Die »Passion-Betrachtungen« der Catharina Regina von Greiffenberg: im Rahmen ihres Lebenslaufes und ihrer Frömmigkeit 9783666564055, 9783525564059, 9783647564050


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Die »Passion-Betrachtungen« der Catharina Regina von Greiffenberg: im Rahmen ihres Lebenslaufes und ihrer Frömmigkeit
 9783666564055, 9783525564059, 9783647564050

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© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525564059 — ISBN E-Book: 9783647564050

Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie

Herausgegeben von Christine Axt-Piscalar und Gunther Wenz Band 137

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Traugott Koch

Die „Passion-Betrachtungen“ der Catharina Regina von Greiffenberg im Rahmen ihres Lebenslaufes und ihrer Frömmigkeit

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Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN 978-3-525-56405-9 ISBN 978-3-647-56405-0 (E-Book)  2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen/ Vandenhoeck & Ruprecht LLC, Bristol, CT, U.S.A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Printed in Germany. Satz: Konrad Triltsch Print und digitale Medien GmbH, Ochsenfurt. Druck und Bindung: g Hubert & Co, Göttingen Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier.

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Vorwort Die barocke Dichterin und Schriftstellerin lutherischer Erbauungsliteratur, Catharina Regina von Greiffenberg, beschäftigt mich schon seit vielen Jahren. Es bedurfte auch relativ viel Zeit, sich in ihre Gedichte und Schriften einzulesen. Mein Interesse war von Anfang an, mich in ihre Sprache, in ihre Äußerung, hineinzudenken, diese nachzuvollziehen, so gut ich kann – wohl wissend, daß es sich um eine vergangene, heute so, wie sie vorliegt, nicht mehr nachsprechbare Theologie handelt. Man lebte damals, zur Zeit der Autorin, im 17. Jahrhundert, noch in einer überschaubaren und in ihren Grundzügen stabil geordneten christlichen Welt. Doch gerade aus dem historischen Abstand heraus und über ihn hinaus wollte ich in Erfahrung bringen, wie eine lutherische Autorin des ausgehenden 17. Jahrhunderts im Raume der Orthodoxie ihre innerste Überzeugung – ihre „Herzensfrömmigkeit“ – zum Ausdruck bringt. Im Rückblick auf das hier erarbeitete Werk möchte ich sagen: Ich bewundere den durchgehaltenen theologischen Ernst der Autorin und ihre Freiheit, aus dem Innersten heraus niederzuschreiben, wovon sie im Blick auf Gott und Jesus, auf den Glauben an ihn und die Liebe zu ihm überzeugt ist. Es folgen einige Vorklärungen: Zitiert werden die Gedichte und Schriften von Greiffenbergs nach der Faksimile-Ausgabe „Sämtliche Werke in zehn Bänden. Herausgegeben von Martin Bircher und Friedhelm Kemp“ (abgekürzt angeführt als „SW“).1 Wo die Seitenzahlen nicht weitergeführt sind (z. B. in einem Vorwort), wurden sie ergänzt. Der „Briefwechsel“ zwischen von Greiffenberg und Sigmund von Birken wird aus den Teilbänden 12/I und 12/II der „Werke und Korrespondenz“ Sigmund von Birkens, herausgegeben von Hartmut Laufhütte angeführt als: BW und BW II. Zur Orthographie sei bemerkt: Der Wortbestand ist unverändert zitiert. Alle Kürzel, z. B. bei Verdoppelungen oder beim Genitiv eines Wortes sind aufgelöst. Nur die Zeichensetzung ist zuweilen, wenn zum Verständnis nötig, verändert. Alle Zitate sind mit üblichen Anfangs- und Schlußzeichen angeführt; sinngemäße Wiedergaben oder sonstige Entlehnungen sind mit kleinen Anführungs- und Schlußzeichen (, ‘) bezeichnet. Die numerierte Einteilung in Strophen bei den ,Sonnetten, Liedern und Gedichten‘ ist hinzugefügt. Zum Nachweis der Bibelzitate ist zu bedenken: Die Autorin denkt und 1 Die einzelnen Bände dieser Ausgabe sind im Anhang aufgeführt.

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Vorwort

schreibt ganz selbstverständlich im Sprachhorizont der Luther-Bibel. Mehr oder weniger wörtliche Formulierungen der Bibel fließen ihr einfach so in die Feder, auch weist sie sie nicht durch Stellenangabe nach. Nur bei Ausführungen, die ihr wichtig sind und die kontrovers sein könnten, führt sie Belegstellen in der Bibel an. – Dem folge ich sinngemäß, wo es zum besseren Verständnis nötig zu sein scheint. Meinen gehörigen Dank statte ich gerne ab: Er gilt zuallererst der langjährigen Mitarbeiterin, Helga Bruns, für ihre kritischen Ratschläge und Korrekturen. Alexander Dobbert-Dunker und Susanne Ledic´ danke ich für die sorgfältige, alle Änderungen bereitwillig aufnehmende und immer mitdenkende Ausführung der Schreib- und Computerarbeiten, A. Dobbert-Dunker überdies für die kompetente Endredaktion. Dem Kollegen Gunther Wenz und der Kollegin Christine Axt-Piscalar danke ich für die entgegenkommende Aufnahme der vorliegenden Abhandlung in die von ihnen herausgegebene Reihe und Silke Hartmann für die zuverlässige verlegerische Betreuung. Für die großzügige Gewährung eines Druckkostenzuschusses danke ich der Hamburgischen Stiftung für Wissenschaften, Entwicklung und Kultur Helmut und Hannelore Greve. Hamburg, im Dezember 2011 und im Juli 2012

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Traugott Koch

Inhalt

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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1. Die Biographie von Greiffenbergs . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs und ihr besonderes Projekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.1 In den ,Geistlichen Sonetten, Liedern und Gedichten‘ . 2.2 In der Schrift „Sieges-Seule“ . . . . . . . . . . . . . . . 2.3. In ihrem „Briefwechsel“ mit Sigmund von Birken . . . 2.4 In den „Passion-Betrachtungen“ . . . . . . . . . . . . . 2.5 In den „Geburts“-Betrachtungen . . . . . . . . . . . . . 2.6 In den „Übrigen Lebens“-Betrachtungen . . . . . . . . 2.7 Eine Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.8 Nachtrag . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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18 18 23 35 43 48 50 50 51

3. Zum „Briefwechsel“ zwischen von Greiffenberg und Sigmund von Birken . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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4. Über einige Sonette und Gedichte, insbesondere zu von Greiffenbergs Selbstverständnis als Dichterin und über das Gotteslob der Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1 Zu von Greiffenbergs Selbstverständnis als Dichterin . . . . 4.1.1 Christlicher Vorhabens=Zweck . . . . . . . . . . . . . 4.1.2 Andachts=Aufmunterung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.3 Göttlicher Anfangs=Hülfe Erbittung . . . . . . . . . . 4.1.4 Sonett: O mein Geist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.1.5 Über das unaussprechliche Heilige Geistes=Eingeben 4.2 Zum Gottes-Lob der Schöpfung . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 Gott-lobende Frühlings=Lust . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Über die Blumen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.3 Auf die liebliche Sommer= und Ernde=Zeit . . . . . . 4.2.4 Spazir= oder Schäfer=Liedlein . . . . . . . . . . . . . 4.2.5 Auf die ruhige Nacht=Zeit . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Über ihr Leben mit Gott . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 In äusserster Widerwärtigkeit . . . . . . . . . . . . . . 4.3.2 (Gesprächs-Lied: Du hast mir das Herz genommen) .

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Inhalt

5. Die Passionsbetrachtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.1 Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.2 Der Aufbau des Buches und die ersten beiden „Betrachtungen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.3 Das Ereignis des Abendmahls . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.4 Die dritte und vierte Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . 5.5 Die Eigenart der Frömmigkeits-Theologie von Greiffenbergs und der Stil ihrer Werke . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.6 Die fünfte Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5.7 Die sechste bis achte Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . 5.8 Die neunte und zehnte Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . 5.9 Die elfte und zwölfte Betrachtung . . . . . . . . . . . . . . . 5.10 Nachwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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132 142 152 174 189 197

Literatur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Verzeichnis der eingesehenen zeitgenössischen Literatur . . Werke und Briefwechsel Catharina Regina von Greiffenbergs Sekundärliteratur . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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. 92 . 101 . 115

1. Die Biographie von Greiffenbergs Vorbemerkung: Nach den kenntnisreichen und insofern erschöpfenden Arbeiten von Heimo Cerny2 und Hartmut Laufhütte,3 deren Ergebnisse hier einfach übernommen werden, bedarf die Biographie Catharina Regina von Greiffenbergs einer Ergänzung nur hinsichtlich ihrer christlichen Erziehung und ihrer geistigen Bildung im lutherischen Sinne. Am 7. November 1633 wurde Catharina Regina von Greiffenberg auf dem väterlichen Schloß Seisenegg in Niederösterreich geboren. In ihren späteren Publikationen nannte sie sich selbst „Frau von Greiffenberg, gebohrne Freyherrin auf Seysenegg“.4 Ihr Großvater väterlicherseits, der selbst aus einer wohlsituierten Wiener Familie lutherischer Konfession stammte, hatte eine steile Karriere im kaiserlichen Hofdienst absolviert, die ihm die Aufnahme in den ritterlichen Adelsstand und hernach in den Freiherrenstand einbrachte, und hatte im steierischen Kupferbergbau ein immenses Vermögen angesammelt, das ihm erlaubte, dem späteren Kaiser Matthias umfangreiche Darlehen zur Verfügung zu stellen. Er kaufte im niederösterreichischen Alpenvorland insgesamt neun Schlösser und Herrschaften, darunter auch Seisenegg. Doch bereits gegen Lebensende war sein Reichtum zerronnen, und es drückte ihn eine Schuldenlast von ungefähr 400.000 Gulden. Sein ältester Sohn und Haupterbe Hans Gottfried von Greiffenberg suchte den verbliebenen Besitz zusammenzuhalten, geriet aber, insbesondere durch die scharf antiprotestantische Religionspolitik Kaiser Ferdinands II., in zunehmende Bedrängnis. Es blieben ihm nur Schloß Seisenegg, wenige kleine Herrschaften und die immer wieder in Schwierigkeiten geratene steierische Kupfermine. Er verstarb unerwartet im Jahre 1641. Nach seinem Tod mußte sein jüngerer Stiefbruder Hans Rudolf das verschuldete Erbe und die Vormundschaft für die Witwe und die beiden 2 Ders., Catharina Regina von Greiffenberg, geb. Freiherrin von Seisenegg (1633 – 1694). Herkunft, Leben und Werk der größten deutschen Barockdichterin (Amstettner Beiträge), 1983. Ders., Neues zur Biographie der Catharina Regina von Greiffenberg (in: Literatur in Bayern. Hrsgb. v. Institut für Bayerische Literaturgeschichte der Univ. München Nr. 38, Dez. 1994, S. 45 – 49). 3 Ders., Der Heterodoxie-Verdacht gegen Catharina Regina von Greiffenberg (in: Ders., Sigmund von Birken, Leben, Werk und Nachleben. Gesammelte Studien. Passau 2007, S. 375 – 384; zur Biographie S. 376 – 379. 4 In ihrem ersten, von ihrem Vormund und späteren Ehemann herausgegebenen Werk, den Geistliche[n] Sonette[n], Lieder[n] und Gedichte[n], wird sie von ihm angesprochen als Fräulein von Greiffenberg, geborene Freyherrin von Seyßenegg. In ihrem ersten eigenständigen Werk, den ,Passions-Betrachtungen‘, nennt sie sich selbst: Frau von Greiffenberg, Freyherrin auf Seisenegg (ebenso in ihrem dritten Werk, der ,Siegessäule‘). In allen weiteren ,Betrachtungen‘ steht auf dem Titelblatt: Frau von Greiffenberg, gebohrne Freyherrin auf Seysenegg.

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1. Die Biographie von Greiffenbergs

minderjährigen Töchter, die achtjährige Catharina Regina und die etwas jüngere Anna Regina übernehmen. Er erreichte, daß die Kupfermine in der Steiermark wieder einen Gewinn erbrachte. Die geliebte Schwester von Catharina Regina starb zehn Jahre später an der roten Ruhr. Bei der Geburt ihrer ältesten Tochter geriet ihre Mutter, wie die Autorin später berichtete, „in eine[..] gefährliche[..] Krankheit“; in die Sorge um das Überleben ihres Kindes legte sie, noch während der Schwangerschaft, das „Gelübde[..]“ ab, ihr Kind – hernach ihre Tochter Catharina Regina – sollte es überleben, „zum Dienst und Ehre“ des Herrn Jesus ,aufzuopfern‘ und zu ,verloben‘. Ihre Mutter ist, wie die Tochter bestätigte, „diesem Gelübde mit guter Unterweisung zur Gottesfurcht christlich nachgekommen“.5 Angesichts des Todes ihrer Mutter (1675) schreibt sie an Sigmund von Birken, ihrem „Innigst-Freund“, von ihrer Mutter : Sie hat „Auf meine Kindheit und Jugend so treulich Aufgesehen!“ Ihr „gottseelige[r] Mund, der mich so Früh und Eyferig betten gelehret“.6 Dem Bericht vom Gelübde ihrer Mutter und von ihrer Unterweisung fügt von Greiffenberg von sich selbst an: „und ich habe Dich“ [sc. den Herrn Jesus] „seither in meinem Herzen, so viel mir in meiner Schwachheit möglich war, in der stille eifrigst bedienet und innigst geliebet.“7 Und an anderen Stellen bekundet sie von sich: „Dir“, Herr Jesu, diese Schrift ,zuzueignen‘, „geziemt“ sich, „weil ich von Dir, vor der Welt, Du aber von mir, so bald ich die Vernunft bekommen, zum Freund erwehlet worden.“8 Und: „Ich danke dir süßester Heiland! daß du auch mich in meiner jugend nach dir gezogen, ja von kindheit auf“ [oder : an] „mich, dir zu folgen, gelenkt hast. Du hast mich, mit deinem wort in reimen verfasset, wie mit condirtem zucker an dich gelocket. Die Geistliche lieder, waren das zucker= und quitten=werk, mit denen du meine kindheit=lieb und ansprache gewonnen. […] Du hast nicht nachgelassen, mich zu reitzen durch die süße musik deines Geistes, mir das innerliche ohr, und dadurch das Herz, einzunehmen, biß ich ganz auf 5 Die „Zueignung=Schrift“ ihrer ersten eigenständigen Veröffentlichung, der „Passion=Betrachtungen“ (1672), beginnt so: „ALlerliebster HErr JEsu! mein einiger Herz=beherrscher und Seelen=Schatz! Du weist, mit was unendlichen Verpflichtungen, meine Liebe und Verehrung Dir zugehöret: nicht allein, wegen der Erschaffung und Erlösung, (welche alle Menschen mit mir gemein haben, […]) sondern auch wegen anderer mir insonderheit erwiesener Gnaden, wie nicht weniger wegen des Gelübdes meiner Mutter, die mich noch in ihrem Leibe, (in einer gefährlichen Krankheit, da sie an der Möglichkeit mich zu erhalten gezweifelt) zu deinem Dienst und Ehre aufgeopfert und verlobet hat, wofern ich zu leben kommen würde. Sie ist auch diesem Gelübde, mit guter unterweisung zur Gottesfurcht, Christlich nachgekommen“ (SW 9, S. )(iij/v). 6 Brief vom 15. 10. 1675, Nr. 122 (=BW, 270, Z. 1 f). 7 A.a.O. (wie Anm. 5). Am Ende dieses Werkes wird das Gelübde der Mutter und das Verlöbnis noch einmal dargelegt: „Dieser [sc. der „Ehre Gottes“] bin ich, noch im Mutterleibe verlobet worden, habe auch nachmals selber mein ganzes Thun und Leben ihr gewidmet und aufgeopfert. Solches Opfer und Gelübde nun habe ich nicht besser abzulegen gewust, als mit dieser offentlichen Lob= und Dank=schrift vor“ [= für] „meines Heilandes heiliges Leiden und Sterben.“ (SW 10, S. 949) 8 Ebenfalls in der „Zueignung=Schrift“ der „Passion=Betrachtungen“, SW 9, S. )(iiij/v.

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1. Die Biographie von Greiffenbergs

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selbige verbichet“ [= erpicht], „nichts anderes anhören mögen.“9 Gegen Schluß dieses Textabschnitts führt sie aus: „Ich könte nie enden, wann ich alle deine unendliche liebes=griffe, kraft deren du mich zu dir gelenket, erzehlen wolte.“10 – In der Auslegung der Geschichte vom 12jährigen Jesus im Tempel schreibt sie: „Dir“, Herr Jesu, „sey ewiger Dank dafür, daß du mich in meiner Kindheit machen zu dir bringen, daß du mich segnen köntest: Ja, du hast recht mit mir geeilet, weil ich um ein Jahr eher als du“, also mit 11 Jahren, „zur Kirchen gekommen, und zwar auf eine Hochzeit, da du, himmlicher Bräutigam! schon zeigen wollen, daß du dich mit mir verloben wollest in Ewigkeit.“ […] „Ich benedeye dich auch, alles wolfügender JEsu! daß du auch mich, durch deinen Göttlichen Trieb, oftermal in meiner zarten Jugend, in demjenigen seyn und bleiben machen, was dein und deines Vatters ist, als“ [= wie] „in Les= und Betrachtung der H. Schrifft, und anderer reiner Christlich= und gottselig-gelehrter Bücher, dabei man, mich vermissend, oftmal gefunden, ich auch manche harte Klag und Verhebung“ [= Zurechtweisung] „darob hören müssen, ja so gar bei deinem Lehrern“ [= Pfarrherren] „selber deßwegen verklaget worden.“ – „Aber dein heroischer Geist stärkte und bestättigte mich, daß ich mich nichts davon abwenden ließe, sondern wider allen Widerstand beständig fortfuhre, bis ich den Kern und Stern göttliches Wortes, nämlich dich selber fande, mit aller Süß= und Lieblichkeit, die man ihm“ [= sich] „immer wünschen kan: Da ließe ich erst gar nicht mehr nach, sondern ehe [= eher] alle Stürme und Wetter manches Hasses und Verfolgungen über mich gehen, ehe [= als daß] ich mich von deiner süßen Brust entwähnen“ [= entwöhnen] „ließe.“11 C. R. von Greiffenberg war ihrer adligen Herkunft und der damit verbundenen Ehre wohl bewußt. In ihren Worten ausgedrückt: „Ich liebe die Ehre im äusersten grad“ […]. „Ich bin eben so wohl von edlen und ehr=liebenden Eltern geboren, die alle diese einbildungen und ehrsätze“ [= Ehr-Vorsätze] „haten, die dem Adel gemein sind. Ich selber habe die subtileste ehr=empfindungen und den größten abscheu“ gegenüber allem ,Unwürdigen‘. „Aber es liegt nur an dem, daß man die Ehre recht erkennen, und die wahrhafte lieben lerne, nämlich die Ehre GOttes, welcher man alle andere aufopfern und nachsetzen muß.“12 In dem Trostbrief an Sigmund von Birken anläßlich des Todes seiner (ersten) Frau beschreibt von Greiffenberg sich selbst als: „Ich, die ich von Natur Innig und weichmüthig bin, großes mitleiden mit Ihm habe“.13 Sie sagt 9 10 11 12 13

SW 9, S. 163 f. A.a.O., S. 165. SW 4 (Geburtsbetrachtungen), S. 844 – 846. SW 9, S. 239. Brief vom 28. 8. 1668, Nr. 35 = BW, S. 47, Z. 64. In gleichem Sinn im Brief vom 23. 1. 1671, Nr. 66 = BW, S. 165, Z. 131 f: „Binn Ich doch keine von dennen Fröhlichen, die nur Lust=Freudschafften suchen, Sondern Eine von Schweer Mühtigen, die wissen mitleiden zu haben“.

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1. Die Biographie von Greiffenbergs

von sich – und schließt sich mit vielen anderen zusammen – sie sei dem Heiland zu großem „Dank verbunden“, daß sie „das Ubel“ der Krankheit „nie empfunden“ habe.14 Und sie bekennt von sich: „aller Welt=Wollüste und Freuden hab ich mich längst, ja in meiner Jugend, verziehen“ [= verzichtet], „und niemahl geachtet oder genossen“.15 Doch den Leibesübungen, der Jagd (zu Pferd), der Frühlings- und Blumenbetrachtung hat sie sich nicht versagt.16 Wie erwähnt,17 starb ihre geliebte Schwester Anna Regina im Jahre 1651. In einem Brief an Sigm. von Birken im Jahre 1671 schreibt sie darüber, daß sie sich bei diesem Trauerfall, also „noch in [ih]rer gar zartten Jugend“, im Trost Geben „Selbsten geübt“ habe. „Mein ganzes Leben ware Ein Todes-verlangen“. Doch angesichts „diese[s] Verlust[es]“ faßte sie den Entschluß, ihr „Leben, das Mir da durch so bitter geworden“, […] „Ihme“ [„meinem Jesu“] „ganz AufzuOpfern und Zum dihnst Der Himmlischen Deoglori zu widmen (die Mir damahl gleich Anfienge im GeMüht Aufzugehen,) wie Ich dan auch diese Zeit über gethann, und noch thue“.18 Noch einmal kommt sie in einem Brief aus dem Jahre 1672 auf dieses Ereignis zu sprechen. Sie erinnert sich eines Gottesdienstes in Preßburg – neben Ödenburg diejenige Kirche, in denen nach dem Westfälischen Frieden (1648) den Lutheranern Gottesdienste zu halten gestattet war. Sie sei „verpflichtet“ dem „himmel Treu zu dihnen. […] Ach! jezt wer Es hohe Zeit, da das licht Des Ewangelij in hungarn Auß gelescht wird, sonderlich in Dieser Kirchen zu Preßburg wo dieses Deoglori licht Erstlich in

14 SW 6 (Lebensbetrachtungen), S. 792. 15 SW 8 (Übrige Lebensbetrachtugnen), S. 603. Und anderen Orts: „Du“ [Jesus Christus] „hast […] mir unvermerkt alle […] Welt=süßheit entzogen: biß so lang ich ihre eitelkeit erkennet und solche selbst willig verlassen habe.“ (SW 9 [Passionsbetrachtungen], S. 165) 16 SW 10 (Passionsbetrachtungen), S. 666 – 670. 17 S.o. S. 10. 18 Brief vom 23. 1. 1671, Nr. 66 = BW, S. 164, Z. 103 – 116. Im Blick auf eine solche private und nicht für die Öffentlichkeit gemeinte Äußerung sollte ein gewisser Persönlichkeitsschutz bezüglich weiterer Konsequenzen und Ausdeutungen gelten. Siehe z. B. dagegen: H. Cerny, Cath. Reg. v. Greiffenberg (wie Anm. 2): Der plötzliche Tod der geliebten Schwester löste „eine schwere innere Erschütterung in der achtzehnjährigen Catharina aus.“ (S. 31) Auch die Bemerkung im „Apparate und Kommentare“-Band zum Briefwechsel ist zu undifferenziert: „Hier bringt C.R. von Greiffenberg die religiöse Bewältigung des schmerzhaft erlittenen Verlusts mit der Entstehung ihres ihr gesamtes weiteres Leben beherrschenden Deoglori-Projekts in Verbindung“ (BW, Teil II, S. 598). Da von Greiffenberg selbst ihr Lebensprogramm ,Alles zur Ehre Gottes‘ mit dem Gelübde ihrer Mutter zusammen bringt (s. o. Anm. 5 u. 7), bin ich geneigt anzunehmen, daß ihr hier das „Deoglori licht“ aufging als Lebensvorsatz, schriftstellerisch tätig zu werden ,zur Ehre Gottes‘. (So auch H. Cerny, A.a.O., ebd.: „Hier liegt die Geburtsstunde der geistlichen Dichterin Catharina Regina von Greiffenberg!“) – Vor allem aber ist, wie unten im 2. Kapitel über „Deoglori“ zu zeigen sein wird, zu unterscheiden zwischen (erstens) ihrem ganz generell geltenden Lebensprogramm ,Alles zur Ehre Gottes‘ und ihren besonderen Vorhaben unter dieser Devise: nämlich (zweitens) dem Aufruf zur Buße und Bekehrung und in diesem Zusammenhang (drittens) ihrer Aktion der ,Bekehrung‘ des Wiener Kaiserhauses. Diese Aktion nennt sie selbst ihr „geheimes Vorhaben“ (so im Brief vom 20. 11. 1676, Nr. 133 = BW, S. 289, Z. 50).

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1. Die Biographie von Greiffenbergs

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Mir vor 21 Jahren Angeglümet“ [= zu glühen angefangen] „und Aufgegangen“.19 Ihre humanistische Bildung und die barock-rhetorische Dichtkunst werden ihr wohl durch den damals in Österreich bekannten Schriftsteller und Übersetzer Johann Wilhelm von Stubenberg vermittelt sein. Jedenfalls nennt er sie in einem Brief an Sigmund von Birken „seine Schülerin“.20 In der „Leichenpredigt auf Catharina Regina von Greiffenberg“ (1694) rühmt der Prediger, Georg Albrecht Hagendorn, daß sie „gar bald die Belehrung dessen“ erfaßte, „was, Ihrem hohen Stand gemäß“, ihr „in irdischen Wissenschaften vorgetragen wurde: worzu auch die Erkäntnis“ [= die Kenntnis] „der Lateinischen, Italiänischen, auch Frantzösichen und Spanischen Sprache kam.“21 „Die Süssigkeit“ [= die Herzlichkeit] „des Göttlichen Worts um so viel desto mehr zu kosten, nahmen Sie die Lehre der heiligen Sprachen, der Hebräischen, Chaldäischen, Syrischen und Griechischen gar begierig an“. „Und die H. Schrifften deß Neuen Testaments vermochten Sie in acht Sprachen […] zu lesen.“22 H. Cerny weist darauf hin, „daß die besondere Art der Nürnberger Poesie – die Vorliebe für kombinatorische Sprachbehandlung, Wortspiel und Klangmalerei – Eingang in die poetischen Bemühungen des niederösterreichischen Adels gefunden hat.“23 In ihrer letzten Veröffentlichung (den ,Übrigen Lebensbetrachtungen‘) zitiert sie zwei theologische Autoren: „jene[n] Lehrer H. M“ (= Heinrich Müller) und den „lieben Nicolai“.24 Neben Heinrich Müller25 ist offensichtlich Johann Arndt ihr theologischer Lehrer.26 19 Brief vom 1. 8. 1672, Nr. 91 = BW, S. 215, Z. 44 u. 46 f. 20 So angeführt bei H. Laufhütte, Der Heterodoxie-Verdacht (wie Anm. 3), S. 378 Anm. 13. Von J. W. von Stubenberg ist in der ersten Veröffentlichung von Greiffenbergs (s. o. Anm. 4) ihr ein „Ehrenvers“ oder ein kurzes „Lobgedicht“ gewidmet (SW 1, S. )( )( vjx /v); und ebenso ist in der dritten Veröffentlichung, der „Sieges-Seule“, für sie eine lobende Empfehlung (genannt „Beurtheilungs-Zeilen“) vorausgeschickt (SW 2, S. )(xij/v). Zu drei der Werke J. W. von Stubenbergs steuert sie ein Gelegenheitsgedicht bei (SW 1, Bibiliographie, S. 553 f). – Übrigens wird sie in ihrer Erstveröffentlichung, den ,Sonetten und Gedichten‘, mit dem Dichternamen „Teutsche [..] Uranie“ tituliert (SW 1, S. )( )( xij). 21 G. A. Hagendorn, Leichenpredigt auf C.R. v. Greiffenberg (1694); in: SW 1, S. 482 – 491; Zitat: S. 484. 22 A.a.O., S. 486. 23 Ders., Cath. Reg. von Greiffenberg (wie Anm. 2), S. 32. 24 SW 8 (1693), S. 1016. Zu dieser einen Stelle, in der Philipp Nicolai erwähnt ist, siehe unten S. 133 Anm. 558. 25 Heinrich Müller, den sie anderen Orts „den christlichen Lehrer“ nennt (SW 9, 111), wird verschiedentlich angeführt (z. B. SW 5, 506; 9, 167 und im „Briefwechsel“ z. B. S. 59, Z. 1; anläßlich seines Todes: S. 274, Z. 31 – 37). Zu H. Müller siehe: Ernst Koch, Heinrich Müllers „Himmlischer Liebeskuß.“ Zu Geschichte und Wirkung eines Erbauungsbuches (in: Pietas in der Lutherischen Orthodoxie. Hrgb. von Udo Sträter [Themata Leucoreana]. 1998, S. 137 – 148.) C.R. v. Greiffenbergs Werk wird in diesem Artikel nicht erwähnt. 26 J. Arndt wird an einigen Stellen namentlich angeführt: z. B. SW 5, 47, 390; 7, 376.

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1. Die Biographie von Greiffenbergs

In dem oben27 angeführten Brief J. W. von Stubenbergs an Sigm. von Birken aus dem Jahre 1659 erwähnt von Stubenberg auch, daß der Stiefonkel von Catharina Regina von Greiffenberg und deren einstiger Vormund, Hans Rudolf von Greiffenberg, mit dem sie zusammen mit ihrer Mutter auf Seisenegg wohnte, in die damals 26jährige Catharina Regina von Greiffenberg heftig verliebt ist und ihr die Ehe anträgt. Lange hat sie sich diesem Ansinnen widersetzt. „Eines konsequenten Lebens um der ,Deoglori‘ willen hatte Frau von Greiffenberg den ehelosen Stand für sich erwählt.“28 Zudem mußte sie die Anstößigkeit einer solchen Verwandtschaftsehe mit hoher Wahrscheinlichkeit befürchten. Nach langem Zögern willigte sie ein. Nun bedurfte es aber zur Eheschließung bei solch nahem Verwandtschaftsverhältnis eines amtlichen, kirchlichen Dispenses. Und den verweigerte der für ihre Familie noch verbliebene, zuständige lutherische Pfarrer im ungarischen Ödenburg. Und er schloß beide sogleich, als im Konkubinat lebend, von dem – von Frau von Greiffenberg so sehnlich erwünschten – Abendmahl aus. Die sodann zuständige Wiener Kirchenbehörde stellt den Dispens in Aussicht, wenn zumindest der Mann zur römisch-katholischen Kirche konvertiere. In dieser Situation wendet sich der Freiherr von Greiffenberg, vermutlich durch Vermittlung J. W. von Stubenbergs, an Sigmund von Birken. Dieser erreicht im Jahre 1664 beim Bayreuther lutherischen Generalsuperintendenten den nötigen Dispens und die Erlaubnis zur Trauung auf Bayreuther Territorium – unter der Bedingung, daß das Ehepaar sich in der Markgrafschaft niederlasse. In Sorge um ihren österreichischen und steierischen Besitz kehrten aber die Neuvermählten nach Seisenegg zurück. Sogleich gab es dort eine Anzeige wegen unerlaubter Eheschließung; der Freiherr auf Seisenegg wurde nach Wien zitiert, wo er sich zur Verfügung des niederösterreichischen Landmarschallischen Gerichtes aufhalten mußte. In dieser Lage wurde Frau von Greiffenberg aktiv : Sie wandte sich direkt schriftlich an den Kaiser in Wien und berief sich dabei auf ihre Verdienste durch ihre „Gedicht[e] und Schrifften“ um „Ihre Mayestät und“ um „mein Vatterland“.29 Außerdem suchte sie die Unterstützung und Beratung Sigm. von Birkens in zweifacher Hinsicht. Er vermittelte über die Bayreuther Markgräfin, eine kursächsische Prinzessin, daß deren Vater oder der Dresdner Hof beim Wiener Kaiserhof die rechtliche Anerkennung der von Greiffenbergi27 S. 13, Anm. 20. 28 H. Laufhütte, Der Heterodoxie-Verdacht (wie Anm. 3), S. 378. Das ist eine vielleicht nahe liegende, aber nicht nachweisbare Vermutung. Näher liegt jedoch die Annahme, daß sie in der Ehe auf die Wahrung ihrer „Keuschheit“ und damit auf den Verzicht des ehelichen Vollzugs bestanden hat. Im Rückblick spricht sie davon, sie habe von Feinden ,viel gelitten‘„wegen einer so Unschuldigen und Keuschen Lieb und Ehe“ (Brief vom 14. 6. 1677, Nr. 140 = BW, S. 300, Z. 21 f). An einer Stelle ihrer Werke spricht sie von sich als „Jungfrau“ (BW2, angeführt unten S. 31 bei Anm. 127). 29 Angeführt und zitiert bei H. Laufhütte, A.a.O., S. 379 mit Anmerkungen 17 und 18. H. Laufhütte bezeichnet den Brief als „ein bei aller Demut im Ton außerordentlich selbstbewußtes Ersuchen um Rechtsgewährung an den Kaiser.“ (S. 379)

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1. Die Biographie von Greiffenbergs

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schen Ehe in Österreich im Jahre 1666 erwirkte. Und von Birken unterstützte sie intensiv und nachdrücklich, bis hin zu einem ausgefertigten theologischen Gutachten, in ihrem Kampf gegen den lutherischen Pfarrer in Ödenburg und seine Abendmahlsverweigerung.30 – Diese beiden Streitsachen und von Birkens überragende Hilfe waren übrigens die Auslöser für den „Briefwechsel“ zwischen Sigm. von Birken und C. R. von Greiffenberg.31 Beim Tod ihrer Mutter im Jahre 1675 schreibt sie in dem oben32 erwähnten Brief an Sigm. von Birken: „Gott Erhaltte nur Meinen Liebsten Gemahl“.33 Hans Rudolf von Greiffenberg starb im Jahre 1677. C. R. von Greiffenberg, seine Ehefrau, spricht im Jahre 1693 davon, daß ein Ehegatte „ein beliebter Engel (wie dem Himmel sey Lob! der Meinige gewesen)“, andere jedoch „leibhaffte Teuffeln“ sein können.34 Im selben Werk, den ,Lebensbetrachtungen‘, erhofft sie die „glückliche Wiederbringung aller Dinge“: „Wann werde ich wieder kriegen, was ich nie gehabt? Nemlich: Meine wehrtesten Ahnen und Vorfahren? Wann werde ich wieder bekommen, was mir allzufrüh genommen, meinen liebsten Vatter? Wann meine holdseelige Schwester […]? Wann wird JEsus, der Himmlisch und göttliche Bräutigam, mir meinen zwar irdisch= doch Englichen“ [= Engelsgleichen] „(auch auf Erden) wieder geben?“35 Bereits zu seinen Lebzeiten mußte sich Hans Rudolf von Greiffenberg bei einem zugezogenen Herrn Franz Riß – später von Riesenfels – hoch verschulden. Dieser nutzte seine Situation als Gläubiger aus, um mit Hilfe von Machenschaften Herrn von Greiffenberg in immer größere Abhängigkeit zu treiben, so daß dieser im Jahre 1673 alle seine Besitzungen ihm, dem Herrn von Riesenfels, überschreiben mußte.36 Beim nahen Tod des Herrn von Greiffenberg gab Franz von Riesenfels das Versprechen ab, alle vertraglichen Verpflichtungen zu erfüllen und das Wohnrecht und die Erbansprüche zu garantieren. – Jedoch, Frau von Greiffenberg sah sich, wenige Tage nach dem 30 Dieser Vorfall mit dem ödenburger Pfarrer hatte eine Nachgeschichte: Auch nach der rechtlichen Anerkennung der von Greiffenbergischen Ehe in Österreich beharrte der ödenburger Pfarrer auf seiner Verweigerung. Als C.R. von Greiffenberg zu Ostern 1668 zum Gottesdienst und zum Abendmahl nach Ödenburg gereist war, erteilte ihr der Pfarrer, ganz gegen ihr Erwarten, die Absolution nicht: sie müsse „bekennen, daß ihre vollzogene Heirat sündlich sey und wider das Göttliche Recht laufe, auch Sie dadurch groß Ergernis in unserer Kirche angerichtet“. Nach einer abgegebenen Erklärung, die sie aber nicht als Zustimmung verstand, gab er ihr doch die Absolution (s. dazu H. Laufhütte, A.a.O., S. 382 f). Zur gesamten Affäre siehe: H. Laufhütte, Der Oedenburgische Drach. Spuren einer theologischen Kontroverse um die Ehe der Catharina Regina von Greiffenberg (in: Ders., Sigmund von Birken. Leben, Werk und Nachleben. Gesammelte Studien. Passau 2007, S. 309 – 336.) 31 Zu diesem Briefwechsel siehe die Ausführungen im 3. Kapitel. 32 S. o. Anm. 6. 33 BW, S. 271, Z. 56. 34 SW 6 (Lebensbetrachtungen), S. 653. Dieser Satz steht im Kontext ihrer Auslegung der Geschichte von der Hochzeit in Kana (Joh. 2). 35 SW 6, S. 1205. 36 Dazu s. bes. H. Cerny, Neueres zur Biographie (wie Anm. 2), S. 46, Spalte b) und c).

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1. Die Biographie von Greiffenbergs

Tod ihres Mannes, genötigt, Sigm. von Birken zu berichten: Ihr Mann habe vor seinem Tod bestens für sie vorzusorgen gesucht. „Aber Es drohen so Viel gefahren darbey, daß Mann Mir mit gewalt und unrecht schaden könte“. Freunde – vermutlich Nachkommen aus den drei Ehen ihres Großvaters, die Erbanteile beanspruchen – werden zu Feinden, die „Vielgründig, darauf lauren,“ daß ich, wenn ich keinen „Beschirmer“ am kaiserlichen Hof habe, „leucht“ [= leicht] „verlohren kann gehn.“37 Und wenige Zeit später beklagt sie sich, sicherlich zu Recht: „Man gehet um mit mir daß Es Einen Stein Ja: Einen Tyger“ [= Tiger] „Erbarmen möchte! man hält mir nichts von Allem was Mann Meinem herrn Am Todbette Versprochen Mann Reisset Alles gewiße zu Sich, […] daß Ich nicht allein Meines guts, sondern […] Fast Meines Lebens nicht sollte Sicher seyn. […] Also steh Ich in 1000 gefahren, Ob Mann Mir nicht Alles und Auch das Jenige weggnimmt was Ich von Meiner Frau Mutter habe“.38 Tatsächlich hatte nämlich Franz von Riesenfels „zum vernichtenden Schlag gegen die Witwe“ ,ausgeholt‘: „Er kündigte ihr den Pachtvertrag und gewährte ihr das Wohnrecht auf Seisenegg nur mehr für ein Jahr. Als Lebensunterhalt gestand er ihr den Ertrag eines Meierhofes und die Benutzung des ,Kuchlgartens‘ zu.“ Er „machte ihr […] alle legitimen Erbansprüche zunichte, indem er die Herausgabe von Hans Rudolfs Nachlaß verhinderte. Er ließ den Wohntrakt des verstorbenen Gatten sperren und verweigerte außerdem die Offenlegung der Bergwerkskonten, um seine unrechtmäßigen Gewinne zu vertuschen. Die Catharina Regina zustehenden Ansprüche als Witwe Hans Rudolfs beliefen sich auf nahezu 30.000 fl., nämlich 21.000 fl. als den ihr vertraglich zugesicherten Zwei-Drittel-Anteil am Bergwerk sowie das im Nachlaß Hans Rudolfs verwahrte Erbgut der 1675 verstorbenen Mutter in der Höhe von 8.250 Gulden. Die völlig mittellose Witwe beschritt nun den Rechtsweg und strengte einen Prozeß gegen Franz von Riesenfels an, der sich die Gunst der Gerichte mit Schmiergeldern erkaufte.“ […] „Catharina von Greiffenberg war Mitte Mai 1678 nach Wien übersiedelt – ihr Wohnrecht auf Seisenberg war erloschen – und kämpfte mit drei Beiständen und einem Advokaten um ihre ,wittiblichen Sprüch‘, um ihr mütterliches Erbgut.“39 „Der Prozeß zog sich über Jahre hin, ihr Widerpart fand stets neue Mittel und Wege, die Entscheidung hinauszuzögern und zu verschleppen. Unter anderem wurde abermals die Legitimität von Catharinas Ehe angefochten! […] Aber alles schlägt fehl, mußte fehlschlagen, denn Protestanten hatten zu dieser Zeit offenbar keinen Rechtsanspruch mehr.“40 Daß das riesige Darlehen, das der Großvater dem Wiener Kaiser gewährt hatte, an einen lutherischen „Ketzer“ zurückbezahlt würde, stellt sich zu Zeiten Ferdinands II. als 37 38 39 40

Brief vom 3. 5. 1677, Nr. 139 = BW, S. 298, Z. 16 – 19 und 22 – 25. Brief vom 14. .6. 1677, Nr. 140 = BW, S. 299, Z. 5 – 9 und S. 300, Z. 17 f. H. Cerny, Neueres zur Biographie (= wie Anm. 2), S. 46, Spalte e). H. Cerny, C.R. v. Greiffenberg (wie Anm. 2), S. 57.

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1. Die Biographie von Greiffenbergs

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aussichtslos dar. Bei einem gerichtlichen Vergleich im Vermögensprozeß im Jahre 1683 – „mittlerweile weilte die Baronin längst im Nürnberger Exil – mußte ihr Riesenfels […] 4000 fl. ausbezahlen“; das war „ein Siebtel ihres Anspruches.“41 Lediglich das Erbgut ihrer Mutter konnte sie vor dem Zugriff des F. von Riesenfels erhalten – vermutlich durch den Beistand ihres ehemaligen Gutsnachbarn Wolf Helmhard von Hohberg, der Jahre vor ihr nach Regensburg emigriert war. Endgültig mußte im Jahre 1680 Frau von Greiffenberg in aussichtsloser Lage ihr Land verlassen und nach Nürnberg auswandern. Sie lebte dort durchaus standesgemäß als Baronin; doch bald verstarben ihr „InnigstFreund“ Sigm. von Birken und ihre nahen Freundinnen, die wie sie im Nürnberger Exil lebten. „Am 3. April“ des Jahres 1694 „erkrankt[e]“ sie schwer ; sie empfing „am Karfreitag, den 6. April, in ihrem Haus das Abendmahl und“ starb „den 8. April, am Abend des Ostersonntags; sie“ wurde „auf dem St. Johannis Friedhof in Nürnberg beigesetzt.“42

41 H. Cerny, Neues zur Biographie (wie Anm. 2), S. 46, Spalte a). 42 „Lebenstafel“ in SW 1, S. 546.

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs und ihr besonderes Projekt 2.1 In den ,Geistlichen Sonetten, Liedern und Gedichten‘ Geradezu unermüdlich, jedenfalls unübersehbar häufig gibt von Greiffenberg der Intention, dem Zweck und Ziel aller ihrer schriftstellerischen Arbeit in den Dichtungen und Betrachtungen Ausdruck: nämlich der Ehre Gottes (der gloria Dei) zu dienen, diese zu mehren und auszubreiten43. An zahllosen Stellen und in jedem ihrer Werke mehrfach bekundet von Greiffenberg diese ihre Devise: Alles zur Ehre Gottes, alles zur „Deoglori“. In ihrem ersten, von Hans Rudolf von Greiffenberg herausgegebenen Werk, den „Geistliche[n] Sonnette[n], Lieder[n] und Gedichte[n]“ (1662) beginnt das 1. Sonnett „Christlicher Vorhabens=Zweck“ so: „Ach Allheit! der ich mich in allem hab ergeben, mit allem was ich bin, beginne, denk und dicht! zu deiner hohen Ehr mein Spiel und Ziel ich richt. ach laß den Engel=Zweck, dein Lob laß mich erstreben.“44 Im 3. Sonett „Herzliche Lobens=Begierde“ lautet der erste Vers: „Ach lob den höchsten GOtt, mein Herz aus deinem Grund, ach wollst zu seinem Lob den ganzen Geist ausschütten, daß er sein’ Ehr’ und Preiß finde in der mitten“.45 Einige Seiten später steht: „Du weist doch, mein Edler Herrscher“ [sc. Gott], „daß mein Haupt= und Erzbegier einig, dich zu ehren, zielt.“46 Es heißt: „SEy still, gib GOtt die Ehr’. Er weiß die zeit zu finden“.47 „Ach, Deo glori, du kanst mich beleben recht, nach tödlichen gefärden.“48 „BJllich, weil dein Güt’ im Herzen, ist dein Lob in meinem Mund […]. Hätt ich aller Engel Sprachen: deines Lobes minsten“ [= mindesten] „theil, ich doch nicht aussprechen kund. […] Was soll ich, mein Hort, dir geben? mein Herz? 43 H. Laufhütte gibt das so wieder: Mit dem im Gottesdienst in Preßburg [s. o. den Text bei Anm. 18] ,aufgegangenen‘„Deo-glori-Licht“ ist „ihr Lebensprogramm bezeichnet. In den Dienst der ,Deoglori‘ hat Frau von Greiffenberg von da an ihr Leben und all ihr Tun und Lassen gestellt. Ihr Briefwerk, ihre Gedichte, die Andachten lassen uns allenthalben erkennen, was damit gemeint ist: Wirken für die Ausbreitung des Namens, der Ehre Gottes, Gottes ,Ehrerhebung‘.“ (Ders., Der Heterodoxie-Verdacht [wie Anm. 3], S. 377) – Allerdings wird noch zu klären sein, was mit der Wendung ,Wirken für die Ausbreitung der Ehre Gottes‘ gemeint ist: ihre schriftstellerische Tätigkeit oder eine bestimmte, aktiv betriebene Aktion in der gegebenen geschichtlichen Realität. 44 SW 1, S. 1. Zu dem gesamten Sonett siehe unten S. 56 bei Anm. 235. 45 A.a.O., S. 3. 46 A.a.O., S. 26. 47 A.a.O., S. 64. 48 A.a.O., S. 67.

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2.1 In den ,Geistlichen Sonetten, Liedern und Gedichten‘

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ists doch deine Gab […]. was denn? ist doch dein schon alles, was ich kan, weiß, bin und hab. Heyland! gib, zum überfluß, dir zu Lob und Ehr zu leben!“49 „Jhm“ [sc. dem ,Heiland‘] „ist mein Herz und Hand, mein Muht und Blut verpflichtet, daß jedes rühren auch sein’ Ehr’ und Ruhm nur such“50 Das 116. Sonett trägt die Überschrift „Demütige Dienstaufopferung, zu GOttes Ehren“; es schließt mit: „Es ist mein ganzes Thun, zu deiner Ehr gericht, und ist mein äusserst Ernst, nicht ein erdichts Gedicht.“51 Und das 204. Sonett mit dem Titel „Christliche Dienst=Aufopferung“ endet so: „all mein dichten soll zu deiner Ehr geschehen. Laß mich die Krafft hierzu, Allkrafft von dir erbitten.“52 Nach dem ersten Teil, den Sonetten, ist im zweiten Teil, genannt „Funfzig Liedern“, das erste Gedicht bezeichnet als „Uber meine einig= und äusserst=geliebte Seelen=Göttin, die Himmlische Deoglori.“53 Dieses Gedicht weicht nach seinem Inhalt nicht wenig ab von dem bislang wiedergegebenen und in allen folgenden Werken von Greiffenbergs wieder und wieder geäußerten Lebensprogramm: mit all ihrem Sein und Tun einzig der Ehre Gottes zu dienen und zu ihrer Mehrung beizutragen. Dieses Gedicht hier gibt die „Deoglori“ zu erkennen als himmlisches Ziel des Verlangens im Innersten, in der Seele und im Herzen der Autorin. Darum sei es zunächst zurückgestellt und in dem bisherigen Gedankengang fortgefahren. In den „Funfzig Liedern“ folgt, kurz nach dem eben genannten, ein „Neu Jahr=Lied“54 mit sieben Strophen. Jede dieser Strophen ruft in gewohnter Weise die „Ehre“ Gottes oder Jesu an. Es beginnt: „HErr JEsu! hilf das Jahr anfangen, mit Gottes=Furcht und wahrer Lieb! ach lasse mich nur dich verlangen: daß alles, was ich würk’ und üb’, ersprüß zu deines Namens Ehr. Ach JEsu, mir nur dis gewähr!“ Sinngleich wie diese enden alle weiteren Strophen: „Erfüll’, O Hort […] den Mund, mit deines Namens Ehr’, in Freud’ und Leid: HErr, mich“ [= mir] „gewähr!“ – „[…] richt meinen Gang zu deiner Ehr’, und führ’ ihn aus: HErr mich gewähr!“ – „O JEsu, mich diß Jahr gewähr deß, was hier dient zu deiner Ehr.“ – „Ach es gereicht zu deiner Ehr’ und unsrem Heil: drum mich gewähr.“ – „daß sich mein Creutz, zu deiner Ehr’ erstrecken müß! O mich gewähr!“ – „O höchster Hort, zu deines süssen“ [= liebevollen] „Namens Ehr’, in allem mich diß Jahr gewähr.“ 49 50 51 52

A.a.O., S. 96. A.a.O., S. 115. A.a.O., S. 116. A.a.O., S. 204. – Bereits aus dem bislang Angeführten dürfte ersichtlich sein, daß das Leitmotiv C.R. von Greiffenbergs „Alles zur Ehre Gottes“ sich an Gott richtet, auf ihn bezogen ist, und keine „Arbeit an der ,Deoglori‘“ und nicht „eigentlich ein Missionsauftrag“ ist, „dem […] auch aktiv, durch nach außen gerichtetes Wirken entsprochen werden mußte“ – im „Medium der Dichtung“ (so H. Laufhütte, der Heterodoxie-Verdacht [wie Anm. 3], S. 378. Die Devise von Greiffenbergs ist so wenig ein ,Missionsauftrag‘, gar „aktiv[er]“ Art, wie wenn Paul Gerhardt singen läßt: „ist’s billig, daß ich mehre / sein Lob vor aller Welt.“ („Du meine Seele, singe“, Str. 8 = EG 302, 8) 53 SW 1, S. 252 – 254. 54 SW 1, S. 260 – 262.

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs

Dies erste Werk von Greiffenbergs hat zum Abschluß einen Sinnspruch: „LIebes BUCh! geh / Mehre / GOTTES PreIß UnD Ehre.“55 Aus dem Nachlaß Sigmund von Birkens geben die Herausgeber des „Briefwechsels“ ein „Sonnet“ wieder, das sie auf das Jahr „1659 oder früher“ datieren.56 Das Gedicht ist verfaßt als eine Gebetsanrede an Gott der hier Sprechenden, die bekennt: „All mein Gründen ist gegründet im ungrundbarn GnadenFluß, da ich, dir die Ehre gebend, mir auch Hoffnung geben muß. […] weil die Grundfest nimmermehr, kan auch das Gebäu nit wanken. deine Ehr erhält die Spitzen, auf der Gnad besteht der Fuß. Ach wie kan, was Gottes Hand bauet, hält und schützet, fallen“? – Der Grund, auf den die hier Sprechende sich gründet, auf dem ihr Haus,57 ihr „Gebäu“ und also ihr Leben aufgebaut ist, ist die unergründbare, uns zukommende, uns zu-,fließende‘ Gnade. Mit dieser Erkenntnis, was sie Gott verdankt, gibt sie „dir“, Gott, „die Ehre“; und so gerade hat auch ihre Hoffnung Grund. Weil ihr Fundament, „die Grundfest“ – eben die Gnade – „nit wanken“ kann, kann es auch das ganze ,Gebäude‘, ihr ganzes Leben nicht. Gottes „Ehr[e]“, auf die alle „Spitzen“ ausgerichtet sind, „erhält“ dieses auch. „Auf der Gnad[e]“ hat „der Fuß“ Standfestigkeit. Da ein solches Lebens-Haus von Gott ,erbaut‘, ,erhalten‘ und ,beschützt‘ ist, kann es nicht „fallen“.58 Als Abschluß dieses ersten Durchgangs in der Thematik „Deoglori“ sei das zurückgestellte Gedicht angeführt, das in von Greiffenbergs ,Geistlichen Sonetten, Liedern und Gedichten‘ prominent den zweiten Teil eröffnet. Seine Überschrift lautet: „Uber meine einig= und äusserst=geliebte Seelen=Göttin, die Himmlische Deoglori“.59 Der Blick, der diesem Gedicht mit seinen sechs Strophen zugrunde liegt, ist ganz ausgerichtet auf den zukünftig-jenseitigen Himmel und auf das sehnsüchtige Hineingelangen – und so ist er ausgerichtet auf das Erlangen, ganz der „Deoglori“ zu dienen. Doch der Himmel, der zur Ehre Gottes ist, und mithin die „Deoglori“, die die Autorin zu erlangen sich sehnt, sind ihr hier und jetzt im Leben auf der Erde die erleuchtende Sonne, die befähigt, allen WeltWidrigkeiten zu widerstehen: welt-überlegen zu sein. Die „Deoglori“ ist hier, wie man sieht, aufgefaßt und ausgesprochen als ein „himmlische[s]“ Objekt und so als „Seelen=Göttin“,60 die von Greiffenberg 55 56 57 58 59 60

A.a.O., S. 414. Der Spruch ist ein Chronogramm: LIVCMIVD = 1662. BW, Nr. 183, S. 375. Vgl. Matth. 7, 24 f. Vgl. noch einmal Anm. 57. SW 1, S. 252 – 254. Die Titulierung „Seelen=Göttin“ wird später auch in Briefen von Greiffenbergs an Sigm. von Birken verwendet. So heißt es im Brief vom 15. 7. 1666: „ob wollen“ [= obwohl] „die Deoglori meine welt-unüberwindliche Seelen Göttin bleibt“ (BW, Nr. 25, S. 29, Z.1 f; ebenso im Brief vom 23. 7. 1666 [= BW, Nr. 26, S. 31, Z. 86]). Sinnähnlich schreibt sie im Brief vom 25. 2. 1667: „Meine Hoffnung Die Himlische Deoglori betreffend habe Ich keines wegs verloren“. – „Mein ganzes Beginnen ist: Eine Gottes-förchtige Begeb= und Brünstige Bedihnung der Himmlischen Prinzessin Deoglori!“ (BW, Nr. 30, S. 38, Z. 40 f und Z. 63 f). Vgl. auch die Epitheta, die unten im

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2.1 In den ,Geistlichen Sonetten, Liedern und Gedichten‘

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bis zum „äusserst[en]“ ihrer selbst „geliebt[..]“ wird. Die erste Strophe hat folgenden Wortlaut: „DEoglori, Himmels Zier, und der Erden werte Sonne, meiner Seelen Seel und Wonne, mein verlangen Wunsch und Gier“ [= Begehren], „mein Herz=auserlesnes Leben! dir bin ich so gar“ [= ganz] „ergeben, daß mit Freuden, dir zu lieb, ich Leib, Gut und Blut aufgib.“ Die „Deoglori“ ist für die Verfasserin ihr ein und alles. Darum ist sie bereit, für die „Deoglori“ alles, was sie ist und hat, dahinzugeben. Ihre, der „Deoglori“, hymnische Umschreibung setzt die zweite Strophe fort: „Ach du meine Denke=Lust, meiner Sinnen Sehnungs=Ziele“ [= Ziel ihres Sehnens], „meines Geistes Freuden=Spiele, ohne die mir nichts bewust! wann werd’ ich das Nectar=fliessen61 deiner Gegenwart geniessen? wann wird, schönster Strahlen=Schein, deine Klarheit bey mir seyn?“ Gerade weil das Ziel, die „Deoglori“ so lebens-bedeutsam ganz sie umfassend ist, ist das Verlangen, am Ziel angekommen zu sein, so drängend sehnsuchtsvoll. So ist in den beiden Strophen – und ebenso auch in den folgenden – das ersehnte „himmlische“ Objekt, die „Deoglori“, immer bezogen auf die „Seele“, das Zentrum einer Person mit Denken und Sinnen, mit deren Geist. Immer wird ausgesagt, was die „Deoglori“ als „Himmels Zier“ für die „Seele“ bedeutet. Die dritte Strophe wiederholt die sehnliche Erwartung jenseitiger, endgültiger Erfüllung und verdeutlicht sie: „Wann im Sternen=bunten Thron62 ich im höchsten Grad solt schweben; wann das Glück mich wolt erheben, gäb mir aller Kronen Kron; wann ich Cäsar Welt=besiegen,“63 ohne „dich, mein Lieb solt kriegen:64 wär es (O der Liebe=Macht!) gegen dich vor nichts geacht.“ Ohne ,meine Liebe‘, ohne daß ,meine Liebe‘ mit dabei ist, wären selbst die himmlische Erfüllung und alle Weltüberlegenheit ,für nichts zu achten‘: bedeutungsleer. Die vierte Strophe spricht nun vom „Herz“, vom Innersten einer Person: „Deoglori bleibt mein Herz, wann auch meines längst verwesen.65 Sie hab’ ich

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Text S. 37 bei Anm. 161; S. 37 bei Anm. 163; S. 46 bei Anm. 198 der „Deoglori“ beigelegt werden. Im Zusammenhang der Notwendigkeit, ein öffentliches Bekenntnis zu Jesus zu wagen, spricht die Verfasserin von der „beherzte[n] Wagnus“, der „Göttin aller wunder“ (SW 10, S. 919). Solche Titulierung dürfte damaliger humanistischer Manier entsprechen. Doch was von Greiffenberg selbst mit der Bezeichnung der „Deoglori“ als „Himmlische[..] Prinzessin“ und als ihre „Seelen Göttin“ zum Ausdruck bringt, ist: ihr „Deoglori“ Verlangen ist „mehr Allß Ein Bloß menschen Verlangen, weil es von Gott ist“; und darum ist es ,von der Welt nicht zu überwinden‘ (s. auch unten bei Anm. 63 und S. 37 bei Anm. 163 u. 165). „Nectar“ heißt der Göttertrank; hier : die Himmelskost. Der Sinn der Wendung „im Sternen-bunten Thron“ ist mir nicht ganz deutlich. Heißt es „Inmitten ,bunter Sterne‘ ist der ,Thron‘“? Dann ist der Thron nicht selbst mit Sternen versehen – Eine fast gleichlautende Formulierung findet sich in der ersten Zeile des Gedichtes „Auf die ruhige Nacht-Zeit“: „Sternen-bunter Himmels Thron“ (SW 1, 381; s. u. S. 72). ,Wenn mir wie Caesar ein Besiegen der Welt (gelänge)‘. Zur Weltüberwindung oder -besiegung siehe 1. Joh. 5,4. Das Wort „ohne“ ist korrigiert statt „oder“. Dieser Vers findet sich auch im Brief an Sigm. von Birken vom 23. 7. 1666. Er lautet da: „Deoglori

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs

so fäst erlesen“ [= auserlesen], „daß kein Welt-ersinnter“ [= von der Welt ersonnener] „Schmerz, keine Mensch=erdenklichkeiten, sie vermögen auszureuten“ [= auszureißen]. „Alles, alles ist umsonst auszulöschen meine Brunst“ [= nichts vermag auszulöschen meine Liebe, meiner Liebe Verlangen]. Kein Schmerz und nichts, was Menschen erdenken können, vermögen diese ihre Lebensmitte zu vernichten und ihre leidenschaftliche Liebe (ihre „Brunst“) ,auszulöschen‘. Die fünfte Strophe fügt noch eine bedeutsame Überzeugung hinzu. In ihr steht: „Ach mein Seel=versenktes süß“;66 „ein-geherzte67 Freuden=Flammen! […] keine Trennung nicht empfindet68 das, was selbst der Himmel bindet. Unauflöslich ist, das Band von der Welt=Erbauungs=Hand.“69 – Die „Deoglori“ nach ihrem ganzen Sinn ist das, was den Himmel Gottes und die Seele oder das Herz eines Menschen verbindet. Und diese Verbundenheit ist so fest, daß nichts sie zu zerreißen vermag; denn sie ist von Gott selbst geschaffen, denn sie rührt her aus Gottes Hand. Und alles Sehnen und Verlangen gilt dieser „Deoglori“, mithin dem, was in der Verbundenheit mit dem Himmel Gottes jetzt schon im endlichen Leben ist, und so gilt es dem, was das Ziel dieser Verbundenheit ist: nämlich völlig hineinzugelangen in Gottes Himmel, der voll ist von der Ehre Gottes; also gänzlich im Ehren Gottes, in der „Deoglori“ zu sein. Der Sehnsucht, an jenem Ziel der „Deoglori“ zu sein, gibt die sechste Strophe noch einmal Ausdruck, gleichsam als Schlußwort des ganzen Gedichts: „Komme, mein erseufzter Trost! mich recht Englisch“ [= den Engeln gleich] „froh zu machen, Ach beglückte Müh’ und wachen, ob“ [= obwohl] „ihr mich viel Krafft gekost! tausendfach=belohntes sehnen! Nectar=süß ergetzte“ [= mit liebreicher Himmelskost ergötzte, erfreute] „Thränen! Ach der überschwänglich Sieg! wann ich Deoglori krieg.“ Dann, beim ,Kommen‘ der „Deoglori“, sind die aufgewandte „Müh’„ und das „Wachen“ ,beglückt‘ und die Menge an „Kraft“, die das „gekost[et]“ hat, und alles ,Sehnen‘ „tausendfach belohnt[..]“. Dann sind die „Tränen“ mit liebevoller Himmelskost ,ergötzt‘ oder versüßt.

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bleibt mein Herz, wann auch Meines längst verloren jj Item jj Wieder“ [= wider] „welt-voll wiederstand, bleibt Mein herze unverworen etc.“ (BW, Nr. 26, S. 32, Z. 88 – 90) Vgl. Martin Schallings Lied „Herzlich lieb hab ich dich, o Herr“ (1569/71), in dem es heißt: „Und wenn mir gleich mein Herz zerbricht, so bist doch du mein Zuversicht“ (EG 397,1). „süß“ = Liebliches, Liebevolles. Der Ausdruck „das Süße“ oder „die Süße“ oder „die Süßigkeit Gottes“ ist, angeregt vom „Hohenlied Salomons“, ein bereits in der vorreformatorischen Erbauungsliteratur (in der sog. „Mystik“) üblicher Ausdruck. Hier dürfte die „himmlische Deoglori“ gemeint sein. „Seel=versenktes“ = in die Seele hineinversenktes. „eingeherzte“ = ins Herz eingegangene „nicht empfindet“ = kann berühren. „Welt=Erbauungs=Hand“: die Hand Gottes, des Schöpfers der Welt

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2.2 In der Schrift „Sieges-Seule“

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Das, was hier auf die Spitze gebracht ist, das ist das durchgehende und grundlegende Lebensprogramm von Greiffenbergs. Anhang: Vielleicht wird von Greiffenbergs Konzentration auf der Ehre Gottes – in ihrer Wortbildung auf die „Deoglori“ – etwas deutlicher, wenn man die profane Parallele in der damaligen Zeit mitbedenkt: Der Ehre, dem Streben nach ihr und nach ihrer Sicherung, kam in der ständischen Öffentlichkeit ein hoher, wenn nicht der höchste Rang zu. In unsrer Gegenwart hat sie, was Ansehen und Reputation betrifft, nicht ihresgleichen. Wie in der ständischen Ordnung Stand und Ehre zusammengehören, gibt von Greiffenberg im Blick auf sich selbst zu erkennen.70 – Auf diesem Hintergrund ist auch zu verstehen, wenn von Greiffenberg wieder und wieder beteuert, sie suche „allein“ die Ehre Gottes oder Jesu Christi und nicht etwa die eigene.71

2.2 In der Schrift „Sieges-Seule“ Die erste von ihr selbst entworfene und gestaltete Schrift hat von Greiffenberg nach eigenem Bekunden in den Jahren 1663 und 1664 verfaßt.72 Ihr Titel lautet: „Sieges-Seule der Buße und Glaubens wider den Erbfeind Christlichen Namens“.73 Diese Schrift ist ihr, der Freiherrin von Greiffenbergs, Beitrag zum Türkenkrieg. Diesen versteht sie ganz selbstverständlich wie alle ihre Zeitgenossen im kaiserlichen Deutschland als Kampf der Christenheit „wider den Erbfeind Christlichen Namens“.74 – Unseren Zusammenhang hier betrifft diese Schrift, da sie, wie noch zu zeigen sein wird, eine erhebliche Weiterführung und zusätzliche Bestimmung des Lebensprogramms von Greiffenbergs erkennen läßt: Sie bringt die Ehre Gottes oder die „Deoglori“ zusammen mit der „Buße“ als deren Grundlage oder „Grundfeste“. Nach ihrer eigenen Bestimmung hat die Schrift „Sieges-Seule“ unter dem Hauptwort „Buße“ zum Ziel und Zweck, die Abkehr von der Sünde und die Umkehr ihres ,Vaterlandes‘, des Deutschen Reiches einschließlich der Habs70 Siehe oben S. 11 bei Anm. 12. 71 Siehe z. B. S. 58 bei Anm. 246. 72 Im Druck erschienen ist sie erst im Jahre 1674. In der „Vorrede“ berichtet sie, daß sie „diese Schrifft schon vor Zehen Jahren, nemlich im Türken-Krieg, in den Jahren 1663 und 1664 verfetiget […] habe“ (SW 2, S. ):(viij/v). Sie wird hier angeführt als: SW 2. Alle Stellenangaben im Nächstfolgenden beziehen sich auf dies Werk. 73 Der Schrift von Greiffenbergs ist von ihr beigegeben „des Herrn von Bartas geteuschte[r]“, von ihr aus dem Französischen übersetzter „Glaubens-Triumf“. Laut des Zwischentitels zur Überleitung zum „Glaubens-Triumf“ hat die Autorin „Herrn Bartas“ Schrift „Im Jahre 1660“ übersetzt. Nach dem Nachwort Friedhelm Kemps zur Neuausgabe der Schriften von Greiffenbergs handelt es sich um das Werk „des calvinistischen Dichters Guillaume des Saluste Seigneur Du Bartas“ (SW 1, Nachwort, S. 499). Die Schrift Bartas’ ist für den Mittelteil der „Sieges-Seule“ ein Vorbild. 74 So auf dem Titelblatt; siehe in der Schrift selbst: SW 2, S. 181 – 183.

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs

burger Erblande und damit auch des in Wien residierenden Deutschen Kaisers zu Gott zu betreiben – um so einig („einträchtig“) und siegreich in den Krieg gegen die Türken zu ziehen.75 Die „Sieges-Seule“ ist von Greiffenbergs „Einige“, einzige „von Politischen Sachen“ handelnde Schrift.76 Daß sie nun, im Jahre 1674, im Druck erscheint – wo der Türkenkrieg der 60er Jahre beendet ist, weiterhin aber Kriegsgefahr besteht – dazu erklärt die Verfasserin als ihre Absicht: „hab ich, geehrtestes Vatterland! was mir der Himmel […] eingesaget, im Druck heraus= und Dir übergeben wollen.“77 Nun, in „Friedens=Zeit“, solle die Schrift dazu beitragen, „sich zum“ allezeit wieder möglichen „Krieg und Sieg [vorzu]bereiten“, die „Einheimische Christen-Kriege“ aber zu „stillen“.78 Das Werk, die „Sieges-Seule“, ist ein durchgehendes, zäsurloses Gedicht, ein Epos. Es wird eingeleitet durch eine „Zuschrifft An mein wehrtes Teutsches Vatterland! Allerliebstes Vatterland!“, durch eine „Vorrede an den Edlen Leser. Edelmütiger Leser“; durch einen „Entwurff79 der Sieges-Seule“; und durch „Beurtheilungs-Zeilen“ J. W. von Stubenbergs. Darauf folgen, mit einer Anrede an „JEsus“, 250 Seiten. – Halten wir uns hier zunächst an diese drei Einleitungen. Die „Ziel-Seule“, wie von Greiffenberg hier ihre Schrift nennt, „präsentire“ sie „hiemit meinem lieben Vatterland“.80 von Greiffenberg bezeichnet eine solche Schrift, wie die hier von ihr vorgelegte, als schuldigen Dienst am Vaterland: „dem Vatterland dienstlich zu sein“ und so „sich dankbar zu erzeigen“, gebührt jedem, der im Vaterland „geboren“ ist.81 Folglich erklärt sie: „Dieses wissende, hab auch ich, […] dahin trachten wollen, meine Schuldigkeit zu[..]genügen. Weil ich aber, als ein Weibs-bild, Dir, O mein geliebtes Vatterland, mit Schwerd, […] nicht dienen“ kann, „so hab ich doch“ vor Gott für dich gebetet und „höre auch noch nicht auf,“ dies zu tun, auf daß „er Dich,“ mein Vaterland, „vor dem Gott-lästernden Erb= und Erzfeind, behüten wolle.“82 75 Nach dem damals üblich werdenden Sprachgebrauch wird die Abkehr von der Sünde als Umkehr zu Gott, wenn sie eine ganze Gemeinde, ein ganzes Land und Volk betrifft, als „Buße“ bezeichnet – wenn sie den Einzelnen betrifft, als „Bekehrung“. 76 „Vorrede“, S. ):(viij/v. 77 „Zuschrifft“, S. ):(iiij/v. 78 „Vorrede“, S. ):(vjx. 79 „Entwurff“, d. h. Abriß, Inhaltsübersicht. 80 „Vorrede“, S. ):(viij. Ausdrücklich erläutert sie: „Ich verstehe aber, durch den Namen Vatterland […] Germanien, Teutschland, das Römische Reich, und die ganze löbliche Teutsche Nation und Völkerschaft“, insbesondere „den Vatter des Vatterlandes, das löbliche Haubt, und die Durchleuchtigste“ [= durchlauchtigen] „Glieder, Regirer und Vorsteher desselben, endlich auch alle dessen Inwohnere“ (S. ):(vj u. folg.). – An zwei Stellen wird ,Deutschland’ als „Mutter“ angesprochen: einmal als „süsseste Mutter! liebes Teutschland“ („Zuschrifft“, S. ):(iiij/v) und das andere Mal als „Mutter Teutschland“ (SW 2, S. 2). (Übrigens könnte das Wort „Ziel-Seule“ auch ein Druckfehler für „Sieges-Seule“ sein.) 81 „Zuschrifft“, S. ):(i/v. 82 Ebd., S. ):(iij/v u. folg.

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2.2 In der Schrift „Sieges-Seule“

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In der „Vorrede an den Edlen Leser“ äußert die Autorin zunächst wieder ihr uns bekanntes Lebensprogramm: Diese „Schrifft […] ist eben zu dem Ende angefangen und vollendet worden, nämlich der Ehre Jesu: zu welchem Ziel ich alle meine Sinnen und Beginnen richte.“83 Doch unmittelbar wird die Autorin genauer oder realistischer – vollzieht sie eine Wendung zur realen Gegenwart – und fährt sie fort: „Was kan mehrers zu seiner Ehre dienen, als wann seine Verwandten und Freunden, die Christen, wider den Erb= und Erz-Feind seines Namens, den Türken, geschützet, und er gestürzet wurde? Was ist aber zu solchem beförderlicher, als die Buße, die ich hierinnen“ [= in dieser Schrift] „durchgehend beschreibe und treibe?“ So lasse „dir“ [= edler Leser] „meine Ziel-Seule die Ehre Gottes […] oder die Deoglori und deren Grundfeste die Buße, auch ihre Kron den Triumfirenden Glauben gefallen“.84 – Die „Ehre Gottes“ oder „die Deoglori“ wird ausgebreitet – ganz realistisch ist das vorgestellt – im zeitgenössischen Deutschen Reich, wenn sie die Buße zur Grundlage („Grundfeste“) hat; und sie wird erreicht, sie erhält „ihre Kron“, im „Triumfirenden Glauben“.85 – Die Buße ist ja nach lutherischer Lehre inhaltlich gleich der Bekehrung. Überliefert das Neue Testament als erste „Predigt“ Jesu den Aufruf „Tut Buße“ (Mk. 1,15), so gibt von Greiffenberg das wieder und sagt sie von Jesu „erste[m] Predigtwort“: „das war ja, vom Bekehren“.86 Dem entsprechend nennt sie als „Ziel und Haubt-Zweck“ ihrer Schrift dies: zu erreichen, daß „die Christenheit“ ,mache‘, „durch wahrhafftige Bußwirkung und eifriges Gebet, dem Höchsten in das Schwerd“ zu „fallen“, damit er „diese sonst unvermeidliche Erz-gefahr des Türken-anzugs“ [= des Türken Einfalls] ,abwende‘; ja daß sie darüber hinaus „Hülffe und Sieg vom Himmel“ ,erbitte‘, „um“ des „Türken […] Reich einzunehmen, und Christi Ehre und Lehre in selbige Länder einzupflanzen“. – „So ist demnach der Inhalt“ [ihrer Schrift] „nichts als eine durchgehende Vermahnung zur Buß, und Reitzung zum starken all-überwindenden Glauben“. In ihr „wird erwiesen, wie alle Macht, ohne Buß, vergeblich sey“, weil „die Sünde“ sich gegen „alle“ unsere „Wehr, Waffen und Sachen“ kehre.87 Somit dürfte der Gedankengang der Schrift „Sieges-Seule“ klar sein: Die Ausbreitung der „Deoglori“, der Ehre Gottes, im kaiserlichen Deutschen Reich zu erreichen, hat zu ihrer „Grundfeste die Buße“.88 Tun die Herrschenden und das Volk Buße, kehren sie sich ab von der Sünde und um zu Gott, so ist die Ehre Gottes, die „Deoglori“, in der Christenheit oder im Deutschen Reich ausgebreitet, realisiert. – Aber die tätige Buße bewirkt nach von Greiffenberg noch

83 „Vorrede“, S. ):(vij/v. 84 Ebd., S. ):(vij/v u. folg. 85 Die „Kron“, den „Triumfirenden Glauben“, zu beschreiben, überläßt von Greiffenberg der beigegebenen Schrift des „Herrn von Bartas“ (s. o. Anm. 73). 86 SW 2, S. 28. 87 „Entwurff“, S. ):(x u. folg. 88 So oben Text bei Anm. 85.

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs

Entscheidendes mehr, nämlich „die Himmels-Versühnung“.89 Und ist Gott durch die Buße mit uns ausgesöhnt, so ,bringt sie‘ nach der Autorin ,mit sich‘„alle Glück= und Waffengedeyhen“,90 also den Sieg über die Türken. Und das erst, der Sieg über die Türken, wäre die große Realisation der „Deoglori“.91 Doch eben für diesen Sieg ist die Buße Voraussetzung: „Wer siegen will, muß liegen zuvor im Buße-Staub.“92 Doch zum Sieg im jederzeit notwendig werdenden Krieg gegen die Türken bedarf es einer weiteren Vorkehrung: der „Vereinigung der Christenheit“. Die nämlich ist „das Anständigste“ [= schicklichste, sachlich gebotene], „ja einige“ [= einzige] „Mittel […] zu Besiegung des Erbfeindes, auch Ausbreit= und Fortpflanzung der Ehre und Lehre Christi“.93 Dies nun, die „Vereinigung der Christenheit“, ist „insonderheit“ die Aufgabe „Ihr[o] Majest[ät]“, d. i. des Kaisers Leopold I. Ihrer Majestät wird so „gezeiget […], die gröste Thaten und Welt-Ruhm-werke zu begehen, so jemals geschehen sind: Als nemlich, mit Gottes Hülffe, ernstlich zu trachten, wie die Christenheit möge vereinigt“ werden; „ferner dieselbe einhellig zur Hülff und Streit wider den Türken aufzumahnen.“94 von Greiffenberg weiß genau, daß das, was sie mit dieser Buß- (oder Bekehrungs-)Aktion betreiben will, daß das nach aller Realitätskenntnis das schier Unmögliche und völlig Unwahrscheinliche ist: „Dünket dich aber“ dieses Vorhaben und Ziel „zugrossprechend und ungläublich: so wisse, daß man Gottes Güte nie groß genug aussprechen kan. Glaube! so wird dir nichts unmüglich scheinen: der Glaube verschlingt alle Unmöglichkeit, auch endlich sich selber, indem er in sein Gegen-spiel, nemlich das Wesen, verwandelt

89 „Entwurff“, S. ):(x/v. Die „Versühnung“ oder „Versöhung“ Gottes mit sich selbst besagt nach lutherischer Lehre, daß Gott von seiner Strafgerechtigkeit abläßt. So z. B. SW 2, S. 10: „Wann man […] steif streitet in der Buß, wird Gott der Straffen müd, und schont.“ 90 „Entwurff“, ebd. 91 Dann wäre realisiert: „Alle Lande sind seiner [sc. Gottes] Ehre voll!“ (Jes. 6, 3) Siehe dazu hier den ersten Teil des Textes bei Anm. 87. 92 SW 2, S. 5. Auf das lutherische Lehrstück, wonach das Erleiden eines Krieges Strafe Gottes für die Sünde ist, geht die Autorin in ihrem Zusammenhang nur ganz beiläufig ein (z. B. unten S. 28 bei Anm. 102) – Wie weit verbreitet diese Lehre war, dazu siehe summarisch: Christina M. Pumplun, Die Sieges-Seule der Catharina Regina von Greiffenberg. Ein poetisch-politisches Denkmal für Gott und Vaterland; in: Literatur und politische Aktualität, hrsgb. von Elrud Ibsch u. Ferdinand van Ingen (Amsterdamer Beiträge zur Neueren Germanistik Bd. 36), Amsterdam 1993, S. 347 – 360; zur Sache bes. S. 351 Anm. 18. 93 „Entwurff“, S. ):(xj/v. Zur Formulierung siehe oben den Text bei Anm. 87, 1. Hälfte. 94 Ebd. – Auf dies Ziel von Greiffenbergs wird unten bei dem ausgeführten Text der Schrift (also S. 32 f) noch genauer einzugehen sein. – Notiert sei auch, daß die Autorin selbst in der „Zuschrifft“ erwähnt, sie habe früher schon dem „Erzhaus“ eine „Adler-Grotta oder Oesterreichischen Ehren-Tempel in der Stille aufgebauet“ (S. ):(iiij/v u. folg.). Was es mit dieser „AdlerGrotta“ auf sich hat, läßt sich aus den Anführungen im „Briefwechsel“ ersehen: BW, S. 234, Z. 45; 240, 26; 243, 21; 244, 10; 245, 3;246, 25 u. 29; 255, 84; 265, 40.

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2.2 In der Schrift „Sieges-Seule“

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wird.“95 Die genannte Aktion ,hält‘„zwar die Welt, aber nicht der Glaube vor“ [= für] „unmöglich“.96 Für den Fall jedoch, daß der Erfolg, die Buße des ,Vaterlandes‘ und der Sieg über die Türken, ausbleibt, hat von Greiffenberg vorweg schon in ihrem Gottesglauben eine Lösung, so daß die erlittene Enttäuschung nicht ,durchschlägt‘, sie nicht in Ratlosigkeit stürzen kann. Die reale Niederlage, das bestimmt Gewollte und Erbetene nicht erhalten zu haben, ficht ihren Gottesglauben nicht an – ja ist in ihm gleichsam vorgesehen. Nach der Autorin ist die Aktion zur Buße nämlich nie vergeblich, auch wenn sie nicht zu einem sichtbaren Erfolg führt: Die „Buße“ ist uns „gleich nötig und nützlich zum Sterben, als zum Siegen“. […] Wir „müssen […] uns so begierig, nach Gottes Willen zu leiden, als zu siegen, erzeigen.“ „Gottes Willen“ müssen wir uns bei jedem Zustand „gänzlich ergeben“.97 Wenden wir uns nun, nach den Einleitungsstücken, in der hier gebotenen Kürze, dem ausgeführten Text der Schrift „Sieges-Seule“ zu. Innerhalb des durchgehenden Gedichtes läßt sich eine Gliederung in drei Teile erkennen. Seite 68 stellt die Verfasserin fest: „Nachdem ich nun gelegt des Sieges Grundfeststein, […] so schreit ich weiter fort, zur rechten Handlungssache.“ Was wir im Blick auf den Glauben erkannt haben, „das“ ,laßt‘ uns „sichtbar […] zu betrachten gehn, die scheinbar Türken-macht. Es soll von ihren Kriegen, die man in Büchern liest, mein Kiel“ [= Schreibstift] „hier was anfügen.“ Und rückblickend schreibt sie Seite 153: „Diß ist nun die Geschicht.“ Der erste Teil handelt also von der „Grundfeste“ der „Ehre Gottes oder“ der „Deoglori“, mithin von der Buße als Voraussetzung des Sieges über die Türken.98 Die Dringlichkeit der Buße – als Ablassen von der Sünde und damit als Bekehrung zu Gott – wird gleich eingangs mit den ersten Sätzen hervorgehoben: „Jezt stehet auf der Wage das Weltlich Christen-Heil“, „der teure[..] Freyheit-schatz und edle[..] Christen-Nam.“ – „Es hat, die höchst-gefahr, kein grössern Feind auf Erden“.99 Doch, „wann GOtt mit Buß gebunden, so ist die Allmacht selbst verpflicht und überwunden, auf unsrem Theil zu seyn. Der selbste Sieges-Geist“ [= der Geist des Sieges selbst] „durch Herzbekehrung, her in unsre Waffen fleust! und Siegbeseelet sie! Buß, ziehet Engel-schaaren in 95 „Zuschrifft“, S. ):(v u. folg. 96 „Entwurff“, S. ):(x. Sinngemäß ist das bereits in den „Geistliche[n] Sonnette[n] und Lieder[n]“ ganz generell gesagt: „Wann deine“ [sc. Gottes] „Gnaden=Hand mich führt, mein Geist dein Geist=Bestrahlung spürt, dein’ Allmacht mir beyspringet: so ist mir nichts unmüglich hoch.“ (SW 1, S. 337) Und später in den „Passion-Betrachtungen“ vergewissert sich von Greiffenberg dessen, daß man „die Deoglori […] erlangen“ kann und zu erlangen suchen darf, mittels des Spruches Christi, wonach die, die „glauben“, „GOttes Herrlichkeit sehen“ sollen (SW 9, S. 271). 97 „Entwurff“, S. ):(xij. – Was es mit dieser „Ergebung“ in Gottes Willen (s. S. 30 bei Anm. 118 f) auf sich hat, soll unten (S. 39 – 42) bedacht werden. 98 Die Formulierung ist angeführt bei Anm. 84; sie ist ergänzt mit dem Text bei Anm. 91. 99 SW 2, S. 1. (Alle folgenden Seitenzahlen beziehen sich direkt auf diesen Band der Sämlichen Werke.) Die Wahrnehmung der höchsten Gefahr eines Türkeneinfalls ist in der damaligen Situation zweifellos realistisch: Die Türken hatten bereits halb Ungarn eingenommen.

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs

unser Christen heer. Die Himmelskräft sich paaren mit unsrer MenschenStärk.“100 „Das Gott-vereinen bringet das Sieghaft-seyn mit sich.“101 Der Mittelteil (S. 68 bis 153) bringt eine Chronik der Kriege von Mohammeds Anfängen an, besonders der Kriege mit der Türkenmacht, bis zum Beginn des 30jährigen Krieges. Es folgt eine Art Resümee aus dieser „Geschicht“ (S. 153 – 157): Die Siege der Feinde sind die Wirkung der „Rute der ergrimmten Gottes-Hand“. Und „die muß jezt seyn durch Buß und Glauben abgewandt.“102 ,Gott kann das Türkenreich mit einem Hauch umstoßen‘. „Diß kann GOtt nicht allein, er will und wird es auch, wann wir bußfärtig seyn, in Werk und Warheit thun.“103 Doch, „alle[..] Sieg[e]“ sind „Himmels-wunder“ der „Allmacht-Hand“, die „unsren“ so nahe drohenden „Untergang verhütet“ und die „wirkt“, daß Gottes „Gnade uns“ ,einfaßt‘, uns umfängt und „verwahrt“ und zu ihrem „Pfand und Siegel, den Frieden“ uns „beschert“.104 Der dritte Teil (S. 157 – 250) bezieht sich ganz auf die Gegenwart der Autorin. Sie berichtet zunächst (S. 157 – 161) vom Westfälischen Frieden (1648) und über die Kriege innerhalb der Christenheit danach, also in ihrer Gegenwart – wo doch „der Christen Unfried selbst“ es gerade ist, „der unsre Macht“ ,mindert‘.105 Es folgt ein Aufruf zuerst an den Kaiser Leopold (S. 161 – 181) und sodann an die ganze Christenheit, zum Krieg gegen die Türken und zum Sieg über sie geschlossen aufzubrechen (S. 182 – 239). Zum Abschluß (S. 239 – 250) gibt die Autorin Rechenschaft über die Gründe, als Frau ein solches Buch zu verfassen.106 Diese Bekundung geht über in einen Dank an Gott für die Eingebungen bei der Abfassung dieses Buches. Dieser dritte Teil sei noch eingehender dargelegt. Zuerst sei die Kriegsbegeisterung von Greiffenbergs näher ausgeführt. Mit großem rhetorischen Aufwand, also andringend und wohl geordnet, wortreich und in vielen Sprachbildern, aber auch mit vielen theologischen Argumenten sucht sie zum Krieg gegen die Türken zu begeistern, genauer zum Beginnen eines solchen Krieges zu begeistern. Und sie verspricht dem Christenheer den Sieg, wenn es Gott vertraut, an den von Gott gegebenen Sieg glaubt und so zu Gottes Ehre kämpft: kämpft und siegt. – So wird die Christenheit aufgefordert: „O Christen-volk! erwache“: „Nicht nur das Teutsche Reich, es trette nun zusammen, was Christlich heist und ist, […] und helfft dem Adler-Haus“ 100 S. 7 f. 101 S. 9. Und an späterer Stelle ist gesagt: Gegen „GOtt“ und die „Einigkeit“ der Christenheit „kan niemand siegen an.“ (S. 103) 102 S. 153. 103 S. 155 f. Siehe auch S. 168: „Der Sieg ist eine Frucht des Himmels, die man nur mit Buß und Beten sucht, mit Glauben zeitig macht“ [= in die Zeit, in die Gegenwart, einführt] „mit Herz und Muht ergreifet“. 104 S. 157. 105 Der Zusatz steht S. 152. 106 Eine Rechtfertigung dafür, daß sie als Frau es unternommen hat, eine solche Schrift wie die vorliegende zu verfassen, findet sich gleich eingangs der „Sieges-Seule“ (S. 2) und in deren Mitte (S. 161) wie gegen Schluß (S. 225). Vgl. auch S. 197 f.

