polizeirechtliche Gefahr droht, kann kaum von einer Handlung gesprochen werden, die im Sinne der Theorie der unmittelbaren Verursachung, die auch Peppersack zugrundelegt, die Gefahrenschwelle unmittelbar überschreitet. Denn selbst bei Heranziehung einer normativen Betrachtungsweise unter Einbeziehung von Pflichtwidrigkeit und Risikosphären müssen richtiger Auffassung zufolge doch solche Verhaltensbeiträge zur Bestimmung der Überschreitung der Gefahrenschwelle von vornherein ausscheiden, die weit vor der konkreten Gefahrensituation liegen 362 . Dies folgt letztlich aus der Überlegung, daß die Generalklausel nur zum Einschreiten bei einer konkreten Gefahr ermächtigt und dementsprechend auch nur zur Vermeidung einer konkreten Gefahr verpflichtet 363 . Wenig überzeugen kann schließlich auch die Qualifizierung des zur Kündigung anlaßgebenden Verhaltens als Verletzung einer privatrechtlichen Verkehrssiche359

Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 182. Dies erkennt bezeichnenderweise auch von Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 183, Fn.204, erkannt. Seine Erklärung, andere Arten von Kündigungen könnten vernachlässigt werden, da sie selten vorkommen, kann jedoch den Einwand fehlender Allgemeingültigkeit nicht entkräften. 361 So die empirische Untersuchung von Angele (BWGZ 1988, 749), auf die sich Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 183, Fn.204, bezieht. 362 So zutreffend Pietzcker, DVB1. 1984, 457,459. 363 Vgl. Pietzcker, DVB1. 1984, 457, 459. 360

4. Abschn.: Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Verantwortlichkeit

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rungspflicht, um so die die Gefahrenschwelle überschreitende polizeirechtliche Pflichtwidrigkeit begründen zu können364. Abgesehen davon, daß es ohnehin äußerst umstritten ist, ob die Verletzung privatrechtlicher Verkehrssicherungspflichten zu einer Handlungshaftung führen kann 365 , wird eine solche als allgemeine Rechtspflicht, im Verkehr Rücksicht auf die Gefährdung anderer zu nehmen, umschrieben 366 . Bei dem zur Kündigung anlaßgebenden Verhalten handelt es sich aber um die Verletzung einer vertraglichen Pflicht gegenüber dem Vermieter, die sich von einer Verkehrssicherungspflicht erheblich unterscheidet. Die Interpretation dieser zivilrechtlichen Vertragspflichten als Pflichten, dafür Sorge zu tragen, den vorhandenen Wohnraum nicht zu verlieren und sich somit keiner Gefährdung auszusetzen, erscheint indes mehr als fragwürdig. Eine solche Pflicht existiert ebensowenig wie die auch von Peppersack verneinte Pflicht, überhaupt einen Wohnraum innezuhaben. Woraus sich eine solche Pflicht ergeben soll, wird denn auch bezeichnenderweise von Peppersack nicht dargelegt. 3. Das Anscheinsetzen eines störungsverursachenden Verhaltens als Überschreitung der polizeilichen Gefahrenschwelle Relativ unproblematisch läßt sich die gefahr- und sogar störungsverursachende Handlung des Obdachlosen dann benennen, wenn die Obdachlosigkeit bereits eingetreten ist. Diese liegt im Aufenthalt unter freiem Himmel begründet 367. Indem der Betroffene sich ohne die Möglichkeit des Aufsuchens einer schützenden Unterkunft den Witterungsverhältnissen preisgibt, läßt er eine Gefahr für seine individuellen Rechtsgüter Leben und Gesundheit unmittelbar entstehen und verursacht sogar bereits eine Störung seines Individualrechtsguts der Menschenwürde 368, ohne daß es letztlich auf schwierige Wertungsfragen und Zuweisung von Risikosphären ankommt. Zumeist wird dieses störungsverursachende Verhalten des Obdachlosen freilich durch die vorhergehende Beschlagnahme und Zuweisung von Wohnraum bereits verhindert. Größere Schwierigkeiten bereitet es, wie auch die insoweit bestehende Unsicherheit der herrschenden Meinung belegt, eine gefahrverursachende Handlung des Obdachlosen bereits vor diesem Zeitpunkt zu fixieren. Die vor der Räumung liegenden Handlungen, die eine Mitursache für die Obdachlosigkeit im Sinne der Äquivalenztheorie gesetzt haben und insoweit in der Diskussion vorgeschlagen wurden (z.B. eigene Kündigung, vertragswidriges Verhalten, Unterlassen des Ver364

Vgl. Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 185 f. Bejahend Kloepfer, NuR 1987, 7, 11; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 152; Schink, VerwArch Bd. 82 (1991), 357, 374f.; WürtenbergerlHeckmannI Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 293. 366 Vgl. z. B. Thomas, in Palandt, BGB, § 823, Rdnr. 58. 367 Hierauf ebenfalls abstellend WürtenbergerlHeckmannlRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 316c. 368 Vgl. hierzu ausführlich oben 1. Teil, 2. Abschn., A, II, 2, b), ee). 365

1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

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schaffens eines eigenen Unterkommens), erfüllen dabei - wie gezeigt - entweder nicht die Voraussetzungen des polizeirechtlichen Verursachungsbegriffs oder können mangels öffentlichrechtlicher Pflicht zum Verschaffen einer Unterkunft eine Handlungshaftung nicht begründen. Richtiger Anknüpfungspunkt ist in diesem Fall m. E. das Anscheinsetzen der erst in der Zukunft liegenden störungsverursachenden Handlung des Aufenthalts unter freiem Himmel. Wer den Anschein setzt, daß er bei ungehindertem objektiv zu erwartenden Geschehensablauf in naher Zukunft eine Handlung begehen wird, die eine Störung verursacht, dem muß unter Zugrundelegung einer an Gefahrensphären orientierten Zurechnung von Risiken das Vorliegen der Gefahr im polizeirechtlichen Sinne auch dann zugerechnet werden, wenn die störungsverursachende Handlung durch die behördliche Gefahrenabwehrmaßnahme bereits verhindert wird. Indem der Räumungsschuldner dadurch, daß er unmittelbar vor dem Räumungstermin keinen anderweitigen Wohnraum zur Verfügung hat, somit den Anschein einer in naher Zukunft liegenden Handlung setzt, die eine Störung des Rechtsguts der Menschenwürde verursachen wird, überschreitet er bereits die polizeiliche Gefahrensch welle.

C. Der Wohnungseigentümer und die polizeirechtliche Verantwortlichkeit I. Inanspruchnahme eines Eigentümers von leerstehendem Wohnraum Eindeutig ist die Rechtslage bei der Beschlagnahme von leerstehendem Wohnraum, also im Fall der späteren sog. Fremdzuweisung des Obdachlosen. Da die Gefahr nicht vom Wohnraum selbst ausgeht, kommt eine Zustandsstörereigenschaft des Wohnraumeigentümers von vornherein nicht in Betracht. Ebensowenig liegt jedoch auch eine Verhaltensstörereigenschaft des Wohnraumeigentümers vor. Eine Handlung, die eine Ursache für die (drohende) Obdachlosigkeit des Betroffenen im Sinne einer unmittelbaren Überschreitung der polizeirechtlichen Gefahrensch welle 3 6 9 gesetzt hat, ist bei einem unbeteiligten Wohnungseigentümer nicht gegeben. Zwar kann eine Verhaltensstörung nicht nur durch ein Handeln, sondern auch durch ein Unterlassen begründet werden, sofern für den Betroffenen eine Rechtspflicht zum Handeln besteht370. Dennoch kann in der Nichtbereitstellung einer leerstehenden Wohnung zur Unterbringung eines Obdachlosen kein störungsrelevantes Unterlassen gesehen werden. Eine HandlungsVerpflichtung ergibt sich nämlich nach einhelliger Ansicht nicht allein daraus, daß eine Person Inhaber eines zur Gefahrenbekämpfung geeigneten Gegenmittels ist 371 . Der Eigentümer leerstehenden Wohn369

Vgl. zur herrschenden Theorie der unmittelbaren Verursachung die unter Fn. 299 Zitierten. Siehe hierzu die in Fn. 356 Genannten. 371 Drews/Wacke/VogellMartens, Gefahrenabwehr, §20, 1, S. 308; Denninger, in: Lisken/ Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 67; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.40; Schenke, Polizei- und 370

4. Abschn.: Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Verantwortlichkeit

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raums ist demgemäß nicht verpflichtet, Obdachlose aufzunehmen. Mangels Störereigenschaft ist eine Inanspruchnahme eines solchen Eigentümers demzufolge nur unter den engen Voraussetzungen des polizeilichen Notstands (§ 9 Abs. 1 bwPolG; § 6 Abs. 1 MEPolG) möglich 372 .

II. Inanspruchnahme des ehemaligen Vermieters Nicht ganz so unproblematisch ist die fehlende polizeirechtliche Verantwortlichkeit des Wohnungseigentümers dann, wenn dieser gleichzeitig Vermieter des Wohnraums war und gegenüber dem nun von Obdachlosigkeit bedrohten ehemaligen Mieter ein Räumungsurteil erstritten hat, dessen Vollstreckung er nun beantragt. Da der Eigentümer hier zumindest eine Mitursache für die drohende Obdachlosigkeit des Mieters gesetzt hat, erscheint eine Verhaltensstörereigenschaft des Eigentümers nicht von vornherein abwegig. Darüber, daß der Vermieter als Nichtstörer anzusehen ist, besteht allerdings im Ergebnis Einigkeit 373 . Zur Begründung beruft sich die herrschende Meinung dabei entweder direkt auf die Theorie der rechtswidrigen Verursachung 374 oder bedient sich ihrer als Konkretisierung der Bestimmung der Gefahrenschwelle. Zumeistfindet sich in diesem Zusammenhang die stereotype Formulierung, der Vermieter nehme mit der berechtigten Kündigung des Mietvertrages nur ein durch die Rechtsordnung zur Verfügung gestelltes Recht wahr, bewege sich innerhalb des durch die Privatautonomie gesteckten Rechtskreises und könne daher nicht als Störer angesehen werden 375. Die Annahme der Nichtstörereigenschaft des Vermieters ist zwar im Ergebnis durchaus zutreffend, die zugrundeliegende Argumentation ist jedoch mißverständOrdnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 153; WürtenbergerlHeckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr.295. 372 Ebenso DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, §20,1, S.308; Schenke, Polizeiund Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 153. 373 Allg. Ansicht, vgl. OVG Münster, DVB1. 1959, 473; NVwZ 1991, 905, 906; NVwZ 1991,692; BelzlMußmann, PolG BW, § 6, Rdnr. 11; Cremer, VB1BW 1996,241; Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 67; DrewslWackelVogell Martens, Gefahrenabwehr, § 20, 3, S.316; Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29, 32; ErichsenlBiermann, Jura 1998, 371, 377; Ewer! v. Detten, NJW 1995, 353; Gössl, BWGZ 1984, 326, 330; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 269; Greifeld, JuS 1982,819,821; GüntherlTraumann, NWwZ 1993,130,132; Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 274; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.40; Pietzcker, NWVB1. 1988, 321; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 245; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 156; Schoch, JuS 1995, 30,33; Strempel, ZMR 1993,555,556; Trockels, BWVPr. 1989,145,149; Wolf/Stephan, PolG BW, § 6, Rdnr. 11; Wollensak, BWVPr. 1995,6,8; WürtenbergerlHeckmannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 304. 374 So z. B. Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 67; Erichsenl Biermann, Jura 1998, 371,377. 375 Vgl. Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29,32; Erichsenl Biermann, Jura 1998,371,377; Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 274; WürtenbergerlHeckmnannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 316 c; Schoch, JuS 1995, 30, 33.

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1. Teil: Polizeirechtliche Grundlagen

lieh und kann zu falschen Folgerungen verleiten. Zum einen wird mit der Kündigung des Mietverhältnisses auf eine im Hinblick auf die Überschreitung der Gefahrenschwelle ohnehin irrelevante Handlung abgestellt. Abgesehen davon, daß auch Konstellationen ohne Kündigung, etwa bei einem befristeten Mietverhältnis, denkbar sind, ist diese auch bei deren Vorliegen nicht die Handlung seitens des Vermieters, die einer genaueren Untersuchung im Hinblick auf die polizeirechtliche Verursachung der Obdachlosigkeit bedarf. Sie überschreitet nämlich, ohne daß es auf schwierige rechtliche Wertungsfragen und Risikozuweisungen ankäme, die Gefahrenschwelle schon deshalb nicht, weil die erforderliche qualifizierte Gefahr für die Individualrechte des Obdachlosen erst mit der unmittelbar bevorstehenden Räumung durch den Gerichtsvollzieher angenommen werden kann 376 , bis zu diesem Zeitpunkt aber noch zahlreiche weitere Handlungen des Vermieters erfolgen, die der Gefahrentstehung näher sind 377 . Als möglicherweise gefahrverursachende Handlung des Vermieters ist daher allein die Einleitung der Vollstreckung des Räumungsurteils zu untersuchen 378, die die Festsetzung eines Räumungstermins seitens des Gerichtsvollziehers unmittelbar zur Folge hat und daher die Gefahrenschwelle überschreiten könnte. Auch unter Zugrundelegung der Vollstreckung des Räumungsurteils als möglicherweise gefahrverursachende Handlung ist jedoch die These irreführend, daß eine Störereigenschaft des Vermieters deshalb nicht in Betracht komme, weil dieser von ihm eingeräumten Rechten Gebrauch macht 379 . Unrichtig wäre nämlich auch hier der naheliegende Gegenschluß, daß bei Rechtswidrigkeit des Vollstreckungsauftrags 380 aufgrund eines Überschreitens des eigenen Rechtskreises eine Störereigenschaft des Vermieters anzunehmen ist. Letztlich bringt der Rekurs 376

Vgl. hierzu ausführlich unten 2. Teil, 1. Abschn., B, I, 2. Dazu, daß Verhaltensbeiträge, die vor der konkreten Gefahrensituation liegen, für die Bestimmung der polizeilichen Verursachung ausgeschieden werden können, vgl. näher Pietzcker, DVB1. 1984,457,459. 378 Zutreffend z. B. Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 67, Pietzcker, DVB1. 1984, 457, 459, die die Vollstreckung des Urteils zugrundelegen. 379 So aber Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 67. 380 Zu beachten ist hier, daß die Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit einer Kündigung keine Auswirkung mehr auf die Rechtmäßigkeit des Vollstreckungsauftrags hat, auf den hier als möglicherweise gefahrverursachende Handlung aber allein abzustellen wäre. Der Vollstrekkungsgläubiger macht nämlich auch dann von ihm durch die Zivilprozeßordnung zur Verfügung gestellten Rechten Gebrauch, wenn er ein Urteil, das fälschlicherweise von einer ordnungsgemäßen Kündigung ausgeht und daher inhaltlich unrichtig ist, vollstrecken läßt. Das ist bei einem rechtskräftigen Urteil offensichtlich, gilt aber auch bei einem nur vorläufig vollstreckbaren Urteil. Daß das Gesetz bei der Vollstreckung eines vorläufig vollstreckbaren Urteils die Gefahr in Kauf genommen hat, daß sich die zugrundeliegende Sachentscheidung als falsch erweist, zeigt gerade die Vorschrift des § 717 ZPO, die den Schuldner in diesem Fall nur auf einen Ersatzanspruch verweist (vgl. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, §717, Rdnr. 1). Denkbar ist eine Rechtswidrigkeit des Vollstreckungsauftrags nur in den Fällen, in denen der Titel durch den Vermieter sittenwidrig erschlichen wurde. Hier stellt die Vollstreckung eine vorsätzliche sittenwidrige Schädigung i.S.d. § 826 BGB (vgl. Thomas, in: Palandt, BGB, § 826, Rdnr. 46ff.) dar, so daß in jedem Fall der legale Rechtskreis überschritten ist. 377

4. Abschn.: Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Verantwortlichkeit

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auf Rechtmäßigkeitserwägungen in diesem Fall die Lösung des Problems nicht näher. Unabhängig von einer Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit des Vollstrekkungsauftrags muß nämlich noch ein weiteres Erfordernis hinzutreten, um die Überschreitung der Gefahrenschwelle zu bejahen. Ein polizeiliches Einschreiten ist nämlich überhaupt nur dann denkbar, wenn dem Räumungsschuldner trotz unmittelbar bevorstehendem Räumungstermin kein anderweitiger Wohnraum zur Verfügung steht381. Greift man hier auf die der Theorie der unmittelbaren Verursachung zugrundezulegenden Risikozuweisungen382 zurück, so muß man aber sagen: Das Nichtvorhandensein eines Ersatzwohnraums für den Räumungsschuldner ist ein Umstand, für den der Vermieter nicht einzustehen hat. Angespannte Wohnraumlage oder Unvermögen des Mieters, eine anderweitige Unterkunft zu finden, sind Umstände, die nicht mehr in die Risikosphäre des Vermieters fallen. Eine polizeiliche Gefahrvermeidungspflicht in bezug auf entstehende Obdachlosigkeit kann seitens des Vermieters unabhängig von der Überschreitung eigener zivilrechtlicher oder zivilprozessualer Befugnisse nicht angenommen werden. Der Vermieter ist somit ungeachtet der Rechtmäßigkeit oder Rechtswidrigkeit seiner Kündigung sowie seines Vollstreckungsauftrags an den Gerichtsvollzieher nicht als Störer i. S. d. § 6 bwPolG (§ 4 MEPolG) anzusehen. Eine Inanspruchnahme ist vielmehr allein unter den Voraussetzungen des polizeilichen Notstands gem. § 9 bwPolG (§ 6 MEPolG) möglich 383 .

381 Vgl. auch Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 269, mit dem Hinweis, daß weder die Kündigung noch die Räumung die Gefahrenschwelle überschreiten, sondern vielmehr der Mangel einer geeigneten Unterkunft oder die subjektive Unmöglichkeit des Gekündigten, eine solche zu finden. 382 Vgl. hierzu oben 1. Teil, 4. Abschn., A. 383 Siehe dazu näher unten 2. Teil, 1. Abschn., B.

Zweiter Teil

Inanspruchnahme- u n d Zuweisungsverfügung Erster Abschnitt

Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen der Inanspruchnahmeverfügung A. Die Rechtsgrundlage der Inanspruchnahmeverfügung I. In Rechtsprechung und Literatur vertretene Ansichten Nach wie vor nicht geklärt ist die Frage, auf welche Rechtsgrundlage die Inanspruchnahme privater Eigentümer zur Beschaffung von Wohnraum zu stützen ist. Zwei Auffassungen stehen sich gegenüber: zum einen wird die Inanspruchnahme Dritter als Beschlagnahme bzw. Sicherstellung (§ 33 Abs. 1 Nr. 1 bwPolG; § 21 Nr. 1 MEPolG) qualifiziert 1 ; anderer Auffassung zufolge ist die polizeiliche Generalklausel als Ermächtigungsgrundlage heranzuziehen 2 . Erschwert wird die Zuordnung zur einen oder anderen Auffassung dadurch, daß bisweilen nicht zwischen der an den Obdachlosen adressierten Zuweisungsverfügung und der an den Eigentümer gerich1

So VGH Mannheim, NJW 1990, 2770, 2771; NVwZ-RR 1990, 476; DÖV 1990, 1056; NJW 1997, 2832, 2833; VG Bremen, NVwZ 1991, 706; Belz/Mußmann, PolG BW, §33, Rdnr. 2; DrewslWackelVogell Martens, Gefahrenabwehr, § 12, 11, b), S.209; Eichert, BWVPr. 1983, 211, 212; Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29, 33; Gössl, BWGZ 1984, 326, 329; Götz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 270; dersVB1BW 1987, 424; Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 196, 214; ReichertlRuderIFröhler, Polizeirecht, Rdnr. 328; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 244; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 116; Trockels, BWVPr. 1989, 145, 149; Wolf/Stephan, PolG BW, § 33, Rdnr. 2; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 3; Wolffgangl Hendricks! Merz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 181; Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 8. 2 OVG Münster, NVwZ 1991,692; NVwZ 1991,905f.; WuM 1990,581; OVG Berlin, NJW 1980,2484; VG Frankfurt, NVwZ 1990,498; Erichsenl Biermann, Jura 1998,371, 377; Ewerl v.Detten, NJW 1995, 353; Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 273; Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S.41; Tegtmeyer, PolG NW, §43, Rdnr. 5; Jochum, in Jochum/Rühle, Polizei- und Ordnungsrecht, E, Rdnr. 96; Möller/Wilhelm, Polizei- und Ordnungsrecht, S. 192; Volkmann, JuS 2001, 888, 890; unklar Schioer, DVB1. 1989,739, der möglicherweise die an den Obdachlosen gerichtete Zuweisungsverfügung meint.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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teten Inanspruchnahme unterschieden wird 3 . Die Aussage, daß die „Einweisungsverfügung" auf die Generalklausel zu stützen ist, besagt noch nichts für den vorliegenden Streit, welche Ermächtigungsgrundlage für die Inanspruchnahme des privaten Eigentümers heranzuziehen ist 4 . Unzutreffend sind jedenfalls die Ausführungen von Lübbe5 und Schock 6, die offenbar meinen, daß nur in Baden-Württemberg und Sachsen die Beschlagnahme als polizeiliche Standardmaßnahme geregelt sei und aus diesem Grunde in allen anderen Bundesländern die Generalklausel Rechtsgrundlage sei. Hierbei wird allerdings übersehen, daß inzwischen in den Polizeigesetzen aller Bundesländer eine von der Regelung des § 21 MEPolG zumeist nur geringfügig abweichende Ermächtigungsgrundlage eingeführt wurde 7. Lediglich die Terminologie ist eine andere: in der Tat wird die hier in Betracht kommende Ermächtigungsgrundlage nur in Baden-Württemberg (vgl. § 33 Abs. 1 Nr. 1 bwPolG) und Sachsen (vgl. § 27 Abs. 1 Nr. 1 sächsPolG) „Beschlagnahme" genannt, während der Musterentwurf (vgl. § 21 MEPolG) sowie die Polizeigesetze anderer Länder den Begriff der „Sicherstellung" gebrauchen. Inhaltliche Differenzierungen sind damit aber nicht verbunden8.

II. Die gesetzlichen Regelungen Der MEPolG sieht die Sicherstellung einer Sache grundsätzlich in drei verschiedenen Konstellationen vor: 1. zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr (§21 Nr. 1 MEPolG) 2. zum Schutz des Eigentümers oder Besitzers vor Verlust oder Beschädigung (§21 Nr. 2 MEPolG) 3. zur Verhinderung der mißbräuchlichen Verwendung der Sache durch eine festgehaltene Person (§ 21 Nr. 3 MEPolG) Die entsprechenden Regelungen in den einzelnen Bundesländern stimmen überwiegend - unter geringen Wortlautabweichungen - mit dem Vorschlag des Muster3 So z.B. Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr.735, der ausführt, die „Einweisungsverfügung" gegenüber dem Obdachlosen werde auf die Generalklausel gestützt, als andere Auffassung aber VGH Mannheim, NVwZ-RR 1990, 476 zitiert, obwohl diese Entscheidung sich nur auf die an den Eigentümer adressierte Inanspruchnahme bezieht. 4 Zur Unterscheidung zwischen Inanspruchnahmeverfügung und Zuweisungsverfügung vgl. auch oben 1. Teil, 1. Abschn., A. 5 Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.38, Fn. 157. 6 Schoch, JuS 1995, 32, 34, dort insbesondere Fn. 81. 7 Vgl. die Aufzählung der entsprechenden Vorschriften der Polizeigesetze der anderen Bundesländer bei Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 652; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 109, Fn.224. 8 Vgl. hierzu auch sogleich unter 2. Teil, 1. Abschn., A, II.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

entwurfs überein. Terminologisch, ohne daß damit allerdings eine inhaltliche Differenzierung verbunden wäre, bestehen jedoch Unterschiede: Während sich die meisten Bundesländer an der Terminologie des Musterentwurfs orientieren und von einer einheitlichen Sicherstellung ausgehen, werden in Baden-Württemberg und Sachsen die unter Nr. 1 und Nr. 3 geregelten Fälle als „Beschlagnahme"9 und allein die unter Nr. 2 geregelte Maßnahme zum Schutze des Berechtigten als „Sicherstellung" bezeichnet10. Hinsichtlich der Inanspruchnahme eines privaten Eigentümers kommt ausschließlich die Sicherstellung zur Abwehr einer gegenwärtigen Gefahr (§ 21 Nr. 1 MEPolG; § 33 Abs. 1 Nr. 1 bwPolG) in Betracht. Da die Darstellung auf dem baden-württembergischen Landesrecht beruht, soll im folgenden daher der baden-württembergischen Terminologie folgend der Begriff der „Beschlagnahme" verwendet werden.

III. Der Beschlagnahmebegriff Eine einheitliche Definition der Beschlagnahme hat sich bisher in Rechtsprechung und Literatur nicht herausgebildet. Einigkeit dürfte darüber bestehen, daß für die Beschlagnahme die Beendigung des Gewahrsams des Eigentümers oder sonstigen Berechtigten und die Begründung neuen Gewahrsams an einer Sache durch die Polizei oder von ihr beauftragten Personen charakteristisch ist 11 . Häufig wird auch anstelle oder neben dem Begriff der Gewahrsamsbegründung der Terminus der „Inbesitznahme12" der Sache durch die öffentliche Hand verwendet. Wenngleich Besitz im zivilrechtlichen Sinne aufgrund seiner normativen Ausgestaltung durchaus einen anderen Bedeutungsgehalt als der grundsätzlich eher faktisch zu verstehende Gewahrsam haben kann, so ist doch beiden Begriffen das Merkmal der tatsächlichen Sachherrschaft gemeinsam. Darüber hinaus wird mit guten Gründen von einem Teil der Literatur gefordert, daß die Begründung hoheitlicher Sachherrschaft unter gleichzeitigem Ausschluß des Berechtigten gerade Zweck und nicht nur bloße Nebenfolge der Maßnahme ist 13 . 9

§33 bwPolG; §27 sächsPolG. § 32 bwPolG; § 26 sächsPolG. 11 DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, § 12,11 a), S.209; Gaul, VB1BW 1996,1 (7 f.); Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 306; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 251; weiter allerdings Schwabe, NJW 1983,369,373, der sogar das kurzfristige Ansichnehmen einer Sache durch die öffentliche Hand ohne Gewahrsamsbeendigung als Beschlagnahme ansehen will. 12 So beispielsweise Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 653. 13 Vgl. Klenke, NWVB1. 1994, 288; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 654; Möller [Wilhelm, Allgemeines Polizeirecht, S. 196; Nagel, Polizeiliche Sicherstellung, S. 10 ff.; Peters/Schell, BWVPr. 1989, 246, 247; Würtenberger/Görs, JuS 1981, 596, 599; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 486; vgl. auch Knemeyer, Polizeirecht, Rdnr. 252, Fn. 64; vgl. ausführlich hierzu Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 100ff. m. w. Nachw. 10

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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Bisweilen ist vorgeschlagen worden, die Begründung eines Verwahrungsverhältnisses als begriffsbildendes Merkmal der Beschlagnahme anzusehen14. Unabhängig davon, was unter der Begründung eines Verwahrungsverhältnisses verstanden werden soll 15 , spricht gegen diese Definition bereits der Wortlaut der Vorschrift des § 3 DVO bwPolG und des § 22 Abs. 1 S. 1 MEPolG. Am Wortlaut des § 22 Abs. 1 S. 1 MEPolG wird dies besonders deutlich: „Sichergestellte Sachen sind in Verwahrung zu nehmen". Hieraus folgt, daß Sicherstellung bzw. Beschlagnahme und Verwahrung zwei voneinander zu unterscheidende Begriffe sind 16 ; das verwendete Partizip Perfekt „sichergestellte" zeigt, daß die Verwahrung sich offensichtlich zeitlich erst an die Sicherstellung anschließt, also deren Folge ist. Als bloße Folge der Sicherstellung kann sie aber nicht den Begriff ihrer Voraussetzungen prägen 17. Zudem ist die Verwahrung auch nicht zwingende Rechtsfolge der Beschlagnahme18; denkbar ist ebenso, daß eine Sache auf andere Weise gesichert wird (vgl. § 22 Abs. 1 S. 2 MEPolG), verwertet, unbrauchbar gemacht oder vernichtet wird (vgl. §§3 Abs. 2 DVO bwPolG, 34 bwPolG, 23 MEPolG) 19 . Demnach ist die Beschlagnahme die zweckgerichtete, gerade als Mittel der Gefahrenabwehr dienende hoheitliche Begründung der Sachherrschaft unter gleichzeitiger Ausschließung der Sachherrschaft des Berechtigten 20.

14 So Gaul, VB1BW 1996, 1, 6; vgl. auch Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 236; Schumann, Polizeiund Ordnungsrecht, S. 122: „Sicherstellungw [...] ist die Begründung eines öffentlichrechtlichen Verwahrungsverhältnisses". 15 Gaul, VB1BW 1996, 1, 6 will hierunter bereits die Inbesitznahme einer Sache verstehen; ähnlich Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 256; vgl. näher zu den Voraussetzungen eines Verwahrungsverhältnisses unten 1. Teil, 1. Abschn., E, I, 1. 16 So auch Gaul, VB1BW 1996, 1, 6, ohne jedoch daraus die allein zutreffende Konsequenz zu ziehen, daß damit die Beschlagnahme die Verwahrung nicht voraussetzen kann. Aufgrund seiner unzutreffenden Prämisse, daß die Beschlagnahme die Begründung eines Verwahrungsverhältnisse voraussetze, meint er, die Vorschrift könne nur so interpretiert werden, daß an sichergestellten Sachen die Verwahrung fortzusetzen sei, was aber eindeutig dem Wortlaut der Vorschrift widerspricht und daher nicht überzeugen kann. 17 Schwabe, NJW 1983, 369, 372; Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S.98. 18 So aber Gaul, VB1BW 1996,1,6; Knemeyer, Polizeirecht, Rdnr. 256; Möller/Wilhelm, Polizei- und Ordnungsrecht, S. 183; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 654; a.A. zu Recht Schwabe, NJW 1983, 369, 372; Bernerl Köhler, PAG, Art. 25, Rdnr. 9. 19 So zutreffend Schwabe, NJW 1983, 369, 372; ihm folgend Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S.98. 20 Vgl. Klenke, NWVB1. 1994, 288; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 654; Möller [Wilhelm, Allgemeines Polizeirecht, S. 196; Nagel, Polizeiliche Sicherstellung, S. lOff.; Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 100ff.

2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

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IV. Die Inanspruchnahme des Eigentümers als Beschlagnahme i.S.d. §33 Abs. 1 Nr. 1 bwPolG? Anhand dieses Beschlagnahmebegriffs ist somit zu prüfen, ob die Inanspruchnahme eines privaten Eigentümers zur Beschaffung von Wohnraum als Beschlagnahme im rechtlichen Sinne zu qualifizieren ist. 1. Beschlagnahme einer unbeweglichen Sache Der Annahme einer Beschlagnahme steht nicht entgegen, daß es sich bei Wohnraum um einen unbeweglichen Gegenstand handelt. Beschlagnahmefähig sind nämlich alle körperlichen Gegenstände i. S. d. § 90 BGB und somit auch Grundstücke und Grundstücksbestandteile, zu denen auch Gebäude und Gebäudeteile gehören21. 2. Abwehr einer von der zu beschlagnahmenden Sache unabhängigen Gefahr Die Inanspruchnahme privaten Wohnraums ist dadurch gekennzeichnet, daß die Gefahr ihren Ursprung nicht in den Räumlichkeiten selbst hat, sondern diese quasi als Mittel dienen, um die Gefahr für die Individualrechte des Obdachlosen abzuwehren. Fraglich erscheint somit, ob die Voraussetzungen einer Beschlagnahme i. S. d. § 33 Abs. 1 Nr. 1 bwPolG (§21 Nr. 1 MEPolG) auch dann vorliegen, wenn die Gefahr unabhängig von der Sache besteht und diese zur Abwehr einer anderweitig bestehenden Gefahr verwendet werden soll. Die wohl überwiegende Meinung geht davon aus, daß die Beschlagnahme bzw. Sicherstellung nur die Fälle erfasse, in denen die Gefahr von der Sache selbst oder der Möglichkeit ihrer mißbräuchlichen Verwendung ausgeht22. So lehnt beispielsweise Volkmann aus diesem Grunde die Beschlagnahmevorschrift als Ermächtigungsgrundlage für die Inanspruchnahme eines privaten Eigentümers ab 23 . Wenn auch zuzugeben ist, daß die erwähnten Konstellationen sicherlich die Standardfälle der Beschlagnahme bilden, so können diese jedoch keinesfalls abschließenden Charakter haben. Für eine Einbeziehung auch der Fälle, in denen durch die Beschlagnahme eine anderweitig bestehende Gefahr abge21

Belz/Mußmann, PolG BW, § 33, Rdnr. 2; Honnackerl Beinhof er, PAG, Art. 25, Anm. 7; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 657; Tegtmeyer, PolG NW, §43, Rdnr. 2; Wölfl Stephan, PolG BW, §33, Rdnr. 13; Wolff gangl Hendricks! Merz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 181. 22 Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 236; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 661; Roos, RhPfPAG, § 22, Rdnr. 1; Tegtmeyer, PolG NW, § 43, Rdnr. 2 und 4: „Geht es der Polizei darum, eine Sache, der weder eine Gefahr droht noch von der eine Gefahr an sich oder in der Hand des Eigentümers oder Besitzers ausgeht, vorübergehend zur Gefahrenabwehr zu nutzen, ist das aufgrund anderer Standardermächtigungen [...] oder der Generalklausel [...] möglich"; Volkmann, JuS 2001, 888, 890. 23 Vgl. Volkmann, JuS 2001, 888, 890; ebenso auch Roos, RhPfPAG, §22, Rdnr. 1.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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wehrt werden soll, spricht bereits der Wortlaut der Vorschrift. Nach § 21 Nr. 1 MEPolG kann die Polizei „eine Sache sicherstellen, um eine gegenwärtige Gefahr abzuwehren". § 33 Abs. 1 Nr. 1 bwPolG spricht von der Erforderlichkeit der Beschlagnahme zum Schutz gegen eine „unmittelbar bevorstehende Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung". Weder § 21 MEPolG noch § 33 bwPolG engen den Begriff der abwehrbaren Gefahr auf eine in Zusammenhang mit der Sache oder deren Verwendung bestehenden Gefahr ein, sondern benutzen einen insoweit neutralen Gefahrenbegriff. Für eine Erfassung auch der von der Sache oder deren potentieller Verwendung unabhängigen Gefahr streiten ferner systematisch-teleologische Erwägungen im Hinblick auf die Anwendbarkeit der allgemeinen Regelungen über die Adressaten polizeilicher Maßnahmen (§§ 6ff. bwPolG; 4ff. MEPolG) und somit auch der Vorschrift über die Inanspruchnahme eines Nichtstörers (§§9 bwPolG; 6 MEPolG). Die Regelungen über die Standardmaßnahmen bestimmen zwar weitgehend selbständig und abschließend, wer Adressat einer Maßnahme sein soll, so daß sich grundsätzlich nach dem allgemeinen Grundsatz „lex specialis derogat legi generali" ein Rückgriff auf die allgemeinen Adressatenregelungen verbietet 24. Etwas anderes gilt jedoch dann, wenn eine Standardmaßnahme keine bestimmte Adressatenregelung trifft. Dann greifen die allgemeinen Regelungen über den Polizeipflichtigen, die letztlich einen allgemeinen Grundsatz des Verwaltungsrechts im Bereich der Eingriffsverwaltung darstellen 25 und, soweit keine abschließende Normierung besteht, für den gesamten Bereich der Gefahrenabwehr 26 gelten, subsidiär ein. Im Gegensatz zur Beschlagnahme einer Sache bei einer festgehaltenen Person (§ 33 Abs. 1 Nr. 2 bwPolG; § 21 Nr. 3 MEPolG), wo die entsprechende festgehaltene Person als Adressat der polizeilichen Maßnahme spezifiziert ist, enthält § 33 Abs. 1 Nr. 1 bwPolG (§ 21 Nr. 1 MEPolG) gerade keine Adressatenregelung, so daß dem oben genannten Grundsatz entsprechend die allgemeinen Vorschriften über den Adressaten der polizeilichen Maßnahme heranzuziehen sind. Eine an einen Nichtstörer adressierte Beschlagnahme gem. § 9 Abs. 1 bwPolG (§6 Abs. 1 MEPolG) ist aber gerade nur in den Fällen denkbar, in denen eine von der Sache oder deren Verwendung völlig unabhängige Gefahr mit Hilfe der beschlagnahmten Sache abgewehrt werden soll. Als Beispiel denke man an die Beschlagnahme eines Kfz zum Transport eines Verletzten 27 oder an die Beschlagnahme von Bausand, um eine Ölspur abzustreuen28. Würde man so24 So explizit für die Standardmaßnahmen Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 208; allgemein für spezialgesetzliche Regelungen auch Drews/Wacke/VogeUMartens, Gefahrenabwehr, § 19, 2, S.291. 25 Vgl. Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 11, 2, d), S. 171; Wolf/Stephan, PolG BW, §6, Rdnr. 1. 26 Vgl. VGH Mannheim, VB1BW 1995,64,65;NVwZ-RR\9%9,593;Belz/Mußmann, ?o\G BW, § 6, Rdnr. 3; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 11, 2, d), S. 171; Wolf/Stephan, PolG BW, §6, Rdnr. 1. 27 Beispiel nach Belz/Mußmann, PolG BW, § 33, Rdnr. 2. 28 Beispiel nach Nagel, Polizeiliche Sicherstellung, S. 16.

7 Reitzig

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungserfügung

mit die Anwendung der Beschlagnahmevorschrift auf die Abwehr dieser Art der Gefahr verneinen, so hieße dies im Ergebnis, die Notstandsregelung i. S. d. § 9 Abs. 1 bwPolG (§ 6 Abs. 1 MEPolG) im Rahmen des § 33 Abs. 1 Nr. 1 bwPolG (§ 21 Nr. 1 MEPolG) keine Anwendung finden zu lassen, was aber angesichts der Tatsache, daß die sog. „eingeschränkte Generalklausel" im Rahmen der Beschlagnahmevorschrift ersichtlich keine Adressatenregelung trifft, nicht einsichtig wäre 29. 3. Begründung hoheitlicher Sachherrschaft unter Ausschließung der Sachherrschaft des Berechtigten als Mittel der Gefahrenabwehr? Fraglich ist, ob die Inanspruchnahme des Eigentümers zur Begründung einer hoheitlichen Sachherrschaft unter Ausschluß des Berechtigten zum Zwecke der Gefahrenabwehr führt und somit unter den entwickelten Beschlagnahmebegriff zu subsumieren ist. a) Sachherrschaftsverhältnisse im Fall der „Fremdzuweisung" und der „echten Wiederzuweisung" Zu untersuchen ist hierbei zunächst der Fall der „Fremdzuweisung" und der „echten Wiederzuweisung". Da hier aufgrund der Tatsache, daß sich der Obdachlose nicht (mehr) in der Wohnung befindet, in der Regel zwischen Inanspruchnahme des Eigentümers und beginnender Nutzung der Wohnung durch den Obdachlosen eine gewisse, wenn auch kurze Zeitspanne liegt, ist eine deutlichere Analyse der Sachherrschaftsverhältnisse möglich. aa) Begründung hoheitlicher Sachherrschaft unter Ausschluß des Berechtigten Entscheidend für die Begründung einer Sachherrschaft ist die Herstellung einer tatsächlichen Herrschaftsmacht, um auf eine Sache unmittelbar einwirken zu können, wobei deren Vorliegen nach der Verkehrsanschauung aufgrund zusammenfassender Wertungen aller Umstände zu beurteilen ist 30 . Mit der Inanspruchnahme des Eigentümers ist eine derartige Einwirkungsbefugnis der öffentlichen Hand auf den Wohnraum zu bejahen. Ab dem Zeitpunkt der Inanspruchnahme kann die Polizei sich ungehindert Zutritt verschaffen, um sich über den Zustand des Wohnraums zu 29 Für die Anwendbarkeit der Beschlagnahmevorschrift in dieser Konstellation - allerdings ohne nähere Begründung - auch Belz/Mußmann, PolG BW, § 33, Rdnr. 2; Nagel, Polizeiliche Sicherstellung, S. 17; Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 107, 109. 30 BGHZ 101,186; Bassenge, in: Palandt, BGB, § 854, Rdnr. 2; Wolf/Stephan, PolG BW, § 7, Rdnr. 8.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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31

informieren ; sie allein kann über die weitere Verwendung des Wohnraums disponieren. Bezeichnenderweise definiert Hegel, obwohl er die Generalklausel als Ermächtigungsgrundlage ansieht, den Inhalt der Inanspruchnahmeverfügung als eine „durch hoheitlichen Befehl angeordnete, erforderlichenfalls im Zwangswege durchsetzbare Bereitstellung bestimmter Räumlichkeiten und deren Inverfügungnahme und Verwendung seitens der Behörde 32". Umgekehrt wird dem Eigentümer durch die Inanspruchnahme die weitere Nutzungsmöglichkeit und damit die tatsächliche Sachherrschaft über den Wohnraum entzogen. Er hat weder die Möglichkeit, den Wohnraum weiter zu vermieten noch ihn selbst zu beziehen. Besonders deutlich ist der Entzug der tatsächlichen Gewalt des Eigentümers und ihre Begründung durch die Polizei dann, wenn eine Versiegelung der Räume bis zum Einzug des Obdachlosen erfolgt 33. Bei der Versiegelung handelt es sich - wie bei der Inverwahrungnahme beweglicher Sachen - um eine mögliche Durchführung der Beschlagnahme34, die die Begründung einer tatsächlichen Sachherrschaft auch nach außen hin manifestiert. bb) Sachherrschaft des Obdachlosen nach Bezug der zugewiesenen Räumlichkeiten Damit ist freilich noch nichts darüber gesagt, wie sich die Sachherrschafts Verhältnisse nach Bezug des Wohnraums durch den Obdachlosen gestalten. Hier setzt der Haupteinwand gegen die Zugrundelegung der Rechtsgrundlage der Beschlagnahme ein: So führen ErichseniBiermann aus, daß letztlich nicht die Polizei, sondern der Obdachlose die tatsächliche Sachherrschaft über die Wohnung erlange, was der Annahme einer Beschlagnahme entgegenstehe35. Zu prüfen ist daher, inwieweit diese Prämisse zutreffend ist und wenn ja, welche Konsequenzen ggf. daraus zu ziehen sind. Zu trennen ist die Frage der Erlangung der tatsächlichen Sachherrschaft über die Räume von dem an anderer Stelle relevant werdenden Problem, wie sich die zivilrechtlichen Besitzverhältnisse nach der Zuweisung des Wohnraums gestalten36. Wenn auch der unmittelbare Besitz i. S. d. § 854 Abs. 1 BGB den Erwerb der tatsächlichen Sachherrschaft über eine Sache voraussetzt, so unterscheidet sich doch der Besitz im Sinne der bürgerlich-rechtlichen Vorschriften vom rein faktisch zu verstehenden Sachherrschaftsbegriff durch seine normative Ausgestaltung. So übt auch 31 Dies gilt jedenfalls bis zum Bezug der Räumlichkeiten durch den Obdachlosen. Nach Bezug greift der Schutz des Art. 13 GG, so daß ein Zutritt der Polizei nicht mehr ohne weiteres möglich ist; vgl. näher unten 2. Teil, 1. Abschn., A, IV, 3, a), cc). 32 Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S.41. 33 Vgl. auch Wolf/Stephan, PolG BW, § 33, Rdnr. 14. 34 Vgl. VGH Kassel, NJW 1981, 2270; DVB1. 1984, 794; OVG Münster, OVGE 21, 204. 35 Erichseni Biermann, Jura 1998, 371, 377. 36 Heftig umstritten ist in diesem Zusammenhang, ob der Obdachlose als unmittelbarer Besitzer oder als Besitzdiener anzusehen ist; vgl. dazu 3. Teil, C, I, 1, a).

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

der Besitzdiener i. S. d. § 855 BGB tatsächliche Sachherrschaft aus37, ohne aber unmittelbarer Besitzer i. S. d. § 854 Abs. 1 BGB zu sein. Daß spätestens mit Bezug der Wohnung der Obdachlose die eine Sachherrschaft konstituierende tatsächliche Einwirkungsmöglichkeit auf den Wohnraum hat, läßt sich schlechterdings nicht bestreiten: er ist Besitzer der Wohnungsschlüssel, so daß der Wohnraum jederzeit für ihn zugänglich ist 38 ; er kann die Räume nach Belieben aufsuchen und verlassen, dort schlafen, essen sowie seine Einrichtungsgegenstände in den Räumlichkeiten aufstellen.

cc) Fortwährende Sachherrschaft der Polizei während der Nutzung des Wohnraums durch den Obdachlosen? Denkbar wäre allerdings, daß neben dem zugewiesenen Obdachlosen gleichzeitig auch die Polizei die Herrschaftsmacht über den in Anspruch genommenen Wohnraum ausübt, was freilich voraussetzen würde, daß auch sie eine fortwährende unmittelbare Einwirkungsmöglichkeit auf den Wohnraum hat. Gegen eine derartige Annahme spricht allerdings das Grundrecht auf Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 GG. Der Begriff der Wohnung i. S.d. Art. 13 Abs. 1 GG umfaßt Räumlichkeiten, die zum Aufenthalt von Menschen für einen längeren Zeitraum geeignet und bestimmt sind39 und als Stätte privaten Lebens und Wirkens dienen40. Die dem Obdachlosen zugewiesenen Räumlichkeiten erfüllen diese Voraussetzungen, wird doch dem Betroffenen durch die Zuweisung gerade die Möglichkeit eingeräumt, über einen nicht unerheblichen Zeitraum der Allgemeinheit nicht zugängliche Räume zu beziehen, sich dort wohnlich einzurichten und diese jederzeit aufzusuchen 41. Nicht überzeugen kann hingegen die Auffassung, daß nur der unmittelbare Besitzer i. S. d. § 854 BGB vom persönlichen Schutzbereich des Art. 13 Abs. 1 GG erfaßt werde 42, was bei Annahme einer Besitzdienerschaft des Obdach37 Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 216; DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, §21, 3, a), S. 329; Mußmann, Polizeirecht, Rdnr. 284; Reichertl Ruder! Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 272; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 181. 38 Der Besitz des Schlüssels wird von Rechtsprechung und Literatur als entscheidendes Kriterium für das Bestehen einer tatsächlichen Gewalt über eine Sache angesehen; vgl. Bassenge, in: Palandt, BGB, § 854, Rdnr. 6 m. w. Nachw. 39 Herdegen, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 13, Rdnr. 28; Gornig, in: v. Mangoldt/Klein/ Stark, GG, Art. 13, Rdnr. 13. 40 Gornig, in: v. Mangoldt/Klein/Stark, GG, Art. 13, Rdnr. 13\Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 13, Rdnr. 2. 41 Vgl. auch OVG Berlin, NVwZ-RR, 1990,194,195; Reichert/Ruder/Fröhler, Polizeirecht, Rdnrn.201, 325, welche auch die Räume in einer Obdachlosenunterkunft als von Art. 13 GG geschützt ansehen. Dies muß somit für eine „beschlagnahmte" Privatwohnung, die wohl ein höheres Maß an privater Rückzugsmöglichkeit bietet, erst recht gelten. 42 So aber Maunz, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 13, Rdnr. 4.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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losen i. S. d. § 855 BGB dazu führen würde, daß sich dieser nicht auf einen Schutz des Art. 13 GG berufen könnte. Ausgehend vom Sinn und Zweck des Grundrechts, einen Schutz der räumlichen Privatsphäre zu schaffen, kann nicht an zivilrechtliche Besitzformen angeknüpft werden, sondern ist allein zu fragen, ob in den Räumlichkeiten die Möglichkeit privater Lebensgestaltung besteht und dem Betroffenen ein Mindestmaß an Dispositionsbefugnis über diese zusteht44. Angesichts der Tatsache, daß der Obdachlose persönliche Einrichtungsgegenstände in der Wohnung aufstellen kann, sie nach Belieben aufsuchen und verlassen kann, kann jedoch an der Möglichkeit privater Lebensgestaltung und gewisser Dispositionsbefugnis über die Räume kein Zweifel bestehen. Mit dem Bestehen eines Schutzes auf Unverletzlichkeit der Wohnung aus Art. 13 GG ist aber die Annahme einer unmittelbaren Einwirkungsmöglichkeit der Polizei auf den Wohnraum während der Nutzungszeit durch den Obdachlosen nicht vereinbar. Eine Befugnis der Polizei, den Wohnraum jederzeit ungehindert zu betreten, besteht nämlich damit nur unter engen, dem Gesetzesvorbehalt des Art. 13 Abs. 7 GG genügenden Eingriffsvoraussetzungen 45, so daß von einer physisch-realen Einwirkungsmöglichkeit im Sinne einer jederzeitigen Zugangsmöglichkeit schwerlich die Rede sein kann 46 . Auch die Annahme, daß die Polizei „Weisungen hinsichtlich der Art, des Umfangs und der Dauer der Benutzung"47 erteilen könne, kann die Fortdauer einer hoheitlichen Sachherrschaft über den zugewiesenen Wohnraum nicht begründen48. Zwar ist es durchaus richtig, daß die Polizei das Nutzungsrecht des Obdachlosen an den konkreten Räumlichkeiten durch Aufhebung der Zuweisungsverfügung be43 In der Tat wird von einem beträchtlichen Teil der Rechtsprechung und Literatur vertreten, daß der Obdachlose nur Besitzdiener sei, vgl. z.B. OVG Koblenz, AS 9, 88, 93; VGH Mannheim, NJW 1990, 2770, 2771; Bettermann, MDR 1957, 130, 132; Noack, DGVZ 1978, 161, 162; Roth, DVB1. 1996, 1401, 1402; a. A. Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S.66ff.; Schoenenbroicher, MDR 1993, 97, 98f.; offen BGHZ 130, 332, 337; vgl. zu diesem Problem näher unten 3. Teil, C, I, 1, a). 44 So auch Gornig, in: v. Mangoldt/Klein/Stark, GG, Art. 13, Rdnr. 31; Herdegen, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 13, Rdnr. 36; vgl. auch Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 13, Rdnr. 15, der die ausschließliche Orientierung am Besitz als zu eng und zu formal bezeichnet; Kunig, Jura 1992, 476,479. 45 Eine bereichspezifische Umsetzung liegt in der Eingriffsnorm des § 31 Abs. 1 bwPolG, wonach nur bei dringenden Gefahren für die öffentliche Sicherheit oder Ordnung ein Betreten einer Wohnung zulässig ist. 46 So auch Reichertl Ruder/Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 325: „Da es sich bei einer Obdachlosenunterkunft um eine Wohnung i. S.d. Art. 13 GG handelt [...], besteht kein allgemeines Betretungsrecht der Ortspolizeibehörde". 47 So die Formulierung bei Bettermann, MDR 1957, 130, 132. 48 Anders aber offensichtlich diejenigen Stimmen, die einen unmittelbaren Besitz der Polizei i. S. d. § 854 BGB während der Nutzungsdauer durch den Obdachlosen bejahen, vgl. die Nachw. unter Fn. 43.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

enden und den Betroffenen in eine andere Unterkunft „umsetzen" kann49. Die Befugnis, dem Inhaber der tatsächlichen Sachherrschaft diese wieder zu entziehen, kann jedoch nicht ausreichen, um eine eigene Sachherrschaft zu konstituieren. Dies wird an der Vorschrift des § 695 BGB deutlich: Auch der Hinterleger kann gem. § 695 BGB die verwahrte Sache jederzeit vom Verwahrer zurückfordern, ohne daß deshalb eine unmittelbare Sachherrschaft und damit nach zivilrechtlichen Maßstäben ein unmittelbarer Besitz i. S. d. § 854 Abs. 1 BGB des Hinterlegers hinsichtlich der Sache angenommen werden würde 50. Auch soweit angenommen wird, daß der Obdachlose entweder aufgrund eines sog. besonderen Gewaltverhältnisses51 oder aufgrund der polizeilichen Generalklausel52 Weisungen hinsichtlich der Nutzung des Wohnraums unterliege, führt dies nicht zu einem Bestehen einer Sachherrschaft der öffentlichen Hand. Zwar ist es durchaus anerkannt, daß ein Mangel an aktueller Einwirkungsmöglichkeit durch die Befugnis, Weisungen hinsichtlich der Sache zu erteilen, kompensiert werden kann. Grund dafür ist letztlich eine normative Zurechnung aufgrund der Verkehrsanschauung, die es verbietet, trotz gewisser Lockerungen der Herrschaftsbeziehungen aufgrund weiterhin bestehender Weisungsbefugnis eine Beendigung der Sachherrschaft anzunehmen. So wird beispielsweise fast einhellig davon ausgegangen, daß bei kurzfristiger Überlassung eines Fahrzeugs an einen Dritten die Zustandsverantwortlichkeit des Halters gem. § 7 bwPolG (§5 MEPolG), die ebenfalls die tatsächliche Gewalt über die Sache voraussetzt, nicht verloren geht 53 , was maßgeblich darauf gestützt wird, daß der Halter trotz Verlusts der unmittelbaren Zugriffsmöglichkeit durch Einflußnahme auf den Fahrer mittelbar auf die Sache einwirken kann 54 . Auch im Strafrecht wird ein Mitgewahrsam und damit eine Sachherrschaft des Unternehmers an einem Kfz und dessen Inhalt anerkannt, wenn der angestellte Fahrer des Kfz Fahrten in nur geringer Entfernung unternimmt 55. Diesen Fällen ist jedoch gemeinsam, daß es sich hierbei immer nur um Lockerungen der Herrschaftsbeziehungen von kurzer Dauer 56 handelt. Nur dann kann noch von einer Kompen49 Dogmatisch handelt es sich bei der „Umsetzung" um drei verschiedene Verwaltungsakte. Zum einen erfolgt die Aufhebung der Zuweisungsverfügung, des weiteren ergeht eine auf die Generalklausel gestützte Räumungsverfügung und schließlich die erneute Zuweisung einer anderen Unterkunft. 50 Es handelt sich hierbei vielmehr um einen klassischen Fall des mittelbaren Besitzes i.S. d. §868 BGB. 51 So Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 55; ähnlich Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 262. 52 So Spannowsky, BWVPr. 1991, 197, 199. 53 VGH Kassel, NVwZ 1988,655; VGH Mannheim, VB1BW 1990,257,260; Knöll, DVB1. 1980, 1027, 1032; Kottmann, DÖV 1983,493, 496; a. A. Schoch, JuS 1994, 932, 935. 54 Kottmann, DÖV 1983, 493, 496; ausführlich Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 186f. m.w.Nachw. 55 Eser, in: Schönke/Schröder, StGB, § 242, Rdnr. 33. 56 Auf die Kurzfristigkeit weisen beispielsweise ausdrücklich Knöll, DVB1. 1980, 1027, 1032 f.; Würtenberger/Görs, JuS 1981, 596, 601 hin.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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sation durch eine fortbestehende Weisungsbefugnis ausgegangen werden. Von einer Kurzfristigkeit der Lockerung der Herrschaftsbeziehung kann jedoch bei der Zuweisung von Wohnraum an einen Obdachlosen nicht die Rede sein. Üblicherweise erfolgt diese über einen Zeitraum von mehreren Monaten57. Auch wenn im Einzelfall die Nutzung schon früher beendet wird, etwa weil eine gemeindliche Unterbringungsmöglichkeit besteht und daher der Obdachlose „exmittiert" wird, so ändert dies doch nichts daran, daß die Nutzungsüberlassung ex ante auf einen längeren Zeitraum angelegt war und daher den Obdachlosen beispielsweise veranlaßt, den Wohnraum einzurichten und somit auch nach außen hin sichtbar für seine ausschließliche Nutzung zu beanspruchen. dd) Zwischenergebnis Als Ergebnis der Untersuchung der Sachherrschafts Verhältnisse kann daher festgehalten werden, daß mit der Inanspruchnahme zunächst die Behörde die tatsächliche Gewalt über den Wohnraum begründet. Während der Nutzungsdauer des Wohnraums durch den Obdachlosen übt allerdings ausschließlich dieser die Sachherrschaft über den Wohnraum aus. Eine daneben bestehende hoheitliche Sachherrschaft der Polizei liegt während dieses Zeitraums nicht vor. ee) Auswirkungen auf das Vorliegen der Beschlagnahmevoraussetzungen Entgegen der Auffassung von Erichsen!Biermann hat dieses Ergebnis jedoch nicht zur Folge, daß die Ermächtigungsgrundlage der Beschlagnahme (§ 33 Abs. 1 Nr. 1 bwPolG; § 21 Nr. 1 MEPolG) nicht einschlägig ist; im Gegenteil, es bestätigt sogar eine darartige Qualifikation der Maßnahme. An einen Dritten weitergeben kann die Behörde die Sachherrschaft nämlich nur, wenn sie sie selbst vorher innehatte58. Die Begründung ausschließlicher hoheitlicher Sachherrschaft ist somit zwingende Voraussetzung für die spätere Überlassung derselben an den Obdachlosen. Übersehen wird zudem von der Gegenauffassung, daß § 33 bwPolG (§21 MEPolG) nur die Begründung einer hoheitlichen Sachherrschaft voraussetzt, nicht aber erforderlich ist, daß diese während der gesamten Dauer der Beschlagnahme fortdauert. Dies wird bereits durch die Vorschrift des § 3 Abs. 1 S. 2 DVO bwPolG i.V. m. § 3 Abs. 3 DVO bwPolG belegt, wonach im Falle der Unmöglichkeit oder Unzweckmäßigkeit der amtlichen Verwahrung die beschlagnahmte Sache einem Dritten zur Verwahrung gegeben werden kann. Auch in einem solchen Fall kann nicht von einer unmittelbaren Sachherrschaft der öffentlichen Hand während der gesamten Beschlagnahmedauer gesprochen werden, ohne daß dadurch das Vorliegen einer 57 58

Vgl. näher zur Dauer der Inanspruchnahme unten 2. Teil, 1. Abschn., C, II, 2, a). Vgl. auch Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 116.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

Beschlagnahme in Zweifel gezogen werden würde. Daß eine fortdauernde hoheitliche Sachherrschaft nicht Voraussetzung der Beschlagnahme sein kann, ergibt sich auch aus dem oben herausgearbeiteten Anwendungsbereich der Vorschrift im Hinblick auf die abwehrbare Gefahr. Zwar ist zuzugeben, daß die beschlagnahmte Sache im Regelfall in hoheitlicher Sachherrschaft verbleiben wird. Der innere Grund liegt dabei darin, daß in den wohl häufigsten Fällen der Beschlagnahme die Gefahr von der Sache selbst bzw. ihrer mißbräuchlichen Verwendung ausgeht. Hier kann die Gefahr nur abgewehrt werden, indem sowohl der Berechtigte als auch die Allgemeinheit von der Sachherrschaft ausgeschlossen bleiben. Erkennt man aber richtigerweise an, daß die Beschlagnahme auch zur Abwehr einer von der Sache völlig unabhängigen Gefahr möglich ist, so wird in diesen Fällen häufig eine andauernde Sachherrschaft der Polizei zu verneinen sein, da die Sache ja gerade anderweitig weiter eingesetzt wird. Werden beispielsweise Holzbalken „beschlagnahmt", um ein im Eigentum eines Dritten stehendes, vom Einsturz bedrohtes Haus abzustützen oder wird Bausand beschlagnahmt, um eine Ölspur auf der Fahrbahn abzudecken, so läßt sich auch hier schwerlich von einer weiterhin bestehenden hoheitlichen Sachherrschaft sprechen, ohne daß die Einschlägigkeit der Ermächtigungsgrundlage des § 33 bwPolG (§21 MEPolG) in Frage gestellt würde. b) Sachherrschaftsverhältnisse im Fall der „unechten Wiederzuweisung" Fraglich erscheint die Begründung einer hoheitlichen Sachherrschaft allerdings im Fall der unechten Wiederzuweisung, da hier der von Obdachlosigkeit Bedrohte zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme des Eigentümers bereits die unmittelbare Sachherrschaft über die Wohnräume hat. Mit der Inanspruchnahme und Zuweisung des Wohnraums ändert sich somit letztlich an den Sachherrschafts Verhältnissen nichts; der Zugewiesene bleibt auch nach der Inanspruchnahme des Eigentümers und Zuweisung Inhaber der tatsächlichen Sachherrschaft über den Wohnraum, so daß man daran zweifeln könnte, ob hier zu irgendeinem Zeitpunkt die für eine Beschlagnahme erforderliche Begründung einer hoheitlichen Sachherrschaft erfolgt ist. Jedoch kann auch in diesem Fall nichts anderes als bei der Fremdzuweisung und der echten Wiederzuweisung gelten. Durch die Inanspruchnahme und Zuweisung des Wohnraums zu einem Zeitpunkt, in dem der Räumungsschuldner die Wohnung noch nicht geräumt hat, wird lediglich eine unnötige Räumung und ein damit verbundener Wiedereinzug vermieden, ohne daß damit ein Unterschied sachlich-rechtlicher Art verbunden sein kann. Auch wenn die Inanspruchnahme des Eigentümers und die Wohnungszuweisung an den Obdachlosen quasi zeitgleich erfolgen, muß dennoch die öffentliche Hand zumindest für eine juristische Sekunde die Sachherrschaft begründen, um sie an den Obdachlosen weiterleiten zu können. Der Zeitpunkt der Inanspruchnahmeverfügung bildet somit in diesem Fall letztlich eine Zäsur: Leitet der Räumungsschuldner die tatsächliche Sachherrschaft vor der Inanspruchnahme noch vom Eigentümer ab, leitet er diese ab diesem Zeitpunkt von der Polizei ab.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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4. Ergebnis Als Ergebnis läßt sich festhalten, daß die Inanspruchnahmeverfügung eine Beschlagnahme i. S. d. § 33 bwPolG (§21 MEPolG) darstellt und demgemäß ein Rückgriff auf die Generalklausel ausgeschlossen ist. Die Maßnahme hat zur Folge, daß - zumindest für eine juristische Sekunde - hoheitliche Sachherrschaft begründet wird und diese dem Eigentümer für die Dauer der Beschlagnahme entzogen wird, so daß die Voraussetzungen des Beschlagnahmebegriffs erfüllt sind. Daß die Polizei die Sachherrschaft, möglicherweise auch unmittelbar, an den Obdachlosen weiterleitet und diese daher nicht während der gesamten Inanspruchnahme fortdauert, hat dagegen auf das Vorliegen der Beschlagnahmevoraussetzungen keinen Einfluß. Das hier gefundene Ergebnis wird auch durch die gesetzliche Regelung des § 27 Abs. 3 S. 2 sächsPolG bestätigt. Sowohl aus dem Wortlaut als auch aus dem systematischen Zusammenhang mit § 27 Abs. 1 sächsPolG folgt, daß die Inanspruchnahme Privater zur Beschaffung von Wohnraum in Sachsen wie selbstverständlich als Beschlagnahme qualifiziert wird und demnach nicht auf die Generalklausel zu stützen ist. Daß damit das sächsPolG einen eigenen Beschlagnahmebegriff zugrundelege, der für das Recht anderer Bundesländer nicht maßgeblich sein könne, wie dies Erichsen!Biermann 59 einwenden, kann hingegen schwerlich überzeugen.

B. Voraussetzungen der Nichtstörerinanspruchnahme Nachdem bereits oben herausgearbeitet wurde, daß der Wohnraumeigentümer mangels polizeirechtlicher Verantwortlichkeit als Nichtstörer anzusehen ist 60 , kommt die als Beschlagnahme zu qualifizierende Inanspruchnahme nur unter den engen Voraussetzungen des sog. polizeilichen Notstands (§9 bwPolG; § 6 MEPolG) in Betracht. Das Vorliegen der polizeilichen Notstandsvoraussetzungen, deren Anforderungen insbesondere im Hinblick auf die Beschlagnahme von Wohnraum zur Zuweisung von Obdachlosen im einzelnen sehr streitig sind, wird im folgenden näher zu untersuchen sein.

59 60

Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 377, Fn.98. Vgl. hierzu oben 1. Teil, 4. Abschn., C.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

I. Vorliegen einer qualifizierten Gefahr 1. Die Begriffe der „ gegenwärtigen erheblichen Gefahr " bzw. „ unmittelbar bevorstehenden Störung " Die Inanspruchnahme eines Nichtstörers setzt zunächst eine sog. qualifizierte Gefahr für ein polizeiliches Rechtsgut voraus 61. § 6 Abs. 1 Nr. 1 MEPolG spricht insofern von einer „gegenwärtigen erheblichen Gefahr". Unter einer gegenwärtigen Gefahr ist dabei eine Sachlage zu verstehen, bei der die Einwirkung des schädigenden Ereignisses bereits begonnen hat oder bei der diese Einwirkung in allernächster Zeit mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit bevorsteht62. Damit ergibt sich neben der Notwendigkeit einer besonderen zeitlichen Nähe des drohenden Schadens auch die einer besonderen Eintrittswahrscheinlichkeit: zu verlangen ist, daß der Schaden nicht nur sofort, sondern auch fast mit Gewißheit zu erwarten ist 63 . Das Erfordernis der Erheblichkeit der Gefahr bezieht sich auf das gefährdete Rechtsgut: vorausgesetzt wird insoweit eine Gefahr für ein bedeutsames Rechtsgut, wozu etwa Leben, Gesundheit, Freiheit, Bestand des Staates, nicht unwesentliche Vermögenswerte sowie andere strafrechtlich geschützte Güter gehören 64. § 9 Abs. 1 bwPolG fordert in etwas anderem Wortlaut eine „unmittelbar bevorstehende Störung der öffentlichen Sicherheit oder Ordnung". Sachliche Unterschiede sind damit jedoch nicht verbunden 65. Auch insoweit sind besondere Anforderungen an die zeitliche Nähe des Schadenseintritts und die Gefahrenprognose zu stellen66. § 9 Abs. 1 bwPolG sieht das Erfordernis einer erheblichen Gefahr zwar nicht explizit vor; nichts anderes ergibt sich aber auch ohne besondere gesetzliche Regelung aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip 67.

61

Das Erfordernis einer gegenwärtigen Gefahr bzw. einer unmittelbar bevorstehenden Störung folgt zudem auch aus der einschlägigen Ermächtigungsgrundlage der Beschlagnahme gem. § 33 Abs. 1 Nr. 1 bwPolG (§ 21 Nr. 1 MEPolG). 62 Vgl. SchollerlSchioer, Polizei- und Ordnungsrecht, §4, V, 5 a), S.72; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 266; Honnackerl Beinhof er, PAG, Art. 2, Anm. 4 a); Schmidbauer, in: Schmidbauer/Steiner/Roese, BayPAG, Art. 11, Rdnr. 47; vgl. auch die identischen Legaldefinitionen der gegenwärtigen Gefahr in § 2 Nr. 3 lit b bremPolG; § 2 Nr. 1 lit. b ndsGefAG; fast wortgleich auch § 3 Nr. 3 lit. b sachsanhSOG. 63 Vgl. BVerwGE 45, 51, 58; 57, 61, 65. 64 Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 49; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 266, Honnackerl Beinhof er, PAG, Art. 2, Anm. 4 a. 65 So auch DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, §22, 2a), S.333; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 266 definiert die gegenwärtige Gefahr als unmittelbar bevorstehende Gefahr und scheint somit beide Begriffe gleichzusetzen. 66 Vgl. WürtenbergerlHeckmannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 315; scheinbar nur eine erhöhte Wahrscheinlichkeitsprognose fordernd Scholler/Schioer, Polizei- und Ordnungsrecht, §4, V, 5, b), S.72. 67 Vgl. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 192.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

2. Zeitpunkt des Vorliegens einer qualifizierten in Räumungsfällen

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Gefahr

Keine Probleme wirft das Tatbestandsmerkmal der Erheblichkeit der Gefahr im Hinblick auf die Obdachlosigkeit auf. Wie bereits dargestellt, ist durch Obdachlosigkeit die Menschenwürde gem. Art. 1 Abs. 1 GG, das Recht auf Leben und Gesundheit gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG sowie bei Ehepaaren und Familien auch das in Art. 6 Abs. 1 GG verankerte Recht auf eheliches und familiäres Zusammenleben gefährdet 68. Vor dem Hintergrund der Qualifikation als „obersten Grundwert der freiheitlich demokratischen Grundordnung 69" handelt es sich bei der Menschenwürde in jedem Fall um ein bedeutsames Rechtsgut, gleiches trifft auch für das Individualrechtsgut der Gesundheit und das grundrechtlich geschützte Recht auf eheliches und familiäres Zusammenleben zu 70 . Näherer Erörterung bedarf allerdings das Vorliegen einer gegenwärtigen Gefahr bzw. einer unmittelbar bevorstehenden Störung. Umstritten und klärungsbedürftig ist insoweit, wann im Fall der Vollstreckung eines Räumungsurteils die Gefahrenschwelle überschritten ist. Ewer/v. Detten 11 gehen davon aus, daß selbst nach Vollstreckung des Räumungsurteils bei bereits bestehender Obdachlosigkeit nicht in jedem Fall eine gegenwärtige Gefahr im Sinne der Notstandsvorschriften vorliege. Ihrer Auffassung zufolge sei sowohl die Wahrscheinlichkeit als auch die zeitliche Nähe eines Schadens für die Gesundheit bei einem Aufenthalt im Freien bei stabilem Hochsommerwetter wesentlich geringer als bei Frostwetter und auch bei Tag wesentlich geringer als bei Nacht, so daß eine konkrete Betrachtung erforderlich sei72. Diese Ansicht kann jedoch nicht überzeugen. Denn zum einen wird man wohl auch für das von den Autoren allein betrachtete Rechtsgut der Gesundheit angesichts der Unkalkulierbarkeit der Risiken und des hohen Stellenwertes des Rechtsguts auch ohne Hinzutreten besonderer Umstände wie etwa widrige Witterungsbedingungen eine gegenwärtige Gefahr annehmen können73. Aber selbst wenn man dies verneinte, wäre der qualifizierte Gefahrentatbestand in jedem Fall unter dem Aspekt der von den genannten Autoren nicht in die Untersuchung einbezogenen Menschenwürde gem. Art. 1 Abs. 1 GG zu bejahen. Insoweit kommt es nicht darauf an, ob Erkrankungen drohen oder nicht; mit bestehender Obdachlosigkeit hat sich in jedem Fall die Gefahr für 68 Vgl. ausführlich zu den durch Obdachlosigkeit bedrohten Individualrechtsgütern oben 1. Teil, 2. Abschn., A, II, 2, b). 69 BVerfG NJW 1998, 519, 521. 70 Ebenso VG Bremen, NVwZ 1991,706, allerdings nur auf die Gesundheit des Obdachlosen abstellend; vgl. auch Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 377; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr.248. 71 Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 354. 72 Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 354. 73 Vgl. zum Problem des Vorliegens einer konkreten Gefahr in bezug auf die Gesundheit des Obdachlosen bereits oben 1. Teil, 2. Abschn., A, II, 2, b), bb).

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

das Schutzgut der Menschenwürde bereits realisiert, so daß insoweit sogar eine Störung zu bejahen ist 74 . Umgekehrt kann allerdings eine gegenwärtige Gefahr nicht bejaht werden, wenn zwar eine Räumungsklage anhängig, jedoch ein Räumungstermin noch nicht absehbar ist; von einem Drohen des Schadens in allernächster Nähe kann angesichts der üblichen Dauer von Gerichtsverfahren und der im Regelfall angeordneten Räumungsfrist des Gerichts gem. § 721 ZPO hier nicht gesprochen werden. So hat der VGH München in einem Fall, in dem ein Eigentümer in Anspruch genommen worden war, der zwar Räumungsklage gegen den Mieter erhoben, aber noch keinen Räumungstitel erwirkt hatte, zutreffend die Rechtswidrigkeit der Verfügung mangels Vorliegen einer unmittelbar bevorstehenden Gefahr angenommen75. Ist somit geklärt, daß mit eingetretener Obdachlosigkeit bereits eine Störung zu bejahen ist, umgekehrt aber ohne Vorliegen eines Räumungstitels noch nicht von einer qualifizierten Gefahr ausgegangen werden kann, so engt sich die zu untersuchende Zeitspanne auf die Zeit nach Erlaß des vollstreckbaren Räumungsurteils bis zum Tag der Vollstreckung des Räumungsurteils durch den Gerichtsvollzieher gem. § 885 Abs. 1 ZPO ein. Um hier das Überschreiten der Gefahrenschwelle zeitlich fixieren zu können, erscheint es zunächst sinnvoll, den Ablauf des Vollstreckungsverfahrens kurz zu skizzieren. Liegt ein rechtskräftiges oder vorläufig vollstreckbares Räumungsurteil vor, so leitet der Räumungsgläubiger die Vollstreckung ein, indem er den Gerichtsvollzieher mit der Räumung beauftragt. Zulässig ist eine Vollstreckung seitens des Gerichtsvollzieher nur dann, wenn eine eventuell gem. § 721 Abs. 1 ZPO im Urteil gewährte Räumungsfrist abgelaufen ist; der Ablauf ist insoweit besondere Vollstreckungsvoraussetzung gem. §751 Abs. 1 ZPO 76 . Der Gerichtsvollzieher setzt dann einen Räumungstermin fest 77, welcher gem. § 180 Nr. 2 GVGA auch dem Räumungsschuldner rechtzeitig mitgeteilt werden soll. Wenn zu erwarten ist, daß der Räumungsschuldner durch die Zwangsräumung obdachlos zu werden droht, ist die Ordnungsbehörde gem. § 181 Nr. 2 GVGA zu benachrichtigen. Dies ist dann zumeist der Zeitpunkt, in dem die Polizei von der drohenden Obdachlosigkeit zum ersten Mal erfährt. Auch nach Mitteilung des Räumungstermins besteht für den Mieter jedoch noch eine Möglichkeit, diesen hinauszuzögern. Zum einen kann der Räumungsschuldner gem. § 721 Abs. 2 S. 1 ZPO einen Antrag auf nachträgliche Gewährung bzw. gem. § 721 Abs. 3 S. 1 ZPO auf Verlängerung einer bereits im Urteil gewährten Räumungsfrist stellen, solange die Höchstfrist des §721 Abs. 5 ZPO noch nicht ausgeschöpft ist. Der Antrag ist zwei Wochen vor dem Tag, an dem nach 74

Hierzu siehe bereits oben 1. Teil, 2. Abschn., A, II, 2, b), ee). VGH München, NVwZ 1994, 716, 717. 76 Vgl. Lackmann, in: Musielak, ZPO, §721, Rdnr. 1. 77 Die Anberaumung des Räumungstermins ist dabei schon vor Ablauf der Räumungsfrist für die Zeit nach deren Ablauf möglich; vgl. LG Freiburg, WuM 1987,267; KöhlerlKossmann, Handbuch der Wohnraummiete, § 107, Rdnr. 10; Stöber, in: Zöller, ZPO, § 885, Rdnr. 4. 75

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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dem Urteil zu räumen ist bzw. die Räumungsfrist abläuft, zu stellen. Eine Parallelregelung für die Vollstreckung aus Räumungsvergleichen schafft § 794 a Abs. 1, Abs. 2 ZPO. Zum anderen kann der Räumungsschuldner gem. § 765 a Abs. 1 ZPO einen Vollstreckungsschutzantrag stellen, bei dessen Erfolg die Zwangsvollstrekkung mit der Folge des § 775 Nr. 1 ZPO aufgehoben oder untersagt bzw. mit der Folge des § 775 Nr. 2 ZPO einstweilig eingestellt wird. Vor diesem Hintergrund kann es nicht überzeugen, wenn teilweise eine gegenwärtige Gefahr schon mit Vorliegen eines rechtskräftigen Räumungsurteils bejaht wird 78 . Eine besondere zeitliche Nähe der Gefahr und die geforderte gesteigerte Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens kann schon allein deshalb nicht angenommen werden, weil es im Belieben des Vollstreckungsgläubigers steht, ob überhaupt und wann er den Vollstreckungsauftrag an den Gerichtsvollzieher erteilt 79 . Zudem kann selbst bei bereits vorliegendem Vollstreckungsauftrag angesichts einer möglichen bereits im Urteil angeordneten Räumungsfrist, deren möglicher nachträglicher Beantragung oder Verlängerung sowie aufgrund eines denkbaren Vollstreckungsschutzantrags gem. § 765 a Abs. 1 ZPO noch lange Zeit bis zum tatsächlichen Räumungstermin vergehen, so daß auch aus diesem Grunde von einer besonderen zeitlichen Nähe der Gefährdung kaum gesprochen werden kann. Andererseits wird unter Zugrundelegung eines besonders strengen Maßstabes vertreten, daß für das Vorliegen einer qualifizierten Gefahr eine rechtskräftige gerichtliche Ablehnung des Vollstreckungsschutzes bzw. Räumungsfristverfahrens gem. §§ 765 a Abs. 1, 721 Abs. 1 ZPO erforderlich sei80 . Dieser Auffassung ist zuzugeben, daß bei fristgerechter Stellung eines derartigen Antrags 81 und laufendem Verfahren in der Tat die Voraussetzungen einer qualifizierten Gefahr zu verneinen sind: hier besteht immerhin die Möglichkeit, daß dem Antrag stattgegeben wird und sich damit die Vollstreckung des Urteils langfristig verzögert oder diese gar völlig 78

So aber beispielsweise Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 7; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 191; unklar Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 131, nach denen die Beschlagnahme nicht erst unmittelbar mit Eintritt von Zwangsvollstreckungsmaßnahmen, sondern schon „vorbeugend" möglich sein soll; unklar auch Schlink, NJW 1988,1689,1693: „Natürlich muß die Polizei nicht abwarten, bis die Familie tatsächlich auf der Straße steht, sondern diese Situation vorwegnehmen und verhindern"; wie hier ablehnend Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 18. 79 Vgl. auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 18. 80 So Schmidt-Futterer, DÖV 1960, 118; ebenso Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 116. 81 Durch das zum 1.1.1999 in Kraft getretene 2. ZwVÄndG vom 17.12.1997 (BGBl. I, S. 3039) ist auch eine Frist für die Antragstellung nach §765 a Abs. 1 ZPO eingeführt worden: grundsätzlich ist der Antrag auf Vollstreckungsschutz nach § 765 a Abs. 3 ZPO zwei Wochen vor dem festgesetzten Räumungstermin zu stellen, es sei denn, daß die Gründe, auf denen die Antragstellung beruht, erst nach diesem Zeitpunkt entstanden sind oder der Schuldner ohne sein Verschulden an einer rechtzeitigen Antragstellung gehindert war. Damit ist die Stellung eines Vollstreckungsschutzantrags unmittelbar vor dem Räumungstermin wohl nur noch in Ausnahmefällen möglich.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung 82

untersagt wird . Jedoch kann diese Ansicht insoweit nicht überzeugen, als für die Bejahung einer gegenwärtigen Gefahr immer die Ausschöpfung des Vollstreckungsschutzes gefordert wird. Denn dem Räumungsschuldner steht es grundsätzlich frei, sich gegen eine bevorstehende Räumungsvollstreckung zur Wehr zu setzen, so daß die Bejahung der polizeilichen Eingriffsbefugnis gegenüber einem privaten Eigentümer nicht davon abhängig gemacht werden kann, ob der Räumungsschuldner einen ihm zur Verfügung stehenden Rechtsbehelf wahrgenommen hat 83 . Insbesondere bei offensichtlicher Aussichtslosigkeit eines derartigen Antrags kann im Hinblick auf die den Räumungsschuldner treffenden Kosten dessen Einleitung wohl kaum verlangt werden 84. Dem Erfordernis der besonderen zeitlichen Nähe sowie Eintrittswahrscheinlichkeit des Schadens wird man dann gerecht, wenn man eine gegenwärtige Gefahr erst unmittelbar vor dem durch den Gerichtsvollzieher festgesetzten Räumungstermin bei Fehlen einer Ersatzunterkunft für den Räumungsschuldner annimmt85. Erst zu diesem Zeitpunkt ist nämlich ein Schaden in allernächster Nähe zu bejahen, da ein etwaiger Antrag auf Gewährung bzw. Verlängerung einer Räumungsfrist sowie ein Vollstreckungsschutzantrag grundsätzlich nicht mehr möglich sind86. Ebenso steht erst in diesem Moment fest, daß eine anderweitige Unterkunft nicht zur Verfügung steht und auch ein vorübergehendes Unterkommen bei Freunden oder Verwandten nicht möglich ist, so daß auch die an Sicherheit grenzende Wahrscheinlichkeit eines Schadens erst dann bejaht werden kann. Jedoch ist diese geforderte unmittelbare Nähe der Räumung nicht so zu verstehen, daß erst am Tag des Räumungstermins, sozusagen bei Beginn der Zwangsräumung durch den Gerichtsvollzieher ein Tätigwerden der Polizei möglich ist. Im Hinblick auf die Vermeidung unnötiger kostenverursachender Handlungen (z.B. Anfahrten) seitens des zuständigen Vollstreckungsorgans erscheint es angemessen, eine qualifizierte Gefahr etwa ab einem Zeitraum von drei bis vier Tagen vor dem festgesetzten Räumungstermin anzunehmen87. 82

Das Nichteinschreiten aufgrund einer fehlenden qualifizierten Gefahr bei Stellen eines Vollstreckungsschutzantrags ist zu unterscheiden von dem an anderer Stelle relevant werdenden Problem, ob aufgrund des zivilgerichtlichen Vollstreckungsschutzes ein polizeiliches Einschreiten vor dem Hintergrund des Subsidiaritätsprinzips ausscheidet; vgl. dazu unten 3. Teil, B, I. 83 So auch Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 80. 84 Vgl. Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 7; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 81. 85 So auch Eichert, BWVPr. 1983, 211, 213; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 19; in diese Richtung gehend wohl auch ErichsenlBiermann, Jura 1998,371,377, die die gegenwärtige Gefahr dann bejahen, wenn die Räumung „unmittelbar droht". 86 Siehe zur Frist bei der Stellung eines Antrags gem. §721 ZPO bereits oben im Text; zur Frist bei Stellung eines Vollstreckungsschutzantrags siehe auch Fn. 81. Zwar besteht bei Fristversäumnis grundsätzlich die Möglichkeit der Wiedereinsetzung in den vorigen Stand; angesichts des Ausnahmecharakters führt diese Möglichkeit allerdings nicht zu einer Verneinung der zeitlichen Nähe der Gefahr. 87 Vgl. auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 19: frühestens drei Tage vor dem Räumungstermin; enger Reigl, BayBgm 1965, 211, 212: am Tag vor der Räumung.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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II. Unmöglichkeit des Vorgehens gegen den Störer Ein Vorgehen gegen einen Nichtstörer setzt weiter voraus, daß Maßnahmen gegen den Störer nicht oder nicht rechtzeitig möglich sind oder keinen Erfolg versprechen88. Theoretisch denkbar ist zwar eine gegen den (unfreiwillig 89 ) Obdachlosen gerichtete polizeiliche Verfügung, in der dieser verpflichtet wird, sich selbst ein Unterkommen zu verschaffen. Eine Verfügung diesen Inhalts ist aber insoweit problematisch, als die Erfüllung des Gebots, sich ein Unterkommen zu verschaffen, nicht allein vom Obdachlosen, sondern auch von der Wohnungsmarktlage und der Bereitschaft etwaiger Vermieter, den Wohnraum an den Betroffenen zu vermieten, abhängt. Eine solche Maßnahme ist daher aufgrund der Tatsache, daß sie etwas aufgibt, was dem Adressaten unter Umständen subjektiv nicht möglich ist, bereits mangels Geeignetheit rechtswidrig 90. So hat bereits das Preußische Oberverwaltungsgericht zutreffenderweise eine an einen Obdachlosen gerichtete Verfügung für rechtswidrig gehalten, in der diesem zur Vermeidung der Verhängung einer Ordnungsstrafe aufgegeben wurde, sich innerhalb einer vorgegebenen Frist an einem bestimmten Ort, an dem Wohnungsmangel herrschte, selbständig ein Obdach zu verschaffen 91. Fraglich erscheint allein, ob die in der Praxis gelegentlich verfügte „Unterkommensauflage 92" insoweit als vorrangig gegen den Störer zu ergreifende Maßnahme in Betracht kommt. Nach dieser Verfügung wird der Obdachlose lediglich verpflichtet, sich um eine Unterkunft zu bemühen und dementsprechende Bemühungen nachzuweisen. Auch hier ergeben sich jedoch angesichts angespannter Wohnraumlage sowie der fehlenden Bereitschaft zahlreicher Vermieter, Wohnungen an bestimmte Personengruppen zu vermieten, rechtliche Zweifel an der Geeignetheit der Maßnahme zur Erreichung des verfolgten Zwecks der Beseitigung bzw. Verhinderung der (drohenden) Obdachlosigkeit. Doch auch, wenn man eine derartige Verfügung nicht bereits aufgrund einer Ungeeignetheit als rechtswidrig ansieht93, dürfte 88 Vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 2 MEPolG. Gleiches gilt für die Rechtslage in Baden-Württemberg. In § 9 Abs. 1 bwPolG ist die Rede davon, daß die Gefahr nicht „auf andere Weise" abgewehrt werden kann. Angesichts des ultima-ratio-Charakters der Vorschrift fällt das primäre Vorgehen gegen den polizeirechtlich Verantwortlichen ohne weiteres darunter; vgl. auch Wolf/Stephan, PolG BW, §9, Rdnr.7. 89 Bei freiwilliger Obdachlosigkeit fehlt es an einem öffentlichen Interesse für ein polizeiliches Einschreiten, so daß bereits aus diesem Grunde eine derartige Maßnahme unzulässig wäre, vgl. dazu bereits 1. Teil, 2. Abschn., A, II, 2, c)bb). 90 Ebenso auch DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, §25,5, b), a), S.418; Erichsen! Biermann, Jura 1998, 371,377; Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 110; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 105, ReichertlRuder/Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 246. 91 Vgl. PrOVGE 95, 121 ff. 92 Vgl. Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 18; Wolf!Stephan, PolG BW, §9, Rdnr. 8. 93 Für Rechtswidrigkeit Kunkel, NDV 1994, 225, 227; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 18. A.A. PrOVGE 95, 121, 123; DrewslWackelVogell Martens, Gefahrenabwehr,

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

sie nur in seltenen Fällen zu einer Unterkunftsverschaffung durch den Obdachlosen führen und daher einer Notstandsmaßnahme in der Regel nicht im Wege stehen94.

