Die neue religiöse Intoleranz: Ein Ausweg aus der Politik der Angst 3534264606, 9783534264605

Warum protestieren jeden Montag Zehntausende in Dresden gegen eine angebliche Islamisierung? Und das in einem Bundesland

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German Pages 220 [218] Year 2014

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Table of contents :
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Titel
Impressum
Inhalt
Vorwort
1 Religion: Zeit der Angst und der Verdächtigung
2 Angst: Ein narzisstisches Gefühl
3 Grundprinzipien: Gleicher Respekt für das Gewissen
4 Der Splitter im Auge meines Bruders: Unparteilichkeit und das selbsterforschte Leben
5 Innere Augen: Respekt und mitfühlende Phantasie
6 Der Fall Park51
7 Wie man die Politik der Angst überwindet
Anmerkungen
Stichwortverzeichnis
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Die neue religiöse Intoleranz: Ein Ausweg aus der Politik der Angst
 3534264606, 9783534264605

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Martha Nussbaum

Die neue religiöse Intoleranz Ein Ausweg aus der Politik der Angst

Aus dem amerikanischen Englisch von

Nikolaus de Palézieux

Zum Gedenken an Arnold Jacob Wolf 1924–2008

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Das Werk ist in allen seinen Teilen urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung in und Verarbeitung durch elektronische Systeme. © 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt Die Herausgabe des Werkes wurde durch die Vereinsmitglieder der WBG ermöglicht. Satz: Vollnhals Fotosatz, Neustadt a. d. Donau Einbandgestaltung: Burkhard Finken. Finken & Bumiller, Stuttgart Gedruckt auf säurefreiem und alterungsbeständigem Papier Printed in Germany Besuchen Sie uns im Internet: www.wbg-wissenverbindet.de ISBN 978-3-534-26460-5 Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich: eBook (PDF): 978-3-534-73885-4 eBook (epub): 978-3-534-73886-1

Inhalt

Vorwort

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9

1 Religion: Zeit der Angst und der Verdächtigung 2 Angst: Ein narzisstisches Gefühl

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 12

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 27

3 Grundprinzipien: Gleicher Respekt für das Gewissen

. . . . . . . . . . . . . . . . . 58

4 Der Splitter im Auge meines Bruders: Unparteilichkeit und das selbsterforschte Leben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 Innere Augen: Respekt und mitfühlende Phantasie 6 Der Fall Park51

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156

7 Wie man die Politik der Angst überwindet

Anmerkungen

. . . . . . . . . . 88

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

194

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198

Stichwortverzeichnis

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212

Mehr als alles andere charakterisiert Angst und Sorge das Säugetier Mensch. Angst ist vielleicht die umfassendste Bezeichnung für alle Laster … Sie ist eine Art Begehrlichkeit, Furcht, Neid und Hass … Glücklich diejenigen, die sich dieses Problems in genügendem Maße bewusst sind, um zu den bescheidensten Anstrengungen fähig zu sein, der trüben Befangenheit unseres Gemüts und unseres Geistes durch die Angst Einhalt zu gebieten … Das natürliche Bestreben der menschlichen Seele ist auf den Schutz des Ich gerichtet. Iris Murdoch, Der schwarze Prinz, 1973

Keine Ahnung, was dabei rauskommen soll. Es geht doch um Religionsfreiheit, oder? „Cassandra“, eine Stripperin, die im New York Dolls arbeitet, in der Nähe von Ground Zero, über das geplante Islamische Gemeindezentrum, das neben dem Stripclub entstehen soll.

Vorwort Die Idee zu diesem Buch kam auf, als man mich bat, eine Kolumne für den Stone zu schreiben, der Philosophieseite des Opinionator, dem Online-Kommentar der New York Times. Dort schrieb ich über das beabsichtigte Burka-Verbot in Europa; was ich dort schrieb, taucht in den Kapiteln 3 und 4 wieder auf. Ich war erstaunt über Ausmaß, Vielfalt und Intensität der Kommentare, die ich daraufhin erhielt. Zum Glück durfte ich darauf mit einem Text antworten, der so lang war wie der ursprüngliche Artikel. Ich danke den Herausgebern und den ungefähr 700 Lesern, die ihre Kommentare schickten, was mich in die Lage versetzte, manche der Ideen weiterzu­ entwickeln. Zu jenem Zeitpunkt wurde der Gedanke, ein Büchlein über dieses ­Thema zu schreiben, immer reizvoller. Daher danke ich Joyce Seltzer, meiner langjährigen Lektorin bei Harvard University Press; sie teilte meine Begeisterung und half mir, das Projekt weiter zu entwickeln. Chris Skene und Robert Greer steuerten unschätzbare Forschungsarbeiten bei. Rosalind Dixon, Aziz Huq, Saul Levmore, Ryan Long und Chris Skene danke ich für ihre ausführlichen und anregenden Kommentare zu einer frühen Fassung des Manuskripts. Mehrere Kapitel stellte ich bei einem Work-in-Progress-Workshop der University of Chicago Law School vor und habe, wie immer, viele Gründe, meinen Kollegen dankbar zu sein, die so viel Zeit darauf verwandten, den Text vorab zu lesen, und sehr gute und vielfältige ­Fragen stellten, die für die Schlussfassung wesentlich wurden: Dahwood Ahmed, Eric ­Biber, Jane Dailey, Lee Fennell, Bernard Harcourt, Richard Helmholtz, Todd ­Henderson, Brian Leiter, Richard McAdams, Eduardo Penalver, Ariel Porat, Eric Posner, Mike Schill, Geoffrey Stone, Laura Weinrib und Albert Yoon. Ich widme dieses Buch dem verstorbenen Arnold Jacob Wolf, der ein Gigant des amerikanischen Reform-Judentums wie auch in meinem religiösen Leben war. Als einer der klügsten Menschen, die ich kenne, verband Arnold die Leidenschaft für soziale Gerechtigkeit mit tiefer religiöser Sorge, beides vereint mit einer genialen Gabe zu lehren – unwirsch, zum Wahnsinn reizend, urkomisch, mit einer sokra-

10  •  Vorwort

tischen Leidenschaft zur Auseinandersetzung und einer unsokratischen Fähigkeit zur Sympathie und zum Humor. Ich war sehr froh, als er mich anlässlich meiner Erwachsenen-Bar Mizwa im August 2008 segnete. Leider starb er im folgenden Dezember im Alter von 84 Jahren. Arnold war, in einer lange währenden Tradition des KAM Isaiah Israel wurzelnd, einer Reform-Kongregation, ein leidenschaftlicher Anwalt für interreligiöses Verständnis. Er rief gemeinsame Aktivitäten mit christlichen und muslimischen Gruppen ins Leben wie auch mit örtlichen afroamerikanischen Kirchen, die ihrerseits selber christlich oder muslimisch waren. (KAM ist heute bekannt dafür, direkt gegenüber von Präsident Obamas Haus zu residieren, zugleich nahe dem Haus von Louis Farrakhan [AdÜ: Führer der afro­ amerikanischen Bewegung und Neureligion Nation of Islam] und einer großen afroamerikanischen Moschee.) Wichtige Teile der Liturgie wurden neu geschrieben, so dass die Gemeindemitglieder von den „Völkern der Welt“ singen konnten und nicht nur vom „Volk Israel“. Wer Arnold zum ersten Mal sah, mochte meinen, er sähe einen der Trolle aus einem zentraleuropäischen Märchen: ein kurzes, rundliches, weißbärtiges Rumpelstilzchen, dessen barsche und schnarrende Stimme zu einem derart zänkischen Charakter passen mochte. Doch während Rumpelstilzchen, verzehrt von Abscheu und Neid, mit seinen matten Augen vorsichtig dreinschaute – so stelle ich mir es zumindest vor –, funkelten diejenigen Arnolds regelrecht, und man sah sehr viel Zuneigung zu den Menschen, jungen wie alten, die er ermahnte, die er schalt und über die er sich lustig machte. („Religion ist eine ernste Sache“, pflegte er zu sagen, „doch diese Gemeinde ist ein Witz.“) Rabbi Eugene Borowitz, sein Altersgenosse, sagte anlässlich der Beerdigung, dass Arnold zunächst und vor allem ein Liebender war – und er fügte hinzu: „Juden zu lieben ist keine geringe Leistung.“ Und diese Leistung sah man zunächst in den Augen Arnolds, weil sie vor allem in echter Neugier bestand und der Bereitschaft, nicht nur den Anderen so zu sehen, wie er war, sondern auch, mit seinen eigenen Fehlern und Schwächen gesehen zu werden. Es gab keine Kritik an Arnold, die er nicht zuerst und höchst schneidend selbst ­vor­gebracht hätte. Die beiden folgenden Begebenheiten über Arnold erscheinen zunächst widersprüchlich. In seinen Bar-Mizwa- und Bat-Mizwa-Klassen meinte er, wenn sich die Kinder über irgendetwas beklagten: „Es geht nicht um euch.“ Und doch sagte er oft, wie man bei seinem Begräbnis erfuhr, in seinen Tora-Lehrveranstaltungen mit ­Rabbiner-Kollegen: „Es geht immer um euer Leben.“ War er also inkonsequent? Ich denke, wir können diese beiden Begebenheiten zusammenbringen, wenn wir

Vorwort  •  11 

uns Folgendes klarmachen: In einem höheren Sinne geht unser eigenes Leben nicht um uns selbst. Arnold glaubte an die Introspektion. Er wollte, dass der Text die Menschen zu tieferer Selbsterkenntnis und Selbstkritik brächte. Doch am Ende sagt einem jede Selbsterkenntnis, die diesen Namen zu Recht trägt, dass auch an­ dere Leben so real sind wie das eigene und dass das Leben nicht um einen selbst geht. Man muss vielmehr die Tatsache akzeptieren, dass man die Welt mit anderen Menschen teilt und so handeln, dass es anderen zugutekommt. Gegenüber mit sich selbst beschäftigten Teenagern betonte Arnold den Fokus auf den Nächsten, gegenüber intellektualisierenden Rabbis betonte er die Notwendigkeit der persön­ lichen Selbstprüfung. Doch die Botschaft ist am Ende die gleiche: Erkenne dich selbst, damit du aus dir heraustreten kannst; diene der Gerechtigkeit und fördere den Frieden. Das ist auch die Botschaft, die ich in diesem Buch zu übermitteln hoffe.

1 Religion: Zeit der Angst und der Verdächtigung Vor nicht allzu langer Zeit waren Amerikaner wie Europäer stolz auf ihre aufgeklärte Haltung der religiösen Toleranz und des gegenseitigen Verständnisses. Man wusste zwar, dass die Geschichte des Westens von religiöser Abneigung und Gewalt durchsetzt war – mit Kreuzzügen und Religionskriegen, religiöser Herrschaft der Europäer in vielen Teilen der Welt, mit Antisemitismus und Anti-Katholizismus in den europäischen Ländern. Dies kulminierte in den Schrecken des Nationalsozialismus, der nicht nur Deutschland, sondern auch andere Nationen betraf. Dennoch dachte Europa bis in die jüngste Zeit nur allzu gerne, dass diese dunklen Zeiten der Vergangenheit angehören. Religiöse Gewalt gab es woanders – in „primitiven“ ­Gesellschaften, die weniger durch das Erbe christlicher Werte definiert waren als die modernen Sozialdemokratien Europas. Die Vereinigten Staaten hatten dagegen eine etwas bessere Bilanz als die „Alte Welt“, aus der die ersten Siedler geflohen waren. Viele von ihnen waren auf der Suche nach religiöser Freiheit und Gleichheit. Offene Gewalt im Namen der Religion war ein eher seltenes Phänomen – erduldet von den angeblich „primitiven“ Eingeborenen Amerikas und in jüngerer Zeit von Mormonen und den Zeugen ­Jehovas; anders denkende Gruppen, die von der Mehrheit, nicht aber von Mitgliedern etablierter religiöser Gruppierungen als seltsam und bedrohlich wahrgenommen werden. Und die Vereinigten Staaten waren stets etwas offener als Europa, was Abweichung in Kleidung und Lebensstil betrifft. Das kam religiösen Minderheiten entgegen, die ihrem eigenen Gewissen folgen wollten, ohne sich der Kultur der Mehrheit anzugleichen. Dennoch kann niemand leugnen, dass religiöse Vorurteile und Ängste in Form von Anti-Katholizismus und Nativismus, Antisemitismus und dergleichen gegen „merkwürdige“ Minderheiten immer schon ein Schandfleck ­unserer Gesellschaft waren. Denken wir etwa daran, dass „weiße“ Anwaltskanzleien erst seit den 1970er Jahren Juden in größerem Umfang einstellen; dass erst in aller-

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jüngster Zeit der Oberste Gerichtshof ohne öffentlichen Aufschrei mit Katholiken besetzt werden konnte. So tun wir gut daran, angesichts unserer eigenen Bilanz als vermeintlich tolerante und respektvolle Kultur bescheiden zu werden. Dennoch war in den letzten Jahren das Selbstbild von US-Bürgern das einer offenen und viel­ fältigen Gesellschaft, die die Vorurteile der Vergangenheit überwunden hat. Heute aber haben wir viele Gründe, diese selbstgefällige Einschätzung in Zweifel zu ziehen. Unsere Situation schreit geradezu nach kritischer Selbst-Reflexion, sofern wir die Wurzeln der schlimmen Ängste und Verdächtigungen freilegen wollen, die gegenwärtig alle westlichen Gesellschaften entstellen. Heutzutage ist eine ethische Herangehensweise im Geiste Sokrates’ dringend vonnöten, die drei Punkte bedenkt: – Politische Grundsätze des gleichen Respekts vor allen Bürgern und ein Verständnis dessen, was diese Grundsätze für die heutige Konfrontation mit religiösen Unterschieden bedeuten. (Diese Grundsätze wohnen den politischen Tradi­tionen Europas und vor allem der Vereinigten Staaten inne.) – Rigorose Kritik, die Unvereinbarkeiten aufspürt und kritisiert, gerade auch jene, die Ausnahmen für einen selbst zulassen und den Stachel im Auge des Anderen ­bemerken, ohne den Balken im eigenen Auge zu erkennen. – Eine systematische Ausbildung des „inneren Auges“, der Vorstellungskraft, die uns erkennen lässt, wie die Welt vom Standpunkt anderer Religionen oder Ethnien aussieht. Diese ethischen Tugenden sind in einer komplizierten Welt sehr wertvoll. Warum aber werden sie gegenwärtig besonders gebraucht? Werfen wir dazu einen Blick auf einige Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit und blicken dabei zunächst nach Europa, dann in die Vereinigten Staaten.

Europa: Burkas, Minarette, Morde Drei europäische Nationen – Frankreich, Belgien und Italien – haben Gesetze erlassen, die das Tragen der muslimischen Burka und des Niqab (beide bedecken das Gesicht bis auf die Augenpartie) in der Öffentlichkeit verbieten1. (In Italien hat das Gesetz nur die Abgeordnetenkammer passiert; gegenwärtig wird es vom Senat ­geprüft.) Obwohl eingeräumt wurde, dass nur eine winzige Minderheit in diesen Ländern diese Kleidungsstücke tatsächlich trägt (in Italien beispielsweise geht eine verlässliche Schätzung von 100 Personen aus, und selbst die höchste Schätzung

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kommt auf maximal 3000), wurde diesen Gesetzen, die eine schwere Belastung der Ausübung religiöser Freiheit darstellen, höchste Dringlichkeit beigemessen, als handelte es sich um eine öffentliche Krise von größter Wichtigkeit.2 Solche Entwicklungen blieben nicht ohne Gegenreaktionen, selbst von Seiten der Bekleidungs-Experten. In Italien, einem der Zentren der Damenmode, hat kein Geringerer als Giorgio Armani die Burka verteidigt, als er sagte ( Jahre vor dem ­nationalen Bann, als Verbote noch örtlich begrenzt waren), dass die Frauen tragen sollten, was sie wollten. „Es ist eine Frage des Respekts vor den Überzeugungen und der Kultur der anderen“, meinte er. „Wir müssen mit diesen Vorstellungen leben.“3 Doch die Italiener überhörten in diesem Fall die Stimme der Mode und folgten Themen, die sie für wichtiger hielten. Inzwischen haben viele Gemeinwesen in Europa sogar das Tragen des musli­ mischen Kopftuchs reguliert, das nur die Haare bedeckt. In Frankreich dürfen Mädchen in der Schule kein Kopftuch tragen.4 Der Kosovo hat, bei hohem mus­ limischen Bevölkerungsanteil, ein ähnliches Verbot ausgesprochen.5 In Teilen Deutschlands, Hollands, Spaniens und Belgiens darf das Kopftuch nicht von Angestellten im öffentlichen Dienst getragen werden, wozu auch Lehrer in der Schule gehören – obwohl Nonnen und Priester in vollem Habit lehren dürfen.6 In der Schweiz dürfen Mädchen das Kopftuch nicht tragen, wenn sie Basketball spielen.7 In Russland erhielten muslimische Frauen das Recht, auf Passfotos ihr Kopftuch zu tragen; kürzlich aber wurde ein muslimisches Mädchen der Schule verwiesen, weil es sein Kopftuch trug, und eine Universität im Nordkaukasus hat sämtliche Kopf­ tücher verboten.8 Nach einer Kampagne, die eigentlich die Ängste vor einer muslimischen Übernahme ansprechen sollte, stimmten in der Schweiz anlässlich einer Volksbefragung 57 % der Befragten für das Verbot des Baus von Minaretten bei Moscheen – trotz der Tatsache, dass nur wenige Moscheen tatsächlich Minarette haben (von 150 ­Moscheen in der Schweiz weisen nur 4 Minarette auf ) und daher die Frage der Architektur lediglich symbolische Bedeutung hat.9 Die Angst vor Muslimen zeigt auch in kleinerem Maßstab und oft recht bizarr ihr hässliches Gesicht. Der Bürgermeister der italienischen Stadt Capriate in der Provinz Bergamo verbot im Jahre 2009 alle Kebab-Läden in der Stadt.10 Eine Website, die die Vorherrschaft der weißen Rasse behauptet (www.stormfront.org), hat diesen „Sieg“ großartig und jubelnd herausgestellt und versuchte, noch mehr ­Widerwillen durch den Hinweis auf angeblichen Dreck und Kakerlaken in diesen Restaurants zu erregen. Im weiteren Verlauf des Jahres schloss sich eine Reihe

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­ eiterer Städte in den Provinzen Genua und Bergamo diesem Verbot an. In Lucca w wurde ein Kebab-Laden mit Brandbomben beworfen. Ein Mitglied der Lega Nord, die sich gegen Immigration ausgesprochen hat, rief gar nach einem Verbot aller ausländischen Speisen. Der italienische Landwirtschaftsminister, der dieser Partei angehört, verteidigte dieses Verbot und berief sich dabei auf Tradition wie auch auf Gesundheitsvorsorge.11 Nordeuropa gilt gewöhnlich als ruhiges Gebiet von geradezu idealer Toleranz und Freundschaft. Und doch hat auch diese Region regelrechte Wellen anti-muslimischer Gefühle erlebt. Finnland, das ich sehr gut kenne, hat keine gesetzlichen Beschränkungen gegen religiöse Kleidung aller Art eingeführt, auch gibt es nur wenig politische Unterstützung dafür. Dennoch wird oft über die Diskriminierung von Frauen im Arbeitsleben, die das Kopftuch tragen, geklagt.12 Manche Arbeit­ geber (Polizei und einige Lebensmittelhändler) sagen öffentlich, dass sie Frauen mit Kopftüchern nicht einstellen.13 Schulen in Raasepori haben Schülerinnen das Kopftuch verboten, zogen angesichts des öffentlichem Drucks dieses Verbot aber zurück.14 Doch in zwei Fällen wurde eine Muslim-freundliche Politik nach öffentlichem Druck fallen gelassen. Städtische Kindergärten in Helsinki und Espoo ­haben unlängst damit aufgehört, besondere Mahlzeiten für muslimische Kinder auszugeben.15 Und die umstrittene Politik der Stadt Helsinki, bestimmte Zeiten im Hallenbad von Janomaki für muslimische Frauen zu reservieren, wurde aufgegeben, wenn auch später ein neuer, nur für Frauen reservierter Zeitraum am Abend eingerichtet wurde.16 Finnland legt eine besondere Toleranz und Nachsicht an den Tag, Spannungen existieren aber dennoch. Und die Neigung der Finnen, Nicht-Homogenität mit Fremdheit gleichzusetzen, zieht sich als Drohkulisse durch alle neuen Begebenheiten zu diesem Thema (meist wird von „Finnen“ und der „finnischen Kultur“ gesprochen, im Gegensatz von Muslimen und dem Islam, ohne dass dabei gefragt würde, wie viele der fraglichen Muslime tatsächlich Bewohner oder sogar Bürger Finnlands seien). Im Juli 2011 schlug der Terror in einem Finnland benachbarten nordeuropäischen Land erbarmungslos zu. Der norwegische Fanatiker Anders Behring Breivik ermordete 77 Menschen bei zwei Angriffen, als er Regierungsgebäude in Oslo bombardierte und junge Abgeordnete der Arbeiterpartei erschoss, die sich auf der Insel Utøya zu einem Jugendcamp versammelt hatten.17 Breivik, der die Taten gestand, aber jede Schuld abstritt, veröffentlichte am Tag der Angriffe ein Manifest von 1500 Seiten, worin er eine Theorie entwarf, die seine Taten rechtfertigen sollte. Diese Theorie basierte auf der Vorstellung, dass Europa gegen die Geißel der Isla-

16  •  Die neue religiöse Intoleranz

misierung kämpfen müsse.18 Offenkundig hat er Verbindungen zu mehreren antiislamischen Gruppen in Europa wie den USA.19 Obwohl seine Taten allgemein verurteilt wurden, wurden sie von manchen rechten Politikern in anderen Ländern gefeiert. Jacques Coutela, Mitglied des französischen Front National (FN), ­beschrieb ihn als „Ikone“ und „wichtigsten Verteidiger des Westens“. Er sieht ihn im Kampf „gegen die muslimische Invasion“ und vergleicht ihn mit dem fränkischen Heerführer Karl Martell.20 Coutela wurde von der Partei ausgeschlossen; eine ­Untersuchung steht an. Ein weiteres Mitglied des FN, das sich ähnlich, doch in weniger drastischen Worten geäußert hatte, wurde dagegen nicht ausgeschlossen. Das italienische Parlamentsmitglied Mario Borghezio von der Lega Nord (Partner in Silvio Berlusconis Regierung) verurteilte Breiviks Gewalt, unterstützte jedoch seine Ideen, vor allem seinen „Widerstand gegen den Islam und seine ausdrückliche Klage, dass Europa aufgegeben hat, bevor es den Kampf gegen die Islamisierung überhaupt aufnahm“.21

Die USA: Kopftücher, Moscheen, das Gesetz der Scharia Die Vereinigten Staaten haben in jüngerer Zeit wenig religiöse Gewalt erlebt (es sei denn, wir zählen die Bomben von Oklahoma City 1995 dazu, gezündet von christlichen Miliz-Mitgliedern unklarer Herkunft, deren Motive sich gegen die Regierung richteten, weniger gegen Einwanderer oder religiöse Minderheiten). Obwohl Heterogenität und religiöser Pluralismus in den USA immer wieder betont werden, fehlte es dort nie an Vorurteilen und gelegentlicher Gewalt gegen neue Religionsgruppen. Die frühen Siedler vertrieben diejenigen, deren religiöse Ansichten als ketzerisch galten (so wurde Roger Williams gezwungen, von Massachusetts nach Rhode Island zu fliehen).22 Juden, Quäker, Baptisten und Mennoniten waren in manchen Kolonien willkommen, aber nicht in allen.23 Im 19. Jahrhundert ließ eine Welle katholischer Einwanderer aus Irland und Südeuropa bösartige Vorurteile aufkommen, als der Nativismus zu einem populären politischen Thema wurde.24 In der einen oder anderen Gestalt ist bis in die allerjüngste Zeit der Anti-Katholizismus ein bestimmender Faktor im politischen Leben Amerikas geblieben: Während des Kalten Krieges warnte der Journalist Paul Blanshard in seinem Bestseller American Freedom and Catholic Power (1947) seine Landsleute, der Katholizismus sei eine ebenso große Gefahr für die amerikanische Demokratie wie der Weltkommunismus. Seither waren nicht nur kleinere Gruppen wie die Mormonen und Zeugen

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Jehovas Vorurteilen und direkter Gewalt ausgesetzt.25 Antisemitismus war in den 1970er Jahren außerordentlich verbreitet und ist bis heute nicht verschwunden.26 Wie also reagieren die Amerikaner auf das gegenwärtige Aufkommen neuer reli­ giöser Ängste? Die Antwort der USA ist vielfältiger als die europäische, weil in Amerika mehrere Religionen betroffen sind. Auch Juden sind hier nicht von Verdächtigungen ausgenommen – vor allem, wenn sie Fremde sind. Drei mexikanische Juden, die während eines Fluges der Alaska Airlines von Mexiko nach Los Angeles beten wollten, mussten den Flug abbrechen und wurden vom FBI verhört.27 Nach den Ereignissen von 9/11 wurde der Turban der Sikhs gern mit muslimischer Kleidung verwechselt, und Sikhs wurden an Flughäfen schikaniert, waren in manchen Fällen sogar Opfer gewalttätiger Übergriffe.28 Noch immer klagen Sikhs darüber, dass Luftfahrtgesellschaften ihre Turbane untersuchen, obgleich der TSA (Transporta­ tion Security Administration) Alternativen wie das Abtasten von Turbanen vorgeschlagen hat, ebenso eine Selbst-Abtastung, nach der die Hände der Betroffenen auf chemische Rückstände untersucht werden.29 Unlängst hat die US-Armee SikhRekruten gestattet, ihre Turbane zu behalten.30 Die Sikhs haben eine lange Tradi­ tion im gehobenen Militärdienst und waren immer schon leidenschaftliche Fürsprecher für Veränderungen. George Wright, ein Armeesprecher, sagte: „Es ist Politik der Armee, religiösen Praktiken Raum zu geben, solange diese Praktiken sich nicht hinderlich auf militärische Erfordernisse auswirken.“ Auch der Hinduismus ist auf Schwierigkeiten gestoßen: Das erste Hindu-Gebet im US-Senat wurde durch organisierte Störer unterbrochen, die sich selbst als „Christen und Patrioten“ bezeichneten. Allerdings schaffte es der Protest nicht, das Hindu-Gebet zu beenden: Die Unruhestifter wurden wegen „Störung des Kongresses“ auf der Besuchergalerie festgenommen, und ihre Tat wurde auf den Fluren des Senats von Mehrheitsführer Harry Reid verurteilt.31 Doch die größte Anzahl einschlägiger Zwischenfälle in den USA wie in Europa steht mit dem Islam in Zusammenhang. Mir ist zwar kein Vorstoß bekannt, die Burka zu verbieten, doch auch das Kopftuch hat hier und da zu Zwischenfällen geführt. Eine 31-jährige Muslima mit Kopftuch wurde aufgefordert, einen South­ west-Airlines-Flug zu verlassen, nachdem eine Stewardess ein Gespräch auf dem Handy aufschnappte, worin die Muslima angeblich gesagt hatte: „Es läuft [It’s a go]“ – obgleich die Muslima meinte, sie hätte tatsächlich gesagt: „Ich muss jetzt los“ [I’ve got to go], als der Flug zum Start bereit gemacht wurde. Nachdem man ihr Kopftuch abgetastet und mit ihr gesprochen hatte, erkannte die TSA sehr schnell,

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dass hier ein Fehler gemacht worden war, weshalb weder ihr Handy noch ihre Brieftasche untersucht wurden. Dennoch wurde ihr nicht gestattet, an Bord zurück­ zukehren, weil dies der Crew peinlich war. Sie erhielt zwei mündliche Entschuldigungen seitens der Airline und einen Gutschein, den sie aber verschenken will, weil sie nicht mehr mit Southwest fliegen möchte. Am Ende erhielt sie eine offizielle, öffentliche Entschuldigung.32 Andererseits verklagt Imane Boudlal, eine Disneyland-Angestellte aus Marokko, Disney, weil sie bei ihrer Arbeit als Hostess in Disneylands Grand Californian Hotel ihr Kopftuch tragen will. Ihre Vorgesetzten teilten ihr mit, dies sei nicht der „Disney Look“. Wenn sie das Kopftuch weiterhin tragen wolle, müsse sie eine Stelle außerhalb des Sichtbereichs der Besucher annehmen. Man schlug ihr einen Kompromiss vor: einen großen, männlich wirkenden Hut, den sie über ihrem Hijab tragen konnte, was auf einem Foto allerdings ziemlich lächerlich aussieht. Imane Boudlal lehnte diesen Kompromiss ab.33 Noor ­Abdallah, eine junge Muslima aus Illinois, die als Volontärin für Disney in Kalifornien arbeitet, akzeptierte einen etwas plausibleren, dennoch merkwürdigen Kompromiss, indem sie eine blaue Baskenmütze über ihrem Hijab trug.34 Die Idee dahinter: Der Anblick dieser Frauen, die wie glaubenstreue Musliminnen aussehen, würde den Kunden missfallen. Abdallah ist mit dem Kompromiss zufrieden, doch Boudlal versucht, ihren Fall weiter durchzusetzen. Es wurden noch weitere Klagen von Angestellten berichtet, und die Anzahl solcher Klagen scheint derzeit anzusteigen.35 Doch die Öffentlichkeit muss sich der Auseinandersetzung noch stellen. Als einer Frau in Georgia das Betreten des städtischen Gerichts in Douglasville verwehrt wurde, nachdem sie sich geweigert hatte, ihr Kopftuch abzunehmen, empfahl der Staat Georgia, dass religiöse Kopfbedeckungen in allen staatlichen Gerichts­ gebäuden zuzulassen seien.36 Das Kopftuch hat in einigen wenigen Fällen von privaten Unternehmern Probleme verursacht, doch in mindestens zwei Fällen haben auch Moscheen öffent­ lichen Widerstand hervorgerufen. In den USA gibt es zwar nichts, das dem Minarett-Verbot in der Schweiz entsprechen würde, doch die Planungsbehörde in DuPage County in der Nähe von Chicago hat einen Plan zurückgewiesen, wonach in Willowbrook eine Moschee erbaut werden sollte – nachdem dieselbe Behörde schon einen Plan abgewiesen hatte, der die Errichtung eines islamischen Schul­ zentrums und eines Bethauses bei Naperville vorsah. Zudem hat diese Planungsbehörde das Vorhaben eines islamischen Religionszentrums in West Chicago abgelehnt. In allen genannten Fällen ist der Bezirk besorgt wegen angeblicher Übersättigung mit religiösen Einrichtungen und dementsprechenden Verkehrs-

Zeit der Angst und der Verdächtigung  •  19 

und Abwasserproblemen. Fast jede andere Religion aber hatte sich dort ausbreiten können. Nahe dem vorgesehenen Bauplatz in Willowbrook befinden sich ein bud­ dhistisches Meditationszentrum, eine [hinduistische] Chinmaya-Mission sowie eine mazedonisch-orthodoxe Kirche.37 In diesem Bezirk gibt es zudem viele christliche Kirchen und jüdische Synagogen. Daher ist es ziemlich schlecht, die Linie der „Übersättigung“ so zu ziehen, dass ausgerechnet die am schnellsten wachsende Gruppe des Bezirks ausgegrenzt wird. Damit zusammenhängende Hinweise auf fallende Grundstückspreise nähren den Verdacht der Voreingenommenheit. Im Oktober 2011 wurde ein weiterer Plan für ein islamisches Gemeindezentrum an der 248.  Avenue in Naperville von der Stadtplanungskommission ebenfalls zurück­ gewiesen, wieder mit dem öffentlichen Argument der Übersättigung und möglicher Verkehrsprobleme. Auf dem vorgesehenen Grundstück warnten Schilder: „Sagt Nein zur Moschee an der 248.“ Bei einer ähnlichen Begebenheit führte der Plan zur Errichtung eines islamischen Gemeindezentrums in Murfreesboro, Tennessee (Erweiterung eines seit dreißig Jahren bestehenden Zentrums), zu lautstarken Protesten, als die Bezirkskommission tagte und Hunderte von Gegnern im Juni 2010 das Treffen stürmten. Zwei Monate darauf wurden mehrere Baumaschinen durch Brandstiftung am Bauplatz zerstört. Das FBI wurde zur Untersuchung des Falles herbeigerufen; weitere islamische Gebetsorte in dieser Gegend erhöhten ihre Sicherheitsvorkehrungen. Inzwischen hat das Justizministerium das Recht der islamischen Gruppe auf Errichtung eines Gebetsortes bekräftigt, dies als Antwort auf die Klage von örtlichen Grundstückseignern gegen den Bezirk.39 Und im Januar 2011 wurde ein versuchter Bombenanschlag auf das Islamic Center of America in Michigan durch die Polizei vereitelt. Roger Stockham, ein 63-jähriger Armeeveteran aus Kalifornien mit einer Vorstrafe wegen Islamfeindlichkeit, wurde festgenommen; er besaß eine große Anzahl an Sprengsätzen. Man befand ihn jedoch für unfähig, der Verhandlung folgen zu können.40 Obwohl in diesem Falle der Täter ein Einzelgänger war, scheinen sich die Proteste und Drohungen gegen Moscheen auszuweiten. Zwischen Mai und September 2010 zählte die American Liberties Union dreißig existierende oder geplante ­Moscheen, die Vandalismus, öffentlichem Protest oder starker Opposition aufgrund von Islamfeindlichkeit ausgesetzt waren.41 Ein weiterer Punkt, der in den USA zu Kontroversen Anlass gibt, ist die mögliche Anwendung der Scharia, des islamischen Gesetzes, auf US-Bürger. In Oklahoma sieht ein Zusatz zur staatlichen Verfassung vor, der mit 70 % der Stimmen