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2.2 In der Schrift „Sieges-Seule“

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[= dem Kaiserhaus] „in dieser Gottes-Sach und Christ-geziemten Rache der Gottes-lästerung!“ Es „sey der Eintracht Grund, daß sie all’ in der Tauff ’ eingegangen einen Bund, zu dienen einem GOtt, und sämtlich abgesaget dem Teuffel, und was sich durch sein Eingeben waget, zu streiten wider GOtt. Wer streit mehr gegen ihm, als eben er, der Türk, mit rechtem Höllen-Grim?“ Somit ist „ja klar, daß je der Türken-Kriege gar nicht in freyer Wahl und eignem Willen liege. Bey Seeligkeit Verlust, die ganze Christen-Welt ist, daß sie, wie ein Mann, sich vor die Ritze107 stellt, mit Eides-Pflicht verpflicht. Wolan, in Gottes Namen!“108 „Auf! auf! […] greifft an! Gott, der Höchst ist […] geneiget, daß euch, wann ihr sie sucht, werd Gnad und Hülff ’ erzeiget, zu tilgen, wer sein’ Ehr’ und Lehre tilgen will.“109 Ausdrücklich hebt die Verfasserin den militärischen Vorteil hervor, den Krieg zu beginnen: „Geht all’ einhällig los, zugleich auf allen Seiten. […] Vor alles rennt ihm den AnfangsVortheil ab: daß vor beschützen er [sc. der Feind] nicht Zeit zum Angriff hab.“ Und so verspricht sie den nicht ausbleibenden Erfolg: „So groß der Glaub, so groß ist auch die Sicherheit“ des Sieges. „Wer kräfftig glauben kan, dem ist der Himmel selbst und alles unterthan.“110 „Dich, sein erwähltes Volk“ wird Gott „doch sieghaft lassen seyn, wann wird auf ihn gestellt die Sieges-Zuversicht.“111 „Zwar Welt-verlachbar scheint mein“ Sieg-„Versprechen“; doch was als „Folgerung aus Gottes Wort herfließ[t]“, das „muß herrlich werden wahr“.112 So gibt von Greiffenberg auch hier ihrer Überzeugung Ausdruck, daß das, wozu sie auffordert und was sie dem Gottesglauben als Sieg verspricht, für die Welt ,lachhaft‘ ist; welthaft, von den bestehenden Zuständen her, unmöglich erscheint – im Glauben aber „alles möglich“ ist.113 Und wieder hören wir, wie in ihrem Gottesglauben vorgesorgt ist, sollte doch ein Mißerfolg, eine Niederlage, eintreten:114 Wenn „wir, nach Gottes Raht, vor“ [= statt] „Siegen, unterliegen […] so bleibet doch die Reu ein’ unbereute Sach“ – und es bleibt der „Helden Tod.“115 „Geht’s auf das üblest’ aus, daß man müst’ […] im Knechtsschaft-Pful verderben,“ so gilt doch: „Das Freyste bleibet frey, der Wille, GOtt zu dienen.“116 „Versagte GOtt uns die Erde,

„Ritze“ = Schießscharte. S. 181. S. 182. S. 183. S. 184. S. 212 u. 213. Vgl. auch: „Bei Buß und Glauben“ kann „die Hülff nicht ausen bleiben […]. So edlen Schluß und Glauben die blinde Welt-vernunft uns jetzund gar will rauben, die nur auf sichtbars siht, und gar für nichtes hält die über-grosse Kraft dem Glauben zugestellt.“ (S. 156) Und: „Gelehrt ist uns zu glauben, daß dadurch“ [= durch den Glauben] „uns alles müglich sey“ (S. 195). 114 Angesprochen ist das bereits oben S. 27 im Text von Anm. 97. 115 S. 227 u. 228. 116 S. 230.

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs

gibt er doch den hohen Himmel-Thron.“117 Muß man sich „alles Glücks begeben,“ Gott ist die ,Vollkommenheit‘: „Ergebung zu ihm führet.“118 „Ergebt euch ihm so gar,“ [= so gänzlich] „daß auch kein Stäublein nicht“ [= gar nichts] „vom Willen überbleibt, das nicht in ihn“ [= auf ihn] „gericht[…]; seit, ist es Gottes Will, zufrieden […], Verlust und Siegen sey euch sonder Unterschied.“119 Uns heute dünkt solche Kriegs- und Siegesbegeisterung peinlich, sie ist uns sehr fremd geworden. Doch sie ist die Konsequenz einer auf realistischen Erweis ausgerichteten Vorstellung von der Weltregierung Gottes, wie sie beispielsweise in verschiedenen Psalmen des Alten Testaments ausgesprochen ist. von Greiffenberg beruft sich auf die „Litaney“, wie „man bittet“ zu Nürnberg und „aller Erden“.120 In der Litanei der im Luthertum weithin gebräuchlichen „Herzog Heinrich Agende“ lauten einige Bitten so: „Unserm Kayser steten Sieg wieder seine Feinde gönnen. Allen Königen und Fürsten Fried und Eintracht geben. Erhör uns lieber HErre GOtt.“ – „Und uns für“ [= vor] „den Türcken und Pabst grausamen Mord und Lästerung Wüten und Toben väterlich behüten. Erhör uns lieber HErre Gott.“121 von Greiffenberg nimmt diese Bitten realistisch: „Jezt sagt, um Gottes willen: warum, wann ihr nicht glaubt, daß GOtt sein Wort erfüllen im Werk und Wesen werd, warum ihr dann so bett[et]. Wenn ihr es aber glaubt, so merkt, wann also hätt der Kayser stäten Sieg, ob er nicht endlich […] notwendig alles“ erhalten „würd, durch unaufhörliches Siegen, was ich hievor“ [= davon] „beschrieb?“122 „Hört ferner nun: Dient dann“ [= denn] „nicht dieses GOtt zu Ehren? was kan sein’ Ehre mehr, als solch ein Siegen, mehren?“123 Also rührt „aus Gottes Wort, […] was ich gesezt“ [= geschrieben habe], und „muß“ es „herrlich werden wahr“.124 Mithin ist ihr „Siege“-Versprechen „mit höchsten Grund ,begründet‘. Die Erhörung […] auf öffentlichs Gebet der völligen Gemein [= Gemeinde] kann doch nicht unmüglich sein“.125 Wie man sieht, ist das Buch „Sieges-Seule“, insgesamt gesehen, ein Aufruf zum Krieg gegen die Türken, für dessen Sieg die Buße Voraussetzung, ,Grundfeste‘ ist. – Jedoch, von Greiffenberg kennt an einer Stelle eine Überzeugung, die höher ist als aller Sieg im Kampf gegen die Türken: Sie kennt den „heilig-edle[n] Wunsch“ nach geistiger Umwandlung oder Bekehrung der 117 118 119 120 121

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S. 229. S. 233. S. 234. S. 213. Kirchenordung zum anfang, für die pfarherrn in Herzog Heinrichs zu Sachsen fürstenthum (1539) – in der Ausgabe: Leipzig 1745, S. 89 u. 90. Luthers Lied „Erhalt uns, Herr, bei deinem Wort“ (EKG 142) lautete in der 2. Zeile ursprünglich „und steure des Papst und Türken Mord“. S. 214. S. 215. S. 213. S. 215.

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2.2 In der Schrift „Sieges-Seule“

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Feinde. Sie weiß: „Es ist ein Gottes-Trieb, vor“ [= statt] „Böses gönnen Guts, ersetzen Haß mit Lieb.“ Aus ihr selbst, schreibt sie, hätte sie „nimmermehr das Herz, zu wollen denen wol, die mir viel tausend Schmerz sind anzuthun gesinnt. Nach Christus Lieb-befehl“ aber kennt sie eine „heilig-heisse Lust und“ ein „Herz-verlangen […] nach derer Seelen-heil, die unser Seel-verderben mit Macht […] suchen zu erwerben.“ Und so bittet sie Gott, den „aller Geister Meister“, auch diejenigen zu ,begeistern‘, „die wissen nichts von dir. Mach deine Krafft bekandt den Unbekandten auch“. Es ist „ein Gottes-Trieb“, so gib der Bitte, dem „Verlangen“, „Erhörung“. „Sag Fiat, wie begehrt!“126 Als letztes Thema in dieser Schrift legt von Greiffenberg in einer Art Rechenschaftslegung die Gründe dar, die ihr erlauben, ja geradezu von ihr fordern, auch und gerade als Frau diese Schrift öffentlich vorzulegen. „Wer“ sich „nicht […] durch Verlachung“ ,abwenden‘ „lässt, und glaubt mir armen Magd: dem zeige“, du Gott, „was sie schreibt“. „Laß meine Jungfrau-Wort durch deine Gnade seyn, ein Werk-Erreichungs-Port.“127 „Wer deiner Gnaden Perl in meiner Wörter Pfützen zu suchen nicht veracht, den laß, […] sie finden Werkerfüllt“ [= finden, daß sie von Wirklichkeit erfüllt sind, also wirklich wahr sind].128 „Zwar ist es nicht gemein“ [= üblich], „daß Weibes-Bilder schreiben: Doch, wann der Höchste selbst die Feder kommt zu treiben“ [= selbst die Quelle der Inspiration ist], „wer kan sie“ [sc. die Feder] „halten still? wann er mit Einfluß nezt, wer ist, der seinem Trieb sich gerne widersezt […]? GOtt zu gehorchen fliehen, pflegt Straffe, Reu und Schand, gefährlich her“ [= an sich heran] „zu ziehen.“129 „So wenig diß Gedicht“ [= diese Schrift] „ich auch aus eignen Sinn und können hab verricht: GOtt trieb’ und schrieb durch mich.“ „Mein (zwar geringes) wissen, beginnt aus Gottes Trieb und Einfluß herzufliessen. Gefällt es [sc. dies Gedicht] jemand wol, so weiß er nun den Brunn [en]“ und „dem sag er Ehr und Ruhm“.130 Wenn ihr „wollet, daß der Höchst sein Lob zuricht […] aus Unmündiger Mund: warum nicht auch von mir? die ich doch wenigst fühl die herzliche Begier, zu preisen seine Güt. Sie […] zu zeigen aller Welt, zielt alles mein bemühen: das ist allein mein Zweck, mein Mark und inners Ziel; zu diesem dicht’ und richt ich meiner Sinnen Spiel.“131 „Dir, dir, dir, dir allein, zu deinen höchsten Ehren, verricht’ und dicht’ ich diß. Gib, daß es dir belieb, durch eben diese Gnad, krafft welcher ich es schrieb“.132 Die Autorin versteht ihre Schrift als herrührend nicht aus sich und eigenem Sinn, sondern aus Gott und aus Gottes Antrieb: Er, Gott ist ihrer Schrift Grund und Brunnen. So hält von Greiffenberg ihre Schrift für inspiriert, wie nach kirchlicher Lehre die „Heilige Schrift Alten und Neuen Testaments“: Sie, die 126 127 128 129 130 131 132

S. 220. S. 240. S. 239. S. 240. S. 241. S. 242. S. 243.

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs

Verfasserin, ist nur die „Feder“ für das, was auf sie zukommt, was in sie ,einfließt‘. Aber dies hohe Selbstbewußtsein ist für sie gerade der Beweggrund, von sich weg auf Gott zu verweisen und ihr Werk zu deuten als Gehorsamstat gegen Gott und als ihr aus Gnade zugekommen. Die angeführte Erklärung, die sie für den Grund zu dieser Schrift gibt, geht über in den Dank an Gott für die Eingebungen bei deren Abfassung: „Nun fall’ ich auf die Knie, dir meinem GOtt zu bringen den inniglichsten Dank, daß du mich“ dies Gedicht „zu singen, mit deines Geistes Krafft gewürdigt, und erkiest“ [= erwählt] „zum Kohr“ [= Chor] „daraus dein Güt in alle Welt ausfliest“.133 Dank sei dir, „daß du mich arme Magd, wie jene fromme Frauen“ [am Ostermorgen] „zu erst dein Sieg-gepräng“ [= Gepränge, die Pracht deines Sieges] „im Herzen ließest schauen, und mich, wie jene, machst zur Freudankünderinn; daß du, was ich hier schrieb, mir mahltest“ [= maltest] „in den Sinn“.134 Gegen Schluß der Schrift steht: „Du ungeendter GOTT […] woll mir zum Ende senden“ dein’ „ungeendte Hülff: daß die Unendlichkeit der Gottes-Ehre werd unendlich ausgebreit, zu welchem Ende nur ich dieses“ [sc. diese Schrift] „angefangen.“135 Im Zusammenhang des Appells zum Aufbruch in den Krieg gegen die Türken und zum Sieg ist der erste Adressat von Greiffenbergs der Kaiser Leopold. Ihn fordert sie auf, eine Vorbedingung für das Siegen herzustellen oder zu erreichen: nämlich die Einigkeit oder „Eintracht“ der Christenheit. Zu Beginn der entsprechenden Passage136 lobt sie die „Lieb[e]“ Leopolds zu seinem Land, in der er die „Landes-Wolfart“ vorzieht allem „Ruhm“ und aller „lüfftig[en]“, also vergänglichen „Ehr“ und in der er dem Land „Fried[en]“ bereitet, auch durch Konzessionen an die Türken.137 Doch jetzt, da der Erbfeind ansetzt, „uns zu verschlingen“, ist es höchste Zeit, „getrost ihm unter augen“ zu „gehn“. „Getrost: Weil Gottes Ehr- und Lehr-erhaltung ist das innerst-gute Ziel, warum wir uns gerüst“ [= gerüstet haben].138 „Ursach[e]“ ist genug, „daß ein jeder kan angehen grosmütig diesen Krieg: weil er darauf siht stehen, was uns das köstlichst im Himmel und auf Erd, daß Christi Ehr’ und Lehr uns nicht genommen werd.“139 „War je ein Krieg auf Erden mit Herzheit“, mit ganzem Herzen und ganzem Einsatz, „anzugehen, so soll es dieser werden.

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S. 244. S. 245 f. S. 249; vgl. S. 248. S. 161 – 181. S. 161 f. – Es ist das die einzige Stelle in ihrem gesamten Werk, einschließlich des edierten „Briefwechsels“, in der der Kaiser mit Namen angesprochen wird. Die Stelle lautet: „Wer kan nun anders“ [= anderes] „sagen? so eine Länder-Lieb hat Leopold getragen, zu lieben solchen Fried“ (S. 162). 138 S. 163. 139 S. 164.

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2.2 In der Schrift „Sieges-Seule“

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GOtt, Recht und Billigkeit, auf unsrer Seite seyn. So stürmet nun mit Hitz einmütig auf sie ein.“140 Sodann spricht von Greiffenberg den Kaiser selbst eindringlich an: „Ach, Adler! darff ichs wagen? darff ich ein Ferne-Glas zu deinem Auge tragen, die Glück-Erfolgungen von weiten zeigen an […]. Die Herz- und Tugend-Schuld beweget dich, zu schirmen das GOtt-vertraute Reich. Durch Schirmen dir zu stürmen […] gebührt.“141 Denn: „Das Christen-Glück steht jezt, auf ihrer Eintracht-Ruh. Um Gottes willen! lasst die Eintracht euch belieben. Ach, wär sie euch ins Herz, als Mittel-Tupf“ [= Mittelpunkt], „geschrieben! daß jeder Strahl zurück in Adler-Löwen“ [= in den Kaiser] „gieng! daß aller Herzen Lieb an seinem Herzen hieng, im ganzen Christen-Reich!“142 „Seit einig, in dem Sinn euch alle zu erhalten. Seit einig, alle Macht des Feindes zu zerspalten. Seit einig auch in dem, daß einig und allein dem einighohen GOtt all’ Ehr und Ruhm soll sein. Zu wünschen wär es auch“ der ganzen „Christen-Schaar, daß sie, wie einen GOtt, so einen Glauben hätten“. Jedoch, so ist es nicht: „Im Haubt-werk ist man eins: allein“ in den ,Neben-Kreisen‘ gibt es Unterschiede.143 Wie aber trägt man den Streit um diese Lehr- und Glaubens-Unterschiede aus? „Es ist, wann mans betracht, ein Liebe-volles Streiten, da jeder Himmel-an den andern sucht zu leiten. Der Miß-verstand“ nur „es […] siht für Verfolgung an; da man es doch mit Grund Erz-liebe“ [= übergroße Liebe] „nennen kan“: „zu aller Cronen Crone“ [= zur HimmelsKrone] „anlocken, ist ein Dienst, so […] zu rühmen würdig ist.“144 „BekehrLust wird allein von Liebe vorgebracht. Sonst ist ja keinen nichts an andrer Sinn gelegen. Es regt die Lieb’ allein, zum Glauben zu bewegen. […] Nun, das thun alle[..] Seiten, die in dem Christentum um wahre Lehre streiten. Ein jeder meint, er habs, und will in“ [= aus] „diesem Grund dem nächsten“ mitteilen „sein Herze, durch dem“ [= den] „Mund, durch Lehrung“ [= Belehrung] „seiner Lehr.“ Doch, wer sieht es nicht, „daß eine Liebes-Speis der ZweytrachtApfel ist?“145 – Ein Wettstreit der Liebe zum Anderen in der Liebe zur Wahrheit sollte der Lehrstreit in der Christenheit sein. Denn daß einer den Anderen von der wahren Glaubenslehre überzeugen will und dazu die eigene als wahr erkannte Glaubenslehre in Anspruch nimmt, ist doch nach von Greiffenberg, genau besehen, eine Liebestat: Einer will das Beste, was er kennt, dem Anderen nicht vorenthalten und folglich mitteilen. Jedoch faktisch ist der Lehrstreit ein Kampf der ,Zwietracht‘, der Selbstdurchsetzung mit allen Mitteln. 140 141 142 143

S. 165 f. S. 170. S. 174 f. Der „Adler“ ist das Wappen des Kaisers. Die „Löwen“ halten es. S. 176. Um vorzugreifen: Das „Haubt-werk“, der „Eintracht Grund“, ist die Taufe (so S. 181), die Unterschiede in den ,Neben-Kreisen‘ sind die Lehr- und damit die Glaubensunterschiede (so S. 177). Der Wunsch, daß die ganze Christenheit einen gemeinsamen Glauben hätte, wird S. 222 wiederholt. 144 S. 176. 145 S. 177.

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs

In dieser widersprüchlichen Lage ist von Greiffenbergs Rat: ,Man muß nur‘, „welches sey der rechte Weg, auch proben: das jedem stehet frey. Wer wolt das Beste nicht das liebste lassen seyn?“146 Also kann man „grossen States-Nutz ohn’ Himmels-Abbruch spüren: Durch die Vergönstigung der Geistes-Freyheit kan ein Herrscher machen ihm“ [= sich] „die Herzen unterthan. Der unterwirfft sich selbst, dem man die Freyheit lässet. […] Man kan gar wol erlauben, daß sich der Schnee- der Sonn, der falsche“ Glauben dem „wahre[n] […] nah“. Doch „gesetzt, die andre Lehr“ wäre „die Sonne am KirchenHimmel“: dann lasse man es im Wettstreit darauf ankommen. Was so zu „gewinnen“ wäre, „wäre, sonder Sünden, de[r] allergrößte[..] Schatz, zwar ungesucht,“ ,gefunden‘. „Ich finde“, es ist für ,alle Seiten‘, für „Staat=Ehr und Seelen-nutz, zur Einigkeit zu schreiten; an der ein starkes Glied die Glauberlaubung wär. […] O Freyheit, göldnes Band der Lieb’ und Einigkeit! durch dich wird Glück gesandt.“147 Jener Wettstreit um die Wahrheit soll mithin frei sein.148 „Vor dem Erb-Erz-Feind“ ist die Christenheit nicht zu „erhalten“, wenn sie „zerspalten in Christen-Brüdern“ ist. „Es sey der Eintracht Grund, daß sie all’ in der Tauff ’ ein[ge]gangen einen Bund, zu dienen einem GOtt, und sämtlich abgesaget dem Teuffel, und was sich durch sein Eingeben waget, zu streiten wider GOtt. Wer streit[et] mehr gegen ihm, als eben er, der Türk, mit rechtem Höllen-Grimm?“ Folglich ist „jeder Türken-Krieg[..] gar nicht“ Sache „freyer Wahl und eigne[n] Willen[s]“, sondern Christenpflicht „bey Seeligkeit Verlust“. – „Drum trettet alle [hin]zu“ – „nicht nur das Teutsche Reich; es trette nun zusammen, was Christlich heist und ist, und helff mit Herz und Hand – helfft dem Adler-Haus in dieser Gottes-Sach und Christ-geziemter Rache der Gottes-lästerung! O Christen-volk! erwache“.149 Blicken wir zurück! Das Ziel der Buße (oder der Bekehrung) – die Aus146 S. 178. 147 S. 179. 148 Übrigens ist mir Vergleichbares zu dem, was die Autorin in diesem Zusammenhang über die konfessionellen Streitigkeiten als Streit um die „wahre Lehre” und über die Notwendigkeit einer eingeräumten Geistes- oder Glaubensfreiheit schreibt, aus der zeitgenössischen theologischen Literatur nicht bekannt. Seit der Reformation haben Dissidenten und separatistische Gruppen „Gewissens-“oder „Glaubensfreiheit“ gefordert mit der Begründung, daß kein Mensch in seinem Gewissen oder in seinem Glauben von Anderen beurteilbar sei. Sie gaben an, bereit zu sein, jede Gewissensund Glaubensüberzeugung zu tolerieren, also in das Belieben des Einzelnen zu stellen. Als dessen Konsequenz forderten sie für sich von der zuständigen Obrigkeit die örtliche Duldung in einer Stadt oder in einem Territorium (siehe dazu z. B. Richard van Dülmen, Schwärmer und Separatisten in Nürnberg [1618 – 1648]. Ein Beitrag zum Problem des ,Weigelianismus‘; in: AKuG 55. Bd., 1973, S. 107 – 137). Auch mit der christokratischen („chiliastischen“) Utopie Johann Permeiers und mit der apokalyptischen Prophetie Ludwig Friedrich Gifftheils haben die angeführten Vorstellungen von Greiffenbergs nichts zu tun. Eine Parallele findet man eher in den späteren, aber grundsätzlichen „Briefe[n] über die Toleranz“ (1685/1689) John Lockes. 149 S. 181.

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2.3 In ihrem „Briefwechsel“ mit Sigmund von Birken

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breitung der „Deoglori“, der Ehre Gottes – ist nun, in der vorliegenden Schrift „Sieges-Seule“, hinsichtlich der Adressaten näher bestimmt. Nun wird die ganze Christenheit zur „Buße“ aufgefordert, um einig, ,einträchtig‘ zum Kampf gegen die Türken aufzubrechen und um so die Ehre Gottes zu verwirklichen. Dies Ziel ist auf den Deutschen Kaiser hin spezialisiert: Er wird dazu aufgerufen, im Bezug auf dieses Ziel besonders tätig zu werden: nämlich sich einzusetzen, um die Einigkeit oder ,Eintracht‘ der Christenheit auf der Basis der allen gemeinsamen Taufe mit ihrer Absage an den Teufel zu erreichen – und sich einzusetzen, um für diese Einigkeit bezüglich der Lehr- und Glaubensunterschiede Glaubens- oder Geistesfreiheit zu realisieren.150 Übrigens ist das das erste und einzige Mal in von Greiffenbergs Veröffentlichungen, daß vom Kaiser in Wien gesondert gehandelt wird. Im Jahre 1674 befördert von Greiffenberg die Schrift „Sieges-Seule“ zum Druck. Damit ist für die Öffentlichkeit deutlich, was sie vom Wiener Kaiser im Blick auf die „Deoglori“, auf die Ausbreitung der Ehre Gottes, erwartet.

2.3. In ihrem „Briefwechsel“ mit Sigmund von Birken Doch aus dem privaten „Briefwechsel“ zwischen Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg wissen wir, daß von Greiffenberg eine Aktion zur „Bekehrung“ des in Wien residierenden Deutschen Kaisers tatsächlich unternommen hat und zu diesem Zweck mehrmals nach Wien gereist ist. Der genannte Briefwechsel ist dokumentiert für die Zeit vom Jahre 1662 oder 1663 bis zum Jahre 1681, dem Todesjahr Sigmund von Birkens. Er war selbstverständlich nicht für die Öffentlichkeit bestimmt.151 Die erste Nachricht über von Greiffenbergs Unternehmen, den Kaiser zu bekehren, findet sich in von Birkens Tagebuch am 11. 10. 1665: „Bey Uranie“ [= Dichtername für von Greiffenberg] „eingesprochen, die mir ihr heiliges Vorhaben de conv[ersione] dom[us] Austr[iacae] entdecket. Frau Poppinn“ [= Freundin von Greiffenbergs] „zugegen.“152 Die erste Erwähnung im ge150 Wie referiert, hat von Greiffenberg Überlegungen zur Einheit der Christenheit im (Liebes-) Wettstreit um die Wahrheit der konfessionellen Lehr- und Glaubensunterschiede vorgetragen und dafür die reichsgültige („kaiserliche“) Einräumung der Glaubens- und Gewissensfreiheit gefordert. Diese Überlegungen samt jener Forderung nehmen sich in der damaligen Zeit einzigartig aus. Jedoch, man wird bedauern, daß sie dies nur formuliert, um eine Voraussetzung für den siegreichen Krieg gegen die Türken zu erreichen: gleichsam nur als einen internen Burgfrieden und nicht als Rechtsregelung an sich zum Zwecke des öffentlichen und kirchlichen Friedens. 151 In einem späten Brief, dem Brief vom 16. 10. 1679, bittet von Greiffenberg Sigmund von Birken sogar darum, ihre ,Briefe‘ als „die Unschuldigsten von der welt zu verbrennen“ (Nr. 173 = BW, S. 345, Z. 24). 152 BW II, S. 428. So auch angeführt in: H. Laufhütte, Emblematische Spiegelung eines DeogloriUnternehmens: Der Plan Catharina Regina von Greiffenbergs, Kaiser Leopold I. zum Protes-

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs

nannten „Briefwechsel“ findet sich in den Briefen Nr. 9 und 10 vom Oktober 1665.153 Nach dem Brief Nr. 10, dem Brief von Greiffenbergs vom 22. 10. 1665, müssen wir annehmen, daß sie tatsächlich eine Konversion des Kaisers zur lutherischen Konfession beabsichtigt hat.154 Von diesem ihrem Vorhaben und von den entsprechenden Aktivitäten ist der gesamte folgende Briefwechsel durchzogen. Durchweg betreibt sie „ihr heiliges Vorhaben“ im Rahmen ihres Lebensprogramms der „Deoglori“. Wenn wir nun fragen, was sie zu dieser Absicht und zur tatsächlich unternommenen Bekehrungsaktion bewogen haben mag, so sind wir auf bloße Vermutungen angewiesen. Der Anlaß dazu läßt sich vielleicht aus folgendem Sachverhalt erklären: In einem Brief vom August 1665 hatte sich von Greiffenberg direkt an den Kaiser in Wien um Rechtsgewährung gewandt. Diese energisch vorgebrachte Bitte hatte folgenden Grund: Über ihren Ehemann war verfügt, daß er sich wegen des Verdachtes unerlaubter Eheschließung in der Nähe des niederösterreichischen, landmarschallischen Gerichtes in Wien aufzuhalten hatte. Mitte Oktober 1665 wagt von Greiffenberg erneut, sich an die Schwiegermutter des Kaisers und an ihn selbst zu wenden und um Aufhebung der Freiheitsbeschränkung und damit zugleich um die österreichische Anerkennung ihrer Ehe zu ersuchen.155 Aufgrund einer markgräflich-bayreuther und einer sächsischen Intervention ist das später, im Januar 1666, auch erfolgt: Ihr Mann und ihre Ehe wurden rehabilitiert.156 Daß von Greiffenbergs erster Brief an den Kaiser vom August 1665 diesen tatsächlich (laut Sichtvermerken) erreicht hat, könnte sie zu jener derart weitreichenden und schwerwiegenden Bekehrungsaktion bewegt haben. Jedenfalls zweifelt sie nicht daran, daß der Erfolg der Rehabilitation durch ihr Bittschreiben zustande kam. Sie schreibt beim Abschluß der Affäre: „Die Bittschrifften belangend muß poetisch zu Reden Eine große Gnaden-Krafft darinnen seyn, weil Sie Seine Fäßel Auf geschlossen, und Seine Gefängnis Eröffnet haben“.157 Den Jubelbrief vom 18./20. Januar 1666 aus Nürnberg, wo sich von Greiffenberg damals aufhielt, an ihren Ehegatten beginnt sie mit großen Lettern:

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tantismus zu bekehren; in: Literatur in Bayern. Hrsgb. v. Institut für Bayerische Literaturgeschichte der Universität München, Nr. 38, Dez. 1994, S. 58 – 63; hier : S. 60 b-Spalte. – Nach dieser Datumsangabe beginnt jenes Unternehmen ungefähr ein Jahr nach Abfassung der „Sieges-Seule“ (dazu siehe oben Anm. 72). So angeführt bei H. Laufhütte, Der Verdacht [wie Anm 3], S. 379 Anm. 16. In diesem Brief Nr. 10 reagiert von Greiffenberg auf den zustimmenden Brief von Birkens (= Nr. 9) vom 21. 10. 1665. Erfreut über dessen Beipflichten, schreibt sie: „Ich habe heüt so viel bestättigungen Meines Heiligen vornehmens gehabt Daß Er sich verwundern wird“ (BW, S. 14, Z. 1). Dargelegt ist das in: BW II, S. 428 u. 433; siehe auch H. Laufhütte, Der Verdacht [wie Anm 3], S. 379. Zur gesamten Angelegenheit siehe ausführlich: H. Cerny, Neues zur Biographie [wie Anm. 2], S. 47 f. Zitiert nach H. Cerny, ebd. Mit ,seinen Fesseln‘ ist natürlich die Aufenthaltsbeschränkung ihres Mannes gemeint.

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2.3 In ihrem „Briefwechsel“ mit Sigmund von Birken

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„Jesus! Deogloria propter Victoria!“158 – Sie versteht mithin den Erfolg ihrer Tätigkeit als Sieg in ihrem Lebensprogramm „Alles zur Ehre Gottes.“ Überblicken wir nun die gesamten Briefe von Greiffenbergs in diesem „Briefwechsel“, so fällt erneut auf, wie generell und prinzipiell sie ihr Lebensprogramm vertritt: „Alles zur Ehre Gottes, alles zur Deoglori“ und zu deren Ausbreitung – aber auch wie unbesehen sie diese Devise abwandeln kann zu einem Merkzeichen für eine bestimmte, in der geschichtlichen Realität zu betreibende Aktion: Es ist diese dann „ihr heiliges Vorhaben“.159 In der Mitte des „Briefwechsels“ findet sich ein Gedicht:160 „An Die Deogloria“. Angesprochen ist sie „als Himmel-Schöne“. Die zweite Strophe lautet: „du Machst Mich die Noth verachten / Aber noch Viel mehr das Glükk! / nach der Süssen Ruhe trachten, / daß Ich Deinen Glanz erblikk’ / machest auch die Unruh lieben, und dein gegen theyl verüben / daß, o Deoglori nur / Ich verbleib’ Auf deiner Spur!“161 – Diese Strophe könnte als Leitmotiv über der gesamten Thematik um die „Deoglori“ in diesem Briefwechsel stehen. Doch halten wir uns fürs erste an den zeitlichen Ablauf. Die erste Reise, eine Reise zusammen mit ihrem Mann, nach Wien in der Absicht, die Bekehrung des Kaisers einzuleiten, fand „in der zweiten Septemberhälte 1666 statt[..]“.162 Vor dieser Reise antwortet von Greiffenberg in einem Brief vom 15. 7. 1666 auf Sigmund von Birkens Bedenken und Warnungen vor solch einer Reise mit dieser Absicht, die für lutherisch Gebliebene in Österreich und auch für von Greiffenberg selbst gefährlich werden und zum Gegenteil des Gewollten führen könnte – waren doch ,ketzerische‘ Umtriebe verboten. von Greiffenberg schreibt, daß sie „Seinen Rath und warnung“ annehme und in „der Mittel Arth“ zu „weichen“ bereit sei, aber „nimmermehr[…] Vom Zwekk“. Denn „die Deoglori“ ,bleibt‘ „meine welt-unüberwindliche“ [= von der Welt nicht zu überwindende] „Seelen Göttin“.163 Deutlicher noch wird sie in einem weiteren Brief vor der Wien-Reise, in einem Brief vom 23. 7. 1666. Die Sache meiner „wiener Reiß belangend,“ so schreibt sie, ,hab ich‘ „der massen in Gott versenket, verschmelzet, und Ergeben, daß Ich Ihne“ [ihn] „damit, ohne Einige“ [= auch nur eine] „Sorg’ oder begier Walten lasse, wie es ihm beliebt.“ ,Ich bin‘ „versichert, daß weil Sie von Gott kommt, Sie zu Meinen Heyl gedeyet, denn Gott nichts Anfangen macht, 158 159 160 161

So bei H. Cerny, A.a.O., S. 48. So im Text bei Anm. 152; s. auch Anm. 154. Als „Beilage zu Brief Nr. 71“, d. i. C.R. von Greiffenbergs Brief vom 26. 6. 1671 (= BW, S. 177). Die „Süsse[..] Ruhe“, in der der „Glanz“ der Deoglori zu ,erblicken‘ ist, ist die „Ruhe“ der himmlischen Seligkeit. In der „Unruh[e]“ des zeitlichen Lebens besteht nur ein Anliegen, ein inniges Interesse: auf der „Spur“ der „Deoglori“ zu bleiben. 162 So nach H. Laufhütte, Der Plan [wie Anm. 152], S. 61. H. Laufhütte hat in diesem Artikel die Wien-Reisen, also die Etappen jener Unternehmung von Greiffenbergs beschrieben. Das muß hier nicht wiederholt werden. – All diese Reisen waren ein Mißerfolg und konnten es, realistisch gesehen, nur sein. 163 Brief Nr. 25 (= BW, S. 29, Z. 8 ff.).

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs

was Er nicht will helffen hinauß Führen, Ich bin ganz passive, lasse den machen, der Alles= und dazu wohl, gemacht, […] das ganze Werk beruht in Gott! wie es Auß Gott ist.“ Für den „Eygentliche[n] Zweck des Heiligen werks“ kann Gott, „(wann Es dieser“ [sc. Anlaß, die Wien-Reise] „nicht sein soll,) 1000 Andere wege schikken, Es hinauß zu führen, Ich weiche vom schein, nicht vom Seyn, vom Schatten, nicht vom wesen, giebe nach, so lang Ich Gott nichts vergiebe“ [= wegnehme]. Nichts ,hindert‘, „daß Gott nicht hin und wieder viele Seelen bekehren kann, der Gott der Mich ungehindert der üblen profetzeyungen zum rechten Glauben gebracht“ hat. Es ist „mehr Allß Ein Bloß menschen verlangen weil […] Es von Gott ist. Die Zeit wird Es geben, wo nicht hie“ [= auf Erden], „Am Jüngsten tag“. Ungewollt „in gefahr gerahten um Gottes Ehr lehr und bekantnus willen, […] scheuh Ich kein Augenblikk“. ,Meine‘„Deoglori […] ist und bleibt Meine geEhrteste Seelen=Göttin“. Und abschließend vergewissert sie sich selbst, indem sie sich selbst zitiert:164 „Deoglori bleibt Mein herz, wann auch Meines längst verloren // Item // Wieder“ [= wider] „welt-voll wiederstand, bleibt Mein herze unverworen etc.“165 Christlich selbstverständlich befiehlt von Greiffenberg ihr gesamtes Vorhaben der Bekehrung des Kaisers, ganz pauschal umfassend, Gott an. Und selbstverständlich beherzigt sie, daß Gott es ist, der Menschen bekehrt, und nicht sie.166 Aber sie ist fest entschlossen, an ihrem Lebensprogramm der Deoglori und deren Ausbreitung und in eins damit an dem Zweck der Bekehrung des Kaisers festzuhalten, komme und geschehe, was mag, was auch immer geschehe. „Deoglori bleibt mein Herz“ – ewig. Damit wird der bestimmte Zweck, das beabsichtigte Ziel dieses ihres Vorhabens, für von Greiffenberg unter der Devise „Deoglori“ zu etwas Prinzipiellem, Unbedingtem, also zu einer Überzeugung ihres Glaubens. Dessen Realisierung jedoch ist nicht garantiert, sondern kann, bedauerlicherweise, auch ausbleiben. Die faktische Realisierung stellt sie Gott anheim. Anders gesagt: Die Möglichkeit, daß der Erfolg sich einstellt, oder den Erfolg an sich, gibt sie nicht auf, ihn will und erstrebt sie weiterhin unbedingt. Nur die „Wege“ oder „Mittel“ zu ihm und vor allem den Zeitpunkt seiner Realisierung überläßt sie Gott: sei es hier auf Erden oder im himmlischen Jenseits, „am jüngsten Tag“. So ,weicht‘ sie „vom schein, nicht vom Seyn“. Nach ihrer, erfolglosen, ersten Wien-Reise gibt sie sich Rechenschaft in dem Brief vom 27. 9. 1666. Sie kommt zum Schluß: „Ich wage der Deoglori zu lieb noch Einen gang! ob ich […] mit Ihr[er] Maystet“ [= dem Kaiser] „meine Liebste“ [= die Deoglori] „zugleich Erlangen könte“.167 Diese Formulierung 164 Siehe oben S. 21 f. bei Anm. 65. 165 Brief Nr. 26 (= BW, S. 29 – 32; S. 30, Z. 23 – 27, 30, 38 – 40, 45 f; S. 31, Z. 58 – 60, 63 f, 86; S. 32, Z. 88 ff.) 166 In dem zitierten Brief eigens dargelegt S. 30, Z. 40 – 43. 167 Brief Nr. 28 (= BW, S. 34, Z. 56 f).

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2.3 In ihrem „Briefwechsel“ mit Sigmund von Birken

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zeigt deutlich, wie problemlos für von Greiffenberg ihr prinzipielles Lebensprogramm „Alles zur Ehre Gottes“ zusammengeht mit ihrem bestimmten Vorhaben der Kaiser-Bekehrung. Nachdem auch die zweite Wien-Reise erfolglos geblieben ist, schreibt sie im Brief vom 25. 2. 1667 – und zeigt so, wie sie die ihr widerfahrene Enttäuschung auffaßt, sozusagen ,verarbeitet‘ –: „Meine Hoffnung Die Himlische Deoglori betreffend hab Ich keines wegs verloren ob Ich Sie schon Abermahl nicht Erfüllet sehe, Ich habe Sie in dem unvergänglichen“ [sc. Gott] „versenket, mit dem Sie gleich-Ewig Bleibet. Sie ist nicht todt! Sondern lebet in dem unsterblichen“ [sc. in Gott]! […] „das weiß Ich, daß kein größeres verlangen Auf Erden kann seyn, Alß Meines um die Deoglorj gewesen! weil Ich Nun Solches mit Gott! (und zwar ohne Schmerzen) überwunden! So ist Nun Auf der ganzen Welt nichts Unüberwindliches mehr Vor“ [= für] „Mich! weil Ich nichts mehr so hoch verlangen kann, dieses ist die Neue Sieges kunst, So im Weichen Besteht, Aber ein Artlich weichen!“ Ich „Fürchte nicht Meiner Deoglori was zu vergeben, wann Ich Sie der Liebes-Allmacht Selber Ergiebe“. Sie wird „(wo nicht Ehe[r]) doch Am Jüngsten tage, mit herrlicher Erklärung des verborgenen Göttlichen Wunder-spiels hervorleuchten, […] kurz: Mein ganzes Beginnen ist: Eine Gott-förchtic Begeb= und Brünstige Bedihnung der Himmlischen Prinzessin Deoglori! da die Begebenheit dem Glauben nichts vergiebet“ [= nichts nimmt] „noch der Glaube der gelassenheit was lässet“ [= wegläßt, mindert], „sonder in juster“ [= ganz] „paralel laufen, Gott gebe daß Es Endlich Heisse, Victoria Deogloria!“168 von Greiffenberg gibt, wie man hört, die Absicht und den Zweck der Bekehrungs-Aktion nicht auf, sieht sie weiterhin unter dem Hauptwort „Deoglori“, und weiterhin ist ihr ganzes Verlangen auf deren Realisierung ausgerichtet. Aber sie stellt nun nicht nur den Zeitpunkt, sondern die Realisierung, den Erfolg zu ihrer Lebenszeit, Gott anheim. Sie behauptet, ihr Verlangen nach Realisierung ihres Vorhabens „um die Deoglori“ sei ,auf Erden‘ das größt denkbare „gewesen“. Aber das habe sie überwunden. Sie räumt nun ein, daß die Realisierung erst „am Jüngsten tag“, am jenseitigen Ende der Zeit, erfolgen könnte. Bis dahin will sie sich Gott ergeben, die „Himmlische[..] Prinzessin Deoglori“ ,bedienen‘ und „Gelassenheit“ üben. So wandelt sich der ,Sieg‘, der real erreichte Erfolg, um zu einem von Gott erbetenen Inhalt ihrer sehnsuchtsvollen Hoffnung: „Gott gebe [endlich] Victoria Deogloria!“ Sie rechnet also damit, daß der Erfolg ihrer Aktion sich nicht zu ihrer Lebenszeit einstellt. – Freilich, ganz oder völlig kann sie einen zeitlichen Erfolg ihrer Aktion doch nicht ausschließen: Vielleicht, d. i. in Klammern, stellt er sich doch noch ,eher‘ als der Jüngste Tag ein. Dieser Sachverhalt sei noch anders beschrieben: Einerseits hält von Greiffenberg an der prinzipiellen Realisierung ihres ,heiligen Vorhabens‘ der 168 Brief Nr. 30 (= BW, S. 38, Z. 40 – 43, 51 – 55, 58 – 61, 63 – 66). (N. B. Ob nicht, statt „Begebung“ und „Begebenheit“, Ergebung und Ergebenheit zu lesen ist?)

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs

Kaiser-Bekehrung zur Ehre Gottes und also an der so verstandenen „Deoglori“ fest – und treffe der Erfolg ihres Unternehmens, die Realisierung auch erst am jenseitigen ,Jüngsten Tag‘ ein. Insofern glaubt sie an die Realisierung ihres Vorhabens, und stellt sie diese – Gott ergeben – Gott anheim. Andererseits jedoch erkennt und anerkennt sie, mehr oder weniger notgedrungen, von dem zuletzt zitierten Brief an,169 daß die Realisierung in der Zeit oder ,auf Erden‘ nicht zu erwarten ist. Und doch flammt diese Erwartung für ihre Lebenszeit immer mal wieder auf. Dieser Zwiespalt bestimmt in ihren weiteren Briefen alle Äußerungen zu dieser Sache. Das sei an einigen Zitaten aus ihren Briefen aufgewiesen. Im Brief vom 28. 8. 1668 schreibt sie: Von „der himmlischen Deoglori“ sind „Meine gedanken“ nicht „zu scheiden […] ob schon die Erlangung die äusserste unmüglichkeit scheinet, was mich noch Tröstet ist die unaußleschliche verlangens-lust, die der Himmel ja nicht ernähren wurde, wann Er Sie nicht Erfüllen wolltte.“170 Und im Brief vom 21. 5. 1669 äußert sie: „mit Meiner Deoglorj sache verhaltt Ich mich“ so: „wann Ich Sie 10 000 Mahl Erbitte so Opfer Ich Sie 20 000 Mahl Gott wieder Auf, […] Ich Bin gewiß der Erhöhrung und lasse Gott waltten, mit der Erfüllung“.171 In dem Brief vom 28. 2. 1670 bekundet sie: Meine „Heyls-gedanken“, die „die letzten im herzen seyn […], sollen wohl auch die Deoglori-wünsch in den himmel begleiten wann Ich Sie Ja Auf Erden nicht vollziehen soll!“172 Im Brief vom 7. 9. 1671 gibt sie zu erkennen: Ich „hab […] zu wien An die Deoglorj gedacht, und dem Adler“ [= dem Kaiser] „die Augen Eröffnung gewünscht! Aber leider! Es bleibt bey dem wünschen und wird kein werden, biß Gott das Fiat spricht, welches Er bald sprechen wolle, oder“ im Himmel, „Welches Ich kekker“ [= zuversichtlicher] „und Eher hoffen darff“.173 Von ihrem ,Wunsch‘, der „Deoglori“, sagt sie in dem Brief vom 25. 2. 1672, den „setz’ Ich in Den willen Jessu!“ und in dessen Belieben. „Beliebte Es dem Himmel, daß Aus Meinen 20igJährigen Vertrauen Ein Schauen, Auß dem bißher nicht sehen Ein sehen Wurde! […] und Mein Verlangen sehe, und das Hoffen Sich in Gedroffen verwandlete,“ ich wäre vergnügt. Aber „Bey mir scheint Es wohl Alß Ob Mein Deoglori-wunsch vor Mir Flohe“ [= fliehe]! „Nun: Gott Alles Ergeben, Auch Seine Eygne Ehrerhebung!“174 Doch wenig später in diesem Brief äußert sie von „Meine[m] Heiligen Vorhaben […]: Es were ja diese Heilige Deoglori-Schikkung“ [= Zuschickung von Gott] „Nie Nöhtiger, und Erwünschter, Alß eben jezt, da Mann das Liecht“ des Evangeliums „in des Römischen Keysers landen ganz Außleschen will, und wann Gott

169 170 171 172 173 174

Siehe oben bei Anm. 167. Brief Nr. 35 (= BW, S. 47, Z. 54 – 57). Brief Nr. 49 (= BW, S. 113, Z. 73 ff.). Brief Nr. 59 (= BW, S. 140, Z. 109 f). Brief Nr. 78 (= BW, S. 190 f, Z. 30 – 33). Brief Nr. 86 (= BW, S. 207, Z. 13 – 17, 23 – 25).

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2.3 In ihrem „Briefwechsel“ mit Sigmund von Birken

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Eine Bekehrung vor hette, Man jezt Eben in der rechten Positur stünde,“ sie zu vollziehen.175 An einigen Stellen ihrer Briefe176 bekundet von Greiffenberg ihre Überzeugung, daß der Mißerfolg ihrer Aktion am Kaiserhof für sie keine Niederlage, kein Scheitern ist, denn auch die Widrigkeiten führen dazu, Gott die Ehre zu geben, ihn walten zu lassen. Auch ist das geglaubte Ziel, die Ehre Gottes durch diese aktiv betriebene Bekehrung auszubreiten, so tief in ihrem Herzen, daß es nach ihrer Überzeugung nur vom Hl. Geist eingegeben sein, und darum niemals von ihr aufgegeben werden kann. Stellt sich nun aber der Erfolg nicht ein, realisiert sich das geglaubte Ziel nicht, so ist für sie auch das Gottes Wille, und also überläßt sie die Realisierung Gott und ,ergibt‘ sich dem Willen Gottes. Im Brief vom 14. 3. 1674 führt von Greiffenberg aus: „Dort hin“ [sc. auf den jenseitigen Himmel] „will ich Meine Deoglori Verwiesen haben Weil Ich hie, förcht Ich, Sie schwerlich Erleben werde. […] doch bleib ich beständig in der Meynung daß Gottes wege je Heimlicher, je Heiliger, und Auch das Böse zum besten gereichen Müsse.“ Obschon sie „Deoglori“ auf den jenseitigen Himmel ,verweist‘, also Gott überantwortet, schreibt sie einige Zeilen später im selben Brief: „Es scheinet zwar Ob seye Alles Verloschen“ [d.h. das Licht des Evangeliums, das Licht der Bekehrung erloschen], „Aber ich will doch noch Ein Mahl an Ihre Majestät Ein Fünklein in dieses Pulfer werffen, ob Ich Es [sc. das Pulver] noch Angehen könte Machen. im übrigen befihl Ich Es Gott, und lasse Ihn Lediglich“ [= allein] walten.“177 Solche Gottergebenheit ist ein gängiges Thema der damaligen lutherischen 175 Ebd. (= BW, S. 208, Z. 42, 44 – 46). Ebenso steht im Brief vom 1. 8. 1672: „Ach! jezt wer Es hohe Zeit, da das licht des Ewangelij in Hungarn Auß gelescht wird, sonderlich in Dieser Kirchen zu Preßburg wo dieses Deoglorj licht Erstlich in Mir vor 21 Jahren Angeglümet und Aufgegangen“ ist (Brief Nr. 91 = BW, S. 215, Z. 46 f). 176 Brief vom 27. 9. 1666, Nr. 28: „auch durch den Schrekken der wiedrigkeit, zum spizen Göttlicher Ehre steigen“ (= BW, S. 33, Z. 10 f); Brief vom 25. 2. 1667, Nr. 30: „hie[r] Erscheinet: daß Gott Alles übel zum Besten“ leitet […]: „Auf den Schmerz-Steinen, Ihm“ [= sich] „Eine Glori= und Triumpf-Porten, Im himmel zu Bauen“ (= BW, S. 37, Z. 20 f); Brief vom 1. 1. 1670, Nr. 57: „im Fall Ich die Deoglori nicht kriegen solle, […] doch wie Gott Will, […] das unglückk ist Mein Glükk, […] so heiss Es halt Fides“ [= Glauben] (= BW, S. 133, Z. 92 f, 95 f). 177 Brief Nr. 107 (= BW, S. 243, Z. 10 f, 19 ff, 23 – 26.) – Zum Gott Anbefehlen oder Gott Übergeben der „Deoglori“ siehe auch: Brief vom 11. 12. 1674: „das Deoglorj-werk hab Ich lediglich“ [= allein] „Gott befohlen. […] Mir geschehe was dem höchsten“ [= Gott] „belieben wird.“ (Brief Nr. 113 = BW, S. 257, Z. 36, 40 f); und Brief vom 2. 1. 1675: „die Deoglori Sache, Die [ist] Auf Gott gesezet“ (Brief NR. 114 = BW, S. 259, Z. 30 f). Etwas vorschnell und allzu einfach sprechen die Kommentatoren des „Briefwechsels“ von „der Art C.R. v. Greiffenberg, das Nichteintreten erwünschter Zustände als sichere Hinweise auf künftige Wunscherfüllung, den Verzicht als verdienstvolle Aufopferung eigenen Wünschens und Strebens zu begreifen“. Und wenig verständnisvoll behaupten sie, das „regelmäßige Scheitern[..] beim Versuch ihrer“ [sc. der „Deoglori“] „Verwirklichung“ sei „gleichfalls gesucht“ und zeige ein „Streben nach siegvergewissernder Versagungserfahrung“ an (BW, II, S. 617 f).

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs

Erbauungsliteratur. Es gibt auch keine Schrift von Greiffenbergs, in der dies Thema nicht eigens zur Sprache käme. Was hier zuletzt über die ,Ergebung‘ angeführt wurde, entspricht den Ausführungen über die gebliebene Bedeutung der Buße – der Reue und des Gott Dienens – beim möglichen Nichteintreffen des Sieges über die Türken in der Schrift „Siegessäule“.178 Der Gottergebung gibt von Greiffenberg bereits in den „Geistliche[n] Sonnette[n], Lieder[n] und Gedichte[n]“ (1662) in dem Gedicht „In äusserster Widerwärtigkeit“ Ausdruck. Es heißt da: „Halt Gottes willen still! bricht schon das Herz vor schmerz, wann nur der Wille ganz, ihm treu zu dienen, bleibt. Streit’, ihm zu Lob, mit dir […]. Denk, löblich ist der Sieg, wann nur mein GOtt geehrt, wann ich schon unter lieg.“179 – Aus heutiger theologischer Sicht wird man nicht umhin kommen zu sagen: Es ist allemal problematisch, sichtbare Beweise, reale Vorkommnisse als Zeugnisse für einen Inhalt des Glaubens zu erwarten – und bei einem Nichteintreffen dazu anzuleiten, sich dem Willen Gottes zu fügen, ihm sich zu ,ergeben‘. Denn inwiefern ist er gut, wenn real Böses oder Übles ist? Anders gesagt: Es ist problematisch, in den geschichtlichen Gegebenheiten den real erfahrbaren Erfolg des Geglaubten – hier der Deogloria – absichtlich zu wollen und zu betreiben. Zurück zur Thematik um die „Deoglori“ in den Briefen von Greiffenbergs an Sigmund von Birken! Spätestens seit dem Jahre 1667180 steht alles, was von Greiffenberg in der Sache „Deoglori“ schreibt, unter ihrer Erkenntnis, daß die Realisierung ihres ,heiligen Vorhabens‘, der Bekehrung des Wiener Hofes, zu ihrer Lebenszeit nicht zu erwarten ist. Das ist so, auch wenn ihre Hoffnung auf zeitliche Realisierung gelegentlich wieder ,aufzuckt‘. Ihre Passions-„Betrachtungen“ habe sie „Einig Allein der Aller Höchsten Deoglori wegen, An das Liecht und in Drukk kommen lasse[n]“.181 Sie verbindet damit den Wunsch, „ob vielleücht der Himmel Dadurch Einigen Anlaß zu Meinem Heiligen großen Ziel schikken möchte“.182 Doch von den „GottErgebenen“ schreibt sie, daß sie „Auch im Nicht haben (der Deoglorj) Alles haben“.183 Aber nach der Aufdeckung eines Aufstandes mit Umtrieben auch am Kaiserhof sieht sie eine neue Chance, „Meinen Heiligen Zwekk zu erreichen“ – den zu erreichen, sie „schier Vor begir“ ,sterbe‘. Und so bittet sie: „wann […] 178 179 180 181

Siehe oben den Text S. 27 bei Anm. 97. SW 1, S. 62. Siehe oben S. 39 bei Anm. 168. So schreibt sie im Brief vom 1. 5. 1672, Nr. 88 (= BW, S. 211, Z. 51 f). Im Brief vom 25. 11. 1672 sagt sie „Dieses werk“, die Passions-Betrachtungen, sei „zu Liebe der Himmlichen Deoglorj verfärttig[t]“ (Brief Nr. 92 = BW, S. 219, Z. 25 f). Das gleiche, was mit dem Stichwort „Deoglori“ gesagt ist, kann sie auch so formulieren: Mit dem Druck der „Passion-Betrachtungen“ wolle sie „die gelegenheit Ergreiffen Meinem Jesum vor Aller welt die Ehre zugeben“ (Brief vom 4. 10. 1672, Nr. 92 = BW, S. 216, Z. 15 f). Auf ihre Schrift „Passion-Betrachtungen“ wird unten eingegangen. 182 So geäußert im Brief vom 1. 8. 1672, Nr. 91 (= BW, S. 215, Z. 19 f). 183 Im Brief vom 13. 7. 1674, Nr. 110 (= BW, S. 246, Z. 9).

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2.4 In den „Passion-Betrachtungen“

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Gott nur Einen kleinen Zug thette, wurde Es Alles geschwind in gang kommen“: würde es „zu diese[m] Sieg“ ihres „Heiligen Zwekk[s] kommen.184 Ein knappes Jahr später äußert sie, im Brief vom 2. 7. 1675, über den „von Mir so hoch verlangt= und von Ihme [sc. von Gott] gewünschten Deoglori-Sieg[..]“: „Aber Es hat gar kein Ansehen“ [= Anschein] „daß der himmel durch Mich Sein großes werk Auf Erden vollziehen wolltte“.185 Auf eine Anfrage Sigm. von Birkens hin teilt sie ihm, in einem Brief vom 20. 11. 1676, von ihrem „geheime[n] Vorhaben“ mit, daß sie eine abschließende Zusammenfassung des „ganze[n] Deoglori-wesen[s]“, also ihrer Wiener Aktion, verfaßt habe: „Es ist Eine Schrifft in welcher das ganze Deoglori-wesen Begrieffen: wie Es soll jener hohen Persohn vorgetragen, verdekt Entdekkt, Sie Unvermerkt zur Erkäntnus geleittet, zum beyfall beweget, und zur öffentlichen bekäntnus gereizet Werden, Auch wie, (vermittelst der Unbegreifflichen Geist-Eingebung,) Alles damit Anzufangen, zu Führen, und Regiren seye, daß Es Ein Zeitlich und Ewig-glükkliches Ende gewinne. dieses hab Ich in 12 bögen Verfasset Michs wan Es Zeit, zu bedihnen, oder wann ich sterbe, Es zur Gedächtnus unter mir zuverlassen“ [= zu hinterlassen]. Und das in der „Hoffnung, Daß es Vielleücht nach Meinem Tode Erst, Sein Leben, und würkung erlangen Möchte! durch Eine, jezt Unerforschliche Schikkung Gottes. sage hiemit, wann Mich der Herr auch Tödten würde, will Ich gleichwohl Auf Ihn hoffen.“ So ist zu ersehen, „daß Meine Deoglorj-Begird unsterblich, und nach Meinem Leben, leben Wird.“186 So also endet ihre „Deoglori“-Aktion zur Bekehrung des in Wien residierenden Kaisers. – Im Brief vom 1. 2. 1679 heißt es nur noch: „dieses Jar läst Sich noch schlecht an. Zur Deoglorj kein Einiges Ansehen“ [= keine einzige Aussicht] „noch müglichkeit wie wohl Ich jmer suche.“187

2.4 In den „Passion-Betrachtungen“ Mitten in die Zeit ihrer Aktion zur Bekehrung des Wiener Kaiserhofs fällt von Greiffenbergs Ausarbeitung und Veröffentlichung ihrer Schrift „Des Allerheiligst= und Allerheilsamsten Leiden und Sterbens Jesu Christi, Zwölf andächtige Betrachtungen“ – oder „Andächtige Passion-Betrachtungen“ (1672). Es ist das, der Drucklegung, nicht der Abfassung nach, die erste von ihr selbst – mit Unterstützung des einflußreichen Nürnberger Schriftstellers und Dichters Sigm. von Birken – herausgegebene Schrift. Sie handelt, wie der Titel 184 So steht das im Brief vom 2. 11. 1674, Nr. 112 (= BW, S. 255, Z. 51 u. 66 f). Sie fügt hinzu: „Ach! daß Meine Sieges Seüle zu diesen Sieg dihnete“ (A.a.O., Z. 68 f). – Ihr Buch „Sieges Seule“ nennt sie im vorausgehenden Brief vom 20. 7. 1674: „Meine Türken Schrifft“ (Brief Nr. 111 = BW, S. 252, Z. 10 f). 185 Brief Nr. 119 (= BW, S. 264, Z. 11 f). 186 Brief Nr. 133 (= BW, S. 289, Z. 50 – 61). 187 Brief Nr. 161 (= BW, S. 331, Z. 20 f).

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs

sagt, vom „Leiden und Sterben Jesu Christi“ oder von seiner Passion in zwölf in sich geschlossenen „Betrachtungen“ oder „Andachten“. Doch die Verfasserin nimmt, neben der „Zueignung=Schrift“ und der „VorAnsprache an den Edlen Leser“, noch weitere Gelegenheiten wahr, sich über die „Deoglori“ in deren zweifacher Ausformung als prinzipielles Lebensprogramm und als besonderes Projekt der Bekehrung sich zu äußern. Gleich eingangs, in der „Unterthänigste[n] Zueignung=Schrift, Allerliebster HErr Jesu!“, hebt sie ihr grundsätzliches Lebensprogramm hervor: ,Ich habe‘ „diese innigste Herz=betrachtungen deines H. Leidens aufsetzen, und an das Liecht geben wollen, als eine offentliche Bekentnus vor aller Welt, daß ich Dich, Allerheiligster HErr JEsu! einig allein, vor und in allem zu lieben, zu loben, zu ehren und dir allein zu dienen begehre. Ach! so nimm es [sc. dieses Werk] dann an“. Es ist „Dir, aus innigster Liebe, zu äusserster Ehre gemeinet.“ Möge es „würken, was ich verlange, nämlich deine Ehre zu mehren und welt=weit auszubreiten“.188 – „Ach! so laß mich nun auch empfinden, das Ziel meiner Worte und Feder, Dir nämlich, in andern [sc. Menschen] eine mänge“ [= Menge] „unendlicher Lob= und Preis= Gedanken zu erwecken, damit die ganze Erde deiner Ehre vollwerde, und die Himmel deine Wunder erzehlen mögen.“189 Doch an etlichen Stellen dieses Werkes äußert von Greiffenberg sich auch über Ziel und Zweck ihres Projekts der Bekehrung zur Ehre Gottes. Damit hat sie ihrem Lebensprogramm eine Wendung zu einer bestimmten Aktion gegeben, die im Realen ihrer zeitlichen Gegenwart zu einem Erfolg führen soll. Man wird annehmen können, daß sie mit den entsprechenden Ausführungen im vorliegenden Werk indirekt öffentlich Rechenschaft abzulegen beabsichtigt über ihre Tätigkeit zur Bekehrung des Wiener Kaiserhofes.190 188 SW 9, S. )(iiij. 189 A.a.O., S. )(v/v. Vgl. auch in der „VorAnsprache an den Edlen Leser“: „DEr andächtig= und Edelmütige Leser wird zuversichtlich dieses geringe Büchlein in der Meinung aufnehmen, in der es geschrieben worden, nämlich, zu Vermehrung der Ehre Gottes und Jesus=Liebe, auch Erwekung wahrer Andacht.“ (S. )(vj) „Ich achte endlich Nichts, als Jesum: Den ich ewig hiemit zu ehren und zu verehren begehre.“ (S. )(vij u. folg.) In gleichem Sinne spricht die Autorin diese ihre Absicht, die Ehre Gottes zu erheben und zu vermehren, im Blick auf die „Passion-Betrachtungen“ im „Briefwechsel“ aus: s. S. 42 Anm. 181 f. – Die prinzipielle, für ihre gesamte schriftstellerische Tätigkeit, ja nach eigenem Bekunden für all ihr Tun geltende Intention von Greiffenbergs dürfte durch das Angeführte deutlich sein. In der Vorrede oder in der Zueignungsschrift fast jedes ihrer Werke ist diese Zielsetzung dargelegt und in den Ausführungen jedes ihrer Werke vielfach wiederholt. – Bemerkt sei noch, daß das ganz generell geäußerte „Ziel“, Menschen zum Ehren und Loben Gottes zu bewegen (z. B. durch diese „Passion=Betrachtungen“ als einer „öffentlichen Lob= und Dank=schrift“ [SW 10, S. 949]) – daß dies eben auf die Menschen ausgerichtet ist; dagegen der Ehrerweis Gott gegenüber auch als ein ,Glorifizieren Gottes‘ bezeichnet werden kann (z. B. SW 3 [Geburtsbetrachtungen], S. 300 – 302). 190 Diese Aktion erst mag man mit H. Laufhütte (zitiert oben S. 19 bei Anm. 52) als „Missionsauftrag“ zu einem „aktiv […] nach außen gerichteten Wirken“ nennen. – Im Text wird die Wiener Aktion direkt nicht erähnt.

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2.4 In den „Passion-Betrachtungen“

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In den „Passion-Betrachtungen“ steht: „GOttes Ehre, und des Nächsten Bekehrung, sind Zwilling=blätlein, so an der Pflanze der Gottseeligkeit, […] aufgehen und herfür sprossen.“191 Im Sinne der Bekehrung kann von Greiffenberg eben auch ihre schriftstellerische Tätigkeit verstehen: „Ach! warum hab ich nicht so viel kraft, als verlangen, mich dankbar zu erweisen? […] Alle welt sollte voll meiner preis=beweise seyn, und die ganze luft von meinem lobesschall erklingen. […] HErr JEsu! zeige mir den Lobesbrunn, wie jener Samariten den Lebensbrunn: daraus ich schöpfen, und nicht nur eine Stadt, sondern die ganze welt, zu dir bekehren könne. […] Deinem lieb=fliessenden herzen, ist mit keinem preis mehr gedienet, als der dir neue bekenner deiner glori und geniesser deiner Gnaden zuführet.“192 Sie, die Autorin, persönlich will ein ,Werkzeug‘ zu solcher Bekehrung sein: Gott ,macht‘ „alle lebende Creaturen […] zu dienern und werkzeugen seiner Liebe gegen uns. Warum solte er dann nicht, uns armen Weibsbildern, das jenige gönnen, was allen andern Geschöpfen zugelassen, nämlich GOttes Ehre zu vermehren, und werkzeuge der bekehrung zu seyn? […] Und warum solte dann nicht auch ich zu dem heiligen Werk der Deoglori dienen können?“193 Wohl, so führt sie aus, könnte man sagen, der Durst nach der „Himmel=Ruhe“ sei der „häftigste in der ganzen Welt […], wann ihn nicht, der Durst nach JEsu und seiner Deo glori, noch weit überträffe.“ […] „Ich hätte zwar wol mehr Dürst=arten, nämlich nach deinem Preis, Dank, Liebe, Lob und Ehr=erhebung: aber sie sind alle in dem lezterwehnten begriffen“.194 Und dementsprechend ist ihre Bitte: „Ach! mache mich, dir [sc. Jesus] dankbar zu seyn, auch keck“ [= kühn] „und beherzt, alles zu wagen, was zu deiner Ehre und Ruhme dienet.“195 „Deine kraft ist es, die mich anreitzet, ehe[r] […] ehre, glück und alles zu verlieren, als die himmlische Deoglori zu verlassen, in welche ich, dir zu dienen, unsterblich verliebt bin.“196 Die ganze Schrift „Passion=Betrachtung“ schließt mit dem Sinnspruch: „Ach ja, HErr JEsu! […] meine begehren, mit vollem“ [= ganz] „gewähre[..]. […] Ja, JEsu! auf Erden höchst=herzlich vollende, was mehret deine Ehre, ohn einiges“ [= ir191 SW 10, S. 728. – Angemerkt sei aber : Mit der Bezeichnung „Zwilling-blätlein“ wird die „Ehre Gottes“ und „des Nächsten Bekehrung“ nur äußerlich von anderem, bloß ,Weltlichem‘ unterschieden und als zusammengehörig bezeichnet, was deren Gleichheit nahe legt. Doch an sich sind sie nicht gleich: Vielmehr ist die „Ehre Gottes“ das Prinzipielle, Allumfassende, Geglaubte und auf Gott Bezogene und insofern Unbedingte im Lebensprogramm von Greiffenbergs – während des „Nächsten Bekehrung“ sich auf real andere Menschen bezieht und ein besonderes und insofern begrenztes Handlungs-Ziel benennt, dessen aktiv zu betreibende Realisierung in ihrer geschichtlichen Gegenwart durch alle Christen erfolgen soll. 192 SW 9, S. 502. Vgl. SW 10, S. 626: „damit ich dir die ganze Welt, dich zu loben und zu preisen, zuführen möge.“ – Die völlig pauschale Allgemeinheit „die ganze Welt“ entspricht den Psalmen der Bibel und war in der Theologie üblich. 193 SW 9, S. 193. 194 SW 10, S. 763 f. 195 A.a.O., S. 919. Das Wort „Ruhm“ ist korrigiert statt „Ruhe“. 196 SW 9, S. 158.

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs

gendein] ENDE.“197 Die Zielsetzung für sie selbst kann von Greiffenberg auch so umschreiben: „Seiner [sc. Jesu] unvergleichlichen Deoglori, der keuschen Diana, der begierigen Jägerin unserer Seelen, der silber=weissen Luna der Christ=Kirche, soll man einen Ehren=Tempel, […] von weissem Marmor der reinsten Gottesfurcht aufbauen.“198 Und dazu lautet die Bitte: „Ach! daß der Vorhang vor dem allerheiligsten, vor der Deo glori, auch zerisse“ [wie der Vorhang im Tempel bei Jesu Tod], „der Vorhang der Verborgenheit, der Heimlichkeit, der verdeck= und überschattung, welchen GOTT bishero vor sie ziehen wollen!“199 Das Werk der Bekehrung unterlassen, hieße nach von Greiffenbergs Überzeugung, „Christi Durst leschen“, wo ihm doch nach „aller Taufe und Seeligkeit […] gedürstet“ hat. Folglich beklagt sie, „daß die Christen hierinn so träg und nachlässig sind; […] da es doch eine allgemeine Christgebühr, und sonderliche schuldigkeit der Lehrer und Prediger ist, in alle welt auszugehen, und alle Völker zu lehren und zu tauffen.“200 Und sie beklagt insbesondere, „daß die Fürsten und Potentaten“ [= die Mächtigen] „so ein GOtt=gefälliges Werk“ zu verhindern unternehmen.201 Vielmehr ist es doch – wie von Greiffenberg in Übereinstimmung mit der damaligen lutherischen Lehre hervorhebt – gerade die Pflicht und der besondere Auftrag der Fürsten und der Landesherren, für die Bekehrung der ihnen Untergebenen zu sorgen. „Der HErr Christus fänget vom Haubt an“ [so beim Hauptmann unter seinem Kreuz], „und senket die Bekehrung in alle Glieder der Kriegsknechte: wie er auch nachmals, in der Weltbekehrung, die Häubter der Königreiche und Länder erleuchtet, und durch sie den ganzen Staats=leib bekehret, und an sich gezogen; wovon die Geschicht=bücher mit lust zu lesen sind.“202 Daraus folgert von Greiffenberg für jeden Christen: „Darum soll jederman203 um die Bekehrung der Häupter sich bemühen: nicht, daß sie höher, edler und dessen werter seyen, sondern wegen der grossen […] Nachfolge. […] Darum soll man, in der Menschen=fischerey, vornemlich um die Häubter sich bemühen: und ist hierinn die Nachlässigkeit unverantwortlich, wann man nicht sein äusserstes versuchet. Es ist“ ,strafwürdig, sich abhalten zu lassen‘, „viele glückseelig zu machen und dem Himmel zu gewinnen.“ Die „Welt=häubter“ ihrerseits ,tun‘ „unrecht, wann sie dieses“ [sc. viele für den Himmel zu gewinnen] „nicht vor“ [= für] „einen Haubt=dienst achten, der sie zu der Haubt=Seeligkeit führet. Sie sind schuldig, um der nachfolgenden willen, so viel sorgfältiger um ihr Heil zu seyn“.204 „Grosser 197 198 199 200 201 202 203 204

SW 10, S. 950. A.a.O., S. 948. A.a.O., S. 799. A.a.O., S. 760 f. In dieser Hinsicht ,lobt‘ von Greiffenberg „die feurige[n] Jesuiten“ (ebd.). Ebd. A.a.O., S. 812. Man darf hinzufügen: und also auch sie selbst. A.a.O., S. 815 f.

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2.4 In den „Passion-Betrachtungen“

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Potentaten Zeptere, sollen die Sieg= und Ehren=seulen der Himmlischen Deoglori seyn. Es ist eine dringende schuldigkeit, GOTT mit Land und Leuten aufs höchste zu preisen: dann GOtt wird es bey dem Haubt suchen, was die Glieder unterlassen. […] Ach! ihr Durchleuchtigen“ [= Durchlauchten]! […] „Wie viele Seelen ihr mit eurem hohen beyspiel und befehl zur höchsten dankbarkeit anführet, so viel Paradies voll freuden werden dort auf euch warten. Ach! so vermehret euch dann euren seeligen Himmels=zustand, durch vermehrung der Ehre GOttes auf Erden.“205 Die hier, in dieser Schrift, durch von Greiffenberg angeforderte, dringend angemahnte, zur Seligkeit notwendige „Bekehrung“ ist selbstverständlich eine Bekehrung zu Gott und damit eine zur Erlangung der ,Seelen Seligkeit‘. Die Bekehrung und mithin die Ausbreitung der Ehre Gottes sind darauf gerichtet, daß Menschen zum „Ehren=Tempel […] von weissem Marmor der reinsten Gottesfurcht“ werden.206 Durch solch eine Unternehmung der Bekehrung wird der neutestamentliche Missionsbefehl (Matth. 28, 18 ff.) befolgt, „alle Völker zu lehren und zu taufen“.207 Von dem Auftrag Christi leitet von Greiffenberg die Verpflichtung aller Christen ab, sich für die Bekehrung der Fürsten und ,Oberhäupter‘ und damit ihrer Landsleute einzusetzen. Die „Bekehrung der Häupter“, der Fürsten, zu unterlassen oder darin ,nachlässig‘ zu sein, wäre nach ihrem Urteil „unverantwortlich“.208 Was sie tut mit ihrer Aktion zur Bekehrung des Wiener Hofes ist also nach von Greiffenberg nur ihre Weise, der allgemeinen Christenpflicht nachzukommen. Jeder Christ hat das entsprechend bei seiner jeweiligen Obrigkeit zu tun.209 So rechtfertigt von Greiffenberg ihren Einsatz zur Bekehrung des Kaisers. Aber diese Abwandlung ihres Lebensprogramms „Alles zur Ehre Gottes“ zu diesem besonderen Bekehrungs-Projekt als ihr ,Vorhaben‘ enthält, aus heutiger theologischer Sicht, ein Problem von erheblichem Gewicht.210 Ihr genanntes prinzipelles Lebensprogramm ist in sich ohne eine besondere Absicht, es ist unbesorgt, frei von dem Blick, wie Andere der Ehre Gottes nach205 A.a.O., S. 944 f. 206 Zitiert oben bei Anm. 198. Im gleichen Zusammenhang (a. a. O. = S. 948) führt von Greiffenberg aus: Gott „soll man, zu unendlichem dank, sein Wunder=bild, den Neuen Menschen, in dem Herz=tempel aufrichten“. Ist in dem oben Zitierten gesagt, aus „weissem Marmor“ solle der „Ehren=Tempel“ sein, so steht wohl – metaphorisch – die Farbe Weiß für die Reinheit, der Marmor als besonders hartes Gestein für die Unüberwindlichkeit und Sieghaftigkeit der „Gottesfurcht“. – Daß Menschen Gottes Tempel sind oder sein können, entspricht Paulinischer Lehre: „Wisset ihr nicht, daß ihr Gottes Tempel seid und der Geist Gottes in euch wohnt?“ (1. Kor 3,16) 207 Zitiert oben bei Anm. 200. 208 Angeführt oben bei Anm. 204. 209 Solch eine Pflicht war allerdings in der lutherischen Lehre nicht vorgesehen. 210 Siehe dazu bereits oben S. 37 u. 38 f. Eine solche Wendung ins Realistische, Besondere, wurde zu von Greiffenbergs Zeit, im 17. Jahrhundert, von niemandem als anstößig oder höchst bedenklich empfunden wurde.

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs

kommen. Es überläßt das der Ehre Gottes selbst, wie sie sich in der Realität eines Volkes mit dessen ,Oberhäuptern‘ ausbreitet. Dagegen ist der moralische Aufruf, sich für die Bekehrung Anderer, besonders der weltlichen Obrigkeit, der Fürsten, einzusetzen und somit beizutragen zur real erreichbaren Ausbreitung der Ehre Gottes immer und unabwendbar erfolgs-orientiert; woran sich nichts ändert, auch wenn der real mögliche Mißerfolg eingeräumt – ja noch mehr : auch wenn auf eine Realisierung zur jeweiligen Lebenszeit verzichtet wird und wenn sie dem Willen Gottes anheimgestellt oder gar auf das zukünftige himmlische Jenseits vertagt wird.211 Selbstverständlich ist für von Greiffenberg jede erfolgte Bekehrung eine zur Ehre Gottes. Folglich könnte man meinen, der Gedankengang, der vom Prinzipiellen ausging und ins Bestimmte, Besondere überging, kehre sich mit einer erfolgten Bekehrung wieder zum Prinzipiellen, zu Gott und seiner Ehre. Aber die Ehre Gottes erscheint so als ein Beimoment oder als eine Folge erfolgreicher Bekehrungsaktion.

2.5 In den „Geburts“-Betrachtungen Auch Jahre, nachdem von Greiffenberg einen zeitlichen Erfolg ihrer Wiener Bekehrungsaktion aufgegeben hatte,212 hielt sie an ihrem Lebensprogramm, nur der Ehre Gottes, der „Deoglori“, zu dienen, entschieden fest. Ja, sie entwickelte es gedanklich weiter und verdeutlichte es so. Das zeigt sich in einer begeistert formulierten Passage ihres im Jahre 1678 erschienenen Werkes, der „Geburts“-Betrachtungen.213 Im Anschluß an den Satzteil in Luk. 2, 32: „und zum Preis deines Volkes Israel“ führt sie zunächst grundsätzlich und generell aus, daß Gottes Ehre auch die Ehre des Volkes Israel im irdisch-welthaften und im geistlichen Sinne ist; also Gottes Ehre auch unsere Ehre ist. Es heißt: „O glückseeliges Volk Israel! weil nun die Gloria, Ehr, und Herrlichkeit GOttes, deine Glori Ehr und Herrlichkeit ist.“ Weil das Volk Israel Gott die Ehre gibt, ist Gottes Ehre auch seine Ehre, ist es dadurch selbst geehrt. Der zitierte Text fährt fort: „Christus ist die Ehr und Herrlichkeit des hohen GOttes, der ist nun auch deine“ [sc. des irdischen und des geistlichen Israels] „Ehr und Herrlichkeit. O unaus211 Übrigens ist bereits bedenklich, wenn von Greiffenberg den Erfolg oder das „Ziel“ ihrer „Worte und Feder“, Menschen „zu erwecken“, eigens zu „empfinden“ wünscht (zitiert oben im Text S. 44 bei Anm. 189). – Wie ja auch jede Anerkennung, so gerne jeder sie hat, eine wahre nur ist, wenn einer sie nicht eigens beabsichtigt, sondern sie vom Anderen frei gegeben wird. 212 Seit dem Jahre 1667 zweifelte sie an dem Erfolg ihrer Wiener Aktion zu ihrer Lebenszeit (s. o. S. 42 bei Anm. 180; bzw. siehe S. 39 bei Anm. 168). 213 Dies zweite ,Betrachtungs‘-Werk trägt den Titel: „Der Allerheiligsten Menschwerdung, Geburt und Jugend JEsu Christi Zwölf Andächtige Betrachtungen“. – Der entsprechende Abschnitt steht in der 7. Betrachtung: SW 4, S. 663 – 665.

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2.5 In den „Geburts“-Betrachtungen

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sprechliche Ehre! […] die Qwell und Kron aller Glori“ ist „selbst unser“; und das heißt: „alle[n], die an den Messiam JEsum Christum glauben, und ihn Lieb haben,“ will er „deren Glori, Ehr und Herrlichkeit […] seyn und bleiben ewiglich.“ Sodann wendet die Verfasserin dies Zueigensein der Ehre Gottes als unsere Ehre auf sich selbst an: „Ach! süssester JEsu! ich glaube auch an dich, und liebe dich aus innerster Seelen-Kraft. O so seye derwegen auch meine Gloria, ja Deogloria, meiner Seelen Göttin, oder die Ehre und Glori meines Geistes und Verstandes, die Glori meiner Gedächtnis, meiner Gedanken und EinbildungsKraft! die Gloria meiner Sinnen, daß ich mirs vor die gröste Ehr und Herrlichkeit achte, dich nach den innern Kräfften des Geistes zu sehen, hören, riechen, schmecken und fühlen,214 auch alle äusserliche Sinn=begreiffliche Sachen zu deiner Ehre zu richten.“215 Das Zueigensein der Ehre Gottes als unsere Ehre wandelt von Greiffenberg weiter ab für ihr Dichten und Schreiben: für ihr „Wort“. Sie nimmt ihren Ausgang bei dem „ewige[n] Wort“, bei Christus als dem „Wort“ vor aller Zeit, eins mit Gott und so bei dem Wort in allen wahren Worten – und schreibt: „O ewiges Wort! Seye du die Gloria meiner Worte, und giebe, daß sie alle dir zur Ehre gereichen: Die Gloria aller meiner Schrifften, daß sie lauter Züge und Siege deiner Deogloria seyen; die Gloria meiner Reimen, daß sie sich zu nichts, als zu deiner Gloria reimen.“216 Und erneut weitet von Greiffenberg das aus im Blick auf all ihr Tun und auf ihr ganzes Leben: „Sey du die Gloria aller meiner Werke und Beginnens, damit ich deine Gloria wirklich zu Werk zu richten“ [= zur Verwirklichung] „beginnen möge: Seye gänzlich die Gloria meines Lebens, damit mein ganzes Leben zu deiner Gloria dienen möge; endlich seye die Gloria meiner Seelen an meinem Ende, damit deren Glori unendlich werde. Sey meine Gloria am Jüngsten Gericht, weil ich ohne dich mit Schanden bestehen würde, in dir aber die Kron der Gloria zu erlangen hoffe. Sey und bleibe meine Gloria in Ewigkeit, daß ich, wie hie[r] alle Welten, also auch dort alle Ewigkeiten, mit deiner Gloria oder Deogloria anfüllen möge.“ Doch die Autorin übersieht nicht, daß das zeitliche Leben vor der Ewigkeit mit vielfältiger Widrigkeit, mit Schwachheiten und Verfehlungen geprägt ist. Auch dafür und darin sei Christus unsere und „meine“ Ehre. Sie, die Autorin, führt aus: „Unterdessen“ [vor der Ewigkeit in der Zeit] „sey auch meine Glori wider alle Schmach, Nachrede, Verleumdung und böses Urtheil“ [also wider alle Ehrverletzung] „meiner Feinde. Wann du, O JEsu! meine Ehre bist, so frag ich nichts um aller Welt Schmach, auch nichts um mein eigenes Herz, wann es 214 Anzunehmen ist wohl, daß von Greiffenberg hier an das Abendmahl denkt. Zu ihrem Verständnis des Abendmahls s. u. S. 100 – 114. 215 Gemeint dürfte sein, daß sie es sich zur größten Ehre ,anrechnet‘, mit all ihrem Tun, besonders mit ihrer dichterischen und schriftstellerischen Tätigkeit, auf Jesu Ehre ,ausgerichtet‘ zu sein. 216 Zu dem so zum Ausdruck kommenden Selbstbewußtsein von Greiffenbergs als Dichterin siehe das Sonett „O Wort! dem alle Wort zu wenig, es zu preisen!“ unten S. 58 – 61.

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs

mich, meiner Schwachheiten halber, verdammen wolte: Du bist größer als mein Herz, daher auch meine Ehre größer als meine Schande. Meine Ehre, die du bist, wird nicht zu schanden, aber alle meine Feinde, ja die selbste Schande“ [= die Schande selbst] „(meiner Schwachheiten und Fähler, daß ich nicht auf Erden in recht ewiger Vollkommenheit leben kan) muß zu schanden werden, weil du meine Ehre überschwänglich bist.“ Sie schließt diese Ausführungen mit der Bitte: „Ach! du meine und aller Welt Gloria, erscheine bald in deiner Herrlichkeit! Offenbare dich in den Augen aller Völker, damit alle Geschlechte[r] auf Erden sehen dein Heil, und aller Welt Ende deine Herrlichkeit!“

2.6 In den „Übrigen Lebens“-Betrachtungen Auch in ihrem zuletzt veröffentlichten Werk, den „Übrigen Lebens“-Betrachtungen (1693), kommt von Greiffenberg in der vorletzten, elften „Betrachtung“ auf ihr Lebensprogramm zu sprechen. Im Zusammenhang mit dem Bericht über Jesu Einzug in Jerusalem und über die Losbindung der benötigten Eselin mit ihrem Füllen äußert sich die Autorin über die „Banden“ – über die eingegangenen Bindungen – in ihrem Leben. Da heißt es: „Meine ersten und vornehmsten Bande in meinem Hertzen (ich seye auch wo ich wolle) seynd von der allerschönsten Hand der Himmlischen Deogloria; mit diesen Banden wurde ich hereingezogen in mein Vatterland, und die verknüpft= und verstricken mich hierinnen, da die andern alle nit kräfftig genug wären, mich daselbst zu erhalten“ [= zu halten, zum wohnhaft werden oder bleiben veranlassen]. „Ach heisse du sie auflösen, heiliger Erlöser! durch glückliche Gelingung, wo nicht durch zugleich seelige Auflösung meiner Seelen aus dieser Sterblichkeit: Denn ich kan nit leben, wann ich selbe“ [= die Deogloria] „nicht erleben solte, die“ Deogloria, die „nächst dir, meines Lebens Leben ist“.217 Die eben zitierten Sätze lassen klar erkennen, wie vorbehaltlos sich von Greiffenberg mit der „Deogloria“, mit der Ausbreitung der Ehre Gottes und wohl auch mit der Bekehrung des Wiener Kaisers, vermutlich bis an ihr Lebensende, identifiziert.

2.7 Eine Zusammenfassung „Alles zur Ehre Gottes“: In diesem programmatischen Grundsatz für ihr ganzes Leben und Handeln hat von Greiffenberg ein unerschütterliches Fundament gegenüber allem, was geschieht und auf sie zukommt. Dieser 217 SW 8, S. 632.

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2.8 Nachtrag

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Grundsatz war ihr Lebensprogramm; und das war für sie der grundlegende und grundgebende Vorsatz, die Maxime, für ihren eigenen Willen. Selbstverständlich war es der frei von ihr selbst gewählte und gewollte Vorsatz; doch ihn als Gottes Wille gefunden zu haben, war für sie eine große Gnade Gottes, ihr umsonst gegeben als einer, wie sie sagte, an ihr selbst unwürdigen Person. So wußte sie, was sie in ihrem Leben wollte: nach Gottes Willen zu leben. Ihr Wille hatte so eine untrügliche, eine zielgerichtete Bestimmung. Sie war entschlossen, diesem Willen Gottes nachzuleben, und sie konnte sich ihm jederzeit ergeben, ihm sich überlassen. Wir haben anhand ihrer Äußerungen gesehen, in welch innere Konflikte sich von Greiffenberg durch ihr unbedingtes Setzen auf den gottgewollten Erfolg ihrer Aktion und durch deren eingetretenen Mißerfolg gebracht hat. Doch die beiden zuletzt zitierten Ausführungen lassen klar erkennen, daß sie wegen der Niederlage ihres Wiener Unternehmens ihr Lebensprogramm keineswegs aufgegeben, daß sie es vielmehr weiter entwickelt hat zur Erkenntnis: Wem die Ehre Gottes sein ,ein und alles‘ ist, wer sein ganzes Leben, Tun und Dichten grundsätzlich dem Dienst gewidmet hat, beizutragen zur Ausbreitung der Ehre Gottes, und das durchhält, der ist durch diesen Grundsatz selbst gewürdigt, selbst geehrt. Ihr Lebensprogramm blieb durch das Scheitern ihres Wiener Bekehrungswerkes unwiderlegt. Wie auch sonst hätte sie als Schriftstellerin von ,Andachten‘ über Jesu Sterben und Leben ehrlich überleben können? Jener Mißerfolg wäre die totale Katastrophe ihres Lebens gewesen. Ihr Projekt, die Bekehrung des Wiener Kaisers, hat sie nach eigenem Bekunden auch nach ihrer Enttäuschung nicht gänzlich aufgegeben. Aber es verlor im Fortgang die gottgewollte Erfolgserwartung und wurde für sie zu einer bestimmten Hoffnung, die im zeitlichen Leben in Erfüllung gehen kann oder auch nicht.