III. Vorrang der behördeneigenen Gefahrenabwehr Weitere Voraussetzung für den polizeilichen Notstand ist, daß die Polizei die Gefahr nicht oder nicht rechtzeitig mit eigenen Mitteln abwehren kann (§6 Abs. 1 Nr. 3 MEPolG; § 9 Abs. 1 bwPolG). Bevor die Polizei einen Nichtstörer heranzieht, ist sie demgemäß gehalten, alle verfügbaren und zumutbaren eigenen Mittel einzusetzen, um dem Obdachlosen eine Unterkunft zur Verfügung zu stellen. Diese Voraussetzung ist im Hinblick auf Wohnraumbeschlagnahmen zur Verhinderung von Obdachlosigkeit von besonderer praktischer Relevanz, da gerade aufgrund der (vermeintlich) fehlenden eigenen behördlichen Gefahrenabwehr zahlreiche Inanspruchnahmen einer gerichtlichen Überprüfung nicht standhalten. Darüber, wie weit die polizeiliche Pflicht, selbst Unterkünfte bereitzustellen, im einzelnen reicht, besteht jedoch Unsicherheit. Insbesondere die Rechtsprechung hat teilweise sehr strenge Anforderungen an die Pflicht der eigenen behördlichen Gefahrenabwehr gestellt95; von Teilen der Literatur sind diese allerdings als realitätsfern kritisiert worden 96. Der Frage, welche Anforderungen tatsächlich an die Behörde zu stellen sind und inwieweit die Kritik im Schrifttum berechtigt ist, wird im folgenden nachzugehen sein. 1. Unterbringung in gemeindeeigenen Obdachlosenunterkünften und Wohnungen Einigkeit in Rechtsprechung und Literatur dürfte noch darüber bestehen, daß eine Beschlagnahme privaten Wohnraums erst dann in Betracht kommt, wenn die Möglichkeiten der Unterbringung des Betroffenen in vorhandenen gemeindeeigenen Obdachlosenunterkünften oder in anderen dem gemeindlichen Einfluß zugänglichen Wohnungen erschöpft sind 97 . Die Behörde hat demgemäß zu prüfen, ob noch § 25, 5, b), a), S.418; Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 110; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.43; Wolf/Stephan, PolG BW, §9, Rdnr. 8, welche eine Unterkommensauflage für zulässig erachten. 94 Im Ergebnis auch OVG Schleswig, NJW 1993,413; Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 377; Schoch, JuS 1995,30, 33. 95 Vgl. insbesondere die Rechtsprechung des OVG Münster, z. B. OVG Münster, NVwZ-RR 1990, 414f.; WuM 1990, 581 f., NVwZ 1991, 692f.; zurückhaltender hingegen VG Bremen, NVwZ 1991, 706, 707; OVG Schleswig NJW 1993, 413; VG Frankfurt, NVwZ 1990, 498. 96 Vgl. insbesondere Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 132ff.; kritisch auch Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.42ff.; tendenziell auch Schock, JuS 1995, 30, 35. 97 OVG Münster, NVwZ 1991, 692; WuM 1990, 581; WuM 1990, 582; VGH Mannheim BWVPr. 1984, 15; LG Bonn, WuM 1990, 585, 586; VG Bremen, NVwZ 1991, 706, 707; VG Köln, NVwZ-RR 1990,414,415; VG München, DGVZ 1991,126,127; Belz/Mußmann, PolG BW, § 9, Rdnr. 6; Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 126; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, §22, 3 b), S.337; Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29, 32; Erich-

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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Räume in einer gemeindeeigenen Unterkunft oder in städtischen Wohnungen verfügbar sind und diese ggf. dem Obdachlosen zuzuweisen. Verlangt wird teilweise auch eine eventuelle „Engersetzung" der Obdachlosen in den Unterkünften, um zusätzlichen Wohnraum zu schaffen 98. Dies gelte jedenfalls dann, wenn die Obdachlosenunterkünfte eine höhere Nutzfläche je Person aufweise, als sie nach „obdachlosenrechtlichen Maßstäben" erforderlich sei99. Dem ist insoweit zuzustimmen, als auch nach Engersetzung noch die Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft gewahrt bleiben 100 , was sorgfältiger Prüfung bedarf. Soweit jedenfalls nach Engersetzung eine Unterbringungsfläche von 5 qm pro Person für ausreichend erachtet wird 101 , sind insoweit starke Zweifel angebracht 102. 2. Pflicht zur Schaffung und Vorhaltung von Obdachlosenunterkünften? Zweifelhaft ist in diesem Zusammenhang, inwieweit eine Pflicht der Polizei besteht, neue Obdachlosenunterkünfte zu schaffen und diese vorzuhalten. Nach Ansicht des VGH München und des VG München darf sich die Gemeinde durch die Möglichkeit der Beschlagnahme nicht ihrer gesetzlichen Aufgabe entziehen, jederzeit Obdachlosenunterkünfte vorzuhalten oder anderweitig Vorsorge für die Unterbringung obdachloser Personen zu treffen 103. Auch das VG Köln 1 0 4 sowie das OVG Münster 105 gehen von einer Pflicht der Polizei aus, Obdachlosenunterkünfte in ausreichendem Umfang vorzuhalten. In eine ähnliche Richtung geht die Formulierung, daß die Behörde Obdachlosenunterkünfte „zur Not kaufen oder bauen" müsse106. sen/Biermann, Jura 1998, 371, 377; Ewer/v.Detten, NJW 1995, 353, 355; Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 198; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.42; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 122; ReichertlRuder!Fröhler, Polizeirecht, Rdnm. 283, 332; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 249; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 194; Schoch, JuS 1995, 30, 34; Trockels, BWVPr. 1989, 145, 149; Wolf/Stephan, PolG BW, §9, Rdnr. 9; Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 8. 98 OVG Münster, WuM 1990, 581, 582; DÖV 1966, 836; Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 377; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 122. 99 OVG Münster, WuM 1990, 581, 582; DÖV 1966, 836. 100 Hierzu näher unten 2. Teil, 2. Abschn., B, II. 101 OVG Münster, WuM 1990, 581, 582. 102 So auch GüntherITraumann, NVwZ 1993, 130, 133. 103 VGH München, BayVBl. 1984, 116, 117; VG München DGVZ 1991, 126, 127. 104 VG Köln, NVwZ-RR 1990, 414, 415. 105 OVG Münster, WuM 1990, 581: „stets vorzuhaltende Reserve an Obdachlosenunterkünften"; vgl. auch Wolf/Stephan, PolG BW, § 9, Rdnr. 9: „Die Polizeibehörde verstößt gegen ihre Amtspflichten, wenn sie nicht rechtzeitig für die Beschaffung oder Errichtung von Notunterkünften Sorge getragen hat"; ebenso Reichertl Ruder! Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 319; ähnlich auch DrewslWackelVogel!Martens, Gefahrenabwehr, § 22, 3 b), S. 337: „Heute wird regelmäßig die Unterbringung in behördlichen Unterkünften möglich sein, deren Vorhaltung auch geboten ist"; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.5. 106 So OVG Münster, NVwZ 1991, 692; dem folgend Ewerlv.Detten, NJW 1995, 353, 355. 8 Reitzig

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungserfügung

Eine derartige unabhängig von einer konkreten Gefahrensituation bestehende allgemeine Pflicht zur Schaffung und Vorhaltung von Wohnraum durch die Polizei kann jedoch grundsätzlich nicht angenommen werden 107. Auch bei Anerkennung der sog. Gefahrenvorsorge als polizeilicher Aufgabe, mit der schon im Vorfeld das Entstehen möglicher polizeilicher Gefahren verhindert werden soll 108 , wird man rein wohlfahrtssichernde Maßnahmen wie etwa eine langfristige Wohnungsbaupolitik auszuscheiden haben, soll nicht der Begriff der Gefahrenvorsorge völlig uferund konturenlos werden 109. Zutreffend formuliert Denninger: „Die Polizei hat [...] akute Obdachlosigkeit zu bekämpfen, aber nicht (mittel- und langfristige) Wohnungsbaupolitik zu betreiben, selbst wenn wegen starker Bevölkerungsmigrationen eine Wohnungsnot absehbar ist 110 ". Gegenstand polizeilicher Aufmerksamkeit kann daher immer nur eine zeitlich und örtlich abgrenzbare Gefahrensituation sein 111 . Soweit aus der Annahme einer allgemeinen Vorhaltepflicht die Schlußfolgerung gezogen wird, daß der Polizeibehörde bei der Inanspruchnahme eines Eigentümers entgegengehalten werden kann, sie habe es versäumt, rechtzeitig ausreichend Unterkünfte zu errichten, so ist dem zusätzlich entgegenzutreten112. Insoweit wird darüber hinaus verkannt, daß es für das Fehlen der Möglichkeit der behördeneigenen Gefahrenabwehr nur auf den Zeitpunkt der Inanspruchnahme ankommt. In diesem Zeitpunkt muß also eine Unmöglichkeit behördlicher Gefahrenabwehr bestehen; ob die Behörde sich durch rechtzeitige Vorsorge vor Eintritt der Gefahr die notwendigen Mittel zur Gefahrenabwehr hätte beschaffen könne, insoweit also möglicherweise Versäumnisse der Polizei in der Vergangenheit vorliegen, ist dagegen unerheblich 113. Somit ist für die Rechtmäßigkeit der Inanspruchnahme lediglich zu prüfen, ob zu diesem Zeitpunkt noch ein Bau oder Kauf von Unterkünften möglich ist, um die drohende Obdachlosigkeit abzuwenden. Sollte dies möglich sein, so wäre in der Tat die Inanspruchnahme des Eigentümers rechtswidrig. Indes ergeben sich an der praktischen Durchführbarkeit solcher Maßnahmen erhebliche Zweifel. So wird es der Polizei zum Zeitpunkt der Überschreitung der Gefahrenschwelle, also unmittelbar vor dem anberaumten Räumungstermin, in aller Regel unmöglich sein, angesichts der Kürze des zur Verfügung stehenden Zeitraums bis zum Entste107 So auch Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 31; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.46. 108 Vgl. hierzu allgemein Di Fabio, Jura 1996,566ff.; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 9. 109 Vgl. kritisch zum expandierenden Bereich der Gefahrenvorsorge auch Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 31. 110 Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 31. 111 So zutreffend Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 31. 112 So auch Friauf ', Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Rdnr. 112; Harke, WuM 1987, 403, 411; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 193. 113 Vgl. Friauf, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Rdnr. 112; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 193; Schmidt-Jortzig, JuS 1970,507, 509; Schoch, JuS 1995, 30, 34.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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hen der Obdachlosigkeit eine Obdachlosenunterkunft zu kaufen und erst recht zu bauen114. Bisweilen wird nicht erst ab Überschreitung der Gefahrenschwelle, sondern bereits ab der Kenntnisnahme des festgesetzten Räumungstermins eine Pflicht der Polizei angenommen, sich um anderweitigen Wohnraum zu bemühen115. An einer derartigen Vorverlagerung der einsetzenden Pflicht zur Gefahrenbekämpfung bestehen allerdings erhebliche Zweifel. Hiermit würde letztlich eine polizeiliche Pflicht zur Gefahrenverhinderung vor Entstehung der Gefahr statuiert, die es als solches aber nicht anzuerkennen ist und die auch unter dem Gesichtspunkt der Subsidiarität polizeilichen Handelns Bedenken hervorriefe. Vor dem Hintergrund der Tatsache, daß durch etwaige zivilprozessuale Rechtsbehelfe des Betroffenen die Zwangsvollstrekkung noch langfristig verzögert und sogar verhindert werden kann, könnte die Annahme einer derartigen Pflicht auch unnötige Kosten für die Allgemeinheit verursachen und wäre somit auch unter finanziellen Gesichtspunkten äußerst bedenklich. Jedoch auch dann, wenn man bereits mit der Kenntnisnahme des bevorstehenden Räumungstermins eine Pflicht zur Ergreifung behördlicher Maßnahmen annähme, wird in der Regel eine praktische Undurchführbarkeit des Kaufs oder des Baus von Unterkünften gegeben sein. Da die Behörde in der Regel nur wenige Wochen vor dem Räumungstermin von diesem Kenntnis erlangt, ist zumindest der Bau einer Unterkunft unmöglich, angesichts des Mangels an geeigneten Objekten sowie notarieller Beurkundungspflichten wird jedoch meist auch der Kauf einer Unterkunft nicht möglich sein.

3. Pflicht zur Schaffung von Behelfs- und Notunterkünften Soweit die praktische Undurchführbarkeit des Baus oder Kaufs von Obdachlosenunterkünften innerhalb kürzester Zeit anerkannt wird, soll die Polizei jedenfalls verpflichtet sein, Notunterkünfte zu errichten 116. Unter Notunterkünften sollen hier Wohncontainer oder Wohnwagen, aber auch - nach etwaiger Umgestaltung - Turnhallen sowie andere öffentliche Gebäude verstanden werden.

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Ähnlich auch Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 125. So etwa OVG Münster, WuM 1990,581 \ Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.46: „Die Verpflichtung zur Suche nach alternativen Unterbringungsmöglichkeiten setzt also frühestens mit Kenntnisnahme vom Räumungstermin ein". 116 OVG Münster, NVwZ 1991,692; Erichsen!Biermann, Jura 1998,371,377; Ewerlv.Detten, NJW 1995, 353, 355; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 123; Schoch, JuS 1995, 30, 34; a. A. Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.43, die generell Notunterkünfte nicht als menschenwürdige Unterbringungsformen ansieht. 115

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

a) Wohncontainer und Wohnwagen So verlangt beispielsweise das OVG Münster die kurzfristige Aufstellung von angekauften oder angemieteten Wohncontainern, bevor eine Inanspruchnahme eines Wohnraumeigentümers in Erwägung zu ziehen sei 117 . Dem ist zwar grundsätzlich zuzustimmen. Sollte eine kurzfristige Lieferung und Aufstellung derartiger Container tatsächlich möglich sein, so ist diese Unterbringungsalternative vor der Inanspruchnahme eines Nichtstörers vorrangig zu verwirklichen. Allerdings dürfen auch hier die sich der Polizei stellenden rechtlichen und faktischen Grenzen nicht verkannt werden. So erkennt auch das OVG Münster, daß selbst bei kurzen Lieferfristen die Benutzung von Wohncontainern als Obdach voraussetze, „daß sie auf geeigneten Grundstücken aufgestellt werden können und - notfalls provisorisch - an Versorgungsleitungen angeschlossen werden 118 ". Da es sich nach der Rechtsprechung bei Wohnwagen jedenfalls dann, wenn sie als Ersatz für ein festes Gebäude dienen, um bauliche Anlagen i. S. d. § 29 BauGB handelt119, sind hier insbesondere auch bauplanungsrechtliche Vorschriften zu beachten, so daß ohnehin nur wenige Grundstücke zur Aufstellung in Betracht kommen werden. So wird die Gemeinde angesichts der nur wenigen zur Verfügung stehenden Tage hier ebenfalls häufig nicht in der Lage sein, entsprechende Grundstücke zur Verfügung zu stellen, Container zu beschaffen und aufzustellen sowie entsprechende Versorgungsleitungen zu verlegen 120. Zum anderen ist genau zu prüfen, ob bei einer Unterbringung in Wohnwagen oder Wohncontainern noch die Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung gewahrt sind 121 . Dies kann hinsichtlich alleinstehender Personen sicherlich eher bejaht werden als beispielsweise bezüglich größerer Familien, bei denen mangels Rückzugsmöglichkeit einzelner Familienmitglieder die Grenze des Zumutbaren im Einzelfall überschritten sein kann. Auch der zeitliche Aspekt ist hier zu berücksichtigen. So kann bei Absehbarkeit des Freiwerdens eines Platzes in einer Obdachlosenunterkunft ein kurzfristiger Aufenthalt in einem Wohncontainer eher zumutbar sein als eine auf eine längere Dauer angelegte Unterbringung in einer derartigen Behelfsunterkunft. 1,7 OVG Münster, NVwZ 1991, 692; ebenso Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 377; Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 355; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.123. 118 OVG Münster, NVwZ 1991, 692. 1,9 Vgl. BVerwGE 44, 59 (Wohnfloß); NVwZ 1988, 144; VGH Kassel, NVwZ 1988, 165; ebenso Dürr, Baurecht, Rdnr. 80; Lohr, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, § 29, Rdnr. 10; Schmaltz, in: Schrödter, BauGB, § 29, Rdnr. 9; siehe zu den baurechtlichen Voraussetzungen für Wohncontainer zur Unterbringung von Obdachlosen näher OVG Bremen, NVwZ 1993, 1218 ff. 120 Auf diesen Umstand weisen auch Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 133 hin. 121 Siehe näher zu den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft unten 2. Teil, 2. Abschn., B, II; nach Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.43f., sind generell Obdachlosenasyle und sonstige Behelfsunterkünfte keine zumutbaren Unterkünfte.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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b) Öffentliche Gebäude Denkbar wäre des weiteren, auch öffentliche Einrichtungen 122 wie etwa Turnoder Stadthallen sowie Verwaltungsgebäude für die behelfsmäßige Unterbringung Obdachloser vorrangig heranzuziehen. Handelt es sich hierbei um Einrichtungen, die bisher nicht der Unterbringung Obdachloser dienten, so wäre hierfür allerdings eine Umwidmung bzw. zumindest eine vorübergehende Änderung des Widmungszwecks123 erforderlich. Ebenso wäre bei Verwaltungsgebäuden, deren Zweck in der internen Verwaltungsnutzung liegt 124 , eine Änderung der öffentlichen Zweckbestimmung erforderlich. Inwieweit eine solche Umwidmung oder Zweckänderung von der Behörde verlangt werden kann, ist bisher nicht geklärt. Nach Ansicht des OVG Schleswig scheidet gegenüber der Inanspruchnahme Privater als vordringlich zu verwirklichende andere Möglichkeit in aller Regel die Unterbringung Obdachloser in öffentlichen Gebäuden aus, soweit deren Zweckbestimmung nicht in der Unterbringung von Menschen liege 125 . Die Zweckbestimmung von Schulturnhallen oder öffentlichen Verwaltungsgebäuden liege nicht darin, Wohnungslose unterzubringen, sondern im Interesse der Allgemeinheit darin, den öffentlichen Zwecken zu dienen, für die sie geschaffen worden seien126. Es könne keine Rede davon sein, daß das Interesse von Schulkindern an der Erteilung von Sportunterricht oder das Interesse daran, daß die Verwaltung ihre Aufgaben ordnungsgemäß erledige, von vornherein gegenüber den Interessen des Privateigentümers an der eigenen Bestimmung über die Verwendung eigenen Wohnraums zurückzutreten habe127. Diese Rechtsprechung ist insbesondere von Ewer/v.Detten m heftig kritisiert worden. Ihrer Auffassung zufolge lasse sie unberücksichtigt, daß es die alleinige Pflicht der Behörde sei, die Gefahr abzuwenden und verkenne damit nicht nur die Voraussetzung des polizeilichen Notstands, sondern letztlich auch die grundlegende Wertentscheidung des Grundgesetzes zugunsten des Privateigentums 129. Somit sei erst dann, wenn die Umwidmung ihrerseits zu einer vollständigen Lähmung des Verwaltungsbetriebs führen würde und somit ein sog. „unechter polizeilicher Notstand" vorliege, eine Inanspruchnahme eines Privateigentümers möglich 130 . Indes werden damit die Anforderungen an die Pflicht eigener behördlicher Gefahrenabwehr überspannt 131. Diese ist nach allgemeiner Ansicht nicht unbegrenzt, viel122

Vgl. zum Begriff der öffentlichen Einrichtung Gern, Kommunalrecht, Rdnr. 290. Siehe zur Widmung öffentlicher Einrichtungen Gern, Kommunalrecht, Rdnr. 290. 124 Siehe zu öffentlichen Sachen im Verwaltungsgebrauch Papier, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, §41, Rdnr. 45 ff. 125 OVG Schleswig, NJW 1993, 413. 126 OVG Schleswig, aaO. 127 OVG Schleswig, aaO. 128 Ewer/v.Detten, NJW 1995, 353, 355. 129 Ewerlv.Detten, NJW 1995, 353, 355. 130 Ewerlv. Detten, NJW 1995, 353, 356. 131 Kritisch, allerdings ohne nähere Begründung auch Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 377. 123

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

mehr besteht lediglich eine Pflicht zur Bereitstellung der verfügbaren Mittel, bevor ein Nichtstörer in Anspruch genommen wird 132 . Die Verfügbarkeit der Mittel ist somit Voraussetzung, aber auch Grenze der polizeilichen Pflicht zur Gefahrenabwehr. Von einer Verfügbarkeit kann jedoch nicht hinsichtlich solcher Mittel gesprochen werden, die zur Erfüllung anderweitiger öffentlicher Pflichten benötigt werden 133. So ist auch im Zusammenhang mit dem subjektiven Recht auf polizeiliches Einschreiten anerkannt, daß Gesichtspunkte der Kollision mit anderen Aufgaben der polizeilichen GefahrenabWehrpflicht Grenzen setzen können134. Dies folgt letztlich aus der Tatsache, daß die personellen und sachlichen Ressourcen der Polizei beschränkt sind 135 . Nichts anderes kann aber für die Pflicht der eigenen behördlichen Gefahrenabwehr im Rahmen der Notstandsvoraussetzungen gelten. Da die öffentliche Hand ebenso verpflichtet ist, Aufgaben der Daseinsvorsorge zu erfüllen sowie für einen ordnungsgemäßen Ablauf der Verwaltung zu sorgen, könnte bei einer Umwidmung oder Zweckänderung öffentlicher Gebäude die eine Pflicht nur auf Kosten der anderen erfüllt werden. Daß aber die Pflicht zur Daseinsvorsorge und zur Bereitstellung eines funktionierenden Verwaltungsapparats hinter der Gefahrenabwehrpflicht zurücktreten muß, kann nicht angenommen werden. Insoweit läßt sich eine Parallele zur strafrechtlichen Pflichtenkollision ziehen: auch diesbezüglich ist anerkannt, daß bei Kollision zweier gleichwertiger Handlungspflichten ein rechtswidriges Unterlassen nicht vorliegt 136 . Insoweit kann die Rechtsprechung des OVG Schleswig zwar im Ergebnis, allerdings nicht in der Begründung überzeugen. Tatsächlich geht es nicht um eine Abwägung des Interesses von Schulkindern, Turnunterricht zu erhalten gegenüber dem Interesse an der ungehinderten Nutzung des Eigentums137. Vielmehr geht es um eine sachgerechte Begrenzung der Gefahrenabwehrpflicht auf die Bereitstellung der verfügbaren Mittel, welche jedoch nicht vorliegen, wenn sie zur Erfüllung einer anderweitigen öffentlichen Aufgabe benötigt werden.

132 Vgl. dazu Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 134; Jochum, in: Jochum/Rühle, Polizei- und Ordnungsrecht, E, Rdnr. 78. 133 Vgl. auch Jochum, in Jochum/Rühle, Polizei- und Ordnungsrecht, E, Rdnr. 78: „Nicht verfügbar sind Kapazitäten anderer Funktionsträger in der Verwaltung, wenn dadurch deren Aufgaben längerfristig blockiert werden." 134 Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 132. 135 Vgl. auch VG Würzburg, NVwZ-RR 1989, 139; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 132. 136 Vgl. zur strafrechtlichen Pflichtenkollision Tröndle/Fischer, StGB, Vor §32, Rdnr. 11; Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, Vorbem §§32ff., Rdnrn.71 ff.; Wessels!Beulke, Strafrecht, Allgemeiner Teil, Rdnrn. 735 ff. 137 So aber OVG Schleswig, NJW 1993,413.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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4. Pflicht zur Anmietung von Räumlichkeiten Einigkeit besteht des weiteren darüber, daß die Polizei vor der Inanspruchnahme eines Nichtstörers die Anmietung von Räumlichkeiten zur Unterbringung von Obdachlosen versuchen muß 138 . Unter Räumlichkeiten in diesem Sinne sind Hotel- und Pensionszimmer 139, aber auch Wohnungen auf dem freien Wohnungsmarkt 140 zu verstehen. Das OVG Münster hat darüber hinaus betont, daß die Behörde unbewohnte, insbesondere zum Abriß bestimmte Häuser und Wohnungen im Stadtgebiet zu ermitteln und ihre Anmietung zu versuchen habe141. Grundsätzlich ist der Annahme einer vorrangigen Pflicht der Anmietung von Räumlichkeiten vor der Inanspruchnahme eines Nichtstörers zuzustimmen. Eine solche Pflicht entsteht jedoch aus den oben dargelegten Gründen ebenfalls erst mit Überschreitung der Gefahrensch welle und nicht bereits im Vorfeld 142 , so daß es nicht überzeugen kann, wenn das OVG Münster fordert, die Behörde müsse „ihre eigenen Kapazitäten zur Beseitigung von Obdachlosigkeit rechtzeitig und umfassend durch Anmietung von Wohnraum erweitern, wenn [...] sich schon im Vorfeld weiterer Fälle, in denen Obdachlosigkeit droht, abzeichnet [...], daß der in stadteigenen Unterkünften und Hotels zur Verfügung stehende Raum zur Unterbringung weiterer Obdachloser nicht mehr ausreicht 143". 138

OVG Münster, NVwZ 1991, 692; WuM 1990, 581; VGH Mannheim, BWVPr. 1984, 15, 16; VG Köln, NVwZ-RR 1990, 414, 415; VG München, DGVZ 1991, 126, 127; BGHZ 35, 27, 29; Belz/Mußmann, PolG BW, §9, Rdnr. 6; DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, §22, 3 b), S. 337; Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29, 32; Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 377; Eschenbach, NdsVBl. 1998, 100, 103; Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 355; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 268; Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 198; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.42; Wolf/Stephan, PolG BW, §9, Rdnr. 9; Reichertl Ruder! Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 283; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 249; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 194; Schoch, JuS 1995, 30, 34; Trokkels, BWVPr. 1989, 145, 149; Wolffgang/Hendricks/Merz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 442; Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 8; WürtenbergerlHeckmannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 316 d. 139 VG Köln, NVwZ-RR 1990, 414, 415; OVG Münster, OVGE 35, 303, 306; WuM 1990, 581 f.; VG München, DGVZ 1991, 126, 127; Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29, 32; Belz/Mußmann, PolG BW, §9 Rdnr.6; Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 377; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 268; Reichert!Ruder!Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 283, Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 249; Schlink, NJW 1988,1689,1693; Schoch, JuS 1995,30,34; zu den zivilrechtlichen Fragen bei Unterbringung von Obdachlosen in Hotels OLG Köln, NJW-RR 1991, 1292; LG Bonn, NJW-RR 1990, 1294; AG Neuss, NJW-RR 1991, 1168. 140 VG Köln, NVwZ-RR 1990, 414, 415; OVG Münster, WuM 1990, 581; OVG Berlin, ZMR 1955, 247, 255; BGHZ 35, 27, 29; DrewslWackelVogell Martens, Gefahrenabwehr, § 22, 3 b), S. 337; Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 377; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 268. 141 OVG Münster, WuM 1990, 581. 142 Siehe hierzu bereits oben 2. Teil, 1. Abschn., III, 2. 143 OVG Münster, Beschl. v. 18.8.1988, Az.: 9B 1607/88, zitiert nach VG Köln, NVwZ-RR 1990,414,415.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

Des weiteren sind auch hier die faktischen Grenzen der Gefahrenabwehrpflicht anzuerkennen: zwar wird es der Polizei innerhalb der wenigen zur Verfügung stehenden Tage noch möglich sein, anhand eines Hotel- oder Pensionsverzeichnisses die Verfügbarkeit und Anmietungsmöglichkeit derartiger Zimmer zu eruieren. Die Ermittlung sämtlicher leerstehender Wohnungen im Stadtgebiet und der Versuch ihrer Anmietung dürfte allerdings angesichts der Kürze der Zeit in der Regel wohl praktisch undurchführbar sein. Im übrigen darf nicht verkannt werden, daß viele Vermieter nicht bereit sein werden, der Polizei Wohnraum zur Unterbringung Obdachloser mietweise zu überlassen. Dies gilt wohl im besonderen Maße für Hoteliers, welche die Unterbringung derartiger Personengruppen als geschäftsschädigend ansehen werden 144; eine mangelnde Vermietungsbereitschaft wird jedoch häufig auch bei Eigentümern privaten Wohnraums vorliegen. Findet sich jedoch eine Person, die zur Vermietung einer geeigneten Unterkunft bereit ist, so ist die Polizei verpflichtet, vorrangig vor der hoheitlichen Inanspruchnahme auf dieses Vermietungsangebot einzugehen. Dies gilt auch dann, wenn derjenige, dessen Wohnung beschlagnahmt werden soll, die Vermietung anbietet. Wenig überzeugen kann daher ein Beschluß des VGH Mannheim aus dem Jahre 1983 145 , dem der Sachverhalt der hoheitlichen Beschlagnahme eines Wohnraums trotz Vermietungsbereitschaft des Eigentümers zugrundelag. Das Gericht bejahte die Rechtmäßigkeit der Beschlagnahme und führte insoweit aus, daß der hoheitliche Eingriff der Beschlagnahme gegenüber privatrechtlichen Formen der Besitzerlangung nicht subsidiär sei 146 . Auch der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sei nicht tangiert, weil dieser nur die Auswahl unter mehreren hoheitlichen Maßnahmen erfasse. Diese Auffassung beruht indes auf einer Verkennung sowohl des Verhältnismäßigkeitsprinzips 147 als auch der einfachgesetzlichen Voraussetzungen des polizeilichen Notstands. Als Gebot des geringstmöglichen Eingriffs betrifft das verfassungsrechtlich verankerte Verhältnismäßigkeitsprinzip nämlich nicht nur die Auswahl zwischen mehreren hoheitlichen Maßnahmen, sondern verlangt das Unterlassen eines hoheitlichen Eingriffs, wenn der gleiche Zweck auch ohne hoheitlichen Zwang durch freiwillige vertragsmäßige Leistung des Betroffenen erreicht werden kann. Bedenkt man, daß es sich bei einer Inanspruchnahme eines Nichtstörers immer nur um eine „ultima-ratio"-Maßnahme handelt, so muß der Weg des Fiskalhandelns vorrangig sein, zumal der Nichtstörer im Fall eines Vertrages die Vorteile der Vertrags- und Gestaltungsfreiheit genießt und nicht nur auf den polizeilichen Entschä144 145

Auf diesen Umstand weisen auch Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 133 hin. VGH Mannheim, BWVPr. 1984, 15 f.; zustimmend insoweit Gössl, BWGZ 1984, 326,

330.

146

VGH Mannheim, BWVPr. 1984, 15, 16; im Ergebnis ebenso Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 126. 147 Vgl. auch Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.45, die ebenfalls im konkreten Fall die Anmietung des Wohnraums für die mildere Maßnahme hält; ebenso Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.46.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

121

148

digungsanspruch verwiesen ist . Bezeichnerweise ist der Vorrang einer vertraglichen Einigung auch in einem anderen Fall der Inanspruchnahme eines Unbeteiligten zu Gemeinwohlzwecken ausdrücklich anerkannt. So ist eine Grundstücksenteignung nach §§ 85 ff. BauGB wegen Verstoßes gegen das Übermaß verbot unzulässig, wenn durch eine freiwillige Belastung mit einem dinglichem Recht oder einen freihändigen Kauf durch die öffentliche Hand der erstrebte Gemeinwohlzweck erreicht werden kann i49 . Als verfahrensrechtliche Ausgestaltung des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit150 verlangt § 87 Abs. 2 BauGB als Voraussetzung der Enteignung sogar ausdrücklich das ernsthafte Bemühen der öffentlichen Hand um einen freihändigen Erwerb des zu enteignenden Grundstücks. Dieser im Zusammenhang mit der Grundstücksenteignung sogar gesetzlich statuierte Vorrang einer vertraglichen Einigung muß jedoch angesichts der Vergleichbarkeit der Interessenlage im Hinblick auf den verfassungsrechtlich fundierten Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ebenso für den Fall der Beschlagnahme von Wohnraum gelten. Da die Pflicht zur Anwendung des milderen Mittels stets unter dem Vorbehalt der gleichen Zweckerreichung steht, ist freilich sorgfältig zu prüfen, ob mit der vertraglichen Bindung insbesondere auch in zeitlicher Hinsicht der gleiche Zweck wie mit der Beschlagnahme erreicht werden kann 151 . Da die Polizei nur während der Dauer der polizeirechtlichen Gefahr zur Verfügungstellung einer Unterkunft verpflichtet ist, müssen beispielsweise kurze Kündigungsfristen im Mietvertrag eingeräumt sein. Schließlich fordern auch die einfachgesetzlichen Voraussetzungen des Notstands den Vorrang des Anmietungsversuchs vor der Inanspruchnahme. Bei der Anmietung des Wohnraums handelt es sich nämlich um eine grundsätzlich gemäß den Notstandsvoraussetzungen primär zu verwirklichende eigene behördliche Gefahrenabwehr, in dem durch den Abschluß des zivilrechtlichen Vertrags die Erfüllung der hoheitlichen Aufgabe bewirkt wird. Daß der zivilrechtliche Vertragspartner mit dem potentiell hoheitlich in Anspruch zu Nehmenden identisch ist, kann insoweit keine Rolle spielen. 5. Berücksichtigung finanzieller Aufwendungen Hinsichtlich der Pflicht zur vorrangigen behördlichen Gefahrenabwehr stellt sich im besonderen Maße auch die Frage nach der Berücksichtigung finanzieller Aufwendungen der Polizei. Nach herrschender Meinung besteht die Pflicht zum vorrangigen Einsatz eigener Mittel unabhängig von der Höhe der aufzuwendenden finanziellen Mittel; mit anderen Worten ist nach dieser Auffassung die Polizei verpflichtet, auch exorbitant hohe Kosten aufzuwenden, bevor sie den Eigentümer als Nichtstörer 148 Explizit einen Vorrang des Abschlusses eines privatrechtlichen Vertrags vor der hoheitlichen Inanspruchnahme fordert auch Roos, RhpfPOG, §7, Rdnr. 16. 149 Vgl. Battis, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, § 87 Rdnr. 4. 150 Battis, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, § 87 Rdnr. 6. 151 Verneinend insoweit Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 126, welcher den privatrechtlichen Mietvertrag im Vergleich zur hoheitlichen Beschlagnahme als nicht gleichermaßen zur Zweckerreichung geeignet ansieht.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

in Anspruch nehmen kann 152 . Unerheblich soll dabei auch sein, ob Haushaltsmittel zur Verfügung stehen, da anderenfalls der Etat über die Zulässigkeit von Eingriffen in die Rechtssphäre von Nichtstörern entscheiden könne 153 . Gegen diese Auffassung hat sich insbesondere Lübbe mit dem Argument gewandt, daß bei Unterstellung der Richtigkeit dieser Auffassung keine Beschlagnahme von Wohnraum mehr rechtlich Bestand haben könne; schließlich seien zu vermietende Luxuswohnungen sowie Zimmer in Luxushotels nicht knapp, so daß die Polizei letztlich immer bei Inkaufnahme von Kosten jedweder Höhe Unterkünfte zur Verfügung stellen könne 154 . Auch nach Ansicht des VG Bremen dürfen fiskalische Gesichtspunkte zwar nicht im Vordergrund stehen, jedoch brauche die Polizei auch nicht extrem hohe Kosten in Kauf zu nehmen155. Ebenso meint Jochum, daß bei Massenvorgängen wie der Unterbringung einer großen Zahl von Obdachlosen das Kostenproblem „nicht völlig unbeachtet bleiben" könne 156 . In der Tat hätte die von der herrschenden Meinung befürwortete Nichtberücksichtigung der Höhe der mit der eigenen Gefahrenabwehr verbundenen finanziellen Aufwendungen im Zusammenhang mit der Beschlagnahme von Wohnraum eine besonders augenscheinliche Konsequenz. Als Folge müßte die Polizei nämlich, wit Lübbe zutreffend hervorgehoben hat, tatsächlich für verpflichtet gehalten werden, vorrangig luxuriöse Hotelzimmer und Appartements anzumieten, deren längerfristige Anmietung allerdings zu unermeßlichen Kosten für die öffentliche Hand führen könnte. Indes sprechen gute Gründe dafür, die Höhe der finanziellen Aufwendungen nicht völlig unberücksichtigt zu lassen. Denn die Pflicht zum vorrangigen Einsatz behör152 OVG Münster, OVGE 14, 265, 270; VG Köln, NVwZ-RR 1990, 414; NJW 1971, 210, 212; vgl. auch schon PrOVGE 97, 121, 123; DrewslWackelVogell Martens, Gefahrenabwehr, § 22, 2, b), b), S. 334f.; Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 303, dort insbesondere Fn. 118; Ewerlv.Detten, NJW 1995,353,355; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 308; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, §6 MEPolG, Rdnr. 5; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.45; vorsichtiger ErichsenlBiermann, Jura 1998, 371, 377. 153 DrewslWackelVogell Martens, Gefahrenabwehr, §22, 2, b), b), S.335. 154 Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.45 f.; vgl. auch Gössl, BWGZ 1984, 326, 330 unter Hinweis auf OVG Rheinland-Pfalz, Urt. v. 17.3.1960- 1 a 81/58; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 124f.; kritisch auch GüntherlTraumann, NVwZ 1993,130, 133 f.; Schoch, JuS 1995, 30, 34, Fn.67; Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29, 32, Fn. 19; vgl. auch Woljf/Bachof, Verwaltungsrecht III, § 127, Rdnr. 34, nach dem eine Inanspruchnahme eines Nichtstörers dann gerechtfertigt sein könne, wenn eigene Maßnahmen der Überwachungsbehörde „erheblich höhere Kosten" hervorrufen würden; siehe auch VGH BW, ESVGH 1, 234, 236: „Daß bei diesen Erwägungen auch die dabei entstehenden Kosten berücksichtigt werden können, möchte der Gerichtshof [...] noch als im Rahmen pflichtgemäßen Ermessens zugestehen". 155 VG Bremen, NVwZ 1991, 706, 707 - der Beschluß betraf allerdings einen Fall, in dem eine Turnhalle beschlagnahmt werden sollte, die im Eigentum der Gemeinde als zuständiger Polizeibehörde stand und einer gemeinnützigen GmbH unentgeltlich überlassen worden war; das Gericht ließ ausdrücklich offen, ob es zum selben Ergebnis auch dann gekommen wäre, wenn sich die GmbH gegenüber der SicherstellungsVerfügung selbst auf Art. 14 GG hätte berufen können. 156 Jochum, in: Jochum/Rühle, Polizei und Ordnungsrecht, E, Rdnr. 79.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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deneigener Mittel zur Gefahrenabwehr ist - wie erwähnt - nicht schrankenlos, sondern neben dem Gesichtspunkt der Verfügbarkeit auch durch Zumutbarkeitserwägungen begrenzt 157. Insoweit werden auch wirtschaftliche Gesichtspunkte in gewissem Umfang einzufließen haben158. Freilich ist die Berufung auf eine wirtschaftliche Unzumutbarkeit der behördlichen Gefahrenabwehr nur in äußerst engen Grenzen anzuerkennen, da es grundsätzlich vorrangige Pflicht und Aufgabe der Polizei ist, unter Einsatz eigener finanzieller Mittel Gefahren zu beseitigen, bevor ein völlig Unbeteiligter zur Gefahrenabwehr herangezogen wird. Die polizeilichen Notstandsvorschriften bewerten grundsätzlich das Recht Unbeteiligter etwa an der ungehinderten Nutzung ihres Eigentums aus Art. 14 GG höher als das Interesse der öffentlichen Hand und damit letztlich auch der Allgemeinheit an einer Begrenzung der bei einem Einsatz eigener Mittel anfallenden finanziellen Aufwendungen. Das Interesse der Allgemeinheit an einer Begrenzung von Kosten muß jedoch dann überwiegen, wenn diese ein wirtschaftlich vertretbares Maß in jeder Hinsicht übersteigen und im Hinblick auf die polizeiliche Zweckerreichung außer Verhältnis stehen. Das Interesse des Nichtstörers würde auch vor dem Hintergrund der Knappheit öffentlicher Mittel einerseits und der Sozialpflichtigkeit des Eigentums andererseits überbewertet, wenn man die öffentliche Hand für verpflichtet halten würde, letztlich zu Lasten der Allgemeinheit exorbitante Kosten aufzuwenden, die im Falle einer Inanspruchnahme auf ein angemessenes Niveau reduziert werden könnten. Dies gilt um so mehr, als der Eingriff ein geldwertes Recht betrifft und die entstehenden finanziellen Nachteile im Rahmen der Nichtstörerentschädigung angemessen ausgeglichen werden können. Eine Begrenzung der Aufwendung öffentlicher Mittel unter Berücksichtigung des Zumutbarkeitsgedankens ist denn auch bezeichnenderweise in einem anderen Fall der hoheitlichen Inanspruchnahme eines Unbeteiligten zu Gemeinwohlzwecken ausdrücklich anerkannt. So ist im Zusammenhang mit der bereits oben erwähnten Enteignung von Grundstücken nach §§ 85 ff. BauGB unstreitig, daß der aus Gründen des verfassungsrechtlich verankerten Verhältnismäßigkeitsprinzips vorrangig zu verwirklichende freihändige Kauf des Grundstücks 159 der öffentlichen Hand wegen erheblicher wirtschaftlicher Mehraufwendungen unzumutbar sein kann 160 . Der 157

Auf die Pflicht lediglich der Aufbietung der zumutbaren Gefahrenabwehrmittel stellt auch Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 249, ab; auf das Zumutbarkeitskriterium weisen auch explizit BGHZ 35,27,29; VGH BW, ES VGH 1,234,235; OVG Münster, OVGE 14, 265, 270 sowie OVG Schleswig , NJW 1993,413 hin; allgemein zur Begrenzung der Einschreitenspflicht der Polizei durch Gesichtspunkte des unzumutbaren Aufwands vgl. auch Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 132. 158 So wohl auch VGH BW, ES VGH 1, 234, 235; explizit gegen ein Abstellen auf die Zumutbarkeit der Kosten Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, §6 MEPolG, Rdnr. 5. 159 Vgl. hierzu und zu anderen vor der Enteignung vorrangig in Betracht zu ziehenden Mittel der Erreichung des Gemeinwohlzwecks Battis, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, § 87, Rdnr. 4. 160 So BGH, BRS 19, Nr. 45, 69f.; Battis, in: Battis/Krautzberger/Löhr, BauGB, §87, Rdnr. 4; Runkel, in: Ernst/Zinkahn/Bielenberg, BauGB, §87, Rdnr. 64 m. w. Nachw.; Berlcemann, in: Berliner Kommentar, BauGB, § 87, Rdnr. 56.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

Sachverhalt ist aber letztlich mit dem der Beschlagnahme von Wohnraum eines unbeteiligten Eigentümers vergleichbar: in beiden Fällen geht es um eine angemessene Begrenzung einer an sich vor der hoheitlichen Inanspruchnahme Unbeteiligter vorrangig zu verwirklichenden Erreichung des öffentlichen Zwecks durch die Verwaltung selbst aufgrund der Unzumutbarkeit erheblicher finanzieller Aufwendungen. Die Berechtigung der Begrenzung des Vorrangs der behördeneigenen Gefahrenabwehr im Hinblick auf wirtschaftliche Zumutbarkeitsgesichtspunkte wird in der vom VGH Mannheim entschiedenen und oben bereits erörterten Fallkonstellation besonders deutlich, in welcher der potentielle Adressat der Beschlagnahmeverfügung der Polizei selbst die Vermietung der Räumlichkeiten zu einem im Vergleich zum bisherigen Mietzins bzw. der ortsüblichen Vergleichsmiete 161 weit überhöhten Preis anbietet. Würden - wie die herrschende Meinung dies vertritt - finanzielle Erwägungen keinerlei Rolle spielen, so wäre die Polizei, wie bereits dargestellt, unter Beachtung des verfassungsrechtlich anerkannten Verhältnismäßigkeitsprinzips an sich gezwungen, auf die Anmietung als milderes Mittel gegenüber der Beschlagnahme einzugehen162. Daß aber die öffentliche Hand auf diese Art und Weise zur Aufwendung unzumutbar hoher Kosten gezwungen werden kann, kann kaum überzeugen, so daß die Polizei im Ergebnis bei überhöhtem Mietzinsangebot die Möglichkeit der Beschlagnahme haben muß 163 . Erkennt man aber an, daß die Polizei im Fall der Identität von potentiellem Vertragspartner und Nichtstörer nicht zur Aufwendung unzumutbar hoher Kosten verpflichtet ist, so ist nicht einzusehen, daß eine unbegrenzte Aufwendung finanzieller Mittel dann geboten sein soll, wenn der potentielle Vertragspartner eines Mietvertrags und der potentielle Adressat der Beschlagnahme nicht identisch sind, zumal es sich auch im Fall der Anmietung des Wohnraums von einem Vermieter, der sonst hoheitlich in Anspruch genommen worden wäre, um eine eigene behördliche Gefahrenabwehr handelt, die nach den Notstandsvorschriften an sich vorrangig zu verwirklichen wäre. 6. Resümee Insgesamt ist der zumindest teilweise in der Rechtsprechung erkennbaren Tendenz, überspannte Anforderungen an den Vorrang der eigenen behördlichen Gefahrenabwehr zu stellen164, entgegenzutreten. Bei Unterstellung der Richtigkeit der 161

Vgl. zur Frage, auf welchen Mietzins für die Entschädigung des Vermieters abzustellen ist unten 3. Teil, 2. Abschn., A, I, 1, b). 162 Siehe dazu oben 2. Teil, 1. Abschn., B, III, 4. 163 Auf dieser Überlegung beruht wohl auch, wie Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.45, zutreffend herausgearbeitet hat, die oben zitierte Entscheidung des VGH Mannheim (BWVPr. 1984, 15, 16), der, ohne auf die Unzumutbarkeit finanzieller Aufwendungen der Polizei einzugehen, die Beschlagnahme mit unzutreffenden Ausführungen zum Verhältnismäßigkeitsprinzip gerechtfertigt hat, siehe dazu oben 2. Teil, 1. Abschn., B, III, 4. 164 Besonders strenge Anforderungen stellt dabei insbesondere das OVG Münster, vgl. die bereits oben zitierten Entscheidungen OVG Münster, NVwZ 1991, 692f.; WuM 1990, 581 f.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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aufgestellten Forderungen könnte in der Tat kaum eine Beschlagnahme mehr rechtlichen Bestand haben; den Polizeibehörden wäre damit die in der Praxis unabdingbare Möglichkeit der Beschlagnahme von Wohnraum zur Abwehr von Obdachlosigkeit quasi aus der Hand geschlagen165. So hat eine Analyse der Rechtsprechung gezeigt, daß teilweise die faktischen Grenzen der behördlichen Gefahrenabwehr verkannt sowie auch Zumutbarkeitsgesichtspunkte nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt werden. Erkennt man z. B. richtigerweise an, daß eine Vorhaltepflicht der Polizei in bezug auf Obdachlosenunterkünfte nicht besteht und die Gefahrenabwehrpflicht der Polizei erst mit Überschreiten der Gefahrenschwelle einsetzt, so ist es der Behörde angesichts nur weniger zur Verfügung stehender Tage in der Regel praktisch unmöglich, neue Obdachlosenunterkünfte zu kaufen oder zu bauen sowie sämtliche freistehende Wohnungen auf dem freien Wohnungsmarkt zu eruieren und deren Anmietung zu versuchen. Ebenso wird eine Aufstellung von Wohncontainem oder Wohnwagen häufig an der kurzfristigen Realisierungsmöglichkeit im Hinblick auf zur Aufstellung geeignete Grundstücke und der Errichtung entsprechender Versorgungsleitungen scheitern. Zudem wird die behördeneigene Gefahrenabwehrpflicht unter Mißachtung der begrenzten sachlichen und finanziellen Ressourcen der öffentlichen Hand überdehnt, wenn gefordert wird, daß dem Gemeingebrauch gewidmete oder im Verwaltungsgebrauch stehende öffentliche Gebäude vorrangig zur Obdachlosenunterbringung in Betracht gezogen werden sollen oder die Polizei ohne jede Rücksicht auf die Kosten Obdachlose notfalls in Luxushotels unterbringen müsse. Indem durch Rechtsprechung und Teile der Literatur die Anforderungen an eine eigene vorrangige behördliche Gefahrenabwehr teilweise ins Realitätsferne übersteigert werden, werden gleichzeitig Eigentümerinteressen zu hoch gewichtet166. Hierbei wird von dieser Seite nicht verkannt, daß die polizeiliche Notstandsvorschrift als Ausnahmevorschrift grundsätzlich eng auszulegen ist und dem Privateigentümer nur in Ausnahmefällen ein Sonderopfer zugunsten der Allgemeinheit abzuverlangen ist 167 . Jedoch ist Günther/Traumann insoweit zuzustimmen, daß das grundsätzlich von Art. 14 GG erfaßte Recht von Hauseigentümern, nach Belieben ihr Eigentum nutzen zu können, in Zeiten verschärfter Wohnungsnot aufgrund der Sozialpflichtigkeit des Eigentums nicht im gleichen Maße schutzwürdig ist wie in Zeiten mit durchschnittlichem Wohnungsfehlbestand 168. Zudem ist zu berücksichtigen, daß zumindest in Fällen, in denen ein Mietverhältnis nur aufgrund der fehlenden Begleichung von Mietschulden beendet wurde und kein gesteigertes Interesse 165

Vgl. Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 134; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.45; ReichertlRuder!Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 332; vgl. auch Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29, 32, Fn. 19, der bei völliger Außerachtlassung der Kosten bei der behördlichen Gefahrenabwehr ein Leerlauf der Notstandshaftung befürchtet. 166 So auch Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 133. 167 Vgl. z. B. Drews/Wacke/VogellMartens, Gefahrenabwehr, § 22, 2, S. 332. 168 Vgl. Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 134.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

des Vermieters gerade an der Entfernung des jeweiligen Mieters aus der Wohnung (etwa wegen Eigenbedarfs oder wegen erheblicher Verletzungen sonstiger Mieterpflichten) besteht, der Vermieter mit der Beschlagnahme und Zuweisung des vorigen Mieters nicht unzumutbar beeinträchtigt wird, da er in Form der Behörde einen solventen Schuldner erhält, der eine angemessene Entschädigung zahlt 169 .

IV. Zumutbarkeit der Inanspruchnahme 1. Inhalt der Pflichtengrenze

der Unzumutbarkeit

Nach § 6 Abs. 1 Nr. 4 MEPolG ist es weiterhin Voraussetzung des polizeilichen Notstands schon auf Tatbestandsebene, daß die entsprechende Person ohne erhebliche eigene Gefährdung und ohne Verletzung höherrangiger Pflichten in Anspruch genommen werden kann. In dieser Voraussetzung kommt der Gedanke der Pflichtengrenze der Unzumutbarkeit zum Ausdruck 170 . Als Ausprägung eines verfassungsrechtlichen Grundsatzes171 gilt der Gedanke des § 6 Abs. 1 Nr. 4 MEPolG auch für diejenigen Landespolizeigesetze, in denen er keine entsprechende Kodifizierung erfahren hat, so daß auch nach § 9 bwPolG die Inanspruchnahme eines Nichtstörers im Falle erheblicher Eigengefährdung und im Fall der Pflichtenkollision unzulässig ist 172 . Was unter einer „erheblichen eigenen Gefährdung" i. S. d. § 6 Abs. 1 Nr. 4 1. Alt. MEPolG zu verstehen ist, wird nicht einheitlich beurteilt. Nach Gusy liegt eine erhebliche Eigengefährdung nur dann vor, wenn die Rechte der Betroffenen die zu schützenden Rechtsgüter des Gefährdeten deutlich überwiegen 173. Eine derartige Güterabwägung ist aber dem Wortlaut der Vorschrift nicht zu entnehmen; sie widerspricht auch systematischen Erwägungen. Da eine Vermutung besteht, daß der Gesetzgeber identischen Begriffen - zumal innerhalb derselben Vorschrift - den gleichen Bedeutungsgehalt beimißt, ist der Begriff der „erheblichen eigenen Gefährdung" wie der der „erheblichen Gefahr" i. S. d. § 6 Abs. 1 Nr. 1 MEPolG zu interpretieren. Gemeint ist somit eine Gefahr für ein bedeutsames Rechtsgut, wozu etwa Leben, Gesundheit, nicht unwesentliche Vermögenswerte sowie andere strafrechtlich geschützte Güter gehören 174, ohne daß jedoch erforderlich ist, daß dieses 169

So auch Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 134. DrewslWackelVogell Martens, Gefahrenabwehr, § 22,2, c), S. 335; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 265; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, §6 MEPolG, Rdnr. 7. 171 Vgl. hierzu sogleich 2. Teil, 1. Abschn., B, IV, 2. 172 Vgl. allgemein DrewslWackelVogell Martens, Gefahrenabwehr, §22,2, c), S.335; für Baden-Württemberg Behl Mußmann, PolG BW, § 9, Rdnr. 8; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 309; WürtenbergerlHeckmannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 315. 173 Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 303; ähnlich Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 251, der die Zumutbarkeitsgrenze durch Abwägung der Rechtsgüter ermitteln will. 174 Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 49, Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 266, beide unter Hinweis auf die Legaldefinitionen einiger Länderpolizeigesetze; ebenso 170

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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Rechtsgut das zu schützende Rechtsgut deutlich überwiegen muß. Andererseits statuiert die Vorschrift des § 6 Abs. 1 Nr. 4 MEPolG auch keine starre Grenze der Unzumutbarkeit, sondern ist i m Sinne eines angemessenes Verhältnisses der Eigengefährdung zu den zu bekämpfenden Gefahren zu verstehen: je schwerer die drohenden Schäden wiegen, desto eher ist es dem Nichtstörer auch zumutbar, Gefahren für seine eigenen Rechtsgüter in Kauf zu nehmen 1 7 5 . Eine höherrangige Pflicht i. S. d. § 6 Abs. 1 Nr. 4 2. Alt. MEPolG liegt dann vor, wenn diese bei einer Interessenabwägung gegenüber den gefährdeten Schutzgütern der öffentlichen Sicherheit überwiegt 1 7 6 . Eine solche Verpflichtung kann sowohl gesetzlicher wie vertraglicher Natur sein und somit nicht nur gegenüber der Allgemeinheit, sondern auch gegenüber einzelnen Dritten bestehen 177 .

2. Rechtliche Grundlage der Pflichtengrenze der Unzumutbarkeit Zumeist wird der Gesichtspunkt der Zumutbarkeit aus dem Verhältnismäßigkeitsprinzip, und zwar insbesondere aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i m engeren Sinne 1 7 8 hergeleitet oder gar mit ihm gleichgesetzt 179 . Indes unterscheidet sich das Prinzip der Zumutbarkeit von dem der Verhältnismäßigkeit und ist daher von Schmidbauer, in: Schmidbauer/Steiner/Rose, BayPAG, Art. 10, Rdnr. 21 i.V. m. Art. 11, Rdnr.48; enger Honnackerl Beinhof er, PAG, Art. 10, Anm.9a: Leben und Gesundheit. 175 Vgl. Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 309. In gleicher Weise wird auch die fast wortlautidentische und hinsichtlich der Interessenlage vergleichbare Zumutbarkeitsgrenze im Straftatbestand der unterlassenen Hilfeleistung gem. § 323 c StGB ermittelt; vgl. Rudolphi, in: SK, StGB, § 323 c, Rdnr. 25 zum Begriff der „erheblichen Gefahr": „Gefordert ist damit zwar nicht, daß die mit der Hilfeleistung verbundenen Gefahren für Rechtsgüter des Täters die abzuwendenden Gefahren überwiegen, wohl aber, daß sie ein gewisses Gewicht aufweisen und in einem angemessenen Verhältnis zu den zu bekämpfenden Gefahren stehen". Ebenso auch BGHSt 11, 137; Cramer, in: Schönke/Schröder, StGB, §323c, Rdnr. 22. 176 Vgl. Riegel, Polizei- und Ordnungsrecht, S. 101; Jochum, in Jochum/Rühle, Polizei- und Ordnungsrecht, E, Rdnr. 96. 177 Riegel, Polizei- und Ordnungsrecht, S. 101; Jochum, in Jochum/Rühle, Polizei- und Ordnungsrecht, E, Rdnr. 81. 178 Vgl. hierzu näher unten 2. Teil, 1. Abschn., C, III. 179 Vgl. aus der polizeirechtlichen Literatur DrewslWackelVogel!Martens, Gefahrenabwehr, §22, 2, c), S. 335; Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 356; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 349; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 309; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 129; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 6 MEPolG, Rdnr. 7; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 251; Schoch, JuS 1995, 30, 35, Fn.75; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.63; Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 119: „Außer dem Grundsatz der Geeignetheit des Mittels [...] sind also die Grundsätze der ,Erforderlichkeit' [...] und der Zumutbarkeit, d.h. der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zu beachten"; für Gleichsetzung auch Langheineken, Verhältnismäßigkeit, S. 21; aus der umfassenden Rechtsprechung des BVerfG vgl. z. B. BVerfGE 9, 338, 346; 21, 150, 155; 33, 240, 244; 46, 120, 148; 57, 121, 138; 61, 126, 134.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

ihm abzugrenzen180. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne verlangt nach herkömmlicher Definition, daß ein erforderliches Mittel nicht erkennbar außer Verhältnis zu dem erreichten Zweck steht181. Insoweit ist für das Prinzip der Verhältnismäßigkeit kennzeichnend, daß Zweck und Mittel zueinander in Beziehung zu setzen sind. Einen anderen Maßstab legt hingegen die Unzumutbarkeit an. Sie ist, wie Tipke zutreffend ausgeführt hat, keine „verhältnismäßige Größe, sondern eine Überforderung, eine Überanstrengung, die allein aus der Sphäre des Betroffenen 182 " komme. Während der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit das Mittel aus dem Blickwinkel des Zwecks betrachtet und daher einen „zweckbezogenen Wertungsmaßstab" darstellt, wertet die Unzumutbarkeit die Pflicht in Bezug auf eine Person und statuiert somit einen „subjektbezogenen Maßstab183". Bezeichnenderweise unterscheiden sich denn auch die in § 6 Abs. 1 Nr. 4 1. Alt. MEPolG als einfachgesetzliche Ausprägung des Zumutbarkeitsgedankens aufgestellten Voraussetzungen von denen, die das Verhältnismäßigkeitsprinzip im engeren Sinne vorsieht. § 6 Abs. 1 Nr. 4 1 Alt. MEPolG statuiert eine Unzulässigkeit der Notstandsmaßnahme schon dann, wenn eine erhebliche eigene Gefährdung droht; die Vorschrift präzisiert somit den subjektbezogenen Maßstab im Fall der Nichtstörerinanspruchnahme gesetzlich dahingehend, daß schon im Fall der Gefahr für ein bedeutsames Rechtsgut - ohne daß eine Abwägung zwischen dem Recht des Betroffenen und dem durch die Gefahrenabwehrmaßnahme zu schützenden Recht zu erfolgen hätte 184 - eine Unzumutbarkeit anzunehmen ist. Einen anderen Maßstab legt hingegen das Prinzip der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne zugrunde: eine Unzulässigkeit ist erst dann anzunehmen, wenn ein erkennbares oder offensichtliches Mißverhältnis 185 zwischen dem beabsichtigten Erfolg und dem dem Betroffenen drohenden Nachteil besteht. Daß eine Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme damit wesentlich eher vorliegt, als ein offensichtliches Mißverhältnis und damit die Unverhältnismäßigkeit im engeren Sinne angenommen werden kann, liegt insbesondere im Hinblick darauf, daß die Inanspruchnahme des Eigentümers letztlich den Schutz der Menschenwürde des Obdachlosen bezweckt, welche den „obersten Grundwert der freiheitlich demokratischen Grundordnung" darstellt 186, auf der Hand 187 . 180 In diesem Sinne z.B. Lücke, Die (Un-)Zumutbarkeit, S.55ff.; ders., DÖV 1974, 769ff.; Ossenbühl, in: Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, 315,320ff.; Tipke, Steuerliche Betriebsprüfung im Rechtsstaat, S. 100; vgl. auch OVG Lüneburg, NJW 1976, 385. 181 Siehe die Legaldefintion in § 2 Abs. 2 MEPolG; § 5 Abs. 2 bwPolG; vgl. zum Verhältnismäßigkeitsgrundsatz näher unten 2. Teil, 1. Abschn., C, III. 182 Vgl. Tipke, aaO, Fn.30. 183 Lücke, Die (Un-)Zumutbarkeit, S.56; Ossenbühl, in: Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, 315, 321; OVG Lüneburg NJW 1976, 385. 184 A.A. insoweit die unter Fn. 173 Genannten. 185 Vgl. DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, §24, 6, S.392; Schieferdecker, Entfernung von Kfz, S. 224: „Die mit der Maßnahme verursachten Nachteile müssen in einem krassen Mißverhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg stehen"; kritisch im Hinblick auf die Offensichtlichkeit Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 207. 186 BVerfG NJW 1998, 519, 521 m. w.Nachw.

Die

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

129

Das Verbot der Unzumutbarkeit hat - wie das Prinzip der Verhältnismäßigkeit - verfassungsrechtlichen Rang, wobei teilweise seine Grundlage i m Rechtsstaatsprinzip gesehen w i r d 1 8 8 ; nach anderer Auffassung soll es in den Grundrechten verankert sein 1 8 9 .

3. Fallgruppen a) Drohende eigene Obdachlosigkeit des Vermieters Eindeutig ist der Fall zu beurteilen, in welchem dem Vermieter, der wegen Eigenbedarfs gekündigt hatte, i m Falle der Beschlagnahme des Wohnraums nun selbst die Obdachlosigkeit droht 1 9 0 . Hier würde die Inanspruchnahme eine Gefahr für die eigene Menschenwürde des Vermieters hervorrufen, so daß unzweifelhaft eine erhebliche eigene Gefährdung des Betroffenen i. S. d. § 6 Abs. 1 Nr. 4 MEPolG drohen würde. Die Nichtstörerinanspruchnahme ist daher hier unzumutbar und damit unzulässig 1 9 1 .

187

Daß dies im Ergebnis auch von der herrschenden Meinung anerkannt wird, zeigt sich daran, daß bei drohenden Beleidigungen oder Beschädigungen durch den wieder zuzuweisenden Mieters zutreffend von einer Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme ausgegangen wird. Dieses Ergebnis läßt sich aber nicht mit einer bei der Verhältnismäßigkeitsprüfung zu erfolgenden Abwägung der betroffenen Rechtsgüter begründen: daß zwischen dem Nachteil der Verletzung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts des Vermieters und dem beabsichtigten Zweck des Schutzes der Menschenwürde des Obdachlosen ein erkennbares Mißverhältnis dergestalt besteht, daß die Menschenwürde letztlich zurückzutreten hat, läßt sich angesichts des Stellenwerts der Menschenwürde im Grundgesetz wohl nur schwerlich vertreten. Vgl. hierzu auch näher die Ausführungen zum Verhältnismäßigkeitsprinzip unten 2. Teil, 1. Abschn., C, III. 188 So Lücke, Die (Un-)Zumutbarkeit, S. 87; Steinberg, BB 1968, 433, 436. 189 Tipke, Steuerliche Betriebsprüfung im Rechtsstaat, S. 100; Ossenbühl, in: Freiheit und Verantwortung im Verfassungsstaat, 315, 327; vgl. auch BVerfGE 16, 147, 173; zu weiteren Auffassungen vgl. Lücke, Die (Un-)Zumutbarkeit, S. 87 f. 190 Dieser Sachverhalt lag einer Entscheidung des VG München, DGVZ 1991, 126 f. zugrunde. 191 Im Ergebnis auch VG München, DGVZ 1991, 127, allerdings mit anderer Begründung: „Nachdem die [...] Obdachlosenbehörde verpflichtet ist, Obdachlosigkeit zu beseitigen und nicht zu erzeugen, ist eine Maßnahme, die zwar einem Obdachlosen hilft, aber einen weiteren Obdachlosenfall erzeugt, nicht haltbar und rechtswidrig". Wie hier einen Fall der Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme nehmen an ErichsenlBiermann, Jura 1998, 371, 377; Ewerl v.Detten, NJW 1995, 353, 356; Lochum, in Jochum/Rühle, Polizei- und Ordnungsrecht, E, Rdnr. 96; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 251 unter Hinweis auf VG Frankfurt/Main, Beschl. v. 12.2.1988, V 1 H 295/88; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.66. 9 Reitzig

130

2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungserfügung

b) Gefährdung erheblicher Rechtsgüter des Eigentümers durch den Zuzuweisenden Ebenso ist eine Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme des Eigentümers i. S. d. § 6 Abs. 1 Nr. 4 MEPolG dann anzunehmen, wenn eine hinreichende Wahrscheinlichkeit dafür besteht, daß der Zuzuweisende den Eigentümer während der Beschlagnahmezeit beleidigen, tätliche Übergriffe gegen diesen verüben oder nicht unerhebliche Beschädigungen des Wohnraums oder dessen Einrichtung vornehmen wird. Das allgemeine Persönlichkeitsrecht gem. Art. 1 GG i.V. m. Art. 2 GG, die körperliche Integrität gem. Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG sowie das Eigentum i. S. d. Art. 14 GG sind insoweit als bedeutsame Rechtsgüter in der Lage, eine erhebliche Eigengefährdung im Sinne der Vorschrift zu begründen. Erforderlich ist dabei nach der Ratio der Vorschrift eine Kausalität sowie ein Zurechnungszusammenhang zwischen Inanspruchnahme und Gefährdung 192. Dagegen sind - wohl entgegen der herrschenden Meinung - zu erwartende bloße Belästigungen (z.B. querulatorisches Verhalten, Alkoholismus, Verstöße gegen die Hausordnung, Ruhestörungen, soweit diese keine Gesundheitsgefahr begründen), die unterhalb der Gefahrenschwelle liegen, ebensowenig wie allein in der Vergangenheit liegende Gefährdungen der Rechte des Vermieters, bei denen eine Wiederholung während der Beschlagnahmezeit nicht zu besorgen ist, geeignet, eine Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme zu begründen 193. Ebenso kann es nicht überzeugen, wenn teilweise ohne nähere Begründung vertreten wird, daß eine durch frühere Vorkommnisse hervorgerufene nachhaltige Störung des Vertrauensverhältnisses oder „erhebliche persönliche Spannungen194" zwischen den ehemaligen Vertragsparteien, die unter Umständen auch zur Kündigung des Mietvertrags geführt haben, eine Unzumutbarkeit zur Folge haben. So führt etwa Ruder aus: 192 Hier stellen sich im Zusammenhang mit der Beschlagnahme zur Zuweisung von Obdachlosen zwei Probleme. Streng genommen besteht zwischen der Beschlagnahme als der Inanspruchnahmeverfügung und der Gefährdung der Rechtsgüter des Vermieters durch den Obdachlosen schon allein deshalb keine Kausalität, weil die Beschlagnahme als solche neutral ist und erst die gegenüber dem Obdachlosen ergehende Zuweisungsverfügung darüber entscheidet, welcher Person die Wohnung zugewiesen wird (zur rechtlichen Trennung von Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung siehe bereits 1. Teil, 1. Abschn., A). Indes wäre eine solche Betrachtungsweise formalistisch, da die Beschlagnahme nicht auf Vorrat, sondern nur anläßlich einer konkreten Gefahr für eine bestimmte Person erfolgen kann, so daß es insoweit gerechtfertigt erscheint, erst durch die Zuweisungsverfügung hervorgerufene Rechtsgutsgefährdungen auch auf die Beschlagnahmeverfügung „durchschlagen" zu lassen. Zum zweiten stellt sich das Problem, inwieweit der öffentlichen Hand das Verhalten der zugewiesenen Person zuzurechnen ist. Dies ist jedenfalls dann zu bejahen, wenn bereits bei Inanspruchnahme erkennbar war, daß der Zugewiesene den Eigentümer an den genannten Rechtsgütern gefährden wird, denn in diesem Fall realisiert sich ein bereits in der Inanspruchnahme angelegtes Risiko; vgl. zu dieser schwierigen Problematik unten 4. Teil, 2. Abschn., C, I. 193 A. A. wohl Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 251; für Unzumutbarkeit bei vorangegangenen Beleidigungen oder Tätlichkeiten gegenüber dem Vermieter ebenso Drewsl Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 22,3, b), S. 337; Schmidt-Futterer, ZMR1972,69,70. 194 Trockels, BWVPr. 1989, 145, 147.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

131

„Unzumutbar ist auch die Beschlagnahme zur Wiedereinweisung einer Person, die den [...] bisherigen Vermieter grob beleidigt hat oder ihm gegenüber tätlich geworden ist - vor allem dann, wenn dieses Verhalten zur Kündigung geführt hat. Unzumutbare Belastungen für den Eigentümer liegen auch dann vor, wenn wegen besonderer in der Person des Obdachlosen liegenden Umstände (z. B. Alkoholismus) ein weiteres Verbleiben in der beschlagnahmten Wohnung zu nicht hinnehmbaren Belastungen für den Vermieter führt 195 ". Eine nähere Begründung der Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme läßt diese Auffassung indes vermissen. So drängt sich der Verdacht auf, daß nicht eine Subsumtion des § 6 Abs. 1 Nr. 4 MEPolG als gesetzlicher Ausprägung des Unzumutbarkeitsgedankens für den polizeilichen Notstand erfolgt ist, sondern vielmehr unbesehen der Maßstab, den das Zivilrecht für die Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Mietverhältnisses aufstellt, auch für die hoheitliche Inanspruchnahme übernommen wurde 196 . Jedoch hat der Zumutbarkeitsgedanke im Mietrecht und im polizeilichen Notstandsrecht aufgrund der unterschiedlichen Interessenlage eine völlig unterschiedliche Ausprägung erfahren. Geht es im Fall der Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Mietverhältnis darum, daß der Vermieter aufgrund von Vorfällen in der Vergangenheit, die das Vertrauensverhältnis erheblich gestört haben, nicht gezwungen werden kann, an einem frei gewählten Vertragspartner festzuhalten, so betrifft die Beschlagnahme von Wohnraum eine hoheitliche Inanspruchnahme zu Gemeinwohlzwecken, die ohnehin an strenge Voraussetzungen gebunden ist. Für den Fall der Notstandsinanspruchnahme konkretisiert die Vorschrift des § 6 Abs. 1 Nr. 4 MEPolG den verfassungsrechtlich fundierten Zumutbarkeitsgedanken angesichts der fehlenden (und vorrangig zu prüfenden) Möglichkeit der anderweitigen Behebung einer polizeirechtlichen Gefahr dahingehend, daß nur im Fall der erheblichen Eigengefährdung und der Verletzung höherrangiger Pflichten eine Unzumutbarkeit anzunehmen ist. Somit geht es nicht um eine vage Interessenabwägung im Sinne einer „nicht mehr hinnehmbaren Belastung" für den Vermieter; erforderlich ist vielmehr eine Subsumtion unter die Norm des § 6 Abs. 1 Nr. 4 MEPolG bzw. unter den dahinter stehenden Rechtsgedanken. Somit können Belastungen des Vertrauensverhältnisses durch in der Vergangenheit liegende Rechtsverletzungen durch den früheren Mieter zwar u. U. eine fristlose Kündigung des Mietverhältnisses rechtfertigen, soweit jedoch die Inanspruchnahme 195 So Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 251; vgl. auch VGH Mannheim, NVwZ-RR 1990, 476; DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, § 22, 3, b), S. 337; Gössl, BWGZ 1984, 326, 331; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.66. 196 Nach der Vorschrift des § 569 Abs. 2 i.V. m. § 543 Abs. 1 BGB kann ein Mietverhältnis über Räume ohne Einhaltung einer Kündigungsfrist gekündigt werden, wenn ein Vertragsteil schuldhaft in solchem Maße seine Verpflichtungen verletzt, insbesondere den Hausfrieden so nachhaltig stört, daß dem anderen Teil die Fortsetzung des Mietverhältnisses nicht zugemutet werden kann. Als nicht zumutbar für den Vermieter in diesem Sinne ist durch die Zivilgerichte eine Beleidigung oder Mißhandlung des Vermieters oder die fortwährende Belästigung der Hauseinwohner angesehen worden, vgl. Weidenkaff, in: Palandt, BGB, § 569, Rdnr. 14 m. w. Nachw.

*

132

2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

zu keiner erheblichen Gefahr für die Rechte des Eigentümers führt, mangels Erfüllung des Tatbestands des § 6 Abs. 1 Nr. 4 1. Alt. MEPolG eine Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme nicht begründen. Notwendig ist insoweit also eine Gefahrenprognose aus ex-ante-Sicht zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme. Erst wenn eine durch die Inanspruchnahme zurechenbar verursachte hinreichende Wahrscheinlichkeit eines Schadenseintritts für bedeutsame Rechtsgüter besteht, kommt eine Unzumutbarkeit in Betracht. Zu trennen von der hier erörterten Problematik der Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme ist allerdings die Frage der ermessensfehlerfreien Nichtstörerauswahl. Sind andere Nichtstörer vorhanden, die eine Inanspruchnahme weniger belastet, kann auch die Störung des Vertrauensverhältnisses unterhalb der Gefahrenschwelle ein im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigender Umstand sein, der zur Fehlerhaftigkeit der Inanspruchnahme führen kann 197 . c) Insolvenz des Zuzuweisenden Kein Fall der Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme i. S. d. § 6 Abs. 1 Nr. 4 MEPolG liegt vor, wenn etwa eine Kündigung aufgrund von Zahlungsrückständen des Mieters erfolgt ist und auch weitere Insolvenz des Zuzuweisenden zu erwarten ist 198 . Wenn auch das Vermögen ausnahmsweise als erhebliches Rechtsgut i. S. d. § 6 Abs. 1 Nr. 4 MEPolG berücksichtigt werden kann 199 , so wird dem finanziellen Interesse des Vermieters hier ausreichend dadurch Rechnung getragen, daß er eine angemessene Entschädigung für den Zeitraum der Inanspruchnahme erhält, die in der Regel dem vorherigen Mietzins entspricht 200. d) Eigenbedarfskündigung Fraglich erscheint, ob die Zumutbarkeitsgrenze auch dann überschritten ist, wenn zwar keine Obdachlosigkeit des Vermieters droht, dieser sich aber entschlossen hatte, den Wohnraum für sich oder einen nahen Angehörigen zu nutzen und dementsprechend wegen Eigenbedarfs gekündigt hatte. Eine Unzulässigkeit der Inan197

Im Ergebnis wohl auch Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.49f.: „Meines Erachtens kann dieser Umstand [gemeint ist der Umstand, daß das Verhältnis Räumungsschuldner und Räumungsgläubiger gestört ist; die Verf.] lediglich dazu führen, daß die Gemeinde [...] in die beschlagnahmte Wohnung möglichst einen anderen Notfall einweist oder einen Tausch veranlaßt. Besteht diese Möglichkeit nicht und bleibt deshalb der Räumungsschuldner mangels Wiedereinweisung ohne menschenwürdige Unterkunft, dürfte die Menschenwürde des Obdachlosen den Rechten des Wohnungseigentümers auch dann vorgehen, wenn dieser persönlich dadurch belastet wird". 198 Vgl. auch Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 133; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.67. 199 So Jochum, in Jochum/Rühle, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 80. 200 Zur Höhe der Entschädigung vgl. näher unten 4. Teil, 2. Abschn., A, I, 1, b).

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

spruchnahme hat in einem solchen Fall das OVG Schleswig angenommen führt es aus:

133 201

. So

„[...] eine Einweisung von obdachlosen Asylbewerbern in eine Wohnung [ist] jedenfalls dann nicht mehr gerechtfertigt, wenn diese nach dem Willen des Eigentümers ausschließlich von ihm selbst genutzt werden soll, gleichgültig, welche Größe und welchen Umfang die so genutzten Räumlichkeiten haben. Es ist das durch Art. 14 GG geschützte Recht des Eigentümers, selbst zu bestimmen, in welcher Form und in welchem Umfang er seine eigenen Wohnbedürfnisse meint befriedigen zu können. Etwas anderes ist es indes, wenn der Eigentümer ohne weiteres in der Lage und vor allem bereit ist, ihm gehörenden Wohnraum auch anderen Personen anzubieten [...] 2 0 2 ." Die Annahme einer Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme bei eigenem Nutzungswillen des Eigentümers ist entgegen der Ansicht des OVG Schleswig zwar im Einzelfall möglich, aber nicht in jedem Fall zwingend. Wie bereits dargelegt, kann die Zumutbarkeitsgrenze nicht durch eine bloße allgemeine Interessenabwägung gewonnen werden, sondern erfordert eine Subsumtion unter den in § 6 Abs. 1 Nr. 4 MEPolG für den polizeilichen Notstand gesetzlich konkretisierten Zumutbarkeitsgedanken. So ist etwa eine Verletzung höherrangiger Pflichten i. S. d. § 6 Abs. 1 Nr. 4 2. Alt. MEPolG in dem Fall denkbar, in dem die Zurverfügungstellung des Wohnraums an einen nahen Angehörigen einer diesem gegenüber bestehenden gesetzlichen Unterhaltspflicht dienen soll 203 . Eine erhebliche Eigengefährdung ist aber im Fall des bloßen eigenen Nutzungswillens, ohne daß ein Schaden für weitere Rechtsgüter des Vermieters droht, nicht ersichtlich. Hier wird lediglich die Nutzungsbefugnis des Eigentums nach eigenem Belieben beeinträchtigt; dieser Eingriff ist jedoch mit jeder Beschlagnahme verbunden, ohne daß dies zwingend zu einer Unzumutbarkeit führen würde. Der eigene Nutzungs wille ist jedoch in jedem Fall bei der Ermessensausübung im Rahmen der Nichtstörerauswahl zu berücksichtigen und kann in diesem Rahmen bei Vorhandensein anderer, weniger belasteter Eigentümer zu einem Ermessensfehler führen 204.

201 Vgl. OVG Schleswig, NJW 1993,413f., allerdings nicht unter Hinweis auf den Zumutbarkeitsgedanken, sondern auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip. Vgl. zur Unterscheidung dieser beiden Prinzipien schon oben 2. Teil, 1. Abschn., B, IV, 2. 202 Vgl. OVG Schleswig, NJW 1993, 413, 414; zustimmend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 129; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 251; Schock, JuS 1995, 30, 34, nach dem das OVG Schleswig mit der Annahme einer Unzulässigkeit der Inanspruchnahme bei eigenem Gebrauchswillen eine „wichtige Unterscheidung" eingeführt habe; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 66. 203 So auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.66. 204 Siehe hierzu näher unten 2. Teil, 1. Abschn., D, III, 2.

134

2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

e) Abschluß eines neuen Mietvertrags Eine Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme ist auch dann nicht anzunehmen, wenn der Vermieter zum Zeitpunkt der Beschlagnahme bereits aufgrund eines neuen Mietvertrags verpflichtet ist, die Wohnung einem Dritten zu überlassen. In bezug auf etwaige finanzielle Ausfälle droht eine erhebliche Eigengefährdung nicht, da insoweit die Nichtstörerentschädigung einen Ausgleich schafft. Auch der Tatbestand des § 6 Abs. 1 Nr. 4 2. Alt. MEPolG ist in diesem Fall nicht einschlägig. Zwar kann sich eine höherrangige Verpflichtung grundsätzlich auch aus einer vertraglichen Verpflichtung gegenüber einer einzelnen Person ergeben, jedoch ist bei der gebotenen Interessenabwägung die Pflicht zur Vertragserfüllung gegenüber dem neuen Mieter gegenüber dem Schutz der Menschenwürde des Obdachlosen niedriger einzustufen 205. Eine gegenüber dem neuen Vertragspartner eventuell entstehende zivilrechtliche Schadensersatzpflicht ist allerdings mit der Nichtstörerentschädigung zu kompensieren.

C. Die Inanspruchnahmeverfügung und der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit I. Bedeutung und gesetzliche Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes Eine auch in der Praxis außerordentlich wichtige Schranke für das polizeiliche Handeln ergibt sich aus dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne, welches gleichbedeutend auch als Übermaßverbot bezeichnet wird. Begrenzt wird insoweit sowohl das Entschließungs- als auch das Auswahlermessen 206. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne hat Verfassungsrang und wird gemeinhin als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips207 angesehen. Zusätzlich hat er in § 5 Abs. 1, Abs. 2 bwPolG (§ 2 Abs. 1, Abs. 2 MEPolG) eine einfachgesetzliche, insoweit deklaratorische Ausprägung erfahren. Das Verhältnismäßigkeitsprinzip im weiteren Sinne umfaßt als Elemente den Grundsatz der Geeignetheit, der Erforderlichkeit und der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne 208 . Gemäß dem Grundsatz der Geeignetheit hat die Polizei sich eines 205

Im Ergebnis auch Jochum, in Jochum/Rühle, Polizei- und Ordnungsrecht, E, Rdnr. 92; Möller/Wilhelm, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, S.56; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 252; a. A. Harke, WuM 1987, 403, 411; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.66. 206 Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 200. 207 So das BVerfG in st. Rspr., vgl. z.B. BVerfGE 6, 389,439; 9,137,149; 19, 342,348; 20, 45,49; 23,127,133; 25,269,292; 30,1,20; 35, 382,400; 38,348,368; vgl. auch die weiteren Nachweise bei Lerche, Übermaß und Verfassungsrecht, S. 32 Fn. 10. 208 Siehe insoweit grundlegend Wittig, DÖV 1968,817 ff.; in der polizeirechtlichen Literatur z. B. DrewslWackelVogell Martens, Gefahrenabwehr, § 24, 6, S. 389; Rasch, Allgemeines Poli-

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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Mittels zu bedienen, das aus ex-ante-Sicht der handelnden Behörde zur Gefahrenabwehr auch geeignet ist. Nach dem Prinzip der Erforderlichkeit ist die Polizei verpflichtet, unter mehreren gleich geeigneten Mitteln dasjenige auszuwählen, daß den Betroffenen und die Allgemeinheit voraussichtlich am wenigsten beeinträchtigt (vgl. §§ 5 Abs. 1 bwPolG; 2 Abs. 1 MEPolG). Schließlich fordert das Prinzip der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne, daß die Polizei solche Maßnahmen unterläßt, die einen Nachteil herbeiführen, der erkennbar außer Verhältnis zu dem beabsichtigten Erfolg steht (§§ 5 Abs. 2 bwPolG; 2 Abs. 2 MEPolG).

II. Geeignetheit und Erforderlichkeit der Beschlagnahme von Wohnraum Keine Zweifel ergeben sich an der Geeignetheit der Beschlagnahme zum Zwecke der Zuweisung an einen Obdachlosen, da insoweit der Gefahrenabwehrerfolg der Beschaffung einer Unterkunft zur Beseitigung bzw. Vermeidung von Obdachlosigkeit herbeigeführt werden kann. Näherer Betrachtung im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme des Vermieters bedarf der Grundsatz der Erforderlichkeit, der sich zum einen auf die Auswahl des Mittels der Beschlagnahme als solcher, zum anderen aber auch auf den Umfang der Inanspruchnahme sowohl in zeitlicher wie in sachlicher Hinsicht auswirkt. 1. Mietvertrag

als milderes Mittel

Bereits in anderem Zusammenhang wurde die Konstellation angesprochen, daß ein Vermieter zur Abwendung der hoheitlichen Inanspruchnahme der Polizei die Vermietung des zu beschlagnahmenden Wohnraums anbietet209. Der VGH Mannheim ist insoweit der Auffassung, daß der in § 5 Abs. 1 bwPolG statuierte Grundsatz der Erforderlichkeit nicht eingreife, da dieses Prinzip nur die Auswahl unter verschiedenen hoheitlichen Maßnahmen betreife, nicht aber die Subsidiarität der hoheitlichen Inanspruchnahme gegenüber dem privatrechlichen Vertrag zur Folge habe210. Dem ist jedoch entgegenzuhalten, daß das Gebot des geringstmöglichen Eingriffs nicht nur die Auswahl zwischen mehreren hoheitlichen Maßnahmen betrifft, sondern das Unterlassen eines hoheitlichen Eingriffs verlangt, wenn der gleiche Zweck auch ohne hoheitlichen Zwang erreicht werden kann 211 . Der Vorrang des Abschlusses eines Mietvertrags steht freilich unter dem Vorbehalt der gleichen zei- und Ordnungsrecht, § 2 MEPolG, Rdnr. 5; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 201. 209 Siehe bereits oben 2. Teil, 1. Abschn., B, III, 4. 210 Vgl. VGH Mannheim, BWVPr. 1984,15,16; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 126. 211 Vgl. hierzu im einzelnen bereits oben 2. Teil, 1. Abschn., B, III, 4; im Ergebnis wie hier auch Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.45; ebenso Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.46.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

Zweckerreichung; insoweit bedarf es unter Umständen der Einräumung kürzerer Kündigungsfristen als der gesetzlich vorgesehenen. 2. Umfang der Inanspruchnahme Der Grundsatz der Erforderlichkeit steuert - soweit sich dies nicht bereits aus gesetzlichen Spezialregelungen ergibt - auch den zeitlichen und sachlichen Umfang der Inanspruchnahme. a) Zeitlicher Umfang der Inanspruchnahme aa) Erfordernis

einer zeitlichen Befristung der Beschlagnahme

Einigkeit besteht darüber, daß die Nichtstörerinanspruchnahme und somit auch die Beschlagnahme von Wohnraum zur Unterbringung Obdachloser von vornherein zeitlich zu befristen ist 212 . In Baden-Württemberg ergibt sich dies bereits aus der Vorschrift des § 33 Abs. 3 S. 2 bwPolG 213 . Hierin ist zwar nicht explizit die Notwendigkeit einer Befristung der Beschlagnahme geregelt, sondern lediglich normiert, daß vorbehaltlich besonderer gesetzlicher Regelungen eine Beschlagnahme nicht länger als sechs Monate aufrechterhalten werden darf. Erläßt aber die Behörde eine Inanspruchnahmeverfügung, ohne die Wirkungen der Maßnahme zu befristen, so ist nach dem objektiven Erklärungsgehalt der Verfügung die Beschlagnahme auf Dauer angeordnet und steht damit im Widerspruch zur gesetzlichen Regelung, welche die Rechtswidrigkeit der Beschlagnahme nach Ablauf der genannten Frist statuiert 214. Da der Verwaltungsakt 212 So schon PrOVGE 75,339,343; vgl. auch VGH Mannheim, NVwZ-RR 1990,476; OVG Münster OVGE 35, 303, 305; ErichsenlBiermann, Jura 1998, 371, 378; Belz/Mußmann, PolG BW, § 9, Rdnr. 7; Friaufl Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Rdnr. 114; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 271; Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 134; Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 304; Möller/Wilhelm, Polizei- und Ordnungsrecht, S.54; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 310; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, §6 MEPolG, Rdnr. 11; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 254; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 197; Wolff/Bachof, Verwaltungsrecht III, § 127, Rdnr. 36; Wolf1 Stephan, PolG BW, § 9, Rdnr. 21: „in der Regel". Die Zulässigkeit einer Befristung ergibt sich dabei aus § 36 Abs. 2 LVwVfG. 213 Vgl. VGH Mannheim, NVwZ-RR 1990, 476; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 197; vgl. auch Eichert, BWVPr. 1983,234, 236; vgl. auch die Regelung des § 27 Abs. 3 S. 3 sächsPolG; a. A. diejenigen, die die Beschlagnahme tatbestandlich nicht für einschlägig halten, z.B. Erichsenl Biermann, Jura 1998, 371, 378 m.w. Nachw. 214 Vgl. VGH Mannheim, NVwZ-RR 1990, 476; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 254; Reichert/Ruder!Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 333; zweifelnd Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr.254, Fn.265a; a. A. offenbar VGH Mannheim, NVwZ-RR 1998, 173, 174, welcher unter Berufung auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz meint, die Beschlagnahme sei grundsätzlich unbefristet anzuordnen und lediglich mit dem Hinweis zu verbinden, daß die An-

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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nach dem objektiven Empfängerhorizont aus der Sicht eines verständigen Empfängers auszulegen i s t 2 1 5 , ändert sich an der Unzulässigkeit einer unbefristeten Verfügung auch dann nichts, wenn die Behörde subjektiv beabsichtigt, die Beschlagnahme nach sechs Monaten aufzuheben 216 . Die Verpflichtung der Befristung der Beschlagnahme von Wohnraum besteht aber auch in den Bundesländern, in denen eine dem § 33 Abs. 3 S. 2 bwPolG entsprechende gesetzliche Regelung nicht existiert 2 1 7 . Dies folgt aus dem Prinzip der Erforderlichkeit als Bestandteil des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes, nach dem die Inanspruchnahme eines Nichtstörers auf das zeitlich unbedingt Notwendige zu beschränken ist 2 1 8 . So normiert auch § 6 Abs. 2 MEPolG einfachgesetzlich, daß der Notstandseingriff nicht länger aufrechterhalten werden darf, als dies zur Abwehr der Gefahr notwendig ist. Für das Erfordernis einer zeitlichen Befristung spricht des weiteren das im Rechtsstaatsprinzip verankerte Gebot der Rechtsklarheit. Denn mit der Anordnung der Befristung wird dem Eigentümer gleichzeitig über die äußersten zeitlichen Grenzen der Beschlagnahme Klarheit verschafft und ihm so ermöglicht, Dispositionen zu treffen 2 1 9 .