20  •  Die neue religiöse Intoleranz

angenommen wurde, dass sich Gerichte in Oklahoma auf das US-Bundesgesetz, ­das Gemeindegesetz und „wenn nötig auf Gesetzesvorschriften eines anderen Staates“ beziehen dürfen, aber nicht „auf Gesetzesvorschriften anderer Nationen und Kulturen“, auf „internationales Recht oder das der Scharia“.42 Der hauptsächliche Verfasser dieses Gesetzes, Rex Duncan, sagte: „Dies ist ein Krieg um das Überleben Amerikas. Es ist ein Kulturkrieg.“43 Dieser schlecht durchdachte und uneindeutige Zusatz (genannt der „Rettetunseren-Staat-Zusatz“) wirft eine ganze Reihe von Problemen auf – etwa, dass das Gewohnheitsrecht englischen Ursprungs ist und die Anklage nach internationalem Recht auch im Sinne einer Anrufung anerkannter Gesetzesquellen wie des Seerechts und internationaler Verträge ausgelegt werden kann. Doch der hervor­ stechendste Punkt ist die Überflüssigkeit (der ganzen Sache): Schon die Gründungs-Klausel [establishment clause] des Ersten Zusatzes zur US-Verfassung schließt aus, dass vor amerikanischen Gerichten die gesetzlichen Vorschriften ­irgendeiner Religion bevorzugt werden. Das Gesetz wurde daher von islamischen Gruppen angefochten, weil es den Islam als einzige Religion stigmatisiert, und der Fall wurde von einer Bezirksrichterin auf Grundlage der genannten EinleitungsKlausel angenommen. Die Richterin blockierte vorübergehend die Inkraftsetzung dieses Gesetzes bis nach einer weiteren Anhörung; später dehnte sie ihre einstweilige Verfügung zeitlich unbegrenzt aus. Sie befand, dass das Gesetz keinem säkularem Zweck diene, dass vielmehr dessen „Hauptabsicht die Religion behindere“ und die übermäßige Einmischung des Staates in religiöse Angelegenheiten befördere.44 Außerdem hielt die Richterin fest – und Wissenschaftler folgten ihr –, dass das Gesetz den Muslimen eine besondere Belastung auferlege, da es Gerichten gestattet ist, Verträge (wie etwa Testamente und Eheverträge) in Kraft zu setzen, die auch Sprache aus anderen religiösen Traditionen umfasst. Wie Azis Huq, Professor der Rechtswissenschaft an der Universität Chicago, in der New York Times schrieb: „Die Verbote würden Muslime vom gleichen Zugang zum Gesetz ausschließen. Ein Fleischer könnte nicht mehr seine Verträge, die Halal-Fleisch betreffen, einhalten – Verträge, die, wie auch solche für koschere und andere, vom Glauben sanktionierte Nahrung, regelmäßig und landesweit durchgesetzt werden. Auch könnte ein muslimischer Banker keine Entschädigungen für die Zuwiderhandlungen eines Finanzinstruments anstreben, die als Scharia-Klage ausgewiesen sind, weil keine Zinsen anfallen.“ 45 Der Oklahoma-Streitfall hat eine Welle anti-muslimischer Stimmungen quer durch den Staat losgetreten. Und er hat weitere Bundesstaaten veranlasst, ähnliche

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Maßnahmen zu ergreifen, wobei mit einer Sprache gearbeitet wurde, die Verfassungs-Probleme wie bei dem Oklahoma-Gesetz vermeidet.46 Am bizarrsten mutet vielleicht ein Gesetzesentwurf in Tennessee an, der das Befolgen der Scharia als Verbrechen einstuft, das mit 15 Jahren Gefängnis bestraft wird.47 Da die Scharia, wie auch das traditionelle jüdische Gesetz, sich auf einen Großteil des persönlichen Verhaltens erstreckt wie etwa auf den Verzicht von Alkohol, auf Nahrungsvorschriften, auf Regeln für das Gebet und auf einen geschäftlichen Ehrenkodex, ist das Tennessee-Gesetz in fixierter Form einfach lächerlich. Doch allein schon die Tat­ sache, dass es ernsthaft vorgeschlagen werden konnte, beweist ein hohes Maß an öffentlicher Ignoranz und Argwohn. (Als derartige Einwände dem Urheber des Gesetzesentwurfs vorgehalten wurden, meinte er: „Das untersuche ich noch.“) In der Tat gibt es handfeste Beweise dafür, dass in den USA die Vorurteile gegenüber den Muslimen ansteigen. Klagen wegen beruflicher Diskriminierung von Muslimen vor der Equal Employment Opportunity Commission, EEOC [Kommis­ sion für Gleichberechtigung bei der Arbeit] haben in letzter Zeit zugenommen. Sämt­liche Meinungsumfragen bestätigen einen erneuten Aufschwung anti-muslimischer Haltungen.48

Die Idee der nationalen Identität: Homogenität und Zugehörigkeit Alle genannten Entwicklungen sind zutiefst irritierend und zeigen, dass religiöse Ängste in den USA immer stärker werden, vor allem gegenüber Muslimen. Dennoch finden wir innerhalb der USA nichts, was auch nur entfernt den nationalen und regionalen Verboten islamischer Kleidung in Europa oder dem landesweiten Minarett-Referendum in der Schweiz nahekommt. Kann man diesen Unterschied erklären? Ich habe angedeutet, dass die Vereinigten Staaten sich mit der Heterogenität weitaus wohler fühlen als Europa. Dieser Unterschied entspringt tiefer gelagerten, andersartigen Vorstellungen zur Idee der Nation. Seit dem Aufkommen des modernen Nationalstaats haben die Staaten Europas betont, die Wurzeln der Nationen lägen in erster Linie in Eigenheiten begründet, die von neuen Einwanderern nur, wenn überhaupt, mit Schwierigkeiten zu teilen seien. In hohem Maß von der Romantik beeinflusst, haben diese Nationen geographische Abstammung, ethnolinguistische Volkszugehörigkeit sowie Religion als notwendige, zumindest aber zentrale Elemente der nationalen Identität benannt.

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Und damit scheinen alle Menschen, die einen anderen geographischen Ursprung, ein anderes heiliges Land, anderes Aussehen und Kleidung haben, nie ganz dazuzugehören, gleichgültig, wie lange sie schon in dem betreffenden neuen Land leben.49 Ein Grund, warum es so außerordentlich schwer für Juden war, als gleichberech­tigte Bürger in Europa angesehen zu werden – wenn sie das überhaupt je geschafft ­haben –, war die Wahrnehmung, dass Juden von Natur aus anders waren, weil sie anders beteten, sich anders kleideten, in ihren Gottesdiensten eine andere Sprache benutzten, andere Nahrung aßen. In dem Maße, wie sie sich assimilierten, gemeinsam mit anderen aßen, sich mit ihnen vermählten, eher das Deutsche als das Jiddische in ihren Gottesdiensten benutzten (was deutsche Reformjuden meist taten), sich zudem „normal“ kleideten (keine Kippa, keine Gesichtsbehaarung), stiegen die Chancen auf Akzeptanz – bis zum Aufkommen der Rassenideologie und der blutsmäßigen Rassentypologie, was aber erst recht spät der Fall war. Nachdem sich die Rassen­ideologie durchgesetzt hatte, war die Assimilierung unmöglich geworden. Vor und nach dieser Zeit aber lag der Akzent auf Homogenität und auf kultureller Assimilation an das herrschende Paradigma. Andersartigkeit ist Fremdheit.50 Es muss aber klar gesagt werden, dass die vermeintliche Homogenität immer schon zum guten Teil bloße Fiktion war. Sie kaschierte Unterschiede der Sekten, Clans, der lokalen Dialekte und viele weitere Ursachen innerer Verschiedenartigkeit. Historiker wie Eric Hobsbawm haben für Europa im Allgemeinen, Graham Robb für Frankreich und Linda Colley für England im Einzelnen nachgewiesen, in welchem Ausmaß solche Behauptungen einer nationalen Identität fragile und oberflächliche Konstrukte waren, die sich über anhaltende Divergenzen hinwegsetzten.51 Im Falle Deutschlands und Italiens ist dies noch deutlicher, da deren staat­ liche Einheit erst recht spät kam und auch erkennbarer ein Konstrukt war. Wie der Historiker George Mosse klar belegt hat, funktionierten europäische Einigungsprojekte häufig, indem die Nation in Opposition zu fremden oder minderheitlichen Elementen definiert wurde, die als degeneriert dargestellt wurden, oft als Träger einer stigmatisierten Sexualität.52 So ist die Idee der Homogenität real (eine Mehrheit hat eine gemeinsame Religion) und zugleich auch weniger real, als dies behauptet wird. Trotzdem glauben die Menschen daran und sehen dann Ähnlichkeiten, wo sie zuvor Unterschiede gesehen haben. Diese Haltung überwiegt noch heute in vielen Teilen Europas. Finnland ist vielleicht ein Extrembeispiel, da die Finnen nur wenig Einwanderung zuließen und daher auch nur wenig Menschen mit anderem Aussehen zu Angesicht bekommen haben. Eine finnische Kollegin von mir an der Universität Chicago, die in der zweit-

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größten Stadt Finnlands aufwuchs, sagte mir, dass sie erst im Alter von sechzehn Jahren zum ersten Mal einen Menschen gesehen hatte, der kein nordeuropäischer Protestant war. Finnland legt auf eindeutige und einfache Weise Charakteristika an den Tag, die bis zu einem gewissen Maße von den meisten europäischen Nationen geteilt werden. Und obgleich Finnlands schlimme Kollaboration mit den Nationalsozialisten während des Zweiten Weltkriegs viele Wurzeln hat, wobei der Hass auf Russland hervorragt, war auch der Antisemitismus weit verbreitet, als Form der Abweisung des Anderen. Der finnische Nationalismus ist ein besonders eindeutiger Fall für die These, dass nationale Identität ein bewusstes Konstrukt ist, das man in seiner Entstehung nachverfolgen und die Menschen beim Namen nennen kann, die es errichteten. Von der Mitte bis zum Ende des 19. Jahrhunderts entdeckte eine Gruppe Intellektueller, von der europäischen Romantik beeinflusst, die finnische Sprache wieder, die zu jener Zeit nur in ländlichen Gebieten gesprochen wurde (städtische und gebildete Menschen sprachen Schwedisch). Auch erweckten sie ­nationale Mythen zu neuem Leben (wie etwa das Kalevala-Epos, das auf traditionellem Volkstum basiert, aber erst im 19. Jahrhundert niedergeschrieben wurde).53 Neu aufgekommene patriotische Künstler schrieben Romane über ländliches, bäuerliches Leben, malten Werke des romantischen Expressionismus, die Nationalhelden an Seen und in Wäldern zeigten, schrieben Musik, die die Liebe zur finnischen Natur und Folklore ausdrückte ( Jean Sibelius war der wichtigste Komponist dieser Bewegung). Menschen, die seit je schwedisch gesprochen hatten, begannen, ­finnisch zu reden und änderten ihre schwedischen Namen in finnische. Weil die Sprache, so spät erst wiederentdeckt, immer schon ein besonders machtvolles Vehikel nationaler Identität war, verurteilen die Finnen oft Fremde, sofern diese kein Finnisch sprechen können, das bekanntlich eine besonders schwierige Sprache ist, ohne Verbindung zur indo-europäischen Sprachfamilie und unter den bekannten Sprachen einzig dem Ungarischen und Estnischen verwandt. Tatsächlich erzählen mir meine finnischen Freunde heute, dass ein afrikanischer Einwanderer, der fließend Finnisch spricht, von vielen Menschen als weniger fremd empfunden würde als ein blonder Protestant, der nur Englisch oder Deutsch spricht – obwohl doch Englisch im überwältigenden Maß zur Sprache des akademischen Lebens und des Handels geworden ist. Doch es gibt auch Ausgrenzung, die auf äußerer Erscheinung beruht, und sämtliche Faktoren, die für Inklusion sprechen, müssen erst addiert werden, ehe der Status eines neuen Mitbewohners geklärt ist. Finnland ist ein einmaliger und zugleich extremer Fall von Homogenität. Doch auch andere europäische Nationen sehen sich ähnlichen Problemen gegenüber. K ­ eine

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dieser Nationen hat nationale Identität eindeutig nach Begriffen politischer Ideale und Kämpfe definiert – eine Form nationaler Identität, die dennoch vielen modernen Nationen vertraut ist, etwa Australien, Neuseeland, Kanada, Indien, Südafrika und den Vereinigten Staaten. Diese Form der Identität dämpft die Probleme der Inklu­ sion bis zu einem gewissen Grade ab. Nicht dass es den Nationen dieser letztgenannten Gruppe an Kämpfen um Inklusion und Identität mangelte, wie wir bald sehen werden. Doch sie halten von allem Anfang an die Tür einen Spalt breit offen und lassen jeden zu, der sich auf das Projekt von „Leben, Freiheit und dem Streben nach Glück“ einlassen kann – oder, im Falle Indiens, von wirtschaftlicher Gleichheit –, als Ausdruck nationaler Sehnsucht. Manche dieser Nationen haben sogar Einwanderung und Verschiedenartigkeit als Aspekte nationaler Identität zum Mythos erhoben. Amerikanische Schulkinder besuchen Ellis Island oder die Freiheitsstatue, rezitieren Emma Lazarus’ Freiheitsstatuen-Gedicht über die „dicht­gedrängte Masse, die sich danach sehnt, frei zu atmen“. Die Vereinigten Staaten haben schmerzhafte Auseinandersetzungen um Immigration, doch heute dreht sich alles um illegale Immigration; eine Politik des Widerstands gegen legale Immigration wurde nie weiterverfolgt. Hier wurde der Höchststand in der letzten Hälfte des 19. Jahrhunderts erreicht, als der Nativismus deutliche politische Spuren hinterließ. Doch auch damals blieb dies eine Minderheiten-Position, und heutige Opposition gegen jegliche Einwanderung ist höchst unpopulär. Als Pat Buchanan mit einer solchen Botschaft bei der St. Patrick’s Parade in Chicago im Zuge seiner misslungenen Präsidentschaftskandidatur mitlief, wurde er von seinen Mitmarschierern heftig kritisiert, diese Feier solle den Beitrag der Einwanderer zu den Vereinigten Staaten würdigen.54 Indien hat nicht viele Einwanderer, weist aber eine immense innere Vielfalt auf. Die Ausbildung der modernen indischen Nation bedeutete Anerkennung aller religiösen, ethnischen, kulturellen und sprachlichen Elemente wie auch die Ausbildung eines Konzepts von Zugehörigkeit, das alle auf der Grundlage der Gleichheit einschließt. Dies war die bedeutende Leistung Nehrus und Gandhis, für die sie einen erfolgreichen Kampf mit der Hindu-Rechten austrugen, die ausdrücklich ihr Bild der nationalen Identität auf Europa zurückführten und eine religiös-kulturell und ethnisch basierte Konzeption der bürgerlichen Inklusion verfolgten und meinten, dass Muslime nie vollwertige Bürger sein könnten.55 Indiens Nationalhymne beginnt mit der Aufzählung der unterschiedlichen regionalen/sprachlichen Ursprünge des indischen Volks. Die zweite Strophe zählt die verschiedenen religiösen Wurzeln auf. Von all diesen Gruppen, alle als gleichwertig anerkannt, heißt es, sie würden dem ethischen Gesetz ihre Verehrung erweisen.

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Die australische Selbstdefinition beruht wie die der USA auf der Erkenntnis, dass die meisten Australier von Einwanderern abstammen, auch wenn unlängst ­gerade diese Identität etwas überschattet wurde – wegen der Ungerechtigkeiten, die an den Ureinwohnern begangen wurden. Öffentlich wurde der Stolz auf deren andersartige Kultur und künstlerische Traditionen formuliert. Da viele australische Einwanderer Sträflinge waren und damit die „Nichtse“ Großbritanniens, war die Idee einer klassenlosen, anti-hierarchischen Gesellschaft zentral. (So gilt es oft als un-australisch, auf dem Rücksitz eines Taxis Platz zu nehmen, obwohl an Orten mit vielen Touristen ein solches Verhalten allmählich ausstirbt.) Ein weiterer und oft betonter Aspekt der Identität ist die anhaltende Beziehung zu dem schwierigen und herausfordernden Land; daran können alle teilhaben. (Voss, der Roman von Patrick White, Australiens erstem und bislang einzigem Träger des Literatur-Nobelpreises, beschreibt Einwanderer verschiedener Hintergründe und Klassen, die sich zu dem am Ende misslingenden Versuch zusammenschließen, die Wüstenregionen des inneren Landesteils zu erforschen, wobei die Ureinwohner angesichts der Größe der gemeinsamen Herausforderung an den Rand gedrängt werden.) Alle drei genannten Nationen begreifen demnach Zugehörigkeit in Begriffen gemeinsamer Ziele und Ideale und damit auf eine Weise, die nicht notwendig Homogenität verlangt – in Kleidung, Nahrungsgewohnheiten, religiösen Überzeugungen oder auch äußerlicher religiöser Observanz. Das bedeutet allerdings nicht, dass die Menschen das Fremde und Andere nicht fürchten oder religiöse Minderheiten nicht mit Gefahr assoziieren. Es bedeutet vielmehr, dass es ein machtvolles Gegengewicht dazu gibt. Um uns hier zunächst auf die USA zu konzentrieren, weil diese Ideen bis zu einem gewissen Maße in die Struktur der US-Religionsgesetze eingegangen sind: Es bedeutet auch, dass Institutionen als Reaktion auf furchtbestimmte Gefühle nur langsam in Fahrt kommen oder sich eine Abfuhr einfahren (wie im Falle Oklahomas), falls sie unmittelbar loslegen. Wie wir noch sehen werden, erfuhr selbst die furchteinflößende afro-kubanische Santería-Religion mit ihrem rituellen Tieropfer von Seiten des Obersten Gerichtshofes der USA eine machtvolle Verteidigung – nicht nur von dessen liberalem Flügel, sondern vom konservativen Chef höchstselbst, Richter Scalia, sowie vom gemäßigten Richter Kennedy – nachdem eine Gemeinde ein Gesetz verabschiedet hatte, das die rituelle Praxis dieser Religion betraf, während weitere, ähnliche Praktiken unerwähnt blieben. Gesetze, die stigmatisieren und verfolgen, werden sich also kaum lange in der US-Verfassung halten können. Auch Vorstellungen von nationaler Identität sind der Veränderung unterworfen. Die USA haben Zeiten voller Ängste vor Einwanderern durchgemacht, wobei

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die Idee des „Nativismus“ (Einwanderer sind keine wahren Amerikaner) die nationale Identität zumindest eines großen Teils der US-Bevölkerung definierte. Das kann jederzeit wieder passieren, und wir sollten wachsam sein gegenüber der Bedrohung durch einen neuen Nativismus. Im Gegensatz dazu ist Europa sehr wohl in der Lage, zu einer mehr inklusiven und politischen Definition nationaler Zuge­ hörigkeit überzugehen, bei der Land, Ethnizität und Religion weniger wichtig sind als gemeinsame politische Ideale. Die Europäer können also ihr Konzept der Na­ tion benutzen, um ihre gegenwärtige Haltung und Politik zu erklären, nicht aber, um sie zu rechtfertigen. Gegenwärtig kann niemand sagen, ob es wahrscheinlicher ist, dass die USA sich Europa angleichen oder ob Europa immer mehr (was bislang der Fall war) die Ideale der Vereinigten Staaten annehmen wird. Das liegt in der Hand der Bewohner. Trotz dieser historischen Differenzen sollten wir uns also weiterhin um das Aufkommen von mehr religiösen Ängsten in den Vereinigten Staaten wie in Europa Sorgen machen. Die Angst nimmt zu, und wir müssen sie verstehen lernen und darüber nachdenken, wie man ihr am besten begegnet. Angst ist ein Gefühl, über das wir mittlerweile eine ganze Menge wissen. Wenn wir über ihren positiven Einfluss und ihre potentiellen Fallstricke nachdenken, verstehen wir manche der jüngsten Vorfälle besser.

2 Angst: Ein narzisstisches Gefühl Ohne Angst wären wir schon alle tot. Der griechische Philosoph Pyrrhon, der behauptete, sich dieses Gefühl ausgetrieben zu haben, führte der Legende nach ein merkwürdiges Leben. Ohne die stete Hilfe seiner Freunde, die ihn den ganzen Tag verfolgten, wäre er von Felsvorsprüngen herabgestiegen und in Brunnen gefallen.1 Für andere Menschen war er kaum von Nutzen. Als er einst sah, wie sein Freund Anaxarchos in einen Sumpf fiel, ging er weiter, ohne ihm zu helfen – offenbar un­ fähig, die missliche Lage seines Freundes zu begreifen.2 Doch ebenso eindeutig kann Angst auch die Ursache von unzuverlässigem und unstetem Verhalten sein. Durch einen Eindringling in Schrecken versetzt, der ihre heiligen Rituale störte, spürten die Frauen von Theben (in Euripides’ Drama Die Bakchen) diesen Fremden auf und rissen ihm die Glieder einzeln aus. Danach trug die Anführerin den Kopf des Fremden im Triumph durch die Stadt – doch im Aufruhr ihrer Gefühle merkte sie nicht, dass sie den Kopf ihres eigenen Sohnes vorführte. Solche Mythen sagen uns, dass die Beseitigung der Angst eine gesellschaftliche Katastrophe bewirken würde: Uneinsichtigkeit bezüglich der wirklichen Gefahren für Leib und Leben wäre die Folge, dazu das Unvermögen, sich und anderen zu helfen. Leicht kann Angst von Politikern dazu benutzt werden, Aggressionen gegen unbeliebte Gruppen zu schüren. Angst ist fast immer im Spiel bei schlechtem Verhalten im Bereich des Religiösen. Die Geschichte kennt unzählige Fälle von angstgeleiteten, grausamen und destruktiven Handlungen gegenüber Minderheiten-­ Religionen – Juden, Katholiken, Mormonen, Zeugen Jehovas, um nur ein paar Gruppen zu nennen, die in jüngerer Zeit in den USA und Europa betroffen waren. In solchen Fällen können wir erkennen, dass, obwohl die Angst der Menschen tatsächliche Probleme betraf – nationale Sicherheit, Freiheit von Herrschaft, wirtschaftliche Sicherheit, politische Stabilität –, die Verbindung dieser Phänomene mit einer angeblichen Bedrohung durch eine religiöse Minderheit immer fiktiv war: ein Produkt von Ignoranz und Phantasie, angeheizt durch politische Rhetorik. Es war

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ja in der Tat unglaubwürdig, dass die Juden Europa durch eine Verschwörung der Banker kontrollieren wollten. Ebenso war es unglaubwürdig, dass die Anerkennung katholischer Einwanderer als gleichberechtigte Bürger zum Zusammenbruch der US-Demokratie führen würde. Es war unglaubwürdig, dass Zeugen Jehovas planten, die USA an die Nationalsozialisten zu verraten (die die Zeugen Jehovas in Deutschland längst in Konzentrationslager gesteckt hatten!). Und doch wurde all das in großem Umfang geglaubt und führte zu Diskriminierung und Gewalt, je mehr die Phantasie sich breitmachte und zu einer Realität wurde, die viele unschuldige Menschen zu einem miserablen Leben und nur allzu oft zum Tode verurteilte. Ich werde darlegen, dass wir, um unsere Ängste in den Griff zu kriegen, dreierlei benötigen: solide Grundsätze einschließlich der Achtung der Gleichheit aller Menschen; Argumente, die nicht einem selbst dienen und auf einen angeblichen Fehler bei der Minderheit abzielen, der tatsächlich aber in der Mehrheitskultur allgegenwärtig ist; eine Phantasie, die zu Neugier und Sympathie befähigt. Doch zunächst müssen wir mehr über die Angst wissen und darüber, wie sie wirkt. Fangen wir mit einem berühmten Beispiel an, zu dem wir, ausgestattet mit dem, was wir lernen, zurückkehren können: dem Mythos der jüdischen Weltverschwörung. Dieser wurde im 19. und frühen 20. Jahrhundert in Europa von vielen für wahr gehalten. Er war im Wesentlichen durch zwei Dokumente verbreitet worden: durch die Rede des Rabbiners (1872) und die Protokolle der Weisen von Zion (um 1902).3 Die Rede ist de facto ein Ausschnitt aus einem Roman von Hermann ­Goedsche mit dem Titel Biarritz. Der erste ungewöhnliche Sachverhalt besteht also ­darin, dass trotz der allgemeinen Verfügbarkeit dieses Romans große Massen von Menschen glaubten, diese Rede sei historische Realität; zudem galt sie als ­Authentizitätsbeweis der Protokolle. Biarritz schildert ein Geheimtreffen von Vertretern der 12 Stämme Israels* auf dem jüdischen Friedhof in Prag. Ein Rabbi, der zu dieser Versammlung spricht, verkündet, dass die Juden bereit seien, die Weltherrschaft zu übernehmen. Indem sie die christliche Zivilisation als Schutzschild nahmen und im Geheimen operierten, haben die Juden durch ihre Herrschaft über Finanz-Institutionen und ihren persönlichen Reichtum eine gewaltige Macht ­angehäuft. Angesichts der steigenden Schulden europäischer Nationen werden sie bald zur jüdischen Übernahme bereit sein. Die Rede belehrt die Juden, dass sie noch mehr tun müssten, um Grundeigentum zu übernehmen, dazu in vielen Berufen *

AdÜ: Im Original steht „13 Stämme“, was sich offenbar auf ein 1976 erschienenes Sachbuch ähnlichen Titels („Der dreizehnte Stamm“) von Arthur Koestler bezieht.

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hohes Ansehen erlangen und vor allem sich in juristischen Berufen sowie der Presse etablieren müssten – und am Ende könnten sie die Veränderungen bei FinanzTransaktionen erreichen, die sich zu ihren Gunsten auswirken würden. Der Rabbi weist darauf hin, dass die Leichtgläubigkeit der Öffentlichkeit ihr, der Juden, größter Vorteil sei: Sie könnten weiterhin im Geheimen und unverdächtig operieren, während sie der christlichen Kultur und christlichen Werten nach dem Mund redeten. Die Protokolle, zuerst in Russland veröffentlicht, sind eine ähnliche Verschwörungs-Fiktion: ein angeblicher Bericht eines Geheimtreffens während einer internationalen Konferenz der „Weisen von Zion“ (dieser Begriff erschien dadurch plausibel, dass der Erste Zionistische Kongress gerade um jene Zeit stattfand). Wieder mit der Grundidee, dass die Juden durch ihren Reichtum und die Kontrolle des Finanzsystems die Weltherrschaft erlangen würden, indem sie durch „Arglist und Heuchelei“ wirkten. In diesem Falle würden die Juden die Unzufriedenheit der ­Arbeiter ausnutzen, sie zu einer sozialistischen Revolution anstacheln und dadurch ein Chaos in Europa entfachen, das sie zu ihrem Vorteil nutzen könnten. Und ­wieder betont der Text die Notwendigkeit von Geheimhaltung und Heuchelei und sagt, mit welcher Leichtigkeit die Vorherrschaft wegen der Naivität und Arglosigkeit der Mehrheit erreicht werden könne. Diese Texte hatten einen gewaltigen Einfluss und werden mancherorts noch heute geglaubt. Sie zeigen uns, wie Angst wirkt. Zunächst geht Angst typischerweise von einem tatsächlichen Problem aus: Die Menschen hatten tatsächliche Gründe für Angst: wirtschaftliche Unsicherheit, Spannungen zwischen den sozialen Schichten, die Möglichkeit einer Revolution, unvorhersehbare Umwälzungen durch politische und wirtschaftliche Veränderungen, die die europäischen Gesellschaften durchzogen. Zweitens wird Angst leicht einer Sache zugeordnet, die vielleicht nur wenig mit dem zugrunde liegenden Problem zu tun hat, aber als bequemer Ersatz herhalten kann, weil diese neue Zielgruppe längst schon abgelehnt wird: Es war viel leichter, die Juden für politische und wirtschaftliche Probleme verantwortlich zu machen als nach den wahren Ursachen der Probleme zu forschen. Drittens wird Angst von der Idee eines unerkannten Feindes genährt. Die meisten guten Horror-Geschichten weisen einen raffinierten Gegenspieler auf, der sich versteckt hält, um seine wahre Natur erst dann zu zeigen, wenn es für das unschuldige Opfer zu spät ist, sich zu retten. Der Wolf gibt vor, die Großmutter zu sein, und Rotkäppchen glaubt ihm – bis er zuschlägt. Die gestörte Heldin in Fatal Attrac­ tion  – Eine verhängnisvolle Affäre ist die Doppelgängerin einer erfolgreichen,

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g­ lamourösen Geschäftsfrau – und erst, als es zu spät ist, merkt Michael Douglas, dass er von einer gemeingefährlichen Psychotikerin umgarnt wurde. Und welche heißblütige Amerikanerin hätte nur einen Moment lang Angst vor dem sanftmü­ tigen Norman Bates [in Hitchcocks Psycho]? Eine der besten Horrorgeschichten aller Zeiten, die zudem den Protokollen sehr nahe kommt, ist der Filmklassiker Invasion of the Body Snatchers [dt.: Die Dämoni­ schen, 1956; Die Körperfresser kommen, 1978; Invasion, 2007]. Dieser Film, der sich aus der Atmosphäre von der Verdächtigung und Anklage speist, die im Kalten Krieg herrschte, vor allem in der McCarthy-Ära, befördert die Angst, indem er eine vollständige Kolonie von Klonen vorführt, deren wahre Identität schon deshalb keine Neugierde erweckt, weil sie den normalen Einwohnern täuschend ähneln – bis der Schaden eingetreten ist und nur wenige mutige Menschen zur Besinnung kommen. Geschickt nutzt der Film die Tatsache aus, dass Angst auf der Vorstellung von etwas Verborgenem gedeiht, von Gefahr, die hinter der Fassade der Normalität lauert. Die Protokolle machen sich diese Neigung zunutze, die vermutlich tief in der Biologie der Angst verborgen liegt, und porträtieren die Juden als De-facto-Körperfresser, die vorgeben, gute Bürger und sogar Quasi-Christen zu sein (indem sie christlichen Werten das Wort reden, sich mit Christen vermählen und in manchen Fällen auch konvertieren) – bis die Zügel der Macht sicher in ihren Händen liegen. Logische Folge der Vorstellung des versteckten Bösen ist die Idee der höheren Einsicht: Der Mensch, der erkennt, dass Juden gefährlich und schlecht sind, wird in dieser Fiktion als derjenige dargestellt, der die Verkleidung durchschaut, bevor andere dies tun; der Mutige, der am Ende die ganze Gemeinschaft rettet; der tapfere Pfad­ finder, der die Schlange, die im Gras lauert, bemerkt und sich ihr entgegenstellt. Die Andeutung der höheren Einsicht schmeichelt den Lesern: Sie werden zu ­Wissenden gemacht, indem sie die böse Macht demaskieren, die ihr wahres Gesicht verhüllt hat. Diese Vorstellung hat in den Debatten über den Islam in Europa große symbolische Bedeutung angenommen. Der obsessive Fokus auf die Entfernung des Schleiers entspricht einer langen Tradition (in Märchen, Filmen und im richtigen Leben), einer Tradition, sich die Existenz einer geheimen Verschwörung vorzustellen, die plötzlich aus dem Versteck auftaucht und uns töten wird, wenn die Zeit dafür reif ist. Die Neigung, das plötzliche Auftauchen eines überraschenden Angreifers zu fürchten, ist in unserer Biologie begründet. Sie hat der Menschheit immer genützt. Sie kann aber auch zum Quell irrationaler und falscher Reaktionen werden. Europäische Nichtjuden, die den Protokollen glaubten, hatten reale Sorgen: wirtschaftliche Unruhen, politische Gewalt. Die Menschen begriffen zum dama­

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ligen Zeitpunkt diese Kräfte nicht, und auch aus der Rückschau kann man sie nur schwer begreifen. Wie einfach ist es also, in die Märchenfalle zu geraten und sich vorzustellen, das, was man fürchtet, könnte man leicht einer einzigen Gruppe zuschreiben, die ohnehin schon unbeliebt ist, deren Unterschiede in Religion und Kleidung sie längst als mögliche Verdächtige ausgemacht hatten; anzunehmen, dass eben das respektable und respektvolle Verhalten dieser Gruppe nur ein weiterer Beleg ist, der die Tätigkeit einer verborgenen Verschwörung bestätigt. Reißen wir aber den Schleier von dieser Gruppe, sind unsere Probleme verschwunden.