2.8 Nachtrag Die sich zu dieser Sache äußernden Autoren der Sekundärliteratur, einschließlich der Kommentatoren des „Briefwechsels“, sind auf von Greiffenbergs Aktion zur Bekehrung des Kaisers geradezu eingeschworen. An allen möglichen und unmöglichen Stellen entdecken die Kommentatoren eine Anspielung auf jene Aktion. H. Laufhütte bezieht alles, was bei von Greiffenberg über die „Deoglori“ angeführt ist, einzig und allein auf ihr Wiener Unternehmen. Und dementsprechend hebt er nachdrücklich hervor: „Die Herbeiführung dieser Bekehrungstat, dieses Glaubenstriumphs, durch Gebet, durch Beispiel, durch ihre Schriften und durch aktives Wirken ist die von Frau von Greiffenberg akzeptierte, beanspruchte Lebensaufgabe: die Erfüllung der

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2. „Deoglori“: Das Lebensprogramm von Greiffenbergs

,Deoglori‘.“218 Und an anderer Stelle äußert er : „,Deoglori‘ war die Lebensund Schaffensdevise der Dichterin. […] für sie“ war „der Ehre Gottes dann am besten entsprochen […], wenn das Haupt der Welt, der unschuldig und unwissend in den Banden des Papsttums schmachtende Kaiser, zum wahren, zum lutherischen Christentum geführt war. Daran mit allen Kräften zu arbeiten, sah sie als ihre Aufgabe als Beterin, als Autorin, als Missionarin.“219 Drastischer geben sich in der Mißbilligung andere Germanisten. Friedhelm Kemp nennt von Greiffenbergs Unternehmung eine „chimärische[..] Bekehrungsaktion“.220 Noch massiver spricht Friedemann Bedürftig sie an als „diese absurde Idee“, die „nur aus ihrer tiefen Religiosität zu erklären“ sei „und aus den Zeitumständen“ – und die „nichts Geringeres“ bezwecke „als die Fortsetzung des Dreißigjährigen Krieges mit missionarisch-poetischen Mitteln“.221 Nach Thomas Althaus hat sich ihr „Schreiben[..]“ ,verleiten lassen‘ „zu einer das Nicht-Identische, die Verwicklungen als Zustand nicht mehr wahrnehmenden Bekehrungssucht“, ausgerichtet „auf den österreichischen Kaiser Leopold I.“222 Dagegen sei vorgeschlagen: Wie wäre es, wenn solche Autoren der Sekundärliteratur berücksichtigen würden, was bei von Greiffenberg in dieser Sache, besonders in ihrer Schrift „Sieges-Seule“, geschrieben steht? Oder wenn sie wenigstens einräumen würden, daß sie selbst die Hoffnung auf eine Kaiser-Bekehrung zu ihrer Lebenszeit in Zweifel gezogen und auch aufgegeben hat?223

218 Ders., Der Plan (wie Anm. 152, S. 60, linke Spalte. (Hervorhebungen im Original.) 219 Ders., Geistlich-literarische Zusammenarbeit im Dienste der ,Deoglori‘. Sigmund von Birkens Emblem-Erfindungen für die Andachtswerke der Catharina Regina von Greiffenberg; in: Wolfgang Harms/Dieter Peil (Hrsg.), Polyvalenz und Multifunktionalität der Emblematik. Akten des 5. Internationalen Kongresses der Society for Emblem Studies. Frankfurt a. M. [u.a.], 2002, S. 581 – 596; Zitat: S. 595. Übrigens stehen die hier dem Kaiser beigelegten Adjektive in keinem Text von Greiffenbergs. 220 Ders., in: Lebenstafel (im Anhang zu den Geistlichen Sonetten, Liedern und Gedichten), SW 1, S. 543. 221 Ders., Fortsetzung des Kriegs mit poetischen Mitteln. Catharina Regina von Greiffenberg – Wie eine evangelische Dichterin versuchte, den katholischen Kaiser zu bekehren; in SZ am Wochenende, Sa./So. 24./25. Nov 2001, Nr. 271, S. II. 222 Ders. Einklang und Liebe. Die spracherotische Perspektive des Glaubens im Geistlichen Sonett bei Catharina Regina von Greiffenberg und Quirinus Kuhlmann; in: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung Bd. 25) Hrsg. v. Dieter Breuer. Wiesbaden 1995, S. 779 – 788; Zitat: S. 788. 223 Siehe oben, S. 48 bei Anm. 212.

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3. Zum „Briefwechsel“ zwischen von Greiffenberg und Sigmund von Birken

Die Briefe, die von Greiffenberg mit Sigmund von Birken „wechselte“, sind Freundschaftsbriefe und so jeweils Antwortbriefe auf die Äußerung der Gegenseite. von Greiffenberg wurde Sigm. von Birken im Jahre 1658 bekannt durch einen Hinweis J. W. von Stubenbergs.224 Durchgehend, bis zum Ende des Briefwechsels mit dem Tod Sigm. von Birkens im Jahre 1681, wahrten die Briefe die höfliche Distanz. Nie wird die standesgemäße Höflichkeitsgrenze verletzt; nie kommt es zu einer formlosen Vertraulicheit.225 Das zeigt sich besonders deutlich in der Anrede: Sigm. von Birken kann seine Briefpartnerin ansprechen als „Hoch= und Wohlgebohrne, Gnädige Frau!“226 Umgekehrt lautet von Greiffenbergs Anrede im ersten Teil: „Wohl Edel Vester HochgeEhrter herr“227 und hernach im zweiten Teil228 zumeist: „Wehrtester InnigFreund, geEhrtester Silvano“. Vier Themenkreise sind Gegenstand des Briefwechsels: 1. Die Schwierigkeiten bei der Eheschließung derer von Greiffenberg; 2. C. R. von Greiffenbergs Wiener Bekehrungsaktion; 3. die Unterstützung bei der Entstehung und Drucklegung ihrer Werke;229 4. ihr beider privates, physisches und geistiges Ergehen, letzteres besonders anläßlich der Todesfälle: des Todes der ersten Frau von Birken, der Mutter von Greiffenbergs und ihres Gatten. – Bei den ersten drei Anlässen war Sigm. von Birken der notwendige, ja unentbehrliche, kundige Berater, Helfer und Organisator – förderlich und unterstützend in allen Rechtsangelegenheiten und in den Drucklegungs- und Verlagsproblemen.230 In der vierten Thematik, besonders beim Thema „Trauer und Trost“, ist von Greiffenberg die Gebende. 224 Siehe BW II, S. 912. 225 Vgl. H. Laufhütte: „Frau von Greiffenberg, die […] sehr standesbewußt war,“ ,gestattete‘ „auch ihrem ,Innigstfreunden‘ keinerlei Lizenzen“ (Ders., Heterodoxie-Verdacht [wie Anm. 3], S. 376). 226 So z. B. im Brief vom 21. 1. 1669, Nr. 39 (= BW, S. 60). 227 Z.B. im Brief vom 11. 11. 1665, Nr. 11 (= BW, S. 14). 228 Ab dem Brief vom 26. 6. 1675, Nr. 118 (= BW, S. 263). N.B. „Silvanus“ ist der Dichtername für Sigm. von Birken. 229 So auch H. Laufhütte, Zur Edition des Briefwechsels zwischen Catharina Regina von Greiffenberg (1633 – 1694) und Sigmund von Birken (1626 – 1681) – Probleme und Perspektiven; (in: Ders. Sigmund von Birken. Leben, Werke und Nachleben. Gesammelte Studien. Mit einem Vorwort von Klaus Garber, Passau 2007, S. 295 – 307), zur Sache: S. 302 f. 230 Vgl. H. Laufhütte: „Birken selbst“ ist „als der stets hilfsbereite Organisator von Unterstützungsaktionen, als Berater und Helfer in Erscheinung getreten“ (Ders., Zur Edition [wie Anm. 229], S. 303 f u. 305).

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3. Zum „Briefwechsel“

Sigmund von Birken231 hat mittels seiner einflußreichen Beziehungen den Widerständen zum Trotz bei der „Regierung und Superintendentur in Bayreuth“ die „Genehmigung“ zur Eheschließung derer von Greiffenberg erreicht und hernach, wiederum durch seine Beziehungen, die markgräflich-sächsische Intervention zur Freilassung des Herrn von Greiffenberg und damit die Anerkennung ihrer Ehe in Österreich bewirkt. Er hat die Rechtmäßigkeit ihrer Ehe gegen die Weigerung des Ödenburgischen lutherischen Pfarrers (des „Ödenburgischen Drachens“) durchgesetzt, der von Greiffenberg das Abendmahl verweigert hat, das sie als unentbehrlich so überaus geschätzt hat.232 Dazu verfaßte von Birken ein ausführliches Gutachten, unter Anführung von Zitaten aus Luthers Schriften. In späteren Jahren, „nach dem Tod Hans Rudolf von Greiffenbergs 1677, als der Hauptgläubiger der Witwe die Lebensgrundlage in Seisenegg entzog und sie zur Ansiedlung in Nürnberg zwang, hat Birken“ sie erneut beraten. Im Blick auf ihr Wiener Bekehrungsprojekt mahnt von Birken, nach anfänglicher Zustimmung, zur Vorsicht und zu Zurückhaltung und stellt ihr die drohenden Gefahren für die lutherisch Gebliebenen in Österreich und für sie selbst vor Augen. von Greiffenberg schlägt diese Warnungen als bloß menschliche Erwägungen und Rücksichtnahmen aus – da sie doch überzeugt ist, daß ihre Aktion Gottes Wille, von Gott ihr eingegeben ist und also ein Scheitern nur derzeit von Gott gewollt und verfügt sein kann, was man demütig anzuerkennen und so Gott die Ehre zu geben hat. Bezüglich der Publikation ihrer Schriften holt sie in jeder Phase deren Entstehens von Birkens Rat ein.233 Bei ihrem Werk „Sieges-Seule“ und bei den ersten beiden Werken ihrer ,Betrachtungen‘ besorgte von Birken die beiden Verleger. Für die erste von ihr herausgegebene Schrift, die „Passion-Betrachtungen“, erstellte von Birken für sie das emblematische Titelbild und dessen Erläuterung sowie die Bildmotive samt den Erläuterungen zu der 8. und zur 9. Andacht.234 So war Sigmund von Birken für von Greiffenberg der „Innig-Freund“ und der „Hochgeehrte Herr“.

231 Zum Folgenden, auch zu den Zitaten, siehe H. Laufhütte, Zur Edition [wie Anm. 229], S. 303 f u. 305. 232 Siehe dazu oben S. 15 bei Anm. 30. 233 Bereits bei Beginn der Abfassung ihrer „Passion=Andachten“ schreibt sie an von Birken, daß sie beabsichtigt, sich mit dem ausgefertigten Teil an ihn zu wenden und „Meinen geEhrten herrn“ zu „Bitten“, das Geschriebene „mit Seinen hellen Urtheil zuerleüchten und vollkommen zu machen, weil mich nichts tüchtig noch Glükklich denkt, Als was mit Seinem Rath oder hülff geweyhet wird.“ (Brief vom 6. 7. 1668, Nr. 33 = BW 43, Z. 11 u. 13 ff.) 234 Siehe dazu des näheren: H. Laufhütte, Geistlich-literarische Zusammenarbeit im Dienste der ,Deoglori‘ (wie Anm. 219), S. 585 u. 587.

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4. Über einige Sonette und Gedichte, insbesondere zu von Greiffenbergs Selbstverständnis als Dichterin und über das Gotteslob der Schöpfung Vorbemerkung: Gedichte, so hören wir, soll man nicht nacherzählen, nicht nach ihrem Inhalt beschreiben, ihre Bilder nicht mit Worten auslegen. Das zerstöre ihre Poesie und damit ihre Aufschluß-Kraft. Sondern man solle sie in ihrem Medium, d.i. in ihrer Form, sagen lassen, was sie sagen wollen und zu sagen haben. – Aber sie werden, so meine ich, nicht ernst genommen, wenn sie nur in ihrem Klang und im Laut ihrer Worte, in der Wortfolge und in ihren Metaphern, ihrem Stil und ihrer Rhythmik gehört werden. Erst wenn ihr gedanklicher Gehalt erfaßt wird, wird der Wohllaut ihrer Worte, das Erhellende ihrer Bilder und ihre Klangfülle aufgenommen.

4.1 Zu von Greiffenbergs Selbstverständnis als Dichterin 4.1.1 Christlicher Vorhabens=Zweck ACh Allheit, der ich mich in allem hab ergeben mit allem, was ich bin, beginne, denk und dicht, zu deiner hohen Ehr mein Spiel und Ziel ich richt; ach laß den Engel=Zweck, dein Lob laß mich erstreben. Laß nichts, als was dich liebt und lobet, an mir leben. Ach gib mir Hitz und Witz, zu richten meine Pflicht; versag den Geistes=Strom, die Flügelflamm mir nicht; ja, mach den Muht zu Glut: dich brünstig zu erheben! Ich such kein eigne Ehr, verdiene sie auch nie. Siht aber jemand was Geist=Nützliches allhie: so bitt’ ich ihn durch GOtt, er woll mir nicht zuschreiben das Gut’ in meiner Schrift; der Ewig’ ists allein, der mir das Gute flöst in Geist und Feder ein. Nur sein soll alles Lob, von mir und allen bleiben.235 235 Fundort: SW 1,1. Zur Formulierung in der 5. Zeile: „an mir leben“ vgl. bei Paul Gerhardt in dessen Choral „Ist Gott für mich“ in der 3. Strophe: „An mir und meinem Leben ist nichts auf dieser Erd; was Christus mir gegeben, das ist der Liebe wert.“ (EG 351, 3).

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4. Über einige Sonette und Gedichte

Das ist das erste der Sonette in dem ersten Werk, das unter ihrem, von Greiffenbergs, Namen ausgegangen ist: „Geistliche Sonnette, Lieder und Gedichte“ (1662). Was sie hier schreibt, das soll für dies Vorhaben und für alle ihre Vorhaben in der Dichtung und in der Andachts-Literatur gelten. So äußert sie sich am Anfang eines Werkes, also von Anfang an und grundlegend, wie sie ihr dichterisches und schriftstellerisches Schaffen selbst versteht. Und sie tut das in Form eines Bittgebetes und eines Selbstbekenntnisses oder andernorts in Form einer Selbstaufforderung. Das vorliegende Gedicht beginnt, wie viele Choräle seit M. Luther, mit dem kurzen Seufzer „Ach“, der kurz innehalten läßt. So ist auch angezeigt, daß das Folgende ein sehnlicher Wunsch oder ein Gebet ist. Angeredet wird Gott mit der von der Dichterin selbst geprägten Bezeichnung „Allheit“. Damit ist von Gott gesagt, daß er in seiner Göttlichkeit „alles=erfüllend[..]“ ist,236 daß er als „Ziel“ und „Grund“ der ist, „der alles ist in allen“.237 Oder wie es in einer späteren Schrift, in den ,Geburtsbetrachtungen‘238 heißt: „Der zwar unbeschreib= und unbegreifliche GOtt, wird doch fast unter allen Namen am eigentlichsten die Allheit genennet, weil alles Gute, und alle Weisheit in ihm ist, auch alle nur ersinnliche Arten, uns zu beglücken und begnaden, von ihm verübet“ [= ausgeübt] „werden“.239 Er ist „die Allheit, in der alles, was wesend“ [= was ein Wesen hat] „und wirkend, in Güte beisammen ist“.240 „GOtt ist die Allheit, die bestehet in einer unendlichen Unterschiedlichkeit, die doch alle in einer einigen Einigkeit verbunden“ sind.241 Von einer Person im Glauben, wie sie selbst, kann die Autorin folglich sagen: „hab ich die Allheit, so habe ich alles, sonst könt ich sie nicht haben, wann ich nicht alles hätte.“242 Vom „JEsum finden“ kann sie darlegen: „Was kan […] vor größere Freude im Himmel und auf Erden seyn, als den jenigen finden, der der Finde-Punkt aller Verlangbarkeiten ist? In deme alles zu finden ist, was in Zeit und Ewigkeit Gutes kan gefunden werden, […] bei welchem, wann er gefunden, alles, ja die Allheit selber, gefunden wird.“243 236 237 238 239 240 241 242

SW 1, S. 182. A.a.O., S. 140. Der genaue Titel steht oben in Anm. 213. SW 3, S. 206. A.a.O., S. 371. A.a.O., S. 598. A.a.O., S. 575. Vgl.: „Hat man nicht alles, wann man die Allheit hat? was will man mehr, wann man den hat, der alles in allem ist? wird, oder vielmehr, muß nicht das andere alles zufallen? Wo GOtt ist, ist alles gut.“ (A.a.O., S. 525.) 243 A.a.O., S. 603 f. Ein Vorbild für diesen Gottesnamen „Allheit“ könnte bei Paul Fleming gegeben sein. Bei ihm beziehen sich die vergleichbaren ,All‘-Aussagen immer auf Jesus. Das letzte oder 18. der Gedichte im Ersten Buch der „Poetischen Wälder“ (1634) trägt den Titel: „Christum lieben ist beßer den Alles wißen.“ Es beginnt: „Ohn Eins ist alles nichts, was etwas ist und heißt, / so viel der Sternenzelt in seinem Zirk’ umschleußt. / Diß Eins ist über All, in allem doch beschlossen; / […] / ein lebenvoller Geist; sein Absein ist der Tod.“ In der 2. Hälfte des Gedichtes heißt es: „O Alles über All! O mehr als alles Alles, / vor Allem allzeit da, ein Aufstand alles Falles, / nach

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4.1 Zu von Greiffenbergs Selbstverständnis als Dichterin

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Gott oder Jesus allein ist, so können wir sagen, ihr, von Greiffenbergs, ,ein und alles‘. Aber daß Gott ,alles‘ ist, das ist bei ihr nicht exklusiv ausgeführt, sondern nach ihrer Überzeugung ist in Gott einbehalten „alles Gute und alle Weisheit“, ja ,alles, was Wesen hat und wirklich wirkt‘. Er umfaßt das alles. Er ,erfüllt‘ alles, ist die „Güte“ in allem, was wesentlich ist. Gott ist, so können wir sagen, genug, denn er ist als das Gute in allem, was wirklich ist, zu finden. Etwas moderner formuliert: Gott in seinem Gutsein, in seiner Güte, gefunden zu haben, zeigt sich darin, daß einer Gutes findet in allem, was ist und nicht schlimm-böse, übel und lebenzerstörerisch ist. Die so verstandene „Allheit“ ist von der Verfasserin in der ersten Zeile ihrer ,Sonetten und Gedichten‘ angerufen. Doch noch bevor sie ihre Bitte an Gott, an die „Allheit“, ausspricht, bekundet die Dichterin ihre völlige, vorbehaltlose ,Ergebenheit‘ an Gott: Sie überläßt sich ihm gänzlich und folgt ihm mit allem ihrem Wollen, Denken und Dichten. Und mithin ist, wie sie von sich sagt, Sinn und Ziel ihrer Dichtung, ihres ,Sprachspiels‘, einzig und allein ausgerichtet auf die Ehre Gottes („zu deiner hohen Ehr“). In der Tradition steht häufig nach der Nennung Gottes seine weitere Kennzeichnung mittels einer Apposition oder eines Relativsatzes. Steht, an der Stelle einer solchen näheren Bezeichnung Gottes, in dem vorliegenden Sonett eine Bekundung der Autorin von sich selbst, so läßt sich dem entnehmen, wie ungewöhnlich im lutherischen Schrifttum, auch in der lutherischen Barockliteratur, ein solches Gedicht ist und wie persönlich (oder subjektiv) es ist. Keines der Werke von Greiffenbergs ist auch nur ähnlich einem Kirchenlied, einem Choral. Die Bitte der Dichterin lautet: Ach, laß mein ganzes Leben von dem durchdrungen sein, was der ,Zweck der Engel‘ ist: „dein Lob“ zu singen und zu verkünden. Wie wir aus ihrem „Briefwechsel“ wissen,244 hat sie sich mit 18 Jahren in einem Gelübde ganz diesem Zweck der Ausbreitung und Mehrung der Ehre Gottes und des Gotteslobes – der „Deoglori“ – verschrieben. Ihre ganze Dichtung und ihr ganzes Schrifttum ist dem gewidmet. Folglich soll (nach der zweiten Strophe) nichts, „was dich“, Gott, nicht „liebt und lobet“, in ,meinem‘ – ihrem – Leben sein. Aber um diesen „Vorhabens-Zweck“, um das Lob Gottes auszuführen, das für sie „Pflicht“ ist, dazu Allem stets wie vor, ein Einzler an Zahl, / doch über alle Zahl und Zeiten allzumal,“ […]. Und am Schluß steht: „ein geistgestalter Mensch, ein menschgestalter Geist, / o Menschgott, Heiland, Heil! dem alle Dinge geben / in Allem allen Preis, du alles Lebens Leben / und alles Todes Tod! du bist es, Jesu, du / ohn dem Nichts Alles ist und minder noch darzu. / Ach Alles, laß mein Nichts dir darumb doch gefallen, / […] / gieb, Alles, mir, dem Nichts, in allem Rat und Tat, / so hab’ und kan ich mehr, als Alles kan und hat!“ (In: Paul Flemings Deutsche Gedichte. Hrsg. von J. M. Lappenberg (Bibliothek des Literarischen Vereins in Stuttgart. Bd. LXXXII). Stuttgart 1865. Nachdruck Darmstadt 1965, Bd. 1, S. 31 f). – P. Flemings Werk war von Greiffenberg bekannt. In ihrem Briefwechsel mit Sigmund von Birken zitiert sie P. Fleming (nachgewiesen in: BW II, S. 745 u. 812), ebenso in SW 8, S. 1012. 244 S.o. S. 10.

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4. Über einige Sonette und Gedichte

erbittet die Dichterin Leidenschaft und Verständigkeit („Hitz’ und Witz“). Der ,Zustrom von Geist‘ sei ihr nicht „versag[t]“, sondern ,entflamme‘ sie, brennend im Geist zu werden, und beschwinge sie wie ,Flügel‘. Der anfängliche „Muht“ werde ihr „zu[r] Glut“, zu Feuer und Flamme. Und so geschehe eben dies: herzhaft („brünstig“) „dich“, Gott die „Allheit“, hoch „zu erheben.“ Nun wird der Leser von der Autorin um das rechte Verständnis ihres Werkes gebeten. Und auch dieses Anliegen gehört zu ihrem Selbstverständnis.245 Sie ,suche‘ nämlich die „eigene Ehr[e]“ nicht, „verdiene sie auch“ nicht. „Sieht“ also „jemand [et]was Geist-Nützliches allhie“ in diesem ihrem Werk, so schreibe er den geistlichen Gewinn (das dem Geist ,Nützliche‘) und die damit verbundene Ehre nicht ihr, der Autorin, zu, sondern allein dem, dem die Autorin eine solche Einsicht verdankt: dem „Ewige[n]“. Und so schließt das Gedicht mit einem Selbstbekenntnis: Nur von ihm, dem ,Ewigen‘, rührt „das Gute“ her, „in meiner“ – ihrer – „Schrift“. Nur er ist es, der „das Gute“, das geistig Förderliche, ihr „in Geist und Feder“ eingibt. Und darum „soll alles Lob“ von ihr und von allen einzig und allein ihm, Gott, sein und „bleiben“. Allein dem Gotteslob und der Ehre Gottes – der „Deoglori“ – will von Greiffenberg leben, dichten und schreiben. Was sie zu „beginnen“ wünscht, ist, „daß ich, O Gott, dein’ Ehr vor alles würd’ erheben.“246

4.1.2 Andachts=Aufmunterung O Wort! dem alle Wort zu wenig, es zu preisen! O Wort! durch welches ward, das man mit Worten nennt. Durch dich, O Wesen=Wort! man dessen Selbstheit kennt, Der seinen Allheit=Glanz, dich zeugend, wollte weisen. O Wort! das, auf das Wort des Engels wollte reisen In keuschen Tugend=Thron! Das bleibet ungetrennt Von seinem Ausspruchs=Mund, doch alle Welt durchrennt. Wort! das mit Worten kan, die voll der Werke, speisen. Wort! das eh, als, sein Mund und Zunge, war geboren! Ja, Wort! das seinen Mund und Zunge selbst erschuff! Wort! das zu reden ihm durch Schweigen hat erkoren! Wort! des Unmündigkeit die ganze Welt ausruff! O Wort! das GOtt beredt, zum Schaffen und Erlösen, Wolst Worte, dir zu Lob, in mir jetzt auserlesen. 245 Es gehört zu ihr, wenn es auch der Tradition entspricht; z. B. bei Paul Gerhardt: „Ach, ich bin viel zu wenig, zu rühmen seinen Ruhm“ (EG 302, 8). 246 SW 1, S. 88.

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4.1 Zu von Greiffenbergs Selbstverständnis als Dichterin

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Dies Gedicht ist die dritte der „Andachts=Aufmunterung[en]“ zu Beginn ihrer „Passion=Andachten“, der ersten durch von Greiffenberg selbst herausgegebenen Veröffentlichung.247 Wie sie in ihrem Selbstkommentar zu diesem Gedicht angibt,248 handelt es von dem „ewige[n] Wort des ewigen Vaters“. Das ist das Wort, von dem es heißt: „Im Anfang war das Wort, und das Wort war bei Gott, und Gott war das Wort. Dasselbe war im Anfang bei Gott. Alle Dinge sind durch dasselbe gemacht“ (Joh. 1, 1 – 3a). Es ist das ur-anfängliche Wort, das selbst Gott ist und aus dem alles ist, was ist und lebt, und das alles so beschaffen sein läßt, daß es uns verstehbar ist. Dies Wort spricht die Dichterin auch in ihrem Kommentar mit „Du“ an: „Ach ja, du ewiges Wort des ewigen Vatters!“ Diese Anrede wendet sie sogleich zur Bitte: „gib Geist und Worte, dein Lob zu lieben, und deine Liebe zu loben.“ Das Gedicht selbst nämlich ruft in zehn seiner vierzehn Zeilen das „Wort“ inständig an, weil es sogleich, noch in der ersten Zeile, unseres Unvermögens, des Ungenügens unserer Worte, Gott zu loben, Gott zu preisen, eingedenk ist. Die erste Strophe spricht, nach der Eingangsanrufung, von Gott als dem „ewigen Vatter[..]“ und zugleich und vor allem von dem „ewige[n] Wort“ (griechisch: Logos), das ja auch vom ,ewigen Vater‘ unterschieden ist. Dies „ewige Wort“ nennt die Verfasserin das „Wesen-Wort“, also das „Wesen“ des Wortes überhaupt. Diesem „Wesen-Wort“ schreibt sie (wie Joh. 1,3) die Schöpfung zu: „durch welches“ alles „ward“, was ist und lebt. Weil alles, was „ward“ und ist, durch das göttliche, ,wesentliche‘ Wort ist, deshalb ist das alles von der Art und Beschaffenheit, daß „man“ es „mit Worten nennt“, mit Worten benennen kann.249 Doch, noch mehr, durch dies wesentliche Wort kennt man Gott in seiner „Selbstheit“, in dem, was er selbst ist. Gott hat nämlich in dem „ewigen Wort“ sich ausgesprochen und so es aus sich heraus gesetzt (,gezeugt‘), da er so mit ihm „seinen Allheit=Glanz“ zeigen „wollte“. (Also handelt die erste Strophe von dem Gottsein des Wortes Gottes, von Gottes ,Selbstoffenbarung‘ in diesem Wort – und von der Schöpfung.)250 In der zweiten Strophe beschreibt von Greiffenberg den Weg des „ewigen“, göttlichen Wortes in die Welt („Und das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns“: Joh 1, 14). Jenes ewige Wort aus Gott „wollte“ auf dem „Wort des Engels“ in den „keuschen Tugend-Thron“ Marias „reisen“, das ist in deren jungfräu-

247 SW 9, 2 f. 248 SW 9, 3. Einzig dieses der drei ,Aufmunterungs‘-Gedichte kommentiert sie selbst. 249 In den „Geburtsbetrachtungen“ steht: In „dem ewigen Wort“ ,bestehen‘ „alle Wort und Namen“, ja es ist „die Selbständigkeit aller Bedeutungen und Aussprüche“ (SW 3, S. 255). Wir könnten sagen: Es läßt diese „Selbständigkeit“ zu, indem es sie als Sinn der Worte und Namen ermöglicht. 250 Zur 1. Strophe siehe auch die 1. Betrachtung in den „Geburtsbetrachtungen“ über die „ewige [..] Gottheit“ Jesu Christi. Das ist eine mit zahlreichen Zitaten der Kirchenväter belegte, trinitätstheologische Auslegung von Joh. 1, 1 – 14, schließend mit einem „Lob-Lied GOttes des Wortes“ (SW 3, S. 1 – 67).

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4. Über einige Sonette und Gedichte

lich-keuschen Leib.251 Hat das ewige Wort in Maria Wohnung genommen, ist es von ihr bejahend ausgesprochen, hat es sich mit Maria einen „Mund“ geschaffen, so „bleibet“ es davon „ungetrennt“, so ist es davon nicht mehr ablösbar. Und doch geht es in diesem Menschwerden – in diesem einen Konkretwerden – nicht auf; vielmehr durchläuft oder „durchrennt“ es durch „alle Welt“ auf der Suche nach Menschen, deren Mund es ausspricht. Das ewige Wort kann noch mehr : Es kann „voll der Werke“, d. h. voll Wirklichkeit sein, und so kann es „mit Worten“ des Abendmahls alle Hinzutretende „speisen“. (Also handelt die zweite Strophe von der Menschwerdung oder Inkarnation des „ewigen Wortes“ als Jesus Christus, die sich fortsetzt in jedem Mund, der es ausspricht – und von Christi leibhaftiger Gegenwart im Abendmahl.) Die dritte Strophe bedenkt noch des näheren das Ineinander von dem ewigen, gottgleichen Wort und dem ,Mund‘, der es ausspricht in Worten eines Menschen. Das Wort, das uranfängliche Wort, war „eh[er] als sein Mund und Zunge“. „Ja“, es hat „seinen Mund und Zunge selbst“ ,erschaffen‘. Und es hat durch sein „Schweigen“ diejenigen ,sich‘ „erkoren“ oder auserwählt, die es „zu reden“ haben, die Worte für das ewige, immer seiende, göttliche Wort finden. Das Wort hüllt sich in Schweigen und hat Menschen – uns – dazu „erkoren“, von ihm „zu reden“. Dementsprechend fordert die vierte Strophe die „ganze Welt“ dazu auf, die „Unmündigkeit“, die Mundlosigkeit, des „Wort[es]“ ,auszurufen‘ und dem Wort Worte zu geben, das selbst schweigt. In den Schlußzeilen wird noch einmal das eine Wort angerufen, von dem es heißt, daß es von Gott eingesetzt ist252 „zum Schaffen und Erlösen“. Von ihm, von diesem Wort, erbittet die Dichterin, daß es ihr Worte eingebe, „jetzt“, bei diesem vorgenommenen Werk, in ihr die Worte ,auserwähle‘, die „dir“, Gott „zu Lob[e]“ sind.253 251 Vgl. wiederum in den „Geburtsbetrachtungen“: „Ist das nicht ein bestürzendes Erz-Wunder, daß […] das Wort selbst, wodurch alles geschaffen ist, was geschaffen ist, […] der jenigen“ [nämlich Maria nach der Ankündigung des Engels Gabriel] „im Mund gelegt“ [ist], „die ihm“, dem wesenden Wort, „mit diesem Wort“ [nämlich „Fiat oder Mir geschehe“, wie du gesagt hast] „einen Mund angebären solte?“ (SW 3, 118) „Das Wort, durch das alles worden, und das alles ist, wird in ihr [sc. in Maria] etwas, das die Allheit ehe“ [= bislang] „nicht gewesen“, nämlich Mensch und es aussprechender Mund (a. a. O., S. 251). 252 „bered[e]t“: Jemanden ,bereden‘ im Sinne von: jemanden zu etwas bestimmen. 253 Vgl. in den „Geburtsbetrachtungen“: Gepriesen sei der, „dessen Wort, ohne Mund, unseren Mund, zu seinem Lob erschaffen“ (SW 3, S. 284). Und „O JEsu! Ach ewiges Wort des Vatters! rede auch durch mich, rede auch durch und aus meinem Mund, würdige meinen unwürdigen sündlichen Mund, deine Rede durch mich schallen und erschallen zu lassen: Ich schenk ihn dir ganz und gar zu deinen heiligen Gebrauch, und wünsche, daß […] allein deine Lehr und Ehre, Lieb und Lob, Preiß und Wunder heraus gehen möchten. […] lasse reden aus mir, gegen[über] dir, O mein himmlischer Allerliebster! die feurige Inbrunst, die himmlische Liebe, die fliegende Begierde; mit einem Wort, die Erz-verliebte“ [= von Grund auf verliebte] „SeelenSprach. Gegen die Menschen“ [= gegenüber den Menschen] „rede hinfüro aus mir deine Göttliche Freundlichkeit, deine Leut-Liebe, deine Sanftmut, Demut, und Holdseeligkeit!“ (SW 4, S. 880 f)

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4.1 Zu von Greiffenbergs Selbstverständnis als Dichterin

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In der großen Bewegung von der Schöpfung durch „das Wort“ und von der Menschwerdung des Wortes, die fortlaufend unter Menschen in menschlichen Worten geschieht, wodurch das „ewige Wort“, das Jesus Christus ist, seinen „Mund“ hat, versteht von Greiffenberg ihre Worte und mithin ihre „Betrachtungen“ und Gedichte. Sie versteht sie und mithin sich selbst in ihrem Schreiben und Dichten als ,Mund‘, der in ihren Worten äußert, was das mit Gott einige Wort ihr eingibt.254 Und so sind alle ihre Worte einzig „Lob“ Gottes oder Gott zur Ehre; können sie nichts anderes sein. Abschließend sei noch einmal aus ihrem Selbstkommentar zitiert: „Ach ja, du ewiges Wort des ewigen Vatters! gib Geist und Worte, dein Lob zu lieben, und deine Liebe zu loben. Verleihe aller Lob=würdigster Heiland! dir zu unendlichem Ruhme, daß dein Lob mein Leben, und mein Leben dein immerwährendes Lob sey. Ach! die innigste Gedancken meines Hertzens auszureden, wo sind würdige Worte zu finden, als bey dem wesendlichen Worte? So rede dann du in mir, du himmlischer Allredner! auf daß ich recht geistig von= und vor dir reden könne. […] Fange an, du unanfänglicher Anfang aller Dinge, deinen unendlichen Preiß255 aus meinem Mund erschallen zu machen. […]“. Zusatz: Man vergleiche diese inhaltliche Interpretation mit dem ruhigen Fluß der Worte im Gedicht selbst. In ihm fügen sich die Worte ungezwungen zusammen, leicht reimt sich beispielsweise „weisen“ und „reisen“; wie holperig dagegen ist die Interpretation. Anhang: Nur hier zu Beginn sei das Selbstverständnis der barocken Dichterin konfrontiert mit dem zweier gegenwärtiger Literaten. Philippe Jaccottet ermahnt sich in einem reimlosen Gedicht selbst: „heut noch beende rasch dieses Gedicht, / ehe der Zweifel dich einholt, die Unsicherheit, / die Wolke von Fragen, […]“.256 – In Aharon Appelfelds „Geschichte eines Lebens“ äußert der Autor : „Wörter halten großen Katastrophen nicht stand; sie sind schwach, erbärmlich, und im Nu verfälschen sie.“257 4.1.3 Göttlicher Anfangs=Hülfe Erbittung GOtt, der du allen das, was du selbst nicht hast, gibest! Du bist des gantz befreyt, was du den andern bist. mein und der ganzen Welt Uranfang von dir ist, weil die mittheilend Krafft du uns erschaffend übest. 254 Die Rede vom Wort Gottes im Menschen-Mund als menschliche Worte, eingegeben von Gott, erinnert an die Inspirationslehre in Bezug auf die Hl. Schrift, die Bibel. 255 „Preiß“ = wie „Preis und Dank“, Ruhm und Lob. 256 Ders., Gedichte. Übertragung und Nachwort von Friedhelm Kemp. Stuttgart, 21995, S. 131. 257 Ders., Geschichte eines Lebens. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Berlin 2005, S. 110.

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4. Über einige Sonette und Gedichte In deiner Vorsicht Buch du alles Welt=seyn schriebest. dein’ überschwenglichkeit mit wolthun war gerüst, daß sie so göttlich=reich uns schenket ieder frist; ob alles kam aus dir, du alles dannoch bleibest. Sonst alles, als nur dich selbst nicht, anfahends Ding, sey mit, in, und bey mir, wann ich das Buch anhebe. Dein Anfang=Schirmungs=Geist ob diesen Redwerk schwebe, der gebe daß ich rein von deinen Wundern sing’. Mein Gott, ich fah izt an, dich ohn End zu preisen: laß wol anfahend mich, dich unanfänglich weißen.258

Das ist das siebte Eingangsgedicht in der Sammlung der Sonette und Gedichte von Greiffenbergs. Die Überschrift gibt genau das Thema des Sonettes wieder : Gott wird um Hilfe zum Anfangen ihres Werkes, dieses „Buch[es]“, gebeten. Rätselartig setzt die erste Strophe ein: Gott, so hören wir, habe etwas nicht, was er allen gibt, sei von etwas „befreit“, das er „den anderen“, den Menschen und allem Geschaffenen, ist – wie das? Die Antwort gibt die 3. Zeile: „Mein“, der Verfasserin, „und der ganzen Welt“ absoluter Anfang („Uranfang“) ist von ihm, von Gott. Ja er, Gott, ist ihr, der Menschen und alles Endlichen, Anfang („was du den anderen bist“), obschon oder gerade weil er selbst ohne Anfang, also ewig ist. „Uns erschaffend“, uns einen Anfang gebend, übt er seine „mitteilend[e] Krafft“ aus. Nach der zweiten Strophe hat Gott in einem „Buch“ der Vorsehung (der Providenz) alles Sein und Geschehen in der Welt voraussehend festgehalten (,aufgeschrieben‘). Doch bei dieser ,Voraussicht‘ Gottes war sein ,überwältigendes Wohltun‘ so gut von ihm ausgestattet („gerüst“), daß es zu „jeder Frist“, zu jeder Erdenzeit, „göttlich-reich“ uns ,beschenkt‘. Das Beschenken, das uns Beschenken, das hat er selbst so eingerichtet, ,vorgesehen‘ und eingeplant. Obschon alles, was wir haben, „aus“ Gott „kam“, ,bleibt‘ er „dennoch“ ,alles‘ in allem, in Fülle reich. In diesem Zusammenhang der Schöpfung und Gottes als Anfang von allem und der uns beschenkenden Vorsehung Gottes richtet in der dritten Strophe sich der Blick der Autorin auf ihr eigenes dichterisches und schriftstellerisches Tun. „Nur“ das „anfahende[..] Ding“, nur der schiere Anfang soll nicht bei ihr sein – sie will ja über den Anfang als Datum gerade hinaus. Um alles andere aber für den Fortgang bittet sie, es „sei mit, in und bei“ ihr, wenn sie mit dem „Buch“, mit „diese[m] Redewerk“ beginnt. Gottes Geist ,beschirme‘ von ,Anfang‘ an dies Werk der Dichtung und der Rede. Und die vierte Strophe fügt noch hinzu: Gottes Geist gebe, daß sie, die Dichterin, „rein“, unverfälscht von Gottes „Wundern“ in all seinen Taten „singe“. So wendet sich die Verfasserin zuversichtlich ihrem Vorhaben, ihrem 258 SW 1,7.

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4.1 Zu von Greiffenbergs Selbstverständnis als Dichterin

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Werk, zu und betont, daß sie „jetzt“ ,anfange‘, dich, mein Gott, „ohn End’ zu preisen“. Erneut bittet sie darum – mit Worten, die auf den Anfang des Gedichtes zurückweisen: „Laß“ mich, ,anfangend‘, dich, mein Gott, als „unanfänglich“ ,aufweisen‘. Nachwort: In diesem Gedicht gibt die Verfasserin Auskunft darüber, was die Schwierigkeit, die Zweifel, ein solches „Werk“ wie diese Gedichte anzufangen, überwindet. Das ,Sprachspiel‘ dieses Sonetts bespricht das Anfang Geben dessen, der keinen Anfang hat. So endet das Gedicht mit freiem Mut und ungetrübter Zuversicht: „Mein Gott, ich fah izt an, dich ohn End zu preisen“.

4.1.4 Sonett: O mein Geist O mein Geist! gieß dich aus, nur JEsum recht zu lecken [= loben] ja samle alle kraft aus meinen Adern ein. Ein jeder odem soll ein Himmels=flügel seyn. Sein Lob schweb in der Seel, wie oel im wasser, oben. Laß welt, das unglück laß mit allen kräften toben! Das ist das hellste lob, das klinget aus der pein. Das schwarze schmelzwerk mehrt dem Demant seinen schein. Vom welt=durchkränkten Geist wird Gott nur recht erhoben. Der wahre Selbstheit=ruhm darf keiner glückes=glut, zu fördern seinen Ruch; der kohlen findt im herzen vom Himmel angezündt, daß es das höchste Gut begeistert lieb=hoch rühm, auch wol in äusern schmerzen und widerwärtigkeit. O HErr! gib, daß dein Preis von mir nie weich, als wie die Sonn’ aus ihrem kreis.259

Das Sonett steht in der „3. Betrachtung“ des Leidens und Sterbens Jesu Christi, die Jesu Ringen im Gebet und um seine Jünger am Ölberg gewidmet ist. Dem Gedicht geht voraus ein Gebet der Autorin: „O JEsu! gibe mir auch diese Helden=art, daß deine Lobes=Rosen auf den Dornen meiner schmach blühen; […] Laß mir deinen preis inniger als meine Angst zu herzen gehen! Lebe ich doch nur dir, mein Leben! und nicht mir selbst. Laß mich mich selbst verleugnen, […]: nur daß ich freud= und muth= und folgends lob=fähig bleibe, nicht allein zu denken, sondern auch zu sagen, zu dichten und zu schreiben, was dich mit lob und Glori krönen und überschütten kan.“260 Ungewöhnlich ist die Anrede des Gedichts, an den eigenen Geist, an den, der ,Sinne und Verstand‘ des Menschen ist. Er wird aufgefordert, sich ,aus259 SW 9, 67. Dem Endreim der 1. Strophe folgend korrigiere ich das Wort am Schluß der 1. Zeile: „lecken“ in „loben“. In der 2. Zeile der 3. Strophe lese ich „Ruch“ als „Geruch“. 260 A.a.O., 66 f.

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4. Über einige Sonette und Gedichte

zugießen‘, sich ganz zu entäußern, um „nur JEsum recht zu loben“ – oder in ihrem zitierten Gebet vor dem Gedicht: „dich mit lob und Glori krönen und überschütten“. Dazu bittet sie, daß ihr Geist „alle Kraft aus“ ihren „Adern“ ,einsammle‘, „jede[n] Odem“, jeden Atemzug, sich hinaufschwingen lasse gen Himmel. Wie das „Öl im Wasser“ obenauf bleibt, so soll „sein Lob“, Jesu Lob, in ihrer Seele sein. In der folgenden Strophe denkt die Verfasserin – noch immer im Nachsinnen über Jesu Ringen am Ölberg – an das Unheil der Welt, das ,tobt‘. Die Dichterin kann sagen: „Laß“ es „toben!“ Denn sie ist überzeugt: Das „Lob“, das sich „aus der Pein“, aus dem erlittenen Unheil oder „Unglück“ erhebt, ist „das hellste“, klarste „Lob“. Ihr, von Greiffenbergs, Lob ist, wie man sieht, nicht himmelflüchtig, weltenthoben. Nein, es setzt sich dem tobenden Unheil der Welt aus – und läßt vom Loben Gottes oder Jesu nicht ab. Vielmehr, das Lob aus der Tiefe, aus erlittener „Pein“ ist das reine, wesentliche Lob, ist es doch durch das Unheil erhärtet und bewährt, wie ein Diamant, der in einem Schmelzofen geläutert und zum Glänzen gebracht ist.261 Gerade der von der Welt durch und durch ,gekränkte‘, verletzte Geist eines Menschen, „wird Gott […] recht“ ,erheben‘. Der „Ruhm“ oder das Rühmen dessen, der ganz er selbst ist (der „Selbstheit“) – und das ist Gott – bedarf, nach der dritten Strophe, keiner Aufmunterung durch das ,Glück‘. Das Glück ,fördert‘ mithin dessen Ausbreitung (seinen ,Geruch‘) nicht. Denn die „Kohlen“, brennend zum Rühmen, ,finden‘ sich unabhängig vom Wohlergehen – und auch vom Unglück – „im Herzen“. Sie sind „vom Himmel“ und von nichts Welthaftem „angezündet“. Gott selbst bereitet die Herzen dazu zu, wie es im Übergang zur vierten Strophe heißt, ihn als „das höchste Gut begeistert“ – ja noch mehr „liebe-hoch“, von der Liebe „hoch“ emporgehoben – auch bei „äußeren Schmerzen und Widerwärtigkeit“ zu rühmen. Das Sonett schließt mit der Bitte an Gott: Er gebe, daß sein „Preis“, sein Ruhm, „von mir nie weiche“, so wenig „wie die Sonne aus ihrem Kreis“ abweichen kann. Nachbemerkung: Ersichtlich ist, daß von Greiffenberg das, was zu sagen ist, im Kontrast formuliert. Doch nie soll es beim Kontrast bleiben, sondern damit soll das Wesentliche, hier das Lob Gottes, zugespitzt sein, an Konturschärfe gewonnen haben. Aber man verkenne nicht, daß die Extremsituation, das Gotteslob aus der Tiefe, nicht die normale für das Loben Gottes ist.

261 Des öfteren ist im Alten Testament davon die Rede, daß Silber im Tiegel und Gold im Ofen geläutert oder gereinigt wird (z. B. Spr. 27, 21; Hes. 22, 22; Mal. 3, 3). Aber nie wird das als Vergleich auf Unheil und Lob Gottes bezogen. – Auch daß der ,Rauch‘ oder „Geruch“ des AltarOpfers, der „Kohlen“ des Altars, zu Gott im Himmel aufsteigt, ist alttestamentliche Ansicht.

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4.1 Zu von Greiffenbergs Selbstverständnis als Dichterin

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4.1.5 Über das unaussprechliche Heilige Geistes=Eingeben DU ungeseh’ner Blitz, du dunkel=helles Liecht, du Herzerfüllte Krafft, doch unbegreifflichs Wesen Es ist was Göttliches in meinem Geist gewesen daß mich bewegt und regt: Ich spür ein seltnes Liecht. Die Seel ist von sich selbst nicht also löblich liecht. Es ist ein Wunder=Wind, ein Geist, ein wehend Wesen die ewig’ Athem=Krafft, das Erz=seyn selbst gewesen das ihm in mir entzünd diß Himmel=flammend Liecht. Du Farben=Spiegel=Blick, du wunderbundtes Glänzen! du schimmerst hin und her, bist unbegreiflich klar Die Geistes Taubenflüg’ in Warheits=Sonne glänzen. Der GOtt=bewegte Teich, ist auch getrübet klar! es will erst gegen ihr die Geistes=Sonn beglänzen den Mond, dann dreht er sich, wird Erden=ab auch klar.262

Das Sonett steht in der Ausgabe der von Greiffenbergischen „Geistliche[n] Sonnette, Lieder und Gedichte“ im Schlußteil, der von der Gegenwart des pfingstlichen Gottes-Geistes im Leben des Menschen handelt. Durch die hervorgehobene „Du“-Anrede ist es deutlich in zwei Teile gegliedert. Die beiden ersten Strophen berichten von einem eigentümlichen Erlebnis: „Ich spür ein seltnes Liecht“; in ihr wurde ein „Himmel-flammend Liecht“ ,ent262 SW 1, 191. In der letzten Zeile sei das erste Wort, das Relativpronomen „den“, der Grammatik der gesamten Zeile entsprechend, korrigiert zu „der“. Das Personalpronomen in der vorletzten Zeile „ihr“ beziehe ich auf „Erde“. – Max Wehrli schlägt vor, in der 2. Zeile statt „Herzerfüllte Kraft“ zu lesen: herzerfüllende Kraft (Ders., Catharina Regina von Greiffenberg. Über das unaussprechliche Heilige Geistes-Eingeben; in: Ders. Humanismus und Barock. Hrsg. v. Fritz Wagner und Wolfgang Maaz. Hildesheim u. Zürich 1993, S. 112 – 117; zur Sache: S. 114. Erstpublikation: 1965/6. Das Gedicht wird auch vorgestellt und interpretiert von Ferdinand van Ingen (in seiner Abhandlung: Wort-Theologie und Wort-Kunst in den Gedichten der Catharina Regina von Greiffenberg; in: Jahrbuch des Wiener Goethe-Vereins Bd. 100/101 (1996/97). Wien 1998, S. 147 – 158; zur Sache: S. 153 – 155). Den Gesamtinhalt gibt von Ingen so wieder : „Das Gedicht […] hält die Lichtmetapher des Anfangs durch, erweitert sie in der Mitte durch andere Metaphern, fängt das Licht-Bild variierend wieder auf und beschließt mit der Apotheose der Sonne als der Quelle des Lichts.“ (S. 153)f. van Ingen zeigt insbesondere die Bezüge der Metaphern zu alttestamentlichen Textstellen und zur „mystische[n] Tradition“ seit „PseudoDionysius“ auf (S. 154). – In einer anderen Abhandlung schreibt er von dem oben angeführten Gedicht, in ihm seien „die Zusammenhänge zwischen der Dichtkunst-Sonett und dem Lobpreis des Heiligen Geistes“ besonders deutlich (so in: Ders., Poetik und ,Deoglori‘. Auf die unverhinderliche Art der Edlen Dicht-Kunst von Catharina Regina von Greiffenberg; in: Gedichte und Interpretationen Bd. 1: Renaissance und Barock. Hrsg. v. Volker Meid [UB 7890/5]. Stuttgart 1982, S. 319 – 330; Zitat: S. 325).

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4. Über einige Sonette und Gedichte

zündet‘. Es rührt her von „ein[em] Geist“, der selbst „Licht“ ist. Es muß „[et]was Göttliches […] gewesen“ sein, das sie, die Dichterin, in ihrem „Geist […] bewegt und regt“. Denn aus der „Seel[e]“ stammt es nicht; diese ist nämlich „von sich selbst“ aus nicht so klar, so „löblich“, nicht „liecht“. Das göttliche Geist-Licht wird als „Du“ angesprochen und in den zwei ersten und in der siebten und achten Zeile, zweimal also, mit Prädikaten näher charakterisiert. In der ersten Strophe sind das Näherbestimmungen, die ausgehen von der Erscheinung des Geistes als Licht. Es ist, was da geschehen ist, ein „ungesehener Blitz“, der doch alles erhellt, gewesen; ein verborgenes (,dunkles‘) und doch „helles Liecht“ von „Herz erfüllender Kraft“, das einen Menschen wie die Dichterin im eigenen „Geist […] bewegt und regt“. Wahrlich ein Geistes-Licht, das in seinem Erscheinen unerforschlich ist, und also das Erscheinen eines „unbegreifflich[en] Wesen[s]“ ist. – „Es ist […] ein Geist“, der weht, aber gewiß kein natürlicher Wind, sondern ein „Wunder“ wirkender und so selbst ein ,wunderlicher‘ Wind.263 Und so ist, was da erscheint und wirkt, selbst ein sanft bewegendes („wehend“) „Wesen“. Aber es ist so doch nicht weniger als „die ewig’ […] Krafft“ des „Athem[s]“, die Lebendigkeit des Lebens,264 nicht weniger als das ,höchste‘ und grundlegende ,Sein‘ „selbst“ („das Erz-seyn selbst“). Es sei kurz unterbrochen: Welch erstaunliche Bilder und Prädikate bietet von Greiffenberg auf, um zu umschreiben, was sie nüchtern so sagt: „Es ist was Göttliches in meinem Geist gewesen“. Und ebenso erstaunlich ist, wie ihre Bilder und Ausdrücke schwebend bleiben, das Gesagte nicht feststellen, aber sehr wohl den Geist ahnen lassen.265 Übergehend von der zweiten Strophe zur dritten nimmt die Autorin das „Himmel=flammend Liecht“ wahr, das der Geist, das ,höchste Sein selbst‘, in ihr „entzünd[et]“ und ,entflammt‘ hat, als einen „Farben=Spiegel“,266 als ein „wunderbundtes Glänzen“, das „hin und her“ ,schimmert‘ und doch „unbegreiflich klar“ ist. Sie schließt ihr Sonett mit drei dem Sinn nach gewagten Bildern. Alle drei drücken etwas aus von der Bewegung unsres, des menschlichen Geistes durch den Gottesgeist. Und so ,spricht‘ sich in ihnen auch etwas von der geistigen Lage und Befindlichkeit der Dichterin aus.267 263 Zur Metapher „Wind“ für den Geist siehe Joh. 3, 8 f. – Zum Metapherngebrauch von Greiffenbergs überhaupt und insbesondere siehe: Cristina M. Pumplun, „Begriff des Unbegreiflichen“. Funktion und Bedeutung der Metaphorik in den Geburtsbetrachtungen der Catharina Regina von Greiffenberg (1633 – 1694) (Amsterdamer Publikationen zur Sprache und Literatur, Bd. 120). Amsterdam-Atlanta, GA 1995. 264 Nach der Schöpfungsgeschichte haucht Gott selbst dem ersten Menschen den „Odem des Lebens“ ein (1. Mose 2, 7). 265 Das Hauptwort am Ende der Prädikation „Erz-seyn selbst“, ein philosophischer Terminus, mag wohl bestimmter, festlegender sein – mit Absicht? 266 Das Licht reflektiert in die reinen Spektralfarben. 267 Nach Eberhard Haufe sind „die letzten Verse […] nur noch reine Bildersprache, die den Zustand der erleuchtenden Seele beschreibt.“ (Ders., Zu einem Pfingstgedicht der größten

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4.2 Zum Gottes-Lob der Schöpfung

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Zunächst wird von den „Flüg[en]“ des Geistes, vergleichbar denen der Tauben,268 gesagt, daß sie „glänzen“, daß sie im Licht sind, weil sie der „Warheits-Sonne“ zugekehrt, in ihr, in der Wahrheit, „glänzen“. Sodann in der vierten Strophe wird das ,Glänzen‘ unsres Geistes im Licht der Wahrheit durch ein zweites Bild präzisiert: Wenn Gott einen „Teich“ ,bewegt‘, ist auch ein ,trüber‘ „klar“.269 Die beiden Schlußzeilen bringen ein weiteres Bild. Sie spielen an auf die Naturerscheinung der Sonnenfinsternis, bei der der Mond die Sonne verdunkelt, so daß ihr Scheinen auf Erden nicht zu sehen ist. In den Worten der Dichterin: Der Mond will gegen die Erde die Sonne „beglänzen“. Doch, so sei weiter gefolgert, er erreicht damit nur eine Verfinsterung. Dann aber „dreht er sich“ von der ,Erde‘ weg oder „ab“, und so werden für unsere Sicht die Sonne und „auch“ der Mond „klar“. So auch, so dürfen wir schließen, bei der „Geistes=Sonn“: Wir Menschen müssen sie scheinen lassen, nicht meinen, wir müßten sie „beglänzen“. Sonst verfinstern, entstellen wir sie bloß. Dann, wenn wir ihr, der „Geistes-Sonn[e]“, ihr Strahlen lassen, scheint sie uns und auch wir werden „klar“. Deutlich ist, was die dritte und vierte Strophe zum unergründbaren, aber bewegenden Erscheinen des Geistes als Licht beitragen: Ihre Endreime sind zweimal „Glänzen“ und dreimal „klar“. Klarheit bringt das Licht des Geistes.

4.2 Zum Gottes-Lob der Schöpfung 4.2.1 Gott-lobende Frühlings=Lust GOtt sperrt die Erden auf, als seines Schatzes Kasten; der einig Schlüssel ist, sein Wort, durch dessen Krafft ihr, käumen, wurzen, grün- und blühen wird verschafft. Es würkt den Wachsthums Safft in Erd= und Sternen=Brüsten, Ja kan die ganz Natur zur Freud und Wollust rüsten. Es ist der Wurzel Geist, der Gräslein Herzens=Safft, deutschen Dichterin des 17. Jahrhunderts [Catharina Regina von Greiffenberg]; in: Ders., Schriften zur deutschen Literatur. Hrsg. von Heinz Härtl u. Gerhard R. Kaiser. Göttingen 2011, S. 149 f; Zitat: S. 150). 268 Die „Taube“ ist seit Matth. 3, 16 ein Symbol für den Geist. Von einem Fliegen wie mit „Flügel [n]“ der „Tauben“ wird in Ps. 55, 7 gesprochen. 269 Von der Bewegung des Teiches Bethesda ist in Joh. 5,4 berichtet. Aber hier ist nicht vom Teich Bethesda oder von einem Teich um des Teiches willen die Rede, sondern der Teich ist hier Metapher für etwas, das still steht und dann vom Geist bewegt und klar wird, obschon es an sich trübe ist.

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4. Über einige Sonette und Gedichte der Blumen LebensLufft, mit süssem Thau behafft, kurz, der Geschöpffe Ruh, nach dem sie all gelüsten. Es zeigt uns GOtt in ihm, als in dem Spiegel Glanz, und weist uns selben auch in all=erschaffnen Dingen: wie seine Schön’ herblickt aus bunten Blumen Kranz. Sein Süßheit sich zu Mund will aus den Früchten schwingen. Ja alls, was sichtbar nur, ist GOttes Ebenbild, wie schön, süß, gut er sey, wie hoch! wie reich! wie mild.270

Nie ist Gottes Schöpfung in der Sicht von Greiffenbergs ein abgeschlossener Akt der Vergangenheit, sondern ein immer wieder Leben erneuernder, und also schaffender gegenwärtiger Prozeß, der sich vor ihren Augen vollzieht. Sie nimmt in ihren Gedichten die Natur wahr als lebendigen Prozeß und damit als das, was in seiner Kraft, seiner jeweiligen Gestaltung, in seinem Sinn äußerlich in der Natur gar nicht sichtbar ist. So erkennt sie, was die Natur lebendig macht und lebendig hält. Und das ist für sie Gottes schöpferisches Wort, sein wirkender Geist. Hier, in diesem Sonett, verdeutlicht sie das kreative Schaffen Gottes mit dem Aufschließen eines Schatzes. Es ist das Auftun der Erde im Frühling. Ja, fügen wir hinzu, sinnfällig betrachtet ist das ein staunenswertes Wunder : nach von Greiffenberg uns „zur Freud und“ höchsten ,Lust‘. Nach der ersten Strophe ist der ,einzige‘ „Schlüssel“ für dies Auftun Gottes „sein Wort“.271 Und so ist auch im folgenden immer von ihm die Rede. Ihm eignet die „Krafft“, die Erde zum ,Keimen, Wurzel-Schlagen‘, ,Grünen und Blühen‘ zu bringen. Es wirkt in der Erde und im Himmel272 den „Safft“ – die Flüssigkeit, das Wasserspenden – also den „Safft“, der das Wachstum antreibt. Gott wirkt in seinem Wort mit der Natur, indem er deren „Safft“ ,bewirkt‘ und so das ,Wachstum‘ ermöglicht. Laut der zweiten Strophe steht es in der Kraft des schöpferischen Wortes Gottes („kann“ es), „die ganz[e] Natur“, wie der Frühling beweist, so auszustatten, daß sie „zur Freud[e]“ und zur ,Lust‘ ist. Gottes Wort: Es ist das Treibende, Wirkende, Leben Gebende oder Belebende in der Natur : der „Geist“ in den Wurzeln, der innere „Safft“ in jedem „Gräslein“, die „Lufft“ zum Leben für die Blumen, für die sie auch ,lieblichen Tau‘ mit sich bringt. Und 270 SW 1, 224. In der 9. Zeile ist „in ihm“ zu lesen als: in seinem Wort. – Worterklärungen dürften nötig sein bei: Z. 3: „ihr käumen, wurzen“ = ihr Keimen, Wurzeln; Z. 5: „Wollust“ = höchste Lust; Z. 7: „süssem“ = lieblichem (so auch Z. 12 und Z. 14); Z. 10: „selben“ = denselben; Z. 11: „seine Schöne“ = seine Anmut, für Gott gesagt: seine Holdseligkeit, Liebenswürdigkeit. 271 Friedhelm Kemp schreibt: „Gottes Schlüssel ist sein Wort, das immer aufs neue wirkende Schöpfungs-Wort: ,Es werde‘. Es ist eine fortwirkende Kraft“ (in: Ders., Das europäische Sonett. Bd. II [Münchener Universitätsschriften Bd. 2]. Göttingen 2002. Darin: Teil II: Deutsches Barock, geistlich, S. 22 – 37; Zitat: S. 32.) 272 Zur Bedeutungsnähe der „Sterne“ mit dem „Himmel“, von dem Tau und Regen kommt, s. o. S. 21 Anm. 62. Bei der Rede von der Erde als Spenderin von „Wasser“ ist wohl an die Quelle gedacht.

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4.2 Zum Gottes-Lob der Schöpfung

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indem es so wirkt, ist es auch die Befriedigung, die „Ruhe“, nach der die „Geschöpfe“ gleichsam dürsten oder trachten. In der dritten Strophe wird vom Wort Gottes gesagt: So als wirkender Geist und als belebende Kraft, anschaulich im Frühling der Natur, „zeigt“ es „uns Gott“ in der Natur wie in einem „Spiegel“, aber als den „Glanz“ auf dem Spiegel. Und so zeigt es uns Gott im Abglanz, in der Widerspiegelung seines, Gottes, Glanzes „auch in all[en] erschaffenen Dingen“. Es „weist uns“, zeigt uns, „wie seine Schöne“, seine Lieblichkeit, zu uns „herblickt“ aus jedem Strauß „bunte[r] Blumen“. Und nach der vierten Strophe „will“ sich seine ,süße‘, angenehme Freundlichkeit („seine Süßheit“) uns „aus den Früchten“ geradezu in den Mund „schwingen.“ So sinnlich und doch vom Nachdenken geprägt, erfährt von Greiffenberg Gott in der Natur. Die beiden Schlußzeilen führen, zusammenfassend, Grundsätzliches aus: „Ja all[e]s,“ was nur immer „sichtbar“ ist, das „ist GOttes Ebenbild“;273 das zeigt uns etwas von Gott, nämlich „wie schön“ und „süß“, d.i. wie anmutig und hold, „wie gut er“ ist, „wie hoch, wie reich, wie mild.“ Die Natur zeigt uns, mit anderen Worten, die Freundlichkeit Gottes. Nachbemerkung: Versuchen wir zu verstehen, wie von Greiffenberg zu einer solchen ganz und gar nicht üblichen Aussage kommt, wonach die ganze Natur im FrühlingsAufbruch „Gottes Ebenbild“, ein Abglanz seines Glanzes ist. Sie erfragt, macht darauf aufmerksam, was im Frühling der Natur, in der Erneuerung der Natur, das eigentlich oder wesentlich Wirkende, Lebendige und Belebende und doch als es selbst nicht Sichtbare ist. Und sie benennt das zum Beispiel als „Geist“ in „der Wurzel“, also im Grunde, der Dinge. Wir in der Moderne würden wohl sagen: Was das ,Keimen, Wurzel Schlagen, Grünen und Blühen‘ bewirkt, das ist „die“ Natur. Aber was ist uns, so vorgestellt, „die“ Natur? Ein selbständiges Subjekt, das auch nicht sichtbar wirkt? Denn das „Keimen“ als es selbst sehen wir nicht, nur seine Wirkung, seinen Effekt. Was folglich schließt aus, Gott als die Lebendigkeit der Natur und die sichtbare Natur wie die des Frühlings als Zeugnis seiner Freundlichkeit, seiner Güte, nicht nur zu denken, sondern auch zu sehen? Es müßte doch nur erkannt sein, daß der „Geist“ die „Wurzel“ aller sichtbaren und sinnhabenden Dinge ist, daß er im Sichtbaren erscheint. Was für alle Dichtungen von Greiffenbergs zutrifft, ist bei denen zum Lob Gottes in der Schöpfung besonders deutlich: von Greiffenbergs Gedichte gehen nicht von einem dogmatischen Lehrsatz aus, um ihn sinnbildlich zu veranschaulichen. Sondern sie beschreiben, was sie sieht: nämlich einen aktuellen, lebendigen, organischen Vorgang, in dem im augenfällig Sinnlichen 273 F. Kemp fährt in dem oben Anm. 271 angeführten Zitat fort: „Es [sc. das Schöpfungs-Wort] ist eine fortwirkende Kraft, durch die – und hier geht Greiffenberg über den Schöpfungsbericht hinaus – alles Sichtbare Gottes Ebenbild ist.“ (A.a.O, ebd.)

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4. Über einige Sonette und Gedichte

das nicht-sinnlich Geistige – hier Gottes schöpferisches Wort – am Wirken ist, sich so vollzieht und so erkannt wird. Und dies so ungezwungen, so fließend und doch so konzentriert, daß der Lesende den Eindruck gewinnt, jener Vorgang der Erkenntnis vollziehe sich in den Gedichten selbst. Man liest nicht nur den Bericht, wie die Dichterin zu Gott oder Christus spricht – man erfährt es im Gedicht selbst. Das Motiv der Widerspiegelung des Glanzes – oder der Güte – Gottes wird in einer weiteren Hinsicht im 6. Sonett entfaltet, das die Überschrift trägt „Eiferige Lobes vermahnung“. Es beginnt mit einem Aufruf an die eigene Seele: „ACh lobe, lobe, lob’, ohn Unterlaß und ziel / den, den zu loben, du, O meine Seel, gebohren! / zu diesen Engel=werk bist du von Gott erkohren, / daß du ihm dienen solst im wunderpreisungs spiel.“ Und die Schlußstrophe lautet: „Weil du der Gottes Güt ein wunderspiegel bist, / so laß den Strahl zu ruck in deine Sonn gelangen, / weil du dazu, so sei es auch von dir, erkiest!“274 Weil die Seele des Menschen selbst ein „Wunderspiegel“ der „Gottes Güte“ ist, soll sie in einem „Wunderpreisungsspiel“ die „Gottes Güte“ zu Gott zurück-spiegeln. Weil sie zum Lobe Gottes „geboren“ und „von Gott erkoren“ ist, soll sie das für sich selbst, für ihr eigenes Wollen, erwählen. Und indem die Verfasserin dies Rückspiegeln der „Güte Gottes“ in diesem Gedicht tut oder vollzieht, spiegelt sich die „Güte Gottes“ in dem Gedicht. Und so vermag sie auch hinüber zu dem Lesenden zu strahlen. – In dieser absichtslosen Weise trägt das Gedicht dazu bei, Gottes Lob und Ehre zu verbreiten.

4.2.2 Über die Blumen 1. DU Allschöpffer auch die Lilgen, so in tieffen Thälern stehn, wunderschön herfür läst gehen. Ihr Gewand, die holde Blüh, altet nie. 2. Jedes Blätlein, jedes Strichlein, weiset deiner Allmacht Pfad und die Würkung deiner Gnad: Jedes trägt dein Weißheit-Bild in dem Schild. 3. Ihr der Erden schöne Sternen, holde Blumen, seyd das Werk, wo ich GOttes Güte merk: weil er euch so herrlich ziert, schutzt, regiert. 4. Wo der Augen Glanz hinblicket, wo mein Fuß sich nur hinsetzt, sih’ ich alls von dir ergetzt. 274 SW 1, 6. – Zum Wort „erkiest“ sei bemerkt: Es ist sinngleich mit „erkoren“ = erwählen.

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4.2 Zum Gottes-Lob der Schöpfung

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Dein Lob, was nur geht hervor, hebt empor. 5. Ach mein auserwählter Schoepffer! deine Güt’ ist übergroß. Ja, es ist der Erden Kloß, zu empfangen ihren Schein, viel zu klein. 6. Höchster! laß mich, dich zu loben, deine Wunder sehen an. überall man lesen kan deinen nie verglichnen Fleiß, Ehr und Preis. 7. Was betracht ich lang der Wiesen, Wälder, Felder, Gärten, Zier? Hat doch deine Gnad an mir mehr gethan, die selbsten sich senkt in mich!275

Das ist das 35. der „Funfzig Lieder“ im zweiten Teil der Gedichtsammlung von Greiffenbergs. In den ersten beiden Strophen wird Gott direkt angeredet. Von der 3. Strophe an spricht die Autorin von sich als diejenige, die Gott in der Schöpfung erkennt („merk[t]“). Dabei sind in der 3. Strophe die „Blumen“ als die „schöne[n] Sterne[..]“ der „Erden“ direkt angesprochen, und in der 5. Strophe „mein […] Schöpffer“. In der 7. Strophe wendet sich die Verfasserin entschieden dem eigenen Ergehen unter der empfangenen Gnade zu. In der 1. und 2. Strophe ist Gott der Blickpunkt, auch wenn von den „Blumen“ die Rede ist. In der ersten Strophe ist Gott angesprochen als der „Allschöpfer“ – und das in Hinsicht auf die weißen ,Lilien‘: Er, so sagt die Dichterin, „läßt“ sie „wunderschön“ ,hervorgehen‘ in „tiefen“ schattenreichen „Tälern“. Und „ihr Gewand“ bei ihrer „holde[n] Blüte altert“ – d.i. ihre Blütenblätter verblassen – „nie“. Die Lilie steht, wie damals oft, prototypisch für eine „wunderschön[e]“ Blume. Die zweite Strophe handelt generell von „jede[m] Blätlein“ und von allen Adern in jedem Blatt, die wie „Strichlein“ ausschauen: Alles Blühende, ja alles Belebte, selbst das Kleinste, „weist“ hin auf den Weg, den „Pfad“, den die Allmacht zu den Blumen und zu den „Blätlein“ fand. Doch so wird nicht nur die Allmacht des Schaffens erwiesen; sondern das, was natürlicherweise ist, zeigt sich als „Wirkung deiner“, Gottes, „Gnad“. Und noch eine Näherbestimmung des schöpferischen Schaffens Gottes hält von Greiffenberg für nötig: Alles und jedes in der Natur, wie „jedes Blätlein“, „trägt“ seinem Aussehen nach in sich – oder in dem, was es kennzeichnet („in dem Schild“) – ein 275 SW 1, 339 f. An Worterklärungen seien angeführt: Z. 1 „Lilgen“ = Lilien; Z. 3 „Blüh“ = Blüte; Z. 8: „Schild“ = (wie bei Wirtshausschild, Verkehrsschild) Kennzeichen; Z. 18: „Kloß“ = rundliche Masse; Z. 23: „nie verglichnen“ = mit nichts zu vergleichenden; Z. 27: „die selbsten“ = diejenige selbst. In der letzten Zeile dürfte wohl statt des Indikativs „senkt“ ein Optativ „senke“ stehen.

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4. Über einige Sonette und Gedichte

„Bild“, ein Abbild oder Zeugnis der Weisheit, in der Gott alles geschaffen hat. Unter diesen Gottesprädikaten, Allmacht, Gnade oder Güte und Weisheit, stehen alle folgenden Ausführungen. Nach der dritten Strophe sind die „holde[n]“, lieblichen „Blumen“ für die Dichterin die „schöne[n] Sterne[..]“ der „Erde[..]“. Sie vor allem „sind das Werk“, an dem sie „Gottes Güte merk[t]“, denn er, Gott, ist es, der sie „so herrlich ziert,“ „schützt“ und „regiert“. Wo immer ein ungetrübtes und unbetrübtes Auge – also im „Glanz“ – hinschaut, ja wo immer ein Mensch seinen „Fuß […] hinsetzt,“ da sieht er, laut der vierten Strophe, daß alles von Gott zur Freude, zum ,Ergötzen‘ gemacht ist. Was immer in der Natur wird und hervorgeht, auf-wächst, das „hebt“ das „Lob“ Gottes „empor“. – Das Lebende, Aufwachsende in der Natur, das ist zum „Lob“ Gottes da. So stimmt die Dichterin in der fünften Strophe selbst dies Lob an, gibt es gleichsam als Stimme der Natur Gott zurück. Sie weiß sich selbst als von ihm geschaffen und darin auserwählt („mein auserwählter Schöpfer“). Ihr Jubel über seine „Güte ist übergroß.“ Und zugleich weiß sie, daß sie als Mensch, geschaffen aus Erde,276 für den Empfang der Güte Gottes viel zu gering ist. „Höchster“, so redet die sechste Stophe bittend Gott an: „Laß mich“, die Dichterin, um „dich“, Gott, „zu loben, deine Wunder“-Werke wirklich ansehen; denn sehen oder „lesen“ kann man „überall […] deinen“ mit nichts zu vergleichenden „Fleiß“ beim Wirken der Wunderwerke und damit ,deine‘ „Ehr[e]“ und Lobpreisung. Zum Abschluß bekundet die Autorin, daß Gottes „Gnade“, an ihr erwiesen, „mehr getan“ hat, als sich je in einer Betrachtung „der Wiesen, Wälder, Felder, Gärten Zier“ aufzeigen ließe. Und folglich bleibt nur die Bitte: Diese „deine Gnad[e] […] senk[..] in mich“ sich ein.

4.2.3 Auf die liebliche Sommer= und Ernde=Zeit O Wunder=GOttes Güt! die in die Erd sich senket. Sie grünt und prangt hervor, in Nahrungs=reicher Art. Die Allmacht hat mit ihr sich in die Erd gepaart, aus deren Würkung GOtt, uns diese Gaben schenket. Bey iedem Sichelschnitt, ists billig, daß man denket an GOttes Gnaden Mäng’ und Lob zum wundern schaart. So wenig ja den Dank, als er den Segen spaart! sein Gnaden=Herz sich ganz auf uns zu giessen lenket. 276 Zu „der Erden Kloß“ siehe Gen. 2, 7: „Und Gott der Herr machte den Menschen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebendigen Odem in seine Nase.“

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4.2 Zum Gottes-Lob der Schöpfung

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Ein schallends Ehren=Lob soll aus den Halmen gehen, weil seiner Ehren voll die Erd’ und was sie träget. Am Lebens Mastbaum soll der Lobes=Segel stehn: Der Freuden=Seufzer=Wind ihn lieblich süß beweget. So sammlet GOttes Lieb, durch diese Erdenfrücht: und schüttet dafür aus, sein Lieb= und Lob=Gerücht!277

Ein „Wunder“ ist „Gottes Güt[e]“, aber in einem ganz bestimmten Sinn: Sie „senkt“ sich nämlich „in die Erd[e]“ hinein; und aus der Erde treibt sie wieder „hervor“ und äußert sich, wirkt sich aus, sinnlich wahrnehmbar, indem sie „grünt und prangt“ und ,reiche Nahrung‘ hervorbringt. Halten wir ein und bedenken wir, was damit über Gottes Schöpfung – hier : über die Güte Gottes als schöpferisches Schaffen – gesagt ist. Dies nämlich: Die Güte Gottes gibt sich „in die Erd“ hinein, in diesem Sinne „naturalisiert“ sie sich, vergleichbar der Inkarnation, und wirkt so in der Erde als treibende Kraft und zeigt sich aus der Erde hervor in dem, was „grünt und prangt“ und uns Nahrungsmittel zukommen läßt. Das ist ein durchgehender Prozeß, und zwar ein Prozeß in der Gegenwart, oder eine große Bewegung: Die Güte Gottes geht in die Erde hinein und aus der Erde hervor im Grünen und Blühen und Frucht Bringen. Und eben das ist das „Wunder“. Das Wunder ist nichts Mirakelhaftes. Das Wunder ist die lebendige Natur dank Gottes Schaffen. Diese Anschauung oder Vorstellung von Gottes Schöpfung als ein sich ,Einsenken‘ Gottes in die Erde und als ein Wieder-hervor-Kommen im Grünen und Frucht Entstehen-Lassen – diese Anschauung wiederholen und unterstreichen die nächsten zwei Zeilen: Gemeinsam „mit ihr“, mit der GottesGüte, hat sich die „Allmacht“ Gottes „in die Erd“ hinein mit dieser vereint („gepaart“). Und diese Vereinigung hat zur „Würkung“, daß Gott „uns diese Gaben“, die reichen Nahrungsmittel, vor allem das Korn zum Brot, „schenket“. Die Allmacht ist, so könnten wir sagen, die ,Macht‘ oder Kraft in der Gottes-Güte und wirkt in der Erde, was die Güte Gottes wirkt. Nach der zweiten Strophe ist es recht und „billig“, d. h. angemessen, zur „Ernde-Zeit“ bei jedem „Schnitt“ der „Sichel“ an die „Mäng[e]“ der „GOttes Gnaden“, erzeigt in jenen „Gaben“, zu ,denken‘ und „zum wundern“ über das genannte Wunder der Gottes-Güte das „Lob“ Gottes hinzuzufügen. Wenn doch Gott mit seinem „Segen“ nicht „spaart“, der sichtbar ist in den Früchten der Erde, die aber Früchte seiner Güte und Allmacht sind – wie sollten wir mit dem „Dank“ sparen! Und Gott gibt noch mehr : Nicht nur die „Mäng[e]“ seiner „Gnaden“ als sichtbaren Segen; sondern sein „Herz“ voll „Gnade[..]“ ,lenkt‘ sich dahin, gänzlich überzufließen zu uns (sich „ganz auf uns zu [er]giessen“). – Man sieht, aus welcher Wahrnehmung Gottes in der natürlichen Umwelt und der Gnade im empfangenen Eigenen eines jeden das Loben und Danken Gottes seinen Grund und Anlaß hat. 277 SW 1, 240. In der letzten Strophe lese ich „Freuden=Seufzer“ nach Art von ,Freuden-Tränen‘.

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4. Über einige Sonette und Gedichte

„Aus den Halmen“ des Getreides selbst ergehe – so die dritte Strophe – ein „schallend[e]s“, weithin hörbares „Ehren-Lob“ Gottes, sind sie doch von der Güte und Allmacht Gottes hervorgebracht, gleichsam ,produziert‘. Das „Ehren-Lob“ Gottes hat guten Grund: Denn „die Erd[e]“ und was sie an natürlichen Erscheinungen und Früchten „träget“, sind der „Ehre[..]“ Gottes „voll“. Und das sei auch im Leben eines Menschen so: Für die Ausrichtung und für den Antrieb des Lebens,278 soll, wie an einem Mast bei einem Schiff, als „Segel“, das „Lobe[n]“ ausgespannt sein. Und die vierte Strophe fügt hinzu, daß der „Freuden=Seufzer“ wie ein Wind das Segel des Lobens „lieblich süß“, auf wohltuende, förderliche Weise, sanft also „bewege[n]“ soll. Zuletzt werden die Schnitter in der „Ernde-Zeit“ und wir alle aufgerufen, „durch“ das Einbringen „diese[r] Erdenfrücht[e]“ nicht weniger als „Gottes Lieb[e]“ ,einzusammeln‘ und „dafür“ die Kunde (das „Gerücht“) „sein[er] Lieb“ und seines „Lob[es]“ auszubreiten (,auszuschütten‘). Nichts anderes tut von Greiffenberg mit dem vorliegenden Sonett. 4.2.4 Spazir= oder Schäfer=Liedlein 1. IN den angenehmen Auen, komm ich, Gottes Güt zuschauen: wann der Abend einher bricht. wann die Schäflein bey der Tränke, seinen Wundern ich nachdenke, meine Lobes=Pflicht verricht. 2. Setz mich bey dem Bächlein nider, und betrachte hin und wider, meines Schöpffers Schaffungs=Kunst, in der Erden Blumen=bringen: die will mit dem Himmel ringen ob ertheilter Gnaden=Gunst. 3. In dem kommet mir zu Ohren, so beliebt und auserkoren meiner Nachtigalle Schall; da die Tochter in den Lüfften macht erschallen aus den Klüfften: dir sey Preiß, O ewigs All. 4. Pfleg die lange Zeit zu kürzen, und die Einsamkeit zu würzen, 278 Bei dem Bild vom „Mastbaum“ des Lebens setze ich voraus, daß der Mast bei einem Schiff das ist, was sich weit über Bordhöhe hinaus nach oben erstreckt (oder ausgerichtet ist) und was für den Antrieb des Schiffes sorgt, insofern er das (oder die) Segel trägt.

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4.2 Zum Gottes-Lob der Schöpfung

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mit der keuschen Bücher=Lust: jedes Blatt ist mir ein Flügel, und ein nachgelassner Zügel, zu der süssen Himmel-Brust. 5. Laß die Schaf ’ in Schatten stehen, pfleg dieweil auf sie zu sehen: denke dieser Hoheit nach, die ich künfftig werd besitzen, da mein’ Ehren=Kron wird glitzen als die Sonne tausendfach. 6. Ob ich dieser Zeit schon habe nichts, als meinen Hirtenstabe: weiß ich doch ein Königreich inner dem Saphiren=Dache, und Demantinen Gemache, das ich sterbend’ erbe gleich. 7. Lebe von der Schäflein Wolle, wünsche nichts, als was ich solle, bin in meiner Armut reich, und ein Königin bey Schaafen, kan ohn’ Angst und Sorgen schlaffen, werd ob keinem Stürmen bleich. 8. GOttes Lob ist all mein dichten: alls pfleg’ ich dahin zu richten, daß sein Name werd gepreist. In Betrachtung seiner Wunder, leg’ ich mich: und werde munder, daß er der noch mehr mir weist.279

Auf den ersten Blick ist bemerkenswert, wie von Greiffenberg das aus der Spätantike überlieferte Schäferidyll aufnimmt und verwendet. Sicherlich, die Schafe sind noch da, aber nichts Amouröses und Spielerisches. So heiter sich das Gedicht in seinem Rhythmus gibt, so ernsthaft ist es. Heimelige „Auen“: ja, gewiß – aber um „Gottes Güt zu schauen“. Dem Tone nach ist das Gedicht einem schlichten Volkslied gleich: so ruhig und gleichmäßig fließen die Endreime dahin. Aber die Zufriedenheit und das Einverständnis, die es ausströmt, haben eine andere, keine selbstverständliche Quelle; sie dürften klar geworden sein in einem wohlbedachten Nachdenken und Nachsinnen über Gott und über sich selbst. Im ganzen Lied spricht die Verfasserin von sich. So beginnt die erste 279 SW 1, 346 ff. Im Schluß der vierten Strophe verbinde ich „Himmel Brust“ mit einem Bindestrich.

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4. Über einige Sonette und Gedichte

Strophe: Um „Gottes Güt zu schauen“, kommt sie in die „angenehmen Auen“. Beim Anbruch des Abends kommt sie, wenn „die Schäflein bei der Tränke“ stehen, jedoch um Gottes „Wundern“ ,nachzudenken‘; nicht um Behagliches zu genießen, sondern um ihrer „Pflicht“, dem „Lob[..]“ Gottes, zu genügen. Diese Absicht, Gott zu loben aufgrund der „Betrachtung“ seiner „Wunder“Werke280 und des Nachdenkens über sie, bekunden die erste und die letzte Strophe. Und mit diesem für von Greiffenberg zentralen Thema runden sie das Gedicht. Weiter, in der zweiten Strophe, berichtet die Dichterin, was sie in der genannten Abendstunde tut: Sie setzt sich „bey dem Bächlein nider und betrachte[t]“ ,hin und her‘, dahin und dorthin schauend, Gottes des „Schöpffers Schaffens-Kunst“, wie sie sich darin zeigt, daß die ,Erde‘ „Blumen“ ,hervorbringt‘. Mit diesem unverdienten Schmuck möchte die Erde „mit dem Himmel“ in einen Wettstreit eintreten („mit dem Himmel ringen“) über die „ertheilte[..]“ oder ergangene „Gnaden-Gunst“. Nach der dritten Strophe hört von Greiffenberg dabei,281 was ihr nur „beliebt“ und auserwählt ist: den „Schall“, den gut zu hörenden Gesang, der „Nachtigall[..]“, die als „Tochter“ der Nacht (?) aus einem Spalt, aus „Klüfften“, heraus „in den Lüfften“ das Lob Gottes „erschallen“ läßt, und das lautet: „Preiß“ sei „dir“, du „ewigs All[es]“. Kurzweilig soll es ihr, der Dichterin, sein, so hören wir in der vierten Strophe. Und um die „Einsamkeit“ am Bache nicht eintönig sein zu lassen, um ihr ,Geschmack‘ („Würze“) zu geben, ,verlustiert‘ sie sich in „keusche[r]“, einhaltender „Lust“ mit dem Lesen von „Bücher[n]“. Lesend ist ihr „jedes Blatt“, jede Buchseite, wie „ein Flügel“ aufwärts und wie ein lockerer („nachgelassener“) „Zügel“, mit dem es gerade so ungestört vorwärts geht. Und so zieht jedes Blatt des Buches sie hin zu der lieblichen Quelle aller Gaben: „zu der süßen Himmel-Brust“. Sie wendet, wie sie in der fünften Strophe sagt, den Blick von den Schafen ab, sie ,läßt‘ sie „im Schatten stehen“ – „pfleg[t]“ vielmehr der „Hoheit“ ,nachzudenken‘, die sie „künfftig werd besitzen“, wo dann ihre „EhrenKron[e]“ ,glänzen‘ wird wie die Sonne, nur „tausendfach“ stärker. In den nächsten beiden Strophen kontrastiert sie ihr Leben jetzt in der Zeit mit dieser Aussicht ihrer himmlischen Zukunft. Jetzt auf Erden und in der Zeit hat sie im Ausblick auf das himmlische Jenseits ,nur den Hirtenstab‘ als Pilgrim durch die Zeit. Aber sie „weiß“ und ist dessen gewiß, daß für sie „ein Königreich“ bereitsteht: ein himmlisches Jerusalem – und daß darin für sie eine Wohnstätte vorgesehen ist, innerhalb oder unterhalb eines „Dache[s]“ aus Edelsteinen (aus „Saphiren“) mit einem „Gemache“ aus ,Diamanten‘.282 280 „In Betrachtung seiner Wunder“ heißt es in Strophe 8. 281 Im Text heißt es: „In dem“. In zeitlichem Sinne bedeutet das „dabei“. 282 Zu den Edelsteinen des himmlischen Jerusalems, des Lustgartens Gottes, siehe Hes. 28, 13; für die Saphire speziell: Tob. 13, 20 (nach der Zählung der Lutherbibel); Offbg. 21, 19 f.

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4.2 Zum Gottes-Lob der Schöpfung

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Und sie ist gewiß, daß sie diese himmlische Wohnung „[so]gleich“ mit ihrem Sterben „erbe[n]“ wird. Hier „leb[t]“ sie, beispielhaft gesagt, „von der Schäflein Wolle“ und wie von ihr so von allen Mitteln zum Lebensunterhalt. Sie „wünsch[t]“ sich „nichts, als was“ sie „soll[..]“ jeden Tag, nichts als was ihre Pflicht ist. Im äußeren Sinn unbedürftig, in „Armut“, ist sie doch in Zufriedenheit „reich“. Bei ihren „Schafen“ oder umgeben von ihnen kommt sie sich vor wie eine „Königin“. Zufrieden, einverständig mit dem, was ist, „kann“ sie „ohn’ Angst und Sorgen schlaffen“ und braucht sie bei „keinem Stürmen“ vor Schrecken „bleich“ zu werden. Was sie zu schädigen oder zu verletzen droht, hat bei ihr keinen Raum, selbst die gefahrvolle Nacht nicht.283 Die letzte Strophe lenkt in ihrer ersten Hälfte zum Thema der ersten zurück und formuliert wiederum ganz grundsätzlich ihr Lebensprogramm: „All mein Dichten“ ist dem „Gottes Lob“ gewidmet. Mit allem, was in ihr ist, „pfleg[t]“ sie sich „dahin“ oder darauf ,auszurichten‘, daß Gottes „Name“ ,gepriesen‘ werde. So nun – immer noch „in Betrachtung seiner“, Gottes, „Wunder“ – „leg[t]“ sie sich zur Nachtruhe nieder und sieht sie „munter“ dem neuen Tag entgegen in der Erwartung, Gott werde ihr „der“ Wunder „noch mehr“ ,erweisen‘. Welch eine Aussicht für die Nacht!

4.2.5 Auf die ruhige Nacht=Zeit 1. STernen=bunter Himmels Thron, und du Mond der Nächte Kron! leuchtet, weil der Sonnen=Strahl uns benimmt der Erden Ball! 2. Stillheit, der Gedanken Grab! stelle Sorg’ und Grämen ab. Stille, stille, still’ in mir alle Herzbewegungs=Gier! 3. Nun die Musik in der Lufft schläfft in holer Bäume Klufft! ruht und kommet mir nit für in der GOtt=Erhebungs Gier! 283 Wie wir aus ihrem Briefwechsel mit Sigmund von Birken wissen, war ihr das so in einer späteren Lebensphase nicht gegeben: Nach dem Tod zuerst ihrer Schwester, später ihrer Mutter und dann noch ihres Mannes – in der dadurch entstandenen „Einsamkeit“ – raubten die Sorgen um ihr Überleben und um die Bewahrung des väterlichen und mütterlichen Erbes und damit die Angst vor dem Verlust ihrer Ehre und ihres Wohnrechts ihr die Nachtruhe.