Ordnung längstens sechs Monate gelte. Dies kann allerdings nicht überzeugen. Daran, daß eine unbefristete Anordnung der Beschlagnahme nicht mit der Vorschrift des § 33 Abs. 3 S. 2 bwPolG in Einklang zu bringen ist und damit rechtswidrig ist, ändert auch der Hinweis nichts, daß die Beschlagnahme höchstens sechs Monate gelte. Die Verpflichtung zur Aufhebung der Beschlagnahme ergibt sich nämlich unabhängig von einer Befristung immer, wenn die Voraussetzungen der Verfügung wegfallen; vgl. näher 2. Teil, 1. Abschn., C, II, 2, a), dd). 2,5 Vgl. hierzu etwa BVerwGE 48, 281 ;Badura, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 38, Rdnr. 17; Kopp!Ramsauer, VwVfG, § 35, Rdnr. 16 m. w. Nachw. 216 VGH Mannheim, NVwZ-RR 1990, 476. 217 OVG Münster OVGE 35,303,305; Erichsen/Biermann, Jura 1998,371,378; Möller/Wilhelm, Polizei- und Ordnungsrecht, S.54; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, §6 MEPolG, Rdnr. 11; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 197. 218 Vgl. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 197, 204; siehe schon PrOVGE 75, 339, 343: „Die Polizeibehörde hat dadurch, daß sie ohne zeitliche Begrenzung die Einweisung der Familie M. in ihre alte Wohnung anordnete [...], [dem Eigentümer] dauernd die Verfügung darüber entzogen. Die Polizeibehörde ist damit zur Abwendung der Gefahr [...] mit einem Mittel vorgegangen, welches über das Maß des Nötigen hinausgreift". A.A. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 310 ff., welcher das Verbot des zeitlichen Übermaßes dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinne entnehmen will; ebenso Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 131. Vgl. auch OVG Münster, OVGE 35, 303, 304, welches aus der Formulierung „wenn die Polizei die Gefahr nicht oder nicht rechtzeitig selbst oder durch Beauftragte abwehren kann" in § 19 Abs. 1 Nr. 3 nwOBG (entspricht § 6 Abs. 1 Nr. 3 MEPolG) ableitet, daß die Maßnahme auf die unumgänglich notwendige Dauer zu begrenzen sei. 219 VGH Mannheim, NVwZ-RR, 476; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 253; ähnlich OVG Münster OVGE 35, 303, 305; Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 134: „Außerdem wird durch die Befristung der Beschlagnahmezeit dem betroffenen Hauseigentümer veranschaulicht, daß die Belastung nur vorübergehend ist".

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

bb) Zulässige Höchstdauer der Beschlagnahme (1) Rechtslage in Baden-Württemberg Eine gesetzliche Sonderregelung hinsichtlich der Höchstdauer einer Beschlagnahme und damit der maximal festzusetzenden Befristung findet sich in BadenWürttemberg in § 33 Abs. 3 S. 2 bwPolG, wonach die Beschlagnahme vorbehaltlich besonderer gesetzlicher Regelungen nicht länger als sechs Monate aufrechterhalten werden darf 220 . Eine besondere gesetzliche Regelung existiert für den Bereich der Wohnraumbeschlagnahme nicht mehr, nachdem die Vorschrift des § 94 bwPolG a. F., die für die Geltungsdauer des Wohnraumbewirtschaftungsgesetzes (WoBewiG) vom 31.3.1953221 für die Unterbringung obdachloser Personen in beschlagnahmten Wohnungen eine Überschreitung der Frist unter bestimmten Umständen zuließ, mit dessen Aufhebung gegenstandslos wurde und demgemäß nicht in das neue Polizeigesetz i. d. F. vom 31.1.1992222 übernommen wurde. Fraglich ist in diesem Zusammenhang, ob die Anordnung der gesetzlich zulässigen Höchstfrist von sechs Monaten ohne weiteres zulässig ist oder an weitere Voraussetzungen geknüpft ist 223 . Nach teilweise vertretener Ansicht ist die Befristung der Beschlagnahme auf die zugelassene Höchstdauer im Hinblick auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz nur dann gerechtfertigt, wenn mit der Beseitigung der polizeilichen Gefahr vor Ablauf der Frist nicht gerechnet werden könne und die Behörde die Gründe hierfür nachvollziehbar darlege 224. Indes kann diese Auffassung nicht überzeugen. Fallen nämlich die Voraussetzungen für die Beschlagnahme als Dauerverwaltungsakt weg, so ist die Behörde - unabhängig davon, ob überhaupt und wie lange die Frist bestimmt wurde - ohnehin verpflichtet, diese aufzuheben 225. Dies ist einfachgesetzlich in § 33 Abs. 3 S. 1 bwPolG normiert, ergibt sich aber darüber hinaus auch aus dem aus den Grundrechten resultierenden Beseitigungsanspruch, der einen subjektiven Anspruch auf Unterlassung und Beseitigung rechtswidrigen hoheitlichen Handelns beinhaltet. Angesichts dieser vom Ablauf der Frist völlig unabhängigen Aufhebungsverpflichtung ist es aber nicht einsichtig, daß die Anordnung der gesetzlichen Höchstfrist nur dann zulässig sein soll, wenn mit dem Wegfall der 220 Die folgenden Ausführungen gelten sinngemäß auch für Sachsen, wo gem. § 27 Abs. 3 S. 3 2. HS sächsPolG sogar eine Höchstfrist von 12 Monaten bei Beschlagnahme von leerstehendem Wohnraum statuiert ist. Vgl. zu der - im Ergebnis erfolglosen - Initiative des Städteund Gemeindetags in Baden-Württemberg, die gesetzliche Frist für die Beschlagnahmedauer von sechs auf zwölf Monate zu verlängern LT-Drs. BW 10/5230, S. 33. 221 BGBl. I, S.97. 222 GBl. S. 1. 223 Dieses Problem betrifft ebenso die Vorschrift des § 27 Abs. 3 S. 3 2. HS sächsPolG. 224 VGH Mannheim, NVwZ-RR 1998, 173, 174; zustimmend tfwiter, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 256. 225 So auch VGH Mannheim, NVwZ-RR 1990,476; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 110.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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Gefahr vor deren Ablauf nicht gerechnet werden kann. Das gilt um so mehr, als eine Prognose der Entwicklung der Tatsachen über einen derart langen Zeitraum oftmals gar nicht möglich sein wird. Dies alles spricht dafür, auch dann die Anordnung der gesetzlichen Höchstfrist für zulässig zu erachten, wenn sich der Wegfall der Beschlagnahmevoraussetzungen noch nicht absehen läßt 2 2 6 . Die in § 33 Abs. 3 S. 2 bwPolG normierte Höchstfrist von sechs Monaten stellt eine absolute zeitliche Grenze der Beschlagnahme dar 2 2 7 . Eine Verlängerung der Beschlagnahme über diesen Zeitraum hinaus ist i m Hinblick auf die eindeutige gesetzliche Regelung grundsätzlich unzulässig. Da anderenfalls einer Umgehung des § 33 Abs. 3 S. 2 bwPolG Tür und Tor geöffnet wäre, kann es für die Bestimmung der Einhaltung der Höchstfrist nicht darauf ankommen, ob eine einzige Beschlagnahmeverfügung ergeht oder mehrere kürzer als sechs Monate befristete Beschlagnahmeverfügungen hintereinander geschaltet werden 2 2 8 . Auch eine sich nach Ablauf der Sechsmonatsfrist anschließende erneute Beschlagnahme zur Abwehr derselben Gefahr ist unzulässig 229 . Für den - allerdings äußerst theoretischen - Fall, daß die Polizei auch nach Ablauf der Sechsmonatsfrist keinen anderweitigen Wohnraum zur Verfügung stellen kann und weiterhin eine Obdachlosigkeit droht 2 3 0 , ist von Richert eine Einziehung des be226 So auch VGH Mannheim, NVwZ-RR 1990, 476; Reichertl Ruder! Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 333; unklar Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 228: die Ortspolizeibehörde sollte eine Befristung unter sechs Monaten festsetzen. 227 VGH Mannheim DÖV 1990, 573; VGH Mannheim, NJW 1997, 2832, 2833; Eichen, BWVPr. 1983, 234, 236; Belz/Mußmann, PolG BW, §33, Rdnr. 11; Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 227; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 254; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 254. 228 Die Frist des § 33 Abs. 3 S. 2 bwPolG beginnt also nicht mit jeder erlassenen Beschlagnahmeverfügung erneut zu laufen, vielmehr sind die jeweils angeordneten Beschlagnahmezeiten zu addieren. Das muß, um Mißbrauchsmöglichkeiten auszuschließen, auch dann gelten, wenn zwischen den einzelnen Beschlagnahmeverfügungen kurze Zwischenzeiten liegen, so auch Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 230; a. A. wohl Eichert, BWVPr. 1983, 234, 236, der meint, die Berechnung der Frist richte sich ausschließlich nach der ununterbrochenen Dauer der Beschlagnahme. 229 VGH Mannheim, NJW 1997, 2832, 2833; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 254. Der Ablauf der Frist des § 33 Abs. 3 S. 2 bwPolG kann allerdings nicht zur Folge haben, daß für alle Zeiten keine Beschlagnahme des Wohnraums in Betracht kommt. Nach Ablauf einer angemessenen Zeitspanne ist daher unter erneutem Beginn der Sechsmonatsfrist eine zweite Beschlagnahme möglich; so auch Eichert, BWVPr. 1983, 234, 236; Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 231. Da die Inanspruchnahme die Ausnahme bleiben muß und nicht zum Regelfall werden darf, wird man für einen erneuten Fristbeginn mindestens einen Zeitraum von sechs Monaten seit Ende der letzten Beschlagnahme zu fordern haben; im Ergebnis auch Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 231. 230 Selbst für den Fall, daß es der Gemeinde innerhalb von sechs Monaten nicht gelungen sein sollte, einen Platz in einer Obdachlosenunterkunft bereitzustellen oder eine Räumlichkeit anzumieten, ist es wohl kaum denkbar, daß es im gesamten Zuständigkeitsbereich der Polizeibehörde keine einzige andere beschlagnahmefähige Räumlichkeit gibt; vgl. auch Lübbe,

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

schlagnahmten Wohnraums gem. § 34 Abs. 1 bwPolG in Erwägung gezogen worden 231 . Dem ist allerdings zu widersprechen 232. Eichert verkennt, daß schon die Tatbestandsvoraussetzungen der Einziehung nicht vorliegen. Abgesehen davon, daß bereits nicht davon gesprochen werden kann, daß der Wohnraum nicht mehr herausgegeben werden kann, ohne daß die Voraussetzungen der Beschlagnahme erneut eintreten, folgt aus der Verweisung des § 34 Abs. 2 S. 1 bwPolG auf § 383 Abs. 3 BGB, daß sich die Einziehung - anders als die Beschlagnahme - nur auf bewegliche Sachen, nicht aber auf unbewegliche Sachen wie Gebäude oder Wohnraum bezieht233. Schließlich ergibt sich aus einer systematischen wie teleologischen Auslegung des § 34 bwPolG, daß die Einziehung nach dieser Vorschrift nur Sachen erfaßt, von denen die Gefahr ausgeht bzw. bei denen die Gefahr einer mißbräuchlichen Verwendung besteht. Denn die angeordneten Rechtsfolgen der Einziehung, namentlich die Verwertung im Wege der öffentlichen Versteigerung gem. § 34 Abs. 2 bwPolG sowie die Unbrauchbarmachung oder Vernichtung gem. § 34 Abs. 3 bwPolG sind nur in diesen Fällen sinnvoll, da hierdurch die Gefahr endgültig effektiv beseitigt werden kann. Wird aber die Sache zur Abwehr der Gefahr von der Polizei benötigt und dementsprechend ein Nichtstörer in Anspruch genommen, wie das bei der Wohnraumbeschlagnahme der Fall ist, so würde es geradezu der Gefahrenabwehr zuwiderlaufen, diese zu verwerten oder zu vernichten. Eine Einziehung des Wohnraums gem. § 34 Abs. 1 bwPolG kommt daher aus den genannten Gründen nicht in Betracht. Allenfalls ist in dem Fall, in dem bei Fehlen aller anderen Alternativen nach Ablauf der Sechsmonatsfrist eine Obdachlosigkeit zwangsläufig eintreten würde, im Hinblick auf die gegenüber der Nutzungsbefugnis des Eigentums letztlich höher zu bewertende Menschenwürde des Obdachlosen eine kurz zu bemessene Verlängerung der Beschlagnahme unter verfassungskonformer Auslegung des § 36 Abs. 3 S. 2 bwPolG erwägenswert 234. (2) Rechtslage in anderen Bundesländern Für die Bundesländer, in denen eine Höchstfrist der Inanspruchnahme nicht statuiert ist, kann eine einheitliche Aussage über die zulässige Höchstdauer nicht getroffen werden, da insoweit die Rechtsprechung im einzelnen differiert. Hierbei ist meist explizit betont worden, daß es eine feste zeitliche Obergrenze nicht gebe, sondern die zulässige Höchstdauer von den Gegebenheiten des Einzelfalls abhänge235. Wohnraumbeschaffung, S.50, die meint, daß dieser Fall gegenwärtig praktisch nicht relevant werden dürfte. 231 Vgl. Eichert, BWVPr. 1983, 234, 236. 232 Ablehnend auch Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 232. 233 Wolf/Stephan, PolG BW, § 34, Rdnr. 6; Belz/Mußmann, PolG BW, § 34, Rdnr. 5. 234 Vgl. auch Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.50; andeutungsweise auch VGH Mannheim, DÖV 1996, 1056, 1057. 235 Vgl. bereits BGH, NJW 1959,768; BGHZ 35,27,30f.; OVG Münster, ZMR 1958,361; OVGE 14, 265, 270; VG Köln, NVwZ-RR 1990, 414.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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Hierzu sollen insbesondere der Fortbestand der Gefahr, die Möglichkeiten der Behörde zu deren Beseitigung236, das Verhalten des Eigentümers, die Intensität der Belastung des Wohnungseigentümers, das Vorliegen eines Räumungstitels237, die Zahl, das Alter und der Gesundheitszustand der unterzubringenden Familienmitglieder, die Wohnungsverhältnisse sowie die Zahl der sonstigen Obdachlosen238 zählen. Dennoch läßt sich ein gewisser zeitlicher Rahmen feststellen, außerhalb dessen nach der Rechtsprechung eine Beschlagnahme nur noch ganz ausnahmsweise zulässig ist. Nach einem grundlegenden Urteil des BGH aus dem Jahre 1959 ist die Inanspruchnahme in der Regel auf vier bis sechs Monate zu begrenzen; die Befristung auf einen längeren Zeitraum sei grundsätzlich unverhältnismäßig, sofern nicht besonders gelagerte Umstände eine andere Beurteilung verlangen 239. Dieser zeitliche Rahmen ist von der Mehrzahl der Gerichte befürwortet worden. So hat das VG Köln 2 4 0 eine Beschlagnahmefrist von sechs Monaten, das OVG Berlin 241 und das VG Frankfurt 242 eine solche von vier bis sechs Monaten und das OVG Lüneburg 243 von vier Monaten als äußerste Grenze anerkannt. Das OVG Münster 244 hat in älteren Entscheidungen ebenfalls eine Höchstgrenze von vier bis sechs Monaten zugrundegelegt; in einem Beschluß aus dem Jahre 1981 hat es hingegen eine dem gemeinsamen ministeriellen Runderlaß in NRW 2 4 5 folgende Verwaltungspraxis 246 für rechtmäßig gehalten, der zufolge die erste Beschlagnahme auf höchstens drei Monate und jede weitere Beschlagnahme auf höchstens zwei Monate zu befristen ist 247 . 236

Dies ist freilich insoweit unpräzise, als beim Wegfall der Gefahr oder der Möglichkeit einer anderweitigen Gefahrenbeseitigung durch die Behörde ohnehin die Inanspruchnahme rechtswidrig wird und damit eine Aufhebungspflicht besteht; siehe näher unten 2. Teil, 1. Abschn., C, II, 2, a), dd). 237 So Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 134 mit unzutreffendem Hinweis auf VGH Mannheim NVwZ-RR 1990,476. 238 BGHZ 35,27, 30f. 239 BGH, NJW 1959, 768; ähnlich auch BGHZ 35, 27, 31: eine Zeitspanne von sechs Monaten sei als äußerste Grenze anzuerkennen, über die hinaus eine Maßnahme unter polizeirechtlichen Gesichtspunkten nicht mehr zu rechtfertigen sei. 240 VG Köln, NVwZ-RR 1990, 414. 241 OVG Berlin, NJW 1980, 2484, 2485. 242 VG Frankfurt, NVwZ 1990, 498. 243 OVG Lüneburg, NJW 1953, 599; ZMR 1955, 60. 244 OVG Münster, ZMR 1954,314; OVG Münster, ZMR 1956,285: in einem Ausnahmefall sechs Monate und zwei Wochen; vgl. auch OVG Münster, OVGE 14,265,273, wo eine nahezu fünfjährige (!) Inanspruchnahme beanstandet wurde. 245 Vgl. den Gemeinsamen Runderlaß des Innenministeriums, des Ministeriums für Arbeit und Sozialwesen, des Ministeriums für Wohnungsbau und öffentliche Arbeiten und des Kultusministeriums des Landes Nordrhein-Westfalen v. 15.1.1970, MB1. NW 1970, 106. 246 Bei dem Runderlaß handelt es sich um eine das behördliche Ermessen beschränkende Verwaltungsvorschrift, vgl. OVG Münster, OVGE 35, 305f. 247 OVG Münster, OVGE 35,303,305. Dieselbe Befristung sehen im übrigen auch die Empfehlungen des Landes Brandenburg zur Vermeidung von Obdachlosigkeit und zur Verbesserung der Lage obdachloser Personen in den Kommunen vom 24.1.1997, ABl. Nr. 8 v. 27.2.1997, S. lOOff. (abgedruckt bei Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, S. 175ff.) vor.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungserfügung

Deutlich engere zeitliche Grenzen sind durch die Rechtsprechung des VGH München und des VG München gezogen worden. Nach Ansicht des VGH München 248 und des VG München 249 sei die Frist, die bei äußerster Anstrengung der verpflichteten Gemeinde nötig sei, um eine anderweitige Unterbringungsmöglichkeit für die obdachlose Person aufzutreiben, im Regelfall auf äußerstenfalls zwei Monate zu schätzen; in Konsequenz dessen wurde eine Beschlagnahme, die auf sechs Monate befristet war, wegen Verstoßes gegen das Verhältnismäßigkeitsprinzip als rechtswidrig erachtet 250. cc) Verpflichtung zur Suche nach anderweitigen Unterbringungsmöglichkeiten Die zeitliche Begrenzung der Beschlagnahme hat allerdings nicht zur Folge, daß die Polizei bis zum Ablauf der festgesetzten Frist keine weiteren Nachforschungen betreiben muß und die Entwicklung zunächst abwarten kann 251 . Aus dem Prinzip der Erforderlichkeit, nach dem die Maßnahme nur solange aufrechterhalten werden darf, wie zur Abwehr der Gefahr unbedingt erforderlich ist, folgt nämlich nicht nur die Notwendigkeit einer Befristung überhaupt, sondern des weiteren auch die Verpflichtung der Polizei, sich von Beginn der Nichtstörerinanspruchnahme an um eine anderweitige Behebung der Gefahr zu bemühen und somit die Dauer der Beschlagnahme möglichst kurz zu halten 252 . Unabhängig von der angeordneten Befristung ist die Behörde demgemäß vom ersten Tag der Beschlagnahme an gehalten, zweckentsprechende Maßnahmen einzuleiten, welche die Gewähr dafür bieten, daß der Obdachlose so rasch wie möglich anderweitig untergebracht werden kann 253 . Dazu zählen die Bemühung um Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft, Anmietung von Räumlichkeiten sowie das Aufstellen von Wohncontainern oder ähnlichem. Die für zulässig erachtete Höchstfrist der Beschlagnahme stellt somit nur den äußersten zeitlichen Rahmen dar, innerhalb dessen es nach Schätzung der Gerichte bei zumutbarer Anstrengung möglich ist, eine Unterkunftsalternative zu finden und somit die Inanspruchnahme des Eigentümers zu beenden254. Insoweit dient die Be248

VGH München, BayVBl. 1984, 116, 117; NVwZ-RR 1991, 196. VG München, DGVZ 1991, 126, 127. 250 So VGH München, BayVBl. 1984, 116, 117. 251 BGHZ 35,27,32; OVG Münster, OVGE 35,303,305; GüntherITraumann, NVwZ 1993, 130, 135; Wolf/Stephan, PolG BW, §9, Rdnr.21. 252 Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 310; Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 138; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 6 MEPolG, Rdnr. 10; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 197. 253 BGHZ 35, 27, 32; OVG Münster, OVGE 35, 303, 305; NVwZ 1991, 692; VG Köln, NVwZ-RR 1991. 414; Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 378; Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 356; Drews/WackelVogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 22, 3, c), S. 339; Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 135; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 310; Wolf/Stephan, PolG BW, §9, Rdnr.21. 254 So explizit VGH München, BayVBl. 1984, 116, 117. 249

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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fristung der Inanspruchnahme auch dazu sicherzustellen, daß die Behörde ihren diesbezüglichen Verpflichtungen nachkommt255. Das Unterlassen dieser Bemühungen um eine anderweitige Unterkunft stellt eine unter Umständen schadensersatzauslösende Amtspflichtverletzung dar 256 . dd) Verpflichtung

zur Aufhebung der Beschlagnahme

Fallen die Voraussetzungen des polizeilichen Notstands oder der Beschlagnahme nachträglich fort, beispielsweise indem der Obdachlose selbst ein anderes Unterkommen gefunden hat oder die Behörde nunmehr eine anderweitige Unterkunft zur Verfügung stellen kann, so ist Polizei verpflichtet, die Beschlagnahme aufzuheben 257 . Eine derartige Aufhebungspflicht ist in § 6 Abs. 2 MEPolG und § 9 Abs. 2 bwPolG normiert, wonach die Inanspruchnahme nur solange aufrechterhalten werden darf, wie die Voraussetzungen des polizeilichen Notstands vorliegen. Für die Beschlagnahme findet sich eine entsprechende Regelung in § 33 Abs. 3 S. 1 bwPolG. Über diese einfachgesetzlichen Normierungen hinaus ist die Aufhebungspflicht jedoch auch verfassungsrechtlich fundiert. Dies folgt zum einen aus dem Grundsatz der Geeignetheit des Eingriffs sowie des mildesten Mittels als Bestandteile des verfassungsrechtlichen Übermaß Verbots 258, denn eine Maßnahme, die zur Bekämpfung einer Gefahr erlassen wurde, ist bei Wegfall der Gefahr weder geeignet noch erforderlich, den erstrebten Zweck zu erreichen. Zum anderen ergibt sich eine Aufhebungspflicht auch unter dem Gesichtspunkt eines grundrechtlich verankerten allgemeinen Beseitigungsanspruchs gegenüber rechtswidrigen Hoheitsakten. Fallen die rechtfertigenden Voraussetzungen des Dauerverwaltungsakts der Beschlagnahme nachträglich fort, so wird die Verfügung rechtswidrig 259. Aus den Grundrechten als 255

Vgl. OVG Münster, OVGE 35, 303, 305; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.50. Vgl. BGHZ 35, 27, 32; Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 135; vgl. zu Schadensersatzansprüchen näher unten 4. Teil, 2. Abschn. 257 Vgl. z.B. VGH Mannheim, NJW 1990, 2770, 2771; OVG Münster, NVwZ 1991, 905, 906; Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 378; Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 356; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 257; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 198; Schoch, JuS 1995, 30, 35. Inwieweit die Behörde verpflichtet ist, nicht nur die Beschlagnahme aufzuheben, sondern als fb/gertbeseitigung auch den Obdachlosen aus der Wohnung zu exmittieren, wird später zu erörtern sein, vgl. näher unten 4. Teil, 1. Abschn., A. 258 So Schenke, DVB1. 1989, 433, 434; ders., NVwZ 1986, 522, 530; ähnlich Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 203; vgl. auch VGH Mannheim, NJW 1990, 2770, 2771. 259 So überzeugend Schenke, DVB1. 1989, 433, 434f.; ebenso Schenke, NVwZ 1986, 522, 530. Die gegenteilige Auffassung, ein rechtmäßig erlassener Verwaltungsakt könne nicht nachträglich rechtswidrig werden (so z.B. Dommach, DÖV 1981, 122, 124) kann, wie Schenke, DVB1. 1989,433,434f. nachgewiesen hat, nicht überzeugen. So ergibt sich eine erfolgsorientierte Interpretation des Rechtswidrigkeitsbegriffs eines Verwaltungsakts zum einen aus systematisch-teleologischen Gründen; zum anderen zeigt auch ein entsprechender Seitenblick auf das Zivilrecht - namentlich auf die Unterlassungsansprüche des § 1004 BGB - , daß auch hier 256

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

subjektiven Abwehrrechten folgen jedoch nicht nur Ansprüche auf Unterlassung rechtswidriger Eingriffe, sondern auch auf deren Beseitigung260. Ohne die Annahme eines solchen, dem Schutz der Freiheitsgrundrechte als Beherrschungsrechte dienenden Hilfsrechts des Beseitigungsanspruchs liefe der Grundrechtsschutz in weiten Teilen leer 261 . Es fehlte nämlich dann ein Hilfsrecht, das - wie im Zivilrecht die die absoluten Rechte flankierenden Ansprüche aus §§12, 862, 1004 BGB - auf die Beseitigung fortdauernder Beeinträchtigungen gerichtet ist und somit subjektive Rechtsverletzungen sanktioniert 262. Dieser verfassungsrechtlich begründete allgemeine Beseitigungsanspruch erfaßt auch nachträglich rechtswidrig gewordene Hoheitsakte263; er besteht dabei vom Moment des Wegfalls der den Verwaltungsakt rechtfertigenden Voraussetzungen an 264 . Insoweit geht der verfassungsrechtlich fundierte Beseitigungsanspruch sogar über die in §§ 9 Abs. 2 bwPolG, 6 Abs. 2 MEPolG bzw. § 33 Abs. 3 S. 1 bwPolG normierte Aufhebungspflicht hinaus. Während der Wortlaut der genannten Vorschriften nur eine objektivrechtliche Pflicht der Behörde zur Aufhebung der Verfügung nahelegt 265 , folgt aus den Grundrechten ein dementsprechendes subjektives Recht des Betroffenen. b) Sachlicher Umfang der Inanspruchnahme Der Grundsatz der Erforderlichkeit steuert nicht nur den zeitlichen Umfang der Inanspruchnahme, sondern auch deren sachlichen Umfang. Der Umfang der Beschlagnahme muß somit auf dasjenige begrenzt sein, was für eine menschenwürdige Unterbringung des Obdachlosen unerläßlich ist 266 . Die Polizei hat demgemäß sorgfältig zu prüfen, ob die ganze Wohnung beschlagnahmt werden muß oder ob die Inanspruchnahme auf einen Teil der Wohnung beschränkt werden kann 267 . Allerdings die h. M. von einem erfolgsorientierten Rechtswidrigkeitsbegriff ausgeht, vgl. näher Schenke, aaO. 260 Schenke, DÖV 1986,305, 313ff.; ders., NVwZ 1993,718,721 f.; Horn, Die Aufhebung, S.45 ff.; ders., DÖV 1990, 864, 866; vgl. im Zusammenhang mit normativen Rechtsverletzungen auch Schenke, Rechtsschutz bei normativem Unrecht, S. 146 ff.; dem folgend Stern, Staatsrecht, Bd.III/1, S. 677 ff. 261 Schenke, DÖV 1986, 305, 313; Martens, in: FS für Schack, 85, 95; Schoch, VerwArch Bd.79 (1988), 1, 35 (Fn.200); Baumeister, Das Rechtswidrigwerden von Normen, S.85. 262 Schenke, DÖV 1986, 305, 313 f; ähnlich Baumeister, Das Rechtswidrigwerden von Normen, S.85. 263 Vgl. im Zusammenhang mit Normen ausführlich Baumeister, Das Rechts widrigwerden von Normen, S. 83 ff. 264 Schenke/Baumeister, JuS 1991, 547, 549; Schenkel Baumeister, NVwZ 1993, 1, 3. 265 So auch Schoch, JuS 1995, 30, 35. 266 Vgl. zu den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft näher unten 2. Teil, 2.Abschn., B, II. 267 Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 134; Gössl, BWGZ 1984, 326, 331 \Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr.240; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.50; Mußmann, All-

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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ist die Beschlagnahme eines Teils der Wohnung nicht in jedem Fall, in dem bereits einzelne Räume zur menschenwürdigen Unterbringung ausreichen, als milderes Mittel geboten. Wären die nicht in Anspruch genommenen Räume mangels Abtrennbarkeit vom beschlagnahmten Teil weder durch den Eigentümer selbst noch durch einen anderen Mieter nutzbar, so würde die Beschlagnahme einzelner Zimmer den Eigentümer faktisch gesehen nicht weniger belasten als die vollumfängliche Beschlagnahme. In einem solchen Fall erscheint es angemessen, trotz aus formalrechtlicher Sicht fehlender Erforderlichkeit die Beschlagnahme der ganzen Wohnung zuzulassen268.

III. Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne ist dann verletzt, wenn die Gefahrenabwehrmaßnahme zu einem Nachteil führt, der zu dem beabsichtigten Erfolg erkennbar außer Verhältnis steht269. Insoweit bedarf es einer Abwägung zwischen dem öffentlichen Interesse an der Beseitigung der polizeirechtlich relevanten Gefahr bzw. Störung und dem gegenläufigen individuellen Interesse des von der Maßnahme Betroffenen 270. Bei dem mitunter sehr schwierigen Abwägungsprozeß sind die Umstände des konkreten Einzelfalls, insbesondere die Bedeutung des jeweils bedrohten Schutzguts, die Schwere des drohenden Schadens, vor allem im Hinblick auf Umfang, Gewicht und Ausmaß des Nachteils und der Grad der Wahrscheinlichkeit des drohenden Schadenseintritts zu berücksichtigen 271. Dabei genügt es für die Annahme der UnVerhältnismäßigkeit jedoch noch nicht, wenn die Nachteile des Betroffenen ebenso schwer oder geringfügig schwerer wiegen als die mit der Maßnahme verfolgten öffentlichen Interessen. Eine Unverhältnismäßigkeit liegt vielmehr nur dann vor, wenn die durch die Maßnahme hervorgerufenen Nachteile in einem offenbaren Mißverhältnis zu dem bezweckten Erfolg stehen272. Bezogen auf die Obdachlosenproblematik stehen sich somit im Normalfall einerseits das gem. Art. 14 GG geschützte Recht des Eigentümers auf ungehinderte Nutzung seines Eigentums sowie andererseits der mit der Beschlagnahme bezweckte Erfolg des Schutzes der Menschenwürde sowie des Lebens und der Gesundheit des Betroffenen gegenüber. Betrachtet man die abstrakte Wertigkeit der betroffenen gemeines Polizeirecht, Rdnr. 310; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 130; Schoch, JuS 1995, 30, 35. 268 Im Ergebnis ebenso Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 240. 269 Vgl. z.B. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr.207; vgl. auch die einfach-gesetzlichen Regelungen in §§ 5 Abs. 2 bwPolG; 2 Abs. 2 MEPolG. 270 Siehe z.B. Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 316; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 236. 271 Vgl. BVerwG, DVB1.1974,297,300; OVG Münster, NJW 1980,2210f.; Friauf, Polizeiund Ordnungsrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Rdnr. 60. 272 Vgl. DrewslWacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, §24, 6, S.392; Schieferdecker, Entfernung von Kfz, S. 224. 10 Reitzig

Die

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

Rechtsgüter, so läßt sich angesichts des Stellenwerts der Menschenwürde, aber auch von Leben und Gesundheit im Wertungsgefüge des Grundgesetzes bereits eine Höherrangigkeit der zu schützenden Rechtsgüter feststellen. Auch unter Berücksichtigung des sich im konkreten Fall ergebenden Ausmaßes der Beeinträchtigung ist wohl nur in absoluten Ausnahmefällen denkbar, daß die mit der Inanspruchnahme verbundenen Nachteile nicht nur schwerer wiegen, sondern sogar in einem offensichtlichem Mißverhältnis zum Schutz der Menschenwürde des Obdachlosen stehen könnten273. Das geforderte offensichtliche Mißverhältnis läßt sich selbst dann schwerlich annehmen, wenn auf Seiten des Eigentümers mit der Inanspruchnahme nicht nur das Eigentumsrecht beeinträchtigt wird, sondern auch andere Rechtsgüter - wie etwa bei drohenden Beleidigungen seitens des Obdachlosen das allgemeine Persönlichkeitsrecht des Eigentümers - betroffen sind 274 . Das Verhältnismäßigkeitsprinzip im engeren Sinne ist somit wohl nur selten in der Lage, der Inanspruchnahme des Eigentümers zur Unterbringung von Obdachlosen Grenzen zu setzen. Soweit dennoch vertreten wird, eine Beschlagnahme zur Unterbringung Obdachloser könne unverhältnismäßig im engeren Sinne sein, beruht dies zumeist auf einer Vermengung mit anderen, der Inanspruchnahme ebenfalls Schranken setzenden Prinzipien 275 . So ergeben sich die zeitlichen Grenzen der Beschlagnahme bereits aus dem Prinzip der Erforderlichkeit 276; gleiches gilt für die sachlichen Schranken hinsichtlich des räumlichen Umfangs der Inanspruchnahme277. Freilich ist auch im Zusammenhang mit der Inanspruchnahme des Eigentümers eine Opfergrenze anzuerkennen. Diese wird jedoch durch das vom Verhältnismäßigkeitsgrundsatz zu trennende Prinzip der Zumutbarkeit, welches keine Zweck-Mittel-Relation, sondern lediglich einen subjektbezogenen Maßstab aufstellt, konstituiert und ist bereits bei einer erheblichen Eigengefährdung (vgl. § 6 Abs. 1 Nr. 4 MEPolG) zu bejahen278.

273

Dies wird beispielsweise von Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.50 erkannt. Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.49f. 275 Besonders deutlich wird dies bei Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 128 ff. Er postuliert gerade für die Obdachlosenfälle eine besondere Praxisrelevanz des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes im engeren Sinn; die von ihm im Rahmen der Ausführungen angesprochenen Fälle betreffen jedoch ausnahmslos gerade nicht diesen Grundsatz. 276 Vgl. auch Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnrn. 197 und 204; a. A. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 310; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 131 ff., die hier auf den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz im engeren Sinne rekurrieren. 277 Hierzu siehe oben 2. Teil, 1. Abschn., C, II, 2, a). A.A. wohl auch hier Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 130, der dies unter dem Aspekt der Verhältnismäßigkeit im engeren Sinne bzw. der Zumutbarkeit erörtert, jedoch gleichzeitig ausführt, die behördliche Maßnahme müsse sich hinsichtlich des Umfangs auf das erforderliche Mindestmaß beschränken und damit selbst schon andeutet, daß es sich hierbei um eine Frage des milderen Mittels handelt. 278 Vgl. hierzu näher die Ausführungen oben 2. Teil, 1. Abschn., B, IV. 274

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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D. Die Auswahl zwischen mehreren Nichtstörern Kommen mehrere Nichtstörer in Betracht, durch deren Inanspruchnahme die Polizei die Gefahr abwehren könnte, so hat sie eine Auswahl nach pflichtgemäßem Ermessen zu treffen 279. Im Gegensatz zur Problematik der Störermswahl wurde die Frage der ermessensfehlerfreien Auswahl zwischen mehreren Nichtstörern bisher in Rechtsprechung und Literatur kaum erörtert.

I. Keine Ermessensunterschreitung Kommen polizeiliche Notstandsmaßnahmen gegenüber mehreren Nichtverantwortlichen in Frage, so ist die Behörde zur Ausübung ihres Auswahlermessens nicht nur berechtigt, sondern auch verpflichtet 280. Eine polizeiliche Inanspruchnahme ist daher bereits wegen Ermessensunterschreitung bzw. Ermessensnichtgebrauchs rechtswidrig, wenn die Polizeibehörde ihr Ermessen - sei es aus Bequemlichkeit, sei es, weil sie rechtsirrig angenommen hat, daß ihr ein Ermessen gar nicht zustehe 281 - nicht ausgeübt hat 282 . Demgemäß ist die - in der Praxis nicht seltene - Beschlagnahme der Wohnung, die der Obdachlose bisher bewohnt hat, ohne daß bekannter, alternativ zu beschlagnahmender Wohnraum in die Ermessenserwägungen einbezogen wird, unzulässig. Über einen derartigen Fall der Ermessensunterschreitung hatte das OVG Schleswig 2 8 3 zu befinden. Der Entscheidung lag ein Sachverhalt zugrunde, in dem die Behörde, obwohl ihr unstreitig auch zahlreiche Zimmer in Hotels und Pensionen bekannt waren, nicht in ihre Ermessenserwägungen eingestellt hatte, daß eine Inanspruchnahme im Wege des polizeilichen Notstands nicht nur gegenüber dem konkret betroffenen Eigentümer, sondern auch gegenüber den Betreibern der Hotels 279 OVG Münster, OVGE 9, 130, 131; Belz/Mußmann, PolG BW, §9, Rdnr.9; Drews/Wakke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 19, 6, e), S.306; Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 356; Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 206; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 52; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 311; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 194; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, §6 MEPolG, Rdnr. 9; Wolf/Stephan, PolG BW, § 9, Rdnr. 6. Mißverständlich insoweit OVG Münster, OVGE 7, 104, 106; OVGE 8, 26, 28; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 19, 6, e), S. 306, nach denen sich der Inanspruchgenommene nicht darauf berufen kann, daß der Obdachlose auch an anderer Stelle hätte untergebracht werden können. Wenn jedoch die Inanspruchnahme ermessensfehlerhaft erfolgte, ist sie rechtswidrig und muß aufgehoben werden. 280

Sog. Verbot der Ermesssensunterschreitung bzw. des Ermessensnichtgebrauchs; vgl. in bezug auf das Polizeirecht Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 24, 4, a), S. 379; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 115; vgl. allgemein zur Ermessensfehlerlehre Schenke, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 19 Abs. 4, Rdnr. 331. 281 Vgl. z.B. BVerwGE 15, 196, 199; OVG Lüneburg, GewArch 1977, 161. 282 Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 24,4, a), S. 379. 283 OVG Schleswig, NJW 1993,413 f. 10*

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

und Pensionen in Betracht kam. Zutreffend hat das OVG Schleswig demgemäß einen Ermessensfehler bezüglich der Nichtstörerauswahl angenommen284.

II. Ermittlungspflichten der Polizei Bevor die Polizei eine Auswahl zwischen mehreren Nichtstörern treffen kann, muß sie zunächst Kenntnis davon haben, wer als Nichtstörer in Betracht kommt. Wird die Behörde mit dem Sachverhalt einer bevorstehenden Räumung konfrontiert und sind ihr andere potentiell in Anspruch zu nehmende Wohnraumeigentümer nicht bekannt, stellt sich somit die Frage, ob sie unbesehen den Räumungsgläubiger in Anspruch nehmen kann oder angehalten ist, weitere Nichtstörer zu ermitteln. Ausgangspunkt für die Lösung des Problems ist der Umfang des Amtsermittlungsgrundsatzes gem. § 24 LVwVfG, demgemäß die Behörde den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln hat. Um eine dem Grundsatz der gerechten Lastenverteilung entsprechende Ermessensausübung zu garantieren, ist die Behörde grundsätzlich verpflichtet, alle relevanten Umstände und somit auch weitere potentiell heranzuziehende Nichtstörer zu ermitteln 285 . Im Grundsatz obliegt es somit der Polizei, Nachforschungen bezüglich anderer Eigentümer leerstehender Unterkünfte anzustellen. Ihre Grenze muß die Ermittlungspflicht allerdings im Prinzip der effektiven Gefahrenabwehr finden, denn der Zeitaufwand der Ermittlungen darf die rasche und wirksame Gefahrenabwehr nicht beeinträchtigen 286. Insoweit kann allgemein eine umgekehrte Proportionalität der Dringlichkeit der Gefahrenabwehr zur Reichweite der Ermittlungspflicht konstituiert werden 287: Je dringender zu abzuwehrende Gefahr, desto geringer sind die Anforderungen an den Umfang und die Intensität der Ermittlungspflicht und je weniger dringend die abzuwehrende Gefahr, desto höher sind die Anforderungen an den Umfang und die Intensität der Ermittlungspflicht 288. Wird für das Parallelproblem der Störerauswahl vertreten, daß bei drängender Ge284

OVG Schleswig, NJW 1993, 413, 414. So auch die h. M. in bezug auf die Ermittlung der Störer; vgl. z. B. Giesberts, Gerechte Lastenverteilung, S. 157; Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 202f.; Würtenberger/ Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 339. 286 OVG Koblenz, DÖV 1988,80,81; VGH München, NJW 1984,1196,1197; NVwZ 1986, 946; VGH Kassel, NVwZ 1988, 655, 656; Fleischer, Die Auswahl unter mehreren Polizeipflichtigen, S. 120; Geiger, BayVBl. 1983, 10, 12; Giesberts, Gerechte Lastenverteilung, S. 156; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 338; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 330; WürtenbergerlGörs, JuS 1981, 595, 602; vgl. auch Wolff/Bachof Verwaltungsrecht III, § 156, Rdnr. 37; Berg, Die verwaltungsrechtliche Entscheidung, S.267f.; zum Zielkonflikt zwischen Raschheit der Entscheidung und Gründlichkeit der Sachverhaltsermittlung siehe auch Kickartz, Ermittlungsmaßnahmen zur Gefahrerforschung, S.64. 287 In diesem Sinne auch Knauf Gesamtschuld und Polizeikostenrecht, S.242. 288 Vgl. OVG Koblenz, DÖV 1988, 80, 81; Giesberts, Gerechte Lastenverteilung, S. 162; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 338; Würtenberger!Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 330. 285

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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fahrenabwehr nicht alle potentiellen Störer eruiert werden müssen , so gilt dies erst recht hinsichtlich möglicher Nichtstörer, da es sich hierbei - anders als bei potentiellen Störern - oft um einen unüberschaubaren Personenkreis handeln wird, dessen vollständige Ermittlung auch unabhängig eines etwaigen Zeitdrucks häufig unmöglich ist. Kenntnis von weiteren für eine Inanspruchnahme in Betracht kommenden Personen wird die Behörde auch ohne gesonderte Ermittlungstätigkeit teilweise bereits aufgrund ihrer ohnehin vorrangig vor der Inanspruchnahme eines Nichtstörers bestehenden Verpflichtung zum Versuch der Anmietung von Unterkünften 290 haben. Lehnt ein Eigentümer oder Hotelbetreiber eine Vermietung seiner Unterkunft an die Polizei ab, so kommt er dennoch für eine hoheitliche Inanspruchnahme im Wege des Notstands in Betracht und ist demgemäß in das Ermessen bezüglich der Nichtstörerauswahl einzubeziehen291.

III. Ermessensleitende Gesichtspunkte 1. Allgemeine ermessensleitende Gesichtspunkte bei der Nichtstörerauswahl Die Problematik der Auswahl unter mehreren Nichtstörern wurde - im Gegensatz zu der Frage der Störerauswahl, die Rechtsprechung und Schrifttum seit langem in großem Umfang beschäftigt 292 - bisher nur wenig erörtert. Die im Rahmen der Diskussion zur Störerauswahl zur Rationalisierung der Ermessensentscheidung entwikkelten ermessensleitenden Gesichtspunkte können aber nicht unbesehen übernommen werden, sondern bedürfen gewisser Modifikationen. Die Auswahl des Nichtstörers hat sich zunächst, wie auch die Störerauswahl, vorrangig am Grundsatz der effektiven Gefahrenabwehr auszurichten, so daß grundsätzlich derjenige Nichtstörer in Anspruch zu nehmen ist, der die Gefahr am schnellsten und wirksamsten zu beseitigen imstande ist 293 . Der Grund für diese Aus289

Vgl. Giesberts, Gerechte Lastenverteilung, S. 156. Siehe hierzu näher bereits oben 2. Teil, 1. Abschn., B, III, 4. 291 Unterläßt sie dies, so handelt es sich um einen Ermessensfehler, der zur Rechtswidrigkeit der Inanspruchnahme führt, vgl. dazu bereits das oben dargestellte Urteil des OVG Schleswig, NJW 1993,413,414. 292 Vgl. hierzu ausführlich Giesberts, Gerechte Lastenverteilung, passim; Fleischer, Die Auswahl unter mehreren Polizeipflichtigen, passim; Ossenbühl, DÖV 1976, 463, 470ff.; Kohler-Gehrig, NVwZ 1992, 1049ff.; Schoch, JuS 1994, 1026, 1027ff.; Staab, BWVPr. 1994, 56ff.; aus neuerer Zeit Garbe, DÖV 1998, 632ff.; Waechter, VerwArch Bd. 88 (1997), 298 ff., jeweils m. umfangr. w. Nachw. auch zur Rspr. 293 So explizit für die Mc/iistörerauswahl BelzlMußmann, PolG BW, § 9, Rdnr. 9; Roos, RhPfPOG, § 7, Rdnr. 15; für die Störerauswahl entspricht dies hinsichtlich der sog. Primärebene der herrschenden Meinung; vgl. VGH Mannheim, DÖV 1993,578,579; VGH Kassel, DÖV 1987,260,261; VGH München, NJW 1993,81; OVG Münster, NWVB1.1997,388,389; Gar290

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

richtung des Ermessens liegt in dem Umstand, daß die Behörde von dem ihr eingeräumten Ermessen im Sinne des Gesetzeszwecks Gebrauch zu machen hat (vgl. §40 LVwVfG) 294 . Eng mit dem Prinzip der effektiven Gefahrenabwehr verbunden, wenn nicht gar gleichbedeutend, ist das Kriterium der Leistungsfähigkeit des Inanspruchzunehmenden295: nur wer aufgrund seiner persönlichen Kenntnisse und Fähigkeiten, aber auch aufgrund seiner wirtschaftlichen Potenz in der Lage ist, die Gefahr zu beseitigen, kann eine effektive Gefahrenabwehr gewährleisten. Im Zusammenhang mit dem Prinzip der effektiven Gefahrenabwehr kann auch das Kriterium der örtlichen oder zeitlichen Nähe zur Gefahr, auf das teilweise rekurriert wird, Bedeutung erlangen 296. Soweit somit mehrere zur wirksamen Gefahrenabwehr gleich geeignete Adressaten in Betracht kommen, ist das Prinzip der gerechten Lastenverteilung zu beachten, welches aus dem allgemeinen Gleichbehandlungsgrundsatz i.S.d. Art. 3 GG resultiert 297 . Aus dem Verbot „Wesentlich Gleiches willkürlich ungleich und wesentlich Ungleiches willkürlich gleich" zu behandeln, folgt das Erfordernis eines sachlichen Gesichtspunkts für die in der Inanspruchnahme liegende Ungleichbehandlung gegenüber anderen potentiell Heranzuziehenden298. So erweisen sich die in Rechtsprechung und Literatur im Rahmen der Störerms wähl entwickelten Gesichtspunkte wie der Verursachungsbeitrag, der Grad des Verschuldens, die Doppelstörereigenschaft oder die Opferrolle des Zustandsstörers gegenüber dem Verhaltensstörer 299 bei näherer Betrachtung als mögliche Differenzierungskriterien im Rahmen der gerechten be, DÖV 1998,632; Krampol, in: FS für Samper, 153,160; Kloepfer/Thull, DVB1.1989,1121; Ossenbühl, DÖV 1976, 463,471; Staab, BWVPr. 1994, 56; Schoch, JuS 1994, 1026, Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 328; ausführlich Giesberts, Gerechte Lastenverteilung, S.68ff. m. w. umfangr. Nachw. in Fn.7. 294 Garbe, DÖV 1998, 632; Giesberts, Gerechte Lastenverteilung, S.68. 295 Explizit hinsichtlich der Mc/zfstörerauswahl auf das Kriterium der Leistungsfähigkeit abstellend OVG Münster, OVGE 9, 130, 131; dem folgend Drews/Wacke/VogellMartens, Gefahrenabwehr, § 19, 6, e), S.306; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, §6 MEPolG, Rdnr. 9; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 311; Schmidt-Futterer, ZMR 1972,69,70; bezüglich der Siörerauswahl siehe insbesondere Giesberts, Gerechte Lastenverteilung, S.73, siehe auch S.74ff. zu anderen Begründungsansätzen; Fleischer, Die Auswahl unter mehreren Polizeipflichtigen, S. 69; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 255; vgl. zum Kriterium der Leistungsfähigkeit auch PrOVGE 70,419,422; OVG Münster, DVB1. 1973, 928; OVG Lüneburg, NVwZ 1990, 786f.; Papier, NVwZ 1986, 262; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 183. 296 So auch Giesberts, Gerechte Lastenverteilung, S. 129; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 183; Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 195. 297 Vgl. hinsichtlich der Störerauswahl Garbe, DÖV 1998, 632; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 257; Krampol, in: FS für Samper, 153, 156; Waechter, VerwArch Bd. 88 (1997), 298, 327 ff.; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 328; ausführlich zum Prinzip der gerechten Lastenverteilung Giesberts, Gerechte Lastenverteilung, S.45 ff. 298 Vgl. auch BVerwG, ZMR 1959, 249, das die Heranziehung eines von mehreren Nichtstörern unter dem Gesichtspunkt des Art. 3 GG untersucht. 299 Vgl. zu diesen und anderen von der Rechtsprechung entwickelten Ermessensleitlinien ausführlich Giesberts, Gerechte Lastenverteilung, S.79ff.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

151

Lastenverteilung, die für die Inanspruchnahme eines bestimmten Verantwortlichen sprechen können 3 0 0 . Bei der Nichtstörerauswahl, bei der naturgemäß solche Differenzierungskriterien ausscheiden, die i m Zusammenhang mit der Verursachung der Gefahr oder gar einem Verschulden stehen, steht insoweit ein anderer Gesichtspunkt i m Vordergrund. Als sachgerechtes Unterscheidungskriterium i m Rahmen der gerechten Lastenverteilung erweist sich hier der Umfang der mit der Inanspruchnahme verbundenen Nachteile, so daß grundsätzlich derjenige Nichtstörer heranzuziehen ist, der geringstmöglich durch die Inanspruchnahme belastet w i r d 3 0 1 . Nicht überzeugen kann hingegen das Abstellen auf den Gesichtspunkt der sachlichen Nähe zur Gefahr 3 0 2 . Dieses kaum greifbare Kriterium ist bereits i m Rahmen der Störerauswahl in unterschiedlichster Weise interpretiert und daher zu Recht in Frage gestellt worden 3 0 3 . Für die Nichtstörermswahl erweist sich jedenfalls der Gesichtspunkt der sachlichen Nähe zur Gefahr als Differenzierungsmerkmal unbrauchbar, da mangels Verursachung letztlich kein Nichtstörer der Gefahr sachlich nahesteht. 300 Völlig zutreffend somit Giesberts, Gerechte Lastenverteilung, S. 79 ff., der die erwähnten Leitlinien als Differenzierungskriterien im Hinblick auf Art. 3 GG untersucht; a. A. Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 338 ff., der unzutreffenderweise auf das Verhältnismäßigkeitsprinzip abstellen will; vgl. näher Fn.301. 301 Hierauf im Rahmen der Mc/tfstörerauswahl ebenfalls abstellend Ewer/v. Detten, NJW 1995,353,356; vgl. auch OVG Münster, OVGE 9,130, \3\\ Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 19, 6, e), S.306; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.53; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 6 MEPolG, Rdnr. 9; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 311; Roos, RhPfPOG, §7, Rdnr. 16; Schmidt-Futterer, ZMR 1972, 69, 70; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.64. Soweit die h.M. diese auch im Rahmen der Störerauswahl anwendbare Ermessensleitlinie im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz dogmatisch verankern will (vgl. insbesondere Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 338 ff.; Staab, BWVPr. 1994, 56, 58; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 328), kann dies allerdings nicht überzeugen. Die Frage nach dem mildesten Mittel legt nämlich eine individualisierende Betrachtungsweise zugrunde, bei der verschiedene geeignete Maßnahmen der Gefahrenabwehr gegenüber einem Adressaten im Hinblick auf ihre unterschiedliche freiheitsbeschränkende Wirkung untersucht werden. Keine Frage der Verhältnismäßigkeit ist hingegen das Problem, inwieweit eine geeignete Maßnahme für den einen oder anderen Verantwortlichen ein milderes Mittel darstellt. Dies zeigt bereits die Überlegung, daß ansonsten bei der Prüfung der Erforderlichkeit der Belastung jeder Betroffene auf die anderen Betroffenen verweisen könnte. Anders gewendet: der Verhältnismäßigkeitsgrundsatz ist auf das Eingreifen einer hoheitlichen Maßnahme in die Rechtssphäre eines einzelnen zugeschnitten und wirkt daher vertikal im Verhältnis zwischen Bürger und Verwaltung. Eine horizontale Wirkung bei der Auswahl zwischen mehreren Adressaten entfaltet das Verhältnismäßigkeitsprinzip allerdings nicht. Eine solche Auswahlentscheidung wird vielmehr allein durch den Gleichheitssatz i.S. v. Art. 3 GG gesteuert; ebenso auch Giesberts, Gerechte Lastenverteilung, S.74ff.; Hirschberg, Verhältnismäßigkeit, S.66ff., insb. 69 f.; Waechter, VerwArch Bd. 88 (1997), 298, 327 f. 302 A. A. für die Nichtstörerauswahl allerdings OVG Münster, OVGE 9, 130, 131; Drews/ Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 19, 6, e), S.306; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 311; Schmidt-Futterer, ZMR 1972, 69, 70. 303 Vgl. Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S.95; a. A. Giesberts, Gerechte Lastenverteilung, S. 130, der die Sachnähe als Zusammenhang zwischen Sachherrschaft des Störers und der Gefahr versteht und daher versucht, diesen Begriff doch für die Ermessensausübung fruchtbar zu machen.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

Die Polizeibehörde ist demgemäß gehalten, ihr Ermessen bezüglich der Nichtstörerauswahl grundsätzlich an einer effektiven Gefahrenabwehr auszurichten. Innerhalb des so gesteckten Rahmens muß aber der Grundsatz der gerechten Lastenverteilung größtmögliche Beachtung finden. Dies gilt um so mehr, als es sich bei der Inanspruchnahme unbeteiligter Dritter um einen besonders empfindlichen Eingriff handelt, bei dem mangels einer Verursachung der Gefahr der Eindruck ungerechter Differenzierungen bei der Auswahl in besonderem Maße vermieden werden muß 304 . Freilich sind auch hier die Anforderungen an die Ermittlung der für die gerechte Lastenverteilung maßgeblichen Tatsachen um so eingeschränkter, je eiliger und unvorbereiteter die polizeiliche Entscheidung getroffen werden muß 305 .

2. Die Konkretisierung der Ermessensgrundsätze in bezug auf die Auswahl zwischen mehreren Wohnraumeigentümern Da sich die Auswahl zuvorderst am Grundsatz der effektiven Gefahrenabwehr zu orientieren hat, kommen nur solche Wohnraumeigentümer in Betracht, deren Unterkünfte für eine menschenwürdige Unterbringung des Obdachlosen bzw. des von Obdachlosigkeit Bedrohten geeignet sind. Stehen insoweit mehrere Eigentümer geeigneten leerstehenden Wohnraums zur Verfügung, so hat unter dem Gesichtspunkt der gerechten Lastenverteilung eine willkürfreie Auswahl unter diesen zu erfolgen, wobei dem Kriterium der geringstmöglichen Belastung die entscheidende Bedeutung zukommt 306 . Insoweit bedarf es einer Abwägung der mit der Inanspruchnahme im konkreten Fall jeweils verbundenen Nachteile. Maßgeblich sind beispielsweise das Interesse des jeweiligen Eigentümers an der freien Verfügbarkeit seines Eigentums bzw. die Pläne in bezug auf die weitere Verwendung der Wohnung307. Berücksichtigungsfähig sind insoweit bereits abgeschlossene Mietverträge, hinsichtlich derer der Eigentümer bei Inanspruchnahme vertragsbrüchig würde oder auch etwaiger Eigenbedarf, soweit dieser nicht ohnehin zu einer Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme führt 308 . Im Hinblick auf Hotel- bzw. Pensionsinhaber müssen auch etwaige mit der Beschlagnahme und Unterbringung von Obdachlosen verbundenen geschäftsschädigenden Nebenwirkungen beachtet werden. Ein in die Abwägung einfließender Umstand ist auch die Tatsache, daß dem Betroffenen das Bauwerk unentgeltlich von einem Träger der öffentlichen 304 In diesem Sinne auch DrewslWackelVogell Martens, Gefahrenabwehr, § 19, 6, e), S. 306: „Freilich stellt gerade die Inanspruchnahme unbeteiligter Dritter hohe Anforderungen an den common sense und das Gerechtigkeitsgefühl der Polizei, wenn der Eindruck ungerechter Differenzierungen vermieden werden soll". 305 Siehe hierzu bereits oben und insbesondere die in Fn. 286 Genannten. 306 So auch Ewer/v.Detten, NJW 1995,353,356; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 53; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.64. 307 Vgl. Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.53. 308 Siehe hierzu bereits oben 2. Teil, 1. Abschn., B, IV, 3, d).

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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Verwaltung zur Verfügung gestellt wurde . Ebenso kann bereits gewährter Räumungsschutz ein im Rahmen des Auswahlermessens zu berücksichtigender Umstand sein 310 . a) Berücksichtigung eines Räumungstitels Fraglich ist in diesem Zusammenhang, inwieweit sich das Bestehen eines Räumungstitels auf die Ermessensentscheidung bezüglich der Nichtstörerauswahl auswirkt. So ist teilweise vertreten worden, daß bei Vorhandensein eines zivilgerichtlichen Räumungsurteils die Inanspruchnahme des Räumungsgläubigers zur Unterbringung des Räumungsschuldners trotz anderweitig beschlagnahmefähiger Räumlichkeiten stets ermessensfehlerhaft sei 311 . Den gerichtlichen Spruch, Mieter und Vermieter zu trennen, habe das Gericht möglichst zu beachten, so daß bei Vorliegen mehrerer Räumungsurteile den Räumungsschuldnern jeweils die andere zu räumende Wohnung „über Kreuz" zuzuweisen sei 312 . Dem ist allerdings in dieser Allgemeinheit nicht zuzustimmen313. So ist zwar das Bestehen eines Räumungstitels, den der Vermieter oftmals durch mehrere Instanzen erkämpft hat, durchaus ein im Rahmen der Ermessensausübung zu berücksichtigender Umstand, der bei Vorhandensein anderer Wohnraumeigentümer zur Ermessensfehlerhaftigkeit der Auswahlentscheidung führen kann. Zwingend ist dies jedoch nicht. Denn maßgeblich für die Ermessensentscheidung ist nicht allein der bestehende Titel, sondern insbesondere auch das hinter dem Räumungsanspruch stehende materielle Interesse des Vermieters an der Räumung314. So sind denn auch Konstellationen denkbar, in denen das Interesse des Vermieters an der Räumung der Wohnung durch die Inanspruchnahme verhältnismäßig geringfügig beeinträchtigt wird. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn er allein aufgrund von Zahlungsrückständen des Mieters gekündigt hat und an der Entfernung des Mieters aus der Wohnung allein ein finan309

Vgl. VG Bremen, NVwZ 1991, 706, 707; Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 356f. Vgl. Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 359; ähnlich Greifeid, JuS 1982, 819, 822; vgl. auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.67. Vgl. auch VG Köln, WuM 1982, 220, 221, das aus § 721 Abs. 5 ZPO folgert, daß spätestens nach einem Jahr nach Rechtskraft des Räumungsurteils jede weitere Verzögerung der Durchsetzung des Titels rechtswidrig wäre; dem folgend Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.67 ff. Nicht überzeugend hingegen Arndt, ZAP 1993, 257, 259, der einen Verbrauch des Arguments der drohenden Obdachlosigkeit annimmt. 311 So Wacke, ZMR 1954, 250, 251; tendenziell auch Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 197: „im Regelfall". 312 Wacke, ZMR 1954, 250, 251. 313 Soweit diese These auf der Prämisse beruht, daß das zivilgerichtliche Urteil eine Art Bindungswirkung für die Behörde entfalte, so ist dies ohnehin abzulehnen, vgl. näher unten 3. Teil, A, II. 314 Vgl. auch die Empfehlungen des Landes Brandenburg zur Vermeidung von Obdachlosigkeit und zur Verbesserung der Lage obdachloser Personen in den Kommunen vom 24.1.1997 (ABl. Nr. 8 v. 27.2.1997, S. 100ff.) Ziff. 5.3.1, lit.b); (abgedruckt bei Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, S. 175 ff.). 310

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

zielles Interesse hat 315 . Dem finanziellen Interesse des Eigentümers wird nämlich dadurch ausreichend Rechnung getragen, daß er während der Beschlagnahmedauer in der öffentlichen Hand einen solventen Schuldner erhält, der aufgrund der Nichtstörerentschädigungsvorschriften eine dem bisherigen Mietzins entsprechende Entschädigung zu zahlen hat 316 . Demgegenüber würde die von der Gegenansicht geforderte Beschlagnahme und Zuweisung einer anderen zu räumenden Wohnung „über Kreuz" in diesem Fall aufgrund des zu bewerkstelligenden Umzugs einen - im Hinblick auf den Grundsatz der effektiven Gefahrenabwehr unter Umständen bedenklichen - erheblichen Verwaltungsaufwand erfordern, ohne daß dem auf Seiten des Vermieters tatsächlich eine geringere Belastung gegenüberstünde317. So kann etwa trotz Vorliegens eines Räumungstitels auch dann die Inanspruchnahme des Räumungsgläubigers rechtmäßig sein, wenn ansonsten nur Inhaber von Hotels oder Pensionen als Nichtstörer in Betracht kommen und diese bei Unterbringung Obdachloser mit erheblichen geschäftsschädigenden Nebenwirkungen zu rechnen haben. Ein gewichtiges Interesse an der Räumung besteht jedoch bei einer Kündigung aus Eigenbedarf oder wegen eines erheblichen Fehlverhaltens des Räumungsschuldners, aufgrunddessen das persönliche Verhältnis zu diesem gestört ist (z. B. Beleidigung oder tätliche Angriffe gegenüber dem Vermieter oder anderen Mietern, wiederholte Verstöße gegen die Hausordnung etc.). Im Rahmen der Nichtstörerauswahl ist dies auch dann berücksichtigungsfähig und kann zur Rechtswidrigkeit der Inanspruchnahme führen, wenn die Schwelle der Eigengefährdung des § 6 Abs. 1 Nr. 4 MEPolG noch nicht erreicht ist und somit keine Unzumutbarkeit vorliegt 318 . Sind in dieser Konstellation geeignete andere Wohnraumeigentümer vorhanden, welche die Inanspruchnahme und Zuweisung in geringerem Maße belasten würde, so ist die Auswahl des Räumungsgläubigers ermessensfehlerhaft 319. Zu beachten ist in diesem Zusammenhang, daß die Polizei bei der Abwägung der Nachteile im Rahmen der Nichtstörerauswahl nicht nur den Tatbestand und die Entscheidungsgründe des Räumungsurteils heranziehen darf 320 , sondern vielmehr auch 315

Siehe auch die Empfehlungen des Landes Brandenburg (oben Fn. 314), Ziff. 5.3.1, lit. a), wo allerdings dieser Gesichtspunkt unter dem Aspekt der Zumutbarkeit angesprochen wird; vgl. auch VGH BW ES VGH 1,234,236: „Beruht [das Stattgeben der Räumungsklage] lediglich auf der Nichtzahlung der Miete, so kann durch die Übernahme der Mietkosten auf die öffentliche Hand [...] die Unzumutbarkeit dieser Wiedereinweisung wesentlich vermindert werden"; Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 133 f.; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.67. 316 Vgl. hierzu näher unten 4. Teil, 2. Abschn., A, I. 317 Ablehnend gegenüber der „Einweisung über Kreuz" auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.68, allerdings mit dem Argument, daß ansonsten die gesetzgeberische Wertung der §§ 721, 765 a ZPO unterlaufen würde. 318 Vgl. zu diesem Problem bereits oben 2. Teil, 1. Abschn., B, IV, 3, b). 319 So auch Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 197, Fn. 512; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.56. 320 Für eine Berücksichtigung des Tatbestands des Räumungsurteils z.B. die Empfehlungen des Landes Brandenburg (oben Fn. 314), Ziff. 5.3.1, lit. a); VG Stuttgart, ZMR 1954,249,250; KöhlerlKossmann, Handbuch der Wohnraummiete, § 107, Rdnr. 17.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

155

darüber hinaus gem. § 24 LVwVfG den Sachverhalt von Amts wegen zu ermitteln hat 321 . Das ergibt sich bereits daraus, daß der Tatbestand des Räumungsurteils aufgrund der vor den Zivilgerichten geltenden Dispositionsmaxime nur den von Parteien vorgetragenen Sachverhalt und somit nicht alle von der Polizei zu berücksichtigenden Umstände wiedergibt. So ist etwa denkbar, daß das Verhältnis zwischen Räumungsschuldner und -gläubiger von extremen persönlichen Spannungen geprägt ist, die Kündigung und Räumungsklage aber nur auf einen Zahlungsverzug gestützt wird 322 . Hinzu kommt, daß sich nach Erlaß des Urteils die im Rahmen der Nichtstörerauswahl berücksichtigungsfähigen tatsächlichen Verhältnisse geändert haben können. Auch hier gilt jedoch, daß die Anforderungen an die sorgfältige Ermittlung des Sachverhalts um so geringer sind, je dringender die Gefahr ist 323 . b) Vörrangigkeit der Inanspruchnahme gemeinnütziger Unternehmen? Da grundsätzlich die im konkreten Fall mit der Inanspruchnahme verbundenen Nachteile zu gewichten sind, ist Vorsicht hinsichtlich etwaiger allgemein formulierter Auswahlgrundsätze geboten. So kann es beispielsweise in dieser Allgemeinheit nicht überzeugen, wenn das OVG Berlin formuliert, daß ein gemeinnütziges Wohnungsbauunternehmen „unter erleichterten Bedingungen als Nichtstörer [...] in Anspruch genommen werden [kann] als ein beliebiger Privatmann 324" und somit grundsätzlich vorrangig zu belangen sei. Zwar war Voraussetzung für die staatliche Anerkennung nach dem Wohnungsgemeinnützigkeitsgesetz (WGG), daß die Gesellschaft ihre Geschäftspolitik allein an den Bedürfnissen des Wöhnbedarfs orientiert und ihre Mietpreise entsprechend den laufenden Aufwendungen gestaltet325, so daß es aufgrund dieser Selbstverpflichtung zum Dienen von Allgemeinwohlinteressen durchaus berechtigt erscheint, von einer stärkeren Sozialbindung des Eigentums auszugehen326. Das impliziert aber nicht, daß nicht auch ein gemeinnütziges Wöhnungsbauunternehmen ein massives Interesse an der Durchsetzung ihres Räumungstitels haben kann, etwa dann, wenn der Räumungsschuldner zu Lasten anderer Mieter ein erhebliches Fehlverhalten an den Tag gelegt hat 327 . Zudem beinhaltet die Gemeinnützigkeit nicht nur die Wahrung der Belange einzelner Mieter, sondern insgesamt die Wahrung von Allgemeinwohlinteressen, so daß beispielsweise ebenfalls zu berücksichtigen ist, daß durch die Inanspruchnahme eventuell andere Bewerber in Wohnungsnot abgewiesen werden müßten328. Somit zeigt sich, daß es 321

So auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.65. So auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 65. 323 Siehe hierzu bereits oben 2. Teil, 1. Abschn., D, II. 324 Vgl. OVG Berlin, NJW 1980, 2484, LS 4, zustimmend insoweit VG Bremen, NVwZ 1991, 706, 707; Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 357; kritisch Greifeid, JuS 1982, 819, 822. 325 Vgl. § 7 des WGG vom 29.2.1940 (RGBl. I, S. 437); außer Kraft getreten am 31.12.1989. 326 Vgl. Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 357; Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 132. 327 So auch Greifeid, JuS 1982, 819, 822; zustimmend Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 132. 328 Vgl. Greifeid, JuS 1982, 819, 822. 322

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

auch hier einer Gewichtung der konkret mit der Inanspruchnahme verbundenen Nachteile bedarf. c) Berücksichtigung der Interessen des Obdachlosen? Bisher ausgespart wurde die Frage, ob auch die Interessen des Obdachlosen an der Zuweisung einer bestimmten Unterkunft in die Ermessensausübung bezüglich der Nichtstörerauswahl einzufließen haben. Gerade in Fällen des Bestehen eines Räumungstitels wird der Betroffene oft ein erhebliches Interesse daran haben, in seiner bisherigen Wohnung zu verbleiben, sei es aufgrund der Nähe zum Arbeitsplatz, bei schulpflichtigen Kindern zur Schule oder aufgrund der Beibehaltung des bisherigen sozialen Umfelds. Während hier teilweise von einer Berücksichtigungsfähigkeit ausgegangen wird 329 , sind diese Belange richtigerweise nicht in die Ermessensausübung bei der Nichtstörerauswahl einzustellen330. Dies folgt aus der Zweckrichtung des Polizeirechts, nach der sich das Ermessen auszurichten hat. Zweck der Inanspruchnahme ist aber die Beseitigung der polizeirechtlichen Gefahr für die Menschenwürde des Obdachlosen. Soweit somit durch die Bereitstellung (irgend-) einer Unterkunft die Menschenwürde des Betroffenen gewahrt bleibt, sind weitergehende Interessen gerade an der Zuweisung eines bestimmten Wohnraums nicht berücksichtigungsfähig.

E. Das öffentlichrechtliche Verwahrungsverhältnis Nach allgemeiner Auffassung entsteht durch die mit der Durchführung einer Beschlagnahme bzw. Sicherstellung einer Sache verbundene amtliche Verwahrung grundsätzlich ein öffentlichrechtliches VerwahrungsVerhältnis 331. Ob diese These auch bezüglich der Beschlagnahme von Wohnraum zutrifft, erscheint bisher nicht hinreichend geklärt. Bisweilen findet sich auch in bezug auf die Wohnraumbeschlagnahme zur Unterbringung Obdachloser die nicht näher begründete Aussage, es entstehe zwischen Eigentümer und Polizeiträger ein öffentlichrechtliches Verwahrungsverhältnis 332 oder ein „Obhutsverhältnis der Polizei an der Wohnung 333 ". 329 So z. B. die Empfehlungen des Landes Brandenburg (oben Fn. 314), Ziff. 5.3.1, lit. e), wo eine Berücksichtigung der Belastung des Mieters oder seiner Familie postuliert wird. 330 Tendenziell auch Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 53, die allerdings nur von Nachrangigkeit dieser Interessen spricht. 331 Vgl. nur DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, § 12, 11, b), S.211; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 309; ReichertlRuder/Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 627; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 110; Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 154ff.; Tettinger, Besonderes Verwaltungsrecht/1, Rdnr.413; Wolf/Stephan, PolG BW, §32, Rdnr. 15, §33, Rdnr. 25. 332 So Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 215; Spannowsky, BWVPr. 1991, 197, 199; Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 9; Roth, DVB1. 1996, 1401, 1402; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 244: „öffentlich-rechtliches Verwahrungs- und Benutzungsver-

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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Anderer Auffassung zufolge soll generell bei unbeweglichen Sachen wie Gebäuden und Räumen kein VerwahrungsVerhältnis entstehen334. Des weiteren wird vorgebracht, die Qualifikation des Rechtsverhältnisses zwischen Eigentümer und Behörde als Verwahrung sei deshalb verfehlt, weil bei der Wohnraumbeschlagnahme nicht eine dem Hinterleger dienliche Aufbewahrung im Vordergrund stehe335. Angesichts dieser Unsicherheiten erscheint es angezeigt, die Voraussetzungen für das Entstehen eines öffentlichrechtlichen Verwahrungsverhältnisses und dessen Vorliegen bei der Wohnraumbeschlagnahme näher zu untersuchen.

I. Entstehen eines öffentlichrechtlichen Verwahrungsverhältnisses 1. Entstehungsvoraussetzungen Ein öffentlichrechtliches Verwahrungsverhältnis entsteht dann, wenn die Verwaltung eine Sache kraft öffentlichen Rechts in Besitz nimmt 336 und sich daraus die Notwendigkeit staatlicher Obhuts- und Fürsorgemaßnahmen ergibt 337 . Teilweise wird als weitere Voraussetzung statuiert, daß die behördliche Ingewahrsamnahme die Privatperson daran hindern müsse, eigene Obhuts-, Fürsorge- oder Sicherungsmaßnahmen zu treffen 338. Für die Begründung eines Verwahrungsverhältnisses soll es nicht darauf ankommen, aus welchem Grunde der Berechtigte von eigenen Einwirkungen ausgeschlossen sei und welchen Zweck die öffentliche Hand mit der Gehältnis"; vorsichtiger BGHZ 130, 332, 337: „eine Art öffentlichrechtliches Verwahrungsverhältnis"; dem folgend Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 378; vgl. auch Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.268: „ein Rechtsverhältnis, das der öffentlichrechtlichen Verwahrung ähnelt"; offen BGH NJW 1996, 315; anders OVG Münster, NVwZ 1991, 905, 906; Schoenenbroicher, MDR 1992, 97: „öffentlichrechtliches BenutzungsVerhältnis". 333 Würtenberger/HeckmannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 316 f. 334 So z. B. Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 87; Wolf/Stephan, PolG BW, § 33, Rdnr. 24. 335 Cremer, VB1BW 1996, 241, 245. 336 BGH, JuS 1974, 191, 192; NJW 1990, 1230, 1231; OLG Köln, NVwZ 1994, 618; AG Hamm, MDR 1978,51; Büllesbach, Die öffentlich-rechtliche Verwahrung, S. 3 ff.; Drews/Wakke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 32, 5, S.647; Erichsen, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, §29, Rdnr. 4; Gaul, VB1BW 1996, 1, 5; Hüffer, in: Münchener Kommentar, BGB, §688, Rdnr. 58; Kopp/Schenke, VwGO, §40, Rdnr. 65; Maurer, JuS 1994,1015, 1017 f. unter gleichzeitigem Hinweis, daß Besitz mit tatsächlicher Sachherrschaft gleichzusetzen ist; Mengerl Erichsen, VerwArch Bd. 57 (1966), 64,73; Nagel, Polizeiliche Sicherstellung, S. 110f.; Quaritsch, in: Staat und Verwaltung, 169, 170; Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 154ff.; Schwerdtfeger, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, Rdnr. 260; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 341; Wolf/Stephan, PolG BW, § 32, Rdnr. 15. 337 OLG Köln, NVwZ 1994, 618, 619f.; Maurer, JuS 1994, 1015, 1017; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S.341; Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 156. 338 BGH, JuS 1974, 191, 192; Gaul, VB1BW 1996, 1, 5; kritisch Maurer, JuS 1994, 1015, 1017.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

wahrsamsbegründung verfolge 339. So sei es unerheblich, ob die Begründung hoheitlicher Sachherrschaft gegen den Willen des Betroffenen allein aus öffentlichem Interesse (Verwahrung nach vorhergehender Beschlagnahme) oder mit Willen des Betroffenen bzw. in seinem Interesse erfolgt (freiwillige Übergabe von Urkunden zu den Gerichtsakten; behördliche Verwahrung einer Fundsache340). Entscheidend sei allein die tatsächliche hoheitliche Inbesitznahme der Sache verbunden mit der Pflicht, ihr Obhut zuteil werden zu lassen. Nach herrschender Auffassung soll sich dabei das Entstehen eines Verwahrungsverhältnisses allerdings auf bewegliche Sachen beschränken 341. Indes erscheint es fraglich, ob ein öffentlichrechtliches Verwahrungsverhältnis nur in bei beweglichen Sachen anzuerkennen ist. Für eine solche Beschränkung spricht zwar das zivilrechtliche Vorbild der §§ 688ff. BGB, das sich lediglich auf bewegliche Sachen bezieht342. Auch der natürliche Wortsinn des Begriffs der „Inverwahrungnahme" deutet eher auf bewegliche Sachen hin, da man damit ein „Ansichnehmen" oder „Fortschaffenkönnen" verbindet, was freilich bei unbeweglichen Sachen wie Gebäuden bzw. Wohnraum nicht in Betracht kommt. Eine solche Deutung wird jedoch der Ratio der öffentlichrechtlichen Verwahrung, welche in der Schutzbedürftigkeit des von staatlichem Handeln betroffenen Bürgers liegt, nicht gerecht. Der Grund für die Entwicklung eines Rechtsinstituts der öffentlichrechtlichen Verwahrung ist nämlich die Einsicht, daß der Verweis auf das als unzureichend empfundene Amtshaftungsrecht dann unbillig ist, wenn sich die Verwaltung die Sachherrschaft verschafft hat und der ehemals Berechtigte von der Einwirkung der Sache ausgeschlossen ist 343 . Wer durch die hoheitliche Sachherrschaft an den erforderlichen Fürsorgemaßnahmen gehindert werde, solle darauf vertrauen dürfen, daß man statt seiner und in seinem Sinne das Notwendige veranlasse344. Diese Schutzbedürftigkeit ist jedoch bei der Begründung hoheitlicher Sachherrschaft an beweglichen wie unbeweglichen Sachen gleichermaßen gegeben. Hat der Berechtigte keine Zugriffsmöglichkeit mehr auf die unbewegliche Sache, so nützt es ihm wenig, 339 Vgl. Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 155; ebenso Maurer, JuS 1994, 1015, 1017: allein die Tatsache, daß die Behörde die Sache in Erfüllung öffentlicher Aufgaben in Besitz nehme, löse entsprechende Obhutspflichten aus. 340 Vgl. die Beispiele bei Hüffen in: Münchener Kommentar, BGB, § 688, Rdnr. 60. 341 BGH, JuS 1974,191,192; VGH Kassel, NVwZ 1988, 655, 656; DÖV 1991, 699; Erichsen, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, §29, Rdnr. 4; Hüffer, in: Münchener Kommentar, BGB, §688, Rdnr. 58; Quaritsch, in: Staat und Verwaltung, 169, 170; Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 154; Schwerdtfeger, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, Rdnr. 260; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 87; Wolf/Stephan, PolG BW, § 33, Rdnr. 24; a.A. Büllesbach, Die öffentlich-rechtliche Verwahrung, S. 154ff.; Blume, Sonderverbindungen, S.9. 342 Auf diesen Aspekt stellt Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 87, ab. 343 Hüffer, in: Münchener Kommentar, BGB, §688, Rdnr. 58; Quaritsch, in: Staat und Verwaltung, 169; Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 155 f.; vgl. auch Büllesbach, Die öffentlich-rechtliche Verwahrung, S. 9; zu den Haftungsunterschieden zwischen Amtshaftung und Haftung aus Forderungsverletzung Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S.338f. 344 Vgl. BGH, VersR 1975, 281.

1.Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

159

daß sie sich noch an demselben Ort befindet. Allein die Möglichkeit der äußeren Begutachtung des Gebäudes ändert nichts an der Abhängigkeit von den Entschlüssen der öffentlichen Hand hinsichtlich etwaiger Fürsorgemaßnahmen und der damit verbundenen gesteigerten Schutzbedürftigkeit des Betroffenen 345. Demgegenüber vermag der Verweis auf die zivilrechtliche Regelung des § 688 BGB das so gefundene Ergebnis nicht zu entkräften. Zwar wurde das öffentlichrechtliche Verwahrungsverhältnis aus einer rein zivilrechtlichen Betrachtungsweise heraus entwickelt 346 . Inzwischen hat es sich jedoch weitgehend von seinem zivilrechtlichen Vorbild gelöst und ist zu einem eigenständigen öffentlichrechtlichen Rechtsinstitut geworden, für das eigene Wertungen maßgeblich sind. Dies zeigt sich bereits daran, daß in zahlreichen Fallkonstellationen mangels vergleichbarer Interessenlage die zivilrechtlichen Vorschriften keine (analoge) Anwendung finden 347. So geht es bei der Anerkennung einer öffentlichrechtlichen Verwahrung in erster Linie um die Begründung einer verwaltungsrechtlichen Sonderbeziehung, welche die Anwendung einer dem zivilrechtlichen Vertragsrecht entsprechenden Haftung des Hoheitsträgers ermöglicht und somit der Schutzbedürftigkeit des Betroffenen Rechnung trägt 348 . Im Ergebnis wird also entgegen der h. M. auch bei unbeweglichen Sachen ein öffentlichrechtliches Verwahrungsverhältnis begründet, wenn die öffentliche Hand alleinige Sachherrschaft begründet und sich somit mangels eigener Einwirkungsmöglichkeit des Betroffenen die Notwendigkeit staatlicher Obhutsmaßnahmen ergibt 349 . 2. Verwahrungsverhältnis

bei Wohnraumbeschlagnahme?

Ausgehend von dieser herausgearbeiteten Definition wird bei der Beschlagnahme von Wohnraum zwischen Eigentümer und Polizei ein Verwahrungsverhältnis begründet 350. Der Annahme eines Verwahrungsverhältnisses steht es - wie dargelegt - nicht entgegen, daß es sich bei einer Wohnung um eine unbewegliche Sache 345

So auch Büllesbach, Die öffentlich-rechtliche Verwahrung, S. 155; Blume, Sonderverbindungen, S.9. Eine Schutzbedürftigkeit konzediert bezeichnenderweise auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 87. 346 Die frühere Rechtsprechung legte die Konstruktion eines „quasikontraktlichen" privatrechtlichen Rechtsverhältnisses zugrunde, auf das die Vorschriften des Verwahrungsvertrags analoge Anwendung fanden; vgl. zur historischen Entwicklung der öffentlichrechtlichen Verwahrung näher Papier, Forderungsverletzung, S.40f.; Büllesbach, Die öffentlich-rechtliche Verwahrung, S. 10f., jeweils m. w. Nachw. 347 Vgl. Erichsen, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 29, Rdnr. 6; Schwerdtfeger, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, Rdnr. 261; vgl. schon Papier, Forderungsverletzung, S.42; vgl. hierzu näher unten 2. Teil, 1. Abschn., E, II. 348 Vgl. Papier, Forderungsverletzung, S.42. 349 Für ein Entstehen eines öffentlichen Verwahrungsverhältnis bei der Sicherstellung unbeweglicher Sachen - allerdings ohne Begründung - auch Tegtmeyer, PolG NW, § 43, Rdnr. 4. 350 Vgl. auch die unter Fn. 332 Genannten; a. A. Büllesbach, Die öffentlich-rechtliche Verwahrung, S.66f., 90; Volkmann, JuS 2001,888,893; vgl. auch Cremer, VB1BW 1996,241,245 und Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.86ff. die allerdings ein sonstiges verwaltungsrechtliches Schuldverhältnis annehmen; siehe näher Fn.358.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

handelt. Indem dem Eigentümer die Sachherrschaft über den Wohnraum entzogen wird 351 , ist er von jeglicher Einwirkungs- und Verfügungsmöglichkeit über diesen ausgeschlossen und auf entsprechende Fürsorgemaßnahmen der öffentlichen Hand angewiesen352. Nicht gegen die Annahme eines Verwahrungsverhältnisses zwischen Polizei und Eigentümer spricht hingegen die Tatsache, daß mit der Zuweisung der Wohnung an den Obdachlosen dieser und nicht mehr die Polizei Inhaber der Sachherrschaft über den Wohnraum ist 353 . Bereits die Vorschrift des § 3 Abs. 1 S. 2 DVO bwPolG (§ 22 Abs. 1 S. 3 MEPolG), nach der eine Sache bei Unzweckmäßigkeit der amtlichen Verwahrung auch einem privaten Dritten zur Verwahrung übergeben werden kann, zeigt, daß davon ausgegangen wird, daß die Einschaltung eines Privaten am Vorliegen eines öffentlichrechtlichen Verwahrungsverhältnisses nichts ändert. So ist denn auch im Zusammenhang mit der Problematik des Abschleppens von Kfz anerkannt, daß nicht der private Abschleppunternehmer, dem die Verwahrung von der Behörde übertragen wurde und der die Sachherrschaft über das Kfz ausübt, sondern die Polizei, die das Abschleppen und die Inverwahrungnahme angeordnet hat, Beteiligter der Sonderbeziehung wird 354 . Freilich wird dem Obdachlosen bei der Wohnraumbeschlagnahme - anders als dem Unternehmer beim Abschleppfall - der Wohnraum nicht explizit zur Verwahrung, also zur Aufbewahrung und Obhut übertragen; die Einräumung der Sachherrschaft erfolgt vielmehr in Erfüllung eines gegen die Behörde gerichteten Rechtsanspruchs und dient der Möglichkeit der Nutzung (und damit auch der Abnutzung) der Räume. Mit anderen Worten überträgt die Polizei keine Pflicht auf Obhutnahme an den Obdachlosen, sondern räumt diesem vielmehr sogar ein Recht auf Nutzung ein 355 . Die hinter der Bejahung des Verwahrungsverhältnisses zwischen der Behörde und dem Betroffenen stehende Erwägung ist jedoch die gleiche: ordnet die öffentliche Hand die Entziehung der Sachherr351

Vgl. hierzu bereits näher oben 2. Teil, 1. Abschn., A, IV, 3. Ebenso auch Büllesbach, Die öffentlich-rechtliche Verwahrung, S.66f: „Dort [gemeint ist: bei der Wohnraumbeschlagnahme] wird dem Berechtigten ebenfalls die tatsächliche Gewalt entzogen, seine Behausung unterliegt dauerhafter Gefährdung, und ihm bleibt die Sicherstellung einer sorgsamen Behandlung verwehrt. Die Behörde läßt also seine Wohnung quasi durch einen Dritten »verwahren'; zumindest bestehen der ,Verwahrung' ähnliche Interessengegensätze". Unklar bleibt allerdings, wieso Büllesbach, aaO, S. 67, trotz Annahme einer gleichen Interessenlage - ohne Begründung - das Entstehen eines Verwahrungsverhältnisses verneint. 353 So scheinbar aber Cremer, VB1BW 1996,241,245, Fn.50, der darauf hinweist, daß nach § 691 S. 1 BGB der Verwahrer im Zweifel nicht berechtigt sei, die Sache bei einem Dritten zu hinterlegen. Der Hinweis auf die zivilrechtliche Vorschriften des §691 S. 1 BGB verfängt jedoch schon allein deshalb nicht, weil zum einen § 3 Abs. 1 S. 2 DVO bwPolG bzw. § 22 Abs. 1 S. 3 MEPolG insoweit als öffentlichrechtliche leges speciales anzusehen sind und zum anderen die zivilrechtlichen Vorschriften ohnehin mangels vergleichbarer Interessenlage keine Anwendung im vorliegenden Fall finden; siehe dazu sogleich. 354 Vgl. LG Osnabrück, VersR 1983, 692; AG Hamm, MDR 1978, 52 bzgl. der Hinterstellung eines sichergestellten Kfz bei einer privaten Tankstelle; Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 332. 355 Aus diesem Grunde lehnt Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 88, die Annahme eines öffentlichrechtlichen Verwahrungsverhältnisses ab. 352

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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schaft einer Sache hoheitlich an, so kann sie sich nicht dadurch der im Rahmen einer verwaltungsrechtlichen Sonderbeziehung geltenden verschärften Haftung entziehen, indem sie diese gleichzeitig oder anschließend einem privaten Dritten einräumt. Aus der Sicht des schutzwürdigen Eigentümers ist es dabei unerheblich, aus welchem Grunde und mit welchem Ziel die Überlassung der Sache an den Dritten erfolgt und wie das Innenverhältnis zwischen Polizei und privatem Dritten gestaltet ist. Für das - allein relevante - Außenverhältnis zwischen Eigentümer und Polizei macht es nämlich keinen Unterschied, ob der private Dritte, der nun die Sachherrschaft über die Räume innehat, der Behörde gegenüber eine Obhutspflicht hat oder sogar zur Nutzung berechtigt ist 356 . Entscheidend ist, daß der Eigentümer mit der Inanspruchnahme die Einwirkungs- und Verfügungsmöglichkeit über den Wohnraum verliert. Erfolgt dieser Verlust der Einwirkungsmöglichkeit üblicherweise bei der Beschlagnahme beweglicher Sachen durch Inverwahrungnahme und bei der Beschlagnahme unbeweglicher Sachen durch Versiegelung, so wird er hier durch den - aus der Sicht des Eigentümers - tatsächlichen Akt der behördlich veranlaßten Wohnnutzung substituiert 357. Nicht durchgreifen kann demgegenüber der Einwand Cremers, die Annahme eines Verwahrungsverhältnisses sei deshalb verfehlt, weil es bei der Wohnraumbeschlagnahme nicht um eine dem Hinterleger dienliche Aufbewahrung gehe358. So scheint Cremer davon auszugehen, daß sich ein öffentlichrechtliches Verwahrungsverhältnis in einer analogen Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften erschöpfe und somit nur bei gleicher Interessenlage wie bei einem bürgerlich-rechtlichen Verwahrungsvertrag entstehe. Das ist aber unstreitig nicht der Fall 359 . So erfolgt die Aufbewahrung einer gem. § 33 Abs. 1 Nr. 1 bwPolG beschlagnahmten Sache grundsätzlich nie im privaten Interesse des Sachherrn; sie bedeutet hier vielmehr Ausschluß des Berechtigten von der Sachherrschaft zur Gefahrenabwehr im öffentli356

Im Gegenteil wird die Schutzwürdigkeit sogar noch erhöht sein, wenn der private Dritte berechtigt ist, die Sache zu nutzen, da die Gefahr von Beschädigungen wohl größer ist. 357 Vgl. Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29, 46. 358 Vgl. Cremer, VB1BW 1996, 241, 245. Im Ergebnis nimmt allerdings auch Cremer ein verwaltungsrechtliches Schuldverhältnis an. Dies solle jedoch eher einem Mietverhältnis ähneln, weil es um eine Pflicht des Eigentümers gehe, der Polizei gegen Entschädigung die Wohnung zum Gebrauch durch einen Dritten zu überlassen. Indes erscheint es fragwürdig, das für ein verwaltungsrechtliches Schuldverhältnis erforderliche „besonders enge Verhältnis" zwischen Bürger und Verwaltung (vgl. BGHZ 21, 214, 218; 54, 299, 302; 59, 303, 305; 61, 7, 11; Papier, Forderungsverletzung, S.55 ff.; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 32,5, S.647; v. Danwitz, Verw Bd. 30 (1997), 339, 357, jeweils m. w. Nachw.) allein aus dem Umstand herzuleiten, daß der Bürger gegen Entschädigung zu einer Duldung verpflichtet wird. Ein solches enges Verhältnis ist aber anerkanntermaßen bei einer durch die Begründung hoheitlicher Sachherrschaft entstehenden Obhutspflicht gegeben. Liegen diese Voraussetzungen hier vor, ist es demnach nicht erforderlich, die ohnehin nur sehr vage Nähebeziehung anderweitig zu begründen. Eine Vergleichbarkeit zu einem bürgerlichrechtlichen Schuldverhältnis gänzlich ablehnend Volkmann, JuS 2001, 888, 893. 359 Ablehnend gegenüber der Argumentation Cremers auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.88. 11 Reitzig

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

chen Interesse 360. Gerade die hoheitliche Beschlagnahme einer Sache gilt jedoch als das Paradebeispiel des Entstehens einer öffentlichrechtlichen Verwahrung 361. So wurde oben bereits herausgearbeitet, daß sich die öffentlichrechtliche Verwahrung von ihrem zivilrechtlichen Vorbild gelöst hat und unabhängig vom Zweck der hoheitlichen Inverwahrungnahme dann entsteht, wenn der Betroffene durch die Begründung hoheitlicher Sachherrschaft von eigenen Obhutsmaßnahmen ausgeschlossen ist. Im Ergebnis bleibt somit festzuhalten, daß im Falle der Wohnraumbeschlagnahme zwischen Eigentümer und Polizei ein öffentlichrechtliches Verwahrungsverhältnis entsteht.