Angst: Biologische Grundlagen Angst ist ein sehr urtümliches Gefühl; Mitgefühl hingegen verlangt ein perspektivisches Denken und ist somit nur wenigen Tierarten zugänglich. Anders als etwa die Wut, die kausales Denken bezüglich dessen voraussetzt, dem man die Ursache eines Schadens zuweisen kann, braucht die Angst kein sehr entwickeltes Denken. Sie benötigt lediglich eine rudimentäre Ausrichtung auf Überleben und Wohl­ ergehen sowie die Fähigkeit, von dem angetrieben zu werden, was Überleben und Wohlergehen bedroht. Die jüngere Forschung hat die Angst mit der Amygdala in Verbindung gebracht, jenem Teil des Gehirns, den alle Wirbeltiere gemeinsam ­haben und der nicht mit höherem Erkenntnisvermögen verbunden ist. Besonders bezeichnend ist hier die Arbeit von Joseph LeDoux über emotionales Lernen und emotionales Gedächtnis.4 Durch künstlich herbeigeführte Hirnverletzungen bei Ratten hat LeDoux gezeigt, dass unterschiedliche Teile des Hirns an der Über­ tragung von Angstsignalen und der Ausbildung einer emotionalen Gewohnheit bzw. eines solchen Gedächtnisses beteiligt sind. Die Amygdala, ein mandelförmiges Organ an der Hirnbasis, spielt eine zentrale Rolle in diesem Prozess, was auch für den Thalamus und die Hörrinde gilt. Ausdrücklich vermeidet LeDoux die Behauptung, dass auch bei menschlichen Gefühlen ähnliche physiologische Prozesse beteiligt sind; das kann sein, wurde aber bislang nicht nachgewiesen. Selbst im Fall der Tiere, die LeDoux untersucht hat, betont er ausdrücklich die Komplexität und Vielfalt der Physiologie: Der „Aufbau von Erinnerungen ist eine Funktion des gesamten Netzwerks, nicht nur einer Komponente. Die Amygdala ist hierbei sicher wesentlich, doch wir dürfen die Tatsache nicht aus den Augen verlieren, dass deren Funktionen nur dank des gesamten Systems existieren, dem sie angehört.“5 Wenn das für Ratten gilt, ist es bei Menschen noch wahrscheinlicher. Letztlich behauptet L ­ eDoux

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nur, einige Phänomene des ängstlichen Verhaltens aufgedeckt, nicht aber die subjektive Erfahrung der Angst erläutert zu haben, weder bei Ratten noch bei Menschen. Er schreibt, er betrachte Angst als „einen subjektiven Bewusstseinszustand“, als Reaktion des Körpers auf Gefahr. Was er erforsche, sei daher nicht das Gefühl: „Subjektive Erfahrungen jeglicher Art sind eine Herausforderung für die Wissenschaftler.“6 Wir sehen aber, dass Angst ein Gefühl ist, das auch Ratten haben können, und zwar nicht viel anders als Menschen. Das trifft auf Gefühle wie Trauer und Mitleid nicht zu. Weitere Forschungen belegen, dass menschliche Angst auch auf tief verborgene evolutionäre Tendenzen zurückgeht: So scheinen die Menschen angstvoll auf die Gestalt einer Schlange zu reagieren, was in der evolutionären Vorzeit sinnvoll war. Zudem verändert, wie LeDoux zeigt, die gewohnte Angst den Organismus und erweist sich daher als sehr schwer umkehrbar. Sind Tiere erst einmal an einen angstmachenden Reiz gewöhnt, kann das nur durch einen sehr langen Prozess der Rekonditionierung rückgängig gemacht werden. Ähnliche Befunde sind auch bei der Reaktion der Schreckhaftigkeit festzustellen, einer angstbeladenen Überraschung. Wie Jenefer Robinson argumentiert, kann Schreckhaftigkeit, wie die Angst, mit der sie nahe verwandt ist, auch gut durch relativ primitive evolutionäre Mechanismen erklärt werden, die keine höhere Denk­ fähigkeit oder Überlegung oder gar Selbstbewusstsein erfordern.7 Angst und Schreckhaftigkeit sind nützliche Mechanismen, da sie uns verlässlich auf unsere Sicherheit und unser Wohlergehen ausrichten sowie eine starke Abwehrreaktion gegenüber Bedrohung und Gefahr gewährleisten. Aus diesem ­ Grunde haben politische Denker oft behauptet, dass Angst eine wichtige Rolle bei Gesetzen spiele: Wir haben allen Grund, zu verhindern, was wir fürchten. So hat auch John Stuart Mill, ein führender Vertreter der rationalen Gesetzes-Auffassung, in seinem Utilitarismus gesagt, dass „der Impuls der Selbstverteidigung“ eine natürliche Neigung sei, entweder ein Instinkt oder einem solchen „ähnelt“ und zu Recht dem Strafrecht zugrunde liege. Er kommt „allen Lebewesen“ zu und ist bis zu einem gewissen Punkt eine gute Anleitung dessen, was durch das Gesetz geregelt werden sollte.8 Ehe wir weiter nachforschen, können wir schon jetzt erkennen, dass Angst kein sehr guter Wegweiser ist. Was den Menschen in der evolutionären Vorzeit das Überleben sicherte, ist heute längst nicht immer nützlich. Manchmal mag es noch sinnvoll sein, schnell und abwehrend auf eine Schlange zu reagieren, doch das ist nicht sehr hilfreich, wenn keine Schlangen da sind, sondern Gegenstände von

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ä­ hnlicher Gestalt (etwa Bänder, die beim Tanzen benutzt werden). Wichtiger noch: Die natürliche Angst vor Schlangen wird oft zu einem kulturell bedingten Verdacht gegenüber Menschen ausgeweitet, die als gewunden, hinterlistig oder verstohlen gelten – Wesenszüge, die symbolisch oft mit Minderheitengruppen assoziiert ­werden. Wir reagieren auf wahrgenommene Gefahr, die nicht immer einer tatsäch­ lichen Gefahr entspricht. Wenn eine Gesellschaft komplexer wird, werden auch mögliche Divergenzen zwischen Anschein und Wirklichkeit häufiger. Dieses Problem wird durch die Tendenz des Schreckhaftigkeits-Instinkts ­verstärkt, der uns ängstlich werden lässt, wenn urplötzlich etwas auftaucht und uns unvorbereitet erwischt. Angst und Schreckhaftigkeit arbeiten, wie wir sahen, eng miteinander zusammen – in Märchen und Horrorfilmen oder in den Protokollen, mit den Phantasien verborgener Feinde, die bereit sind hervorzuspringen. Und in unerwarteten Augenblicken, in denen unsere sofortige Aufmerksamkeit gebraucht wird, unterliegen wir sehr wahrscheinlich regelrechten Täuschungen. Wir nehmen uns nicht die Zeit nachzuprüfen, was wir zu sehen glauben. Am wichtigsten ist vielleicht ein Punkt, dem sich Mill zuwendet, nachdem er eine eher beschränkte Legitimation der Angst vorgetragen hat: Um ein guter Führer für Gesetz und Politik zu sein, müsse die Angst durch „Sympathie moralisiert“ werden, also durch den Gedanken an das Wohlergehen aller innerhalb der Gesellschaft. Angst, so Mill, hat immer mit uns zu tun und zudem mit der Neigung, „uns wahllos alles ablehnen zu lassen, was jemand tut und was uns unangenehm ist“. Also ist Angst kein verlässlicher Leiter bei der Entscheidungsfindung innerhalb einer Gesellschaft, wo wir doch die Interessen aller im Auge haben müssen. Mill meint, dass Angst an sich einer umfassenden Sicht auf das Gute entgegensteht. Diese Sicht müsse vielmehr durch äußere Einflüsse gestützt werden, durch andere Gefühle und Gedanken. Man betrachte die folgende Beschreibung der Angst eines jungen Soldaten in Erich Maria Remarques Roman Im Westen nichts Neues: „Neben uns dröhnen drei Abschüsse. Der Feuerstrahl schießt schräg in den Nebel, die Geschütze brummen und rumoren. Wir frösteln … Wir fühlen, dass in unserem Blut ein Kontakt angeknipst ist … Im Augenblick, wo die ersten Granaten pfeifen, wo die Luft unter den Abschüssen zerreißt, ist plötzlich in unseren Adern, unseren Händen, unseren Augen ein geducktes Warten, ein Lauern, ein stärkeres Wachsein, eine sonderbare Geschmeidigkeit der Sinne. Der Körper ist mit einem Schlage in voller Bereitschaft … Vielleicht ist es unser innerstes und geheimstes Leben, das erzittert und sich zur Abwehr erhebt.“9

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Angst ist eine Form der erhöhten Aktivität – doch von einer auf einen selbst fokussierten, solipsistischen Art. Sie schränkt uns ein auf die Wahrnehmung des eigenen Körpers und vielleicht, im besten Fall, eines engeren Kreises von Menschen und Dingen, die dem Körper verbunden sind. Natürlich weiß Remarque, dass sie in der Tat „moralisiert“ werden kann: Eines der Hauptthemen des Romans ist die Art und Weise, wie die Kriegskameradschaft die eigennützige Angst hervorbringt. Doch, wie bei Mill, wird die Stärke des allgemeinen Mitgefühls als etwas beschrieben, das der Angst vollständig entgegensteht: als „Wärme“, die „mich mit einem Ruck aus der fürchterlichen Vereinsamung der Todesangst, der ich beinahe verfallen wäre“, reißt.10 Angst allein lässt den Geist zusammenschrumpfen.

Angst: Kultur und Rhetorik Im gesellschaftlichen Leben haben wir, wie Remarque uns sagt, viel mehr zu fürchten als nur Schlangen und Raubtiere. Tatsächlich sind heute ja die nicht-mensch­ lichen Gefahrenquellen in solchem Ausmaß unter unsere Kontrolle geraten, dass wir eher die Raubtiere vor uns Menschen schützen müssen. Menschliche Gesellschaften werden immer noch durch Naturkräfte und Krankheiten bedroht, aber auch durch menschliche Feindschaft, durch Krieg, Armut und abstrakte Gefahren (Wirtschaftskatastrophen, Gruppen-Diskriminierung, politische und religiöse ­Unfreiheit, gesellschaftliche Revolutionen). Das bedeutet, dass die Menschen in einer Welt Entscheidungen treffen müssen, auf die die Evolution sie nur sehr rudimentär vorbereitet hat. Wenn Angst ein hilfreicher Motivator in dieser Welt sein soll, dann werden die Menschen eine Konzeption für ihre eigene Sicherheit und ihr Wohlergehen ausbilden müssen wie auch für ihre Gesellschaft – das ist weit komplizierter als der enge evolutionäre Fokus auf kurzzeitige körperliche Sicherheit. Und sie werden intensiv darüber nachdenken müssen, was das Wohlergehen bedroht. Nichts davon ist instinktiv. In jeder Gesellschaft ist dieser Prozess der Ausdehnung und Ausformung der Angst den Ein­ flüssen von Kultur, Politik und Rhetorik unterworfen.11 Eine der besten Darstellungen dieses Prozesses findet sich in Aristoteles’ Rhetorik, wo dem aufstrebenden Redner Ratschläge gegeben werden, wie man ein Publikum überzeugt. Angst, so sagt Aristoteles, ist das, „was eine große Kraft zu haben scheint, ­entweder zu vernichten oder Schäden, die sich auf großen Schmerz beziehen, zuzufügen“.12 Aristoteles verbindet Angst mit dem ernsthaften Schaden, den Schmerz

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und Zerstörung mit sich bringen. Denn die Menschen fürchten ja nicht, dass sie ungerecht würden oder begriffsstutzig. (Man beachte, dass Aristoteles in einer Welt lebte, in der die Menschen meist nicht alt wurden und die senile Demenz kein ­verbreitetes Problem war.) Er hätte auch hinzufügen können, dass die Menschen deshalb Ungerechtigkeit nicht fürchten, weil sie nie bevorzustehen schien in dem Sinne, dass sie „uns bedrängt“ – weil wir der Meinung sind, wir könnten unseren moralischen Charakter beherrschen. Der Grund, warum wir heute mehr als die Menschen zu Aristoteles’ Zeiten den Verlust unserer geistigen Fähigkeiten befürchten, ist der, dass wir erkennen, wie wenig die geistige Gesundheit mit zunehmendem Alter kontrolliert werden kann. Später spricht Aristoteles das deutlich aus. Menschen haben keine Angst, wenn sie glauben, sie kontrollierten alles Wichtige und könnten daher nicht geschädigt werden.13 Angst ist also mit einem wahrgenommenen Kontrollverlust und, zumindest im Kern, mit dem Körper, unserer Wahrnehmung seines Überlebens und seiner ­Gesundheit verbunden. Aristoteles fügt noch hinzu, dass das ungute Ereignis anscheinend nahe sein muss: Alle Menschen wissen, dass sie eines Tages sterben werden, aber sie fürchten den Tod erst, wenn er unmittelbar bevorzustehen scheint. Wenn wir Angst vor anderen Menschen haben, sagt er, dann nur, weil wir der ­Meinung sind, sie hätten genügend Macht, uns zu schaden, und zudem schlechte Absichten, so dass es wahrscheinlich ist, dass sie uns schädigen. Wie Aristoteles’ Bemerkungen zum Tode offenbaren, gibt es viel Selbstverblendung im menschlichen Leben: Die Menschen phantasieren gerne, sie hätten mehr Kontrolle, als dies tatsächlich der Fall ist. In Wahrheit kann der Tod jederzeit ­eintreten (was zu Aristoteles’ Zeiten noch mehr stimmte als heute angesichts der damals kürzeren Lebenserwartung). Und doch denken wir meistens nicht daran und lassen uns von der Phantasie der Unverwundbarkeit mitreißen. Menschen oder Ereignisse, die diese Phantasie zum Platzen bringen, werden vermutlich besonders gefürchtet. (Aristoteles’ Analyse passt damit zu unseren eigenen Feststellungen über die Feinde, die aus dem Versteck hervorspringen.) Interessanterweise beruht die Angst, wo sie eindeutig evolutionären Antrieben folgt, nicht unmittelbar auf Tatsachen. Wäre das so, dann würden wir allesamt eine Riesenlast an Todesangst mit uns herumschleppen, die unser alltägliches Leben zerrütten würde. Blindheit gegenüber den Tatsachen hat sich zweifelsohne als wert­ volle Eigenschaft herausgebildet. Doch Aristoteles gibt politischen Rednern Ratschläge für die Situationen, in denen Angst nicht instinktiv vorhanden ist und man mehrere Wege hat, die Situa-

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tion zu betrachten. Im Wesentlichen sagt er ihnen, dass sie nur dann eine ängstliche Reaktion und eine dementsprechende Aktion hervorrufen können, wenn sie (a) das drohende Ereignis als außerordentlich bedeutsam für das Überleben oder körper­ liche Wohlergehen darstellen, (b) es als unmittelbar bevorstehend kennzeichnen, (c) den Menschen das Gefühl der eigenen persönlichen Verletzbarkeit und des Kontrollverlustes geben. Sollen andere Menschen mit einbezogen werden – was Rhetorik ja meist will –, sollte sich der Redner auf die Macht dieser Menschen und ihre schlechten Absichten konzentrieren. An anderer Stelle betont Aristoteles die Bedeutung der Selbstdarstellung des Redners: Er sollte sich als sehr vertrauenswürdig zeichnen. Wir alle wissen, dass dies nicht immer im Dienste der Wahrheit geschieht. Und tatsächlich redet Aristoteles ja auch nicht von der Wahrheit: Er kon­ zentriert sich darauf, wie die Situation vom Publikum phantasiert wird, und auf die Fähigkeit des Redners, diese Phantasie zu beeinflussen. Natürlich war sich Aristoteles nicht der biologischen Erkenntnisse bewusst, die wir heute haben, doch er ist ein gewissenhafter Beobachter menschlicher Gesellschaften, und sehr richtig bemerkt er, dass es eine große Spannweite gibt, wie und wann Menschen ängstlich werden, was dem Redner viele Möglichkeiten der rhetorischen Beeinflussung gibt. Doch wo immer es solche Möglichkeiten des rhetorisch Wirksamen gibt, kann sich der Irrtum einschleichen. Thukydides’ Geschichte des Peloponnesischen Krieges ­berichtet uns, wie ein demagogischer Redner namens Kleon die demokratische Versammlung in dem Sinne aufputschte, dass sie für die Todesstrafe aller Männer der aufrührerischen Kolonie in Mytilene und die Versklavung aller Frauen und Kinder votierte. Also wurde ein Schiff losgeschickt, diesen grausigen Entschluss in die Tat umzusetzen. Doch dann trat ein weiterer Redner namens Diodoros vor und überzeugte die Versammlung von der Unrichtigkeit ihres früheren Urteils. Da nahm die Versammlung das Urteil zurück und schickte ein weiteres Schiff los, welches das erste einfangen sollte. Durch schieres Glück fuhr das erste Schiff ruhiger, und das zweite konnte zu ihm aufschließen. An solch einem seidenen Faden hingen Tau­ sende von Leben. Ohne zu befinden, welche Entscheidung korrekt sei (obwohl ­Thukydides eindeutig die zweite favorisiert), können wir sicher sein, dass eine der beiden falsch war. Rhetorik wirkt auf die Leidenschaften ein, wie Aristoteles sagt, und bewirkt angemessene wie auch unangemessene Reaktionen. Wo kann sich im Falle der Angst der Irrtum einschleichen? Zunächst müssen die Menschen eine einigermaßen klare Vorstellung dessen haben, worin ihr Wohlergehen besteht. Diese Vorstellung haben sie aber nicht immer. Sicher gehören das Überleben und Gesundheit dazu, doch die Menschen irren oft in Bezug darauf, was

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diesen Zielen dient. Außerdem handeln Menschen gerne auf Grundlage schlecht durchdachter Ideen. Aristoteles meint, dass diejenigen, die in der Politik aktiv werden wollen, sorgfältig darüber nachdenken sollten, worin menschliches Wohl­ ergehen besteht, weil diese Leute oft nur oberflächliche Ideen haben, die durch ein wenig Nachdenken verändert würden. Daher behandelt er im größten Teil seiner Nikomachischen Ethik dieses Thema mit dem expliziten Ziel, die Wahlmöglichkeiten in der Politik zu verbessern. Die meisten Menschen, so sagt er, bewerten Geld, ­Vergnügen und Ehre zu hoch – doch durch Argumente könnte man ihnen zeigen, dass sie de facto diese Dinge doch nicht für so wichtig halten, wie sie behaupten. Andere Dinge wie Freundschaft, tugendhaftes Handeln und politisches Engagement werden, wenn die Menschen über ihr Wohlergehen nachdenken, oft unter­ bewertet. Doch wenn dieses Wohlergehen durch Angst bedroht werden könnte, sollte man eine genaue Vorstellung dieses Wohlergehens haben; eine Vorstellung, die den eigenen innersten Werten entspricht. Nur scheinen die meisten Menschen Sokrates’ Aufforderung, ein „selbsterforschtes Leben“ zu führen, nicht zu befolgen. Ein Mensch, der Geld überbewertet, wird zu viel Angst vor dem Verlust des Geldes haben; wer Freundschaft unterschätzt, wird zu wenig Angst vor Verletzungen h ­ aben, die anderen zustoßen könnten. Weil aber die meisten Menschen Sokrates nicht folgen, werden ihre Gefühle vermutlich unbeständig sein, zuweilen auch der Vorstellung von Wohlergehen widersprechen, die sie durch eigenes Nachdenken ­formuliert haben. Aristoteles’ Ideen sind mit Mills Beobachtung über die Begrenztheit der Angst vereinbar. Er stimmt zu, dass die meisten Menschen eine Vorstellung von Wohl­ ergehen haben, die demjenigen der anderen und der Gemeinschaft als Ganzem zu wenig Bedeutung beimisst. Wie Mill glaubt auch Aristoteles, die Menschen würden nach einigem Nachdenken zustimmen, dass sie tatsächlich einem weiter gefassten „Bündel“ von Zielen beipflichten – doch ohne eine solche Darlegung von Argumenten, wie er sie in der Nikomachischen Ethik ausbreitet, plus einer Zeitspanne, in welcher man über Ethik nachdenkt, werden die meisten Menschen weiterhin enger gefassten oder eigennützigeren Zielen zustreben. Mill ist da noch pessimistischer: Er glaubt, dass eine generelle Erziehungsreform nötig sei, damit die Menschen sich über das Wohl auch derjenigen sorgen, die gerade nicht anwesend sind. Auch wenn die Menschen einen angemessenen Begriff ihres Wohlergehens ­haben, können sie sehr wohl bei der Einschätzung irren, was dieses Befinden tatsächlich bedroht. Manche dieser Irrtümer bestehen vielleicht im falschen Verständnis von Tatsachen; andere mögen aus der Überschätzung einer Gefahr herrühren,

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die durchaus besteht, oder der Unterschätzung anderer Gefahren. Wo andere Menschen im Spiel sind, mögen wir eine falsche Ansicht ihrer Absichten und Pläne haben oder ihrer Macht, unser Wohlergehen zu beeinflussen. Und wir halten uns vielleicht für verletzlicher und hilfloser angesichts von Drohungen, als es der Wirklichkeit entspricht. Oder ganz im Gegenteil könnten wir unsere Unverletzlichkeit übertreiben und daher weniger Angst haben, als es vernünftig wäre. Wenn wir nun diese Ängste zusammen mit den Fallstricken, die unserer evolutionären Ausstattung innewohnen, betrachten, dann erkennen wir, dass wir besonders in die Irre geführt werden, wenn eine mutmaßliche Bedrohung neu ist oder aufkommt, wenn ein plötzlicher Riss im Gewebe unserer Unverletzlichkeit entsteht – oder wenn wir phantasieren, dass etwas, das gegenwärtig unverfänglich erscheint, uns sehr bald auf unerfreuliche Weise überraschen könnte.14

Angst: Heuristik und Vorurteile Über die Fallstricke aus den evolutionären Ursprüngen der Angst hinausgehend, hat die jüngere psychologische Forschung gezeigt, wie unzutreffend Angst sein oder auf unzutreffende Weise geschürt werden kann. Sicherlich haben manche dieser Tendenzen auch einen evolutionären Ursprung, obschon wir sie nur als heute weit verbreitete menschliche Neigungen studieren können. Man kann sie benutzen, um unsere aristotelische Analyse der vermutlichen Fallstricke der Angst zu ergänzen. Eine häufige Quelle des Irrtums bei der Angst ist das, was die Psychologen als Verfügbarkeitsheuristik bezeichnen: Wenn wir uns auf einfache Weise ein Beispiel für ein bestimmtes Problem vorstellen können, führt uns das dazu, die Bedeutung dieses Problems zu überschätzen. Das tritt häufig auf beim Nachdenken über Umwelt-Risiken.15 Wenn die Menschen sehr viel von einer bestimmten Gefahr hören – Vergiftung durch Umweltskandale etwa* oder erhöhtes Krebsrisiko durch den Einsatz von Pflanzenschutzmitteln auf Äpfeln –, dann werden sie zur Annahme neigen, die Gefahr sei größer, als sie tatsächlich ist, und daher die Gefahr von anderen Umweltproblemen unterschätzen, die nicht so lebhaft beschrieben wurden und daher im Hintergrund bleiben. *

AdÜ: Martha Nussbaum nennt einen beim Namen: Love Canal, was sich auf Ereignisse zwischen Eriesee und Ontariosee bezieht, als dort auf hoch kontaminiertem Boden Wohnsiedlungen gebaut wurden.

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Eine weitere Gruppe von Phänomenen, die man im Zusammenhang mit ethnischer Feindschaft erforscht hat, ist die „Kaskade“: Menschen reagieren auf das Verhalten anderer Menschen, indem sie sich ihnen anschließen. Manchmal tun sie das wegen der Reputation dieser Menschen (die „Reputations-Kaskade“), manchmal, weil sie der Meinung sind, das Verhalten von anderen gebe ihnen neue Informa­ tionen (die „Informations-Kaskade“). Der Wirtschaftswissenschaftler Timur Kuran hat das Argument vorgebracht, dass solche Kaskaden eine große Rolle im Zusammenhang mit der Ethnifizierung spielen, der (oft erstaunlich schnellen) Bewegung, mit der die Menschen sich durch Begriffe der ethnischen oder religiösen Identität definieren und sich damit in Gegensatz zu anderen ethnischen Gruppen setzen.16 Der Psychologe Sudhir Kakar, der über ethnische Gewalt in Indien forschte, hat unabhängig davon ähnliche Phänomene erkannt.17 Kakar fragt sich, warum Menschen, die jahrelang friedlich zusammengelebt haben (Hindus und Muslime zum Beispiel), plötzlich einander zum Feind werden und ihre Identität so definieren, wie sie es zuvor nicht taten, nämlich nach Begriffen der religiösen Identität. Seine Studien zeigen, dass angesehene Gemeinschaftsführer dabei eine große Rolle ­ ­spielen, deren Reputation scharenweise Anhänger anzieht. Auch die Bereitstellung neuer, tatsächlich aber oft wenig verlässlicher „Informationen“ über die von Mus­ lime bewirkte Gefahr spielt eine Rolle. Beide Darstellungen können wir ergänzen, wenn wir an die klassische Arbeit von Solomon Asch über Gruppenzwang denken. Menschen schließen sich anderen auch bei offenkundigen Irrtümern im Fall von Sinnesurteilen an; sie sind voller Scham oder Angst vor einem eigenen Standpunkt.18 Diese Tendenzen hat auch Aristoteles schon bemerkt: Er sagt zu dem Redner, er müsse sich als ein Mensch guten Charakters und Rufes präsentieren, wenn er etwas bewirken wolle. Natürlich solle er Angst erregen, indem er angebliche Informationen liefere. Diesen Quellen möglicher Vorurteile können wir die Angst hinzufügen, die die meisten Menschen vor animalischen Körpern und der Verwundbarkeit empfinden, die diese nach sich ziehen. Viele Untersuchungen zeigen, dass Menschen angesichts menschlicher Abfallprodukte und Leichen Unbehagen empfinden, was auch für Tiere oder tierische Produkte gilt (klebrig, schmierig, stinkend, schleimig). Sie phantasieren zudem, dass bestimmte Gruppen innerhalb der Gesellschaft diese ­Eigenschaften in hohem Grad aufweisen, auch wenn das nicht zutrifft – dieses Phänomen habe ich „projektive Abneigung“ genannt. Juden, Muslime, Frauen, Schwule und Lesben, Afro-Amerikaner, Mitglieder der unteren Kasten in der hinduistischen

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Kastenhierarchie – alle hat man irgendwie und irgendwann als hyper-animalisch angesehen, nahe den Abfallprodukten, vor denen die Menschen innerlich zurückschrecken. Es sind die anderen, die stinken; sie erinnern uns an Fäzes und Blut. Abneigung ist eng mit Angst verbunden. Tatsächlich ist das Zurückschrecken vor der Vergiftung auch eine Angst, zumindest dieser nahe verwandt. Die Menschen fürchten diejenigen und schrecken vor denen zurück, denen sie in ihrer Tier-Phantasie diese Eigenschaften zuschreiben. Wir können nunmehr die Tendenz zur Abneigung mit der ÜberraschungsSchreckhaftigkeits-Neigung zusammenführen. Eine Gruppe A phantasiert, dass Gruppe B schleimig, schmierig, ekelhaft, tierisch ist. Aber die Mitglieder der ­Gruppe B sehen de facto wie die der Gruppe A aus. Was könnte diese Dissonanz erklären? Die Menschen der Gruppe B müssen etwas verbergen. Deshalb ent­wickelt die Phantasie die Gedanken, dass unterhalb des unschuldigen Äußeren dieser Menschen etwas Verborgenes, Schlechtes liegt, das unvermittelt auftauchen, revoltieren und überwältigen kann. Die Modehistorikerin Anne Hollander hat scharfsinnig argumentiert, dass derartige Phantasien aufkommen, wenn Frauen ihre Beine und Hüften durch weite Röcke verbergen. Man hat sie dann als eine Art Meerjungfrau angesehen: oben herum menschlich, doch mit einem geheimen, verborgenen Bereich, der unaussprechlich schlecht war und Abneigung oder gar Tod verursachen könnte.19 (Daher meint Hollander, der Anzug sei eine wichtige Aussage darüber, dass für Frauen die gleichen Menschenrechte gelten wie für Männer.) Auch heute sind entsprechende Phantasien nicht unbekannt, wenn man an männliche Homosexualität denkt. Diese Männer sehen aus wie wir, doch wenn sie sich ausziehen, vermischen sie Fäzes mit Blut auf eine Weise, die unaussprechlich schlecht und zutiefst bedrohlich für uns ist. Pamphlete gegen gleichgeschlechtliche Akte appellieren an sehr primitive Ängste vor Kontaminierung durch tierische ­Produkte – und schwule Sexualpraktiken haben angeblich eine einzigartige Affinität dazu. Schwule überziehen uns alle irgendwie damit (indem sie uns begehren oder auch nur anschauen, indem sie Ausländer mit ihren fremden Keimen an die Küsten der USA bringen).20 Der Kulturhistoriker Sander Gilman zeigt, dass ähnliche Vorstellungen über ­Juden sehr verbreitet waren. Juden wurden generell als dem Tier näher stehend ­angesehen als die Arier.21 Ihre Nasen wurden als Zeichen von Hyper-Animalität erkannt (wegen einer phantasierten Verbindung zwischen Nase und Penis). Doch die Unähnlichkeit wurde als noch größer imaginiert, wenn sie sich entkleideten: Unter ihrer Kleidung war etwas Ekelhaftes und Schlechtes. Es kam die Vorstellung auf, dass

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die Körper der Juden tatsächlich anders waren als andere Körper – etwa mit Klauenfüßen wie die von Schweinen und männlichen Menstruationsperioden.22 Bis zu ­einem gewissen Grade vollzog diese Phantasie die Angst aufgrund einer tatsäch­lichen Gegebenheit nach – der männlichen Beschneidung. In diesem Sinne stimmte es wirklich, dass Juden unter ihrer Kleidung anders waren, und dieser Unterschied – ein Quell der Angst für nicht-jüdische Männer – nährte die Phantasie über einen Körper, der in jeder Hinsicht grotesk und abstoßend war.23 Wie die jüdischen Pläne der Übernahme Europas mochte auch der jüdische Körper sich maskieren, und gerade dieses Ver­ stecken war mächtiger Treibstoff für die Phantasie einer drohenden Gefahr. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Menschen, die anders sind, oft für archetypische Phantasien Anlass geben. Bedecken sie ihre Körper, wird die Phantasie womöglich noch mehr Macht aus der Vorstellung von Tarnung und drohender Enthüllung beziehen. Vieles kommt zusammen, wenn die muslimische Burka gefürchtet wird, und wir sollten zumindest die Neigung des menschlichen Geistes bedenken, sich unaussprechliche Schrecken und Verderben unter den verschiedensten Arten von verhüllender Kleidung auszudenken. Doch kehren wir zu den Protokollen der Weisen von Zion zurück und fragen uns, wie unsere Analyse der Deformationen durch Angst uns zu erkennen hilft, was die Protokolle so fesselnd machte und was vernünftige Menschen diese leicht zu demaskierende Fiktion glauben ließ. Sämtliche von Aristoteles beim Namen genannten Quellen des Irrtums sind in höchstem Maße erkennbar: Der Autor präsentiert eine Gruppe von Menschen, die de facto sehr schwach sind und unter enormen gesellschaftlichen Nachteilen leiden, aber bereit zur Übernahme sind. Er stellt den Rest der Menschen in Europa dar – die tatsächlich jahrhundertelang die Juden unterdrückten und ihnen gleiche Rechte verwehrten –, als wären sie in ihrer Naivität und Leichtgläubigkeit hilflos. Durch einige Anspielungen auf Tatsachen – jüdische ­Erfolge im Bankwesen, die offensichtliche Intelligenz der Juden und ihre Errungenschaften auf vielen gesellschaftlichen Gebieten – machte er sein Szenario plausibel. In diesem Sinne ist die Verfügbarkeitsheuristik ein Teil seiner Strategie: Man denke nur an die Rothschilds und wird leicht glauben, dass alle Juden reiche, mächtige Bankiers sind. Man denke an berühmte jüdische Intellektuelle und wird leicht glauben, dass alle Juden übernatürliche Klugheit und Scharfsinn besitzen. Die Verfügbarkeitsheuristik garantiert gewissermaßen eine fiktive Zuschreibung von Macht und Einfluss an diese Gruppe. Ein jedes Mitglied einer unterdrückten Minderheit, das es schafft, sich der Mehrheit bekannt zu machen, wird wahrscheinlich zu den mächtigsten und erfolgreichsten seiner Mitglieder gehören.