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4. Über einige Sonette und Gedichte 4. Süsser GOttes=Gnaden=Safft, der auch schlaffend Glück verschafft! fliesse mir in Träumen ein, meiner Wolfahrt Schein und Seyn! 5. Schatten, Freund der Ruhigkeit! Nacht, du Müh’=Ergetzungs=Zeit! ihr solt nie so dunkel seyn daß ihr blendt der Ehren=Schein! 6. Und du meiner Ruhe Ruh, Herzen=Herrscher, komm herzu, sey du selbst mein schlaff=Gemach: gib, daß ich dir schlaffend wach. 7. Meine Augen, schliesset euch, seit an Ruh=Gebährung reich! aber du, mein Geist, betracht, lobe GOtt um Mitternacht!284

Das ist darin ein besonders deutliches Gedicht, daß es selbst in seiner Wortwahl, in seinen Reimen und in der friedlich sich gebenden, sanft stimmenden Weise das vollzieht, wovon es spricht: zur Ruhe zu kommen, überzuleiten zu einer „ruhige[n] Nachtzeit“. Eingangs wird der „Himmels Thron“, der von Sternen über und über geschmückt ist (der „STernen-bunt[..]“ ist), und wird der Mond als „Kron[e]“ der „Nächte“ aufgerufen: Sie sollen nun in der Nacht leuchten, nachdem der „Strahl“ der „Sonne[..]“ uns durch den „Erden-Ball“ verdeckt ist.285 Es soll eben auch in der Nacht niemals völlig dunkel sein. Die zweite Strophe wünscht sich die Stille der Nacht herbei, aber besonders die Stille in einem selbst. Und das ist die Ruhe oder Stille, die die umtreibenden „Gedanken“ wie in einem „Grab“ versenkt, die „Sorg’ und Grämen“ 284 SW 1, 381 f. – Zur 1. Zeile, die von dem mit Sternen ausgeschmückten „Himmels Thron“ spricht, siehe die Bemerkung oben S. 21 Anm. 62. Friedhelm Kemp gibt zwei Worterklärungen an: zu „Musik in der Luft“ in der 3. Strophe: die Vögel; und zu „fließe“ in der 4. Strophe: flöße (Ders. in „Register und Übersetzungen“ von: Deutsche geistliche Dichtung. Hsg. v. Friedhelm Kemp (dtv 10817). München 1987, S. 516). Weitere Worterklärungen seien angeführt: 2. Strophe, Z. 4: „Gier“ = Verlangen; 3. Strophe, Z. 3: „kommet mir nit für“ = kommt bei mir nicht vor ; 7. Strophe, Z. 2: „Ruh-Gebährung“ = Gebären von Ruhe oder schlicht Ruhe verschaffen, Ruhe geben, entstehen lassen. 285 Vgl. die analogen Naturbeschreibungen: „Wann die Sonn dem Mond zuschicket / ihrer Strahlen Lieblichkeit / wird er gegen uns verdunkelt / weil der Glanz nur aufwerts funkelt“ (in: „XII. Trost-Lied“, Strophe 4 [SW 1, 286]). Und: „Wann des Mondes Kugel kommen / zwischen Erd’ und Sonn / als dann wird der Erd benommen / jener [sc. der Sonne] Glanzes-Wonn’“ (in: „XXXVI. Göttliches Wunder Lob“, Strophe 5 [SW 1, 342]). Siehe auch oben (S. 67) die Beschreibung der Sonnenfinsternis in den Schlußzeilen des Gedichts „Über das unaussprechliche Heilige Geistes=Eingeben“.

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4.3 Über ihr Leben mit Gott

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von einem abfallen läßt und alles Verlangen, das das Herz bewegt („alle Herzbewegungs=Gier“) beschwichtigt. Dies Begehren besonders „stille, stille, still’ in mir“. Auch die Welt um einen herum lädt zur Ruhe ein. Nach der dritten Strophe sind die Vögel „in der Luft“ verstummt, sie ,schlafen‘ in ,Baum-Spalten‘ und kommen bei einem ,nicht vor‘, so daß sie stören könnten bei dem, was jetzt, bei anbrechender Nachtzeit, vor allem nötig ist: dem Verlangen, Gott zu erheben.286 Dazu, zum Erheben Gottes, wird in der vierten Strophe der „süße[..] […] Safft“, der liebliche Einfluß, der „Gottes Gnade[..]“ erbeten. Er, „der auch“ im Schlaf „Glück verschafft“, gebe „Träume[..]“ ein, die dienlich sind dem „Seyn“ und dem Wahrnehmen („Schein[en]“) der „Wolfahrt“ einer Person. Die nächste, die fünfte Strophe ruft den „Schatten“ als den „Freund der Ruh[e]“ auf und ebenso die „Nacht“ als die Zeit, in der sich die Menschen von der „Müh[e]“ des Tages erholen (,ergötzen‘) – mit der Erwartung an sie, „nie so dunkel“ zu sein, daß sie blind für die „Ehre[..]“ machen, die doch auch im Dunkeln gelten (,scheinen‘) soll. In der sechsten Strophe wendet sich das Ruhe-Verlangen zum Gebet. Angesprochen in der Bitte ist die „Ruh[e]“, die Ruhe zu geben vermag („meiner Ruhe Ruh“), und das ist der „Herrscher“ über die „Herzen“. Er „komm[e] herzu,“ zur Sprecherin, und „sey […] selbst“ die Umhüllung, in die sie sich bergen kann (ihr „schlaff-Gemach“). Und er gebe ihr, „schlaffend“ ihm zu ,wachen‘. Nun ist alles getan, alles verrichtet, was man für eine „ruhige Nacht=Zeit“ tun kann. So endet das Gedicht mit einer Anrede an die eigene Person: Die Augen mögen sich schließen und reichlich Ruhe entstehen lassen. Der eigene Geist jedoch – der in der vorausgehenden Strophe erbittet, „schlaffend“ dem Herzen-Herrscher wach zu sein – „betracht[e]“ Gott und „lobe“ ihn selbst „um Mitternacht“.

4.3 Über ihr Leben mit Gott 4.3.1 In äusserster Widerwärtigkeit ACh kanstu auch, mein Herz, den Himmel, ohne weinen, ohn’ innern Herzens=brast und äussern Thränen See, ansehen? daß ich nicht vor lauter weh vergeh, dieweil er gegen mir, ganz stählern ist und steinen!

286 Die „Gott=Erhebungs Gier“ dieser Strophe steht gegen „alle Herzbewegungs=Gier“ der 2. Strophe.

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4. Über einige Sonette und Gedichte Ach mag die Sonn’ auch was so Elendes bescheinen? faß dir, mein Herz, ein Herz und Leuen mütig steh’ im Unglücks=mittel=punct, das jederman dann seh, wie deine Tugend sich in trübsal pflegt zu feinen. Halt Gottes willen still! bricht schon das Herz vor schmerz, wann nur der Wille ganz, ihm treu zu dienen, bleibet. Streit’, ihm zu Lob, mit dir : daß nicht nur Blut austreibet, besonder Geist und Krafft, verbrenn die Lebens=Kerz in seiner treuen Brust. Denk, löblich ist der Sieg, wann nur mein GOtt geehrt, wann ich schon unter lieg.287

Die erste Strophe und die erste Zeile der zweiten beschreiben das Ergehen eines Menschen, der Dichterin, in der Situation „äusserster“ ,Widrigkeit‘. Angeredet ist das eigene „Herz“, dem Verständnis entgegengebracht wird: In einer solchen Lage scheint es schier unmöglich zu sein, daß es „den Himmel ohne“ zu „weinen“ und ohne ,inneres Herz-Brechen‘ „und äussern […] See“ von „Thränen“ ,anzusehen‘ vermag. Es fehlt wenig, und man ,vergeht‘ „vor lauter weh“ und Ach. Denn dem Betroffenen, hier der Dichterin, erscheint der Himmel völlig abweisend, hart verschlossen, „ganz stählern“ und ,steinhart‘. Kaum vorstellbar, daß „die Sonne“ etwas derart „Elendes beschein[t]“.288 Und nun, in der zweiten Strophe, wird das eigene Herz noch einmal angesprochen, doch jetzt der Aufforderung, sich selbst „ein Herz“ und einen ,Löwenmut‘ zu fassen, um nicht zu fallen, sondern zu ,stehen‘ im ,Mittelpunkt‘ des ganzen „Unglücks“.289 Möge doch „jedermann“ sehen, wie die „Tugend“ 287 SW 1, 62. – Als Druckfehler sei berichtigt in der zweitletzten Zeile: statt „in seiner“ soll es heißen „in deiner“. Worterläuterung dürfte nötig sein bei: Z. 2 „Herzens-brast“ = „brast“ von „bersten“; folglich entweder „Herzens-Brechen“ (entsprechend Z. 9) oder (schlicht) „HerzensKummer“; Z. 6 „Leuen“ = Löwen; Z. 8 „feinen“ = verfeinern (so auch Ingrid Schürk, „Sey dennoch unverzagt“ (Paul Fleming und Catharina Regina von Greiffenberg); in: Aus der Welt des Barocks. Dargestellt von Richard Alewyn [u.a.] Stuttgart 1957, S. 56 – 68; zur Sache: S. 60; F. Kemp, Deutsche geistliche Dichtung [wie oben Anm. 284, S. 78] schlägt vor : Z. 8 „feinen“ = läutern; Z. 12 „besonder“ = sondern (mit nachfolgendem Doppelpunkt); „verbrenn“ = verbrennen. 288 Vgl. I. Schürk: „In zwei Fragen (Vers 1 – 4, Vers 5) wendet sich der gequälte Mensch an sich selbst, weil sein eigentliches Gegenüber, der Himmel, sich vor ihm verschließt und dem schmerzvollen Flehen einen in seiner Härte nicht zu überwindenden Widerstand entgegensetzt. […] In ,äußerster Widerwärtigkeit‘ bleibt ihm Hilfe und Trost von oben versagt.“ (Dies., ,Sey dennoch unverzagt‘ [wie Anm. 287], S. 59 u. 60) 289 I. Schürk: „Vorher die mit dem klagenden Ausruf ,Ach‘ beginnenden Fragen als Ausdruck vernichtenden Schmerzes – jetzt (in Vers 6) anfeuernder hochreißender Zuruf“ (Dies., a. a. O., S. 60). Die Interpretin versteht allerdings diesen „Zuruf“ der 2. Strophe wie selbstverständlich als einen Zuruf zu aktivem, „tathafte[m] Stehen im ,Unglücksmittelpunkt‘ […:] sich dem Geschick mit unbezwingbarer, weithin sichtbarer Kraft zu stellen.“ (Ebd.) „Dienst und Lob Gottes“ werden „dann vollzogen […], wenn der Mensch dem Leiden standhält und wenn er sich selbst als Einsatz in den Kampf wirft“ (a. a. O., S. 61).

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4.3 Über ihr Leben mit Gott

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der Betroffenen – etwa die der Geduld und der Ausdauer – sich in der „Trübsal“ zu ,verfeinern‘ „pflegt“. In der dritten Strophe wird eine Person – die Verfasserin sich selbst (?) – aufgefordert: „Halt[e] Gottes willen still“; laß Gottes Willen zu, erdulde ihn, selbst wenn „das Herz vor schmerz[en]“ ,bricht‘.290 Denn entscheidend ist nach von Greiffenberg nicht das äußere und innere Ergehen, sondern einzig dies: daß „der Wille“ des Menschen und somit der Betroffenen „ganz“ fest und beständig „bleibet“, dem Willen Gottes „treu zu dienen“. Die Betroffene mitten im Unglück und im Schmerz und unter einem verschlossenen Himmel wird ermahnt, mit sich selbst zu ,streiten‘, Gott „zu Lob“, auch wenn das „Blut austreibet“, auch wenn dabei „Geist und Kraft“ der Betroffenen das ,Lebenslicht‘ auslösche in ihrer Gott „treuen Brust“.291 Der „Sieg“ in diesem Streit ist errungen, wenn Gott nur die Ehre erhält, selbst wenn die Betreffende dabei ,unterliegt‘, untergeht. Nachbemerkung: Ein solches Gedicht gibt Zeugnis davon, wie die „äusserste[..] Widerwärtigkeit“ zu bestehen ist. Es kann ja auch nur geschrieben werden, wenn das Furchtbare (etwas „so Elendes“) hinter einem Menschen liegt, von ihm überstanden ist. Nur im nachhinein kann man das wissen; aber von vornherein kann man das glauben, überzeugt sein, daß es so ist. Es könnte sein, daß insbesondere in der 3. Strophe der Kampf des Glaubenden um Ergebung in den Willen Gottes zu dessen Lob und Ehre im Nachklang an Jesu Kampf in Gethsemane formuliert ist.292 Wenn es so ist, dann ist hier der Kampf noch verschärft: bis zum ,Verbrennen‘ des Lebenslichtes. Wie wir im II. Kapitel gesehen haben, ist dies die Lebensmaxime von Greiffenbergs: Gottes Ehre – Deoglori – allein und darum einzig das Lob Gottes sollen über allem gelten. Und dementsprechend soll Gottes Wille uneingeschränkt und immer gelten. Wenn das dem eigenen Willen eines Menschen zuwider ist, so hat dieser Wille zu weichen – oder vielmehr : so hat dieser nicht das Eigene, sondern Gottes Willen zu wollen. Aber von Greiffenberg weiß wohl, daß das – Gottes Wille und nicht der eigene – alles andere als einfach und schlicht hinzunehmen ist: Es ist ein Streit auf Leben und Tod. Ein Streit, der mit sich selbst auszutragen ist, ein Streit des eigenen Herzens mit dem eigenen, in Tränen sich auflösenden, unter dem schweigenden Himmel 290 I. Schürk: Die „,Widerwärtigkeit‘“ erfährt „eine Bestimmung und Umdeutung: Es ist Gottes Wille. Damit wird dem Leid nichts von seiner Grausamkeit genommen, es trifft den Menschen in seinem Ureigensten und geht ihm ans Leben, aber es gibt ein Darüberhinaus“ (ebd.). Dies „Darüberhinaus“ ist für die Interpretin die „Selbsthingabe als Mittel in diesem Kampf.“ (Ebd.) Abschließend erklärt sie: „So gibt es für den Hoffenden ein Zugleich von Niederlage und Sieg, Verlust und Gewinn, Selbstaufgabe und Bewahrung, Tod und Leben“ (a. a. O., S. 62). 291 F. Kemp hebt hervor : Man sehe, „wie sie sich durchringt dahin, auch dies“ [sc. die „Belästigungen“ und „Mühseligkeiten“] „als eine Schickung Gottes nicht nur hinzunehmen, sondern durchzustehen, Gott zu Ehre und Ruhm, deren Beförderung all ihr Tun gilt.“ (Ders., Deutsches Barock, geistlich; in: Ders., Das europäische Sonett, Bd. II [wie oben Anm. 271], S. 34) 292 Durch die Wendung „daß nicht nur Blut austreibet“ wird Lk. 22, 44 ins Gedächtnis gerufen und damit die ganze Geschichte von Jesu Kampf in Gethsemane.

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tief niedergeschlagenen Herzen. Da wird nach von Greiffenberg nicht versprochen, der Himmel tue sich zukünftig auf und alles, alles könne sich wenden. Aber den Streit auch nur aufzunehmen, ist bereits Gott „zu Lob“, weil Gott nicht vergessen ist. Der eigene „Geist“ und die eigene „Kraft“ treiben den Kampf auf die Spitze. Wenn nur die „Brust“, das Gemüt, ,treu bleibt‘, so ist der Sieg gewiß. Selbst wenn sogar die Kämpfende ,unterliegen‘ sollte, einzig entscheidend ist, daß „mein Gott geehrt“ wird. Man bedenke: Es ist ein Kampf, den eine Einzelne mit sich allein auszutragen hat.

4.3.2 (Gesprächs-Lied: Du hast mir das Herz genommen)293 Einführung: Das im folgenden vorgestellte „Gespräch-Lied“ steht in von Greiffenbergs zweitem Betrachtungswerk „Der Allerheiligsten Menschwerdung, Geburt und Jugend Jesu Christi. Zwölf Andachten“, Nürnberg 1678 und hier in der „fünfte[n] Betrachtung“, die dem Namen Jesu Christi gewidmet ist. Nach der Aufzählung und Kommentierung der vielen Namen für Jesus Christus im Alten und Neuen Testament, über wörtlich angeführte Zeugnisse der Kirchenväter und von Johann Arndt als einem Zeitgenossen, nennt von Greiffenberg Namen und Titel, die sie gebraucht, um die unaussprechliche Fülle der ,Jesus-Namen‘ aufzuzeigen. Sie schließt diese Anführung von Namen mit dem Satz: „Weil aber einer von den holdseeligsten Namen unsers Heilandes, der Name Immanuel ist, als hab ich ihn in diese Vers gebunden. // Immanuel, GOtt mit uns! // GOtt mit Leib und Seel mit uns! GOtt mit uns in Leib und Seel! // GOtt mit seinem Herz mit uns! GOtt mit uns in unsern Herzen! // GOtt mit uns mit Allmacht! GOtt mit uns mit Geistes-Kerzen! // GOtt mit unsrem Zungen-Schwerd! GOtt mit uns mit Gnaden-Oel! // Sonnet. // Eben über diesen Namen, bei Empfahung des heiligen Abendmahls.“ Es folgt ein vierzehnzeiliges, langzeiliges Sonett darüber, daß der Schöpfer aller Dinge, der das „Es werde“ sprach, mit dem Mund empfangen wird, und daß dessen Blut uns einhüllt wie in einem Purpur, so daß nichts schaden kann, um nichts zu sorgen ist, da Gott alles für einen „überschwänglich thut.“ Die Verfasserin fährt fort: „Was kan aber überschwänglichers seyn, als wann er uns sein Herze giebet, oder ihme [= sich] solches aus Liebe nehmen lässet, wie er durch seine Mensch-werdung thut, und solches Salomon im Geist der Weisheit zuvor gesehen und gesprochen hat in seinem himmlich-hohen Lied: du hast mir das Herz genommen, sc. Worüber ich dieses Gespräch-Lied gesetzet:“294

293 Als Überschrift von mir gesetzt; darum auch in Klammern gesetzt. 294 SW 3, 456 f. – Das nun folgende Sonett steht: SW 3, 458 – 460.

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1. JESUS Du hast mir das Herz genommen, meine Schwester, liebe Braut! ja es ist in dich gekommen. Schöne! die ich mir vertraut, ich hab mich in dich verküsset, liesse dir das Herz zum Pfand; es war selber Ring und Hand, das die traute Treu vergwisset. Schönste! weil das Herze dein, muß ja alles dein auch seyn!

2. Geliebte Wie? hab ich das Herz bekommen des Herz-Herrschers aller Welt? so ist nun nichts ausgenommen das auf dieses nicht zufällt. Hast du mirs im Kuß gegeben? Ach, warum verküß nicht ich Leib und Leben williglich wiederum in dich, mein Leben! Ach mein Herze! herze mich Herz-zerschmelzend inniglich!

3. JESUS Du hast mir mein Herz geraubet durch eins deiner Augenliecht. Wann man brünstig an mich glaubet, man mir gleich das Herze bricht. O du Diebin meiner Sinnen! wer doch lernte dich die Kunst, Mir zugleich mein Herz und Gunst, so verzaubert, abzugwinnen? Herrscherin! ich sag es frey daß ich hör- und Herzlos sey!

4. Geliebte Ach! mein Herze! sey vergnüget mit dem mehr als Himmel-Raub. Hat der Glaube dis gefüget? ich ihm nichts unmüglich glaub. Jesu! Prinz der keuschen Brünste! dein Geist mein Lehrmeister ist, dich zu fassen JEsu Christ! Ach! der über-Engels-Künste! die das Herz und Anlaß-Haar geben in die Hände dar.

5. JESUS! Was wilst du doch mehr verlangen? ist doch dieses Herze dein; als in welches eingefangen alles, was nur Gut kan seyn. Hast du mich? so hast du Alles: Mein Herz ist der Mittel-Punct, draus die ganze Allheit funkt, keck gebrauche dieses Strahles, ihn vor deinen Scepter halt, auszuüben all Gewalt.

6. Liebste Billich bin ich allvergnüget, weil ich selbst die Allheit hab. Nichts bleibt von mir unbesieget, brauch ich mich nur meiner Haab. Ich hab ALLES in dem EINEN, aus dem Einen Alles wird. Trotz! daß eine Herz-Begierd könnte unerfüllt erscheinen. Mit der Allmacht Stab ich kan Erd’ und Himmel siegen an!

7. JESUS ! Ich kan dir nicht wiederstehen, weil du schon mein Herze hast: Muß gleich lassen alls geschehen, weil du mich dabei gefasst. brauche dichs zu meiner Ehre, und zu aller deiner Lust; weil mir gar zuwol bewust sie ist, daß sie jene mehre. Nun wolan, so walt und schalt mit der Gottheit Allgewalt!

8. Geliebte Zeig mir, Herz in meinem Herzen! was dir am herzliebsten ist. Trag mir vor Erkantnis-Kerzen, wirke, daß es werd’ erkiest: Dann besporne mein Beginnen, daß ich, wie ein Pfeil im Flug, dir gehorche ohn Verzug; hilf mir auch den Sieg gewinnen. Dieses heiß’ ich siegen nur folgen deines Willens Spuhr.

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9. JESUS! Herz und Herze sich vereinen! deines ich, du meines bist. Bald wird vor der Welt erscheinen, was das vor ein Glücke ist, mit dem höchsten Herze dauschen. Leb derweil in meiner Brust; ich in dir hab meine Lust. Laß ein kleine Zeit verrauschen, bis dis Herz-verliebte Spiel kommt zu seinem Allmacht-Ziel!

10. Geliebte Herzens-Herze! bleib im Herzen länger als mein Leben bleibt. laß die schöne Liebes-Kerzen mir unlöschlich einverleibt. wann dis Herz nur in mir lebet, gilt mir alle Schickung gleich, lebe stäts gleich freudenreich, was sich immer hier anhebet. Krieg’ ich dann erwünschtes Ziel, ich zu Lieb-Feur werden will!295

Das ganze Gedicht ist ein Zwiegespräch, in dem der Eine, „Jesus“, eine Erkenntnis in Form einer Behauptung ausspricht, und die andere Person, die „Geliebte“, korrespondierend darauf antwortet. Ausgangspunkt und durchgehendes Thema ist ein Satz des „Hohenliedes“ Salomons: „Du hast mir das Herz genommen, meine Schwester, liebe Braut“ (Hld. 4, 9). Von diesem einen Satz handelt das ganze Gedicht. Nach ihm ist „Jesus“ der, welcher das spricht. So folgt von Greiffenberg der lutherischen Lehre, wonach im Alten Testament, hier im „Hohenlied“ von Salomon, das ausgesprochen ist, was von Jesus Christus „zuvor gesehen“, vorausgesehen ist und was durch Christi „Menschwerdung“ wirklich geworden ist.296 Darum spricht in dem Gedicht nicht Salomon, sondern Jesus. Und dementsprechend ist alles, wovon im Gedicht die Rede ist, seit der Menschwerdung Christi gegenwärtige Wirklichkeit. Jesus ist im Herzen eines Menschen, der jetzt lebt. „Du hast mir das Herz genommen, meine Schwester, liebe Braut“, mit diesem Zitat aus dem „Hohenlied“ beginnt, wie gesagt, das Gedicht,297 um das 295 Als Druckfehler-Korrektur sei vorgeschlagen: In Strophe 5, 1. Textzeile statt „doch“ ein „noch“. An Worterklärungen seien angeführt (jeweils mit Textzeile): 1. Strophe, 5. Z. „die ich mir vertraut“ = die ich mir vertraut gemacht habe; 3. Strophe, 3. Z. „brünstig“ = leidenschaftlich, mit ganzem Einsatz; 6. Z. „lernte“ = lehrte; 4. Strophe, 5. Z. „der keuschen Brünste“ = der unschuldigen Liebesflammen; 5. Strophe, Z. 8 „Keck“ = ungeniert, mutig; 6. Strophe, 1. Z. „billich“ (billig) = zu Recht; Z. 4 „brauch ich mich nur meiner Haab“ = gebrauche ich nur für mich, was ich habe; Z. 7 „Trotz!“ = ausgeschlossen!; 7. Strophe, Z. 7 „zuwol“ = sehr wohl; 8. Strophe, Z. 4 „werd erkiest“ = auserwählt wird; Z. 5 „besporne“ = treibe an. In der 4. Strophe, Z. 9 ist mir die Formulierung „und Anlaß-Haar“ unklar. Im „Hohenlied“ ist nur vom „Haar“ der angeredeten Freundin die Rede (Hld. 4, 1 und 6, 5; 7, 6). Vermutlich handelt es sich um so etwas wie eine ständige Redensart; vgl. im Briefwechsel mit Sigmund von Birken, im Text 35 (1668): „Es muß mir Alles Ein Jesu-zuführendes-gelegenheits-haar seyn!“ (in: Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg [= BW], S. 47). „Gelegenheits-Haar“ könnte gebildet sein analog zur Redewendung ,etwas beim Schopfe fassen‘ und dürfte vermutlich meinen: Etwas sinnlich Wahrnehmbares wird zum Anlaß eines Gott oder Jesus geltenden Vollzuges, den man sich nicht entgehen lasse, obschon er doch, gegenüber Gott, etwas unscheinbar Kleines ist. 296 Die beiden Zitate stammen aus von Greiffenbergs Text: s. o. S. 82 bei Anm. 294. 297 Außer dieser wörtlichen Entlehnung sind dem „Hohenlied“ entnommen lediglich in der 1. Strophe die Anrede „Schöne“, „Schönste“ (vgl. Hld. 1, 8. 15 u. ö.); in der 3. Strophe die Näherbestimmung „durch eins deiner Augenliecht“ (vgl. Hld. 4, 9); und, wiederum in der 1. Strophe die Abwandlung des Imperativs in Hld. 1, 2: „Er küsse mich mit dem Kusse seines

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insgesamt zu entfalten298 – zunächst im weiteren der ersten Strophe. Betont stellt der Eine, der spricht, „Jesus“, fest, daß sein „Herz […] in“ die andere Person, in die „Geliebte“, gekommen ist, die ihm „vertraut“ oder verlobt ist, weil er sie sich „vertraut“ gemacht hat. Ihm wurde nicht etwa nur „das Herz genommen“; er hat sich selbst ,küssend‘ der „Geliebten“ überantwortet und überließ ihr als „Pfand“ für diese Übergabe „das Herz“. Und so war das Herz „selber Ring und Hand“ der Vermählung, um mit ihm die „traute Treu“ zu ,vergewissern‘. Hat die „Schönste“, die Geliebte, das Herz erhalten, das Innerste und Zentrum von allem, so ist „ja alles“ ihr eigen. Die „Geliebte“ antwortet darauf, in der zweiten Strophe, erstaunt: „Wie“ das? Sollte ich das Herz, das Herz dessen „bekommen“ ,haben‘, der die ,Herzen‘ „aller Welt“ beherrscht? Wenn das so ist, dann kann es ja nichts geben, was von dieser Gabe „ausgenommen“ wäre, was nicht in ihren Bereich ,fiele‘. Und wenn er, der Eine, der spricht, sich und sein Herz ihr, der Geliebten, überlassen hat, warum sollte dann sie, die Geliebte, sich nicht „wiederum“ ,willentlich‘, mit „Leib und Leben“ ihm übergeben, der doch ihr „Leben“ ist? So antwortend hat die geliebte andere Person nur den einen Wunsch: „Ach, mein Herze“ – das ja ursprünglich das des Anderen, mithin Jesu, ist – „herze“, liebe, „mich“ so inniglich, daß das eigene Herz in Liebe zergeht.299 Im nächsten Teil des Zwiegesprächs, in der dritten Strophe, stellt der Sprechende, Jesus, erneut fest, daß die Geliebte ihm sein Herz genommen oder „geraubet“ habe, und das, nun des näheren, mit einem „Augenlicht“300 – in von Greiffenbergs Deutung: mit dem Glauben.301 „Jesus“ selbst formuliert das in dieser Strophe: Wer „[in]brünstig“, mit dem ganzen Einsatz seiner selbst, „an mich“, an Jesus, „glaubet“, der ,bricht‘ „mir“, Jesu, „gleich das Herze“, der geht ihm so zu Herzen, daß er, Jesus, ihn nur wiederlieben kann. Welch ein Herz-Überlassen, in welchem wechselseitig Einer im Anderen ist! Welch ein Sich-Herzen, Lieben ist das! – Der Eine, der spricht, fragt: Wenn du,

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Mundes“ zu von Greiffenbergs Feststellung: „ich hab mich in dich verküsset“ – mit der Respons der „Geliebten“ in der 2. Hälfte der 2. Strophe. Demnach ist das ganze Gedicht eine Auslegung dieses einen biblischen Satzes, strukturell ganz gleich dem Aufbau des gesamten „Betrachtungs“-Werkes von Greiffenbergs. In dieser Form und in seinem Aufbau als Zwiegespräch ist das Gedicht völlig ungewöhnlich und ohne Vorlage in der gesamten Tradition der „Hohenlied“-Auslegung, insbesondere des Luthertums. (Zu dieser Tradition siehe: Ernst Koch, Beobachtungen zum Umgang mit dem Hohenlied in Theologie und Frömmigkeit des Luthertums im 16. bis 18. Jahrhundert; in: Gottes Ehre erzählen. Festschrift für Hans Seidel zum 65. Geburtstag, hrsg. von Matthias Albani und Timotheus Arndt. Leipzig 1994, S. 25 – 41.) Zur Metaphorik v. Greiffenbergs vgl. (noch einmal) C. M. Pumplun, „Begriff des Unbegreiflichen“ (wie oben S. 66 Anm. 263). Es sei angemerkt, daß solcher Tendenz zur Auflösung („Herz-zerschmelzend“) etwas problematisch ,Mystisches‘ innewohnt, obwohl sie vermutlich jedem, der innig liebt, nicht fremd ist. – Auszuführen wäre freilich, wie man Jesus zuliebe leben kann und lebt. Dazu s. o. S. 84 Anm. 297. Immer ist die Rede vom Glauben in der Hohenlied-Auslegung signifikant für das Lutherische.

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die Geliebte, mir „mein Herz“ und meine „Gunst“, mein Wohlwollen, ,abgewonnen‘ hast, ja alles an dich genommen hast, selbst meine Sinne nun dir gehören und ich nur noch auf dich höre, ansonsten „hör- und herzlos“ bin, wenn also du meine „Herrscherin“ bist: Wer denn hat dich solche „Kunst“ ,gelehrt‘? Die Antwort der „Geliebten“ in der vierten Strophe lautet: „Ach“ – und nun spricht sie wieder ihr Herz an – „mein Herze! sey vergnüget mit“ diesem Raub des Herzens, der mehr ist als ein Raub des Himmels.302 Wenn doch „der Glaube dies gefüget“ hat, so kann „ihm nichts unmüglich“ sein.303 – Jesus wird angeredet als Auserkorener (als „Prinz“)304 der Liebesflammen, Liebesbrände: Sein Geist sei „mein“, der ihn Liebenden, „Lehrmeister“ solcher Kunst, von der er selbst in der vorausgehenden Strophe gesprochen hat: in der Kunst, „dich zu fassen, Jesu Christ“. Jesu Kunst ist nämlich nicht etwa nur eine überirdische Kunst, sondern eine, die höher ist als alle „Künste“ der „Engel“, denn sie schafft, daß er nicht nur sein „Herz“ der Geliebten schenkt, sondern ihr immer wieder einen „Anlaß“ bereitet (ein „Anlaß-Haar“305 zukommen läßt), sich ihm „in die Hände“ ,zu geben‘, sich ihm erneut zuzuwenden und die Verbundenheit mit ihm zu leben. Die dritte Wechselrede beginnt, in der fünften Strophe, wieder mit einer Frage des ersten, der hier spricht, Jesus: Was könnte einer „noch mehr verlangen“, wenn doch ,mein‘, Jesu, „Herze“ sein ist? Denn in diesem ,meinem‘ Herzen – im Herz Jesu – ist doch „alles“ inbegriffen, miteinbezogen, „was“ an „Gut[em]“ sein „kann“. Wer ihn, Jesus, hat, der hat folglich „Alles“; denn sein Herz, Jesu Herz, ist „der Mittel=punct“ von allem. Aus seinem Herzen ,funkelt‘ („funkt“) alles, „die ganze Allheit“; aus ihm geht ein „Strahl“ aus, durch den alles licht und klar wird: alles sich zeigt, wie es in Wahrheit ist. Dieser alles beleuchtende Strahl ist eingegangen in das Bewußtsein der Geliebten: ist in ihr bewußt geworden. Und also „gebrauche“ sie diesen „Strahl“, dieses Erkenntnis-Licht, wie einen „Scepter“, wie einen Herrschaftsstab, zur Weltüberlegenheit und zur Welterkenntnis. Auf die mahnende Frage der fünften Strophe, wie man denn noch mehr verlangen könne, wenn man doch mit Jesus, mit Jesu Herz, alles hat – auf diese Frage erwidert die „Geliebte“ in der sechsten Strophe: Völlig zu Recht sei sie „allvergnügt“,306 habe sie „selbst“ doch „die Allheit“.307 Sie weiß: Gebrauche 302 Vgl. Paul Gerhardt: „Wer will mir den Himmel rauben“ (in: „Warum sollte ich mich grämen“ [1653]; EG 370, 1). 303 Vgl. Mk. 9, 23: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ 304 Im Abendmahls-Sonette „Freudenschall über diese Gottes-Entfahung“ [= Empfangung] wird Christus angerufen: „Du schönster Himmels-Prinz, wollst dich mit mir vermählen.“ (SW 1, 179). 305 Zu der Wendung „Anlaß-Haar“ s. o. S. 84 Anm. 295. 306 In der vierten Strophe war das als Selbstaufforderung an das eigene Herz ausgesprochen: „sey vergnüget“. 307 Das ist: Gottes alles und über alles Sein. Zu der Bezeichnung „Allheit“ s. o. S. 56 Anm. 236 – 242.

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ich nur, was ich mit Jesu Herz habe, so „bleibt“ nichts, was in der Zeit ist und sich ereignet, „von mir unbesieget“. Und nun formuliert die „Geliebte“ oder „Liebste“ – und mit ihr die Dichterin, von Greiffenberg – das Zentrale ihrer Überzeugung: Hat ein Mensch als Person „ALLES in dem EINEN“, in dem „Einen“, aus dem „Alles wird“ und geschieht – in Jesus –, so kann es nichts, was das Herz begehrt, geben, das noch „unerfüllt“ und unbefriedigt wäre. Den „Strahl[..]“ der Gottheit aus dem Herzen Jesu, den „Scepter“ der Herrschaft über die Dinge und die zeitlichen Ereignisse, den die fünfte Strophe mit den Worten Jesu ihr empfahl, den will die Jesus Liebende gebrauchen als „Stab“ der „Allmacht“, mit dem sie über „Erd’ und Himmel siegen“ kann. Jesus, in der siebten Strophe, stimmt dem in der sechsten Strophe von der liebenden Person Geäußerten ausdrücklich zu: Wenn die Geliebte „schon“ sein „Herze“ hat, so muß er, Jesus, zulassen, daß sie die Herrschaft mit dem „Allmacht Stab“ ausübt, denn sie hat ihn, Jesus, eben „dabei“, bei seinem Herz, ,erfaßt‘. Nur eines ist noch angebracht: ,Gebrauche‘ es, ,mein‘ Herz, für dich „zu meiner“, Jesu, „Ehre“, aber auch, „zu aller deiner Lust“; denn ,ich‘, Jesus, weiß sehr gut, daß deine Lust dazu da ist, ,meine Ehre zu vermehren‘. Darum: „Wohlan, so walt und schalt mit der Gottheit Allgewalt!“ Dieser Ermächtigung, die ihr zuteil geworden ist, entspricht die „Geliebte“, in der achten Strophe, mit einer Bitte an den geliebten Jesus: „Zeig[e]“ du, „Herz in meinem Herzen, was dir am herz[aller]liebsten ist.“ M.a.W. ,Lehre mich, was du willst, was dir wohl gefällt, was dir zur Freude ist.‘ Und weiter : ,Laß mich das erkennen‘ („Trag mir vor[an] Erkantnis-Kerzen“) und also „wirke“, daß ich merke, das Vorgenommene sei von dir ,auserwählt‘. Aus solcher Erkenntnis laß es zur Tat kommen: ,Treibe‘ („sporne“) „mein Beginnen“ ,an‘, „daß ich, wie ein Pfeil im Flug, dir gehorche ohn Verzug. Hilf mir auch den Sieg [zu] gewinnen.“ Aber den Sieg gewinnen, ,heißt‘ ja „nur“, der Spur „deines Willens“ ,folgen‘. – So also versteht von Greiffenberg das christliche Leben. Den letzten Teil dieses Liebesgesprächs eröffnet der Sprechende, Jesus, wiederum mit einer, nun abschließend zusammenfassenden, Feststellung: „Herz und Herze sich vereinen! Deines ich, du meines bist.“ Und dann kündet er, Jesus, an, daß „bald“ alle „Welt“ erkenne, was ihr, der Dichterin, bereits zuteil geworden ist: „Was das für ein Glücke ist, mit dem höchsten Herze [zu] tauschen.“308 Bis dies „vor der Welt erscheinen“ wird, „leb[e]“ du, die Geliebte, „in meiner“, in Jesu, „Brust“, und „ich“, Jesus, „hab[e] meine Lust“ „in dir“. Nur eine kurze „Zeit“ laß ,verstreichen‘, dann wird „dies Herz-verliebte Spiel“ des ,Herztauschens‘, des ,Vereinens‘ von „Herz und Herze“ zu „seinem Allmacht-Ziel“ in der Ewigkeit ,kommen‘. 308 Die Formulierung könnte an die traditionelle Vorstellung vom „seligen Tausch“ erinnern. Bei ihr ist aber ein Austausch von Eigenschaften wie Gerechtigkeit und Sündersein, reich und arm, im Kontrast vorgestellt. – Die Bitte und die Hoffnung, daß bald alle „Welt“ die Wahrheit erkenne, ist im damaligen Luthertum nicht unüblich.

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4. Über einige Sonette und Gedichte

Diese Erklärung, dies Versprechen Jesu, nimmt die „Geliebte“, in der letzten Strophe, noch einmal mit einer Bitte an Jesus auf: Du, ,Herz des Herzens‘,309 „bleib“ in ,meinem‘ „Herzen länger, als mein Leben“ währt. Das ,Licht der Liebe‘ („die schöne Liebes-Kerzen“) „laß“ über den Tod hinaus „un[aus]löschlich“ ,mir‘, meinem Leben, zu eigen sein. Die von Jesus Geliebte nimmt sich vor: Wenn nur „dis Herz“ – das ,Herz des Herzens‘, das Herz, dem ,mein‘ Herz gehört – „in mir lebt“, halte ,ich‘ „alle Schickung[en]“, alle Widerfahrnisse, für „gleich“, für gleichgültig, mich im Innersten nicht betreffend; und „lebe“ ,ich‘ „stäts“ in gleicher Weise „freudenreich“, gleich was an Zeitlichem geschieht („was sich immer hier anhebet“). Wenn ,ich‘ dieses „erwünschte[..] Ziel“ welt-überlegener Gelassenheit erlange, dann wird ,meine‘ Liebe und werde ,ich‘ zu „Lieb[es]-Feur“. Nachwort: „Herz und Herze sich vereinen“ – das bekundet der hier sprechende Jesus als den zusammenfassenden Sinn des in diesem Gedicht Gesagten (Strophe 9). Diese Vereinigung und dies Vereintsein mit Jesus (traditionell dogmatisch benannt: die „unio cum Christo“) ist nach von Greiffenberg eine lebendige, nämlich die im liebenden Austausch der Herzen. Aber damit ist nicht alles bedacht, was von Greiffenberg über dies Einssein mit Jesus in diesem Gedicht dargelegt hat. Sie begnügt sich nicht mit der überkommenen Wendung: Wir sind in Christo – oder : „Ich lebe, doch nun nicht ich, sondern Christus lebt in mir“ (Gal. 2, 20). Sondern sie bedenkt und führt aus, was die Göttlichkeit (oder Gottheit) Jesu Christi und damit seine Weltherrschaft310 für den mit Jesus in Liebe geeinten Menschen bedeutet und besagt. Die Einheit mit dem Herzen Jesu ist also die Vereinigung eines Jesus im Glauben Erkennenden und damit von ihm geliebten Menschen311 mit dem Herzen dessen, der der „Herrscher aller Welt“ ist. Und folglich hat, nach von Greiffenberg, der mit Jesu Herz geeinte Mensch teil an Christi oder Gottes Allmacht und Weltherrschaft, ist er durch Christi Erkenntnis-Licht weltüberlegen.312 Und es weiß die Dichterin prägnant und genau zu sagen, was die Teilhabe an der Gottheit für das Leben des Menschen besagt: nämlich seine Weltüberlegenheit. (Dogmatisch gesprochen: die Weltüberlegenheit des Jesus Liebenden und mit ihm Einigen ist bei von Greiffenberg christologisch begründet). Doch über von Greiffenberg hinaus, aber nur in Aufdeckung der Konsequenz ihrer Darlegungen, kann man hervorheben, daß im Tausch der Herzen ein qualitativer Unterschied der Herzen besteht, und daß gerade das, wie bei

309 Zur Formulierung „Herzens-Herze“ vgl. in der 8. Strophe: „Herz in meinem Herzen.“ 310 Bereits in der 2. Strophe ist das von der Jesus liebenden Person erstaunt und bewundernd einbekannt. 311 Siehe die 3. und 4. Strophe. 312 Siehe jeweils die 2. Hälfte der Strophen 5 – 7. Christus ist ja als das ewige Wort, in dem alles geschaffen ist, alles einsichtig geschaffen ist, das „Licht der Welt“ (Joh. 9, 5).

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von Greiffenberg selber steht, das Beglückende des Tausches ist.313 Im Tauschen der Herzen hat die „Geliebte“ ungleich mehr erhalten, als sie menschlich geben konnte: Sie hat die Unabhängigkeit von den endlichen Dingen und Geschehnissen, mithin den Grundzug und Ausdruck ihrer Freiheit und ihrer tief innerlichen Freude („allvergnüget“) als eine Realisierung des Göttlichen bei ihr selbst erhalten. Die Weltüberlegenheit im Vereintsein mit Jesus zeigt sich in ihrer Stärke, nach von Greiffenberg, im Bestehen des Todes. Dazu bedarf es nur dessen, daß das Herz des weltbeherrschenden Jesus auch und gerade im Tod im Herzen des Jesus liebenden Menschen bleibt – und es bleibt, wenn „die schöne LiebesKerzen“ in dessen Herz „unauslöschlich“ ist, wenn seine Liebe hell leuchtet und eben nicht erloschen ist. Und das ist auch ihre Erwartung für das ewige Leben über den Tod hinaus (in dogmatischer Terminologie: ihre „individuelle Eschatologie“): ein „Lieb-Feur“ zu werden.

313 Siehe die 9. Strophe.

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5. Die Passionsbetrachtungen 5.1 Einleitung Die Geschichte der Passion, des Leidens, der Hinrichtung und des Sterbens Jesu Christi ist das Zentrum alles Christlichen. Denn das Christentum in all seinen Ausprägungen, die es im Laufe seiner Geschichte gefunden hat, setzt voraus, daß das Leben eines jeden Menschen, entgegen seinem ursprünglichen, von Gott ihm gegebenen Sinn, von einem abgründigen Mangel an wahrem, freien Leben und daher von einer tiefsitzenden Problematik durchzogen ist, und daß der Mensch diese aus eigenen Kräften allein nicht beheben kann. Es hält folglich den Menschen für erlösungsbedürftig und für ein Wesen, das zur Rettung aus jenem Mangel einer neuen Zuwendung Gottes und für sich einer Umkehr bedarf. Anders gesagt: Das Christentum setzt voraus, daß es ein waches, illusionsloses, wahrhaftes Leben nicht gibt ohne das Eingeständnis des Peinlichen und Peinvollen: des Mißlingens und Verschuldens, des Leidens am Unheil durch Kränkung und Krankheit – und an der angetanen Gewalttätigkeit und letztlich am Unheil des Todes. Und da alle solche Negations-Erfahrungen das Leben zu verdüstern drohen, ist der Mensch nach christlicher Sicht verloren, wenn er ihnen rettungslos ausgeliefert ist. Aber die Negations-Erfahrungen sind nur die eine Seite, die abgründige Seite des Christentums, bei der es, Gott sei dank, nicht und nie sein Bewenden haben kann. Hauptthema des Christentums ist das Negierende, Tödliche nicht. Hauptthema ist, was daraus und davor rettet: was darin erlöst. Mithin ist jedoch christlich keine Erlösung denkbar, die nicht wesentlich und entscheidend ein befreiendes Leben eröffnet – und in der nicht gezeigt ist, wie das Üble, das Unheilvolle, unser Verfehlen und Verschulden, das Leidenmüssen und der Tod zu bestehen und zu überwinden sind. Solche Erlösung ist nach christlicher Überzeugung in der Geschichte der Menschheit wirklich geworden im Leiden und im erlittenen, grausamen Tod Jesu. Das ist seine, des Gottgleichen, Passion. Die frühe, spätantike Kirche legte in diesem Zusammenhang den entscheidenden Nachdruck auf die Menschwerdung (die „Inkarnation“) des uns Menschen Gott offenbarenden, Gott gleichen Gottessohnes, Jesus Christus. Zur Deutung dieser Menschwerdung bildete sie den Gedanken einer „Selbsterniedrigung“ (der „Selbstkondeszendenz“) bis zu uns des Gottessohnes Jesu Christi aus: eine Erniedrigung zum Zwecke unsrer Erlösung – und unsre Erlösung ist unsre Erhöhung (unsre „elevatio“) zur Vereinigung mit Gott. Vorgestellt wurde diese göttliche Handlung wie eine Parabel: ein Vollzug von

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5.1 Einleitung

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oben nach unten und von unten nach oben. – Das Mittelalter fügte dem die Lehre von Jesu Christi Aufsichnehmen und Erleiden unsrer Sünden und der uns drohenden Todesstrafe hinzu; und bei Bernhard von Clairvaux die Erkenntnis, daß alles, was Jesus tat und vollbrachte, aus Liebe zu uns geschah (aus Jesu „Minne“), unsre Gegenliebe (unsre „Jesusminne“) erweckend. – Die Reformation Luthers betonte entschieden, daß alles Tun und Erleiden Christi um unseretwillen („pro nobis“), um unserer Sünden willen geschehen ist, damit wir Sünder vor Gott gerecht gesprochen erscheinen und somit sind. – Im nachreformatorischen Luthertum des 17. Jahrhundert ist die Anrede Jesu als Bruder und als Freund ein Kennzeichen der lutherischen Erbauungsliteratur314. Den früh- oder altkirchlichen Gedanken der Selbsterniedrigung des Gottessohnes Jesus Christus und damit Gottes selbst und unsre dadurch erreichte Erlösung und Erhöhung zu einer Vereinigung mit Gott nimmt von Greiffenberg so nachdrücklich und konsequent auf, daß er nicht nur für ihre „PassionBetrachtung“, sondern für ihr gesamtes schriftstellerisches Werk als das stuktur-gebende Argument bezeichnet werden kann. Aber sie spitzt diesen tragenden Gedanken zu bis zur Erniedrigung Gottes, Jesu Christi, in unser tiefstes, abgründiges Sündenelend. Und sie stellt jenen Grundgedanken von Anfang an, vom Ausgang aus dem Himmel Gottes an, dar als „pro nobis“, also als Vollzug der Liebe Jesu zu uns. So ist bei ihr alles, was sie zur Menschwerdung Christi und vor allem zu seiner Passion und zur Erlösung durch sein Blut zu sagen hat, inbegriffen in jene große Liebesbewegung uns zugute. Das „pro nobis“ ist bei ihr ganz existentiell ausgeformt zum „pro me“; und so ist das Christusgeschehen, die Selbsterniedrigung des Gottessohnes Jesu zu unsrer Erlösung, ganz gegenwärtig: Es ist nach ihr uns erweckend zum Entsetzen, zum Erschrecken über uns selbst und unsre Sünde, die Jesu Blut gefordert hat. Und es ist doch uns aufrufend zum Einwilligen in Jesu unausdenkbar große Liebe. Wir nehmen Jesu Passion, sein Blutvergießen aus Liebe, wahr, wenn wir es wahrnehmen, mit Schmerzen, mit Trauer und Scham und mit äußerster Betrübnis – und doch, da sie zu unserem Heil ist, mit Freude. Dies, die Freude, das Hineingelangen in die Liebe Gottes in Jesus, ist das Ziel; das Loskommen von der Sünde, die Er-lösung von ihr, ist dazu das nötige Mittel. Zum Stil der ,Passionsbetrachtungen‘ von Greiffenbergs sei M.-L. Wolfskehl zitiert: Nach ihr „sind“ sie „durchglüht von“ einer „ungeheuren Ausdrucksinbrunst und sinnlicher“ – es sei hinzugefügt: vergeistigter – „Erregtheit.“315 314 So Marie-Luise Wolfskehl, Die Jesusminne in der Lyrik des deutschen Barock. Phil. Diss. Gießen 1934, S. 91 f und S. 93 f. Sie fügt erläuternd hinzu: „In diesem ganz subjektiven und persönlichen Verhältnis zu Christus dem Freund gelangt die protestantische Eigenart zu ihrer reinsten und schönsten Entfaltung. Fast die gesamte evangelische Lyrik ist von dieser Christusauffassung bestimmt, auch dort, wo die Bezeichnung ,Freund‘ nicht ausdrücklich vorkommt.“ (S. 94) 315 Dies., A.a.O., S. 130.

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5. Die Passionsbetrachtungen

In diesen ,Betrachtungen‘ „versetzt“ von Greiffenberg „sich in schmerzlich zärtlicher Kontemplation in die Leiden ihres Herrn“. Es „erhält“ hier „die Jesusminne ihren stärksten Ausdruck“ – verbunden mit einer „Todessehnsucht“, die „mit einer in diesem Jahrhundert nur selten erklungenen Leidenschaft begehrt“, völlig und unverbrüchlich endgültig mit Jesus Christus geeint zu sein. Dazu zitiert M.-L. Wolfskehl aus der „Vierte[n] Betrachtung“: „Auch im Tod laß mich dich küssen: daß ich, in lezter Lebens=stunde, meine seele in deine seiten, und meinen mund in deine Wunden verküsse; daß der so oft geschlossene geistes=pfeil, einmal in dir haften bleibe, und meine ganze lebens= und wesens=kraft in deine lippen verfliege: da das vergängliche sich in unvergänglichkeit versenken wird.“ ([SW 9,] S. 141)316

5.2 Der Aufbau des Buches und die ersten beiden „Betrachtungen“ Das erste, von ihr selbst zum Druck beförderte Werk von Greiffenbergs erschien im Jahre 1672 und trägt den Titel: „Des Allerheiligst= und Allerheilsamsten Leidens und Sterbens Jesu Christi, Zwölf andächtige Betrachtungen“ – oder „Andächtige Passion=Betrachtungen“.317 Diesem ersten „Betrachtungs-“ oder ,Andachts‘-Buch folgten weitere von ihr verfaßte „Betrachtungen“: „Der Allerheiligsten Menschwerdung, Geburt und Jugend JEsu Christi, Zwölf Andächtige Betrachtungen“ (1678); „Des Allerheiligsten Lebens JESU Christi Sechs Andächtige Betrachtungen von dessen Lehren und Wunderwercken“ (1693); „Des Allerheiligsten Lebens JESU Christi Ubrige Sechs Betrachtungen Von dessen Heiligem Wandel, Wundern und Weissagungen, von= und biß zu seinem Allerheiligsten Leiden und Sterben“ (1693). Wie wir von ihr selbst wissen, dargelegt in der „Vor=Ansprache an den geneigten Leser“ in dem zuletzt genannten Werk, ist der „letzte Theil, deß […] heiligen JEsus=Lebens […] von mir schon verfertiget, und noch in Druck verhoffet 316 Zitiert von Wolfskehl a. a. O., S. 138. 317 Wie wichtig ihr die persönliche und unter ihrem Eigennamen benannte Autorschaft war, zeigt eine briefliche Äußerung an Sigmund von Birken: „Ich bin gänzlich Entschlossen Meinen Rechten“ [= von Rechts wegen zustehenden] „Nahmen Darunter sezen zulassen, […] weil Ich was Ich geschriben nicht zu läugnen, sondern Mich dazu zu bekennen begehre […], vornemlich Aber darüm ob vielleucht der Himmel Dadurch Einigen Anlaß zu Meinen Heiligen großen Ziel schikken möchte, weswegen Einig Allein (wie oft gemeld) Ich es in den Druk kommen lasse, dazu denn der waare Nahme möchte verträglich“ [= besonders förderlich] „seyn! Mein Gemahl hat zwar Einig[e] bedenken […], doch habe Ichs ihm Ausgerededt, […] weil kein theyl“ [sc. der Religionsparteien] „genennt oder geschmäht Sey“ (BW Nr. 91, Brief vom 1. 8. 1672 = S. 214 f Z. 16 – 25). In ihrem Brief Nr. 88 vom 1. 5. 1672 an von Birken, in dem von Greiffenberg Sigm. von Birken dankt für seine nachdrückliche Bemühung um die Drucklegung der „Passion-Betrachtungen“, schreibt sie: „Meine Betrachtungen Auch Einig Allein der Aller Höchsten Deoglori wegen, An das Liecht und in Drukk kommen lasse“ (BW, S. 211, Z. 51 f; vgl. Brief Nr. 93 vom 21. 12. 1672 = S. 219, Z. 25 f).

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5.2 Der Aufbau des Buches

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wird, als von der H. Auferstehung, Himmelfahrt, und zur rechen GOttes Sitzung JEsu, und dergleichen, auch von dem H. Geheimnuß der H. Dreyeinigkeit GOttes, mit welchem das gantze Werck […] beschlossen wird.“318 Jede „Betrachtung“ ist auch eine Besinnung, immer bezogen, lutherischer Tradition gemäß, auf einen neutestamentlichen Evangelientext. Veröffentlicht wurden die „Passion=Betrachtungen“ unter der Beratung und Zuarbeit von Sigmund von Birken, der bereits Jahre zuvor in seiner „Vor=Ansprache zum edlen Leser“ in ihren ,Sonnetten, Liedern und Gedichten‘ ihre „Fürtrefflichkeit“ und insbesondere ihre „Geist= und Kunstfähigkeit“ rühmte.319 Wie H. Laufhütte aufgrund des „Briefwechsels“ nachgewiesen hat, stammen in den „Passion=Betrachtungen“ das „Erläuterungsgedicht zum Titelkupfer“ für das Gesamtwerk sowie bei den „den einzelnen Andachten vorangestellten emblematischen Kupferstiche[n]“ die „Bildmotive, die Überschriften und Erläuterungsgedichte wenigsten zu den Andachten 1 bis 7 […] von Frau von Greiffenberg selbst“ – jedoch die „Bilderfindungen und Erläuterungstexte der Passions-Andachten 8 – 12 […] von Sigmund von Birken.“320 Wie H. Laufhütte ferner zutreffend hervorhebt, ,trifft‘ „bei den eigenen Sinnbild-Erfindungen der Autorin so gut wie immer zu[..],“ daß „das Erklärungsgedicht ein Konzentrat der nachfolgenden […] Andacht darstellt“.321 Die Absicht, die von Greiffenberg mit dieser Schrift verfolgt, ist oben bereits wiedergegeben: In der „VorAnsprache an den Edlen Leser“ erklärt sie, „dieses geringe Büchlein […] geschrieben“ zu haben „zu Vermehrung der Ehre Gottes und Jesus=Liebe, auch Erweckung wahrer Andacht.“ Und sie bekundet von sich: „Ich achte endlich Nichts als Jesum: Den ich ewig hiemit ehren und zu verehren begehre.“322 Das Buch besteht aus zwölf, in sich abgerundeten „Betrachtungen“. Dem Gesamtwerk und jeder einzelnen „Betrachtung“ geht ein emblematisches Kupferbild mit einem Erklärungsgedicht voraus. Manche „Betrachtungen“ beginnen danach mit einer in die jeweilige Thematik einführenden Passage, die teilweise noch einmal den Sinnspruch des Titelkupfers aufnimmt. Manche jedoch setzten ein mit einem Gedicht oder führen sogleich ein neutestamentliches Zitat an. Die Auslegung einzelner Sätze aus dem biblischen

318 SW 7, „Vor-Ansprache“ o. S., letzter Abschnitt. Gleichfalls gesagt in der ihr gewidmeten „Leichenpredigt“ (wie Anm. 21), S. 487: Sie habe diese „Andachten […]“ ausgearbeitet „hinterlassen.“ 319 SW 1, S. )( vij. 320 H. Laufhütte: Geistlich literarische Zusammenarbeit (wie Anm. 219), S. 587, 584 u. 585. 321 A.a.O., S. 594. 322 Zitiert oben S. 44 in Anm. 189. Vgl. auch in der „Unterthänigste[n] Zueignungs=Schrift“ an den „Allerliebste[n] HErr[n] JEsu!“: „Ach, so laß mich nun auch empfingen, das Ziel meiner Worte und Feder, Dir nämlich in andern, eine mänge unendlicher Lob= und Preis=Gedanken zu erwecken, damit die ganz Erde deiner Ehre voll werde“ (SW 9, S. )( v /v).

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5. Die Passionsbetrachtungen

Passionsbericht,323 jeweils jedes Satzes für sich, bildet den Hauptinhalt einer jeden „Betrachtung“. Häufig fügt die Autorin in die Prosa ihres Auslegungstextes Gedichte (besonders Sonette) ein. Vorausgesetzt für ihr gesamtes literarisches Werk und so auch für ihre „Passion-Betrachtung“ und für ihr Abendmahlsverständnis ist, was in der damaligen Zeit selbstverständlich war : die unbedingte, göttliche Geltung der Bibel als Gottes Wort – und das einmalige Besondere, daß Jesus Mensch und Gott zugleich in einer als diese besondere Person ist (ein „vermenschte[r] GOtt[..] und vergötterte[r] Mensch[..]“324). Exemplarisch sei ihre Weise der Auslegung anhand der ersten beiden „Betrachtungen“ aufgewiesen. Das Emblem- oder Kupferbild zur ersten Betrachtung trägt den Sinnspruch: „Aus Liebe und Vorsatz“. Jedoch noch vor dem „Erklärungs“-Gedicht folgen hier bei der ersten ,Betrachtung‘ drei Gedichte zur „Andacht=Ermunterung“.325 Das „Erklärungs“-Gedicht ist überschrieben: „Jesus redet“. Es beginnt mit der Zeile: „LJebe lässet mich nicht bleiben in der süssen Himmel=Ruh.“ Und es endet mit: „Meiner Gottheit Schlusses-Fels keine Wellen pflegt zu achten.“ Dieser Satz sei umschrieben: Der Entschluß „meiner Gottheit“, der Gottheit Jesu, ist so fest und unumstößlich wie ein „Fels“; keine „Wellen“, keine irdischen Geschehnisse, können ihn irritieren.326 – Der Sinnspruch des Kupferbildes „Aus Liebe und Vorsatz“ wird in den einleitenden Abschnitten der ersten ,Betrachtung‘327 dahin gehend ausgelegt, daß Jesus die Passion auf sich genommen hat aus Liebe zu uns und das aus vorhergehender Absicht, eben aus seinem „Vorsatz“. Die Passion, sein Leiden und Sterben, ist nicht über ihn verfügt, sondern er hat sie – nach diesem Verständnis – in seiner Gottheit selbst gewollt. Dies, daß Jesus sich die Passion absichtlich selbst vorgenommen hat, wird in dem „Kupferbild“ zur zweiten Betrachtung noch einmal betont mit dem Sinnspruch „Eher als er“328, also (umschrieben) vor der Zeit seiner Geburt als Mensch.

323 Zugrunde liegt vermutlich diesen „Passion-Betrachtungen“, was die Abfolge der Bibelverse betrifft, die Passionsharmonie Johannes Bugenhagens, wie das bereits Hans-Hendrik Krummacher vermutet hat (Ders., Der junge Gryphius und seine Tradition. Studien zu den Perikopensonetten und Passionsliedern, München 1976, S. 330 Anm. 20). Wenn diese Vermutung zutrifft, wofür einiges spricht, dann allerdings nur mit erheblichen Abweichungen. – In ihren übrigen „Betrachtungs“-Werken folgt von Greiffenberg keiner Vorlage. Isoliert man die einzelnen inhaltlichen Motive oder Gedanken in den „Passion-Betrachtungen“, so trifft auch auf sie zu, was H.-H. Krummacher für die Passionslieder Gryphius’ festgestellt hat: daß es kein Motiv gibt, für das nicht eine „Parallele in der sonstigen Passionsliteratur zu finden wäre.“ (Ders., A.a.O., S. 358) Letztlich ergibt sich das aus dem gemeinsamen Bibeltext. 324 SW 9, S. 41. – Übrigens wird man, wenn man die Evangelientexte unbefangen liest, zu keiner anderen Ansicht über Jesus kommen. 325 Davon ist das dritte oben angeführt und interpretiert, s. o. S. 58 – 61. 326 SW 9, S. 4. 327 A.a.O., S. 5 – 9. 328 A.a.O., S. 28 a. (Immer ist in den folgenden Seitenangaben das Werk „Passion-Betrachtungen“ = SW 9 gemeint.)

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5.2 Der Aufbau des Buches

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Die Anfangssätze der ersten ,Betrachtung‘ lauten dementsprechend: „JESUS, der Anfänger und Volländer unsers Heils, vollendet die Profezeyungen von den letzten Welt=begebnissen, als er die Weissagungen von seinem Leiden zu vollziehen anfangen wollte. Er beschlosse mit der Verheissung des ewigen Lebens, welches er durch Sterben erwerben wollte.“329 In Umschrift dürfte das heißen: In der Zeit, als er sich vorgenommen hat, „die Weissagungen von seinem Leiden zu vollziehen“,330 hat er auch „die Profezeyungen“ des Alten Testaments „von den letzten Welt=begebnissen“ ,vollendet‘. Denn er hat die Erfüllung der „Weissagungen von seinem Leiden“ ,beschlossen‘ „mit der Verheissung des ewigen Lebens“, das er „durch“ sein „Sterben“ uns „erwerben wollte.“ Es folgen im Text Sätze, die im Kontrast formuliert sind – ein von der Autorin überaus häufig verwendetes Stilmittel: „Seine [sc. Jesu] liebreiche Gedancken waren, uns durch sein Leiden“ – „Freude, durch“ seine „Schmertzen Wollust, und durch sein Creutz die Kron zu erlangen.“ Denn, wie andernorts oft von der Verfasserin gesagt ist, durch sein Leiden und durch seinen Tod gehen wir, die an ihn Glaubenden, in die Seligkeit ewiger Freude ein. Weiter spielt von Greiffenberg das „Eher als er“ des Sinnspruches aus: „Er [sc. Jesus] theilte schon die Kleinodien aus, ehe er den Kampf angienge.“ (Er teilte schon die Kleinodien des Himmelreiches aus, „ehe“, bevor, er den Kampf seiner Passion anfing.) „So gewiß war er des Sieges, so begierig nach unserer Erlösung, daß er, bey seinem Todesgang, auf unsern Eingang in das Leben, bey seinem Welt=Abschied auf unsern Himmel=Willkomm, gedachte.“331 Nicht nur ist das wiederum betont im Kontrast formuliert, so ist auch deutlich zum Ausdruck gebracht, daß Jesus mit allem, was er tut, uns allemal und unbedingt zuvorkommt. Das uns Zuvor-kommen Jesu ist auch im folgenden Satz ausgesagt, jedoch anders gedeutet: „Er [sc. Jesus] sagt eher, wie er uns die Freude des Himmels einantworten“ [= übereignen] „wollte, als er den Feinden überantwortet wurde, welches doch eher geschehen muste: Weil ihme seine Noth weniger, als unsere Freude, zu Hertzen gienge.“ (Das sei umschrieben: Vorweg, eher „als er den Feinden überantwortet“, ausgeliefert „wurde“, übereignet „er uns die Freude des Himmels“, obschon doch vor dieser Übergabe der himmlischen Freude an uns seine Auslieferung an die Feinde geschehen mußte. Die uns bereitete Freude im Himmel war und ist ihm andringender als seine „Noth“ des Leidens. Deshalb kam er mit der Freude für uns seiner „Noth“ zuvor.) Wie Jesus vorweg schon, vor seiner zu bestehenden Passion, die „Kleinoden“ des Himmels uns austeilt, uns die „Kron[e]“ des Lebens zuspricht, das legt der nächste und letzte dieser einleitenden Abschnitte dar. Die Autorin 329 S. 5. 330 Vgl.: „Er“, Jesus, „lobte ihn [sc. Gott] vor“ [= für] „die erfüllung der Weissagung, die eben in seinem Leiden bestunde“ [= bestand] (S. 64). 331 S. 5 f.

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5. Die Passionsbetrachtungen

führt dafür Jesu „Allwissenheit“ an, die ja auch ein Vorauswissen ist,332 und belegt jene ,Begabung‘ mit der himmlischen Seligkeit mit den Versprechungen in Jesu Rede vom Weltgericht (Matth. 25, 35 – 37). Denn hier steht geschrieben, daß Jesus denen, welche die ,Werke der Barmherzigkeit‘ als selbstverständlich tun, die himmlische Freude zusagt. Nach dem vorliegenden Text der ersten ,Betrachtung‘ jedoch vollzieht Jesus jene Zueignung der himmlischen Freude noch bevor es wirklich zu seinem Leiden kommt, obschon er doch uns die himmlische Freude erst durch sein Leiden und Sterben erwirbt. So heißt es zum Beispiel: „Er [sc. Jesus] sahe, als im Spiegel, das bittere Tränen-Brod“333 der Schmerzen, das ihm bevorstand: „Noch machte ihn seine Liebe“ [= Dennoch bewegte ihn seine Liebe,] „das Himlische Freuden=Brod denen“ zu „verheissen, die mit wenig Brosamen den Armen sich gutthätig erweisen.“ Und zusammenfassend ausgesagt: „Er häuffet Liebe mit Liebe gegen uns, die wir ihn mit Angst und Qual überhäuffet.“334 Dem schließt sich ein längeres Gedicht an, ein Einleitungsgedicht grundsätzlicher Art, das die Liebe zu Jesus besingt. Es beginnt mit dem Ausruf: „O Ausbund aller Lieb!“ und enthält Ausführungen wie die folgenden: „Aus mir du bringest mich, und bleibest doch in mir.“ Anders gesagt: Du, Jesus, bringst mich aus mich heraus, enthebst mich – und bleibst doch in mir. Das ist die Vollzugsart der Liebe: Über sich selbst hinaus, ganz beim Anderen – und doch ist so der Andere in mir. Oder „Und in der Sättigung inbrünstiges Verlangen“. Also: Nicht unbefriedigt ist die Liebe zu Jesus, nicht nur ein sehnsüchtiges Verlangen ist sie; sondern gerade in ihrer Erfüllung, in der „Sättigung“, liegt das leidenschaftliche Verlangen nach dem Geliebten und nach erneuter Erfüllung. Das Gedicht endet mit einem Eingeständnis der Seele: „Sie liebt und fühlet sich von stummer Krafft getrieben, Und wünscht sich aus dem Leib, zu JESU ihrem Lieben.“335 Nach einer kurzen Überleitung folgt ohne nähere Einführung das erste Bibelzitat: „Ihr wisset, (saget er), daß nach zweyen Tagen Ostern wird.“336 In Bugenhagens Passionsharmonie ist das der einleitende Satz zu Jesu letzter Leidensankündigung und daran anschließend zum Bericht über den heimlichen Plan des Hohenrates zur Gefangennahme Jesu und weiter zu Jesu und seiner Jünger Vorbereitung des Passahmahles. Diesen Text Bugenhagens läßt von Greiffenberg aus. Auf die Sache kommt sie später eigenständig zu sprechen. Den eben zitierten Satz deutet sie aus in einer ,Andacht‘ oder Meditation, die Jesus in den Mund gelegt ist über seine bevorstehende Kreuzigung: „Ich, aller Erquickung Ursprung, mus, euch ewig zuerquiken, unerquicket, ster332 333 334 335 336

Siehe: „die Allwissenheit, Krafft derer er alle Dinge zuvor wuste“ (S. 9). „Tränen-Brod“: nach Ps. 80,6. S. 6. S. 7 f. S. 9.

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5.2 Der Aufbau des Buches

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ben.“ – „GOtt wird von Menschen gecreitziget: damit die Menschen von Gott gecrönet werden.“337 Sodann wendet sich von Greiffenbergs Text ohne Überleitung und ohne Anführung einer Bibelstelle der heimlichen Beratung des Hohenrates über Jesu Gefangennahme zu.338 Nach von Greiffenberg planen dessen Mitglieder das Gegenteil von dem, was Gott und Jesus sich vorgenommen haben (was wieder im Kontrast beschrieben ist): „Er“, Jesus, „gedachte die Menschen zu erlösen: sie gedenken GOtt zu fangen.“ – „sie verfolgen den Allmächtigen, und scheuen sich vor den Pövel.“ – „Sie gedachten das Heil zu vertilgen, und gaben damit Ursach, daß es erhalten wurde.“339 Wieder ist hier ein Gedicht eingefügt, wonach „Wer GOtt bekämpft, der kan nicht anders als verliehren.“ Aber gänzlich gegen ihren eigenen Willen dienen sie, die Mitglieder des Hohenrates, dem göttlichen Erlösungs-Zweck: „Ihre Arglist, muste der frommen Weisheit GOttes, zum Werckzeuge dienen, den Rath der Ewigkeit“ zur Erlösung „zu vollführen.“340 Völlig unvermittelt und ohne jeden Kontext setzt im weiteren von Greiffenberg mit dem biblischen Satz ein: „Ein Weib hatte ein Glas mit köstlichem Marden=Wasser.“341 Alle folgenden Ausführungen von Greiffenbergs setzen voraus, daß der Kontext bekannt ist: die Geschichte von Jesu Salbung im Hause des Simon durch eine eingedrungene Frau. Bereits dieser relativ kurze Text der Auslegung342 dokumentiert übrigens die an Bildern und sprachlichen Wendungen überreiche, also überschwänglich formulierende Sprache von Greiffenbergs, gerade auch in ihren Prosa-Texten. – Von der zugrunde liegenden neutestamentlichen Geschichte werden über das Tun der Frau nur zwei Sätze hervorgehoben und wörtlich angeführt. Außerdem erfahren wir, eingearbeitet in den fortlaufenden Text, von ihr, daß ihr Tun bei den Jüngern Ärgernis erregte343 und sie deshalb vom ,gesamten Tisch‘ „verachtet“ wurde, Jesus sie aber „vor der gantzen welt berühmt machen“ ,wollte‘.344 Ebenso hervorgehoben und ausgelegt werden die drei Aussprüche Jesu: „Lasset diß Weib unbekümmert!“ (Zum zweiten) „Dann sie hat ein gut Werk an mir gethan.“345 „Arme habt ihr allezeit, mich aber habt ihr nicht allezeit.“346 – Zwei kurze Gedichte sind in der zweiten Hälfte eingefügt, ein langes schließt die ,Betrachtung‘.347 337 338 339 340 341 342 343 344 345 346 347

S. 10. S. 10 f. S. 11. S. 12 f. S. 13. S. 13 – 27. S. 17. S. 23. S. 18. S. 22. S. 20 f, 21 f, 25 – 27.

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Den ersten, den bereits angeführten Satz über die Frau mit dem „Glas mit Marden=Wasser“ deutet von Greiffenberg traditionell als Salbung zum Tode und zur Beerdigung und das bei Jesus „zum Zeichen der Unverweslichkeit“.348 Der erzählende Satz ist aber für von Greiffenberg Anlaß, die Bedeutung, oder genauer, den Rang der Frau herauszustellen: Christus „verschmähete die Weibsbilder nicht, sich von ihnen bedienen zu lassen, weil er sie gewürdiget, aus einer Mensch“ [= aus einer menschlichen Person] „geboren zu werden, so würdigt Er sie auch, zu Sterbens=Zeuginnen. […] Er bezeugte damit, daß er nicht ansehe die Stärcke, sondern die Weichmütigkeit, und mehr Belieben an der Liebes=Innigkeit, als an der äusserlichen Wercke= und Schein=Heiligkeit habe.“349 Jesu betonte Würdigung der Frau an sich nimmt von Greiffenberg wieder auf im Kontext des Berichtes, daß Jesus die ihn salbende Frau vor aller Welt rühmen will350 : „Sie thäte“ [= hat getan] „aus einfältiger Liebe, was die höchste Weisheit in ihr gewürcket hat: welche nicht verachtet die weibliche Schwachheit, sondern sie öffters zum Gefäß ihrer Allmacht brauchet“ wie bei der „Ankündigung der Empfängnis seines heiligen Leibes“ und auch bei der ,Verkündigung‘ der „Auferstehung“. So also ,sehe man‘, daß „der Allmächtige“ die „Weibsbilder“ selbst „von den allerwichtigsten Himmelreichs=geschäften keines wegs ausschliessen“ wollte.351 Den zweiten, vom Tun der Frau berichtenden Satz „Sie zerbricht das Glas“ legt von Greiffenberg in dem Sinne aus: „Sie gieset die Balsam Geister über den jenigen, der den Geist GOttes über sie ausgegossen“ hat. „Sie erquickte den Wiederbringer der Himmlichen Erquickung. O glückseeliges Weib!“ Und von Greiffenberg bezieht das sogleich auf sich: „Ach, daß mir dieses selbe Glück wäre beschert gewesen!“352 Und sie bezieht es auf ihre Besinnung und Betrachtung des Leidens, der Passion Jesu: „O du allerliebster Verliebster“ Jesus! „Sihe, wie wallet mein Hertz, wie ringet das Geblüte, wie springen die Geister, wie zischet mein Innwendiges, wann ich dein lieb=feuriges Leiden bedencke“.353 Und sie bedenkt sogleich, was ihr die Passion Jesu bedeutet und besagt: „Aber, gerechter Gott! wie soll“ ich „dir gefallen? […] ach! so reinige mich von allen meinen Sünden durch das Blut, dessen Vergießung ich zu preisen verlange.“354 Und sie beteuert, was aus dieser Großtat Gottes oder Jesu für sie folgt: „Laß alles, was ich denke und thue, in und aus dir gethan seyn, zu 348 349 350 351 352 353 354

S. 13. Ebd. Siehe oben bei Anm. 344. S. 23 f. S. 14. S. 15. S. 16. Hier in dieser 1. Betrachtung kündet sich bereits an, welche zentrale Rolle das „Blut“ Jesu oder Christi in der ,Passions-Betrachtung‘ von Greiffenbergs einnimmt. So heißt es z. B. hier im Schlußgedicht: „JEsu! […], Der du in den tod dich gabst, […] mich mit deinem Blute labst“ (S. 25). „GOtt, durch deine Blutes=tropffen, wollt all’ abgrunds=Brunnen stopffen“ [= Abgründe, Brunnen der Sintflut, der Sünde] (S. 26).

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5.2 Der Aufbau des Buches

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deinem Dienst und unendlichen Ehren.“355 „Ach! daß alles mein Gedenken, Thun und Dichten, in deine Liebe und Ehre, wie die Flüsse ins Meer sich ergössen! daß ich nichts anders denken könte, als von deiner Liebe und von deinem Leiden“.356 „Herz, werde voller Glut! Begierde, sitz entglühet! […] Ach, daß der Mund mit Lob, wie eine Rose blühet!“357 Doch weil die Jünger in der behandelten Geschichte über die Salbung von den Armen sprechen, will von Greiffenberg diese Erinnerung nicht übersehen: Sie wendet die Buße auch (!) ins Tätige: „Weil aber die Buß ein spring=Brunn in das ewige Leben ist, so laß mich,“ o du Heiland aller Welt!, „ausschencken“ [= verschenken] „den Balsam der Barmhertzigkeit meinen armen Nechsten. Durch dein mild=geronnenes Blut, O JEsu, mache rinnen die Brünnlein meiner Wohlthaten, samt den Augen und Hertzen: weil du deine Thränen vor“ [= für] „mich auch nicht gesparet hast. […] Laß meine Hände leisten, worzu sie sich verschreiben, nämlich dem höchsten Gut, in den Armen alles Guts zu thun.“358 Der Prosatext schließt mit einer Danksagung der Autorin. Das darauf folgende Gedicht endet in den beiden Schlußversen so: „Dir sey lob, daß alle Welt Zu erlösen, dir gefällt.“ Und: „Lob, aus allem, was in mir, sey, O JEsu! ewig dir!“359 Nachwort: Wenn wir das Dargelegte bedenken, können wir sagen: Die Geschichte der Jesus salbenden Frau steht bei von Greiffenberg sinnig unter dem Eingangssatz, der die Vorbereitung anspricht auf das Passah-Ostern mit dem Passahlamm. Denn sie salbt Jesus zu seinem Tod und zu seinem „begräbnis“.360 Und weil nach damaligem Verständnis der Tod Jesu das Heilsereignis ist, weil das sein Sinn und seine Bedeutung ist, Heil für uns zu sein, ist sein Tod Gegenwart, und wird der Tat, dem Werk, der Frau zu allen Zeiten gedacht. Die zweite ,Betrachtung‘ hat ein Hauptthema: Jesu Einsetzung oder Stiftung des Abendmahls.361 Sie handelt darüber hinaus von Jesu Ankündigung eines Verräters unter den Zwölfen,362 von der Frage der Jünger, wo das „Osterlamm“ zubereitet werden soll und von Jesu darauf erfolgenden Antwort;363 und von Jesu Aufdeckung, daß Judas der Verräter ist;364 und schließlich von Jesu Ab-

355 356 357 358 359 360 361 362 363 364

S. 19. S. 20. S. 21. S. 16 f. S. 27. S. 24. S. 36 – 61. S. 29. S. 30 f. S. 32 – 35.

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5. Die Passionsbetrachtungen

schied von seinen Getreuen365 und von der Danksagung der Verfasserin für das in diesem Zusammenhang von Jesus Getane.366 In der ersten ,Betrachtung‘ hat Jesus seine Begleiter, die Jünger, auf das bevorstehende „Ostern“ hingewiesen und damit auf die nötige Bereitung des „Osterlamms“.367 Nun, in der zweiten ,Betrachtung‘ fragen die Jünger das inhaltlich Gleiche Jesus. Auf jenen Hinweis Jesu folgt in der ersten ,Betrachtung‘ die Geschichte von der Salbung Jesu als Vorbereitung seines Todes und seines Begräbnisses. In der zweiten ,Betrachtung‘ folgt auf jene Frage der Jünger hauptsächlich die Einsetzung des Abendmahls als Teilnahme an Jesu Kreuzestod. Was die Salbung äußerlich, leiblich vollzieht, das geschieht geistlich im Abendmahl. Der Sinnspruch beim Kupferbild „Eher als er“ durchzieht die ganze zweite ,Betrachtung‘ und zeigt so seine vielfältige Bedeutung. Jesus benennt einen Verräter und deckt danach Judas als diesen Verräter auf, noch „eher“ Judas ihn tatsächlich verrät. Jesus weiß den Ort für sein Mahl mit dem „Osterlamm“, noch „eher“ seine Jünger einen Mann in der Stadt danach fragen. Er teilt im Abendmahl die erlösenden Heilsgaben seines Todes, sein Leib und sein Blut, seinen Jüngern mit, bevor er getötet wurde.368 Er nimmt in seinem letzten Mahl mit den Worten, daß er nicht mehr trinken werden vom Gewächs des Weinstocks, Abschied von den Seinen, eher als er den tödlichen Abschied erleiden muß.369 Der Auslegung der Einsetzungsworte schließt von Greiffenberg acht Gedichte an. Sie leitet diese ein mit den Worten: „Ich kan vor lauter Liebe und Bewegung, nicht fortreden, will demnach die Geistes=Kräfte, zu erholen, diese Betrachtung mit Singen unterbrechen“. Über allen Gedichten steht als Überschrift „Vom H. Nachtmahl.“370 – Für uns ist das ein Anlaß in einem eigenen Teil dem Abendmahlsverständnis von Greiffenbergs nachzusinnen. In die Anführung der Gedichte, nach dem fünften Gedicht, fügt die Verfasserin eine Darlegung des Abschiedswortes Jesu und die Danksagung der Verfasserin ein.371 Im Abschiedswort wird von Jesus gesagt: „Alles scheiden, gehet zu Herzen: darum ist mir mein Herz gebrochen, daß ich mich, auch noch vor dem Abschied, euch mittgeteilet“ zum Abschied. Doch „das zeitliche scheiden, bringt ewige Gegenwart.“372 – Die gesamte ,Betrachtung‘ schließt mit einem kurzen „Schluß=Seufzer.“373 365 366 367 368

369 370 371 372

S. 52 f. S. 53 – 55. Siehe oben S. 96 bei Anm. 336. „So mußte JESU Gut“ – das, was er uns zugute am Kreuz vollbracht hat – durch seine Einsetzungsworte vorweg, „in Kelch und Wein zufliesen“ [= hineinfließen], „eh noch der Leib verwund[et]“ (S. 48; ebenso S. 40, 56). S. 52. S. 43. S. 52 – 55. S. 52 f.

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5.3 Das Ereignis des Abendmahls

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5.3 Das Ereignis des Abendmahls Daß die lutherische Frömmigkeit ihr Zentrum und ihren Schwerpunkt in der Passionsandacht hat, ist für sie typisch und üblich. Das in der ,PassionsBetrachtung‘ von Greiffenbergs Eigene, für sie Charakteristische läßt sich in zwei Sätzen finden: Er, Jesus, „verlangt[t] nicht allein für uns zu sterben, sondern auch in uns zu leben.“374 Und: „Jesus“ hat die „Menschheit“ von uns „angenommen und seiner Gottheit vermählet […], auf daß“ wir „dadurch mit GOTT wieder vereinigt werde[n].“375 Das Vereintwerden des Menschen mit Gott, unser Einswerden mit Gott, ist also das Ziel alles Christlichen, alles dessen, was Jesus Christus gesagt und getan und so uns aufgetan („geoffenbart“) und uns zugebracht hat. Das unübersehbar Besondere in von Greiffenbergs Passions-Betrachtung und darüber hinaus in ihrer gesamten Frömmigkeit jedoch liegt in ihrer Hochschätzung des Abendmahls. Bereits in ihrem ersten Werk, den ,Geistlichen Sonetten, Liedern und Gedichten‘ kommt das deutlich zum Ausdruck: Nicht wenige ihrer Dichtungen sind diesem Thema gewidmet. Die uns hier interessierende zweite ,Passionsbetrachtung‘ handelt ganz überwiegend von Jesu Einsetzung des Abendmahls.376 – Unverkennbar ist auch der tiefe Ernst, von dem alle ihre Aussagen über das Abendmahl geprägt sind. Das ist schon äußerlich dokumentiert durch ihre Bereitschaft, Strapazen und kränkendes Ungemach auf sich zu nehmen, nur um an einen Ort in den Habsburgischen Ländern zu kommen, wo – noch – das lutherische Abendmahl gefeiert und ihr die Abendmahlsgaben gereicht werden. Wenden wir uns nun inhaltlich dem Versuch zu, von Greiffenbergs Abendmahlsfrömmigkeit zu verstehen. Unübersehbar ist, daß alle ihre Ausführungen über die Selbsterniedrigung des Gottes, Jesus Christus, eine besondere Zuspitzung im Abendmahl haben. In der ,realen Gegenwart‘ (in der „Realpräsens“) Christi im Abendmahl unter Brot und Wein und im Sich-unsGeben ist die Selbsterniedrigung zur äußerster Sinnfälligkeit geworden: Christus gibt sich uns zu leiblichem Essen und Trinken. 373 374 375 376

S. 61. S. 36. S. 37. Die entsprechenden Ausführungen im 1. Werk werden hier miteinbezogen. In den ,Passionsbetrachtungen‘ äußert sich die Verfasserin an zwei weiteren Stellen eingehend über das Abendmahl: In der fünften ,Betrachtung‘, bei der Feststellung des Hohenpriesters, daß nach dem Selbstbekenntnis Jesu kein weiteres Zeugnis nötig ist, schließt die Verfasserin: so seien auch für uns nach dem Selbstzeugnis Jesu seine Einsetzungsworte klar und deutlich und keines weiteren Zeugnisses bedürftig (S. 268). Und in der sechsten ,Betrachtung‘ anläßlich der Pilatus-Frage: Was ist Wahrheit? legt sie ihre Wahrheitsüberzeugung dar: als vornehmste die über die Realpräsenz Jesu Christi im Abendmahl (S. 331 – 334). Auch in ihren übrigen Werken, den ,Geburts‘- und ,Lebensbetrachtungen‘, wird die Bedeutung des Abendmahls immer wieder dargelegt (siehe auch unten den „Anhang“ S. 110 – 115).

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5. Die Passionsbetrachtungen

Das nun, das leibliche Essen und Trinken in deren ganzer Sinnlichkeit, kann von Greiffenberg nicht stark, nicht drastisch genug ausdrücken. Nach ihr ereignet sich in der „hochwürdige[n] Geniessung des Höchst-heiligen Abendmals“ dies: „Ach aller Wunder Haupt!“ [= das alles bestimmende und überragende „Haupt“ aller Wunder – oder die Krönung aller Wunder] „der Mensch, den Schöpffer isst. […] Das innerst’ Herzens=Blut“ [Jesu] „fliesst jetzt in unsern Mund. […] Nicht nur in Noht und Tod, auch wesentlich im Mund, gibt sich mein Liebster“, Jesus, „mir, […]. Sein Lieb=erhitztes“ [= in heißer Liebe wallendes] „Blut sol[l] meine Herz=Hitze“ [= mein heißes Verlangen] „stillen. Ich küss’, und iss’ ihn gar vor“ [= aus] „Lieb’ in meinen Schlund. Nicht näher er sich ja mit mir vermählen kund“ [= konnte].377 „Alhier“ ,pfleget‘ „die Ertz=Krafft“ [die göttliche Kraft] „aller Kräfften in ein Brößlein Brod sich […] ein zu häfften“ [einzufügen]. „O Paradeis. O Himmel auf der Erden! da wir von GOtt, mit GOtt, durchgöttert werden. Es ist der Geist im Himmel, Gott im Leibe. JEsu mein Herz! im Herzen ewig bleibe.“378 „Ach allersüstes küssen, des Himmel=Bräutigams! O lieblichstes genießen, des süßen“ [= liebevollen] „Gottes=lamms!“379 Im Gegensatz zum falschen Judas’ Kuß ist es ihr, wie sie schreibt, „im hoch=heiligen Abendmal erlaubet, dich [sc. Jesus] leiblich, wiewol unsichtbar, unter Brod und wein zu küssen. Ach! da nimm ich dich, mein Erz=herz!“ [= mein von Grund auf untrügliches Herz, d. i. Jesus] „gar in mund und ins herze, küsse und isse dich mit milion“ [= mit Millionen] „wallenden liebes=brünsten“ [= Liebes-Verlangen]. […] „Alles was in mir ist, herzet und küsset dich, daß mein ganzes wesen ein kuß wird, und solcher in dich gehet.“380 „Ach drucke höchstes Gut! das Siegel, ach! dein Blut, und dein herz, in mein herze“.381 „Nun sich herzen“ [= sich lieben] „Leib und Herze, Blut und Blut sich grüst und küst. lichter=loh die Glaubens=Kerze ganz davon entflammet ist.“382 „Ich dancke dir, du allertreuester Herz=Heyland […], daß du die himmlische Wunder=Kunst ersonnen, uns deines Göttlich=Menschlichen Leibs und Bluts teilhafft zu machen. Ich verehre, dieses Engel=anbetbare“ [= von Engel anbetungswürdige] „Wunderwerck, der mündlichen Geniessung deines wahren Leibes und Blutes, mit

377 In ,Sonette, Lieder, Gedichte‘ = SW 1, S. 180 f. Vgl.: „Der alle Speis erschuff, läst sich hier selber essen. Der selber hat erbaut die Zunge und den Mund, erniedert“ [erniedrigt] „sich so tieff und kommt in ihren Schlund.“ (SW 1, 177) In SW 9, S. 45 steht das so: „Man hat den Schöpfer durch sein ertz=erbarmen“ [= gründliches Erbarmen] „und JEsum Christ, als Bräutigam, in den Armen“. 378 SW 9, S. 44. 379 S. 57. 380 S. 140. Es sei darauf hingewiesen, daß der von der Autorin sehr geschätzte Theologe, Heinrich Müller, im Jahre 1659 ein umfängliches Werk veröffentlicht hatte unter dem Titel „Der himmlische Liebeskuß oder Übung des wahren Christentums fließend aus der Erfahrung der göttlichen Liebe“. – Mitbedacht sei, daß der Kuß immer etwas Einvernehmliches an sich hat. 381 S. 61. 382 S. 47.