II. Die anwendbaren Vorschriften Bejaht man mit der Beschlagnahme des Wohnraums das Entstehen eines öffentlichrechtlichen VerwahrungsVerhältnisses, stellt sich die daran anschließende Frage, inwieweit die Vorschriften der §§ 688 ff. BGB analoge Anwendung finden 362. Eine analoge Anwendung zivilrechtlicher Vorschriften kommt jedenfalls anerkanntermaßen nicht in Betracht, soweit öffentlichrechtliche Spezialregelungen existieren 363. Für die Beschlagnahme normiert insoweit § 3 Abs. 1 S. 1 i.V. m. Abs. 3 DVO bwPolG die Verpflichtung der Polizei, die Sache vor Einwirkungen Dritter zu schützen und nach Möglichkeit Wertminderungen vorzubeugen (vgl. § 22 Abs. 3 MEPolG) 364 . Gem. § 3 Abs. 1 S. 2 i.V. m. Abs. 3 DVO bwPolG (§ 22 Abs. 1 S. 2, S. 3 MEPolG) kann bei Unmöglichkeit oder Unzweckmäßigkeit der amtlichen Verwahrung die Sache einem Dritten zur Verwahrung übergeben werden 365. Schließlich nor360

So auch Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 160: „Verwahrung bedeutet hier [gemeint ist: bei der Beschlagnahme bzw. Sicherstellung] Ausschluß des Berechtigten von der Sache, nicht wie im Zivilrecht die Inobhutnahme einer Sache im Interesse des Berechtigen". 361 Vgl. die genannten Beispiele bei Hüffer, in: Münchener Kommentar, BGB, § 688, Rdnr. 60; Schwerdtfeger, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, Rdnr. 260; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S.340. 362 Eine Analogie bei belastenden hoheitlichen Maßnahmen aufgrund des Gesetzesvorbehalts generell verneinend BVerfG, DVB1. 1997, 351 f. 363 Belz/Mußmann, PolG BW, § 32, Rdnr. 7; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 245; Schwerdtfeger, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, Rdnr. 261; Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 157; Spannowsky, BWVPr. 1991, 197, 199; ebenso Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 268, Fn. 49. 364 Unzutreffend ist freilich die Annahme von Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 268, Fn.49, die Vorschrift des § 689 BGB werde durch die spezielleren Vorschriften des öffentlichen Rechts über die Entschädigung von Nichtstörern verdrängt. § 689 BGB regelt nämlich den Vergütungsanspruch des Verwahrers, der hier die öffentliche Hand ist, während § 55 bwPolG den Entschädigungsanspruch des Eigentümers betrifft. 365 Die Vorschrift verdrängt insoweit in jedem Fall § 691 S. 1 BGB, wonach der Verwahrer im Zweifel die Sache nicht bei einem Dritten hinterlegen darf; so auch Wolf!Stephan, PolG BW, § 32, Rdnr. 17; vgl. auch Fn. 353.

1. Abschn.: Rechtsgrundlage, Voraussetzungen und Rechtsfolgen

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miert § 3 Abs. 1 S. 3 i.V. m. Abs. 3 DVO bwPolG einen Aufwendungsersatzanspruch der Polizei, soweit sie zum Zwecke der Verwahrung Aufwendungen gemacht hat 366 . Inwieweit über die vorhandenen öffentlichrechtlichen Regelungen hinaus im Fall der Wohnraumbeschlagnahme eine Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften in Betracht kommt, erscheint allerdings fraglich. Soweit vertreten wird, die §§ 688 ff. BGB seien für das öffentlichrechtliche Verwahrungsverhältnis in Ermangelung öffentlichrechtlicher Spezialregelungen entsprechend heranzuziehen 367, so kann dem in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden 368. Eine Heranziehung zivilrechtlicher Vorschriften, sei es im Wege der Rechtsanalogie369, sei es im Wege der Anwendung eines darin zum Ausdruck kommenden allgemeinen Rechtsgrundsatzes370, setzt nämlich voraus, daß die in der zivilrechtlichen Norm zum Ausdruck kommende Interessenlage mit derjenigen bei der öffentlichrechtlichen Verwahrung vergleichbar ist 371 . Insoweit ist zu untersuchen, inwieweit die den zivilrechtlichen Normen zugrundeliegenden Wertungen auch auf die öffentlichrechtliche Beschlagnahme einer Sache übertragbar sind. Die zivilrechtlichen Regelungen über den Verwahrungsvertrag sind von der Wertung bestimmt, daß es sich bei der Verwahrung um eine Leistung für den Hinterleger handelt, die im Interesse des Deponenten erfolgt und ihm daher zugute kommt 372 . Seine Interessen werden deshalb auch durch das Gesetz als vorrangig betrachtet, was insbesondere in der Vorschrift des § 695 BGB, wonach der Deponent die hin366

Diese Vorschrift verdrängt dabei § 693 BGB. So BGHZ 1, 369, 371; VGH Kassel, NVwZ 1988,655; Belz/Mußmann, PolG BW, §32, Rdnr. 7; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 110; WölflStephan, PolG BW, § 32, Rdnr. 15; explizit für die Wohnraumbeschlagnahme Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 215; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 244; Spannowsky, BWVPr. 1991, 197, 199. 368 Wie hier differenzierend Erichsen, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 29, Rdnr. 6; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 245: analoge Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften nur dann, wenn „nicht die Zweck- und Interessenausrichtung der öffentlichrechtlichen Verwahrung entgegensteht"; Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 159ff.; Schwerdtfeger, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, Rdnr. 261: „Analogien zu §§ 688 ff. BGB kommen nur teilweise in Betracht"; vgl. ausführlich auch Büllesbach, Die öffentlich-rechtliche Verwahrung, S. 100ff., die jede einzelne Vorschrift der §§688 ff. BGB auf ihre entsprechende Anwendbarkeit untersucht und je nach Sachverhaltskonstellation zu unterschiedlichen Ergebnissen kommt. 369 So BGHZ 4, 192, 193; BGH, JuS 1974, 191, 192; VGH Kassel, NVwZ 1988, 655, 656. 370 So BGHZ 12,214,218; Forsthoff,\ Verwaltungsrecht I, S. 176; vgl. allgemein zu den Voraussetzungen der Heranziehung allgemeiner Rechtsgrundsätze LarenzICanaris, Methodenlehre, S. 232ff.; Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S.312f. 371 Vgl. ausführlich Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 158, der herausstellt, daß die Frage, ob eine Analogie oder eine Heranziehung eines in der Norm zum Ausdruck kommenden allgemeinen Rechtsgrundsatzes vorliegt, lediglich von rechtstheoretischem Interesse ist, jedoch für die Rechtsanwendung keine praktische Relevanz hat. 372 Ähnlich Büllesbach, Die öffentlich-rechtliche Verwahrung, S. 100 f.; dem folgend Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 159. 367

Ii*

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungserfügung

terlegte Sache jederzeit zurückfordern kann, zum Ausdruck kommt. Einen gewissen Ausgleich für diese einseitige Interessengewichtung zugunsten des Hinterlegers schaffen die Regelungen der §§ 689, 690, 694 BGB: gem. § 689 BGB soll der Verwahrer dann für seine Leistung eine Vergütung erhalten, wenn dies nach den Umständen zu erwarten ist. Bei Unentgeltlichkeit der Verwahrung haftet der Depositar nur für Sorgfalt in eigenen Angelegenheiten (diligentia quam in suis; vgl. § 690 BGB). Nach § 694 BGB hat der Hinterleger dem Verwahrer grundsätzlich den durch die Beschaffenheit der Sache entstehenden Schaden zu ersetzen. Mag eine Analogie der genannten zivilrechtlichen Vorschriften bei Konstellationen zu bejahen sein, in denen die öffentliche Hand ausschließlich mit Willen oder zumindest im objektiven Interesse des Sachberechtigten handelt373, so ist sie jedenfalls für den Fall der hoheitlichen Beschlagnahme gem. § 33 Abs. 1 bwPolG (Sicherstellung gem. §21 Nr. 1 MEPolG) mangels vergleichbarer Interessenlage ausgeschlossen374. Hier handelt es sich gerade nicht um eine Leistung der öffentlichen Hand, die im Interesse des Betroffenen erfolgt, sondern um die Vollziehung eines den Berechtigten belastenden Verwaltungsakts, der darauf gerichtet ist, den Betroffenen im öffentlichen Interesse von der Sachherrschaft über den Gegenstand auszuschließen. So wird denn auch seit langem vertreten, daß die Haftungserleichterung des § 690 BGB 3 7 5 sowie das jederzeitige Rückforderungsrecht gem. § 695 BGB 3 7 6 aus diesem Grunde auf das durch die Beschlagnahme entstehende Verwahrungsverhältnis keine analoge Anwendung finden kann. Gleiches gilt jedoch auch für die anderen genannten zivilrechtlichen Vorschriften. Nicht überzeugen kann es daher, wenn Spannowsky eine Haftung des Eigentümers analog § 694 BGB für aus der Beschaffenheit der Wohnung resultierende Schäden an Rechtsgütern des Obdachlosen bejahen will 3 7 7 . Soweit er - was nicht deutlich wird - meint, der Eigentümer hafte gegenüber dem Obdachlosen selbst, so verkennt er bereits, daß „Verwahrer" im Sinne der Vorschrift nicht der Obdachlose, sondern vielmehr die Polizei wäre, die 373

So Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 160ff. Zutreffend Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 160; wohl auch Schwerdtfeger, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, Rdnr. 261. 375 Vgl. BGHZ 4, 192, 194; Erichsen, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 29, Rdnr. 6 Hüjfer, in: Münchener Kommentar, § 688 BGB, Rdnr. 63; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 341; Papier, ForderungsVerletzung, S.42; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 110; vgl. aber VGH München, NVwZ 1998, 421,422. 376 Erichsen, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 29, Rdnr. 4; Hüjfer, in: Münchener Kommentar, BGB, § 688, Rdnr. 63; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 341; Papier, Forderungs Verletzung, S. 42 m. w. Nachw. Ein Herausgabeanspruch aus § 695 BGB analog könnte allenfalls nach Aufhebung bzw. Unwirksamwerden der Beschlagnahme angenommen werden. In diesem Fall geht aber richtigerweise der Folgenbeseitigungsanspruch als speziellere Regelung des öffentlichen Rechts vor. Ebenso auch Battis, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rdnr. 273; Papier, Forderungsverletzung, S. 145 f.; Schieferdecker, Die Entfernung von Kfz, S. 297; Schwerdtfeger, Öffentliches Recht in der Fallbearbeitung, Rdnr. 261; a. A. Quaritsch, in: Staat und Verwaltung, 169, 173; Büllesbach, Die öffentlich-rechtliche Verwahrung, S. 166; Kopp!Schenke, VwGO, § 40, Rdnr. 64: es sei Anspruchskonkurrenz gegeben. 377 Spannowsky, BWVPr. 1991, 197, 199. 374

2. Abschn.: Die Zuweisungsverfügung

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allein Beteiligte der Sonderbeziehung wird. Jedoch auch soweit eine Haftung gegenüber der öffentlichen Hand gemeint sein sollte, ist eine analoge Heranziehung des § 694 BGB abzulehnen378. Bereits unabhängig von der konkreten Interessenlage erscheint eine entsprechende Anwendung des § 694 BGB im Rahmen der öffentlichrechtlichen Verwahrung mehr als zweifelhaft. Ratio der Begründung eines öffentlichrechtlichen Verwahrungsverhältnisses ist - wie oben bereits herausgearbeitet wurde - die Besserstellung des Privaten, dem aufgrund seiner erhöhten Schutzbedürftigkeit neben der Amtshaftung eine ihm günstigere Abwehrmöglichkeit gegen staatliches Handeln eröffnet werden soll. Die Anwendung des § 694 BGB und die damit verbundene verschärfte Haftung des Privaten für die hinterlegte Sache würde aber diesem Zweck zuwiderlaufen und die hinter der Anerkennung einer öffentlichrechtlichen Verwahrung stehende Intention gerade in ihr Gegenteil verkehren. Jedoch auch, wenn man von einer Anwendbarkeit des § 694 BGB in bestimmten Fallkonstellationen der öffentlichrechtlichen Verwahrung ausgehen sollte, kommt eine analoge Heranziehung jedenfalls für den Fall der Beschlagnahme mangels vergleichbarer Interessenlage nicht in Betracht. Die Vorschrift des § 694 BGB trägt dem Umstand Rechnung, daß der zivilrechtliche Verwahrungsvertrag grundsätzlich von den Interessen des Hinterlegers beherrscht wird und schafft einen gewissen Ausgleich für diese „Vorrangstellung" insoweit, als eine Haftung des Hinterlegers für vermutetes Verschulden statuiert wird 379 . Eine derartige Interessenvorrangstellung liegt jedoch im Fall der Beschlagnahme nicht vor 380 . Bemächtigt sich die Polizei einer Sache gegen den Willen des Betroffenen, so wäre es kaum nachvollziehbar, wenn der durch die belastende Maßnahme Betroffene auch noch zusätzlich gegenüber der öffentlichen Hand in einer gegenüber der allgemeinen deliktsrechtlichen Haftung verschärften Art und Weise nach § 694 BGB schadensersatzpflichtig würde. Im Ergebnis bleibt festzuhalten, daß bei der Beschlagnahme von Wohnraum zur Unterbringung von Obdachlosen eine entsprechende Anwendung der zivilrechtlichen Vorschriften der §§ 688 ff. BGB nicht in Betracht kommt. Zweiter Abschnitt

Die Zuweisungsverfügung Gegenstand des folgenden Abschnitts bildet die Untersuchung des an den Obdachlosen adressierten Verwaltungsakts der Zuweisungsverfügung, der gemeinhin 378 A. A. WölflStephan, PolG BW, § 32, Rdnr. 16, die § 694 BGB generell im Rahmen des öffentlichrechtlichen Verwahrungsverhältnis für entsprechend anwendbar halten. 379 So Büllesbach, Die öffentlich-rechtliche Verwahrung, S. 112. 380 Ebenso auch Büllesbach, Die öffentlich-rechtliche Verwahrung, S. 113 für die von ihr gebildeten „Gruppen 1 bis 5" der Verwahrung, zu denen auch die Beschlagnahme gegen den Willen des Berechtigten zählt.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

auch als „Einweisungsverfügung" bezeichnet wird 381 . Angesichts der Tatsache, daß bis heute ungeklärt ist, ob mit der Verfügung nur die Einräumung eines Nutzungsrechts verbunden ist oder ob der Obdachlose gleichzeitig auch verpflichtet wird bzw. rechtmäßigerweise verpflichtet werden kann, den zur Verfügung gestellten Wohnraum zu beziehen, ist zunächst der Frage des Inhalts der Verfügung nachzugehen. Einen weiteren Schwerpunkt der Ausführungen bildet die Problematik der Ermessensausübung im Zusammenhang mit der Zuweisungsverfügung. Hier stellt sich hinsichtlich des Auswahlermessens insbesondere die Frage nach den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft.

A. Inhalt der Zuweisungsverfügung Unstreitig dürfte sein, daß die Zuweisungsverfügung dem Obdachlosen das Recht gibt, den zugewiesenen Wohnraum für den angegebenen Zeitraum zu nutzen382. Problematisch ist hingegen, inwieweit mit der Verfügung gleichzeitig auch die Pflicht verbunden ist, den zugewiesenen Wohnraum zu beziehen und zu nutzen, und insoweit der Verwaltungsakt auch einen belastenden Charakter aufweist 383. Während insbesondere die ältere Literatur und Rechtsprechung von einem derartigen Gebot ausgeht384 und mitunter sogar eine Vollstreckung der „Einweisungsverfügung" im Wege des unmittelbaren Zwangs für zulässig hält 385 , ist in neuerer Zeit vermehrt - allerdings bisher ohne zufriedenstellende dogmatische Begründung - vertreten worden, daß eine Verpflichtung zum Bezug der zugewiesenen Unterkunft nicht entstehe, der Obdachlose die Nutzung mithin wahrnehmen könne, aber nicht müsse386. 381

Siehe zur Terminologie näher unten 2. Teil, 2. Abschn., A, III. Vgl. bereits BVerwGE 17, 83, 86: „Zum anderen verstattet sie [gemeint ist die „Einweisungsverfügung"] ihm, sich in dem ihm zugewiesenen Obdach aufzuhalten und notdürftig wohnlich einzurichten"; Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 374; Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 48 f.; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 56,260; Reichert/Ruder/Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 324; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 164. 383 Eine hiervon zu trennende Frage ist, inwieweit eine belastende Wirkung des Verwaltungsakts darin liegt, daß mit der Zuweisung einer bestimmten Unterkunft formal die Obdachlosigkeit entfällt; vgl. zu dieser Frage näher unten 2. Teil, 2. Abschn., C, II, 1. 384 Vgl. BVerwGE 17, 83, 86; Böhrenz, ZMR 1961, 157 ff. (insbesondere S. 158: „Der Obdachlose muß der Einweisung in eine gemeindeeigene Notunterkunft Folge leisten, anderenfalls kann er zum Beziehen der Notunterkunft gezwungen werden"); Eichert, BWVPr. 1983, 212, 212; Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 130, 132f.; Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 8; von einer belastenden Wirkung geht offensichtlich auch Trockels, BWVPr. 1989, 145, 146, aus, der eine Anhörung gem. §28 LVwVfG fordert; vgl. auch Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 21, Fn. 18. 385 Siehe Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 149. 386 Vgl. OVG Bremen, DÖV 1994, 221, 222; VGH Mannheim, NVwZ-RR 1995, 326, 327; DVB1.1996,567; Erichsen/Biermann, Jura 1998,371,374; Greifeid, JuS 1982,819,820; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 17, 39; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 57 ff.; Reichert/Ruder!Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 324; Ruder, Unterbringung von 382

2. Abschn.: Die Zuweisungsverfügung

167

In diesem Zusammenhang bedarf es zunächst einer Klarstellung: Liegt eine sog. freiwillige Obdachlosigkeit vor, so ist eine Verpflichtung zum Bezug einer Unterkunft schon deshalb unzulässig, weil die freiwillige Selbstgefährdung in jedem Fall Ausdruck der allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG ist und somit ein öffentliches Interesse an einem eingreifenden polizeilichen Einschreiten nicht besteht387. Zwar sind in dem Ausnahmefall einer akuten Lebensgefährdung polizeiliche Eingriffsmaßnahmen möglich 388 . Geeignete und damit rechtmäßige Maßnahme wäre jedoch in einer solchen Konstellation nicht die polizeiliche Verpflichtung zum Bezug einer Wohnung, da sie keinen wirksamen Schutz vor einer bewußten und gewollten Lebensgefährdung gewährleistete 389, vielmehr ergäbe sich die Eingriffsbefugnis aus Spezialvorschriften wie z. B. den Regelungen über die Ingewahrsamnahme gem. § 28 bwPolG (§13 MEPolG) 390 . Der näheren Untersuchung bedarf hier somit die Frage, ob im Fall der unfreiwilligen Obdachlosigkeit eine Verpflichtung zum Bezug der Wohnung begründet werden kann. Das Problem spielt freilich dann keine Rolle, wenn die Nutzung der zugewiesenen Unterkunft ohnehin dem Willen des Betroffenen entspricht, ja von diesem sogar erstrebt wird, was beispielsweise bei der Zuweisung der bisher bewohnten Wohnung der Fall sein dürfte. Virulent wird die Frage nach einer impliziten Verpflichtung zum Bezug der Wohnung auch in Fällen unfreiwilliger Obdachlosigkeit aber dann, wenn die „Einweisung" in eine konkrete (oder in Räumungsfällen: andere) Wohnung dem Willen der Person widerspricht, etwa in dem in der Praxis nicht seltenen Fall, daß sie ihren Ansprüchen im Hinblick auf Lage, Größe oder Ausstattung nicht genügt. In einem solchen Fall kann liegt zwar mangels bewußter Selbstgefährdung keine freiwillige Obdachlosigkeit vor, dennoch läge in der Verpflichtung zum Bezug der konkreten Unterkunft, da dies nicht dem Willen des Betroffenen entspricht, ein Eingriff in dessen Rechte und damit eine belastende Wirkung. Bedeutung erlangt die Frage nach einer lediglich begünstigenden oder auch belastenden Wirkung dabei auch im Hinblick auf die unterschiedlich geregelten Voraussetzungen der Rücknahme begünstigender oder belastender Verwaltungsakte 391 sowie hinsichtlich der Frage der statthaften Klageart bzw. des statthaften Antrags im einstweiligen Rechtsschutz. Zudem erscheint es wichtig, zwei in der Diskussion über die vorliegende Problematik grundsätzlich vermengte Problemkreise auseinanderzuhalten. So vermag die Obdachlosen, Rdnr. 166; vgl. Wolf/Stephan, PolG BW, § 9, Rdnr. 10, nach dem diese Auffassung für die Praxis nicht unproblematisch sei. 387 Allgemeine Auffassung; vgl. zu diesem Problem bereits ausführlich oben 1. Teil, 2. Abschn., A, II, 2, c), bb). 388 Vgl. auch hierzu näher oben 1. Teil, 2. Abschn., A, II, 2, c), cc). 389 Vgl. dazu, daß die ZuweisungsVerfügung auch bei Annahme einer Verpflichtung zum Bezug der Wohnung nicht das Gebot enthält, sich auch nur für einen gewissen Zeitraum ununterbrochen in dieser aufzuhalten, unten 2. Teil, 2. Abschn., A, II, 1. Insofern könnte sie etwa nicht verhindern, daß der Betroffene sich weiterhin bewußt extremen Witterungsbedingungen aussetzt und insoweit sein Leben gefährdet. 390 Siehe hierzu bereits oben 1. Teil, 2. Abschn., II, 2, c), cc). 391 Vgl. insoweit §48 Abs. 1 und 2 LVwVfG einerseits und §49 Abs. 1 LVwVfG andererseits.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

häufig anzutreffende These, die „Einweisungsverfügung' 4 sei ein rein begünstigender Verwaltungsakt, weil eine Verfügung mit dem Inhalt der Verpflichtung zum Bezug der Wohnung rechtswidrig sei 392 , nicht zu überzeugen. Ob der Verwaltungsakt die Verpflichtung zum Bezug der Wohnung enthält oder nicht, ist zunächst eine Frage der Auslegung der Verfügung. Erst wenn die Auslegung eine derartige Verpflichtung ergibt, stellt sich die daran anschließende Frage, ob eine Verfügung mit diesem Inhalt zulässig ist.

I. Auslegung der Verfügung Welchen Inhalt ein Verwaltungsakt hat, ist grundsätzlich nach den Auslegungskriterien zu bestimmen, die auch für Willenserklärungen allgemein gelten; §§ 133, 157 BGB sind insoweit entsprechend anzuwenden. Maßgeblich ist dabei nicht der innere Wille des Bearbeiters, sondern der erklärte Wille, wie ihn der Adressat von seinem Standpunkt aus bei verständiger Würdigung des Falles verstehen konnte 393 . Betrachtet man unter Beachtung dieser Grundsätze beispielsweise das von Huttner veröffentlichte Muster einer „Einweisungsverfügung 394", nach dessen Tenor der Betroffene in den konkreten Wohnraum „eingewiesen" wird 395 , so ist unter Berücksichtigung der Tatsache, daß der Begriff der „Einweisung" im normalen Sprachgebrauch sonst im Zusammenhang mit der Verbringung psychisch Kranker in psychiatrische Kliniken verwendet wird, aus der Sicht eines objektiven Erklärungsempfängers tatsächlich eine Verpflichtung zum Bezug der zugewiesenen Wohnung durchaus naheliegend396. Dies muß jedenfalls dann gelten, wenn in der Begründung der Verfügung keine entsprechende Klarstellung erfolgt, daß eine Bezugsverpflichtung nicht entsteht397. Angesichts dieses Ergebnisses der Auslegung nach dem Emp392

So beispielsweise OVG Bremen, DÖV 1994,221,222: „Die Einweisung ist mit dem in der Verwaltungspraxis allgemein gebräuchlichen Begriffsinhalt eine Begünstigung, keine Einschränkung. Mehr kann die Obdachlosenbehörde [...] auch gar nicht verfügen"; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 17; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.58f. 393 Allgemeine Auffassung, vgl. z.B. BVerwGE 29, 310; 41, 305, 306; 49, 244; 60, 223; NJW 1978, 234; Kopp/Ramsauer, VwVfG, §35, Rdnr. 16; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 35, Rdnr. 38. 394 Siehe Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Anhang 1, S. 105. 395 Vgl. Ziff. 1 des Musters der „Einweisungsverfügung" (abgedruckt bei Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Anhang 1, S. 105): „Zur Beseitigung Ihrer Obdachlosigkeit werden Sie [...] eingewiesen". 396 Vgl. hierzu auch Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 89: „Durch die überdies nicht selten im Zusammenhang mit der Unterbringung von psychisch Kranken in geschlossenen psychiatrischen Kliniken verwandten Begriffe wie „Zwangseinweisung" bzw. „richterliche Einweisung" wird eher der Eindruck erweckt, der Obdachlose müsse sich nun permanent, quasi unter polizeilicher Aufsicht, in der benannten Wohnung aufhalten". Nach seiner Auffassung bestehen überdies erhebliche Zweifel im Hinblick auf das Bestimmtheitsgebot, wenn ohne nähere Darlegung der Obdachlose in den Wohnraum eingewiesen wird. 397 Vgl. dazu, daß für die Auslegung des verfügenden Teils auch die Begründung heranzuziehen ist: BVerwG, DVB1. 1990, 206; Stelkens, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 35, Rdnr. 38.

2. Abschn.: Die Zuweisungsverfügung

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fängerhorizont kann jedenfalls nicht mit dem OVG Bremen davon gesprochen werden, daß die „Einweisung" mit dem „in der Verwaltungspraxis allgemein gebräuchlichen Begriffsinhalt" eine reine Begünstigung sei 398 .

II. Rechtmäßigkeit einer Verpflichtung zum Bezug der Unterkunft Ergibt die Auslegung der Verfügung, daß diese die Verpflichtung enthält, den Wohnraum zu beziehen, so stellt sich die daran anschließende Frage, inwieweit ein Verwaltungsakt mit diesem Inhalt rechtmäßig ist.

1. „ Einweisungsverfügung " als Freiheitsentziehung oder Freiheitsbeschränkung i. S. d. Art. 104 GG? In der neueren Rechtsprechung und Literatur ist die Rechtmäßigkeit eines derartigen Verwaltungsakts überwiegend angezweifelt worden 399. Als Begründung wurde dabei insbesondere vorgebracht, bei dem Gebot der Wohnungsnutzung handele es sich um eine Freiheitsentziehung, welche gemäß Art. 104 Abs. 2 S. 1 GG einer - in diesen Fällen nicht vorliegenden - richterlichen Anordnung bedürfe 400. Die Annahme einer Freiheitsentziehung kann jedoch im Ergebnis nicht überzeugen. Eine Freiheitsentziehung i. S. d. Art. 104 Abs. 2 GG liegt nach allgemeiner Ansicht nur bei einem Festhalten auf eng umgrenztem Raum vor 401 , wobei teilweise im Hinblick auf die Ratio des Art. 104 GG noch eine gewisse Mindestdauer verlangt wird 402 . Inhalt der „Einweisungsverfügung" auch bei einer beinhalteten Verpflichtung zum Bezug und zur Nutzung der Wohnung ist es jedoch keinesfalls das Festhalten des Betroffenen in den Räumlichkeiten, sei es auch nur für einen begrenzten Zeitraum. Ebensowenig kann die Annahme einer Freiheitsbeschränkung im Sinne des Art. 104 Abs. 1 GG, zu welcher die polizeiliche Generalklausel aufgrund ihrer Unbestimmtheit nicht ermächtigen soll 403 , durchgreifen. Denn auch eine Freiheitsbeschränkung nach Art. 104 Abs. 1 GG, welche gleichbedeutend mit einem Eingriff in die von Art. 2 398

So OVG Bremen, DÖV 1994, 221, 222. Vgl. die in Fn. 386 Genannten. 400 So aber Greifeld, JuS 1982, 819, 820; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 58; eine Freiheitsentziehung ebenfalls ablehnend Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 88. 401 Vgl. z.B. BVerwGE 62, 325, 327f.; BGHZ 82, 261, 267; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 104, Rdnr.5; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 104, Rdnr.6; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/ Starck, GG, Art. 104, Rdnr. 19 m. w. Nachw.; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 104, Rdnr. 10; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 458. 402 So etwa Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 104, Rdnr. 10; Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 104, Rdnr.5. 403 So Greifeid, JuS 1982, 819,820; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 17; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 58. 399

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

Abs. 2 S. 2 GG geschützte Freiheit der Person ist 404 , erfordert einen unmittelbaren und zwanghaften Eingriff in die Freiheit, einen Ort aufzusuchen, sich dort aufzuhalten oder diesen jederzeit verlassen zu können405. In diese Freiheit wird aber auch bei einer eine Nutzungsverpflichtung statuierenden „Einweisungsverfügung" nicht eingegriffen. Vielmehr gebietet auch ein solcher Verwaltungsakt nach seinem Sinn und Zweck lediglich, den Lebensmittelpunkt in dem bezeichneten Wohnraum einzurichten und diesen entsprechend einer normalen Lebensführung zu nutzen406. Dabei steht es dem Betroffenen natürlich frei, die Wohnung nach Belieben zu jeder Tagesund Nachtzeit zu verlassen und wieder aufzusuchen, so daß von einem Eingriff in die Freiheit der Person nach Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG nicht die Rede sein kann. Insofern trifft auch das zur Stützung der Rechtswidrigkeitsthese von einigen Autoren herangezogene Urteil des BVerfG, in dem dieses § 73 Abs. 2 und 3 BSHG i. d. F. v. 30.6.1961407 für verfassungswidrig erklärte 408, nicht den Kern des Problems 409 . Hierin hatte das BVerfG klargestellt, daß die in den genannten sozialhilferechtlichen Regelungen vorgesehene zwangsweise Unterbringung in einer Anstalt oder einem Heim bei Personen, die aus Mangel an innerer Festigkeit ein geordnetes Leben in der Gemeinschaft nicht führen können, insofern einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Freiheit der Person gem. Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG darstelle, als weder eine strafbare Handlung noch eine empfindliche Störung der allgemeinen Ordnung vorliege 410. Der Staat habe aber nicht das Recht, Bürgern die Freiheit zu beschränken, nur um sie zu „bessern", ohne daß sie sich selbst oder andere gefährdeten 411. Nach Ansicht der genannten Autoren dürfe die Erklärung der Verfassungswidrigkeit der sozialhilferechtlichen Vorschriften nicht durch einen Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel desavouiert werden 412. Die in § 73 Abs. 2 und 3 BSHG i. d. F. v. 30.6.1961 vorgesehene zwangsweise Unterbringung in einer Anstalt oder einem Heim, die auch bei einem offenen Heim aufgrund gewisser Anwesenheitspflichten grundsätzlich einen Eingriff in die von Art. 2 Abs. 2 S. 2 GG geschützte Freiheit darstellt 413, ist aber mit einer „Einweisungsverfügung" in eine Wohnung selbst unter Zugrundelegung einer Nutzungsverpflich404

Vgl. Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 104, Rdnr. 2. Vgl. Degenhart, in: Sachs, GG, Art. 104, Rdnr. 4; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 2, Rdnr. 74 u. Art. 11, Rdnr. 28; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 II, Rdnr. 63. 406 Ähnlich auch Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 88. 407 Vgl. BGB1.I, S. 815. 408 Siehe BVerfGE 22, 180 ff. 409 Dieses Urteil ziehen Greifeid, JuS 1982, 819, 820; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 17 sowie Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 58 heran. 410 Vgl. im einzelnen BVerfGE 22, 180, 218 ff. 411 Vgl. BVerfGE 22, 180, 219 f. 412 Vgl. Greifeid, JuS 1982, 819, 820; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.58. 413 Vgl. BVerfGE 22, 180, 218 f.; so auch Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 2 II, Rdnr. 63; Starck, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 2 Abs. 2, Rdnr. 180. 405

2. Abschn.: Die Zuweisungsverfügung

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tung nicht gleichzusetzen. Wie bereits oben dargelegt, statuiert die Einweisungsverfügung im Gegensatz zu einer zwangsweisen Unterbringung in einem Heim keinerlei Pflichten, sich zu bestimmten Tages- oder Nachtzeiten in der zur Verfügung gestellten Wohnung aufzuhalten, sondern lediglich, den Lebensmittelpunkt im Sinne einer normalen Lebensführung dort einzurichten. Eine Freiheitsbeschränkung ist damit jedoch nicht verbunden. 2. „ Einweisungsverfügung " und Freizügigkeit i. S. d. Art. 11 Abs. 1 GG Die Rechtswidrigkeit eines Verwaltungsakts mit dem Inhalt einer Verpflichtung zum Bezug einer Wohnung ergibt sich aber aus einem bisher nicht näher untersuchten anderen Gesichtspunkt: eine derartige Verfügung stellt - wie im folgenden näher darzulegen sein wird - eine Verletzung des Grundrechts auf Freizügigkeit gem. Art. 11 Abs.IGG dar. a) Eingriff in den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG Der Begriff der Freizügigkeit wird zwar im Grundgesetz nicht näher definiert, erschließt sich jedoch historisch 414. Art. 11 Abs. 1 GG schützt dabei nach allgemeiner Ansicht das Recht, an jedem Ort innerhalb des Bundesgebiets Wohnsitz und Aufenthalt zu nehmen415. Wohnsitz wird dabei gem. § 7 BGB als ständige Niederlassung an einem Ort definiert, wobei die ständige Niederlassung als Aufenthaltsnahme mit dem rechtsgeschäftlichen Willen, den Ort zum Mittelpunkt oder Schwerpunkt seiner Lebensverhältnisse zu machen, verstanden wird 416 . Umstritten ist der Begriff des geschützten Aufenthalts. Während teilweise jegliche Einschränkung dieses Begriffs abgelehnt wird 417 , wird von einigen Autoren eine gewisse Dauer im Sinne eines mehr als flüchtigen Aufenthalts 418 oder gar einer Übernachtung 419 gefordert. Mitunter wird auch eine „besondere Bedeutung" im Hinblick auf die Persönlichkeitsrelevanz des Art. 11 GG verlangt 420. Art. 11 Abs. 1 GG gewährleistet da414 Zur Bedeutung der historischen Auslegung im Rahmen des Art. 11 GG ausführlich Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, S. 453 ff. 4,5 BVerfGE 2, 266, 273; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 11, Rdnr. 25; Hailbronner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI., § 131, Rdnr. 22; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 11, Rdnr. 11; Randelzhof er, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 11, Rdnr. 19 ff. 416 Siehe z. B. Krüger, in: Sachs, GG, Art. 11, Rdnr. 15. 417 So Pernice, in: Dreier, GG, Art. 11, Rdnr. 14. 418 Vgl. Hailbronner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI., §131, Rdnr. 22. 419 So Merten, Der Inhalt des Freizügigkeitsrechts, S. 52; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 11, Rdnr. 2. 420 BVerwGE 3, 308, 312; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 11, Rdnr. 13; Randelzhof er, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 11, Rdnr. 28 ff.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungserfügung

bei das Recht des freien Zuges unabhängig von der Verfolgung eines bestimmten Zwecks 421 . Während das BVerwG in einer älteren Entscheidung noch vertreten hatte, daß Art. 11 Abs. 1 GG ein „finales' 4 Grundrecht sei und somit nicht das Umherziehen als solches schütze, sondern das Bestreben erfordere, zu einem neuen dauernden Lebensmittelpunkt zu gelangen und aus diesem Grund einem Landstreicher „unter Umständen" die Berufung auf Art. 11 GG versagen wollte 422 , ist diese Auslegung zu Recht überwiegend abgelehnt worden 423 . Die darin hervortretende Beschränkung des Grundrechtsschutzes auf Lebensvorgänge, die mit „wertvollen Verhaltensweisen" verknüpft sind, enge den Begriff der Freizügigkeit zu sehr ein und sei dem grundrechtlichen Schutzkonzept fremd 424 . Anerkanntermaßen schützt Art. 11 Abs. 1 GG auch das Recht, einen anderen Ort nicht aufsuchen zu müssen bzw. dort einen Wohnsitz begründen zu müssen bzw., umgekehrt formuliert, den Aufenthalt bzw. Wohnsitz beizubehalten. Ob dies mit der herrschenden Meinung aus der sog. „negativen Freizügigkeit" folgt 425 oder insofern nur integraler Bestandteil der positiven Freizügigkeit ist, als das Recht, einen Aufenthalt oder Wohnsitz zu begründen, gleichzeitig das Recht impliziert, diesen zu perpetuieren 426, ist für die vorliegende Untersuchung unerheblich und kann daher unerörtert bleiben. Vor diesem Hintergrund stellt die Verpflichtung, eine konkrete Unterkunft zu beziehen und dort - wenn auch nur vorübergehend - einen Wohnsitz zu begründen, einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG dar 427 . Dem steht nicht ent421

So die heute fast einhellige Meinung, vgl. Dolderer, NVwZ 2001, 130, 132f., Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 11, Rdnr. 36; Hailbronner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI., § 131, Rdnr. 29; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 11, Rdnr. 14; Randelzhofer, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 11, Rdnr. 22; a. A. Lepa, Der Inhalt der Grundrechte, Art. 11, Rdnr. 1. 422 Vgl. BVerwGE 3, 308, 312. 423 Vgl. dazu daß Art. 11 GG auch dem Obdachlosen zur Verfügung steht: VGH Mannheim, FEVS 32, 377, 380; FEVS 33, 426, 427; Dolderer, NVwZ 2001, 130, 132f.; Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 11, Rdnr. 36; Randelzhofer, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 11, Rdnr. 22. Doch auch, wenn man dem nicht folgen wollte, liegt in den Fällen, in denen ein Wohnsitz gar nicht erstrebt wird und das Umherziehen der Selbstzweck ist, in der Regel zumindest eine durch Art. 2 Abs. 1 GG geschützte freiwillige Selbstgefährdung vor, bei der mangels öffentlichem Interesse ohnehin eine polizeiliche „Wohnungseinweisung" rechtswidrig wäre. 424 Vgl. Dolderer, NVwZ 2001, 130, 132; Dürig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 11, Rdnr. 37. 425 Vgl. Dürig, in Maunz/Dürig, GG, Art. 11, Rdnr. 39; Pernice, in: Dreier, GG, Art. 11, Rdnr. 12; Randelzhofer, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 11, Rdnr. 55 ff. 426 So Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 11, Rdnr. 34; Hellermann, Die sogenannte negative Seite der Freiheitsrechte, S. 176; Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, S.480. 427 So explizit Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, S. 542: „Klassische Eingriffe in das Grundrecht auf Freizügigkeit sind mithin auch [...] die Einweisung Obdachloser in eine Wohnung"; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 11, Rdnr. 18: „Eine Zwangseinweisung in eine Wohnung greift daher in Art. 111 ein"; implizit auch Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, §7 MEPolG, Rdnr. 33; im Hinblick auf die Wohnungszuweisung in einer anderen Gemeinde auch Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 11, Rdnr. 39: „Nicht einmal der durch Räu-

2. Abschn.: Die Zuweisungsverfügung

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gegen, daß es dem Obdachlosen selbstverständlich auch nach Erlaß des Verwaltungsakts unbenommen bleibt, sich selbst einen anderweitigen Wohnraum zu beschaffen 428 . Denn die Verfügung über einen anderweitigen Wohnraum führt lediglich zum Wegfall der polizeilichen Gefahr und damit zur nachträglichen Rechtswidrigkeit des Verwaltungsakts, ändert aber nichts an dessen Wirksamkeit 4 2 9 . Der Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG ist auch dann aktiviert, wenn - wie dies in der Praxis der Fall ist - die „Einweisungsverfügung" eine Unterkunft in derselben Ortschaft, in welcher der Obdachlose auch bisher gewohnt hat bzw. sich gerade aufhält, betrifft 4 3 0 . Anders als nach historischem Verständnis 431 und entgegen früher teilweise vertretener Auffassung 4 3 2 schützt Art. 11 GG nicht nur den freien Zug von Bundesland zu Bundesland (interföderale Freizügigkeit) und von Gemeinde zu Gemeinde (interkommunale Freizügigkeit), sondern auch solche innerhalb der Gemeinde (interlokale Freizügigkeit) 4 3 3 . In der Tat wäre es angesichts teilweise großflächiger Gemeinden geradezu willkürlich, den Schutz des Art. 11 Abs. 1 GG von kommunalen Grenzen abhängig zu machen, da die Tatsache, ob der Zug eine Grenze schneidet, vom Zufall abhängt und nichts über die Schutzwürdigkeit des betreffenden Verhaltens aussagt 434 . Erfaßt aber der Schutzbereich auch den freien Zug inmungsurteil obdachlos und zum , Störer' Gewordene braucht zu dulden, daß man ihn durch Wohnungszwangseinweisung in eine andere Ortschaft ,verschubt"'; Randelzhofer, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 11, Rdnr. 57: „So darf ein durch Räumungsurteil obdachlos gewordener Bürger nicht etwa durch Wohnungszuweisung in eine andere Ortschaft gezwungen werden"; Gössl, BWGZ 1984, 326, 329; vgl. auch Kunig, Jura 1990, 306, 310, der im Hinblick auf das Gesetz zur Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Aussiedler und Übersiedler v. 6.7.1989 (BGBl. I, S. 1378) einen Eingriff in Art. 11 Abs. 1 GG annimmt; a. A. BVerwG, Buchholz 11, Art. 11 GG Nr. 7. 428 A. A. insoweit BVerwG, Buchholz 11, Art. 11 GG Nr. 7. 429 Vgl. auch Kunig, Jura 1990,306,310, der hinsichtlich des Gesetzes zur Festlegung eines vorläufigen Wohnortes für Aussiedler und Übersiedler (s. Fn. 427), wonach eine Festlegung des Wohnsitzes auch nur dann in Betracht kommt, wenn die betreffende Person nicht schon über anderweitigen Wohnraum verfügt, ebenfalls einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG bejaht. 430 A. A. - allerdings ausgehend von dem Standpunkt, daß Art. 11 GG die interlokale Freizügigkeit nicht schütze - Gössl, BWGZ 1984, 326, 329; inkonsequent insoweit Randelzhofer, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 11, Rdnr. 57, der zwar von der Erfassung der interlokalen Freizügigkeit ausgeht, jedoch nur die Einweisung in eine Wohnung in einer anderen Gemeinde als Eingriff in Art. 11 GG ansieht. 431 In der Vergangenheit war die interlokale Freizügigkeit nicht von den Freizügigkeitsgarantien umfaßt, vgl. ausführlich Merten, Der Inhalt des Freizügigkeitsrechts, S. 31 f. 432 So Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 11, Rdnr. 23. 433 So die nunmehr h.M.; vgl. Grämlich, DVB1. 1985, 425, 429f.; Gusy, in: v.Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Art. 11, Rdnr. 26; Hailbronner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI., § 131, Rdnr. 27; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 11, Rdnr. 3; Krüger, in: Sachs, GG, Art. 11, Rdnr. 17; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 11, Rdnr. 12; Merten, Der Inhalt des Freizügigkeitsrechts, S. 32ff.; Mußmann, VB1BW 1986, 52, 57; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 857; Randelzhofer, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 11, Rdnr. 41 ff.; Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, S.479 m. w. Nachw. in Fn. 286. 434 Vgl. Kunig, in: v.Münch/Kunig, GG, Art. 11, Rdnr. 12; ähnlich Gusy, in v.Mangoldt/ Klein/Starck, GG, Art. 11, Rdnr. 26; siehe auch Merten, Der Inhalt des Freizügigkeitsrechts,

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

nerhalb einer Gemeinde, so ist konsequenterweise auch das Recht, seinen Aufenthalt innerhalb einer Ortschaft beizubehalten bzw. einen bestimmten Wohnsitz innerhalb einer Gemeinde nicht zu begründen, geschützt435. b) Verfassungsrechtliche Rechtfertigung Bejaht man einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 11 Abs. 1 GG, so stellt sich die Frage nach dessen verfassungsrechtlicher Rechtfertigung. Hier ergeben sich mehrere Probleme. aa) Gesetzgebungskompetenz der Länder Fraglich ist insoweit bereits, ob die Länder als Gesetzgeber des Gefahrenabwehrrechts überhaupt die Kompetenz haben, eine die Freizügigkeit beschränkende Regelung zu erlassen. Während dies teilweise unter Berufung auf die eine ausschließliche Gesetzgebungskompetenz des Bundes statuierende Regelung des Art. 73 Nr. 3 GG abgelehnt wird 4 3 6 , werden von der h. M. im Bereich des Polizei- und Ordnungsrechts auch landesgesetzliche Eingriffe für zulässig erachtet 437. Für diese Ansicht spricht, daß das Recht der Gefahrenabwehr traditionell auch die Freizügigkeit tangiert und der historischen Auslegung im Rahmen des Art. 73 Nr. 3 GG eine besondere Bedeutung zukommt 438 . Dafür, daß Art. 73 Nr. 3 GG als abschließende, sonderpolizeiliche Regelungskompetenz des Bundes zu begreifen ist, die alle anderen freizügigkeitsbeschränkenden Regelungen ausschließt, ergeben sich angesichts der Tatsache, daß der Bund auch aufgrund anderer Kompetenztitel als der des Art. 73 Nr. 3 GG freizügigkeitsbezogene Regelungen erlassen darf, keinerlei Anhaltspunkte439.

S. 32ff., der von einer teleologischen Neubesinnung aufgrund gewandelter Verhältnisse ausgeht. 435 Inkonsequent daher Randelzhofer, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 11, Rdnr. 57. 436 Vgl. Mußmann, VB1BW 1986,52,57; Rasch, DVB1. 1987,194,196f.; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, §7 MEPolG, Rdnr. 33; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), 5. Aufl., Rdnr. 93; Schollerl Schioer, Polizei- und Ordnungsrecht, §9, IV, 3, S.233. 437 So Alberts, NVwZ 1997, 45, 47; Hailbronner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI., § 131, Rdnr. 46; Hetzer, JR 2000, 1, 8; Pieroth, JuS 1985, 81, 86; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 871; Randelzhofer, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 11, Rdnr. 142; Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, S. 561 m. w. Nachw.; Schenke, Polizeiund Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.) 6. Aufl., Rdnr. 93; einschränkend auch DrewslWackel Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 18, 2, f), S.278. 438 Vgl. hierzu Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, S.561 f.; so auch Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), 6. Aufl., Rdnr. 93. 439 Vgl. Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 11, Rdnr. 52, Fn. 309.

2. Abschn.: Die Zuweisungsverfügung

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bb) Zitiergebot gem. Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG Problematisch ist neben der Gesetzgebungskompetenz im Hinblick auf das Grundrecht der Freizügigkeit auch die Beachtung des Zitiergebots gemäß Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG als allgemeine verfassungsrechtliche Anforderung an grundrechtseinschränkende Normen. So enthalten nicht alle Landespolizeigesetze einen Hinweis auf eine Einschränkung des Art. 11 GG 440 . Zwar wird teilweise unter Berufung auf die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts 441 auch bei fehlender Einhaltung des Zitiergebots eine Einschränkung des Art. 11 Abs. 1 GG für zulässig erachtet, da die polizeilichen Generalklauseln lediglich „Eingriffsmöglichkeiten eröffnen, die auch nach vorkonstitutionellem Recht bereits zulässig waren 442 ". Dies erscheint insoweit äußerst fragwürdig, als - worauf Gusy zutreffend hinweist 443 - die Neufassung der Länderpolizeigesetze seit den siebziger Jahren das Recht der Polizeibefugnisse wesentlichen Änderungen unterzogen hat, womit sich auch der Anwendungsbereich der Generalklausel, partiell sogar dessen Formulierung verändert hat. Dabei sind auch die Zitierklauseln der einzelnen Länder neu und von Land zu Land unterschiedlich gefaßt worden. Vor diesem Hintergrund begründen nur solche Länderpolizeigesetze das Recht zu freizügigkeitsbeschränkenden Maßnahmen, die einen Hinweis auf eine Einschränkung des Art. 11 GG enthalten444.

cc) Qualifizierter

Gesetzesvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 GG

Doch auch wenn man die grundsätzliche Länderkompetenz zur Einschränkung des Art. 11 Abs. 1 GG bejaht und das entsprechende Landespolizeigesetz - wie das bwPolG - das Zitiergebot des Art. 19 Abs. 1 S. 2 GG beachtet, ist der hier diskutierte Eingriff einer zum Bezug der Wohnung verpflichtenden „Einweisungsverfügung" auf der Grundlage der polizeirechtlichen Generalklausel vom qualifizierten Gesetzes vorbehält des Art. 11 Abs. 2 GG nicht gedeckt445. 440 Einen Hinweis auf Art. 11 GG enthalten § 4 bwPolG, § 9 bremPolG; § 10 hessSOG; § 11 Nr. 3 sachsanhSOG; §78 mvSOG; § 10 ndsGefAG, §227 shLVwG. 441 Vgl. BVerfGE 5, 13, 16; 15,288, 293; 16, 194, 199f.; 35, 185, 189; 61, 82, 113. 442 So z.B. BayVerfGH, NVwZ 1991, 664, 666; Hailbronner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI., § 131, Rdnr.48; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 11, Rdnr. 20; Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, S. 563. 443 Vgl. Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 11, Rdnr. 54; einschränkend auch Hetzer,, JR 2000, 1, 9. 444 Vgl. Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 11, Rdnr. 54; im Ergebnis wohl auch Pernice, in: Dreier, GG, Art. 11, Rdnr. 22; Riegel, BayVBl. 1980, 577, 579. 445 Eine Gefahr für die öffentliche Ordnung, wie sie teilweise noch angenommen wird (siehe hierzu näher oben 1. Teil, 2. Abschn., A, I), erfüllt dabei in keinem Fall die Vorgaben des qualifizierten Gesetzesvorbehalts (vgl. auch Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner [Hrsg.], Rdnr. 93), so daß die auf dieses Schutzgut gestützte, zum Bezug eines Wohnraums verpflichtende „Einweisungsverfügung" gegen Art. 11 Abs. 1 GG verstößt.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

Die hier in Betracht kommende 1. Alternative des Art. 11 Abs. 2 GG, die eine Einschränkung der Freizügigkeit in Fällen, in denen eine ausreichende Lebensgrundlage nicht vorhanden ist und der Allgemeinheit hieraus besondere Lasten entstehen würden, vorsieht, erfaßt die Fälle der verpflichtenden Einweisung eines Obdachlosen in eine Unterkunft nicht. Hierbei ist schon die Voraussetzung der fehlenden ausreichenden Lebensgrundlage zwar sicherlich häufig, aber jedenfalls nicht notwendigerweise in den Obdachlosenfällen erfüllt. Entgegen teilweise vertretener Auffassung 446 ist mit der fehlenden ausreichenden Lebensgrundlage nicht das Fehlen von Wohnraum, sondern ausschließlich eine finanzielle Not gemeint447. Sie liegt mit der Rechtsprechung dann vor, wenn der Betroffene im Sinne des Sozialhilferechts auf Dauer hilfsbedürftig wäre 448 . Würde man das Vorhandensein von Wohnraum als Bestandteil der Lebensgrundlage ansehen, so hieße dies, die Wohnraumverschaffung als Bedingung der Freizügigkeit anzusehen, während umgekehrt die Freizügigkeit Voraussetzung der Wohnraumverschaffung sein sollte 449 . Dies führte letztlich zur vollständigen Konterkarierung des Art. 11 Abs. 1 GG 4 5 0 . Zudem spricht gegen eine Auslegung im Sinne eines Wohnungsmangels die Existenz des Art. 117 Abs. 2 GG, wonach Gesetze, welche das Recht auf Freizügigkeit mit Rücksicht auf „die gegenwärtige 451 Raumnot'4 einschränkten, in Kraft blieben. Der Verfassungsgesetzgeber ging also offensichtlich davon aus, daß bloßer Wohnraummangel nicht vom Gesetzesvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 GG erfaßt war, anderenfalls wäre die Vorschrift des Art. 117 Abs. 2 GG von Anfang an überflüssig gewesen452. Ist somit mit fehlender ausreichender Lebensgrundlage nur die dauernde Hilfsbedürftigkeit im Sinne des Sozialhilferechts gemeint, so trifft dies zwar auf viele, jedoch nicht auf alle Fälle der Obdachlosigkeit zu. Jedenfalls ist die zweite, kumulativ zu erfüllende Voraussetzung des Schrankenvorbehalts in den vorliegenden Fällen nicht gegeben. Erforderlich ist nämlich weiter, daß der Allgemeinheit bei ungehinderter Grundrechtsausübung „daraus", d. h. 446

Vgl. Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 11, Rdnr. 56. Vgl. BVerwGE 5, 31, 36; Krüger, in: Sachs, GG, Art. 11, Rdnr. 24; Kunig, in: v.Münch/ Kunig, Art. 11, Rdnr. 22; Kunig, Jura 1990, 306, 312; Pernice, in: Dreier, GG, Art. 11, Rdnr. 23; Pieroth, JuS 1985, 81, 86; Randelzhofer, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 11, Rdnr. 151 ff.; Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, S.565. 448 BVerwGE 3, 135, 138. 449 Vgl. zutreffend Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, S.565; Pieroth, JuS 1985, 81, 86; Randelzhofer, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 11, Rdnr. 147; a. A. insoweit Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 11, Rdnr. 56; vgl. auch Bay VerfGH, NJW 1951, 734, 735: wer sich auf Freizügigkeit berufen wolle, der müsse dartun, daß er sich in dem Ort, in dem er sich niederzulassen beabsichtige, eine Wohnung verschaffen könne. 450 Randelzhofer, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 11, Rdnr. 147. 451 D. h. zur Zeit des Inkrafttretens des GG. 452 So auch BVerwGE 5, 31, 36; Hailbronner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI., § 131, Rdnr. 51; Kunig, in: v. Münch/Kunig, Art. 11, Rdnr. 22; Pieroth, JuS 1985,81,86; Randelzhofer, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 11, Rdnr. 147; Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, S.565. 447

2. Abschn.: Die Zuweisungsverfügung

177

aus der fehlenden Lebensgrundlage, besondere Lasten entstehen würden. Im Hinblick auf das Sozialstaatsprinzip ist dieses Merkmal dabei sehr eng auszulegen453 und ergibt sich nicht allein aus der finanziellen Belastung der öffentlichen Haushalte; die prinzipielle Pflicht der öffentlichen Hand zur Erbringung von Sozialleistungen ist auf der Grundlage der Sozialstaatsentscheidung keine „besondere Last 454 ". Eine solche kann lediglich bei gesamtgesellschaftlichen Verschiebungen, z. B. Massenemigrationen bzw. umfangreichen Flüchtlings- und Aussiedlerströmen angenommen werden 455. Auch im Hinblick auf die Ratio des Gesetzesvorbehalts kann eine verpflichtende Einweisung nicht von diesem als gedeckt angesehen werden. Sinn der Sozialklausel des Art. 11 Abs. 2 1. Alt. GG ist - sie ist insoweit im historischen Kontext der Flüchtlingsströme der Nachkriegszeit zu sehen - die mit einer ungehinderten Zuwanderung verbundene einseitige Belastung bestimmter Regionen zu verhindern, also in Zeiten von Massenwanderungen den Zuzugsstrom angemessen zu steuern und daher eine Lastenverteilung herbeizuführen. Auch vor diesem Hintergrund kann die zum Zwecke des Schutzes von individuellen Rechtsgütern des Obdachlosen erfolgende verpflichtende Einweisung in eine Wohnung nicht als vom Gesetzesvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 1. Alt. GG erfaßt angesehen werden. Zu erwägen ist allenfalls, ob in dem Ausnahmefall, in dem Eltern mit ihren Kindern freiwillig unter freiem Himmel leben und die Eltern sich dadurch der Straftat der vorsätzlichen oder fahrlässigen Körperverletzung gegenüber ihren Kindern schuldig zu machen drohen, eine verpflichtende polizeiliche Wohnungseinweisung vom Kriminalvorbehalt des Art. 11 Abs. 2 5. Alt. GG gedeckt wäre. Da hierin jedoch gleichzeitig eine mißbräuchliche Ausübung der elterlichen Sorge i. S. d. § 1666 Abs. 1 BGB liegt, welche das Kindeswohl gefährdet, ist das Familiengericht verpflichtet, die zur Abwendung der Gefahr erforderlichen Maßnahmen zu ergreifen. So wird das Familiengericht, bei Gefahr im Verzug auch das Jugendamt in der Regel in einem solchen Fall eine Inobhutnahme des Kindes bzw. des Jugendlichen, d. h. die vorläufige Unterbringung bei einer geeigneten Person, in einer Einrichtung oder in einer sonstigen betreuten Wohnform gem. §§ 42, 43 SGB VIII anordnen; das Jugendamt ist dann, wenn wie hier eine dringende Gefahr für das Wohl des Kindes die Inobhutnahme erfordert, sogar zu ihrer Anordnung verpflichtet (vgl. § 42 Abs. 3 SGB VIII). Im übrigen wäre in einem solchen Fall sogar fraglich, ob die verpflichtende Wohnungseinweisung eine zur Abwendung der Gefahr geeignete und damit 453

So auch Alberts, NVwZ 1997, 45, 47. Vgl. ausführlich Därig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 11, Rdnr. 60: er spricht insoweit von der derogierenden Wirkung des Sozialstaatsprinzips; Gusy, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 11, Rdnr. 57; vgl. auch Kunig, Jura 1990, 306, 312; Randelzhofer, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 11, Rdnr. 151. 455 So Därig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 11, Rdnr. 60; Hailbronner, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. VI., § 131, Rdnr. 53; Krüger, in: Sachs, GG, Art. 11, Rdnr. 24; Randelzhofer, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 11, Rdnr. 153; Ziekow, Über Freizügigkeit und Aufenthalt, S.566. 454

12 Reitzig

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

rechtmäßige Maßnahme ist. Denn berücksichtigt man, daß die Verfügung auch bei Annahme einer Verpflichtung zur Nutzung keine Anwesenheitspflichten in den Räumlichkeiten statuiert 4 5 6 , so kann sie letztlich nicht verhindern, daß die Eltern sich weiterhin mit den Kindern i m Freien aufhalten und die Gesundheit der Kinder gefährden 457 . I m Ergebnis bleibt somit festzuhalten, daß ein Verwaltungsakt mit dem Inhalt der Verpflichtung des Bezugs und der Nutzung des zur Verfügung gestellten Wohnraums wegen Verstoßes gegen Art. 11 Abs. 1 GG rechtswidrig ist 4 5 8 .

III. Terminologische Konsequenzen Ist somit geklärt, daß nach hier vertretener Auffassung eine an den Obdachlosen gerichtete Verfügung mit dem Inhalt der Verpflichtung des Bezugs und der Nutzung des Wohnraums unzulässig ist, erscheinen auch terminologische Konsequenzen angezeigt. So ist - ursprünglich ausgehend von einer belastenden Wirkung - der an den Obdachlosen adressierte Verwaltungsakt seit jeher als „Einweisung" bzw. „Einweisungsverfügung" bezeichnet worden. Doch selbst diejenigen neueren Stimmen, die ausschließlich von einer begünstigenden Wirkung des Verwaltungsakts ausgehen, haben diese Begrifflichkeit beibehalten 459 . Angesichts der Tatsache, daß nach gängigem Sprachgebrauch der Begriff der „Einweisung" - auch aufgrund der Assoziation mit der Einweisung psychisch Kranker in eine K l i n i k - eine Verpflichtung 456

Vgl. bereits näher oben 2. Teil, 2. Abschn., A, II, 1. Demgemäß erscheint auch hier eine polizeiliche Ingewahrsamnahme des Kindes nach §28 bwPolG (§ 13 MEPolG) als die geeignete Maßnahme. 458 So andeutungsweise auch OVG Bremen, DÖV 1994,221,222: „Sie [gemeint ist die Obdachlosenbehörde] muß dem Obdachlosen eine Unterkunft gewähren, kann ihn aber nicht zu der tatsächlichen Inanspruchnahme einer bestimmten Unterkunft verpflichten und seine Freizügigkeit einschränken"; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 7 MEPolG, Rdnr. 33. Wollte man dem nicht folgen und entweder einen Eingriff in den Schutzbereich des Art. 11 GG verneinen oder eine verfassungsrechtliche Rechtfertigung annehmen, so wäre eine Verpflichtung zum Bezug einer Wohnung dennoch aufgrund eines Verstoßes gegen den subsidiär eingreifenden Art. 2 Abs. 1 GG rechtswidrig. Auch wenn im Fall einer unfreiwilligen Obdachlosigkeit keine bewußte Selbstgefährdung vorliegt, so ist die Verpflichtung zum Bezug einer Wohnung gegen den Willen des Betroffenen auch hier ein Eingriff in die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG. Eine Rechtfertigung für einen solchen Eingriff läge aber auch hier mangels öffentlichem Interesse nicht vor. Ein solches besteht nämlich so lange nicht, wie keine Rechtsgüter anderer betroffen sind oder eine überwiegende Schutzpflicht des Staates besteht, welche jedoch nur bei einer akuten Lebensgefährdung angenommen werden kann (siehe hierzu bereits oben 1. Teil, 2. Abschn., A, II, 2, c), cc). Da ein sonstiges öffentliches Interesse bei einer ausschließlichen Gefährdung von Individualinteressen nicht ersichtlich ist, läge somit zumindest ein verfassungswidriger Eingriff in das Grundrecht aus Art. 2 Abs. 1 GG vor. 459 Vgl. z.B. OVG Bremen, DÖV 1994, 221, 222; VGH Mannheim, NVwZ-RR 1995, 326, 327; DVB1. 1996,567; Erichsen/Biermann, Jura 1998,371,374; Greifeid, JuS 1982, 819, 820; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 17; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 57 ff.; Reichertl RuderIFröhler, Polizeirecht, Rdnr. 324; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 166. 457

2. Abschn.: Die Zuweisungsverfügung

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und damit einen belastenden Inhalt indiziert, sollte diese Terminologie, um Mißverständnissen vorzubeugen, jedoch aufgegeben werden. Stattdessen sollte nur noch von einer „Zuweisung" oder „(Wohnungs-)Zuweisungsverfügung" gesprochen werden, um zu verdeutlichen, daß mit der Verfügung lediglich Wohnraum zur Verfügung gestellt und ein Nutzungsrecht diesbezüglich begründet wird, jedoch keine Verpflichtung zum Bezug respektive zur Nutzung des angebotenen Wohnraums entsteht. Dementsprechend sollte, um eine (Teil-)Rechtswidrigkeit des Bescheids zu vermeiden, im Tenor des Bescheids verfügt werden, daß der betroffenen Person eine bestimmte Unterkunft zugewiesen wird.

IV. Ermächtigungsgrundlage Fraglich ist schließlich, ob die Polizei somit für die Zuweisung von Wohnraum neben der Aufgabenzuweisungnorm noch einer besonderen Ermächtigungsgrundlage bedarf. Üblicherweise wird als Rechtsgrundlage für den an den Obdachlosen adressierten Verwaltungsakt die polizeiliche Generalklausel (vgl. §§1,3 bwPolG, §§1,8 MEPolG) angesehen460. Indes bedarf es der Heranziehung der Generalklausel als Befugnisnorm nur dann, wenn es sich um eine in die Rechtssphäre des einzelnen eingreifende Maßnahme handelt461. Für Maßnahmen ohne Eingriffscharakter ist hingegen die Aufgabenzuweisungsnorm ausreichende Rechtsgrundlage462. Qualifiziert man demgemäß die Zuweisungsverfügung als rein begünstigende Maßnahme, welche dem Betroffenen lediglich ein Nutzungsrecht an dem zur Verfügung gestellten Wohnraum einräumt, ihn aber nicht verpflichtet, den Wohnraum auch zu beziehen und zu nutzen, so ist mangels Eingriffscharakters die Aufgabenzuweisungsnorm zur Stützung der Maßnahme ausreichend 463.

B. Wohnungszuweisung und Opportunitätsprinzip Ist mit der unmittelbar drohenden bzw. bereits eingetretenen Obdachlosigkeit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit gegeben, so folgt daraus, daß die zuständige Polizeibehörde zum Handeln berechtigt ist. Aus dieser Ermächtigung folgt je460 V g l e t w a Eckstein, VB1BW 1994,306; Kichert, BWVPr. 1983,211,212; Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130f.; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.57; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 735; Spannowsky, BWVPr. 1991, 197, 199; Trockels, BWVPr. 1989, 145; Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 8. 461 Vgl. ErichsenlBiermann, Jura 1998, 371, 374; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr.77; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 171 ff.; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 20; Würtenberger, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Achterberg/Püttner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Rdnr. 57. 462 Vgl. Erichsen/Biermann, Jura 1998,371, 374; Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 164ff.; Knemeyer, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr.77; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, §2 MEPolG, Rdnr. 1. 463 Ebenso auch Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 374.

12*

180

2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

doch nicht zwangsläufig eine Pflicht zum Einschreiten. Vielmehr ist für das der Gefahrenabwehr dienende Handeln der Behörden das sog. Opportunitätsprinzip maßgebend464. Das der Polizei eingeräumte Ermessen ist dabei zweistufig. Es bezieht sich grundsätzlich sowohl auf die Frage des „Ob" des Einschreitens (sog. Entschließungsermessen) als auch auf jene nach dem „Wie" des Handelns (sog. Auswahlermessen)465.

I. Das Entschließungsermessen 1. Objektivrechtliche

Pflicht zum Einschreiten

Grundsätzlich besteht mit der Bejahung einer Gefahr für ein polizeiliches Schutzgut nach h. M. ein Entschließungsermessen der Polizei; d. h. es steht in ihrem pflichtgemäßem Ermessen, ob sie einschreiten will oder nicht 466 . Jedoch kann der Ermessensspielraum der Verwaltung im Einzelfall derart verengt sein, daß nur noch eine Entscheidung rechtmäßig ist und demgemäß eine objektivrechtliche Pflicht zum Einschreiten besteht; man spricht insofern von einer Ermessensreduzierung oder Ermessensschrumpfung auf Null 4 6 7 . Eine derartige Ermessensreduzierung wird nach überwiegender Ansicht dann angenommen, wenn eine Gefahr oder Störung für die öffentliche Sicherheit sich als besonders schädlich erweist und daher die Grenzen der von der Polizei noch tolerierbaren Schädlichkeit überschreitet (sog. Schädlichkeitsgrenze)468. Umstritten ist indes, wann diese Schädlichkeitsgrenze überschritten ist. Nach der Auffassung von Jellinek sollte dies dann zutreffen, wenn „die Polizei nach gesellschaftlichen Anschauungen einschreiten muß 469 ". Zwar vermag diese Formel einen Gesichtspunkt bei der Entscheidung über das Bestehen einer Handlungsverpflichtung beizusteuern; ein taugliches Ab464

Vgl. hierzu näher DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, § 24,1, S. 370; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 112ff.; Ossenbühl, DÖV 1976, 463, 467; Schmatz, Die Grenzen des Opportunitätsprinzips im heutigen deutschen Polizeirecht, 1966. 465 Die Terminologie „Entschließungsermessen" und „Auswahlermessen" nach WolfflBachof, Verwaltungsrecht I, S. 197 hat sich hierbei durchgesetzt; siehe z.B. Drews/Wacke/Vogell Martens, Gefahrenabwehr, § 24, 1, S. 371; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 113; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, §7, Rdnr. 6; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 323; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 322. 466 So die h.M.; vgl. z.B. Drews/Wacke/VogellMartens, Gefahrenabwehr, §24, 1, S.371; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 323; Schoch, JuS 1994, 754ff.; a. A. insbesondere Knemeyer, VVDStRL Bd. 35 (1977), 221,236 ff.; ders., DÖV 1978,11,13, der aus der Zuweisung von Aufgaben an die Polizei ableiten will, es bestehe kein Entschließungsermessen. Dagegen überzeugend Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 69; Martens, DÖV 1982,89,97; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 1 MEPolG, Rdnr. 3. 467 Vgl. hierzu grundlegend BVerwGE 11, 95 ff.; Dietlein, DVB1. 1991, 685 ff.; Di Fabio, VerwArch, Bd.86 (1995), 214ff.; Gern, DVB1. 1987, 1194ff.; Wilke, in: FS für Scupin, 831 ff. 468 Vgl. Di Fabio, VerwArch Bd. 86 (1995), 214, 220 ff. 469 Jellinek, Verwaltungsrecht, §20, III, 2b), S.432.

2. Abschn.: Die Zuweisungserfügung

181

grenzungskriterium kann sie aber - wie Schenke 470 zutreffend hervorgehoben hat - schon allein deshalb nicht darstellen, weil den gesellschaftlichen Anschauungen allein keine normative Kraft zukommt. Nach mittlerweile herrschender Meinung sind für die Überschreitung der Schädlichkeitsgrenze die Wertigkeit der bedrohten Rechtsgüter 471 , der Grad der Gefahr 4 7 2 sowie die mit dem polizeilichen Handeln verbundenen Risiken 4 7 3 maßgebend. Weitgehende Einigkeit besteht dabei darüber, daß eine Pflicht zum Einschreiten jedenfalls dann anzunehmen ist, wenn besonders hochwertige Rechtsgüter wie Leben und Gesundheit oder bedeutende Vermögenswerte betroffen sind 4 7 4 . In bezug auf die Obdachlosensachverhalte wurde bereits herausgearbeitet, daß durch den Aufenthalt unter freiem Himmel die Rechtsgüter Leben, Gesundheit und Menschenwürde tangiert sind 4 7 5 . I m Hinblick auf den hohen Stellenwert dieser Rechtsgüter sowie auf das Ausmaß und die Schwere der drohenden Gefahren ist somit in Fällen unfreiwilliger Obdachlosigkeit i m Regelfall die Schädlichkeitsgrenze überschritten. Demgemäß besteht auch nach überwiegender Ansicht in Rechtsprechung und Literatur in der Regel eine Pflicht der Polizei, dem unfreiwillig Obdachlosen eine Unterkunft zu Verfügung zu stellen 4 7 6 .

470

Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 70. Hierzu vgl. OVG Berlin, NJW 1980, 2484; OVG Münster, NVwZ 1983, 101, 102; DrewslWackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, §24,8, b), a), S.401; Gern, DVB1.1987,1194, 1195; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 70; Schoch, JuS 1994, 754, 755. 472 Vgl. OVG Münster, NVwZ 1983, 101, 102; Drews/Wacke/VogellMartens, Gefahrenabwehr, §24, 8, b), a), S.401 f.; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 70. 473 So Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 70; vgl. auch Schlink, NVwZ 1982, 529, 532 ff. 474 Vgl. z.B. BVerwGE 11, 95, 97; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr.354; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 131; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 71; Wilke, in: FS für Scupin, 831, 834. 475 Siehe hierzu bereits oben 1. Teil, 2. Abschn., A, II, 2, b). 476 Im Ergebnis auch OVG Berlin, NJW 1980, 2484; VGH Kassel, NJW 1984, 2305; VGH Mannheim, DVB1. 1996, 569f.; InfAuslR 1994,38f.; OVG Lüneburg, NVwZ 1992,502,503; OVG Münster, NVwZ 1993,202; VG Hannover, NVwZ-RR 1991,148,149; Eckstein, VB1BW 1994, 306, 307; Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 375; GüntherITraumann, NVwZ 1993, 130, 131; Hammel, Anspruch von Obdachlosen auf Erhaltung und Beschaffung von Wohnraum, S. 12; Harke, WuM 1987, 403, 411; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.42; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 176; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 137; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnrn. 71, 116; Schioer, DVB1. 1989,739,745; Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 7; einschränkend GüntherlTraumann, NVwZ 1993,130, 131, nach denen sich eine Ermessensreduzierung wegen des Ausmaßes und der Schwere der im Einzelfall (Hervorhebung durch die Verf.) drohenden Gefahren ergibt. Angesichts des Stellenwerts der durch die Obdachlosigkeit tangierten Menschenwürde sind aber nur Ausnahmefälle denkbar, in denen das Ermessen nicht reduziert ist; vgl. auch Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S. 96; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.42. 471

182

2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

2. Anspruch des Obdachlosen auf polizeiliches Einschreiten Aus der somit festgestellten objektivrechtlichen Pflicht der Gefahrenabwehrbehörde folgt jedoch nicht ohne weiteres auch ein subjektives Recht des Obdachlosen auf Bereitstellung einer Unterkunft 477. Während früher angenommen wurde, das Handeln der Polizei- und Ordnungsbehörden liege nur im öffentlichen Interesse 478, hat sich heute die Erkenntnis durchgesetzt, daß subjektive Rechte des einzelnen dort anzuerkennen sind, wo die Gefahr für die öffentliche Sicherheit bzw. Ordnung aus der Beeinträchtigung individueller Rechtsgüter resultiert 479. In diesem Fall dient die polizeiliche Generalklausel auch der Durchsetzung der aus den Grundrechten folgenden staatlichen Schutzpflichten und hat daher auch individualschützenden Charakter 480. Hierbei ist grundsätzlich zwar nur ein formelles subjektives Recht, also ein Anspruch auf ermessensfehlerfreie Entscheidung über ein polizeiliches Einschreiten anzuerkennen; im Falle einer Ermessensreduzierung auf Null besitzt der einzelne jedoch sogar einen gebundenen Rechtsanspruch und damit ein materielles subjektives Recht auf ein polizeiliches Handeln481. Mit der Feststellung, daß in Fällen der (drohenden) unfreiwilligen Obdachlosigkeit individuelle Rechtsgüter wie Leben, Gesundheit und Menschenwürde tangiert sind und diese angesichts des Stellenwerts und der Schwere der drohenden Gefahren auch zu einer Ermessensreduzierung auf Null führen, besteht somit ein Rechtsanspruch des Betroffenen auf Bereitstellung einer Unterkunft 482. 477

Vgl. auch Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 24, 8, b), ß), S.402; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 139. 478 Vgl. VG Minden, DVB1. 1965, 780, 783; Bettermann, NJW 1961, 1097, 1099. 479 Vgl. BVerwGE 11,95,97; 37, 112,113; OVG Münster, NVwZ 1981,101, 102; ausführlich Dietlein, DVB1. 1991, 685 ff.; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, §24, 8, b), ß), S.402; Friauf Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Rdnr.67; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 139; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 75; Schach, JuS 1994, 758 f.; Wilke, in FS für Scupin, 831 ff.; Würtenberger/ Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 324. 480 Vgl. näher Schenke, in: FS Lorenz, 473,495 ff.; Di Fabio, VerwArch Bd. 86 (1995), 214, 220ff.; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 324. 481 Vgl. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 75. 482 OVG Berlin, NJW 1980,2484; VGH Kassel, NJW 1984,2305; VGH Mannheim, NVwZ 1993, 1220; DVB1. 1996, 569f.; BWVPr. 1993, 184; OVG Lüneburg, NVwZ 1992, 502, 503; OVG Münster, NVwZ 1993, 202; DÖV 1992,675; VG Hannover, NVwZ-RR 1991, 148,149; Eckstein, VB1BW 1994,306,307; Eichert, Obdachlosigkeit und polizeirechtliche Intervention, S.96; Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 375; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.42; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 137ff.; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 139; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnrn. 111 ff., 176; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 324, Fn. 446; a. A. noch Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 35, allerdings unter der Annahme, daß subjektiv-öffentliche Rechte im Polizeirecht nicht existieren. Diese Auffassung dürfte allerdings mittlerweile als überholt gelten.

2. Abschn.: Die Zuweisungsverfügung

183

Wenn demgegenüber Friaufz in wendet, ein Anspruch auf polizeiliches Einschreiten könne nur dem Gestörten und nicht dem Störer zustehen, da die Fürsorge für den Störer den Funktionsbereich der Polizei überschreite und aus diesem Grunde einen Rechtsanspruch des Obdachlosen auf Bereitstellung einer Unterkunft ablehnt483, so kann dies nicht überzeugen. Diese These mag für Fälle zutreffen, in denen der Störer selbst zur Gefahrenbeseitigung in der Lage ist, jedoch von der Behörde ein Einschreiten gegenüber einem dritten Störer verlangt 484. Anderes muß aber gelten, wenn dem Störer eine eigene Gefahrenbeseitigung nicht möglich ist und er daher auf polizeiliche Hilfe existentiell angewiesen ist 485 . Hier muß angesichts der ansonsten eintretenden Schutzlosigkeit der in den Grundrechten angelegte und damit verfassungsrechtlich fundierte Schutzanspruch auch demjenigen zustehen, der einfachgesetzlich die Gefahr verursacht hat. So könnte es beispielsweise in dem bereits in anderem Zusammenhang erwähnten Rettungsfall 486 kaum überzeugen, einen Anspruch auf Schutz des Lebens nur deshalb zu verneinen, weil die zu rettende Person sich selbst in die Gefahr begeben hat und somit eine polizeirechtliche Verursachung der Gefahr zu bejahen ist. Im Ergebnis bleibt somit festzuhalten, daß in Fällen von (drohender) unfreiwilliger Obdachlosigkeit eine objektivrechtliche Pflicht der Polizeibehörde zum Einschreiten und damit korrespondierend ein materielles subjektives Recht des Obdachlosen auf Bereitstellung einer Unterkunft besteht.

II. Das Auswahlermessen Steht somit fest, daß das Entschließungsermessen der Polizei auf Null reduziert ist und damit einhergehend ein subjektiver Anspruch auf ein Einschreiten gegeben ist, ist damit nichts über den Inhalt des Anspruchs gesagt. Hinsichtlich der Frage, wie und wo der Obdachlose unterzubringen ist, besteht nach allgemeiner Ansicht nach wie vor ein weites Auswahlermessen der Behörde 487. Ermessensgrenzen ergeben sich zum einen dort, wo mit der Unterbringung eine neue Gefahr für die öffentliche Sicherheit verbunden wäre. Dies ist beispielsweise dann der Fall, wenn mit der Unterbringung gesundheitliche Risiken für den Obdach483 Vgl Friauf, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Schmidt-Aßmann (Hrsg.), Rdnr. 67; ebenso grundsätzlich auch Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 324, allerdings für die Fälle unfreiwilliger Obdachlosigkeit explizit eine Ausnahme anerkennend; vgl. auch VGH Mannheim, VB1BW 1995, 64, 65. 484 So die Konstellation bei VGH Mannheim, VB1BW 1995, 64, 65. 485 So auch VGH Mannheim, VB1BW 1995, 64, 65. 486 Vgl. hierzu ausführlich oben 1. Teil, 4. Abschn., B, II, 1. 487 Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 375; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 139; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 140ff.; Reichertl Ruder!Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 320; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 178.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

losen verbunden wären 488 oder im Hinblick auf die Unterkunft bauordnungsrechtliche Vorschriften nicht eingehalten wurden 489 . Ermessensbindungen ergeben sich insbesondere auch aus der Menschenwürdegarantie gem. Art. 1 Abs. 1 GG. So muß nach allgemeiner Ansicht die zur Verfügung gestellte Unterkunft den Anforderungen an ein i. S. d. Art. 1 Abs. 1 GG menschenwürdiges Unterkommen genügen490. Die Frage, wie eine Unterkunft beschaffen sein muß, um dem Grundsatz der Menschenwürde zu entsprechen, läßt sich indes schwer beantworten. So besteht weitgehende Einigkeit darüber, daß die Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft im Laufe der Zeit Schwankungen unterworfen sind, die vom Wandel der jeweiligen Verhältnisse und dem allgemeinen zivilisatorischen Niveau abhängig ist 491 . So sind in Zeiten allgemeinen Wohlstands andere Maßstäbe zu setzen als in Zeiten großer Not wie etwa in den Nachkriegsjahren 492. Dementsprechend läßt sich heutzutage angesichts einer weitgehend materiell gesättigten Gesellschaft sicher nicht mehr die in der älteren Rechtsprechung493 verbreitete, aber auch noch in neueren Judikaten494 anzutreffende Formel aufrechterhalten, zur Beseitigung der Obdachlosigkeit genüge eine Unterkunft der allereinfachsten Form, die nur „Schutz vor den Unbilden des Wetters" zu bieten habe und „Raum für die notwendigsten Lebensbedürfnisse" lasse495. Genügte nach einem Judikat des OVG Münsters aus dem Jahre 1958 noch ein einziger Raum von 36 qm für eine achtköpfige Familie den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft 496 , so ist in einer Entscheidung des OVG Berlin aus dem 488 VGH Mannheim, NVwZ 1994,394; vgl. auch BVerfG, NVwZ 1993,1181 hinsichtlich eines Sachverhalts, in dem sich nach ärztlichem Gutachten durch die Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft die bereits bestehenden psychischen Störungen verschlechtem würden. 489 Nicht überzeugend OVG Lüneburg, NVwZ-RR 1989,15,16; Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 9, wonach bauordnungsrechtliche Vorschriften nicht eingehalten werden müssen. 490 St. Rspr., vgl. OVG Lüneburg, NVwZ-RR 1989, 15; OVG Münster, NVwZ 1993, 202; VGH Kassel, NJW 1984, 2305, 2306; VGH Kassel, DVB1. 1991, 1371; VGH Mannheim, NVwZ 1993, 1220; NVwZ-RR 1994, 394; VGH München, BayVBl. 1993, 569; aus der Literatur vgl. Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 375; Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 184; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.43; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 140ff.; ReichertlRudertFröhler, Polizeirecht, Rdnr. 323; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 143; Trockels, BWVPr. 1989, 145, 147f.; Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 9. 491 St. Rspr.; vgl. OVG Berlin, NJW 1980, 2484, 2485; OVG Lüneburg, NVwZ-RR 1989, 15; VGH Kassel, NJW 1984, 2305, 2306; VGH Mannheim, NVwZ 1993, 1220; NVwZ-RR 1994, 394; Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 131; Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 185; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 144; Trockels, BWVPr. 1989, 145, 148; Wolf/Stephan, PolG BW, §9, Rdnr. 11. 492 OVG Berlin, NJW 1980, 2484, 2485; OVG Kassel, DVB1. 1991, 1371. 493 Siehe z.B. OVG Münster, ZMR 1955, 381; ZMR 1956, 285; ZMR 1958, 371. 494 OVG Münster, NVwZ 1993, 202; VGH Mannheim, NVwZ 1993, 1220; NVwZ-RR 1994, 394; NJW 1997, 2833; VGH München, BayVBl. 1993, 569. 495 Kritisch auch VGH Kassel, DVB1. 1991, 1371; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 19; Steinmeier/Brühl, KJ 1989, 275, 281. 496 OVG Münster, ZMR 1958, 371.