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Der Begriff des Wohlergehens, mit dem der Autor arbeitet, zielt sehr direkt auf die Sicherheit und das Überleben der christlichen Europäer. Juden werden als Bedrohung der dominanten Gruppe dargestellt. Indem er die Debatte über einen Gegenstand solcher Dringlichkeit aufnimmt, kommt der Autor jeglicher seriöser Diskussion der sozialen Ungerechtigkeit gegenüber den Juden oder dem richtigen Weg, sich politisch mit religiöser Differenz auseinanderzusetzen, zuvor. Abneigung ist dabei nicht direkt sichtbar. Im Text geht es um die Vorstellung des Verborgen-Seins und eine beängstigende Unterseite der „normalen“ Ober­fläche. Juden sind überall um uns und maskieren sich als nette, normale Menschen. Doch der Tag wird kommen, da sie aus ihrem Versteck hervorspringen und uns alle töten werden. Schließlich haben „Kaskaden“ einen Großteil der Verbreitung dieses Textes bestimmt. Menschen von gutem Ruf hielten diesen Text für wahr, andere schlossen sich an, und ein regelrechter Massenansturm brach los, der zugleich auf der Illusion basierte, neue und sehr sachdienliche Informationen zu erhalten. Eine Kaskade genau dieser Art ereignete sich, als der französische Jude Alfred Dreyfus für schuldig befunden wurde, der deutschen Regierung militärische Geheimnisse verkauft zu haben. In einer gewaltigen Reputations-Kaskade nahmen die Menschen diese Schuld ohne jegliche Beweise an – und dann schwappte die Kaskade in die gegenteilige Richtung als Reaktion auf Émile Zolas Anklage und die allmähliche Präsentation von Beweisen. Die Menschen nahmen nun Dreyfus’ Unschuld an. In Marcel Prousts großem Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit werden diese Kaskaden und ihre Irrationalität sehr schön geschildert. Wenden wir uns nun einigen Beispielen aus der Gegenwart zu. Im Sinne von Orientierungspunkten betrachte ich zwei Fälle wohlbegründeter Appelle an die Angst. Diese Fälle zeigen uns, dass solche Appelle oft rational und bedacht sind. Und wir können uns fragen, warum das unter diesen Umständen das richtige Urteil zu sein scheint. Danach werde ich zwei Fälle religionsbasierter Angst untersuchen, in denen der Appell an die Angst schlecht begründet und unverantwortlich ist. Wir werden sehen, wie die Erkenntnisse der Neurowissenschaft, der philosophischen Rhetorik und der kognitiven Psychologie eingesetzt werden können, um diese Fälle und die Unterschiede zwischen ihnen zu erhellen. Dabei wollen wir herausfinden, in welchem Umfang die Angst den Tatsachen und tatsächlichen Problemen angemessen ist, wie sehr sie die Menschen dazu bringt, angemessene Fluchtmaßnahmen zu ergreifen, die sie von den realen Gefahren wegführen; oder im Gegenteil, welche Verzerrungen aus der Heuristik sich in die Reaktionen der Menschen einge­

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schlichen haben, die der tatsächlichen Situation nicht angemessen sind; sowie ­solche aus politisch manipulierten und ansonsten zweifelhaften Konstruktionen.

Rationale Angst: Hurrikan Irene, Flughafen-Sicherheitskontrollen Gegen Ende August 2011 traf ein mächtiger Hurrikan namens Irene auf die Ostküste der Vereinigten Staaten. Die Meteorologen informierten Behörden und Öffentlichkeit über dessen wahrscheinlichen Weg und seine Stärke. Diese Informa­ tionen lieferten sogar den Grund, einen großen Streik im Gebiet von New York vorzuziehen. Bürgermeister Michael Bloomberg wandte sich in dieser Zeit an die Öffentlichkeit und mahnte zur Vorsicht. Wiederholt sagte er den Menschen, sie sollten nicht still bleiben und den Sturm als ernsthafte Bedrohung sehen – kurz: Sie sollten um ihre Sicherheit fürchten. Am Ende ordnete er die Zwangsevakuierung einiger tiefer liegender Gebiete an und empfahl nachdrücklich, weitere Gebiete zu verlassen. Obwohl er die Übertreibungen der Zeitungen vermied („Gemeine Irene“, „Monsterhurrikan kreist New York City ein“, „Monster! Wütende Irene braust ­direkt auf die USA und die Stadt vor“), hat er dennoch Furcht erregt: Geht nicht schwimmen, es ist zu gefährlich. Meldet euch bei euren Verwandten an. Verbringt die Nacht woanders. Geht weg von hier. Unterschätzt die Gefahr nicht. Auch wenn der Sturm, als er endlich eintraf, sich als schwächer denn erwartet erwies und relativ wenig Schaden anrichtete, waren die Menschen überwiegend mit den Vorsichtsmaßnahem ihres Bürgermeisters zufrieden. Dies ist also ein Fall, wo ein Politiker Angst verbreitet und auch die Neigung zur Schreckhaftigkeit ausnützt, indem er die Gefahr als groß darstellt, als unmittelbar und drohend – und irgendwie scheint das ja auch richtig zu sein. Was ist daran richtig? Als Erstes und Wichtigstes beruhte der Appell an die Angst auf den neuesten wissenschaftlichen Beweisen. Zweitens wurde die Gefahr genau und ­ ­unverzerrt beschrieben – als großer Hurrikan, nicht als göttliche Strafe für gleichgeschlechtliche Ehen oder andere groteske Dinge, die damals geäußert wurden. Drittens beruhte die Warnung auf einem Begriff des Wohlergehens, den niemand in Abrede stellen konnte: Leben und Sicherheit, das eigene und das der Nächsten, sollten vor bloßer Gewohnheit und Bequemlichkeit rangieren. Viertens sprach Bloomberg ein tatsächliches Problem an: Menschen sind Gewohnheitswesen und lassen nur schwer von gewohnter Routine ab, vor allem, wenn die Sonne scheint. Auch die Verfügbarkeitsheuristik spielt hier ihre verzerrende Rolle: Die meisten

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New Yorker hatten noch keinen Hurrikan erlebt, weshalb sie leicht glauben konnten, das kommende Ereignis würde nicht schlimmer werden als ein durchschnitt­ licher Sturm und alle Berichte sich als falscher Alarm herausstellen – bis der Sturm da und es zu spät ist, um zu fliehen. So hat Bloomberg im Effekt die Entstellungen der Verfügbarkeitsheuristik ausgeschaltet, indem er die Gefahr verfügbar und greifbar machte. Und schließlich war diese Angst ja auch nicht darauf abgerichtet, eine bestimmte Gruppe von Menschen zu dämonisieren oder zu stigmatisieren und sie benutzte auch keinerlei Vergiftungs-Phantasien. Bloomberg hat versucht, eine ­Informationskaskade in Bezug auf gesundes und verantwortliches Verhalten loszutreten – und hatte Erfolg damit, wenn auch nicht ohne die Zwangsevakuierung. Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Menschen ohne die dringenden Appelle ihres Bürgermeisters an die Angst sich in Wohlbehagen gehüllt hätten, weshalb diese Appelle dem guten Resultat am Ende förderlich waren. Bleiben wir noch ein wenig in den USA: Die 9/11-Terroranschläge und andere terroristische Ereignisse, die man mit islamischen Extremistengruppen verbindet, haben eine bestimmte Art der Fahndung bewirkt, durch die Menschen auf Flug­ häfen mit Hilfe von Ganzkörper-Durchsuchungen ausgeforscht werden. Sie haben zu Flugverbotslisten geführt, die vermutliche Terroristen ausschließen. Im Großen und Ganzen sind solche Maßnahmen, sofern sie überlegt eingesetzt werden, auch vernünftig. Sie reagieren auf ein tatsächliches Problem, und selbst wenn die Anzahl der terroristischen Vorfälle gering ist, macht deren katastrophische Natur die Vorsicht zu einer Maßnahme der Vernunft, wenn als einziger Nachteil längere Warteschlangen und einige Unbequemlichkeiten entstehen. Mit anderen Worten ist die Idee des Wohlergehens in diesem Falle eine, die niemand infrage stellen konnte. Die neuen Körperscanner reduzieren die Notwendigkeit des Abtastens einiger­ maßen, haben zudem mehr Gleichheit bei der Behandlung der Passagiere bewirkt. Doch immer noch ist eine gewisse Durchsuchung wohl vernünftig und als solche auch nicht o­ ffensiv, sofern sie respektvoll durchgeführt und von klarer Information und tatsächlichen Beweisen gestützt wird. Menschen aufgrund ihrer Religion oder ethnischen Zugehörigkeit auszusondern ist immer problematisch, weil hier das Risiko besteht, eine Gruppe zu stigmatisieren und Spannungen zu verschärfen. Daher sollten Geheimdienste besser ­detailgenau statt grob arbeiten. Beispielsweise sollten Sicherheitsmitarbeiter nicht jeden mit Namen Ali aufhalten, nur weil der Name Ali auf der Flugverbots-Liste steht, und nicht alle Muslime sollten als Muslime kontrolliert werden. Diese Politik ist so ineffizient wie stigmatisierend. Irrtümer und Verletzungen allerlei Art sind

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mittlerweile Legion. Dieses Vorgehen ist ineffizient, weil es auf ungenauer Information beruht und zudem Mitglieder der Gemeinschaft aussondert, die für Geheimdienste von höchstem Wert sein könnten. Auch ist es zutiefst verletzend, ausschließlich Muslime als potentielle Terroristen anzusehen und dabei die Existenz anderer terroristischer Gruppen zu ignorieren (Neonazis, Öko-Terroristen und dergleichen). Ein System, das so vorgeht, sucht weniger das menschliche Wohlergehen und handelt vielmehr nach groben Klischees. Am Ende ist es vermutlich am besten, alle zu durchsuchen, wie dies heute mit den Körperscannern geschieht. Flughäfen in Indien bewerkstelligen sogar das vollständige Abtasten jedes einzelnen Passagiers; respektvoll und hinter einem Vorhang, ohne dass das Reisen ungebührlich aufgehalten wird. Für Sicherheitsbeamte ist es aber immer sinnvoll, sich aussagekräftige Informationen zu beschaffen und dann auf Grundlage einer gewissen Verallgemeinerung nach diesen Informationen zu handeln. Auf diese Weise wird die Öffentlichkeit gar nicht erst daran gewöhnt, alle Muslime als terrorverdächtig anzusehen, und nicht von der Tatsache der 9/11-Anschläge zu dem falschen Schluss verleitet, dass ein großer Teil der Muslime aus Kriminellen besteht. Doch angesichts der Existenz gewalttätiger islamischer Extremistengruppen, die in der Tat viele Nationen bedrohen, ist es klug, wenn die Strafverfolgungsbehörden diese verfolgt und darauf reagiert – am besten auf wenig offensive und stigmatisierende Weise.

Minarette in der Schweiz, Mord in Norwegen In den ersten beiden genannten Fällen war die Angst wohlbegründet, und eine Reaktion auf diese Angst ist, sofern sorgfältig entwickelt, sehr vernünftig. Kommen wir nun aber zu einem problematischeren Terrain, wo Rhetorik eine Angst bewirkt, die durch keinerlei Beweise oder Argumente gestützt wird und sich eines fragwürdigen Begriffs des Wohlergehens bedient. Die meisten Moscheen haben kein Minarett (Gebetsturm). Minarette sind nur für größere und zumeist städtische Moscheen kennzeichnend. In der Schweiz gibt es gegenwärtig nur vier Minarette: in Zürich, Genf, Winterthur und Wangen bei Olten. Ungefähr 150 Moscheen oder Gebetsräume, eine Muslimbevölkerung von 400 000 bei ca. 8 Millionen Einwohnern insgesamt gibt es in der Schweiz. Dieses Land ist eine wohlhabende Nation mit einem eindrucksvollen Bruttoinlandsprodukt, hohen Leistungen auf dem Gesundheitssektor und mittelhohen

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auf dem Feld der Ausbildung. Die Schweiz rangiert auf Platz 13 im 2010 Human ­Development Report, bei einer Lebenserwartung von 82,2 Jahren, einer der höchsten der Welt, und einer Mindest-Ausbildungsdauer von 10,3 Jahren. Doch sie hat ­Probleme, die auch die meisten europäischen Nationen besitzen. Sie hat eine sehr ­geringe Fruchtbarkeitsrate von ungefähr 1,46 bei einer alternden Bevölkerung. ­Unvermeidlich hängt sie also von Einwanderung ab, um die wirtschaftliche Produktivität aufrechtzuerhalten. Obwohl die wirtschaftliche Ungleichheit gegenwärtig gering ist, gibt es begründete Zukunftsängste, sofern die Produktivität nicht Schritt halten sollte und neue Immigranten das für anspruchsvolle Berufe notwenige Ausbildungsniveau, was die Entwicklung weiter voranbrächte, nicht erreichen. Sorgen um Immigranten und ihre Assimilation sind bis zu einem ­gewissen Punkt rational begründet. Außerdem ist die Schweiz stolz auf ihre Neutralität und ihre Geschichte der Bündnisfreiheit. Traditionell neutral und nicht Mitglied der EU, verfolgt sie in vielfacher Hinsicht ihre eigenen Wege einschließlich der Tatsache, als letzte Nation Europas das Stimmrecht für Frauen eingeführt zu haben – 1971! Der Stolz der Schweiz auf eine unverwechselbare Identität wird also vermutlich mehr als gewöhnlich durch die Notwendigkeit beeinträchtigt, in relativ kurzer Zeit viele ­Außenseiter zu integrieren. Verträgt sich eine derartige Integration mit der tradi­tionellen Eigenart der Schweiz? Bis zu einem gewissen Grad ist das eine rational begründete Sorge, doch auch eine, die sehr schnell übergroße symbolische Bedeutung erlangen und sich zur hässlichen Fremdenfeindlichkeit ausweiten kann. Das Wangener Minarett, im Juli 2009 errichtet, war Ausgangspunkt einer gegenwärtig noch anhaltenden Kontroverse. Als ein örtliches türkisch-islamisches Gemeindezentrum die Genehmigung für die Errichtung eines sechs Meter hohen Minaretts auf dem bereits existierenden Gemeindezentrum einholen wollte, protestierten Anwohner und fochten das Gesuch vor einer örtlichen Baubehörde an. Anfangs erfolgreich, verloren sie in der Berufungsinstanz. Dieses Missgeschick ließ rechte Politiker der Schweizer Volkspartei SVP und der Eidgenössisch-Demokratischen Union EDU eine breite Kampagne gegen den Bau von Minaretten starten. Die Gruppe, die sich selbst das Egerkinger Komitee nennt, besteht darauf, dass ­Minarette religiös nicht notwendig seien, was natürlich richtig ist – sie werden genauso wenig gebraucht wie ein Turm auf einer christlichen Kirche. Die Gruppe ­ergänzt allerdings, dass das Minarett schlicht ein Symbol der islamischen Macht­ ergreifung sei. Was natürlich nicht stimmt. Das Minarett hat religiöse Bedeu­tung – von hier geht der Gebetsruf aus. Es ist ein optionales religiöses Symbol, wie auch

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der ­Kirchturm. Die Egerkinger Gruppe begann eine Kampagne, um den Bau neuer Minarette in der Schweiz zu verbieten, und setzte schließlich darüber ein Referendum in Gang, das die Verfassung um einen Satz erweitern sollte: „Die Errichtung von Minaretten wird verboten.“ Diese Maßnahme wurde im November 2009 mit 70 % angenommen. Vorherige Befragungen hatten eine deutliche Niederlage vorausgesagt – Beweis dafür, dass die Menschen sich über ihre Absichten nicht im Klaren waren oder zu einem späten Zeitpunkt von Emotionen bewegt wurden. Die Verbots-Kampagne umfasste mehrere unterschiedliche Themen. Zuerst war da die Furcht vor der Zerstörung traditioneller schweizerischer Werte und der Identität. „Ehe man es merkt“, bemerkte ein Wähler, „sind wir keine Schweizer mehr.“ Das zweite Thema war die Sicherheitsbedrohung. Ein Internet-Videospiel namens Minarett Attack zeigte Minarette, die sich überall in einer idyllischen schweizerischen Landschaft erheben und wie Raketen aussehen. Am Ende des Spiels erscheint eine Botschaft: „Spiel vorbei! Die Schweiz ist voller Minarette! Stimmt für das Verbot am 29. November.“ Ein drittes Thema waren die Rechte der Frauen. Führende Feministinnen schlossen sich dem Verbotsaufruf an und sagten, das Minarett sei der erste Schritt in Richtung Männerherrschaft. „Wenn wir i­hnen ein Minarett geben, lassen sie uns alle Burkas tragen“, meinte eine Wählerin. „Ehe man es merkt, haben wir die Scharia als Gesetz, und Frauen werden auf un­seren Straßen zu Tode gesteinigt.“ Und dies trotz der Tatsache, dass fast 90 % der Muslime in der Schweiz aus der Türkei und dem Kosovo stammen und keine konserva­ tiven islamischen Bekleidungs-Normen befolgen. Dem Verbot wurde vom Parlament, dem Bundesrat, den katholischen Bischöfen, der Föderation Jüdischer Gemeinden und vielen anderen prominenten Gruppen der Zivilgesellschaft widersprochen. Alle argumentierten, dieses Verbot sei ­unvereinbar mit den Normen religiöser Freiheit und des gegenseitigen Respekts. Jüdische Gruppen erinnerten die Öffentlichkeit sogar daran, dass Juden jahrhundertelang keine Synagogen oder Kuppeldächer bauen durften. Kampagnen-Plakate spielten eine wichtige Rolle bei der Ausbildung der öffentlichen Meinung. Eines der Plakate zeigte eine Schweizer Fahne, bespickt mit schwarzen Minaretten, die wie Raketen aussahen. Im Vordergrund stand eine Frau mit einer Burka. Der Text besagte in großen Lettern: „Stop. Ja zum Minarett-­ Verbot.“ Nachdem einige Gemeinden das Anbringen dieses Plakats an öffentlichen Orten verboten hatten, kommentierte ein nächstes Plakat diese Weigerung. Über einer Schweizer Fahne stand nun das Wort: „Verweis: Zensur.“ Darunter: „Noch ein Grund, Ja zu sagen zum Minarett-Verbot.“

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Geschickt machte sich die Kampagne biologische Tendenzen und psychologische Heuristik zunutze. Die Vorstellung eines verborgenen Feindes und das plötz­ liche Auftauchen von tödlicher Gefahr werden im Videospiel und auf dem ersten Plakat befördert. Die Gestalt der verschleierten Frau, die vor den Raketen steht, ist ein raffinierter Appell an die Angst vor der Gefahr aus dem Versteck. Auch die Verfügbarkeitsheuristik ist hier präsent in dem Sinne, dass die Plakate das Bild eines extrem bedrohlichen Islam herausstellen – vollständig bedeckte Frauen, eine Landschaft, die von feindlichen Strukturen übernommen worden ist. Dabei wird die Vielfalt des aktuell in der Schweiz präsenten Islam kaum genau betrachtet. Das zweite Plakat konstruiert mit dem „Noch ein Grund, Ja zu sagen“ eine ReputationsKaskade; anders ausgedrückt: „Eure Nachbarn und Freunde, die diese Gründe erkannt haben, sind euch schon voraus, und wenn ihr zögert, ist jetzt die Zeit, sich ihnen anzuschließen.“ Appelle an Abscheu lauern gleichfalls unter der Oberfläche. Die Schweizer sind stolz auf die saubere, klare Schönheit ihres Landes, und die Plakate zeigen, wie sich hässliche schwarze Objekte dort ausbreiten. Betrachtet man die Plakate auf eine bestimmte Weise, sehen die Objekte aus wie Waffen, doch man kann sie auch als Insekten identifizieren, die das Weiße der Fahne beschmutzen, auf der sie herumtrampeln. Vor allem aber ist die Kampagne aristotelisch. Menschen, die sich selbst als zuverlässige Charaktere einschätzen (besorgte Bürger), konstruieren das Bild einer schweizerischen Identität, wozu die Fahne und die Anspielung auf liebgewordene Werte gehören (Sicherheit, Freiheit, Gleichberechtigung der Frauen), bauen danach einen Feind auf, der eine hässliche und nachdrückliche Bedrohung dessen darstellt, was den Menschen wichtig ist. Gleichzeitig konstruiert die Rhetorik der Kampagne ein „Wir“, das Immigranten ausschließt, gleichgültig, wie lange sie schon im Land leben oder wie viel sie zur Volkswirtschaft beitragen. Alle politischen Kampagnen benutzen Symbolik, um Gefühle zu erregen. Und die Schweizer haben in der Tat manche realen Ängste vor der Zukunft des Landes in einem Zeitalter der zurückgehenden Fruchtbarkeitsrate und wirtschaftlicher Fragilität. Warum also weckt diese Kampagne besondere Besorgnisse wegen einer Angst, die aus dem Ruder läuft? Das erste Problem besteht darin, dass die Kampagne Tatsachen offenkundig verdreht und die Menschen glauben machen will, alle Schweizer Muslime hätten so etwas wie eine militärische Übernahme im Sinn, ­wobei die Frauen brutal unterworfen würden und die Schweiz zum Kriegsgebiet mutierte. Es gibt aber keine Bedrohung durch den Bau unzähliger Minarette in der

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Schweiz. Das Minarett ist eine Rarität und wäre es auch geblieben. Die symbolische Be­deutung des Minaretts (der Grund, den diese Kampagne auf etwas fokussierte, das tatsächlich gar nicht existiert) ist die, dass der Umriss eines Minaretts auch eine Rakete bedeuten kann, was die Vorstellung verstärkt, die Muslime bildeten eine Sicherheitsbedrohung. Doch die Minarett-gleich-Rakete-Metapher ist an sich schon eine grobe Verzerrung der Wirklichkeit. Und der feministische Aspekt ist einigermaßen absurd angesichts der langen Geschichte der Schweiz, den Frauen das Stimmrecht zu verweigern (ein Recht, das die türkischen Frauen schon 1930 errangen, 41 Jahre vor den Schweizerinnen), angesichts auch des großen Unterschieds zwischen schweizerischen Männern und Frauen hinsichtlich Sekundar- und Hochschul-Ausbildung und Teilhabe am Arbeitsmarkt.24 Tatsächlich wichtige Themen werden unter den Teppich gekehrt; symbolische Themen ohne tatsächliche Verbindung zur Realität nehmen deren Platz ein. Anstatt sich in einer schwierigen, aber letztlich konstruktiven Debatte zu engagieren, wie gesellschaftliche Bindung und Kontinuität in einer Zeit der Immigration voranzutreiben wären, wie man den Frauen mehr Mitwirkungsmöglichkeiten verschafft, werden die Menschen dazu aufgefordert, sich bewusst zu werden, welche Fortschritte sie machen in einer vollständig imaginären Kampagne gegen eine Bedrohung, die gar nicht existiert. Außerdem verhindert diese „Umleitung“ der Aufmerksamkeit die Debatte über wirklich wichtige Themen. Es ist viel schwerer, in einer Zeit notwendiger Immigration gesellschaftlichen Zusammenhalt zu erreichen, wenn man Immigranten dämonisiert und sie als Eindringlinge darstellt anstatt als Menschen, die man selber ­eingeladen hat, damit sie die Arbeit tun, die getan werden muss. Viele diese Einwanderer sind mittlerweile Mitbürger geworden. Und es ist viel schwerer, für Fortschritte bei der Beteiligung von Frauen in Ausbildung und Wirtschaft zu kämpfen, wenn die Menschen glauben, alles in der Schweiz sei wunderbar außer einer quasiexternen Drohung der islamischen Machtübernahme. Die Minarett-Kampagne in der Schweiz war zumindest gewaltfrei und hatte auch keine entsprechenden Konsequenzen. Wenden wir uns aber nun einer Tragödie zu, die in der anscheinend harmonischen Nation Norwegen durch religiösen Hass ausgelöst wurde: die Morde von Anders Behring Breivik. Anders Behring Breivik ist kein Jared Lee Loughner [der im Januar 2011 in der Nähe von Tucson/ Arizona 6 Menschen erschoss und 13 schwer verletzte, darunter die demokratische Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords]. Breivik schreibt sehr klar und deutlich ideologisch durchdrungen, trotz des Vorliegens geistiger Unzulänglichkeit, von der das norwegische G ­ ericht überzeugt war. Eher wie Gandhis Mörder Nathuram

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Godse ist er ein ­Extremist mit einer paranoiden Sicht auf die Welt, und er ist in der Lage, eine ­vergleichbare Begründung für seine Taten zu geben. So wie Godse seinen Prozess benutzte, um für seine rechten Hindu-Ansichten die Öffentlichkeit zu gewinnen, hat auch Breivik das Verbrechen benutzt, um Aufmerksamkeit für seine Beweggründe zu bekommen, die er der Welt mitteilen wollte. Wer über Angst forscht, wird in Breiviks Manifest viel interessanten Stoff ­finden, der wegen der Beschreibung eines naiven Europa den Vergleich mit den Protokollen nahelegt: Europa ist ahnungslos, während die Belagerung durch einen verborgenen Feind droht. Sogar die rhetorische Struktur der Protokolle findet ihre direkte Entsprechung: durch eine Anzahl von einschlägigen Dokumenten – einschließlich Pamela Gellers einflussreichem Blog Atlas Shrugs, der Schriften von ­Robert Spencer und vor allem der Behauptungen einer Gruppe namens Citizens for National Security, die wir kurz untersuchen wollen. Als sich die Angriffe in Norwegen ereigneten, verbanden Medien aus aller Welt diese sehr schnell mit islamischem Terrorismus. Die britische Sun schrieb: „Al-­ Qaida-Massaker: Norwegens 9/11“.25 Kommentatoren spekulierten darüber, ob die Attentate eine Vergeltung für Norwegens Truppenkontingent bei den Kriegen in Afghanistan und im Irak seien. Noch Stunden, nachdem bekannt wurde, dass ein blonder Weißer, sprachlich und ethnisch ein Norweger, festgenommen wurde, sprachen CNN und Fox von einem „Jihad“. In den USA veröffentliche das Wall Street Journal einen ähnlichen Leitartikel wie die Sun. Nachdem die Tatsachen allmählich durchsickerten, wurden Bemerkungen wie „gute Verkleidung“ oder „Bekehrung“ ausgetauscht.26 Heiner Bielefeldt, UN-Sonderbeauftragter für Glaubens- und Religionsfreiheit, verurteilte die Berichterstattung: „Die Art, wie manche öffentliche Kommentatoren den schrecklichen Massenmord in Norwegen sofort mit islamischem Terrorismus assoziierten, ist bezeichnend und in der Tat ein beschämendes Beispiel für die machtvolle Wirkung von Vorurteilen und ihre Fähigkeit, Stereo­ typen zu verankern.“ Die amerikanische Medien-Beobachtungsgruppe Fairness and Accuracy in Reporting sah ebenfalls Anzeichen eines allgemeinen Problems: „USMedien ­generell, wenn auch mit vielen Ausnahmen, befördern die Ansicht, dass Terrorismus dem Islam gleichkommt.“ Der Direktor des Harvard University Out­ reach Center am Center for Middle Eastern Studies verurteilte die Berichterstattung ebenfalls und s­ agte, sie würde ein subtiles und genaues Verstehen der verschiedenen Quellen des Terrorismus verhindern.27 Die genannten Medien-Trends sind in erster Linie Beispiele einer Verfügbarkeitsheuristik, die uns in die Irre führt: Seit der Katastrophe von 9/11 sehen die

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Amerikaner diesen Tag als Musterbeispiel für schlimme Ereignisse in aller Welt und haben eine ausgeprägte Neigung entwickelt, andere Ereignisse im Lichte dieses einen zu betrachten. Plötzliche Gewalt ist Terrorismus, und Terrorismus ist ­Al-Qaida. Natürlich ist hier auch die Reputations-Kaskade am Werk, insofern ­angesehene Medien eine Sichtweise verbreiten, die dann von vielen Menschen aufgenommen wird, deren Ansicht ihrerseits einen Widerhall auslöst und neue Me­ dienberichte weiterer Ereignisse nach sich zieht. Relevant ist hier vor allem eine im März 2011 vom Abgeordneten Peter King, dem Vorsitzenden des House Homeland Security Committee, gestartete Kongress­ anfrage zum radikalen Islam. Diese Anhörungen stellen einen Schritt in Richtung der Reputations-Kaskade dar, da sie einerseits Ängsten entsprechen, die in den ­Medien ausgesprochen wurden, andererseits durch die Anhörungen, die das Ansehen des Kongresses mit diesen Ängsten verbinden, weitere Ängste befördern. Natürlich ist es nicht unvernünftig, die Bedrohungen durch den Terrorismus zu untersuchen, und der radikale Islam ist ein Quell solcher Bedrohungen. Doch es wäre sowohl wirkungsvoller als auch zweckdienlicher im Sinne einer ausgewogenen, vernünftigen Debatte, die Bedrohung gemeinsam mit anderen Bedrohungen zu untersuchen – zum Beispiel derjenigen durch unklar christlich ausgerichtete Teile der Bürgerwehr-Bewegung, welche die Bomben von Oklahoma hat aufkommen lassen. Eine solche Untersuchung hätte sogar der Öffentlichkeit einen Dienst erwiesen durch die Erforschung der paranoiden Welt eines Blogs über eine muslimische Machtübernahme, von wo Breivik ja herkam. Wer weiß: Vielleicht hätte eine solche Untersuchung auch Breivik auf seinem Weg gestoppt, weil diese Untersuchung ­gezeigt hätte, dass selbst sehr radikale rechte Gruppen im Internet ihm die Gefolgschaft verweigerten, weil sie seine Ideen zur Gewalt beängstigend fanden. Beispielsweise hat die English Defense League, eine nationalistische Gruppe mit Neonazi-­ Tendenzen, der Breivik ausdrücklich seine Bewunderung zollte, seine Anschläge verurteilt, obgleich sie warnte, dass ähnliche Angriffe zu erwarten wären, wenn die Pro-Einwanderungs-Politik so fortgesetzt würde.28 Eine anti-islamische LobbyGruppe, Stop Islamisation of Europe (SIOE), leugnete Breiviks Versuch, sich ihrer Facebook-Gruppe über seine Neonazi-Verbindungen anzuschließen.29 All das wäre vielleicht sehr nützlich gewesen, wenn es früher entdeckt worden wäre. Dennoch kann man King nachsehen, sich darauf nicht eingelassen zu haben, da die fraglichen Gruppen eher in Europa als in den Vereinigten Staaten angesiedelt sind – auch wenn das Internet sie de facto ubiquitär macht. Unverantwortlich aber ist, der ­Öffentlichkeit zu suggerieren, die Gewaltandrohung käme nur bzw. in erster Linie

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vom Islam. Wie die Washington Post sagt, war der Anschlag von Oklahoma der schlimmste Terrorangriff auf dem Boden der USA vor 9/11, und die „gnadenloseste und gewalttätigste Terrororganisation der Nation“ war während des vergangenen Jahrhunderts der Ku-Klux-Klan.30 Noch unverantwortlicher sind Bemerkungen Kings, die unterstellen, die gesamte amerikanische Muslim-Gemeinde sei verdächtig, nicht nur deren radikaler Flügel. Wiederholt hat er darauf angespielt, dass muslimische Amerikaner es im Allgemeinen unterlassen hätten, mit den Strafverfolgungsbehörden zusammenzuarbeiten. Und er gab sogar die unfassbare Behauptung von sich: „80 bis 85 Prozent der Moscheen in diesem Lande werden von islamischen Fundamentalisten kontrolliert.“31 In der Tat sind es Argumente wie diese und Befragungen, die eine einzige Gemeinde an den Pranger stellen, was dann das Phänomen hervorbringt, das Peter King beklagt. Wenn eine Gruppe erst einmal stigmatisiert ist, sinkt deren Bereitschaft, mit den Behörden zusammenzuarbeiten, rapide. Eine Umfrage zweier Rechts­ professoren (Aziz Huq, University of Chicago, und Stephen Schulhofer, New York University) und eines Psychologieprofessors (Tom Tyler, New York University) zeigt eine wachsende Wahrnehmung von Diskriminierung unter Muslimen und weist darauf hin, dass dies im Lauf der Zeit einen signifikanten negativen Effekt auf die Zusammenarbeit haben kann.32 Direkt nach den Breivik-Angriffen und somit mehrere Monate nach der KingAnfrage kam eine Gruppe auf, die sich Citizens for National Security nannte, Bürger für nationale Sicherheit. Ihre Forderungen wurden vom Abgeordneten Allen West (Republikaner, Florida) in Washington vorgetragen, der die Arbeit der Gruppe in einer Pressemitteilung im Cannon House Office Building auf dem Kapitolhügel befürwortete. Die Behauptungen dieser Gruppe sind denen der Rhetorik der Pro­ tokolle sehr ähnlich. Sie unterstellen, dass die Muslime in Amerika eine „fünfte ­Kolonne“ bildeten, die amerikanische Institutionen unterwandere. Die Citizens ­behaupten, sie verfügten über eine Liste von 6000 amerikanischen Muslimen mit Verbindungen zu der ägyptischen Muslimgruppe namens Muslim-Bruderschaft. Die Citizens for National Security veröffentlichten die Namen nicht, dafür aber eine umfangreiche Darstellung angeblicher extremistischer Einflüsse im Zusammenhang mit einem Rechtsstreit um eine islamische Wohlfahrtsorganisation namens Holyland Foundation.33 Die Gruppe behauptete, es sei angesichts des „vorsätzlichen Leugnens und der Täuschungskampagne“ seitens der Muslim-Bruderschaft schwierig, die Liste zusammenzustellen. Die Unbestimmtheit der Behauptungen, die hochtrabende Verschwörungstheorie sowie die Behauptung, dass Muslime von

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ihrem Charakter her verschleiern und täuschen – all das hätte direkt aus den ­P rotokollen entnommen worden sein können, wären die Menschen nicht generell anfällig für solche Angstspiele, ohne dass ein direkter kausaler Zusammenhang bestehen muss. Ein weiterer Aspekt der Reputationskaskade soll hier erwähnt werden. Das FBI, dem wir bei der Untersuchung terroristischer Aktivitäten in den USA vertrauen, scheint nicht nur in dieser Kaskade gefangen zu sein, sondern trägt selbst durch seine selektive Überwachung dazu bei. In der Zeit nach dem Breivik-Attentat kam heraus, dass das FBI als Lektüreempfehlung über den Islam auf ein Buch des Ex­ tremisten Robert Spencer hingewiesen hat, The Truth about Mohammed: Founder of the World’s Most Intolerant Religion. Spencer, gemeinsam mit Pamela Geller Begründer von Stop the Islamization of America, war gemeinsam mit ihr ein Anführer des Protests gegen das geplante muslimische Gemeindezentrum in der Nähe von Ground Zero. Spencer und Geller wurden wiederholt von Breivik in seinem Manifest zitiert. Ihre Gruppe ist vom angesehenen Southern Poverty Law Center als „Hassgruppe“ bezeichnet worden. Sicherlich kann man ihnen Breiviks Taten nicht vorwerfen, die sie ja beide verurteilt haben. Auch ist ihre Erwähnung durch Breivik kein Grund, warum das FBI nicht ihre Arbeit hervorheben sollte. Das Problem besteht vielmehr darin, dass diese Arbeit paranoid und zutiefst unrichtig ist, ähnlich dem Breivik-Manifest, was das Niveau des paranoiden Denkens betrifft. Hat das FBI Spencers Buch zum Gegenstand einer Untersuchung über den US-Extremismus gemacht? Leider ist die Antwort „nein“. Diese HintergrundLektüre wurde von einer PowerPoint-Präsentation der FBI Law Enforcement Com­ munications Unit [FBI-Abteilung für Strafverfolgungs-Kommunikation] begleitet, die neue Mitarbeiter ausbildet. Diese Präsentation verpasste eine goldene Gelegenheit, die Neulinge historisch fundiert und nuanciert über die Vielfalt des Islam und all die Weltkulturen zu informieren, in denen heute Muslime leben. Die meisten Amerikaner glauben, der Islam existiere hauptsächlich im Nahen Osten, in überwiegend arabischen Gesellschaften, obwohl Indien und Indonesien die beiden größten Muslim-Bevölkerungen der Welt aufweisen, beide mit demokratischen Institutionen, und Indien ist (mit seinem Nachbarn Bangladesch) wichtiger Herkunftsort der amerikanischen Muslime. So ist es verstörend, dass die PowerPointPräsentation den Islam als Religion des „ME“, des Middle East bezeichnet, des Nahen ­Ostens. Und die Berufsanfänger erfahren, dass sie beim Verhören von Muslimen wissen müssten, dass „der arabische Geist“ eher „von Worten als von Ideen und eher von Ideen als von Tatsachen“ (was immer das heißt) bewegt würde.