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5.3 Das Ereignis des Abendmahls

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herz=quellender“ [= aus dem Herzen kommender] „Lieb=Andacht“.383 – „Wer in der Schrifft GOtt nicht kan sehn und finden, der komm hierher“, zum heiligen Abendmahl: „so wird er ihn empfinden. Wer wissen will ob sey ein GOtt wie süße“ [= wer wissen will, wie süß = liebevoll ein Gott ist]: „der schmecke hier, und fühl, was man genieße“384 Im „Briefwechsel“ mit Sigm. von Birken berichtet die Autorin solches Erleben des Abendmahls auch ganz direkt von sich: „Ach! was vor Eine überEnglische“ [= über das Vermögen der Engel hinaus reichende] „Glükkseeligkeit ists um die genüssung des Heiligen Abendmahl! mann soll Es um Allen welt verlust, nicht Empären! je öffter je lieblicher, wohl recht je länger je lieber und Süsser, mich dunkete Als ob Jesus Mich und Ich ihn mit Armen umfassete“.385 „Ach! was ist Das vor ein Unbeschreibliches Glükk! wenn Man das heilige hochwürdigste AbendMahl Alle Mahl haben kan So offt Man Es Verlangt! Es ist der gröste vorzug und Erwünschbarstes ding auf der welt, Und das Einige“ [= Einzige] „so Mir in Geistlichen Ergezungen Mangelt, und Mein gröster Wunsch, und Einigs Verlangen Auf Erden ist. Ach! Himmel! Erhöhre, und beschehre Mir, diese überhimmliche Ergezung Auf Erden, daß Ich in dieser Jeßus-wollust schweben, Leben und Sterben kann.“386 Wie sollen, wie können wir diesen überschwenglichen, aber auch überdeutlichen Heilsrealismus verstehen? Selbstverständlich ist alles Angeführte von der Liebesgemeinschaft zwischen der Glaubenden und dem Heiland Jesus getragen, so wie sie in dem oben zitierten „Gesprächs=Lied“ dargelegt ist.387 Mit vielen innigen und jubelnden Worten der Liebesvereinigung – des Verlangens und des Genießens – umschreibt von Greiffenberg, was das Abendmahl ist und bewirkt, was es ihr als das Höchste und Liebste in der Gotterfahrung, im Glauben und in der Jesusliebe bedeutet. Aber eine Liebesgemeinschaft erklärt die so betont realistische Abendmahls-Auffassung von Greiffenbergs nicht. Denn diese Liebesgemeinschaft ist eine im Geiste und gerade nicht sinnlich wahrnehmbar. Alle intimen Formen und Kenntlichkeiten sollen ihre Innigkeit zum Ausdruck bringen und sind gerade nicht erotisch gemeint. Was das Abendmahl jedoch nach von Greiffenberg auszeichnet, ist die Sinnlichkeit – aber die Sinnlichkeit des Geistigen – Jesus mit dem Munde

383 S. 53. 384 S. 45. Der Satz ist nachgebildet der agendarischen Einladungsformel: „Kommt, […] schmecket und sehet, wie freundlich der Herr ist“. Ganz üblich und mit der Tradition kann von Greiffenberg auch sagen „Doch muß der Heilig Geist die Krafft ins Herze wehn: ohn Ihn, verstehen wir nichts in diesen Heilgeschäfften.“ (SW 1, 147) 385 Brief vom 7. 8. 1671, Nr. 75 = BW S. 186, Z. 33 – 36. Vgl.: Nach der Teilhabe am Abendmahl: ,Ich hab mich gestern‘ „An Meinen Jesu! Süssest Ergezt, Ihm Alles befohlen und so gar Ergeben, daß Ich Auf nichts Anders Mehr zu denken begehre, Ihnn der massen geherzt, daß Ich das herz in Ihme gelassen“ (Brief vom 2. u. 3. 8. 1677, Nr. 142 = BW S. 303, Z. 24 – 32). 386 Brief vom 11. 12. 1674, Nr. 113 = BW S. 257, Z. 24 – 29. Vgl. S. 281, Z. 1 f und S. 292, Z. 45 – 47. 387 SW 3, S. 458 – 460 = oben S. 82 – 88.

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5. Die Passionsbetrachtungen

zu essen und zu küssen: und die so in die Vereinigung mit dem Geliebten einführt. Bei dem Realismus im Abendmahls-Empfang, so wie die Autorin ihn vorträgt, ist auffällig, wie selbstverständlich – oder sollen wir sagen: wie unbefangen? – er geäußert ist. Und doch ist er für uns nicht etwa nur erstaunlich, sondern befremdlich, ja verstörend. Wir suchen einen ersten Zugang zu von Greiffenbergs Verständnis des Abendmahls als Gipfelpunkt aller christlichen Frömmigkeit. Läßt es sich nach Art der Menschwerdung (oder der Inkarnation) Jesu Christi verstehen? Verwiesen sei dafür, für von Greiffenbergs Sicht und Verstehensweise der Menschwerdung, auf das Gedicht „O Wort, dem alle Wort zu wenig, es zu preisen!“388 Ihre Auffassung des Abendmahls dazu in Analogie zu verstehen, liegt nahe, wenn die Autorin schreibt: Jesu Handlung beim letzten Mahl mit seinen ihn Begleitenden ,macht‘ „das Unsichtbare in dem Sichtbaren, und das Unendliche in dem Endlichen begreifen und den sterblichen Mund das Unsterbliche fassen.“389 Fragen wir : Was ist bei einer Feier des Abendmahls „das Unsichtbare“? Doch wohl Jesus Christus als Geber der Gabe. Und was ist da das „Sichtbare[..]“? Doch wohl die Gaben, Brot und Wein. Inwiefern nun ist in diesen sichtbaren Gaben Jesus Christus zu „begreifen“? Das ist ganz und gar nicht klar ; das ist, so gesagt, nicht einsichtig. Das aber ist das Problem! Nehmen wir noch einmal, versuchsweise, als Parallele das von Greiffenbergische, eben zuvor angeführte Gedicht „O Wort“. Wohl wird man sagen können: Das ewige Wort wird von den Ohren eines Menschen hörbar durch die menschlichen Worte, die der Mund eines Menschen ausspricht (wobei sich sogleich die Frage stellt, welche menschlichen Worte es in Wahrheit aussprechen). Aber jenes menschliche Aussprechen des ewigen Wortes in menschlichen Worten kann doch nur sein, weil das menschliche Aussprechen selbst ein geistiger, verstehbarer, potentiell einsichtiger Vorgang ist, und eben nicht nur ein sinnlich konstatierbarer Laut oder ein Geräusch ist. Das Problem hier, beim Abendmahl, hingegen ist: Zweimal wird Sinnlichkeit ausgesagt oder in Anspruch genommen – und das doch in total unterschiedlichem Sinn. Das sinnlich Wahrnehmbare, Brot und Wein, sind irdische Nahrungsmittel. Doch eben das ist nicht das, was wirklich wahrzunehmen ist. Um nichts Menschliches und Irdisches ist es hier zu tun. Menschlich gesehen, ist „das Blut“ das, „in welchem das Leben ist“, und „das Herz“ ist „der Mittelpunct des Lebens und der Sitz aller kräfte“.390 Aber hier, beim Abendmahl kommt es einzig darauf an, daß es etwas Göttliches ist, das wahrzunehmen und in sich aufzunehmen ist: der für uns zum Heil hingerichtete Leib Christi und dessen erlösendes Blut. Aber dies Göttliche, Christi Leib und Blut, ist, so wird hier entschieden vorausgesetzt, ,inkorporiert‘ in 388 SW 9, 2 f = oben S. 58 – 61. 389 S. 37. 390 SW 10, S. 785.

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Brot und Wein und wird mit Mund und Zunge, mithin ganz sinnlich, wahrgenommen. Das ist das andere Sinnliche: die Aufnahme des Dargebotenen. In einer Abendmahlsfeier ist nichts anderes zu sehen als Brot und Wein. Doch das soll nicht ein irdisches Nahrungsmittel sein, sondern Träger göttlichheilbringender, in sie eingegangener „Bedeutung“: Ausgestaltungen von Leib und Blut Christi zu sein. – Diese Problematik stellt, gänzlich verkürzt, die Frage: Wie kommt es vom Sinnlichen zum Geistigen? Wie läßt sich das Geistige im Sinnlichen ausgedrückt finden? Oder umgekehrt: Wie läßt sich das Sinnliche als Realisierung des Geistigen wahrnehmen? Übrigens tragen die beiden Abendmahlsgaben, Brot und Wein als Leib und Blut Christi, nach von Greiffenberg noch eine weitere Bedeutung: die wesentliche Heilsbedeutung. Sie spricht davon, Jesus habe „im blutigen schweis seines angesichtes und ganzen leibes“ nicht nur „wegen unserer sünden gearbeitet,“ sondern darüber hinaus „uns sich selbst, das Brod des lebens, gewonnen.“391 Und andern Orts schreibt sie, Jesus habe „den Kelch der bittersten schmerzen getrunken,“ – und das „voll süsser Liebe“ – „auf daß ich den Kelch deines Himmel=süßen Blutes genieß“, d. h. „auf daß ich, in deiner liebe, eine all=Erlösung finde.“392 Jedoch, da ist nicht eine Bedeutung gegen eine andere auszuspielen, sondern so ist für von Greiffenberg der eine heilbringende Sinn – oder die eine Heilsbedeutung – von Jesu Leib und Blut ausgedrückt. Freilich, für von Greiffenberg besteht das Heil nicht mehr nur in der Vergebung der Sünden, sondern darüber hinaus in der Liebes-Einheit mit Jesus, die da führt ins ewige Leben in himmlischer Seligkeit. Doch es drängt sich mir die Annahme auf, daß wir im Nachdenken und Verstehen-Wollen der Abendmahls-Frömmigkeit von Greiffenbergs auf dem bislang eingeschlagenen Wege, nur die Elemente zu bedenken, nicht weiter und nicht zum Verstehen und Einsehen kommen. Wir bedenken auf dem bisherigen Weg nur ein Feld von Problemen, das insgesamt ein unauflösbares Rätsel zu sein scheint. Und unauflösliche Rätsel sind auf Dauer langweilig und werden vergessen. Wir müssen in einem zweiten Verstehensversuch anders einsetzten. Wenn, wie oben behauptet393, Ziel alles von Jesus Christus erreichten und von ihm eingeleiteten Christlichen das Vereintsein mit Gott ist, so wird man fragen können: Wie komme ich zu Gott? Wie oder auf welchem Wege bin ich mit Gott oder Jesus verbunden oder vereint? Was geschieht mit uns, in uns, wenn es zur Vereinigung mit Gott kommt? Und inwiefern geschieht das im Abendmahl? Die Antwort: Wenn Gott mich liebt, seine Liebe mich umfängt, komme ich zu Gott, genügt nicht, denn noch immer ist Gott so außerhalb meiner. Nach von Greiffenberg ist zu sagen: Vereint mit Gott, eins mit Gott, ist derjenige, in den Gott oder Jesus sich hineinläßt, gleichsam ,hineingeht‘ und 391 S. 111. Jesus als „Brot des Lebens“ nach Joh. 6, 35. 392 S. 98. 393 Im Eingang dieses 3. Abschnitts, S. 101.

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dem er so zuteil wird. Also lautet die Frage: Wie aber gelangt Gott in mich hinein? Wie gelangt er so in mich hinein, daß ich, so wie ich als Mensch bin, ihn mit Leib und Seele in mich aufgenommen habe und dies Aufgenommenhaben spüre, empfinde, ihn mithin gerade auch leiblich, mit dem Mund aufgenommen (oder empfangen) habe – und daß mich dies Aufgenommenhaben leibhaftig, wie in einem Schauer, durchdringt.394 von Greiffenberg stellt selbst die Frage: „ACh wär es nicht genug, des Geistes Erstling haben, das Seel=erhellend Wort […]?“ Wie kommt es, daß er, Jesus Christus, zudem „auch Leib und Blut verschafft“? Und sie antwortet: „Er will, nit nur den Geist, aus Leib und Blut selbst laben“.395 Also: ,Nicht‘ „nur den Geist“ eines Menschen will er „laben“: zu fühlen und zu empfinden, mithin auch leiblich soll es sein.396 Bereits hier dürfte einsichtig sein, welch entscheidende Bedeutung bei von Greiffenberg dem ,mündlichen Essen‘ (d. i. dem lutherischen Lehrstück über die „manducatio oralis“) zukommt. Denn essend und trinkend nehmen wir etwas in uns auf. Daß der ,real gegenwärtige‘ Christus in unser leibliches Leben, in unseren Mund, und so in unser geistiges Herz sich einläßt, diese ,subjektive‘ Seite des Empfangenden, fügt von Greiffenberg nachdrücklich zum überlieferten lutherischen Lehrstück von der „manducatio oralis“ (vom ,mündlichen Essen‘) hinzu. Und dadurch wird diese Lehre doch erst schlüssig. Bei von Greiffenberg kommt überdies hinzu der angesprochene ,Realismus‘, daß es Jesus Christus als Gott der Schöpfer selbst ist, der im Abendmahl von den Glaubenden in sich aufgenommen wird und der sie zuinnerst, aber gänzlich durchdringt, so daß also von Gott nichts außerhalb des Teilnehmenden ist.397 Denn nur so ist das Einswerden mit Gott in uns – glaubend über uns hinaus – wirklich. von Greiffenberg führt im Blick auf Jesu Einsetzung des Abendmahls aus: Indem Jesus das Brot nahm, dankte und brachs, „bereitet“ er „diß sichtbare Element, durch sein heiliges Wort und Willen, bestimmet, ordnet, und setzt es ein, zu diesem heiligen Gebrauch, und machet ein höchst=heiliges Sacrament und Bundes=Zeichen daraus“.398 Und folglich sagt er : „Esset, meine Lieben! esset meine Lieb und meinen Leib: der sonst nirgend, als in euch, seyn will. […] In euch, in euch, in eurem Mund und Herzen“399 Jedoch: Leiblich mit dem 394 „Komm wieder bald, durchdringe mich“ (SW 9, S. 48). 395 SW 1, S. 183. Vermutlich sollte es, statt „aus Leib und Blut“, heißen: auch „Leib und Blut“. 396 Zum „Gott empfinden“ bei von Greiffenberg siehe: SW 9, S. 45 (= oben S. 103 bei Anm. 384); S. 49, 57, 58. „Fühlen und Glauben, so sonst wider einander, muß hier beysamen seyn.“ (S. 47) 397 So ist, denke ich, auch die Zulässigkeit dieses zweiten Verstehensversuchs ersichtlich; denn Luther und die nachfolgende lutherische Lehrtradition heben nachdrücklich hervor, ja können darin ein Spezifikum des Abendmahls wie der Taufe gegenüber dem ,Wort‘ Gottes sehen, daß wie in der Taufe die Gnade, so Jesus Christus im Abendmahl sich jedem für sich persönlich gibt: in und mit den Elementen Brot und Wein in seinem Leib und Blut. 398 S. 36. 399 S. 38. – Ausschließlich die ,Einsetzungsworte‘ (und die Worte zum Judas-Verrat) gibt die Verfasserin wieder vom neutestamentlichen Bericht über Jesu letztes Mal.

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Mund, so hörten wir, sei Jesus oder sein Leib zu ,essen‘. Und es wird uns gesagt: Er will in „Mund und Herzen“ aufgenommen sein. Aufgenommen im Herzen – ineins mit dem Mund oder auf dem Weg vom Mund zum Herzen – ist allemal und unverkennbar ein geistlicher und kein bloß leiblicher Vorgang. Es ist ja niemals nur ein leibliches Essen (mit Verdauen), denn das geht nicht ins Herz.400 Mithin muß das hier gemeinte Herz ein geistiges Herz, insbesondere der Liebe sein. Bedenken wir diesen Vorgang: Ein Mensch, der etwas weiß von dem, was im Abendmahl geschieht, oder der gar an Jesus Christus glaubt, ißt das Brot, über das die Einsetzungsworte gesprochen, ja in das sie gleichsam zu neuer Bedeutung hinein-gesprochen sind, nimmt es so leiblich in sich auf – und: läßt es sich zu Herzen gehen. Dann hat er es sogleich, den Einsetzungsworten gemäß, geistig, d. h. ganz selbstverständlich verstehend als Leib Christi wahrgenommen. Ist nun ein Glaubender nur drin in dem, was Jesu Einsetzungsworte benennen: „das ist mein Leib, und das ist mein Blut“, wirklich darin, ganz diesen Worten nachsinnend, sie in seinem Verstehen und in seinem Herzen bewegend, so stellt sich bei ihm von selbst ein: daß ihn der Jubel über diese Heilsgabe, das Überglück so erfahrener Seligkeit überkommt. Und für die, meint von Greiffenberg, der hymnischen Worte und Sätze nicht genug finden zu können. Was leiblich mit dem Mund aufgenommen ist, das geht – wer es versteht – sogleich ins Herz, ins Herz der Liebe. Und ebenso ist es mit dem Küssen als Ausdruck der Liebe. Und was so in einem Menschen geschieht, das entspricht dem, was Jesus Christus selbst als Person ist: ineins Mensch und Gott. Und folglich muß im Mund eines Glaubenden und mit Jesus in Liebe Verbundenen oder bei ihm auf dem Weg vom Mund zum geistigen Herz die „Umwandlung“ des mündlich Aufgenommenen ins Geistige passiert sein. Der platonische Dualismus von Geist und Fleisch, der üblicherweise Hintergrund unseres Denkens und Redens ist und erst überwunden werden muß, kommt hier anscheinend gar nicht vor. Warum kann jene Wandlung dem Glaubenden geschehen? Antwort: Sie geschieht ganz von selbst im Verstehen. Es ist das ein lautloses, bei einem geistigen, verstehenden Wesen sich von selbst verstehendes Verstehen. Das Verstehen – ein geistiger Vorgang – versteht das Sinnliche; anderenfalls, wenn es nichts davon versteht, kann es nichts damit anfangen. Das Verstehen läßt im Verstehen das Sinnliche bleiben, was es ist: sinnlich; und hebt es doch auf in einen geistigen Zusammenhang. In diesem Sinne ,wandelt‘ es das Sinnliche ,um‘.401 Im Sinnlichen ist Geistiges verstanden. Im Blick auf das Abendmahl 400 Als profan-menschliche Parallele seien aus der 1. Strophe eines Gedichtes von Paul Fleming, das den Titel trägt „Wie er wollte geküsset sein“, die ersten beiden Zeilen angeführt. Der Vers lautet: „Nirgends hin als auf den Mund, da sinkts in des Herzens Grund“ (Ders., Deutsche Gedichte Bd. 1 [wie S. 57, Anm. 243], S. 406). 401 Vgl. M. Luther, WA 26, S. 436, Z. 22 f: „Wie dem glauben allzeit ein leiblicher anblick wird fur gestellet, darunter er doch ein anders verstehe und begreiffe“ (zitiert nach J. Ringleben, Gott im

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5. Die Passionsbetrachtungen

besagt das: Indem ein Mensch sich einläßt auf das, was ihm gesagt wird und somit den gesagten Worten glaubt, ist jenes Aufnehmen nie ein nur leibhaftsinnlicher Vorgang, sondern eine geistige, sein Verstehen, seinen Sinn in Anspruch nehmende Wahrnehmung. M.a.W., indem ein Glaubender Jesus versteht, wiederholt er den Sinn, den ausgesprochenen Bedeutungswandel, der Einsetzungsworte Jesu. Wie in allem Verstehen, so auch hier : Wir verstehen immer mit einem – korrigierbaren – Vorverständnis. Wenn wir das für eine bestimmte Sache nicht haben, verstehen wir von ihr nichts. Läßt mithin einer sich die Einsetzungsworte Jesu gesagt sein, folgt er ihnen, so ist sein Sinn von den Einsetzungsworten geprägt. Also können wir, mit Worten gegenwärtigen Verstehens sagen: Der von den Einsetzungsworten geprägte Sinn (!) in den leiblichen Sinnen – wie dem Hören oder Genießen – des Glaubenden nimmt unmittelbar und ohne eigens bedacht zu sein die „Umwandlung“ ins Geistige vor. Für den Nichtglaubenden „wandelt“ sich da gar nichts; geschieht im Abendmahl gar nichts.402 Und das ist zu seinem eigenen Schaden; denn er versäumt so, was ihm gut täte. Auch bei von Greiffenberg ist dabei vorausgesetzt, daß die Handlung des Abendmahls in der Nachfolge der Einsetzung oder der Stiftung des Abendmahles im letzten Mahl Jesu erfolgt. Ihr zufolge identifiziert sich Jesus Christus in diesem Mahl mit den Elementen, Brot und Wein. Er könnte gesagt haben: ,Wie das Brot gegessen und der Wein getrunken wird, so nehmt mich, dessen Tötung bevorsteht, auf, nehmt mich in meiner euch geltenden Liebe in euch auf: mein Leib und mein Blut wird in meinem Sterben für euch gegeben. Das vergeßt nie, das tut zu meinem Gedächtnis.‘ von Greiffenberg findet dies Wunder der Einsetzung gesteigert, daß es vollzogen ist von Jesus, der sich so selbst zu essen gibt und sein Blut selbst zu trinken gibt, noch bevor er gestorben und sein Blut vergossen ist: „Lieb und Allmacht kan die schönste wunder machen:“ „So muste JESU Gut, in Kelch und Wein zufliessen, ehe noch der leib verwund. Auch diesen man geniest, und nimmet, eh er sich für uns noch hingegeben. Man isst das GOttes=Lam, eh daß es wird geschlacht; und kostet seinen Tod, da es noch ist im Leben.“403 Und: „Hier ist Allmacht mit der Liebe, in gleich=hohem wunder=grad: […] Es gab sich das Lamm zu essen, eh es noch geschlachtet war. […] Eh der Leib Wort, Tübingen 2010, S. 299). Hier bei Luther ist das „Verstehen“ noch ganz unmittelbar. Von dem mitgekreuzigten, aber bekehrten Verbrecher wird gesagt: Er sah nur das ,Gegenteil des Göttlichen‘ nämlich eine, menschliche ,Jammergestalt‘ und ,glaubte dennoch an Jesu Gottheit‘ (SW 10, S. 724; angeführt unten S. 184 bei Anm. 824). Das nennt von Greiffenberg „die höchste Glaubenskraft“ (SW 10, S. 734). 402 Das lutherische Lehrstück von einer „manducatio impiorum“ (einem ,Essen der Nichtglaubenden‘) kommt bei von Greiffenberg gar nicht vor. 403 S. 28. Vgl.: Er, Jesus, „gibt den heiligen Leib in den Mund, ehe er in Tod gegeben wird, zu zeigen seine heilige Ungeduld und brünstige“ [= brennende] „Liebe, auch, daß er verlange, nicht allein für uns zu sterben, sondern auch in uns zu leben.“ (S. 36; vgl. auch S. 40)

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5.3 Das Ereignis des Abendmahls

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ans Kreutz geschlagen, häft“ [= hefftet] „er ihn in herz und mund; will das blut noch eh[er] auftragen, als eröffnet war die Wund[e]. Weil voll ungeduld die Lieb, weil die erz=güt“ [= die völlige Güte] „ihn antrieb“.404 Der Eindruck von Greiffenbergs beim Abendmahl läßt sich wohl so beschreiben: Mit diesem Stück Brot (oder mit dieser Oblate) und mit diesem Schluck Wein geht mein Jesus in mich ein. So wie er von sich sagt: „Esset, meine Lieben! esset meine Lieb und meinen Leib: der sonst nirgend, als in euch seyn will“405 – so ist er in ihr. In diesem In-Sein im Andern ist er, Jesus, ganz darin, und ist von Greiffenberg ebenso ganz darin, ist sie ganz hinein versenkt. Daß in Jesu Tod die Liebe Gottes tätig war, und daß so der Weg zu Gottes Liebe uns gewiesen ist, schließt, als Beseitigung der Sperre dieses Weges, die Sündenvergebung ein. Jesu Blut als das Blut des Mensch gewordenen Gottes ist nach von Greiffenberg für den, der es in sich aufnimmt und in sich wirken läßt, „Erlösungs=Saft“406. Er folgt damit den Einsetzungsworten Jesu.407 Es ist das Blut „des GOttes=Lammes, das der Welt Sünde trägt“, das mich, Jesus, so „dränget […], für euch vergossen zu werden, eure blut=rote Sünde schneeweiß zu waschen.“ In diesem „Blut“ im „Wein“ besteht „der rechte neue Bund: die Vergebung der Sünden, Erlassung der Straffe, Vereinigung im Geist, und Versiglung mit dem Blut; gegen glaubiger Annehmung aller dieser Schätze.“408 „Hier“, im Abendmahl, „herz-empfindlich“ [= so daß das Herz es empfindet] „sich die Liebe gibt zu kennen, vereint Geist mit Geist und Herz mit Herz, in mir“ [= in einer Teilnehmenden].409 Im letzten der Gedichte zum Abendmahl steht: „Nun hab ich kein Verlangen, das mir nicht sei erfüllt: weil ich den“ [sc. Jesum] „hab empfangen, auf den mein alles zielt.“410 Und der „Schluß=Seufzer“ schließt so: „Wer selbst die Allheit hat, hat alles in der that“.411 Nachwort: Die konfessionellen Abgrenzungen, wie sie damals von Theologen zum Erweis der rechten Lehre gefordert wurden, formuliert von Greiffenberg ganz unpolemisch, gleichsam wie nebenbei. Gegen die römisch-katholische Lehre ist gesagt: Jesus gibt sein Blut „in und mit dem Wein, ohne Verwandlung, in himmlisch=heimlicher Vereinigung“412 – und: „esset meine Lieb und meinen Leib, der sonst nirgend, als in euch, seyn will“: „In euch, […] 404 405 406 407

408 409 410 411 412

S. 56. S. 38. SW 1, S. 137, vgl. S. 143. Jesu Wort „Trinket alle daraus“ legt von Greiffenberg so aus: „Trinket, meine Lieben! […] den Saft der Erlösung, die Kraft der Liebe, den Nectar des Himmels, den Wein der Freuden, das Blut der Sterbenden Unsterblichkeit, das euch ewig lebendig machet.“ (SW 9, S. 39) S. 41 f. S. 49. S. 60. S. 61. S. 41.

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5. Die Passionsbetrachtungen

in eurem Mund und Herzen, will er verschlossen und herum getragen seyn. Meine Lieb und mein Befehl, schliessen alle andere Ehr=Orte und Arten aus.“413 Gegen die Reformierten oder Calvinisten ist, um einiges schärfer, gesagt: „Wer mich liebet, wird diß mein Wort und Gebot halten, und sich bey Himmels= und Seeligkeits=Verlust, nicht unterstehen, das Geringste daran zu ändern.“414 Anhang: In ihrem zuletzt veröffentlichten Werk, in ,Des Lebens Jesu Christi übrige Betrachtungen‘ (1693) wendet sich von Greiffenberg in der letzten, zwölften Betrachtung noch einmal ausführlich dem Thema des Abendmals zu. Die entsprechende Abhandlung steht unter dem Titel: „Abendmahls=Andachten“.415 In der Hauptsache und in dem an Umfang weit überragenden Teil416 ist ihre Absicht durchgehend nur die eine: die Wunderhaftigkeit des Abendmahls, als Wunder über Wunder darzutun. So spricht sie diese ihre Intention selbst aus: Ihr obliege die „Betrachtung der Wunder“ des H. Abendmahls und die „Bewährung“ aufzuweisen, „daß dieses Wunden= und Wunder=Mahl allen göttlichen Wundern zugleich gleiche, und“ darüber „obsiege[..].“417 Sie beginnt ihre Darlegungen mit den Sätzen: „O Unvergleichliche JESUS=Gnade die allen GOttes=Gnaden, an Lieblichkeit zuvergleichen, an Vollkommenheit aber weit überlegen ist! was ist die Gnad der Erschaffung des Himmels und der Erden gegen die Gebung des unerschaffenen Herrschers derselben? was“ ist „die Mensch-Erschaffung gegen die Schenckung des selbsten Schöpffers“ [= des Schöpfers selbst] „zu rechnen“ [= zu vergleichen]?418 Sie führt ihre Absicht durch, indem sie zunächst und lange die weit übertreffende Überlegenheit des Abendmahls gegenüber allen Wundern und Weissagungen des Alten Testaments hervorhebt, wobei sie eine breite Kenntnis des Alten Testamentes erkennen läßt.419 Eingefügt in diesen Teil ist eine Hohelied-Auslegung420 und sind Gedichte, Sonette an das Blut im Kreuz Jesu und beim Abendmahls-Empfang, sowie über Christi Auferstehung.421 – Sodann erweist die Verfasserin jene Überlegenheit des Abendmahls als 413 S. 38. – Antirömisch-katholisch ist auch, wenn von Greiffenberg in der 3. ,Passions-Betrachtung‘ nachdrücklich und ausführlich hervorhebt, das Heil und die Seligkeit seien uns allein durch Jesus Christus zuteil geworden (S. 111). Und ebenso, wenn sie in der 4. ,PassionsBetrachtung‘ Jesus sagen läßt: „Ich allein bins, der gerecht und seelig macht, und dessen verdienst und vorbitte“ [= Fürbitte] „gnade, vergebung und den Himmel erwirbet.“ (S. 130) 414 S. 43; vgl. S. 38: nicht „veränder[n]“ und „es besser […] machen“ wollen. Siehe auch S. 39. – Die beiden genannten Fronten sind im Text nicht benannt. 415 SW 8, 822 – 1050. Die folgenden Seitenangaben beziehen sich auf dieses Werk. 416 Bis S. 1001. 417 S. 905. 418 S. 822. 419 Bis S. 972. 420 S. 866 – 906. 421 S. 933 – 947.

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5.3 Das Ereignis des Abendmahls

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Wunder gegenüber den Wundern des Neuen Testaments, insbesondere gegenüber den Wundertaten Jesu selbst.422 Gerade in diesem neutestamentlichen Teil kommt von Greiffenberg immer wieder auf die einzigartige Gabe des Abendmahls selbst zu sprechen. Dabei wird von dem uns bereits bekannten Realismus des mündlichen Essens – und Küssens – nichts abgeschwächt; etliche Male führt sie, zumeist ohne Nennung der Bibelstelle, Joh. 6, 56 an: „Wer mein Fleisch isset und trinket mein Blut, der bleibt in mir und ich in ihm.“ Im Schlußteil setzt sie noch einen besonders deutlichen Akzent auf den Empfang des Abendmahls.423 Unschwer ist zu erkennen, daß die so hervorgehobenen Ausführungen das besondere und ihr eigenes Anliegen der Verfasserin sind. Deshalb werden sie hier, mit der gebotenen Verkürzung, vorgestellt. Als Eröffnung des Abschnittes heißt es: „Ach! Du unbegreifflich hierinnen [sc. im Abendmahl] begrieffener Wunderbar“ [d. i. Jesus]! „thue zum Wunder, thron und Cron, […] noch dieses Wunder=Glücke hinzu, daß du von uns Unwürdigen, würdig empfangen werdest; du wollest durch deinen bevorkommenden Geist und Gnade uns würdig machen, diese geistleibliche Gnade so wohl im Geist, als Leib würdig zugeniessen. Die Krafft deines Verdienstes, mit deinem H. Leib erworben, muß uns fähig machen, diesen deinen H. Leib glaubig, dahero würdig, einzunehmen. […] Die Krafft deines vergossenen Blutes, muß uns weyhen“ [= heiligen], „daß wir dir ein H. Grabe werden,“ […] „damit wir eben dasselbe dein allerheiligstes am Kreutz vor“ [= für] „uns vergossenes Blut würdig trinken mögen.“424 Dies, das Abendmahl würdig zu empfangen, ist auf den folgenden Seiten Thema. „O JEsu! in dir alles Hülff und Heyl ist, so gib uns auch diejenige“ Hilfe, „dich das Heyl aller Welt heilsam zu gebrauchen. Ich bin vor mir selbst, als von mir selbst nicht tüchtig, dich zu empfahen, ach! so mache mich mit dir selbst tüchtig, dich selbst in mich zu kriegen. […] Dein Leib hat schon eben die Sünden der Unwürdigkeit am Kreutz abgebüsset, daß sie mir nicht verdammlich können seyn. Dein H. Blut hat sie bereits abgewaschen, ehe es noch in meinen Mund und Zunge kommen ist, sonst darff ich mich nimmermehr unterfangen, dich zu empfangen. Ach! zieh eine Wolcke um mich, daß ich nichts sehe, denn dich, und den Himmel. […] Lösche aus mit dem Strom deiner Süssigkeiten“ [= Liebesbezeugungen], „alles Andencken weltlicher Bitterkeiten. Lasse alle meine Sorgen, von deiner Allversorgung, und gnädiger Verseh=“ [= Vorsehung] „und Schickung verschlungen seyn.“425 „Er“ – „GOtt der H. Geist“ – „machet uns tüchtig, daß der zu uns eingehet“, nämlich

422 423 424 425

S. 972 – 1001. S. 1002 – 1034. S. 1002. S. 1003 f.

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5. Die Passionsbetrachtungen

Christus, „von dem Er“, der H. Geist, „ausgegangen ist.“426 – „O Heiligkeit! und heilig=hohes Wunder, der“ [= Jesus Christus] „kommt in unsern engen Mund, aus dem die weiten Himmel=Kreyß kommen seyn; […]. Der Welterfüllende Barmhertzigkeit=Berg wirfft sich in das Meer des Elendes, welches der Mensch ist. […] GOtt speist den Menschen mit seinem eigenen Fleisch und Blut, wer sollte nicht vor Entsetzung niederfallen?“427 – „Man verlanget so stark nach diesem Ertz=verlangebaren“ [= nach dem von Grund auf verlangbaren Abendmahl], „daß man schier zerschmelzet vor Begier.“428 Gegen Ende des Abschnittes äußert sich die Autorin noch einmal ausdrücklich über den würdigen Empfang des Abendmahls: „O! du Göttliches Brod JEsu! lasse dich mit Göttlicher Ehrerbietung empfangen. Vergöttliche das Hertz, so dich einnimmt, vergöttliche alle Gedancken, Verlangen und Begierden“. Kehre „der Lieb und Aufrichtigkeit nach“ das „unstäte quillend“ [= sich unruhig hin und her bewegende] „und wanckende Hertz und Sinnen“ in göttliche Stärke.429 Laß mich „recht Tugend=lebhafft, und Hertz=himmlisch“ werden, „und dieses allein um deiner“, um Jesus, „recht fähig zu seyn, und dich vollkommen ehren zu können“. Weil aber „meine […] Schwachheit“ mit „ihren Ubereilungen“ hier „auf Erden unüberwindlich[..]“ ist, „derowegen erlöse mich von mir selbst, der du mich von Höll und Satan erlöset hast“.430 Das rechte Empfangen des Abendmahls bedeutet ein Vereintwerden mit dem Empfangenen, ist doch Jesus Christus eben der, der im Abendmahl empfangen wird. „Ist das nicht eine Glückseeligkeit, den in sich bekommen, aus dem alles kommen, sich mit dem vereinigen, der allein alles ist? Die Epistel an die Ephes. sagt: Wir sind samt Christo in das himmlische Wesen versetzet. Ach! wo geschiehet dieses schier mehr und würcklicher, als in der H. JEsus=Emphangung im H. Abendmahl, dann da kommt und bleibt Er in Uns, und wir in Ihme.“431 „Es ist da alles himmlisch, GOtt geneigt und Gnädig, die Seeligkeit gewiß und richtig, JEsus innig und inwendig, der H. Geist flammend und gläntzend, die H. Engel dienend und rühmende, die Seele vergnüget und zu frieden, welches sie sonst nicht, als nur im Himmel seyn kann.“432 „Ach! daß diese erquickende Einnehmung deß grossen GOttes unsers HErrn JEsu Christi uns gleich in den Himmel einnehmen möchte, damit wir nicht mehr aus Ihm“ [= Jesus Christus] „wieder in unser eigenes Nichts fielen.“433 „Ach! mein HErr JEsu! leime gleichsam“ [= füge zusammen] „durch das H. Abendmahl dich und mich zusammen, daß (wie Paulus von den Eheleuten 426 427 428 429 430 431 432 433

S. 1005. S. 1006. S. 1007. S. 1027 f. S. 1029. S. 1007 f. S. 1008. S. 1009.

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schreibet) wir unzertrennlich ineinander verleimet bleiben.“434 Dieses unzertrennliche Zusammengehören ist „am allergrösten […] zu verspühren in der H. Geniessung JEsu, in seinem H. Leib und Blut, da werden wir einander so einverleibet und verleimet, daß wir in Ihm, und Er in uns verbleibet, ein Leib, ein Hertz, ein Blut, ein Leben, ein Geist.“435 „Gantz eines im Sinnen / Und allen Beginnen / sc. / Ach! So bleibe dann ewig in mir / Mein Himmel und Göttliche Zier. / Bleibe mein Leben, verbleibe mein Leben, und lasse mein Leben in den Gräntzen deß Deinigen verbleiben, lasse mich deine Lebhafftigkeit lebend empfinden, und sonst nichts in mir, als dein Leben, leben; werde recht würcklich, empfindlich, thätig und kräfftig in mir, […] und deine Krafft, Gnade, Geist, ja Leib und Blut“ ,kriege‘ „so die Oberhand […], daß du tausend=mahl mehr, als ich selbst in mir lebest“.436 Lasse „ein starck und standhafftes Christ=Wesen in mir anfangen, daß ich wachse in die vollkommene Gestalt und Statur JEsu Christi. […] Mein Hertze soll werden Dein Himmel auf Erden“.437 Jedoch, „wer kan den hefftig genug hertzen und beherzen, der das Hertz, (ja alle Hertzen) erschaffen, behertzet, und sich demselben eingehertzet hat? Was aber das allermeist, der uns sein eigenes Hertze gibt“.438 Die so vereint sind, sind unzertrennlich: Nichts kann sie scheiden. Und der Jesus Empfangende ist unsterblich. Das fängt hier im zeitlichen Leben an und währt in alle Ewigkeit: „Mein höchste Lust ist die allein / Ewig in Dich verliebt zu seyn. Ewig, nicht nur in der Ewigkeit, sondern in der Zeit anfangend, und in der Ewigkeit nicht aufhörend, sondern mit ihr zur Wette dich zu preisen und lieben“. „So fange nun die Ewigkeit mit mir in der Zeit an: Mein JEsu!“439 – „Wann man also Ihn [sc. Jesus] liebet und krieget“ [= ihn bekommt, erhält] „im H. Abendmahl, so kann man mit Geduld auf die rechte offenbare Freuden=Ewigkeit warten, weil man alles verborgen in sich hat, was solche seelig machet“. Denn Jesus ist unser. Und was er ist, ist er ewig und also auch schon jetzt. „Er ist uns die würckliche Seeligkeit, alles was seelig und lieblich ist, ist in Ihme verselbstet“ [= ist er selbst], „und Er selbst ist unser im H. Abendmahl.“440 – „Das Geist=leibliche oder Leib=Geistliche Geniessen deß Ur=Allwesendesten“ [= des von Urzeiten an immer und in allem ,Wesendesten‘ = Jesus] im Abendmahl „ist eine solche erquickende Glückseeligkeit, deren Vortrefflichkeit erst in der Ewigkeit erkannt und ausgesprochen kan werden.“441 – „O Glückseeligkeit! das einige Ertz= und Hertz=verlangbare 434 435 436 437 438 439

S. 1013. S. 1013 f. S. 1014. S. 1015. S. 1016. S. 1017. Vgl. den Beginn eines Sonets (S. 1021 f): „Die Ewigkeit pflegt schon in mir hier anzufangen / […] Weil ich in JEsu bin der Seelen Seeligkeit“. 440 S. 1018. 441 S. 1019.

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5. Die Passionsbetrachtungen

Gut“ [= das von Grund auf und mit ganzem Herzen verlangbare Gut] „wird im H. Abendmahl unser eigen; nicht nur das, sondern Er bleibet in uns, und wir in Ihme, wie er Johan. 6. [Vers 56] spricht […]. O Glückseeliges Verbleiben! wann der in uns verbleibet, in dem aller Sieg, Segen und Seeligkeit unabwendlich verbleibet.“442 Folglich lautet die Bitte: Bleibe bei mir auch im Sterben und im Tod: „Bleibe bey mir auch im Tode, du nicht im Tod Bleibender, und bringe mich zu dir in das ewige Leben.“443 „Ich bleibe in dem Bleibenden, in GOtt, und GOtt in Ewigkeit, und dieser bleibet auch in mir, sowohl in der Zeit und auf Erden, als in der Unendlichkeit im Himmel.“444 Jesus, das „unsterbliche GOttes-Pfand macht uns auch das Sterben süß“ [= angenehm] „und leicht, und tödtet den Tod eh er uns tödtet. Es machet uns unsterblich, ehe wir die Sterblichkeit ausziehen“.445 „Wer wollte nicht gern dieses himmlische, heilige und letzte Abendmahl am Abend seines Lebens zum letztenmal empfangen, weil er dadurch mit Christi Blut durch die Sünde einen Strich“ macht, „den Tod todt, den Satan verzweiffelt, die Höll verschlossen, und den Himmel aufmacht“.446 So also ist „das Sterben nur ein Schein und Schatte[n] […], und“ wird „von jener Lebens Krafft gantz verschlungen“.447 Die so ausgesprochene Gewißheit kehrt sich immer wieder zu einer Bitte, als sei da ein letztes Zögern angesichts der nicht wegzubringenden Gefährdung abzufallen, und als trage letztlich doch nur die Vergewisserung einer göttlichen Unterstützung, um die eben zu bitten ist. „Brich mir das mit deinem H. Leib vereinigte Brod, im hochwürdigen Abendmahl, ehe mir die Sinnen vergehen“. „Gib mir die Gnade, wann ich sterben soll, daß ich mich mit diesem Universal“ [d. i. das H. Abendmahl] „versehen könne.“448 „Ach! lasse diß, in dem H. Abendmahl dich küssen, seine [sc. eines Menschen] letzte Bewegung in diesem Leben sein. […] Ach! komme nur bald, süsser Himmels-Adler, und lasse mich aufsitzen; […]. Ja dein Hertz ist selbst das rechte Himmel=Brod, und gibt sich uns selbst zur Reiß=Zehrung“ [= Wegzehrung für die Reise in den Himmel der Ewigkeit].449 „Lasse mich bald aus der Zeit in die Ewigkeit gelangen, weil ich den Ewigen in der Zeit empfangen habe.“450 Das H. Abendmahl „ist das sicherste Schiff, aus der Zeit in die Ewigkeit zu fahren“.451 Oder dasselbe anders gesagt: „Das H. Abendmahl ist die allesüsseste“ [= die aller-liebevollste] „Versetzung aus der Sterblich= in die Unsterblichkeit“, denn „JEsus spricht, Johan. 6. Wer mein Fleisch isset, 442 443 444 445 446 447 448 449 450 451

S. 1019 f. S. 1020. S. 1021. S. 1022. S. 1022 f. S. 1024. S. 1030. S. 1031. S. 1028. S. 1032.

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5.4 Die dritte und vierte Betrachtung

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und trincket mein Blut, der bleibet in mir, und ich in ihm, es sey im Leben oder Sterben, im Grab; in der Verwesung selber“ werde ich „durch mein wesentlichstes Wesen“ [d. i. Jesus] „ein neues wesen=anziehendes Wesen erhalten. […] Ach! süssestes“ [Vereinen], „der ich in dir, und du in mir, nicht nur seyn, sondern bleiben, und zwar ewig bleiben“ werden, „dann was nicht ewig“ ist, „das bleibt gar nicht.“452 „Dieses Bleiben verbleibet mein Trost im Leben und Sterben, ja in alle ewige Ewigkeit.“453 Für die göttliche Gabe, die im Abendmahl empfangen wird, gebührt nach von Greiffenberg Gott überschwengliches, ja über-vermögendes Lob: „So gehe über mein Geist, in lauter Lob des Unvergänglichen, weil du mit dem Uberschwenglichen erfüllet bist, weil Er“ [= der unvergängliche Jesus] „alles vor dich“ [= für dich] „gethan, was zu deiner Seeligkeit vonnöthen.“454 Er hat „mir das Ertz=Heiligthum“ [= das von Grund auf heilige oder das allerheiligste Heiligtum] „im Himmel und auf Erden in mein Hertz gegeben.“ Daraus folgert die Autorin im Blick auf das Gott gebührende Lob: „Wann ich so viel Hertzen hätte, als Stäublein die leere Luft biß an die Himmels=feste erfülleten, und aus jeglichem ein Lobes=Meer ausschüttete, würde ich doch diese Güte nicht auspreisen können.“455 Diese ,Betrachtung‘ des Abendmahls schließt, wie bei der Verfasserin in allen ,Betrachtungen‘ üblich, mit einer ausführlichen Danksagung, die zugleich eine Zusammenfassung des Ausgeführten darstellt.456 In ihr steht neben vielem anderen dieses: „Lasset uns Ihme“ [sc. dem Herrn Jesus] „in würcklicher Danckbarkeit, mit einem neuen Leben dancken, und alles in uns auferstehen zu seiner Ehre.“457

5.4 Die dritte und vierte Betrachtung Die beiden folgenden ,Betrachtungen‘, die dritte und vierte, handeln zusammen von Jesu Geschick im Garten Gethsemane oder am Ölberg. Dabei hat die dritte ,Betrachtung‘ Jesu Gebet, sein Ringen mit Gott im Gebet, zum hauptsächlichen Thema – und die vierte ,Betrachtung‘ Jesu Gefangennahme. Die dritte ,Betrachtung der Passion‘ beginnt – zusammenfassend im Vorgriff auf Jesu Gebet im Ölberggarten und im Rückblick auf den ,Lobgesang‘, mit dem Jesus und die Jünger das Passahmahl beendet hatten – mit einer Besinnung auf das Loben und Preisen Gottes. Sich darauf zu besinnen, das ist gleichsam der Auftakt jedes Andenkens, jeder ,Andacht‘, jeder Teilnahme an 452 453 454 455 456 457

S. 1033. S. 1034. S. 1010. S. 1010 f. S. 1034 – 1050. S. 1038.

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5. Die Passionsbetrachtungen

der Passion, an das Leiden und Sterben Jesu. „Der Lob=würdigste JEsus, vergasse des Lobes nicht, auch in annahung seiner grösten Aengste. Er lobte GOtt auch damals, da er ihn mit der grösten Schmach belegen wolte. […] Er lobte ihn, […] uns damit lehrend, daß das Lob GOttes ewig in unsern munde seyn, durch keine angst noch schmach verhindert werden, und in noht und tod als der unverwelkliche Lorbeer, grünen und glänzen solle.“458 Ja, er lehrte uns noch mehr und weiteres, nämlich daß es „die edleste Lobes=art“ ist, „die im schmerzlichsten Leiden herfür“ [= hervor] „blühet, ohne äuserliche glückes=begießung. Das ist das eigentliche Lob GOttes, […] das von aller eigensüchtigkeit am meisten entfernet ist.“459 Und sogleich wendet von Greiffenberg diese Erkenntnis auf sich selbst an: „O JEsu! gibe mir auch diese Helden=art, daß deine Lobes-Rosen auf den Dornen meiner schmach blühen“.460 „Laß mir deinen preis“ [= laß mir, dich zu preisen] „inniger, als meine Angst, zu herzen gehen! […] nur daß ich freud= und muth= und folgends lob=fähig bleibe, nicht allein zu denken, sondern auch zu sagen, zu dichten und zu schreiben, was dich mit lob und Glori krönen und überschütten kan.“461 Nach dieser Art Einleitung folgt ihre Auslegung des neutestamentlichen Textes Vers für Vers oder einer Satzperiode für Periode. Sie tut das hier zunächst, indem sie anderweitig Bekanntes zur Erläuterung mit anführt. So schreibt sie zu dem Satz, daß Jesus mit den Jüngern hinaus in den ÖlbergGarten ging: Es „[be]liebte der ewigen Weisheit, und den Rath der unerschöpflichen Güte, das werk der Erlösung am orte des Falles“ [= des Sündenfalles], in einem Garten „anzufangen. […] Weil der Mensch den Himmel=frieden alldort verlohren: als[o] sollte“ derjenige, „der zugleich Gott ist, seinen herz=frieden hier“ [im Ölberg-Garten] „wieder verlieren, die Menschen“ aber „den Herren und Himmel=frieden darinn finden zu machen.“462 Nach von Greiffenberg beginnt, wie wir hören, das „Werk der Erlösung“ in Jesu Tun und Reden im Ölberg-Garten; und es besteht darin, daß die Menschen den „Himmels=frieden“ als Einigkeit mit Gott, dessen sie durch die Sünde, durch das ,Abfallen‘ von Gott, verlustig gingen, wieder „finden“ können. Doch um dies zu erreichen, mußte Jesus, wie wir hören, seinen „Herz=frieden […] verlieren“. Und eben dies geschah in der folgenden Geschichte im Ölberg-Garten. – Freilich, warum Jesu seinen ,Herzensfrieden‘ zum Zwecke der Erlösung von uns Menschen verlieren ,sollte‘ oder mußte, das wird uns noch beschäftigen. 458 S. 64. Diese und alle folgenden Seitenzahlen beziehen sich wieder auf die ,Passions-Betrachtungen‘ = SW 9. 459 S. 66. Vgl.: „Das ist das hellste lob, das klinget aus der pein. […] Vom Himmel angezündt, daß es [sc. das Herz] das höchste Gut begeistert lieb=hoch rühm, auch wol in äusern schmerzen und widerwärtigkeit.“ (S. 67) 460 S. 66. 461 S. 67. 462 S. 69.

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Doch zuallererst sorgt sich nach der Autorin Jesus, ,erfüllt‘ von seinem „Schmerzens-Stand“, um seine Jünger. So leitet von Greiffenberg den Satz ihrer Passionsharmonie ein, wonach Jesus seinen Jüngern ihren ,Ärger‘ an ihm ankündigt: Es „schmerzt“ ihn, sagt Jesus, daß „ihr so schwach seit, und meine Schwachheit, mein Leiden, nicht ohne ärgernis ertragen könnet.“ Aber, gedenkt Jesus weiter : „In meiner Auferstehung, soll eure wieder=versammlung bestehen.“463 Wenn Petrus widerspricht und seine treue Anhängerschaft hervorhebt, so „mangelte“ es ihm nach der Autorin „an der selbst=erkäntnis“ der „eigene[n] schwachheit“.464 Und wieder wendet sie das auf sich selbst an: „Ach! auch mir ermangelt es an diesem“, an der Kraft, das Gewollte und selbst von sich Geforderte auszuführen: „Wann meine lobes=begierden, ihr ziel erreichen sollten: wie voll müste mir die Erde deines lobes seyn.“465 Jesus, „der du das ewige liebes=liecht in mir angezündet, gib ihm auch das Oel der beständigkeit.“466 „Wann die ganze welt von dir abfällig würde“ [= von dir abfallen würde], „so wollte ich doch in deiner Liebe verharren; aber allein durch deine Gnaden=krafft, O JEsu, sonst dörfte ich die allerschwächste und hinfälligste seyn. Ich versiehe“ [= versehe] „mich aber […] unfehlbar deiner himmlischen erhaltung, daß ich gewiß bin, daß“ – unter Anführung von Röm. 8, 38 f. – „niemand“ soll mich „aus deiner hand reissen.“467 Wird gar gefordert, eher mit Jesus zu sterben, als ihn zu verleugnen, so bittet die Autorin darum: „Nim du“, Jesus, „meinen willen, den du mir hierzu“ [sc. zum Mitsterben mit Jesus] „gegeben hast, und setze ihn selber in das werk“, in die Tat.468 Halten wir eine Weile ein und bedenken wir hier bereits von Greiffenbergs methodische Art ihrer Auslegung. Zumeist wird ein Satz oder eine Passage des neutestamentlichen Textes zitiert und anschließend mit eigenen Worten – zuweilen mit sehr freien Worten469 – umschrieben. Das so Ausgelegte kann von ihr sogleich bezogen werden auf uns, auf Glauben und Nichtglauben.470 In aller Regel jedoch bezieht von Greiffenberg den neutestamentlichen Text um463 464 465 466 467 468 469

S. 70. S. 71 f. S. 72. S. 75. S. 76. S. 78. Zum Beispiel: Sagt Jesus im Vorlagetext „Ich will vor euch hingehen in Galiläam“, so deutet von Greiffenberg dies Wort Jesu so aus: „In meiner Auferstehung soll eure wieder=versamlung bestehen.“ (S. 70) 470 Z.B.: Zum Spruch „Da traten sie hinzu, und legten die hände an JEsum, und griffen ihn“, schreibt die Autorin: „Zu JEsu tretten, ist gut. Doch soll es geschehen im Glauben, mit völliger zuversicht; ihn zu umfahen“ [= umfangen], „nicht also mörderisch, wie diese, sondern mit dem herzen und verlangen.“ (S. 145) Oder zu dem Satz: „Und er“ [sc. Jesus] „rühret sein Ohr“ [das des Kriegsknechtes, das Petrus ihm abgeschlagen hatte] „an, und heilet ihn“, führt sie aus: „Ach JEsu! rühre doch heute derjenigen ohren an, die, durch versehrung der eitelkeiten, dein wort nicht hören können.“ (S. 153)

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standslos auf sich selbst: auf ihr Befinden in ihrem Verhältnis zu Gott. Sie äußert das zum einen als Dank für Jesu Heilstaten in seiner Passion und zum anderen als Bitte um Mehrung des Glaubens, der Liebe zu Gott und auch zum hilfsbedürftigen Nächsten, und zum endlichen Gelangen in die erhoffte, jedoch im Glauben gewiß seiende ewige Seligkeit. Oder sie äußert, als Anwendung des Textes, ein Eingeständnis ihrer Schwachheit, ihres Mangels an Glaube und Liebe und ihrer Unvollkommenheit im Lobpreisen. Vergleichen wir das mit der damals üblichen lutherischen Lehre: Zum lutherischen Sich-erkennen als Sünder gehört es, sich selbst der Sünde, der Mangelhaftigkeit im Guten, der Fehlsamkeit und Schwachheit, ja sich selbst der Unwürdigkeit vor Gott zu beschuldigen. So häufig das auch bei von Greiffenberg wiederkehrt, es ist bei ihr eng verbunden mit der „unfehlbaren“ Gewißheit des Glaubens, der sich an Jesus hält oder von Jesus getragen glaubt, wonach die so Glaubende nichts und niemand von der Gottes Liebe trennen kann. In der lutherischen Lehrtradition geht das Eingeständnis der eigenen Schwachheit, des eigenen Unvermögens einher mit der Erkenntnis, unverdient aus der Gnade Gottes zu leben. So ist es auch bei von Greiffenberg. Doch darüber hinaus geht bei ihr die Glaubensgewißheit dahin, nicht nur von der Liebe Gottes unscheidbar zu sein, sondern in ihr aufgehoben und aufbewahrt zu sein. Das gibt ihr einen aufrichtigen Mut. Bereits die Form, den neutestamentlichen Text samt seiner Auslegung auf sich selbst zu beziehen, verleiht der von Greiffenbergischen ,Passions-Betrachtung‘ eine sehr persönliche Note. Das ist in dieser Konsequenz gänzlich ungewöhnlich in der damaligen lutherischen Andachts- und Erbauungs-Literatur. Kehren wir zum Buch von Greiffenbergs zurück. Jesus, heißt es im zugrunde liegenden, neutestamentlichen Text weiter, „nimmt […] die drey Jünger“, abseits von den anderen, mit sich. Die Autorin führt das mit der Tradition weiter aus: Es sind das die drei Jünger, die auf dem Berg der Verklärung „einen blick seiner Glori gesehen“ haben, und nun „auch seinen äusersten Jammer=stand schauen“ sollen, so daß sie von „beyden zeugnis geben könten.“ Hier, an dieser Stelle („allhier“), schreibt die Autorin weiter, ,fing‘ „an das Geistliche Leiden dessen, der zugleich ein unleidfähiger Geist und GOtt war[..].“471 Das ist das „Wunderwerk[..]“: Der, der „durch alle Ewigkeiten aller schmerzfähigkeiten herrlich“ enthoben war, […] „nimt die schmerz=fähige Menschheit und deren äuserste empfindlichkeit an“ und ,stürzt‘ „sich in den abgrund aller schmerzen“.472 Dazu sei bemerkt: Was hier als „Wunderwerk“ bezeichnet ist, das ist ihr, der Autorin, alles prägender Grundgedanke in ihrer Auffassung oder „Lehre“ von Jeus, von Jesus Christus. Es ist das ihre Überzeugung von der Selbsterniedrigung der Gottheit Jesu Christi bis in das äußerste Elend der Menschen, 471 S. 80. 472 S. 80 f.

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bis in den Tod (in dogmatischer Terminologie „die Kondeszendenz“ des Gottessohns). In diesem Sinne ist nach von Greiffenberg der „gang an den Oelberg“ zugleich ein Gang „ins Elend“.473 – Wir werden uns mit dieser Auffassung oder Lehrbestimmung noch eingehender befassen müssen. Steht von Jesus geschrieben, daß er ,anfing zu zittern‘, so bezieht von Greiffenberg das unmittelbar auf sich: „Es erzittert mir selber mark und herz, wann ich an das Zittern des [an]sonst unbeweglichen“ [d. i. Jesus Christus] „denke“. Wieder nennt sie es ein „erstaunendes wunder“, ein Wunder der Liebe Christi, daß er, uns zu erlösen, „sich in einen solchen angst= und zitter=pful gestürzet.“474 Dafür sei sie ihm ,unaussprechliches Lobes und Liebes schuldig‘: „Es gehen mir herze, augen, adern und inwendiges über, wann ich an dein lieb=edles Leiden gedenke“, wenn ich „den allerzartest[en] […] in die erz=schmerzliche“ [= durch und durch schmerzliche] „höllen=qual gestürzt sehe[..]“.475 „Ach laß diese angst=beherzung nimmermehr aus meinem herzen kommen!“ […] Die „Traurigkeit […] durchdringet ihn [sc. Jesus], als ein seel=durchschneidender schmerzen=wind, und verzehret das mark in beinen.“476 Da „fühlet sie“ [sc. „die heilige Seele Christi“], „was wir in Ewigkeit hätten fühlen sollen, die unbeschreibliche höllen=angst, […] die unendliche todes=pein“.477 „Die Gottheit, so ihme das leben darinn erhielte, verminderte nichts von den schmerzen. Sie gab wol seinem Leiden die heiles=kraft: aber nur vor“ [= für] „uns, ihme die völlige fühlung“ der höllischen Qual „überlassend!“478 In einer Reihe weiterer Bilder und Worten wird das Entsetzliche, Schmerzvolle der von Jesus erlittenen Qual umschrieben und ausgemalt. Ist Jesus nach dem neutestamentlichen Text „betrübt, biß in den tod“, so wird nach der Autorin doch „das meer meiner“ [sc. Christi] „betrübnus“ für „euch“ zur „ewigen freuden=quellen werden.“479 Diese Umwandlung von Christi ,Betrüben‘ zu unsrer Freude oder des für Jesus Schrecklichen zum Allerbesten für uns, zur Seligkeit, ist die heilsame Gottestat der Erlösung. Steht im neutestamentlichen Bericht, daß Jeus niederfiel auf sein Angesicht, so besagt das nach der Autorin: „Der Herrscher aller wellt, sinket aus seinem thron herab auf seinen fußschämel“, auf „den staub der Erden“, um den „staub der Erden“, uns Menschen, „auf den thron der ehren zu erheben“. Diese „that der erniedrigung Christi, verdienet den höchsten Himmelspreis. Diß ist das schwerste, verehr= und unerhörbarste Werk im Himmel und auf Erden, daß sich die Allheit fast gar zu nichts machet, und die Herrlichkeit im staube lieget.“ Für uns bedeutet das, daß einzig „Demut“ der „Kron des Himmels […] 473 474 475 476 477 478 479

S. 117. S. 81. S. 82. S. 83. S. 84. S. 84 f. S. 85.

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nachzufolgen“ vermag.480 – Doch im Blick auf den genannten Grundgedanken der Selbsterniedrigung Jesu Christi ist der eben zitierten Auslegung der Verfasserin zu entnehmen, daß sie die Selbsterniedrigung des Höchsten ins Elend des Menschen verbindet mit der Erhebung (der elevatio) des glaubenden Menschen aus dem Elend zum Höchsten, zum ,Thron der Ehren‘ – und daß das als unser Heil, unsere Erlösung geschieht. Dem neutestamentlichen Bericht folgend, handelt von Greiffenberg in dieser dritten ,Betrachtung‘ immer auch vom Gebet. Im äußersten Erniedrigtsein betet Jesus zu seinem Vater: „Auch im abgrund der schmerzen“ ,liebe‘ ich dich „mit zerfliessender herz=innigkeit.“ Weil er als Mensch ,Schmerz empfindlich‘ ist, bittet er darum, der „Kelch“ des Leidens, der Qual, möge an ihm ,vorübergehen‘.481 Jedoch, im „äuserste[n] schmerz[..]“ verzichtet er aus „liebe“ zu uns auf die Gewährung oder Erfüllung dieser schmerz-geborenen Bitte und nimmt er freiwillig den Abgrund des Leidens auf sich: Und so willigt er ein in den Willen des Vaters, der die Erlösung der Menschen durch das Aufsichnehmen „der sünden=bestraffung“482 und folglich durch das bittere, blutige Leiden seines Sohnes will.483 In direkter Ansprache an Jesus gesagt: „Du hast den Kelch der bittersten schmerzen getrunken: auf daß ich den Kelch deines Himmel=süßen blutes“ der Erlösung „genieß[e].“484 M.a.W., die Nichterhörung der Bitte Jesu, der Kelch des Leidens möge an ihm vorüber gehen, und folglich das Aufsichnehmen des Leidens geschah aus Liebe zu uns und eröffnet unsre Erlösung. Nach von Greiffenberg ist „jedes wort und werk im Leiden Christi“ und mithin auch das Wort dieser Einwilligung, „ein same, der uns tausendfache frucht bringet.“485 Wie dies ,Frucht-bringen‘ von der Autorin gemeint ist, das legt sie an einer Wendung im Gebet Jesu dar. Zu Jesu Bitte „Mein Vatter! ists müglich“, bemerkt sie zunächst: Wie denn das zu denken sei, „die Allmacht bittet: wann es müglich ist?“, wo doch die Allmacht keine „bedingung der müglichkeit“ kennt.486 In der weiteren Erörterung ist der Autorin unausgesprochen das Jesus-Wort gegenwärtig: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt“ (Mk. 9, 23). Und so führt sie aus: Jesus, der „sich […] in dem allerunerleidlichsten schmerzen=stand“ befand, hat gerade darin dennoch auf die Erhörung seiner Bitte, den Kelch der äußersten Bitterkeit nicht trinken zu müssen, verzichtet. Er hat dadurch auf ein Eingreifen der Allmacht verzichtet, damit diese uns, den Glaubenden, für vergleichbare Schmerzfälle zugute komme.487 Doch damit dies Verzichten auf die Allmacht zu unsren Gunsten für 480 481 482 483 484 485 486 487

S. 87. S. 88. S. 102. S. 89 f. S. 98 S. 89. S. 88. S. 88. Im Text der Autorin lauet das so: „Er“, Jesus, „befande sich damals in dem alleruner-

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Christus ein ,Verdienst‘ „würde, muste der Allmächtige“ [d. i. hier Christus] „selber sich der allmacht bedürftig und begierig machen“ – was er im Aufsichnehmen des Leidens tat – „und doch deren entbähren, damit die ohnmächtigen“ [das sind: wir] „mit solcher [sc. Allmacht] überschüttet würden. Kurz: vor“ [= für] „dem Allmächtigen muste einmal etwas unmüglich seyn, damit uns onmächtigen allezeit alles müglich wäre, was zu seiner ehr und unsern heil gereichet. […] wessen er ermangelt, das hat er uns gewonnen.“488 In anderen Worten gesagt: Jesus mußte den Kelch des bittersten Leidens trinken, d. h. das schmerzvollste Leid über sich ergehen lassen, damit wir zum Glauben an Gott kommen: zu einem Glauben, der, Gott gleich, allmächtig ist. „Es ist nicht genug“ – läßt die Verfasserin Christus, „das ewige Wort“ sagen – „daß ich sünde, tod, teufel, höll und Welt überwinde: ich will auch mich selbst überwinden, meinen schmerz=sehnlichsten willen“ [= meinen in den Schmerzen sehnlichsten Willen nach deren Ende] „brechen, ihn meinem himmlischen Vatter unterwerfen, und die Allmacht binden, daß sie mir nicht helfen soll;“ sondern „damit meine Lieben“, die Glaubenden, „sie“, die Allmacht, „in ihren nöten“ von ihr „beflügelt finden.“489 Die Autorin antwortet: „Ich glaub O GOTT! Ich glaub. Ich glaub, daß meinem Glauben drüm alles müglich ist: weil du dich des verwegt“490 und das dir zugefügte Leiden auf dich genommen hast. – An späterer Stelle ist das so gesagt: „Die Liebe ist dein [sc. Jesu Christi] Panier“ [= Wahrzeichen] und die „Geduld ist deine rüstung: welche stärker ist, als alle Engel=macht, weil sie dich allmächtiger GOtt“ [hier : Jesu Christi Gottheit] „überwindet.“491 Die Liebe Jesu Christi in Form der Geduld, der Ausdauer, ist der ,allmächtigen‘ Gottheit Jesu Christi überlegen. Sicherlich ist von Greiffenberg der Überzeugung, daß der Glaube eines Menschen an Gott von Jesus verliehen (,gegeben‘) ist. Und wenn es ein Glaube ist, der in Gott gründet, so kann er an sich nur wie Gott allmächtig sein. Sie sieht das uns Gegebensein des Glaubens in einem ,Verdienst‘ Jesu: in seinem freiwilligen Verzicht auf die Allmacht, um uns zugute das erlösende Leiden zu ertragen und um uns so einen Gott gleichen, allmächtigen Glauben zu eröffnen.

488 489 490

491

leidlichsten schmerzen=stand, also, daß er seiner allmacht am nötigsten bedorfte, sich daraus zu erlösen: aber er überwande sich selbst, sie uns in dergleichen fällen zu überlassen.“ (Ebd.) Vgl. S. 118: Unendlicher Dank sei dir für „die ur=qwelle der reinsten Liebe, indem du dich selber in der äusersten noth, der gewährung“ der Allmacht „beraubet, mir solche zu überlassen“. Vgl. ferner S. 91: „erwarbst“ uns, „was du entbärst, und hast auf uns gelegt, wes du geäussert dich“ [= wessen du dich entäußert hast]. S. 89. S. 90. Vgl.: „Christus […] betet […] vergebens vor“ [= für] „sich, damit uns gewiß gegeben werde, was wir [er]bitten.“ (S. 101) S. 91. ,Sieh einer Sache verwegen‘ = darauf verzichten (so: Alfred Götze, Frühneuhochdeutsches Glossar [KlT 101] Berlin (1967, S. 83). Steht oben „des verwegt“, so wird das wohl heißen: auf die Allmacht verzichtest hast. S. 320.

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Für unser Beten besagt das, daß im rechten, Gott gemäßen Gebet einzuwilligen ist in Gottes Willen – ist doch „GOttes kraft […] viel stärker, als der Menschen schwachheit, wann sie solche“ [nämlich die Gottes Kraft] „nur glaubend in sich zögen. Sie vermöchten alles in GOTT, wann sie GOtt nur alles zutraueten.“492 ,Einwilligen in Gottes Willen‘ heißt also, der ,Kraft Gottes‘ alles zutrauen und so glaubend sie ,in sich hineinziehen‘. In diesen Sinne verspricht von Greiffenberg dem glaubenden Gebet: „Es ist eine überwindung des sonst unüberwindlichen“ [= Gott oder Christus], „die bemächtigung der Allmacht, die eroberung des Höchsten“ [= Gottes], „die verwaltung der Gnade, die erhitzung der liebe, das horn der fruchtbarkeit, das feld der freuden, ein garten der wollust“ [= der höchsten Lust]. „Kurz: es ist eine tochter des Worts, aus dem alles worden.“493 „Der Göttlichen Liebes=Allmacht kan“ nämlich „nicht[s] süsser“ [= liebreicher] „seyn, als der Geliebten“ [= der Gott Liebenden] „tieffstes lieb=vertrauen. […] Wann die Menschen recht beherzigten, was glaubens=gewalt sie über GOttes herze und allmacht haben, sie würden GOtt in allem den sieg abringen.“494 Jedoch die Menschen ,fühlen‘ gemeinhin zwar „die willigkeit, nehme[n] aber“ ihre „schwachheit nicht in acht. Ach! sie ist viel grösser, als“ ,sie meinen‘.495 Fand Jesus nach dem neutestamentlichen Bericht jeweils nach seinem Gebet seine Jünger schlafen, so ist das nach von Greiffenberg mit dem Schlafen derer, die Jesus Christus kennen, auch heute so: „Der Armen unglück mitleidig auszustehen, schlummern alle Augen, und ist fast niemand munder, betrübte hertzen aufzumundern. Christi ehre und lehre fortzupflanzen, sind hände und füsse im schlaf eingesunken. Der Christenheit gefahren vor=zusehen, sind die augen geschlossen.“496 „Ach, allwachender Hirt meiner seele! ich erkenne meine schwachheit […]. Ach wecke mich auf, du Wächter meines heils“.497 Von Jesu Ringen und Erleben im Ölberg-Garten wird desweiteren überliefert, daß er – nach von Greiffenberg, der „Schöpfer aller Dinge“ – die Stärkung eines Engels, also eines seiner Geschöpfe, annimmt. Daß er sich dazu erniedrigt und die Stärkung doch offensichtlich nötig hat, das lasse erkennen, welch „unerhörte schmerzen[..] das allerunschuldigste herz“ ,erdrückt‘ und welch „erzitternde schrecken die heiligste Seele durchdrungen“ haben ,müssen‘. Ja, er war „in die unterste hölle der schwachhheit […] gesunken“. Und dahin hat er sich im Aufsichnehmen der Sünde „aller Welt“ selbst gebracht. Ja, mit der Last der Welt-Sünde wurde er selbst zum Sünder : hat er sich selbst „zur sünde gemacht“.498 Doch die „GOttes=Güte“ schickt ihm einen Engel 492 493 494 495 496 497 498

S. 96. S. 94. S. 96 f. S. 95. S. 99 f. Der zuletzt angeführte Satz dürfte sich auf die Türkengefahr beziehen. S. 100. S. 102.

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„zur stärke und erquickung“.499 – Wiederum ist das ,für uns‘: So sei uns nämlich gezeigt, daß kein „recht=reuiger Sünder verzagen“ muß; denn Gott schickt zu allen reuigen Sündern Engel, und „diese heilige Geister, verrichten ihr amt im Geist merklich=ungemerkt.“500 In der Wendung auf sich selbst wünscht sich von Greiffenberg, selbst ein solch stärkender Engel bei Jesus gewesen zu sein: „Wie wollte ich (wann ich wäre ein mensch=beleibter Engel gewesen) sein zitterndes herz an mein herz gedrucket, seine bebende kniehe umfasset, seine arme“, die „mit den tod ringende arme“ waren, „umarmet, und seinen seufzenden mund mit million[en] kraftküssen erfüllet, und ihme meinen Geist und stärke eingehauchet haben! den sochtenden“ [tränen-trüben] „augen, hätte ich allen meinen Himmel=glanz, den blassen wangen meinen Cherub=purpur, überlassen. Kurz: Ich hätte mich ganz in Jesum verlohren, um ihn einige lab= und erholung finden zu machen“.501 Bereits rein menschlich ihren ,Freunden‘ gegenüber, hat „mich“, schreibt die Verfasserin „die treue, und das mittleiden […] etlichmal“ dazu gebracht zu „wünschen“, auf „Engel=art, ihnen zu dienen“. „Was ists dann wunder, daß ichs itzo, bey meines herz=innigsten Himmels=freundes schweresten Leiden, wünsche?“ Wäre es mir möglich gewesen, „ich hätte mein wesen, das ich von Jesu empfangen, wieder in ihn, als das Ur=wesen, genossen“ [= gegossen?], „daß es seine in geäusertster Gottheit höchst=beschmerzte Menschheit gestärket hätte.“502 Steht im neutestamentlichen Bericht, daß Jesus ,mit dem Tode rang und heftiger betete‘, so legt von Greiffenberg das aus in eine Reihe von sinnähnlichen Formulierungen: Er rang „mit der kraft der sünden, mit der zerrüttung der Natur, mit […] höllischen flammen“ und er litt „unendliche[..] qwal“ unter dem „feuer=brennende[n] zorn GOttes“. […] „Aber in dem allem überwande er weit, um des willen, daß er allmächtiger GOtt ist.“503 „Die unendliche qual wurde von der ungeendteten güte überwunden, an der sie“ [sc. die Qual] „keine gewalt noch recht hatte“, und „der zorn“ wurde „von der Liebe GOttes überwogen“. „Aber dieses alles geschahe mit solcher mühe, pein, schmerzen und Gewalt, daß darüber die zarte Menschheit“ Christi „wäre zu grund gegangen, wann der Grund aller dinge, die Gottheit“ Christi, „ihr nicht wäre zu hülfe gekommen.“504 Das fast Zugrundegehen unter der Leidensqual wird für viele Organteile des Körpers Christi dargelegt, z. B. für das ,Herz‘: Es „wollte vor tausend qualen brechen, zerspringen und vergehen, vor starker bewegung, zwang, und drang, den es leiden muste.“505 „Sein heiliger Leib muste darum“ – 499 500 501 502 503 504 505

S. 102 f. S. 103. S. 104 f. S. 105. S. 106. S. 107. S. 108.

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um den Sieg über Teufel, Hölle, Sünde und den Tod zu erringen – „herhalten, und sich gleichsam in die presse der schmerzen einschrauben lassen, daß er, zerqwetschet wie eine traube, saft, kraft, schweiß, mark, ja gar das blut selber herauspressen liesse.“ Sein „Schweis“ wurde „wie Blutstropfen.“506 „Es ginge das Leiden so gar in das inwendige, daß kein blutstropfe in seiner höle sicher war, er wurde aufgejaget und ausgestürzet.“ […] „Der allerreineste“ [= Jesus] „wird über und über mit blut betriefet“ [= trieft von Blut], „damit unsre blut=rohte sünden wie der schnee wurden! O wunder! der schnee wird hie purpur“ [= die Farbe des Kleides der jenseitigen Seligkeit] und „der milch=weise Jesus=Leib eine blut=spritzende Wein-traube, in der kälter des Göttlichen zorns gekältert.“507 Und nun betont von Greiffenberg nachdrücklich: „Er“, Jesus, „er allein hat die schuld“ unsrer Sünden „auf sich genommen; darum ihm auch allein die ehre gebühret.“ – „Ach! der traurende“ [= traurige], „zitternde, zagende, blutschwitzende JESUS, soll der nicht genug seyn, allein aller Menschen sünde zu büssen? Ach ja! er ist genug, und überschwänglich genug.“508 Euphorisch und beteuernd, nicht genug Worte und Bilder zu finden, beschreibt, umschreibt die Autorin den Höchstwert und die göttlich heilsame Wirkung des Blutes Jesu Christi.509 Und auch das folgende Gedicht ergeht sich ganz in dieser Beschreibung.510 Jesu Leiden ist, alles in allem, ein in „Freud versetzendes leid!“ Ein „lust=erwerbends“ ,Trauern‘. […] „GOtt (welch ein wunder=ding!) sich leiden=fähig macht, dadurch aus allem leid uns leid=versenkte bracht.“511 Wie regelmäßig, so endet die Betrachtung mit einem Lob, Preis, Dank und einer Ehrbezeugung für das Betrachtete.512 Auf das dazu gehörende „Amen, O JEsu! Amen“ folgt noch ein hymnisch sich ergehendes Lobgedicht auf das Loben, Preisen, Danken und Ehren Gottes und Jesu.513 Die 5. und 7. Strophe dieses Gedichtes lauten: „Ich in deine Lieb verliebet / bin zu deinem Lob verlobt: / diese lust mir nahrung gibet. / Nicht nur springet, / ja es tobt, / wallet zischet, fliegt und flamt / Seel, herz, geist, blut ins-gesamt. / Dich, O JEsu! höchst zu ehren, / ist mein herz und sein begehren.“ – „Lob, preis, dank, ruhm, ehr, kraft, stärke, / Glori, macht, pracht, herrlichkeit / wunder=jauchzen, jubel=werke, / herzens=hupfen, seelen=freud, / Geistes=brunst, entzückungs=lust / brand=dank=opfer auf der brust, / alles, was ein lob nur heisset, / mein herz sich zu geben fleisset.“514 – Wie diese ,Betrachtung‘ be506 507 508 509 510 511 512 513 514

S. 109. S. 110. S. 111. S. 112 – 115. S. 115 f. S. 116. S. 116 – 120. S. 120 f. S. 121.

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gann, so endet sie auch: mit einem überschwenglichen, ,eigentlich‘ nicht enden wollenden Loben, Danken, Preisen und Ehren Gottes und Jesu. Gegenstand der vierten ,Betrachtung‘ ist der Bericht der Evangelisten von der Gefangennahme Jesu, von der Verfasserin gedeutet auf Jesu Leiden uns zugute. Was ganz überwiegend ausgelegt wird, sind die Reden Jesu, zunächst an seine schlafenden Jünger, sodann an den Verräter Judas und schließlich an die Schar, die ihn gefangennimmt, und an Petrus, der mit dem Schwert wehren will. Als Überschrift über die gesamte Auslegung könnten Sätze aus dem Einleitungsabschnitt stehen: „Er“, Jesus, „gieng[..] dem tod entgegen, damit wir […] ins ewige Leben“ gelangen. ,Freiwillig‘ tat er das. „Die freywilligkeit setzet dem verdienst die krone auf.“515 Jesus gewährt nach von Greiffenberg Judas unmittelbar vor seinem Verrat die Einladung zur Umkehr, zur Buße: „Was ich wünsche“, ist „nämlich: bekehre dich.“516 „Laß dich meine freundlichkeit zur Busse leiten. […] Gedenke auf die busse, so will ich nicht mehr an die sünde denken.“ Auf „wahre buße“ werde ich dich „wieder zu gnaden annehmen.“517 – Wir hören: Die ,Freundlichkeit‘ Jesu ist es, die nach von Greiffenberg „zur Busse“ ,leitet‘ und leiten soll. Höhepunkt des neutestamentlichen Berichts ist auch für sie die Nachricht, daß Jesus der ihm entgegen laufenden Horde zunächst die Frage stellt: „Wen suchet ihr?“, und nach der Antwort: „Jesum von Nazareth“, frei und „mit unvergleichlichem muht“ bekennt: „Ich bins!“ Dieses klare und so zweifelsfrei sichere ,Wort‘ Jesu legt die Autorin lange aus.518 Sie tut das unter Anführung der ganzen alttestamentlichen Verheißungsgeschichte – aber eingangs mit einem eigenen Bekenntnis. Jesu Wort „Ich bins“ erläutert sie so: „O teureste bekäntnus, Fels meiner seeligkeit! anker meines Glaubens, stürtze“ [= Stütze] „der sternen meiner hoffnung, und grund meines ganzen Christenthums, seule der himmlischen Deoglori, die den Sieg JEsu in der welt ausbreiten soll! Ich bins, der Seeligmacher! sagte die selbste Seeligkeit“ [= der selbst die Seligkeit ist]. „Ich bins, der […] des Satans werke zerstören, die hölle stürmen, und die sünder erlösen soll. Ich, ich, ich allein bins! der die sünde tilget, versöhnet darvor“ [= dafür] „genug thut, und davon loß spricht.“519 Ihrer Glaubens-Überzeugung und ihrer Heilsgewißheit gibt von Greiffenberg immer wieder Worte: „Zu JEsu treten, ist gut. Doch soll es geschehen im Glauben, mit völliger zuversicht, ihn zu umfahen“.520 Die Kunde, daß alle 515 S. 123. Siehe auch: Er ,wollte‘ „freywillig, mit begebung“ [= mit Verzicht auf] „Englich= und menschlicher hülfe“ [= von Engeln und von Menschen gebotenen Hilfe] „vor“ [= für] uns leiden“ (S. 173). 516 S. 145. 517 S. 141 f. 518 S. 130 – 133. 519 S. 130. 520 S. 145.

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5. Die Passionsbetrachtungen

Jünger in Christi Not fliehen, ist für die Autorin Grund, sich neu zu vergewissern: „Ach nicht so, mein herz! lasse dich keine noht von JEsu abtreiben. In der noht ist es erst recht nothwendig, bey ihm zu verbleiben.“521 Selbst „wann Himmel und Erden vergehen, bleibet doch, samt JEsu, was in JEsu ist.“ Darum: „Wie seelig ist, wer JEsu“ ,ergeben‘ „ist! der bleibet in noht, ja auch im tod, unverlohren.“522 Die ,Anwendung‘ des neutestamentlichen Textes auf unser Tun und Verhalten (im Sinne eines „sensus moralis“ des Textes oder im Sinne der Ethik) vollzieht von Greiffenberg ganz überwiegend mittels des Begriffes der „Tugend“. Zwischenbemerkung: Bekanntlich hat Luther den Begriff der „Tugend“ wegen seines ,habituellen‘, dem Menschen von Natur eignenden Charakters besonders in der Frühzeit abgelehnt. Die fast diskussionslose Wiederkehr der Tugenden im Luthertum dürfte auf den Einfluß der Ethik Melanchthons zurückgehen. Für von Greiffenberg war, von Tugenden zu sprechen, problemlos selbstverständlich. Sie bezieht die Tugenden aber strikt auf die Glaubenden. „JEsus“ ist nach von Greiffenberg „die selbste Tugend“, die Tugend selbst, der Inbegriff der Tugend523, ist er doch der vollkommene Mensch. Er ist die ,Tugend selbst‘ oder die Tugend völlig und rein in seinem Gott gleichsam ,hinfliegendem‘ „Gehorsam“524, in seiner Gott-Ergebenheit. So läßt von Greiffenberg Jesus sagen: „Solte, ich die höchste vollkommenheit, etwas an der tugend ermangeln lassen, indem ich meinem Vatter nicht den höchsten gehorsam erwiese, in trinkung des bittersten Kreutz=Kelches?“525 „Also“ sollen „auch wir,“ wir jedoch „kraft der freyheit, durch JEsum erworben, ihme seel= und leibeigen in seinem dienst ergeben“ sein.526 Für uns soll „sein wort und befehl […] die seele guter werke“ sein, „verwirfft“ er doch alle „eigengesinnte dienstbarkeiten“.527 „O Feindes=liebe!“, die Jesus in Person ist, „erwerberin des Himmels! entwaffung“ [= Entwaffnung] „der gerechten straff=hand, erlangung der vergebung, geberin des ewigen Friedens! wie bist du anzubeten, wie zu preisen, wie dir nachzufolgen! O himmlische freundlichkeit! Göttliche sanfmut! erwünschbarste langmut und geduld! wie Englisch=schön“ [wie Engeln gleich schön] „seyd ihr. Herz=einnehmbarste“ [= die am besten das Herz einnehmen könnenden] „JEsus=tugenden! nehmet doch auch mein herz ein.“ […] „Inständig“ bitte ich dich, Jesus, „um diese tugenden und herzen=kindern“. „Erlange“ ich sie, so „will“ ich, „sie dir“ in deinem Dienst 521 522 523 524 525 526 527

S. 156. S. 137. S. 163. S. 123. S. 152. S. 146. S. 150.

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5.4 Die dritte und vierte Betrachtung

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„auch aufopfern.“528 Er möge die „tugenden […] geben“, so „daß das innerliche“ ,von Liebe zitternde Herz‘ „auch den äuserlichen nächsten=liebenden nachdruk habe“.529 Die „noth eröffnet den schauplatz der liebe“, sie ist „das offene Feld aller tugenden.“530 Sie ,gibt‘ der Liebe die „bildungs=kraft“, erweckt das „mitleid[..]“ und das ,Zartgefühl‘; sie führt „bey trey=liebenden“ zu neuer Stärke im ,Zusammenhalten‘.531 Neben den bereits genannten Tugenden werden weitere angeführt: z. B. „treue und redlichkeit“, von denen die Verfasserin bekundet, sie werde diese „ferner und ewig über alle welt lieben“ wollen.532 Oder „die GOtt rein allein meinende lauterkeit“, die die Autorin „eine von den herz=gründlich= und herz=rührendsten tugenden“ nennt. Sie, die Lauterkeit (oder Grundehrlichkeit) ,beruhe‘ „bloß auf JEsu Lieb und Ehre“, sie ,zerbreche und verwerfe‘ „alle andere ziel=zwecke […]“; auch „nehme sie“ die „zufällige[n] erfolgungen“ [= Erfolge] nur „mit höchster Gottesfurcht und demut an[..], doch klar mit ihrem gewissen bedinget“ [unter der Bedingung des Gewissens], „daß sie solche nicht gemeint noch gesucht habe.“533 – Eine besondere Hervorhebung ist der Keuschheit gewidmet: Ihrer „soll man sich […] vornemlich befleissigen, weil sie dienlich und tüchtig zur andacht und Gottseeligkeit ist.“534 Die „stunde deiner“ [sc. des „HErr(n) Jesu(s)“] anbet= und verehrung“ verspricht von Greiffenberg zu „halten“, selbst „wann alles darüber zerbersten solte.“535 Was von Greiffenberg in diesen ,Passions-Andachten‘ insbesondere als Gott und Jesus gemäßes Verhalten hervorhebt, ist das ,mit Jesus Leiden‘ und ,mit ihm Sterben‘. Nach gegenwärtigem Verständnis ist gemeint: bereit sein, um der Verbundenheit mit Jesus willen – und insofern um seinetwillen – zu leiden, ja sein Leben zu riskieren und gegebenenfalls zu verlieren. So heißt es: „mein herz! leide die widrigste unbillichkeiten“ [= Unrechtmäßigkeiten]. „Leide […] die schmählichste und verwirrteste widerwärtigkeiten: daß dir, die tugend zur schmach, die Gottesfurcht zum haß, und die redlichkeit zur nachrede, gedeie. Leide, daß […] alles wohlthun“ dir „übel“ ausgelegt wird, „wann es […] von der welt gesehen wird“; denn „du bist ihr verhasst, weil du JEsu angehörest. […] leide alles, was dir die welt, in, an und ausser, zuwider thut: dann“ [= denn] „seelig, wer hier was um JEsum erduldet! droben im Himmel

528 529 530 531 532 533

S. 143. S. 140. S. 156. S. 157. S. 171. S. 166. Vgl. das eben Zitierte mit den Bemerkungen (oben S. 44 bei Anm. 189 u. S. 48 mit Anm. 211) zu dem von Greiffenbergischen Lebensprojekt der Kaiserbekehrung. 534 Ebd. 535 S. 170.