2. Abschn.: Die Zuweisungsverfügung

185

Jahre 1980 ein 50 qm großer Raum für eine siebenköpfige Familie als nicht mehr ausreichend angesehen worden 497 . Allerdings ist nicht nur eine Verbesserung der Lebensverhältnisse, sondern auch eine Unterschreitung des bereits erreichten Standards denkbar, etwa in Zeiten extremer Flüchtlingswellen mit dem damit verbundenen Unterbringungsbedarf 498. Umgekehrt ist jedoch nach Rechtsprechung499 und herrschender Meinung in der Literatur 500 nicht erforderlich, daß der zur Verfügung gestellte Wohnraum dem üblichen Wohnstandard hinsichtlich Lage, Größe und Ausstattung entsprechen muß. Insbesondere ist entgegen teilweise vertretener Auffassung 501 im Hinblick auf die Mindestanforderungen, die an die Unterkunft zu stellen sind, nicht auf den nach dem Sozialhilferecht erforderlichen Maßstab abzustellen502. Denn die Zwecke der Unterbringung sind im Sozialhilferecht und im Polizeirecht durchaus unterschiedlich 503 . Während die sozialhilferechtliche Unterbringung in der Regel auf Dauer ausgerichtet ist, dient die polizeirechtliche Unterbringung lediglich der kurzfristigen Gefahrenabwehr 504. Die Dauer des anvisierten Aufenthalts ist aber durchaus ein Kriterium, welches Einfluß auf die an den Wohnraum zu stellenden Anforderungen hat 505 . So kann für eine kurze Übergangszeit der Aufenthalt in einer Behelfsunter497

Siehe OVG Berlin, NJW 1980, 2484, 2485. OVG Berlin, NJW 1980, 2484, 2485; VGH Mannheim, NVwZ 1993, 1220; NVwZ-RR 1994, 394; Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 355; Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 131; Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 187; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 144; Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 9. 499 Vgl. OVG Schleswig, SchlHA 1993, 96f.; OVG Münster, NVwZ 1993, 202; VGH Mannheim, NVwZ 1993, 1220; NJW 1993, 1027; NVwZ-RR 1994, 394; DVB1. 1996, 567, 568; DVB1. 1996, 569f.; NJW 1997, 2833; VGH Kassel, DVB1. 1991, 1371; VGH München, BayVBl. 1993,569. 500 Vgl. Bernerl Köhler, PAG, Art. 11, Rdnr. 10; Eichert, BWVPr. 1983,234; Ewer/v. Detten, NJW 1995,353, 355; Günther/Traumann, NVwZ 1993,130,131;Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 184; Lange, VerwRdsch 1991, 69; ReichertlRuder!Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 323; Trockels, BWVPr. 1989, 145, 148; Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 9; vgl. auch die Empfehlungen des Landes Brandenburg zur Vermeidung von Obdachlosigkeit und zur Verbesserung der Lage obdachloser Personen in den Kommunen vom 24.1.1997, ABl. Nr. 8 v. 27.2.1997, S. lOOff. (abgedruckt bei Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, S. 175ff.), Ziff. 5.5.1.2.; a. A. Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.43. 501 Vgl. Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 30, 43 f. 502 Vgl. OVG Lüneburg, NVwZ-RR 1989, 15, 16; VGH Mannheim, NVwZ 1993, 1220; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 142, Fn. 243; Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 9. 503 So auch VGH Mannheim, NVwZ 1993, 1220; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 142, Fn. 243; Reichertl Ruder! Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 323; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 135; Wollensak, BWVPr. 1995,6,9; vgl. hierzu bereits oben 1. Teil, 3. Abschn., B, II. 504 Vgl. VGH Mannheim, NVwZ 1993, 1220; NJW 1993, 1027; DVB1. 1996, 569f.; VG Hannover, NVwZ-RR 1991, 257, 258. 505 So explizit Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 145: „Die Anforderungen sind anders zu beurteilen bzw. zu erhöhen, wenn die Unterbringung längere Zeit dauert". Implizit auch VGH München, BayVBl. 1995, 86. 498

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

kunft wie etwa einem Wohnwagen durchaus zumutbar sein, etwas anderes aber für einen dauerhaften Aufenthalt gelten506. Darüber hinaus liegt dem Sozialhilferecht im Gegensatz zum Polizeirecht der Integrationsgedanke zugrunde: Sozialhilfeempfängern soll ermöglicht werden, in der Umgebung von Nichthilfeempfängern wie diese zu leben 507 . Dies wirkt sich freilich auch auf den gebotenen Standard einer sozialhilferechtlichen Maßstäben genügenden Unterkunft aus. Hinsichtlich der im Hinblick auf die Menschenwürde im einzelnen zu stellenden quantitativen und qualitativen Anforderungen an eine Unterkunft lassen sich keine einheitlichen Kriterien aufstellen. Die diesbezügliche Rechtsprechung ist nahezu unübersichtlich. Der VGH Kassel hat das heutige zivilisatorische Minimum wie folgt umschrieben: „ein hinreichend großer Raum, der genügend Schutz vor Witterungseinflüssen bietet, wozu im Winter die ausreichende Beheizbarkeit gehört, hygienische Grundanforderungen wie genügende sanitäre Anlagen, also eine Waschmöglichkeit und ein WC, eine einfache Kochstelle und eine notdürftige Möblierung mit mindestens einem Bett und einem Schrank bzw. Kommode, sowie elektrische Beleuchtung"508. Ermessensrichtlinien hinsichtlich der qualitativen und quantitativen Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft geben auch die Empfehlungen der einzelnen Bundesländer für das Obdachlosenwesen509. Nach den Empfehlungen für das Obdachlosenwesen Baden-Württemberg ist einer alleinstehenden Person mindestens ein Raum von 10 qm zur Verfügung zu stellen510. Für Familien soll entsprechend mehr Raum zur Verfügung gestellt werden; für Familien mit Kindern sollen jedenfalls mindestens zwei Räume zur Verfügung gestellt werden, die ein getrenntes Schlafen von Eltern und Kindern gestatten, anderenfalls sollte die Möglichkeit zur Abtrennung von Raumeinheiten durch Möbel gegeben sein 511 . Nach den Empfehlungen des Landes Brandenburg für das Obdachlosenwesen soll hierbei pro Raum 506 Ygi implizit VGH München, BayVBl. 1995, 86, der jedenfalls für den Zeitraum von zwei Monaten die Unterbringung in einem Wohnwagen für menschenwürdig erachtet hat, siehe auch weiter unten im Text. 507 BVerwGE 36, 258; Steinmeier/Brühl, KJ 1989, 275, 293. 508 Vgl. VGH Kassel, DVB1. 1991, 1371. 509 Eine Übersicht über die Empfehlungen der einzelnen Bundesländer gibt Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, S. 195. Die bayrischen Behörden legen Art. 3 und 9 des Gesetzes zur Beseitigung von Wohnungsmißständen (Wohnungsaufsichtsgesetz-WoAufG) v. 24.7.1974 (BayRS 2330-1-1) zugrunde; vgl. VGH München, NVwZ-RR 1991, 196. 5,0 Empfehlungen des Landes Baden-Württemberg für das Obdachlosenwesen v. 10.6.1976 (GABI. 1976, 1042); Ziff. 4.2.3.1; nach Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 189 und Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 9 ist der Wert von 10 qm pro Person zu hoch bemessen. 511 Empfehlungen des Landes Baden-Württemberg für das Obdachlosenwesen v. 10.6.1976 (GABI. 1976,1042); Ziff. 4.2.3.1; ebenso Empfehlungen des Landes Brandenburg zur Vermeidung von Obdachlosigkeit und zur Verbesserung der Lage obdachloser Personen in den Kommunen vom 24.1.1997, ABl. Nr. 8 v. 27.2.1997, S. 100ff. (abgedruckt bei Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, S. 175 ff.), Ziff. 5.5.2.2.

2. Abschn.: Die Zuweisungsverfügung

187

eine Mindestgröße von acht Quadratmetern gewährleistet sein 512 . Bei der Unterbringung soll auf eine bis dahin bestehende Hausgemeinschaft Rücksicht genommen werden; es besteht jedoch in der Regel kein Anspruch auf Aufrechterhaltung der Familiengemeinschaft zwischen volljährigen Kindern und ihren Eltern 513 . Die Unterkunft muß Raum für den zum täglichen Leben unentbehrlichen Hausrat haben514; zudem sollten sich Wasserzapfstellen und Toiletten innerhalb der Unterkunft befinden 515 , brauchen aber nicht notwendigerweise in den zugewiesenen Räumen zu sein 516 . Schließlich sollten Waschgelegenheiten in ausreichender Zahl und für Familien auch Duschen vorhanden sein 517 Folgende Kasuistik mag einen Überblick über die von der Rechtsprechung gestellten Anforderungen geben, ohne jedoch Anspruch auf Vollständigkeit zu haben. Die genannten Urteile beziehen sich dabei zwar überwiegend auf Obdachlosenunterkünfte, da privater Wohnraum in der Regel den Anforderungen an ein menschenwürdiges Unterkommen gerecht wird. Sie sind dennoch insofern auch für die vorliegende Untersuchung von Interesse, da die Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft freilich gegenüber der Inanspruchnahme privaten Wohnraums nur dann vorrangig ist, wenn diese den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterbringung genügt. Als menschenwürdegerecht wurde in qualitativer und quantitativer Hinsicht angesehen: - eine Unterbringung einer Einzelperson in einer Gemeinschaftsunterkunft; ein Anspruch auf Zurverfügungstellung eines eigenen Raumes bestehe - vorbehaltlich besonderer im Einzelfall zu berücksichtigender Umstände - nicht 518 ; hierbei 5,2 Vgl. Empfehlungen des Landes Brandenburg zur Vermeidung von Obdachlosigkeit und zur Verbesserung der Lage obdachloser Personen in den Kommunen vom 24.1.1997, ABl. Nr. 8 v. 27.2.1997, S. lOOff. (abgedruckt bei Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, S. 175ff.), Ziff. 5.5.2.2. 513 Empfehlungen des Landes Baden-Württemberg für das Obdachlosenwesen v. 10.6.1976 (GABI. 1976,1042); Ziff. 4.2.3.2; ebenso Empfehlungen des Landes Brandenburg zur Vermeidung von Obdachlosigkeit und zur Verbesserung der Lage obdachloser Personen in den Kommunen vom 24.1.1997, ABl. Nr. 8 v. 27.2.1997, S. lOOff. (abgedruckt bei Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, S. 175 ff.), Ziff. 5.5.2.1. 514 So Empfehlungen des Landes Baden-Württemberg für das Obdachlosenwesen v. 10.6.1976 (GABI. 1976, 1042); Ziff. 4.2.3.4. 515 Empfehlungen des Landes Baden-Württemberg für das Obdachlosenwesen v. 10.6.1976 (GABI. 1976, 1042); Ziff. 4.2.3.4. 516 Empfehlungen des Landes Brandenburg zur Vermeidung von Obdachlosigkeit und zur Verbesserung der Lage obdachloser Personen in den Kommunen vom 24.1.1997, ABl. Nr. 8 v. 27.2.1997, S. lOOff. (abgedruckt bei Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, S. 175ff.), Ziff. 5.5.3.1. 5,7 Empfehlungen des Landes Brandenburg zur Vermeidung von Obdachlosigkeit und zur Verbesserung der Lage obdachloser Personen in den Kommunen vom 24.1.1997, ABl. Nr. 8 v. 27.2.1997, S. 100ff. (abgedruckt bei Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, S. 175 ff.), Ziff. 5.5.3.2. 518 OVG Münster, NVwZ 1993, 202; VGH Mannheim, NVwZ 1993, 1220; NVwZ-RR 1994, 394, 395.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

sei eine Unterbringung in einem Gemeinschaftszimmer mit 6-8 Betten zumutbar 519 ; - eine Unterbringung einer Einzelperson in einer Gemeinschaftsunterkunft auch dann, wenn die anderen untergebrachten Obdachlosen unterschiedlicher Volksund Staatsangehörigkeit sind; es bestehe grundsätzlich kein Anspruch darauf, in einer Gemeinschaftsunterkunft mit Personen gleicher Nationalität oder Volkszugehörigkeit untergebracht zu sein 520 ; - eine Unterbringung in unterschiedlichen Einrichtungen für die Übernachtung und den Aufenthalt am Tag, solange die verschiedenen Einrichtungen für den Obdachlosen noch in zumutbarer Entfernung voneinander liegen 521 ; eine Entfernung von 1,5 bis 1,8 km (etwa 30 Minuten Gehzeit) wird dabei noch als zumutbar eingestuft 522; - eine Unterbringung eines obdachlosen Ehepaares in einem Wohnwagen, der mit Stromanschluß, Brennstelle, Kühlschrank, Heizung, Waschgelegenheit und Toilette ausgestattet ist, zumal wenn die Aufenthaltsdauer auf zwei Monate begrenzt ist 523 ; - eine Unterbringung eine Ehepaares in zwei 8,6 und 15,9 qm großen Räumen mit Vorraum mit Waschgelegenheit und Toilette; ein Warmwasseranschluß sei nicht erforderlich 524; - eine Unterbringung in einer Wohnung im Erdgeschoß über zwei Zimmer, Küche, WC mit insgesamt 52 qm sowie zwei weitere Räume im Dachgeschoß über 14 und 16 qm für eine fünfköpfige Familie 525 ; - eine Unterbringung in einer Unterkunft, die über eine Waschgelegenheit mit Warm- und Kaltwasseranschluß, nicht aber über ein Bad oder Dusche verfügt 526 ; - eine Unterbringung in einer Obdachlosenunterkunft ohne Telefonanschluß; dieser gehöre nicht zu den für eine menschenwürdige Obdachlosenunterkunft unverzichtbaren Einrichtungen 527; etwas anderes kann aber möglicherweise dann gelten, wenn der Obdachlose aus gesundheitlichen Gründen jederzeit auf eine ärztliche Hilfe angewiesen ist 528 ; 519

VGH Mannheim, NVwZ 1993, 1220, 1221. VGH Mannheim, NVwZ-RR 1994, 394, 395; DVB1. 1996, 367, 368. 521 OVG Münster, NVwZ 1993, 202, 203; VGH Mannheim, NVwZ 1993, 1220, 1221. 522 VGH Mannheim, NVwZ 1993, 1220, 1221. 523 VGH München, BayVBl. 1995, 86. 524 VGH München, BayVBl. 1993, 569f.; vgl. auch VGH München, NVwZ-RR 1991, 196; - hinsichtlich des Warm Wasseranschlusses sehr zweifelhaft. 525 VGH Mannheim, NJW 1993, 1027. 526 VGH Mannheim, NJW 1993, 1027; vgl. auch VGH Mannheim, NVwZ-RR 1991, 196. 527 VGH Mannheim, NVwZ 1993, 1221. 528 VG Gießen, Fundstelle 1992, Rdnr.420 (zitiert nach Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 9, Fn.45). 520

2. Abschn.: Die Zuweisungsverfügung

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- eine Unterbringung in einer 63,5 qm großen Unterkunft, bestehend aus Küche, drei Zimmern, einer Waschgelegenheit und einer Toilette für sieben Personen 529; - die Unterbringung in einer 33 qm großen Einzimmerwohnung, ausgestattet mit Küche, Bad und Balkon für ein Ehepaar 530; - die Unterbringung in einer 52 qm großen Wohnung mit zwei einzelnen Mansardenzimmern mit jeweils 15 qm für eine fünfköpfige Familie 531 ; - eine Unterbringung in einer 61 qm großen Wohnung, bestehend aus drei Räumen, einer Küche sowie Dusche und Toilette für eine Familie mit drei Kindern 532 ; - die Unterbringung in einer 85,42 qm großen Wohnung, bestehend aus fünf Zimmern, Küche, Bad und Toilette für die Antragstellerin mit 6 Kindern; ein Anspruch auf Zuweisung einer Wohnung mit einem zusätzlichen Arbeitsraum zur Ausübung beruflicher Tätigkeiten bestehe nicht 533 . Als nicht den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft genügend wurde angesehen: - die Unterbringung in einer Unterkunft, die nur in den Nachtstunden oder jedenfalls nicht ganztägig geöffnet ist; die Menschenwürde fordere, daß dem Obdachlosen ungeachtet der Witterungsverhältnisse durch Zuweisung einer bestimmten Unterkunft nicht nur zeitweise, sondern den ganzen Tag über eine geschützte Sphäre geboten werde 534 ; - die Unterbringung einer Familie mit mehreren Kleinkindern sowie einem erwarteten Säugling in einem Wohnwagen ohne gesicherten Stromanschluß und mit unzureichenden sanitären Verhältnissen 535; - die Unterbringung einer siebenköpfigen Familie und einem zu erwartenden Säugling in einem einzigen Raum von knapp 50 qm 5 3 6 ; - die Unterbringung einer einzelnen Person in einer nicht beheizbaren Holzbaracke mit schwarzem Schimmel an den Wänden insbesondere im Winter 537 ; - die Unterbringung in einer Unterkunft ohne Anschluß für elektrischen Strom 538 . 529

VGH München, NVwZ-RR 1991, 196. OVG Berlin, NVwZ-RR 1990, 194. 531 VGH Mannheim, BWGZ 1993, 166. 532 OVG Saarlouis, Beschl. v. 3.6.1994 - 3 W14/94, zitiert nach Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 157, Fn. 167. 533 VGH Mannheim, BWVPr. 1993, 184. 534 OVG Münster, NVwZ 1993, 202; VGH Mannheim, NVwZ 1993, 1220, 1221. 535 VGH Kassel, NJW 1984, 2305, 2306. 536 OVG Berlin, NJW 1980, 2484, 2485. 537 VG Stuttgart, Beschl. v. 29.1.1986 - 1 K 196/86, zitiert nach Trockels, BWVPr. 1989, 145, 148. 538 OVG Lüneburg, FamRZ 1971, 669, 670. 530

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

C. Exkurs: Rechtsschutzfragen Erörterungsbedürftig ist auch der Rechtsschutz des Obdachlosen, der sich in Konsequenz der hier vertretenen Auffassung vom (zulässigen) Inhalt der Zuweisungsverfügung ergibt. Insoweit ist zwischen mehreren Situationen zu differenzieren:

I. Zuweisungsverfügung wurde noch nicht erlassen Liegt bereits eine Obdachlosigkeit vor oder ist diese unmittelbar bevorstehend und wurde eine Zuweisungsverfügung bisher nicht erlassen bzw. versagt, so ist die Bescheidungsklage gemäß § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO die statthafte Klageart in der Hauptsache539. Zwar hat der Obdachlose aufgrund einer Ermessensreduzierung auf Null in der Regel ein materielles subjektives Recht auf den Erlaß einer derartigen Verfügung 540. Bezüglich des „Wie" der Unterbringung besteht jedoch nach wie vor ein Auswahlermessen der Verwaltung, so daß insoweit keine Spruchreife i. S. d. § 113 Abs. 5 S. 1 VwGO vorliegt. Die statthafte Antragsart im vorläufigen Rechtsschutz, der aufgrund der Eilbedürftigkeit der Sache in der Regel in Betracht kommen wird, ist die einstweilige Anordnung in der Form der Regelungsanordnung gemäß § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO 5 4 1 . Angesichts des Stellenwerts der betroffenen Rechtsgüter ist auch der kurzfristige Aufenthalt im Freien ohne das Vorhandensein einer Unterkunft ein in § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO näher bezeichneter Nachteil und damit ein sog. Anordnungsgrund. So führt das VG Hannover zutreffend aus: „Daß Personen gelegentlich oder über einen längeren Zeitraum tatsächlich in der Lage sind, im Freien - und sei es an mehr oder minder geschützten Plätzen - zu nächtigen, ohne sofort nachhaltige Gesundheitsstörungen zu erleiden (und dies aus verschiedensten Gründen auch tun), ändert an der gefahrenabwehrrechtlichen Erheblichkeit der (unfreiwilligen) Obdachlosigkeit und daran nichts, daß dieser Zustand rechtlich wegen des Ranges der berührten Rechtsgüter auch schon vor Eintritt konkreter Gesundheitsstörungen dem Nachteilsbegriff des § 123 Abs. 1 VwGO unterfällt 542 ".

539 Zur Statthaftigkeit der Bescheidungsklage allgemein vgl. Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rdnr.264; ders., DÖV 1996, 529, 538ff. m. w.Nachw.; umfassend Hödl-Adick, Die Bescheidungsklage, S. 216 ff. 540 Siehe hierzu bereits oben 2. Teil, 2. Abschn., B, I, 2. 541 Vgl. z.B. OVG Berlin, NJW 1980,2484; OVG Kassel, NVwZ 1992,503f.; VGH Mannheim, DVB1. 1996, 569 f.; VG Hannover, NVwZ-RR 1990, 148, 149; zur Abgrenzung zwischen Sicherungs- und Regelungsanordnung siehe näher Kopp!Schenke, VwGO, § 123, Rdnr. 7 f.; Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rdnr. 1025. 542 Vgl. VG Hannover, NVwZ-RR 1990, 148, 149.

2. Abschn.: Die Zuweisungsverfügung

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II. Zuweisungsverfügung wurde bereits erlassen Wurde eine Zuweisungsverfügung bereits erlassen und entspricht die im Bescheid genannte Unterkunft nach Lage, Größe oder Ausstattung aus der Sicht des Obdachlosen nicht den Anforderungen an ein menschenwürdiges Unterkommen, so ist zu differenzieren: 1. Zuweisung räumt ausschließlich Nutzungsrecht ein Ergibt die Auslegung der Verfügung, daß dem Betroffenen lediglich ein Nutzungsrecht eingeräumt wird, ohne ihn zum Bezug der Unterkunft zu verpflichten, so ist in der Hauptsache ebenfalls eine Bescheidungsklage gem. § 113 Abs. 5 S. 2 VwGO die statthafte Klageart. Dies resultiert aus dem Umstand, daß behauptet wird, das Auswahlermessen, welches bezüglich der Art der Unterkunft besteht und durch die Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft begrenzt ist 543 , sei fehlerhaft ausgeübt worden. Da das behördliche Auswahlermessen bezüglich der Art der Unterkunft weiterhin besteht und insoweit wohl kaum eine Spruchreife herbeizuführen ist, kommt allein die Bescheidungsklage in Betracht. Dementsprechend ist im vorläufigen Rechtsschutz in der genannten Konstellation die einstweilige Anordnung gem. § 123 Abs. 1 S. 2 VwGO die statthafte Antragsart 544. Abzulehnen ist in diesem Zusammenhang die Rechtsprechung des VGH Mannheim, der auch Teile der Literatur gefolgt sind 545 . Dieser hat in den Beschlüssen vom 2.11.1994546 sowie vom 8.2.1996547 zwar den Standpunkt vertreten, daß die „Einweisungsverfügung" den Obdachlosen nicht verpflichte, die Unterkunft auch tatsächlich zu beziehen und damit einen rein begünstigenden Charakter habe. Allerdings sei Rechtsschutz des Betroffenen dennoch über die Anfechtungsklage bzw. über einen Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 Abs. 5 2. Alt. VwGO zu suchen. Dies folge aus dem Umstand, daß eine belastende Wirkung der Verfügung darin liege, daß mit der Zurverfügungstellung einer Unterkunft und der damit verbundenen Nutzungsmöglichkeit formal die Obdachlosigkeit entfalle, da der Betroffene über die Nutzungsmöglichkeit von Wohnraum verfüge. 543

Siehe näher hierzu bereits oben 2. Teil, 2. Abschn., B, II; vgl. auch OVG Münster, NVwZ 1993, 202; VGH Mannheim, NVwZ 1993, 1220; VGH Mannheim, NVwZ-RR 1994, 394; Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 375 m.w.Nachw. 544 A.A. VGH Mannheim, NVwZ-RR 1995, 326, 327, welcher davon ausgeht, daß nur im Falle des Begehrens einer bestimmten Wohnung der Antrag nach § 123 Abs. 1 VwGO statthaft ist. Vgl. dazu, daß auch bei noch offenem Ermessen ein Antrag nach § 123 VwGO zulässig ist, Kopp!Schenke, VwGO, § 123, Rdnr. 12. 545 Vgl. auch Reichertl Rudert Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 324; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 167; wohl auch WürtenbergerlHeckmannIRiggert, Polizeirecht, Rdnr. 316 e. 546 VGH Mannheim, NVwZ 1995, 326, 327. 547 VGH Mannheim, DVB1 1996, 568 f.

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2. Teil: Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung

Die Behörde habe ihre Verpflichtung zur Unterbringung somit grundsätzlich erfüllt 548 . Dies kann jedoch schwerlich überzeugen: Zwar kann eine rechtliche Belastung durchaus darin liegen, daß ein Bürger durch einen Verwaltungsakt weniger erhält, als er glaubt beanspruchen zu können, bzw. als ihm zusteht549. Dennoch wäre eine (isolierte) Anfechtungsklage gerichtet auf die Aufhebung der Ablehnung einer weiterreichenden Begünstigung im Hinblick auf die Spezialität der Verpflichtungsklage hier unstatthaft 550. Schließlich könnte auch das Rechtsschutzziel des Antragstellers mit einer Anfechtungsklage bzw. einem Antrag auf Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung nach § 80 Abs. 5 2. Alt. VwGO nicht erreicht werden. So wird bei Stattgabe der Klage der Zuweisungsbescheid (teilweise) kassiert; bei Stattgabe des Antrags nach § 80 Abs. 5 VwGO, also in dem Falle, in dem das Gericht nach summarischer Prüfung der Erfolgsaussichten in der Hauptsache davon ausgeht, daß die zugewiesene Unterkunft den Anforderungen an eine menschenwürdige Unterkunft nicht gerecht wird, lediglich die aufschiebende Wirkung des Widerspruchs (teilweise) wiederhergestellt. Damit verfügt der Betroffene aber nach wie vor nicht über die begehrte menschenwürdegerechte Unterkunft. Um zu einer solchen zu gelangen, bedarf es aber einer gerichtlich ausgesprochenen Verpflichtung der Behörde, welche nur über die Bescheidungsklage bzw. einen Antrag gem. § 123 Abs. 1 VwGO erreicht werden kann. 2. Zuweisung enthält Verpflichtung,

den Wohnraum zu beziehen

Fraglich ist, welche Rechtsschutzform dann in Betracht zu ziehen ist, wenn die Verfügung nach der Auslegung aus dem Empfängerhorizont nicht nur die Nutzungsbefugnis über den Wohnraum einräumt, sondern rechtswidrigerweise 551 auch die Verpflichtung enthält, die zugewiesene, aus Sicht des Klägers nicht menschenwürdegerechte Unterkunft zu beziehen. Bezüglich des Begehrens einer anderen, menschenwürdegerechten Unterkunft ist auch hier eine Bescheidungsklage gem. § 113 Abs. 5 VwGO in Betracht zu ziehen552. Fraglich ist indes, ob es hinsichtlich der Bezugsverpflichtung eines gesonderten Aufhebungsantrags bedarf. Grundsätzlich ist bei einer Verpflichtungs- bzw. Bescheidungsklage ein gesonderter Aufhebungsan548 So VGH Mannheim, NVwZ 1995, 326,327; DVB1 1996,568 f.; Reichertl Ruder!Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 324; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 167. 549 Vgl. insoweit Kopp!Ramsauer, VwVfG, §48, Rdnr. 68 m.w.Nachw. 550 Vgl. hierzu BVerwG, NVwZ 1993, 270; Kopp/Schenke, VwGO, §42, Rdnr.30; Metzner, BayVBl. 1977, 11, 13; Pietzcker, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, §42, Rdnr. 110. Eine andere Frage ist, ob neben dem Verpflichtungsantrag noch ein weitergehender Aufhebungsantrag bzgl. des ablehnenden Teils des Verwaltungsakts zu stellen ist; grundsätzlich ist ein solcher nicht erforderlich, jedoch zur Klarstellung wünschenswert und weithin üblich; vgl. näher Kopp!Schenke, VwGO, §42, Rdnr. 29; Pietzcker, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/ Pietzner, VwGO, §42, Rdnr. 96. 551 Vgl. dazu, daß bei Verpflichtung zum Bezug der Wohnung ein Verstoß gegen Art. 11 GG vorliegt, oben 2. Teil, 2. Abschn., A, II, 2. 552 Siehe hierzu bereits oben 2. Teil, 2. Abschn., C, I.

2. Abschn.: Die Zuweisungsverfügung

193

trag bezüglich des ablehnenden Bescheids zwar aus Klarstellungsgründen wünschenswert, aber nicht zwingend erforderlich, da die Zuerkennung eines Anspruchs auf den begünstigenden Verwaltungsakt stets voraussetzt, daß der entgegenstehende Ablehnungsbescheid zumindest teilweise aufgehoben wird 553 . Indes stellt sich die Situation hier anders dar. Der Inhalt des bereits erlassenen Bescheids erschöpft sich nämlich nicht in der konkludenten Ablehnung einer weiterreichenden Begünstigung, sondern enthält den darüber hinausgehenden hoheitlichen Befehl der Bezugsverpflichtung, dessen Aufhebung für die Zuweisung einer anderen Unterkunft gerade keine Voraussetzung ist und daher im Rahmen der Bescheidungsklage nicht inzidenter erfolgen wird. Um hier die Bestandskraft und eine mögliche Vollstreckung der Bezugsverpflichtung zu verhindern, bedarf es insoweit eines gesonderten Anfechtungsantrags, der angesichts der Rechtswidrigkeit dieser Regelung auch Erfolg haben wird. Dementsprechend ist bei der in der Praxis regelmäßig erfolgenden Anordnung der sofortigen Vollziehung gem. § 80 Abs. 2 Nr. 4 VwGO im Hinblick auf die Bezugsverpflichtung ein Antrag auf teilweise Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung gem. § 80 Abs. 5 2. Alt. VwGO statthaft und begründet.

553 Vgl. VGH Mannheim, NVwZ 1990, 985, 986; Kopp/Schenke, VwGO, §42, Rdnr.29; Pietzcker, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, §42, Rdnr.96.

13 Reitzig

Dritter Teil

Das Verhältnis zwischen zivilgerichtlicher u n d polizeirechtlicher Entscheidung Schwierige dogmatische Probleme wirft in der Konstellation der Wiederzuweisung des Räumungsschuldners das Verhältnis zwischen zivilgerichtlicher Entscheidung und polizeirechtlichem Einschreiten auf. So stellt sich zum einen die Frage, inwieweit durch das Räumungsurteil oder etwaige Vollstreckungsbeschlüsse eine BindungsWirkung für die Polizei eintritt (dazu unter A.). Insoweit wird insbesondere die Reichweite der Rechtskraft zivilgerichtlicher Entscheidungen näher zu beleuchten sein. Zum anderen erscheint problematisch, wie sich der ebenfalls den Interessen des Räumungsschuldners dienende zivilprozessuale Vollstreckungsschutz zu den polizeilichen Maßnahmen verhält (dazu unter B.). In diesem Zusammenhang ist teilweise unter Hinweis auf das polizeiliche Subsidiaritätsprinzip ein Vorrang des Vollstreckungsschutzes gegenüber einem polizeilichen Einschreiten angenommen worden. Schließlich ist fraglich, wie sich die hoheitliche Inanspruchnahme auf den vollstreckbaren Räumungstitel auswirkt (dazu unter C.). Neben der Untersuchung der dogmatischen Verankerung der einhellig anerkannten fehlenden Durchsetzbarkeit des Räumungstitels während der Inanspruchnahmedauer ist hier insbesondere der umstrittenen Frage nachzugehen, ob der Räumungstitel nach Wegfall der polizeilichen Inanspruchnahme weiterhin vollstreckt werden kann oder ob insoweit ein Verbrauch des Titels eintritt.

A. Die Bindung der Polizei an die zivilgerichtliche Entscheidung I. Problemstellung Einen äußerst schwierigen Problemkomplex betrifft die Frage nach der Bindung der Polizei an das rechtskräftige zivilgerichtliche Räumungsurteil oder den Beschluß im Vollstreckungsverfahren gemäß § 765 a ZPO. Der Begriff der Bindung, der im Gesetz nicht einheitlich verwendet wird 1 , soll hier im Sinne eines Wider1 So folgt aus § 318 ZPO, der lediglich von Bindung spricht, zum einen ein Widerrufsverbot, welches bedeutet, daß das Gericht den einmal erlassenen Rechtsakt nicht mehr abändern oder

3. Teil: Zivilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

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spruchsverbots verstanden werden. Gemeint ist das an den jeweiligen Hoheitsträger gerichtete Verbot, sich in einem zu erlassenden Rechtsakt in einen inhaltlichen Widerspruch zu einem bereits vorhandenen Akt einer anderen hoheitlichen Stelle zu setzen2. Das Problem der Bindungswirkung stellt sich zum einen insoweit, als man in der Beschlagnahme und Zuweisung des Räumungsschuldners als solchen bereits einen Widerspruch zum Tenor des rechtskräftigen Räumungsurteils oder des Vollstreckungsbeschlusses sehen könnte, der zur Unzulässigkeit der hoheitlichen Maßnahmen führt. Verneint man dies, könnte dennoch eine BindungsWirkung hinsichtlich einzelner Aussagen des Urteils bzw. Beschlusses in Betracht kommen. Folgende Ausgangsbeispiele mögen die Problematik verdeutlichen: Beispiel 1: Der Vermieter hat ein rechtskräftiges Räumungsurteil gegen den Mieter erstritten, dessen Vollstreckung er eingeleitet hat. Aufgrund drohender Obdachlosigkeit mangels anderweitiger Unterbringungsmöglichkeiten verfügt die zuständige Polizeibehörde die Beschlagnahme und die Wiederzuweisung des Räumungsschuldners in die zu räumende Wohnung. Der Räumungsgläubiger wendet ein, die Beschlagnahme und Wiederzuweisung seien schon allein deshalb rechtswidrig, weil sie einen Angriff auf die Rechtskraft des Urteils darstellen würden, welches gerade die Räumung der Wohnung durch den Schuldner titulieren würde. An das Urteil als staatlichen Autoritätsakt und hoheitlichen Leistungsbefehl sei auch die Behörde gebunden. Beispiel 2: Aus den Entscheidungsgründen des rechtskräftigen Räumungsurteils ergibt sich, daß die Kündigung wegen Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Mietverhältnisses rechtmäßig erfolgt ist (vgl. § 569 Abs. 2 BGB i.V. m. § 543 Abs. 1 BGB). Der Räumungsgläubiger ist der Auffassung, die Inanspruchnahme und die Wiederzuweisung seien rechtswidrig, weil durch das Gerichtsurteil auch für die Behörde bindend festgestellt sei, daß ein weiteres Verbleiben des Räumungsschuldners in der Wohnung für ihn unzumutbar i. S. d. § 6 Abs. 1 Nr. 4 MEPolG sei. Beispiel 3: Der Räumungsschuldner stellt einen Antrag auf Vollstreckungsschutz gem. § 765 a ZPO, welcher vom Vollstreckungsgericht mit der Begründung abgelehnt wird, die Vollstreckung stelle auch unter Berücksichtigung grundrechtlicher Wertentscheidungen keine sittenwidrige Härte für diesen dar. Wiederum wendet der Räumungsgläubiger gegen die anschließend verfügte Beschlagnahme und Wiederzuweisung ein, der ablehnende Beschluß des Vollstreckungsgerichts binde die Behörde insofern, als dieses bereits die Höherrangigkeit seines Interesses an der Räumung der Wohnung gegenüber den auch grundrechtlich geschützten Interessen des Räumungsschuldners festgestellt habe.

aufheben kann, und zum anderen auch ein Widerspruchsverbot; vgl. näher Haaf, Die Fernwirkungen gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S.24. 2 Vgl. Brox, ZZP Bd. 73 (1960), 46,49; Haaf\ Die Fernwirkungen gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S.24. 1*

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3. Teil: Zvilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

IL Die Bindung der Verwaltung an ein rechtskräftiges zivilgerichtliches Urteil Geht man zunächst abstrakt der Frage der Bindung der Verwaltung an rechtskräftige Zivilurteile nach, so zeichnet sich ein uneinheitliches Meinungsbild ab. 1. Keine staatsrechtlich begründete Bindung an das Zivilurteil Wenig überzeugend ist die Heranziehung des Kriteriums der „Einheit der Staatsgewalt", das nach teilweise vertretener Ansicht für eine BindungsWirkung eines zivilgerichtlichen Urteils für die Verwaltung sprechen soll. So wurde in der Tat in der älteren Literatur eine Bindungs Wirkung von Zivilurteilen aus der Überlegung heraus angenommen, daß gerichtliche Entscheidungen Ausdruck und Bestätigung einer einheitlichen Staatsgewalt seien und dementsprechend auch von Behörden und Gerichten anderer Gerichtsbarkeiten zu beachten seien3. Indes kann von einer „Einheit der Staatsgewalt" in einem Staat mit so vielfältiger Gewaltenverteilung wie der Bundesrepublik Deutschland von vornherein keine Rede sein4. So würde es gerade der in wechselseitiger Kontrolle und Begrenzung bestehenden ratio der Gewaltenteilung widersprechen, wenn den Akten einer Gewalt unüberprüfbare Verbindlichkeit für eine andere Gewalt beigelegt würden 5. Ebensowenig wie die Berufung auf eine angeblich „einheitliche Staatsgewalt" überzeugen kann, kann das Prinzip der Gewaltenteilung für eine Bindungs Wirkung von Staatsakten für eine andere Gewalt herangezogen werden6. Denn aus dem Prinzip der Gewaltenteilung läßt sich für die Frage nach einer Bindungs Wirkung nichts herleiten: Gewaltenteilung im Sinne des Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG bedeutet anerkanntermaßen nicht völlige Unabhängigkeit und Beziehungslosigkeit der drei Gewalten untereinander mit der Folge, daß eine Gewalt die Akte der anderen nie überprüfen könnte; vielmehr besteht gerade ein System der wechselseitigen Kontrollen und Verzahnungen. Daß Hoheitsträger verschiedener Gewalten nicht unterschiedslos gegenseitig an ihre Akte gebunden sind, zeigt bereits die Tatsache, daß die Verwaltungsgerichte gemäß § 113 Abs. 1 VwGO befugt sind, Verwaltungsakte aufzuheben. Somit zeigt sich, daß sich Kriterien wie 3 Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. III, S. 352ff. spricht vom „staatsrechtlichen Charakter" des Urteils; ähnlich Kuttner, Urteilswirkungen außerhalb des Zivilprozesses, S. 3,196; vgl. auch Forsthoff\ Verwaltungsrecht I, S. 105: „Aus der Tatsache, daß die im Rahmen der ihnen überwiesenen Zuständigkeit selbständig und eigenverantwortlich handelnden Behörden Funktionsträger ein und desselben Staates sind, ergibt sich der Grundsatz, daß jedes Ressort die Akte des anderen Ressorts zu respektieren hat". 4 So auch Bettermann, in: FS für Baur, 273,285; ähnlich Haaf Die Fernwirkungen gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S.40. 5 Vgl. Haaf Die Femwirkungen gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S.40. 6 So aber für Frage der Bindung der Zivilgerichte an Verwaltungsakte z. B. Erichsen, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, § 13, Rdnr.5; wohl auch Knöpfte, BayVBl. 1982, 225,228: Gewalten- und funktionenverteilende rechtsstaatliche Zuständigkeitsordnung; ansatzweise auch Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, §43, Rdnr.93.

3. Teil: Zivilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

197

das der Einheit der Staatsgewalt und der Gewaltenteilung für das Problem der wechselseitigen Bindung von Hoheitsakten als inhaltsleer und damit unbrauchbar erweisen7. 2. Die Bindung der Behörde an Zivilurteile

als Rechtskraftproblem

Die Frage, inwieweit eine Gewalt an die Akte der anderen gebunden ist, muß daher ihren Ausgangspunkt bei der gesetzlichen Ausgestaltung und der verfahrensrechtlichen Wirkung dieser Akte nehmen und überprüfen, inwieweit diese Wirkung auch auf andere Verfahrensbereiche hinüberreicht 8. Richtigerweise ergibt sich daher eine Bindungswirkung der Verwaltung an zivilgerichtliche Urteile nur in den Grenzen der subjektiven und objektiven Rechtskraft des Urteils 9. Inwieweit Verwaltungsbehörden von der subjektiven Rechtskraft eines zivilgerichtlichen Urteils erfaßt werden, ist bisher weitgehend ungeklärt. Sofinden sich nur wenige Stellungnahmen zu dieser dogmatisch äußerst schwierigen Frage. Während teilweise im Bereich hoheitlichen Handelns eine generelle Rechtskrafterstreckung auf Verwaltungsbehörden unabhängig von den Regeln der subjektiven Rechtskraft angenommen wird 10 , wird wohl überwiegend sowohl bei hoheitlicher wie auch fiskalischer Tätigkeit der Behörde eine Bindung nur in den auch sonst anerkannten Grenzen der subjektiven Rechtskraft befürwortet, also nur dann, wenn die Verwaltung bereits Partei des zivilgerichtlichen Prozesses war oder die Voraussetzungen 7 Ebenso Bettermann, MDR 1950, 265, 267; ders., in: FS für Baur, 273, 285; Haaf Die Femwirkungen gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 38 ff., 57. 8 Vgl. Haaf Die Femwirkungen gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S.58; ähnlich Bettermann, in FS für Baur, 273, 281. 9 So auch Bettermann, MDR 1950, 265, 267; ders., in: FS für Baur, 273, 276 ff.; Brox, ZZP Bd. 73 (1960), 46,58 f.; Haaf Die Femwirkungen gerichtlicher und behördlicher Entscheidungen, S. 59ff.; Pohle, in: FS für Apelt, 171, 199; im Ergebnis auch Ewer/v.Detten, NJW 1995, 353,357; Gottwald, in: Münchener Kommentar, ZPO, § 322, Rdnr. 60 ff., 70; Leipold, in: Stein/ Jonas, ZPO, § 322, Rdnr. 299; Schlink, NJW 1988,1689,1691; Vollkommer, in Zöller, ZPO, Vor § 322, Rdnr. 11; grundsätzlich auch Bötticher, in: FS Deutscher Juristentag, Bd. 1, 511, 537 f. 10 So insbesondere Bötticher, in: FS Deutscher Juristentag, Bd. 1,511,537 f. im Anschluß an Kuttner, Urteilswirkungen außerhalb des Zivilprozesses, S. 197, der eine Anwendung der Regeln über die subjektive Rechtskraft nur bei dem privatrechtlich handelnden Fiskus befürwortet, da diese nur für Rechtsuntertanen, nicht aber für Gewalthaber gelten; für generelle Rechtskrafterstreckung wohl Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, Einf §§ 322-327, Rdnr. 21. Gegen die Differenzierung zwischen hoheitlichem Handeln und privatrechtlichem Handeln für die Frage der Erfassung von der subjektiven Rechtskraft überzeugend Bettermann, in FS für Baur, 273, 286ff.: Die Verwaltung stehe den Verfahrensbeteiligten nicht wie der Richter als neutraler Dritter gegenüber, sondern entscheide unter Wahrnehmung des öffentlichen Interesses in eigener Sache. Demgemäß stehe die Verwaltung dem zivilgerichtlichen Urteil nicht in gleicher Weise gegenüber wie ein späterer Richter, sondern vielmehr wie ein sonstiger Dritter, der im späteren möglichen Verwaltungsprozeß als Partei auftrete, so daß sich die Behörde auch bei hoheitlichem Handeln in bezug auf das Urteil in der Rolle des Gewaltunterworfenen, nicht aber in der Rolle des Gewalthabers befinde.

3. Teil: Zvilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

der §§ 325 ff. ZPO vorliegen 11. Eine Bindung soll sich nach einigen Vertretern letzterer Auffassung aus dem Gesichtspunkt der Tatbestandswirkung des Zivilurteils ergeben können12. Eine derartige Tatbestands Wirkung sei dann anzunehmen, wenn es dem Sinn der verwaltungsrechtlichen Norm entspreche, vom Inhalt des Zivilurteils auszugehen und nicht die zivilrechtlichen Vorfragen bei der Verwaltungsentscheidung erneut aufzurollen 13. Eine Rechtskrafterstreckung auf die Verwaltungsbehörde kraft materiellrechtlicher Abhängigkeit wird von Bettermann anerkannt 14. So soll sich durch Auslegung der verwaltungsrechtlichen Norm, welche an ein zivilrechtliches Verhältnis anknüpft, ergeben, ob es auf die wahre Zivilrechtslage ankommt oder auf diejenige, die durch das Urteil zwischen den Primärbeteiligten des Zivilrechtsverhältnisses festgestellt wurde. Schließlich wendet Schwab die von ihm entwickelte Lehre von der Drittwirkung der Rechtskraft 15 auch auf die Frage der Bindung von Verwaltungsbehörden an rechtskräftige Zivilurteile an 16 . Hiernach soll bei Präjudizialität der zivilrechtlich festgestellten Rechtslage das Urteil die Verwaltung auch dann binden können, wenn diese nicht Partei des Vorprozesses war. In objektiver Hinsicht kann sich freilich eine Bindung nur insoweit ergeben, als die Entscheidung in Rechtskraft erwächst. Gemäß § 322 Abs. 1 ZPO sind Urteile der Rechtskraft nur insoweit fähig, als über den durch die Klage erhobenen Anspruch entschieden ist. Mit Anspruch i. S. d. § 322 Abs. 1 ZPO ist dabei nach h. M. der prozessuale Anspruch im Sinne des Streitgegenstandsbegriffs gemeint17. Nur diejenige Rechtsfolge, die aufgrund der Klage den Gegenstand der Entscheidung bildet, kann in Rechtskraft erwachsen. Die einzelnen Glieder des Subsumtionsschlusses nehmen hingegen nicht an der Rechtskraft teil 18 : Nicht von der Rechtskraft erfaßt sind daher nach einhelliger Auffassung die tatsächlichen Feststellungen des Gerichts, die der Entscheidung zugrundeliegenden präjudiziellen Rechtsverhältnisse, die erhobenen 11 So Brox, ZZP Bd. 73 (1960), 46, 58f.; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 316 d, insb. Fn. 407; Vollkommer, in: Zöller, ZPO, Vor § 322, Rdnr. 11; grundsätzlich auch Bettermann, in FS für Baur, 273, 276; ders., MDR 1950, 265, 267; Gottwald, in Münchener Kommentar, ZPO, § 322, Rdnr. 70; Leipold, in Stein/Jonas, ZPO, § 322, Rdnr. 299; Pohle, in: FS für Apelt, 171, 199; offen Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 357. 12 Gottwald, in: Münchener Kommentar, ZPO, § 322, Rdnr. 70; Leipold, in Stein/Jonas, ZPO, §322, Rdnr. 299. 13 So Leipold, in Stein/Jonas, ZPO, § 322, Rdnr. 299. 14 Grundlegend Bettermann, in: FS für Baur, 271, 276 ff. 15 Vgl. grundlegend Schwab, NJW 1960, 2169ff.; ders. ZZP Bd. 77 (1964), 124ff.; ablehnend allerdings die h. M., vgl. z. B. Gottwald, in: Münchener Kommentar, ZPO, § 325, Rdnr. 8; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, §325, Rdnr.80ff.; Rosenberg/Schwab!Gottwald, Zivilprozeßrecht, § 156 III, S. 940. 16 Vgl. Schwab, ZZP Bd. 77 (1964), 124; 157; dem folgend Martens, ZZP Bd. 79 (1966), 404, 437. 17 BGHZ 42, 344; BGH NJW 1996, 3151, 3152; Leipold, in: Stein/Jonas, ZPO, §322, Rdnr. 100; Rosenberg!Schwab!Gottwald, Zivilprozeßrecht, §951113, S.532; Thomas, in: Thomas/Putzo, ZPO, § 322, Rdnr. 17. 18 Vgl. z. B. Thomas, in: Thomas/Putzo, ZPO, § 322, Rdnr. 19; Vollkommer, in: Zöller, ZPO, Vor §322, Rdnr. 31.

3. Teil: Zivilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

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Einreden oder Einwendungen oder die rechtliche Qualifikation des Subsumtionsschlusses19. 3. Bindung der Polizei an das Räumungsurteil? a) Wiederzuweisung kein Angriff auf die Rechtskraft des Urteils Insbesondere in der älteren Rechtsprechung und Literatur wird teilweise eine Bindungs Wirkung der Polizeibehörde an das Räumungsurteil dergestalt angenommen, daß eine Wiederzuweisung bei Bestehen eines rechtskräftigen Räumungstitels grundsätzlich unzulässig sei20. Wache ist der Ansicht, daß die Behörde den gerichtlichen Spruch, daß Vermieter und Mieter zu trennen seien, zu beachten habe, so daß grundsätzlich nur eine „Wiedereinweisung über Kreuz" in eine jeweils andere zu räumende Wohnung in Betracht komme21. Er stützt diese These dabei nicht auf Rechtskrafterwägungen, sondern vielmehr darauf, daß dem Bürger gegenüber das staatliche Wirken und das staatliche Handeln als Einheit erscheinen müssen; eine Wiedereinweisung in die gleiche Wohnung trotz Bestehens eines Räumungsurteils sei ein Handeln wider die Autorität des Staates22. Nach einer Formulierung des OVG Münster handelt es sich bei einer polizeilichen Wiederzuweisung um eine „Vereitelung der Rechtspflege 23". Ähnlich argumentiert neuerdings das VG Köln, wenn es ausführt, daß aus der Bindung der Verwaltungsbehörde an Gesetz und Recht folge, daß diese einen „solchen rechtskräftigen richterlichen Spruch zu beachten hat und ihn nicht durch gegenläufige Maßnahme außer Kraft setzen darf 24 ". Nach dieser Ansicht würde im Beispiel 1 grundsätzlich eine Unzulässigkeit der Wiederzuweisung vorliegen. Obwohl vordergründig ein gewisser Widerspruch zwischen Räumungsurteil und Wiederzuweisung zu liegen scheint, können die vorgebrachten Argumente bei näherer Betrachtung nicht überzeugen25. So wurde bereits oben dargelegt, daß der Topos der Einheit der Staatsgewalt sich ebenso wie der Grundsatz der Gewaltenteilung für die Frage der Bindungswirkung als inhaltsleer und damit unbrauchbar erweist 26. 19

Leipold, in Stein/Jonas, ZPO, § 322, Rdnm. 84ff.; Thomas, in: Thomas/Putzo, ZPO, § 322, Rdnrn. 19, 28 ff.; Vollkommen in: Zöller, ZPO, Vor § 322, Rdnm. 32ff. m. jeweils zahlr. w. Nachw. zur Rspr. 20 OVG Münster, DVB1. 1950, 209; Wacke, ZMR 1954, 250, 251; Drews/Wacke, Allgemeines Polizeirecht, 7. Aufl., S. 261 ff. 21 Wacke, ZMR 1954, 250, 251. 22

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Wacke, ZMR 1954, 250, 251.

OVG Münster, DVB1. 1950, 209. 24 VG Köln, WuM 1982, 220, 221. 25 Ablehnend auch Bettermann, MDR 1950,265,267; Ewer/v.Detten, NJW 1995,353,357; Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 113; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.51 ff. 26 Dies ist nach der wohl h. M. zu verneinen; vgl. bereits oben 3. Teil, A, II, 1.

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3. Teil: Zvilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

Eine BindungsWirkung für die Behörde kann sich daher nur dann ergeben, wenn sie sowohl von den subjektiven als auch den objektiven Grenzen der Rechtskraft erfaßt wird. Unabhängig von der Frage, ob hier eine subjektive Rechtskrafterstreckung auf die Behörde stattfindet 27, zeigt sich jedoch, daß das in der Bindungs Wirkung liegende inhaltliche Widerspruchsverbot mangels Angriff auf den in objektive Rechtskraft erwachsenden Anspruch durch die Beschlagnahme und Wiederzuweisung gar nicht tangiert wird. In Rechtskraft erwächst hier das Bestehen des Räumungsanspruchs des Vermieters. Dieser rechtskräftig festgestellte Räumungsanspruch wird aber durch die Beschlagnahme und Wiederzuweisung weder negiert noch mißachtet. Im Gegenteil: Die festgestellte Räumungsverpflichtung wird der behördlichen Entscheidung gerade zugrundegelegt, indem diese zur Bejahung der gegenwärtigen Gefahr als Tatbestandsvoraussetzung für das polizeiliche Einschreiten führt 28 . Die Beschlagnahme und Wiederzuweisung haben vielmehr lediglich zur Folge, daß die Vollstreckung des Urteils zeitweise suspendiert wird 29 . Hierbei handelt es sich jedoch nicht um eine Mißachtung der rechtskräftigen Feststellung des Urteils selbst30. Vielmehr betrifft die Vollstreckung lediglich die Durchsetzung des festgestellten Anspruchs und ist demgemäß eine von der Rechtskraft zu trennende Urteilswirkung 31. Die mit der Inanspruchnahme und Wiederzuweisung verbundene vorübergehende Verhinderung der Vollstreckung ist aber auch unabhängig von Rechtskrafterwägungen kein Angriff auf das Urteil und die sich in ihm manifestierende Staatsgewalt32. Versteht man - wie Bettermann - die Zwangsvollstreckung lediglich als eine mit Hilfe staatlicher Organe durchgeführte zwangsweise Vollziehung eines privaten Anspruchs 33, so kann man die Inanspruchnahme als zeitweises Verbot der Durchsetzung des privaten Anspruchs qualifizieren, was auch sonst im Bereich des öffentlichen Rechts durchaus geläufig ist. Doch auch wenn man mit der herrschenden Meinung im Leistungsurteil einen hoheitlichen Befehl an den Titelschuldner sieht34 und demge27

Siehe zu dieser Frage oben 3. Teil, A, II, 2. Vgl. auch ForsthoffVerwaltungsrecht I, S. 105, Fn. 3: „Die Behörde anerkennt die durch das Urteil geschaffene Rechtslage schon dadurch, daß sie den zur Räumung Verurteilten als Wohnungssuchenden behandelt". 29 Hierzu, insbesondere zur rechtlichen Begründung der fehlenden Durchsetzbarkeit des Urteils während der Inanspruchnahmedauer näher unten 3. Teil, C, I. 30 So auch Bettermann, MDR 1950, 265, 267: „[...] Vollstreckungsvereitelung ist kein Angriff auf das Urteil und die sich in ihm manifestierende Staatsgewalt"; Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 357; Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 113: „Die die Vollstreckung hemmende Wirkung der Wiedereinweisung kann daher nicht als Verstoß gegen die Tatbestandswirkung der festgestellten privaten Räumungsverpflichtung angesehen werden". 31 Vgl. zu den verschiedenen Urteilswirkungen z.B. Leipold, in Stein/Jonas, ZPO, §322, Rdnr. 8 ff. 32 Vgl. Bettermann, MDR 1950, 265, 267. 33 Vgl. Bettermann, MDR 1950, 265, 267. Diese Auffassung dürfte wohl mittlerweile überholt sein. 34 Vgl. etwa Vollkommer, in: Zöller, ZPO, Vor § 300, Rdnr. 7; Thomas, in Thomas/Putzo, ZPO, Vorbem §253, Rdnr.3; Rosenberg! Schwab!Gottwald, Zivilprozeßrecht, §92,1, 1, S.510; 28

3. Teil: Zivilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

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maß die Zwangsvollstreckung als Erzwingung dieses hoheitlichen Befehls versteht, kommt man zu keinem anderen Ergebnis. Denn auch unter Zugrundelegung dieses Urteilsverständnisses wird der hoheitliche Befehl als solcher nicht durch die Polizei mißachtet, sondern lediglich seine Durchsetzung vorübergehend verhindert. Die Durchsetzung des Urteils liegt aber auch sonst im Ermessen des Gläubigers, in dessen Entscheidungsfreiheit es steht, ob überhaupt und wann er das Urteil vollstrecken lassen will. So würde es niemand als einen Angriff gegen das Urteil als Hoheitsakt ansehen, wenn der Gläubiger aus freien Stücken die Vollstreckung zeitlich weit hinausschiebt oder gar ganz davon absieht. Nichts anderes kann aber dann für den Fall gelten, in dem die zeitliche Hinauszögerung der Durchsetzung des Urteils hoheitlich durch die Inanspruchnahmeverfügung erzwungen ist. Somit ergibt sich, daß im Beispiel 1 das rechtskräftige Räumungsurteil einer Beschlagnahme und Wiederzuweisung nicht entgegensteht. b) Keine Bindung an Vorfragen Auch in sonstiger Hinsicht kann sich eine Bindung der Polizei an das Räumungsurteil nicht ergeben. So hat auch die Annahme einer Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Mietverhältnisses durch das Zivilgericht im Ausgangsbeispiel 2 keinerlei präjudizielle Wirkung für die Behörde. Die Bejahung der Wirksamkeit einer Kündigung nach § 554 a BGB ist lediglich Vorfrage für die Bejahung des Räumungsanspruchs; sie wird daher, wie dargelegt, nicht von der materiellen Rechtskraft des Urteils erfaßt und kann dementsprechend schon nach den Regeln der objektiven Rechtskraft die Behörde nicht binden35. Zudem kann sich auch - abgesehen von Rechtskrafterwägungen - eine Bindung schon deshalb nicht ergeben, weil der Zumutbarkeitsgedanke im Zivilrecht und im Polizeirecht eine völlig unterschiedliche Ausprägung erfahren hat und demgemäß angesichts divergierender Anforderungen beispielsweise die Annahme der Unzumutbarkeit der Fortsetzung des Mietverhältnisses gem. § 569 Abs. 2 i.V. m. § 543 Abs. 1 BGB nicht mit einer Unzumutbarkeit der Inanspruchnahme im Sinne des § 6 Abs. 1 Nr. 4 MEPolG gleichzusetzen ist 36 . Im Ausgangsbeispiel 2 ist demgemäß trotz Bejahung einer Unzumutbarkeit gemäß § 569 Abs. 2 i.V. m. § 543 Abs. 1 BGB Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.51 f. Unzutreffend insoweit Bettermann, MDR 1950, 265, 267, der diese Auffassung als seit 50 Jahren überwunden ansieht. 35 Nicht überzeugen können daher die Ausführungen Bettermanns (MDR 1950, 265, 268), der, obschon von der Prämisse ausgehend, daß sich eine Bindung der Verwaltung nur aufgrund von Rechtskrafterwägungen ergeben kann, eine solche bezüglich der Zumutbarkeit der Fortsetzung des Mietverhältnisses annimmt. So soll seiner Ansicht nach ein Räumungsurteil, welches sich beispielsweise auf eine Kündigung wegen vertragswidrigen Gebrauchs nach § 569 Abs. 2 i.V. m. § 543 Abs. 1 BGB stützt, insoweit Bindungswirkung für die Behörde entfalten, als dies die Unzumutbarkeit und damit die Rechtswidrigkeit der Wiederzuweisung des Räumungsschuldners präjudiziell. 36 Vgl. hierzu auch schon oben 2. Teil, 1. Abschn., B, IV, 3, b).

3. Teil: Zvilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

durch das Zivilgericht eine Inanspruchnahme zulässig, solange die durch die Polizeibehörde selbständig zu überprüfenden Voraussetzungen des § 6 Abs. 1 Nr. 4 MEPolG der erheblichen Eigengefährdung des Inanspruchzunehmenden oder der Verletzung höherrangiger Pflichten nicht erfüllt sind 37 . Allerdings kann auch in Fällen einer fehlenden polizeirechtlichen Unzumutbarkeit eine Rechtswidrigkeit der Inanspruchnahme vorliegen. Wäre bei gleicher Effektivität im Hinblick auf die Gefahrenabwehr ein anderer Wohnungsinhaber als der Räumungsgläubiger durch die Inanspruchnahme weniger belastet, so ist seine Heranziehung ermessensfehlerhaft 38 .

III. Bindung der Polizei an zivilgerichtliche Beschlüsse Nach den dargestellten Grundsätzen kann ebensowenig eine Bindung der Polizeibehörde an einen Beschluß im Vollstreckungsverfahren gemäß § 765 a ZPO (vgl. Ausgangsbeispiel 3) angenommen werden. Hier ist bereits streitig, ob es sich überhaupt um eine der materiellen Rechtskraft fähige Entscheidung handelt39. Aber auch, wenn man dies mit der herrschenden Meinung bejaht40, ist die Polizei an einen ablehnenden Beschluß nach § 765 a ZPO nicht dergestalt gebunden, daß sie eine Inanspruchnahme und Wiederzuweisung nicht verfügen könnte41. Zwar sind grundrechtliche Wertentscheidungen bei der Frage des Vorliegens einer „sittenwidrigen Härte" im Rahmen des Vollstreckungsschutzantrags nach § 765 a ZPO auch vom Zivilgericht zu beachten42. Werden im konkreten Fall die Grundrechte des Räumungsschuldners gegenüber den Interessen des Räumungsgläubigers als geringer bewertet und demgemäß der Vollstreckungsschutz versagt, so handelt es sich jedoch bei der vom Vollstreckungsgericht vorgenommenen Interessenabwägung um eine bloße Vorfrage, die nach allgemeinen Grundsätzen ohnehin nicht in Rechtskraft erwächst43.

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Siehe zur Unzumutbarkeit einer Inanspruchnahme näher oben 2. Teil, 1. Abschn., B, IV. Siehe hierzu bereits 2. Teil, 1. Abschn., D, III. 39 Ablehnend Peters, ZZP Bd. 90 (1977), 145, 146, 153. 40 So OLG Köln, NJW 1993, 2248 f.; Arnold, in: Münchener Kommentar, ZPO, §765a, Rdnr. 103; Walker, in: Schuschke/Walker, ZPO, §765 a, Rdnr. 19; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.57. 41 Ebenso auch Ewer/v. Detten, NJW 1995,353, 357; Schlink, NJW 1988,1689,1691; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 57; a. A. wohl Jauernig, Zwangsvollstreckungsrecht, § 31, VI, S. 143: „Es wäre widersinnig, wenn die Polizeibehörde wegen drohender Obdachlosigkeit eine Zwangseinweisung verfügen könnte, obwohl [...] das Vollstreckungsgericht entschieden hat, daß dem Schuldner die Obdachlosigkeit zuzumuten ist". 42 Vgl. hierzu BVerfGE 52, 214, 219f.; BVerfG, NJW 1991, 3207; BVerfG, NJW 1994, 1719; BVerfGE 84, 245 ff.; BVerfG, NJW 1998, 295; siehe auch näher unten 3. Teil, B, I, 1. 43 So auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 57. Hinzu kommt, daß auch der Prüfungsmaßstab für die Grundrechtsgefährdung im Rahmen des zivilrechtlichen Beschlusses und der polizeirechtlichen Entscheidung ein völlig anderer ist. 38

3. Teil: Zivilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

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B. Das Verhältnis zwischen polizeilicher Wiederzuweisung und zivilgerichtlichem Vollstreckungsschutz Ist somit geklärt, daß zivilgerichtliche Entscheidungen keinerlei BindungsWirkung für die Polizeibehörde im Hinblick auf die Beschlagnahme und Wiederzuweisung entfalten, ist aber damit das Verhältnis zwischen zivilgerichtlicher Entscheidung und polizeirechtlichem Handeln noch nicht umfassend beleuchtet. Berücksichtigt man, daß auch das Zivilprozeßrecht Schutzmechanismen zugunsten des Räumungsschuldners enthält, so stellt sich die bisher wenig geklärte Frage des Verhältnisses zwischen Vollstreckungsschutz und polizeilicher Wiederzuweisung. Gem. § 765 a ZPO kann das Vollstreckungsgericht auf Antrag des Vollstreckungsschuldners eine Maßnahme der Zwangsvollstreckung aufheben, untersagen oder einstweilen einstellen, wenn die Maßnahme unter voller Würdigung des Schutzbedürfnisses des Gläubigers wegen ganz besonderer Umstände eine Härte bedeutet, die mit den guten Sitten nicht vereinbar ist. Das Gericht hat hierbei eine Abwägung zwischen dem für die Vollstreckung sprechenden Interesse des Vermieters und den Schutzinteressen des Mieters zu treffen 44; eine Einstellung kommt nur dann in Betracht, wenn aufgrund der besonderen Umstände des Einzelfalls das Vorgehen des Gläubigers zu einem ganz untragbaren Ergebnis führen würde 45 bzw. mit anderen Worten ein krasses Mißverhältnis zwischen den für und gegen die Vollstreckung sprechenden Interessen besteht46.

I. Die These vom Vorrang des zivilgerichtlichen Vollstreckungsschutzes 1. Polizeiliche Wiederzuweisung

und Subsidiaritätsgrundsatz

Nach Schlink ist eine polizeiliche Beschlagnahme und Wiederzuweisung im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip (vgl. § 2 Abs. 2 bwPolG; § 1 Abs. 2 MEPolG 47 ) grundsätzlich unzulässig48. Nach dem Subsidiaritätsprinzip obliegt der Schutz privater Rechte nur dann der Polizei, wenn gerichtlicher Schutz nicht rechtzeitig zu er44 Vgl. OLG Köln, NJW 1994,1743; Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, Rdnr. 1471; KöhlerlKossmann, Handbuch der Wohnraummiete, § 106, Rdnr. 5; Putzo, in: Thomas/Putzo, ZPO, § 765 a, Rdnr. 9; Stöber, in Zöller, ZPO, § 765 a, Rdnr. 6. 45 So ausdrücklich BGH, NJW 1965, 2107; Köhlerl Kossmann, Handbuch der Wohnraummiete, § 106, Rdnr. 2. 46 So Stöber, in Zöller, ZPO, § 765 a, Rdnr. 6. 47 Der Grundsatz der Subsidiarität polizeilichen Handelns ist in den meisten Bundesländern positivrechtlich geregelt. Als allgemeiner Grundsatz gilt er aber auch in den Bundesländern, in denen er nicht gesetzlich verankert ist; vgl. Drews/WackelVogellMartens, Gefahrenabwehr, § 15, 3, a) b), S.238; Schoch, JuS 1994, 570, 573, Fn.44. 48 Vgl. Schlink, NJW 1988, 1689ff.; dem folgend Steinmeier¡Brühl, KJ 1989, 275, 86.

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3. Teil: Zvilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

langen ist und ohne polizeiliche Hilfe die Gefahr besteht, daß die Verwirklichung des Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert wird. Ausgangspunkt für die Annahme Schlinks bildet dabei die Rechtsprechung BVerfG zur Wirkung der Grundrechte im Vollstreckungsschutzverfahren nach § 765 a ZPO. In einer grundlegenden Entscheidung aus dem Jahre 1979, dem eine Verfassungsbeschwerde eines stark suizidgefährdeten Räumungsschuldners gegen die Ablehnung eines Vollstreckungsschutzantrags durch das Amtsgericht zugrundelag, judizierte das BVerfG, daß die Auslegung des Begriffs der „sittenwidrigen Härte" im Sinne des § 765 a ZPO auch die Wertentscheidungen des Grundgesetzes und die Grundrechte des Räumungsschuldners zu berücksichtigen habe49. Ausgehend von dieser Judikatur zieht Schlink die Schlußfolgerung, das zivilgerichtliche Vollstreckungsschutzverfahren diene der Verwirklichung derselben Rechte wie die polizeiliche Beschlagnahme und Wiederzuweisung, einmal in ihrer privatrechtlichen und einmal in ihrer öffentlichrechtlichen Ausgestaltung50. Sowohl für das Vollstreckungsgericht als auch für die Polizei gehe es um die Frage, ob Menschenwürde, Leben, Gesundheit, Ehe und Familie durch das Verlassen der Wohnung gefährdet oder gar verletzt werden 51. Die Vollstreckungsgerichte seien aber zur Feststellung, ob die Grundrechte durch die Zwangsräumung verletzt würden, primär berufen, so daß das Subsidiaritätsprinzip, welches im Hinblick auf die Gewaltenteilung grundsätzlich weit zu verstehen sei, eine Wiederzuweisung verbieten würde 52. Das gelte zum einen dann, wenn das Vollstreckungsgsgericht unter Verneinung einer Grundrechtsverletzung einen Vollstreckungsschutzantrag abgelehnt habe, weil die Polizei die Entscheidung des Vollstreckungsgericht desavouieren würde und sich demgemäß in eine Kontrollfunktion gegenüber dem Vollstreckungsgericht setzen würde 53; zum anderen gelte dies aber auch dann, wenn das Vollstreckungsgericht noch gar nicht entschieden habe, aber noch angerufen werden könne, da die Polizei einer Entscheidung des Vollstreckungsgerichts nicht vorgreifen dürfe 54. Ähnlich meint Jauernig, daß die Wiederzuweisung ein unzulässiger Eingriff in die zivilgerichtlichen Kompetenzen und ein Überrollen des Vollstreckungsschutzes der Zivilprozeßordnung sei 55 . Schließlich wird von Schlink zur Unterstützung seiner These von der Subsidiarität der polizeilichen Wiederzuweisung auch die Vorschrift des § 1 a MEPolG (vgl. 49

Vgl. BVerfGE 52, 214, 219f.; ebenso auch BVerfG, NJW 1991, 3207 bei gleichgelagertem Sachverhalt; BVerfG, NJW 1994, 1719; vgl. auch BVerfGE 84, 245ff.: Einstellung der Zwangsvollstreckung wegen altersbedingter geistlicher Gebrechlichkeit; BVerfG, NJW 1998, 295: Einstellung der Zwangsvollstreckung bei einem 99-jährigen Räumungsschuldner, dessen Mietvertrag seit 38 Jahren bestand. 50 Schlink, NJW 1988, 1689, 1691. 51 Schlink, NJW 1988, 1689, 1693. 52 Schlink, NJW 1988, 1689, 1693. 53 Schlink, NJW 1988, 1689, 1693. 54 Schlink, NJW 1988, 1689, 1694. 55 Vgl. Jauernig, Zwangsvollstreckungsrecht, §31 VI, S. 143.

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§ 2 Abs. 1 bwPolG) herangezogen, wonach die Polizei (nur) tätig wird, soweit die Abwehr der Gefahr durch eine andere Behörde nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint. Zwar sei hier „in erster Linie [...] an Gefahrenabwehr durch Verwaltungsbehörden gedacht56". Daß der Behördenbegriff aber auch Gerichte umfassen könne, zeige zudem auch Art. 35 GG. Im Hinblick auf ihre Ratio, nämlich der Wahrung der staatlichen Kompetenz Verteilung und der Gewaltenteilung, sei die Vorschrift grundsätzlich weit auszulegen, so daß auch sie für ein Zurücktreten des polizeilichen Einschreitens spreche57. 2. Stellungnahme a) Das Subsidiaritätsprinzip zum Schutz privater Rechte Die zugegebenermaßen prima facie bestechende Argumentation Schlinks kann allerdings bei näherer Betrachtung nicht überzeugen. Das Subsidiaritätsprinzip des § 2 Abs. 2 bwPolG (§ 1 Abs. 2 MEPolG) würde nur dann zu einer Unzulässigkeit der polizeilichen Wiedereinweisung führen, wenn es sich hierbei um eine Maßnahme zum Schutz privater Rechte im Sinne der Vorschrift handeln würde. Dies ist indes - wie im folgenden zu zeigen sein wird - nicht der Fall. Ihren Ausgangspunkt hat die Untersuchung bei der Frage zu nehmen, was unter dem Begriff der „privaten Rechte" zu verstehen ist. Abzulehnen ist in jedem Fall der Definitionsversuch von Krüger, der unter privaten Rechten die Summe der einem privaten Rechtssubjekt zustehenden Rechte versteht, wobei unbeachtlich sein soll, ob diese Rechte ihren Rechtsgrund im öffentlichen oder privaten Recht finden 58. Gegen diese Auffassung spricht nicht nur der Wortlaut der Subsidiaritätsklausel, der von privaten Rechten und nicht von Rechten Privater spricht 59, sondern auch deren Ratio, die darin besteht, die Kompetenzverteilung zwischen Polizei und ordentlichen Gerichten zu wahren 60. Unpräzise ist aber auch die Definition der herrschenden Meinung, die unter privaten Rechten im Sinne der Subsidiaritätsklausel alle Rechtspositionen versteht, die ihre Grundlage ausschließlich in der Privatrechtsordnung finden 61. So sind bei56

Vgl. Schlink, NJW 1988, 1689, 1692. Schlink, NJW 1988, 1689, 1692f. 58 Vgl. Krüger, Privatrechtsschutz als Polizeiaufgabe, S. 12 f. 59 Vgl. Kowalzik, Der Schutz von privaten und individuellen Rechten, S.92; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.28. 60 Vgl. z.B. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Rdnr. 31. 61 Vgl. Frotscher, DVB1. 1976, 695, 699; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 93; Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 95; Kowalzik, Der Schutz von privaten und individuellen Rechten, S. 93 f.; Mußmann, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 123; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 1 MEPolG, Rdnr. 54; ReichertlRuder/Fröhler, Polizeirecht, Rdnr. 117. 57

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3. Teil: Zvilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

spielsweise Leben, Gesundheit, Freiheit und Eigentum als von § 823 BGB geschützte Rechtsgüter auch verfassungsrechtlich fundiert, können aber unzweifelhaft auch „private Rechte" i. S. d. § 2 Abs. 2 bwPolG (§ 1 Abs. 2 MEPolG) darstellen. Dementsprechend führt auch Schlink völlig zutreffend aus, daß ein Recht seine privatrechtliche Qualität und seinen Stellenwert für das Subsidiaritätsprinzip nicht dadurch verliere, daß es auf Grundrechten beruhe, auf Grundrechte zurückgeführt oder aus ihnen abgeleitet werden könne62. Für das Eingreifen des Subsidiaritätsprinzips müssen daher andere Kriterien maßgeblich sein. Entscheidend ist die bereits angesprochene Ratio des Subsidiaritätsgrundsatzes, welche darin besteht, die zivilrechtlichen Streitigkeiten ausschließlich der Zivilgerichtsbarkeit vorzubehalten und somit der staatlichen Kompetenzordnung Rechnung zu tragen 63. Insofern ist - neben der Voraussetzung, daß das Recht seinen Ausdruck in der Privatrechtsordnung gefunden hat - zum einen zu fordern, daß die Gefahr ein Recht betrifft, welches materiellrechtlich eine ausschließlich in die Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte fallende bürgerlichrechtliche Streitigkeit (§13 GVG) begründet 64. Schon dies ist bei der Beschlagnahme von Wohnraum zur Zuweisung an Obdachlose jedoch nicht der Fall. So erfolgt das Einschreiten der Polizei nicht, um einen zivil- bzw. vollstreckungsrechtlichen Konflikt zwischen Mieter und Vermieter zu bereinigen und dem Mieter gegenüber dem Vermieter zu seinem - zivilrechtlich begründeten - Recht auf Verbleib in der Wohnung zu verhelfen, sondern ausschließlich, um grundrechtlich geschützte Rechtsgüter unmittelbar zu schützen. Die Polizeibehörde prüft gerade nicht eine Gefährdung des in § 765 a ZPO begründeten, gegen den Vermieter bestehenden privaten Individualrechts auf Verbleib in der Wohnung, sondern eine unabhängig von dem zivilrechtlichen Konflikt durch die Obdachlosigkeit entstehende Gefahr für die Grundrechte des Räumungsschuldners65. Zum anderen kann die Subsidiaritätsklausel angesichts des angesprochenen Zwecks der Wahrung der staatlichen Kompetenzordnung nur dann zum Zuge kommen, wenn das polizeiliche Handeln tatsächlich einen Übergriff in die Kompetenzen der Zivilgerichtsbarkeit darstellen würde. Dazu müßte aber der Prüfungsgegenstand im polizeilichen Verfahren und im Gerichtsverfahren letztlich derselbe sein, also die 62

Schlink, NJW 1988,1689, 1691. Vgl. z.B. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Besonderes Verwaltungsrecht, Rdnr. 31. 64 Ähnlich Wolf/Stephan, PolG BW, § 2, Rdnr. 15: „private Rechte i. S. von Absatz 2 sind alle privatrechtlichen Rechtsansprüche und Rechtsgüter des § 823 BGB, deren Schutz prinzipiell durch die Inanspruchnahme der ordentlichen Gerichte möglich ist"; vgl. auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.29, die unter einem privaten Recht einen privatrechtlichen Anspruch versteht. Unpräzise dagegen ErichsentBiermann, Jura 1998, 371, 373 sowie Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 94, die einen Konflikt zwischen Privatrechtssubjekten fordern. Wie Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 93, zutreffend herausgearbeitet hat, zählen zu den privaten Rechten aber auch die privatrechtlichen Ansprüche der öffentlichen Hand, da auch diese darauf verwiesen ist, zur Durchsetzung ihrer „privaten" Rechte den ordentlichen Rechtsweg zu beschreiten. 65 Ähnlich auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.29 f. 63

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Polizei die Gefährdung bzw. Verletzung eines Rechts zu prüfen haben, welches sonst Gegenstand eines zivilgerichtlichen Verfahrens wäre 66. Um dies an einem für das Eingreifen der Subsidiaritätsklausel häufig angeführten Beispiel zu verdeutlichen: Anerkanntermaßen unzulässig im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip wäre es etwa, wenn die Polizei auf Antrag eines Gläubigers einen flüchtigen Schuldner stellte und eine privatrechtliche Geldforderung eintriebe 67. Die von der Polizei zu eruierende Gefährdung der Forderung als Individualrecht und damit Teil der öffentlichen Sicherheit, die freilich die Prüfung des Bestehens und der Durchsetzbarkeit dieser Forderung umfassen würde, entspräche hier genau der rechtlichen Prüfung, die auch das Zivilgericht anzustellen hätte. Betrachtet man nun den Prüfungsgegenstand der polizeilichen Beschlagnahme und Wiederzuweisung des Räumungsschuldners und des Vollstreckungsschutzverfahrens, ergeben sich aber erhebliche Unterschiede. So differieren bereits die von Polizei und Gericht zu prüfenden Rechtsvorschriften. Die Polizei prüft gerade nicht eine Gefährdung eines sich aus § 765 a ZPO ergebenden Rechts gegen den Vermieter auf Verbleib in der Wohnung, sondern eine durch die Obdachlosigkeit drohende unmittelbare Grundrechtsgefährdung, woran sich zunächst eine Prüfung der eigenen Gefahrabwehrmöglichkeiten sowie bei deren Fehlen eine Ermessensauswahl zwischen mehreren Nichtstörern anschließt. Dementsprechend unterschiedlich sind auch die anzustellenden rechtlichen und tatsächlichen Erwägungen 68. Bei der zivilgerichtlichen Vollstreckungsschutzentscheidung erfolgt grundsätzlich eine Abwägung zwischen dem Interesse des Vermieters an der Räumung und dem Interesse des Räumungsschuldners, in der bisherigen Wohnung zu bleiben69. Nur dieser Interessenkonflikt ist seitens des Vollstreckungsgerichts zu lösen. Die Polizei hingegen prüft hingegen zunächst die Grundrechtsgefährdung des Räumungsschuldners durch die drohende Obdachlosigkeit. Ist diese zu bejahen, ergibt sich eine polizeiliche Pflicht zur Unterbringung. Ob der Räumungsschuldner in einer gemeindlichen Obdachlosenunterkunft, in der bisherigen Wohnung oder in einer anderen freien Wohnung unterzubringen ist, ergibt erst eine weitere Abwägung zwischen den Interessen der Allgemeinheit, des Räumungsgläubigers sowie anderer Wohnraumeigentümer. Die Interessen der Allgemeinheit sowie weiterer Wohnraumeigentümer bleiben aber im Vollstreckungsschutzverfahren völlig unberücksichtigt 70. Insoweit handelt es sich bei der Vollstreckungsschutzentscheidung lediglich um eine bipolare 66

Vgl. auch Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 32, Fn. 36. Vgl. z.B. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr.31; Götz, Allgemeines Polizeirecht, Rdnr. 94; vgl. auch die von Kowalzik, Der Schutz von privaten und individuellen Rechten, S. 11 f. gebildete 1. Fallgruppe. 68 Vgl. auch Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 358; Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 273; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 54ff.; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 32, Fn.36. 69 Siehe bereits oben 3. Teil, B. 70 Ähnlich Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 273; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 55, vgl. auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.58. 67

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Interessenabwägung, bei der polizeirechtlichen Beschlagnahme und Wiederzuweisung hingegen um eine multipolare Entscheidungssituation. Mit den Worten Gusys ist für das Zivilgericht die soziale Verträglichkeit der Räumung der bisherigen Wohnung, für die Polizeibehörde dagegen die Sozialverträglichkeit der weiteren Unterbringung nach der Räumung beachtlich71. Entgegen der Auffassung Schlinks läßt sich die Identität des Prüfungsgegenstands nicht etwa im Hinblick darauf bejahen, daß - wie im polizeilichen Verfahren - auch im Vollstreckungsschutzverfahren die Grundrechte des Räumungsschuldners zu prüfen sind 72 . Zwar sind in Konsequenz der dargestellten bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung bei drohender Obdachlosigkeit - insoweit ist der These Schlinks nichts entgegenzusetzen - im Rahmen des Antrags nach § 765 a ZPO die tangierten Grundrechte aus Art. 1 Abs. 1GG, Art. 2 Abs. 1, Abs. 2 GG sowie Art. 6 Abs. 1 GG zu berücksichtigen. Allein dies kann jedoch für das Eingreifen des Subsidiaritätsprinzips nicht ausreichen, da der Prüfungsmaßstab und die Wrrkungsweise der Grundrechte in beiden Verfahren durchaus divergieren. So sind die Grundrechte im Vollstreckungsschutzverfahren nur mittelbar im Rahmen der erforderlichen Abwägung zu beachten, während im polizeirechtlichen Verfahren deren unmittelbare Gefährdung geprüft wird 73 . Anders als im polizeirechtlichen Verfahren, in dem sich bei Gefährdung der Grundrechte durch (drohende) Obdachlosigkeit aufgrund einer Ermessensreduktion in der Regel eine Unterbringungspflicht ergibt 74, führt die mittelbare Berücksichtigung grundrechtlicher Wertentscheidungen im Zivilverfahren richtiger Ansicht noch nicht dazu, daß Vollstreckungsschutz bei (drohender) Obdachlosigkeit zwingend zu gewähren ist 75 . Angesichts des von vornherein hohen Stellenwerts der Gläubigerinteressen 76 in der Abwägung können nämlich Umstände, welche die Schuldnerinteressen erheblich entwerten bzw. als nicht schutzwürdig erscheinen lassen, auch in diesem Fall zu einer Versagung des Räumungsschutzes führen 77 . So ist nach herrschender Meinung das Fehlen von Ersatzwohnraum ohne Hinzutreten weiterer Umstände nicht ausreichend, einen Vollstreckungsschutz gem. § 765 a ZPO zu begründen78. Jedenfalls ist der Vollstreckungsschutz gem. 765 a ZPO 71

Vgl. Gusy, Polizeirecht, Rdnr.273. Vgl. Schlink, NJW 1988, 1689, 1693. 73 Siehe auch Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 32, Fn. 36. 74 Wobei allerdings auch hier erst eine weitere Interessenabwägung ergibt, ob der Räumungsschuldner in einer Obdachlosenunterkunft, in der alten Wohnung oder in einer anderen freien Wohnung unterzubringen ist; siehe bereits oben 2. Teil, 2. Abschn., B, IV und D. 75 Bezüglich der insoweit ähnlichen Problematik der durch Räumung drohenden Suizidgefahr bzw. altersbedingter Gebrechlichkeit wie hier auch OLG Köln, NJW 1993, 2248; Münzberg, in Stein/Jonas, ZPO, §765a, Rdnr. 6; Walker/Gruß, NJW 1996, 352, 353. 76 Vgl. zum Stellenwert der Gläubigerinteressen, die grundsätzlich zunächst in der Abwägung überwiegen, näher Walker/Gruß, NJW 1996, 352. 77 So auch Walker/Gruß, NJW 1996, 352, 353. 78 Vgl. OLG Frankfurt, Rpfleger 1981, 24; OLG Oldenburg, NJW 1961, 2119; LG Göttingen, MDR 1967, 847; LG Wiesbaden, DGVZ 1994, 120; Arnold, in: Münchener Kommentar, ZPO, § 765 a ZPO, Rdnr. 64 m. w. Nachw.; Köhler!Kossmann, Handbuch der Wohnraummiete, 72

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dann zu versagen, wenn sich der Räumungsschuldner nicht genügend um eine Ersatzwohnung bemüht hat, da dann sein Interesse nicht hinreichend schutzwürdig ist 79 . So kann sich bei fehlendem Ersatzwohnraum und drohender Obdachlosigkeit des Räumungsschuldners ergeben, daß Vollstreckungsschutz zu versagen ist, während mangels anderer Unterbringungsalternativen die Inanspruchnahme des Räumungsgläubigers und Wiederzuweisung des Räumungsschuldners die einzige in Betracht kommende polizeiliche Gefahrenabwehrmöglichkeit ist 80 . Die Annahme einer Unzulässigkeit der Wiederzuweisung hieße in diesem Fall, daß die Polizei die eintretende Obdachlosigkeit hinzunehmen hätte, was im Ergebnis zu einer Negierung des verfassungsrechtlich fundierten Schutzanspruchs führen würde. Umgekehrt kann sich die Unterschiedlichkeit der von Gericht und Behörde anzustellenden Erwägungen auch dahingehend auswirken, daß zwar Völlstreckungsschutz zu gewähren, eine Inanspruchnahme des Räumungsgläubigers und eine Wiederzuweisung jedoch unzulässig wäre. Jedenfalls nach teilweise vertretener Ansicht kann die drohende vorübergehende Unterbringung in einem Obdachlosenasyl eine sittenwidrige Härte im Sinne des § 765 a ZPO begründen und dementsprechend Völlstreckungsschutz zu gewähren sein81. Gerade im Fall des Vorhandenseins einer Unterkunft in einem Obdachlosensasyl ist aber aufgrund der Möglichkeit eigener behördlicher Gefahrenabwehr die Inanspruchnahme eines Nichtstörers und demzufolge die Wiederzuweisung des Räumungsschuldners unzulässig. Zeigt sich somit, daß bei gleichem Sachverhalt teilweise Räumungsschutz zu versagen, hingegen die Wiederzuweisung zulässig sein kann, umgekehrt aber auch Räumungsschutz zu gewähren, die Wiederzuweisung jedoch rechtswidrig sein kann, so wird die Divergenz des Prüfungsgegenstands mit Auswirkungen auch im Ergebnis evident. Von einem „Übergriff in zivilgerichtliche Kompetenzen82" oder einer „Desavouierung" der zivilgerichtlichen Entscheidung83 kann daher mitnichten gesprochen werden 84. § 106, Rdnr.4;Lackmann, in: Musielak, ZPO, §765 a, Rdnr. 15; Stöber, in: Zöller, ZPO, §765a, Rdnr. 12; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.31, 61. A.A. LG Hamburg, WuM 1991, 114 und 360; LG München, WuM 1993, 473. Vgl. auch OLG Köln, NJW-RR 1995, 1039: Vollstreckungsschutz jedenfalls dann, wenn der Gläubiger den Schuldner beim neuen Vermieter angeschwärzt hat. 79 LG Heilbronn, WuM 1993, 354; AG Köln, WuM 1970, 155; Putzo, in: Thomas/Putzo, ZPO, § 765 a ZPO, Rdnr. 10; Stöber, in: Zöller, ZPO, §765a, Rdnr. 12; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.33; ausführlich Walker/Gruß, NJW 1996, 352, 355 m.w. Nachw. zur Rechtsprechung; a. A. für den Fall, daß die Räumung ansonsten zu einer lebensbedrohlichen Situation führen würde OLG Frankfurt a.M., NJW-RR 1984, 81. 80 So auch Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 378; Ewerlv.Detten, NJW 1995, 353, 358; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 58. 81 So LG Aachen, WuM 1973, 174; LG Hamburg, WuM 1991, 114 und 360; LG Lübeck, WuM 1970,13: bei 80-jährigen Schuldner mit Ehefrau; Siofor, in: Zöller, ZPO, §765 a,Rdnr. 12. 82 So Jauernig, Zwangsvollstreckungsrecht, §31 VI, S. 143. 83 So Schlink, NJW 1988, 1689, 1693. 84 Wie hier im Ergebnis ablehnend Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29, 45, Fn. 77; Erichsen/ Biermann, Jura 1998, 371, 373, 378; Ewerlv.Detten, NJW 1995, 353, 357f.; Günther/Trau14 Reitzig

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b) Subsidiarität im Verhältnis zu anderen Behörden Ebenfalls abzulehnen ist schließlich die von Schlink vorgebrachte These, auch die Vorschrift des § 1 a MEPolG (§ 2 Abs. 1 bwPolG) spreche für ein Zurücktreten der polizeilichen Wiederzuweisung gegenüber dem zivilgerichtlichen Völlstreckungsschutz. Nach einhelliger Ansicht fallen unter den Begriff der „anderen Behörde" i. S. d. § 1 a MEPolG („andere Stelle" i. S. d. § 2 Abs. 1 bwPolG) lediglich Verwaltungsbehörden, die zumindest zum Teil im Aufgabenbereich der Gefahrenabwehr tätig sind 85 . Der Vorschrift liegt der allgemeine Gedanke zugrunde, daß ein polizeiliches Handeln im Eilfall mit der Notwendigkeit sofortiger Gefahrenabwehr zulässig ist, auch wenn diese Gefahrenabwehr sachlich einer anderen Behörde zugewiesen ist 86 . Indes handeln die Zivilgerichte bei der Gewährung von Räumungsschutz weder als Behörden noch nehmen sie Aufgaben der Gefahrenabwehr wahr 87 . Zwar kann auch ein Gericht Behörde sein, soweit es Maßnahmen tätigt, die sich nicht als in persönlicher und sachlicher Unabhängigkeit vorgenommene materielle Rechtsprechungsakte darstellen 88 (z.B. Ausübung des Hausrechts89). Bei der Gewährung von Vollstreckungsschutz geht es jedoch gerade um materielle Rechtsprechungstätigkeit. Daß aber der Behördenbegriff i. S. d. § 1 a MEPolG aufgrund der von Schlink propagierten weiten Auslegung auch die Zivilgerichte in ihrer Rechtsprechungsfunktion erfassen soll, kann nicht überzeugen. Hiergegen spricht neben dem bereits erwähnten Wortlaut sowie der Ratio der Norm auch die Existenz der Regelung des § 1 Abs. 2 MEPolG (§ 2 Abs. 2 bwPolG), deren Zweck gerade darin besteht, die Kompetenzverteilung zwischen Polizeibehörden und ordentlichen Gerichten zu schützen. Insoweit wäre die zusätzliche Erfassung der Zivilgerichte von § 1 a MEPolG (§ 2 Abs. 1 bwPolG) nicht nur überflüssig, sondern würde auch angesichts

mann, NVwZ 1993, 130, 132; Greifeid, JuS 1982, 819, 822; Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 273; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 32, Fn. 36; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.30ff., 58; vgl. auch Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.54ff., die allerdings davon ausgeht, daß Schlink eine - von ihr im Ergebnis abgelehnte - Bindungswirkung der vollstreckungsgerichtlichen Entscheidung für die Polizeibehörde annimmt. Eine Bindungswirkung wird jedoch auch von Schlink unter Berufung auf allgemeine Grundsätze der Rechtskraft explizit abgelehnt, vgl. Schlink, NJW 1988, 1689, 1691. 85 Vgl. Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 225; Rasch, Allgemeines Polizei- und Ordnungsrecht, § 1 a MEPolG, Rdnr. 1; Stephan, VB1BW 1984, 47, 48f.; WolflStephan, PolG BW, § 2, Rdnr. 11; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 88. Streitig ist insoweit, ob unter den Begriff der anderen Stelle i. S. d. § 2 Abs. 1 bwPolG auch allgemeine und besondere Polizeibehörden fallen, vgl. Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 129 m. w. Nachw. 86 Vgl. Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 128. 87 Im Ergebnis ablehnend auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.25. 88 Vgl. für den Behördenbegriff des § 1 Abs. 4 LVwVfG z.B. Schenke, Verwaltungsprozeßrecht, Rdnr. 190. 89 Nach Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 129 ist das behördliche Hausrecht ein Beispiel der partiellen Gefahrenabwehrzuständigkeit einer anderen Behörde, die zur subsidiären Zuständigkeit der Polizei führt.