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­ ußerdem belehrt man die Neulinge, dass Muslime „am Beschneidungsritual A ­teilnehmen“ – als wäre das ein primitiver Brauch in einer Nation, in welcher mehr als die Hälfte der männlichen Neugeborenen beschnitten werden und die rituelle Beschneidung ein bekannter jüdischer Brauch ist. Die Anfänger „lernen“ auch, dass der Islam die „Kultur eines Landes in diejenige Arabiens im 7. Jahrhundert“ zurückverwandele.34 Es braucht kaum erwähnt zu werden, dass wir ein FBI brauchen, das kompetent ist und dass eine solche „Belehrung“ eine Schande ist. Wie der frühere Agent Mike German sagt: „Damit die FBI-Ausbildung effektiv werden kann, muss sie nützliche, tatsächliche und vorurteilsfreie Informationen liefern. Das vorliegende Material versagt in allen drei Kriterien.“ Als Antwort auf Journalistenanfragen stellt das FBI nun fest, dass die PowerPoint-Präsentation nicht mehr benutzt und auf Spencers Buch nicht mehr hingewiesen wird. Andere Aspekte des Lehrplans bleiben weiterhin unklar. Zumindest wurde eine Einladung an Brigitte Gabriel, eine streitbare Anti-Muslim-Autorin, die Spencer und Geller in Bezug auf Nuancen und Genauigkeit recht nahe kommt, zurückgezogen. Dennoch bleibt öffentliche Wachsamkeit wichtig. Ein wachsender Berufsstand von sogenannten „Terror-Beratern“ ist auf­ gekommen, die bei den Strafverfolgungsbehörden diesen Punkt thematisieren und dafür kräftige Honorare einstreichen. Einige dieser Leute liefern aufgebauschte und auch falsche Informationen und fördern damit eher die Angst als eine kompetente Strafverfolgungs-Aktivität.35 Leider hat die gegenwärtige Atmosphäre (einschließlich der gegenwärtigen Medien-Kultur) oft Effekthascherei zur Folge, weshalb ein Berater, der gebucht werden will, sich genötigt fühlt, eher dem Rummel als präzisen Informationen hinterher zu sein. Eine bedrückende Schlussfolgerung aus dieser Geschichte ist, dass Verdächtigungen und Misstrauen gegenüber akademischer Forschung seitens des FBI, die während der McCarthy-Ära begannen, nie wirklich aufgehört haben. Der britische Geheimdienst im Zweiten Weltkrieg war deshalb erfolgreich und rettete die Nation und die freie Welt, weil er die besten Gelehrten der Nation anheuerte, junge wie alte. (Der Philosoph J. L. Austin, der dem MI6 diente, gehörte zu denen, deren Fähigkeit und Führerschaft ausschlaggebend waren.) Damals folgten die Vereinigten Staaten Englands Vorbild: Der Sprachphilosoph W. V. O. Quine gehörte dem U.S. Navy-Team an, das verschlüsselte Botschaften entzifferte; er wurde Korvettenkapitän. Heute sind Austin und Quine als intellektuelle Führerfiguren ersetzt worden durch Leute wie Robert Spencer und Brigitte Gabriel. Das Resultat: Unsere Welt ist weit weniger sicher.

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Ein letzter Aspekt der Medienberichterstattung über Breivik (in diesem Fall tatsächlich eine Verhüllung) ist ein merkwürdiges Geständnis Pamela Gellers auf ihrem Blog Atlas Shrugs, der ja den Zweck hat, eine angebliche Muslimverschwörung „aufzudecken“. Wir wissen, dass Breivik Geller zitierte, wofür sie nicht behelligt werden kann. Die Verbindung ist aber vielleicht komplexer. Geller hat viele Korrespondenten, die mit ihr über die Muslimbedrohung der Welt chatten. 2007 veröffentlichte sie eine E-Mail aus Norwegen, die eine Tirade gegen Muslime so beendete: „Wir horten und verstecken Waffen, Munition und Ausrüstung. Bald geht es los.“ In ihrem damaligen Kommentar zum Posting sagte sie, sie habe den Absendernamen gelöscht, um damit zu verhindern, dass nach der Person geforscht und diese strafrechtlich verfolgt würde. Nach Breiviks Attacke wurde die anrüchige Zeile aus dem Posting von 2007 entfernt. Dennoch hat sie jemand gespeichert, und sie steht in öffentlich zugängigen Berichten. War Breivik der Korrespondent? Wenn ja, dann hat Geller durch die Anonymisierung der Nachricht die Strafverfolgung an der Untersuchung dieser Terrorbedrohung gehindert. Anstatt ihn zu schützen, hätte sie ihn melden müssen. Und wenn es nicht Breivik war, gilt das Gleiche – und zusätzlich haben wir die Sorge, dass es eine weitere gewaltbereite Person irgendwo da draußen gibt (oder Personen, da die Mail von „wir“ redet), die womöglich einen zukünftigen Angriff inszeniert. In ­jedem Fall schuldet Geller der Polizei sämtliche Informationen, die sie hat.36

Narzissmus der Angst Angst ist primitiv. Das haben wir bereits in physiologischer Hinsicht betrachtet: Angst ist mit primitiven Gehirnprozessen verbunden, die alle Wirbeltiere gemeinsam haben, und menschliche Angst, die auf vielfache Weise komplexer ist, hat weiterhin teil an diesen gemeinsamen tierischen Ursprüngen. Wir können vielleicht sagen, dass die nervöse Energie von Remarques jungem Soldaten in dem Moment, als die Welt um ihn auf seinen zitternden Körper zusammenschrumpft, nur wenig mehr ist als eine tierische Reaktion – und das ist tatsächlich primitiv und beschränkt sich auf seinen Körper und sein Überleben. Die Bedürfnisse anderer müssen ihn mit einem Ruck von dieser Versenkung in sich selbst befreien. Das heißt aber nicht, dass Angst nicht oft wertvoll und auch oft akkurat ist – doch ihre Sicht auf die Welt ist überaus eng. Anders als Trauer und Mitgefühl hat sie die vollständige Realität ­anderer Menschen noch nicht anerkannt. Und in ihrem Zusammenwirken mit

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­ bscheu ist die menschliche Angst in mancher Hinsicht schlimmer als die tierische A Angst: Denn Tiere phantasieren nicht, dass andere Tiergruppen schlecht, sie selber aber rein und nicht-tierisch seien. Die menschliche Angst also verbindet die tierische Begrenztheit mit einem spezifisch menschlichen Zurückschrecken vor der Animalität – hin zu anderen Menschengruppen, wo wir aber immer Animalität imaginieren. Auch wenn Angst sozialisiert und zu einem Teil von Kultur und Rhetorik gemacht wird, wird sie im Sinne Mills niemals „moralisiert“. Sie ist immer und unerbittlich fokussiert auf die eigene Person und deren Sicherheit. Diese Begrenztheit des Fokus ist ein hervorstechender Zug, der sich in allen Fällen von Angst zeigen lässt, die wir hier untersucht haben. Schweizer Wähler wurden aufgefordert, sich als bedroht zu empfinden und sich auf das enge Feld der persönlichen Identität und Sicherheit zu konzentrieren – anstatt dass sie dazu angehalten würden, die Aufgabe anzupacken, eine Gesellschaft zu errichten, die all ihre Mitglieder angemessen umfasst. Immigranten wurden von einer engen egoistischen Perspektive aus als Raketen, die die Heimat angreifen, angesehen und nicht als vollgültige Menschen. ­Ähnlich hat die von Angst inspirierte Medienreaktion auf Breivik das Ereignis, dessen wahre Natur zunächst noch unbekannt war, als unmittelbare Wiederholung des 9/11-Traumas gesehen, als ginge es nur um das Ich und dessen Bedrohung. Diese egozentrische Sichtweise verhinderte echte Neugierde. In diesen und vielen weiteren Fällen sind die episodisch auftretende sowie die chronische Angst noch narzisstischer als andere Gefühle. Alle Gefühle betrachten die Welt aus der Perspektive des Individuums, das diese Gefühle erfährt, und seiner Ziele und Interessen – und eben kaum „von nirgendwo“ her, von einem idealen Punkt der Unparteilichkeit. So sorgen wir uns um die, die wir kennen; nicht um die, die wir nicht kennen. Wir fühlen Mitleid mit einem Menschen, dessen Geschichte lebhaft vor uns steht, nicht für eine körperlose Abstraktion. Alle Gefühle haben das Problem der Begrenztheit und sind damit eine wirkliche Bedrohung der Unparteilichkeit. Die Angst aber geht noch weiter, denn sie bedroht oder verhindert die Liebe. Der Dichter Dante beschreibt Laster als Formen übertriebener Selbstliebe: ein „Nebel“, der zwischen uns und der wahren Realität anderer Menschen steht. Die Philosophin und Romanautorin Iris Murdoch entwickelt diese Vorstellung weiter und argumentiert in ihren Romanen, dass die Menschen große Probleme haben, ihre Mitmenschen als real und der Zuwendung würdig anzusehen – weil sie in sich selbst gefangen sind und andere Menschen nur durch die verdunkelnden Schleier

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ihrer Bedürfnisse und Absichten sehen. Wenn man überhaupt einen anderen ­Menschen sehen oder lieben will, muss man den Prozess der „Ent-Selbstung“ durchmachen.37 Doch im Schwarzen Prinzen, der zu ihren klügsten Romanen gehört, stellt Murdoch noch eine Behauptung auf: Furcht oder chronische Angst bilden die Grundform einer übertriebenen Selbstsucht, die der Liebe Schaden zufügt: „Mehr als alles andere charakterisieren Angst und Sorge das Säugetier Mensch. Angst ist vielleicht die umfassendste Bezeichnung für alle Laster … Sie ist eine Art Begehrlichkeit, Furcht, Neid und Hass … Glücklich diejenigen, die sich dieses ­Problems in genügendem Maße bewusst sind, um zu den bescheidensten Anstrengungen fähig zu sein, der trüben Befangenheit unseres Gemüts und unseres Geistes durch die Angst Einhalt zu gebieten … Das natürliche Bestreben der menschlichen Seele ist auf den Schutz des Ich gerichtet.“38 Angst ist eine „verdunkelnde Voreingenommenheit“, ein intensiver Fokus auf die eigene Person, die andere Menschen in die Dunkelheit verbannt. Wie wertvoll und sogar essentiell sie in einer wahrhaft gefährlichen Welt auch ist, ist sie doch selbst eine der großen Gefahren des Lebens.

3 Grundprinzipien: Gleicher Respekt für das Gewissen Wie können wir das gegenwärtige Klima der Angst am besten beschreiben? Eine gute Annäherung an das Thema achtet auf dreierlei: dass gute Prinzipien herrschen; dass keine narzisstische Grundhaltung vorliegt; dass das „innere Auge“ kultiviert wird, die Fähigkeit also, die Welt aus der Perspektive der Minderheiten zu sehen. Warum Prinzipien? Angesichts der Eigenschaft der Angst, uns zu verwirren und zu verstören, was unsere Urteile eigennützig und unzuverlässig macht, sollten wir uns diesem heiklen und komplizierten Thema mithilfe einiger grundlegender Prinzipien nähern, um Verwirrung und Panik zu vermeiden. Sollen diese Prinzipien die Neigung der Angst aufdecken, das eigene Ich in den Vordergrund zu stellen, dann sollte dazu auch der Blick auf das Wohl der anderen gehören, was dieser Parteilichkeit der Angst entgegenwirkt. Prinzipien einer guten demokratischen Praxis zu formulieren war immer schon ein zentrales Anliegen der politischen Philosophie. Ich werde also darlegen, dass Philosophie tatsächlich genau die praktische Bedeutung hat, die schon die Griechen benannten. Sie verschafft jedem, der über dieses Thema nachdenken will, tiefergehende Einsichten. Was also hat die politische ­Philosophie über die religiöse Andersartigkeit und die dadurch bewirkten Ängste zu sagen? Die Denkrichtung, die ich aufzeigen will, ist spezifisch euro-amerikanisch, ­obwohl solche Gedanken auch in der indischen Philosophie zu finden sind. Sie hat viel früher als der Westen eine Politik der religiösen Toleranz entwickelt. Schon im dritten oder zweiten vorchristlichen Jahrhundert erließ Kaiser Ashoka, selber vom Hinduismus zum Buddhismus konvertiert, eine Reihe von Edikten, die in seinem Reich die Toleranz vorschrieben. Diese Politik dauerte nicht in der ­gesamten Vormoderne an, wurde aber während des Mogulreiches im 16. und 17.  Jahrhundert wieder­belebt und weiterentwickelt: durch das Denken und die Praxis des muslimischen Kaisers Akbar. Er verkündete Toleranz unter allen Reli-

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gionen und förderte einen Staatskult, der Elemente aller größeren Religionen ­seines Reiches einschloss.1 Akbar war in Europa eine berühmte Gestalt, und seine Ideen hatten einen bedeutenden Einfluss auf europäische Toleranz-Vorstellungen – was auch für Ideen aus dem Osmanischen Reich galt. Ich werde hier nicht w ­ eiter darauf eingehen, doch wir sollten daran denken: Unsere Ziele sind Gerechtigkeit und Verständnis, und wir würden durch die irrige Annahme von vornherein fehlgeleitet, die Idee von gegenseitigem Respekt und Toleranz wäre exklusiv westlich. Ganz im Gegenteil: Einige der einflussreichsten Denker in diesem Bereich waren bekennende Muslime. Die besonderen Prinzipien, die ich hier verteidige, sind, historisch gesehen, eher amerikanisch als europäisch. Europäer teilen einige der Grundvoraussetzungen (den Gedanken der Menschenwürde und Gleichheit), doch insgesamt haben sie nicht in gleichem Maße gesetzliche Systeme errichtet, die auf Gerechtigkeit gegenüber Minderheiten bei allen Themen achten, wo Mehrheiten die Gesetze machen. Das gilt bis zu einem gewissen Grad auch für die Anpassung an die Minderheiten-Praxis. Insgesamt hat Europa andere Strategien bevorzugt, was ­religiöse Minderheiten angeht: Assi­milie­rung, geographische Trennung (Andersgläubige verlassen das Gebiet) und etablierte Kirchen mit förmlichem Tolerieren der Andersgläubigen (was ethisch aber nicht hinreicht). Die Prämissen der menschlichen Würde und Gleichheit, die Amerikaner und Europäer teilen, werden von der amerikanischen Lösung überzeugender umgesetzt. Doch auch wenn die Leser in diesem Punkt nicht ganz meiner Meinung sind, ist klar, dass die ­europäische Lösung nicht mehr angemessen ist. Sie „funktionierte“ so lange, wie es nur wenige religiöse Minderheiten gab und diese leicht eine neue Heimat fanden, wenn die alte nicht mehr zur Verfügung stand. (Ich sage „funktionierte“, weil diese Lösung den Juden eindeutig nicht half; sie waren gering an Zahl, hatten aber außer den USA keine attraktiven Exilmöglichkeiten.) Es war immer schon moralisch falsch, Juden zu nötigen, ihre Über­zeugung nach der Mehrheit auszurichten, und doch führte dieses falsche Verhalten zu keinem sozialen Aufruhr. Die gegenwärtige Situation in Europa hat sich gewandelt: Eine abnehmende Bevölkerungszahl verlangt nach Einwanderung; neue Immigranten sind so zahlreich, dass man sie nicht mehr so behandeln kann wie die Juden in den Jahrhunderten zuvor, ohne massive soziale Unruhen auszu­lösen. Daher wird die amerikanische Lösung dringend gebraucht, auch wenn die Men­schen nicht davon überzeugt sind (was sie meiner Meinung nach aber sein sollten), dass dies das bessere Rezept im Sinne der Gerechtigkeit ist.

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Würde, Verletzlichkeit, Anspruch Fangen wir mit einer weit verbreiteten Annahme an: dass alle Menschen gleich­ wertige Träger menschlicher Würde seien. Anders ausgedrückt: Alle Menschen ­besitzen menschliche Würde, und im Hinblick auf diese Würde sind sie gleich. Sie mögen ungleich sein, was Reichtum, Klasse, Talent, Stärke, Leistung oder Charakter angeht – doch alle sind Träger einer unveräußerlichen, grundlegenden Menschenwürde, die weder verloren noch verwirkt werden kann. Diese Idee wurde nicht immer akzeptiert. Vor dem 18. Jahrhundert glaubten viele Menschen, dass Herren und Vasallen, was Status und Würde angeht, von ­Natur aus ungleich seien. Lange Zeit danach glaubten viele Menschen auch, dass das auch für Schwarze und Weiße, Männer und Frauen von Natur aus zutreffe. Die Idee einer angeborenen Gleichheit der Menschen ist sehr alt – im Westen mindestens so alt wie das Denken der alten Stoiker, die behaupteten, dass diese Gleichheit Geschlecht, Klasse, Ethnizität und Nationalität übersteige. Diese Vorstellung ist auch zentral für die christliche Ethik: durch die Vorstellung, dass vor Gott alle ­Seelen gleich sind. Dennoch wurde die Vorstellung einer angeborenen Gleichheit jahrhundertelang nicht anerkannt, als man nur von der Gleich­heit einiger weniger Gruppen von Menschen sprach. Heute ist diese Vorstellung so durchgängig akzeptiert, dass sie in die politischen Grundsätze der meisten Nationen wie auch in die Fundamente der internationalen Menschenrechtsbewegung Eingang fand. Würde kann nicht genau definiert werden. Und wir tun gut daran, das auch nicht auf dem Gebiet der Politik zu versuchen, da verschiedene Religionen und säkulare Ansichten jeweils etwas anderes dazu formulieren, und wir wollen niemanden bevorzugen ( Jacques Maritain, der katholische Philosoph, einer der wichtigsten Verfasser der allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, sagt, dass er selbst die Menschenwürde in die Vorstellung einer unsterblichen Seele fasst. Er würde das aber ungern in ein Dokument wie die Erklä­rung einfügen, in der sich ja Menschen unterschiedlicher religiöser und säkularer Traditionen wiederfinden sollen.) Wir sollten also nicht der Vorstellung erliegen, dass Würde durch eindeutige, spezifische Inhalte definiert ist. Sie scheint vielmehr durch ihre Beziehung mit anderen Ideen wie der des Respekts an Gestalt zu gewinnen (Würde ist das Attribut einer Person, das dieser Person Respekt verleiht) sowie durch eine Vielzahl politischer Prinzipien. Sie ist eng mit Immanuel Kants Idee des Menschen als Zweck und nicht als bloßem Mittel verwandt, und in der Tat hat Kant die Idee der Würde so formuliert.

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Bisweilen wurde in der Philosophiegeschichte die Idee der menschlichen ­Würde mit der menschlichen Fähigkeit zum Denken verknüpft. Auch wenn die Stoiker das praktische und ethische Denken im Blick hatten und nicht das theoretische, so meinten sie doch, es sei eben diese Fähigkeit, welche die Menschen über die ­Tiere erhebe und uns alle zu Wesen gleichen Wertes mache. Natürlich erkannten sie, dass manche Menschen besser sind als andere im Hinblick auf ethisches Denken, doch sie waren der Meinung, dass allein schon der Besitz dieser Fähigkeit etwas so ­Wunderbares sei, dass es bereits jeden, der darüber verfüge, über die Schwelle der Menschenwürde hebe, so dass jeder oberhalb dieser Schwelle von unendlichem Wert sei, allen anderen gleich, und daher verdiene er auch gleichen Respekt. Diese Position der Stoiker hat ein langes Erbe gezeitigt: Es wurde im We­sent­lichen Kants Position und die des großen kantianischen politischen Philosophen John Rawls. Diese Haltung zur grundlegenden Würde ist zwar sehr attraktiv, bietet aber ernsthafte Probleme. Einerseits impliziert sie eine scharfe Trennung zwischen Men­ schen und anderen Geschöpfen. Diese Spaltung hat die Idee aufkommen lassen, dass wir Tiere als bloße Werkzeuge für unsere Zwecke einsetzen dürfen. Das folgt aber nicht unmittelbar aus dem stoisch-kantianischen Begriff der Würde, der auf der ­Fähigkeit zur Moral gründet. Die kantianische Philosophin Christine Korsgaard hat gezeigt, dass wir, von Kant ausgehend, gleichwohl schlussfolgern können, große ethische Verpflichtungen gegenüber nichtmenschlichen Geschöpfen zu haben.2 Und sie sagt auch, dass ein Kantianer sich um nichtmenschliche Geschöpfe sorgen müsse, andernfalls wären wir inkonsequent. Denn es ist nicht konsequent, dass wir Menschen die Pflicht haben, unsere animalische Natur zu bewahren, dabei aber leugnen, dass diese Pflicht auch für ähnliche Mitgeschöpfe gelten soll. Dennoch haben vernunftbasierte Ansichten über die Würde, historisch gesehen, die Vor­stellung aufkommen lassen, dass wir weder Respekt noch Ehrfurcht gegenüber dem tierischen Leben zu haben brauchen.3 Außerdem erweist sich die Betonung der Vernunft als problematisch, wenn wir an unsere Pflicht gegenüber Menschen mit schweren geistigen Behinderungen denken. Liegen diese Fähig­ keiten unter der Schwelle, die generell die Fähigkeit zur Beurteilung und das Formulieren von Zielen sowie das angeborene Verlangen meint, diese Ziele auch zu erreichen, dann wird diesem Menschen nicht ein gleicher Wert beigemessen. Lange hat man deshalb geglaubt, dass Menschen mit schweren geistigen Behinderungen weniger Wert an sich hätten. Heute aber werden diese Vorurteile zu Recht verworfen. Jeder, der sich mit dem gegenwärtigen Ansatz auseinandersetzt, behinderte Menschen in der Politik gleichzubehandeln, müsste eigentlich eine Theorie der

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menschlichen Würde in Frage stellen, die hauptsächlich die Vernunft als Quelle ­unserer Menschlichkeit betont. Das scheint ohnehin sehr zweifelhaft zu sein. Denn noch mehr trägt zu unserer Menschlichkeit die Fähigkeit bei wahrzunehmen, uns zu bewegen, Gefühle zu empfinden, zu lieben und zu sorgen. Warum also nicht sagen, dass, solange eine oder mehrere dieser Fähigkeiten vorhanden sind und dieser Mensch zumindest von ­einem menschlichen Elternteil abstammt, auch vollständig gleich ist in Bezug auf Menschenwürde?4 Genau das sage ich und sagen weitere heutige Philosophen zu diesem Thema.5 Diese Kriterien würden alle Menschen mit Wachkoma sowie mit dem Extremfall der Anenzephalie ausschließen, zugleich aber den Einschluss von Menschen mit geistigen Behinderungen bedeuten. Was nichtmenschliche Wesen betrifft, scheint die Aussage angemessen, dass sie ihre eigene Würde haben und dass diese Formen der Würde gleichfalls Respekt von uns verlangen. Da nichtmenschliche Geschöpfe nicht an religiöser Praxis teilhaben, dürfen wir sie für den Rest des Buchs ausklammern. Manche Tierarten kommen allerdings der Religion sehr nahe. So hat das Trau­erverhalten von Elefanten einen rituellen Aspekt, und Barbara Gowdys wunderbarer Ele­fanten-Roman The White Bone – Der weiße Knochen imaginiert eine voll entwickelte Religion auf Grundlage eben dieser Erkenntnis. Es ist also nicht ausgeschlossen, dass wir eines Tages ­er­fahren werden, dass einige Tierarten religiöses Verhalten an den Tag legen. Wenn das der Fall sein wird, dann verdienen diese Tiere gleichfalls einen angemessenen Schutz für die Ausübung dieser Fähigkeit. Damit haben wir die erste Prämisse für unsere Argumentation: Alle Menschen besitzen die gleiche Würde. Fügen wir nun eine zweite Prämisse hinzu, die weithin anerkannt wird. Sie betrifft die Aufgaben von Regierungen: Was immer Regierungen auch tun – sie dürfen die gleiche Würde nicht verletzen. Generell sollten sie Respekt gegen­über unserer Gleichheit und Würde aufzeigen. Die Vorstellung, dass Regierungen grundle­gende Menschenrechte nicht verletzen dürfen, ist eine ent­ wickelte Form dieser Prämisse. Was aber ist mit der Gleichbehandlung, wenn es um Dinge wie Glauben und religiösen Gehorsam geht? Fügen wir also die nächste Prämisse hinzu: Die Fähigkeit des Menschen, nach der letzten Bedeutung des Lebens zu suchen – oft „Gewissen“ genannt –, ist ein wesentlicher Teil des Menschen, eng verbunden mit seiner Würde bzw. ein Teil davon. (Innerhalb der Stoa und dem Teil der christlichen Ethik, der stark davon beeinflusst ist, wird „Gewissen“ als Essenz der Menschenwürde angesehen, weil es die Fähigkeit zum praktischen Urteil und zur Bewertung beinhaltet. Nach der

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Sichtweise aber, die ich hier darlege und die sich weniger auf die Begabung zur Vernunft stützt, sagt man wohl besser, dass das Gewissen für diejenigen, die darüber verfügen, in enger Beziehung zu ihrer Würde steht.) Mit anderen Worten heißt das Gewissen zu verletzen, die Menschenwürde zu verletzen. Nun fügen wir eine weitere Prämisse hinzu, die man vielleicht als die der Verletzlichkeit bezeichnen kann: Wir können durch schlechte Zustände in der Welt ernsthaft behindert, bei unseren Aktivitäten aufgehalten oder gar verletzt und innerlich beschädigt werden. (Die erste Verletzung, die der amerikanische Philosoph ­Roger Williams im 17. Jahrhundert mit der Gefangenschaft verglich, tritt dann auf, wenn Menschen daran gehindert werden, den von ihrem Glauben verlangten ­äußerlichen Gehor­sam auszuüben. Die zweite Verletzung, die Williams als seelische Vergewaltigung bezeichnete, besteht in dem Zwang, Überzeugungen auszudrücken, die man nicht teilt.) Die alten Stoiker anerkannten die Verletzlichkeits-Prämisse nicht. Sie hielten den Kern unserer Würde für so fest in uns verankert, dass er immun gegen die Verletzungen durch die Welt sei. An Aktivität gehindert zu werden war nichts Bemerkenswertes: Sie nannten die Tat eine bloße Nachgeburt, bevorzugten demgegenüber Streben und bloße Absicht. Sie glaubten auch nicht, dass ethisches Vermögen durch andere Menschen verletzt werden könne. Angesichts solcher Einstellungen konnten sie nicht zeigen, warum die Sklaverei schlecht sei. Sie ­kritisierten sie, und der große römische Stoiker Seneca sagte, es sei schlecht, ­physische Gewalt oder sexuelle Nö­tigung gegen Sklaven auszuüben. Doch er konnte nicht erklären, warum das schlecht war – weil er die Überzeugung behalten wollte, der wirklich wichtige Aspekt des Menschendaseins bliebe durch ­solche ­Taten unberührt. Und er erkannte, dass er nicht zum Ergebnis kommen könne, die Institution der Sklaverei sei an sich falsch. Denn, so sagt er, was zählt diese Art der Nötigung, wo doch das Wesentliche die Freiheit der Seele im Men­schen ist? Weil wir aber Seneca nicht zustimmen, weil wir die Verletzlichkeits-Prämisse akzep­tieren – deshalb denken wir, dass Sklaverei eben doch zählt und abscheulich und falsch ist. Die Verletzlichkeits-Prämisse zu akzeptieren bedeutet nicht, dass externe Ereig­nisse (abgesehen vom Tod) die Menschenwürde beseitigen oder dass sie die Menschen weniger gleich machen. Das ist ein heikler Punkt, denn wir wollen ja behaupten, dass etwas Schreckliches dem Menschen zugestoßen ist, der versklavt oder verge­waltigt wurde. Aber das heißt eben nicht, dass diese Ereignisse sie auf einen „untermenschlichen“ Status reduziert haben. Was also heißt es, eines Men-

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schen Würde zu verletzen, wenn es nicht bedeutet, die Würde zu reduzieren oder zu entfernen? An Vergewaltigung zu denken kann hier klärend wirken, denn wir glauben ja, dass die Verge­waltigung dem gesamten Leben der Frau etwas Schreckliches antut. Es betrifft ihre Gefühle, ihre Gesundheit, ihre Pläne und Projekte. Die Tat kann sie zeitweilig oder für immer der Verfolgung eines Ziels unfähig machen. Wir meinen aber auch, dass Frauen durch diese Tat eben nicht weniger gleich sind als andere. (Oft denken die Menschen aber genau das. Selbst der große Dichter Dante versetzt Piccarda Donati in den von Gott am weitesten entfernten Paradieskreis – für alle Ewigkeit –, weil sie vergewaltigt wur­de.) Vergewaltigung und ihre schreck­lichen Konsequenzen werden zu Recht als ernsthafte Verbrechen angesehen. Ich kann das leichter als ein Stoiker oder Kantianer sagen, weil nach meiner Ansicht selbst ein vollständiger Zusammenbruch der Entscheidungsfähigkeit – abgesehen von Tod oder Koma – die angeborene Menschenwürde nicht beseitigt. Doch auch ein Stoiker oder ein Kantianer kann sagen, dass Würde oberhalb der relevanten Schwelle der Gleichheit bleibt, selbst wenn wichtige ethische und ­kognitive Fähigkeiten beschädigt wurden. Und natürlich, wenn die Würde tatsächlich durch Tod oder durch Koma ausgelöscht wurde, ist es eine Untat der Person gegenüber, die getötet wurde. Die Verletzlichkeits-Prämisse zeigt uns die Wichtigkeit der politischen und gesell­schaftlichen Lebensbedingungen, wenn es um gleichen Respekt für das Gewissen geht. Stoisch ist die Annahme, dass das Gewissen immer frei ist, selbst wenn der betreffende Mensch im Gefängnis oder versklavt ist oder sogar auf der Streckbank ge­foltert wird. Wir aber haben das verneint. So bedeutet die VerletzlichkeitsPrämisse, dass wir, um dem Gewissen (überall) gleichen Respekt entgegenzubringen, weltliche Bedin­gungen schaffen müssen, die die Freiheit des Glaubens, des Glaubensaus­drucks und der Glaubenspraxis schützen. Das bedeutet auch, dass Freiheit sehr umfas­send sein muss. Gebete zu Hause flüsternd zu sprechen, reicht kaum aus für echte Religionsfreiheit, und zu Recht kommen wir zu dem Urteil, dass eine Gesellschaft wie die chinesische, die viele religiöse Menschen dazu zwingt, ihre ­religiösen Überzeugungen und Gebräuche zu ver­bergen, die religiöse Freiheit nicht adäquat schützt, auch wenn wir wissen, dass viele Chinesen religiöse Überzeugungen besitzen und diese vermutlich in der Privat­sphä­re ihrer Häuser ausüben, sofern sie diese überhaupt haben. Wenn wir die Verletzlichkeits-Prämisse mit der Gleichheits-Prämisse verbinden, gelangen wir zu dem Grundsatz, dass die Freiheit umfassend und für alle gleich sein muss – ein Grundsatz, der John Rawls’ Idee ähnelt, wonach Gerechtigkeit die

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„größtmögliche Freiheit“ braucht, „die mit einer vergleichbaren Freiheit für alle“ kompatibel ist. Daraus haben die Urheber der US-Ver­fassung geschlossen, dass der Schutz der Gewissensfreiheit die „freie Ausübung“ für alle auf Grundlage der Gleichheit impliziert. Die damaligen staatlichen Verfassungen haben deutlich ­gemacht, dass wir zur umfassenden Freiheit verpflichtet sind, nicht nur zu Freiheit für alle. Denn die Verfassungsväter ließen nur einige wenige, dafür bedeutende ­öffentliche Belange zu, vor allem Frieden und Sicherheit, die wichtiger waren als religiöse Freiheit. Heute sehen das die meisten Verfassungen genauso und sagen zudem, es sei wichtig, auf angemessene Weise umfassende Bedingungen der freien Religionsausübung zu schützen, selbst wenn die Gesellschaft mit guten Gründen andere Aspekte der persönlichen Freiheit beschnitten hat. (Deshalb legen die meisten Verfassungen fest, dass Gefangene das Recht auf Religionsausübung haben und dass dieses Recht für alle gleich ist – eine Idee, die schwierige Fragen hat aufkommen lassen, wie weit eine Regierung gehen muss, um gefangenen An­ge­hörigen von Minderheiten-Religionen die materiellen Umstände und Objekte zuzusichern, die sie zu ihrer Religionsausübung brauchen.)