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5. Die Passionsbetrachtungen

wird’s doppelt verschuldet“ [= vergütet].536 Also ist es so: „um JEsu willen leiden, ist ein Himmel=voller freuden.“537 Und: „Wann man um Christi willen stirbet: […] Wie seelig ist es, um des willen sein Leben hingeben, der es uns gegeben, und zu dem Ewigen uns, mit dem seinigen, erkaufft hat.“538 Doch das geht über unser Vermögen. „Deine kraft“, HErr Jesu, „ist es, die mich anreitzet, ehe[r] mein Leben, als meinen JEsum zu [ver]lassen; ehe[r] […] leib und blut, als deine gnade; […] ja ehe[r] ehre, glück und alles zu verlieren, als die himmlische Deoglori zu verlassen, in welche ich, dir zu dienen, unsterblich verliebt bin. […] Es ist die Kron aller glori, um JEsu willen den Geist aufgeben“, sterben.539 „Ohne dich kan ich nichts: aber in deiner kraft vermag ich alles, auch mit dir und um deinet willen zu sterben, wann dir, mir diese ehre zu vergünstigen, belieben würde.“540 Christi „lehre und ehre […] soll man“ mit „Stärke und Löwen=muht“ ,verfechten‘ und „sein leben“ dafür „hingeben wollen. Aber […] nichts ohne, oder wider seinen befehl […]! dann gehorsam ist ihm lieber, als opfer.“541 Vielleicht ist es nützlich, die drei angesprochenen Situationen eines Leidens ,um Jesu Christi willen‘ eigens aufzulisten: a) Kränkung und Verletzung können einem angetan werden, wenn im sozialen, öffentlichen Leben sich auswirkende Nachteile (wie Zurücksetzungen oder Rechts-Vorenthaltungen) hinzunehmen sind – wie es den verbliebenen Lutheranern in den österreichischen Erblanden mannigfach widerfuhr. b) Schmerzend und beeinträchtigend kann es sein, wenn im Bekanntenkreis oder im alltäglichen Umgang Verachtung, Verleumdung, Spott und Gehässigkeit ertragen werden muß. c) Es geschieht, daß einer wegen seines Christus-Bekenntnisses umgebracht wird, er also das Martyrium erleiden muß. Ein solcher hat um der Zugehörigkeit zu Jesus Christus willen sein Leben dahingegeben. Ein Zwischengedicht mit acht Strophen542 nimmt den Spruch der vorausgehenden Seite „Um JEsu willen leiden, ist ein Himmel=voller freuden“ auf und bildet aus dem Spruch den Kehrvers aller Strophen. – Das, denke ich, ist nicht sinnlos, wenn auch etwas zu überschwenglich oder euphorisch formuliert. Das Leiden einer Person hat für diese einen Sinn, wenn sie es verstehen kann als Leiden um Jesu willen. Es hat einen Sinn, wenn sie es verstehen kann als gewürdigt, das um Jesu willen zu erleiden, was ihr an Leid zugefügt wird. Diese Erkenntnis selber kann einen innerlich froh machen. Selbstverständlich ist in dieser vierten Betrachtung auch nachdrücklich von Jesu Passion die Rede. Die Eingangsseiten zeigen sehr deutlich, worum es 536 537 538 539 540 541 542

S. 159 f. S. 159. S. 149. S. 158. S. 171. S. 148. S. 160 – 164.

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von Greiffenberg vordringlich zu tun ist: „Sihe, die stunde ist hier“543 : die Stunde, in der Jesus „in das äuserste elend“ ,kam‘, „damit wir in die ewige Seeligkeit kommen möchten.“544 Es ist das „die Stunde der alten“ [= prophetischen] „wort=erfüllung, die stunde der schlangen zertretung, der segen erwerbung; die stunde der höchsten Liebe und wunder=erweisung im Himmel und auf erden, […] die stunde […], in welcher der wirkliche anfang zu eurer seeligen Ewigkeit soll gemacht werden“.545 An anderer Stelle läßt die Verfasserin Jesus selbst sprechen: „Solte, ich die selbste Liebe“ [= der ich die Liebe selbst bin] „nicht, aus Liebe zu meiner gleich=ewigen urquelle“ [das ist: Gott der Vater] „die liebes=ströme gegen das Elend des menschlichen Geschlechts fliessen lassen. Solte ich, den von ur=ewigkeit her von uns gemachten Rathschluß die Menschen zu erlösen, nicht vollziehen wollen? […] Ach nein! ich unterlasse“ es „nicht, zu erfüllen, was ich zugesaget. Ob ich auch darüber leib und blut Geist und leben lasse, zu grab und hölle komme, so thue ich doch, was beschlossen ist.“546 „GOtt lobet sich selber“, indem „das werk, den meister“ lobt: JEsum, seine überschwengliche Liebe.“547 Das „Werk der Erlösung“ aus dem Sündenelend beruht, wie wir hören, auf einem ur-ewigen, innergöttlichen „Rathschluß“ und wird ausgeführt von Jesus als Erweis „seine[r] überschwenglich[n] Liebe“ zu uns Menschen, in der er in unser Sündenelend ,kommt‘, in ihm uns aufsucht, ja es auf sich nimmt – und so uns daraus befreit, „erlöst“. Das Dargelegte sei weitergehend bedacht. Daß als Begründung für die Erlösung ein innergöttlicher, ewiger Ratschluß angeführt wird, läßt erkennen: Gott und der mit ihm gleiche Jesus handeln nicht erst reagierend auf die tatsächliche Sündenverfehlung der Menschen, sondern kommen – voraussehend – all unserem Tun und so auch unsrer Verfehlung und Sünde zuvor. Gott ist wie Jesus ,die Liebe selbst‘ immer und unveränderlich. – Die ur-christliche Anschauung, daß Gott Mensch wurde, die „Inkarnation“, und damit verbunden die Lehre von der Selbsterniedrigung Jesu Christi, die „Selbstkondeszendenz“, sind hier bei von Greiffenberg von vornherein und durchgehend, also konsequent nicht nur bezogen auf die „Menschwerdung“ Gottes, sondern zugespitzt auf das Kommen Jesu Christi in unser Sündenverderben und auf sein Aufsichnehmen unseres, von der Sünde herrührenden Elends. 543 544 545 546

S. 125. S. 123. S. 125. S. 152. Das eben Referierte erinnert an Paul Gerhardts Lied: „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“ (1647). In der 2. und 3. Strophe wird ein innergöttliches Gespräch zwischen Gott Vater und Gott Sohn vorgestellt, in welchem Jesus zur Erlösung der Sünder sich auswählen läßt. Am Ende dieses Gespräches heißt es: „O Liebe, Liebe, du bist stark, du streckest den in Grab und Sarg, vor dem die Felsen springen.“ Darauf antwortet im Beginn der 4. Strophe der Mitsingende: „Mein Lebetage will ich dich, aus meinem Sinn nicht lassen, dich will ich stets, gleich wie du mich, mit Liebesarmen fassen.“ (EG 83, 3 u. 4). Der erste, wörtlich zitierte Vers ist angeführt in von Greiffenbergs ,Leben Jesu Christi. Übrige Betrachtungen‘: SW 8, 889. 547 S. 173.

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5. Die Passionsbetrachtungen

Die Inkarnation und in eins damit die Selbstkondeszendenz sind mithin nicht nur die Vorbedingung der Erlösung; vielmehr stellen sie selbst die Erlösungstat dar ; diese muß nur noch real an unserem Sündenelend durchgeführt werden. Die ganze Lehre von Jesus Christus (die „Christologie“) wird so gedeutet als Erweis seiner ,überschwenglichen Liebe zu uns‘ und als Ausdruck seines ,einzig-großen Erbarmens‘. – Aber real mußte sich die Erlösung an unserem Sündenelend erweisen. Und da konnte sie nicht anders geschehen als durch Jesu Aufsichnehmen unseres Sündenelends und also durch sein Leiden und durch seine ihm angetane Tötung, was als Tatsache schlichtweg vorausgesetzt ist. Jesu Sterben ist, so gesehen, der uns die Erlösung einbringende Vollzug seiner Selbsterniedrigung und seiner Inkarnation. Die überkommene lutherische Lehre von der Satisfaktion, Gott dargebracht durch das stellvertretende Strafleiden Jesu Christi, spricht von Greiffenberg immer wieder wie selbstverständlich an.548 In der vierten ,Betrachtung‘ legt sie Jesu Selbstbekenntnis gegenüber den ihn Gefangennehmenden „Ich bins!“ unter anderem so aus: „Ich bins, der […] des Satans werke zerstören, die hölle stürmen, und die sünder erlösen soll. Ich, ich, ich allein bins, der die Sünde tilget, versöhnet, darvor“ [= dafür] „genug thut, und davon loß spricht.“549 „Ich bins, […] der ich euch aus der hölle erlösen, und vom tod erretten will, der dem tod ein gifft und der hölle eine Pestilenz seyn wird.“550 „Ich will“ die „höllische[n] bande[n] […] von den armen der armen sünder ab= und auf meine händen winden. Die fessel des todes sollen gleichfals von ihnen abgenommen und auf mich geleget werden. […] du Sünde, […] ich habe dich getilget. […] du tod, […] ich habe dich verschlungen. […] ich habe“ für die, die mir nachfolgen, „bezahlet, […] was diese bezahlen solten. […] In mir ist die überschwenglichkeit, für milion welt sünden, zu finden.“551 „Ja, allerliebster HErr JEsu! du senkest dich in die noth, damit du uns heraus zögest. Du leidest zu der noth der gefängnis“ [= der Gefangennahme] „auch die andere“ ,Not‘ „der Verlassung“ [= verlassen zu werden]: „damit wir von dem Ewigen ewiglich unverlassen blieben.“552 Doch die Erkenntnis, daß das ,Werk der Erlösung‘ der unübertreffbare Liebeserweis des gottgleichen Jesus ist, läßt die überlieferten Lehraussagen in den Hintergrund treten. Jene Erkenntnis ist immer wieder nachdrücklich formuliert. Weiter als zu dieser ,Überwölbung‘ der traditionellen Lehre konnte eine lutherische Autorin des 17. Jahrhunderts vermutlich nicht kommen. Aber auch als der Liebeserweis Jesu gedeutet, bleiben die Ungereimtheiten des überlieferten Lehrstücks von Jesu Christi Leiden und Tod als unsre Erlösung, unser Heil, bestehen. Noch immer ist die Erlösung, verstanden als Jesu 548 549 550 551 552

Siehe auch, aus der 3. Betrachtung, S. 101. S. 130. S. 132. S. 135 f. S. 157.

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Aufsichnehmen unsrer Sündenstrafe, eine nur von außen für uns geschehene Tat oder Handlung. Inwiefern hat sie umwandelnde, den Sünder umwandelnde Kraft? Und immer noch stellt sich die alte Frage: Weshalb mußte der Erlöser zum Zwecke der Erlösung leiden und seine Tötung erdulden? Daß Jesus, der mit Gott eins ist, zu uns kommt und, wenn zu uns, in unser Elend und unsere Not wegen der Sünde kommt, heißt ja noch lange nicht, daß er unser Elend und unsere Not mit uns teilen und selbst erleiden muß. (Übrigens erleiden wir die Sündenstrafe, den totalen Tod und die Verdammnis der Hölle, solange wir leben, nicht: sie steht uns nur drohend bevor.) Wird die Erlösung vorgestellt als Befreiung aus der Gefangenschaft oder aus dem Gefängnis der Sünde: Weshalb sollte dabei der Erlöser, der Befreier „leiden“ oder gar „leiden müssen“? Er freut sich mit dem Befreiten über die gelungene Freisetzung. Der Befreite ist frei, mit dem Sündengefängnis hat er nichts mehr zu tun: Er kann es vergessen. – „Tilgt“, bezahlt einer die Sündenschuld[en] eines Anderen: Weshalb muß dabei einer der beiden „leiden“ und seine Tötung erdulden? Und durch solch eine ,Tilgung‘ entsteht doch keine neue Beziehung – außer wenn der mit einer solchen Wohltat Beschenkte die Schuldentilgung als eine ihm zuteil gewordene Gnade erkennt und dafür dankbar ist. – Nur wenn die Sündenschuld der Menschen vor Gott nicht anders abgetragen, beseitigt werden kann als dadurch, daß Jesus sie auf sich nimmt und uns abnimmt, also daß er sie erleidet, nur dann ist begründet, weshalb Jesus leiden muß: nämlich die Sündenschuld an unsrer Stelle. Doch wie wird nun die Erlösung, das von Jesus uns bereitete Heil, uns zu eigen? Im Zusammenhang mit der neutestamentlichen Textstelle, wonach Jesu Schweißtropfen im Gebet wie Blutstropfen zur Erde fielen, führt von Greiffenberg aus: „Ach! es ist schade, daß sie [sc. die Blutstropfen] auf die Erde fallen solten. Halte unter, halte unter, mein herz! eile, eile, daß kein tröpflein daneben hinfalle. Fange auf diesen edelsten blut=balsam.“553 Es kann also vom Verhalten des Empfängers solch einer Gunst gar nicht abgesehen werden. Nach dem zuletzt Zitierten ist es entscheidend, daß sich das ,Herz‘ eines Menschen – nicht sein physisches, leibliches Herz, sondern sein geistiges, das Zentrum seiner Liebe und Wahrheitsverbundenheit – Jesum erschließt, und daß von diesem Zentrum her die ihm zuteil gewordene Gabe, ihn auch fühlbar mit Freude durchdringt. – Der übergroße Liebeserweis Jesu in der Tat der Erlösung, den von Greiffenberg klar in den Vordergrund stellt, findet seine Erfüllung doch nur so – ja kann auch rechtens gar nicht anders wahrgenommen werden als so – daß er unsere Gegenliebe erweckt.554 Doch inwiefern verändert sich dadurch unsere Sündenschuld?555 553 S. 113. 554 Vgl. die Abfolge der 3. und 4. Strophe in dem oben (Anm. 546) angeführten Lied Paul Gerhardts. 555 Den Sünder – nicht die Sündenschuld – umwandelnde Kraft hat die Erlösung, wenn sie zugleich den Sünder zur Bekehrung erweckt und diese ,zu Herzen geht‘: wenn also die Erlösung sich in

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5. Die Passionsbetrachtungen

Uns in der Gegenwart bleibt in diesem Zusammenhang ein schwerwiegender Einwand: Wir wissen, daß die Erfahrung, schuldig geworden zu sein, die allerpersönlichste ist. Daß ich etwas getan habe, was ich nicht hätte tun sollen und wofür ich als Täter die Verantwortung trage, das gehört zu mir, dem Täter, unabänderlich. Die Tat, die Untat, bleibt getan – wie ja auch die Gott und dem Anderen zugefügte Wunde getan ist. Diese meine Schuld – und zudem die Einsicht, daß ich, der Täter, einer bin, der zu solcher Übeltat, zu solcher Bosheit fähig ist – kann mir kein Anderer abnehmen. Die Frage kann doch nur sein, wie ich mich dazu verhalte, wie ich damit leben kann und will. Ein in diesem Sinne schuldig Gewordener kann seine Schuld nur bereuen – zuweilen tut das einer lebenslang – und daran glauben, daß sie ihm nicht immerzu nachgetragen, vielmehr übergangen, entwertet – und vergeben wird. Eine Bemerkung noch: Es ist in der traditionellen Lehre vom Strafleiden Christi und von der Satisfaktion, der Genugtuung und „Versöhnung“ Gottes, entsetzlich, daß eine Umwandlung oder Umkehr nur im Blick auf Gott gedacht ist: nämlich vom Zorn zur Gnaden-Gewährung.556

5.5 Die Eigenart der Frömmigkeits-Theologie von Greiffenbergs und der Stil ihrer Werke Zur Tradition des Luthertum in der Zeit nach Luthers Tod bis ca. 1750 gehört es, daß es neben der „orthodoxen“ dogmatischen Theologie, ausgerichtet an der „Formula Concordiae“, einen Seitenflügel ausgebildet und tradiert hat, den man nach seinen Ausdrucksformen oder Gestaltungen ein „verinnerlichtes Luthertum“ nennen kann. Ein erster Hauptvertreter dieser Richtung war Philipp Nicolai, mit seinem Hauptwerk „FrewdenSpiegel deß ewigen Lebens“ (1599). Neben oder einige Jahre vor ihm ist zu nennen der Verfasser des Chorals „Herzlich lieb hab ich dich, o Herr“ (1569/1571).557 Kennzeichen dieses Zweiges des Luthertums, der durchweg auf die Frömmigkeit ausgerichtet war, ist die Konzentration auf die Jesus- und Gottesliebe. Vorausgegangen waren ihm im Mittelalter die Christus-Minne Bernhard von Clairvaux, der Bekehrung realisiert. Siehe dazu SW 10, S. 818 u. 822, unten angeführt S. 183 f.; vgl. auch S. 147 f. bei Anm. 611 u. 613. 556 Vom ,Stillen des Zornes Gottes‘ ist in den ,Passion-Betrachtungen‘ die Rede in Seite 79, 81, 107, 110 u. ö. 557 Ob der Verfasser dieses Liedes (EG 397) Martin Schalling war, ist immer noch etwas unsicher. Es wurde zuerst dokumentiert als Schlußgebet einer Predigt Martin Schallings. Diese Predigt „von dem heylichen Osterlemblein“ weist ihn als streng dogmatischen Theologen aus. Ebenso verhält es sich mit anderen, handschriftlich überlieferten Texten von ihm: „Kurtze Leichpredigt […] bey dem begrebniß D. Johannis Nordeck ([15]67)“ und: „Christliche Unterricht an die beträngte und verfolgte Christen unter dem Papsttum. Sambt angehengtem TrostBüchlein (1559)“.

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vermittelt über Joh. Tauler, und die „Hohelied“-Tradition. Einflußreiche Zeugen im Luthertum sind Johann Arndt mit seinen „Bücher vom wahren Christentum“ (1605/1610) und seinem Gebetbuch „Paradies-Gärtlein“ (1612) sowie Heinrich Müller, besonders mit der Schrift „Himmlischer Liebeskuß“ (1659). In dieser Tradition des „verinnerlichten Luthertums“ steht auch von Greiffenberg.558 Ja man wird sagen können, ihr Werk in den Gedichten und in den ,Betrachtungen‘ ist die konsequent betriebene Ausformung in der Subjektivierung lutherischen, am Bibelwort ausgerichteten Glaubens und der lutherisch „orthodoxen“ Lehre. Anders gesagt, Luthers „pro nobis“ oder „pro me“, formuliert als Ziel und Zweck der Heilsgeschichte Christi, wird bei von Greiffenberg weitergedacht unter der impliziten Frage: Und wie kommt dies „pro me“ bei „mir“, bei einem einzelnen Subjekt, an. So ist das „objektive“ Heilsgeschehen, ohne auch nur mit einem Wort bestritten zu sein, „subjektiviert“ oder „verinnerlicht“. – Was diese äußerlich bleibende Charakterisierung im Blick auf ihre „Passion-Betrachtungen“ nach deren theologischem Gehalt und nach deren Stil meint und besagt, das soll im folgenden aufgewiesen werden. Wie bereits dargelegt,559 ist ihre Auffassung von der Selbsterniedrigung Jesu Christi zum Zwecke unsrer Erlösung und Erhöhung leitend für alle ihre Ausführungen über Jesu Christus. Dieser Grund- oder Kerngedanke des von Greiffenbergischen Werks, von der spätantiken Theologie der ,Väterzeit‘ überkommen, ist bei der Verfasserin zugespitzt auf die Passion Jesu Christi. Ins äußerste Elend der Höllenqual erniedrigt sich Jesus Christus aus der Herrlichkeit Gottes. Seine Selbsterniedrigung ist uns zugute; denn sie führt, uns erlösend, zu unsrer „Erhöhung“ – zur Vereinigung mit Gott und Jesus und zu Gottes ewiger Seligkeit. Zu dieser überlieferten Lehre trägt von Greiffenberg zwei Näherbestimmungen vor: Dadurch – zum einen – daß die Gottheit Jesu Christi die Menschheit in sich zu einer Person aufgenommen hat, wird Gott leidensfähig und sterblich. „GOtt (welch ein wunder=ding!)“ macht „sich leiden=fähig“, um uns aus allem Leid zu erheben.560 Zum anderen: In seiner Selbsterniedrigung als Gott bis zum äußersten Elend des Menschseins gibt, nach „orthodoxer“ Lehre, die Gottheit Jesu ihre Gottheit nicht auf, sondern verheimlicht sie, „verheelt“ sie: Gott, „die selbste freiheit“ [= die Freiheit selbst oder in Person] „verläst sich selber, um sich in uns zu verfügen. Sie [sc. Gottes Freiheit] gebraucht sich“ dieser ihrer göttlichen Freiheit gerade dazu, daß „sie sich solcher“ [= ihrer selbst] „entäußert und sie verheelt“. M.a.W., die Gottheit 558 Sie selbst nennt Ph. Nicolai und H. Müller ihre Lehrer (s. o. S. 13, Anm. 24 u. Anm. 25). In ihren ,Übrigen Lebensbeschreibungen‘ nennt von Greiffenberg Ph. Nicolai den „lieben Nicolai“ und zitiert aus dessen Morgenstern-Lied die Verse „Geuß sehr tieff in mein Hertz hinein / Du heller Jaspis und Rubin / Die Flammen deiner Liebe!“ (SW 8, 1016) 559 S.o. S. 90 f. u. 129 f. 560 SW 9, S. 116. (Die folgenden Seitenzahlen beziehen sich auf dieses Werk.)

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gebraucht ihre allmächtige Freiheit aus freien Stücken nur dazu, sie nicht zu gebrauchen.561 Um unsre Erlösung durch sein Leiden und Sterben real möglich zu machen, verzichtet Jesus freiwillig auf das Eingreifen seiner göttlichen Allmacht.562 Er verzichtet auf die direkte Ausübung seiner Allmacht aus Liebe zu uns Menschen. Oder anders gesagt, er ordnet seine Allmacht seiner Liebe zu uns unter. In seinem Leiden selbst bewirkt seine Gottheit und Allmacht eben kein Entgehen des Leidens, auch keine Abschwächung der Qual; vielmehr bewirkt die Allmacht das Aushalten und übermenschliche Durchhalten seines übermenschlich martervollen Leidens.563 – Die Verfasserin ist überzeugt: So gerade könne jeder, der offene Augen hat, im Leiden Jesu Gott erkennen. Und so die Göttlichkeit der Liebe Jesu in seinem Leiden für uns erkennend, wird Jesu Passion uns zur Quelle höchster Freude.564 Die Selbsterniedrigung des Gottes Jesus Christus im Abendmahl bis dahin, daß er, wie die Verfasserin sagt, auf der Zunge zergeht, um ganz in uns zu sein,565 ist ein prägnantes Beispiel für von Greiffenbergs Vorgehen der Subjektivierung: Sie zieht die „orthodoxe“ Lehre von der „manducatio oralis“ (vom ,Essen mit dem Mund‘) über deren Objektivismus hinaus ins Subjektive des in sich Aufnehmens durch einen Glaubenden, indem sie darlegt, was das Essen und Trinken des Leibes und Blutes Jesu bei ihm, einem Glaubenden, ausrichtet. Der prozeßhafte Vollzug der Erniedrigung Christi zu unsrer Erhöhung ereignet sich in einem völligen Gegensatz: Welch ein Kontrast ist das! Der Schöpfer und Herr der Welt wird grausam verwundet, verhöhnt und bespeit, und so entstellt zu Tode gebracht. Und in welcher Fülle von Variationen legt die Autorin dies dar! Sie weist auf, wie die – entäußerte, also verschwiegene, aber doch gebliebene – Gottheit Jesu mit ihrer Allmacht und die Menschheit Jesu mit ihrer Leidensfähigkeit in der Passion Jesu beteiligt sind – und wie sie doch in dem Ziel der Erlösung und in deren Grund, der Liebe Jesu zu uns, zusammen-wirken. Der endgültig erst im Ziel, in der jenseitigen Seligkeit, überwundene Gegensatz bekundet sich in dem von der Autorin bevorzugten, häufig angewandten Stilmittel der Formulierung im alternativen Kontrast. Ein Beispiel: 561 S. 146. 562 Die Allmacht hätte ja an sich, so setzt von Greiffenberg voraus, ihn, Jesus ,leicht‘ des Leidens entheben können. 563 An nicht wenigen Stellen ihrer „Passions–Betrachtung“ legt von Greiffenberg ihr – oben zusammengefaßtes – Verständnis der göttlichen Allmacht in Jesu Passion, in seiner Liebe zu uns, dar. Die betreffenden Stellen, wie sie hier in dieser Abhandlung zitiert sind, seien aufgelistet: S. 120; S. 120 f. mit Anm. 487 u. 489 – 491; S. 122 mit Anm. 493; S. 142 mit Anm. 589; S. 144 mit Anm. 598; S. 167 mit Anm. 718. 564 S. 85 steht das so – in der Auslegung des von Jesus berichteten Satzes „Meine Seele ist betrübt, bis in den Tod“ gesagt: „Das meer meiner betrübnus, in welches meine Seele gantz versenket und ertränket ist, wird euch zu strömen der wollust“ [= der höchsten Lust] „und ewigen freuden=quellen werden.“ (Zitiert oben S. 118 bei Anm. 479.) 565 S.o. S. 102 f.

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„Er kam in das äußerste Elend, damit wir in die ewige Seeligkeit kommen möchten.“566 Auch über diesen grundsätzlichen Kontrast hinaus, äußert sich die Verfasserin gerne in kontrastierenden Wortfolgen, wie „tugend und jugend“567 oder im scheinbaren „Spielen“ mit den alternativen Bedeutungen eines Wortes wie „ergreifen“ und „fangen“, die doch tiefsinnig sind.568 Ungemein einfallsreich schreibt sie, was nach ihrer Ansicht unmittelbar zusammengehört, in einer mit Bindestrich ausgeführten Wortkombination zusammen.569 Kommen wir jedoch wieder auf das gesamte Werk der „Passion-Betrachtungen“ zu sprechen. Sie sind keine dogmatisch-theologischen Abhandlungen, keine Predigten, aber auch keine ,erbauliche‘ Darlegung eines ,frommen‘ Themas, wie das der ,Bekehrung‘, ohne einen direkten Anhalt an einem neutestamentlichen Text. Vielmehr sind die „Passion-Betrachtungen“ von Greiffenbergs, Auslegungen („Exegesen“) der neutestamentlichen Passionsgeschichte, wie sie bezeugt ist in einer ,Passionsharmonie‘ der entsprechenden neutestamentlichen Evangelientexte. Die Autorin beschreibt, was im neuen Testament berichtet ist – allerdings mit ,subjektiver‘ Beteiligung. Grundlegend vorausgesetzt ist bei dieser Auslegung, daß das von Jesus Berichtete unmittelbar gegenwärtig ist. Was damals zu unserem Heil geschah und also wirklich wurde, das ist das Heil, gültig zu allen Zeiten und also auch das Heil heute. Jesus ist unser und aller Zeiten ,Heiland‘. Jeder Zweifel, gar ein historisch sich legitimierender an der Gottessohnschaft Jesu liegt ganz fern, ist als historisch-kritischer noch gar nicht in Sicht. Ebenso grundlegend ist die reformatorische Behauptung vorausgesetzt, daß die ganze christliche Lehre vom Heil und von der Erlösung und so auch alle spezifischen Inhalte des christlichen Glaubens in der Heilsgeschichte Jesu Christi nach dem Neuen Testament enthalten sind und keiner Ergänzung bedürfen. In der Auslegung eines neutestamentlichen Textes, eines einzelnen Spruches oder einer Satzfolge, verweilt von Greiffenberg zumeist nur kurz bei dem im jeweiligen Text Berichteten; sondern sie wandelt es umschreibend ab, indem sie es auf eine grundsätzliche Thematik im Verhältnis von Gott und dem glaubenden Menschen und indem sie es insbesondere auf sich selbst, auf

566 S. 123. Als ein weiteres Beispiel sei angeführt: „O JESU! was hast du gethan? du gibst die Allheit“ [= das alles in allem Sein der Gottheit] „dem Nichtes“ [= dem, der Nichts ist], „du legest die GOttheit in den Staub, und erzeigest deinen Feinden in dem grösten Angst= und Schmerzen=Stand, den sie dir verursachet, das gröste Erz=Werck“ [= vollkommene Werk] „der zartesten Liebe“ (S. 53 f). 567 S. 163. 568 S. 145. 569 Eberhard Haufe spricht von der „Kühnheit ausdrucksstarker Wortverbindungen“ von Greiffenbergs und erkennt ihnen eine „Originalität“ zu, „die in der Lyrik ihres Jahrhunderts […] kaum ihresgleichen haben.“ (Ders. Zu einem Pfingstlied [wie oben S. 66 f. Anm. 267], S. 150)

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ihr Befinden in ihrem Verhältnis zu Gott, bezieht. Bereits dies verleiht ihrer Auslegung eine sehr persönliche Note.570 Doch nicht nur diese Konzentration auf das eigene Gottesverhältnis ist charakteristisch für ihre Auslegung: Vielmehr, was sie wiedergibt, ist das ,subjektiv‘ Erlebte des ,objektiv‘ Wahrgenommenen. Dafür sei ein Beispiel zitiert: Von den drei Frauen unter dem Kreuz Jesu schreibt sie: „Aber mit was schmerzen werden sie seine Kreuzigung angeschaut haben. Sie sahen, vor vielen trähnen, kaum das Blut aus den durchgrabenen Händen und Füssen fließen.“ Doch sie wollten an sich alles sehen, was da mit Jesus geschah. „Sie konnten schier nicht zusehen vor herzenleid, und doch, aus Liebe, die Augen nicht abwenden, von demjenigen, den sie so todt als lebend liebten.“571 – Mit abstrakten Worten gesagt: die Autorin kann das ,Objektive‘ gar nicht ohne ,subjektive‘ Teilnahme sehen und denken. Die Verfasserin, von Greiffenberg, legt das im neutestamentlichen Text Beschriebene aus, entfaltet es, indem sie darlegt, was es ihr sagt, was es für sie bedeutet und bei ihr auslöst, und was ihr dabei und dazu in den Sinn kommt; kurz: was sie dabei – gleichsam beim in sich Aufnehmen des Berichteten – erfährt. In ihren Worten: „Also sagen wir nichts anders, sondern bestättigen bloß das, was die Schrifft sagt, mit eigener Erfahrung, welche das Hertz=versicherendeste, und in lieblichen“ [= liebenswerten] „Sachen das angenehmste ist. […] Wir reden davon, […] als von der höchsten Ergetzlichkeit“ [= von den Dingen höchsten Vergnügens], „die wir um kein Ding in der gantzen Welt einigen“ [= auch nur einen] „Augenblick entbähren wolten.“572 Über die Sprache, in der ihre Werke verfaßt sind, äußert sich von Greiffenberg gelegentlich so: „Es läßt sich auch, in Glaubens=sachen, nicht so schlecht hin reden, sondern es muß auf das allerherzlichste gesprochen, und auf das innigste beteuret seyn.“573 Was sie in ihren Sätzen ausdrückt, das ist ihre innere Erfahrung mit dem im Neuen Testament Berichteten. Genauer : Es ist aus dem Eindruck formuliert, den das neutestamentlich Berichtete, von außen wahrgenommen, in ihr, in ihrem Inneren, in ihrem Wahrheitsbewußtsein, erweckt hat. In diesem Sinne drücken ihre Aussagen ihr inneres, gläubiges Erleben aus, hervorgerufen durch das, was ihr eindrücklich wurde im Hören und Lesen und so im Wahrnehmen des im Neuen Testament Berichteten. Und dabei war dieses Wahrnehmen immer auch von der kirchlich eingeübten lutherischen Lehre geformt. Immer ist ihre schriftliche Äußerung wie ein Reden aus dem Herzen in den Mund, der es mit Worten ausdrückt. Ihr inneres, geistliches Leben, Denken und Fühlen kommt (!) in der Auslegung des neutestamentlichen

570 571 572 573

S. z. B. oben S. 123. SW 10, S. 831. SW 7 (= Übrige sechs Lebensbetrachtungen [wie oben S. 91]), S. 378. SW 10, S. 821.

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Textes zu Wort.574 – In diesem Sinne kann von Greiffenberg von der Sprache, von der Rede sagen, sie sei „des Herzens Dolmetscher“.575 Sie setzt ihre Art der Auslegung in Beziehung zur im damaligen Luthertum gängigen Unterscheidung von äußerem und innerlichem Wort, die sie aber in ihrer Weise versteht: „Diß ist der probirstein“ [= das Prüfungsmittel] „wahrer Christen und JEsus=Liebhabere: Wer sein wort“ [im Gottsdienst] „nicht, wie ein durstiger Hirsch das wasser, begierigst“ in sich „hinein schlucket, der ist nicht aus der warheit. […] Wer aus der warheit der innerlichen geist= oder wiedergeburt ist, der wird sie [sc. die Wahrheit] nicht allein äußerlich, sondern innerlich in seinem herzen hören: da, da hat sie ihren rechten predig stul, da lehret sie die verborgenste geheimnuse; da stimmet sie die sußesten Harpfen“ [= Harfen] „und Psalter, und singet die lieblichste Reim=lieder im Chor des herzens.“576 Wie ersichtlich, ist es hier nicht um eine zweite, innerliche Wahrheitsquelle zu tun neben dem äußeren Wort Christi, oder ist gar eine solche gegen das äußere Wort auszuspielen; sondern alles ist daran gelegen, daß das äußere, im Gottesdienst zu hörende Wort oder die eine Wahrheit, innerlich wird: zu Herzen geht und eben nicht einem Menschen äußerlich bleibt. Problemlos kann eine Auslegung oder ein Teilstück formuliert sein als eine persönliche Anrede an Jesus in Form des Gebetes. Oder die Auslegung kann geformt sein als eine Rede Jesu selbst, auch als Aufruf an eine Gruppe – z. B. „liebe Christen!“577 – oder an ihre, der Verfasserin, eigene Person. Dies ist ein Zeichen dafür, daß ihre Darlegungen nicht monologisch sind und kein ,Herzenserguß‘, im Sinne einer Rede nur mit dem eigenen Ich, sondern daß sie einer Zwiesprache mit dem neutestamentlichen Text entstammen und für jeden Leser verständlich sein wollen. Doch ihre Sprache ist, wie in ihren Gedichten, so in ihren Prosa-Texten nicht argumentativ, sie spricht nicht ein verstandesmäßiges, gar kritisches Nachdenken an. Sie intendiert nicht, durch Behauptungen samt deren Begründung nachvollziehbar oder plausibel zu sein. Auch beruft sie sich nicht zwecks Absicherung einer Äußerung auf eine Autorität oder, unentfaltet, auf ein Bibelzitat. Ihre Sprache richtet sich ganz unmittelbar, und ohne eine reflektierte Absicht, auf das Herz und Gemüt. Diese will sie bewegen. Insofern könnte man feststellend sagen, ihre Sprache ist ,emotional‘; sie äußert sich, gerade auch in ihren Prosa-Texten, in den ,Betrachtungen‘, in einem poetischen Stil. 574 Von dem „Kuß“ beim Empfang des Abendmals schreibt sie, im Unterschied zum Judas-Kuß: „Es ist nicht falsch, weil er aus dem innersten herzensgrund kommet.“ (SW9, S. 140) Dieser Satz dürfte sinngemäß für alle ihre Äußerungen gelten. 575 SW 10, S. 839. Doch damit ist das, was von Greiffenberg ausführt, noch lange keine „Herzensergiessung“ im Sinne eines ziellosen Verlautens. 576 SW 9, S. 323 f. (Wieder wird im folgenden auf dieses Werk nur mit Angabe der Seitenzahl verwiesen.) 577 S. 267.

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Sie will das Herz bewegen. Und das Mittel dazu ist ihr die Beschreibung. Sie beschreibt und nur beschreibt – doch sogleich breitet sie das Beschriebene aus, malt es aus: wortreich durch Bilder und durch Worte vergleichbarer Bedeutung. Nicht etwa nur ein vergleichbares Bild wird angeführt, sondern zumeist assoziativ eine Mehrzahl von Bildern, Metaphern und bedeutungsähnlichen Wörtern.578 Besonders auffällig ist die metaphernreiche Deutung des Jesus-Namens, der so gerade mit seinem Eigennamen zu nennen, vermieden wird.579 So ist das auch ein Ausdruck von Hochachtung und von Liebe zu Jesus, der für die Verfasserin wirklich ihr nur zu respektierende Andere und eben nicht zu vereinnahmen ist. Man wird sagen können: Wo die Sprache von Greiffenberg überzeugt, da überzeugt sie durch ihre Eindrücklichkeit. Und selbstverständlich ist ihr die Intention zu überzeugen eigen. Insofern ist sie eindringlich oder emphatisch. Nie ist, was sie darlegt, verschwommen; immer gibt sie der theologischen Überzeugung klaren Ausdruck. Häufig äußert sie sich überschwenglich oder euphorisch, und steigert sie sich in Superlativen. Doch diese Euphorie ist, wie ihr gesamter Stil, nicht manieriert und gänzlich uneitel.580 – Carl Lemcke 578 Dafür sei ein Beispiel angeführt: Bei Jesu Seligpreisung derer, die „reines Herzens sind“, deutet von Greiffenberg das aus, was ein „reines Herz“ ist: „Wollen wir […] selbige (die Hertzen), als ein weisses Tuch, Leinwand, oder Leingewand betrachten und säubern, so lasset uns solche einweyhen“ [= einweichen] „in unsere Buß=Trähnen: sehtel[n] [= mit Laugen bearbeiten], „oder sieden“ [= zum Kochen bringen] „mit der scharffen Laugen des Gesetzes, einäschern mit der Busses=Asche, reiben mit der Säifen“ [= der Seife] „der Erkännt= und Bekänntnus unserer Sünden, [ein]bläuen mit dem Hammer der Entschlagung“ [= der Entsagung] „alles irdisch= und eytelen; schwänken in dem Blut und Wunden JESU Christi, daß sie Schnee=weiß werden; aufhängen an der Sonne der Gerechtigkeit unsers Heylandes, daß sie trucken“ [= trocken] „und die Thränen abgewischet werden; dann manget“ [in einer Mangel bearbeiten] „und glättet“ [= glatt machen] „sie mit der Vollbereitung des Heil. Geistes, daß sie hell=glänzend, und leuchtend werden; parfumiret“ [= mit Duftwasser versehen] „sie mit den Geruch und Spräng=Wassern von Tugend=Blumen, und übergebet sie samt mir unserm Heyland“ (SW 7 = Übrige Lebensbetrachtungen, S. 15). – Die Reinigung von Sünden deutet von Greiffenberg als einen Waschvorgang, endend in einer Selbstübergabe an den „Heyland“. Das ist ein erneutes Beispiel, wie sehr sie bemüht ist, einen geistigen Vorgang, die Reinigung oder Befreiung von Sünden, sinnlich real auszudeuten, damit er nicht, ,entwirklicht‘, fälschlich ,spiritualisiert‘ wird. (Zum Wort „Sehteln“, wiedergegeben als „mit Laugen bearbeiten“, siehe: Johannes Andreas Schmeller, Bayerisches Wörterbuch, Bd. II, München 21872, S. 218.) 579 Zum Beispiel: Zur neutestamentlichen Notiz, wonach Jesus nach dem letzten Passahmahl mit seinen Jüngern hinaus an den Oelberg ging, legt die Verfasserin dar: „Der himmliche Friedenfürst, gienge gleichsam in sein Element; das fried=bringende Noah=Täublein, in den Oel=hayn, ein hoffnung=reiches Zweiglein zu bringen. Die Barmherzigkeit gieng in ihr eigenbares“ [= Eigentümliches], „in den Oel=garten. Das ist gar was natürliches, daß sich gleiches zu gleichen gesellet, gleich gleiches sucht. Aber dieses“ hier „übertrifft die Natur und alle aussprechungen“ [= alles, was man darüber aussprechen kann], „daß es, in dem lindesten“ [= sanftesten] „Oelgarten, der höchsten Lindigkeit so hart ergehet“(S. 68). 580 Ein Beispiel für die Euphorie und Überschwenglichkeit: Zum Judas-Kuß führt die Autorin u. a. aus: „Und wie war es müglich, daß die Erz=treue“ [= die völlige Treue, d.i. Jesus] „von dieser Lippen=vipper“ [= Lippen-Schlange, d.i. Judas] „sich konte anrühren lassen? Ach der aller

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5.5 Die Eigenart der Frömmigkeits-Theologie

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charakterisiert von Greiffenberg so: „Sie ist so kühn, gedankenvoll, feurig, oft so concentriert und so schlagend einfach, daß sie mit Gryhius die tiefste, charaktervollste Kraft ihrer Zeit in Deutschland genannt werden kann.“581 Frei und unangestrengt gibt sich ihr Redefluß. Mitunter jedoch ist er fast überbordend, so daß der Eindruck aufkommen kann, es sei für das, was zu sagen ist, nie genug an Bildern und Umschreibungen. Doch so ist auch zum Ausdruck gebracht, daß sich die Sprache, ihre Sprache, Gott und Jesus und der Jesusliebe gegenüber nicht selbst genügt – was die Autorin wieder und wieder selbst hervorhebt. Bezeichnend für den poetischen Stil ihrer Prosa=Texte dürfte der problemlose Übergang von der Prosa zu einem Gedicht sein: Im Fluß ihrer Auslegung des Berichts, wonach alle Jünger bei der Gefangennahme Jesu innigste heilige küße=zweck, auf den sich alle herzen, durch die lefzen“ [= Lippen] „auftrucken solten, wird mit dem verräterey=gift beschmieret. Der, als ein Magnet, die innerste seelen=liebes=kräfte an sich ziehet, muß sich hier mit der geitzen=gall“ [= Galle des Geizes] „besudeln lassen. […] „Ach! du küße=süßester HErr JEsu! warum ist nicht mir erlaubt worden, dich auf Erden zu küssen? zwar als die unwürdigste Sünderin, doch auch, als deine treuherzigste Liebhaberin. Ach! es wären alle lieb= und lebens=geister auf meine Lippen geflogen, und hätten sich in deinen mund eingeküsset. Die seele wäre an deinen lippen hangen geblieben, wie manche gar zu gierige Biene, den angel“ [= Stachel] „in der blume lässet. Ich hätte, in dieser küße=süßheit, der ganzen welt vergessen, meines lebens, auch gar des Himmels: weil das vor aller welt, leben und himmel gehet, im see der Gottheit schwimmen, und den alle himmel umfangenden“ [d.i. Jesus] „in mund haben.“ – „Ob es aber auf diese weise nicht seyn können, ist mir doch im hoch=heiligen Abendmahl erlaubet, dich leiblich, wiewol unsichtbar, unter Brod und wein zu küssen. Ach! da nimm ich dich, mein Erz=herz“ [= wahres Herz]! „gar in mund und ins herze, küße und isse dich mit milion wallenden liebes=brünsten. Alle adern umarmen, alle blutströpflein küssen dich. Die Geisterlein halten einen springenden Jubel=reyen, das mark und gehirne siedet und steiget, vor inniger lieb=bewegung. Kurz: alles, was in mir ist, herzet und küsst dich, daß mein ganzes wesen ein kuß wird, und solcher in dich gehet. […]“ – „Allein, du auserlesnestes küße=ziel! gib, daß er [sc. der Kuß] auch den [ge]schmack der guten werke habe.“ Im folgenden ist weiter davon die Rede, „daß das innerliche lieb=zitterende herz=ansetzen“ [= im Herzen zu tun Beginnende] „auch den äuserlichen nächsten=liebenden nachdruk habe“ – und daß die „Freundin“ Jesu auch „in lezter Lebens=stunde“ ihre „seele in deine [sc. Jesu] „seiten[wunde]“ und ihren „mund in deine Wunden verküsse[n]“ will. (S. 139 – 141) 581 Ders. Von Opitz bis Klopstock. Ein Beitrag zur Geschichte der deutschen Dichtung. Neue Ausgabe des ersten Bandes von Lemckes Geschichte der deutschen Literatur. Leipzig 1882, S. 287. Zitiert nach: M.-L. Wolfskehl, Jesusminne (wie oben S. 91 mit Anm. 314), S. 148 f Anm. 139. M.-L. Wolfskehl führt hier aus: „In den meisten Literaturgeschichten ist sie [sc. von Greiffenberg] nur flüchtig erwähnt, Carl Lemcke ist der Einzige, der in seiner Darstellung der deutschen Literatur […] näher auf sie eingeht.“ Über das oben Angeführte hinaus sei von C. Lemcke zitiert: „Sie ist ein bedeutender, aus innerem Trieb und auch innerer Fülle dichtender, nachdenklicher, klarer Geist. Unter ihren 250 Sonetten ist natürlich Vieles weniger oder wenig ansprechend, aber nirgends ist oberflächliches Spiel; Vieles ist tief, kräftig, Manches großartig in Bild und Gedanken“ (S. 289). „Nach Trefflichem kommen religiöse Erniedrigungen vor Gott im Ungeschmack der Zeit; sie trägt zu stark auf, wird breit und kann kein Ende finden. Der organisch sich entwickelnde Inhalt fehlt“ (S. 290). „Catharina Reg. von Greiffenberg übertrifft an energischer Kraft alle ihre Mitdichter, Rist, Zesen, Schottel, Birken, Neumark u.s.w.“ (S. 291).

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5. Die Passionsbetrachtungen

fliehen, aus Angst, leiden zu müssen, fallen der Verfasserin die Reimworte ein: „um Jesu willen leiden, ist ein Himmel=voller freuden“. Und das nimmt sie zum Anlaß, sogleich ein neunstrophisches Gedicht folgen zu lassen, das in jeder Strophe mit dem zitierten Reim schließt.582 Wie nicht anders zu erwarten, fließen ihr bei der Auslegung eines neutestamentlichen Satzes häufig auch Sätze lutherischer Lehre ein. Leicht wird man feststellen, daß sie mit keiner Äußerung der „orthodox“ lutherischen Lehre direkt widerspricht. Aber kein Satz lutherischer Lehre wird von ihr einfach, wie eine Floskel, übernommen; jeder wird in ihren Gedankengang eingeordnet und so von ihr geformt. Alles, was sie schreibt, enthält eben ihre innere Überzeugung. Und darum ist es von präsentischer Unmittelbarkeit. Eine Lehr-Absicherung, einen Nachweis ihrer ,Rechtgläubigkeit‘, also eine Berufung auf ein offizielles Lehrdokument hat sie, die eben kein Amt in der etablierten, kirchlichen Theologie innehatte, nicht nötig. Sie mußte sich vielmehr als Frau ein Rederecht in Sachen der Theologie erst erstreiten. In einer modernen Zeit, in der die gefühlte Erlebnisqualität als der höchste Maßstab in der Literaturwissenschaft galt, würdigt M.-L. Wolfskehl den Stil der von Greiffenbergischen Dichtungen so: „Den dichterisch stärksten Ausdruck […] für diese Spannung zwischen der Macht des Gefühlserlebnisses und der Unfähigkeit, es in Worte zu kleiden, findet sich bei Catharina Regina von Greiffenberg […]. Ihre Dichtungen sind, wie wenige des 17. Jahrhunderts, in ihrer starken Dynamik, die fast mit Notwendigkeit immer wieder zum hyperbolischen Ausdruck, zur Antithese und allen Arten dynamischer Symbolik drängt, für das großgeschwungene Gefühlspathos des protestantischen Hochbarock beispielhaft; und was noch wichtiger ist: dieses Pathos ist trotz der aufgesteilten Sprache, die zuweilen ins Preziöse abgleitet und trotz des im ganzen stark intellektuellen Einschlags kein ,kaltes Feuer‘ ist, nicht, wie so häufig im Barock, aus ästhetischen Gestaltungsprinzipien ,gemacht‘, sondern die höchst bezeichnende Spiegelung einer ungeheuer intensiven Erlebniskraft. […] Selten ist in der geistlichen Lyrik des Barock mit solchem Nachdruck immer wieder gerade dieses Ergriffensein von dem Myterium des göttlichen Wesens, das Staunen und die Bewunderung, sowie das Ringen um die Objektivierung des Wunders im Wort geschildert, selten sind so rauschhafte Lob- und Dankesstrophen gesprochen worden.“583 In Abgrenzung gegen bestimmte Meinungen in der Sekundärliteratur sei noch bemerkt: Ist ihr Stil „allegorisch“? Nun in unsrer Zeit wird „allegorisch“ zumeist verstanden im Sinne von „spiritualisierend“. Wird im Neuen Testament be582 S. 159 und S. 160 – 162. Vgl. auch den Übergang von der Prosa zum Gedicht: „Ich kann vor lauter Liebe und Bewegung, nicht fortreden, will demnach die Geistes=Kräfte, zu erholen, diese Betrachtung mit Singen unterbrechen:“ Es folgt ein Gedicht mit 22 Strophen „vom H. Nachtmahl“ (S. 43 und S. 43 – 46). Vgl. auch den Übergang zum Gedicht auf S. 133 u. S. 274. 583 Dies., Jesusmine (wie oben S. 91 mit Anm. 314), S. 89.

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richtet, daß Jesus einem Tauben das Ohr geöffnet habe, so wird das gelegentlich auf das geistige Öffnen des Ohres eines Predigthörers bezogen – und diese Übertragung als „allegorisch“ oder „spiritualisierend“ bezeichnet. Zu von Greiffenbergs Zeiten nannte man im Luthertum jede Anwendung des in der Bibel Angeführten auf die gegenwärtigen Menschen und auf die einzelne Person „allegorisch“.584 In diesem damaligen Sinne sind die „Betrachtungen“ von Greiffenberg so gut wie insgesamt „allegorisch“. Ist ihr Stil „symbolisch“ oder „metaphorisch“? Nach meinem Verständnis kann nur ein Wort „metaphorisch“ und können nur Worte oder ein Satz „symbolisch“ sein, niemals jedoch ein ganzer Stil. In der gegenwärtigen Sekundärliteratur jedoch werden die genannten beiden Ausdrücke oft ins Unbestimmte überzogen. Bei jedem „Symbol“ muß gefragt werden können: „symbolisch“ wofür? Steht in der Bibel, daß diejenigen die „auf den Herrn“ ausharrend warten, „neue Kraft“ erlangen, „daß sie auffahren mit Flügeln wie Adler“585, so ist auf den sinnlich wahrnehmbaren, ,realen‘ Adler Bezug genommen, und steht der mit seiner Kraft als „Symbol“ für die „neue Kraft“ derer, die auf Gott warten, ausharrend. „Symbolisch“ ist, wenn etwas sinnlich wahrnehmbar Reales über sich hinaus auf eine geistige Wirklichkeit bezogen ist, für sie steht, zu deren Erläuterung. – Vieles einzelnes Bestimmtes ist „symbolisch“ oder steht als „Metapher“ bei von Greiffenberg; aber kein Gedicht, kein Abschnitt ihrer Prosa kann als „symbolisch“ bezeichnet werden. Sind ihre Texte „emblematisch“? Weder ihre Gedichte noch ihre ,Betrachtungen‘ – die Kupferbilder zum Eingang ausgenommen – sind „emblematisch“, wenn man diese Bezeichnung nicht grundlos überdehnt. An Gedichtversen oder an Abschnitten der Prosa, die den Regeln der Rhetorik folgen, ist mir nichts Nennenswertes aufgefallen.586 Abschließend sei gesagt: In ihrem Stil, nennen wir ihn „poetisch“, und mithin in ihrer Sprache unterscheidet sich die „Passion-Betrachtung“ von Greiffenbergs grundlegend und unverkennbar von dem Kanon hergebrachter, lutherischer Passionsauslegungen.587 584 Dem sog. vierfachen Schriftsinn zufolge. 585 Jes. 40, 31. Ebenso in Joachim Neanders Choral (aus dem Jahre 1680) „Lobet den Herren, den mächtigen König der Ehren“, in der zweiten Strophe „der dich auf Adlers Fittichen sicher geführet“ (EG 317, 2) – und bei von Greiffenberg steht: „Auf! auf! nehmt Adlers=Augen“ (S. 259). Die „Adlers Augen“ stehen hier, wie der Fortgang erweist, „symbolisch“ für den klaren, durch nichts sich abwenden lassenden Blick des Glaubens. Doch das läßt sich nicht gleichsetzen: Nicht sind die Adlers Augen eo ipso solche des Glaubens. Nur aus dem Kontext und aus einem Vergleich kann sich das ergeben. 586 Allenfalls selten formuliert von Greiffenberg rhetorisch. Die Auslegung des letzten neutestamentlichen Textes in der 5. ,Betrachtung‘ ist durchzogen von Fragen, großteils rhetorischer Art (S. 265 – 271). 587 Dem theologischen Inhalt und dessen dichterischer Ausführung nach haben von Greiffenbergs Sonette und Gedichte, sowie ihre ,Betrachtungen‘ mit dem Pietismus nichts zu tun. Hingegen behauptet Conrad Wiedemann: „Nicht ohne Berechtigung hat man sie als eine Vorläuferin des Pietismus bezeichnet.“ (Ders., Engel, Geist und Feuer. Zum Dichterselbstverständnis bei Jo-

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5. Die Passionsbetrachtungen

5.6 Die fünfte Betrachtung Diese „Betrachtung“ hat zum Gegenstand Jesu Verhör vor dem Hohen Rat, mit seinem Bekenntnis als Christus. Zwei Schwerpunkte, schon dem Umfang nach, setzt die Autorin: die Reue des Petrus nach dem Verrat und Jesu Verhöhnung durch den Hohen Rat nach seinem Selbstbekenntnis. – Ihre Auslegung setzt ein bei dem neutestamentlichen Bericht von Jesu Fesselung oder ,Bindung‘ bei seiner Gefangennahme. „Sie binden den Erlöser. Der, dessen macht ungebunden, lässet sich hier mit stricken binden: uns von den banden der höllen und des todes zu befreyen.“588 Die Autorin stellt die naheliegende Frage, wie das denn sein kann, daß der „Erlöser“, Jesus Christus, der doch, Gott gleich, Gott ist, von Menschen gebunden werden kann. Um auf diese Frage zu antworten, erklärt sie – mittels der dogmatisch für Jesus Christus festgelegten Zwei-Naturen-Lehre – die Liebe Jesu Christi zu uns Menschen zum tätigen Subjekt über die Gottheit und Menschheit Jesu Christi. Die „Liebe hielte zurück die stralen der Gottheit, und bewegte die Allmacht, daß sie zur bemächtigung des Allmächtigen dienete.“589 M. a. W., die Liebe Jesu Christi ,hielt‘ die Gottheit von ihrem Wirken ,zurück‘, daß sie nicht wie „feuer“ den „hanf“ der Fesseln verbrennt und so die Fesselung Jesu uns zugute verhindert. Sie, diese Liebe, „bewegte die Allmacht“ Gottes dazu, daß diese den „Allmächtigen“ [sc. Gott oder Jesus als Gott] dahin bringt, seine Allmacht zurückzuhalten, so daß Jesus Christus gebunden wird uns zugute, zu unserer Befreiung. – Wie wir hören, steht die Liebe Jesu Christi zu uns über seiner Gottheit und Menschheit. Sie bewegt die Gottheit. Sie läßt sich nicht aufteilen auf zwei „Naturen“. Die Autorin kann formulieren: „O unerreichliche“ [= überreiche], „unvergleichliche, ja GOtt selbst übertreffende Liebe.“590 In den weiteren Ausführungen dieser ,Betrachtung‘ steht: „Die eigenbare Selbständigkeit der Göttlichen glori, machte ihn in diesem schmachstand bestehen: sonst wäre es solcher unschuld unerleidlich gewesen.“591 Anders gesagt: ,Die Jesu Christi zu eigen seiende Selbständigkeit seiner Gottheit befähigte ihn, den ihm zugefügten Zustand der Schmach oder Schmähung – der Verhöhnung durch den Hohen Rat – auszuhalten und zu bestehen, sonst wäre ein solcher Zustand für einen Unschuldigen unerträglich gewesen‘. Die Gottheit gibt die Kraft zu bestehen, was ihm als Mensch (oder in seiner Menschheit) an Schmähung angetan wird. Im Text heißt es weiter : „Die selbste Herrlichkeits=Natur, wirkte die möglichkeit, in dero=unfähiger“ [= in derart

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hann Klaj, Catharina von Greiffenberg und Quirinus Kuhlmann; in: Literatur und Geistesgeschichte. Festgabe für Heinz Otto Burger. Hrsg. v. Reinhold Grimm u. Conrad Wiedemann. Berlin 1968, S. 85 – 109; Zitat: S. 102. S. 178. S. 179. S. 417. S. 207.

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5.6 Die fünfte Betrachtung

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zu ertragen unfähiger] „schmach zu bestehen. Seine Gottheit und Menschheit, wird aus diesem jammerstande […] erkennet. Als GOtt, kunte ers nicht leiden; als Mensch nicht erleiden.“592 – Auf diese Weise umgeht von Greiffenberg das traditionelle Lehrstück von der Leidensunfähigkeit Gottes und das von der unbestimmbaren Allmacht Gottes, ohne direkt zu widersprechen. Nach ihr ist Jesu Christi Leiden gott-menschlich zugleich. Und das alles stellt ihr zufolge einen „[Be-]Schluß der Ewigkeit“ dar.593 Durchgehend, aber nicht als ein zusammenhängendes Lehrstück, nimmt die Autorin in so gut wie jeder Auslegung der neutestamentlichen Passionsgeschichte Formulierungen der traditionellen dogmatischen Lehre über Jesu Christi Passion und Tod auf. Diese traditionelle Lehre sei kurz zusammenfassend wiedergegeben: Sie ist die Lehre vom ,stellvertretenden Strafleiden‘ und vom ,Opfertod Jesu Christi‘ zur Genugtuung (oder zur Satisfaktion) Gottes des Vaters und zu unsrer Erlösung.594 Danach hat die Sünde der Menschen, hervorgegangen aus dem „Sündenfall“ der ersten Menschen, als Übertretung der Gebote Gottes die Strafe des Todes verdient, wie Gott sie vorweg angedroht hat. Die Täter der Sünde, alle Menschen, sind folglich des Todes schuldig. Die Ehre Gottes, aufruhend auf seiner Wahrhaftigkeit, fordert, daß diese Sündenstrafe nicht nur angedroht, sondern auch verwirklicht, durchgeführt wird – am Ende der Tage mit seinem Endgericht endgültig. Darüber wacht Gottes Zorn. Doch solche Exekution der Strafe käme der totalen Vernichtung der Menschheit gleich, und ihre Erschaffung erwiese sich als sinnlos. In dieser Schrecken erregenden Notlage – für Gott bedeutet sie: strafen zu müssen – kommt aus Liebe zu uns Jesus Christus, Gottes Sohn, zu uns, und das heißt, in unsere Sünden- und Todesnot. Er kommt zu uns und nimmt auf sich, was wir verdient haben, um uns davon zu befreien. Er nimmt die Sündenschuld auf sich, indem er sie durch sein unschuldiges Leiden und durch seinen ,Opfertod‘ ,abbüßt‘, tilgt – und so der Ehre Gottes Genugtuung leistet, Gottes Zorn beruhigt, stillt und Gott mit sich ,aussöhnt‘. „Was JEsus erlitten, haben wir verdienet. Was er verdienet, haben wir zu geniessen.“595 Unermüdlich hebt von Greiffenberg hervor, daß alles, was Jesus Christus ist und tut, uns zugute ist – obschon wir doch die „Ursache“ seiner Leidensqual und seiner Tötung sind. Es ist alles, was Jesus Christus unter uns ist und tut, getan, um uns zu erlösen, um uns vom Endgericht, von der endgültigen ,Abrechnung‘ unsrer Taten zu befreien.596 Er ist der „Mensch, der in der höhe

592 S. 207 f. Nicht „erleiden“ meint hier nicht aushalten, nicht ertragen. Vgl. S. 180: Jesus ist der, „dem die menschheit zum Leiden, die Gottheit zum erleiden, dienet[..]“. 593 S. 225. 594 Für jede einzelne, im folgenden genannte Aussage dieser Lehre ließen sich aus den Schriften von Greiffenbergs eine Reihe von Belegen anführen. 595 S. 225. 596 Vgl. S. 264: Jesus ist der, der uns „von GOttes strengen Urteil und Gericht erlösen soll.“

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5. Die Passionsbetrachtungen

GOtt der HErr ist,“ der den ihm zugefügten Tod auf sich nimmt, auf daß er „allen menschen, durch sein sterben, das Leben brächte“.597 Ein Teilstück des von Greiffenbergischen Textes sei als ein Beispiel, diese Thematik abschließend, zitiert: „Der, durch die sünde, an ihrer ehre, unendlich verlezten Majestät GOttes, muste ein völliger abtrag“ [= Entschädigung] „und vergnügung“ [= Genugtuung, Zufriedenstellung] „geschehen. Weil nun der HErr Christus, aus ewig=unergründlicher Liebe, die ersetzung“ [= Ersatzleistung] „des menschlichen=fals“ [= des Sündenfalls] „und die versöhnung GOttes auf sich genommen“ hat, „als[o] hat er“ das Gift der Sünde „heilen und versöhnen wollen.“ Und von Greiffenberg zieht nun diese Lehre in ihrem den Kontrast bevorzugenden Stil zusammen zur antithetischen Aussage: „O unerhörte“ [= unfaßliche] „Liebe! er“ [sc. Christus] „vergnüget“ [= tut genug] „der ehre der Gerechtigkeit“ Gottes, „mit verspottung seiner eigenen.“ M.a.W., Christus leistet der Ehre der göttlichen Gerechtigkeit Genugtuung durch Aufsichnehmen der ihm angetanen Verspottung. „Weil er nicht kan aufhören, GOtt zu seyn, hat er angefangen, mensch zu seyn: um fähig zu werden, der Gerechtigkeit durch seine schmach abtrag zu leisten. Die Allmacht die nicht konte die Gerechtigkeit verkleinern, wirkte eine schickung“ [= ein Zusammenkommen], „daß sie“ [sc. die Allmacht] „selbige“ [sc. die Gerechtigkeit] „überschwänglich erfüllen, und doch der güte eine genügen thun konte. Sie wollte“ nicht „die gnaden=sonne durch sünden verdunklen lassen. Der allerreineste“ [= Christus] „wollte lieber beschmitzet“ [= beschmutzt] „werden, als ein einiges sünden=flecklein in deren abwaschung überlassen“ [= auslassen].598 Das Zitierte sei umschrieben: Die Gerechtigkeit Gottes, die auf die Strafe der Menschen als Sünder besteht, könnte sehr wohl die ,Gnadensonne‘ verdunkeln. Um das zu verhindern, könnte man auf den Einfall kommen, der Gnadensonne oder der Güte Gottes auch (!) eine Stelle einzuräumen und dazu die Gerechtigkeit einzuschränken, zu reduzieren: was man doch mit Gottes absoluter Gerechtigkeit nicht machen kann. Folglich mußte Christus, indem er die ,Schmach‘ – ihm angetan von der Sünde, wie von der Verspottung – trägt, der Gerechtigkeit Gottes Genüge tun oder sie zufriedenstellen und dadurch erreichen, daß die Gnadensonne der Güte Gottes uneingeschränkt und unverhindert scheinen kann. Christus nahm den ,Schmutz‘ der Sünde auf sich, damit jedes „sünden=flecklein“ bei jedem Menschen davon frei, gereinigt sei. In diesem Sinne befriedigt Jesus Christus die Ehre der Gerechtigkeit Gottes – gemäß dem, was ihr zusteht, nämlich die Todesstrafe für die Sünde – durch seine Verspottung, durch sein Aufsichnehmen der ihm angetanen ,Schmach‘.

597 S. 180. Vgl. S. 249 f: Er wird „zum tode“ gebracht, „damit uns“ ,in sünden todten‘ „zum leben geholfen werden.“ 598 S. 233 f. In der Zeile „daß sie selbige überschwänglich erfüllen“ ist das Wort „selbige“ aus „selbigen“ konjiziert.

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So werden bei von Greiffenberg die Passion, das Sterben Jesu Christi und sein Tod zum äußersten Stadium seiner ,Entäußerung‘, seiner Selbsterniedrigung in seinem Kommen zu uns, in seiner Menschwerdung: „Hier stehet die klareste Gottheit im äusersten äuserungs=stand.“599 Kommen wir wieder auf den Anfang dieser Betrachtung zurück! Wie auch sonst wendet von Greiffenberg das hier aus dem Neuen Testament Zitierte, wonach Jesus mit ,banden‘ gefangen genommen wird, sogleich auf sich an: „Ach! du, durch deine bande mich verbindender Erlöser! löse auf das band meiner zunge, dich in gebunden= und ungebundener rede herrlich zu preisen. Gelobet und gebenedeiet seyst du, gebundener Wunderbar, daß du uns, durch deine bande, […] aus dem irr=garten der sünden loswindest, und zu dir in den Himmel ziehest.“600 Und parallel dazu heißt es in der Danksagung am Schluß: „Ach allerliebster HErr Jesu! wie unendlich bin ich dir für deine bande verbunden.“601 Und in anderem Zusammenhang, bei der Verurteilung Jesu zu Tode durch den Hohen Rat, bekennt die Autorin: „O sünde! sünde, wie kränkest du mich, weil du meinen JEsum also gekränket. Ach! daß ich […] nimmermehr die geringste sünde gedenken will, geschweigen begehen könte. Der wille ist wol da, in überflüssiger menge: aber ach! ach! die that will so gar nicht folgen. […] HErr JEsu! der du um meiner sünde willen zum tode verdammet worden, laß mir ja derer“ [sc. der Sünden] „keine verdammlich seyn. Den schmerzen darüber“ [sc. über die Sünden], „den verdruß, und die angst, will ich gerne leiden: nur die ewige seelen=pein laß aufgehoben seyn. Gib auch, daß deren“ [sc. der Sünden] „immer weniger werden, und sie, durch das hitzige“ [= brennende] „Liebes=feuer gegen dir“ [= dich], „allgemach ausgetrucknet und vertilget werden.“602 Zu Jesu an ihm verübten ,Schmähungen‘ schreibt die Verfasserin: „Genug sei, daß ich an solchem“ [sc. an den Schmähungen] „das höchste mißfallen, mit ihm“ [sc. Jesus] „das gröste mitleiden, und über meine sünde die herzlichste reue habe, die ihm solche schmach erreget. Ach! wie weh thut es mir,“ im Blick „auf mich selber, daß ich eine ursach seiner qual gewesen. […] Diß weistu, mein Herz=erforscher! […] wieviel millionenmal ich solches“ [sc. das „verlangen, […] nimmermehr […] wider dich zu sündigen“] „erneuere, und zwar allemal mit vermehrter heftig= und inbrünstigkeit. Aber ach! ich werde gleichwol stündlich übereilet, begehe und unterlasse tausend sachen, die meinem vornehmen und verlangen entgegen sind. […] Wann ich alles unglück großmütig überwunden, und über keines die augen genetzet“ [= befeuchtet] habe, „so steigen mir die tränen, wegen meiner sünden, hinein: und das nur darum, daß ich dich, mein süßester JESU! darmit gemartert und beleidigt habe.“603 Ach, „wann ich nur dessen loß wäre, was dich gepeiniget 599 600 601 602 603

S. 237. S. 178 f. S. 271. S. 231 f. S. 245 f.

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5. Die Passionsbetrachtungen

hat, nämlich der“ [= die] „Sünde. […] Ach! warum kann ich nicht den willen“, die Sünde los zu werden, „in die werke, die begier in die kräfte verwandeln? Doch ist genug, wann du damit vergnügt bist“ [= wenn du dich damit begnügest]. „Ich will mich an deiner Gnade genügen lassen“ [= damit zufrieden geben] – „doch mit innigster bitte, daß du, meiner sünden wegen, nicht verschmehen wollest, das brinstige [= inbrünstige, höchst intensive] „lob und preis, so ich, mit zitternder flammen=Liebe, dir vor“ [= für] „dein allerheiligst= und schmerzlichstes Leiden gibe.“604 Offensichtlich ist: Luthers Forderung, daß in der Passions-Betrachtung das erste und Entscheidende nicht das ,Mitleid‘ (die „compassio“), sondern die Erkenntnis der eigenen Sünde ist, hat von Greiffenberg wirklich zu Herzen genommen.605 Aber nach ihrer Auffassung ist die Sündenerkenntnis, wirklich von Herzen, derart dringend und geistig schmerzlich, daß bei ihr nicht stehen geblieben werden kann, sondern der Erkennende überläuft zur Gnade, zum ,Trost des Evangeliums‘. So ist das ja auch in dem zuletzt angeführten Zitat bereits angeklungen, in dem Satz des Paulus: „Laß dir an meiner Gnade genügen“ (2. Kor. 12, 9). Dazu sei noch eine weitere Äußerung von Greiffenbergs angeführt. Nach dem Spruch Jesu vor dem Hohen Rat, wonach die Menschen ihn sehen werden sitzend „zur rechten hand der Kraft GOttes“606 spricht in der Auslegung der Verfasserin Jesus weiter : „Klaget nicht über eure mängel: sie sind notwendig zu eurer vollkommenheit. […] Ich will euch mit milion[en] küssen die tränen abwischen, die euch meine dienst=unterlassungs=angst aus den Augen getrieben. Ich werde nie stärker bedienet, als duch die seufzer, so über die dabey=befindende schwachheiten ausgestoßen werden. […] Darum seyd getrost! von nun an werdet ihr, des Menschen Sohn, zur Rechten der kraft GOttes sitzen, und euch in seinen“ [= seinem] „herzen und armen, sehen. Indessen“ [= unterdessen] „bin ich bey euch alle tage, und sitze in euren herzen; meine unsichtbare Gewalt übend, biß ihr samt mir zu der geoffenbarten erhebt“ [= erhoben] „werdet.“607 Ein Schwerpunkt dieser ,Betrachtung‘ liegt, wie eingangs gesagt, bei den Darlegungen über die Reue des Petrus nach seinem Verrat Jesu. Für von Greiffenberg ist sie Anlaß, das Thema der Bekehrung und der Sündener604 S. 246 f. 605 Das gilt, obschon sie auch, wie oben eingangs bei Anm. 603 zitiert, von einem „mitleiden“ mit Jesus sprechen kann – übrigens auch von einem ,Mitleiden‘ und ,Mitsterben‘ mit Jesus im Leben eines Menschen (z. B. S. 187 f, 160 – 162, 254, 275). Auch von einem ,Mitleiden‘ Jesu mit seinen ihm Nachfolgenden kann die Autorin sprechen (z. B. S. 251, 256, 262). – Daß das Mitleiden mit dem leidenden Jesus nicht verdienstlich ist und keinen Ablaß einbringt, wie in vorreformatorischen Zeiten gelehrt wurde, muß hier, bei von Greiffenberg, nicht eigens gesagt werden. 606 Zitiert S. 257. 607 S. 263 f. Zur Aussage, die Klagen, die Seufzer über die eigene Unvollkommenheit gehören zur menschlichen Vollkommenheit, siehe auch a. a. O., S. 310.

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kenntnis zu erörtern.608 Wie wir gleich sehen werden, führt sie dies Thema aus, gänzlich ohne Bezug auf die dogmatische Lehre von „Gesetz“ und „Evangelium“ zu nehmen. Heißt es im neutestamentlichen Bericht: ,Jesus sah Petrus an‘609, so legt sie das aus: „O blick! der das eis seiner furcht,610 in liebes=flammen, und die „ahrne“ [= eherne] „verleugnungs=mauer in einen reuigen tränen=see verkehret. […] O blick der hölle! der ihm[..] alle seine höll=senkende“ [= zur Hölle sinkenden] „sünden zu erkennen gab[..]. Aber auch, O blick des Himmels! weil er in solchem“ [sc. im Blick] „die über=himmliche gnade JEsu Christi erblicket hat.“ Jesus Christus „zeiget ihm, in diesem gnaden=blick, als in einem spiegel, sein gütiges herze, und wolte solches bild himmlischer hulde in das seine drucken. Dieser JEsus=blick, war ein rechter meister der Bekehrungs=kunst, ein führer der sinnen zum weg der Seeligkeit, ein verkündiger Göttlicher gnad=gedanken“. […] Die „liebfeurigen augen JEsu Christi thun einen ganzen strahlen=streich auf Petrum, seine Liebe durch liebe wieder zu erwecken und zu bekecken“ [= zu befestigen]. […] „Die lieb= und bekehrung=Geisterlein springen aus den augen JEsu, in Petri augen, und fordern seine seufzer und tränen heraus. […] Dieser stumme Redner“ [d. i. die Augen Jesu] „kündiget ihm sein begangenes unrecht an, und prediget ihm zugleich von der unendlichen GOttes=gnade […]. Der holdseelige gnaden=blick, ist sein Beichtvatter, der ihme die Absolution spricht. […] Er [sc. der Sünder, wie Petrus] anticipiret oder vorempfähet gleichsam die kraft des todes Christi, ehe er geschehen“ ist, „und wird geheilet durch die Wunden“ Christi, „deren ort“ [= Stelle] „selber noch“ zur Zeit des Verrats „heil ist.“611 Der ,Gnadenblick‘ Jesu wirkt, wie wir hören, beides und zugleich: die Sündenerkenntnis im Erschrecken über die eigene Verfehlung, über die eigene Sünde, ausgedrückt in den Tränen über sie – und die Erkenntnis der noch immer geltenden Gnade. So bleibt die Bekehrung nicht außerhalb des Betroffenen, sondern sie ist so beschaffen, daß sie in seinem Inneren geschieht, ihm seine Tränen hervorruft und seine Liebe erweckt. Was da bei Petrus geschehen ist, das „ist ein recht Göttliches gnaden=mirakel,“ und das ist „ein hofnungs=same in aller menschen herzen gesäet, ein trost-liecht in aller welt=seelen angezündet: weil dem Verleugner, solche Gnade widerfahren, daß niemand an solcher [sc. Gnade] zweiflen solle.“612 Es ist der „klare[..] wille[..] GOttes, […] daß kein Mensch verlohren werde, sondern, daß sie [sc. die Menschen] sich bekehren und leben sollen. Niemand verzage, niemand verzweifle, niemand lasse sich seine unwürdigkeit abschröcken.“ Petrus hat es erfahren und kann bekennen: „JEsus hat mich Das mag schon durch ihre Ausführungen in der ,Sieges-Säule‘ (SW 2) nahe liegend sein. Zitiert S. 194. Konjiziert aus „frucht“. Die ,Furcht‘ um sein Leben trieb Petrus zum Verrat. S. 195 – 197. Der Nebensatz zum Schluß „deren ort selber noch heil ist“, sei so umschrieben: ,deren Stelle‘ im Leib Christi zur Zeit des Verrats „selber noch heil ist.“ 612 S. 199. 608 609 610 611

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angeblicket, und in einem blick das ganze werk meiner bekehrung und seeligkeit verrichtet.“613 Wie man sieht, ist nach von Greiffenberg die Bekehrung selber und im ganzen, von der Sündenerkenntnis angefangen, das ,Gnaden-Wunder‘. Was sie in diesem Zusammenhang noch nachdrücklich hervorhebt, ist dies: „Jesus allein“ (!) „hat es [sc. das Werk der Bekehrung und der Seligkeit] gethan, wird und muß es auch thun, so lang die welt stehet.“ Waren das „Petrus gedanken“, so sind es „auch meine gedanken, und aller derer, so der sachen im grund“ [= gründlich] „nachdenken, und ohne parteylichkeit, GOtt die ehre zu geben, begehren.“614 – „Bey dieser bekentnus begehre ich zu sterben; sie wird mein leben überleben, und nach meinem tod in meiner seele, leben, in alle Ewigkeiten:“ dies Bekenntnis „nämlich“, daß Jesus uns „unsre seeligkeit […] erworben“ und „durch sein Evangelium geoffenbaret und darbietet, allen, die sie in waaren Glauben, den er auch selber wirket, annehmen und ergreiffen wollen, lauter, rein und umsonst, aus blosser ur=urspringlicher Liebe und Barmherzigkeit der unendlichen güte der Gottheit; deren wesen vor liebe schier zerbricht, unsers“ [= unser Wesen] „durch wolthun zu erhalten: wie Taulerus schreibet.“615 „Diß ist nicht allein meine, sondern aller derjenigen bekentnus, die jemals seelig worden sind, und seelig werden wollen, daß JESUS (kürzlich zu sagen) der einige“ [= einzige] „mittel=punkt aller Seligkeit und Seeligen sey. Dieses ist auch die bekentnus Petri gewesen, die er hernach in seiner 1. Epistel c.1.v.4.5.6.7. wiederholet“. […] „auf diese bekentnus hat Christus verheissen seine Kirche zu bauen, daß sie die pforten der hölle nicht überwältigen solten“ [= können]. „Dieser grund ist von GOtt selbst geleget und einen andern grund kann niemand legen. Er hat zum grunde, die unergründliche gnade GOttes, den felsen der warheit, die stütze der Ewigkeit“.616 Der ,einzige‘ „usprung[..]“ und die einzige „Erwerbung unserer Seeligkeit“ ist Jesu Christi „verdienst allein:“ durch seinen „tod“ haben „wir das ewige Leben, ja durch dessen blut“ haben „wir einig“ [= einzig] „und allein, und zwar schon von der Taufe an, in der warheit die Seeligkeit empfangen […], „und nur warten“ wir „auf deren offenbarung.“617 Ersichtlich ist, daß diese Hervorhebung des „Jesus allein“ auch eine Abgrenzung gegen die römisch-katholische Theologie ist.618 Bemerkenswert dürfte sein, was von Greiffenberg als „grund“ der Kirche angibt: nämlich die „unergründliche gnade GOttes“ als „den felsen der warheit“ – und wie deut-

613 614 615 616 617 618

S. 199 f. S. 200. S. 201. S. 201 f. S. 203. Vermutlich nicht absichtslos führt die Verfasserin Tauler und den Apostel Petrus als Kronzeugen an. Diese Abgrenzung durch die Betonung des ,allein Christus‘ findet sich auch: S. 124 bei Anm. 508 1. Hälfte; S. 125 bei Anm. 519.

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lich sie ihre Überzeugung ausdrückt, daß wir schon jetzt in der Zeit durch die Taufe „in der warheit die Seeligkeit empfangen haben“. Aber jene Abgrenzung ist ihr auch ein Anlaß, im Gegenzug auf einen Einwand der römisch-katholischen Seite einzugehen. Sie führt an: Mit der Ansicht, daß „alle Seeligkeit dem einigen verdienst Christi, und dem dasselbe ergreiffenden Glauben“ ,zugeleget‘ wird, „verbannte und schlöße“ diese Lehre „aus, die tugenden und guten werke“.619 Das war bereits zu Luthers Zeiten ein Vorwurf der ,altgläubigen‘ oder ,römischen‘ Polemik, mit dem sich Luther und die lutherischen Theologen verschiedentlich auseinandergesetzt haben – was zeigt, daß es für die lutherische Lehre ein Problem war. von Greiffenberg hat in ihren verschiedenen Werken unterschiedliche Gründe gegen diesen Vorwurf vorgebracht. Hier antwortet sie so: „Aber ach nein, keineswegs“ schließt die Alleingeltung des ,Verdienstes Christi‘ im Blick auf unsre Erlangung der ewigen Seligkeit – „tugenden und gute[..] werke“ aus; im Gegenteil: „Das verdienst Christi im Glauben“ erfaßt, wirkt „manches […] stük guter werke“.620 Es kann nämlich keiner „einen eigen[en] zueignungs=gedanken des verdienstes JEsu Christi haben“, ohne daß „eine lieb= oder erwiederungs=begierde in ihm aufsteigen solte.“621 „Also ist […] und bleibet dieser Glaube“ an das Verdienst Christi die „urquelle aller Gottseeligkeit“.622 Jedoch so, in dieser Weise dargelegt, ist ein innerer oder notwendiger Zusammenhang von Glauben an das völlig genügende Verdienst Christi und unser gutes Tun dem Nächsten nicht aufgewiesen. Denn besagter „zueignungs=gedanke[..]“ wirkt – bei von Greiffenberg ohne jeden Zweifel – „eine lieb= oder ewiederungs=begierde“ – aber doch bezogen auf Jesus! Weshalb sollte solch ,Liebebegehren‘ dem Nächsten, einem anderen Menschen, gelten? Ebenso äußert sich die Verfasserin an anderen Stellen der „Passion=Betrachtung“ und in einigen ihrer übrigen Schriften über den Zusammenhang von Glaube und guten Werken, von Gottes- und Nächstenliebe. Mit großem Nachdruck hebt sie die Zusammengehörigkeit von Glaube und den „Tugenden“ samt den „gute[n] Werke[n]“ als unauflöslich hervor: „So wenig die Sonne ohne Strahlen, das Feur ohne Hitz, das Wasser ohne Feuchte ist, so wenig kan auch der Glaube an mich“ [sc. Christus] „ohne Früchte der Tugenden seyn.“623 „Gleichwie man keinen odem holen […] kan, daß man nicht auch Luft dagegen aushauche: also kan man auch nicht, ohne Ehr=ausblasen“ [= ohne Christus mit guten Werken, also ,tätlich‘, zu ehren] Christi „Gnade in sich ziehen. Demnach ist beydes unzertrennlich, durch“ Christus „seelig, und zugleich tugend= dankbar seyn.“624 – Jedoch, klärt der organische Vergleich 619 620 621 622 623 624

S. 204. Ebd. S. 205. S. 206. SW 10, S. 774. A.a.O., S. 775. Es „werden die Tugenden und gute Werke, nicht von der Seeligkeit, sondern nur

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mit dem Atem oder der natürliche mit der Sonne und ihren Strahlen wirklich das hier interessierende Problem, inwiefern denn der Glaube an Jesus Christus mit seinem Ehren Christi und seinem Dank an ihn sich äußert in guten Taten gegenüber einem anderen Menschen? Es sind doch zwei unterschiedliche Adressaten. An anderer Stelle schreibt die Verfasserin: „Wer liebt, der giebt. Die guten Werke sind die Schatten des wahrhaftigen Glaubens, und folgen ihm überall nach. […] Es bedarf keines Zwanges darzu, sondern es ist die freyeste Freywilligkeit“.625 – Wiederum führt die Verfasserin, wie man sieht, einen Vergleich aus der Natur an, wo doch in der Natur sich alles problemlos, gleichsam von selbst, vollzieht. Die Verfasserin findet den hier erfragten Zusammenhang im dankbaren Herzen des Glaubenden: „Ein herzlicher Gottes=Dank, verbindet auch zu herzlicher Nächsten=Liebe. Was Gott zusammenfüget, soll der Mensch nicht scheiden. Weil GOTTuns, zu beyden Lieben, nur ein Herz gegeben, so kan man ihm nicht herzlich danken, wann nicht beyde darinn befindlich sind. Der Dank will das Herze haben, mit allen beschaffenheiten, wie es Gott am aller angenehmsten ist. Nun ist GOTT nichts angenehmer, als die Liebe: welche er selbst ist, auch solche aufs höchste geboten und im äusersten grad geübet hat. So fliesset dann, aus einem herzlichen Dank, das ganze Christliche Leben und die Erfüllung des ganzen Gesezes: welches nichts anderst ist, als herzliche Liebe gegen GOTT und dem Nächsten. Hieraus erhellet, wie so gar alles, an dem Herzen gelegen: wie die Erfüllung des Gesetzes, aus dem Evangelio, und die gute Werke, aus dem Glauben, und aus dem Dank vor“ [= für] „das Leiden Christi, herkommen müssen.“626 Fragen wir wieder : Genügt die eben zitierte Erklärung jenes Zusammenhanges? Es sind das ja immer noch zwei Lieben, zu zwei erheblich verschiedenen Adressaten. Das könnte, wider Willen, auf ein „sowohl als auch“ oder gar auf ein „teils-teils“ hinauslaufen. Was, so sei gefragt, haben Gott und der Nächste, der andere Mensch, miteinander zu tun? Einen bedeutsamen Schritt weiter ist die Autorin gekommen, wenn sie Jesus Christus als „Urquelle aller Liebe“ erkennt: ,Aus Christus‘, dem „Urquell aller Liebe,“ ,schöpfen‘ wir wieder und wieder „neue kräfte“, unsere „Liebsten […] herzlich zu lieben“.627 Und: „Lieb ich ihn“ [sc. Christus als ,die Tugend selbst‘ und als „Brunn aller guten Werke“], „so lieb ich ja alles gutes.“628 – So ist zumindest die Zweiheit im Lieben überwunden. Nach meiner Überzeugung muß die Nächstenliebe in der Gottes- oder

625 626 627 628

von deren Verdienung“ [= Verdienstlichkeit] „ausgeschlossen.“ (A.a.O., S. 774) Nun, wenn der Glaube an Gott oder Christus nicht verdienstlich ist, so sind es Taten eines Menschen aus Glauben herrührend sicherlich auch nicht. SW 3 (Geburtsbetrachtungen), S. 558. SW 10, S. 940 f. A.a.O., S. 828. SW 4 (Geburtsbetrachtungen), S. 914.