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der unterschiedlichen Voraussetzungen für eine (subsidiäre) Zuständigkeit der Polizeibehörden90 zu Widersprüchen führen.

II. Die These vom Vorrang der polizeilichen Wiederzuweisung Im Gegenzug wird von Teilen der Rechtsprechung und Literatur angenommen, bei drohender Obdachlosigkeit trete der Vollstreckungsschutz gem. § 765 a ZPO gegenüber der polizeilichen Inanspruchnahme und Wiederzuweisung zurück 91. Dies wird zum einen damit begründet, daß die Vermeidung von Obdachlosigkeit eine polizeiliche Aufgabe sei und es dem Gläubiger nicht zugemutet werden könne, Aufgaben staatlicher Fürsorge für Obdachlose zu übernehmen92. Zum anderen wird vorgebracht, das polizeiliche Einschreiten sei interessengerechter, da der Vermieter Entschädigung von der öffentlichen Hand erhalte, während ihm im Fall der Anwendung des § 765 a ZPO weiterhin nur der (zumeist insolvente) ehemalige Mieter als Schuldner zur Verfügung stünde. Demzufolge sei bei drohender Obdachlosigkeit die Möglichkeit der polizeilichen Wiederzuweisung schon im Räumungsverfahren zu prüfen und Vollstreckungsschutz abzulehnen93. Indes kann auch das Postulat eines generellen Zurücktretens des Vollstreckungsschutzes gegenüber der polizeilichen Wiederzuweisung bei drohender Obdachlosigkeit nicht überzeugen94. Zwar ist für sich genommen die Aussage, daß die Vermeidung und Beseitigung von Obdachlosigkeit eine polizeiliche Aufgabe ist, durchaus zutreffend. Der polizeirechtliche Schutz greift jedoch erst dann ein, wenn ein zivilrechtliches Recht des Räumungsschuldners auf Verbleib in der Wohnung gerade nicht besteht, ist also zeitlich grundsätzlich nachgelagert95. Ob ein solches zivilrechtliches Recht besteht, bestimmt sich jedoch nach eigenen Kriterien. Die Auffassung von der Berücksichtigung der Wiederzuweisungsmöglichkeit bereits im Vollstreckungsschutzverfahren beinhaltete hingegen die Bejahung einer Vorabprüfung der polizeilichen Unterbringungspflicht. Dies erscheint jedoch zum einen aus kompetenzrechtlichen Gründen äußerst bedenklich, denn damit wären Vorschriften Ge90 Gemäß § 1 Abs. 2 MEPolG ist neben der Unmöglichkeit der rechtzeitigen Erlangung gerichtlichen Schutzes weiterhin für eine subsidiäre polizeiliche Zuständigkeit Voraussetzung, daß ohne polizeiliche Hilfe die Verwirklichung des Rechts vereitelt oder wesentlich erschwert werden würde. § 1 a MEPolG verlangt hingegen nur, daß die Abwehr der Gefahr nicht oder nicht rechtzeitig möglich erscheint. 91 So Rupp/Fleischmann, Rpfleger 1985, 71, 72, wohl auch OLG Frankfurt, Rpfleger 1981, 24; OLG Oldenburg, NJW 1961, 2119; Lackmann, in Musielak, ZPO, §765 a, Rdnr. 15; Münzberg, in Stein/Jonas, ZPO, 20. Aufl., § 765 a ZPO, Rdnr. 7. 92 OLG Frankfurt, Rpfleger 1981,24; OLG Oldenburg, NJW 1961,2119; Lackmann, in Musielak, ZPO, § 765 a, Rdnr. 15; Münzberg, in Stein/Jonas, ZPO, 20. Aufl., § 765 a ZPO, Rdnr. 7. 93 Vgl. Rupp/Fleischmann, Rpfleger 1985, 71, 72. 94 Ablehnend auch Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 359; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.62; Stöber, in: Zöller, ZPO, §765 a, Rdnr. 12; wohl auch Putzo, in: Thomas/Putzo, ZPO, § 765 a, Rdnr. 9. 95 So auch Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 373 f.

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genstand des zivilgerichtlichen Verfahrens, deren Anwendung und Überprüfung - zeitlich nachgelagert - den Polizeibehörden und letztlich der Verwaltungsgerichtsbarkeit obliegt 96 . Zum anderen ist die Vörabprüfung einer Inanspruchnahme des Räumungsgläubigers und einer Wiederzuweisung schon deshalb problematisch, da zum Zeitpunkt der Entscheidung über den Vollstreckungsschutzantrag über die polizeirechtlichen Voraussetzungen häufig noch gar nicht abschließend befunden werden kann 97 . Ist nämlich im für die polizeiliche Entscheidung maßgeblichen Zeitpunkt eine Unterkunft im Obdachlosenasyl verfügbar, so ist aufgrund des Vorrangs der behördlichen Gefahrenabwehr eine Beschlagnahme und Wiederzuweisung unzulässig. Hinzu kommt, daß etwaige Feststellungen des Vollstreckungsgerichts aufgrund allgemeiner Rechtskrafterwägungen für die Polizei nicht bindend wären 98. Dies könnte also zu dem widersprüchlichen Ergebnis führen, daß das Völlstrekkungsgericht einen Antrag nach § 765 a ZPO aufgrund einer vermeintlich zu erfolgenden polizeilichen Wiederzuweisung zurückweist, die Polizeibehörde diese aber aus polizeirechtlichen Gesichtspunkten ablehnt99. Eine Subsidiarität des Vollstreckungsschutzes gegenüber einem polizeilichen Einschreiten würde überdies jeder gesetzlichen Grundlage entbehren. So entscheidet sowohl das Zivilgericht als auch die Polizei nach Maßgabe der jeweils einschlägigen Regelungen und unter Berücksichtigung der insoweit beachtenswerten Kriterien, die, wie die Untersuchung gezeigt hat, durchaus divergieren. Daß aber eine Stelle ihren Schutz von vornherein im Hinblick darauf versagt, daß auch eine andere Stelle einen völlig andersgearteten und auf anderen Voraussetzungen basierenden Schutz gewähren kann, kann ohne explizite gesetzliche Subsidiaritätsregelung kaum überzeugen.

III. Zusammenfassung Die Untersuchung hat somit gezeigt, daß ein Subsidiaritätsverhältnis zwischen Vollstreckungsschutzentscheidung und polizeilicher Inanspruchnahme und Wiederzuweisung weder in der einen noch in der anderen Richtung angenommen werden kann. So handelt es sich aufgrund der Divergenz der zu prüfenden Vorschriften und der anzustellenden Erwägungen seitens der Polizei nicht um einen Übergriff in die Kompetenzen der Zivilgerichtsbarkeit. Zwar beachtet auch das Vollstreckungsgericht in Konsequenz der bundesverfassungsgerichtlichen Rechtsprechung bei seiner Entscheidung mittelbar die durch eine drohende Obdachlosigkeit tangierten Grundrechte. Aufgrund der durchzuführenden umfassenden Interessenabwägung, in der die berührten Grundrechte nur ein Abwägungsposten sind, kann aber bei überwie96

Vgl. auch Ewer/v. Detten, NJW 1995, 353, 359; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.62. 97 Ähnlich Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.63. 98 Siehe hierzu bereits oben 3. Teil, A, III. 99 Vgl. auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.62.

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genden Gläubigerinteressen oder Umständen, welche die Schuldnerinteressen als nicht schützenswert erscheinen lassen, dennoch Vollstreckungsschutz zu versagen sein. Umgekehrt kann das Zivilgericht bei drohender Obdachlosigkeit aber nicht den Vollstreckungsschutz allein im Hinblick auf eine sich anschließende potentielle polizeiliche Wiederzuweisung verneinen. Dies könnte aus kompetenzrechtlichen Erwägungen heraus nicht überzeugen. Im Ergebnis bleibt daher festzuhalten, daß sowohl die Zivilgerichte als auch die Polizei die jeweils für sie einschlägigen Vorschriften unter Berücksichtigung der insoweit maßgeblichen Interessen zu überprüfen haben. Dennoch sind polizeiliche Maßnahmen und das Vollstreckungsschutzverfahren nicht völlig unabhängig voneinander. So kann der Ausgang des zeitlich grundsätzlich vorgelagerten Vollstreckungsschutzverfahrens für die polizeiliche Entscheidung durchaus Relevanz haben. Bedeutung erlangt der zivilrechtliche Schutz zum Beispiel für die Frage des polizeilichen Gefahrentatbestands 100. Wird Vollstreckungsschutz gewährt, so liegen die Voraussetzungen für ein polizeilichen Einschreiten (noch) nicht vor, da für das Vorliegen einer qualifizierten Gefahr das unmittelbare Bevorstehen des Räumungstermins zu fordern ist 101 . Zudem kann sich bereits gewährter Räumungsschutz auch auf die Frage des Auswahlermessens der Behörde hinsichtlich mehrerer Nichtstörer zugunsten des ehemaligen Vermieters auswirken 102.

C. Die Auswirkungen von Beschlagnahme und Wiederzuweisung auf das zivilgerichtliche Räumungsurteil I. Die fehlende Durchsetzbarkeit des Räumungsurteils während der Beschlagnahme- und Zuweisungsdauer Als allgemein anerkannt dürfte gelten, daß während der Dauer der Inanspruchnahme das zivilgerichtliche Räumungsurteil durch den Vermieter nicht vollstreckt werden kann 103 . Unklar ist allerdings die dogmatische Verankerung dieser These, die im folgenden untersucht werden soll. 100

Vgl. Ewerlv.Detten, NJW 1995, 353, 359. Vgl. hierzu bereits ausführlich oben 2. Teil, 1. Abschn., B, I, 2. 102 Siehe bereits oben 2. Teil, 1. Abschn., D, III, 2. 103 Vgl. BGHZ 130, 332, 336f.; OVG Münster, MDR 1957, 188, 189; OLG Hamm, NJW 1960, 1016, 1018; OLG Köln, NJW 1957, 1525; OLG Frankfurt, MDR 1969, 852, 853; OLG Nürnberg, NJW 1953, 1398; OLG Stuttgart, NJW 1956, 1844; LG Arnsberg, ZMR 1963, 31; LG Bonn, WuM 1990, 585, 586; LG Braunschweig, ZMR 1955, 277; LG Darmstadt, DGVZ 1989, 24; LG Freiburg, DGVZ 1989, 155; LG Gießen, DGVZ 1993, 73, 74; LG Heilbronn, MDR 1992, 910; DGVZ 1993, 43, 44; LG Köln, ZMR 1958, 33; AG Dortmund, ZMR 1959, 276; AG Rielingen, DGVZ 1989, 77; AG Melsungen, DGVZ 1973, 191; AG Mainz, ZMR 1954, 128; AG Villingen-Schwenningen, DGVZ 1989, 77, 78; Bettermann, MDR 1957, 130, 133; Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, Rdnr. 1061; Burkhardt, Handbuch für den Gerichtsvollzieher, § 181 GVGA, Anm.4; Eichert, BWVPr. 1983,234,237; Enders, Verw Bd. 30 101

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1. Umgestaltung der Besitzverhältnisse? Nach wohl herrschender Auffassung ist die fehlende Vollstreckbarkeit des Räumungstitels während der Dauer der Beschlagnahme des Wohnraums und der Zuweisung des Räumungsschuldners Folge einer Umgestaltung der zivilrechtlichen Besitzverhältnisse 104. Hiernach gehe mit der Beschlagnahme der unmittelbare Besitz an der Wohnung i. S. d. § 854 Abs. 1 BGB vom Räumungsschuldner auf die Polizei über, wohingegen dem Räumungsschuldner während der Zuweisungszeit lediglich die Stellung eines Besitzdieners gem. § 855 BGB zukomme. Da zur Räumungsvollstreckung jedoch ein Vollstreckungstitel gegen den unmittelbaren Besitzer erforderlich sei und gegen die Polizei kein Titel vorliege, sei während der Beschlagnahmedauer keine Zwangsvollstreckung des Räumungsurteils möglich 105 . Vollstreckungsrechtlich ist - was aus der Vorschrift des § 886 ZPO folgt - in der Tat ein Titel gegen den Gewahrsamsinhaber erforderlich, wobei Gewahrsamsinhaber in diesem Sinne nicht der Besitzdiener, sondern lediglich der unmittelbare Besitzer i. S. d. § 854 Abs. 1 BGB ist 106 . Träfe die Umgestaltung der Besitz Verhältnisse zu, so wäre tatsächlich in Ermangelung eines Titels gegen die Polizei als unmittelbarer Besitzerin die Vollstreckbarkeit des Räumungsurteils während der Beschlagnahme- und Zuweisungsdauer ausgesetzt. Die zivilrechtliche Besitzlage wird nicht nur im Zusammenhang mit der Frage der Vollstreckbarkeit des Räumungsurteils während der Zuweisungsdauer diskutiert. Maßgebliche Bedeutung wird ihr auch hinsichtlich der Problematik des Folgenbeseitigungsanspruchs des Vermieters auf Exmittierung des Obdachlosen beigemessen107. So begründet die heute noch herrschende Meinung einen Folgenbeseiti(1997), 29,45; GüntherITraumann, NVwZ 1993,130,135; Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 126f; Köhler!Kossmann, Handbuch der Wohnraummiete, § 107 Rdnr. 11; Lackmann, in: Musielak, ZPO, § 885, Rdnr. 19; Less, ZMR 1957, 221; Maercks, NJW 1955, 820; Noaclc, DGVZ 1978, 161, 163; ders., ZMR 1981, 33, 34; Pawlowski, ZZP Bd. 102 (1989), 440, 441; ders., DGVZ 1992, 97, 99; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.274f.; Roth, DVBL 1996, 1401, 1403; Tenbieg, DGVZ 1988, 184, 185; Schoenenbroicher, MDR 1993, 97, 98; Spannowsky, BWVPr. 1991, 197, 201; Stöber, in: Zöller, ZPO, §885, Rdnr. 36; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 120 f. 104 OLG Köln, NJW 1957, 1525 f.; AG Mainz, ZMR 1954, 128; AG Villingen-Schwenningen, DGVZ 1989, 77, 78; Bettermann, MDR 1957, 130, 133; BroxIWalker, Zwangsvollstrekkungsrecht, Rdnr. 1061; Burkhardt, Handbuch für den Gerichtsvollzieher, § 181 GVGA, Anm.4; ähnlich Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29, 46; GüntherlTraumann, NVwZ 1993, 130, 135; Maercks, NJW 1955, 820; AJoack, DGVZ 1978, 161, 163, 164; ders., ZMR 1981, 33, 34; Pawlowski, ZZP Bd. 102 (1989), 440,441 ;ders., DGVZ 1992,97,99; Roth, DVB1.1996,1401, 1403; Tenbieg, DGVZ 1988,184, 185. 105 Vgl. insoweit die in Fn. 104 Genannten. 106 Vgl. z.B. Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, §885, Rdnr.2; Lackmann, in: Musielak, ZPO, § 885, Rdnr. 6; Stöber, in: Zöller, ZPO, § 885, Rdnm. 5 ff.; ThomasIPutzo, ZPO, § 885, Rdnr. 1. 107 Vgl. insoweit schon grundlegend Bettermann, MDR 1957, 130, 132; ausführlich auch Roth, DVB1. 1996, 1401, 1402ff.

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gungsanspruch des Vermieters auf Räumung der Wohnung durch die Polizei in der Konstellation der unechten Wiederzuweisung im wesentlichen mit der Umgestaltung der Besitzlage durch die hoheitliche Beschlagnahme und deren Bestehenbleiben auch nach Unwirksam werden der Beschlagnahme108. Da es sich somit bei den Besitzverhältnissen während der Dauer der Inanspruchnahme - über das Problem der Vollstreckbarkeit des Urteils hinaus - um eine Frage mit erheblichen praktischen Auswirkungen auch im Bereich des öffentlichen Rechts handelt, erscheint es insofern angebracht, diese an dieser Stelle ausführlicher zu untersuchen. a) Die Besitzverhältnisse an der Wohnung während der Dauer der Beschlagnahme und Zuweisung Große Teile der Rechtsprechung und Literatur gehen in der Tat davon aus, daß die Polizei mit der Beschlagnahme der Wohnung unmittelbare Besitzerin i. S. d. § 854 BGB werde, wohingegen der Obdachlose während der Zuweisungsdauer lediglich die Stellung eines Besitzdieners der Behörde gem. § 855 BGB innehabe, durch den die Polizei ihre unmittelbare Sachherrschaft ausübe109. Begründet wird diese Auffassung - wenn überhaupt - damit, daß der Obdachlose die Sachherrschaft über den Wohnraum lediglich unselbständig, in enger Abhängigkeit von der Behörde und nach ihren Weisungen ausübe, ohne dabei irgendein Recht auf das Verweilen gerade in den betreffenden Räumlichkeiten zu haben110. Er unterliege hinsichtlich „der Art, des Umfangs und der Dauer der Benutzung" den Weisungen der Polizeibehörde 111, so daß somit das für die Besitzdienerschaft wesenstypische „Über- und Unterordnungsverhältnis" bestehe112. Alleinige Verfügungsberechtigte über die Räume bleibe hingegen die Polizei 113 . Anderer Auffassung zufolge soll mit der Zuweisung der Wohnung der Obdachlose nicht Besitzdiener, sondern vielmehr unmittelbarer Besitzer des Wohnraums gem. § 854 BGB werden bzw. im Fall der unechten Wiederzuweisung bleiben 114 . Da der Obdachlose die unmittelbare Sach108

Vgl. hierzu näher unten 4. Teil, 1. Abschn., A, IV, 2, a), aa). VG Neustadt, NJW 1965,833,834,835; VGH Mannheim, NJW 1990,2770,2771; OLG Köln, NJW 1957,1525 f.; AG Dortmund, ZMR 1959,276; Adler, NJW 1963,717,718; Benner, Der Städtetag 1958, 4ff.; Bettermann, MDR 1957, 130, 132; Brehm, in: Stein/Jonas, ZPO, §885, Rdnr. 20; Maercks, NJW 1955, 820; Noack, DGVZ 1978, 161, 163; Pawlowski, ZZP Bd. 102 (1989), 440, 445; ders., DGVZ 1992, 97, 99; Pentz, NJW 1954, 432; Roth, DVB1. 1996, 1401, 1402; Tenbieg, DGVZ 1988, 184, 185; offen BGHZ 130, 332, 337. 110 So VG Neustadt, NJW 1965, 833, 835. 1,1 Bettermann, MDR 1957,130,132; Ad/er, NJW 1963,717,718; /torÄ,DVBl. 1996,1401, 1402. 112 Adler,NW 1963,717,718. 1,3 Adler, NJW 1963, 717, 718; Pentz, NJW 1954, 432. 114 So Teile der älteren Rechtsprechung, vgl. LG Mainz, NJW 1954,194,195; LG Hamburg, ZMR 1955, 278 hinsichtlich einer Inanspruchnahme nach dem aufgehobenen §31 WoBewiG; vgl. auch LG Essen, ZMR 1956, 8,9; LG Frankenthal, ZMR 1957,198; LG Köln, ZMR 1958, 33, 34; ausführlich Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S.64ff.; ebenso Erichsen/Bier109

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herrschaft über den Wohnraum ausübe, sei die Annahme einer Besitzdienereigenschaft lebensfremd 115; zudem sei der Obdachlose auch nicht gegenüber der Behörde in bezug auf die Benutzung der Wohnung uneingeschränkt weisungsgebunden 116 . Analysiert man die Besitzverhältnisse für den Zeitraum der Beschlagnahme und Zuweisung des Wohnraums, so erscheint es allein vertretbar, dem Obdachlosen die Stellung als unmittelbarer Besitzer i. S. d. § 854 BGB zuzuerkennen. Die Annahme einer Besitzdienerschaft des Obdachlosen gem. § 855 BGB unter gleichzeitiger Anerkennung einer Besitzerstellung der Behörde erscheint dabei aber nicht nur „lebensfremd", sie kann auch in rechtlicher Hinsicht nicht überzeugen. Gem. § 854 Abs. 1 BGB wird der unmittelbare Besitz über eine Sache durch die Erlangung der tatsächlichen Gewalt über diese erworben. Erforderlich ist insoweit die Herstellung einer tatsächlichen Herrschaftsmacht, auf eine Sache unmittelbar einwirken zu können, wobei deren Vorliegen nach der Verkehrsanschauung aufgrund zusammenfassender Wertungen aller Umstände zu beurteilen ist 117 . Bereits oben im Zusammenhang mit der Erörterung der Sachherrschaftsverhältnisse wurde ausführlich dargelegt, daß dem Obdachlosen während der Zuweisungsdauer eine derartige tatsächliche Herrschaftsmacht über den Wohnraum zukommt 118 . Er verfügt über die Wohnungsschlüssel und damit über die jederzeitige Nutzungsmöglichkeit des Wohnraums. Die Anerkennung einer unmittelbaren Sachherrschaft des Obdachlosen besagt allerdings noch nicht, daß dieser auch als unmittelbarer Besitzer i. S. d. § 854 Abs. 1 anzusehen ist, da auch der Besitzdiener die rein tatsächlich zu verstehende Sachherrschaft ausübt. Unter den von § 855 BGB aufgestellten Voraussetzungen wird nämlich der Besitz einer anderen Person normativ zugerechnet: „Übt jemand die tatsächliche Gewalt über eine Sache für einen anderen in dessen Haushalt oder Erwerbsgeschäft oder in einem ähnlichen Verhältnisse aus, vermöge dessen er den sich auf die Sache beziehenden Weisungen des anderen Folge zu leisten hat, so ist nur der andere Besitzer" (§ 855 BGB). Nach herrschender Ansicht erfordert die Besitzdienerschaft jedoch ein nach außen erkennbares soziales Abhängigkeitsverhältnis, kraft dessen der Besitzer die tatmann, Jura 1998,371,378; Haarmann, DVB1. 1957,144,145; Knemeyer, JuS 1988,696,698; Less, ZMR 1957, 221, 222f.; Loppuch, NJW 1952, 389; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.59, 76f.; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.262, 290f.; SchmidtFutterer,, NJW 1962, 471, 475; ders., ZMR 1972, 69, 71; Schoenenbroicher, MDR 1993, 97, 98 f.; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.94ff. 115 Schoenenbroicher, MDR 1993, 97, 98. 116 Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 378, Fn. 121. 117 BGHZ 101, 186; Bassenge, in: Palandt, BGB, §854, Rdnr.2; Wolf/Stephan, PolG BW, §7, Rdnr. 8. 118 Vgl. oben 2. Teil, 1. Abschn., A, IV, 3, a), bb). A.A. Pentz, NJW 1954, 432, der-ohne Begründung - bereits die tatsächliche Gewalt des Obdachlosen über die Wohnung verneinen will.

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sächliche Gewalt durch einen anderen ausübt . Der Besitzdiener hat keinen eigenen Willen über die Sache, er ist lediglich das Werkzeug des Besitzers für die Ausübung der tatsächlichen Gewalt über die Sache120. Erforderlich ist eine tatsächliche Unterordnung unter den Besitzherrn derart, daß seinen Weisungen schlechthin Folge zu leisten ist und dieser notfalls selbst eingreifen darf 121 . In der Regel ist dabei der Besitzdiener in eine Organisation bzw. einen Herrschaftsbereich eingegliedert 122. Ein so definiertes Verhältnis kann allerdings zwischen Polizei und Obdachlosem nicht bejaht werden. So fehlt es bereits an einem sozialen Abhängigkeitsverhältnis zwischen der Behörde und dem Betroffenen 123. Auch kann keine Rede davon sein, daß der Obdachlose ein bewußt eingeschaltetes Werkzeug behördlichen Willens ist, der keinen eigenen Willen über die Sache hat. So will die Polizei nicht „durch den Obdachlosen" ihre tatsächliche Gewalt über die Wohnung ausüben124; vielmehr ist der Obdachlose gerade Inhaber eines gegen die Behörde gerichteten subjektiven Rechts auf Einräumung der unmittelbaren Sachherrschaft über einen Wohnraum. Nach dem Inhalt des gegen die Polizei bestehenden Anspruchs ist der Obdachlose mithin gerade berechtigt, die Wohnung nach eigenem Willen zu nutzen125. Zutreffend formuliert Hegel 126: „[Der Obdachlose] soll die tatsächliche Sachherrschaft nicht stellvertretend ,für' und ,anstelle' der Ordnungsbehörde ausüben, vielmehr will und muß die Ordnungsbehörde sie ihm einräumen und belassen, wenn sie die Störung [...] verhindern und beseitigen will". 119 Vgl. BGH L M Nr. 2 zu § 1006 BGB; RGZ 71, 248, 252; Bassenge, in: Palandt, BGB, § 855, Rdnr. 1; Mühl, in: Soergel, BGB, § 855, Rdnr. 3; Bund, in: Staudinger, BGB, § 855, Rdnr. 6 m. w. Nachw.; vgl. auch BGHZ 27, 360, 363. 120 BGH L M Nr. 2 zu § 1006 BGB. 121 RGZ 71, 248, 252; BGHZ 27, 360, 363; Bassenge, in: Palandt, BGB, §855, Rdnr. 1. 122 Vgl. Ballerstedt, AcP Bd. 151 (1950/1951), 501,509; Bassenge, in: Palandt, BGB, §855, Rdnr. 1. 123 Vgl. auch Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 67; Schoenenbroicher, MDR 1993, 97, 98 f. 124 Vgl. auch Less, ZMR 1957, 221, 222. 125 A. A. sind diejenigen Vertreter einer älteren Auffassung, die dem Obdachlosen kein subjektives Recht gegen die Behörde einräumen wollen, sondern meinen, die ZuweisungsVerfügung ergehe allein im öffentlichen Interesse; vgl. z. B. Adler, NJW 1963,717,718: „Als Störer wird aber der Mieter vom handelnden Subjekt, das eigenverantwortlich am Rechtsverkehr teilnimmt, da er hierzu nicht mehr imstande ist, zum Objekt polizeilichen Handelns [sie!]. Die Wiedereinweisung stellt deshalb auch nicht einen den Obdachlosen begünstigenden Verwaltungsakt dar, das heißt, die Wiedereinweisung erweitert nicht dergestalt den Rechtskreis des Räumungsschuldners, daß ihm hierdurch [...] ein Recht eingeräumt wird, in der Wohnung zu verbleiben". Siehe auch Pentz, NJW 1954,432: „[Die Notstandsmaßnahmen] ergehen nicht im Interesse des Einzelnen, sondern rechtfertigen sich allein zur Abwendung einer Gefährdung für die öffentliche Ordnung. Hieraus ergibt sich, daß die Beschlagnahme nur zugunsten der Gemeinde und nicht zugunsten des Obdachlosen ergehen darf". Diese Auffassung kann allerdings inzwischen als überholt angesehen werden. Vgl. näher zu der Frage, daß dem Obdachlosen ein subjektives Recht auf Zuweisung von Wohnraum zusteht, oben 2. Teil, 2. Abschn., B, I, 2. 126 Siehe Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 67.

3. Teil: Zvilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

Nicht durchgreifen kann demgegenüber das Argument der Gegenmeinung, für eine Besitzdienerschaft spreche die Weisungsbefugnis der Behörde hinsichtlich der Dauer der Aufenthalts und somit das fehlende Recht des Obdachlosen, gerade in den betreffenden Räumlichkeiten zu verbleiben 127. Richtig ist zwar, daß die Polizei das Recht 128 hat, den Obdachlosen in eine andere Unterkunft „umzusetzen" und damit das Nutzungsrecht an den betreffenden Räumlichkeiten zu beenden129. Jedoch sagt die Dauer der Nutzung nichts über den Inhalt der Nutzungsberechtigung aus. Auch die Möglichkeit, dem Obdachlosen den betreffenden Wohnraum wieder zu entziehen, spricht nicht gegen eine Besitzerstellung des Obdachlosen. Dies belegen zwei Parallelfälle im Zivilrecht: So bewirkt im Rahmen eines Verwahrungsvertrages das jederzeitige Rückforderungsrecht des Hinterlegers nach § 694 BGB ebenfalls nicht, daß der Verwahrer lediglich Besitzdiener ist; vielmehr ist das Verwahrungsverhältnis in der Legaldefintion des § 868 BGB gerade als Beispiel für ein Besitzmittlungsverhältnis genannt. Gleiches gilt für das jederzeitige Rückforderungsrecht des Verleihers bei unbestimmter Leihdauer gem. § 604 Abs. 3 BGB. Auch soweit angenommen wird, daß der Obdachlose entweder aufgrund eines sog. besonderen Gewaltverhältnisses130 oder aufgrund der polizeilichen Generalklausel 131 Weisungen hinsichtlich der Art und des Umfangs der Nutzung unterliege, spricht dies nicht für eine Besitzdienerschaft des Obdachlosen132. Denn die für eine Besitzdienerschaft wesenstypische Weisungsbefugnis des unmittelbaren Besitzers unterscheidet sich erheblich von dem in bezug auf das Verhältnis zwischen Polizei und Obdachlosem angenommenen Weisungsrecht 133. So wird bei der Besitzdiener127

VG Neustadt, NJW 1965, 833, 835; Bettermann, MDR 1957, 130, 132. Bei Verfügbarkeit einer Unterbringungsmöglichkeit in einer gemeindeeigenen Unterkunft besteht insoweit sogar eine Pflicht; siehe insoweit bereits oben 2. Teil, 1. Abschn., C, II, 2, a), dd). 129 Rechtsdogmatisch handelt es sich bei der „Umsetzung" nicht - wie dies überwiegend angenommen w i r d - u m einen einzigen Verwaltungsakt (vgl. etwa OVG Berlin, NVwZ 1989, 989; VGH Mannheim, DÖV 1987, 256; Huttner, Die Unterbringung Obdachloser, Rdnr. 168 m. w. Nachw.), sondern vielmehr um drei verschiedene Verwaltungsakte. Erstens bedarf es im Falle der rechtswidrigen bzw. rechtswidrig gewordenen Zuweisungsverfügung der Rücknahme gem. § 48 LVwVfG (zur Anwendbarkeit des § 48 LVwVfG bei rechtswidrig gewordenen Verwaltungsakten Schenke, DVB1. 1989, 433 ff., a. A. etwa Sachs, in: Stelkens/Bonk/Sachs, VwVfG, § 48, Rdnr. 59 m. w. Nachw.), im Fall der rechtmäßigen Zuweisungsverfügung des Widerrufs gem. § 49 Abs. 2 LVwVfG. Erst wenn mit der Aufhebung der Zuweisungsverfügung das Nutzungsrecht des Obdachlosen beseitigt ist, kann zweitens eine auf die Generalklausel gestützte Räumungsverfügung ergehen. Schließlich bedarf es drittens des Erlasses einer weiteren Zuweisungsverfügung hinsichtlich der neuen Unterkunft. 130 So Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 55; auf die Anstaltsgewalt abstellend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 262. 131 So Spannowsky, BWVPr. 1991, 197, 199. 132 So aber VG Neustadt, NJW 1965, 833, 835; Bettermann, MDR 1957, 130,132; dem folgend Adler, NJW 1963, 717, 718; Roth, DVB1. 1996, 1401, 1402. 133 So auch Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 68; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 290; ähnlich Less, ZMR 1957,221,223; Schoenenbroicher, MDR 1993, 97, 99. 128

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schaft die fehlende ununterbrochene räumliche Einwirkungsmöglichkeit des Besitzherrn durch ein besonders umfassendes Weisungsrecht kompensiert. Dementsprechend wird die Weisungsbefugnis des Besitzherrn im Schrifttum dahingehend charakterisiert, daß der übergeordnete Weisungsgeber „jederzeit nach Belieben" und „in eigener Machtvollkommenheit" den Weisungsuntergebenen in der Ausübung der tatsächlichen Gewalt beschränken könne 134 . Ein derartiges unbeschränktes Weisungsrecht der öffentlichen Hand kann jedoch nicht angenommen werden 135; vielmehr wird eine Weisungsbefugnis der Polizei nur im Zusammenhang der Überschreitung des Nutzungsrechts durch den Obdachlosen erörtert 136. Des weiteren fehlt es auch an dem Recht der Behörde, „notfalls selbst eingreifen" zu können, d.h. die Einwirkungsmöglichkeit zu aktualisieren. So wurde bereits im Zusammenhang mit der Erörterung der Sachherrschafts Verhältnisse ausführlich dargelegt, daß der zugewiesene Obdachlose den Schutz des Art. 13 GG genießt und somit eine Zutrittsmöglichkeit der Polizei nur unter den engen Voraussetzungen eines dem Gesetzesvorbehalt des Art. 13 Abs. 7 GG genügenden Gesetzes besteht137. Angesichts dieses Schutzes des Obdachlosen nach Art. 13 GG und der insoweit fehlenden Zugriffsmöglichkeit auf die Wohnung kann es kaum überzeugen, die Behörde „als alleinige Gewalthaberin über die beschlagnahmten Räume" anzusehen138. Daß die zugewiesene Person nicht als Besitzdiener, sondern vielmehr als unmittelbarer Besitzer zu qualifizieren ist, wird besonders augenscheinlich, wenn man die tatsächliche Einwirkungsmöglichkeit des Räumungsschuldners auf den Wohnraum vor und nach der polizeilichen Beschlagnahme und Wiederzuweisung vergleicht. Nach allgemeiner Ansicht ist auch der rechtskräftig gekündigte Mieter weiterhin unmittelbarer Besitzer der Wohnung, solange der Herausgabeanspruch des Vermieters besteht139. Durch die Beschlagnahme und die Zuweisung ändert sich aber hinsichtlich der Art der Besitzinnehabung des Räumungsschuldners nichts. Zwar leitet der Obdachlose während der Beschlagnahmedauer seine Sachherrschaft nicht mehr vom Vermieter, sondern von der Behörde ab. Er nutzt die Räumlichkeiten jedoch im gleichen Umfang wie vorher und ist ebenso wie vor der Beschlagnah134 Vgl. die Formulierungen bei Seufert, in: Staudinger, BGB, 12. Aufl., §855, Rdnr. 11; Baur/Stürner, Sachenrecht, §7, C, I, 2, S.65. 135 Vgl. auch Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 378, Fn. 121. 136 Vgl. die von Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.261 gebildeten Beispiele der Zueignung nicht zugewiesener Räume im Wege der verbotenen Eigenmacht oder der Aufnahme nicht im Zuweisungsbescheid aufgeführter Personen in den beschlagnahmten Wohnraum; vgl. auch Spannowsky, BWVPr. 1991, 197, 200, der eine Weisungsbefugnis dann annimmt, wenn der Obdachlose von der ihm zugewiesenen Wohnung in einer Weise Gebrauch macht, die nicht mehr von dem durch die Behörde definierten Nutzungsrahmen gedeckt ist. 137 Vgl. ausführlich oben 2. Teil, 1. Abschn., A, IV, 3, a)cc). 138 So aber Pentz, NJW 1954, 432. 139 Das Ende des Mietverhältnis läßt das Besitzmittlungsverhältnis zwischen bisherigem Mieter und Vermieter nicht entfallen, vgl. Mühl, in: Soergel, BGB, § 868, Rdnr. 24; Bund, in: Staudinger, BGB, § 868, Rdnr. 85.

3. Teil: Zvilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

me und Zuweisung berechtigt, Unbefugten den Zutritt zu den Räumlichkeiten zu verwehren 140. Nach alledem ist der Räumungsschuldner während der Beschlagnahme- und Zuweisungsdauer weiterhin als unmittelbarer Besitzer i.S. d. § 854 Abs. 1 BGB anzusehen. Da ihm die Zuweisungsverfügung das Recht verleiht, die Wohnung zu nutzen, hat er insoweit die Stellung eines rechtmäßigen Besitzers 141. Findet somit eine Umgestaltung der Besitzverhältnisse nicht statt, kann die fehlende Vollstreckbarkeit des Räumungsurteils während der Dauer der Beschlagnahme und Zuweisung nicht auf diesen Umstand gestützt werden. b) Exkurs: Das Hausrecht an den zugewiesenen Räumlichkeiten Aus dem Vorherstehenden ergibt sich gleichzeitig, daß das Hausrecht an den beschlagnahmten Räumen i. S. d. § 123 StGB ausschließlich dem Zugewiesenen zusteht142. Unter dem Begriff des durch § 123 StGB geschützten Hausrechts versteht die herrschende Meinung das Interesse an ungestörter Betätigung des eigenen Willens in der eigenen Wohnung und somit die Befugnis, anderen den Zugang zu den geschützten Räumen zu verwehren 143. Kern des Hausrechts ist es somit, über Zugang und Aufenthalt Dritter in den Räumen zu bestimmen. Die Innehabung des Hausrechts des Obdachlosen während der Zuweisungszeit ergibt sich dabei schon aus der Tatsache, daß dieser als rechtmäßiger, unmittelbarer Besitzer der Räume anzusehen ist, da nach allgemeiner Auffassung das Hausrecht an den rechtmäßig erworbenen unmittelbaren Besitz anknüpft 144. Zudem ist mit der Zuweisung des Wohnraums durch die Behörde die Berechtigung verbunden, die Räume zum Mittelpunkt der privaten Lebensgestaltung zu machen. Mit der Zuerkennung der räumlichen Privatsphäre untrennbar verbunden ist jedoch auch das Recht, diese Sphäre gegen Dritte zu verteidigen 145. 140 So auch Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 124; Schoenenbroicher, MDR 1993, 97, 99; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S.97, 101. 141 Umstritten ist die allerdings hier nicht relevante Frage, ob die Polizei während der Dauer der Inanspruchnahme mittelbaren Besitz an den Räumlichkeiten begründet; bejahend LG Mainz, NJW 1954, 194ff.; Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 378, ausführlich Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 104ff.; a. A. Enders, Verw Bd.30 (1997), 29,45, Fn.79; Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S.70, Fn. 16. 142 So auch Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 378; Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 71; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 265 f.; vgl. auch Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 135; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.73; a. A. Benner, Der Städtetag 1958, 4, 5, nach dem das Hausrecht an den beschlagnahmten Räumlichkeiten ausschließlich der Polizei zustehen soll, weil ansonsten kein ausreichender strafrechtlicher Schutz der Beamten gewährleistet sei. 143 Vgl. Lackner, StGB, § 123, Rdnr. 1; Schäfer, in: LK, § 123, Rdnr. 1; TröndlelFischer, StGB, § 123, Rdnr. 1; a. A. etwa AmelunglSchall, JuS 1975, 565, 566. 144 Vgl. nur Lenckner, in: Schönke/Schröder, StGB, § 123, Rdnr. 16. 145 Ähnlich Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.73.

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2. Analoge Anwendung des § 775 Nr. 2 I.Alt. ZPO? Als weitere rechtliche Grundlage der fehlenden Vollstreckbarkeit des Räumungsurteils während der Inanspruchnahmedauer ist eine analoge Anwendung des § 775 Nr. 2 1. Alt. ZPO vorgeschlagen worden 146 . Zwar liege nicht, wie es der Wortlaut der Bestimmung fordert, eine zivilgerichtliche Entscheidung vor; gleichwohl sei eine Analogie gerechtfertigt, da die Wirkung der hoheitlichen Beschlagnahme mit der einer Entscheidung nach § 775 Nr. 2 1. Alt. vergleichbar sei 147 . Die Annahme einer Analogie zu § 775 Nr. 2 1. Alt. ZPO begegnet allerdings ebenfalls durchgreifenden Bedenken. So erscheint bereits das Vorliegen einer Regelungslücke äußerst zweifelhaft. Denn nach allgemeiner Auffassung handelt es sich bei § 775 ZPO um eine abschließende Vorschrift, deren Aufzählung erschöpfend ist 148 . Jedenfalls aber fehlt es an einer für eine Analogie erforderlichen vergleichbaren Interessenlage149. So erfaßt die Vorschrift des § 775 Nr. 2 ZPO „gerichtliche Entscheidungen"; der hier in Rede stehende Exekutivakt der Beschlagnahme divergiert aber erheblich von einem Akt der materiellen Rechtsprechung. Zum anderen erfaßt die Vorschrift des § 775 Nr. 2 ZPO Entscheidungen, deren Gegenstand gerade die einstweilige Einstellung der Zwangsvollstreckung ist und deren Tenor diese dementsprechend explizit anordnet. Eine Anordnung der einstweiligen Einstellung der Zwangsvollstreckung trifft freilich die hoheitliche Beschlagnahme nicht; deren Regelungsgehalt erschöpft sich zunächst darin, eine hoheitliche Sachherrschaft zu begründen. Ein weiterer Unterschied besteht schließlich darin, daß sich § 775 Nr. 2 ZPO auf eine gerichtliche Entscheidung bezieht, welche im Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner ergeht und genau dieses Interessenverhältnis vorläufig regelt. Indes konkretisiert die polizeiliche Beschlagnahme nicht das Verhältnis zwischen Gläubiger und Schuldner, sondern die Notstandspflicht des Eigentümers gegenüber der öffentlichen Hand 150 . Eine analoge Anwendung des § 775 Nr. 2 ZPO ist daher abzulehnen.

146 So Schoenenbroicher, MDR 1993,97; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 275; vgl. auch LG Heilbronn, MDR 1992,910, das eine Vergleichbarkeit zur einstweiligen Einstellung der Zwangsvollstreckung annimmt, ohne allerdings die Vorschrift des § 775 ZPO zu zitieren. 147 So Schoenenbroicher, MDR 1993,97; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 275. Eine Begründung, warum die Inanspruchnahme mit der gerichtlichen Einstellung vergleichbar sein soll, bleiben die Autoren allerdings schuldig. 148 Vgl. nur Stöber, in: Zöller, ZPO, § 775, Rdnr. 3; Lackmann, in: Musielak, ZPO, § 775, Rdnr. 1. 149 So auch Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29,46, Fn. 86. 150 Vgl. Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29, 46, Fn. 86.

3. Teil: Zvilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

3. Wirkungen der Beschlagnahme und §181 Nr. 3 GVGA Statt des Versuchs, die Anwendbarkeit zivilrechtlicher oder zivilprozessualer Normen zu konstruieren, erscheint es indes naheliegender, die Begründung zunächst im Inhalt und in der Wirkung der hoheitlichen Beschlagnahme selbst zu suchen. Die Beschlagnahme beinhaltet - wie bereits an anderer Stelle ausführlich erörtert wurde - (zunächst) die Begründung hoheitlicher Sachherrschaft über die Räumlichkeiten 151 . Hiermit ist dem Eigentümer gleichzeitig die Möglichkeit entzogen, über die Räume in einer dem Ziel der Inanspruchnahme zuwiderlaufenden Weise zu verfügen 152 . Gerade dies wäre aber der Fall, wenn der Räumungsgläubiger während der Dauer der Inanspruchnahme einen Vollstreckungsauftrag an den Gerichtsvollzieher erteilen würde und damit die Räumungsvollstreckung betreiben würde. Dementsprechend resultiert für den Eigentümer aus der Beschlagnahme gleichzeitig das Verbot, für die Dauer der Inanspruchnahme von dem Räumungstitel Gebrauch zu machen. Allerdings folgt aus diesem an den Räumungsgläubiger gerichteten Verbot der Betreibung der Räumungsvollstreckung noch nicht, daß auch der schon beauftragte Gerichtsvollzieher nach Kenntnisnahme der Inanspruchnahmeverfügung verpflichtet ist, weitere Vollstreckungsmaßnahmen zu unterlassen bzw. während der Wirksamkeit der Verfügung die Durchführung jedes weiteren Vollstreckungsauftrags abzulehnen. Auch insofern ist jedoch die Konstruktion des Fehlens von allgemeinen Vollstreckungsvoraussetzungen infolge einer Umgestaltung von Besitzverhältnissen oder einer Analogie zu § 775 Nr. 2 ZPO nicht erforderlich. Diese Verpflichtung resultiert nämlich aus der Vorschrift des § 181 Nr. 3 GVGA, in der explizit angeordnet ist, daß der Gerichtsvollzieher im Falle einer polizeirechtlichen Wiederzuweisung die weitere RäumungsVollstreckung zu unterlassen hat 153 . Zwar handelt es sich bei der GVGA lediglich um auf der Grundlage des § 154 GVG durch die Landesjustizverwaltungen erlassene, interne Verwaltungsvorschriften ohne Gesetzeskraft 154. Dennoch sind diese für den Gerichtsvollzieher verbindlich und können bei Nichtbeachtung eine Amtshaftung gem. Art. 34 GG, § 839 BGB begründen 155. Ob der Verstoß des 151

Vgl. hierzu ausführlich oben 2. Teil, 1. Abschn., A, IV, 3, a), aa). So auch Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 126f; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.275; ähnlich LG Heilbronn, MDR 1992, 910: Duldungspflicht des Gläubigers. 153 Angesichts dieser Regelung ist es nicht erforderlich, das Verbot der weiteren Zwangsvollstreckung auf eine angebliche Pflicht der Staatsorgane zum loyalen Zusammenwirken zu stützen. So aber - allerdings vor der Einführung des § 181 Nr. 3 GVGA -Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 127, dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 275, insbesondere Fn. 11, ohne die inzwischen existente Vorschrift des § 181 Nr. 3 GVGA in diesem Zusammenhang zu erwähnen. 154 Allgemeine Meinung, vgl. etwa Kaminski, Die GVGA als Prüfungsmaßstab im Erinnerungsverfahren, S.23f.; Lackmann, in: Musielak, ZPO, §753, Rdnr. 2; Rosenberg/Gaul/Schilken, Zwangsvollstreckungsrecht, §25, II, 1 b), S.407f. m. w. Nachw. 155 Vgl. Gaul, ZZP Bd. 87 (1974), 241, 246ff.; Lackmann, in: Musielak, ZPO, §766, Rdnr. 22; Rosenberg/Gaul/Schilken, Zwangsvollstreckungsrecht, §25, II, lb), S.408; Stöber, in: Zöller, ZPO, § 766, Rdnr. 11. 152

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Gerichtsvollziehers gegen eine Bestimmung der GVGA allerdings mit einer Vollstreckungserinnerung des Räumungsschuldners gem. § 766 ZPO beanstandet werden kann 156 , ist umstritten 157.

II. Die Vollstreckbarkeit des Räumungsurteils nach Unwirksamwerden der Beschlagnahmeund Zuweisungsverfügung Ist somit geklärt, daß ein zivilgerichtliches Räumungsurteil während der Dauer der Beschlagnahme und Zuweisung nicht vollstreckt werden darf, stellt sich die daran anschließende Frage, ob der Vermieter nach Ablauf der Inanspruchnahmefrist bzw. Aufhebung der Verfügungen wieder auf den Räumungstitel zurückgreifen kann und nunmehr die Räumung betreiben kann oder ob der zivilgerichtliche Titel durch die hoheitliche Inanspruchnahme „verbraucht" wurde oder jedenfalls nunmehr unbrauchbar ist. Dieses Problem wurde schon früh diskutiert und schien bereits einer Klärung dergestalt zugeführt, daß ein Verbrauch des Räumungstitels nicht stattfinde. Angesichts neuerer Stellungnahmen mit gegenteiligem Ergebnis hat es jedoch wieder an Aktualität erfahren 158. Bei der Frage des Verbrauchs des Räumungstitels durch die hoheitliche Inanspruchnahme handelt es sich nicht nur um ein Problem von zivilprozessualem Interesse, sondern vielmehr um einen Streit von erheblicher praktischer Bedeutung mit Auswirkungen auch im öffentlichen Recht. So hängt das Problem des Verbrauchs des Räumungstitels durch die hoheitliche Inanspruchnahme eng mit der Frage nach einem öffentlichrechtlichen Folgenbeseitigungsanspruch des Vermieters auf Exmittierung des Obdachlosen durch die Polizei zusammen159. Verneint man einen solchen Anspruch für den Fall der unechten Wie156 Im umgekehrten Fall, in dem der Gerichtsvollzieher die Räumung im Hinblick auf § 181 Nr. 3 GVGA verweigert, wäre eine Vollstreckungserinnerung des Räumungsgläubigers zwar zulässig, aber unbegründet; vgl. zu einer derartigen Konstellation LG Gießen, DGVZ 1990, 73 f. 157 Befürwortend OLG Köln, JurBüro, 1992, 703; FG Stuttgart, MDR 1976, 84; Kaminski, Die GVGA als Prüfungsmaßstab im Erinnerungsverfahren, S. 56 ff. unter Übernahme der im Verwaltungsrecht entwickelten Lehre von der Außenwirkung von Verwaltungsvorschriften; Hartmann, in: Baumbach/Lauterbach/Albers/Hartmann, ZPO, §766, Rdnr. 17; ablehnend hingegen OLG Hamm, DGVZ 1977,40,41; OLG Oldenburg, JurBüro 1989,261 f.; LG Bonn, JurBüro 1994, 311, 312; LG Bochum, DGVZ 1991, 172; Lackmann, in: Musielak, ZPO, §766, Rdnr. 22; Rosenberg/Gaul/Schilken, Zwangsvollstreckungsrecht, §25, I l l b ) , S.408; Stöber, in: Zöller, ZPO, § 766, Rdnr. 11. 158 Vgl. Pawlowski, ZZP Bd. 102 (1989), 440, 446f; ders., DGVZ 1992, 97, 99f. 159 Der Zusammenhang wird besonders in dem Urteil des OLG Hamm (NJW 1960,1016ff.) deutlich, in dem das Gericht ausdrücklich deshalb von seiner bisher vertretenen Auffassung, der Titel sei durch die Inanspruchnahme verbraucht (vgl. OLG Hamm, NJW 1955, 28), abrückt, weil das OVG Münster (MDR 1957, 188) einen Folgenbeseitigungsanspruch des Vermieters in einem Fall der unechten Wiederzuweisung verneint hatte. So führt das Gericht aus (NJW 1960, 1018): „Die bisherige Auffassung des Sen., die den Verbrauch des Titels in sich

3. Teil: Zvilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

derzuweisung, so ist der Rückgriff auf den zivilgerichtlichen Titel für den Räumungsgläubiger die einzige Möglichkeit, den nach wie vor in der Wohnung verweilenden Räumungsschuldner zu exmittieren, will man nicht zu dem gemeinhin als unbillig empfundenen Ergebnis kommen, der Vermieter müsse erneut eine zivilgerichtliche Räumungsklage erheben, um eine Entfernung des Zugewiesenen zu erreichen 160 . Jedoch auch unter Zugrundelegung der Annahme der herrschenden Auffassung, daß in der Konstellation der unechten Wiederzuweisung ein Anspruch gegen die Behörde auf Exmittierung besteht, ist die weitere Durchsetzbarkeit des Räumungstitels für den Räumungsgläubiger von großem Interesse. Denn nicht selten wird der Eigentümer das angenommene Recht gegen die Behörde erst im Wege eines Verwaltungsrechtsstreits durchsetzen können, so daß bis zur erstrebten Exmittierung des Obdachlosen durch die Polizei lange Zeit vergehen kann. Maßgeblich für die Beantwortung der Frage nach dem Verbrauch des Räumungstitels ist, in welcher Phase der Vollstreckung des Räumungsurteils die polizeiliche Inanspruchnahme erfolgt ist. So ist denkbar, daß die Beschlagnahme- und Wiederzuweisungsverfügung erst nach vollständiger Räumung der Wohnung ergehen; der weitaus häufigere Fall ist derjenige, daß die Inanspruchnahme kurz vor oder während der Vollstreckung des Räumungsurteils durch den Gerichtsvollzieher erfolgt, um die nunmehr drohende Obdachlosigkeit abzuwenden. Im folgenden sollen die einzelnen Fallkonstellationen unterschieden werden. 1. Inanspruchnahme nach vollständiger Durchführung der Räumungsvollstreckung („echte Wiederzuweisung") 1. Sachverhaltskonstellation 161: Der Vermieter, der einen rechtskräftigen Räumungstitel gegen den Räumungsschuldner erwirkt hat, beauftragt den Gerichtsvollschloß, setzte voraus, daß der Gläubiger höchstens mit einer gewissen, aber in Kauf zu nehmenden Verzögerung im Freiwerden der Räume zu rechnen hatte. Nunmehr ist jedoch ungewiß, wann und ob überhaupt der Gläubiger auf dem Verwaltungswege und dem verwaltungsgerichtlichem Wege zum Ziele kommen kann. [...] Den Gläubiger mit einer solchen Ungewißheit und unter Umständen weitreichenden Verzögerung zu belasten, erscheint nicht vertretbar". 160 So aber tatsächlich Pawlowski, ZZP Bd. 102 (1989), 440, 446 f; ders., DGVZ 1992, 97, 99f. Vgl. hierzu näher unten 3. Teil, C, II, 2, c). 161 Diese Konstellation der „echten Wiederzuweisung" (siehe auch oben 1. Teil, 1. Abschn., B, II) wird in der Praxis relativ selten vorkommen (vgl. auch Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 116; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 285, Fn. 55). Da die Behörde bereits vor der Räumungsvollstreckung gem. § 181 Nr. 2 GVGA vom Gerichtsvollzieher über eine drohende Obdachlosigkeit informiert wird, wird diese bei fehlender eigener Unterbringungsmöglichkeit in der Regel bereits unmittelbar vor dem Vollstrekkungsbeginn eine Beschlagnahme und Wiederzuweisung verfügen (vgl. die 2. Sachverhaltskonstellation unten), um eine unnötige kostenverursachende Räumung durch den Gerichtsvollzieher zu vermeiden. Vgl. aber die Entscheidung des LG Bochum, ZMR 1954, 215f., der ein derartiger Sachverhalt zugrundelag.

3. Teil: Zivilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

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zieher mit der Räumung der Wohnung. Zum festgesetzten Räumungstermin führt der Gerichtsvollzieher die Räumungsvollstreckung durch. Erst nachdem der Gerichtsvollzieher das gesamte Mobiliar des Räumungsschuldners aus der Wohnung entfernt hat und der Räumungsgläubiger wieder in den Besitz der Räumlichkeiten gesetzt wurde, verfügt die zuständige Polizeibehörde mangels anderer Unterbringungsalternativen die Beschlagnahme des Wohnraums sowie die Wiederzuweisung des Räumungsschuldners. Hinsichtlich dieser Sachverhaltskonstellation besteht weitgehende Einigkeit darüber, daß der Räumungstitel verbraucht und damit auch nach Wegfall der hoheitlichen Verfügungen nicht mehr vollstreckungsfähig ist 162 . Der Verbrauch des Räumungstitels folgt hier - unabhängig von der späteren polizeilichen Inanspruchnahme - aus dem eindeutigen Wortlaut der zivilprozessualen Vorschrift des § 885 Abs. 1 ZPO. Hiernach erfolgt die RäumungsVollstreckung bezüglich unbeweglicher Sachen dadurch, daß der Gerichtsvollzieher den Schuldner aus dem Besitz setzt und den Gläubiger in den Besitz einweist. Ist die Zwangsvollstreckung nach dieser Vorschrift zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme durchgeführt, wozu erforderlich ist, daß die Wohnungseinrichtung durch den Gerichtsvollzieher vollständig entfernt wurde 163 und der Gläubiger die tatsächliche Gewalt über die Wohnung gem. § 854 Abs. 1 BGB wiedererlangt hat 164 , so ist der Titel aufgrund der Erfüllung der titulierten Anspruchs endgültig verbraucht; eine erneute Zwangsvollstreckung nach Ablauf der Beschlagnahmefrist ist somit ausgeschlossen. Wenig überzeugend sind demgegenüber die Ausführungen Pawlowskis, nach denen es für den Verbrauch des Titels nicht darauf ankommen könne, ob der Gerichtsvollzieher im Zeitpunkt der Inanspruchnahme die Wohnung bereits i. S. d. § 885 ZPO geräumt habe oder nicht 165 . Seiner Auffassung zufolge sei allein der Zustand nach dem Ablauf der Beschlagnahmefrist entscheidend; befände sich der frühere Mieter dann noch in der Wohnung, so sei es unerheblich, ob er diese zwischenzeitlich eine kurze Zeit hätte räumen müssen166. Diese Ansicht setzt sich über den klaren Wortlaut des § 885 Abs. 1 ZPO hinweg und ist daher abzulehnen167. Auch die Überlegung Pawlowskis, an einem Verbrauch des Titels könne es deshalb fehlen, weil der Anspruch des Vermieters gegen den Mieter auf Herausgabe nicht dauerhaft befrie162 Vgl. z.B. Bettermann, MDR 1957, 130, 133; Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 130; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.288; Tenbieg, DGVZ 1988, 184; Putzo, in: Thomas/Putzo, ZPO, §885, Rdnr. 26. 163 Vgl. Putzo, in: Thomas/Putzo, ZPO, § 885, Rdnr. 8. 164 Die Besitzeinweisung des Gläubigers erfolgt insoweit entweder durch eine die Übergabe enthaltende Erklärung des Gerichtsvollziehers oder durch Schlüsselübergabe bzw. Auswechseln der Schlösser, wenn vom Schuldner nicht alle Schlüssel zu erlangen sind; vgl. Putzo, in: Thomas/Putzo, ZPO, § 885, Rdnr. 9. 165 Pawlowski, ZZP Bd. 102 (1989), 440,442f.; ders., DGVZ 1992, 97, 98. 166 Pawlowski, ZZP Bd. 102 (1989), 440, 442f.; ders., DGVZ 1992, 97, 98. 167 Ablehnend insoweit auch Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.288, Fn.60.

15 Reitzig

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digt sei , geht fehl 169 . Der zivilrechtliche Anspruch gegen den Mieter auf Herausgabe der Wohnung ist - wie der eindeutige Wortlaut des § 885 Abs. 1 ZPO belegt - mit der Besitzentziehung des Schuldners und der Besitzeinweisung des Gläubigers erfüllt. Die erneute Entziehung der tatsächlichen Gewalt des Vermieters aufgrund der Beschlagnahmeverfügung sowie die abermalige Zuweisung der unmittelbaren Sachherrschaft an den Obdachlosen beruht auf einem völlig anderen - öffentlichrechtlichen - Rechtsgrund und kann daher nicht geeignet sein, den bereits erloschenen Anspruch wieder aufzuleben zu lassen170.

2. Inanspruchnahme vor der Durchführung der Räumungsvollstreckung („unechte Wiederzuweisung") 2. Sachverhaltskonstellation 17Der Vermieter, der einen rechtskräftigen Räumungstitel gegen den Mieter erwirkt hat, beauftragt den Gerichtsvollzieher mit der Räumung der Wohnung. Der Gerichtsvollzieher setzt einen Räumungstermin fest. Noch vor dem Beginn der Räumungsvollstreckung durch den Gerichtsvollzieher verfügt die zuständige Polizeibehörde mangels anderer Unterbringungsalternativen die Beschlagnahme des Wohnraums und die Wiederzuweisung des Räumungsschuldners. Angesichts der hoheitlichen Inanspruchnahme sieht der Gerichtsvollzieher von der Durchführung der Räumungsvollstreckung ab. Obwohl eine Räumungsvollstreckung hier nicht durchgeführt wurde, ist die Frage, ob in dieser Fallvariante der Vermieter nach Außerkrafttreten der Inanspruchnahmeverfügung auf den Räumungstitel zurückgreifen kann, äußerst umstritten. Während schon in der älteren Rechtsprechung mehrheitlich vertreten wurde, daß ein Verbrauch des Räumungstitels nicht vorliege 172 , haben ein Beschluß des AG Langen 168

Pawlowski, ZZP Bd. 102 (1989), 440, 443; ders., DGVZ 1992, 97, 98. So kann denn auch das zur Bekräftigung der These, daß die Vollstreckbarkeit eines Titels auch nach Vollstreckung noch bestehen könne, angeführte Beispiel der Vollstreckung wegen Geld in schuldnerfremdes Vermögen (vgl. Pawlowski, ZZP Bd. 102 (1989), 440, 443; ders., DGVZ 1992,97,98) nicht überzeugen. So muß bei der Vollstreckung in schuldnerfremdes Vermögen der Völlstreckungsgläubiger den erzielten Erlös nach Bereicherungsgrundsätzen an den Eigentümer abführen; demgemäß tritt im Unterschied zum hier diskutierten Fall gerade keine Befriedigung der Forderung ein. Wie hier auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 132 f. 170 Ebenso auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 133. 171 Bei dieser Sachverhalts variante der „unechten Wiederzuweisung" handelt es sich um den in der Praxis auftretenden Regelfall, da so bereits eine unnötige Räumungsvollstreckung verhindert werden kann (siehe auch Fn. 161); vgl. bereits Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 116; ebenso Roth, DVB1. 1996, 1401. Dieser Sachverhalt lag beispielsweise der Entscheidung BGHZ 130, 332ff. zugrunde. 172 Vgl. z.B. OLG Stuttgart, NJW 1956,1844; LG Braunschweig, ZMR 1955,277; LG Freiburg, DGVZ 1989,155 f.; LG Darmstadt, DGVZ 1989,24; AG Bad-Iburg, DGVZ 1988,189f.; AG Villingen-Schwenningen, DGVZ 1989, 77 f. 169

3. Teil: Zivilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

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173

aus dem Jahre 1988 sowie zwei Aufsätze von Pawlowski aus dem Jahre 1989 und 1992 174 mit gegenteiligem Ergebnis die Diskussion zwar neu entfacht, stießen aber überwiegend auf Ablehnung 175. In der Tat können die für einen Verbrauch bzw. eine Unbrauchbarkeit des Titels ins Feld geführten Argumente einer näheren Überprüfung nicht standhalten. a) Die zivilrechtlichen Besitzverhältnisse nach Außerkrafttreten der Beschlagnahme und Zuweisung So wird zum einen die bereits oben beschriebene Umgestaltung der zivilrechtlichen Besitzverhältnisse durch die hoheitliche Inanspruchnahme zur Stützung der These der Unbrauchbarkeit des Räumungstitels angeführt 176. Die Besitzerstellung der Polizei gem. § 854 Abs. 1 BGB sowie die Besitzdienerschaft des Obdachlosen i. S. d. § 855 BGB solle allerdings nicht nur während der Beschlagnahme- und Zuweisungsdauer bestehen, sondern auch nach deren Außerkrafttreten andauern 177. So formuliert Bettermann in seinem grundlegenden Aufsatz: „Dieser Rechts- und Besitzzustand ändert sich nun nicht automatisch mit dem Ablauf der Einweisungsfrist. Es tritt dann nicht wieder der [...] alte, d. h. vor der Einweisung bestehende Zustand wieder ein: der Räumungsschuldner wird nicht wieder zum unmittelbaren Besitzer. Die Polizei verbleibt vielmehr Besitzer der in Anspruch genommen Räume, bis sie sie dem Verfügungsberechtigten, dem Räumungsgläubiger, zurückgibt". Demgemäß sei mangels einer Besitzerstellung des Räumungsschuldners auch weiterhin keine Vollstreckung des Räumungsurteils möglich 178 . Gegen diese Auffassung von der Umgestaltung und Fortgeltung der zivilrechtlichen Besitzverhältnisse, die im übrigen nicht nur im Zusammenhang mit der hier 173

AG Langen, DGVZ 1988, 47. Pawlowski, ZZP Bd. 102 (1989), 440ff.; ders., DGVZ, 1992, 97ff. 175 Gegen einen Verbrauch des Titels durch die Inanspruchnahme z.B. BGHZ 130,332,340; LG Darmstadt DGVZ 1993,154f.; LG Ellwangen, DGVZ 1993,11; LG Gießen, DGVZ 1990, 73 f.; LG Heilbronn MDR 1992,910; Brehm, in Stein/Jonas, ZPO, § 885, Rdnr. 20; Baur/Stürner, Zwangsvollstreckungsrecht, Rdnr. 39.12; Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, Rdnr. 1061; Geißler, DGVZ 1996, 161, 164; Gössl, BWGZ 1984, 326, 332; Günther/Traumann, NVwZ 1993, 130, 135; Jauernig, Zwangsvollstreckungsrecht, §31 VI, S. 144; Roth, DVB1. 1996, 1401, 1404; Schoenenbroicher, MDR 1993, 97, 98 ff.; Spannowsky, BWVPr. 1991, 197, 201; Stöber, in Zöller, ZPO, § 885, Rdnr. 36; Tenbieg, DGVZ 1988, 184f.; Putzo, in: Thomas/ Putzo, ZPO, § 885, Rdnm. 10, 26. 176 Siehe hierzu bereits oben 3. Teil, C, I, 1 a). 177 Vgl. Bettermann, MDR 1957, 130, 133; ebenso Pawlowski, ZZP Bd. 102 (1989), 440, 445; ders., DGVZ, 1992, 97, 99. 178 So grundlegend Bettermann, MDR 1957, 130, 133; ebenso Pawlowski, ZZP Bd. 102 (1989), 440,445; ders., DGVZ, 1992, 97, 99. Eine Umgestaltung und Fortgeltung der Besitzverhältnisse im eben beschriebenen Sinne nehmen auch BGHZ 130, 332, 337 sowie VG Neustadt NJW 1965, 833, 835 an, gehen aber gleichzeitig - von ihrem Standpunkt aus inkonsequent-von einer weiteren Vollstreckbarkeit des Räumungsurteils aus, vgl. BGHZ 130, 332, 339. Auf diese Inkonsequenz weist auch Roth, DVB1. 1996,1401,1404 zutreffenderweise hin. 174

15*

3. Teil: Zvilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

erörterten Problematik des Unbrauchbarwerdens des Vollstreckungstitels relevant wird, sondern auch Auswirkungen auf die Frage nach dem Bestehen eines Folgenbeseitigungsanspruchs auf Exmittierung des Obdachlosen hat 179 , bestehen allerdings durchgreifende Bedenken. So wurde bereits oben ausführlich dargelegt, daß weder die Annahme einer Besitzdienereigenschaft des Obdachlosen i. S. d. § 855 BGB noch die einer Besitzerstellung der öffentlichen Hand gem. § 854 Abs. 1 BGB während der Beschlagnahme- und Zuweisungsdauer überzeugen kann 180 . Doch selbst unter Zugrundelegung der Prämisse, daß sich die Besitzverhältnisse in dem beschriebenen Sinne mit der Beschlagnahme- und ZuweisungsVerfügung umgestalten würden, läßt sich eine Fortgeltung dieser Besitzlage auch nach Außerkrafttreten der Verfügungen nicht erklären 181. Zwar ist den Vertretern dieser Ansicht zuzugeben, daß eine Fortgeltung der Besitzverhältnisse im Fall des Unwirksamwerdens einer Beschlagnahme der Regelfall ist. Betrachtet man beispielsweise die hoheitliche Beschlagnahme einer beweglichen Sache, so erfolgt diese in der Regel dadurch, daß die Polizei die Sache in ihre tatsächliche Verfügungsgewalt bringt bzw. - besitzrechtlich gesprochen - unmittelbaren Besitz an der Sache begründet. Tritt die Beschlagnahmeverfügung außer Kraft, so befindet sich die Sache freilich noch immer in hoheitlicher Gewalt, so daß insoweit die Besitzverhältnisse fortbestehen 182. Eine Fortgeltung der Besitzverhältnisse liegt auch bei einer Beschlagnahme von Wohnraum mit anschließender Fremd- oder echter Wiederzuweisung vor. Denn auch hier verbleibt nach Unwirksamwerden der Verfügungen eine tatsächliche Folge dergestalt, daß der Obdachlose weiterhin - vom Standpunkt der Vertreter der dargestellten Auffassung aus als Besitzdiener der Polizei - die Sachherrschaft über die Räume innehat. Beiden genannten Beispielen ist im Unterschied zur hier zu erörternden Fallkonstellation der „unechten Wiederzuweisung" allerdings gemeinsam, daß es neben dem Rechtsakt der Beschlagnahme (und der Zuweisungsverfügung) noch eines weiteren tatsächlichen Akts der Polizei bedurfte, um die während der Dauer der Beschlagnahme (und Zuweisung) bestehende Besitzlage herzustellen. So ist im Fall der Beschlagnahme einer beweglichen Sache diese in die Verfügungsgewalt der öffentlichen Hand gebracht worden; bei der Fremdzuweisung und der echten Wiederzuweisung ist dem Obdachlosen zunächst die vorher nicht (mehr) vorhandene Sach179 Vgl. bereits Bettermann, MDR 1957, 130, 132f.; ebenso ausführlich fiöi/z, DVB1. 1996, 1401, 1402ff. Vgl. näher zu dieser Frage unten 4. Teil, 1. Abschn., A, IV, 2, a), aa). 180 Siehe bereits oben 3. Teil, C, 1,1, a). Für die hier vertretene Besitzkonzeption hat das Außerkrafttreten der hoheitlichen Verfügungen lediglich zur Folge, daß der Räumungsschuldner - angesichts der fortbestehenden Sachherrschaft - zwar weiterhin unmittelbarer Besitzer der Räumlichkeiten ist, da er jedoch weder von der Behörde noch aufgrund der Beendigung des Mietvertrages vom ehemaligen Vermieter ein Besitzrecht herleiten kann, nunmehr als unrechtmäßiger unmittelbarer Besitzer anzusehen ist. 181 Trotz grundsätzlicher Annahme einer Umgestaltung der Besitzlage gegen deren Fortgeltung nach Außerkrafttreten der Inanspruchnahmeverfügung auch AG Dortmund, ZMR 1959, 276; GüntherlTraumann, NVwZ 1993, 130, 135; Noack, DGVZ 1978, 161, 164; Roth, DVB1. 1996, 1401, 1402ff.; Spannowsky, BWVPr. 1991, 197, 201; Tenbieg, DGVZ 1988, 184, 185. 182 Vgl. auch Roth, DVB1. 1996, 1401, 1403.

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herrschaft über den Wohnraum durch die öffentliche Hand eingeräumt worden. In beiden genannten Beispielen läßt sich die ursprüngliche Besitzlage demnach nur dadurch wiederherstellen, daß wiederum ein tatsächlicher Akt seitens der Polizei als actus contrarius erfolgt 183 . So muß im ersten Fall die Sache dem Berechtigten zurückgegeben werden; im zweiten Fall der Obdachlose wieder aus den Räumen entfernt werden. Anders liegt jedoch der Fall der unechten Wiederzuweisung. Ein tatsächlicher Akt seitens der Polizei liegt in diesem Fall nicht vor, da der Räumungsschuldner bereits vor dem polizeilichen Einschreiten die Sachherrschaft über die Räume innehatte. Wird also in diesem Fall eine Umgestaltung der Besitzverhältnisse dergestalt vertreten, daß der Räumungsschuldner während der Beschlagnahme- und Zuweisungsdauer Besitzdiener sein soll, so kann dies allein Folge des Ergehens der Rechtsakte der Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung sein. Sollen aber allein die Rechtsakte die Umgestaltung der Besitzlage bewirken, so impliziert dies, daß mit deren Unwirksam werden diese Rechtswirkungen wieder entfallen und daher die ursprüngliche Besitzlage wieder entsteht184. Vertritt man demgemäß im Fall der unechten Wiederzuweisung eine Umgestaltung der zivilrechtlichen Besitzlage durch die hoheitliche Inanspruchnahme, kann es sich auch vom Standpunkt dieser Auffassung folgerichtig nur um eine für die Dauer der Inanspruchnahme und Zuweisung zeitlich befristete Überlagerung der bisherigen zivilrechtlichen Besitzverhältnisse handeln. Mit Außerkrafttreten der Verfügungen tritt somit in jedem Fall wieder die ursprüngliche Besitzlage ein 185 , so daß aus diesem Grunde keine Unbrauchbarkeit des Titels angenommen werden kann. b) Abwicklung des öffentlichrechtlichen Rechtsverhältnisses Als weiteres Argument für einen Verbrauch des Titels durch die hoheitliche Beschlagnahme wird angeführt, durch die Inanspruchnahme entstehe ein öffentlichrechtliches Rechtsverhältnis, das auch nur auf öffentlichrechtlichem Wege verändert bzw. beendet werden könne 186 . Ähnlich argumentiert Pawlowski 187: da der Räumungsschuldner durch die Zwangsvollstreckung nicht erneut in die Obdachlosigkeit gestoßen werden dürfe, sei es möglich, daß er das Recht auf Unterbringung vor den Verwaltungsgerichten durchsetze. Es sei aber „mißlich", wenn eine privatrechtliche Zwangsräumung unter Umständen wieder durch eine einstweilige Anordnung der Verwaltungsgerichte gestoppt werden müßte. So sei „eine ganze Anzahl von Kon183

Siehe Roth, DVB1. 1996, 1401, 1403. So Roth, DVB1. 1996, 1401, 1403. 185 Ebenso auch Günther/Traumann, NVwZ 1993,130,135;Noack, DGVZ 1978,161,164; Roth, DVB1. 1996, 1401, 1402ff.; Spannowsky, BWVPr. 1991, 197, 201; Tenbieg, DGVZ 1988,184,185. 186 AG Langen, DGVZ 1998, 47; ähnlich LG Darmstadt, NJW 1952, 389, 390; LG Braunschweig, DGVZ 1952,127,128: es sei ein völlig neuer Rechtszustand geschaffen worden, dessen Folgen nur aus sich heraus zu beurteilen und zu beseitigen seien. 187 Vgl. Pawlowski, ZZP Bd. 102 (1989), 440, 446; ders. DGVZ 1992, 97, 99. 184

3. Teil: Zvilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

stellationen denkbar", in denen die Durchführung einer zivilrechtlichen Vollstrekkung in Konkurrenz zu den Rechtsbehelfen und Rechtsmitteln des Verwaltungsrechts treten würde, so daß es angesichts der Gefahr sich widersprechender gerichtlicher Entscheidungen „angemessener" sei, das Zivilrecht und die Zivilgerichte erst dann eingreifen zu lassen, wenn das durch die Beschlagnahme- und Einweisungsverfügung begründete öffentlichrechtliche Verhältnis endgültig bereinigt sei. Jedoch kann auch dieser Einwand nicht überzeugen. Zwar ist richtig, daß mit der hoheitlichen Inanspruchnahme ein öffentlichrechtliches Rechtsverhältnis zwischen Vermieter und der Polizei entsteht188. Mit dem Unwirksam werden der Verfügung, d. h. mit dem Ablauf der Beschlagnahmefrist bzw. der Aufhebung der Inanspruchnahme durch die Behörde, entfallen jedoch sämtliche Rechts wirkungen, so daß vollumfänglich der alte Rechtszustand wieder hergestellt wird 189 . Insoweit existiert kein öffentlichrechtliches Rechtsverhältnis mehr, das es auf öffentlichrechtlichem Wege zu bereinigen gilt. Zutreffend ist vielmehr, daß das zivilrechtliche Verhältnis zwischen Räumungsgläubiger und -Schuldner lediglich für die Dauer der Inanspruchnahme durch das öffentliche Recht überlagert wurde und nun wieder auflebt. Auch die von Pawlowski angenommene Konkurrenz zwischen der zivilprozessualen Vollstreckung und eventuellen verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen liegt nicht vor 190 . So hat der Räumungsschuldner bei weiter drohender Obdachlosigkeit zwar einen mit Hilfe der Verwaltungsgerichte durchsetzbaren Anspruch auf Bereitstellung (irgend-)einer Unterkunft für die Zeit nach der Zwangsräumung. Ein gebundener Anspruch auf Zuweisung der bisher bewohnten Unterkunft besteht jedoch gerade nicht 191 , so daß das von Pawlowski angeführte Beispiel einer verwaltungsgerichtlichen einstweiligen Anordnung, welche die vom Vermieter betriebene Zwangsvollstreckung auf Räumung des Wohnraums stoppt und somit im Widerspruch zu dem Räumungsurteil steht, gar nicht denkbar ist. Welche Konstellationen einer Konkurrenz zwischen Vollstreckung und verwaltungsgerichtlichen Entscheidungen sonst noch in Betracht kommen sollen, bleibt freilich im dunkeln 192 .

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Vgl. zum Vorliegen eines öffentlichrechtlichen Verwahrungsverhältnisses ausführlich oben 2. Teil, 1. Abschn., E. 189 So auch AG Bad Iburg, DGVZ 1988, 189. 190 Im Ergebnis auch Schoenenbroicher, MDR 1993, 97, 99; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 294 f. 191 Vgl. dazu, daß hinsichtlich des „Wie" der Unterbringung ein weites Auswahlermessen besteht, näher oben 2. Teil, 2. Abschn., B, II. 192 So auch Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.294f. Denkbar wäre, daß angesichts des Fehlens sonstiger Unterbringungsmöglichkeiten die Behörde eine erneute Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung erläßt und der Eigentümer hiergegen erfolglos (im Wege des einstweiligen Rechtsschutzes) gerichtlich vorgeht. Aber auch hier entsteht keine Konkurrenz: Es tritt vielmehr die Situation ein, die bereits mit der ersten Beschlagnahmeverfügung verbunden war. Es entsteht ein Vollstreckungshindernis, das die Räumung während der erneuten Inanspruchnahmedauer unmöglich macht.

3. Teil: Zivilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

231

c) Erfordernis einer neuen richterlichen Entscheidung Gegen die Möglichkeit einer Vollstreckung aus dem Räumungstitel nach Wegfall der Inanspruchnahme wird des weiteren von Pawlowski vorgebracht, daß es im Hinblick auf Art. 13 GG erforderlich sei, daß der Räumungsgläubiger vor der Vollstrekkung eine weitere richterliche Entscheidung herbeiführe 193. Zwar gehe die herrschende Meinung zu Recht davon aus, daß vor der RäumungsVollstreckung grundsätzlich keine weitere richterliche Entscheidung einzuholen sei, da die nach Art. 13 GG erforderliche richterliche Entscheidung bereits in dem Räumungsurteil liege. Dies könne aber nicht für die vorliegende Konstellation gelten, in dem sich das Räumungsurteil auf einen völlig anderen Sachverhalt beziehe, als er dann bei der Räumung nach Ablauf der Beschlagnahmefrist vorliege. Hier bestehe unter dem Aspekt des Art. 13 GG sehr wohl Anlaß, vor einer Vollstreckung eine weitere gerichtliche Entscheidung herbeizuführen, in der die verschiedenen rechtlichen Aspekte, die sich aus der hoheitlichen Inanspruchnahme und den laufenden oder bevorstehenden verwaltungsrechtlichen Verfahren ergeben, gegeneinander abzuwägen seien. Insoweit läge es nahe, daß die Beschlagnahme- und ZuweisungsVerfügung, die auf ein zivilrechtliches Räumungsurteil hin erlassen werden, dessen Vollstreckbarkeit beseitigen194. Der Annahme einer Notwendigkeit einer richterlichen Durchsuchungsanordnung im Sinne des zum 1. Januar 1999 in Kraft getretenen, aber nur die bereits vorher bestehende Rechtslage195 wiedergebenden §758a Abs. 1 ZPO 196 für die Räumungsvollstreckung nach Ablauf der Beschlagnahmefrist ist aber entschieden zu widersprechen 197. So ist in § 758 a Abs. 2 ZPO inzwischen positivrechtlich geregelt, daß eine besondere richterliche Entscheidung für die Vollstreckung eines Titels auf Räumung oder Herausgabe von Räumen nicht erforderlich ist. Der Gesetzgeber ging dabei davon aus, daß es sich bei der Räumungs Vollstreckung nicht um eine Durchsuchung im Sinne des Art. 13 Abs. 2 GG handele198. Seit der Einführung dieser gesetzlichen Regelung kann somit die These des Erfordernisses einer besonderen richterlichen Entscheidung für die Räumungsvollstreckung nicht mehr vertreten werden. 193

Vgl. Pawlowski, ZZP Bd. 102 (1989), 440, 446f.; ders., DGVZ 1992, 97, 99f. Vgl. Pawlowski, ZZP Bd. 102 (1989), 440, 446f.; ders., DGVZ 1992, 97, 99f. 195 Seit der gem. § 31 Abs. 1 BVerfGG Gerichte und Vollstreckungsorgane bindenden grundlegenden Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfGE 51,97 ff.) war schon vor der Einführung des § 758 a Abs. 1 ZPO für eine mit einer Durchsuchung der Wohnung verbundenen Vollstreckung vor dem Hintergrund des Art. 13 GG eine richterliche Anordnung erforderlich. 196 Eingefügt durch das 2. Zwangsvollstreckungsänderungsgesetz vom 17.12.1997 (BGBl. I, S.3039). 197 Ablehnend auch Schoenenbroicher, MDR 1993,97,99; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.296; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 125 ff. 198 Vgl. hierzu BT-Drs. 13/341, S. 16; so vor Einführung des § 758 a ZPO auch OVG Berlin, NVwZ-RR 1990, 194,195; LG Aachen, DGVZ 1996,10; Brehm, in: Stein/Jonas, ZPO, § 885, Rdnr. 6\_Rosenberg/Gaul/Schilken, Zwangsvollstreckungsrecht, §26 IV, 3, a), S.455. 194

3. Teil: Zvilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

Die Forderung nach einer erneuten richterlichen Entscheidung nach Ablauf der Beschlagnahmefrist durch Pawlowski beruht nun auf der Erwägung, daß die Gefahr eines Konflikts zwischen zivilrechtlicher Vollstreckung und verwaltungsgerichtlicher Verhinderung dieser Vollstreckung drohe und die unterschiedlichen rechtlichen Gesichtspunkte in der Entscheidung gegeneinander abzuwägen seien. Bereits oben wurde dargelegt, daß ein solcher Konflikt jedoch gar nicht besteht199. Doch auch unter der Annahme eines solchen Konflikts läßt sich die Notwendigkeit einer erneuten richterlichen Entscheidung wohl kaum unter dem Aspekt des Art. 13 GG begründen. Ratio des Art. 13 Abs. 2 GG ist es insoweit, bei dem besonders empfindlichen Grundrechtseingriff einer Wohnungsdurchsuchung zunächst die Entscheidung einer unabhängigen Person einzuholen. Daß aber nach Wegfall der Inanspruchnahme im Hinblick auf Art. 13 GG eine andere Grundrechtssituation vorliegen soll, ist weder dargetan noch einleuchtend200. Aber auch unabhängig von Art. 13 GG läßt sich das Erfordernis der Herbeiführung einer weiteren richterlichen Entscheidung durch den Vollstreckungsgläubiger bei einer unterstellten maßgeblichen Änderung der Sach- und Rechtslage nicht begründen. Nach der gesetzlichen Konzeption verjährt ein rechtskräftiger Räumungstitel gem. § 218 Abs. 1 BGB erst nach dreißig Jahren und kann während dieser Zeit vom Gläubiger vollstreckt werden. Dies gilt freilich angesichts der Rechtskraft des Urteils auch dann, wenn sich die Sach- und Rechtslage seit dem Erlaß des Urteils verändert hat. So würde selbst der nachträgliche Wegfall des Räumungsanspruchs nichts an der Vollstreckbarkeit des Räumungsurteils ändern, vielmehr wäre es die Angelegenheit des Vollstreckungsschuldners, diesen Einwand im Wege der Vollstreckungsgegenklage gem. § 767 Abs. 1 ZPO geltend zu machen. Entsteht ein Sachverhalt, welcher die Vollstreckung als sittenwidrige Härte erscheinen lassen würde, so ist es auch hier Sache des Schuldners, einen Vollstreckungsschutzantrag nach § 765 a ZPO zu stellen201. Weder mit Rechtskrafterwägungen noch mit Gesichtspunkten der Rechtssicherheit und Rechtsklarheit wäre es jedenfalls zu vereinbaren, wenn eine nachträgliche Sachverhaltsänderung dem Urteil ipso iure die Vollstreckbarkeit nehmen würde.