Lockesche Neutralität versus Ausgleich Was aber bedeuten diese abstrakten Prinzipien tatsächlich? Was ist auf dem Gebiet der Religion wirklich gleiche Freiheit? Welche staatlichen Anstrengungen zur ­Sicherung des religiösen Pluralismus benötigt die Verpflichtung auf umfassende und gleiche Freiheiten? Und welche Grenzen können religiösen Aktivitäten in einer pluralistischen Gesellschaft angemessen auf­erlegt werden, die mit der genannten Verpflichtung vereinbar sind? Im Folgenden werde ich mich auf die anglo-amerikanische Gesetzes- und Politik-Tradition konzentrieren, vor al­lem auf deren Entwicklung innerhalb des US-Staatsrechts, weil diese Ideen dort einsichtig und klar dargelegt sind. Europa und andere moderne Demokratien (z. B. Indien) haben ähnliche Überzeugungen. Die amerikanische Tradition ist auch deshalb besonders auf­ schluss­­reich, da die ersten Siedler in die Kolonien auswanderten, weil sie religiöse Freiheit suchten, dann aber mit religiösem Pluralismus konfrontiert wurden. Denn die neuen Siedler, die diese Freiheit suchten, waren ziemlich unterschiedlich: Puritaner, Baptisten, Quäker, Mennoniten, Anglikaner, Katholiken und Juden. Obwohl sich wenig oder gar keine Muslime darunter befanden, wurden sie dennoch in den Theorieschriften zur Religionsfreiheit mit erfasst, was auch für Atheisten und

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­ gnostiker galt. Außerdem begegneten die Kolonisten sehr bald den UreinwohA nern, die ihre eigenen Religionen hatten. Von Anfang an wussten die Siedler, dass sie Problemen gegenüberstanden, ­denen man in Europa nicht begegnete und sie nicht einmal sah: Die Dissidenten waren zahlreich, und es gab keine sichere Mehrheit, weshalb die Bedürfnisse von Minderheiten von Anfang an wichtig waren. Welche Freiheit muss eine gute Gesellschaft den Angehörigen von Minderheiten geben, deren Religion von der Mehrheit als falsch, sündig und schlecht empfunden wird? Sollte es eine etablierte Staatskirche geben? Was soll man mit Leuten machen, die einem Gesetz nicht folgen mögen, das aus Gewissensgründen für alle gilt, die etwa nicht in der Armee kämpfen, am Sabbat nicht vor Gericht aussagen oder keinen religiösen Eid als Vorbedingung für ein öffentliches Amt ablegen wollen (was in England ver­langt wurde – kein unvereidigter Atheist saß bis 1886 im Parlament)? Welche Grenzen soll eine anständige Gesellschaft dem religiösen Verhalten setzen? Die philosophischen Begründer der anglo-amerikanischen Rechtstradition erkannten schnell, dass eine vernünftige Grenze allem auferlegt werden müsse, was Menschen im Namen der Religion tun, wenn Frieden und Sicherheit oder die gleichen Rechte anderer auf dem Spiel stehen. Solche Beschränkungen erwachsen aus dringendem öffentli­chem Interesse, müssen dennoch mit der Achtung vor der Rechtsgleichheit aller vereinbar sein. Doch Verfassungsväter wollten eine noch ­tiefere, grundsätzliche Begründung für diese Sicherungen und Eingrenzungen. Und sie fanden diese Begründung bezeichnenderweise in der Idee der angeborenen Gleichheit und der gleichen Rechte, nicht in der einer (bloßen) Tolerierung, die für sie zu kurz griffe und direkt zu jener gesellschaftlichen Hier­archie führen würde, die zu vermeiden sie ja gerade in die Neue Welt gekommen waren. Eine typische, wenn auch ungewöhnlich eloquente Darlegung dieses Problems findet sich in einem Brief von Präsident George Washington an die Jüdische Kongregation in Newport vom August 1790: „Die Bürger der Vereinigten Staaten von Amerika haben das Recht, sich selbst zu beglückwünschen, weil sie der Menschheit Beispiele für eine weitreichende und liberale Politik gaben: eine Politik, würdig der Nachahmung. Alle besitzen gleichermaßen die Freiheit des Gewis­sens und die Sicherheit durch Staatsangehörigkeit. Nun wird nicht mehr über Toleranz gere­det, als würden kraft Duldung einer Klasse von Menschen andere Menschen den Gebrauch ihrer natürlichen Rechte genießen. Denn zum Glück verlangt die Regierung der Vereinigten Staaten, die der Bigotterie keine Unterstützung und der Verfolgung keine Hilfe gewährt, nur, dass die, die

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unter ihrem Schutz leben, sich als gute Bürger aufführen, indem sie der Re­gie­rung bei jeder Gelegenheit ihre wirksame Unterstützung zukommen lassen.“6 Washington verbindet hier Toleranz mit Hierarchie: Eine privilegierte Gruppe sagt, wir werden euch nachgeben, behält aber die Macht, genau dies nicht zu tun, sollte sie ihre Meinung ändern. Washington zieht demgegenüber die Idee der gleichen, angeborenen natür­lichen Rechte vor; Rechte, die den Menschen Freiheit (um ihre Religion auszuüben) und Sicherheit (vor Verfolgung und Bigotterie, aber auch vor staatlicher Auferlegung religiöser Erfordernisse) gewähren. Und er sagt den ­Juden, dass die Regierung sie nicht auffordern würde, auf diese oder jene Weise Gottesdienst zu halten. Die Regierung würde sie nur um ihre Unter­stüt­zung als pflichtbewusste Bürger bitten. (Wie wir später sehen werden, war er gegenüber den Ansprüchen von Minderheiten-Religionen so sensibel, dass er nicht einmal die „wirk­sa­me Unterstützung“ im Sinne eines zu leistenden Militärdienstes für diejenigen auslegte, die aus Gewissensgründen einem solchen Dienst widersprachen.) Was aber verlangt diese Idee von der Regierung? An diesem Punkt teilt sich die philosophische Tradition. (Um auf das Thema Europa zurückzukommen: Die Ursprünge beider Tradi­tionsstränge liegen in Europa, obwohl sie hauptsächlich in den USA entwickelt wurden.) Ein erster Strang, der mit John Locke, dem englischen Philosophen des 17. Jahrhunderts, verbunden ist, besagt, dass der Schutz der gleichen Gewissensfreiheit zweierlei bedingt: Gesetze, die reli­gi­ösen Glauben nicht unter Strafe stellen, und Gesetze, die die religiöse Praxis nicht diskrimi­nieren. Beide Gesetze müssen also auf jedermann in religiösen Belangen anwendbar sein.7 Ein Beispiel für ein diskriminierendes Gesetz war laut Locke das englische Gesetz, das die lateinische Sprache im Gottesdienst für ungesetzlich erklärte, in Schulen aber zuließ.8 Der offensichtliche Hintergrund eines solchen Gesetzes war, Katholiken zu verfolgen. Ein weiteres Beispiel für ein diskriminierendes Gesetz wäre eines, das das Eintauchen des Körpers in Wasser bei der Taufe verbieten, es aber zum Zwecke der Gesundheit oder Er­ho­lung zulassen würde.9 Es ist einleuchtend, dass die Absicht eines solchen Gesetzes die Ver­folgung von Baptisten wäre. Locke schließt daraus: „Mit einem Wort, was für Dinge immer kraft Gesetzes bei den gewöhnlichen Anlässen des Lebens freigestellt sind, lasst sie freigestellt bleiben für den Gottesdienst jeder Kirche. Lasst niemandes Leben oder Leib oder Haus oder Gut aus solchen Gründen irgendeine Art Schaden erleiden.“10 Wenn aber ein Gesetz in diesem Sinne nicht strafverfolgend ist und im Rahmen der Rechtspre­chung von Zivilrichtern verbleibt (also nicht die Absicht hat, religiösen Glauben oder religiöses Verhalten zu regeln), dann soll es bestehen

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­ leiben, auch wenn es im Übrigen manchen religiösen Praktiken mehr Hürden aufb erlegt als anderen. Wenn die Menschen der Meinung sind, ihr Gewissen würde es ihnen nicht erlauben, ein bestimmtes Gesetz zu beachten (was etwa Militärdienst oder Arbeitstage angeht), ist es besser, dass sie ihrem Gewissen folgen, sagt Locke, dennoch werden sie die gesetzliche Buße entrichten müssen.11 Ein moderner Fall im Sinne Lockes, 1993 vom Obersten Gericht der USA entschieden, betraf eine von der Stadt Hialeah, Florida, erlassene Anordnung, die es für ungesetzlich erklärte, ein Tier „in einem öffentlichen oder privaten Ritual oder einer Zeremonie, die nicht für den wesentlichen Zweck des Nahrungsverzehrs“ bestimmt ist, zu töten.12 Anlass für das Gesetz war die weit verbreitete öffentliche Besorgnis wegen der rituellen Tierschlachtung durch Mitglieder der Santería-Re­li­ gion. (Da Santería-Anhänger kubanische Immigranten waren, wurde die religiöse Angst recht deutlich durch ethni­sche Vorurteile ausgelöst.) Hialeah sagte, Ziel des Gesetzes sei der Schutz der öffentlichen Gesundheit und die Verhinderung von Grausamkeit gegenüber Tieren. Richter Kennedy, der für das Oberste Gericht schrieb, und Richter Scalia, der sich zustimmend äußerte, wiesen diese Argumente im Fall Lukumi zurück. Auf jeden Fall war das Gesetz für den beabsichtigten Zweck wenig geeignet, weil nämlich die gleiche Art der Tiertötung und sogar noch schmerzvollere Arten im Fall der Nahrungsaufnahme erlaubt blieben. Das Oberste Gericht be­fand, dass die Anordnungen „abgefasst wurden, um wenige Tötungen zu verbieten, und zwar nur diejenigen, die durch religiöse Opfer bewirkt“ wurden. Also ist das Gesetz das Ergebnis einer „Feindseligkeit seitens der Regierung“, was „maskiert“ ebenso unzulässig ist, als wenn es offen geschähe. Das Gesetz wurde daher für ungültig erklärt. Dieser Fall ist nicht nur einer im Sinne Lockes; er steht bereits bei Locke selbst, der schrieb: „Aber in der Tat, wenn irgendwelche aus religiösen Gründen zusammengekommenen Leute den Wunsch haben sollten, ein Kalb zu opfern, so leugne ich, dass dies durchs Gesetz verboten werden könnte. Meliboeus, dem das Kalb gehört, kann sein Kalb mit gesetzlichem Rechte zu Hause schlachten und jeden Teil von ihm verbrennen, den er für passend hält. Denn dadurch wird niemandem Unrecht getan, noch anderer Gut beschädigt. Und aus demselben Grunde kann er sein Kalb auch auf einer religiösen Versammlung schlachten.“13 Ein ähnlicher Fall von besonderem und aktuellem Interesse betrifft muslimische Polizeibeamte in New Jersey. Polizisten in Newark war verboten worden, Bärte zu tragen, doch bei bestimmten Hautproblemen wurden Ausnahmen zugelassen. Zwei sunnitische Polizisten, Mustafa und Aziz, erhoben Einspruch und führten

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ihren religiösen Glauben an, der sie ver­pflichtete, sich den Bart wachsen zu lassen, und sie brachten Belege aus dem Koran bei, die ihre Position unterstützten. In einer Stellungnahme, verfasst von Richter Samuel Alito vom Obersten Gericht, als er Bundes-Berufungsrichter war, gewannen die beiden Polizisten ihren Fall, und zwar deshalb, weil bereits eine weltliche Ausnahme von dieser Verfügung zugelas­sen ­worden war.14 Dieser Fall, Fraternal Order of Police v. City of Newark [Brüderliche ­Polizeianordnung (ein Berufsverband US-amerikanischer Polizisten) gegen City of Newark], folgte dem Lukumi-Muster, doch Alito geht noch weiter in Richtung Minderheitenschutz, als Lukumi dies tat. Obwohl es keinen ausdrücklichen Beweis gab, dass die Polizeian­ord­nung diskriminierende ­Absichten hätte, wurde diese Absicht dennoch geschlussfolgert – ein­fach deshalb, weil eine weltliche Ausnahme bereits zugelassen worden war: „Wir schließen daraus, dass die Absicht der Behörde, medizinische Ausnahmen zuzulassen und gleichzeitig solche mit religiösem Charakter zu verbieten, hinreichend einer diskriminierenden Absicht verdächtig ist, um eine verstärkte Überprüfung auszulösen.“15 Die Tradition Lockes machte es Gerichten demnach möglich, verborgene Vorurteile zu demaskieren. Eine weitere Tradition ist mit Roger Williams verbunden, einem Philosophen aus dem 17. Jahrhundert und Begründer der Kolonie Rhode Island, dazu wortreicher Schriftsteller zur Religions­frei­heit. Sie besagt, dass der Schutz des Gewissens noch weitreichender sein müsse. Diese Tradition argumentiert nämlich, dass Gesetze in einer Demokratie immer durch Mehrheiten gemacht werden und also naturgemäß stets Vorstellungen verkörpern, die der Mehrheit dienlich sind. Das geht von der Wahl der Arbeitstage bis zum gesetzlichen Status verschiedener Drogen. Selbst wenn solche Gesetze nicht eine strafverfolgende Absicht haben, können sie sich gegenüber Min­derheiten als ungerecht erweisen. In Fällen, da solche Gesetze die Gewissensfreiheit bedrängen – wenn etwa von Menschen verlangt wird, an ihrem Feiertag vor Gericht zu bezeugen oder einen Militärdienst auszuüben, den ihre Religion verbietet, oder vom Ge­brauch von Drogen abzusehen, die für ihre heiligen Zeremonien nötig sind –, besagt diese Tradition, dass dem MinderheitenGläubigen eine bestimmte Ausnahme, Anpassung [accomodation] genannt, gewährt werden sollte. Jemanden zu ersuchen, eine Strafe zu zahlen, weil er seinem Gewissen gefolgt ist, heißt, diese Person wegen ihrer Zugehörigkeit zur Minder­ heiten-Religion zu bestrafen – ein schwerer Verstoß gegen die gleiche Achtung des Gewissens. Historisch betrachtet, unterscheidet sich Roger Williams’ Position der Anpassung von Locke noch auf eine weitere Art: Sie dehnte die religiöse Freiheit und

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(anscheinende) Anpassung auf Heiden und Ungläubige aus, die Williams als „AntiChristen“ bezeichnet. In seinem gebieterisch auftretenden Werk von 1644, The Bloudy Tenent of Persecution, schreibt Williams: „Es ist Wille und Gebot Gottes, dass (seit der Ankunft seines Sohnes, des Herrn Jesus) den meisten heidnischen, jüdischen, türkischen oder antichristlichen Überzeugungen und heiligen Zeremonien die Erlaubnis gegeben werde, allen Menschen und allen Nationen und Ländern.“ Daher schließt er auch Juden ein (die es in Rhode Island gab), Muslime (die es vermutlich nicht gab), heidnische amerikanische Urein­wohner, die im gewohnten Sinne keine Theisten waren, sowie Atheisten und Agnostiker, die vermutlich das sind, was er als Antichristen bezeichnete. Locke sagt, dass Ungläubige vom ­Geltungsbereich der Religionsfreiheit ausgeschlossen werden sollten, da man ihren Eiden nicht trauen könne. Williams aber betont, dass im politischen und gesell­ schaftlichen Leben die amerikanischen Ureinwohner sehr viel vertrauenswürdiger als der „Weiße Mann“ und ohnehin aller ethischen Tugenden fähig seien. Und er erweitert das noch um eine grundlegende Feststellung: Menschen ohne religiöse Prinzipien können ethische Tu­genden haben und vertrauenswürdige Bürger sein. Nicht alle Anhänger der Anpassungs-Theorie folgten Williams, doch seine Erweiterung des Geltungsbereichs religiöser Freiheit wird durch die gleiche Betrachtungsweise geleitet, die ihn überhaupt die Anpassung formulieren ließ: Gleiche Achtung des Gewissens bedeutet, dass die Freiheit so umfassend ist, dass sie mit öffentlicher Ordnung und Sicherheit vereinbar ist. Eine bestimmte Variante der Anpassungs-Position setzte sich allmählich in den Kolonien durch, als die Siedler darüber nachdachten, wie sie bei gegen­seitigem Respekt zusammenleben könnten. Die Siedler sahen sich einschlägigen Problemen gegenüber: Quäker weigerten sich, vor Gericht ihren Hut abzunehmen; Juden wollten keiner Zwangsvorladung folgen, die sie zwingen würde, am Sabbat auszusagen; Quäker und Menno­ niten verweigerten den Militärdienst. Roger ­W illiams meinte, die Position der Anpassung sei die einzig gerechte; andernfalls würde die Mehrheit für sich eine Freiheit beanspruchen, die viel umfassender wäre als die, die sie den anderen zuzugestehen bereit wäre. An die Gouverneure von Massachusetts und Connecticut, die eine etablierte Orthodoxie anord­ neten, schrieb er: „Ihr selbst täuscht Freiheit des Gewissens vor, doch ach, sie ist (der Große Gott selbst) nur für euch selbst.“ Zur Zeit der Unabhängigkeit ­sahen die meisten Staatsverfassungen vor, dass nur sehr dringende Fälle wie etwa Frieden und Sicherheit oder der Schutz der Rechte anderer ein möglicher Grund sein könnten, die persönliche Freiheit eines Menschen zu beschränken – die ­Position,

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die Williams in seinen vielen Schriften ver­teidigt hatte, obgleich sie im kolonialen Denken weitere Wurzeln hatte.16 Der Erste Zusatz zur US-Verfassung schützt die Religionsfreiheit auf eine ­Weise, die nicht ausdrücklich zwischen der Position der Anpassung und einer schwächeren Position Lockes unterscheidet: „Der Kongress soll kein Gesetz zur Gründung einer Religion noch zum Verbot der freien Ausübung derselben erlassen.“ Die Phrase „Verstoß gegen die Rechte des Gewissens“ erschien in einigen Entwürfen, wurde aber in der Schlussversion durch „Ver­bot der freien Ausübung [von Religion]“ ersetzt. Diese Veränderung zeigt klar, dass die Verfassungs-Urheber religiöse Taten wie auch Überzeugungen schützen wollten: „Rechte des Gewissens“ könnte sich nur auf Letztere beziehen, doch „Ausübung“ schließt auch Erstere mit ein. Wir sollten aber die Schlussfassung nicht in dem Sinne lesen, dass die Urheber ihre Betonung der Gleichheit abschwächten. Die Gleichheit in der frühen Fassung bezog sich auf Rechte. Hätte der Schlusstext „Verbot der gleichen und freien Ausübung von Religion“ gelautet, wäre das zu schwach gewesen. Ein Gesetz konnte alle Religionen gleich behindern, indem es etwa besagte: „In den Vereinigten Staaten ist keinerlei religiöse Praxis legal.“ Das würden wir sicher gerne verbieten. Das Fehlen des Wortes „gleich“ bedeutet nicht, dass Gleichheit nicht angestrebt wurde; es heißt nur, dass selbst gleiche Belastungen für das religiöse Gewissen verworfen werden. Der Wechsel von „Gewissen“ zu „Religion“ scheint zu beinhalten, dass Religion, vom rechtlichen Standpunkt aus gesehen, ein Sonderfall der Klausel zur freien Religionsausübung ist. Andere Formen, in denen das Gewissen involviert ist, erhalten keinen Schutz – zumindest nicht durch diese Klausel. Wie wir noch sehen werden, verleitet dieser Punkt manche Menschen dazu, sich einer erweiterten Lesart der Klausel zur freien Religionsausübung im Sinne der Anpassung entgegenzustellen – weil dies eine ohnehin schon störende Ungerechtigkeit gegenüber dem nicht-­ religiösen Gewissen verstärkte. Kurz nach der Unabhängigkeit veröffentlichte George Washington eine einflussreiche Feststellung bezüglich der Anpassung, und zwar in einem Brief, den er an die Quäker wegen ihrer Verweigerung des Militärdienstes schrieb: „Die Freiheit, derer die Menschen jener Staaten sich erfreuen, den allmächtigen Gott ganz entsprechend ihrem Gewissen zu verehren, gehört nicht nur zu den Segnungen, derer sie teilhaftig werden, sondern auch zu ihren Rechten. Eure Grundsätze und euer Verhalten sind mir wohlbekannt, und es heißt den Menschen, die man Quäker nennt, nichts als Gerechtigkeit widerfahren zu lassen, wenn man sagt, dass (außer ihrer Neigung, mit anderen die Bürde der gemeinsamen

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Verteidigung zu tragen) es keine Glaubensgemeinschaft unter uns gibt, die beispielhaftere und nützlichere Bürger aufwiese. Ich versichere euch sehr ausdrücklich, dass meiner Meinung nach die Gewissens-Skrupel aller Menschen mit größter Behutsamkeit und Zartheit behandelt werden sollten; und es ist mein Wunsch und Begehren, dass die Gesetze ihnen stets so weitgehend angepasst werden sollten, wie es der Schutz und die wesentlichen Interessen der Nation rechtfertigen und gestatten mögen.“17 Locke hätte den Quäkern wohl gesagt, dass sie besser ihrem Gewissen gehorchten, doch als Ergebnis dessen würden sie Strafe zahlen oder ins Gefängnis gehen müssen. Washington aber geht das Thema ganz anders an. Er übernimmt den Grundsatz, dass die Freiheit immer so weit gefasst sein solle, wie es mit den wesentlichen Interessen der Nation vereinbar ist. Die „Gewissens-Skrupel“ aller Menschen sollten mit „großer Behutsamkeit und Zartheit“ behandelt werden, was er dahingehend auslegt, dass das Gesetz den Skrupeln „so weitgehend angepasst“ werden sollte, wie es mit gewichtigen und höheren Interessen vereinbar ist. Schon vor der Unabhängigkeit entwickelte sich die Politik in Richtung der ­Anpassung. (Zum Beispiel hatte man verstanden, dass Juden, Quäker und Mennoniten ihre Hüte vor Gericht nicht abnehmen würden, und die Menschen achteten dies, behielten dabei aber die Politik des Hut-Abnehmens generell bei.) Direkt nach dem Unabhängigkeits-Krieg machte Washington ein größeres Zugeständnis, als er zugestand, religiöse Minder­hei­ten von der allgemeinen Politik des Militärdienstes auszunehmen. Frühe Gerichtsfälle folg­ten diesem Beispiel. So focht 1793 Jonas Phillips, ein Jude, die Notwendigkeit an, am Sabbat vor Gericht auszusagen. 1813 wurde einem katholischen Priester, Pater Kohlmann, gestattet, die Antwort auf Fragen zu verweigern, als er als Zeuge bei einem Kriminalfall unter Eid stand, da er sagte, dass die Information (über die Identität der Person, die ihm die ­gestohlenen Gü­­ter zurückgebracht hatte) ihm während der Beichte zugetragen worden war.18 In letzterem Fall verstand der Richter, ein Protestant, dass, würde es das Gesetz verlangen, das Beichtgeheimnis zu verletzen (oder wegen Missachtung des Gerichts ins Gefängnis zu gehen, wenn man das abgelehnt hätte), dies Pater Kohlmann eine sehr schwere Belastung auferlegen und im Effekt das Sakrament der Beichte abschaffen würde: „Daher darf nicht auch nur für einen Moment angenommen werden, dass die milden und gerechten Grundsätze des Gesetzes den Zeugen in eine so schreckliche Zwickmühle, ein so fürchterliches Dilemma zwischen Meineid und falschem Schwur bringen sollten. Sagt er die Wahrheit, verletzt er seinen kirchlichen Eid –

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verdreht er die Tatsachen, verletzt er den juristischen Eid. Ob er nun lügt oder die Wahrheit bezeugt – immer ist er schlecht, und er kann unmöglich handeln, ohne gegen die Gesetze der Rechtschaffenheit und das Licht des Gewissens zu verstoßen. Das Gericht kann daher nur erklären, dass er weder bezeugen noch überhaupt ­handeln muss.“ Viele Jahre lang begriff man die Regelungen der Klausel der freien Religionsausübung nur für Fälle der Bundesregierung als bindend, und erst 1940 wurden sie ausdrücklich „aufgenommen“: Sie waren auch für Fälle der bundesstaatlichen und örtlichen Regierungen anzuwenden.19 Seit diesem Zeitpunkt kamen immer mehr Minderheiten-Forderungen nach Anpassung auf. Lange nach der „Aufnahme“ setzte der Oberste Gerichtshof hier einen Standard fest, der besagte, dass die Regierung der „freien Religionsausübung“ eines Menschen keine „substantielle Belastung“ auferlegen dürfe, ohne dass ein „zwingendes staatliches Interesse“ vorläge (Frieden und Sicherheit sind hierfür Beispiele, wenn auch nicht die einzigen). Der bahnbrechende Fall, der diesen Grundsatz formulierte, war Sherbert gegen Verner und betraf eine Frau, die eine Siebenten-Tags-Adventistin war und deren Arbeitgeber einen sechsten Ar­beitstag einführte, den Samstag. Sie wurde entlassen, weil sie sich weigerte, an diesem [Sabbat-]Tag zu arbeiten, und suchte beim Staat Carolina um Arbeitslosenunterstützung nach. Das wurde abgelehnt, weil sie „angemessene Arbeit“ verweigert habe.20 Der Oberste Gerichtshof der USA urteilte aber zu ihren Gunsten und sagte, die Verweigerung der Unterstützung für Mrs. Sherbert sei wie eine Strafe für ihre unübliche Handlungsweise. Das sei zugleich die Leug­nung ihrer Freiheit, sich nach eigenem Ermessen religiös zu verhalten. Im Prinzip war nichts Falsches dabei, den Sonntag als generellen Ruhetag zu wählen, doch es war falsch, Mrs. Sherberts besonderen religiösen Bedürfnissen nicht entgegenzukommen. Für die Befürworter der Anpassung (wie auch für die Anhänger Lockes) ist das Gewissen des Einzelnen die relevante Instanz. Wenn also jemand eine unübliche Auslegung seiner oder ihrer Religion hat, ist die Feststellung unerheblich, dass die Mehrheit der Mit­glieder jener Religion dem nicht zustimmen. Doch in der Praxis verhilft es zum Erfolg, und die gemeinsam geteilten Ansichten einer Gruppe unterstützen das. Obwohl z. B. denjenigen, die den Militärdienst verweigert haben, Ausnahmen gewährt wurden, ohne dass sie Mit­glieder etwa der Quäker oder Mennoniten waren, ist die Beweislast hoch: Die Betreffenden müssen eine ausführliche Darstellung ihrer Überzeugungen beibringen, was wiederum den Wortgewandten und Gebildeten ungerechte Vorteile verschafft.21 Dennoch ist die Theo­rie wichtig für Religionen wie den Islam. Sie formuliert verschiedene Ansichten bezüglich

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­ essen, was gefordert wird, und der Geist dieser Theorie ist bestechend: Wenn d ­jemand ernsthaft glaubt, dass das Tragen einer Burka notwendig oder das Töten im Kriege moralisch verboten ist, hilft es wenig darauf hinzuweisen, dass viele NichtReligiöse dem nicht zustimmen. Der Standard der Anpassung kann von den Richtern kaum festgelegt werden, und nur wenige Kläger haben ihre Fälle vor dem Obersten Gericht der USA nach Sherbert gewon­nen. Das Gericht befand meist, dass die Belastung der Freiheit nicht „substantiell“ sei oder es andererseits tatsächlich ein „zwingendes staatliches Interesse“ gebe. Ein wichtiger Fall, in dem die Kläger siegten, war Wisconsin gegen Yoder, worin Mitglieder der Amischen der Alten Ordnung das Recht erstritten, ihre Kinder von den beiden letzten Pflichtschuljahren freistellen zu lassen, damit sie gemeinschaftliche Farmarbeit und andere Aktivitäten ausführen könnten, die nach Ansicht der Kläger wesentlich für die Kontinuität ihrer Religion seien.22 Nicht zu vergessen ist: Das Anpassungs-Prinzip lag all jenen Fällen zugrunde, die es bis zum Obersten Gericht geschafft hatten. Oft siegten Kläger in einer niedrigeren Instanz, und der Fall wurde nicht in die Berufung gegeben. Daher kann man nicht sagen (was viele tun), dass die letztgenannte Position nie besonders stark gewesen sei.23 Doch das bleibt kontrovers. 1990 erfuhr diese Ausrichtung einen größeren Rückschlag im Fall Employment Division gegen Smith, und das US-Gesetz kehrte zum Teil auf die lockesche Position zurück.24 Der Fall gehört zu unserem Thema der religiösen Angst, weil sein Gegenstand die Benutzung von Dro­gen war; ein Thema, bei dem Amerikaner sehr schnell Angst bekommen. Al Smith, amerikanischer Ureinwohner, war ein trockener Alkoholiker, der für mehrere Gruppen und zudem mit beträchtlichem Erfolg als Alkohol- und Drogenhelfer in seinem Heimatstaat Oregon arbeitete. Er kam zu der Überzeugung, dass die Teilnahme an einer indigen-amerikanischen Religion der Schlüssel zu seiner eigenen geistlichen Entwicklung und seiner fortschreitenden Heilung war, und er meinte, dass dies auch für andere Ureinwohner hilfreich sein könne, die mit dem Alko­holismus kämpften. Seine Kirche benutzt bei ihren heiligen Ritualen die Droge aus dem Peyote-Kaktus und nimmt damit traditionelle amerikanische Urein­wohner-Zeremonien auf, deren Wurzeln mehrere tausend Jahre zurückreichen. Peyote ist ein Halluzinogen, doch Teilnehmer, die es während der Zeremonie einnahmen, beschrieben die Wirkung als sehr mild; sie führe zu erhöhter Konzentration. Smith hielt sich zunächst zurück, weil die Philosophie der Ano­ nymen Alkoholiker (AA) die Benutzung jeglicher be­wusst­seinsverändernder Drogen verbietet. Doch schließlich probierte er seit den 1970er Jahren den Stoff bei mehreren Gelegenheiten und befand, das würde ihn nicht wieder dem Alkohol in die

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Arme treiben. Vielmehr sagte er, dass er durch die Einnahme ein klügerer und besserer Mensch geworden sei. 1982 erhielt er eine neue Stelle als Berater in einem Programm in Douglas County und galt dort als herausragende Berater. Obwohl er weiterhin ab und zu Peyote während des Rituals einnahm, sprach er bei der Arbeit nie davon – bis ein neuer Kollege sich Smith bei der Zeremonie anschloss und begeistert von seiner Erfahrung sprach. Beide Männer wurden entlas­sen. Der Staat Oregon verweigerte Smith Arbeitslosenunterstützung, weil er „absichtlich die Verhaltensnorm verletzt“ habe, die „ein Arbeitgeber von seinem Angestellten zu Recht erwarten“ könne. Peyote war damals nach dem Gesetz in Oregon illegal. Smith und der andere Angestellte zogen vor Gericht. Letztlich verloren sie vor dem Obersten Gericht. Auch wenn eine unterstützende Äußerung, von Oberrichter O’Connor verfasst, dem Sherbert-Standard zugrunde liegt und zu dem Schluss kommt, dass der Staat der Aufgabe entsprochen hat, ein „zwingendes staatliches Interesse“ aufzuzeigen, verkündete die Mehrheitsentscheidung, verfasst von Richter Scalia, dass der Standard, der zukünftig anzulegen sei (auch in der Vergangenheit, laut einer höchst um­strittenen Lesart der Präzedenz­ fälle), derjenige Lockes sei. Die Frage drängt sich auf, ob das Gesetz ein neutrales ist mit „allgemeiner Anwendbarkeit“. Wenn ja, gibt es kein verfas­sungsmäßiges Recht auf Ausnahmen. Die Regierung darf den Vollzug einer physischen Hand­lung nicht verbieten, die generell legal ist, sofern diese Handlung aus religiösen Gründen durchgeführt wird (und hier gibt Scalia einige Beispiele Lockes sowie weitere der gleichen Art): Doch die Tatsache, dass die Motive einiger Menschen, einem allgemein anwendbaren Gesetz zu widersprechen, religiöser Natur sind, nimmt sie nicht von dessen Befolgung aus. Scalia schließt daraus, dass ein System juristisch begründeter Ausnahmen gleichbedeutend sei mit „blühender Anarchie“. Der Fall Smith wirft zwei voneinander unabhängige Fragen auf: Was ist der beste Rechtsstandard? Und wer sollte ihn vollstrecken? Man muss dabei sehen, dass Scalias Meinung sich nicht unmittelbar in dem Sinne auf die erste Frage bezieht, dass dieser Richter bereit ist, eine Anpassung zu unterstützen, die die gesetzgebende Mehrheit passiert hat. Tatsächlich ist er ja bereit, solche Anpassungen richterlich zu verfügen, wenn der Staat bereits über ein Programm individueller Ausnahmen verfügt, wie im Fall der Arbeitslosigkeit: Wenn in derartigen Fällen die Ausnahme aus religiösen Gründen nicht gewährt wird, sieht das nach Verfolgung aus und wird zu einem lockeschen Typus des Verstoßes. Scalia fokussiert sich auf die zweite Frage, und seine wesentliche Klage bezüglich der Anpassung ist die, dass Richter nicht