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Jesusliebe verankert sein. Etwa so: Da Gott der Gott ist, der alle Menschen, jedem einzelnen zugewandt, liebt, deshalb liebt Gott wirklich nur derjenige, der Gottes Wesen, alle Menschen zu lieben, folgt: der einstimmt in diese umfassende Liebesbewegung Gottes und alle liebt, denen er ein Nächster, ein Nahestehender, ist oder sein kann. – Umgekehrt gesagt: Jeder Andere, dem ich nahe sein kann, ist anzuerkennen so, wie er in seinem Wesen ist, ist zu achten und in diesem Sinne zu lieben als einer, der von Gott geliebt ist, liebesfähig und liebebedürftig ist und so zu Gott gehört, aufgenommen ist in Gottes großer Liebesbewegung zu allem, was lebt. Würde ich den Anderen neben mir nicht so achten und im Achten lieben, würde ich Gott in seiner universalen Liebesbewegung verletzen. Im 1. Johannes–Brief steht: „Gott ist Liebe, und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm.“ (4, 16). In Gott und darum in der Liebe zu Gott gehören Gott und der andere als Nächster zusammen. Kehren wir zu der hier anstehenden, fünften ,Passions–Betrachtung‘ zurück! Aus dem zweiten Schwerpunkt dieser ,Betrachtung‘ über die Verhöhnung Jesu nach seinem Selbstbekenntnis sei nur weniges wiedergegeben; das meiste ist der Sache nach bereits bekannt. Die Frage des Hohenpriesters: „Bist du Christus, der Sohn des hochgelobten GOttes?“ nennt die Autorin „eine hohe, eine wichtige,“ ja „nötige“ Frage, die jedoch der Hohepriester nur „zum deckel seiner schalkheit gebrauchet“.629 Jesu Antwort „ich bins“630 legt sie weitläufig aus, von den alttestamentlichen Verheißungen angefangen. „Ich bins“, der „Messias“, „zwar elend, unansehnlich, spöttlich […] gebunden“, doch dies darum, daß „ich die welt erlösen soll,“ und um „der Menschen heil zu seyn. […] Ihr werdet mich […] sehen, ungehindert aller widerstrebung, sitzen zu rechten hand GOttes. Es ist vergebens, den jenigen hintern wollen, der alles befördern kan. Die flügel der Allmacht, schwingen sich über alle kreise der widersetzung.“631 Den, „den ihr gefangen vor euch stehen sehet,“ werdet ihr sehen „zur rechten hand der kraft GOttes, das ist, im höchsten grad der herrlichkeit, dem allmächtigen GOtt gleich sitzen, und kommen in den wolken des Himmels.“632 „Also gehet der Schluß“ [= Beschluß] „der Ewigkeit, daß der grund=Fels der Warheit, die bekentnus der wahren Gottheit Christi, ihme zum grabstein werden soll: aus welchem aber nochmals, die grundfeste unserer Wiedererstehung und Seeligkeit gebauet worden.“633 Daß alle Mitglieder des Hohen Rates Jesus, aufgrund seines Selbstzeugnisses als Messias, des Todes schuldig sprechen und ihn „verdammen“, darin zeigt sich die schreckliche ,Größe‘ „menschliche[r] blindheit“. O, „wie gar ist menschliche klugheit nichts, ohne das Göttliche Gnaden=Liecht. Ach! so leuchte mir, mein 629 630 631 632 633

S. 218 f. S. 221. S. 222. S. 223. S. 225

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5. Die Passionsbetrachtungen

Seelen=Liecht! daß ich mich ja verirre nicht. O heiliger Geist! komme nimmermehr aus meinem Geist.“634 Als letztes sei noch angeführt, wie sich die Autorin bei der Abfassung ihrer ,Passions-Betrachtung‘ selber versteht: Wenn Gott „alle lebende Creaturen […] zu dienern und werkzeugen seiner Liebe gegen uns“ ,machet‘, „warum sollte er dann nicht, uns armen Weibsbildern, das jenige gönnen, was allen andern Geschöpfen zugelassen, nemlich GOttes Ehre zu vermehren, und werkzeuge der bekehrung zu seyn? […] Und warum sollte dann nicht auch ich zu dem heiligen Werk der Deoglori dienen können? Hat er ein Weib zum werkzeug seiner Menschheit gebraucht, so wird er uns auch zu werkzeugen seines Geistes würdigen.“635 Und in der Schluß-Danksagung schreibt sie: „Zu was“ [= welchem] „hellesten lob=ausschallen verbindet mich dein stillschweigen gegen“ die „falschen“ Zeugen? „Ich will nicht verschweigen, was du mir durch schweigen, für gutes gethan“, [nämlich dich nicht von deinem Weg in den Tod zu unsrem Heil hast abbringen lassen], „sondern von deinen wundern reden, weil“ [= solange] „ein lebendiger Geist meine zunge reget.“636

5.7 Die sechste bis achte Betrachtung Diese drei ,Betrachtungen‘ haben zum Gegenstand Jesu Verhör durch Pilatus, seine zwischenzeitlich erfolgte Auslieferung an Herodes und seine Verurteilung zur Hinrichtung am Kreuz. Die sechste ,Betrachtung‘ ist hauptsächlich befaßt mit Jesu Verhör von Pontius Pilatus nach dem ersten Teil. Die ,Betrachtung‘ beginnt mit der neutestamentlichen Notiz, daß Jesus gefesselt vom Hohenpriester Caiphas weg zu dem römischen „Landpfleger“ (oder Statthalter) Pontius Pilatus überführt wurde. Diese Überstellung Jesu zum Repräsentanten des römischen Imperi634 S. 229. 635 S. 193 f. An späterer Stelle im Zusammenhang mit dem Bericht von den Frauen unter dem Kreuz Jesu schreibt von Greiffenberg: „Das weibliche Geschlecht, ist dem lieben HErrn JEsu allzeit ergeben und anhängig gewesen. Die Furcht (und Liebe) GOttes, wohnet allein bey den auserwehlten Weibern (Spr. 1, V. 15). Ihre Einfalt und Weichherzigkeit“ [= sanfte, aber starke Empfindsamkeit], „machte sie der JEsus=Liebe fähig. Dann was gering und veracht ist vor der Welt, das hat er erwehlet. Was ist aber verachter, als ein Weibsbild? die von vielen gar der Seeligkeit nicht fähig geachtet werden. […] insgemein hat die Gottesfurcht immer mehr platz bey der Weiber Einfalt gefunden, als bey der Männer Arglistigkeit, und sind sie Christo allezeit mehr und häufiger, wie dann diese“ [= die im neutestamentlichen Text erwähnten] „gar aus Galilea, nachgefolget.“ (SW 10, S. 827) Und an einer weiteren Stelle steht, formuliert in direkter Anrede an Jesus: „Daß du nun auch unser Geschlecht nicht verschmähet, sondern deiner Liebe, (welches die ihrige gegen dir“ [= dich] „bezeuget) gewürdigt hast, auch noch, dich liebend[..] lieben zu machen, dasselbe“ [= dasselbe Geschlecht] „und auch mich unwürdigste würdigest: das ist eine Gnade, die allen Dank überwieget, den ich erdenken kan.“ (a. a. O., S. 858 f) 636 S. 272.

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5.7 Die sechste bis achte Betrachtung

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ums deutet von Greiffenberg als ein göttlich notwendiges Anzeichen, daß „nicht allein die Juden, sondern auch die Heyden“ durch Christi ,Leiden‘ „erlöset[..]“ würden – und daß „darum“ auch die Heiden an Christi Leiden „schuld […] haben“ ,mußten‘.637 Die Anklage der Juden, der jüdischen Oberen, gegen Jesus und das daraufhin erfolgende Verhalten des römischen ,Landpflegers‘ Pilatus machen, wie gesagt, den Hauptteil dieser ,Betrachtung‘ aus. Zu fast jedem neutestamentlich überlieferten Satz der Anklage legt die Verfasserin ausführlich dar, daß er auf einer heuchlerischen Falschheit beruht, und worin deren Wesen oder Unwesen als täuschende Verdrehung der Wahrheit aus ,Hinterlist‘ besteht.638 Maßstab ist dabei: „Wie die tugend ihr selbst eigner lohn ist, so ist das laster seine selbst bestraffung.“ – „Der fortgang der Boßheit, würket ihren eigenen untergang. Man kann nichts böses thun, darauf nicht böses leiden komme.“639 Und die Wahrheit, entgegen der Anklage, ist dabei, nach von Greiffenberg, immer, daß Jesus Christus, wahrer Gott von Ewigkeit, in das Elend unsrer Sünde und Todverfallenheit gekommen ist, um uns davon zu erlösen.640 Um dies aufzuzeigen, kann die Verfasserin – im Anschluß an Jesu Selbstbekunden, er sei „Christus und ein König“641 – in einer langen Ausführung Jesu Gottheit beschreiben. Daraus sei zitiert: „Mein Herr JEsu! du bist und bleibest […], so wol ein König, als ein Priester, ewiglich. Deines Reichs wird kein Ende seyn. Du bist ein König aller Könige, ein Herr aller Herren […].“ Mit „recht […] heissest“ du: „der Allerheiligst=durchleuchtigster, Allergroßmächtigster, Unüberwindlichster, Höchster, Ewiger, Einiger, Allmächtiger, Gerechtester, Warhaftigster, Erz=barmherzigster, allein=Reiner, Himmel=milter, und Unvergänglicher, jetzt=Unsichtbarer, und allein Höchstweisester Friede=Fürst und HErr, HERR JESUS von Nazareth, aus dem Wesen seines Vatters, von Ewigkeit gezeugter, im Raht der heiligen Drey=Einigkeit erwälter, den Vättern verheissener, und nun im fleisch erschienener und neugeborner König der Juden, der wunderbare Held zweyer Naturen, GOttes und Marien Sohn, […] unser allergnädigster König der Ehren, Fürst der Herrlichkeit, und Herzog des Lebens, auch einiger allertreuester Heiland, Hoherpriester, Erz=Hirt und Bischoff unserer Seelen. Dir gebüret nicht allein dieser Ehren=Titul, sondern allein alle ehre, mit GOtt dem Vatter und heiligem Geist.“642 – Der falschen Anklage gegenüber legt die Verfasserin immer wieder, gleichsam in einem zweiten Schritt, dar, wie Gott

637 638 639 640 641 642

S. 278. z.B. S. 299. S. 280. z.B. S. 307. S. 300. S. 301 – 303.

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5. Die Passionsbetrachtungen

die Falschheit der Anklage zu unserem Besten wendet und so die Ankläger, gegen deren Willen, als Werkzeuge und Helfer unsrer Erlösung gebraucht.643 Wieder, wie auch sonst, wendet von Greiffenberg eine Erkenntnis – hier die der Falschheit der Anklage – auf sich selbst an: „Süßester JEsu! behüte mein herz vor falschheit und heucheley, als den quellen aller laster[..], […]. Ach! laß doch die lauterste Aufrichtigkeit mein innigsten herz=punkt seyn. Die pureste einfalt, die klareste warheit, und reineste redlichkeit, laß ewig in meinem herzen regieren.“644 Daraus, daß Jesus zur Anklage gegen ihn schweigt und vor Pilatus nur die Hauptfrage nach dem, was er sei, beantwortet, folgt für von Greiffenberg: „Ach! daß wir auch so thun könten, alles verschmerzten und verschwiegen, was unsere eigene person beträfe, und allein die lehr=gründe zu vertheidigen suchten. Hinweg mit eigenen empfindungen! Ein Christ soll, für sich selbst, ganz versteinet seyn, und alle seine empfindungen in der Ehre und Liebe Christi haben. Dort soll er zart, weich und empfindlich seyn; in ihm“ [= in sich] „aber hart, fest, und nichts=achtend. Ach! wer doch die tugenden so wol üben, als erkennen könte!“ [= die Tugenden so gut ausüben könnte, wie er sie erkennt.] „Doch macht die erkenntnus begierig, die begier glaubig, und der glaube oft wirklich, was im verlangen ist“.645 Ausführlich und weit über den jeweiligen neustestamentlichen Wortlaut hinaus äußert sich von Greiffenberg zu den beiden Selbstbekundungen Jesu: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“646 und: „Ich bin je ein König“.647 – „Mein Reich […] ist wol in der welt, und über die welt; aber es ist nicht von der welt, oder nach art dieser welt, sondern himmlisch, heimlich geistlich, innerlich. Mein thron ist im herzen;“ […] „meine Gesetze“ sind „Glauben und vertrauen, in denen allein, will ich, daß man lebe und wandele. Meine Staats=Gesetze, oder Reichs=regel ist: keinen hinausstossen, der zu mir kommet; und suchen seelig zu machen, was verloren ist.“648 Dieser ihrer ersten Erläuterung des Ausspruches Jesu fügt die Autorin ein zwölf-strophisches Gedicht an, das so beginnt: „KOmm, holder Herz-herrscher! zu mir, bereite den Königs=thron hier. Mein herz ist vermessen, es wünschet, besessen einig zu werden, O JEsu! von dir.“649 In der weiteren Auslegung von Jesu Ausspruch knüpft sie direkt an dies Gedicht an, und geht sie doch sogleich darüber hinaus: „Ja, komme, HErr Jesu! komme, besitze den thron, den deine Güte dir in mir bereitet hat. Mein herz ist bereit! mein herz ist bereit! Ach komme herein, du Gesegneter des HErrn.“650 643 z.B. S. 291. Oder S. 296 f: „Ihre falschheiten musten zur erfüllung der himmlischen warheit dienen.“ 644 S. 292. 645 S. 309 f. 646 Zitiert S. 309. 647 Zitiert S. 320 f. 648 S. 310 f. 649 S. 311. 650 S. 313.

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5.7 Die sechste bis achte Betrachtung

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Sie geht über das Gedicht und über das angeführte Zitat hinaus, indem sie es im folgenden unternimmt, darzulegen, wie das Reich Jesu im Herzen – wie Jesu Regierung und unsre Entsprechung – beschaffen sind, von welcher Art sie sind. Denn sie sind von gänzlich anderer Form und Qualität als die Form und Art, die wir von den weltlichen Reichen und Herrschaften kennen. Jesu Reich ist eben nicht „nach art dieser welt“. Das vorhin angeführte Zitat – mit der Bitte um das Kommen des ,Herrn Jesus‘ und mit der erklärten Bereitschaft, ihn zu empfangen – führt die Autorin weiter aus: Wenn er, der Herr Jesus, ins Herz kommt, dann werden die „begierden […] schier zerschmelzen, vor Liebe, dich in sich zu nehmen“ [= aufzunehmen]. „Kurz, das ganze herz wird in glut und flammen stehen, deiner teilhaftig zu werden. […] Herrsche in allen meinen gliedern, regire in meinen gedanken, übe deine süße“ [= wohltuende] „gewalt in allen Seel= und Leibes=kräfften. Führe deine edle Regirung, in meinem Geist, mit himmlischer Lieblichkeit. Ich will allen gesetzen deines holdseeligen Reichs, schuldige ja fröliche folge leisten. Dir gehorchen, soll mir, wie den Engeln, lauter Manna und ambrosia seyn.“651 „Ach! du auserwehlter herz=König! wie sanft und süß ist deine beherrschung. Dein Zepter“ [= Herrschaftsstab] „ist voll flammen und liebes=geister ; wen du damit berührest, der wird ganz entzündet davon.“652 „Du leutseeliger herz=Freund! wie oft […] erlustigest“ du „dich mit uns, als ein frölicher Freund, jauchzest im Geist, küssest die seele, springest im herzen“. Du „erzeigest dich so frey und herzig, daß man sich verwundern muß, wie es müglich“ ist, „daß […] eine solche unaussprechliche gewalt, durch solche süßheit und lieblichkeit kan [aus-]geübet werden.“653 – „Wie sanft regierest du die herzen! wie zerschmelzest du, durch leisesten Geistes=hauch die stählerne und steinere sinnen! […] Deine ganze Regirung“ ,zielt‘ „auf wolthun und seeligmachen.“654 „Du bedienest dich deiner herrschung“ [= Herrschaft], „allein zur vollführung deiner liebe. Die alles=vermögende Allmacht muß der unendlichen Liebe begierden erfüllen. Du bedienest dich der Kron, uns die Krone des Himmels zu geben.“655 Hieß es zuvor, der „Zepter“ des ,Herz-Königs‘ Jesu sei „voll flammen und liebes=geister“, und jeder, der „damit“ ,berührt‘ werde, der werde „ganz entzündet davon“656 – so ist das nun weiter ausgedeutet: „Du lockest uns mit deinem lieb=glühenden Zepter, biß du uns in deine herz=druckende arme bringest. Du regirest in äußerster freyheit, mit innigster herz=verstrickung. Deine gewalt ist nichts anders, als eine anmutige lust=quelle; von welcher trinkend, man eine unersättliche“ [= nicht zu stillende] „sättigung bekommet, und fast ertrunken immer noch mehr zu trinken, auch alle welt von diesem durst=mehrenden 651 652 653 654 655 656

S. 313. S. 313 f. S. 314. S. 315. S. 316. S.o. Text bei Anm. 652.

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5. Die Passionsbetrachtungen

Brunnen zu tränken begehret; […]. O Wunderbar! […] Damit regirest du merklich, doch unvermerkt; nicht mit weltlichem pracht und ausehen, sondern, dem ansehen nach, mit elend und einfalt, die doch voll himmlischer Ehre und Weißheit ist.“657 Fragen wir, auf die angeführten Aussagen zurückblickend: Wie also ist Jesu Reich im Herzen und sein Regieren und Herrschen, unsichtbar, aber doch merklich verfaßt und beschaffen? In Kürze zusammenfassend, ließ sich sagen: Da es ein Reich ,nicht nach Art dieser Welt‘ ist, ist es ein ,geistliches, innerliches‘ Reich. Sein, Jesu, Regieren ist ein Herzen Gewinnen, und unser Befolgen seiner Gesetze geschieht als ein Jesum in die Arme Laufen. – Jedoch, allein dies zu sagen, wäre nicht deutlich genug. Denn alles, was in diesem Sinne bei von Greiffenberg gesagt ist, ist auf dem Hintergrund der weltlichen Reiche und Herrschaften in Macht und Gewalt – und in Abhebung davon – gesagt. Aber diejenigen Züge von Macht und Herrschaft, die das biblische, insbesondere alttestamentliche Gottesbild mit den weltlichen Königen und Herrschern teilt, schlagen immer wieder in das Reich der Liebe, wie es von Greiffenberg zeichnet, durch. Allerdings werden sie als Mittel eingesetzt für einen anderen Zweck als weltlich üblich: für einen Zweck im Reich der Jesu Liebe. Aber sie selbst bleiben so, was sie sind. Wir hören: Die gänzlich unbestimmte, willkürliche „Allmacht“ Gottes als alles Vermögen ,diene‘ im Reich Jesu der Liebe, und ebenso diene die ganze ,Herrschaft‘ Jesu der Liebe.658 Die „unaussprechliche“ ,Gewalt‘ werde in ,Lieblichkeit‘ ausgeübt.659 Aber Gewalt und Liebe fügen sich, nicht nur nach unserem Verständnis, nicht zusammen. Eine weitere ungelöste Schwierigkeit in von Greiffenbergs Darlegungen sei angeführt: Alles, was sie aus eigener Überzeugung mitteilt, zielt auf eine Liebeseinheit oder -vereinigung von Gott oder Jesus mit dem von Gott oder von Jesus Geliebten. Doch in der ganzen Tradition derjenigen Frömmigkeit, die in solcher Liebeseinheit gipfelt, mithin seit dem Johannes-Evangelium, besteht hier ein weitreichendes Problem, das auch bei von Greiffenberg nicht zu übersehen ist. Was ist die Stellung des Gott oder Jesus liebenden Menschen in der Einheit, in der Übereinstimmung, mit Gott?660 Ist der Gott Liebende nur gedacht als einer, der sich Gott – oder bei von Greiffenberg dem ,Herz-König‘ – ausliefert, sich völlig, los vom eigenen Willen und eigenen ,Ich‘, ihm hingibt, so daß es gar zu einem ,Verschmelzen‘ mit Gott oder zu einem Aufgehen in Gott kommt? Oder ist die Einheit mit Gott ein Einswerden, ein Vereintwerden zweier bleibend Unterschiedener, in der der Gott Liebende gestärkt und zuversichtlich seinen Weg geht?661 – Die vorliegende Unklarheit besteht, wenn die Autorin von dem aus der Liebe- oder „lust=quelle“ Jesu Trinkenden sagen 657 658 659 660

S. 319. S. o. S. 155 bei Anm. 655. S. o. S. 155 bei Anm. 651. Was hier und im folgenden von der ,Übereinstimmung mit Gott‘ gesagt wird, gilt ebenso von der mit Jesus. 661 Für beide Versionen ließe sich unschwer eine große Reihe von Belegen anführen.

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5.7 Die sechste bis achte Betrachtung

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kann, er sei „fast ertrunken“ in dem, was er trinkt.662 Jene Unklarheit ist noch nicht behoben, wenn sie Jesus einen „fröliche[n] Freund“ nennt, der sich im Geist mit uns ,verlustieren‘ kann.663 Daß Jesus vor Pilatus von sich selber sagt, er sei „ein König“, erläutert von Greiffenberg mit Ausführungen, die sie zunächst Jesus selbst sprechen läßt: „Es ist die ganze Warheit, was du“ [sc. Pilatus] „sagest, daß ich […] ein König bin“: ein König „im Wesen und in der Warheit. Ich, die ewige Warheit, bin dazu auf die Welt gekommen, daß ich die Warheit [be]zeugen soll, wie daß nämlich ich selbst die ewige Warheit sey, und ein König Himmels und der Erden.“664 Nach dem neutestamentlichen Bericht spricht Jesus weiter : „Wer aus der Warheit ist, der hört meine stimme.“ In der Auslegung der Verfasserin heißt das: „GOtt ohne GOtt kennen, ist unmüglich; also auch, warheit ohne warheit hören. […] Die Sonne, macht sich selbst sehen; die warheit, sich selber verstehen.“665 Doch „was hilft die Warheit, wann man ihr nicht glauben gibet, und den trieb des Geistes mit frefel“ [= Frevel] „zurück treibet? Wann man vor der Warheit die ohren verschlieset, wie soll sie in das herz kommen? Darum, wer aus der Warheit ist, der höret JEsu stimme. […] Diß ist der probirstein wahrer Christen und JEsus=Liebhaber[..]: Wer sein wort nicht, wie ein durstiger Hirsch das wasser, begierigst hinein schlucket, der ist nicht aus der warheit. Seine [sc. Jesu] Worte […] haben zugleich sättigung und entzündung“ [= erwecktes Begehren] „in ihnen [= in sich], „und eine gebiert die andere.666 […] Wer aus der warheit der innerlichen geist= oder wiedergeburt ist, der wird sie, nicht allein äuserlich, sondern innerlich in seinem herzen hören: da, da hat sie ihren rechten predigt=stul, da lehret sie die verborgenste geheimnuse, da stimmet sie die sußesten Harpfen“ [= Harfen] „und Psalter, und singet die lieblichste Reim=lieder im Chor des herzens.“667 In dem folgenden sieben-strophischen Gedicht, in dem die Autorin sich als zugehörig zu dem „Geistes=liecht“ versteht, bittet sie darum, daß der „stral“ des ,ewigen Lichtes‘ für sie „ganz klar und hell anbricht.“668 Und bald darauf steht ein weiteres Gedicht: eines über die ,Kraft des Glaubens‘.669 Die Gegenfrage des Pilatus „Was ist Warheit?“ nennt von Greiffenberg gleich eingangs in ihrer Auslegung „die nötigste Frage von der welt“. Denn „was helffen alle andere fragen und wissenschaften, wann man nicht die Warheit erkündet.“ Dieser Feststellung folgend legt sie zunächst dar, was sie unter „Warheit“ versteht. Sie schreibt: „Die Warheit ist die Seele der Welt, und 662 663 664 665 666

S.o. S. 156 bei Anm. 657. S.o. S. 155 bei Anm. 653. Dazu ist dieser Satz zu poetisch. S. 321. S. 322. Dazu führt die Autorin einen Spruch „Bernhardi[s]“, Bernhard von Clairvaux, an: Christi Worte „machen satt, doch ohn verdruß; der hunger wächst im überfluß.“ (S. 324) 667 S. 323 f. 668 S. 324 f. 669 S. 326 f.

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5. Die Passionsbetrachtungen

der tugenden, ohne welche sie alle, und alles eitel und nichtig ist. […] Sie ist die Sonne, ohne ihr erleuchtung, bleibet alles dunkel und unsichtbar ; sie ist die erklärung aller dinge, und das Gewicht, das allen sachen ihren preiß gibet: Soviel Warheit, so viel Güte. Sie machet die liebe hertzlich, die treue gründlich, die freundschafft innig, alle verheissungen gültig. In ihr beruhet die gantze Staats=wolfahrt: weil sie die grundfest alles handels und wandels, die Erhalterin des friedens, das band der Länder, das pfand der hertzen, die verhinderung aller unruhe, und die klareste nachähmerin des Himmels ist, der alles im wesen und bästen erhält. – Dieses ist die Warheit ins gemein: was soll ich erst von der himmlisch= und göttlichen sagen?“670 Mit dieser rhetorischen Frage leitet die Verfasserin über zur Darlegungen über die ,göttliche Wahrheit‘. „Da“, bei der ,göttlichen Wahrheit‘, „müsten Engel=zungen reden, ihre würde und vortrefflichkeiten auszusprechen.“ Dazu sei sie viel zu gering. Doch ihre Unwürdigkeit solle nicht als Ausrede dienen. Also „will ich nicht schweigen, da es GOtt zum preis gereichet, sondern seine Warheit verkündigen, so lang ich lebe.“ Es folgt ihr, der Autorin, Verständnis der Wahrheit Gottes: „Ich sage demnach: GOtt ist die warheit! Und damit dieselbe […] erkant würde, ist die wesentliche Warheit selber Mensch geworden […]. Die Warheit wurde ein Kind: damit wir Kinder der Warheit wurden. Die Warheit wurde unser heil, damit unser heil und seeligkeit wahrhaftig wäre. Ja die Warheit wurde verwundet, und starb für uns, damit wir warhaftig gesund würden, und das leben hätten.“671 Die Pilatus-Frage ,Was ist Wahrheit‘ nimmt von Greiffenberg noch einmal auf und läßt sie näher an sich heran: Sie „antworte […] aus der erfahrung.“ Was sie im folgenden672 äußert, ist ihre Glaubens-Überzeugung nach deren Hauptinhalten.673 Sie beginnt mit einer Ausführung über Christus Jesus: „Es ist die unendliche, unergründliche und unaussprechliche Liebe GOttes, und daß in Christo JEsu aller Menschen heyl verborgen ist; daß er allein, die unausdenklichste Quelle aller gnaden und seeligkeit ist; daß, allein in ihm, alle überschwänglichkeit der himmlischen Güter schwebet; daß Christus allein die Brunn=quelle, das Meer, der Kreiß, Grund und beschluß aller gnaden, gaben, heils, hülfe segen und seeligkeit sey, und daß mann ihn allein darum anruffen, und ehren, ihn vertrauen, dienen, loben und preisen solle. Ja so gar“ [= ganz] „ist er es einig“ [= einzig] „und allein, als“ wäre sonst nichts „im Himmel und Erden“. Die Autorin fährt fort: „Hierdurch aber, wird GOtt dem Vatter, und

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S. 327 f. S. 328 f. Von S. 329 bis S. 346. Das im folgenden Dargelegte hat immer eine – wechselnde – konfessionelle, kontroverstheologische Zuspitzung. Jedenfalls dürfte der entschiedene konfessionelle Akzent auch zu ihrer, der Autorin, „erfahrung“ gehören.

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GOtt dem heiligen Geist nichts benommen“ [= genommen], „weil sie in unzertrennlicher Einigkeit, und einige Gottheit sind.“674 Dies Christus-Bekenntnis wird von der Autorin weiter ausgeführt mit Hilfe vieler biblischer Aussagen und Bilder, besonders aus der ,Offenbarung des Johannes‘. Sodann kommt sie auf sich selbst, auf ihre „erfahrung“ zu sprechen: „Ich will […] preisen und offenbaren […] die erkentnus der Ehre und Herrlichkeit JEsu Christi, so er in mir gewürket“ hat. „Diese ist so überschwänglich, daß ich wünschte, mit milion[en] kniehen nieder zu fallen und ihn anbeten zu können, mit hunter tausend herzen an ihn zu glauben, mit sand=menge“ [= mit einer Menge wie der Sand] „zungen ihn zu preisen und zu glorificiren, und sein allerheiligstes Abendmal, seines himmlischen Leibes und blutes, mit aller welt mund und begierde zu empfangen.“675 In diesem Zusammenhang legt von Greiffenberg weitere, wie sie schreibt, „Himmels=Warheiten“ dar : zuvörderst eine „von den schönsten“,676 nämlich das Hl. Abendmahl – mit einer nachdrücklichen Betonung der Realpräsens Christi in seinem Leib und Blut und mit einem ebenso nachdrücklichen Bestehen auf Christi Anordnung der zweierlei Gestalt, also von Brot und Wein, von Leib und Blut.677 Sodann entfaltet sie die ,Heilsgewißheit im Glauben‘, die „seeligkeit=versicherung“.678 Nach von Greiffenberg ist diese „so fäst und gewiß, als der unwidersprechliche GOtt selber ist.“679 Mit vielen rhetorischen Fragen wird der Leser aufgefordert, der Überzeugung zu folgen, daß nichts so unbezweifelbar ist, als dies: daß nichts denjenigen von Jesus Christus trennen kann, der im Glauben an ihn vereint, ja ganz eins mit ihm ist.680 Abschließend beteuert die Verfasserin noch einmal: „Ach! es ist […] die Seeligkeit so gewiß, als ein GOtt im Himmel ist, wann man ihn nur darum anruffet, und das vertrauen hat: welches er gleichfalls in uns wirket, und entzündet, damit ja alles von GOtt allein, herrühre; daß auch unser heil einen unumstoßlichen Grund, und GOtt eine unausbleibliche ehre habe.“681 Schließlich äußert sie als ,Heilswahrheit‘ die „Erkentnus uns selbster“, daß wir als Menschen total Sünder sind, und folglich vor Gott „kein verdienst noch 674 S. 319 f. Sehr wahrscheinlich ist, daß das „solus Christus“ auch dieses Abschnittes gegen die römisch-katholische Theologie formuliert ist. 675 S. 331. 676 Ebd. 677 S. 331 – 334. Die nachdrückliche Betonung der Realpräsens Christi richtet sich gegen die Reformierten oder Calvinisten; das Bestehen auf die zweierlei Gestalt gegen die römisch-katholische Praxis. 678 S. 334 – 340. 679 S. 334. 680 Diese ,Gewißheit der Seligkeit‘ steht antithetisch zur römisch-katholischen und zu Teilen der reformierten Lehre. 681 S. 340.

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würdigkeit seyn“ kann.682 Diese Ansicht schließt ein, daß keiner sich aus unserem Sündenelend und Todesverhängnis selbst herauswinden, auch die „Buße“ oder die ,Bekehrung‘ sich nicht selbst verschaffen kann.683 Diese „Warheit […] machet die Menschen zu allerelendesten Creaturen, damit sie die allerseeligsten werden. Sie führet sie zu der erkentnis ihrer nichtigkeit, damit sie zur erkentnus ihrer Herrlichkeit kommen. Diese Warheit ist die allerschönste, wiewol sie uns zu den allerhäßlichsten macht: weil sie Gott allein alle ehre gibet.“684 Es heißt weiter : „Sie [sc. diese Wahrheit] „ist die kron unserer hoheit, die allein aus der demut ihren ursprung hat. Sie ist die grundveste der Demut, die eine Materi göttlicher erhebung ist.“685 Wir können also sagen: Die Erkenntnis des eigenen Sünderseins ,macht‘ nach von Greiffenberg „uns des abgrunds, der Barmherzigkeit GOttes fähig“686, und darum wird jene Erkenntnis als Demut praktiziert und so wirklich vollzogen. Und dementsprechend läßt die Autorin eine eingehende Lobrede auf die Demut folgen.687 Die anschließenden Ausführungen in der ,Betrachtung‘ beenden den ersten Teil des Verhörs vor Pilatus.688 Von Pilatus wird an dieser Stelle gesagt: „Der Land=Pfleger erkennete und bewunderte die unschuld, und sahe die Gedult. Er hörte das grausame verklagen, aber nicht einige“ [= nicht eine einzige] „entschuldigung. Das hässige zudringen, und die sanfteste erduldung, das brüllende wüten und das stillste schweigen“ und „das verzuckte [= verzückte, begeisterte] „ihn ganz in verwunderung, also daß er nicht wuste, wie er gedult und unschuld auseinander bringen, noch was die Bosheit wider selbige“ [= die Unschuld] „reitzen kunte.“689 Es folgt, wie üblich, der Schlußdank an Jesus, hier mit drei eingefügten Gedichten. Im Zusammenhang dieses Dankes bekennt die Verfasserin von sich: „Ohn alles mein verdienst und würdigkeit, ist mir dieses geist=heil“ [= die Eingebung einer unzerstörbaren Hoffnung], „wiederfahren, daß ich in allen, auch in den unmöglischst=scheinenden, schwerest= und gefährlichsten sachen, unabläßlich auf dich [sc. Jesus] hoffen kan“.690 Jesu Schweigen vor Pilatus deutet sie so: „O du Erschaffer aller grosmut! wie ist es dir müglich gewesen, so gottslästrende lügen geduldig anzuhören? Eben aus dieser un682 Zitat: S. 341. Ausführung darüber : S. 340 bis S. 344. – Die Behauptung der Totalität der Sünde in jedem Menschen und folglich dessen gänzliches Unvermögen Gott gegenüber ist die Kehrseite des reformatorischen Bestehens auf das „solus Christus“ und richtet sich also gegen die römisch-katholische Lehre. 683 S. 341 – 343. 684 S. 343 f. Ersichtlich ist, wie strikt von Greiffenberg – ihrem Stil des Kontrastes gemäß – Sünde und Herrlichkeit des Menschen als sich ausschließende Gegensätze vorstellt. 685 S. 344. 686 Ebd. 687 S. 344 – 346. 688 S. 347 – 352. 689 S. 352. 690 S. 354.

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erreichlichen“ [= uneinholbaren] „sanftmut, scheinet die Allmacht, und aus dieser die Gottheit herfür ; dann“ [= denn] „auch die tiefste erniederung, ein strahl der höchsten Herrlichkeit GOttes ist.“691 Anders, umschreibend, gesagt: Die mit Menschen Maß nicht zu fassende Sanftmut und Geduld Jesu lassen die Allmacht Gottes aufscheinen, die jene ermöglicht. Also ist hier selbst in der tiefsten Selbsterniedrigung Jesu Christi noch ,ein Strahl der Herrlichkeit Gottes‘ am Wirken. Die Autorin bittet für sich: „O JEsu! der du dich, für mich, Pilato öffentlich bekennet hast, gib auch mir die gnade, dich vor aller welt, auch in den gefährlichsten begebenheiten frey unerschrocken zu bekennen. Gib, daß ich es mir vor“ [= für] „die gröste ehre halte, wann ich dich, vor den Höchsten in der welt aufs höchste preisen solte“ [= könnte]. […] „Ich wäre schon bereit, den tod zu erkiesen“ [= zu erwählen], „wann du nur erwiesen, daß es dich erfreue.“692 Das erste eingefügte Gedicht gibt zu erkennen, was ihr vor allem wichtig und bedeutsam ist. Die erste Strophe lautet: „Herr JEsu! leb in mir. Dein seelig süsses leben / gieß sanfte Himmel=art in meinen harten sinn. / Dein heißer liebes=trieb mein stälerns herz gewinn. / Vor alles gibe mir, das gänzlich dir ergeben.“693 Das zweite Gedicht führt das Loben noch einmal aus, z. B. in der dritten Strophe: „Alles, was sich regt und lebet / helf mir loben meinen hort. / was in luft= und wassern schwebet / treib sein lob fort und fort.“694 Die siebte ,Betrachtung‘ beschäftigt sich mit dem Verhör Jesu durch Pilatus, gleichsam in dessen zweiten Teil, beginnend mit dem Bericht über die Geißelung Jesu und endend mit dem dritten Geständnis695 des Pilatus, keine Schuld an Jesus zu finden.696 Drei Schwerpunkte lassen sich in dieser, nicht allzu umfänglichen ,Betrachtung‘ erkennen. Als ersten Schwerpunkt bezieht die Verfasserin, wie bereits mehrfach beschrieben, das im Neuen Testament Berichtete sogleich auf sich oder auf eine Mehrzahl von Personen, auf „uns“. So auch hier : Wird im Neuen Testament mitgeteilt, die jüdischen Oberen, die Hohenpriester und der Hohe Rat, ,hielten an‘, fuhren mit Ausdauer fort, Jesus anzuklagen, so billigt das die Verfasserin sicherlich nicht. Aber das beharrliche Festhalten an ihrem Vorhaben ist nach ihr vorbildlich. Und so bezieht sie das als Ermahnung auf sich oder auf uns: „Ach! daß wir auch anhielten! aber mit bitten und beten, mit ringen und dringen auf seine [sc. Jesu] unendliche güte: biß er uns unsern Wunsch,

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S. 359. S. 357. Das Zitierte könnte ein verschwiegener Hinweis auf ihre Wiener Bekehrungsaktion sein. S. 359. In der letzten Zeile könnte es zu Beginn auch heißen: Vor allem. S. 360. So nach der Passions-Harmonie. Diese ,Betrachtung‘ steht S. 362 – 414.

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nämlich sich selbst gebe.“697 – Wenn Pilatus Jesus an Herodes überstellt, um die Verantwortung für den ihm nahegelegten Schuldspruch über Jesus loszuwerden, so sucht er nach der Autorin nicht Jesus und dessen Ergehen, sondern nur seine Entlastung – und ver-kennt er Jesus gänzlich: „Er [sc. Jesus] will allein gesuchet und gemeint seyn: wiewol er nicht allein bleibet, sondern alle andere güter unfehlbar=zufällig“ [= uns zufallend] „mitbringet. Wer ihn allein verlanget, der erlanget ihn nicht allein, sondern noch die Gnade, daß er ihn unter allen allein herzgründlich lieben und geniessen kan.“698 – Herodes wollte Jesus sehen aus Neugier. Dem stellt von Greiffenberg ein zu bejahendes Sehen Jesu entgegen: „Ach, solte man nicht sehr, ja englisch“ [= den Engeln gleich], „froh seyn, denselben [sc. Jesus] zu sehen? Solten sich nicht alle Lebensgeister ausschütten, herfür“ [= hervor] „machen, und in augen und zunge begeben, wann ein solcher freuden=Magnet vor enem stehet? Geschiehet es doch bey den unsichtbaren sehen, im heiligen Abendmahl, daß alles zu glut und flammen wird, wann man JEsum vor sich weiß! Wird es doch auch im Himmel der zucker“ [= der Gipfel] „aller freuden, und die Kron aller wonne seyn, wann man seinen süßen“ [= lieb=reichen] „Erlöser JEsum Christum, und dazu ewig, sehen wird! Warum solte“ er „dann nicht auch auf erden, und zwar im würklichen freud=erwerbungs=stande seines Leidens, freude erwecket haben, JEsum zu sehen?“699 Dies Vorgehen der Autorin, das im Neuen Testament Überlieferte auf sich und auf „uns“ anzuwenden, ließ sich ebenso an vielen anderen Fällen ihrer ,Passions-Auslegung‘ nachweisen. Sie unternimmt es, selbst am verkehrten, nicht zu billigenden Verhalten und Handeln einen ermahnenden Sinn für uns oder für sich herauszustellen: Immer ist das eine Umkehrung des Verwerflichen zu einer lobenswerten Ermahnung. Ein Höhepunkt solchen Verfahrens findet sich in der vorliegenden ,Betrachtung‘: Wenn alle Welt ,kreuzige, kreuzige‘, „Hinweg mit Jesus“ schreit, so bekennt von Greiffenberg von sich: „Ich aber, will schreyen: Hieher, hieher, süssester Jesu! in mein hertz; und hinweg, hinweg, mit der gantzen welt und ihren schätzen, pracht und wollust. […] JESUS, JESUS, soll allein, meines hertzens Hertze seyn. Hinweg, hinweg, mit mir selber! wollte ich gern sagen. Hinweg mit meinem leibe, welcher mich hintert, bey JEsu zu seyn! Hinweg mit meinem leben, welches mit der reinsten Geist=anhangung“ [= Verbundenheit des Geistes] „unvereinbar ist. Hinweg endlich mit meinem Geist, ach! hinweg mit ihme, in die hände und wunden JEsu! wo er viel sicherer ruhet, als in meinem leibe. Lieblichster JEsu! zieh ihn zu dir [hin]auf: dann“ [= denn] „er verlangt, aufgelöst und bey dir zu seyn.“700 – Stellt Pilatus die Frage, „was 697 S. 364. 698 S. 366. 699 S. 367 f. Das dritte Wort in dem letzten Satz „er“ ist korrigiert statt „es“. Die Formulierung „im würklichen freud=erwerbungs=stande seines Leidens“ lese ich so: im wirklichen, leiblichen Stand wissend, daß sein Leiden uns die ewige Freude erwirbt. 700 S. 392 f.

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man mit JEsu machen solte“, so antwortet die Autorin: „Wann ich also gefragt würde, wolte ich sagen: Ich will ihn zur Krone meiner Seele, zum Bräutigam meines Herzens, zum ziel meines lebens, zum zweck meiner verlangen, zum zunder meiner liebe, zur weide meiner gedanken, zum brunnen meiner begierden, und zum meer aller meiner vergnügungen, machen. Er soll meines Geistes Paradeis, meiner sinnen Himmel, und meiner bewegungen erz=bewegung“ [= Ursprungs-Bewegung] „seyn.“701 Und: „Ich wollte ferner JEsum zu dem gebrauchen, worzu ihn die unergründliche“ [sc. innergöttliche] „Gnaden=wahl und seine fast noch unendlichere Liebe gemacht hat: nämlich als meinen JEsum, Erlöser und Seeligmacher, als meinem Mittler zwischen GOtt und mir, als meinem Versöhner, Fürsprecher, Vorbitter“ [= Fürbitter] „und Gnaden=Thron, als meinen Arzt, Heiland und Lebendigmacher, als mein Manna=mahl, Nectar=saft, Freuden=wein und Engel=kost, als mein Tugend=schul, Ehrenstuhl, Freuden=quell und Wollust=seel, als meinen Himmel=weg, Port und Einlaß, ja als meine ewige Freude und Wollust, kurz: als meine Allheit, die er allein und alles in allem ist.“702 In den beiden letzten Zitaten, die ja zusammengehören, ist auch zum Ausdruck gebracht, was der zweite Schwerpunkt in dieser ,Betrachtung‘ ist: nämlich darzutun, was Jesus Christus für sie, für von Greiffenberg, ist, besagt und bedeutet. Auffallend ist bei der fast überwältigenden Fülle von Kennzeichnungen, die sie für Jesus aufbietet, daß diese allesamt auf sie, von Greiffenberg, bezogen und folglich persönlich formuliert sind, auch dann, wenn es traditionell dogmatische Titel sind, wie „Erlöser und Seeligmacher“, „Mittler“, „Fürsprecher“ und ,Gnadenthron‘. Immer ist er ,mein‘ „Heiland und Lebendigmacher“. Und immer sagen die Bezeichnungen für Jesus zugleich Entscheidendes über das eigene Leben aus: Er, Jesus, ist das Fundament, die Quelle des Lebendigen und des Geistlichen in ihr, und die Ausrichtung ihres Lebens über sich selbst hinaus auf ihn allein. Er, Jesus, ist ihr ,ein und alles‘, und mit ihm ist alles Lebengebende ihr gegeben. Er ist ,ihre‘ „Allheit“.703 Als dritten Schwerpunkt in dieser ,Betrachtung‘ lassen sich die Äußerungen über das zeitliche Leben Jesu nennen. Es ist das erste Mal, daß sich die Verfasserin in ihrer ,Passions-Betrachtung‘ ausführlicher mit dem Thema des ,geschichtlichen‘ Lebens Jesu befaßt. Um die Undankbarkeit derer im Volk aufzuzeigen, die ,kreuzige‘ schrieen, zählt sie die Wunder- und Guttaten Jesu auf: Jene trachten danach, „daß man denjenigen kreutzigen soll, der sie von mancherley kreutzen“ [= von manchem schwer zu ertragenem Leiden], „erlöset hat. Sie wollen, man soll die wolthätige hände durchgraben, die ihrer blinden augen eröfnet; die ihre lahmen und krüppel gerad und gehend gemacht; die über ihren aussatz gefahren, daß sie rein worden; die der tauben 701 S. 395. 702 S. 396 f. 703 S. 397. Vgl. S. 386: „JEsus ist mir alles, und ich“ habe „alles in ihme.“ Zu „Allheit“ s. auch oben S. 56 mit Anm. 243.

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und der stummen mund aufgethan, ja gar“ [= sogar] „die Teufel ausgetrieben, und alles wolgemacht. Diese hände wollen sie annaglen, durch deren Allmacht ihre todten wieder belebet, ihre Gichtbrichigen wieder gesund worden, und ihrer wassersüchtigen Wasser ohne eröfnung sich verlohren: sie […] wollen die arme am Creutz ausstrecken, die, ihren verdorrten arm zu heilen, sich ausgestrecket haben. Die ungebundene wunder=hand, die ihrer so viel tausend mit fünf und sieben Broden gespeiset, wollen sie lassen an das holz häften.“ – „Die ämsigste füße, die sich zu ihrem heil oft müde gegangen, und tag und nacht nicht gefeyret“ [= geruht] „haben, ihnen zu dienen, die heissen sie unbarmherzig durchgraben, und an das Creutz schlagen. […] Sie heissen dasjenige blut vergiessen, das in ihrem dienst sich erhitzet und zugelaufen ist. Das treueste Hertz, welches ihr elend so innerlich bejammert, daß es ganz weich und liebfliessend worden, wollen sie aufs unbarmherzigste verschmachten machen. Wider den süßesten mund, der ganze ströme des Trostes und der Lehre ausgegossen, speyen sie den Landpfleger“ [Pilatus] „die erbärmliche kreutz=martern ein.“704 Die neutestamentliche Vorlage, literarisch in Form einer Passionsharmonie, für die achte Passions-Betrachtung handelt über den letzten Teil des Verhörs Jesu durch Pilatus: von der Geißelung und Verspottung Jesu an bis zu dessen Auslieferung an seine Ankläger und damit zu dessen Todesurteil durch Pilatus. Auch diese ,Betrachtung‘ von Greiffenbergs läßt einige charakteristische Züge ihrer Art der Passions-Betrachtung deutlich erkennen. Sie sollen Thema der folgenden Überlegungen sein. Die vorliegende ,Betrachtung‘ schließt, wie üblich, mit einer rückblickenden Danksagung705 und mit einem langen Gedicht über Jesu Geißelung und Dornenkrönung.706 Wieder ist die Grund- und Zielaussage der gesamten Ausführungen auch in dieser ,Betrachtung‘ die: Jesus Christus ist zu uns Menschen gekommen, um durch sein Leiden und Sterben uns von der Sünde und der drohenden Verdammung zu erlösen und uns dadurch zu befähigen, die ewige Seligkeit zu erhalten. Dabei liegt der Schwerpunkt ganz eindeutig bei der Zielaussage: bei der Befähigung zur ewigen Seligkeit – und nicht etwa bei der Sündenvergebung. Gleich den ersten von ihr angeführten neutestamentlichen Text über die von Pilatus angeordnete Geißelung legt die Verfasserin lange und durchgehend bezogen auf das Leiden Jesu insgesamt aus. Und sie wendet das im Neuen Testament Berichtete sogleich auf sich selbst an: „Ach Seel=Allerliebster! wie kan ich dich verwunden“ [= verwundet] „sehen, daß nicht mein ganzer leib eine wunde werden, vor“ [= aus] „lieb und schmerzen aufspringe und zerberste? Du zartester innigkeit=Mittelpunkt! wie kan ich dich aufritzen sehen, 704 S. 398 – 400. 705 S. 501 – 511. 706 S. 511 – 518.

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daß mir nicht die innerst=edelste empfindlichkeit=theile durchdrungen und zerschmelzet werden? Wie kan ich deine schmerzen, sonder“ [= ohne] „onmacht=sinken, mir zu gemüte ziehen, und dein blut ohne erstarrung des meinigen, daher fliessen und vergiessen sehen? O daß ich mein Herz zum schild über dich machen, und alle schmerz=geisel=schmisse auffangen könte! […] diese schmerzen=noth“ ist „die rührbarste“ [= am meisten anrührende] „von allen liebreitzungen“ [= von allen Anreizen, Erregungen zur Liebe]. – „O Panther=bosheit!“ [= Bosheit wie eines Raubtieres] „wie kan eine Creatur so unnatürlich seyn, dem Schöpffer“ [d. i. Jesus] „solche schmerzen zu verschaffen? O grausame schmisse! warum seyd ihr nicht vielmehr in die erz=empfindlichkeiten“ [= in die von Grund auf Empfindlichkeiten] „meines leibes, als“ [= statt] „in diese“ [= Empfindlichkeiten] „meines Jesu,“ vielmehr in „meine[..] Seele gegangen? Aber eben deßwegen hat sie“ [= jene grausamen Verwundungen] „mein lieber Erlöser erlitten, weil ihm vor“ [= aus] „erz=äuserster liebes=bewegung“ [= aus der allerhöchsten Bewegung seiner Liebe] „viel leichter war, die schmerz=schneidendste herz=wunden selber auszustehen, als mich damit in Ewigkeit gemartert und geqwälet zu sehen. O unerreichliche, unvergleichliche, ja GOtt selbst übertreffende Liebe!“ Und für uns ist diese ,allerhöchste Liebesbewegung‘ des Erlösers der ,höchste Anreiz‘ zu unsrer Jesusliebe. Ein jeder Schlag, den Jesus trifft, jedes Aufreißen seiner Haut durch die Dornen „ist eine flamme, die mein Herz brennet“ macht, „weil er,“ Jesus, „mich dadurch von den höllischen flammen erlöset hat.“707 Was von Greiffenberg derart emotional eingehend und bilderreich schildert, ist ihr innigstes Mitfühlen und Mitleiden, erregt durch Jesu Leiden, durch seine Passion.708 Das Mitleiden mit Jesu Schmerzensqualen geht ihr so real zu Herzen, daß das für sie nur aushaltbar ist, weil sie von dem glaubend ergriffen ist: die Schmerzen Jesu sind zu unsrer und ihrer Erlösung. Das erschreckende Leiden Jesu ist nur zu ertragen im Glauben daran, daß es notwendig ist, notwendig – und heilsam – in seiner Liebe zu uns. Und so entspricht ihr Mitleiden dem Leiden Jesu selbst. Seine, Jesu, Liebe kann, wie wir eben hörten, die uns wegen unsrer Sünde drohende ,Materung‘ in der Hölle nicht ausstehen; kann das nicht mit ansehen. Und um uns davon zu befreien, erleidet er die Wunden, die qualvollen Schmerzen, die ihm geschlagen, ihm zugefügt werden. Wie nachzuvollziehen ist, beläßt es von Greiffenberg nicht bei dem Mitleid. Sie deutet Jesu „schmerzen=noth“ als den ,erregendsten Anreiz zur Liebe‘.709 Jesus hat uns, nach lutherischer Lehre, „von den höllischen flammen erlöset“710 ; er hat uns die Gnade Gottes erworben.711 Doch was mußte er dafür an 707 708 709 710

S. 415 – 417. Sie selbst nennt ihre „mitleidigkeit“ die „innigste“ (S. 428). Siehe noch einmal S. 416, zitiert oben in der Mitte der Anm. 707. S. 417.

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Wunden, Qualen und Schmerzen erdulden und ertragen?! „O ihr unmenschliche Menschen! wie kontet ihr diesen GOtt-Menschen also zerfleischen und zerhauen, daß es einen stein bewegen und ein[en] Tyger erbarmen mögen? O Grausamkeit, so die hölle selber“ [= selbst die Hölle] „übertrift! dann in derselben [sc. der Hölle] werden nur die gottlosen, hier aber der Gerechte, ja GOtt selber in seiner Menschheit, gemartert.“ – „Aber ach! die Sünde, unser sünde hat diese blut=qual zugerichtet. Ach Jesu! ich selber, mit meinen höllisch=marter=würdigen sünden, hab dich also zergeißlen“ [= zergeißelt] „gemacht. […] Ach Jesu! vergib mir alle meine sünde, die dich also henkerisch zermartert und zerissen haben“.712 Meine Sünden „werden dermassen von mir bereuet und beseufzet, daß, wann es müglich wäre, daß ichs mit meinem blut zuruck bringen könte“ [= daß ich die Sünden … rückgängig machen könnte], „ich es mit freuden vergiessen und hergeben wolte. Es ist auch dieses der ernstlichste und eiferigste gedanke in meiner seele, daß ich wünsche, nimmermehr einige“ [= auch nur eine] „sünde zu begehen, wann es mensch=möglich wäre: weil sie meinen JEsum also gemartert haben.“713 Im Zusammenhang der „Erlösungs=Empfindungen“714 kommt die Verfasserin ein weiteres Mal auf die verbliebenen Sünden zu sprechen: Diese Sünden „schaden aber keineswegs, weil sie zum verdammen todt, und bloß zum lob und leben=befördern, noch im leben sind.“715 Wie dies sein kann, daß die Sünden zum Lob und Leben-befördern da sind, das führt sie so aus: Die „Betrachtung“ der Erlösung „schüttet das herz, mit allen kräften und adern völlig in GOtt aus. […] Man bereut nicht nur die sünden, sondern auch die fähigkeit, etwas in sich zu haben, das GOtt zuwider solte seyn. […] Die Unendlichkeit der guten verlangen“ [= gute Taten von sich zu verlangen], „stellet mit höchster reu und schmerzen unsere unvermögenheit und schwachheit vor, solche ins werk zu richten“ [= solche guten Taten wirklich zu tun]. „Je höher man nun in begierde“ [= im Begehren, im Trachten nach] „der Gottseligkeit steiget, je mehr man in die niedrigkeit unserer nichtigkeit sinket, und der gnade, die man zu preisen begehret, sich unwürdiger befindet“, desto mehr wird ihr, der Gnade, „preis vermehret, wann man empfindet, daß man sie nimmermehr genug preisen kan.“ – Kurz gesagt: Je stärker das Empfinden der eigenen Sünde und Unwürdigkeit ist, desto stärker werden sich das Verlangen nach der Gnade und die Einsicht, daß diese nie genug zu preisen ist, bei 711 S. 420: „Was hälfe mich“ [= mir] „GOtt, wann er mir nicht gnädig wäre? der Himmel, wann ich nicht hinein käme? Daß ich aber dieses [er-]hoffe, das haben mir die allverdienenden wunden meines Göttlichen Erlösers erworben.“ 712 S. 417 f. 713 S. 418 f. Die Erkenntnis der eigenen Sünde – samt der Reue und dem Vorsatz zur Besserung – ist ein Hauptinhalt der traditionellen lutherischen Passions-Betrachtung. Jene Erkenntnis findet sich bereits in der vorreformatorischen Literatur. 714 S. 453. 715 S. 452.

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einem Menschen ausbilden. Die Verfasserin schließt derartige Ausführungen mit dem Satz: „Nun, was ich lebe, das will ich dem leben, der vor“ [= für] „mich gestorben ist.“716 Durch die angeführten Darlegungen von Greiffenbergs über ihre Wahrnehmungen, Eindrücke und Empfindungen der Passion, der Leiden und der Wunden Jesu, erfahren wir immer auch etwas über das Wesen und die Eigentümlichkeiten der Passion Jesu selbst: zuletzt, daß sie ein Leiden des „GOtt[es] selber in seiner Menschheit“ war.717 Das soll nun der weitere Inhalt unsres Nachvollzuges der „Betrachtung“ von Greiffenbergs sein. Inwiefern ist nach von Greiffenberg das menschliche Leiden des unschuldigsten Jesu zugleich und in Wahrheit ein Leiden „Gott[es] selber nach seiner Menschheit“? Oder, noch nachdrücklicher gefragt: Warum ist nach ihr das Leiden Jesu ein göttliches Leiden? Ihr zufolge ist die „klareste Gottheit in“ deinem, Jesu, „tiefsten Leidens=stand“ zu erkennen. „Wie schimmert deine Allmacht, in der ertragung so unerträglicher schmerzen; und deine Liebe in der gutthätigkeit gegen“ uns, „die unerkentlichste“ [= die in nichts sich erkenntlich, etwa dankbar, erweisenden] „feinde. Du lässest deinen angenehmen zartesten Leib aufs grausamste martern, und überhebst ihn, durch deine herrschende“ [= nicht ruhende] „Allmacht, nicht der geringsten schmerz=fühlung [= und enthebst durch deine Allmacht deinen Leib nicht dem Fühlen auch nur des geringsten Schmerzens]. „Du vermehrest ihm [sc. dem Leib] solche [sc. Schmerzen] vielmehr, durch die kraft der erhaltung: da ihm[..] [an]sonsten der tod die schmerzen verkürzet hätte. – Verwunderbarer Gnaden=Gott! [= der Gott der Gnaden, der zum Verwundern ist], „der bey der erz=äusersten schmerzen=qwal, die macht der entübrigung“ [= der Entbehrung] „oder linderung hatte, und doch solche [sc. Schmerzens Qual] im höchsten grad über sich [er]gehen lässet, auf daß seine feinde dadurch befreyet und ergetzet [= ergötzt, erfreut] werden! Wer dieses nicht für göttlich hält, und Christi Gottheit aus dieser übermenschlichen Liebes=heltenthat nicht erkennet, ist nicht werth, daß er ein Mensch ist“.718 Die ihm (sc. Jesus) bereiteten Verletzungen, die ,blutenden‘ „Ritze[..]“ seiner Haut, „sind mir klare fenster, durch welche ich die Gottheit Christi sehe. Die Sonne der Gottheit strahlet zu diesen fenstern heraus, durch die unendliche liebe, kraft und wirkung.“719 716 717 718 719

S. 453 f. Zitiert oben S. 166 bei Anm. 712. S. 420. S. 422. Zwei in einigen Hinsichten, gegenüber dem in vorstehenden Absatz Wiedergegebenen parallele Äußerungen stehen an späteren Stellen. Die eine lautet: „Hellste Gottheit=Sonne im trübsten trübsaal=gewölke! du scheinest aufs äuserste in der erz=äuserung“ [= gänzlichen Entäußerung] „herfür“ [= hervor]. „Je verborgener, je“ [= desto] „befindlicher du bist.“ [= Je verborgener du bist, desto sicherer befindest du dich da.] „Je mehr du dich einziehest“ [= zurücknimmst], „je stärker wirkest du. Du entziehst deinen glanz der sichtbaren Herrlichkeit, und machest damit die unsichtbare desto scheinbarer. Was ist klärer in der grösten

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Das eben Zitierte sei, verkürzt und teilweise mit anderen Worten, wiedergegeben, indem wir die Wirkungen der Allmacht Gottes oder Jesu Christi und die der Liebe Gottes oder Jesu Christi unterscheiden. Vorweg sei bemerkt, daß in der ersten Hälfte des Zitats mit dem Wort „du“ angesprochen ist ,mein göttlicher Erlöser‘, mithin Jesus Christus als der Handelnde vorgestellt ist, der die Allmacht und die Liebe Gottes oder seiner selbst zu ihrem Wirken einsetzt. Von der Allmacht wird ausgeführt: Sie ist es, die Jesus dazu anhält, die unerträglichen Schmerzen auszuhalten, die also die Qualen seiner ihm zugefügten Verwundungen nicht etwa verkürzt, sondern gerade verlängert; während ansonsten doch bei derart qualvollen Schmerzen schon längst der Tod eingetreten wäre. Statt daß sie, wie von einer göttlichen Allmacht üblicherweise erwartet wird, die schmerzenden Verletzungen entbehrlich machen, sie diese verhindern würde, ihre Qual erst gar nicht aufkommen lassen oder sie wenigstens lindern würde – statt dessen wirkt die Allmacht bei Jesu Leiden als „Kraft der Erhaltung“, der Lebens-Erhaltung unter den Qualen und als Kraft des Ertragens der Schmerzen. Statt daß die Allmacht Jesu Christi ihn in seinem Leib der Schmerzen entheben würde, wirkt sie bei ihm das Andauern der Tortur. – Die Allmacht ist hier der Ausdruck seiner, Jesu Christi, Gottheit. Doch in dem hier Dargelegten dient sie der erlösenden Liebe Jesu Christi, ist sie dieser untergeordnet, erhält sie von dieser her eine klare Bestimmtheit – gegen die übliche Vorstellung, als sei sie Macht zur Ab-Hilfe. Die erlösende Liebe Jesu Christi zeigt sich, nach den hier zitierten Darlegungen, als die Liebestat, selbst die größten Feinde – somit uns, so wie wir das vor dieser Liebestat waren – zu lieben und in dieser Liebe zu uns die ihm angetane, schreckliche Marterung zu ertragen. Sie zeigt sich darin, die martervollen Schmerzen auszustehen einzig darum, auf daß wir, seine Feinde, von der sicheren Aussicht der höllischen Qualen befreit, als seine Freunde zur unvergänglichen Freude kommen. verdunkelung, als eben die Göttliche Majestät, die sich also verdeckend[..] zu entdecken pfleget? In erleidung unerleidlicher sachen, erscheint ihre Allmacht; in erweisung unnachthulicher“ [= unwiderholbarer] „sanftmut, die wesentliche Güte; in der bezahlung für die ärgste[n] Feinde und Ubelthäter, der Ur=Abgrund“ [= der nicht auszudenkende Abgrund] „Göttlicher Liebe.“ (S. 450) – Zu dem Spruch des Pilatus ,Sehet welch ein Mensch!‘ schreibt die Autorin unter anderem: „Ach! sehet, welch ein Mensch! der in der Höhe GOtt der HErr, vor euren augen itzt der aller elendeste ist. O Gottheit! wie kanst du dich so verbergen? O Menschheit“ Jesu! „wie kanst du so viel ertragen? O Gott= und Menschheit in einiger Person! wie kanst du dich, ohne vermischung, also vereinigen, daß jene [sc. die Gottheit] dieser [sc. der Menschheit] die kraft zu leiden gibet, ohne daß sie das Leiden mindere? Sie machet das Leiden verdienstlich, ohne daß sie dem jenigen, der es am besten verdienet, zu einiger“ [= zu einer einzigen] „linderung diene. Die selbste Gütigkeit“ [= ,die Gütigkeit‘ Gottes ,selbst‘] „ist grausam gegen ihr selber, damit sie den grausamsten feinden gütig seyn könte.“ (S. 464 f) „Was gehöret vor“ [für] „eine Allmacht dazu, die Göttlichen Allmacht=stralen“ [= Ausstrahlungen, Wirkungen] „also einzuziehen“ [= zurückzunehmen], „daß der Allmächtige so onmächtig wird? Was“ gehört für „GOttes=Liebe“ dazu, „für die sünder, die ärgste feinde der Gottheit, also zu leiden, und ihnen die seeligkeit durch so herzbrechende marter zu erwerben?“ (S. 463)

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Vernehmen wir wieder Ausführungen von Greiffenbergs: Die ,Erquickung‘, die zum Leben erweckende Auffrischung, die uns bringt, einzugehen zur ewigen Freude, kann, der Verfasserin zufolge, nur von Gott selbst erwirkt sein: „Wie können, das Blut und die Wunden Christi, solche Bewegungen“ aus der Sünde heraus, „kräfte und erquickungen verschaffen, wann sie nicht mit der wahren Gottheit in persönlicher vereinigung stünden? […] Da sinket der Geist mit dem Blut ins herze, und macht überschwänglich fühlen“.720 Welch „unendliche süssigkeit“ [= Lieblichkeit] ist es, die „aus seinen heiligen Wunden fliesset“.721 „Ach! wäre mir wenigst[ens] nur damals erlaubt gewesen, ihm[..]“ [sc. dem leidenden Jesus], „nach solcher marter, in seiner schmerz=schwäche beyzuspringen, ihn in meine arme zu fassen, die wunden mit meinen lippen zu verbinden, das blut mit tränen zu stillen, und die wütende[n] schmerzen mit liebe zu versüßen!“722 – „Aber, mein HErr JEsu! du wolltest, ohne alle erquickung einiger erbarmnus“ [= ohne alle Leben erweckende Erfrischung aus einzelnen Bekundungen des Erbarmens723], „leiden, und nicht dulten, daß dir die geringste ergetzung“ [= Ermunterung] widerführe: auf daß du uns die allereinste“ [= die ganz einzigartige] „und vollkommenste süße“ [= liebliche] „Himmels=freuden, ohn einige“ [ohne eine einzige] „verbitterung724, erwerben köntest. Dann so vollkommen=schmerzlich dein Leiden, so vollkommen=ergetzlich“ [= erfreulich] „wird unsere freude seyn.“725 „Alle seine schmerzen sind unsere freud=bronnen, und sind die masse“ [= der Stoff, das Element] unserer erquickungen“ [= unserer zum Leben erweckender, uns zuteil gewordener Wohltaten].726 Das Zitierte ist nicht nur im äußersten Kontrast formuliert: Jesu Wunden und unsere dadurch uns eröffnete Freudenseligkeit. Das jeweilige Extrem – Jesu Leiden führend zu unsrer Freude – muß, der Autorin zufolge, in sich gänzlich (oder total) das sein, was es ist: „vollkommen=schmerzlich“ und ,vollkommen-erfreulich‘. Solche Ausformung ins Unbedingte-Totale folgt aus der angenommenen Göttlichkeit des Leidens Jesu. Sie entspricht der traditionellen Rede von Gott, die eben nur All- und Unbedingtheit-Aussagen kennt – und keine Einschränkung durch einzelnes Bestimmtes, das ja immer endlich ist. Doch aus der Göttlichkeit des Leidens Jesu folgt vor allem, wie oben zitiert, dies: Die qualvoll schmerzenden Wunden selbst schon (oder an sich) tragen in

720 721 722 723 724

S. 423. Ebd. S. 429. Wie z. B. im Zitat zuvor von Greiffenberg eine solche Erbarmungs-Bekundung von sich dartut. Eine ,Verbitterung‘ hätte bei Jesus zustande kommen können, wenn er auf einzelne Bekundungen von Erbarmen angewiesen gewesen wäre, und solche teilweise ausgeblieben wären, wie das unter Menschen der Fall ist. 725 S. 430. 726 S. 432.

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sich unser Heil; die Wunden Jesu Christi sind an sich göttlich und sind so unsre Heilbringer, unser ,Heiland‘ – und nicht etwa nur ,Heilsmittel‘.727 Die Heilswirksamkeit ist besonders eingehend ausgeführt für das Blut Jesu, also für das, was in den Wunden Jesu lebendig ist, überhaupt der Träger alles Lebendigen ist. „Ach! du [sc. Jesus] haupt=qwelle meiner freuden! wieviel blut=qwellen wurden in deinem haupt eröffnet“ durch die Dornenkrönung! […] „O ihr himmlische Rubin=brunnen!728 fliesset in mein herze. […] Du gebenedeytes Blut=springwerk! betreufle meinen Geist und meine liebe, mit deinem Engel=thau. Ich will, diesem wunder= und wunden=kunst= und brunst=regen mich willig unterwerfen,“ auf „daß ich die ergötzlichste“ [= zuhöchst erfreuliche] benetzung fühle.“729 Im Gegensatz zum Geschrei der Menge: ,Sein Blut komme über uns‘, äußert von Greiffenberg: „Ach ja, mein süssester“ [= liebevollster] „JEsu! dein Blut sey über uns! deinen himmlischen Vatter zu versönen, den Satan unter unsere füsse zu tretten, die welt zu überwinden, und unsere eigne böse natur zu überwältigen. Ach! dein blut, dein Blut, dein allerheiligstes blut, sey über uns! Wer will alsdann wider uns seyn? Es sey der Schild über uns, der uns zu Ehren setzet, der Himmel, der uns bedecket, die Burg, die uns bewahret, der fels, so uns schützet, der Purpur, so uns bekleidet, die Krone, so uns zieret,“ [usw.] „Es sey auf uns, […] als eine meer=sand=viele genugthuung“ [= eine Genugtuung mehr als aller Sand am Meer], „als ein Himmel=gültiges Lösgeld, als eine Gott=vergnügende versönung, endlich als ein die seelige Ewigkeit versieglendes Petschaft“ [= mit Siegel versehene Urkunde], „das weder hölle nocht welt erbrechen konnen. […] Es sey auf uns, daß es von GOtt zugerechnet […] werde: nicht anderst, als wan es selber, mit aller seiner Heiligkeit, Reinigkeit und Gerechtigkeit, aus unsern adern geflossen wäre.“730 – So drückt sich der von Greiffenbergsche „Heilsrealismus“ aus.731 Wieder und wieder breitet von Greiffenberg in Worten und Bildern die Schmerzen und Wunden Jesu aus, nun die, die ausgelöst sind durch die auf das Haupt Jesu geschlagene Dornenkrone: „Was augen=netzende qual muß es gewesen seyn, die stachlichte spitzen also mit macht in der haut zu fühlen? Wie werden die allerzartesten hirn= und stirn=schläfe= und scheitel=adern gekracht und gesprungen haben? Wie wird das blut über das lieblichste angesicht herab geflossen, und mit tränen sich vermischet haben! Was erschüttrender schmerz und wehtum“ [= Wehtun] „wird es gewesen seyn, so viel dörner=nadeln in dem unleidlichsten“ [= am wenigsten Schmerz-Leid ertragen könnenden] „hauptteil zu leiden, davon sich die vorigen wunden alle 727 Vgl.: ,Weil wir durch Christi Leiden vom Leiden in der Hölle erlöst sind, deshalb‘ „sind alle umstände“ seines Leidens „auf das genaueste zu erwägen, weil in einem jeden ein Erlösungs=glück verborgen lieget.“ (S. 499 f) 728 „Rubin=brunnen“: Brunnen, aus denen fließt, was rot wie das edelste Gestein ist. 729 S. 432 f. 730 S. 495 f. 731 S.o. S. 103 f.

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wieder entzündet und verärgert“ [= noch ärger geworden]: „welcher schmerz=wiederhall zurücke in das haupt gegangen, und die qual wird vervielfältigt haben.“732 Doch all das ausgedeutete Leiden Jesu, wie von Greiffenberg es darlegt, bleibt bezogen darauf, daß es göttliches Leiden und also ewig gültig ist: „Die kraft der Göttlichkeit trägt in einem Augenblick aus, die ganze länge der Ewigkeit: ist also auf ewig, was er [sc. Jesus] in einer stunde, gelitten.“733 Um ein Mißverständnis zu vermeiden, legt sich die Autorin selbst die Frage vor, wie denn das Leiden Christi ein ,Brunnen der Freude‘ sein kann, wenn doch ein sich Freuen am Leiden eines Anderen nur zynisch oder höhnisch sein kann. Sie formuliert die Frage so: „Ach aber! kan auch eine verliebte, an des Geliebten schmerzen und jammer, sich ergetzen?“ Sie beantwortet diese Frage zunächst mit: „Ach! keines weges!“ Und sie fügt sogleich hinzu: „doch auch ja, auf gewisse weise“: Nur das Wissen nämlich um Jesu „ewige[..] Glori“ und „freude“ erlaubt ihr, „freude an meiner Erlösung“ zu „haben“ – aber eine solche Freude, die das an seinen „schmerzen gefasste mitleiden, keinen augenblick zu verringern pfleget.“734 Zusatz: Auch argumentiert sie streng gegen die calvinistische Position – wieder mit einer rhetorischen Frage: „Muste“ Jesus gekreuzigt werden, „damit der rahtschluß Gottes, und“ damit „unser heil vollzogen würde?“ Ihre Antwort ist entschieden: „Ach nein! keines wegs! die Göttliche Verordnung bestimmet niemanden zu seinem verderben. Sie ist auch keine wirkerin einiges“ [= auch nur eines] „übels. […] Sie ist viel zu unendlich=reich an mittel, als daß sie der boßheit hierzu“ [sc. zu ihrem Vorhaben] „solte vonnöten haben; auch gar zu heilig und rein, daß sie böses verfügen solte, um gutes daraus zu bringen. Das Böse ist vom Satan, der im anfang vom höchsten Gut abgewichen. Daß aber die Göttliche Ur=erkenntnis“ [= die götliche Erkenntnis vor aller Zeit für alle Zeit] „das künftige, neben dessen unausbleiblichkeit, zuvor gesehen, und aus unerforschter, höchst anbetbarer weißheit solches“ [= zukünftig Übles] „zur vollziehung seines heiligen [ent]schlusses gezogen, ist so wol zu bewundern, als“ [= wie] „zu verehren, daß sie das höchste übel hat können zum werkzeug des höchsten heiles gebrauchen.“ Nicht aber ist das so „zu deuten, als ob die höchste Güte eine bestimmerin des übels wäre, oder daß sie dessen, zu ausübung ihrer vorsehung, vonnöten gehabt. Der Allmacht würden nie mittel, noch der Weißheit wege ermangelt haben, ihre sachen auszuführen und hätte die boßheit wol davon bleiben können“ [= nie sein müssen]. „Daß aber Gott beliebt, sich der boßheit zu gebrauchen, ist ein überfluß seiner Güte,“ die darin besteht, daß er „auch das böse würdigt, etwas gutes damit zu würcken.

732 S. 432. 733 S. 500. 734 S. 433.

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5. Die Passionsbetrachtungen

[…] Es ist ein grosser unterscheid, zwischen der ursach und dem gebrauch einer sache.“735 Nachdrücklich vertritt und verteidigt von Greiffenberg die Heilsgewißheit des Gott Liebenden und eines an Jesus Christus Glaubenden. Von Jesus Christus erlöst, von – um Metaphern der Autorin zu gebrauchen – Christi Blut durchdrungen und mit ihm versiegelt, haben wir, der Verfasserin zufolge, trotz verbliebener und der Vergebung bedürftiger Sünden, kein Endgericht und keine Höllen-Verdammung zu befürchten, sondern sind wir, Jesu sei Dank, der ewigen Seligkeit, eins mit Gott und Jesus Christus, gewiß. In ihren, der Verfasserin, Worte: Durch Jesu ,unausdenkbar‘ „hohe Büssung unserer sünden“ sind sie „verschlungen, versenket, […], verweset und […] ganz vergessen. […] Wer will herauf holen, […] was in der unendlich=tiefen Güte versunken“ ist?736 „Die Seeligkeit ist uns so gewiß, als“ [= wie] „warhaftig Christus diese uns geziemende schmach und schmerzen gelitten. So gewiß und warhaftig werden wir die“ von Christus „verdiente früchte geniesen, […]. So warhaftig er es“ [= die verdienten Früchte] „erworben, so unfehlbar werden wirs empfangen. Ja, wir haben es bereit[s] empfangen: dann wer da glaubet und getaufft wird, der hat das ewige Leben, und komt nicht in das Gerichte, sondern ist vom Tode zum Leben hindurch gedrungen. Wir sind schon seelig, und warten allein auf die Offenbarung der Herrlichkeit.“737 „O der überschwänglichen Erlösung! […] Er [sc. der Erlöser] hat zum überfluß, uns dieses alles in der heiligen Tauffe, im Wort und Abendmahl geschenket, verkündigen und versieglen lassen: nur daß wir unserer Erlösung und Seeligkeit auf das allergewisseste seyn können, weil sie eben mit den Wunden und mit dem Blut, womit sie erworben, auch versieglet seyn, welche siegel weder welt noch Teufel brechen können! O gnade über alle gnade“.738 Für das Leben in der Zeit hat das Ausgeführte, besonders das zur Heilsgewißheit Gesagte, eine das Handeln und Verhalten betreffende, also ethische Konsequenz: Soll es Gott gemäß sein, so ist alles an der Beharrlichkeit und Beständigkeit in der Ausübung der Tugenden gelegen. Diese mit ,Beharrlichkeit‘ und ,Beständigkeit‘ umschriebene grundlegende Einstellung, gleichsam das tragende Fundament, ist das entscheidend Prägende im tätigen Subjekt für sein Handeln und Verhalten. Die Autorin nennt dies Gründliche 735 S. 485 – 487. Nebenbei ist zu bemerken, welch klar argumentierende Theologin von Greiffenberg ist. 736 S. 451. 737 S. 451 f. – Die letzten drei Sätze sind wohl Zitate aus dem Neuen Testament, aus dem Gedächtnis zitiert; es steht geschrieben: Mk. 16, 16: „Wer da glaubet und getauft wird, der wird selig werden“. Joh. 5, 24: „Wer mein Wort hört und glaubet dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben, und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.“ Röm. 8, 24: „Denn wir sind wohl selig, doch auf Hoffnung.“ 1. Petr. 4, 13: „… auf daß ihr auch zur Zeit der Offenbarung seiner Herrlichkeit Freude und Wonne haben möget.“ 738 S. 464.

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,Herzhaftigkeit‘. An solcher „tapfren herz=haftigkeit“ habe es bei Pilatus ,gemangelt‘; doch sie ist „das herz aller Tugenden“.739 „Die ganze Perlen=kette der tugenden hilfet nichts, wann der knopf der beständigkeit nicht daran ist: sie zerreissen und verlaufen sich“ [sonst] „alle, […]. Beständigkeit, gibt und ist die Crone aller tugend=werke: ohne sie sind sie nichtes, als vergebliche anfänge“.740 ,Unüberwindlich‘ „muß man seyn, wann man JEsum“ bei sich „erhalten will. Man muß keine ungestümmigkeit“ [= keine ungezügelte Leidenschaftlichkeit], „den Brunnen seiner Liebe bewegen oder trüben lassen. Es gehöret hierzu eine all=überwindende Unaufhörlichkeit, dann sie hat soviel anfechtungen, daß es oft unmöglich scheinet, ihn [sc. Jesum]“ bei sich „zu halten.“741 Auch eine bestimmte Großzügigkeit oder eine „uneigennutzige großmütigkeit, haben wir von unserm Heiland zu lernen, um eigene Angelegenheiten zu verschmerzen und GOtt zu befehlen, aber diejenigen, so Gerechtigkeit und Tugend belangen, beherzt zu verteidigen, solte es auch mit höchster gefahr geschehen.“742 Und auch für uns trifft zu: „Gleichwie er [sc. Jesus] nicht ermüdet, so überhäufte qwal und schmähungen zu erdulden, also müssen wir auch nicht müde werden, ihm[..] unendliche dienste und verehrungen zu leisten. Eine unabläßlichkeit gehört auf die andere: insonderheit auf die der Liebe Christi“, und auf „die unsere gegen ihm[..].“743 „Aus dankbarkeit gegen deiner [sc. Jesu] dörnern Kron“ sind von uns „alle Creutz=Kronen“ unsres Leidens „mit […] geduld“ zu „trage[n]“.744 Wie wir hörten, ist das treue oder beständige Handeln nach den Tugenden auch eine Weise, wie wir bei Jesus sind und Jesus bei uns ist. Es ist, in von Greiffenbergs Worten, ein Ausdruck des Dankes an Jesus: „Ein rechter Dank“ an den Heiland besteht „mehr in der Tugend=übung, als in Lobworten“. So „gieß“ folglich „durch deinen H. Geist, gleichwie die begier in meinen willen, also die kraft ins vermögen, daß ich dir thätigen dank gebe“.745 „Unser ganzes leben“ sei ,gerüstet‘, „ihm[..] [sc. dem Sohn Gottes] in der Ewigkeit unendliches lob und dank dafür“ [sc. für die uns erworbene Erlösung] „zu geben, und hier damit anfang zu machen.“746 „Ach, mein GOTT! wann ich mich ganz in dank verschmelzen könte, daß ich, als reines wachs, eine kerze deiner Ehre würde, die allein dir zu lob bränne.“747

739 740 741 742 743 744 745 746 747

S. 476. S. 482. S. 497. S. 474. S. 458. S. 505. S. 509. S. 484. S. 501 f.

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5. Die Passionsbetrachtungen

5.8 Die neunte und zehnte Betrachtung Gegenstand der neunten ,Betrachtung‘ ist der Weg Jesu zur Kreuzigung auf Golgatha und die Tatsache seiner Kreuzigung. Auch in dieser ,Betrachtung‘ wiederholt von Greiffenberg beharrlich ihre theologische Grundüberzeugung, wonach Jesus all das Grausame, Schreckliche darum erdulden muß, um uns Menschen die ewige Freude in der Seligkeit einzubringen. So läßt beispielsweise die Autorin Jesus selbst sagen: ,Ich bin nicht zu beweinen,, „weil ewige freuden=früchte und lachens=lust aus meinem Leiden kommen wird.“748 Und die Autorin antwortet: „Ich bin so gewiß hierinn, daß Christus für mich starb, als“ [= wie] „daß ich lebend bin.“749 ,Ich will ganz‘ „in deiner [sc. Jesu] Liebe“ ,sein‘. „Und wann ich auch die gantze Welt mit deinem Lob und Preiß erfüllte, wäre ich doch nicht vergnügt, und hätte dich nicht satt geliebet: denn die gantze Welt und Natur ist endlich, meine liebe und seele aber unendlich.“750 Wieder werden die Wunden Jesu und die daraus folgenden Schmerzen breit dargetan, um dem den Trost der ewigen Seligkeit folgen zu lassen. Das führt die Verfasserin aus in einer völlig ungewöhnlichen Phantasie von Bildern, die immer abwechseln und neu einsetzen. Sie stellt beispielsweise das ganz ungleiche Verhältnis zwischen der geforderten Bezahlung für die Sünden einerseits und andererseits der Jesus zugefügten und von ihm tatsächlich erduldeten, blutigen Mißhandlungen und unerträglichen Schmerzen dar : Als einem Gottgleichen angetan, sind sie folglich von unendlichem Gewicht und mithin ,göttlich‘, so daß ein einziger Blutstropfen gänzlich hätte ausreichen müssen.751 Für diese Annahme führt die Verfasserin hier eine Reihe von Bildern oder Metaphern an: „O überschwänglichkeit! Ein Pfenning wird mit einer Million, ein tröpflein“ [= die geforderte Bezahlung] „mit einem Meer, und ein Stäublein mit huntert tausend Centnern bezahlet. Wer will weiter eine Schuld fordern, die also überzahlet, ja nicht allein bezahlet, sondern von der überwichtigkeit“ [der Erlösungssumme] „in einen unergründlichen Abgrund versenket worden, daß sie [sc. die Schuld] nicht mehr zu finden ist?“752 748 SW 10, S. 540. Die Stellenangeben im folgenden beziehen sich auf diesen Band der „Sämtliche[n] Werke“. 749 S. 564. 750 S. 613. 751 Siehe: „Ein einiges“ [= einziges] „tröpflein, ein einiges dörnlein, ein einiges rißlein, wäre genug vor“ [= für] „aller welt sünde“ (SW 9, 464). „Ach! du Erwerber der ewigen Krone! wieviel tausend mehr als Himmel und Erde wehrte bluts=tropfen, hat es dich gekostet, uns solche“ [sc. Krone] „zuwege zu bringen. Ach! ein jeder ist ein spiegel deiner unausdenklichen Liebe, und ein zunder“ [= ein leicht entflammbarer Stoff] „der unsrigen“ [= unsrer Gegenliebe] (A.a.O., S. 435). Für die Aussage, daß ein Blutstropfen Christi für die Tilgung unsrer Sünden genügt hätte, führt die lutherische Erbauungsliteratur als Kronzeugen Bernhard von Clairvaux an. 752 SW 10, S. 555 f. Vgl.: „Unsere sünden sind dagegen“ [sc. gegen das erlösende Blut Christi] „wie

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5.8 Die neunte und zehnte Betrachtung

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Ein umfänglicher Teil753 wird eingenommen von einer fast eigenständigen Abhandlung über die „Wunden“ Jesu als „rechte Wunder=quellen“. Wie der erste alttestamentliche Vergleich, der von Mose „geschlagene Felse[n]“754, bezeugt, geben sie, die genannten „Wunder=quellen“, „lebendiges Wasser[..]“.755 – Dieser Teil führt weit weg vom Text der Passionsgeschichte. Abgeschlossen wird er von der Verfasserin mit den Worten: „Ich muß mich mit Gewalt von der unaufhörlichen wunder=wunden=betrachtung abreissen, weil ich sie nimmermehr mit willen verlassen würde: um in der Leidens=betrachtung fortzufahren. Mein Herz bleibet doch darinn, wann die Feder schon weitergehet.“756 Über weite Passagen werden die „Wunden“ Jesu und damit sein Blut als „Wunderquelle“ verglichen mit wunderhaften Quellen und Wassern zunächst der antik-giechischen Mythologie und Sagenwelt757, sodann mit entsprechenden Szenen und Gegebenheiten des Alten und Neuen Testaments.758Dabei werden vor allem die biblischen Wunder-Wasser mit dem Blut Christi in Beziehung gesetzt und dessen Überlegenheit aufgewiesen: „Du unvergleichliches, doch allen gleichnisen in heiliger Schrifft gleichendes Blut Jesu Christi!“759 „Dein heiliges blut leschet den durst in den Wüsten dieser Welt.“760 „Ach […], du allerheiligestes Blut! du bist […] die alles verschaffende Himmels=Kraft, die über natur wirkende Natur, die unüberwindliche All=überwindung, die Meisterin aller Ersinnlichkeit“.761 „Dein Herz, HERR JESU! und deine Leber geben mir Blut, das vor“ [= für] alles gut ist.“762 Denn von Jesu Blut gilt, was Johannes der Täufer angekündigt hat, daß einer kommen wird, „der mit dem Heil. Geist, und mit Feuer täuffet. Dein Geist ist im Blut, und dein Blut ist voll Feuer und Flammen.“ Und die Autorin fährt fort: „Ach! entzünde, und verbrenne mich damit.“763 Anders gesagt: Der Geist Jesu ist in seinem Blut, und darum ist sein Blut „voll Feuer und Flammen“ seines Geistes. Und die Autorin erbittet für sich, davon „entzünde[t]“ zu werden und darin aufzugehen. Auf das Abendmahl bezogen, heißt das: „Dann“ [= denn]

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ein fünklein“ [= ein Funke] „gegen einem meer, das ja über=voll ist, es [sc. das fünklein] auszuleschen; wie ein gläslein gegen einem strom, […]; wie ein quintlein gegen tausend tonnen, […]; wie ein blicklein gegen die Ewigkeit; wie eine million zur bezahlung eines groschens“ (SW 9, S. 112). SW 10, S. 583 – 615. Ex. 17, 6; Num. 20, 11. SW 10, S. 583. S. 615. S. 583 – 587. S. 587 – 599. – Doch, wie die Verfasserin selbst hinweist, war, in der Antike und im alten Testament ,zumeist‘ „unbekannt“, daß „GOTT leiden, sterben und gekreutzigt werden solte“ (S. 623). S. 595. S. 589. S. 591. S. 593. S. 593 f.