199

Siehe bereits oben 3. Teil, C, II, 2, b). So auch Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.296f. 201 Umstritten ist in diesem Zusammenhang, ob der Räumungsschuldner nach Wegfall der Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung noch um Vollstreckungsschutz gem. § 765 a ZPO nachsuchen kann. Tendenziell verneinend Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 137f, Fn. 26; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.296f., Fn. 103; bejahend LG Göttingen, ZMR 1955, 148f.; LG Hannover, ZMR 1960, 250. 200

3. Teil: Zivilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

233

d) Gleichstellung von Durchführung und Nichtdurchführung der Vollstreckung Schließlich wird von den Vertretern der Gegenauffassung vorgebracht, es müsse grundsätzlich gleichgestellt werden, ob der Gerichtsvollzieher das Räumungsurteil vollstrecke oder nur deshalb von der Durchführung der Räumungsvollstreckung Abstand nehme, weil er sich durch die hoheitliche Beschlagnahme daran gehindert sehe. Denn es könne dem Absehen von der Vollstreckung als der in diesem Fall angebrachten Verhaltensweise des Gerichtsvollziehers keine geringere Bedeutung beigemessen werden als einem zwar dem „Buchstaben des Gesetzes folgenden", aber insoweit „unverständlichen und widersinnigen" Vorgehen, als der Schuldner die Räume aufgrund der Einweisung sofort wieder beziehen dürfe 202 . Eine derartige Argumentation setzt sich freilich über die gesetzliche Vorschrift des § 885 Abs. 1 ZPO hinweg. Ob der Gerichtsvollzieher den Schuldner aus dem Besitz setzt und den Gläubiger in diesen einweist oder aufgrund der Inanspruchnahme davon absieht, macht angesichts des klaren Wortlauts des § 885 Abs. 1 ZPO gerade einen entscheidenden Unterschied: denn im ersten Fall ist die Vollstreckung durchgeführt, im zweiten Fall fehlt es daran 203. Die Deutung, eine überhaupt noch nicht begonnene Räumung als durchgeführt anzusehen, steht im Widerspruch zur gesetzlichen Regelung, deren klarer Wortlaut auch insoweit keine andere Auslegung ermöglicht 204 und wäre im übrigen auch unter dem Gesichtspunkt der Formalisierung des Vollstreckungsverfahrens großen Bedenken ausgesetzt. Die zitierte Ansicht basiert dabei auf der Annahme, daß die Durchführung der Vollstreckung bei Vorliegen einer Beschlagnahme zwar eigentlich pflichtgemäß, aber „unverständlich und widersinnig" sei, was eine Gleichstellung zur „angebrachten" Vorgehensweise des Abstandnehmens von der Vollstreckung nahelege. Hierbei wird aber übersehen, daß die Durchführung der Räumung trotz Vorliegens einer hoheitlichen Beschlagnahme gerade nicht pflichtgemäß ist, vielmehr der Gerichtsvollzieher aufgrund der ihn bindenden Regelung des § 181 Nr. 3 GVGA die Räumung gar nicht durchführen darf 205 . Bezeichnenderweise ist aber für den Fall, daß der Gerichtsvollzieher aufgrund anderer Vollstreckungshindernisse von der Vollstreckung absieht, - soweit ersichtlich - bisher nicht vertreten worden, daß die Nichtdurchführung der Vollstreckung deren Durchführung gleichzusetzen sei. Nicht überzeugen kann auch der Hinweis 202

128.

So LG Darmstadt, NJW 1952, 389, 390; ähnlich LG Braunschweig, DGVZ 1952, 127,

203 Auf den Wortlaut des § 885 Abs. 1 ZPO weisen in diesem Zusammenhang auch OLG Hamm, NJW 1960, 1016; LG Heilbronn, MDR 1992, 910, 911; LG Darmstadt, DGVZ 1989, 24; DGVZ 1990, 73, 74; AG Bad Iburg, DGVZ 1988, 189. 204 Ebenso auch OLG Hamm, NJW 1960,1016; AG Bad Iburg, DGVZ 1988,189: „Die Auffassung, eine überhaupt noch nicht begonnene Räumung als durchgeführt anzusehen, liegt außerhalb der Möglichkeit einer Auslegung des § 885 Abs. 1 ZPO". Vgl. auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 126. 205 Siehe oben 3. Teil, C, I, 3.

234

3. Teil: Zvilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

des AG Langen, eine Wiederzuweisung könne zulässigerweise nur ergehen, wenn zuvor eine Räumung erfolgt sei, da erst dann die Obdachlosigkeit und damit die das polizeiliche Handeln rechtfertigende Störung vorliege. Daraus ergebe sich, daß die Wohnung zur Zeit der Verfügung als geräumt anzusehen sei 206 . Das Gericht verkennt hierbei freilich, daß die Inanspruchnahme keine Störung, sondern lediglich eine qualifizierte Gefahr voraussetzt 207, welche nach richtiger Auffassung bereits unmittelbar vor der Durchführung der Räumungsvollstreckung vorliegt 208 . Doch selbst die Annahme, daß der Eintritt der Obdachlosigkeit Voraussetzung für die Zulässigkeit der polizeilichen Maßnahme wäre, hätte nur zur Folge, daß eine früher erlassene Inanspruchnahmeverfügung mangels Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen rechtswidrig wäre; die angenommene Konsequenz einer Fiktion einer durchgeführten Räumung entbehrt jedoch jeder rechtlichen Grundlage. e) Kompetenzrechtliche Gesichtspunkte und Billigkeitserwägungen Über die bereits vorgetragenen Argumente hinaus bestehen durchaus noch weitere Einwände gegen die Annahme eines Verbrauchs des Titels. So sind auch unter kompetenzrechtlichen Gesichtspunkten große Zweifel an einem Verbrauch des Titels durch eine behördliche Verfügung angebracht. Einen Verbrauch des Titels anzunehmen hieße im Ergebnis, daß ein Akt der Exekutive einem Akt der Judikative nachträglich die Wirksamkeit nehmen könne, was einen Übergriff in den Kompetenzbereich der Judikative darstellen würde. Es würde sich hierbei nicht nur um eine „unerträgliche Entwertung" des zivilgerichtlichen Titels handeln209, vielmehr würde hier letztlich dem Urteil die Wirksamkeit genommen, was auch vor dem Hintergrund des Postulats der gegenseitigen Unaufhebbarkeit hoheitlicher Akte erhebliche Bedenken hervorriefe 210. Denkbar wäre eine solche Wirkungsweise der Beschlagnahmeverfügung allenfalls bei ausdrücklicher gesetzlicher Anordnung 211. Gegen einen Verbrauch des Titels sprechen schließlich auch Billigkeitserwägungen. Geht man mit der hier vertretenen Auffassung davon aus, daß in der erörterten Sachverhaltskonstellation der unechten Wiederzuweisung kein Folgenbeseitigungsanspruch des Vermieters gegen die Behörde auf Exmittierung des Zugewiesenen besteht 212 , so würde der Verbrauch des Titels durch die Inanspruchnahme zu einem 206

AG Langen, DGVZ 1988, 47. Auf diesen Umstand weisen auch Tenbieg, DGVZ 1988, 184, 185 und Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 126 hin. 208 Vgl. zum Zeitpunkt des Eintritts einer qualifizierten Gefahr bereits ausführlich oben 2. Teil, 1. Abschn., B, I, 2. 209 So die Formulierung von LG Wuppertal, DGVZ 1991, 26, 27; AG Bad Iburg, DGVZ 1988, 189, 190. 2.0 Hierzu Jellinek, Verwaltungsrecht, § 1, S. 16 m. w. Nachw.; Wolff, Verwaltungsrecht I, §20 IV a), S. 80 ff. 2.1 Vgl. auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 127. 212 Siehe zu diesem Problem ausführlich unten 4. Teil, 1. Abschn., IV, 2. 207

3. Teil: Zivilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

235

höchst unbilligen Ergebnis führen: Der Vermieter hätte nach Ablauf der Inanspruchnahmefrist keine Möglichkeit, den Räumungsschuldner aus der Wohnung zu exmittieren, sondern wäre vielmehr gezwungen, erneut in einem unter Umständen langwierigen Verfahren einen Räumungstitel vor den Zivilgerichten zu erwirken. Aber auch, wenn man mit der überwiegenden Meinung in diesem Fall einen Folgenbeseitigungsanspruch gegen die Behörde annimmt, ist das Ergebnis unbefriedigend: Kommt die Behörde der angenommenen Exmittierungspflicht nicht nach, so wäre der Eigentümer auch hier gehalten, den Verwaltungsrechtsweg zu beschreiten, was - bei Ausschöpfung der Instanzen - zu einer erheblichen Verzögerung der Räumung führen könnte. Umgekehrt würde der Räumungsschuldner letztlich durch die Beschlagnahme und Zuweisung ungerechtfertigterweise bessergestellt213: er kann, ohne daß dies formal durch eine polizeiliche Verfügung gedeckt wäre, unter Umständen erheblich länger in den Räumlichkeiten verbleiben und muß keine Zwangsräumung durch den Räumungsgläubiger befürchten. Nach alledem zeigt sich, daß ein Verbrauch des Räumungstitels durch die hoheitliche Inanspruchnahme nicht angenommen werden kann. 3. Inanspruchnahme nach Beginn der Durchführung der Räumungsvollstreckung (sog. „symbolische Räumung 214 ") 3. Sachverhaltskonstellation 215: Der Vermieter, der einen rechtskräftigen Räumungstitel gegen den Räumungsschuldner erwirkt hat, beauftragt den Gerichtsvollzieher mit der Räumung der Wohnung. Zum festgesetzten Räumungstermin, zum dem auch ein Vertreter der Polizeibehörde erschienen ist, beginnt der Gerichtsvollzieher mit der Räumung. Nachdem dieser - quasi symbolisch - ein Möbelstück aus der Wohnung entfernt hat, ordnet der Vertreter der Polizeibehörde die Beschlagnahme des Wohnraums und die Wiederzuweisung an den Räumungsschuldner an. Der Gerichtsvollzieher vermerkt sodann im Protokoll die Durchführung der Räumungsvollstreckung. Mit dieser Konstellation ist das Problem der sog. symbolischen Räumung" angesprochen. Während sich in den fünfziger und sechziger Jahren gerade an dieser Sachverhaltskonstellation der Streit um den Verbrauch des Räumungstitels entzün213

Auf diesen Umstand weist auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 127 hin. Teilweise wird unter dem Begriff der „symbolischen Räumung " auch der Fall verstanden, in dem bereits kurz vor der Räumungsvollstreckung die Inanspruchnahmeverfügung ergangen ist und der Gerichtsvollzieher trotzdem ein Möbelstück entfernt, etwa um zu symbolisieren, daß er ohne die Verfügung zur Zwangsvollstreckung geschritten wäre, vgl. z. B. OLG Stuttgart, NJW 1956, 1844; OLG Köln, NJW 1957, 1525. Für diesen Fall gilt nichts anderes als für den dargestellten, so daß insoweit auf die folgenden Ausführungen verwiesen werden kann. 215 Ein derartiger Sachverhalt liegt beispielsweise den Entscheidungen OLG Frankfurt, MDR 1969,852; OLG Hamm, NJW 1955,28 f.; NJW 1960,1016; OLG Nürnberg, NJW 1953, 1398; LG Duisburg, MDR 1953,559; LG Wuppertal, DGVZ 1991,26f.; AG Dortmund, ZMR 1959, 276 zugrunde. 214

236

3. Teil: Zvilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

det hat, finden sich heutzutage kaum noch Rechtsprechungsbeispiele für sog. symbolische Räumungen216. Dies mag daran liegen, daß eine qualifizierte Gefahr seinerzeit von den Polizei- und Ordnungsbehörden unter Verkennung der polizeirechtlichen Lage erst nach Beginn der Räumungsvollstreckung angenommen wurde 217 , während heute bereits kurz vor Beginn der Räumungsvollstreckung eine gegenwärtige bzw. unmittelbar bevorstehende Gefahr bejaht wird 218 . Teilweise wurde in bezug auf die Konstellation der symbolischen Räumung ein Verbrauch des Titels angenommen219. Ergehe die Beschlagnahmeverfügung nach Beginn der Räumung, so habe dies nicht zur Folge, daß die weitere Räumung unterbleiben müsse. Da davon auszugehen sei, daß Behörden nicht gegeneinander, sondern miteinander arbeiteten, müsse der Verwaltungsakt der Beschlagnahme so ausgelegt werden, daß er erst wirksam werden soll, wenn die Räumung beendet sei. Der Gerichtsvollzieher müsse also bei strenger Auslegung des § 885 Abs. 1 ZPO alle Sachen des Schuldners entfernen, damit ein Verbrauch des Titels vorliege. Da aber dann die Sachen aufgrund der Beschlagnahme und Wiederzuweisung wieder in Wohnung gebracht werden müßten, würde dieses Verfahren einen unnötigen Kostenaufwand verursachen und die staatlichen Organe der Lächerlichkeit preisgeben. Angesichts dessen könne man sich nicht starr an den Wortlaut des § 885 ZPO halten, sondern müsse diese Bestimmung vielmehr sinngemäß dahingehend auslegen, daß bei Beschlagnahme des Wohnraums der Titel schon dann als verbraucht anzusehen ist, wenn der Gerichtsvollzieher einen Gegenstand aus der Wohnung entfernt hat und im Hinblick auf die Beschlagnahme die Entfernung der anderen Sachen unterläßt 220 . Dem ist allerdings mit der herrschenden Meinung zu widersprechen 221. So ist bereits die Prämisse dieser Argumentation, daß die Beschlagnahmeverfügung nicht zur Folge habe, daß die Fortsetzung der Räumung zu unterbleiben habe, sondern so auszulegen sei, daß sie erst mit Beendigung der Räumungsvollstreckung wirksam 216

Soweit ersichtlich nur LG Wuppertal, DGVZ 1991, 26 f. So die Erklärung von Pepper sack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.298; ebenso auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 131. 218 Vgl. hierzu bereits ausführlich oben 2. Teil, 1. Abschn., B, I, 2. 219 So ausführlich OLG Hamm, NJW 1955, 28ff.; LG Darmstadt, 389, 390. 220 So OLG Hamm, NJW 1955, 28, 29. 221 Vgl. OLG Hamm, NJW 1960, 1016ff. unter ausdrücklicher Abkehr von OLG Hamm, NJW 1955, 28f.; OLG Frankfurt, MDR 1969, 852f.; OLG Nürnberg, NJW 1953, 1398; LG Darmstadt, DGVZ 1989, 24; LG Freiburg, DGVZ 1989, 155f.; LG Heilbronn, MDR 1992, 910; LG Wuppertal, DGVZ 1991,26f.; AG Bad Iburg, DGVZ 1988,189; AG Dortmund, ZMR 1959,276; hinsichtlich einer symbolischen Räumung nach Ergehen der Beschlagnahmeverfügung auch OLG Stuttgart, NJW 1956,1844f.; OLG Köln, NJW 1957,1525 f.; vgl. auch Bauri Stürner, Zwangsvollstreckungsrecht, Rdnr. 39.12; Brox/Walker, Zwangsvollstreckungsrecht, Rdnr. 1061; Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 134ff.; Nies, DGVZ 2000, 33; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.298 ff.; Roth, DVB1. 1996, 1401, 1404; Schoenenbroicher, MDR 1993, 97, 98 ff.; Stöber, in Zöller, ZPO, §885, Rdnr. 36; Tenbieg, DGVZ 1988, 184f.; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 129ff. 217

3. Teil: Zivilgerichtliche und polizeirechtliche Entscheidung

237

werden solle, unzutreffend 222. Sofern sich keine konkreten Anhaltspunkte in der Verfügung ergeben, die aus der Sicht des objektiven Empfängerhorizonts analog §§ 133, 157 BGB einen derartigen Schluß zulassen, kann von einer solchen Auslegung nicht ausgegangen werden. Sie entspräche auch gerade nicht dem auch vom OLG Hamm propagierten zweckmäßigen Zusammenarbeiten der staatlichen Organe, da sie in der Tat eine unnötige, kostenverursachende Räumung des Gerichtsvollziehers zur Konsequenz hätte, deren Folgen aufgrund der Wiederzuweisung sofort wieder rückgängig zu machen wären. So geht auch die Vorschrift des § 181 Nr. 3 GVGA, wonach der Gerichtsvollzieher bei Ergehen der Beschlagnahmeverfügung die Räumungsvollstreckung zu unterlassen hat, von einem sofortigen Wirksamwerden der Verfügung aus. Verhält sich der Gerichtsvollzieher rechtstreu, so hat er nach Ergehen der Verfügung von einer Fortsetzung der Vollstreckung abzusehen, so daß die vom OLG Hamm heraufbeschworene Gefahr, daß die staatlichen Organe sich der Lächerlichkeit preisgeben, gar nicht eintreten kann 223 . Nicht nachvollziehbar ist auch die Folgerung der Gleichstellung zwischen begonnener und bereits durchgeführter Vollstreckung, die das Gericht aus der Nichtfortsetzung der Vollstreckung zieht. Sie steht, wie auch das OLG Hamm einräumen muß, im Widerspruch zum eindeutigen Wortlaut des § 885 ZPO. Die vom OLG Hamm propagierte „sinngemäße", erweiterte Auslegung läßt sich aber rechtsdogmatisch nicht begründen. Eine sich derart vom Wortlaut lösende Interpretation wäre rechtsmethodisch nur unter zwei Gesichtspunkten denkbar: zum einen im Wege der teleologischen Extension der Norm, zum anderen im Wege der ergänzenden Rechtsfortbildung 224 . Die Voraussetzungen beider Korrekturmethoden liegen aber nicht vor 225 . Daß bei der Umsetzung des gesetzgeberischen Willens ein Fehler dergestalt unterlaufen ist, daß aufgrund der Tatbestandsfassung des § 885 Abs. 1 ZPO der Sachverhalt der symbolischen Räumung herausfällt, obwohl er nach der Wertentscheidung des Gesetzgebers eigentlich erfaßt sein sollte, kann ebensowenig angenommen werden wie eine normative Regelungslücke. Schließlich ist die vom OLG Hamm vertretene Auffassung auch in sich widersprüchlich. Während im Fall des Erlasses der Inanspruchnahmeverfügung vor dem Beginn der Räumungsvollstreckung auch vom Gericht richtigerweise eine Durchführung der Räumung verneint wird, soll im Fall des Hinausstellens eines einzigen Möbelstücks vor Ergehen der Verfügung eine solche Durchführung vorliegen. Für eine unterschiedliche Behandlung beider Fälle sind aber keine einleuchtenden Gründe ersichtlich 226. 222

So auch Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 131. Vgl. auch Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 300. 224 Zur Abgrenzung dieser beiden Methoden ausführlich Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S. 268 ff. 225 Vgl. zu den Voraussetzungen ausführlich Looschelders/Roth, Juristische Methodik, S.267f., 280ff. 226 So auch Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 135; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.300. 223

Vierter

Teil

Räumung, Entschädigung und Schadensersatz Erster Abschnitt

Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung der Wohnung In der Praxis wird der Obdachlose auch nach Aufhebung der Beschlagnahmeund Zuweisungsverfügung oder Ablauf der festgesetzten Frist die zugewiesenen Räumlichkeiten häufig nicht freiwillig verlassen. In dieser Konstellation stellt sich die rechtlich schwierige Frage, inwieweit der Wohnungseigentümer einen Anspruch gegen die Behörde auf Exmittierung des Obdachlosen hat. Ist ein Räumungstitel vorhanden und dieser mangels vollständiger Durchführung der Zwangsvollstrekkung noch nicht verbraucht 1, so ist der Vermieter zwar grundsätzlich nicht gehindert, auf diesen zurückzugreifen. Aufgrund des damit verbundenen Aufwands und Kostenrisikos besteht jedoch seinerseits ein erhebliches Interesse an der Durchführung der Räumung durch die Behörde. Gegenstand des vorliegenden Kapitels wird vornehmlich der in diesem Zusammenhang diskutierte Folgenbeseitigungsanspruch sein, dessen Anwendbarkeit und Grenzen in der vorliegenden Konstellation heftig umstritten sind (dazu unter A). Im Anschluß werden weitere Anspruchsgrundlagen wie die polizeiliche Generalklausel (dazu unter B), § 695 BGB (dazu unter C) sowie § 985 BGB (dazu unter D) kurz zu erörtern sein.

A. Der Folgenbeseitigungsanspruch Der Folgenbeseitigungsanspruch wird seit jeher als Anspruchsgrundlage für ein Exmittierungsbegehren des Wohnungseigentümers diskutiert. In der für die Entwicklung des Folgenbeseitigungsanspruchs bahnbrechenden Arbeit Otto Bachofs bildet der Obdachlosenfall gar den Ausgangspunkt für die Überlegungen bezüglich eines auf Beseitigung der Vollzugsfolgen eines Verwaltungsakts gerichteten Anspruchs2 1

Vgl. zu der Problematik des Verbrauchs des Räumungstitels näher oben 3. Teil, C, II, 2. Vgl. Bachof, Die verwaltungsgerichtliche Klage auf Vornahme einer Amtshandlung, S.98ff. 2

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

239

und wird nach wie vor als das klassische Anwendungsbeispiel dieses Rechtsinstituts gesehen3. Nach kurzer Erörterung der rechtsdogmatischen Grundlagen des Folgenbeseitigungsanspruchs (dazu unter I.) ist insbesondere der umstrittenen Frage nachzugehen, inwieweit der Folgenbeseitigungsanspruch in Drittbeteiligungsfällen der vorliegenden Art überhaupt Anwendung finden kann (dazu unter II.) und bejahendenfalls, ob eine gesonderte Ermächtigungsgrundlage für den Eingriff in die Rechte des Obdachlosen erforderlich ist (dazu unter III.). Einen weiteren Schwerpunkt wird die Untersuchung der von Rechtsprechung und Literatur überwiegend bejahten Frage bilden, ob die Voraussetzungen des Folgenbeseitigungsanspruchs auch in der praktisch besonders häufig vorkommenden Konstellation der „unechten Wiederzuweisung" vorliegen (dazu unter IV).

I. Rechtsdogmatische Grundlagen Die dogmatische Herleitung des Folgenbeseitigungsanspruchs ist seit dessen Initiierung durch die grundlegende Arbeit Otto Bachofs 4 aus dem Jahre 1951 heftig umstritten 5. Wenn auch bisweilen in der Literatur eine „Lustlosigkeit oder Gleichgültigkeit 6 " gegenüber dieser Frage konstatiert wird und die Rechtsprechung ohne abschließende Festlegung zunehmend dazu übergeht, den Folgenbeseitigungsanspruch als gewohnheitsrechtlich oder richterrechtlich verfestigtes Institut anzuerkennen7, so ist diese Problematik dennoch nicht als „reine Doktorfrage, an der sich nichts entscheidet8" oder „akademisches Glasperlenspiel9" anzusehen, sondern hat 3

Siehe Brugger, JuS 1999, 625, 626; Köckerbauer, JuS 1988, 782; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, §29, Rdnr. 3; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S.287; Rüfner, JuS 1997, 309; Schioer, JA 1992, 39f.; vgl. auch Schoch, Jura 1993, 478, 479, Fall 1; Weyreuther, Gutachten für den 47. DJT, S. 24ff. 4 BachofDie verwaltungsgerichtliche Klage auf Vornahme einer Amtshandlung, S.98ff. 5 Siehe ausführlich zu den verschiedenen Begründungsansätzen G. Pietzko, Der materiellrechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.58ff.; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S.26ff. mit jeweils umfangreichen w. Nachw.; vgl. auch Brugger, JuS 1999, 625, 627 f.; Köckerbauer, JuS 1988, 782, 783; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 294ff.; Schoch, Jura 1993,478, 480f.; ders., VerwArch Bd.79 (1988), 1, 15ff. 6 So Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S.297; Schoch, VerwArch Bd.79 (1988), 1, 22f.; vgl. auch Schoch, Jura 1993,478,480, der dem BVerwG vorwirft, an einer dogmatischen Klärung der Frage nicht interessiert zu sein. 7 Vgl. BVerwG, NJW 1989, 2484, 2485: Anspruch aus Folgenbeseitigung entspreche gesicherter Rechtsüberzeugung; OVG Lüneburg, UPR 1991, 78: Folgenbeseitigungsanspruch sei anerkannt; VGH Mannheim, NJW 1985, 2352, 2353; VGH München, BayVBl. 1984, 272, 274; siehe neuerdings BVerwGE 94, 100, 103 f., wo das BVerwG gar nicht auf die Rechtsgrundlage eingeht, sondern auf den umstrittenen Stand der Rechtsprechung verweist. 8 So aber Heintzen, VerwArch Bd. 81 (1990), 532, 535. 9 So die Formulierung bei Schenke, JuS 1990, 370, 371.

240

4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

vielmehr auch praktische Relevanz 10 . Gerade für die Frage der Anwendbarkeit des Folgenbeseitigungsanspruchs in dreipoligen Rechtsverhältnissen wie der vorliegenden A r t 1 1 sowie auch für die Frage des Anspruchsinhalts und -umfangs 12 hat die dogmatische Verankerung des Rechtsinstituts durchaus Konsequenzen 13 . Als Rechtsgrundlagen sind in der kaum überschaubaren rechtswissenschaftlichen Diskussion 1 4 vornehmlich der in Art. 20 Abs. 3 GG verankerte Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung 1 5 , die Vorschrift des Art. 19 Abs. 4 G G 1 6 , eine Analogie zu den zivilrechtlichen Normen der §§ 12, 862, 1004 B G B 1 7 sowie die subjektivrechtliche Seite der Freiheitsgrundrechte 18 herangezogen worden. Überzeugend erscheint die auch in der neueren Literatur zunehmend vertretene rechtliche Fundierung des Folgenbeseitigungsanspruchs in den Freiheitsgrundrechten 1 9 . Gegen die Heranziehung des Grundsatzes der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung ist zutreffend eingewandt worden, daß dieser ein rechtswidriges Verhalten der Behörde zwar verbiete, jedoch keine inhaltliche Aussage darüber treffe, welche Fol-

10

In diesem Sinne auch Brugger, JuS 1999, 625, 628; G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.73ff.; Schenke, JuS 1990, 370, 371; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S.26; Schoch, Jura 1993,478,480. 11 Vgl. Schenke, DVB1. 1990, 328, 330. 12 Siehe Bender, VB1BW 1990,223,224; Kraft, BayVBl. 1992,456,457; ausführlich zu den Auswirkungen der Rechtsgrundlage für die Ausgestaltung des Tatbestands und die Rechtsfolgen des Folgenbeseitigungsanspruchs G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.73ff. 13 So zutreffend Schoch, Jura 1993, 478, 480. 14 Vgl. ausführlich zu den verschiedenen Ansätzen G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.58ff. mit vielen w. Nachw. 15 Vgl. BVerwGE 69, 366, 370; OVG Lüneburg, NVwZ 1988, 957, 958; VGH Mannheim, VB1BW 1993, 26, 28; OVG Münster, NVwZ 2000, 217, 218; Fiedler, NVwZ 1986, 969, 970; Haug, DÖV 1967,86,91Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 86; Obermayer, JuS 1963, 110, 113; Wallerath, DÖV 1987, 505, 512. 16 Vgl. Haas, System der öffentlichrechtlichen Entschädigungspflichten, S. 59 f., 63 ff.; Heidenhain, Amtshaftung und Entschädigung aus enteignungsgleichem Eingriff, S. 141 f. 17 VGH München, BayVBl. 1990, 627, 628; grundlegend Bettermann, DÖV 1955, 528, 534 f.; neuerdings auch Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29, 38, vgl. auch Groß, DVB1. 1981, 247, 248; G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S. 119ff.: § 1004 BGB und die Freiheitsgrundrechte bilden eine sich wechselseitig konkretisierende einheitliche Rechtsgrundlage; vgl. des weiteren die Nachw. bei T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 39, Fn. 126 und G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S. 72, Fn. 92 und Fn. 93. 18 Bender, VB1BW 1990, 223, 224; BlankeIPeilert, Verw Bd. 31 (1998), 29, 35 f.; Kopp/ Schenke, VwGO, § 113, Rdnr. 81; Kraft, BayVBl. 1992,456, 457; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 298 f.; Roth, DVB1.1996,1401; ders., Faktische Eingriffe, S. 86 f.; Schenke, JuS 1990, 370,372; ders., DVB1. 1990,328, 330; ders., DÖV 1986,305,313; ders., Verwaltungsprozeßrecht, Rdnr. 508; T.Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 61 ff.; Schoch, VerwArch Bd. 79 (1988), 1, 34ff.; ders., Jura 1993, 478, 481. 19 Siehe die Nachw in Fn. 18.

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

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gen bei einer Zuwiderhandlung ausgelöst werden . Zudem sei der Grundsatz objektivrechtlicher Natur und daher nicht geeignet, subjektive Ansprüche zu begründen21. Gegen eine Verankerung des Folgenbeseitigungsanspruchs in der Vorschrift des Art. 19 Abs. 4 GG spricht die Tatsache, daß es sich richtiger Auffassung nach um eine rein prozessuale Norm handelt, die keine subjektiven Rechte begründet, sondern allein der Durchsetzung anderweitig statuierter subjektiver Rechte dient 22 . Durchschlagenden Einwänden sieht sich auch die von Bettermann 23 entwickelte analoge Heranziehung der zivilrechtlichen Vorschriften ausgesetzt. Zwar zeigt diese Auffassung richtigerweise auf, daß es sich beim Folgenbeseitigungsanspruch letztlich, wie auch bei den genannten negatorischen und quasinegatorischen Ansprüchen des Zivilrechts, um einen Hilfsanspruch zum Schutz absoluter Rechte handelt. Einer analogen Anwendung zivilrechtlicher Vorschriften bedarf es jedoch nicht, weil die Freiheitsgrundrechte als absolute subjektive Rechte bereits einen sekundären Hilfsanspruch nahelegen und damit eine dogmatische Ansiedelung im öffentlichen Recht begründen24. Zudem würde dies nur eine Verankerung auf der Ebene des einfachen Gesetzesrechts bedeuten, was zu einer bedenklichen Relativierung der Freiheitsrechte führen würde 25. Nach alledem kann allein die Fundierung des Folgenbeseitigungsanspruchs in den Freiheitsgrundrechten überzeugen. Es würde - wie vor allem Schenke zutreffend dargelegt hat - dem Wesen absoluter Rechte nicht gerecht, wenn den in den Grundrechten verankerten absoluten subjektiven Rechten im Gegensatz zu ihrem zivilrechtlichen Pendant kein Reaktionsanspruch zugrundeläge, der auf Beseitigung rechtswidriger Beeinträchtigungen gerichtet ist und damit in der Lage ist, solche subjektiven Rechtsverletzungen zu sanktionieren 26.

20 Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rdnr.81 \ Schenke, JuS 1990,370, 372; ders., Verwaltungsprozeßrecht, Rdnr. 507; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 35 mit umfangr. w.Nachw. inFn.96; Schoch, VerwArch Bd. 79 (1988), 1,33 f.; ders., Jura 1993,478,481; Weyreuther, Gutachten für den 47. DJT, S. 28 f., 33 f. 21 Vgl. G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.89f. 22 Ausführlich Schenke, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 19 Abs. 4, Rdnr. 300; ders., JuS 1990, 370, 372; ders., Verwaltungsprozeßrecht, Rdnr. 508; vgl. auch Kopp/Schenke, VwGO, §113, Rdnr.81; G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.92ff.; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S.42. 23 Vgl. Bettermann, DÖV 1955, 528, 534f. 24 Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rdnr. 81; Schenke, JuS 1990,370, 372; ders., Verwaltungsprozeßrecht, Rdnr. 508; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 41 mit w.Nachw. in Fn. 133. 25 Schenke, JuS 1990, 370, 372. 26 Vgl. Schenke, JuS 1990, 370, 372; ders., DÖV 1986, 305, 313f.; ders., Verwaltungsprozeßrecht, Rdnr. 508.

16 Reitzig

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4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

II. Die Anwendbarkeit des Folgenbeseitigungsanspruchs als Anspruchsgrundlage in Drittbeteiligungsfallen Die besondere rechtliche Problematik der vorliegenden Konstellation liegt nun darin, daß es sich nicht nur um eine zweipolige Rechtsbeziehung zwischen Staat und Bürger handelt, wo es allein um die Folgenbeseitigung eines einseitig belastenden Verwaltungshandelns geht, sondern vielmehr eine Dreiecksbeziehung zwischen Wohnungseigentümer, Polizeibehörde und Obdachlosem vorliegt, bei der die Beseitigung der Folgen von Verwaltungshandeln mit Drittwirkung in Frage steht 27 . Wenn sich auch nach Aufhebung oder Unwirksamwerden der Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung der Obdachlose unrechtmäßig in den Räumen aufhält, so hat er dennoch mit der weiteren Innehabung des Besitzes eine tatsächliche Rechtsposition inne. Bei der Verfügung, mit der dem Obdachlosen die Räumung aufgegeben wird und die demzufolge auf Verlust dieser tatsächlichen Rechtsposition gerichtet ist, handelt es sich dementsprechend um einen belastenden, in seine Rechte eingreifenden Verwaltungsakt 28 . Das Folgenbeseitigungsbegehren des Wohnungseigentümers gegenüber der Polizei kann daher nur durch einen gleichzeitigen Eingriff in die Rechte des Obdachlosen verwirklicht werden 2 9 . In diesem Zusammenhang stellen sich - wie G. Pietzko zutreffend herausgearbeitet hat 3 0 - zwei verschiedene Problemkreise, die bisweilen miteinander vermengt 27 Das in Frage stehende Verwaltungshandeln, um dessen Folgenbeseitigung es geht, ist sowohl die an den Eigentümer adressierte Beschlagnahme als auch die an den Obdachlosen gerichtete Zuweisungsverfügung, die insoweit als Einheit anzusehen sind. Die Beschlagnahmeverfügung verschafft der Polizei dabei zunächst nur die Sachherrschaft über den Wohnraum, welche sie aber im Rahmen der Zuweisungsverfügung an den Obdachlosen weiterleitet. Um das Nutzungsrecht des Zugewiesenen an den Räumlichkeiten zu beseitigen und damit die Möglichkeit des Erlasses einer Räumungsverfügung zu eröffnen, bedarf es somit nicht nur der Aufhebung der Beschlagnahmeverfügung, sondern auch der Aufhebung der Zuweisung. Will man keinen Rechtswidrigkeitszusammenhang zwischen beiden Verfügungen dergestalt anerkennen, daß mit Wegfall der Inanspruchnahmevoraussetzungen auch die Zuweisungsverfügung rechtswidrig wird und analog § 9 Abs. 2 bwPolG (§ 6 Abs. 2 MEPolG) aufzuheben ist (so T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 151 f.), so wird zumindest bei Aufhebung der Beschlagnahme und damit eintretender Unwirksamkeit mangels fortbestehender Verfügungsmacht der Polizei die Zuweisungsverfügung rechtswidrig (so Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.51). Nach G. Pietzko (Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.511) geht es allein um die Beseitigung der Folgen der „Einweisungsverfügung", welche diese allerdings unter Verkennung deren Regelungsgehalts (siehe dazu näher oben 2. Teil, 2. Abschn., A, II) für einen den Wohnungseigentümer belastenden Verwaltungsakt mit begünstigender Drittwirkung hält. Unzutreffend ist die Annahme T. Schneiders (Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 151), daß die „Einweisungsverfügung" keinen drittbelastenden Charakter habe und dementsprechend vom Wohnungseigentümer nicht angefochten werden könne. Hiergegen ist einzuwenden, daß erst die Zuweisungsverfügung dem Obdachlosen das Nutzungsrecht über den Wohnraum vermittelt, worin in jedem Fall eine faktische Beeinträchtigung des Eigentumsrechts des Wohnungsinhabers zu sehen ist. 28 Vgl. Knemeyer, JuS 1988, 696, 698; G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.512; Weyreuther, Gutachten für den 47. DJT, S. 108. 29 Vgl. G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.512.

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

243

werden. Zunächst ist zu klären, ob im Verhältnis Wohnungseigentümer-Behörde der Folgenbeseitigungsanspruch oder die polizeirechtliche Generalklausel die einschlägige Anspruchsgrundlage bildet. Bejaht man die Anwendbarkeit des Folgenbeseitigungsanspruchs, so stellt sich die daraus resultierende Frage, ob neben dem Folgenbeseitigungsanspruch noch eine zusätzliche Ermächtigungsgrundlage für ein Einschreiten gegenüber dem Obdachlosen erforderlich oder ob diese angesichts der grundrechtlichen Fundierung dem Folgenbeseitigungsanspruch immanent ist. 1. Auffassung von der Unanwendbarkeit

des Folgenbeseitigungsanspruchs

Nach teilweise vertretener Auffassung erfaßt der Folgenbeseitigungsanspruch von vornherein nicht ein dreipoliges Verwaltungsrechtsverhältnis der vorliegenden Art, sondern ist vielmehr lediglich auf den einseitig belastenden Verwaltungsakt zugeschnitten. Als Anspruchsgrundlage zwischen Eigentümer und Polizeibehörde sei in derartigen Konstellationen somit nicht der Folgenbeseitigungsanspruch, sondern allein die polizeirechtliche Generalklausel einschlägig31. Insbesondere der VGH Mannheim hat in seinem Beschluß vom 20. Januar 1987 das Räumungsbegehren des Wohnungseigentümers auf der Grundlage eines Folgenbeseitigungsanspruchs abgelehnt und hat dieses ausschließlich auf die polizeiliche Generalklausel gestützt32. Begründet wird diese Ansicht zum einen damit, daß sich die Räumungsanordnung als Eingriff gegenüber dem Obdachlosen darstelle und demgemäß im Hinblick auf das Prinzip des Vorbehalts des Gesetzes (Art. 20 Abs. 3 GG) einer gesetzlichen Grundlage bedürfe 33. Diese könne der Folgenbeseitigungsanspruch aber nicht begründen, so daß ein Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel erforderlich sei34. Der Folgenbeseitigungsanspruch entspringe letztlich dem negativen Unterlassungsanspruch eines zweiseitigen Rechtsverhältnisses und bleibe daher in seinen Rechts30 Vgl. G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.517; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.203f.; siehe auch Knemeyer, JuS 1988, 696, 698; Rüfner, JuS 1997, 309 f.; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 147 ff. 31 So PrOVGE 92, 113, 114f.; OVG Münster, VerwRspr. 25 (1974), 178, 180; VGH Mannheim, VB1BW 1987,423,424; NJW 1990,2770,2771; vgl. ferner OVG Lüneburg, DVB1.1982, 906, Nr. 318; DrewslWackelVogell Martens, Gefahrenabwehr, § 22, 3, c), S. 340; Kopp, VwGO, §113, Rdnr.42; Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29, 36ff.; Tenbieg, DGVZ 1988, 184, 185; Weyreuther, Gutachten für den 47. DJT, S. 106 ff.; ohne nähere Begründung auch Trockels, BWVPr. 1989,145,150; zu der rechtsdogmatisch vergleichbaren Konstellation der baurechtlichen Nachbarklagen, in denen der Nachbar nach erfolgreicher Anfechtung der Baugenehmigung von der Behörde den Abriß des Bauwerks verlangt, ebenso OVG Münster, NJW 1984, 883 ff. 32 VGH Mannheim, VB1BW 1987, 423, 424; bestätigt durch VGH Mannheim, NJW 1990, 2770, 2771; wohl auch VGH Mannheim, NJW 1997, 2832, 2833. 33 VGH Mannheim, VB1BW 1987, 423, 424; NJW 1990, 2770, 2771; DrewslWackelVogell Martens, Gefahrenabwehr, § 22, 3, c), S. 340; Weyreuther, Gutachten für den 47. DJT, S. 108 f. 34 VGH Mannheim, VB1BW 1987, 423, 424; DrewslWackelVogell Martens, Gefahrenabwehr, § 22, 3, c), S. 340; Weyreuther, Gutachten für den 47. DJT, S. 106f.

16*

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4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

Wirkungen auf dieses beschränkt35. Mit der Einsicht der Erforderlichkeit einer gesetzlichen Grundlage verlagere sich die gesamte Problematik vom Folgenbeseitigungsanspruch weg auf das „Einschreiten 36". Erst wenn eine gesetzliche Grundlage für das Einschreiten vorhanden sei, stelle sich die Frage, ob die Verwaltung in Richtung auf die Exmittierung des Eingewiesenen „nicht nur tätig werden darfsondern ob sie tätig zu werden hat und der Folgenbeseitigungsberechtigte dies fordern kann 37 ". Das Einschreiten der Behörde aufgrund der Generalklausel liege aber nicht in deren pflichtgemäßem Ermessen, sondern es liege regelmäßig eine Ermessensbindung in der Form einer Ermessensreduktion auf Null vor. Diese von Weyreuther als „Folgenbeseitigungslast" bezeichnete Ermessensbindung folge daraus, daß der rechtswidrige Zustand auf ein Verhalten der Behörde zurückzuführen sei38. Zum anderen wird gegen die Anwendbarkeit des Folgenbeseitigungsanspruchs in der vorliegenden Fallkonstellation geltend gemacht, daß dieser grundsätzlich nicht auf den Erlaß eines Verwaltungsakts gerichtet sei39. Es werde lediglich die Wiederherstellung des ehemaligen Zustands geschuldet, wobei die Art und Weise, wie dieses Ziel verwirklicht werde, außerhalb des Normgehalts liege40. 2. Stellungnahme Indes können die für eine Anwendung der polizeilichen Generalklausel als Anspruchsgrundlage zwischen Wohnungseigentümer und Behörde vorgebrachten Argumente einer näheren Überprüfung nicht standhalten. Vor dem Hintergrund der Wertung, die dem Folgenbeseitigungsanspruch zugrundeliegt, zeigt sich, daß dieser im Falle einer der Behörde zurechenbaren Rechtsverletzung das einschlägige Haftungsinstitut darstellt. a) Thematischer Anwendungsbereich des Folgenbeseitigungsanspruchs Richtig ist zwar, daß sich auf der Grundlage der polizeilichen Generalklausel ein Anspruch auf polizeiliches Einschreiten gegenüber einer dritten Person ergeben kann41. Bei näherer Betrachtung zeigt sich jedoch, daß sich diese Konstellation von der hier zu untersuchenden grundlegend unterscheidet. Ein Anspruch auf behördliches Einschreiten gegen einen Dritten aufgrund der polizeilichen General35

Vgl. Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29, 39. Weyreuther, Gutachten für den 47. DJT, S. 110. 37 Weyreuther, Gutachten für den 47. DJT, S. 110. 38 Grundlegend Weyreuther, Gutachten für den 47. DJT, S. 114ff.; vgl. auch VGH Mannheim, VB1BW 1987, 423, 424; Drews/Wacke/VogellMartens, Gefahrenabwehr, §22, 3, c), S.340. 39 Siehe Weyreuther, Gutachten für den 47. DJT, S. 109 i.V. m. S. 102. 40 Weyreuther, Gutachten für den 47. DJT, S. 102. 41 Vgl. z.B. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr.74f. 36

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

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klausel kommt dann in Betracht, wenn der Dritte eine Gefahr für die individuellen Rechtsgüter des Antragstellers verursacht und der Antragsteller zum Schutze dieser Rechtsgüter ein polizeiliches Einschreiten begehrt. Beispielhaft sei hier der Fall genannt, in dem Hausbesetzer das Eigentum des Antragstellers rechtswidrig beeinträchtigen. Im Fall der hier zumeist gegebenen Ermessensreduzierung auf Null hat der Eigentümer einen Anspruch gegen die Behörde auf Erlaß von Räumungsverfügungen gegen die Hausbesetzer42. Kennzeichnend für diese Fallkonstellation ist demnach, daß die Behörde durch die bisherige Untätigkeit ihre allgemeine Gefahrenabwehrpflicht verletzt hat 43 , wobei der objektiven Pflicht zum Einschreiten aufgrund des beeinträchtigten Individualrechts ein formelles bzw. bei gegebener Ermessensreduzierung auf Null ein materielles subjektives Recht korrespondiert 44. Die Obdachlosenexmittierung zeichnet sich demgegenüber dadurch aus, daß die Behörde in zurechenbarer Weise an einer Rechtsverletzung zu Lasten des Betroffenen mitgewirkt hat 45 , sei es dadurch, daß sie eine rechtswidrige Beschlagnahmeund Zuweisungsverfügung erlassen hat 46 oder sei es dadurch, daß die erlassenen Verfügungen zwar rechtmäßig, aber durch Fristablauf unwirksam geworden sind und der Obdachlose weiter in den Räumlichkeiten verblieben ist 47 . Im Gegensatz zum dargestellten Hausbesetzerfall, in dem ein Rechtsverstoß seitens eines privaten Dritten vorliegt, geht es hier um die Beseitigung einer der Behörde zurechenbaren individuellen Rechtsverletzung48. Gegenstand des Anspruchs ist daher nicht eine polizeiliche Untätigkeit, sondern vielmehr die Beseitigung von rechtswidrigen Folgen behördlichen Handelns. Prägnant formuliert Götz in seiner Entscheidungsrezension zum bereits oben erwähnten Beschluß des VGH Mannheim vom 20. Januar 198749, der VGH judiziere - im Ergebnis unzutreffend - über einen Anspruch auf polizeilichen Schutz, nicht aber über einen Eingriffsfolgen-Beseitigungsanspruch 50. 42 Vgl. hierzu näher VG Berlin, NJW 1981, 1748f.; VG Freiburg, VB1BW 1987, 349ff.; Martens, DÖV 1982, 89, 97; Schlink, NVwZ 1982, 529, 532ff. 43 So auch Knemeyer, JuS 1988, 696, 698; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.205; G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.518. 44 Vgl. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr.75. 45 Dies trifft jedenfalls auf die „echte Wiederzuweisung" und die „Fremdzuweisung" zu, in denen das Verweilen des Obdachlosen in den Räumlichkeiten der Behörde zuzurechnen ist; vgl. zum Problem der Zurechnung näher unten 4. Teil, 1. Abschn., A, IV, 1, a), cc). 46 Dem ist der Fall gleichzusetzen, daß die Verfügungen nachträglich rechtswidrig wurden, vgl. auch unten 4. Teil, 1. Abschn., A, IV, 1, a), aa). 47 Zur Zurechnung des rechtswidrigen Zustands in dieser Fallkonstellation siehe näher unten 4. Teil, 1. Abschn., A, IV, 1, b). 48 So zutreffend Knemeyer, JuS 1988, 696, 698; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.205 f.; G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.518; Schenke, DVB1. 1990, 328, 332. 49 Vgl. VGH Mannheim, VB1BW 1987, 423 f. 50 Götz, VB1BW 1987, 424, 425.

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4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

Der Folgenbeseitigungsanspruch knüpft aber gerade an die Beseitigung der rechtswidrigen Folgen hoheitlicher Eingriffsakte an und ist auf die Wiederherstellung des status quo ante bei staatlich verursachten Rechtsgutsverletzungen gerichtet. Er muß mithin von seiner Zielsetzung und seinem thematischen Anwendungsbereich her als die einschlägige, weil speziellere Anspruchsgrundlage angesehen werden 51. b) Trennung der Rechtsverhältnisse Wohnungseigentümer-Behörde und Behörde-Obdachloser Zudem trennt die Gegenauffassung nicht ausreichend zwischen den verschiedenen rechtlichen Beziehungen im bestehenden Dreiecksverhältnis 52. Der Folgenbeseitigungsanspruch betrifft ausschließlich das Verhältnis zwischen Wohnungseigentümer und Behörde und ist als auf die Beseitigung des in diesem Verhältnis vorliegenden Verwaltungsunrechts gerichtetes Institut grundsätzlich die gegenüber der Generalklausel speziellere Anspruchsgrundlage. Wie die Behörde die sogar grundrechtlich geforderte Folgenbeseitigung gegenüber dem Obdachlosen durchsetzt, betrifft hingegen ausschließlich das hiervon zu trennende Innenverhältnis zwischen Behörde und Obdachlosem53. Erst in diesem Verhältnis wird die Frage nach dem Erfordernis einer Ermächtigungsgrundlage für ein rechtliches Einschreiten relevant. So zeigt sich bei näherem Hinsehen, daß der von der Gegenansicht propagierte Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes für das Verhältnis zwischen Eigentümer und Behörde gar keine Relevanz besitzt. Ob für ein Einschreiten der Behörde gegenüber dem Obdachlosen bereits der Folgenbeseitigungsanspruch eine ausreichende Rechtsgrundlage bildet oder angesichts des Vorbehalts des Gesetzes insoweit zusätzlich auf die polizeiliche Generalklausel zurückzugreifen ist, ist somit eine grundsätzlich vom Verhältnis zwischen Eigentümer und Behörde losgelöste Frage und kann nicht dazu führen, daß bereits in dieser Rechtsbeziehung die polizeiliche Generalklausel den Folgenbeseitigungsanspruch in seinem thematischen Anwendungsbereich verdrängt.

51

Im Ergebnis ebenso BGHZ 130, 332, 335; Detterbeck, Jura 1990, 38,42; Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 378f.; Götz, VB1BW 1987, 424, 425; Gusy, Polizeirecht, Rdnr.274; Knemeyer, JuS 1988,696,698; Masing, DÖV 1999,573,576; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.206; Pietzcker, NWVB1. 1988, 321, 322; G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S. 518 f.; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 735; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 147 ff.; Schoch, JuS 1995, 30, 35; ders., Jura 1993, 478, 485; Schoenenbroicher, MDR 1993, 97, 98; WürtenbergerlHeckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 316 e; allgemein auch Schenke, DVB1. 1990, 328 ff. 52 Vgl. auch Detterbeck, Jura 1990, 38,42. 53 Ähnlich Detterbeck, Jura 1990, 38, 42.

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

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c) Möglichkeit der Folgenbeseitigung durch Erlaß eines Verwaltungsakts Nicht zu überzeugen vermag auch die zur Stützung der Auffassung von der Unanwendbarkeit des Folgenbeseitigungsanspruchs von Weyreuther vorgebrachte These, daß der Folgenbeseitigungsanspruch grundsätzlich nicht auf den Erlaß eines Verwaltungsakts gerichtet sei54 . Wenn auch grundsätzlich richtig sein dürfte, daß der Betroffene von vornherein keinen Anspruch auf eine bestimmte Art der Durchführung der Folgenbeseitigung hat, sondern die Wahl des Mittels vielmehr Sache des Hoheitsträgers ist, so ist allerdings kein Grund ersichtlich, warum die Verwaltung nicht auch durch Verwaltungsakt soll handeln können 55. Dies gilt um so mehr, als sich aus den Grundrechten als zutreffender Rechtsgrundlage des Folgenbeseitigungsanspruchs nicht entnehmen läßt, wie eine der Verwaltung zurechenbare fortdauernde Rechtsbeeinträchtigung zu beseitigen ist 56 . Ist die Wiederherstellung des ursprünglichen Zustands nur durch den Erlaß eines Verwaltungsakts möglich, so muß auch diese Form des Verwaltungshandelns vom Folgenbeseitigungsanspruch erfaßt sein57, zumal sich der Verwaltungsakt gerade als die typische Form des hoheitlichen Handelns darstellt und die Ermächtigung der Verwaltung zur Tätigkeit kraft hoheitlicher Gewalt die Befugnis zum Handeln durch Verwaltungsakt grundsätzlich einschließt58. Bezeichnenderweise ist auch Weyreuther insoweit inkonsequent, als er selbst einräumt, daß es Konstellationen gebe, in denen eine Folgenbeseitigung durch Verwaltungsakt geboten sei, was dann anzunehmen sei, wenn „nach Lage der Dinge ein anderer Weg, den ursprünglichen Zustand wieder herzustellen, praktisch und sinnvoll nicht in Betracht kommt 59 ". Zeigt sich somit, daß allein der Folgenbeseitigungsanspruch die einschlägige Anspruchsgrundlage des betroffenen Eigentümers im Verhältnis zur Behörde bildet, so ist, wie bereits mehrfach angeklungen, aber noch keine Aussage darüber getroffen, ob für das Einschreiten gegenüber dem Obdachlosen ein Rückgriff auf die polizeiliche Generalklausel erforderlich ist, oder ob der Folgenbeseitigungsanspruch selbst eine hinreichende Rechtsgrundlage für diesen Eingriff bildet. Dieser Frage soll im folgenden nachgegangen werden.

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Weyreuther, Gutachten für den 47. DJT, S. 109 i.V. m. S. 102. So zutreffend T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 152f.; ähnlich Horn, DÖV 1989, 976, 980. 56 So zutreffend Schenke, DVB1.1990,328,332; ähnlich T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 153. 57 Ebenso auch Horn, DÖV 1989, 976, 980; vgl. auch die amtliche Begründung des Regierungsentwurfes zu § 3 StHG, BT-Drs. 8/2079, S. 43, wo hiervon als selbstverständlich ausgegangen wurde. 58 Zum letzteren siehe Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 10, Rdnr. 5 m. w. Nachw. 59 Weyreuther, Gutachten für den 47. DJT, S. 102 m. w. Nachw. 55

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4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

III. Erfordernis einer zusätzlichen Ermächtigungsgrundlage für die Exmittierung des Obdachlosen? 7. Die Auffassung von der Entbehrlichkeit einer zusätzlichen Ermächtigungsgrundlage Nach teilweise vertretener Auffassung stellt der Folgenbeseitigungsanspruch nicht nur die Anspruchsgrundlage des Eigentümers gegenüber der Behörde dar, sondern berechtigt gleichzeitig auch im Verhältnis zum Obdachlosen zum Erlaß der RäumungsVerfügung. Das Heranziehen einer zusätzlichen Ermächtigungsgrundlage in der Form der polizeilichen Generalklausel für das Einschreiten gegenüber dem Obdachlosen sei demnach nicht erforderlich 60. Zur Begründung wird dabei zum einen vorgebracht, daß der Folgenbeseitigungsanspruch den formellen Anforderungen des Gesetzesvorbehalts genüge. Wenn § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO die Anordnung der Folgenbeseitigung eröffne, setze die Vorschrift diese als zulässig voraus und liefere somit die formell-rechtliche Normierung des Folgenbeseitigungsanspruchs61. Zudem sei auch die Qualifizierung als Verfassungsgewohnheitsrecht bzw. Richterrecht ausreichend, um den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts zu genügen62. Zum anderen scheint angesichts der zurechenbaren Rechtsverletzung der Behörde und des damit korrespondierenden verfassungsrechtlich begründeten Beseitigungsanspruchs eine gesetzliche Ermächtigungsgrundlage generell für entbehrlich gehalten zu werden. Aus der Befugnis der Behörde zum Vollzug eines möglicherweise rechtswidrigen Verwaltungsakts und damit zur Schaffung eines rechtswidrigen Zustands wird die Berechtigung zur Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustand auch gegenüber dem rechtswidrig Begünstigten gefolgert 63. Denn durch die 60

So in bezug auf die Obdachlosenfälle badwürttVGH, DVB1. 1951, 470; OVG Koblenz, OVGE9, 88, 89ff.; VGH München, BayVBl. 1965, 246; OVG Münster, DVB1. 1954, 781, 782f.; VG Darmstadt, NJW 1953, 1608; VG Neustadt, NJW 1965, 833, 834f.; vgl. allgemein in bezug auf Verwaltungsakte mit Drittwirkung Bachof, Die verwaltungsgerichtliche Klage auf Vornahme einer Amtshandlung, S. 134ff.; Ey ermann! Fröhler, VwGO, §80, Rdnr. 56; Horn, DÖV 1989, 976, 979ff.; Köckerbauer, JuS 1988, 782, 788; Kopp/Schenke, VwGO, § 113, Rdnr. 83; Kreßel, Öffentliches Haftungsrecht, S.72f.; Laubinger, Der Verwaltungsakt mit Doppelwirkung, S. 137 f.; Obermayer, JuS 1963, 110, 113; Rupp, JA 1979, 506, 511; Schenke, DVB1. 1990, 328, 330ff.; ders., DVB1. 1996, 390; ders., Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 198; ders., Verwaltungsprozeßrecht, Rdnr. 249; Schmidt-Preuß, Kollidierende Privatinteressen, S.215; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 156ff.; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, §52, Rdnr. 26; wohl auch Schioer, JA 1992, 39, 44. 61 So Horn, DÖV 1989, 976, 980. 62 Horn, DÖV 1989, 976, 980; vgl. im Ergebnis auch Schenke, DVB1. 1990, 328, 331 und dem folgend T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 161, welche den Folgenbeseitigungsanspruch als eine nach Inhalt, Zweck und Ausmaß hinreichend bestimmte und damit dem Gesetzesvorbehalt genügende Ermächtigungsgrundlage ansehen. 63 Vgl. Bachof, Die verwaltungsgerichtliche Klage auf Vornahme einer Amtshandlung, S. 135; Eyermann/Fröhler, VwGO, § 80, Rdnr. 56; Horn, DÖV 1989, 976, 981; T. Schneider,

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

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Folgenbeseitigung werde letztlich nur das genommen, was zuvor rechtswidrig gewährt worden oder zumindest rechtmäßig nicht aufrechtzuerhalten sei64. Anderenfalls sei der Dritte in seinem unrechtmäßigen Besitzstand stärker geschützt als der widerrechtlich in seinem rechtmäßigen Besitzstand beeinträchtigte Bürger 65. Zudem erforderten die Freiheitsgrundrechte die Beseitigung der Begünstigung, wenn die Begünstigung des Dritten mit der Rechtsverletzung des Betroffenen zusammenfalle. Dies liege in der Logik der grundrechtlichen Fundierung des Folgenbeseitigungsanspruchs: Die Beseitigung der Begünstigung sei conditio sine qua non für einen wirksamen Schutz der Freiheitsgrundrechte des Verletzten 66. Forderte man eine zusätzliche einfachgesetzliche Ermächtigungsgrundlage, so stünde der Folgenbeseitigungsanspruch letztlich zur Disposition des einfachen Gesetzgebers, denn durch den Nichterlaß einer solchen Regelung wäre es ihm in die Hand gegeben, den verfassungsrechtlich begründeten Folgenbeseitigungsanspruch zu negieren 67. Zudem werde auch bei einem Folgenbeseitigungsanspruch hinsichtlich eines einseitig belastenden Verwaltungshandelns eine gesetzliche Begründung nicht gefordert, was die Inkonsequenz der eine zusätzliche Ermächtigungsgrundlage fordernden Auffassung aufzeige 68. Einen weiteren Beleg für die Entbehrlichkeit einer Ermächtigungsgrundlage liefere die Vorschrift des § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO, die unstreitig auch auf Verwaltungsakte mit Drittwirkung anzuwenden sei. Sie gehe wie selbstverständlich von einem anderweitig begründeten subjektiven Recht auf Aufhebung eines drittbelastenden Verwaltungsakts aus, welches nur in dem allgemeinen grundrechtlich fundierten (Folgen-)Beseitigungsanspruch liegen könne. Werde aber für die Beseitigung eines Verwaltungsakts mit Drittwirkung eine Ermächtigungsgrundlage nicht verlangt, so folge daraus, daß eine solche auch für den Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch, wie er in § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO vorausgesetzt sei, nicht zu fordern sei 69 . Schließlich führe die Einbeziehung des Verwaltungsakts mit Drittwirkung in das Institut der Folgenbeseitigung auch zu praktikablen Ergebnissen. Den Interessen des rechtswidrig Begünstigten könnte durch das Übermaßverbot Rechnung getraFolgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 156f.; Wolff/BachoflStober, Verwaltungsrecht I, §52, Rdnr.26. 64 Horn, DÖV 1989, 976, 985. 65 Vgl. Bachof, Die verwaltungsgerichtliche Klage auf Vornahme einer Amtshandlung, S. 135; dem folgend EyermanntFröhler, VwGO, §80, Rdnr.56; Schenke, DVB1. 1990, 328, 331; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 156; Wolff/Bachof/Stober, Verwaltungsrecht I, § 52, Rdnr. 26. 66 Schenke, DVB1. 1990, 328, 330; zustimmend Schioer, JA 1992, 39, 44; ähnlich Kreßel, Öffentliches Haftungsrecht, S.72f. 67 Schenke, DVB1. 1990, 328, 331. 68 Schenke, DVB1. 1990, 328, 331. 69 Zum Ganzen vgl. Schenke, DVB1. 1990, 328, 333 f.; dem folgend T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 158 f.

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4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

gen werden, welches den Folgenbeseitigungsanspruch begrenze70. Sei das Interesse des Begünstigten an der Beibehaltung seiner rechtswidrigen Rechtsposition gegenüber dem Beseitigungsinteresse des Belasteten im Einzelfall vorrangig, so könne dies zu einem Ausschluß des Folgenbeseitigungsanspruchs führen 71.

2. Die Heranziehung der polizeilichen Generalklausel als Ermächtigungsgrundlage für die Exmittierung des Obdachlosen Ob die vorgebrachten Argumente im Ergebnis überzeugen können, soll im folgenden näher untersucht werden. a) Folgenbeseitigungsanspruch und Vorbehalt des Gesetzes Ausgangspunkt der Überlegungen ist zunächst der im GG zwar nicht ausdrücklich erwähnte, aber in der Bindungsklausel des Art. 20 Abs. 3 2. HS GG implizierte Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes72. Zwar ist dessen Reichweite bis heute umstritten 73. Einigkeit besteht aber insoweit, als „Eingriffe in Freiheit und Eigentum 74 " einer gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage bedürfen 75. Betrachtete man das Verhältnis zwischen Behörde und Obdachlosem isoliert, d. h. unabhängig von einem bestehenden Folgenbeseitigungsanspruch des Wohnungseigentümers, so würde es demgemäß keinem Zweifel unterliegen, daß die Räumungsverfügung als eindeutig in die Freiheitsrechte des Obdachlosen eingreifende Maßnahme einer gesetzlichen Grundlage bedürfte. Inwieweit der Folgenbeseitigungsanspruch im Verhältnis zum rechtswidrig Begünstigten diese Ermächtigungsgrundlage und damit eine Berechtigung zum Eingriff in dessen Rechte statuieren kann bzw. warum eine solche Ermächtigungsgrundlage entbehrlich sein soll, vermag die dargestellte Auffassung aber nicht mit der gebotenen Überzeugungskraft zu begründen. 70 Vgl. Horn, DÖV 1989,976,986; Schenke, DVB1.1990,328,334f.; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 158. 71 Schenke, DVB1. 1990, 328, 335. 72 Siehe zur Verankerung des Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes BVerfGE 40, 237, 248; 49, 89, 126; Degenhart, Staatsorganisationsrecht, Rdnr. 319; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdnr.201; Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20, Rdnr. 114; Wehr, JuS 1997,419, 420. 73 Vgl. insbesondere zum umstrittenen Problem der Geltung des Gesetzes Vorbehalts bei Leistungsverwaltung BVerwG, DVB1. 1978, 212; Degenhart, Staatsorganisationsrecht, Rdnr. 327 ff. m. w. Nachw.; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6, Rdnr. 13 f. 74 Zur Entwicklung der „Freiheit und Eigentum"-Formel Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, § 62, Rdnr. 16; kritisch zur Formulierung Sachs, VerwArch, Bd. 76 (1985), 398, 415 f. 75 Siehe nur BVerfGE 8,274, 325f.; 17, 306, 313f.; 20,150, 158; Degenhart, Staatsorganisationsrecht, Rdnr.319; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdnr.201; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, § 62, Rdnr. 16; Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20, Rdnr. 114; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20, Rdnr. 97.

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

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Nicht überzeugen kann zunächst die Annahme, daß der Folgenbeseitigungsanspruch selbst eine dem Grundsatz des Vorbehalts des Gesetzes genügende Ermächtigungsgrundlage statuiere 76. Denn der Folgenbeseitigungsanspruch erfüllt nicht einmal die formalen Anforderungen, die an ein Gesetz im diesem Sinne zu stellen sind. Unter Gesetz im Sinne des Gesetzesvorbehalts ist grundsätzlich das förmliche Gesetz zu verstehen77. Außerhalb des sog. Parlaments Vorbehalts78 ist zwar auch eine untergesetzliche Rechtsnorm ausreichend; diese bedarf dann jedoch ihrerseits der Ermächtigung in einem förmlichen Gesetz79. Diesen formalen Kriterien kann der ungeschriebene Folgenbeseitigungsanspruch keinesfalls genügen. Die Argumentation, die Vorschrift des § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO biete die geforderte formell-rechtliche Normierung 80, kann demgegenüber nicht durchgreifen. Denn zum einen beinhaltet § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO - wie Horn bezeichnenderweise selbst konstatiert 81 - keine Normierung des Folgenbeseitigungsanspruchs, sondern setzt lediglich seine anderweitig begründete Existenz voraus 82. Zum anderen handelt es sich bei der Vorschrift des § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO um eine rein prozessuale Norm, die keinen materiellen Gehalt hat und daher schon aus diesem Grunde als gesetzliche Grundlage für behördliche Eingriffe in Rechte Dritter ausscheiden muß. Auch die Qualifizierung des Folgenbeseitigungsanspruchs als Gewohnheitsrecht83 kann an diesem Ergebnis nichts ändern, denn Gewohnheitsrecht genügt dem Gesetzesvorbehalt im Sinne des Grundgesetzes nicht 84 . Etwas anderes soll nach umstrittener Rechtsprechung des BVerfG für vorkonstitutionelles Gewohnheitsrecht gelten, da dieses gem. Art. 123 Abs. 1 GG unabhängig von Rang und Rechtsquelle weitergelte, soweit es mit dem Grundgesetz vereinbar sei 85 . Jedoch selbst wenn man dieser Rechtspre76

So aber die in Fn. 62 genannten Autoren. Vgl. z.B. Degenhart, Staatsorganisationsrecht, Rdnr.320; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdnr. 201; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, §6, Rdnr. 8; Ossenbühl, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, § 62, Rdnr. 11; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20, Rdnr. 95. 78 Siehe zum Parlamentsvorbehalt und zur Wesentlichkeitstheorie näher BVerfGE 45, 400, 417 f.; 47,46,78 f.; Degenhart, Staatsorganisationsrecht, Rdnr. 334ff.; Ossenbühl, in: Isensee/ Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd. III, § 62, Rdnr. 35 ff. 79 Degenhart, Staatsorganisationsrecht, Rdnr. 320; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6, Rdnr. 8; Sachs, in: Sachs, GG, Art. 20, Rdnr. 118; Schulze-Fielitz, in: Dreier, GG, Art. 20. Rdnr. 111; Sommermann, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 20 Abs. 3, Rdnr. 267. 80 So Horn, DÖV 1989, 976, 980. 81 Siehe Horn, DÖV 1989, 976, 980. 82 Vgl. z.B. Ossenbühl Staatshaftungsrecht, S.293; Schenke, JuS 1990, 370, 371. 83 Vgl. z.B. VGH Kassel, NVwZ 1989, 266, 267; OVG Münster, NJW 1984, 1982. 84 Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6, Rdnr. 8; ebenso auch Ivo, Die Folgenbeseitigungslast, S. 32; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 209f.; G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.521 f.; vgl. auch Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 62, Fn. 106. 85 Vgl. BVerfGE 9,338,343; 15,226,233; 16,214,218; 22,114,121; 34,293,303; 54,224, 234; a. A. Holtkotten, in: Bonner Kommentar, GG, Art. 123, Anm. 6, wonach alle zu Eingriffen 77

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4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

chung folgte, würde der Folgenbeseitigungsanspruch kein Gesetz im Sinne des Vorbehalts des Gesetzes darstellen, da dieser im Grunde erst 1951 von Bachof 6 entwikkelt wurde und sich eine gewohnheitsrechtliche Anerkennung - wenn man überhaupt von einer solchen ausgeht - erst in der Folgezeit herausgebildet hat 87 . Auch der Versuch, die Geltung des Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes im Hinblick auf den Folgenbeseitigungsanspruch generell in Frage zu stellen, begegnet durchgreifenden rechtlichen Bedenken. So kann nicht aus dem Fehlen einer Ermächtigungsgrundlage bei einem Folgenbeseitigungsanspruch im zweipoligen Verhältnis auf die Entbehrlichkeit einer gesetzlichen Grundlage im dreipoligen Verhältnis geschlossen werden 88. Denn bei der Anwendung des Folgenbeseitigungsanspruchs im zweipoligen Verhältnis geht es um die Gewährung eines Anspruchs gegen die Verwaltung und damit um ein rein begünstigendes Verwaltungshandeln. In bezug auf begünstigendes Verwaltungshandeln wird aber von der ganz herrschenden Meinung zu Recht die uneingeschränkte Geltung des Gesetzesvorbehalts gerade abgelehnt89. Ist somit die fehlende gesetzliche Legitimierung insoweit tolerabel, als dem Folgenbeseitigungsanspruch lediglich eine Verteidigungsfunktion gegenüber staatlichen Eingriffen zukommt, kann dies aber dann nicht gelten, wenn der Folgenbeseitigungsanspruch zusätzlich zu einer Eingriffsermächtigung gegenüber einem Dritten umfunktioniert wird 90 . Das Erfordernis einer zusätzlichen Ermächtigungsgrundlage ergibt sich zudem auch daraus, daß es sich in der vorliegenden Konstellation - wie in allen Fällen des Folgenbeseitigungsanspruchs im Dreiecksverhältnis - letztlich um eine Grundrechtskollision handelt91. So steht auf der einen Seite das von Art. 14 GG erfaßte Eigentumsrecht des Wohnungseigentümers, auf dessen Schutz sich der Folgenbeseitigungsanspruch richtet. Auf der anderen Seite steht das grundrechtliche Abwehrin Grundrechte ermächtigenden Normen, die nicht formelle Gesetze sind, gerade im Widerspruch zum Grundgesetz stehen. 86 Vgl. Bachof\ Die verwaltungsgerichtliche Klage auf Vornahme einer Amtshandlung, S.98ff. 87 So zutreffend Ivo, Die Folgenbeseitigungslast, S.33f. 88 So aber Schenke, DVB1. 1990, 328, 331. 89 Vgl. zu der Lehre vom Totalvorbehalt Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 6, Rdnr. 13 ff.; dagegen die h. M., z. B. Degenhart, Staatsorganisationsrecht, Rdnr. 327 ff.; kritisch auch Schenke, GewArch Bd. 23 (1977), 313ff. 90 Vgl. auch Ivo, Die Folgenbeseitigungslast, S.36f.; G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.521f.; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.209. 91 Vgl. Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 380, Fn. 153: „Diese Auffassung [Anm. der Verf.: gemeint ist die Auffassung, eine zusätzliche Ermächtigungsgrundlage sei nicht erforderlich] ist aber abzulehnen. Sie läuft darauf hinaus, eine Grundrechtskollision als Legitimation für einen Eingriff genügen zu lassen und mißachtet damit den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalt"; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.78: „Bei diesem Problem handelt es sich um einen Anwendungsfall grundrechtlicher Dreiecksverhältnisse, die auch im Schutzpflichtenbereich auftauchen"; von einer Grundrechtskollision geht auch Ivo, Die Folgenbeseitigungslast, S. 38, aus.

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

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recht des Obdachlosen, der durch eine Exmittierung zumindest in seiner allgemeinen Handlungsfreiheit gem. Art. 2 Abs. 1 GG, in Krankheitsfällen möglicherweise sogar in seinem Recht auf körperliche Unversehrtheit nach Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG betroffen ist. Es entspricht jedoch auch sonst der ganz herrschenden Meinung, daß Grundrechtskollisionen durch den Gesetzgeber aufzulösen sind 9 2 . Die Annahme, daß ein verfassungsrechtlicher Schutzanspruch 93 auch ohne gesetzliche Grundlage den Titel zu Eingriffen in Rechte Dritter schaffen kann, wird dagegen ganz überwiegend zu Recht abgelehnt. Denn eine grundrechtliche Schutzpflicht und somit auch ein grundrechtliches Leistungsrecht entbindet den Staat nicht von den rechtsstaatlichen, demokratischen und föderalen Anforderungen der Verfassung, sondern muß sich in deren Strukturen einfügen 94 . So würde durch die Annahme einer Eingriffslegitimation kraft anderweitiger Schutzverpflichtung zum einen der Gesetzesvorbehalt überspielt und in den vielfältigen Konstellationen von Grundrechtskollisionen seiner Funktion beraubt 95 . Sie wäre insbesondere i m Hinblick auf den Parlamentsvorbehalt bedenklich, da die Abwägung der Grundrechte als wesentliche Entscheidung letztlich durch den Gesetzgeber vorzunehmen ist 9 6 . Z u m anderen würde sie auch zu einem erheblichen Verlust an rechtsstaatlicher Bestimmtheit führen, da die Verwaltung ohne jedwede gesetzliche Vorgabe auf Verfassungsebene eine praktische Konkordanz zwischen den betroffenen Grundrechten herzustellen hätte 97 . Dies 92 SoBVerfGE33,1,16f.; 85,386,403; Drews/Wacke/VogellMartens, Gefahrenabwehr, § 18, 3, S. 280; Enders, AöR Bd. 115 (1990), 610, 630ff.; Hermes, Grundrecht auf Schutz, S.201, 207 f.; Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdnr. 509; Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd.V., § 111, Rdnr. 150ff.; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S. 78; Lübbe-Wolff, Eingriffsdogmatik, S.97; PierothlSchlink, Grundrechte, Rdnr. 323; Wahll Masing, JZ 1990, 553, 555 ff.; vgl. auch Gerhardt, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Vorb § 113, Rdnr. 11: „Der verwaltungsrechtliche Drittschutz konkretisiert aber, wenn überhaupt, grundrechtliche Schutzpflichten, die gesetzlicher Ausgestaltung bedürfen". A. A. Roth, Faktische Eingriffe, S. 512 ff.; ders., Verwaltungsrechtliche Organstreitigkeiten, S.876f., der in Fällen von Grundrechtskollisionen eine sich nach den Maßstäben praktischer Konkordanz zu bemessende Einschränkung der Schutzbereiche der betroffenen Grundrechte vornimmt. 93 Letztlich ist auch der Folgenbeseitigungsanspruch aufgrund seiner grundrechtlichen Fundierung als grundrechtlicher Schutzanspruch zu qualifizieren, so explizit Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 298; ebenso Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29, 38. 94 Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd.V., § 111, Rdnr. 150. 95 Ähnlich Isensee, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), Handbuch des Staatsrechts, Bd.V., § 111, Rdnr. 150; Preu, JZ 1991, 265, 267; Wahl/Masing, JZ 1990, 553, 555. 96 So insbesondere Enders, AöR Bd. 115 (1990), 610, 630ff.; vgl. auch Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts, Rdnr. 509: „Immer wesentlich sind Entscheidungen, [...] durch die kollidierende Grundrechte gegeneinander abgegrenzt werden"; a. A. Roth, Faktische Eingriffe, S. 525 mit der Erwägung, daß der Erlaß deklaratorischer Gesetze zur Wiederholung des Obermaßverbots nicht als „wesentliche Entscheidung" angesehen werden könne. 97 Ähnlich Wahl/Masing, JZ 1990, 553, 555. Nicht zuzustimmen ist in diesem Zusammenhang Roth, Faktische Eingriffe, S. 522ff., der annimmt, daß ein Gesetz in Grundrechtskollisionsfällen nur das wiederholen könne, was sich ohnehin aus der Verfassung ergäbe, daher keinen Gewinn an rechtsstaatlicher Bestimmtheit brächte und somit sinnlos sei. Es ist aber durchaus ein Gewinn an rechtsstaatlicher Bestimmtheit, wenn ein Gesetz beispielsweise im Fall der Kollision des Grundrechts auf körperliche Unversehrtheit der Anwohner mit den

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4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

hätte nicht nur zur Konsequenz, daß die behördliche Last zum Nachweis genauer gesetzlicher Eingriffsvoraussetzungen entfallen würde, sondern auch, daß Eingriffe in Grundrechte nicht mehr vorhersehbar wären, da deren genaue Eingriffsvoraussetzungen nicht mehr äußerlich ablesbar wären 98. Vor dem Hintergrund dieser Erwägungen kann es auch im vorliegenden Fall nicht überzeugen, die Grundrechtskollision zwischen Wohnungseigentümer und Obdachlosen ohne gesetzliche Regelung auf Verfassungsebene zu lösen. Dem kann nicht entgegengehalten werden, daß auch die polizeiliche Generalklausel unbestimmte Rechtsbegriffe enthält, so daß mit deren Heranziehung ein Gewinn an Rechtsstaatlichkeit nicht verbunden sei. Denn diese haben durch Rechtsprechung und Literatur eine hinreichende Konkretisierung erfahren und bieten damit insgesamt ein höheres Maß an Rechtsklarheit und Bestimmtheit, als dies bei einer Abwägung auf der Ebene der Verfassung geschehen kann.

b) Trennung von Bestehen und Erfüllbarkeit eines verfassungsrechtlich fundierten Anspruchs Bereits diese Überlegungen zeigen, daß für den Eingriff in die Rechte des Obdachlosen eine zusätzliche einfachgesetzliche Ermächtigungsgrundlage erforderlich ist. Daran vermag auch die grundrechtliche Verankerung des Folgenbeseitigungsanspruchs nichts zu verändern. Zwar ist richtig, daß der Folgenbeseitigungsanspruch in den Freiheitsgrundrechten angelegt ist und es sich somit letztlich um einen verfassungsrechtlich fundierten Anspruch handelt99. Es liegt jedoch kein Widerspruch in sich 100 vor, wenn ein verfassungsrechtlich begründeter Anspruch nur mittels einer einfachgesetzlichen Regelung erfüllbar ist. Vielmehr handelt es sich um ein Phänomen, was nicht nur den Folgenbeseitigungsanspruch betreffen kann, Grundrechten eines Anlagebetreibers bestimmte Immissionsgrenzwerte festsetzt, welche die Verwaltung ansonsten durch Abwägung der Grundrechte aus der Verfassung ableiten müßte. Im übrigen könnte man mit dieser Argumentation generell den Vorbehalt des Gesetzes in Frage stellen, da auch im zweiseitigen Staat-Bürger-Verhältnis eine Rechtsgrundlage nicht zu mehr ermächtigen dürfte, als die Verfassung zuläßt. 98 Vgl. Wahl/Masing, JZ 1990, 553, 555; siehe auch Preu, JZ 1991, 265, 267. Besonders deutlich werden die Konsequenzen der das Erfordernis einer Eingriffsermächtigung verneinenden Ansicht in einem vom VGH Kassel (NJW 1990, 336) entschiedenen Fall, in welchem das Gericht im Hinblick auf die aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG folgende Schutzpflicht trotz Fehlens einer gesetzlichen Grundlage den Betrieb einer gentechnischen Anlage verboten hatte und somit verfassungsunmittelbar ein Verbot mit Erlaubnisvorbehalt konstruiert hat. Kritisch zu dieser Entscheidung auch Enders, AöR Bd. 115 (1990), 610ff.; Fluck, UPR 1990, 81 ff.; Preu, JZ 1991, 265 ff.; Rose, DVB1.1990,279ff.; Sendler, NVwZ 1990,231 ff.; WahllMasing, JZ 1990,553 ff. 99 Siehe hierzu die Nachweise in Fn. 18. 100 So Schenke, DVB1. 1996, 390: ein „folgenloser Folgenbeseitigungsanspruch" stelle eine contradictio in adiecto dar; ähnlich Schenke, DVB1.1990,328,331 und dem folgend T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 157 f.: damit bleibe der Folgenbeseitigungsanspruch inhalts- und bedeutungslos.

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sondern welches auch sonst im Verfassungsrecht, insbesondere im Grundrechtsbereich geläufig ist 101 . Genannt seien zwei Beispiele: Aus Art. 33 Abs. 5 GG folgt anerkanntermaßen ein grundrechtsähnliches Individualrecht des einzelnen Beamten auf Gewährleistung des angemessenen Lebensunterhalts 102. Gleichzeitig besteht aber Einigkeit darüber, daß Gehalts- und Versorgungsansprüche nur nach einfachgesetzlicher Maßgabe bestehen103. Ebenso folgt schon aus dem Wortlaut des Art. 6 Abs. 5 GG, daß der Grundrechtsanspruch 104 des unehelichen Kindes auf Schaffung gleicher Bedingungen durch den Gesetzgeber zu verwirklichen ist und impliziert somit, daß auch grundrechtliche Leistungsrechte ohne vorgehende Regelung durch den Gesetzgeber nicht zu verwirklichen sein können. Das Auseinanderfallen von Bestehen eines verfassungsrechtlich begründeten Anspruchs und dessen Erfüllbarkeit mangels einfachgesetzlicher Umsetzung ist somit kein Widerspruch in sich, sondern letztlich eine Konsequenz der differenzierten grundgesetzlichen Kompetenzordnung: Richtet sich der grundrechtlich verankerte Anspruch gegen den Staat in seiner Gesamtheit, so kann dennoch für die Schaffung der Voraussetzungen der Erfüllbarkeit der Gesetzgeber verantwortlich sein. Denn obwohl die Grundrechte - auch in ihrem leistungsrechtlichen Aspekt - alle staatliche Gewalt binden (Art. 1 Abs. 3 GG), bedeutet diese Bindung doch nur, daß jeder Träger öffentlicher Gewalt das ihm nach der grundgesetzlichen Kompetenzordnung Mögliche zu tun hat 105 . So ist es auch sonst im Bereich grundrechtlicher Leistungsrechte anerkannt, daß die Kompetenzordnung unberührt bleibt, d.h., daß ein Träger öffentlicher Gewalt nicht in die Kompetenzen eines anderen Hoheitsträgers eingreifen darf 106 . Das Erfordernis einer zusätzlichen gesetzlichen Eingriffsermächtigung führt auch nicht dazu, daß der Folgenbeseitigungsanspruch unzulässig zur Disposition des Gesetzgebers gestellt wird 107 . Wie auch sonst in Fällen verfassungsrechtlich begründeter Ansprüche steht es nämlich keinesfalls im Belieben des Gesetzgebers, ob er die gesetzliche Grundlage für die Erfüllbarkeit schaffen will, sondern er ist vielmehr verfassungsrechtlich hierzu verpflichtet 108. So wäre der Verletzte auch in ei101

Vgl. auch Roth, Verwaltungsrechtliche Organstreitigkeiten, S. 878 f. Teilweise wird aus der erforderlichen Konkretisierung durch den Gesetzgeber sogar gefolgert, grundrechtliche Leistungsrechte seien gar nicht anzuerkennen, vgl. hierzu Roth, Faktische Eingriffe, S.439 m. umfangr. Nachw. in Fn. 159; dagegen zutreffend Roth, aaO, S. 440ff. 102 Vgl. BVerfGE 8, 1, 17; Battis, in: Sachs, GG, Art. 33, Rdnr. 65. 103 BVerfGE 8, 1, 17; 8, 28, 35; Kunig, in: v. Münch/Kunig, GG, Art. 33, Rdnr. 63. 104 Siehe zur Qualifikation des Art. 6 Abs. 5 GG als Grundrecht BVerfGE 25, 167, 181; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 6, Rdnr. 48; Robbers, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, GG, Art. 6 Abs. 5, Rdnr. 307; Schmitt-Kammler, in: Sachs, GG, Art. 6, Rdnr. 89. 105 So zutreffend auch Roth, Faktische Eingriffe, S. 442. 106 Vgl. Roth, Faktische Eingriffe, S.443. 107 So die Bedenken von Schenke, DVB1. 1990,328,331; ders., DVB1.1996,390; ders., Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 198. 108 So auch Roth, Verwaltungsrechtliche Organstreitigkeiten, S. 878; ders., Faktische Eingriffe, S. 441.

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4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

nem solchen Fall nicht schutzlos gestellt, sondern könnte die Feststellung der Verfassungswidrigkeit der Vernachlässigung von Leistungsrechten anstreben; diese Feststellung kann auch mit der Verpflichtung verbunden werden, innerhalb einer bestimmten Frist durch Normgebung Abhilfe zu schaffen 109. Prozessual wäre das entsprechende Verfahren bis zum Erlaß des fraglichen Gesetzes auszusetzen110. Daß das Bestehen eines Anspruchs dem Verpflichteten nicht gleichzeitig auch das Recht gibt, in Rechte Dritter einzugreifen, sondern vielmehr das Bestehen und die Erfüllbarkeit des Anspruchs durchaus zu trennen sind, zeigt auch ein Seitenblick auf das Zivilrecht. Veräußert jemand beispielsweise eine im Eigentum eines Dritten stehende Sache, so führt die durch den Kaufvertrag begründete Eigentumsverschaffungspflicht des Verkäufers selbstverständlich nicht dazu, daß dieser in die Rechte des wahren Eigentümers eingreifen darf 111 . Liegt dies nicht in seiner Rechtsmacht, so ist der Anspruch letztlich nicht zu erfüllen 112. Somit zeigt sich, daß auch in anderen Bereichen der Rechtsordnung das rechtliche Unvermögen, eine Rechtspflicht zu erfüllen, keine Eingriffsbefugnis gegenüber einem Dritten verleiht, sondern mangels Erfüllbarkeit letztlich zum Wegfall der Leistungsverpflichtung führt 113 . c) § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO als Beleg für die Entbehrlichkeit einer Ermächtigungsgrundlage? Nicht durchzugreifen vermag auch die These, die Vorschrift des § 113 VwGO belege, daß für die Beseitigung eines Verwaltungsakts mit Drittwirkung und somit auch für dessen Völlzugsfolgen eine gesonderte Rechtsgrundlage nicht erforderlich sei 114 . Richtig ist zwar, daß § 113 Abs. 1 S. 1 VwGO als prozessuale Norm einen anderweitig begründeten Rechtsanspruch auf behördliche Aufhebung eines anfechtbaren, rechtswidrigen Verwaltungsakts voraussetzt 115. Nicht überzeugen kann jedoch die Folgerung, daß eine Rechtsgrundlage für die Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts mit Dritt Wirkung nicht vorhanden sei. Im Rahmen des Widerspruchsverfahrens statuiert § 72 VwGO eine solche Befugnis für die Ausgangsbehörde im 109

Vgl. hierzu BVerfGE 39,316,333; 81,363,385; BVerwGE 79,154,157; Roth, Faktische Eingriffe, S. 441. 1,0 BVerfGE 39, 316, 333; BVerwGE 79, 154, 157. 111 Vgl. zu diesem Beispiel auch Roth, Verwaltungsrechtliche Organstreitigkeiten, S. 875 f. 112 Im Zivilrecht führt dies aufgrund der Unmöglichkeit der Leistung zum Wegfall der Leistungspflicht gem. § 275 BGB; in Betracht kommen dann etwaige Schadensersatzansprüche wegen subjektiver Unmöglichkeit aus Garantiehaftung, vgl. hierzu Heinrichs, in: Palandt, BGB, § 306, Rdnr. 9 m. w. Nachw. 1,3 Vgl. Roth, Verwaltungsrechtliche Organstreitigkeiten, S.876. 114 Vgl. Schenke, DVB1. 1990, 328, 333 f.; ebenso T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 158 f. 115 Vgl. Rupp, Grundfragen, S. 153 ff., 254ff.; siehe auch Schenke, in: FS für Maurer, 453, 462.