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kompetent sind, ein offenes System einzelner Ausnahmen von allgemein anzuwen­ denden Gesetzen zu handhaben. Er sieht ein solches System als „blühende Anarchie“ an, weil es die Herrschaft des Gesetzes unterminiert. Andererseits spricht er die erste Frage indirekt an, indem er leugnet, dass Kläger ein verfassungs­mäßiges Recht auf Anpassung hätten. Ihr Gesuch um Anpassung hängt nun von der Laune der gesetzgebenden Mehrheit ab. Und tatsächlich betont er genau diesen Punkt: Den Schutz der religiösen Praktiken von Min­der­heiten dem politischen Prozess zu überlassen wird „jene religiösen Praktiken relativ nach­teilig behandeln, die nicht weit verbreitet sind. Doch diese unvermeidliche Konsequenz einer demokratischen Herrschaftsform muss einem System vorgezogen werden, worin ein jedes Gewissen ein Gesetz für sich ist und in welchem die Richter die gesellschaftliche Bedeutung aller Gesetze gegen die zentrale Bedeutung aller religiösen Überzeugungen ab­wä­gen.“ So kommt Scalia zu dem Schluss, dass der beste Rechtsstandard der lockesche ist, der mit der Ordnung und Herrschaft des Gesetzes in einer Weise vereinbar ist, in welcher der Standard der Anpassung („jedes Gewissen ist ein Gesetz für sich“) es nicht ist. Wo gesetzgebende Mehrheiten eine ­Anpassung befürworten, wird diese zum Gesetz, und die ordnungsgemäße Herrschaft des Gesetzes ist nicht bedroht. Im Widerspruch dazu bekräftigen die Richter Blackmun, Brennan und Marshall die Anpassung im Fall Sherbert und streiten vehement ab, dass Minderheitenfreiheiten notwendigerweise in Mehrheitsdemokratien gefährdet seien. „Ich glaube nicht, dass die Verfassungsväter ihre teuer erkaufte Freiheit von religiöser Verfolgung für einen Luxus hielten, sondern für ein wesentliches Element der Freiheit – und sie waren nicht der Meinung, dass religiöse Into­leranz unvermeidbar sei, denn genau deshalb entwarfen sie ja die Religions-Klauseln, um diese Intoleranz auszuschließen.“25 Hier sehen wir den eigentlichen Un­terschied zwischen den Befürwortern der Anpassung und denen Lockes: Erstere be­kräftigen als Grundrecht, was Letztere als Privileg begreifen, welches durch den politischen Prozess verhandelt werden muss. Der Fall Smith erregte beträchtliche öffentliche Empörung.26 Religiöse Gruppen unterschiedlichster Art, liberale und konservative, christliche, jüdische und säkulare protestierten gegen die veränderte Ausrichtung, die sich abzeichnete. 1993 verabschiedete der Kongress mit überwältigender Mehrheit sowohl im Repräsentantenhaus wie dem Senat den Religious Freedom Restoration Act, RFRA [Verordnung zur Wiederherstellung der religiösen Freiheit], der den Schutz-Standard des Falles Sherbert durch Gesetzgebung in Kraft setzte. Präsident Clinton unterzeich-

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nete den Entwurf, wodurch er Gesetz wurde. Weil das Gesetz ein vorsätz­liches Ausweichmanöver um den Fall Smith war, war das Gericht verständlicherweise nicht begeistert. 1997 erklärte das Oberste Gericht im Fall City of Boerne gegen ­Flores den RFRA als ver­fassungswidrig, sofern er auf die einzelnen Bundesstaaten angewandt würde, und urteilte, er übersteige die Macht des Kongresses.27 Der RFRA bleibt aber verfassungskonform, wenn er auf Verord­nun­gen der Bundesregierung angewandt wird. Und ein späteres Gesetz, der Religious Land Use and Insti­ tutionalized Persons Act (RLUIPA) [Verordnung zur Verwendung religiösen Grund und Bodens und institutionalisierter Personen] vom Jahre 2000 legte einen noch besser schützenden Standard für Bereiche fest, die nicht nur Bundesregeln zur ­Bodennutzung, sondern auch Insassen in Gefängnissen oder Heilanstalten umfassten. In der Zwischenzeit haben viele Bundesstaaten RFRA-ähnliche Vorkehrungen in ihre Verfassungen eingebaut oder ihre Verfassungen so ausgelegt, dass sie einen RFRA-ähnlichen Standard haben.28 Vier Fälle des Obersten Gerichts markieren also die Umrisse der vergangenen Debatte. Die ersten beiden bedeutenden sind Lukumi sowie Fraternal Order of ­Police [Brüderliche Polizeianordnung], die, wie wir sahen, nach dem Fall Smith der lockeschen Linie folgen (und in der Tat Richter Scalias Verständnis des lockeschen Rahmens formulieren), aber immer noch die Neutralität großzügig auslegen, damit keine diskriminierende Unterscheidung von religiöser und säkularer Praxis entsteht. Der nächste (Gefängnis-)Fall rangiert unter RLUIPA-Richtlinien (und stützt deren Verfassungsmäßigkeit): Es ist der Fall Cutter gegen Wilkinson, eine unzweideutige Entscheidung zum Schutz der Rechte von Gefangenen aus einer MinderheitenReligion in Bezug auf Nahrung und religiöse Ausstattung (etwa Hanukka-Kerzen), die zur Ausübung ihrer Religion notwendig sind und dem entsprachen, was bereits christlichen Gefangenen zugestanden wurde (was keine zusätzlichen Bedenken um Frieden oder Sicherheit auslöste).29 RLUIPA wurde aus Gründen der GründungsKlausel angefochten, weil es der Religion besondere Vorteile erwiese, doch das ­Gericht gab eine sehr gute Antwort im Sinne der Anpassung: Weil das Handeln der Re­ gierung Bedingungen geschaffen hat, die Minderheiten benachteiligen und Mehr­heiten begünstigen, muss die Korrektur, welche die Gleichheit wieder herstellt, in Angriff genommen werden. Schließlich ist da noch der Fall Gonzales gegen O Centro Espírita Beneficente União Do Vegetal, der Fall einer kleinen brasilianischen Sekte, der sich im Jahr 2006 zutrug. Diese Sekte verwendet bei ihren heiligen Ritualen ein Halluzinogen namens Hoasca. Zu diesem Zeitpunkt war als Reaktion auf den politischen Einfluss

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amerikanischer Ureinwohner-Gruppen der Gebrauch von Peyote vom Kongress bereits legalisiert worden, was den Controlled Substances Act [Verordnung zur Kontrolle von Substanzen] revidierte. Doch die brasi­li­anische Sekte hatte nur rund 130 Mitglieder und keinen politischen Einfluss, weshalb sich die Mitglieder an die Gerichte wandten und an den RFRA appellierten, der noch in Kraft war und auf Vorordnungen der Bundesregierung angewandt wurde. In einer einstimmigen Entscheidung gewährte das Oberste Gericht die Forderung der Gruppe nach einer Ausnahme, entsprechend jener, die der Kongress den amerikanischen Ureinwohnern gewährt hatte. Richter Roberts wies den Anspruch der Regierung zurück, wonach es ein zwin­gendes staatliches Interesse gebe, das die Verweigerung der Anpassung rechtfertigen würde. Die Ausnahme, so der Richter, entspricht der, die der größeren Gruppe gewährt wur­de, und es gibt keine Beweise, die eine Gesundheitsgefährdung durch den lediglich sakra­men­­talen Gebrauch der Droge belegen. Was die Frage betrifft, ob Gerichte kompetent sind, Anpassungen zu autorisieren, heißt es: „RFRA … sieht vor, dass Gerichte Ausnahmen anerkennen – das heißt, wie das Gesetz wirkt [hier werden Gesetzesvorschriften zitiert] … Die Rolle des Kongresses bei der Ausnahme von Peyote – und die Rolle der Exekutive – bestätigen, dass die Resultate des Controlled Substances Act Ausnahmen nicht insgesamt ausschließen. RFRA verdeutlicht, dass es den Gerichten obliegt festzustellen, ob Ausnahmen notwendig sind.“ Dies ist klassische Reflexion zur Anpassung. Es wurde kein Beweis für eine feindselige Haltung angeführt, und es hätte auch keinen plausiblen gegeben. Die brasilianische Sekte war nicht unpopulär, sondern nur weitgehend unbekannt. Das Gesetz, auf amerikanische Ureinwoh­ner angewandt und nicht auf Brasilianer, war stumpf und nicht wirklich strafverfolgend. Aber es zeigte das generelle Problem: In einer Demokratie erhalten größere Gruppen eine bessere Behandlung. Oberrichter Roberts besteht darauf, dass eine Rolle der Gerichte darin besteht, hier ein Gleichgewicht und damit die Gleichheit wiederherzustellen. Wie sollen wir nun diese beiden Traditionen im Hinblick auf unsere Grund­ sätze der gleichen Ach­tung für das Gewissen und dessen Verletzlichkeit bewerten? Als Erstes sollten wir festhalten, dass die beiden Grundsätze nicht wirklich Gegensätze sind: Sie unterscheiden sich eher graduell, nicht in ihren höchsten Werten. Beide Traditionen befassen sich mit weitgehen­der und gleicher Freiheit. Lockes Sorge um die Gleichheit manifestiert sich in seinem Wi­derwillen, strafverfol­ gende Gesetze zuzulassen. Und selbst solche Gesetze wie die Regu­lierung, welche

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­ uslim-Bärte verbot, verraten eine wahrscheinlich unbewusste Verfolgungs-AbM sicht, und zwar durch die unreflektierte Bereitschaft, säkulare, aber keine religiösen Ausnahmen zuzulassen. Erkennen wir aber erst einmal, dass Strafverfolgung eher das Er­gebnis mangelnder Reflexion als vorsätzlich ist, bewegen wir uns bereits auf dem Terrain der Befürworter der Anpassung. Somit war die Polizei-Politik, die den Muslimen diese An­passung verwehrte, nicht mit dem Gedanken an muslimische Belange verfasst worden, und die Ausnahme für Hautkrankheiten war nicht implizit eine Verleugnung einer religiösen Ausnahme, worüber sehr wahrscheinlich auch kein Mensch nachgedacht hat. Damit ist diese Politik sehr viel weniger strafver­ folgend als die Hialeah-Anordnung zum rituellen Schlachten. Von hier ist es nur ein kleiner Schritt zu den Drogengesetzen, die eine Droge (Alkohol), von der Mehr­heit benutzt, ausnehmen (und deren ritueller Gebrauch selbst während der Prohibition legal blieb), während eine andere Droge (Peyote), von einer Minderheit benutzt, nicht vom Verbot ausgenommen wurde. Vermutlich wurden die OregonDrogengesetze nicht im Hinblick auf religiöse Belange verfasst, und eine böse ­Absicht kann nicht davon abgeleitet werden, dass sie den sakramentalen Gebrauch von Peyote nicht zur Ausnahme erklärten. (Tatsächlich le­galisierte der US-Kongress prompt nach dem Fall Smith diesen sakramentalen Gebrauch, und zwar durch einen Zusatz zum Controlled Substances Act.) Auch werden Gesetze zu Werkta­gen nicht gemacht, um Minderheiten zu bestrafen; sie werden gemacht, weil sie nützlich sind. Doch die Mehrheit legt eine gewisse Behäbigkeit an den Tag, wie dieser Nutzen erreicht werden könnte, und diese Behäbigkeit verhält sich nachteilig gegenüber den Belangen von Minderheiten. Das galt für die muslimischen Polizisten, und es galt für Mrs. Sherbert und Al Smith. Der Unterschied demnach zwischen den ­Fällen einerseits, wo Richter Scalia und seine Mit-Anhänger Lockes bereit sind, ein Gesetz oder eine Politik als nicht neutral zu verwerfen, und andererseits den Fällen tatsächlich zugestandener Anpassung ist nicht ausgeprägt oder prinzipiell. Die F ­ älle bilden vielmehr ein Kontinuum. Wir fügen dem noch die Tatsache hinzu, dass sogar Richter Scalia juristische Ausnahmen billigt, wo es um ein System individueller Ausnahmen geht (wie bei Sherbert), und da schloss er sich sogar einem einstimmigen Gerichtsbeschluss bei Gonzales gegen O Centro Espírita an – wodurch er die Gerechtigkeit zwischen großen und kleinen Minderheiten wiederherstellte, indem der kleineren Minorität eine juristische Ausnahme gewährt wird, die derjenigen entspricht, die der größeren Minorität bereits gewährt worden war. Die beiden ­genannten Traditio­nen scheinen sich mehr in der Anzahl solcher Ausnahmen zu unterscheiden, die sie gutheiß­en, als in ihrem Typus oder ihrer Grundlage. Verglei-

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chen wir nun die Vereinigten Staaten mit Europa, dann sieht man deutlich, dass sich innerhalb dieser kleinen Differenz die US-Kontroverse abspielt, während europäische Ansätze oft sogar noch die schwächere Position Lockes missachten. Wir brauchen hier wohl nicht in die Einzelheiten dieser Debatte einzutauchen – was allerdings aufschlussreich wäre, weil es zeigt, wie sich die amerikanische Argumentationsweise entwickelt hat und was sie für wesentlich erachtet hat. Können wir dennoch behaupten, dass eine der genannten Traditionen die Vorstellung der gleichen Achtung besser erfasst als die andere? Ich persönlich glaube, dass das Prinzip der Anpassung demjenigen Lockes überlegen ist, weil es subtile Formen der Dis­kriminierung anspricht, die in einer Demokratie überall anzutreffen sind. Alle Gesellschaften treffen ihre Wahl, was Feiertage, Arbeitstage, Drogenund Alkohol-Beschränkungen und weitere Punkte angeht, die die Religion betreffen. Die Wahl einer Mehrheit wird gewöhnlich durch gewisse Schlussfolgerungen unterstützt. Damit würde sie eine Überprüfung im Sinne der „vernünftigen Grundlage“ bestehen, wohl kaum aber die um „zwin­gende staatliche Interessen“. Die Mehrheitswahl ist womöglich ungerecht gegenüber Minderheiten und lässt ihre Freiheit zu einer ungleichen werden. Der Minderheit Anpassungen gemäß ihrem Gewissen zu gewähren – vom Arbeitsleben über den Militärdienst bis zu sakramentalem Alkohol- oder Drogenkonsum – bedeutet dagegen, das gleiche Maß an ­Freiheit wieder herzustellen. Anpassung hat aber ihre Probleme. Richter Scalia hat auf eines hingewiesen: Ein System, das auf individuellen Ausnahmen beruht, kann von Richtern nur schwer gehandhabt werden. Ausnahmen von allgemein gültigen Gesetzen auf Grundlage einer Entscheidung von Fall zu Fall sind laut Scalia zu chaotisch und jenseits der Kompetenz der Rechtsprechung. Obwohl Scalia dachte, Anpassung mittels Gesetzgebung sei statthaft – wie etwa die Veränderung unseres Controlled Substances Act den sakramentalen Einsatz von Peyote legalisierte –, stand er doch der juristischen Gewährung solcher Ausnahmen ablehnend gegenüber; es sei denn, ein System individueller Ausnahmen (wie im Fall Sherbert) wäre bereits aktiv. Scalias Besorgnis um Anarchie können wir diejenige um Gerechtigkeit hinzufügen: In ­einem System ju­ristischer Anpassungen werden Minderheiten soweit die Oberhand erlangen, als sie willens und in der Lage sind, das Gesetzessystem zu ihrem Vorteil zu gebrauchen. Die Bereitschaft der ACLU [American Civil Liberties ­Union], vielen Klägern religiöser Minderheiten gesetzliche Hilfe zu bieten, macht diese ­Sorge wohl geringer, bringt sie aber nicht vollständig zum Ver­schwinden. Und Richter mögen qua Temperament oder Erziehung mehr den Standpunkten der

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Mehrheit als denen der Minderheit zuneigen. Die Schwierigkeit, die das Oberste Gericht mit dem Verständnis der Ansprüche amerikanischer Ureinwohner-Reli­ gionen hatte, ver­deutlicht dieses Problem. Ein weiteres Problem der Anpassung besteht darin, dass sie Religion meist ­begünstigt, andere Gründe aber benachteiligt, die die Menschen um Ausnahmen vom Gesetz nachsuchen ließen – familiäre Gründe, solche des persönlichen Engagements für Kunst oder der persönlichen Ethik. Bis zu einem gewissen Ausmaß können diese Themen von anderen Gesetzesfeldern abgedeckt werden – etwa durch ein weitgefasstes Prinzip der Redefreiheit und Gesetze, die die Familienfreistellung gewähren. Doch nicht alle Probleme können damit abgedeckt werden. Die Menschen mögen mit guten Gründen ethische Überzeugungen haben, die nicht der Definition von Religion entsprechen, wenn sie den Militärdienst verweigern. Sie beanspruchen vielleicht auch den Drogenkonsum aus Gründen der persönlichen Aufklärung. Ist es ihnen gegenüber nicht ungerecht und zugleich eine Belastung für nicht-religiöse ethische Lebensansichten, ihr Ersuchen um Anpassung des Gesetzes ungleichwertig zu behandeln? Manche Wissenschaftler sind der Meinung, dies sei ein hinreichender Grund, allen Gruppen die Anpassung zu verweigern, weshalb sie zur lockeschen Position zurückkehren: Wenn das System der Anpassungen nicht allen gegenüber gerecht gestaltet werden kann, sollte es lieber gar nicht existieren.30 Damit kehren sie zu einer Position zurück, die sowohl weniger weit gefasst ist als auch zu wenig Gleichheit in Bezug auf religiöse Freiheit gewährt, doch aus Gründen, die ihrerseits nicht ohne Vorzüge sind. Andere Wissenschaftler suchen nach einer umfassende­ ren ­Definition von „Gewissen“ , die auch viele Fälle nicht-religiöser Gewissensentschei­ dun­gen beträfe.31 Das Oberste Gericht hat sich während des Vietnamkrieges in zwei Einberufungs-Fällen in diese Richtung bewegt, in denen es die Kriegsdienstverweigerung zweier Kläger unterstützte, die im konventionellen Sinn nicht religiös waren.32 Noch andere ziehen einen gemischten Standard vor: eine weitgefasste Gewissens-Definition für Kriegsdienstver­wei­gerer, eine traditionellere Grenze für senschaftlerDrogengesetze im Fall der Religion.33 Ein Faktor, der diese Wis­ Gruppe beeinflusst hat: Als Angehöriger einer pazifistischen Religion zum Töten aufgefordert zu werden ist eine besonders schwere und schlimme Belastung. Die Möglichkeit zum Drogenkonsum verwehrt zu erhalten scheint dagegen weniger schlimm; es ist ein Entzug an per­sönlicher Aufklärung, aber keine Aufforderung, etwas Falsches zu tun. Für eine gemischte Vor­ge­hensweise spricht auch, dass sie leichter gehandhabt werden kann. Solange es Kriegsdienst­ verweigerern nicht

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g­ estattet ist, gegen diesen oder jenen Krieg Einspruch zu erheben, sie selbst vielmehr durchgängig pazifistisch sein müssen, scheint ein System der individuellen Ausnah­men handhabbar zu sein. Ein ähnliches System für Drogengesetze wäre tatsächlich eine „blühende Anarchie“ und dürfte sich mit einer sinnstiftenden Durchsetzung kaum vertragen. Hält man Drogengesetze von vornherein für eine gute Idee, wird man nicht ge­neigt sein, hier Anpassungen zu favorisieren, abgesehen von wenigen Fällen des religiösen Gebrauchs mit klarem religiösem Hintergrund. Kurz, es gibt gute Argumente auf beiden Seiten: Die Position von Roger ­Williams hat bis­lang nicht gezeigt, dass sie die lockesche schlagen kann. Der g­ egenwärtige Stand der Dinge in den USA, wo die RFRA für Bundes- und für manche StaatenFälle gilt – wenn auch mit genug Raum für legislative Anpassungen –, spiegelt die Komplexität des Themas und die Schwierigkeit der Wahl wider, die diese beiden ­Positionen darstellen. Er zeigt aber auch den schmalen Graben, der gegenwärtig die beiden Positionen trennt, was ihre Umsetzung wie auch das Ausmaß angeht, in dem sie auf die Bedürfnisse der Men­schen nach gleichem Respekt eingehen. Wie wir noch sehen werden, brauchen wir diese Frage nicht definitiv zu lösen, weil neuere Fälle aus Europa allesamt auch benachteiligende Gesetze zum Gegenstand haben, die selbst den schwächeren Locke-Test nicht bestünden – auch wenn sich dies im Falle des französischen Säkularismus erst nach einiger Zeit zeigen wird.

Gegenwärtige Themen: Unparteilichkeit, Staats-Interessen In der gegenwärtigen Welt brauchen wir eine Politik, die den Einsichten folgt, die sich aus den oben genannten Prinzipen ergeben und das gleiche Maß an Respekt für alle Bürger zeigt, indem für eine weitgefasste und gleiche Freiheit gesorgt wird, für die größte Freiheit, die mit der gleichen Freiheit für alle und der Bewahrung unverzichtbarer öffentlicher Interessen harmoniert (z. B. Frieden und Sicherheit). Wir haben ernsthafte Anfragen, ob eine Religion um eines besonderen Schutzes willen ausgesondert werden sollte, wie es das Prinzip der Anpassung vorsieht. Und das Bemühen um Ausgeglichenheit zwischen Atheisten und Sä­kularen ist ein gewichtiges Argument, die lockesche Politik zu bevorzugen. Das US-Gesetz bewahrt unter der Gründungs-Klausel zumindest Unparteilichkeit, was dahingehend interpretiert worden ist, dass der Staat nicht nur keine Religion vor anderen bevorzugen darf, sondern auch nicht Religion vor Nichtreligion, oder Nichtreligion vor Reli­ gion. So wurde die Vorgehensweise an der Universität von Virginia, die Studien­

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gebühren benutzte, um eine ganze Reihe studentischer Aktivitäten und Klubs zu subventionieren, einschließlich politischer, Umwelt- und anderer Organisationen, dabei aber keine religiösen Gruppen bezuschussen wollte, für verfassungswidrig ­erklärt.34 Bevorzugen wir eine Anpassungs-Auslegung der Klausel zur frei­en Religionsausübung, sollten wir die Gründungs-Klausel wegen diesbe­züglicher Ausgeglichenheit wählen und so sicherstellen, dass Religion und Nichtreligion auf jeden Fall gleich behandelt werden. Ein weiteres Problem für die Anhänger der Anpassung besteht darin, eine schlüssige Darstellung des schwer fassbaren Begriffs des „zwingenden staatlichen Interes­ses“ zu liefern. Frieden und Sicherheit sind zwei kanonische Interessen, die schon vor der Unabhängigkeit anerkannt waren, doch auch sie bedürfen einer präziseren Abgrenzung: Wie dringend muss die Bedrohung von Frieden und ­ ­Sicherheit sein, welche Art von Sicherheit ist sach­dienlich? Die Menschen fühlen sich leicht von anderen bedroht, die sie nicht kennen. Das ist durchaus ein grund­ legendes Problem des gesellschaftlichen und politischen Le­bens. Welcher Beweis für ­Gefahr muss also präsentiert werden, ehe wir entscheiden, welche Gefahr groß genug ist, dass sie eine Beschneidung der Freiheit rechtfertigt? Da wir unsere ­Fehlbarkeit kennen, sollten wir die Hürde sehr hoch legen. Welche weiteren öffentlichen Interessen gelten noch als zwingend? Die USRechtsprechung hat unter der Klausel zur freien Religionsausübung hier fallweise entschieden und nur auf die Argumente reagiert, die vorgebracht wurden. Das mag für das Funktionieren eines Rechtssystems passend sein, doch für uns, die wir hier einige Grundprinzipien für unser Denken fassen wollen, wäre es hilfreich, wenn die Dinge etwas deutlicher formuliert wären. An anderer Stelle habe ich vorgeschlagen, dass der Schutz einer Reihe grundlegender menschlicher Ansprüche, welche ich die „zentralen menschlichen Fähigkeiten“ nenne, für Regie­rungen eigentlich ein ­zwingendes Interesse ausmachen dürfte, bestimmte Handlungen, die im Namen der Religion erfolgen, einzuschränken: Leben, Gesundheit, körperliche Unversehrtheit und dergleichen.35 Diese Liste hilft uns auch zu verstehen, warum wir Gesetze ­befürworten sollten, die die Rechte von Eltern beschränken, die ihren Kindern aus religiösen Gründen lebensrettende Maßnahmen vorenthalten. (Wenn Erwachsene or­dentlich informiert wurden und in der Lage sind, Behandlungen zuzulassen, sich aber dazu ent­schlie­ßen, darauf zu verzichten, dann heißt das, dass sie die Möglichkeit dazu haben, es aber vorzogen, diese nicht zu nutzen.) Dieser Punkt bedarf weiterer Untersuchung und Diskussion. In Kapitel 4 werden wir noch mehr dazu zu sagen haben.

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Establishment und Gleichheit Wie sieht es mit dem religiösen Establishment aus? Dies ist ein umfangreicher Punkt, den wir hier nicht erschöpfend behandeln können. Wir können aber zumindest sagen, dass religiöse Establishments Fragen der Gleichheit aufwerfen, die für unsere grundlegenden Prinzipien relevant sind. Wenn eine Nation eine etablierte Kirche hat, kann das sehr leicht eine Herrschaft mit ungleicher Freiheit begründen. Auch wenn diese Nation die Freiheit der Minderheiten nicht aggressiv beschränkt, kann sie sehr wohl Minderheiten Belastungen auferlegen, die der Mehrheit nicht drohen. So besitzt etwa in Finnland die etablierte Lutherische Kirche, eine der wohltätigsten und toleran­testen Institutionen der Welt, alle Friedhöfe. Wenn ein Jude einen Angehörigen beerdigen will, muss er bei der Lutherischen Kirche um Erlaubnis fragen, um ein bestimmtes Gebiet innerhalb des lutherischen Friedhofs zu benutzen. Das ist exemplarisches Establishment: Macht und Toleranz. Die anderen bekommen ihre Rechte durch Duldung der Mehrheit. Auch wenn die Mehrheit nett ist und immer ja sagt, zeigt sich an der Situation dennoch ein Ungleichgewicht. Selbst die bloße Feststellung, dass eine gegebene Religion die etablierte ist, auch wenn das keine greifbaren Konsequenzen hat, scheint die Gleichheit zu bedrohen, indem eine Innengruppe und eine Außengruppe geschaffen werden. James Madison, erster (späterer) Verfasser der amerikanischen Freiheitsurkunde, widersprach 1785 einem Gesetzentwurf, der allen Bürgern Virginias Steuern zur Unterstützung der Anglikanischen Kirche auferlegt hätte: „Wenn alle Menschen von Natur aus frei und unabhängig sind, sollte gelten, dass alle Menschen zu gleichen Bedingungen in die Gesellschaft eintreten, indem sie nicht mehr ihre natürlichen Rechte aufgeben und nichts weniger als sie behalten, eines wie das andere. Vor allem muss man bedenken, dass sie gleiches Recht haben zur freien Ausübung der Religion, wie es ihnen ihr Gewissen vorschreibt.“ Diese Virginia Assessment Bill [Feststellungs-Urkunde Virginias] war in der Tat wohlmeinend. Menschen, die keine Anglikaner waren, konnten bestimmen, dass ihre Steuern ihrer eige­nen Kirche zuflossen; Quäker und Mennoniten mussten überhaupt nicht zahlen; Menschen, die keine bestimmte Kirche mochten, konnten darum bitten, dass ihr Beitrag einem Fond für „Religionslehrer“ gewidmet wurde. Trotzdem war James Madison der Meinung, dass die bloße Ankündigung, die ­Anglikanische Kirche sei die Standardoption sowie offizielle Staatskirche, bereits eine Bedrohung der Gleichheit sei. Das belehrte die Minderheiten darüber, dass ihre gleichen Rechte sich der Duldung der Mehrheit erfreuten, was deren Rechte

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nicht vollkommen gleich machte. Establishment ist also auf eine gewisse Art eine Verleugnung der gleichen Freiheit. Wir können die Beziehung der beiden Ideen auch anders sehen: Die Verweigerung der Anpassung zur freien Ausübung der eigenen Religion ist bereits eine Art De-facto-Establishment. Das bedeutet, dass die Mehrheiten-Religion im Gesetz festge­schrie­ben und Minderheiten die gleiche Möglichkeit verwehrt wurde, ihre eigene Religions­praxis legalisieren zu lassen.

Was zu einer Nation gehört: Bürger und Immigranten Die moralischen Grundsätze, die wir untersucht haben, hinterlassen uns einige unbeantwortete Fragen, da die Wahl zwischen den beiden Traditionen schwierig ist. Dennoch haben diese mehr Gemeinsames als Trennendes. Beide akzeptieren die zu­grundeliegende Idee des gleichen Respekts und der Verletzlichkeit des Menschen, und beide opponieren nicht nur der direkten, sondern auch der indirekten Verfolgung durch die Wei­ge­rung, religiösen Minderheiten das zu gewähren, was der Mehrheit gestattet wurde. Welche Tradition wir letztlich auch bevorzugen: Beide geben dem Gesetz eine Gestalt, die inneren Dissidenten wie auch neuen Immigranten wohlgesinnt ist. Wie wir noch sehen werden, würde so manche Politik, die derzeit in Europa favorisiert wird, die lockesche Prü­fung nicht bestehen – und das ist in bestimmter Hinsicht auch nicht überraschend, weil beide Traditionen in der hier untersuchten Gestalt durch die Erfahrung eines ­neuen Landes genährt wurden, das von religiösen Abweichlern verschiedenster Art ­gegründet und während seiner gesamten Geschichte immer wieder durch neue Immigranten bereichert wurde. Ameri­kaner ließen sich in einem gefähr­lichen Land nieder und sahen bald, dass Wohlstand und vielleicht auch Über­leben das Zusammenarbeiten mit Menschen bedeutete, die eine andere Religion hatten und sich oft auch in Kleidung und öffentlichem Verhalten unterschieden. So war jeder eigentlich eine Minderheit. (Auch wenn eine riesige Mehrheit Christen waren, gab es doch viele verschiedene Christen, dazu eine Menge ­„Suchender“, wie Roger Williams seine eigene Unzufriedenheit mit der etablierten Religion beschrieb. Zur Zeit der Unabhän­gigkeit waren nur 17 % der Siedler Mitglieder einer etablierten Kirche.) Das führte zur Ausbil­dung eines Geistes der Offenheit und der Demut, der überall geschätzt wird, ob es nun eine sichere Mehrheit gibt oder nicht.

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Ein weiterer bezeichnender Unterschied zwischen den USA und Europa auf dem Gebiet der Gleichheit der Religionen ist eine Tatsache, die wir bereits beobachtet haben: Europäische Nationen neigen dazu, Nationalität und nationale Zugehörigkeit in ethno-linguistischen und kulturell-linguistischen Begriffen zu fassen. ­Daher haben neue Immigrantengruppen und religiöse Minderheiten Schwierig­ keiten, als volle und gleiche Mitglieder der Nation anerkannt zu wer­den. All diese Nationen sind Erben der Romantik mitsamt ihren Ideen von territorialer und nationaler ­Zugehörigkeit. Alle haben oder hatten eine Art religiösen Establishments. (Man kann hier den nicht der Norm entsprechenden Fall der französischen laïcité an­fügen, das Establishment der Nichtreligion.) Zu den Schwierigkeiten dieser Nationen, den Juden die vol­len Bürgerrechte zuzugestehen, gehörte ihre Überzeugung, dass Nationalität in religiöser und ethnischer Zugehörigkeit bestünde – so konnten die Juden nicht hineinpassen, es sei denn, sie konvertierten und assimilierten sich. Selbst wenn heute die europäischen Nationen zu­gestanden haben, dass Immigranten und religiöse Minderheiten zu Bürgern im vollen Wort­sinn werden können, macht doch die im Hintergrund wirkende Definition von Nationalität in Verbindung mit der öffentlichen Tatsache des religiösen Establishments es den Immigranten schwer, sich hierfür zu öffnen. Diese Nationen können nur schwer anerkennen, warum die Position der Anpassung sinnvoll ist, selbst wenn sie die lockesche Strategie begreifen. Ihre Schwierigkeit, die Anpassung zu akzeptieren, ähnelt der­jenigen, anzuerkennen, warum Establishments die gleiche Würde für alle bedrohen. Wie wir gesehen haben, gibt es noch eine weitere Option, die in vielen Nationen in aller Welt in die Tat umgesetzt wurde: die nationale Zugehörigkeit nach Begriffen der politischen Ideale zu definieren. Hier können Immigranten in vollem Umfang teilhaben, auch wenn sie Ethnizität, Religion oder Brauchtum nicht teilen. Derartige Nationen können leichter verstehen, wie Menschen, die sich nach Art von Minderheiten kleiden, sprechen und gläubig sind, gleichwohl vollgültige Bürger sein können. Und wahrscheinlich können sie viel schneller auch den nächsten Schritt erwägen: Wie kann man wirkliche Gleichheit der Gewissensbelastung ­erlangen, wenn Mehrheiten die Dinge in ihrem eigenen Interesse arrangieren? ­Diese Einsich­ten der Anpassungs-Tradition sind instinktiv, sie sind eine natürliche Antwort auf das wahrgenom­me­ne Ungleichgewicht von Mehrheiten und Minderheiten. Haben wir uns entschlossen, religiöse Establishments aus Gründen der Gleichheit abzulehnen, sollten wir auch kritisch bleiben, wenn Mehrheiten Gesetze zum religiösen Gehorsam in ihrem eigenen Interesse erlassen, so dass die Freiheit der Minderheit beschnitten wird.