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5. Die Passionsbetrachtungen

„es ist und bleibt eine vollkommen=alleinige GOttes=Gnade, daß wir das Leben und Heil aus deinem Blut und Wunden trinken. Diese, diese sollen meine helle Quelle seyn, und mein klarer freuden=bach, immer und ewiglich“.764 Ziel all dieser Darlegungen ist die Selbstaneignung dieses Quellwassers: des Blutes Christi. „Ach! so komme auch zu mir, du belebender Lebens=strom! du heil=bringender Jesus=fluß! belebe mein innerstes, dir allein leben zu können.“765 „Zünde an, O heiliger Jehova=[…]bronn! die Fackel meines Glaubens, und lesche hingegen aus alle in mir brennende begierden der Eitelkeit.“766 „Darum bitte ich dich, du Brunn des Lebens und der Gnaden! gib mir lebendiges Wasser. Hast du nichts, damit du schöpffest, weil du bist mit Händen und Füssen angenagelt, und der Bronn deiner Wunden tief ist: ach! so will ich auf deine Erlaubnus, selber schöpffen, mit dem Eimer meines Glaubens, mit dem Krüglein meines Hertzens, mit dem Schällein“ [= Schälchen] „meines Mundes, mit dem Löffel meiner Zunge. Ich will trinken, auf daß mich ewiglich nicht dürste; daß in mir sey ein Bronn des Wassers, das in das ewige leben quillet. HErr! gib mir oft dasselbe Wasser, (welches dein Blut ist) im heiligen Abendmal: daß mich nicht dürste“.767 Abschließend wird die Erlösungskraft der Wunden Jesu gerühmt: „O du gebenedeite stunde, in der diese edle Lebens=Brunnen entsprungen“, in der „das Blut aus“ Jesu Christi „heiligen Wunden“ geflossen: „du Geburtsstunde unsers heils, unserer freuden und erqwickungen!“768 Daraus folgt als Lob und Dank der Verfasserin: „Deine allerheiligste Wunden […] sind die Himmel meiner Sinne, die Geheim=zimmer meiner Gedanken, die Magnete meiner Liebe, und der Anker meines Herz=schiffs, das mit denen“ [= deinen?] „Glori, Lob, Ehre, Preis und Dank beladen ist.“769 An diesen Ausführungen schließt sie zunächst als ein neues Thema an: Ihre Unwürdigkeit und ihre doch geltende Würdigung. Und sie weitet es dann aus zur Gottverbundenheit und zur Jesus-Liebe. Auch mit diesen Darlegungen entfernt sie sich weit vom Text der Passionsgeschichte. Sie schreibt im Anschluß an das ,Hohelied‘: „Ach! mein ertz=hertzliebster Himmels=Bräutigam! wie komme ich aller unwürdigste zu diesen“ ,hochachtenswerten Worten‘: „deine […] Liebste, und zwar Liebste von der Erden, von dir genennet zu werden?“ Die „Gnade“ dieser Worte „ist grösser, als sie geglaubt, geschweige ausgeredet kann werden. Wie komme ich unwürdige zu solcher Würdigkeit, die ich allein des Zorns und der Ungnade würdig bin, […]. Es müste dann die Ursache seyn, weil du mein Herz und in demselben den innersten Grund ansihest, der ganz von deiner Liebe glimmet, und mit der 764 765 766 767 768 769

S. 599. S. 592. S. 585. S. 595. S. 630. S. 629.

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5.8 Die neunte und zehnte Betrachtung

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allerbrünstigsten“ [= allerintensivsten], „innigsten und äussersten begirde ist, dich aufs allerhöchste zu lieben. Wann du diesen willen vor“ [= für] „das werk nimmest, so kan ich, mit etwas recht deine geliebte heissen.“770 „Laß deine Liebe das einige“ [= einzige] „seyn, wonach ich ziele, zische, flische“ [hinfliege wie ein Pfeil], „flamme und fliege.“771 – Gewürdigt ist, wie wir hören, ein glaubender Mensch, wie die Verfasserin, dadurch und darin, daß die Gegenliebe zu Jesus von Jesus anerkannt und gewürdigt wird. Es ist das nicht etwas Besitzhaftes (eine Art von Restsubstanz) im Grunde des Herzens, was der Grund der Würdigung wäre; sondern Grund der Würdigung und also der Würde eines Glaubenden ist der Vollzug einer Anerkennung, die ihm zuteil geworden ist, sogar über das getane ,Werk‘ hinaus. Denn das ,Werk‘ bleibt nach der Verfasserin leider nur zu oft nicht nur hinter dem ,Wunsch‘, auch hinter dem ,Willen‘ zurück. Doch sogleich ruft diese zuteil gewordene Würdigung einen Einwand hervor: „Aber was verdiene ich damit, da es nicht mein, sondern dein werck ist? hast doch nur du, feuriger Jesu! dieses Fünklein in mich gelegt, und nicht ich selber! du blässest es auf, schürest ihm zu, legest an, erhältest und unterhältest es, mit deinem Geist und Wort, Leib und Blute. Ich thue nichts, als daß ich leide, und deinem Geist still halte, wann ihm[..] in mir etwas zu wirken beliebet. Ich bin dir noch dazu aufs allerhöchste verbunden, daß du mich mit dieser Gnad=Einfliessung bewürdigen“ [gewürdigen] „magst“. Es ist da kein ,Verdienst‘ gegenüber „deiner gemeinesten, geschweige“ gegenüber deiner „absonderlich innigsten Liebe. So bleibet es […] eine [un]verdiente göttliche Gnaden=freyheit“, welche die Gnade zuteil werden läßt dem, welchem „es ihr beliebet“.772 – „Damit aber ich“, die Autorin, „dieser Gnade nicht verlüstig, noch gänzlich unfähig werde, so vermehre in mir die Begierde der Gegenliebe, und mache sie so rein und übergroß, daß sie die Natur und alle Himmel übersteige.“773 Die Verfasserin schreibt weiter : Wir haben „die wesende“ [= wesentliche] „Heilig= und Würdigkeit“ nicht „an uns, und“ wir „werden doch nichts desto weniger wesend= und wirklich, heilig und seelig geachtet.“ Die „Zurechnung“ Gottes – also das, wessen er uns würdigt – „ist so vollkommen, daß sie in ihm [sc. Jesus Christus] die Straffe“ [für die Sünde], „und in uns die Geniessung der Seeligkeit, zum wesen machet; daß seine wesende Unschuld und unsere Sündlichkeit gleichsam verwechslet […] wird. […] O Schuld, auf der Un770 S. 599 f. 771 S. 602. Vgl.: „Alle Krafft geht in ein Ziel, welches zielet dich zu lieben“. (S. 608) 772 S. 601. Vgl.: „Nimand verzage, niemand verzweifle, niemand lasse sich seine unwürdigkeit abschröcken. […] JEsus“ wird die „gnade“ der Bekehrung „allen erzeigen, die sie verlangen. […] JEsus hat den anfang gemacht“, selbst bei denen, die gar nicht an ihn gedacht haben. „JEsus allein hat es gethan, wird und muß es auch thun, so lang die welt stehet.“ (SW 9, S. 200) – „Die Allheit“ [= Jesus selbst] ,bezeugt‘, „wie gar alles allein an ihrer Lenkung gelegen ist“, und daß folglich „alle selbstfähige[n] zu schanden“ werden (SW 10, S. 727). 773 S. 602.

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5. Die Passionsbetrachtungen

schuld! O Huld, auf der Schuld! O Gerechtigkeit, auch in scheinendem Unrecht, und Gnade im höchsten grad der stengigkeit! O Gnade gegen die Sünder, Gerechtigkeit gegen die sünde“.774 „Ja, HErr JEsu! dich will ich einig“ [= einzig] „haben, empfangen und umfangen, herzen und ins Hertze schliessen, und nimmer mehr daraus lassen: biß mein Hertz hinkommt, wo mein Schatz ist, nämlich zu dir in Himmel.“775 „Ach! wär bald der Leib zerrissen! Ach! wär bald die Seele frey!“776 „Hinweg mit meinem leibe, welcher mich hintert, bey JEsu zu seyn! Hinweg mit meinem leben, welches mit der reinesten Geist=anhangung“ [= Anhängerschaft im Geist] „unvereinigbar ist. Hinweg endlich mit meinem geist, ach! hinweg mit ihme, in die hände und Wunden JEsu! wo er viel sicherer ruhet, als in meinem leibe. Lieblichster JEsu! zieh ihn zu dir [hin]auf“.777 „Sihe gnädig an, die verlangen meiner unsterblichen Seele, und mache meinen Leib sterben, damit er bald unsterblich werde, dir vor“ [= für] „deine Liebe und Leiden unsterbliches Lob zu geben, in alle immerwärende Ewigkeit.“778 Der zehnten ,Betrachtung‘ liegen Jesu Worte am Kreuz und die Umstände bei seiner Kreuzigung nach der neutestamentlichen Passionsgeschichte zugrunde. Im Zuge ihrer Darlegungen kommt die Verfasserin bei Gelegenheit auch auf die Tatsächlichkeit der Hinrichtung Jesu am Kreuz und auf die Reaktion der Umstehenden zu sprechen. Sie beschreibt das so: An einem „dürren und blossen“ [= unbearbeiteten] „Kreutz=Holtz“ mußte Jesus „bloß“ [= entblößt], „blaß“ [= todbleich] „und blutig hangen.“779 „Er hänget verwundet.“780 „Blas und nacket, ohne schutz und Beystand“ ,stirbet‘ Jesus „am Holz“.781 „Er muß da hängen, als ein Schauspiel aller welt, als ein Fluch, daran sich alle Bosheit auslassen und die Galle kühlen kan.“782 Die Zuschauer sehen „den[jenigen] ohne mitleiden leiden, der ihr Leiden so mitleidig gewendet, und in freude verwandlet.“783 Nur die drei Frauen beim Kreuz, „diese JEsus=Liebhaberinnen“, „fühlen seine Wunden und Nägel im Herzen, und seine Angst in ihren Seelen. […] Das Herze ging durch die Augen über, und sie begunte“ [= begannen] „so viel weisses, als er rotes Blut zu vergiessen. […] Der mit seinem Blut besprengte Kreutzesstamm, ward von ihnen unendlich umarmet.“784 Jesu Leiden „wäre 774 S. 620. Häufig wird in der Literatur dieser ,Wechsel‘ zwischen dem Sünder und Christus „fröhlicher Wechsel“ oder „seliger Tausch“ genannt. 775 S. 608. 776 S. 604. 777 SW 9, S. 393. 778 SW 10, S. 631. Dies sind die Schlußworte dieser 9. ,Betrachtung‘. 779 S. 658. 780 S. 680. 781 S. 734. 782 S. 755. 783 S. 680. 784 S. 681.

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nicht das gröste, noch das alleräuserste und vollkommenste gewesen, wann nicht auch das Mitleiden“ über das Leiden seiner Mutter Maria „dazu gekommen wäre: welches über alle Leiden, ja das aller empfindlichste unleidlichste“ [= unerträglichste] „ist. Er hat auch dieses stuck fühlen, und darinn uns gleich werden müssen“.785 Die Autorin bekennt von dem ,gerechtfertigten‘ Schächter : „Heil und Heiland aller Menschen, HErr des Paradeises und aller Engel=wollust! ob [wohl] du schon hier im äusersten Elend schwebest, so glaube ich doch, daß du der HErr aller Herrlichkeit bist, und daß du, ob[wohl] du schon neben mir sterben wirst, meiner, als ewiger GOtt auch im Tod und Grabe gedenken kanst.“786 Und von sich selbst bekennt von Greiffenberg: „Ich verlange keine andere Gnade, im Himmel und auf Erden, als lebend und sterbend bey dir zu seyn. […] Damit ich nun nicht ohne dich, sondern ewig bey dir sey, so nim mich zu dir in dein Reich.“787 Die Verfasserin beginnt diese ,Betrachtung‘ – nach einer kurzen Vorschau auf die gesamten Darlegungen – mit einer Auslegung der ersten Kreuzesbitte Jesu: „Vater, vergib!“788 Von allen sieben Bitten sagt sie: „Diese heilige sieben Worte, sollen nun meinem Gemüte zur Betrachtung, und meinem Leben zur Lehre dienen.“789 Zur ersten Bitte bemerkt sie: „Das erste“ Wort „ist das erste und vornemste, so an ihm zu bewundern, und von ihme zu erlernen ist.“790 Von Jesus gesagt: „Indem ihm[..], vor marter, die Seele ausgehen möchte, bittet er vor“ [= für] „die Seelen derer, die ihn martern. Ja, was noch viel mehr ist, er läßt von ihnen sein Blut, vor“ [= für] „sie, vergiessen, und beweinet es noch“ [= zudem noch] „mit blutigen Threnen, daß sie solches Lößgeld nicht annehmen wollen.“791 „Er verschmerzet, alle schmerzen, verschweigt alle schmach, und verträgt alles unrecht.“792 Nur dies: „Vater! vergib ihnen, sagte der Sohn, so der Vater und Erfinder aller Vergebung ist. Vergib, was sie an mir thun, durch das, was ich für sie thue! […] Sie versündigen sich ja aufs höchste, mit der Kreuzigung“; doch „ist dieses, durch GOttes Wunder=Ordnung, das Mittel der Vergebung.“793 Anders gesagt: Das Kreuz Christi ist das, was uns die Vergebung der Sünden erwirbt; und das soll nach Jesu erster Bitte und Fürbitte denen zuteil werden, die ihn kreuzigen und sich damit zuhöchst an ihm versündigen. Schließt die Verfasserin beides zusammen, das sündvolle Kreuzigen und die Sündenver-

785 786 787 788 789 790 791 792 793

S. 687. S. 732. S. 733. S. 634 – 646. S. 634. Ebd. S. 634 f. S. 635. S. 636.

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gebung durch das Kreuz, so ergibt sich – wieder – ein extrem gespannter Kontrast. „Gleichwie aber, nicht allein diese Kriegsknechte, sondern auch wir alle mit unsern Sünden, ihn gekreutzigt“ haben, „also bittet er [sc. Jesus] „auch hier, nicht allein für sie, sondern auch für alle Sünder, und folgbar“ [= folglich] „für alle Menschen.“794 Und noch einen Schritt weiter wird das Gesagte konzentriert: Das am Kreuz Jesu vergossene Blut selber schreit die Vergebungsbitte: „Auf einem jeden Bluts=tröpflein Christi“ könnte geschrieben stehen: „vergib, vergib, O Vater!“795 Mit allen „heiligen Bluts=tröpflein“ schreit Jesus „diese heilige vergib=bitte aus, auf welche, aus allen Himmeln, der Echo des Vergebens wiederhallet: Es ist alles versöhnet, alles vergeben. O Gnade! O wunder!“796 „Das unschuldigste Lamm [sc. Jesus] entschuldiget“ überdies „die, so an seinem tode schuldig sind“, mit der Begründung: Denn „sie wissen nicht, was sie thun.“797 „Sie wissen nicht, daß sie ihren GOtt, Heiland und Erlöser martern.“ – „Du allersüssestes Herz“ [= Jesus] „sagest auch für uns zugleich: vergib O Vater! sie wissen nit was sie thun.“ Es „wissen nicht, was sie thun die Heyden, Jüden und Türken, indem sie […] den GOtt von sich stossen, der sie von Ewigkeit zu sich beruffen hat“.798 Auch „unter den Christen“ ist „irrtum und ketzerey“.799 „Vergib“ deretwegen, „O grundgütige Gottheit! so viel tausend unwissenheiten, die in meinung deiner Verehrung geschehen.“800 „O freylich wissen alle Sünder nicht eigentlich, was sie thun; dann die Sünde ist eine Verblendung und Verführung des Satans, eine Verirrung, und finsterer Abgrund, da man nichts sihet, und vermerket, was man thut oder vorhat, wohin man sich vergehet, und wie man wieder daraus kommen soll.“ – „Wir wissen nicht, was wir thun, im augenblick der übereilung“ [= Überraschung]; „ob wir schon sonst wissen, daß wir dieses nicht thun sollen. […] Wir dörffen“ [= dürften] „wol oft meynen, wir thun das bäste, da wir das übelste thun. Wir können auch, welches das ärgste ist, keine reue haben, wo uns die Abscheulichkeit der fehler nicht bekandt ist. Ach vergib, O Vater! um JEsu Vergib=bitte willen.“801 Jedoch: „Vergib aber nicht allein, sondern gib uns auch die Gnade der seeligen Vergebungs=kunst. Laß von dir lernen, nicht allein sanft= und demütig zu seyn, sondern auch unsere Feinde lieben, vor“ [= für] „sie zu bitten, ihnen zu vergeben, und die Vergebung ihrer schulden bey deinem“ [= Jesu] „Vater auszubringen“ [= zustande zu bringen]. „Ach JESU! erleichtere alle 794 795 796 797 798 799 800 801

S. 637. Ebd. S. 638. Ebd. S. 639. S. 641. S. 642. S. 643.

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schwerheit! tritt mir zu, und mach mir leicht, was mich sonst unmöglich dünket. […] mache mich mächtig […], daß ich auch durch dich dieses vermöge, die ich in dir sonst alles vermag.“802 Nach von Greiffenberg verbleibt noch ein Problem: „Meine gröste feinde, wann ich es recht betrachte, sind die Laster.“ Und von ihnen behauptet sie: „Wider die es keiner Reue, auch einiger“ [= auch nicht einer] „Vergebung bedarf. Diese hasse ich an mir und andern, ohne Versöhnung. […] Hasse ich nun die schwachheiten und übereilungen an mir, so hasse ich ja billich auch die mutwillige und vorsetzliche Laster an andern. Ja, ich hasse sie im rechten ernst, […].“ Zwar „mache“ ich „mich dadurch verhast bey den Lasterhaften, […]. Aber GOTT kennet meine Meinung, und liebet meinen haß“.803 – Ganz unüblich ist, daß hier eine Grenze der Vergebungsbitte festgestellt wird. So ehrlich das ist; es wird nicht genügend klar, wie diese Ansicht zu verstehen ist. Dies, daß das Laster nicht zu dulden, sondern ihm zu widerstehen und es zu überwinden ist, und daß dies oft nicht gelingt, kann ja der Grund für jene Grenze nicht sein. Und von einem ,Lieben des Hasses‘ kann sinnvoll nicht die Rede sein: Die Liebe prallt entweder am Haß ab, oder sie löst ihn auf. Eine weitere eingehende Erörterung widmet von Greiffenberg dem neutestamentlichen Bericht von den drei Frauen unter dem Kreuz Jesu und von der Übertragung der Sohnschaft des Johannes an Maria.804 Der Bericht gibt ihr die Gelegenheit, die Wechselseitigkeit oder Wechselwirkung der Liebe darzulegen.805 Nach von Greiffenberg waren die drei Frauen unter dem Kreuz – „diese JEsus Liebhaberinnen“ – zutiefst schmerzvoll ergriffen vom Anblick der blutigen Kreuzigung Jesu; insbesondere Maria mußte den so grausam „leiden sehen, den sie mehr als sich selbst liebte“.806 Es ist eine vom ,heiligen Geist‘ erregte „Betrübnis“, zuinnerst ,betrübt‘ „um Christum“ zu ,trauern‘ und zu „jammern“; und es ist „diß eine Noth, so nur die allertreuesten triffet.“807 Aber, wie sogleich dargelegt wird, nimmt der gekreuzigte Jesus die jammervolle Not der Treuesten um ihn wiederum selbst wahr : „Die allergnädigste Augen JEsu, sehen auch gar am Kreutz auf seine Liebsten, und zwar mit innigster Liebe und Erbarmung“ – und dies besonders auf die jammervolle Not der Maria und auf Johannes.808 Er, der „allermitleidigste“ […] „litt[..], nicht allein an seinem, sondern auch in ihrem [sc. Marias] Leib, unerleidliche“ [= unerträgliche] „schmerzen, durch das innigste Mitleiden“ mit ihr. Ihre, 802 803 804 805

S. 643 f. S. 645 f. S. 681 – 696. Die lutherische Erbauungsliteratur kennt ganz selbstverständlich den Wechsel von „ich“ und „du“ in der Liebe („ich bin dein und du bist mein“). Aber eine Beschreibung der Wechselseitigkeit oder -wirkung der Liebe selbst ist mir ansonsten in jener Literatur nicht begegnet. 806 S. 681 – 683. 807 S. 683. 808 S. 685 u. folg.

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seiner Mutter Marias, „Seele […] wird, als ein Feur=spiegel, die von ihm empfangene schmerzstrahlen wieder in sein [sc. Jesu] Herze zurück gestrahlet“ haben, „und die gröste schmerz=inbrunst“ [= vom Schmerz, ausgelöste Liebe] „angerichtet haben.“809 Von einer ,Schmerz-Liebe des Mitleidens‘ ist hier die Rede. Was diese Liebe bewirkt und ist, das sei als ,Wechselwirkung‘ in ,Wechselseitigkeit‘ bezeichnet: Maria empfindet aus Liebe zu Jesus dessen blutig geschlagene Schmerzen. Dies ist aus Liebe ihr Mitleiden mit ihm. Und Jesus nimmt das wahr – das Mitleiden Marias – aus Mitleiden mit Marias Mitleiden mit ihm. Damit hat Marias Herz das, was es von Jesus empfangen hat, gleichsam zurück-gespiegelt, ,zurückgestrahlt‘ in Jesu Herz. M.a.W.: Die Liebe, sich ausdrückend als Mitleiden, vollzieht sich in der Wechselseitigkeit des Empfundenhabens und des Zurückwendens oder Zurückgebens. Und mit einem solchen gegenseitigen Erwidern des Mitleidens mit dem jeweiligen Anderen wird die gemeinsame Liebe gestärkt. Nach dem Fortgang des Textes überträgt Jesus seine Sohnschaft Maria gegenüber an Johannes und spricht zuerst zu Maria: „Sihe, das ist dein Sohn!“810 Johannes „ist, nicht an stat deines Sohnes, sondern dein Sohn, […] der von mir aus dem Geist geborene, der dir […] ein Trost deines Alters, der Stab deiner Jahre, die Stütze deines Lebens, und die Kraft deiner Schwachheit seyn soll.“811 – Und zu Johannes spricht Jesus: „Sihe, das ist deine Mutter!“ Sie ist deine Mutter, sagt Jesus, „weil ich […] dein Herze zu ihr, und ihres zu dir neigend“ mache, so daß „eine recht kind= und mütterliche Liebe entsteht.“ Denn sie hat auch für dich „den jenigen“ ,unter ihrem Herzen‘ „getragen, der dich in seinem, und du ihn hinwiederum in deinem Herzen trägest.“812 Ziemlich ausführlich813 äußert sich von Greiffenberg über die Verspottung des am Kreuz angenagelt hängenden Jesus durch die Zuschauer, die Vorübergehenden, durch die Hohenpriester und auch durch den einen mitgekreuzigten Verbrecher. Halten wir fest: Die göttliche Hoheit befindet sich hier in der äußersten, unerträglich erbärmlichen Niedrigkeit. Und sie ist in diesem Elendszustand aufgrund der Selbsterniedrigung Jesu Christi, so daß von außen, sichtbar, nichts an Göttlichkeit an ihm zu erkennen ist; sondern nur abstoßendes Elend und gänzliche Ohnmacht zu sehen sind. Einzig der Glaube, der die Selbsterniedrigung und damit die verbliebene, aber verschwiegene, von außen unkenntliche Gottheit Jesu anerkennt und der sich einläßt auf den Zweck der Erniedrigung, nämlich unsre Erlösung – allein der Glaube, dem das einleuchtet, erkennt im Kreuz Jesu den wahren Gott. Es ist auch in unserer Gegenwart gewiß und wahrlich ein starker Glaube, wenn einer an Jesu Sterben 809 810 811 812 813

S. 686 f. S. 692. S. 693. S. 694. S. 696 – 724.

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erkannt hat und für sein Leben wahr sein läßt, also glaubt: Gott ist auch am tiefsten „unten“ wirkend bei dem, der im Aushalten seiner abgründigen Not Gott nicht verrät. Da die Spötter die Selbsterniedrigung Jesu Christi nicht nachvollziehen, nicht glauben, verkennen sie den gekreuzigten Jesus Christus in seiner Niedrigkeit, in seinem Elendzustand am Kreuz, gänzlich. Sie berufen sich darauf, daß Jesus gesagt hat: Ich bin der gottgleiche Menschensohn, im Griechischen gesagt, der Gottes Sohn, und auch ein König, jedoch nicht von dieser Welt. Das, wozu sich Jesus öffentlich bekannt hat, nehmen die Spötter zur Grundlage und fordern daraufhin seine Gottheit als eine sichtbare, machtvolle ein. „Bist du Gottes Sohn, so steig herab vom Kreuz!“ Bist du „der König Israels, so steige er nun vom Kreuz. Dann wollen wir an ihn glauben“ (Matth. 27, 40 u. 42). Da der gekreuzigte Jesus diesen Machterweis nicht erbringt, ist er in den Augen der Spötter ein erwiesener, großer Lügner und Gotteslästerer. Für die christliche Tradition und für von Greiffenberg jedoch verkennen die Spötter und insbesondere die jüdischen Oberen trotz der alttestamentlichen Weissagungen, den Jesus am Kreuz völlig. Darum sind sie nach christlicher Tradition die Sünder und Gotteslästerer. Was hier zusammengefaßt ist, legt von Greiffenberg wie folgt dar : Sie setzt ein mit der schlicht menschlichen Erwartung, die Vorübergehenden könnten wenigstens „Mitleiden haben“814, „wenigst ein fünklein Erbarmnus“, wie man es selbst gegenüber einem „Übelthäter“ hat, für den blutend ans Kreuz genagelten Jesus aufbringen. Ihr ,Spotten‘ eines „elenden“ ist unmenschlich.815 ,Anstatt‘ „daß sie Mitleiden haben […], lästern“ sie „JEsum.“816 Die ,Schmähungen brechen‘ „das edle Herz JEsu“.817 „Nichts qwälet so hart, als sich, im grösten Elend, noch von seinen Feinden gehönet“ [= verhöhnt], „und mit dem hülf=unvermögen verlachet sehen.“818 Aber „das alles leidet die gedultige Allmacht und allmächtige Gedult“ Jesu, „ohn einiges“ [= auch nur ein] „widersprechen, ob wol mit äuserstem schmerzen.“819 „Das gedultige Lamm GOttes“ tat „seinen Mund nicht auf, zu allen diesen Mord=worten, sondern erstumte“ [= verstummte], „und hatte keine Wieder=rede in seinem Munde, keine Gall, keinen Zorn im Herzen. Sein inwendiges war ganz mit Liebe und Güte erfüllet, daß so viel Ströme der Lästerung sie nicht ausleschen konten.“820 Dafür, für das Erdulden und Aushalten der Verspottung, „gebühret“ Jesus „der unaussprechlichste Preiß“, hat er doch „aus Göttlicher, unerreichlicher“ [= uneinholbarer], „unendlicher, erz=überschwänglicher Treue, sich selber aller hülfe beraubet, und ihme selber“ [= sich selber], um „uns zu helffen, 814 815 816 817 818 819 820

S. 696. S. 697. S. 696. S. 699. S. 701. S. 709. S. 719.

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nicht geholffen […]. O unglaubliche Güte=hoheit und unaussägliche Himmel=Liebe! selbst ohn hülfe seyn wollen, um denen zu helffen, von denen man nicht allein in äusserste Noth gebracht, sondern auch noch in derselben und eben deswegen verpottet wird.“821 Die Verfasserin benennt den Beweggrund oder die „Ursache“ der Verspottung Jesu genau: „Die Ursache war, daß ihnen [sc. den Spöttern] seine [sc. Jesu] führende Regirung durch Schwachheit und Niedrigkeit unbekandt, und kein Glaube in ihnen war“.822 Und folglich treiben sie ihren Spott mit Jesus: „Bist du Gottes Sohn, so steige herab vom Kreuz“, steht beim Evangelisten Matthäus. Die Verfasserin legt das so aus: „Ach! eine höllische verdamte Trotz=frage! ein teuflicher Vorwurf! daß“ er „das nicht sey, was“ er „ist, weil“ er „die Prob=bewährung nicht leisten könne. Ach! verfluchte Beelzebubs=Boßheit! die aus dem elend einen Beweiß der Unwürdigkeit nimmet, und die Noth für ein Kennzeichen Göttlicher Verwerffung hält“.823 Jesu ,Nicht-selbst-Erlösung‘ scheint „den Unglauben zu stärken“, und bringet“ doch „die Stärkung aller Glaubens=Schwachheit.“ Denn sie „erwirbet“ und verbürgt „die Vergebung der Sünden“.824 Das „Kreutz=hangen“ Jesu ,hebt‘ „die Warheit der Gottheit“ nicht ,auf‘.825 „Der Glaube und die Gottesfurcht, sehen den Sohn GOttes viel klärer und herrlicher, indem er am Kreutz hänget, als wann er herunter stiege. Die Langmütigkeit, ein heller Gottheitsstrahl, schimmert aus dieser erduldung herfür, und leuchtet so stark in die Augen, daß man erkennen muß, der rechte GOTT sey nicht nur allein zu Sion“ [= im Tempel], „sondern auch hier am Kreutz. Die unerreichliche Gedult, unüberwindliche Sanftmut, unermüdete Langmut, unnachthuliche“ [= unnachahmliche] „Feindes=Liebe, und die unergrünlich=treue Vorbitte“ [= Fürbitte] „vor“ [= für] „dieselbe [sc. die Feinden], sind so wesentliche Gottes=Eigenschaften, daß dadurch der HErr JEsus im Geist mehr herunter steiget, als wann er tausent mal vor ihren Augen vom Kreutz gestiegen wäre.“826 Jesu „Allmacht hielte viel grössern Siegpracht, mit der Mensch=unmöglichen und allein GOtt=eigenbaren“ [= eigentümlichen] „hilf=entziehung ihrer selbst, um ihren Feinden zu helfen, als wann sie die Wunder=hülfe, ihn vom Kreutz nehmend, hätte sehen lassen. […] Deswegen erlitt[..] er zwar den herzbrechenden Spott, liess[..] ihm“ [= sich] „aber damit seinen [Ent=]Schluß nicht brechen, die aller=unzerbrüchlichste Liebe durch seine Allmacht zu erzeigen.“827 Der „herz=bekehrte Schächter“, Mitgekreuzigte, „sihet“, erkennt Gott am 821 822 823 824 825 826 827

S. 701. S. 698 f. S. 703. S. 714. S. 715. S. 705. S. 708. Zur „Allmacht“ siehe auch: „Die Allmacht ist […] eine Freundin des Glaubens und der Gottesfurcht“ (S. 705 f).

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Kreuz, „aber nur das Widerspiel“ [= Gegenteil] „dessen, was er von ihm glaubet: den Gegensatz der GOttheit“, nämlich „den menschlichen Jammer.“ Er „glaubet an den, der neben ihm onmächtig am Kreutz hanget. Er nennt den, einen GOtt, an dem er nichts göttliches, sondern das gröste Elend sihet. Der ist seelig, der nicht sihet, und doch glaubet.“828 Aber hier sieht einer wohl etwas: doch das ist, allem Augenschein nach, das pure Gegenteil von Gott, eine ,menschliche Jammergestalt‘ – und er glaubt ihn dennoch als Gott!829 „Gleichwol glaubet er, und hält den für einen unsterblichen GOTT, der zu fürchten sey, den er voll blut und wunden, auch nahe am tod sahe. […] O unvergleichlicher Glaube! aber O noch unerreichlichere“ [= vollkommene] „Gnade GOttes! die ohn einigen“ [= eigenen] „Verdienst, ja ohn alle fähigkeit=vorbereitung, in diesem frevel=sünder, den glauben aus freyer beliebungs=wahl gewirket.“830 Obschon er, der bekehrte Schächer, „nicht ein fünklein anzeigung erblicket, daß“ der mitgekreuzigte Jesus „sich“ als „GOttes Sohn beweisen könne, weil er ihn [sc. Jesus] weder ihm“ [= sich] „selbst, noch ihnen“ [sc. den Schächern] „helfen sehe – gleichwol, bekennt er ihn für GOtt, und will ihn geehret und gefürchtet haben. Das macht das innerliche himmlische Liecht, so ihm die Seele erleuchtet. […] Es macht ihn mit den Augen der Seele, in das unsichtbare schauen. Glaub und Geist dringen durch alle Himmel, sehen was niemand sihet, und erforschen gar die tieffe der Gottheit.“831 Die Verfasserin läßt den Schächer bekennen: „Ich verlange keine andere Gnade, im Himmel und auf Erden, als lebend und sterbend bey dir zu seyn. […] Damit ich nun nicht ohne dich, sondern ewig bey dir sey, so nim mich zu dir in dein Reich. […] Ich sage blos: gedenke mein! weil ich weiß, daß dein Gedenken, ein begnaden, beglücken, beseeligen und zu sich nehmen ist“.832 Den Ruf Jesu am Kreuz in Gott-verlassenheit deutet von Greiffenberg833 in doppelter Hinsicht: als ein „Wunder“ und als Schrei in „unermeßliche[r] Noht“.834 Bei diesem Ruf war Jesus im Zustand der „Gottes=verlassenheit“, die „ein Elend über alles Elend, und der rechte Erzschmerze“ [= der völlige und tiefste Schmerz] „[s]eines Leidens“ war.835 Es „war der äuserste schmer828 Das ist Zitat von Joh. 20, 29. 829 Die Überbietung von Joh. 20, 29 ist an späterer Stelle klar ausgesprochen: „Sonst heißt es: Seelig sind, die nicht sehen, und doch glauben! hier aber : Seelig, die das Wider=spiel sehen, und doch glauben. […], „das augenscheinliche[!] wesen aus dem wege raumen, und ihme“ [= sich] „just das widerwärtige“ [= das Gegenteil] „einbilden“ [= hineinbilden] „ist die höchste Glaubens=kraft.“ (S. 734) 830 S. 724 (Ja, noch mehr : Der hier zum Glauben erweckt ist, sieht nicht nur das Göttliche nicht, sondern sieht nur [nach Text bei Anm. 829] „den Gegensatz der Gottheit“: „den menschlichen Jammer“ – und glaubt dennoch.) 831 S. 729. 832 S. 733. 833 Auf den Seiten 747 – 754. 834 So heißt es: „Es ist aber diese Gottes=verlassenheit nicht nur als ein Wunder, sondern vielmehr als eine unermeßliche Noht, mit höchster erbarmnis und mitleiden zu betrachten.“ (S. 752) 835 S. 793.

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zen=stand in dem ganzen Leiden Christi, da, so zu reden, eine GOttheit=finsternüs und Einziehung ihrer strahlen, eine erz=äuserung“ [= eine völlige Entäußerung] „Göttlicher All=macht, sich begeben.“836 Es war, anders gesagt, der Gipfel seiner Selbsterniedrigung. „Er schrie laut: Mein GOtt! mein GOtt! GOtt selber“, der doch Jesus nach seiner Gottheit ist, „hat hier, in seiner äusersten noht, seine einige“ [einzige] „Zuflucht zu GOTT“.837 Das deutet von Greiffenberg desweiteren aus: „Er“, Jesus, „sagte […] nicht blos, GOtt! sondern besitzender zueignender“ [= zugeeigneter, zustehender] „weise, Mein GOtt! und will damit anzeigen, daß er, auch in den allergrösten nöten, die gröste Zuversicht habe, und in der selbsten“ [= und selbst in der] „Verlassung, von GOtt nicht lassen wolle. Er saget, er sey sein GOtt“ – und der ist doch der, welcher ihm „seine gleich=mithabende Gottes=Kraft entziehet, ihn verlässet, auch der grösten schmerzen=noht und todes=qwal überlässet. […] Er wollte sagen: du bist doch mein GOTT, wann du dich mir schon gar zu entziehen scheinest; wann mich schon aller kraft der Herrlichkeit verlässet, so bist du doch mein Gott, in kraft der erdultung.“ Die Gottheit Jesu zeigt sich und verläßt insofern Jesus nicht, indem sie den Menschen Jesus in seinem Aushalten seiner unmenschlichen Qual – als „kraft der erduldung“ – erhält. „Ob[wohl] ich [sc. Jesus] „nichts von deiner Erqwickung spüre, so fühle ich doch deine Erhaltung“. Jesus spricht nach von Greiffenberg sein Gott-Sein, seine Gottheit als seinen Gott an. „Du bist mein Gott, auch in der grösten unempfindlichkeit, und ich bin der dir gleich=ewiger GOTT, wann ich schon ganz das gegenspiel“ [= Gegenteil] „fühle.“838 Und so ist Gott in der Gottverlassenheit seine ,Zuflucht‘. „Bist du aber mein GOtt, wie du es dann“ [= denn] bist: warum hast du mich verlassen?“ So meldet sich die „äuserst durchschmerzte Menschheit“ Christi zu Wort. „Er“, Christus, „hat sagen wollen: wie ist es müglich, daß bey solcher Erz=Einigung“ [= völliger Einigung], „wie zwischen meiner GOttheit und Menschheit ist, eine so äuserste [Ent-]äuserung geschehen kan? wie kan man, von dem unabtrennlichen“ [= der Gottheit], „so gar verlassen seyn? […] Ach! wie ists müglich, daß GOtt, ja ich selber, mich so gar verlassen kan.“ – Die Antwort von Greiffenbergs lautet: „Aber GOtt ist alles müglich, auch die selbste Unmüglichkeit“ [= die Unmöglichkeit selbst].839 „Er“, Jesus Christus, „war von GOtt verlassen, in dem stuck, das in GOtt das allerfühlbarste und annemlichste ist, nämlich von dem Geschmack“ [= Wohlgeruch] „seiner Güte; dadurch“ aber ist „an der selbständigen“ [= eigenständigen] „Einigkeit“ von Gottheit und Menschheit in Christus „nichts zertrennet worden.“840 836 837 838 839 840

S. 747 f. S. 748. S. 748 f. S. 750. S. 752.

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Doch es ist die ,äußerste Not‘ der „Gottes=verlassenheit“, in der Jesus nach Gott ruft.841 Und dieser Schrei zu Gott ändert ja äußerlich nichts an seiner Not und Qual. „Warum, ach! warum ist es [sc. dieses von Gott Verlassensein] „geschehen? Ich“ – läßt die Verfasserin Jesus sagen – „antworte mir, in mir, von mir selber, und sage: Aus Liebe! aus unendlich=unergründlich= und unglaublicher Menschen=Liebe! Daß sie [sc. die Menschen] „angenommen wurden“ von Gott, darum „mußte ich [sc. Jesus]“ von Gott „verlassen werden.“842 „O unerhörte Liebe! O unglaubliche Liebe! O Liebe, die nicht auszudencken, auszugründen, zu erschöpfen, noch zu begreifen ist! daß sich, der Abgrund der Wollust“ [= der höchsten Liebeslust] „in den Abgrund der Schmerzen stürzen, und die Liebe sich selbst, dem Haß zu lieb, verlassen wollen.“843 „Es ist vollbracht“: das ist nach dem Johannes-Evangelium der letzte Ausspruch, das letzte Wort Jesu am Kreuz. Von der Autorin hier wird das nachdrücklich dargelegt.844 Wie Jesus wußte, war „die Zeit“ und waren „die Maßen seiner Trübsalen“ und ebenso „die vollkommenheit unsers Heils erfüllet“; und so konnte er sein Werk vollendet sein lassen und von ihm sagen: „Es ist vollbracht!“845 „Es ist vollbracht, mein Leiden und eure Seeligkeit.“846 „Vollbracht“ ist, „will er sagen, alles was zu dem allerschwersten werk der Erlösung des menschlichen Geschlechtes erfordert wurde. Der ewige Ratschluß Gottes“ vor aller Zeit „ist vollzogen, alle weissagende Schrift erfüllet, alle Vorbilder ins werk und aller Schatten ins wesen gestellet, alle Hoffnungen erhoffet, alles Verlangen erlanget. Kurz: alles ist geleistet, was nicht nur zur Vollkommenheit, sondern [so]gar zur Uberschwänglichkeit des heils aller welt, notwendig gewesen.“847 „Ich“, spricht Jesus nach von Greiffenberg, „der allmächtige GOTT, hab in angenommener Schwachheit dasjenige vollbracht, was der selbsten Gottheit“ [= selbst der Gottheit] „bey aller Allmacht wäre unmüglich gewesen, nämlich das Leiden“; doch gerade das Leiden Christi erbrachte „das Werk der Erlösung“ für die Sünder.848 „O ihr Sünder! […] Freuet euch! ihr seit befreyet, wann ihr nur wollet Busse thun und an mich [sc. Jesus] glauben. Ihr seit frey, von den Banden der Sünden, des Gesetzes, des bösen Gewissens, des Todes, des Jüngsten Gerichtes, und der Hölle. Ihr seit entbunden von deren Straffen, Fluch, Urtheil und Pein, wann ihr euch nur meiner Erlösung trösten wollet. […] Es ist vollbracht, eure

841 842 843 844 845 846 847

Ebd. S. 753. S. 754. S. 768 – 775. S. 768. S. 744. S. 768 f. Vgl.: „Es ist vollbracht, was von urewigkeit her beschlossen worden, […]. Worauf man etliche tausend Jahre gewartet, […]: Euer Heil und Erlösung“ (S. 769 f). 848 S. 769.

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Sünden=büssung! […] nur daß ihr euch im wahren Glauben zu mir kehret, das Lösegelt meines Blutes zuversichtlich annehmet und euch zueignet.“849 Doch damit nicht genug! „Es ist vollbracht, nicht allein die Abtragung der Sünden, sondern auch die Erwerbung der völligen Seeligkeit.“ Die Erlösung besteht eben nach von Greiffenberg nicht nur in der Sündenvergebung, sondern vielmehr in der jetzt schon zuteil werdenden Eröffnung der ewigen Seligkeit. „Ihr“, die angesprochenen (ehemaligen) Sünder, „seit nun schon seelig: ihr habt den Himmel, die Seeligkeit, die Ewigkeit, Herrlichkeit, Freude, Wonne, Kron und Thron, alles, durch mich [sc. Jesus] gewonnen, bekommen und eingenommen. Ihr dürft es weiter nicht erst erwerben, verdienen noch erkaufen: es ist schon alles vollbracht!“850 Das Werk der Erlösung ist durch Jesus nicht nur zu Ende gebracht und in diesem Sinne vollendet; es ist auch in sich vollkommen und vollendet; es bedarf keiner Ergänzung oder Wiederholung. „Vollbracht! vollendet ist alles, daß nichts mehr zu wirken übrig bleibet, soviel“ [= soweit es] „die Verdienstlichkeit und Erwerbung“ der ewigen Seligkeit „belanget.“851 „Also sollen […] wir gesinnet seyn: keine Noht, Kreuz, Plag, Unglück, auch selbste der Tod, soll uns das liebe Vater=herz GOttes aus dem Herzen rauben. Er bleibt doch unser Vater, […] und wir bleiben auch seine liebe Kinder, ob wir gleich in noth oder tod gerahten. Nichts kann dieses Band auflösen, auch die selbste Hölle nicht“.852 Die unverdiente Zueignung der Seligkeit kann aber auf unsrer Seite ohne „Liebe und Dankbarkeit“ nicht sein. Das allein ist, was noch aussteht, was doch wie selbstverständlich zu tun ist: daß wir unsere „Liebe und Dankbarkeit“ zum Ausdruck bringen, indem wir „den Erlöser mit guten Werken […] ehren und […] bedienen.“853 „Sehet allein zu, daß ihr, durch gottloses Leben und widerspänstigen Unglauben, euch nicht von mir [sc. Jesus] verlieret.“854 Doch wer Jesus liebt und an ihn für sein Leben glaubt, wie könnte er dann in der Weise leben und so handeln, wie es Jesus zuwider ist? Sie gehören zusammen: „der Glaube an mich“ und die „Früchte der Tugenden“855 So ,tretet ein‘ „in die Freyheit der Kinder GOttes“.856 Ihre Ausführungen zu Jesu Christi Tod in dieser ,Betrachtung‘ faßt von

849 S. 770. 850 S. 770 f. 851 S. 774. Daß durch Christi Werk im Blick auf die Seligkeit nichts mehr zu erwerben und zu bewirken ist, das ist weitläufig ausgeführt (S. 771 – 774) – mit anti-römisch-katholischer Zuspitzung. 852 S. 778. 853 S. 774. 854 S. 771. 855 S. 774. Dieser behauptete Zusammenhang ist oben S. 149 f. bei Anm. 620 f u. 624 f erörtert. 856 S. 774.

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5.9 Die elfte und zwölfte Betrachtung

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Greiffenberg so zusammen: „Christi Tod, ist ein Tod unsers Todes, und sein sterben, eine gebärerin in der Unsterblichkeit.“857

5.9 Die elfte und zwölfte Betrachtung Die elfte ,Betrachtung‘ erörtert die Ereignisse während der Kreuzigung Jesu, die damit verbundene Erfüllung prophetischer Weissagungen – bis hin zu der Jesus zugefügten Eröffnung einer Seitenwunde.858 Das im Text der Evangelien Berichtete, wonach bei der Kreuzigung Jesu der Vorhang im Tempel zerriß, ein Erdbeben geschah, Felsen sich spalteten und Gräber der Heiligen sich auftaten – das zeigt nach von Greiffenberg, daß der Schöpfer des Himmels und der Erde, der Weltbeherrscher starb; und das bezieht sie allegorisch auf die versteinerten Herzen der Menschen; selbstverständlich ohne die äußerliche Realität dieser Wundergeschehnisse zu bezweifeln.859 Die neutestamentliche Notiz, nach der bei Jesu Tod etliche „Heilige[..]“ auferstanden, „die da schlieffen,“860 ist für von Greiffenberg Anlaß, sich zu äußern über den „Tod als ein[en] sanfte[n] Schlaf“: im Schlaf ist „das ganze Sorgen=heer […] verjaget,“ sind „die Kummernißen […] versperret“ [= ausgesperrt], „und die Gedächtnus mit ihrer Gedanken=schaar gestillet.“861 – „Der Tod derer“ jedoch, „die im HErrn seelig entschlaffen sind“, hat auch die „Vorteile und Vorzüge“ des natürlichen Schlafs, nur „alles viel vollkommener und vortrefflicher : Die Seele ruhet in der Hand Gottes, in der allersüssesten Lieb=lichkeit, […]. Der Leib lieget, mit sanftester Unempfindlichkeit in dem lindesten Mutter=schoß der Erden.“862 Der römische Hauptmann, der dem Kreuz Jesu gegenüberstand, sah alles, was geschah – und wurde bekehrt.863 „Indem“ der Hauptmann und diejenigen, die mit ihm waren, den gekreuzigten Jesus „sahen sterben, fingen sie an, ihn unsterblich zu glauben: oder vielmehr, er selber starbe am Kreutz, damit er in ihren Herzen leben könte.“864 Freilich, „wer solte nicht erschrecken, wann er GOTT vor seinen Augen gekreutzigt, und, was noch mehr ist, sterben sihet?“ Auch hier, bei dem Zum-Glauben-Kommen, ist es so: „Gleich aber wie vor dem Blitz der Donner kommet, also ginge vor ihrem Glauben die Furcht her : 857 858 859 860 861 862 863 864

S. 778. SW 10, S. 797 – 861. S. 798 – 807. S. 806. S. 808. S. 809. S. 812, vgl. S. 816. S. 817.

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5. Die Passionsbetrachtungen

sie erschracken sehr, als sie das alles sahen.“865 Doch nicht die Naturwunder sind es, die entscheidend „erschüttern“; sondern „was das allermeiste“ ist, das ist das, was „unsere Herzen also beweg[t]: „erstlich erschrecken, hernach erleuchten,“ so „daß sie“ [= die Betroffenen] „in dem Schatten des Todes“ Jesu „das Liecht des Lebens sehen, und von dessen GOttheit sich überzeugt befinden, den sie auf das elendeste vor ihren Augen verscheiden sehen.“866 „Wann der Heiland gestorben“ ist, „wird das Heil geboren; und komt auf die Welt, wann er dieselbe zu verlassen scheinet.“867 – „Dort verschiede er,“ auf „daß er hier empfangen würde. Er schlosse die Augen zu, indem er ihre“ [= der Betroffenen] „Glaubens=augen aufthäte. Sein Abschied aus der Welt, wirkete seine Ankunft in ihren Herzen; sein zeitliches sterben, ihr ewiges Leben.“868 „Indem er seine Augen zuschlosse, thäte er ihre Herzen auf. Indem er am Kreutze verschiede, kame er in ihren Seelen an.“869 „Wann der Erlöser verschieden ist, erscheinet erst die Erlösung.“870 Für den Glaubenden „gehet es“ auch heute „also“: „wer bey JESU unter dem Kreutze stehet, dem steht er mit Gnaden bey : er stehet bey denen, die bey ihm stehen“.871 „Ach! wer ihn in seinem Herzen bewahret, der hat das höchste Gut; das edelste Kleinod, den theuresten Schatz, die unüberwindlichste Zuflucht. Wer ihn bewahret, der wird wieder, in ihm, von ihm bewahret“.872 Ihn, Jesus Christus, bewahren wir im eigenen Herzen, indem wir ihn lieben. Lieben wir ihn, so werden wir „aus ihme […] neue kräfte“ in uns wirken lassen, die Nächsten „herzlich zu lieben“.873 Solches Lieben tatsächlich zu leben, wird nicht harmlos sein: „wenn man bey JEsu Heil und Frieden suchet, so begegnet einem der größte Sturm und Widerstand.“ Folglich ,muß man‘ „nicht auf das sichtbare […], sondern auf das unsichtbare“ [= die Verbundenheit mit Jesus] „sehen“.874 In der Erinnerung an das zuletzt über die Bedeutung und Wirkung des Kreuzestodes Jesu Ausgeführte, könnte die zitierte Aussage aufgefallen sein, wonach Jesu Sterben zur Wirkung hat, in die Herzen der Menschen zu kommen, die an ihn glauben. Traditioneller Weise wird im Anschluß an das Johannes-Evangelium gelehrt, Jesu Sterben, also das Ende seines zeitlichen, 865 866 867 868 869 870 871 872 873

874

S. 818. S. 822. S. 813. S. 817, vgl. S. 818: „Indem das Sonn=licht in der grossen Welt untergienge, muste das Glaubens=licht in der kleinen Welt“ des Herzens „aufgehen.“ S. 824. S. 813. Ebd. S. 816. S. 828. In diesem Zusammenhang kommt die Verfasserin auch auf die Freundschaft unter Menschen zu sprechen: „Gläubige und warhafte Freunde sind“ nach ihr solche, die „in gleicher Freundschaft mit dem höchsten himmlichen Freunde“ [d.i. Jesus] „stehen“, so daß die Freunde untereinander eine „Göttliche Seelenfreund=liebe“ pflegen (S. 829). S. 835.

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5.9 Die elfte und zwölfte Betrachtung

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geschichtlichen Lebens, habe zur Folge, daß er allgegenwärtig in seinem Geist bei seinen Jüngern, bei den Seinen sei, die zu ihm halten, sich ihm anschließen. Bei von Greiffenberg jedoch ist das Ziel der Erlösung, wie wir eben zuvor gehört haben, ein Geschehen der Umkehr und des Neuwerdens im eigenen Herzen der an Jesus Glaubenden: der zum Glauben an ihn Kommenden. So ist es auch hier : „Sein Abschied von der Welt“ ,wirkte‘ „seine Ankunft“ in den „Herzen“ derer, die an ihn glauben. Und es glauben die an ihn, die „im Schatten“ seines „Todes das Liecht des Lebens sehen“: die in Jesu Weise zu sterben sein Gott-Sein erkennen.875 Nach der ,Passionsharmonie‘ schlug ein Soldat nach dem Eintritt des Todes Jesu, zur Überprüfung seines Gestorbenseins, diesem eine Seitenwunde, nach lutherischer Tradition: nahe seines Herzens. Das Staunen-Erregende in der nachfolgenden Zeit war, daß Blut und Wasser aus dieser Wunde flossen. Die Autorin bezieht diese Verwundung, diese „Eröffnung“ der ,Seitenwunde‘, sogleich auf das Herz Jesu: „Diese Eröffnung ist das Thor zu dem Herzen JEsu, der der Weg zum Vater ist.“876 „Da zeiget sich das Herz der Gottheit, in dem Herzen JESU.“877 „Jetzt, da der allersüsseste Mund nimmer reden, und des Herzens Dolmetscher seyn“ kann, […] „da zeigt sich das allerholdseeligste und liebreichste Herz selber, und redet todt mit uns auf das allerlebhafteste.“878 Vor allem „zeiget“ es, „alle glaubigen Seelen in seinem Schrein“ [= Herzenskammer] „eingeschlossen.“879 Diese Selbstoffenbarung des Herzens Jesu erweckt bei der Verfasserin ein eingehendes Rühmen dieses Herzens, das direkt angesprochen wird auf seine göttlichen Fähigkeiten, Wirkungen und Zuständlichkeiten hin. Und diese werden dargetan durch die Anführung einer überreichen Fülle Gott gemäßer Substantive.880 Die Reihe beginnt so: „O Herz des Erschaffers aller Herzen! wie kan ich dich genug beherzigen und betrachten? du bist der Himmel selber, die Sonne der Liebe, ein Brunn der Treue, das Meer der Güte, ein Spiegel der Freundschaft, ein Abgrund der Sanft= und Demut, der Mildigkeit Schatzhaus, der Weißheit Palast, der Heiligkeit Tempel, des Glaubens Triumpf=thron, der Hoffnung Paradiesgarten,“ u.s.w.881 Anschließend daran wird das Blut und auch das Wasser aus der Seitenwunde hochgelobt in einem Reichtum von Bildern und Vergleichen,882 so 875 Die Ausrichtung der Erlösung auf das eigene Herz dürfte ein weiteres Indiz für die bei von Greiffenberg erreichte Phase der ,Verinnerung‘ der christlichen Inhalte sein. 876 S. 838; vgl. S. 844: „Diese Wunde ist das Fenster zum Herzen JEsu“. Und S. 845: „Sie ist die Thür zum Himmel, darein niemand, ohne durch die Wunden und das Blut Christi, eingehen kan.“ 877 S. 859. 878 S. 839. 879 S. 840. 880 S. 840 – 843. 881 S. 840 f. 882 S. 843 – 847.

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5. Die Passionsbetrachtungen

beginnend: „O Blut= O Wasserstrom! wer kan dich genugsam preisen? Ach! daß ich meinen Mund unterhalten, und so genau hätte an diese Wunde halten können, daß mir nicht einiges“ [= ein einziges] „Tröpflein entfallen und neben hin geronnen wäre. Ach! heiliges Blut, du Lösegeld unserer Sünden! […] Der Leib ist todt: aber die Liebe lebet. Sie hat keine Ruh, so lang noch ein Blutstropfe im Herzen ist, bis sie solchen vor“ [= für] „uns vergiesse.“883 Auch die traditionelle Lehre führt von Greiffenberg an: „Aus dieser heiligen Seite des anderen Adams, hat GOTT seine Braut, die Christliche Kirche, und eine jede glaubige Seele, gebauet, durch diß Wasser und Blut, nämlich durch die heilige Tauffe und das hochwürdige Abendmal.“884 Im Anschluß an die Aussage des Johannes-Evangeliums, daß ,wahr‘ ist, was hier „bezeuget“ ist,885 legt von Greiffenberg dar : ,Nichts‘ ist „so gewiß, als das, was uns der Geist im Geist, durch der Evangelisten und Apostel Schriften offenbaret. Dann“ [= denn] „der Himmel wird vergehen, die Erde verbrennen, der Leib sterben und verfaulen: aber GOttes Wort bleibet ewiglich.“ Es „ist geschrieben, […] auf daß ihr glaubet, und durch den Glauben das Leben habet.“ Das erläutert von Greiffenberg durch einen für sie entscheidenden Hinweis: „Es ist nicht allein eine Warheit, die in bloßer Gewißheit der Geschichte bestehet, sondern die ein Vertrauen und zuversichtliche Zueignung erfordert; worinn das Herz ruhen, und der Geist vergnügt seyn kan. Dann an JEsum Christum glauben, ist nicht allein seine begegniße“ [= Ereignisse] „wissen, sondern auch in seine GOtt= und Menschheit, Allmacht und Leiden, Verdienst und Liebe, mit beehrung“ [= Verehrung] „desselben, alles sein Heil und Seeligkeit setzen. […] Darum hat er [sc. Jesus] den Glauben also gefüget, daß er eine Vereinigung ist von seinem Preiß und unserer Beseeligung“.886 Die zwölfte und letzte ,Betrachtung‘ legt den Bericht von Jesu Grablegung und deren Umstände aus887, und sie schließt mit einer umfänglichen Danksagung. In dieser werden hauptsächlich für von Greiffenberg wichtige Themen eindringlich, doch ohne einen direkten Bezug zum neutestamentlichen Text, erörtert.888 Im anfänglichen Teil, der dem neutestamentlich Berichteten gewidmet ist, bleibt die Verfasserin nahe beim jeweiligen Evangeliums-Text. Daraus sei zunächst hervorgehoben, was für die Autorin grundsätzlich gilt: „Liebe und Vernunft, wollen aller ihrer Sachen gewiß seyn.“889 „Das Christenthum ist nichts, als ein Bild ohne wesen, eine Einbildungsblum, eine Fa-

S. 843. Die „Gültigkeit“ dieser „Wunde“ stammt aus Jesu „Gottheit“ (S. 854). S. 844. S. 848. S. 850. Dieser ,Hinweis‘ auf das, was der Glaube ist, läßt zugleich erkennen, in welchem Geist von Greiffenberg ihre Schriften wie ihre ,Passions-Betrachtung‘ verfaßt hat. 887 S. 863 – 919. 888 S. 919 – 950. 889 S. 901.

883 884 885 886

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bel=fantasey, wann die herzhafte Bekentnus der Warheit mangelt.“890 Dazu, zu einem offenen Bekenntnis, bedarf es freilich des Mutes, denn es ist ein ,Wagnis‘. Joseph von Arimathia „waget es“, als er Pilatus um die Freigabe des Leichnams Jesu bat. Es „ist ein Flammen=strahl des Glaubens: es will gewagt seyn, wann man den Glauben mit der That“ – mit einem offenen Bekenntnis – „beweisen soll.“ – „Die H. Wagnus ist die schönste Wunder= Göttin, auch Tugend=Mutter, so die löblichste Heldenthaten gebieret.“891 Von dem begrabenen Jesus wird hier gesagt: „Das Leben war[..] todt, dem Leibe und der Menschheit nach: und lebte doch in der Seele und in der Gottheit, die das ewige Leben selber ist. Und was noch mehr : die Gottheit blieb [..] der Menschheit, auch im tode, unzertrennlich vereinigt, ob schon die Seele vom Leibe geschieden war. In ihm war das Leben, auch da er mitten im Tode schwebte; und er war doch warhaftig todt, mitten in der Lebens=qwelle.“892 „Der, so das Leben selber war, der unsterblich gestorbene, der lebende todte und todt=lebendige, der so den Schlüssel des Todes und der Hölle hatte, liess [..] sich in das Grab verschliessen. […] O wunder! O neues! der es alles neugemacht, und ferner neu machen wird, ja der selbst die verwunderbarste Neuheit ist, läst sich hier in ein neues Grab legen: damit, wie vormals seine Mutter, also jetzt die Erde, mit neuer Freude und Wunder, schwanger gehen möchte“ [= soll].893 Und von sich selber bekundet die Autorin: „Ach! daß es bey mir auch also hiesse: daselbst hinlegten sie JEsum! wohin dann? in mein Herz, in meine Seele und Gedanken, in meinen Sinn und Muth, in mein Gewissen, Geist und Gedächtnus, in meinen Leib, Mund, und Zunge, in meine Werke, Worte und Feder, in alle meine bewegungen, kräfte, Leben und Wandel. Ach! daß sie oftmals und überall JEsum dahin legten“, daß „die Diener Christi, die Lehrer und Prediger, Beichtväter und Abendmal=reicher“ vom „himmliche[n] Vater und“ dem „H. Geist, durch“ deren „Regir= und Erleuchtung“, also „durch ihren trieb, wirk= und begeisterung“ so wirken, „daß […] jederman“ das, was sich ihnen [= den Dienern Christi] ereignet hat, „aus allem“ ihrem „Wesen, Worten und Werken, spüren und bekennen müste.“894 Doch auch in diesem Zusammenhang, der Stätte Jesu in einem Glaubenden, kommt alles auf die ,unverrückbare‘ „Beständigkeit“ an: „Eine felshafte Unabwendlichkeit“, die jede Abkehr ausschließt, „muß in einem JEsus=Grab und Herzen seyn“, die „allen Anstoß“, ,alle Verfolgungswellen und alle Sturmwinde‘ „zerschöllet“ [= zerschellen läßt] „und selber unzerbrüchlich bleibet.“895 „Ach! mein aus890 S. 868. 891 S. 873. 892 S. 884. Die angeführte Passage und das folgende Zitat sind Musterbeispiele für die Schwierigkeit auszusagen, daß ein Verstorbener tatsächlich tot ist, und doch etwas Lebendiges – ewiges Leben – in ihm ist. 893 S. 890. 894 S. 893 f. 895 S. 891.

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5. Die Passionsbetrachtungen

erwehlter HErr JEsu! der du dich selbst in mich geleget hast: sey auch zugleich selbst der Hüter, der mich verwahre und verwache, […] und das Siegel der unverbrüchlichkeit, daß uns, auch die Ewigkeit, nicht scheiden könne. Ja, drucke mich selbst, als ein Siegel, auf dein, und dich auf mein Herz: daß wir unzertrennlich ineinander vergraben, verschmelzt, und versenket seyen, in alle unendliche Ewigkeit.“896 Die Schlußdanksagung beginnt mit einem großen Dank an Jesus für sein Sterben und für sein Begräbnis um unsrer Seligkeit willen. „Alle Dank=gedanken, so in ein dankbares Herz fallen können,“ sollen dazu dienen, „dein Grab mit Ehren und Schmuck zu krönen.“897 Die Autorin hat sich vorgenommen, „dir […] mit der allerlautersten Warheit und mit der einfältigsten Aufrichtigkeit“ zu „danken“.898 „Ein herzlicher Dank ist die ausschüttung aller innerlichen Kräfte und Begierden in das Lob und in die Liebe Jesu […]. Es ist die umkehrung des Herzens in das Meer der Gütigkeit Gottes“.899 „Es ist nicht allein das ganze Herz dabey, sondern es wünschet, daß alles zu Herzen würde, damit man GOTT nur recht herzlich danken könte.“900 Hier nun ist ein Dank gemeint, der „seinen wunden […] die Liebes=unendlichkeit der All=versöhnung“ zuerkennt, glauben wir doch, daß „alle Sünder der ganzen Welt zur Seeligkeit beruffen“ sind.901 – Seine Wunden und sein „Blut“ sind es, die nicht allein von Sünden […] reinigen, sondern auch den Himmel und die Seeligkeit […] geben, allen die daran glauben.“ Folglich „ist der reineste und […] der höchste Dank, vor“ [= für] „das Blut und den Tod JEsu Christi“ der Dank, wenn „man seine Wunden allein die Himmels=pforten, ja den Himmel selber, seyn lässet.“902 – Dieses „allein“ – allein Christus – legt die Verfasserin in einer langen, nachdrücklichen Hervorhebung dar.903 Wird ihm, Jesus Christus, „allein die Ehre unsrer Seeligkeit“ ,gegeben‘, so ,schließt das aus‘ „aller Engel und Menschen Verdienst[..] und Werke“.904 Und das besagt für unser Gebet, daß weder „erschaffene Engel“ noch „Menschen, neben den Schöpfer und Erlöser“, ,anzurufen‘ und „um Vorbitt“ [= um Fürbitte] „zu ersuchen ist.“905 Der Alleingeltung des Werkes und Verdienstes Jesu für unsre „Erlösung und Seeligkeit“ entnimmt von Greiffenberg eine weitere und gewichtige Konsequenz: nämlich die für uns erworbene, uns im Glauben zuerkannte, unbe896 897 898 899 900 901 902 903

S. 919. Ebd. S. 924. S. 939. S. 940. S. 927 f. S. 928. S. 927 – 930; vgl. S. 942 f. Diese zugespitzte Aussage, in Antithese zur römisch-katholischen Lehre, ist bereits angeführt oben S. 148 mit Anm. 618. 904 S. 927. 905 S. 929.

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dingte Heilsgewißheit, die allein auf Christi Tat und Geschick beruht: „Nun nimt der Dank seine größe von der Sache her, die uns zugewendet und erworben worden, nämlich hier von der Erlösung und Seeligkeit. […] So geben wir […] unserm wehrtesten Erwerber den grösten Dank, wann wir unsere Seeligkeit für vollkommen, gewiß, sicher, rein und ewig [er]achten: mit ausschliessung aller ferneren Büssung, Zweifels, Ungewißheit, Reinigungs=notdurft“ [-notwendigkeit], „Seelen=qwälung und Marter hier und dorten, so alles seiner vollkommenen Erwerbung zuwider laufet, und solche verschmälert.“ Christus hat den ,Zorn‘ Gottes und die uns drohende „Höllen=glut“, für uns „gemartert“, vollkommen, restlos abgebüßt, so daß „wir in ihm würden die Gerechtigkeit, die für“ [= vor] „GOtt gilt“ und die keiner weiteren „Reinigung bedarf.“ – „Hält man aber seine Erlösung vor“ [= für] „Göttlich, so muß man sie vollkommen, überflüssig“ [= mehr als genug], „allein gültig, fäst, gewiß, sicher und unvergänglich glauben: welches alles Göttliche Eigenschaften sind, mit welchen sich keine Menschen=Zufälligkeiten vermischen lassen.“906 Dazu sei bemerkt: Unverkennbar ist diese Überzeugung der Autorin in Abwehr der römisch-katholischen Lehre, in den zuletzt zitierten Sätzen in Abwehr der Lehre von einem läuternden Fegfeuer, formuliert. Aber deutlich wird auch zu verstehen gegeben, daß im Glauben an Christus – aufgrund der Vollkommenheit der Erlösung – kein Endgericht und keine Hölle noch schrecken. Unmittelbar anschließend an die angeführten Darlegungen über die Alleingeltung Christi und über die nicht zu bezweifelnde Heilsgewißheit, besteht von Greiffenberg nicht nur auf die richterliche Alleinzuständigkeit des Wortes Christi oder des Wortes Gottes bei dogmatischen Lehrdifferenzen, sondern auch auf die Unfehlbarkeit der Hl. Schrift als Wort Gottes. So heißt es: „Hält man seine [sc. Christi] Worte (wie sie dann sind) vor“ [= für] „Göttlich, so muß man ihnen“ mit Grund „das Richter=amt in Religions=sachen und Glaubens=strittigkeiten, nicht absprechen, als welches allein der Gottheit zustehet. […] Hält man sie für Göttlich, so muß man sie auch für vollkommen halten: dann Gott ist die höchste Vollkommenheit. Sind sie vollkommen, so leiden“ [ertragen] „sie keinen Zusatz, keine Veränderung, keine Verkehrung, […]. Ferner, halten wir sie vor Göttlich, so müssen wir sie lebhaftig“ [= als lebendig] „glauben. Denn die Göttlichkeit ist keinem tod unterworffen, sondern in ihr ist alles voll Geist und Leben.“907 Hält man nun „Gottes Wort für heilig, wei[se], gütig und lebhaft“ [= lebendig], so fordert es „die Ehrerbietung gegen GOTT,“ daß man „ihm alle Entscheidung, Ausspruch und Urteil überläßt, und sich gehorsamst seinen Lehren und Sätzen unterwirft, auch nicht das geringste davon ändern, 906 S. 930 – 932. Diese Überzeugung von der Heilsgewißheit ist, mit ähnlichen Worten, oben schon wiedergegeben (S. 159 bei Anm. 678 u. 679). 907 S. 932 f, vgl. S. 943.

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5. Die Passionsbetrachtungen

schmälern, vermehren oder vermindern läßt, sondern solches, gleichwie eine einige“ [einzige] „Gottheit“ ist, „vor“ [= für] „die einige Lebens= und Glaubens=Richtschnur achtet.“908 Das ist nach von Greiffenberg ganz besonders beim Hl. Abendmahl anzuerkennen und zu beachten: „Wie kan grössere Wollust und Ergezlichkeit seyn als im H. Abendmal, aus dem Bronnen der selbsten Süßheit.“ [= aus dem Brunnen der Lieblichkeit selbst] „das Blut des Erlösers, nach befehl seiner heiligen worte trinken?“909 Die „Schrift, das Wort meines JESU, Trinket alle daraus!“ wird nur „erfüllet“, indem man „GOTT blindlings gehorsam ist“. Gott blindlings gehorsam zu sein, „ist die gröste Vorsichtigkeit“: mit ihr „zeiget man […], daß man ein unendliches Vertrauen in seine [sc. Gottes] Allmacht setzet. Der Gehorsam ist und bleibt eine unnachläßliche“ [= nicht zu erlassende] „schuldigkeit, ohne welche GOTT und Christo nicht recht kan gedienet noch gedanket werden.“910 – „Was anderst, als Christi Wort, lautet, ist nicht von H. Geist“.911 Da „aber kein Gehorsam ohne Demut seyn kan,“ so folgt, „daß der höchste, der demütigste Dank seyn müsse“, ist doch „allzeit, vor GOTT, die Demut und Niedrigkeit das höchste“. – „Der Demut ist nichts niedrig genug, ihre unendliche Unterthänigkeit zu zeigen.“912 Die „Demut aber muß herzlich seyn, sonst ist sie die höchste Heucheley.“913 Erneut, nun im Kontext des Dankes an Gott, kommt die Verfasserin auf den Zusammenhang der Liebe zu Gott mit der Liebe des Nächsten zu sprechen. „Ein herzlicher“ Dank „muß auch ein thätlicher Dank seyn. […] So wenig ein herz ohne schlag ist, so wenig ist dessen Liebe ohne Wirkung.914 „So fliesset dann“ [= denn] „aus einem herzlichen Dank, das ganze Christliche Leben und die Erfüllung des ganzen Gesezes, welches nichts anders ist, als herzliche Liebe gegen GOTT und dem Nächsten.“915 Die Autorin beendet diese ,Betrachtung‘ und damit diese ihre Schrift mit einer eingehenden Darlegung ihres ,Lebensprogramms‘ und ihres besonderen ,Lebensprojekts‘ – unter dem Stichwort „Deogloria“ – und damit verbunden der Absicht dieser ihrer „Passion-Betrachtungen“.916

908 909 910 911 912 913 914 915 916

S. 933 f. S. 934. S. 935 f. S. 936. Nachdrücklich verwirft sie, der Gemeinde den „Kelch“ des Blutes Christi zu ,verweigern‘ (S. 936 f). S. 938. S. 939. S. 941. S. 940. Dieser Zusammenhang der Liebe ist oben angeführt, S. 150 bei Anm. 626. S. 944 – 950. Diese Darlegung ist bereits wiedergegeben oben in Kap. 2.4, bes. S. 45 f.

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5.10 Nachwort

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5.10 Nachwort Im Rückblick stellt sich wohl die Frage, was von Greiffenbergs besondere Absicht oder ihr Hauptinteresse bei der Abfassung der „Passion–Betrachtung“ war. Vermutlich das, was ich ihren ,Heilsrealismus‘ in der subjektiven Aneignung oder Verinnerung des Heils genannt habe. Nicht der ,Opfertod‘, das Sichopfern Jesu Christi als solches, wird nachdrücklich herausgestellt, sondern das vergossene Blut Jesu Christi: das für uns, zu unsrer Erlösung aus seinen Wunden ausfließende Blut; so schrecklich das Blutvergießen Jesu auch ist. Die Vereinigung des Jesus-Liebenden mit ihm ist folglich nicht etwa eine der Nachfolge oder Nachahmug Jesu oder nur eine Teilhabe an seinem lebendigen, ,nachösterlichen‘ Leib und (später) an der Kirche – so als wäre Jesu Tod uns fern. Sondern die Vereinigung mit ihm ist eine gegenwärtige mit seinem wund geschlagenen Leib und mit seinem für uns vergossenen Blut: zuhöchst im Abendmahl. – Das mag uns in der Neuzeit sehr fremd vorkommen, ja geradezu abstoßend erscheinen. Doch mit dieser betonten Sinnlichkeit, bis hin zum ,Küssen‘ der Seitenwunde Jesu, soll sichergestellt sein, daß da, bei dieser drastisch sinnlichen, und doch geistlich, glaubend zu erfassenden Jesus-Liebe, nichts zu ,spiritualisieren‘, nichts ins abgehoben ,Geistige‘ zu überführen ist. Nein, alles liegt daran, daß es ganz reales, ganz wirkliches Geschehen ist. Und dafür, einzig dafür, wird die Sinnlichkeit des Geschehens so vehement dargetan. Das von Luther nachdrücklich hervorgehobene „pro nobis“, das insbesondere im Abendmahl zu einem „pro me“ wird, entfaltet von Greiffenberg in einem großen Schritt weiter : Sie legt dar, wie das Heil, die Erlösung, beim und im einzelnen Subjekt – bei „mir“, das ist bei „ihr“ und in „ihr“ – ist, und was es da in Erregung und Umwandlung und an Gewißheit, mithin als Glaube wirkt. Bezeichnend ist auch für ihre, von Greiffenbergs Aufrichtigkeit und Sorgfalt im Nachdenken, daß sie keine Behauptung ohne Erläuterung und Entfaltung aufstellt oder wie selbstverständlich wiedergibt. Sie behauptet beispielsweise die Göttlichkeit des Leidens Jesu nicht nur; sondern sie hat es unternommen, jene Göttlichkeit argumentativ im Blick auf eine zu begreifende Allmacht Gottes aufzuweisen, indem sie die Allmacht als dienstbar der Liebe Gottes zu uns Menschen erklärt. Zusammenfassend läßt sich sagen: Ihr ganzes Werk der „Passion-Betrachtung“ ist in allen Teilen eine einzige große Liebeserklärung an den blutig geschlagenen, sterbenden und doch göttlichen Jesus: eine Liebeserklärung, die seine, Jesu, Liebe zu uns als uns erlösend aufzuweisen unternimmt. Fragen wird man auch können, warum jemand wie ich sich jahrelang mit einer theologischen Schriftstellerin des ausgehenden 17. Jahrhunderts und der Zeit des orthodoxen Luthertums beschäftigt. Sicherlich tat ich das nicht in der Annahme, daß das, was von Greiffenberg an lutherischer Theologie ausführt, als soches verbindlich wäre – oder als sei es von uns direkt oder in

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5. Die Passionsbetrachtungen

Abwandlung zu übernehmen. Das dürfte ausgeschlossen sein; denn es ist nicht nur eine andere Sprache und Vorstellungswelt, in der sie spricht, im Unterschied zur unsrigen. Es ist auch eine so uns nicht mehr zugängliche Erfahrung des Einig- und Einssein mit dem hingerichteten Jesus, aus der diese Frömmigkeit lebt und in der sich jenes Einssein ausspricht. Aber noch immer ist beeindruckend und insofern vorbildlich der Reichtum ihrer, der von Greiffenbergischen, Einsichten und Eindrücke, also ihrer Frömmigkeit und ihrer theologischen Überzeugung: gewonnen aus ihrer, für sie gültigen Aneignung der „objektiven“, nur von Gott her formulierenden, lutherischen Lehre. Wie viel freie, eigene Sprachformulierungen, wie viel eigene Erkenntnisse, jenseits der überlieferten und vorgeschriebenen Formeln und Lehrbestimmungen, führt sie aus. Vor der Lektüre und Durcharbeitung ihrer Werke wußte ich nicht, welch große Theologin sie ist: Innerhalb der dogmatisch festgelegten Grenzen denkt und formuliert sie völlig selbständig aus ihrem Ergriffensein von der Liebe Jesu und Gottes zu uns heraus. Als Abschluß sei noch einmal, gerade in ihrer Andersartigkeit, M.-L. Wolfskehl das Wort gegeben. Sie führt aus: „Am unmittelbarsten“ in der ,geistlichen protestantischen Dichtung‘ des Barock „kommt […] die seelische Erschütterung, diese Mischung von Leidenschaft und heiliger Ergriffenheit, von Inbrunst und seligem Sichverlieren in den Versen der Greiffenberg zum Ausdruck. Das nachfolgende Gedicht, aus dem ich einige Strophen auswähle, spiegelt durch die Häufung der Ausrufsätze und die Fülle sensualistischer Vorstellungen mit seltener Prägnanz die ungeheure Dynamik sowie das Ineinander aller sinnlichen Wahrnehmungen im Augenblick der Ekstase und gipfelt in jenem Verlangen, das aus der Urtiefe der menschlichen Seele dringt und das Nietzsche in die Worte gekleidet hat: ,Doch alle Lust will Ewigkeit-, will tiefe, tiefe Ewigkeit‘“.917 Bevor nun die angegebenen Strophen918 wiedergegeben werden, sei zur Erläuterung ein Satz aus einem anderen Greiffenbergischen Kontext zitiert: „JESUS, JESUS, soll allein, meines hertzens Hertze seyn.“919 Die von Wolfskehl angekündigten Strophen lauten: 11. „Mein Herze! herz dein Herz im innern Grunde. / Ach küß und iß ihn ganz, vor Lieb, mein Munde! / Ach Seel und kehl! zugleich mit innern springen / solt ihr den Geist der Wollust jetzt verschlingen. 12. O Lieblichkeit! O Ausbund aller Wonne! / den Himmel auf der Zung, im Mund die Sonne / im Hertzen Gott, im Leibe Christum haben / im Geist den Geist mit tausend=hohen Gaben.

917 Dies., Jesusminne (wie S. 91 Anm. 314), S. 129. 918 Es sind das aus einem 22strophischen Gedicht mit dem Titel: „Vom H. Nachtmahl“ die Strophen 11.12.13.15.18.19.22; sie stehen SW 9, S. 44 – 46. – In S. 159 Anm. 225 ihrer Abhandlung gibt Wolfskehl an, daß sie in Strophe 15 die Worte „Himmels-Hölle“ in „Himmels-Höhle“ korrigiert hat. Nach ihr verweist die Rede vom Keller und der Trunkenheit in dieser Strophe auf Hld. 2,4 und 5,1. 919 SW 9, S. 392; angeführt bereits oben S. 162 bei Anm. 700.

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5.10 Nachwort

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13. Hätt ewig doch der Augenblick gewähret! / ach! wäre mir all Augenblick bescheret / dieß theure Glück! O Jesu! ich wolt sterben / auch tausentmahl, könt ich nur dich erwerben. 15. Hier sind die Keller, wo ich fast versinke, / wo ich mich voll und jauchzend=truncken trincke, / wo ich den Mund zur Himmels-Höhle mache / der nimmer=satt, vor Freuden weinend=lache. 18. O Feuerwerck! das in dem Blick angangen, / wann in den Mund den HErren wir empfangen, / da alles kracht, aufsteiget, wallt und knallet, / daß fast, das Herz von Liebes=Praßlen hallet. 19. Die Gnaden=Strahlen alle Luft bedecken, / es schimmert alls vor Lieb in allen Ecken, / es strahlet, funkert glänzet, als die Sterne. / Es dunkt der Himmel uns nicht halb so ferne. 22. Ich sterbe, schier vor Gier, Gott für zu preisen, / verzehre mich mit Freuden, diesen Speißen, / der Erz=Herz=lieb ein wenig nachzudenken. / Ja, ich erstumm, will ganz mich drein versenken.“

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Literatur Verzeichnis der eingesehenen zeitgenössischen Literatur Bei der Suche nach Vorlagen oder direkten Parallelen bezüglich von Greiffenberg habe ich Werke folgender zeitgenössischer Autoren eingesehen: Anna Sophia von Hessen; J. Arndt; J. M. Dilherr ; P. Fleming; J. Gerhard; A. Gryphius; G. Ph. Harsdörffer ; J. Heermann; N. Herman; W. H. von Hohberg; Magdalena Sibylle; H. Müller ; Ph. Nicolai; J. G. Schottel[ius]; Sibylle Ursula; P. Stockmann; M. Willibrand; D. Wülfer.

Werke und Briefwechsel Catharina Regina von Greiffenbergs Zitiert werden die Gedichte und Schriften von Greiffenbergs nach der FaksimileAusgabe „Sämtliche Werke in zehn Bänden. Herausgegeben von Martin Bircher und Friedhelm Kemp“ (abgekürzt angeführt als „SW“) – und zwar : Bd 1 Bd 2

Geistliche Sonnette, Lieder und Gedichte; Nachwort und kritischer Anhang zu Bde 1 – 10 Sieges-Seule der Buße und Glaubens… mit des Herrn von Bartas’ geteutschten GlaubensTriumf Bd 3/4 Der Allerheiligsten Menschwerdung, Geburt und Jugend Zwölf Andächtige Betrachtungen Bd 5/6 Des Allerheiligsten Lebens JESU Christi Sechs Andächtige Betrachtungen Bd 7/8 Des Allerheiligsten Lebens JESU Christi Ubrige Sechs Betrachtungen Bd 9/10 Des Allerheiligst- und Allerheilsamsten Leidens und Sterbens Jesu Christi, Zwölf andächtige Betrachtungen“920

Der „Briefwechsel“ zwischen von Greiffenberg und Sigmund von Birken wird angeführt als: Sigmund von Birken, Werke und Korrespondenz Bd. 12/I. Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg. Hsgb. von Hartmut Laufhütte. In Zusammenarbeit mit Dietrich Jöns und Ralf Schuster. Teil I: Die Texte (Neudrucke deutscher Literaturwerke N. F. Bd. 49). Tübingen 2005. [Zitiert: BW] Sigmund von Birken, Werke und Korrespondenz Bd. 12/II. Der Briefwechsel zwischen Sigmund von Birken und Catharina Regina von Greiffenberg. Hsgb. von Hartmut Laufhütte. In Zusammenarbeit mit Dietrich Jöns und Ralf Schuster. Teil 920 Die Werke der ,Betrachtungen‘ sind, mit Erscheinungsjahr, auch angeführt oben S. 92 f.

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Sekundärliteratur

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II: Apparate und Kommentare. (Neudrucke deutscher Literaturwerke N. F. Bd. 50). Tübingen 2005. [Zitiert: BW II]

Sekundärliteratur Thomas Althaus, Einklang und Liebe. Die spracherotische Perspektive des Glaubens im Geistlichen Sonett bei Catharina Regina von Greiffenberg und Quirinus Kuhlmann; in: Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock (Wolfenbütteler Arbeiten zur Barockforschung Bd. 25). Hrsg. v. Dieter Breuer. Wiesbaden 1995. Aharon Appelfeld, Geschichte eines Lebens. Aus dem Hebräischen von Anne Birkenhauer. Berlin 2005. Johann Arndt, Sechs Bücher vom wahren Christenthum, nebst dessen Paradiesgärtlein. Stuttgart Neue Stereotyp-Ausgabe 5. Abdruck o. J. Jçrg Baur, Jesusfrömmigkeit und Christologie bei Catharina Regina von Greiffenberg (1633 – 1694); in: Pietas in der Lutherischen Orthodoxie. Hrsg. im Auftrag des Vorstandes der Stiftung „Leucorea“ v. Udo Sträter (Themata Leucoreana). Wittenberg 1998, S. 100 – 124. Friedemann Bedrftig, Fortsetzung des Kriegs mit poetischen Mitteln. Catharina Regina von Greiffenberg – Wie eine evangelische Dichterin versuchte, den katholischen Kaiser zu bekehren; in: SZ am Wochendende Sa./So. 24./25. November 2001, Nr. 271, S. II. Kathleen Foley Beining, The Body and Eucharistic Devotion in Catharina Regina von Greiffenberg’s „Meditationen“. Columbia USA: Camden House 1997 (154 p.) Anm.: Das Interesse der Verfasserin ist gänzlich ausgerichtet auf das Leibliche („the body“), Physische und Sensitive der sinnlichen Wahrnehmung. Zweifellos ist richtig, daß das in Greiffenbergs Darlegungen nachdrücklich hervorgehoben ist. Aber niemals wird erwähnt, daß nach von Greiffenberg das Sinnliche, Leibliche die Realisierung des Geistigen und Geistlichen ist: die ,personale‘ unio von Gottheit und Menschheit in Christus und die ,communio‘ des Glaubenden mit Christus. So bleibt unklar, was mit der immer wieder beteuerten „religious experience“ als „femine religiosity“ gemeint ist. Martin Bircher, Unergründlichkeit. Catharina Regina von Greiffenbergs Gedicht über den Tod der Barbara Susanne Eleonore von Regal; in: Deutsche Barocklyrik. Interpretationen von Spee bis Haller. Hrsg. v. Martin Bircher und Alois Maria Haas. Bonn und München 1973, S. 185 – 223. Ralf Georg Bogner, Bewegliche Beredsamkeit, passionierende Poesie. Zur rhetorischen Stimulierung der Affekte in der lutherischen Literarisierung der Leidensgeschichte Jesu; in: Passion, Affekt und Leidenschaft in der frühen Neuzeit, Bd. II. Hrsg. v. Johann Anselm Steiger (Wolfenbütteler Arbeiten der Barockforschung Bd. 43). Wiesbaden 2005, S. 145 – 165. Heimo Cerny, Catharina Regina von Greiffenberg, geb. Freiherrin von Seisenegg

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Sekundärliteratur

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Sekundärliteratur

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Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Band 136: Ralf-Thomas Klein Können christliche Glaubensüberzeugungen Wissen sein? Der Beitrag Alvin Plantingas zur Bestimmung des epistemischen Status von christlichen Glaubensüberzeugungen 2012. 320 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56403-5 E-Book ISBN 978-3-647-56403-6

Fragen nach dem erkenntnistheoretischen Status christlicher Überzeugungen sind so alt wie das Christentum selbst: Ist christlicher Glaube rational vertretbar?

Band 135: Wilko Teifke Offenbarung und Gericht Fundamentaltheologie und Eschatologie bei Guardini, Rahner und Ratzinger 2012. 281 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56368-7 E-Book ISBN 978-3-647-56368-8

In der protestantischen Theologie des 20. Jahrhunderts ist die Eschatologie unbestreitbar von fundamentaltheologischer Bedeutung. Dies nimmt Wilko Teifke zum Anlass, um den Stellenwert der Eschatologie in den ausgewählten Konzeptionen der katholischen Fundamentaltheologie zu untersuchen. Teifke geht der Frage nach, wie die leitende Bedeutung der Eschatologie dort bearbeitet wird, indem er die theologischen Grundeinsichten von Romano Guardini, Karl Rahner und Joseph Ratzinger in drei einzelnen Studien herausarbeitet.

Band 134: Roger Mielke Eschatologische Öffentlichkeit Öffentlichkeit der Kirche und Politische Theologie im Werk von Erik Peterson 2012. 280 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56371-7 E-Book ISBN 978-3-647-56371-8

Seit einigen Jahren wird Erik Peterson (1890–1960) als eine der Schlüsselfiguren der deutschen und europäischen Theologie und Geistesgeschichte neu entdeckt. Als erste Arbeit aus evangelischer Perspektive zeichnet Roger Mielke den Weg des Theologen Erik Petersons nach und fokussiert dabei auf seine zentralen Vorstellungen von Öffentlichkeit und des Politischen, die vom nationalsozialistischen Totalitarismus seiner Zeit geprägt sind. Seine Theologie ist eine bleibende Herausforderung für eine ökumenische Kirche der Zukunft. Gegenwärtige Diskursfäden nimmt Mielke besonders im Gespräch mit der im deutschen Sprachraum bisher noch wenig rezipierten »Radical Orthodoxy«Schule auf.

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Forschungen zur systematischen und ökumenischen Theologie Band 133: Andreas Losch Jenseits der Konflikte Eine konstruktiv-kritische Auseinandersetzung von Theologie und Naturwissenschaft 2011. 285 Seiten mit 2 Abb. und einer Tab., geb. ISBN 978-3-525-56366-3 E-Book ISBN 978-3-647-56366-4

Band 132: Stefan Dienstbeck Transzendentale Strukturtheorie

Band 127: Ulrich Beuttler Gott und Raum – Theologie der Weltgegenwart Gottes 2010. 624 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56400-4 E-Book ISBN 978-3-647-56400-5

Band 126: Maike Schult Im Banne des Poeten

Stadien der Systembildung Paul Tillichs

Die Theologische Dostoevskij-Rezeption und ihr Literaturverständnis

2011. 491 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56364-9 E-Book ISBN 978-3-647-56364-0

2010. 430 Seiten mit 12 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-56349-6

Band 131: Gunther Wenz Grundfragen ökumenischer Theologie Gesammelte Aufsätze Band 2 2010. 368 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56362-5 E-Book ISBN 978-3-647-56362-6

Band 129: Florian Ihsen Eine Kirche in der Liturgie Zur ekklesiologischen Relevanz ökumenischer Gottesdienstgemeinschaft 2010. 313 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56360-1 E-Book ISBN 978-3-647-56360-2

Band 128: Christian Johannes Neddens Politische Theologie und Theologie des Kreuzes Werner Elert und Hans Joachim Iwand 2010. 917 Seiten mit 6 Abb., gebunden ISBN 978-3-525-56354-0

Band 125: Reinhard Leuze Das Christentum Grundriss einer monotheistischen Religion 2010. 204 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56358-8 E-Book ISBN 978-3-647-56358-9

Band 124: Christina Costanza Einübung in die Ewigkeit Julius Kaftans eschatologische Theologie und Ethik 2009. 375 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56351-9 E-Book ISBN 978-3-647-56351-0

Band 123: Michael Coors Scriptura efficax. Die biblisch-dogmatische Grundlegung des theologischen Systems bei Johann Andreas Quenstedt Ein dogmatischer Beitrag zu Theorie und Auslegung des biblischen Kanons als Heiliger Schrift 2009. 398 Seiten, gebunden ISBN 978-3-525-56397-7

© 2013, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Göttingen ISBN Print: 9783525564059 — ISBN E-Book: 9783647564050