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

257

116

Rahmen der Abhilfe , § 73 VwGO berechtigt die Widerspruchsbehörde zur Aufhebung des rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts. Den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts ist in diesem Rahmen durchaus Genüge getan. Hiergegen kann nicht eingewandt werden, daß es sich bei §§72,73 VwGO um prozessuale Vorschriften handelt, die keine materiellen Eingriffsgrundlagen schaffen können. Denn nach zutreffender Ansicht handelt es sich bei den genannten Vorschriften gerade nicht um prozessrechtliche, sondern vielmehr um verfahrensrechtliche Normen 117 , so daß nichts gegen die Qualifikation als Ermächtigungsgrundlagen spricht. Außerhalb eines Widerspruchsverfahrens bietet, wie Schenke überzeugend dargelegt hat, § 48 VwVfG zumindest bei verfassungskonformer Auslegung eine hinreichende einfachgesetzliche Grundlage für den Rücknahmeanspruch des noch anfechtbaren rechtswidrigen Verwaltungsakts mit Drittwirkung 118 . Somit zeigt sich, daß den Anforderungen des Gesetzesvorbehalts genügende einfachgesetzliche Ermächtigungsgrundlagen für die behördliche Aufhebung bzw. Rücknahme von Verwaltungsakten mit Drittwirkung innerhalb der Anfechtungsfristen durchaus vorhanden sind 119 . Doch selbst, wenn man dem nicht folgen wollte und als Rechtsgrundlage für die Aufhebung des Verwaltungsakts mit Drittwirkung allein den ungeschriebenen grundrechtlichen Beseitigungsanspruch ansieht, kann hieraus nicht die Schlußfolgerung der Entbehrlichkeit einer Ermächtigungsgrundlage für die Beseitigung der Völlzugsfolgen im Dreiecksverhältnis gezogen werden. Denn mag man eine fehlende gesetzliche Grundlage für die Entziehung eines rechtswidrigen begünstigenden Verwaltungsakts noch dadurch legitimieren, daß Bestands- und Vertrauensinteressen des Dritten bei einer Aufhebung bzw. Rücknahme innerhalb der Rechtsbehelfsfristen nicht berührt sein können, so daß dem grundrechtlichen Beseitigungsanspruch des Belasteten uneingeschränkt der Vorrang einzuräumen ist 120 , so kann dies 116 Siehe Geis, in: Sodan/Ziekow, VwGO, §72, Rdnr.9: „§72 konstituiert sowohl die Abhilfebefugnis der Ausgangsbehörde wie ihre Pflicht, die Möglichkeit einer Abhilfe zu prüfen". 117 Vgl. Dolde, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Vorb §68, Rdnr.9; Rennert, in: Eyermann, VwGO, §68, Rdnr.7; a. A. Erichsen, Jura 1992, 645, 646. Zur Gesetzgebungskompetenz des Bundes kraft Sachzusammenhangs zum Erlaß derartiger verfahrensrechtlicher Normen vgl. Dolde, in: Schoch/Schmidt-Aßmann/Pietzner, VwGO, Vorb § 68, Rdnr. 9 m. w. Nachw. 118 Vgl. hierzu ausführlich Schenke, in: FS für Maurer, 723,735 ff.; zur Frage des Rücknahmeanspruchs vor Anfechtung Schenke, aaO, 723,736. A. A. T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 159 f., der der Auffassung ist, mit der Regelung des §48 LVwVfG sollen nur Ziele des öffentlichen Interesses und nicht des Rechtsschutzes des Bürgers verfolgt werden. 1,9 So bezeichnenderweise auch Schenke, in: FS für Maurer, 723, 736: „Abgesehen davon, daß eine solche den verfassungsrechtlich garantierten Beseitigungsanspruch zur Disposition des einfachen Gesetzgebers stellende Forderung [Anm. der Verf.: gemeint ist die Forderung nach einer Ermächtigungsgrundlage] zu einer bedenklichen Relativierung der Verfassung führen müßte, bietet jedenfalls in concreto §48 VwVfG zumindest bei verfassungskonformer Auslegung eine hinreichende Handhabe, um dem auf der Verfassungsebene gewährleisteten Beseitigungsanspruch auf der Basis des einfachen Gesetzesrechts Rechnung zu tragen". 120 Dieser Gedanke liegt letztlich auch der Vorschrift des § 50 LVwVfG zugrunde, der die Rücknahme eines drittbegünstigenden Verwaltungsakts im Rechtsbehelfsverfahren unter Aus-

17 Reitzig

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4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

im vorliegenden Fall keine Geltung beanspruchen. Denn die Beseitigung von Vollzugsfolgen im Dreiecksverhältnis zeichnet sich gerade dadurch aus, daß sich der Eingriff in die Rechte des Dritten nicht in der bloßen Entziehung des rechtswidrigen Verwaltungsakts erschöpft, sondern vielmehr - bedingt durch die Tatsache, daß der Dritte die ihm eingeräumte Rechtsposition bereits genutzt hat - ein über die bloße Entziehung der Begünstigung hinausgehender Eingriff in dessen Rechte mittels eines Verwaltungsakts erforderlich ist 121 . Für den Fall der Obdachlosenexmittierung bedeutet dies: Da auch nach Aufhebung der rechtswidrigen Wohnungszuweisung der Obdachlose weiterhin in Besitz der Räumlichkeiten ist und somit eine faktische Rechtsposition innehat, ist mit dem Erlaß einer Räumungsverfügung ein zusätzlicher Eingriff in dessen Grundrechte verbunden 122. Diesbezüglich können aber schutzwürdige Belange des Obdachlosen durchaus berührt sein, so daß sich insoweit der uneingeschränkte Vorrang des Beseitigungsanspruchs nicht postulieren läßt. Auch wenn in der Regel das Beseitigungsinteresse des Wohnungseigentümers überwiegen wird, so sind dennoch Fälle denkbar (z. B. schwere Krankheit, Suizidgefährdung des Obdachlosen123), in denen die Exmittierung aufgrund eines überwiegenden Interesses des Obdachlosen ausscheiden muß 124 .

d) Historische Erwägungen Das Erfordernis einer zusätzlichen gesetzlichen Ermächtigungsgrundlage wird schließlich auch durch historische Erwägungen belegt. So ging auch der Gesetzgeber des vom BVerfG 125 für nichtig erklärten Staatshaftungsgesetzes vom 26.6.1981126 Schluß der Vertrauensschutzregeln des §48 Abs. 1 S.2 und Abs. 2 bis 4 VwVfG zuläßt; vgl. zu dieser Vorschrift näher Horn, Die Aufhebung des der Drittanfechtung unterliegenden Verwaltungsakts, 1989; Kopp!Ramsauer, VwVfG, § 50, Rdnr. 1 ff. 121 Insoweit zeigt sich, daß der Dritte entgegen der Annahme Schenkes (DVB1. 1990, 328, 333) und T. Schneiders (Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 160f.) in das Rechtsverhältnis zwischen verletzten Bürger und Staat tatsächlich nicht ohne weiteres einbezogen ist, sondern durch den Erlaß des zusätzlichen belastenden Verwaltungsakts ein gesondertes Rechtsverhältnis zwischen Verwaltung und Dritten entsteht. So wird denn auch für den Fall der Verpflichtungsklage auf Erlaß eines drittbelastenden Verwaltungsakts mit guten Gründen vertreten, daß der Dritte mangels Rechtskrafterstreckung des Urteils nicht gem. §65 Abs. 2 VwGO notwendig beizuladen ist; so etwa Grunsky, Grundlagen des Verfahrensrechts, S. 282; Stahl, Beiladung und Nebenintervention, S. 89. Zu diesem Problem näher Kopp/Schenke, VwGO, §65, Rdnr. 18. 122 In diese Richtung gehend auch Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29, 36: „Die Exmittierung des Eingewiesenen geht aber über einen bloßen Entzug zuvor verliehener Nutzungsbefugnisse hinaus". 123 Zu einem Fall der Suizidgefährdung des Obdachlosen vgl. VGH Mannheim, NJW 1997, 2832 ff., wo allerdings im Ergebnis die Rechtmäßigkeit der Räumungsverfügung bejaht wurde. 124 Vgl. näher zur Ausübung des Ermessens bei der Anwendung der Generalklausel unten 4. Teil, A, V, 2, b). 125 Vgl. BVerfGE 61, 149 ff. 126 BGBl. I,S. 553.

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

259

davon aus, daß der in § 3 normierte Folgenbeseitigungsanspruch nicht zu Eingriffen in Rechte Dritter ermächtigt. Bezüglich des dogmatisch gleichgelagerten Falls des Folgenbeseitigungsanspruchs auf Abriß eines Bauwerks nach Aufhebung der Baugenehmigung heißt es in der amtlichen Begründung zum Entwurf des Staatshaftungsgesetzes: „Wird z. B. im Wege einer öffentlichrechtlichen Nachbarklage die Aufhebung der Baugenehmigung erstritten, so zielt der gegen den Träger der Baugenehmigungsbehörde gerichtete Folgenbeseitigungsanspruch auf Wiederherstellung des rechtmäßigen Zustands, d. h. auf Beseitigung des vom Bauherrn möglicherweise errichteten Bauwerks in dem Umfang, in dem es mit den Rechten des Nachbarn nicht zu vereinbaren ist. Der Folgenbeseitigungspflicht kann der Träger der Baubehörde aber nur genügen, wenn die Behörde gegen den zum freiwilligen Abriß nicht bereiten Bauherrn eine Abrißverfügung erläßt. Da § 3 nicht auch zu solchen Eingriffen ermächtigt, bedarf die Behörde nach dem Grundsatz der Gesetzmäßigkeit der Verwaltung einer von der Folgenbeseitigungsnorm abgehobenen gesetzlichen Grundlage 127." Wurde aber noch nicht einmal der positivrechtlich normierte Folgenbeseitigungsanspruch als ausreichende Ermächtigungsgrundlage angesehen, so muß dies erst recht im Hinblick auf den ungeschriebenen Folgenbeseitigungsanspruch gelten, was als weiteres Indiz für das Erfordernis einer zusätzlichen Ermächtigungsgrundlage gewertet werden kann 128 . e) Zwischenergebnis Nach alledem bleibt festzuhalten, daß der Folgenbeseitigungspflicht die rechtliche Grundlage zum Einschreiten gegen einen Dritten nicht immanent ist, sondern vielmehr eine zusätzliche Ermächtigungsgrundlage heranzuziehen ist 129 . Dies bedeutet nicht, „den Schutz des in seiner Grundrechtsstellung rechtswidrig Belasteten 127

BT-Drs. 8/2079, S.45. Vgl. auch Ivo, Die Folgenbeseitigungslast, S.35f. 129 Im Ergebnis wie hier BGHZ 130,332,335; VGH Kassel, NVwZ 1995,300,301; Bender, Staatshaftungsrecht, Rdnr.464, 642; Blanke!Peilert, Verw Bd. 31 (1998), 29, 39; Detterbeck, Jura 1990, 38,42; Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 379f.; Gerhardt, in: Schoch/SchmidtAßmann/Pietzner, VwGO, Vorb § 113, Rdnr. 11; Götz, VB1BW 1987,424,425; ders., Polizeirecht, Rdnr. 273; Gusy, Polizeirecht, Rdnr. 274; Ivo, Die Folgenbeseitigungslast, S. 30ff.; Masing, DÖV 1999, 573, 575; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.78; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 29, Rdnr. 12; Knemeyer, JuS 1988,696, 698; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 319f.; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 212f.; G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S. 522ff.; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 264; Rüfner, JuS 1997, 309; Schäfer/Bonk, StHG, §3, Rdnr. 73; Schoch, JuS 1995, 30, 35; ders., Jura 1993, 478, 485; Sproll, JuS 1996, 219, 223; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 144f.; Wolffgang/Hendricks/Merz, Polizei- und Ordnungsrecht, Rdnr. 449; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 316 e; a. A. Enders, Verw Bd. 30 (1997), 29, 40, welcher der Auffassung ist, der Folgenbeseitigungsanspruch und das subjektive Recht des Dritten seien inhaltsgleich mit umgekehrten Vorzeichen. 128

1*

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4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

hinter dem Schutz des rechtswidrig begründeten, unrechtmäßigen Besitzstandes des Begünstigten hintanzustellen130". Denn zum einen wird angesichts der bestehenden Regelungsdichte im öffentlichen Recht in den weitaus meisten Fällen eine Ermächtigungsgrundlage vorhanden sein 131 . So besteht gerade für den in diesem Zusammenhang wichtigen Bereich des Polizei- und Ordnungsrechts 132 neben zahlreichen Spezialvorschriften 133 zumindest in der subsidiär anwendbaren polizeilichen Generalklausel eine einschlägige gesetzliche Grundlage für Eingriffe in die Rechte des Dritten. Zum anderen ist, wie bereits erwähnt, der rechtswidrig Belastete auch in dem - praktisch wohl eher seltenen - Fall des Fehlens einer Ermächtigungsgrundlage nicht schutzlos gestellt, sondern in der Lage, die Verfassungswidrigkeit der Nichterfüllung von Leistungsrechten feststellen zu lassen134. Umgekehrt bedeutete aber m. E. die Annahme der Entbehrlichkeit einer Rechtsgrundlage, den Blickwinkel zu einseitig auf rechtswidrig Belasteten zu richten 135 . Zwar wird dessen Beseitigungsinteresse in der Regel gegenüber den Belangen des Dritten überwiegen 136. Die Zugrundelegung einer gesetzlichen Grundlage für den Eingriff ermöglicht aber eine sich an gesetzgeberischen Vorgaben orientierende Abwägung der beiderseitig berührten Interessen. Zutreffend formulieren insoweit Blanke/Peilert 137: „Bedenkt man, daß es hier um ein staatliches Handeln zu Lasten eines Dritten geht, erscheint es aber zumindest systemgerechter, rechtlich relevante Umstände des von der Folgenbeseitigung Betroffenen [...] nicht der Filterfunktion eines letzten Sicherheitsventils' wie der Zumutbarkeit zu überantworten, sondern als ermessensleitende Kriterien in einem größeren Kontext der Entscheidungsfindung zu berücksichtigen. Selbst wenn die Ermessensausübung regelmäßig von der ,Last' der Beseitigung der Folgen eines unrechtmäßigen Handelns dominiert wird, versieht erst eine angemessene Würdigung relevanter Gegengründe administratives Handeln mit dem Siegel der Rechtsstaatlichkeit. Auch bei begehrter Beseitigung der Folgen 130

So aber Schenke, DVB1. 1990, 328, 331. Vgl. auch G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.521; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 212; Schoch, Jura 1993,478,485. 132 Die in der Literatur diskutierten Fälle des Folgenbeseitigungsanspruchs im Dreiecksverhältnis betreffen entweder die Exmittierung von Obdachlosen oder die Beseitigung eines aufgrund einer rechtswidrigen Baugenehmigung errichteten Bauwerks und sind somit durchweg dem ordnungsrechtlichen Bereich zuzuordnen, vgl. z.B. G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S. 511 ff.; Ivo, Die Folgenbeseitigungslast, S. 20ff., 44ff.; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 150 ff. 133 Ygi j v o ? D j e Folgenbeseitigungslast, S.48f. zu Drittbeteiligungsfällen im Bereich des Wasser-, Gewerbe- oder Immissionsschutzrechts. 131

134

Siehe hierzu bereits oben 4. Teil, 1. Abschn., A, III, 2, b). Ähnlich auch Ivo, Die Folgenbeseitigungslast, S. 38. „Zudem betont die Gegenauffassung zu einseitig die Grundrechte des Verletzten und vernachlässigt schutzwürdige Belange des Dritten". 136 Zu der Frage, inwieweit sich ein auf der Rechtsfolgenseite bestehendes Ermessen aufgrund des rechtswidrigen Handelns der Behörde reduziert, siehe näher unten 4. Teil, 1. Abschn., A, V, 2. 137 Blanke!Peilert, Verw Bd. 31 (1998), 29, 44 f. 135

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

261

staatlicher Unrechtsentscheidungen kann es dem Rechtsstaat nicht darum gehen, Gerechtigkeit auf,Biegen und Brechen' durchzusetzen [...]. ,Fiat iustitia, et pereat mundus' [...] kann unter der Herrschaft des Grundgesetzes selbst bei vorherigem behördlichen Unrecht nicht Maxime staatlichen Handelns sein". Somit liegt hinsichtlich der Exmittierung von Obdachlosen letztlich ein „Zusammenspiel 138 " von Folgenbeseitigungsanspruch und polizeirechtlicher Generalklausel vor. Anspruchsgrundlage für den betroffenen Eigentümer bleibt grundsätzlich der Folgenbeseitigungsanspruch als das für die Beseitigung staatlichen Unrechts einschlägige Haftungsinstitut. Für die Durchsetzung des Folgenbeseitigungsanspruchs und damit der Exmittierung des Obdachlosen bedarf es hingegen der Heranziehung der polizeilichen Generalklausel, deren Voraussetzungen erfüllt sein müssen139. Die rechtliche Zulässigkeit des Vorgehens gegen den Obdachlosen ist dabei eine Frage der Anspruchsgrenzen, nicht der tatbestandlichen Voraussetzungen des Folgenbeseitigungsanspruchs140: Könnte eine Räumungsverfügung nicht rechtmäßigerweise erlassen werden, so muß der Folgenbeseitigungsanspruch wegen der rechtlichen Unmöglichkeit seiner Durchsetzung letztlich nach der Maßgabe „impossibilium nulla est obligatio" entfallen 141. Mithin ergibt sich die Notwendigkeit, die Möglichkeit des Erlasses einer rechtmäßigen Räumungsverfügung gegenüber dem Obdachlosen inzidenter im Rahmen einer rechtlichen Einwendung gegen den Folgenbeseitigungsanspruch zu prüfen 142. Der Qualiiikation als rechtliche Einwendung entsprechend obliegt es dabei der Verwaltung als Anspruchsgegnerin, die rechtliche Unmöglichkeit der Folgenbeseitigung darzulegen und zu beweisen143.

IV. Die Voraussetzungen des Folgenbeseitigungsanspruchs in den verschiedenen Zuweisungskonstellationen Voraussetzung für das Entstehen eines Folgenbeseitigungsanspruchs ist ein hoheitlicher Eingriff in ein subjektives Recht und ein dadurch geschaffener, noch an138

So G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.522. So G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.523; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 213; Schock, Jura 1993, 478, 485. 140 Vgl. BVerwGE 94,100,111; Detterbeck, Jura 1990,38,42; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.213; G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S. 503 ff.; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 318; Roth, Verwaltungsrechtliche Organstreitigkeiten, S.876. A.A. Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.78, dies., VB1BW 1994, 180 f., welche die Frage der rechtlichen Möglichkeit der Erfüllung wohl als Voraussetzung des Folgenbeseitigungsanspruchs ansieht. Für die Qualifikation als Ausschlußgrund spricht aber schon allein die grundrechtliche Relevanz des Folgenbeseitigungsanspruchs, welche es gebietet, die Darlegungs- und Beweislast für eine fehlende rechtliche Möglichkeit der Folgenbeseitigung der Behörde als Anspruchsgegnerin aufzuerlegen. 141 Vgl. Roth, Verwaltungsrechtliche Organstreitigkeiten, S. 875. 142 Vgl. G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.523. 143 Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S.318. 139

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4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

dauernder rechtswidriger Zustand144. Der Folgenbeseitigungsanspruch ist seinem Inhalt nach dabei auf die Wiederherstellung des status quo ante gerichtet, d. h. der Träger öffentlicher Gewalt muß den zurechenbar durch sein Handeln geschaffenen rechtswidrigen Zustand in der Weise beheben, daß er den ursprünglichen, vor der rechtswidrigen Beeinträchtigung bestehenden bzw. einen gleichwertigen Zustand145 wiederherstellt 146. Gegenstand des folgenden Abschnitts wird die Untersuchung bilden, inwieweit das Räumungsbegehren in den verschiedenen Konstellationen der Inanspruchnahme auf das Institut des Folgenbeseitigungsanspruchs gestützt werden kann. So ist zum einen der Fall zu eruieren, in welchem dem Obdachlosen Räumlichkeiten zugewiesen werden, die er vorher noch nicht (sog. Fremdzuweisung) oder aufgrund vollständiger Durchführung der Räumung nicht mehr bewohnt hat (sog. echte Wiederzuweisung; dazu unter 1.). Insoweit ist danach zu differenzieren, ob die Beschlagnahme- und Zuweisung rechtswidrig oder zwar ursprünglich rechtmäßig, aber infolge des Fristablaufs unwirksam geworden sind. Einer näheren Betrachtung im Hinblick auf das Vorliegen der Voraussetzungen des Folgenbeseitigungsanspruchs bedarf zum anderen auch die in der Praxis typische Konstellation der unechten Wiederzuweisung, bei welcher der Obdachlose zum Zeitpunkt des Erlasses der Zuweisungsverfügung bereits in Besitz der Räumlichkeiten ist (dazu unter 2.). 1. Fremdzuweisung und echte Wiederzuweisung a) Verfügungen sind rechtswidrig oder rechtswidrig geworden Einigkeit besteht zunächst darüber, daß in den Fällen, in denen dem Obdachlosen eine fremde leere Wohnung zugewiesen wird (sog. Fremdzuweisung) sowie dann, wenn die Räumungsvollstreckung zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme und Zuweisung schon vollständig durchgeführt worden ist (sog. echte Wiederzuweisung), ein gegen die Behörde gerichteter Folgenbeseitigungsanspruch auf Exmittierung des Zugewiesenen zumindest dann zu bejahen ist, wenn Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung rechtswidrig sind bzw. geworden sind und aufgrunddessen von Seiten der Behörde oder durch ein Gericht aufgehoben worden sind 147 . Prüft man die 144

Vgl. ausführlich zu den Voraussetzungen des Folgenbeseitigungsanspruchs Schoch, Jura 1993, 478,482ff. m.umfangr. w.Nachw. 145 Vgl. hierzu näher unten 4. Teil, 2. Abschn., C, I, 4. 146 Vgl.z.B. BGHZ 130, 332, 335; BVerwGE 28, 155, 165; 35, 268, 272f.; 38, 336, 346; OVG Berlin, NVwZ 1992,901,902; OVG Münster, DÖV 1983,1020,1021; VGH Mannheim, VB1BW 1983,271; NVwZ-RR 1991,449,451; NVwZ-RR 1991,334,336\Bender, Staatshaftungsrecht, Rdnr.221; Köckerbauer, JuS 1988, 782, 785; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 29, Rdnr. 11; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 301 ff.; Roth, DVB1.1996,1401,1406; Rüfner, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, §49, Rdnr. 28; Schioer, JA 1992, 39, 41; Schoch, VerwArch, Bd. 79 (1988), 1, 23 f.; ders., Jura 1993, 478, 484. 147 Vgl. schon Bettermann, MDR 1957,130f.; Erichsen/Biermann, Jura 1998,371,379; Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 80ff.; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

263

Voraussetzungen des Folgenbeseitigungsanspruchs in dieser Konstellation, so bestätigt sich diese These.

aa) Hoheitlicher Eingriff

in subjektives Recht

Mit dem Erlaß der rechtswidrigen Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung ist ein hoheitlicher Eingriff in das grundrechtlich geschützte Eigentumsrecht i. S. d. Art. 14 GG des Wohnraumeigentümers zu bejahen148. Unerheblich ist dabei, ob sich der Eigentümer der Beschlagnahmeverfügung freiwillig fügte oder ob er hierzu erst mit Zwangsmitteln angehalten werden mußte, denn derjenige, der einer staatlichen Anordnung Folge leistete, darf hinsichtlich des Bestehens eines Folgenbeseitigungsanspruchs nicht schlechter gestellt werden als derjenige, demgegenüber erst ein Verwaltungsvollstreckungsverfahren durchgeführt werden mußte149. Zweifel an dem Vorliegen eines mit der Zuweisungsverfügung verbundenen hoheitlichen Eingriffs könnten allein insoweit bestehen, als der Bezug des Wohnraums nicht durch die Behörde selbst erfolgt, sondern vielmehr der Obdachlose zwar in Ausnutzung der mit der Zuweisungsverfügung verbundenen Nutzungsberechtigung, aber aufgrund eines eigenen Willensentschlusses die Räumlichkeiten bezieht. Insoweit hat bereits Schenke überzeugend dargelegt, daß auch das freiwillige Gebrauchmachen von einem gestaltenden Verwaltungsakt als ein der Behörde zurechenbarer Vollzug anzusehen ist 150 . Dies ergibt sich zum einen daraus, daß erst der Verwaltungsakt dem Bürger ein Recht zu einem bestimmten Handeln einräumt, so daß ein enger Zusammenhang zwischen dem Verwaltungsakt und dem dadurch erlaubten Handeln besteht151. Zum anderen indizieren auch die Vorschriften der §§ 80,80a VwGO, daß der Gesetzgeber die Verwirklichung einer drittbelastenden Genehmigung als Vollziehung angesehen hat 152 . Ein Folgenbeseitigungsanspruch kommt auch dann in Betracht, wenn die Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung zwar ursprünglich rechtmäßig waren, aber infolge einer nachträglichen Veränderung der Sach- oder Rechtslage rechtsObdachloser, S.234; Roth, DVB1. 1996, 1401, 1403, 1405; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 198; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 111; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 136; die Voraussetzungen des Folgenbeseitigungsanspruchs in dieser Konstellation bejahend auch Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.77f., die jedoch die Durchsetzbarkeit mangels Vorliegen der Tatbestandsvoraussetzungen der Generalklausel verneint; vgl. hierzu näher unten 4. Teil, 1. Abschn., A, V, 1, b). 148 Vgl. auch Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 379. 149 So zutreffend Bender, Staatshaftungsrecht, Rdnr. 465; Drews/Wacke/Vogel/Martens, Gefahrenabwehr, § 32, 1, S.625; Schenke, DVB1.1990,328,335; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 94; Wey reut her, Gutachten für den 47. DJT, S. 49 m. w. Nachw.; im Ergebnis auch OVG Münster, MDR 1957, 188 f. 150 Vgl. Schenke, DVB1. 1990, 328, 335 f. 151 Vgl. Schenke, DVB1. 1990, 328, 336. 152 Ähnlich Schenke, DVB1. 1990, 328, 335 f.

264

4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

widrig geworden sind 153 . Anknüpfungspunkt für den hoheitlichen Eingriff ist hier streng genommen das Unterlassen der gebotenen Aufhebungen der Verfügungen, welches aber angesichts der bestehenden Aufhebungspflicht 154 einem positiven Tun gleichzusetzen ist 155 . bb) Entstehen eines noch andauernden rechtswidrigen

Zustands

Bleibt der Obdachlose nach behördlicher oder gerichtlicher Aufhebung der Verfügungen weiterhin in den zugewiesenen Räumlichkeiten, entsteht durch den hoheitlichen Eingriff auch ein andauernder rechtswidriger Zustand. Anknüpfungspunkt für das Entstehen eines rechtswidrigen Zustands ist zum einen - wie schon von Bettermann herausgearbeitet - die Gestaltung der zivilrechtlichen Besitzverhältnisse nach Aufhebung der Verfügungen 156. Insoweit kann das bereits an anderer Stelle ausführlich diskutierte Problem dahingestellt bleiben, ob während der Dauer der Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung mit Bettermann157 die Polizei unmittelbare Besitzerin und der Zugewiesene lediglich Besitzdiener ist und diese Besitzlage auch nach Aufhebung der Verfügungen fortwirkt oder der Zugewiesene während der Dauer der Zuweisung unmittelbarer Besitzer ist 158 . Sieht man die Polizei als unmittelbare Besitzerin an, so entfällt mit dem Wegfall der Beschlagnahmeverfügung ihre Verfügungsmacht und damit die gegenüber dem Eigentümer bestehende Berechtigung zur weiteren Nutzung, so daß sie fortan unrechtmäßige Besitzerin wäre. Erkennt man wie hier den Zugewiesenen als unmittelbaren Besitzer an, so fällt mit der Aufhebung der Zuweisungsverfügung das ihm hoheitlich verliehene Nutzungsrecht weg, so daß dieser als nunmehr unrechtmäßiger unmittelbarer Besitzer anzusehen wäre. Will man nicht auf die zivilrechtliche Besitzlage abstellen, ergibt sich der rechtswidrige Zustand zum anderen auch aufgrund der weiteren faktischen Nutzung durch den Zugewiesenen. Mit Wegfall der Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung ist diese Nutzung nicht mehr rechtlich legitimiert und der Eigentümer zu einer Duldung der Nutzung durch den Zugewiesenen nicht mehr verpflichtet 159. 153

Vgl. Schenke, DVB1. 1990, 328, 337; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 113 f.; Schoch, Jura 1993, 478, 482; ders., VerwArch Bd. 79 (1988), 1, 40. 154 Vgl. zur Aufhebungspflicht §§9 Abs. 2, 33 Abs. 3 bwPolG sowie die Ausführungen oben 2. Teil, 1. Abschn., C, II, 2, a), dd). 155 So T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 109ff.; vgl. auch Schoch, Jura 1993, 478, 482; ders., VerwArch Bd. 79 (1988), 1, 40. 156 Vgl. Bettermann, MDR 1957, 130, 132: „Die Freimachungspflicht der Polizei nach Ablauf oder Aufhebung der Wiedereinweisung hängt also ab von der Auffassung darüber, wie sich die Besitzverhältnisse durch die Einweisung und nach deren Außerkrafttreten gestalten"; dem zustimmend auch Roth, DVB1. 1996, 1401, 1402. 157 Vgl. Bettermann, MDR 1957, 130, 132. 158 Vgl. hierzu bereits ausführlich oben 3. Teil, C, I, 1, a). 159 Vgl. auch Erichsen! Biermann, Jura 1998, 371, 379.

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

cc) Zurechenbarkeit

des rechtswidrigen

265

Zustands

Auch hinsichtlich der Kausalität zwischen dem hoheitlichen Eingriff und dem rechtswidrigen Zustand besteht kein Zweifel. Da sich der Obdachlose vor Erlaß der Verfügungen nicht (mehr) in Besitz der Räumlichkeiten befand und auch keine Nutzungsmöglichkeit (mehr) über diese hatte, können die Verfügungen nicht hinweggedacht werden, ohne daß der rechtswidrige Zustand der unrechtmäßigen Besitzlage bzw. der unberechtigten Nutzung entfiele 160. Problematisch könnte indessen sein, ob angesichts des dazwischengetretenen eigenen Willensentschlusses des Zugewiesenen zum weiteren Verbleiben nach Aufhebung der Verfügungen dieser Zustand der Behörde auch zuzurechnen ist. Um einer mit dem Abstellen auf bloße Kausalitätserwägungen verbundenen uferlosen Haftungsausweitung des Staates Einhalt zu gebieten, sind verschiedene Versuche der Beschränkung unternommen worden. Rechtsprechung161 und herrschende Meinung in der Literatur 162 haben mit dem Kriterium der „Unmittelbarkeit" ein haftungsbegrenzendes Merkmal eingeführt. Die Schwierigkeiten bestehen dabei freilich in der Konkretisierung dieses Begriffs 163. So soll nach einer teilweise in der Rechtsprechung vertretenen Auffassung eine Unmittelbarkeit gerade dann zu verneinen sein, wenn die eingetretenen Störungsfolgen - wie hier - auf einem eigenen Willensentschluß des Geschädigten oder eines Dritten beruhen 164. Eine generelle Verneinung einer hoheitlichen Zurechnung bei einem dazwischengetretenen Willen eines Dritten kann freilich kaum überzeugen, könnte sich der Staat doch ansonsten zu leicht durch das bloße Zwischenschalten eines privaten Kausalmittlers aus der grundrechtlichen Verantwortung stehlen165. So zeigt auch ein Blick auf das Polizei-, Straf- und Zivilrecht, daß eine Zurechnung des Erfolgs bei Dazwischentreten des Willensentschlusses eines Dritten unter bestimmten Voraussetzungen durchaus 160

Vgl. auch Erichsen!Biermann,

Jura 1998, 371, 379; Lübbe, Wohnraumbeschaffung,

S.77f. 161 Vgl. BVerwGE 69, 366, 372; VGH Mannheim, ESVGH 37, 209, 216; VGH München, BayVBl. 1984, 559; OVG Koblenz, NJW 1986, 953, 954. 162 Vgl. z. B. Bachof Die verwaltungsgerichtliche Klage auf Vornahme einer Amtshandlung, S. 130ff.; Bender, DÖV 1968, 156, 162; Kraft, BayVBl. 1992, 456, 459; Rösslein, Der Folgenbeseitigungsanspruch, S.33ff.; 81 f.; Rupp, JA 1979, 506, 510; Spanner, DVB1. 1968, 618, 624; Weyreuther, Gutachten für den 47. DJT, S. 19f., 141 f. 163 Kritisch auch Gallwas, Faktische Beeinträchtigungen, S.23 ff.; G. Pietzko, Der materiellrechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S.434f.; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 98; Schoch, Jura 1993, 478, 484; vgl. auch Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 302: „ein Verlegenheitsbegriff, der überall dort auftaucht, wo klare Grenzziehungen (noch) fehlen". 164 Vgl. BVerwGE 69,366,373, VGH Mannheim, VB1BW 1993,26,28; vgl. auch die Klausurlösung von Detterbeck, Jura 1990, 38, 41, wo es als vertretbare Argumentation gewertet wird, aufgrund des eigenen Willensentschlusses des Zugewiesenen die Unmittelbarkeit zu verneinen. 165 Vgl. Roth, Faktische Eingriffe, S. 302.

4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

266 166

anerkannt ist . Angesichts der bis heute nicht gelungenen Konturierung des Begriffs der Unmittelbarkeit und der damit einhergehenden Zufälligkeit der Ergebnisse erscheint es deshalb überzeugender, auf diesen ganz zu verzichten und auf den auch im Zusammenhang mit dem enteignenden bzw. enteignungsgleichen Eingriff fruchtbar gemachten Gedanken der „Risikotypizität" abzustellen167. Entscheidend ist danach, ob der entstehende rechtswidrige Zustand typische Folge des hoheitlichen Handelns ist, ob sich also in ihm die spezifischen Gefahren der jeweiligen Maßnahme realisieren 168. Unter Zugrundelegung dieses Kriteriums wird man eine hoheitliche Zurechnung des weiteren Verbleibens des Zugewiesenen bejahen können. Die Zuweisung eines privaten Wohnraums bringt sicherlich typischerweise die Gefahr mit sich, daß der Zugewiesene nach Aufhebung der Maßnahme die Räumlichkeiten nicht freiwillig verläßt 169. Zum selben Ergebnis kommt man, wenn man mit Roth auf das Vernünftigkeitsprinzip abstellt, wonach die eine Zurechnung begründende Gefahrrealisierung bei mehreren Entscheidungsalternativen des Kausalmittlers dann bejaht wird, wenn dieser die für ihn vorteilhaftere auswählt170. Denn kann sich der Zugewiesene zwischen dem Auszug oder dem Verbleiben in der Wohnung nach Aufhebung der Verfügungen entscheiden, so ist es sicherlich aus seiner Sicht die vorteilhaftere, weil bequemlichere Alternative, weiterhin in dem Räumlichkeiten zu verbleiben 171. dd) Ergebnis Insoweit zeigt sich, daß im Fall der Fremdzuweisung und echten Wiederzuweisung die Voraussetzungen des Folgenbeseitigungsanspruchs zu bejahen sind. Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung ursprünglich rechtswidrig sind oder rechtswidrig geworden sind und aufgrunddessen behördlich oder gerichtlich aufgehoben worden sind. 166 Ygi fü r d a s Polizeirecht die Figur des Zweckveranlassers; siehe hierzu Schenke, Polizeiund Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 157 ff.; zum Strafrecht etwa Jescheck, in: LK, StGB, § 13, Rdnr. 53; zum Zivilrecht etwa Mertens, in: Soergel, BGB, Vor § 249, Rdnr. 140, 143; Heinrichs, in: Palandt, BGB, Vorbem v §249, Rdnr. 73 ff. 167 Bzgl. des enteignenden Eingriffs vgl. BGH, NJW 1980,770; NVwZ 1988,1066; für eine Übertragung dieses Zurechnungsgedankens auf den Folgenbeseitigungsanspruch auch Bethgef Detterbeck, Jura 1991, 550, 555; Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 379; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 240; G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S. 304; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S.98f.; Sc hoch, Jura 1993, 487, 484; kritisch hierzu Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S.304f. Vgl. zur hoheitlichen Zurechnung von faktischen Grundrechtseingriffen bei dazwischengeschaltetem Willen des Dritten auch Roth, Faktische Eingriffe, S. 298 ff., dessen Konzept der „Realisierung einer Gefahrschaffungsgefahr" in der Sache auf dasselbe hinausläuft. 168 BGHZ 92, 34,49f; 100, 335, 338; siehe auch Schoch, Jura 1991, 140, 146. 169 So auch Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 379; Roth, DVB1. 1996, 1401, 1405. 170 Vgl. Roth, Faktische Eingriffe, S. 313. 171 Vgl. auch Roth, DVB1. 1996, 1401, 1405.

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

267

b) Verfügungen sind rechtmäßig, aber infolge Fristablaufs unwirksam geworden Fraglich ist, ob auch in dem Fall, in dem die Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung rechtmäßig, aber aufgrund des Ablaufs der vorgesehenen Frist 172 unwirksam geworden sind und der Zugewiesene trotz Fristablaufs weiterhin in den Räumlichkeiten verbleibt, die Voraussetzungen eines Folgenbeseitigungsanspruchs zu bejahen sind. Während auch in dieser Konstellation überwiegend eine Räumungspflicht aufgrund eines Folgenbeseitigungsanspruchs angenommen wird 173 , wurde eine solche teilweise mit der Begründung verneint, daß sich die Verwaltung in diesem Fall rechtmäßig verhalten habe; von einem Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch könne aber nur dann ausgegangen werden, wenn ein Anspruch auf Aufhebung des Verwaltungsakts bestehe174. Das Verweilen des Zugewiesenen über den verfügten Zeitraum hinaus könne darüber hinaus der Polizeibehörde nicht mehr zugerechnet werden 175. Indessen bedarf es genauer Differenzierung. Richtig ist zwar, daß ein Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch nicht gegeben ist. Der Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruch, wie er in § 113 Abs. 1 S. 2 VwGO vorausgesetzt wird, steht in der Tat im Zusammenhang mit dem Anspruch auf Aufhebung eines rechtswidrigen Verwaltungsakts und tritt akzessorisch zu dem Aufhebungsanspruch dazu. Dies bedeutet aber nicht, daß sich die Räumungspflicht nicht aus dem allgemeinen Folgenbeseitigungsanspruch ergeben kann 176 . War ursprünglich der Folgenbeseitigungsanspruch in engem Zusammenhang mit der Anfechtungsklage gesehen worden und setzte dementsprechend einen rechtswidrigen Verwaltungsakt voraus, ist er inzwischen weit über diesen Anwendungsbereich hinausgewachsen und erfaßt nunmehr alle rechtswidrigen Hoheitsakte177. Mit der Erweiterung des Vollzugsfolgenbeseitigungsanspruchs 172

Vgl. zur Notwendigkeit der Befristung näher oben 2. Teil, 1. Abschn., C, II, 2, a), aa). Vgl. Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 379; Götz, NVwZ 1994, 652, 658; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 262; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 111; Schlick/Rinne, NVwZ 1997, 1171, 1182; nunmehr auch Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), 6. Aufl., Rdnr. 199; vgl. auch Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S.312f.; Roth, DVB1. 1996, 1401, 1402. Vgl. in bezug auf den Fristablauf in Fällen der unechten Wiederzuweisung auch BGHZ 130, 332, 335; VGH Kassel, ESVGH Bd. 44, 84, 86; VG Neustadt, NJW 1965,833; Detterbeck, Jura 1990,38,41 f.; Knemeyer, JuS 1988,696,698; Pietzcker, NWVB1. 1988, 321, 322; Schoch, Jura 1993, 478, 483; Schoenenbroicher, MDR 1993, 97, 98. In dieser Konstellation scheitert der Folgenbeseitigungsanspruch allerdings an anderen Voraussetzungen; vgl. hierzu unten 4. Teil, 1. Abschn., A, IV, 2. 174 So Schenke, DVB1. 1990, 328, 337; ders., Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), 5. Aufl., Rdnr. 199; a. A. nunmehr unter Abkehr der früher vertretenen Auffassung Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), 6. Aufl., Rdnr. 199. 175 Schenke, DVB1. 1990, 328, 337; ders., Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), 5. Aufl., Rdnr. 199; nunmehr a. A. ders., Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), 6. Aufl., Rdnr. 199. 176 Vgl. auch T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 111. 177 Vgl. Köckerbauer, JuS 1988, 782, 784; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S.312. 173

268

4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

zum allgemeinen Folgenbeseitigungsanspruch ist allerdings auch eine Veränderung des Bezugspunkts der Rechtswidrigkeit einhergegangen178. Während früher teilweise auch für den allgemeinen Folgenbeseitigungsanspruch auf die Rechtswidrigkeit des Verwaltungshandelns abgestellt wurde (sog. Handlungsunrecht) 179, ist nach inzwischen ganz herrschender Meinung ein Folgenbeseitigungsanspruch auch dann gegeben, wenn lediglich eine Rechtswidrigkeit des durch das Handeln herbeigeführten Zustands vorliegt (sog. Erfolgsunrecht) 180. Dieses Ergebnis wird auch durch einen Seitenblick auf die in ihrer Funktion als Reaktionsanspruch auf die Beeinträchtigung absoluter Rechte vergleichbare Vorschrift des § 1004 BGB bestätigt. Auch hier muß nicht die Eingriffshandlung selbst rechtswidrig sein, sondern vielmehr nur der dadurch entstehende Zustand181. Läßt man aber mit der nunmehr ganz herrschenden Meinung einen zurechenbar verursachten rechtswidrigen Zustand und somit ein Erfolgsunrecht genügen, so liegen auch in der Konstellation des Verbleibens des Zugewiesenen nach Fristablauf bei rechtmäßiger, befristeter Beschlagnahme- und ZuweisungsVerfügung die Voraussetzungen des Folgenbeseitigungsanspruchs vor. Mit dem Wegfall der Wirksamkeit der Verfügungen ist genauso wie bei der Aufhebung der Verfügungen eine weitergehende Nutzung des Wohnraums durch den Obdachlosen nicht mehr von der Rechtsordnung gedeckt, so daß ein rechtswidriger Zustand entsteht182. Entgegen der oben dargestellten Auffassung ist das rechtswidrige Verbleiben des Zugewiesenen der Polizei auch zurechenbar. Stellt man - wie hier vertreten - auf die Risikotypizität der hoheitlichen Handlung ab, so muß auch diesbezüglich gesagt werden, daß die Weiternutzung der Räumlichkeiten nach Ablauf der Frist ein mit der Zuweisung typischerweise verbundenes Risiko ist 183 . 178

So Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 312; Weyreuther,

Gutachten für den 47. DJT,

S.67ff. 179 Vgl. OVG Münster, NJW 1954, 1902; Obermayer, JuS 1963, 113, 115; Schäfer/Bonk, StHG, § 3, Rdnr. 17; grundsätzlich auch Böß, Vergleich des Folgenbeseitigungsanspruchs, S.72 i.V. m. S. 48 ff., wobei allerdings auch Böß, aaO, S. 70 den Folgenbeseitigungsanspruch bejaht, wenn der die Folgen deckende Verwaltungsakt nachträglich entfällt. 180 In diesem Sinne etwa BVerwGE 82, 76, 95; VGH Mannheim, NJW 1990, 2770, 2771; BethgelDetterbeck, Jura 1991, 550, 553; Detterbeck, Jura 1990, 38, 41; Ebsen, DVB1. 1987, 389, 392; ErichseniBiermann, Jura 1998, 371, 379; Knemeyer, JuS 1988, 696, 698; Köckerbauer, JuS 1988, 783, 784; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, §29, Rdnr. 7; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 312f.; G. Pietzko, Der materiell-rechtliche Folgenbeseitigungsanspruch, S. 296 ff.; Rüfner, JuS 1997, 309; Rupp, JA 1979, 506, 510; Schlickt Rinne, NVwZ 1997, 1171, 1182; Schioer, JA 1992, 39,42; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 82f.; Schoch, Jura 1993,478,483; ders., VerwArch Bd.79 (1988), 1,42f.; Weyreuther, Gutachten für den 47. DJT, S. 67 ff., 88 f. 181 BGH, NJW 1976, 416; Bassenge, in: Palandt, BGB, § 1004, Rdnr. 9; Köckerbauer, JuS 1988, 783,784. 182 Vgl. VGH Kassel, ES VGH Bd. 44, 84, 86; Detterbeck, Jura 1990, 38,41. 183 Zur Zurechnung des weiteren Verbleibens des Obdachlosen siehe bereits 4. Teil, 1. Abschn., A, IV, 1, a), cc). Einer analogen Anwendung des § 278 BGB (so allerdings Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner [Hrsg.], Rdnr. 199) bedarf es in dieser Konstellation

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

269

Aber auch wenn man der Konzeption der herrschenden Meinung nicht folgen wollte und für die Bejahung eines rechtswidrigen Zustands bzw. Erfolgsunrechts grundsätzlich einen Verstoß gegen Handlungspflichten der Verwaltung forderte 184, wären die Voraussetzungen des Folgenbeseitigungsanspruchs im Fall des Ablaufs der festgesetzten Frist zu bejahen. Der Verstoß gegen eine Handlungspflicht wäre dann in der Nichtherausgabe der Wohnung durch die Polizei trotz diesbezüglicher Verpflichtung zu sehen185. Im Ergebnis ist daher ein Folgenbeseitigungsanspruch auch in dieser Variante der Fremdzuweisung oder echten Wiederzuweisung zu bejahen. 2. Unechte Wiederzuweisung Fraglich erscheint, ob auch in dem Fall, in dem der Obdachlose zum Zeitpunkt des Erlasses der Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung aufgrund eines früher bestehenden Mietverhältnisses bereits in Besitz der Räumlichkeiten ist (sog. unechte Wiederzuweisung), nach Aufhebung der Verfügungen oder Ablauf der Frist ein Räumungsanspruch des Eigentümers auf der Grundlage des Folgenbeseitigungsanspruchs gegeben ist. In dieser praktisch bedeutsamsten Konstellation der Inanspruchnahme privater Eigentümer bejaht seit jeher die weitaus überwiegende Auffassung in Rechtsprechung 186 und Literatur 187 einen gegen die Polizei gerichteten Folgenbeseitigungsanspruch, den Obdachlosen zu exmittieren und die Wohnung in geräumtem Zustand hingegen nicht, da diese Norm lediglich das Verschulden im Rahmen eines öffentlich-rechtlichen Schuldverhältnisses zurechnen kann. 184 So die Konzeption von Schenke, DVB1. 1990, 328, 337. 185 Vgl. Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 199. 186 Vgl. BGHZ 130, 332, 334; OVG Berlin, NVwZ 1992, 501, 502; OVG Lüneburg, ZMR 1955, 253; OVG Münster, MDR 1954,444; NVwZ 1991,905,906; VGH Kassel, ESVGH 44, 86f.; VG Neustadt, NJW 1965,833,835; LG Köln, ZMR 1995,126; AG Niebüll, NVwZ 1991, 917,918. 187 Grundlegend Bettermann, MDR 1957,130,131 ff.; ebenso Baldus, ZMR 1995,211,212; Bauer, WuM 1962, 133, 134; Denninger, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, E, Rdnr. 140; Detterbeck, Jura 1990, 38, 41 f.; Gössl, BWGZ 1984, 326, 332; Götz, VB1BW 1987, 424, 425; ders., NVwZ 1994, 652, 658; GüntherlTraumann, NVwZ 1993, 130, 135; Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S.80f., 138ff.; Knemeyer, JuS 1988, 696, 698; Noack, DGVZ 1978, 161, 163; Pawlowski, ZZP Bd. 102 (1989), 440, 448; Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 242ff.; Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 737; Ruder, Unterbringung von Obdachlosen, Rdnr. 262; Rüfner, in: Erichsen (Hrsg.), Allgemeines Verwaltungsrecht, §49, Rdnr.24; ders., Jus 1997,309ff.; Schlick!Rinne, NVwZ 1997,1171,1182; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 111 f.; Schoch, JuS 1995, 30, 36, insbesondere Fn. 102; ders., Jura 1993, 478, 483; Schoenenbroicher, MDR 1993, 97, 98; Spannowsky, BWVPr. 1991, 197, 200; Stangl, JA 1996, 753, 754; Strempel, ZMR 1993, 555, 557; Trockels, BWVPr. 1989,145,150; Volkmann, JuS 2001,888,892; Wolf/Stephan, PolG BW, §9, Rdnr. 22; Wollensak, BWVPr. 1995, 6, 8; Würtenberger/Heckmann/Riggert, Polizeirecht, Rdnr. 316e.

270

4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

herauszugeben. In einem richtungsweisenden Urteil aus dem Jahre 1995 hat mit dem BGH zum ersten Mal auch die höchstrichterliche Rechtsprechung diese Rechtsauffassung bestätigt188: ausgehend von dieser Prämisse hat das Gericht folgerichtig einem Eigentümer, dessen Wohnung nach Ablauf der Inanspruchnahmefrist nicht durch die Behörde geräumt wurde, aus § 839 BGB i.V. m. Art. 34 GG einen Anspruch auf Ersatz der Räumungskosten zuerkannt, die ihm durch die selbst durchgeführte, auf seinen zivilrechtlichen Räumungstitel gestützte Räumung entstanden waren. Die These des Bestehens eines auf den Folgenbeseitigungsanspruch gestützten Exmittierungsanspruchs in der Konstellation der unechten Wiederzuweisung ist zwar bereits früher vereinzelt angezweifelt worden: schon das OVG Münster hat im Jahre 1956 in einem Judikat die Voraussetzungen des Folgenbeseitigungsanspruchs in dieser Konstellation verneint 189; später ist das Gericht allerdings von dieser Rechtsauffassung ausdrücklich wieder abgerückt 190. Schien somit die Diskussion über diese Rechtsfrage im Sinne einer Durchsetzung der herrschenden Meinung fast schon verebbt 191, so hat das Problem durch das erwähnte Urteil des BGH erneut an Aktualität erfahren. So mehren sich in neuerer Zeit die Stimmen, die die Voraussetzungen eines Folgenbeseitigungsanspruchs in diesem Fall als nicht erfüllt ansehen 192 . Bei näherer Prüfung der Tatbestandsmerkmale zeigt sich, daß allein der letzten Auffassung zuzustimmen ist. So fehlt es bereits an der hoheitlichen Herbeiführung eines rechtswidrigen Zustands, da die Beschlagnahme des Wohnraums und die Zuweisung des Räumungsschuldners für den bereits vorher bestehenden rechtswidrigen Zustand nicht kausal sind (dazu unter a). Schließlich ist der Folgenbeseitigungsanspruch auch von seinem Inhalt her nicht auf eine Räumung in dieser Konstellation gerichtet. Denn im Fall einer Räumung erhielte der Wohnraumeigentümer mehr als das, was er vor der Inanspruchnahme hatte (dazu unter b).

188

BGHZ 130, 332ff. Vgl. OVG Münster, MDR 1957, 188, 189; dem folgend LG Köln, ZMR 1958, 33, 34; Haarmann, DVB1. 1957, 144, 145; vgl. bereits Baak, DVB1. 1953, 101, 108; vgl. auch RietdorflHeiselBöckenfördelStrehlau, Ordnungs- und Polizeirecht, § 19 nwOBG, Rdnr. 18. 190 Vgl. OVG Münster, NVwZ 1991, 905, 906. 191 Vgl. auch Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.248, der die neueren, einen Folgenbeseitigungsanspruch verneinenden Stimmen als den Versuch der Reaktivierung einer längst überwundenen Rechtsmeinung bezeichnet. 192 So die Vorinstanz OLG Köln, NJW 1994,1012,1013; vgl. auch Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 379; Masing, DÖV 1999, 573 ff.; Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.75ff.; Roth, DVB1. 1996, 1401 ff.; Tenbieg, DGVZ 1988, 184, 186; Schenke, Polizei- und Ordnungsrecht, in: Steiner (Hrsg.), Rdnr. 199; Wieser, Die polizeiliche Wiedereinweisung, S. 140ff. 189

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

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a) Zurechenbarkeit des rechtswidrigen Zustands aa) Besitzverhältnisse Anknüpfungspunkt für einen bestehenden rechtswidrigen Zustand ist - wie bereits erwähnt - zum einen die Gestaltung der Besitzverhältnisse nach Außerkrafttreten der Verfügungen. Zeigt sich aber, daß sich nach Aufhebung der Verfügungen bzw. deren Fristende dieselbe rechtswidrige Besitzlage wie vor Erlaß der Verfügungen einstellt, so fehlt an bereits an einem durch hoheitliches Handeln kausal verursachten rechtswidrigen Zustand, den es zu beseitigen gelten könnte. (1) Besitzverhältnisse vor Erlaß der Beschlagnahmeund Zuweisungsverfügung Analysiert man die Besitzverhältnisse vor dem Erlaß der hoheitlichen Verfügungen, so zeichnet sich folgendes Bild ab: Inhaber der tatsächlichen Herrschaftsgewalt über die Wohnräume und damit unmittelbarer Besitzer i. S. d. § 854 Abs. 1 BGB ist nach wie vor der Räumungsschuldner. Dieser hat allerdings aufgrund der Beendigung des Mietvertrags kein Recht zum Besitz gem. § 986 Abs. 1 BGB mehr, so daß er als unrechtmäßiger Besitzer zu qualifizieren ist. Mittelbarer Besitzer ist trotz Beendigung des Mietverhältnisses weiterhin der Vermieter. Das Ende des Mietvertrags läßt das Besitzmittlungsverhältnis nach allgemeiner Auffassung nicht entfallen 193. Voraussetzung für das Bestehen eines Besitzmittlungsverhältnisses ist der Umstand, daß der unmittelbare Besitzer dem mittelbaren Besitzer gegenüber zeitlich begrenzt besitzen will und eine Verpflichtung zur Herausgabe der Sache anerkennt 194. Der für das Besitzmittlungsverhältnis essentielle Herausgabeanspruch besteht dabei in dem vertraglichen Herausgabeanspruch aus § 556 Abs. 1 BGB. (2) Besitzverhältnisse nach Außerkrafttreten der Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung Die Besitzverhältnisse nach Außerkrafttreten der Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung wurden bereits in anderem Zusammenhang ausführlich erörtert, so daß hier nur eine kurze Zusammenfassung der Ergebnisse erfolgt 195 . Vertritt man wie hier die Auffassung, daß auch während der hoheitlichen Inanspruchnahme und Zuweisung der Zugewiesene unmittelbarer Besitzer i. S. d. § 854 193 Vgl. OLG Köln, NJW 1994, 1012, 1013; ausführlich/tof/z, DVB1. 1996, 1401, 1404f.; siehe auch Bund, in: Staudinger, BGB, § 868, Rdnr. 85; Mühl, in: Soergel, BGB, § 868, Rdnr. 24. 194 Joost, in: Münchener Kommentar, BGB, § 868, Rdnr. 11; Bund, in: Staudinger, BGB, §868, Rdnr. 24. 195 Vgl. näher 3. Teil, C, II, 2, a).

272

4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

Abs. 1 BGB ist 196 , so ändert sich diese Besitzstellung freilich nur insofern, als mit Aufhebung oder Unwirksamwerden der Zuweisungsverfügung das hoheitlich verliehene Nutzungsrecht und somit das damit verbundene Recht zum Besitz gem. § 986 Abs. 1 BGB entfällt. Der Räumungsschuldner ist somit nach Wegfall der Verfügungen, genauso wie vor der hoheitlichen Inanspruchnahme, wieder unrechtmäßiger, unmittelbarer Besitzer 197. Jedoch auch wenn man mit der Gegenauffassung von einer Umgestaltung der Besitzverhältnisse dergestalt ausgeht, daß der Zugewiesene während der Inanspruchnahme lediglich Besitzdiener i. S. d. § 855 BGB und die Polizei unmittelbare Besitzerin gem. § 854 Abs. 1 BGB ist 198 , so tritt nach Außerkrafttreten der Verfügungen die eben dargestellte ursprüngliche Besitzlage wieder ein. Nicht überzeugen können in diesem Zusammenhang die vielbeachteten Ausführungen Bettermanns, welcher die These aufstellt, daß die umgestaltete Besitzlage auch nach Außerkrafttreten der Verfügungen fortwirke 199 . Erkennt auch er an, daß bei Annahme der Wiederherstellung der ursprünglichen Besitzverhältnisse nach Ablauf oder Aufhebung der Verfügungen für einen Folgenbeseitigungsanspruch kein Raum ist 200 , so verwundert es um so mehr, daß er die von ihm unterstellte Fortwirkung der Besitzverhältnisse als zentralen Punkt seiner Argumentation nicht im geringsten begründet. Indes bestehen gegen die angenommene Fortwirkung der Besitzverhältnisse durchgreifende Bedenken. Diese resultieren - wie schon an anderer Stelle ausführlich dargelegt 201 - aus folgenden Überlegungen: im Gegensatz zur Fremdzuweisung bzw. echten Wiederzuweisung, wo mit dem (Wieder-)Einzug des Obdachlosen ein tatsächlicher Akt vorliegt, folgt die (unterstellte) Umgestaltung der Besitzverhältnisse bei der unechten Wiederzuweisung allein aus den Rechtsakten der Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung 202. Bedarf es somit bei der Fremdzuweisung und der echten Wiederzuweisung nach Außerkrafttreten der Verfügungen für die Wiederherstel196

Vgl. ausführlich oben 3. Teil, C, I, 1, a). Vgl. auch OLG Köln, NJW 1994, 1012, 1013. 198 So insbesondere Bettermann, MDR 1957,130,132; Noack, DGVZ 1978,161,163; Pawlowski, ZZP Bd. 102 (1989), 440, 445; Roth, DVB1. 1996, 1401, 1402f. 199 Siehe Bettermann, MDR 1957, 130, 132: „Dieser Rechts- und Besitz(zu)stand ändert sich nun nicht automatisch mit dem Ablauf der Einweisungsfrist. [...] Die Polizei bleibt vielmehr Besitzer der in Anspruch genommenen Räume, bis sie sie dem Verfügungsberechtigten, dem Räumungsgläubiger, zurückgibt". Ebenso, allerdings allgemein auf ein öffentlichrechtliches Nutzungsverhältnis abstellend, BGHZ 130, 332, 337. 200 Vgl Bettermann, MDR 1957, 130, 132: „Nimmt man entgegen der von mir vertretenen Ansicht an, daß der wiedereingewiesene Räumungsschuldner unmittelbarer Besitzer seines ihm wieder zugewiesenen Raumes bleibt, also nicht Besitzdiener und die Polizei nicht (unmittelbarer) Besitzer wird, so ist in der Tat für eine Rückgabe-, Räumungs-, oder Freimachungspflicht der Polizei kein Raum. Das gleiche gilt, wenn man zwar die beschriebene Umgestaltung der Besitzlage anerkennt, zugleich aber annimmt, daß mit dem Ablauf oder der Aufhebung der Wiedereinweisung diese Umgestaltung wieder entfällt und die alten, vor der Einweisung bestehenden Besitzverhältnisse sich automatisch wiederherstellen". 197

201 202

Vgl. näher oben 3. Teil, C, II, 2, a). Vgl. Roth, DVB1. 1996, 1401, 1403; ähnlich auch OVG Münster, MDR 1957, 188, 189.

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

273

lung der ursprünglichen Besitzlage eines actus contrarius, so ist ein solcher mangels vorhergehenden entsprechenden actus bei der unechten Wiederzuweisung nicht erforderlich. Denn wird die (unterstellte) Besitzerstellung der Polizei sowie die Besitzdienerstellung des Räumungsschuldners allein durch einen Rechtsakt ohne hinzutretende tatsächliche Handlung konstituiert, so impliziert dies, daß jene Folgen mit Aufhebung bzw. Unwirksamwerden des Rechtsakts auch wieder entfallen 203. Ist somit geklärt, daß der Räumungsschuldner unabhängig von der Gestaltung der Besitzverhältnisse während der Inanspruchnahmedauer in jedem Fall nach Außerkrafttreten der Verfügungen wieder - wie vor der Zuweisung - unrechtmäßiger unmittelbarer Besitzer i. S. d. § 854 Abs. 1 BGB wird, könnte Anknüpfungspunkt für die kausale Herbeiführung eines rechtswidrigen Zustands der Verlust des mittelbaren Besitzes des Vermieters durch die Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung sein. Eine solche Annahme erscheint jedoch nicht überzeugend. Dies zeigt sich schon daran, daß der für das Besitzmittlungsverhältnis konstitutive Herausgabeanspruch des § 556 Abs. 1 BGB auch nach Wegfall der Verfügungen weiterhin besteht, was auch die herrschende Meinung implizit anerkennt, wenn sie davon ausgeht, daß der Räumungstitel nach der Inanspruchnahme weiterhin vollstreckt werden kann 204 . Somit wäre allein denkbar, daß der Räumungsschuldner bedingt durch die Zuweisung den ebenfalls erforderlichen Besitzmittlungswillen aufgegeben hätte. Angesichts des Umstands, daß es sich hierbei um eine Vertragsverletzung handeln würde, kann eine solche Willensänderung jedoch nicht leichtfertig unterstellt werden 205. Dementsprechend ist eine bloße Nichterfüllung des Herausgabeanspruchs nicht ausreichend; die Aufgabe des Besitzmittlungswillen ist nur anzunehmen, wenn der unmittelbare Besitzer in eindeutiger Weise (z. B. indem er bekanntgibt, daß die Räumlichkeiten nunmehr als besetzt zu gelten haben) zu erkennen gibt, daß er den Herausgabeanspruch in grundsätzlicher Weise verneint und dessen Erfüllung verweigert 206 . Eine solche Aufgabe des Besitzmittlungswillens kann aber nicht in dem Umstand gesehen werden, daß der Räumungsschuldner während der Zuweisungsdauer die Räume bewohnt. Insoweit wird das zivilrechtliche Besitzkonstitut lediglich durch das entstandene öffentlichrechtliche Nutzungsverhältnis überlagert, so daß sich der gegenüber dem Vermieter bestehende Besitzmittlungswille in dieser Zeit nicht aktualisiert 207. Eine Manifestation der Aufgabe des Besitzmittlungswillens liegt schließlich auch nicht darin, daß der Zugewiesene die Räumlichkeiten nach Aufhebung oder Ablauf der Verfügungen nicht verläßt. Denn im bloßen Nichträumen der Wohnung kann - genau wie vor der Zuweisung - keine Kundgabe der grundsätzlichen Negierung des Herausgabeanspruchs gesehen werden. Das vor Erlaß der hoheitlichen Verfügungen bestehende Besitzmittlungsverhältnis wird somit 203

Vgl. Roth, DVB1. 1996, 1401, 1403; ähnlich auch OVG Münster, MDR 1957, 188, 189. Vgl. Roth, DVB1. 1996, 1401, 1405. 205 Vgl. auch Roth, DVB1. 1996, 1401, 1405. 206 Vgl. Joost, in: Münchener Kommentar, BGB, § 868, Rdnr. 30; Bund, in: Staudinger, BGB, § 868, Rdnr. 86; Mühl, in: Soergel, BGB, § 868, Rdnr. 25. 207 So zutreffend Roth, DVB1. 1996, 1401, 1405. 204

18 Reitzig

274

4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

durch die Inanspruchnahme nicht zum Erlöschen gebracht, sondern lediglich während deren Dauer suspendiert bzw. überlagert 208. Im Ergebnis zeigt sich somit, daß mit dem Unwirksamwerden der Beschlagnahme- und Zuweisungsverfügung dieselbe Besitzlage wieder entsteht, die bereits vor der Inanspruchnahme bestand: der Räumungsschuldner ist unrechtmäßiger, unmittelbarer Besitzer; der Vermieter weiterhin mittelbarer Besitzer. Ist dies aber der Fall, fehlt es bereits an einer naturwissenschaftlichen Kausalität der hoheitlichen Verfügungen für den dann bestehenden rechtswidrigen Besitzzustand im Sinne einer conditio sine qua non, denn die Inanspruchnahme kann hinweggedacht werden, ohne daß der rechtswidrige Zustand entfiele 209. Wenn demgegenüber argumentiert wird, die Polizei sei Urheberin der „Divergenz zwischen tatsächlicher Situation - Belegung der Wohnung - und materieller Rechtslage - fehlende Nutzungsberechtigung 210 " - und habe diese Divergenz deshalb zu beseitigen, so wird verkannt, daß eben diese Divergenz schon vor Erlaß der Zuweisungsverfügung bestand, so daß von einer diesbezüglichen Urheberschaft der Polizei keine Rede sein kann 211 . Nicht überzeugen kann es auch, wenn behauptet wird, unter dem Gesichtspunkt der Kausalität könnten aus dem Umstand, daß die Räumung bereits vollzogen ist oder der Gerichtsvollzieher gerade im Begriff ist, diese durchzuführen, keine unterschiedlichen Rechtsfolgen hergeleitet werden 212. Im Hinblick auf die Kausalität besteht aber zwischen diesen beiden Konstellationen ein bedeutsamer Unterschied: Ist die Räumung bereits vollständig durchgeführt, so hat der Obdachlose zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung keinen Besitz mehr an den Räumlichkeiten inne; die Zuweisungsverfügung und deren Vollzug mit dem erneuten Bezug der Räumlichkeiten sind somit - anders als im Fall der letztlich unterbliebenen Räumung - gerade kausal für die nach dem Außerkrafttreten der Verfügungen bestehende Besitzerstellung des Obdachlosen213. Unzutreffend ist es schließlich, wenn mit der herrschenden Meinung eine Kausalität für den rechtswidrigen Zustand mit der Begründung angenommen wird, daß ohne den Erlaß der Beschlagnahme und Zuweisung die Wohnung inzwischen aufgrund des Räumungstitels längst geräumt wäre und somit, die Verfügungen „hinweggedacht", jetzt eine freie Wohnung vorläge 214. Denn insoweit wird verkannt, daß 208

Roth, DVB1. 1996, 1401, 1405. So im Ergebnis auch OLG Köln, NJW 1994,1012,1013; Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 379; Roth, DVB1. 1996, 1401, 1406; vgl. auch Tenbieg, DGVZ 1988, 184, 185, 186. 210 So Schoenenbroicher, MDR 1993, 97, 98; ebenso schon Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 138 f.; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S. 246. 211 So auch Roth, DVB1. 1996, 1401,1406. 2.2 So Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, F, Rdnr. 737; ähnlich Schoenenbroicher, MDR 1993,97, 98. 2.3 Siehe auch oben 4. Teil, 1. Abschn., A, IV, 1, a), cc). 214 So VGH Mannheim, NJW 1990,2770; Masing, DÖV 1999, 573,576; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 112; ähnlich Rachor, in: Lisken/Denninger, HdbPolR, 209

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

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die Verfügungen nicht für den - schon vorher bestehenden - unrechtmäßigen Besitz des Räumungsschuldners kausal sind, sondern lediglich für eine Verzögerung der Wiederherstellung des unmittelbaren Besitzes des Vermieters 215. Da der auf den Folgenbeseitigungsanspruch gestützte Räumungsanspruch auf die Beendigung des Besitzes des Zugewiesenen gerichtet ist, müßte aber gerade der Besitz als solches und nicht nur die Tatsache seiner längeren Dauer durch den hoheitlichen Eingriff verursacht worden sein 216 . Hinzu kommt, daß die Verzögerung der Wiedererlangung des unmittelbaren Besitzes des Vermieters als bloßer Zeitablauf nicht mehr zu beseitigen, sondern allenfalls zu entschädigen ist 217 , und daher vom Inhalt des Folgenbeseitigungsanspruchs nicht gedeckt wäre 218 . Schuldner der Räumungsverpflichtung ist und war der Räumungsschuldner. Warum allein aufgrund der Tatsache, daß die Polizei eine Verzögerung dieser Leistungspflicht verursacht hat, diese nun selbst die Räumungsschuld anstelle des eigentlichen Schuldners zu erbringen haben soll, ist aber nicht einsichtig. Zutreffend führt das OLG Köln aus: „Wer nur für eine Leistungsverzögerung einzustehen hat, ohne selbst Schuldner der Leistungspflicht zu sein, hat nur die durch das Ausbleiben der Leistung verursachten Nachteile auszugleichen, nicht aber selbst anstelle des Schuldners die Leistung zu erbringen. Insoweit ist zwischen der von der Behörde infolge der Beschlagnahme zu vertretenden Verzögerung und der nach wie vor dem Räumungsschuldner obliegenden Herausgabepflicht zu unterscheiden 219".

bb) Weitere Nutzung durch den Räumungsschuldner Kein anderes Ergebnis ergibt sich dann, wenn man hinsichtlich des entstehenden rechtswidrigen Zustands nicht auf die zivilrechtliche Besitzlage, sondern allein auf den faktischen Zustand der Nutzung als solcher und den damit verbundenen Willen des Räumungsschuldners zum weiteren Verbleib abstellt220. F, Rdnr. 737: „Wenn die Behörde den Eigentümer daran hindert, die Wohnung räumen zu lassen, ist das Verhalten der Behörde ursächlich für den Umstand, daß der ehemalige Mieter in der Wohnung bleiben kann". 215 So zutreffend OLG Köln, NJW 1994, 1012, 1013; Erichsen/Biermann, Jura 1998, 371, 379; Roth, DVB1. 1996, 1401, 1408; vgl. auch Pietzcker, NWVB1. 1988, 321, 322: „Die Ordnungsverfügung ist für den weiteren Aufenthalt zwar insoweit kausal, als ohne sie mit größter Wahrscheinlichkeit die Räumung erfolgt wäre; sie hat aber nicht in einem positiven Sinn erst die Inbesitznahme der Räume durch Familie T herbeigeführt, sondern nur die bevorstehende Räumung verhindert". 216 So zutreffend Erichsen!Biermann, Jura 1998, 371, 379. 217 Der Verzögerungsschaden deckt sich dabei mit dem aufgrund von § 55 bwPolG gewährten Nutzungsausfall; vgl. insoweit OLG Köln NJW 1994, 1012, 1013. 218 Vgl. OLG Köln, NJW 1994, 1012, 1013; ebenso Roth, DVB1. 1996, 1401, 1408. 219 Vgl. OLG Köln, NJW 1994, 1012, 1013. 220 Kritisch hinsichtlich des Abstellens auf die zivilrechtliche Besitzlage Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.249f., allerdings unter Verkennung der Tatsache, daß auch das Abstellen auf die Nutzung des Obdachlosen zu keinem anderen Ergeb1*

276

4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

Zwar ist Hegel der Ansicht, daß die nach Aufhebung der Maßnahme fortdauernde Nutzung der Räumlichkeiten durch den Räumungsschuldner sich als eine „unmittelbare und noch fortwirkende nachteilige Folge" der behördlichen Beschlagnahme darstelle 221. Auch insoweit wird jedoch die Nutzung als solcher mit der Tatsache ihrer längeren Dauer vermengt. Eine Kausalität des hoheitlichen Handelns für die (rechtswidrige) Nutzung an sich liegt nicht vor, da der Räumungsschuldner bereits vor Erlaß der Verfügung ohne Rechtsgrund in den Räumlichkeiten verweilte und nicht freiwillig auszog. So führt Roth zutreffend aus: „Der Eingewiesene verweilt nicht mehr in der Wohnung kraft hoheitlichen Rechtes, sondern aus eigenem Entschluß, und zwar in genau derselben Weise, wie er zuvor in der Wohnung blieb, obgleich er zivilrechtlich zur Räumung verpflichtet war 222 ". Richtig ist allein, daß die Verfügungen für die Tatsache der fortdauernden Nutzung kausal sind. Die Tatsache der längeren Dauer der Nutzung kann aber - wie dargelegt - nicht beseitigt, sondern nur entschädigt werden. Wenig überzeugend ist es auch, wenn der VGH Kassel einwendet, die Kausalität des früheren Mietverhältnisses werde unterbrochen und mit der Zuweisungsverfügung ein neuer Grund für das weitere Verbleiben des Zugewiesenen begründet, welcher auch nach Außerkrafttreten der Verfügung fortwirke, so daß sich der weitere Aufenthalt „ausschließlich als Vollzugsfolge" der Zuweisung darstelle 223. Die Annahme einer Art überholender Kausalität kann aber bereits deshalb nicht durchgreifen, weil die Zuweisung keine neue Ursachenkette in Gang setzt, sondern vielmehr gerade an die bestehende Lage anknüpft 224. Zwar ist richtig, daß mit der Zuweisungsverfügung ein neuer Rechtsgrund für das Verweilen in den Räumlichkeiten während der Zuweisungsdauer geschaffen wird. Dieser Rechtsgrund erlischt jedoch gerade mit Aufhebung der Verfügung oder Ablauf der Frist. Daß diese zwischenzeitlich verliehene Nutzungsbefugnis jedoch auch nach Außerkrafttreten der Verfügung in dem Sinne „fortwirken" soll, daß der Zugewiesene den Wohnraum nunmehr aufgrund der Zuweisung nicht verläßt, vermag nicht zu überzeugen. Der Zugewiesene verläßt die Räume vielmehr deshalb nicht, weil er - wie schon vor der Zuweisung - über keinen geeigneten Ersatzwohnraum verfügt. Auch eine hoheitliche Zurechnung des weiteren Verweilens im Sinne einer Realisierung einer typischen Gefahr oder zumindest der Schaffung einer Gefahrerhönis führt. Kritisch ebenfalls Masing, DÖV 1999, 573, 577, der von „zivilistischen Irrwegen" spricht. 221 Vgl. Hegel, Die Unterbringung Obdachloser, S. 139f.; dem folgend Peppersack, Rechtsprobleme der Unterbringung Obdachloser, S.251; siehe auch Baldus, ZMR 1995, 211, 212: „Der weitere Aufenthalt des Obdachlosen in der Wohnung ist mit allen Schwierigkeiten, die dem Eigentümer nunmehr entstehen, allein dem staatlichen Eingriff zuzurechnen"; vgl. auch OVG Münster, NVwZ 1991, 905, 906. 222 Vgl. Roth, DVB1. 1996, 1401, 1406; ähnlich Masing, DÖV 1999, 573, 577. 223 VGH Kassel, ES VGH Bd. 44, 84 f. 224 So zutreffend Roth, DVB1. 1996, 1401, 1406.

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

277

hung kann nicht angenommen werden 225. Denn die Gefahr der weiteren rechtswidrigen Nutzung erhöht sich nicht durch die Zuweisung. Im Gegenteil: sie wird sich zumeist vermindern, weil der Zeitablauf während der Zuweisungsdauer die Chance erhöht, daß der Zugewiesene inzwischen geeigneten Ersatzwohnraum gefunden hat 226 . Zirkulös ist es freilich, wenn das OVG Münster die (zurechenbare) rechtswidrige Folge darin sieht, daß mit Außerkrafttreten der Verfügungen nur der Rechtsgrund für die behördliche Nutzung entfalle, nicht aber die behördliche Nutzung selbst227. Denn sieht man das weitere Verweilen des Räumungsschuldners als „behördliche Nutzung" an, so unterstellt man bereits, daß dieses der Behörde zuzurechnen ist, was aber - wie gezeigt - gerade nicht der Fall ist 228 . cc) Öffentlichrechtliches

Verwahrungsverhältnis

Der BGH knüpft für die zu beseitigenden rechtswidrigen Folgen an das durch die Beschlagnahme entstehende öffentlichrechtliche Verwahrungsverhältnis an 229 . So führt das Gericht aus, daß dieser tatsächliche und rechtliche Zustand nicht ohne weiteres mit dem Ablauf der Beschlagnahmefrist ende, sondern vielmehr bis zum Auszug des Zugewiesenen fortwirke 230 . Eine Begründung für diese Fortwirkung läßt auch der BGH jedoch vermissen. Indes kann die Annahme einer Fortwirkung des Verwahrungsverhältnisses aus denselben Gründen wie eine Fortdauer der Besitzverhältnisse nicht überzeugen 231. Denn anders als beispielsweise im Fall der Beschlagnahme einer beweglichen Sache fehlt es bei der Beschlagnahme des bereits mit dem Räumungsschuldner bewohnten Wohnraums an einem weiteren tatsächlichen Akt der hoheitlichen Inbesitznahme. Nimmt man aber dennoch - richtigerweise - das Entstehen eines öffentlichrechtlichen Verwahrungsverhältnisses an 232 , so wird dieses allein durch den Rechtsakt der Beschlagnahme begründet. Entfallen jedoch mit Außerkrafttreten deren Wirkungen, so muß gleichzeitig auch das Verwahrungsverhältnis erlöschen.

225

Vgl. zu den Voraussetzungen der Zurechnung oben 4. Teil, 1. Abschn., A, IV, 1, a), cc). Vgl. Roth, DVB1. 1996, 1401, 1405, Fn.50. 227 Vgl. OVG Münster, NVwZ 1991, 905, 906. 228 Ähnlich argumentiert Schoenenbroicher, MDR 1993,97,98, wenn er behauptet, die (zurechenbare) Folge liege darin, daß die Behörde die Wohnung erst beschlagnahmt hätte und sie nun nicht geräumt ist, obwohl die „Behörde kein Recht mehr hat, dort jemanden weiter einquartiert zu lassen". Auch insoweit wird eine nicht gegebene Zurechnung unterstellt. Denn die Behörde „läßt" nicht den Räumungsschuldner weiter einquartiert, sondern dieser verbleibt trotz Ablauf bzw. Aufhebung des Nutzungsrechts. 229 BGHZ 130, 332, 337. 230 BGHZ 130, 332, 337. 231 Vgl. hierzu bereits 3. Teil, C, II, 2a). 232 Siehe hierzu näher 2. Teil, 1. Abschn., E, I, 2. 226

278

4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

dd) Verlust des Räumungstitels Ein kausal durch die Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung verursachter rechtswidriger Zustand könnte somit allenfalls dann angenommen werden, wenn man mit einer Minderauffassung einen Verlust des Räumungstitels annehmen würde 233 . Zwar könnte die Polizei den identischen status quo ante nicht herstellen, weil sie zur Wiederherstellung des Räumungstitels offensichtlich nicht die Kompetenz hätte 234 . Da nach herrschender Auffassung der Folgenbeseitigungsanspruch aber nicht nur auf die Herstellung eines identischen, sondern auch eines der früheren Lage gleichwertigen Zustands gerichtet ist 235 , wäre immerhin denkbar, die Polizei bei Unterstellung eines Verlusts des Räumungstitels für verpflichtet zu halten, den Zustand herzustellen, der bestehen würde, wenn der Eigentümer von seinem wirksamen Räumungstitel Gebrauch gemacht hätte, also die Wohnung in einem vom Räumungsschuldner befreiten Zustand herauszugeben. Jedoch hat die hoheitliche Beschlagnahme - wie schon an anderer Stelle ausführlich erörtert - nicht die Konsequenz, daß der zivilrechtliche Räumungstitel verbraucht ist oder unbrauchbar wird. Vielmehr kann der Räumungsgläubiger nach Aufhebung oder Unwirksamwerden der Verfügungen ungehindert wieder auf seinen Titel zurückgreifen 236. Auch insoweit fehlt es somit an einem durch die Polizei verursachten rechtswidrigen Zustand, den es zu beseitigen gelten könnte. ee) Zwischenergebnis Ist somit weder die nach Außerkrafttreten der Verfügungen bestehende rechtswidrige Besitzlage noch die Nutzung als solches kausal von der Polizei verursacht und ist auch ein sonstiger hoheitlich zurechenbarer rechtswidriger Zustand nicht ersichtlich, so ist bereits aus diesem Grunde ein Folgenbeseitigungsanspruch nicht gegeben. b) Inhalt und Rechtsfolgen des Folgenbeseitigungsanspruchs Doch selbst wenn man den Ausführungen über die Verursachung des rechtswidrigen Zustands nicht folgen wollte, kann in der gegebenen Konstellation ein Folgenbeseitigungsanspruch auf Exmittierung des Räumungsschuldners auch aus anderen 233 So Bettermann, MDR 1957,130,133; Pawlowski, ZZP Bd. 102 (1989), 440 ff.; vgl. näher zu diesem Problem oben 3. Teil, C, II, 2. 234 Vgl. auch Roth, DVB1. 1996, 1401, 1408. 235 Vgl. VGH Mannheim, NVwZ 1987, 711; NVwZ-RR 1991, 334, 336; Bender, VB1BW 1990,223,225; Köckerbauer, JuS 1988,782,784; T. Schneider, Folgenbeseitigung im Verwaltungsrecht, S. 120; Schoch, VerwArch Bd. 79 (1988), 1,49, Fn.294; ders., Jura 1993,478,484; Wey reuther, Gutachten für den 47. DJT, S. 101,105; siehe zu diesem Problem auch näher unten 4. Teil, 2. Abschn., C, I, 4. 236 Vgl. näher oben 3. Teil, C, II, 2.

1. Abschn.: Der Anspruch des Wohnungseigentümers auf Räumung

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Gründen nicht durchgreifen. Er würde nämlich auf eine mit dem Inhalt des Folgenbeseitigungsanspruchs nicht zu vereinbarende Besserstellung des Wohnungseigentümers hinauslaufen. aa) Wiederherstellung

des status quo ante?

Nach herrschender Meinung ist der Folgenbeseitigungsanspruch nur auf die Wiederherstellung des sog. status quo ante, also des Zustands gerichtet ist, der vor dem hoheitlichen Eingriff bestand237. Bejahte man aber in der Konstellation der unechten Wiederzuweisung eine Räumungspflicht der Polizei auf der Grundlage des Folgenbeseitigungsanspruchs, so erhielte der Eigentümer mehr, als er vor der Inanspruchnahme- und Zuweisungsverfügung besaß238. War er zum Zeitpunkt des Erlasses der Verfügungen lediglich mittelbarer Besitzer, während unmittelbarer Besitzer der Räumungsschuldner war, so erlangte er bei Räumung durch die Behörde den unmittelbaren Besitz und damit ein „Mehr" gegenüber der vor Erlaß der Verfügungen bestehenden Lage 239 . In der Tat würde der Eigentümer auf der Grundlage der herrschenden Auffassung somit „vom Notstandspflichtigen zum Notstandsgewinnler 240 ". Da Gegenstand des Folgenbeseitigungsanspruchs aber nicht eine Besserstellung gegenüber dem ursprünglichen Zustand sein kann, kann auch aus diesem Grunde eine Räumungspflicht auf der Grundlage des Folgenbeseitigungsanspruchs nicht überzeugen. Eine mit dem Inhalt des Folgenbeseitigungsanspruchs nicht zu vereinbarende Besserstellung des Eigentümers läge selbst dann vor, wenn man mit Bettermann davon ausgeht, daß sich durch die Inanspruchnahme und Zuweisung die Besitzlage umgestaltet und diese Besitzlage auch nach Wegfall der Verfügungen fortwirkt. Ein kausal verursachter rechtswidriger Zustand wäre dann zwar in dem fortdauernden unmittelbaren Besitz der Behörde zu sehen, der nicht mehr durch einen Rechtsgrund gedeckt wäre. Bei Anerkennung eines Räumungsanspruchs würde der Eigentümer, obwohl er zum Zeitpunkt der Inanspruchnahme lediglich mittelbaren Besitz hatte, den 237

Vgl. BVerwGE 28, 155, 165; 35, 268, 272f.; 38, 336, 346; OVG Berlin, NVwZ 1992, 901, 902; OVG Münster, DÖV 1983, 1020, 1021; VGH Mannheim, VB1BW 1983, 271; NVwZ-RR 1991, 449, 451; NVwZ-RR 1991, 334, 336; Bender, Staatshaftungsrecht, Rdnr.221; Köckerbauer, JuS 1988, 782, 785; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, §29, Rdnr. 11; Ossenbühl, Staatshaftungsrecht, S. 301 ff.; Schioer, JA 1992, 39, 41; Schoch, VerwArch, Bd. 79 (1988), 1,23 f. 238 Zutreffend OLG Köln, NJW 1994,1012,1013; Erichsen/Biermann, Jura 1998,371,379; Masing, DÖV 1999,573,577; Roth, DVB1.1996,1401,1406; Tenbieg, DGVZ 1988,184,185; a. A. Baldus, ZMR 1995, 211, 212 mit der Erwägung, daß sich die Behörde wegen widersprüchlichen Verhaltens nicht auf den status quo ante berufen könne, weil sie diesen zwangsweise fixiert habe. Diese Annahme kann hingegen nicht überzeugen. Aus der Fixierung der Nutzung des Wohnraums folgt eine Entschädigungspflicht der Behörde, sie kann aber nicht zu einer Erweiterung der Rechtsfolgen des Folgenbeseitigungsanspruchs führen. 239 Vgl. Roth, DVB1. 1996, 1401, 1406. 240 So der prägnante Titel des Aufsatzes von Masing, DÖV 1999, 573 ff.

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4. Teil: Räumung, Entschädigung und Schadensersatz

unmittelbaren Besitz an den Räumlichkeiten erlangen, welchen er sich sonst durch eigene Vollstreckungsmaßnahmen noch hätte verschaffen müssen241. Dementsprechend könnte er auch unter Zugrundelegung der Auffassung Bettermanns zur Wiederherstellung des status quo ante lediglich verlangen, daß der unmittelbare Besitz wieder an den Räumungsschuldner übertragen wird, welcher ihm dann im Rahmen des nachmietvertraglichen Besitzmittlungsverhältnis den Besitz mittein würde 242 . Wenn demgegenüber erwogen wird, die Polizei müsse den Zustand herstellen, der bestünde, wenn Beschlagnahme und Zuweisung hinweggedacht würden, und dieser hypothetische Zustand wäre der einer inzwischen geräumten, freien Wohnung 243 , so beruht dies auf einem unzutreffenden Verständnis des Folgenbeseitigungsanspruchs244. Insoweit wird nämlich verkannt, daß der Folgenbeseitigungsanspruch kein auf die Herstellung des hypothetischen Zustands gerichteter Schadensersatzanspruch ist, sondern eben nur die Herstellung des Zustands verlangt werden kann, der vor dem Eingriff bestand. Zwar ist teilweise in der Literatur vorgeschlagen worden, den Folgenbeseitigungsanspruch als einen umfassenden Wiedergutmachungsanspruch zu verstehen, der auf die Herstellung des Zustands gerichtet sei, der bestehen würde, wenn das schädigende Ereignis nicht eingetreten wäre und dementsprechend auch hypothetische Geschehensabläufe erfasse 245. Auch in der Rechtsprechung findet sich bisweilen die Formulierung, der Folgenbeseitigungsanspruch sei „auf die Wiederherstellung des Zustands gerichtet [...], der bestünde, wenn die rechtswidrigen Folgen nicht herbeigeführt worden wären 246 ' 4 . In sichwidersprüchlich formuliert ebenfalls das BVerwG, wenn es ausführt, die vollziehende Gewalt sei „zur Herstellung des Zustandes verpflichtet, der bestünde, wenn sie die rechtswidrigen Folgen nicht herbeigeführt hätte", gleichzeitig aber annimmt, daß dies regelmäßig bedeute, „daß (nur) der vor der Vornahme der Amtshandlung bestanden habende Zustand wiederherzustellen ist 247 ". Beide Aussagen widersprechen sich nämlich insofern 248, als beim Grundsatz der Naturalrestitution i. S. d. § 249 S. 1 BGB gerade im Gegensatz zur bloßen Wiederherstellung des status quo ante der hypothetische Geschehensablauf zu berücksichtigen ist 249 . Indes kann die Qualifikation des Folgenbeseitigungsanspruchs als ein allgemeiner, auf umfassende Naturalrestitu241

Vgl. OLG Köln, NJW 1994, 1012, 1013. So zutreffend auch Roth, DVB1. 1996, 1401, 1407. 243 Vgl. VGH Mannheim, NJW 1990, 2770, 2771. 244 So im Ergebnis auch OLG Köln, NJW 1994,1012,\0\3; Roth,DVBL 1996,1401,1406; ansatzweise auch Lübbe, Wohnraumbeschaffung, S.75; vgl. auch Pietzcker, NWVB1. 1988, 321, 322, nach dem die Voraussetzungen des Folgenbeseitigungsanspruchs eigentlich nicht vorliegen. 245 Vgl. etwa//