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Traditions-Unterschiede erklären, warum Nationen die Lösungen finden, die sie am Ende annehmen, doch das rechtfertigt diese Lösungen noch nicht. Immer haben Nationen mehrere Optionen: Sie können einige Eigenschaften der Nationalität hervorheben, andere in den Hintergrund rücken. Eine Nation ist eine Erzählung, eine Geschichte darüber, was die Menschen zusam­men­geführt hat und was sie zusammenhält, eine Geschichte des geteilten Leids, geteilter Freuden und Hoffnungen. Diese Geschichte ist immer dynamisch und kann auf eine Weise erzählt werden, die Integration begünstigt – oder, wenn Ängste die Oberhand gewinnen, den Ausschluss. Wenn moderne Nationen die Grundsätze anziehend finden, die in den bei­den genannten Traditionen der Religionsfreiheit verkörpert sind, dann können sie alles dafür tun, die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass ihre Bürger sie auch annehmen. Die beiden Traditionen, die wir untersucht haben, setzen sich nicht von alleine durch. Wir müssen sorgsam erwägen, was eine Belastung für die freie Religionsaus­ übung eines Menschen ausmacht, und das heißt auch zu lernen, die Welt aus der Perspek­tive jener Religion anzuschauen, anstatt deren Bedürfnisse als schlecht und als Beleidigung der Mehrheiten-Religion anzusehen. Auch müssen wir intensiv darüber nachdenken, wie stark die Vielfalt öffentlicher Interessen in der Einheitlichkeit ist, denn oft irren wir, indem wir die Homogenität für wichtiger halten, als sie ist, oder wenn wir Gefahren für Frieden und Gesundheit in einer MinderheitenPraxis, nicht aber in der Praxis der Mehrheit sehen. (Die unterschiedliche Behandlung von Alkohol und anderen Drogen ist nur ein Bei­spiel dieser von der Mehrheit beeinflussten Risiko-Bewertung.) Wir müssen realisieren, dass wir dem Irrtum erliegen könnten, was Bürde und Interesse angeht und dass der Grund, warum wir dort irren könnten, mit einem grundlegenden Versagen zusammenhängt, Menschen, die anders sind, willkommen zu heißen und zu respektieren. Welche intellektuelle Position wir auch immer bevorzugen, müssen wir doch einen Geist der Neugierde pflegen, der Offenheit, der Sympathie und der Großzügigkeit unseren Nachbarn gegenüber, der unsere Selbstsucht übersteigt. (Roger Williams widmet seine Schriften dem „barmherzigen und mitleidvollen Leser“, und Locke spricht von einem Geist der „Barmherzigkeit, Freigebigkeit und Großzügigkeit“.) In der Welt, die Williams und Locke im Sinn hatten, sagt die Mehrheit nicht: „Ich bin die Norm, und du passt nicht hinein.“ Sie sagt viel­mehr: „Ich respektiere dich als Gleichen, und ich weiß, dass mein eigenes religiöses Streben nicht das einzige ist. Auch wenn ich größer an Zahl und damit mächtiger bin, will ich doch versuchen, die Welt auch für dich angenehm zu machen.“ Das ist der Geist einer freund­lichen Gastgeberin. Eine gute Gastgeberin braucht eine gute Phantasie.

4 Der Splitter im Auge meines Bruders: Unparteilichkeit und das selbsterforschte Leben In Platons Dialog Euthyphron trifft Sokrates vor dem Gerichtsgebäude auf ­Euthyphron. Sokrates selbst hatte dort zu der Anklage Stellung genommen, er sei der Verführer der Jugend. Was aber hat Euthyphron vor Gericht zu schaffen? Er erklärt, dass er seinen eigenen Vater wegen des Mordes an einem Wanderarbeiter, der auf dem elterlichen Anwesen diente, gerichtlich belangen will. (Im alten Athen gab es keinen Staatsanwalt. Alle Klagen wurden privat vorgebracht, und wer keine Verwandten hatte, blieb in aller Regel ungerächt.) „Hast du keine Angst, dass es eine Beleidung der Götter ist, den eigenen Vater anzu­zeigen?“, fragt Sokrates. Euthy­ phron sagt, er wisse genau, was fromm und was unfromm sei. Von Sokrates auf­ gefordert, ihm das zu erklären, brüstet er sich: „Es ist Mitleid, das ich ausübe.“ Als Sokrates ihn genauer befragt, wird deutlich, dass er in Wahrheit nur sehr wenig über die Begründung seines Tuns nachgedacht hat. Schnell verstrickt er sich in Widersprüche, und der Leser merkt, dass er eigentlich nicht begründen kann, was er tut. Laches und Nikias sind zwei der angesehensten Generäle der athenischen Armee. Beide werden wegen ihres Geschicks und Muts im Kampf gerühmt. Doch als Sokrates im Laches die beiden befragt, was Mut sei, geht es ihnen nicht besser als Euthyphron. Sie haben die Dinge nicht durchdacht und können nicht logisch ­zwischen wahrem Mut und tollkühnem Draufgängertum unterscheiden. Schließlich müssen sie zugeben, dass wahrer Mut die Kenntnis dessen voraussetzt, wofür es sich zu kämpfen bzw. nicht zu kämpfen lohnt. Und genau dieses Wissen scheint auf eklatante Weise in ihrem eigenen Berufsbild zu fehlen. Ist das wichtig? Der Leser weiß, dass Athen einige Jahre nach ihrem Gespräch mit Sokrates in eine der größten militärischen Katastrophen verstrickt wurde, in die sizilianische Expedition, ­einen verheerenden Abschnitt des Peloponnesischen Krieges. Dort erwies sich die schlechte Führerschaft von Nikias als wesentlich für den Untergang.

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Oft treffen Menschen ihre Entscheidungen unbedacht: ohne genug zu über­ legen und sich selbst zu befragen. Sie ordnen die Dinge nicht schlüssig und logisch an, fragen nicht, was sie wirklich mit ihrem Einsatz erreichen wollen. Folglich werden ihre Entscheidungen oft durch eine nur begrenzte Erfahrung, durch Tradition und Konformitätszwang „verbogen“, durch Angst und – wie der Fall Euthyphrons zeigt – durch Eigeninteresse und eine sich selbst schützende Voreingenommenheit. Euthyphron mag gute Gründe haben, seinen Vater anzuklagen; schließlich hat der Ermordete keine Verwandten, die für ihn Klage erheben. Doch es ist beunruhigend, mit welchem Eifer und welcher Arroganz Euthyphron vorgeht – unbeirrt auch durch die Aussicht, dass er vielleicht seinen eigenen Vater dem Tod überantwortet. Er bezeichnet sogar das, was er tut, als Mitleid; ein Zug, der wirkliche Selbstprüfung ausschließt. Inkonsequenz ist ein Problem bei der Entscheidungsfindung, auch in dem Fall, wo nur nachlässig und unvollständig nachgedacht wurde. Sokrates war der Meinung, eine Demokratie könne nicht verantwortungsvoll funktionieren, solange man sich nicht dem „selbsterforschten Leben“ widme – dem ernsthaften Nachdenken darüber, wie man zu einer stimmigen Sicht der wichtigsten politischen Fragen gelangt. (Seine Klage wird noch deutlicher, wenn wir erfahren, dass alle Ämter in der athenischen Regierung, mit Ausnahme des Amtes des Feldherrn, durch Los besetzt wurden – und der Laches zeigt, dass auch die wenigen Menschen, die für diese wichtige Aufgabe ausgewählt wurden, keine gute Vorstellung ihrer Ziele und Werte hatten.) Doch wie der Euthyphron zeigt, geht Inkonsequenz oft Hand in Hand mit etwas noch Schlimmerem als Schlamperei – nämlich mit Arroganz und dem narzisstischen Begehren, sich von Kritik und den berechtigten Forderungen der anderen abzuschirmen. Menschen können sich sehr gut für etwas Besonderes halten, sich von jeder Kritik ausnehmen, mit der sie sehr schnell bei der Hand sind, wenn sie auf andere schauen. Das sokratische Denken, das auf die christliche Ethik Einfluss h ­ atte, bezieht sich auf die selbstsüchtige Inkonsequenz: „Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! – und dabei steckt in deinem Auge ein Balken?“1 Andere für etwas zu kritisieren, dessen man selbst schuldig ist – ein weit ­verbreitetes menschliches Fehlverhalten. Das Evangelium sagt, dass die Menschen eine ausgeprägte Neigung zur Blindheit gegenüber sich selbst sowie dazu haben, die eigenen Fehler von Kritik auszunehmen. Inkonsequenz steht in jedem Falle in ­einem schlechteren Licht als die bloße Schlampigkeit von Laches und Nikias, weil

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sie auch Ungerechtigkeit bedeutet: mit dem Finger auf andere zeigen und sich selbst ausnehmen. Immanuel Kant hat das zum Grundgedanken seiner Ethik gemacht. Nach ­seiner Ansicht – die von Sokrates wie auch von der christlichen Ethik beeinflusst war – bedürfen wir der philosophischen Selbstprüfung; nicht, weil wir dumm ­wären oder es uns an grundlegenden, guten moralischen Ideen fehlt, sondern weil wir selbstsüchtig sind, uns herausreden und von den Grundsätzen ausnehmen, die wir auf andere anwenden. Man sollte also sich selbst auf den Prüfstand stellen und sich fragen, ob die Basis des eigenen Handelns als Gesetz für alle empfohlen werden kann. Befragen wir unsere eigenen Grundlagen dementsprechend, bemerken wir viele Widersprüche. Wer ein Versprechen bricht, hat nicht darüber nachgedacht, wie die Welt aussehen würde, wenn alle das täten. Schnell hätten wir eine Welt, in der es keine Versprechen mehr gäbe. In einer solchen Welt gäbe es auch den Vorteil nicht, den der Wortbrüchige zu erlangen hofft – und seine Absicht hebt sich selbst auf. Wer nichts zur Linderung des Elends seiner Mitmenschen beiträgt, erkennt auf vergleichbare Weise nicht, wie die Welt beschaffen wäre, wenn die Idee der Philanthropie das Verhalten der Menschen nicht länger leiten würde. Das ist nicht ganz das Gleiche wie das Nichteinhalten von Versprechen, da die Welt sicher noch existieren würde und der Mensch, der darin lebt, noch tun könnte, was er tun will: anderen die Hilfe verweigern. Doch dieser Mensch würde höchstwahrscheinlich diese Welt ablehnen, weil er selbst ja dort keine Hilfe erwarten könnte, falls er ihrer bedürfte. Beide Fälle meinen also ein Trittbrettfahrer-Verhalten, bei dem Menschen aus einem System Vorteile beziehen, welches sie selber nicht unterstützen. Diese Wider­ sprüchlichkeit ist etwas anders als die, die im Matthäus-Evangelium beschrieben ist, hat aber einen vergleichbaren Beigeschmack. Ein selbstsüchtiger, auf sich bezogener Mensch nimmt sich von den Regeln aus, die auf andere angewendet werden und die er selbst ebenfalls auf andere bezieht. Die Gründe dieses Verhaltens sind ähnlich: Es ist die Verweigerung, andere als vollständig gleich anzuerkennen; es ist das Begehren, sie für eigene Zwecke zu benutzen. In der Kant-Nachfolge hat man die Frage aufgeworfen, inwieweit sein „universelles Gesetz“ mit seiner „Menschlichkeits-­ Formel“ verbunden ist, die ja einen jeden von uns auffordert, Menschlichkeit bei uns und bei anderen als Zweck und nie als bloßes Mittel anzusehen. Intuitiv aber spüren wir, dass es eine Verbindung gibt. Menschen, deren Grundsätze den Lackmustest als universelles Gesetz nicht bestehen, benutzen a­ ndere Menschen zu ihren eigenen

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Zwecken und sehen sie eben nicht als Zweck an sich an; als Menschen gleicher Würde, deren Ziele und Absichten in dem Sinne respektiert werden müssen, dass sie genauso wichtig sind wie die eigenen. Dieser Mensch manipuliert andere. Das Matthäus-Evangelium erhebt Einwände gegen einen solchen instrumentellen Gebrauch anderer Menschen: auf die Sünden anderer hinzuweisen, selbst aber durch die Maschen des Netzes zu schlüpfen und die genannten Regeln nicht auf sich ­anzuwenden.

Inkonsequenz und Selbst-Isolierung beim Sprechen über religiöse Freiheit Sokrates hat ein Problem benannt, das unter Menschen allgegenwärtig ist: das unerforschte, inkonsequente Denken. Kant und das Evangelium beschränken sich auf einen kleinen Teil dieses allgemeinen Problems, den wir in einigen Gesprächen ­Sokrates’ (vor allem mit Euthyphron) erkennen können, was er dennoch nicht zum Zentrum seiner Theorie macht. Inkonsequenz im Sinne Kants und des Christentums ist kein bloßes intellektuelles Versagen: Es ist ein moralisches Versagen, und wir können es als das tiefste und grundlegendste moralische Versagen überhaupt erkennen: das Versagen, die gleichwertige Wirklichkeit des anderen anzuerkennen. Dieses Versagen tritt in vielen Lebensbereichen auf, oft, wenn es um Religion geht. Religion ist zentral für das Gespür der Menschen für sich selbst. Somit wird das, was die Evangelien ansprechen – die Neigung der Menschen, andere Menschen eines Fehlverhaltens zu bezichtigen, das sie selbst an den Tag legen –, vermutlich auch bei der Religion auftauchen. Darauf wies schon Jesus hin: Oft bezichtigte man die Pharisäer genau dieser Scheinheiligkeit. Und die Anklage der selbstsüchtigen Scheinheiligkeit zieht sich durch das ganze Judentum. Keine Klage tritt im Alten Testament öfter auf als diejenige, dass die Menschen sich von dem ausnehmen, was sie anderen auferlegen. Und die damit verwandte Neigung, Regeln und Prinzipien aufzustellen, an die man sich selbst nicht hält, die demnach versteckte Maßnahmen sind, andere Menschen als bloßes Mittel einzusetzen, ist in religiösen Dingen so weit verbreitet, dass wir sie hier kaum noch darzulegen brauchen. Dieses Thema wurde, wie wir sahen, auch bei frühen Schriftstellern zur Freiheit des Gewissens deutlich ausgesprochen. „Ihr selbst täuscht Freiheit des Gewissens vor“, schrieb ­Roger Williams an die Gouverneure von Massachusetts und Connecticut, „doch ach, sie ist aber (der Große Gott selbst) nur für euch selbst.“

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Nehmen wir ein Beispiel, das John Locke anführte: eine Regel, die das Eintauchen des ganzen Körpers in Wasser zum Zweck der Taufe für illegal erklärte, zur Gesundheit und Erholung aber zuließ. Und betrachten wir den ähnlichen Fall ­Lukumi: ein Gesetz, das das Schlachten von Tieren im religiösen Ritual für illegal erklärt, in der Nahrungsindustrie aber zulässt. Beide Regeln verletzen die Ethik der Evangelien, denn sie nennen etwas schlecht, wenn andere Menschen es tun, erlauben es einem selbst aber durchaus. (Natürlich hätte man zeigen können, dass es ­einen großen Unterschied zwischen dem gibt, was die Mehrheit tut, und dem, was die Minderheit tun will. Aber sowohl Locke als auch das Oberste Gericht sehen für die scheinheilige Mehrheit keinen Ausweg.) Beide Regeln verstoßen außerdem gegen Kants universelles Gesetz [kategorischer Imperativ]. Ihre Befürworter stimmen für die Maxime „Hindert die Menschen daran, sich in Wasser zu tauchen!“ oder „Hindert die Menschen daran, Tiere zu töten!“ – beides aber will die Mehrheit nicht auf sich selbst angewandt wissen. Nach Kant sind das nicht nur schlechte Argumente, sondern Formen von zutiefst abzulehnender Selbstsüchtigkeit. Im Kern besagen sie nämlich: „Ich bin etwas Besonderes, ich stehe über anderen und kann andere benutzen, wie es mir gefällt.“ Schon zu Zeiten John Lockes wurde so selbstsüchtig argumentiert, und das ist bis heute so, wie der Fall Scalia zeigte. Wenn die Angst hohe Wellen schlägt, wird eine solche Argumentationsweise wahrscheinlicher, und viele schließen sich ihr an. Die von Locke angesprochene Mehrheit hatte tatsächliche Angst vor den antinomistischen Baptisten, und im Fall Scalia empfanden die Bürger von Hialeah die Santería-Religion als beängstigend und fremd. Wir werden sehen, dass solche ­Argumente in den gegenwärtigen Debatten um den Islam weit verbreitet sind (wie ohnehin generell bei solchen um religiöse Minderheiten). Die Burka hat man gegenwärtig in drei europäischen Ländern verboten: Frankreich, Belgien und Italien. Andere Nationen wie Spanien, Holland und England scheinen das gutzuheißen. Auch wenn dergleichen (noch) nicht im Zentrum der Debatten in den USA steht, resultieren daraus dennoch Probleme, die auf die USA übertragen werden können, wie etwa Gesetze zum Verbot der Scharia oder zum Bau von Moscheen. Konzentrieren wir uns aber auf die Burka, weil die hier vorgebrachten Argumente gut auf andere Fälle übertragen werden können. Die Burka wird selten getragen: Selbst unter bekennenden Muslimas tragen sie nur sehr wenige, und viele Islam-Gelehrte wie auch Religionsführer sind der ­Meinung, dass sie im religiösen Sinn nicht notwendig ist. Viele meinen, auch das Kopftuch sei nicht notwendig. Für die aber, die es tragen, gilt es als religiös unab-

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dingbar, und genau das muss uns hier angehen. In aller Regel haben Religionen viele „Unterabteilungen“, und die Freiheit des Gewissens schützt das des Einzelnen, nicht das der Mehrheit. Es wäre also unangebracht, einem orthodoxen Juden zu sagen, dass es gut wäre, am Samstag zu arbeiten, nur weil ein Großteil amerikanischer Juden genau das tut. Darum geht es nicht: Die eigene Auslegung der Religion ist es, die für das Gewissen zählt. Auch wenn, wie wir in Kapitel 3 gesehen haben, Werte einer (Unter-)Gruppe oft eine hilfreiche Informationsquelle sind, wenn Gerichte die Ernsthaftigkeit der Gewissensansprüche einer Person ermessen wollen. Fünf Argumente für das Burka-Verbot sind weit verbreitet. Wir werden sehen, dass alle fünf inkonsequent sind, weil sie Mehrheitspraktiken taktisch bevorzugen, solche der Minderheit dagegen benachteiligen. Und das heißt, dass sie mit dem Gebot der gleichen Freiheit nicht vereinbar sind, damit wiederum auch nicht mit der Idee der gleichen Achtung vor dem Gewissen, woraus dieses Gebot ja entspringt. In Wahrheit sind es allesamt Fälle, die wohl den Stachel im Auge des ­Bruders erkennen, dabei den Balken im eigenen aber nicht sehen. Denn alle zielen auf angebliche Situationen bei muslimischen Gemeinschaften ab, während man sie in der Mehrheitskultur nicht sieht. Die eigene Praxis wird von Kritik ausgenommen, nur die ungewohnte trifft der Verdacht.

Burka-Verbot: Sicherheit Das erste Argument betrifft die Sicherheit. Es besagt, die Sicherheit verlange, dass Menschen ihr Gesicht zeigen, wenn sie in der Öffentlichkeit auftreten. In Holland hat etwa die Einwanderungsministerin Rita Verdonk gesagt, ein mögliches Verbot würde gestützt durch „Gründe der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und des Schutzes der Bürger“.2 Ein zweites, damit verbundenes Argument besagt, dass die Transparenz und Gegenseitigkeit, die für das Verhältnis der Bürger untereinander notwendig sind, behindert werden, wenn ein Teil des Gesichts verdeckt ist. Der frühere britische Außenminister Jack Straw meinte 2006, die Burka bedrohe die soziale Harmonie. „Gemeinschaften“, sagte er in der BBC, „werden auch durch informelle Zufallsbeziehungen zusammengehalten, von Menschen, die einander auf der Straße erkennen oder miteinander plaudern können.“3 Er meinte, dergleichen wäre nicht möglich, wenn das Gesicht bedeckt wäre. (Kürzlich aber widersprach Straw als Justizminister in der früheren Labour-Regierung vehement einem Burka-Verbot und meinte, es sei kein geeigneter Gegenstand für Kriminalgesetze, bestand aber gleich-

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zeitig darauf, dass Frauen, die in seinem Büro erscheinen, den Schleier entfernen müssen, ehe sie ihn besuchen.)4 Die Sicherheits- und Transparenz-Argumente sind inkonsequent. Auf den Straßen von Chicago wird es im Winter sehr kalt – wie auch in vielen Teilen Europas. Wenn wir durch die Straßen gehen, sind die Hüte über Ohren und Augenbrauen herabgezogen, Schals dicht um Nase und Mund gewickelt; keiner denkt dabei an Transparenz oder Sicherheit. Und es ist uns auch nicht verboten, in diesem Aufzug öffentliche Gebäude wie Kaufhäuser, Flughäfen oder Banken aufzusuchen. Sind wir dann im Sommer draußen in der heißen Sonne, verkleiden sich viele von uns mit eigentlich dem gleichem Effekt. Meine Saison-Tickets für das White-Sox-Baseball-Team bringen es mit sich, dass ich bis gegen fünf Uhr nachmittags direkt in die Sonne schaue. Also trage ich während eines Spiels im Juli oder August lange Ärmel, lange Hosen, eine Baseball-Mütze (lieber würde ich einen größeren Schlapphut tragen, würde ich damit den Leuten hinter mir nicht die Sicht nehmen), dazu die größte Sonnenbrille, die ich besitze – und manchmal habe ich auch noch das ­Bedürfnis, zusätzlich einen Schal über Mund und Nase zu binden, zumindest, ­meine Hände vor das Gesicht zu halten. Außerdem bedecken viele Menschen berufsbedingt das ganze Jahr über ihr Gesicht: Chirurgen, Zahnärzte, (American) Football-Spieler, Skifahrer und Skater. Meist tragen Wintersportler einen vollständigen Gesichtsschutz, der nur einen Schlitz für die Augen freilässt, vergleichbar einem Niqab. Manche Profis sind sogar noch bedeckter als eine typische Burka-Trägerin. Mein Endodontologe [Zahnarzt für Wurzelkanal-Behandlungen], der eine sehr genaue Sicht auf eine sehr kleine Oberfläche braucht, trägt nicht nur eine Gesichtsmaske wie alle Zahnärzte, sondern zusätzlich noch einen Brillenhalter auf dem Kopf, der die Augen vollständig mit Vergrößerungsgläsern bedeckt, es mir damit aber unmöglich macht, seine ­Augen zu sehen. Generell ist es also nicht die Bedeckung per se, sondern die muslimische, die in Europa, in gewissem Maße in den USA, Angst und Misstrauen erregt. Man wird mir entgegenhalten, dass wir in einer Zeit des Terrorismus leben, und im Krieg gegen den Terrorismus ist es legitim, Frauen mit einer Burka unter Verdacht zu stellen. Diese Ansicht ist in den USA weit verbreitet, in Europa vermutlich auch. Darauf antworte ich: Wäre ich in den USA oder Europa eine Terroristin und dabei außerdem nicht blöd, wäre das Letzte, was ich tragen würde, eine Burka, weil diese Bekleidung Verdacht und Aufmerksamkeit erregt. Gewöhnlich versuchen Kriminelle, keinerlei Verdacht zu erregen; sofern sie überhaupt schlau sind, haben

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sie damit auch Erfolg. Im Nahen Osten wäre es für eine Terroristin vermutlich eine geschickte Strategie, eine Burka anzuziehen; in Europa oder den USA wäre das dumm. Wäre ich eine Terroristin, würde ich mich vermutlich wie Martha Nussbaum im Winter anziehen: einen bodenlangen, schicken Daunenmantel, den Hut über die Augenbrauen gezogen, eine extra Kapuze gegen die Kälte, eine große Sonnenbrille und einen voluminösen indischen Schal um Mund und Nase. Trotzdem hat man mich nie in einem Kaufhaus, einem öffentlichen Gebäude oder auch einer Bank aufgefordert, diese Kleidung abzulegen. Im Sommer würde ich als intelli­gente Terroristin einen riesigen Schlapphut, einen langen, luftigen Kaftan tragen und dazu vermutlich eine große Tasche von Louis Vuitton, die nach Konsum aussieht. Genau so würde eine schlaue Terroristin einherkommen, und schlaue Terroristen sind die, die man fürchten muss. Auch wenn es für ältere Menschen im Rollstuhl unangenehm ist, intensiven Durchsuchungen ausgesetzt zu sein, verteidigen Experten das mit dem Verweis auf mögliche Strategien von Terroristen. Was also mit der Bedrohung anfangen, die von unförmiger und verhüllender Kleidung ausgeht? Luftfahrtgesellschaften tun eine ganze Menge mit ihren Metalldetektoren, Körperscannern, Abtastungen und dergleichen mehr. Außerdem werden im US Cellular Field in Chicago, wo meine geliebten White Sox spielen, sämtliche Taschen durchsucht (wenn auch mehr nach Bierdosen statt nach Sprengstoff, was zugleich den Interessen der Getränkeverkäufer im Stadion dient). Private ­Läden und andere Organisationen, die unförmige Kleidung als Bedrohung (wegen Diebstahl oder Terrorismus oder beidem) empfinden, könnten ein nicht diskriminierendes Verbot aussprechen, etwa von bodenlangen Mänteln. Sie könnten sogar einen Körperscanner am Eingang installieren. Das tun sie aber nicht, um kundenfreundlich zu bleiben. (Manche Schulen kennen Metalldetektoren und Durch­ suchungen verschiedener Art, sie vermuten, dass dies die Sicherheit vergrößert – obwohl die Bedrohung von Schusswaffen und Messern ausgeht, nicht von Spreng­stoff.) Kurz, ich möchte hier auf die ärgerliche Diskriminierung hinweisen, die dem Glauben innewohnt, eine Burka stelle ein einzigartiges Sicherheitsrisiko dar. Eine geeignete Sicherheitspolitik reicht vollkommen aus. Ein angemessenes Verlangen bestünde darin, dass muslimische Autofahrerinnen in Pass und Führerschein Fotos haben, die ihr Gesicht vollständig zeigen. Mit einem angemessenen Schutz des Anstands beim Fotografen könnte man ein solches Foto verlangen, und ich glaube nicht, dass ein solches Foto mit der gleichen Freiheit für alle unvereinbar wäre. Ich weiß, dass die meisten Islamwissenschaftler dem ­zustimmen: Eine Frau kann und muss ihren Niqab entfernen, falls eine Gesichts-

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kontrolle dies verlangt. Damit stimme ich mit einem Richter in Florida überein, der Mrs. Sultana Freeman aufforderte, den Niqab für das Führerschein-Foto abzunehmen, und urteilte, dass das Erfordernis eines Gesichtsfotos „die freie Ausübung der Religion nicht verfassungswidrig beeinträchtigt“.5 Dieser Fall ist heikel, weil Mrs. Freeman stattdessen Fingerabdrücke und eine DNA-Analyse zur Identifikation ­anbot.6 Außerdem besitzt Florida eine staatliche Version des RFRA, wonach der Staat ein „zwingendes“ Interesse bezeugen muss, wenn er die Religion einschränkt. Alles in allem hat der Richter aber eine gute Position – vorausgesetzt, dass die Vorschrift konsequent angewandt wird. Auch einige christliche Sekten verweigerten Fotos im Führerschein, weil sie das als verbotenen Götzendienst betrachteten, und tatsächlich wurden diesen Gläubigen von zwei Berufungsgerichten und einem staatlichen Obersten Gericht Ausnahmen zugestanden.7 Derartige Inkonsequenzen sind irritierend. Jedes staatliche Gericht, jede Berufungsinstanz sollte anstreben, eine konsequente und unparteiische Politik zu betreiben. Inzwischen wurde die Vorstellung, dass das Haar auf dem Foto zu sehen sein muss, was eine große Anzahl an Frauen mit Kopftuch betrifft, zu Recht von fast allen US-Distrikten zurück­ gewiesen, die örtliche Vorschriften dahingehend ausgelegt haben, dass das Gesicht nur bis zum Haaransatz gezeigt werden muss, nicht darüber. Inzwischen wissen wir ohnehin, dass das Gesicht ein eher schlechtes Identi­ fizierungsmerkmal ist. In den Einwanderungsstellen ersetzen heute Augenerkennung und Fingerabdrücke immer mehr das Foto. Wenn diese neue Technik auf Polizei­ patrouillen und Flughafenkontrollen ausgeweitet wird, können wir das Foto vernachlässigen und damit das, was vom Sicherheitsargument noch übrig bleibt. Zuweilen wird gesagt, dass ein Burkaverbot zu weit gehen (Kleidung von friedlichen, harmlosen Frauen wird verboten) als auch zu kurz greifen würde (viele Bekleidungsformen, die von Terroristen bevorzugt werden könnten, werden nicht verboten). Dennoch ist es ein gutes Mittel gegen wirkliche Gefährdungen, und diese Art der Aussonderung ist vollkommen legitim. Sicherlich können und sollten wir debattieren, ob das in der Praxis hilft. Doch innerhalb vernünftiger Grenzen können wir davon ausgehen, dass Flughäfen berechtigt sind, eine gewisse Aussonderung vorzunehmen, um festzulegen, wer überhaupt durchsucht wird. Das aber ist nicht das, wovon wir hier reden. Wir reden nicht von zusätzlichen Durchsuchungen, sondern von einem eindeutigen Verbot, in der Öffentlichkeit eine Kleidung zu tragen, die von manchen Religionsanhängern für verpflichtend gehalten wird. Im Zusammenhang mit einer solchen Belastung ist die Tatsache, dass das vorgeschlagene Verbot sowohl zu weitgehend ist als auch zu kurz greift, von großer Bedeutung.

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Betrachten wir ein ähnliches Beispiel: Chicagos kurzlebige Gang Congregation Ordinance [Verordnung zur Versammlung von Banden], die „Mitgliedern krimineller Straßenbanden“ verbot, an öffentlichen Plätzen herumzustreunen. Wenn ein Polizist, gestützt auf diese Verordnung, Grund zur Annahme hat, dass eine Person an einem öffentlichen Ort „herumstreunt“ (definiert als Anwesenheit ohne besonderen Zweck) und Bandenmitglied ist, kann er anordnen, dass die Person und ­weitere Personen, mit denen diese „herumstreunt“, sich entfernen. Jeder, der nicht auf der Stelle gehorcht, hat gegen die Verordnung verstoßen. Nehmen wir nun an, dass Blau und Schwarz die Farben sind, die mit einer bestimmen Bande assoziiert werden. (Oft identifizieren Polizisten angebliche Bandenmitglieder nach ihren Farben.) Trifft sich nun ein Jugendlicher, der Blau und Schwarz trägt, ohne weitere Absichten mit ein paar Freunden, unterliegen alle der Verordnung und können ­eingesperrt und bestraft werden. Das Oberste Gericht der USA hat dieses Gesetz aus Verfahrensgründen für verfassungswidrig erklärt und gesagt, es sei zu unbestimmt und auch eine willkürliche Beschränkung der persönlichen Freiheit,9 also zu weit gehend als auch zu kurz greifend wie das Burkaverbot. Es belastete das persönliche Verhalten weitgehend (das Tragen von Blau und Schwarz), erfasste dabei aber sehr viel schädliches Verhalten nicht (wie etwa die Banden-Aktivität solcher Leute, die die Verordnung umgingen, indem sie ihre Bandenkleidung nicht anzogen). Wie schon das Burkaverbot würde die Verordnung zu einer ethnischen Aussonderung führen: Wenn Martha Nussbaum ein blaues Kleid mit einer schwarzen Handtasche trüge, würde kein Polizist zweimal hinschauen. Nur junge Männer kämen ins Visier, und zumeist nur Männer aus Minderheiten-Gruppen. Das Burkaverbot geht etwas präziser mit dem Kriterium der Unbestimmtheit um: Es ist ziemlich klar, was legal und was nicht legal ist. Doch was den Punkt der zufälligen Beschränkung der persönlichen ­Freiheit betrifft, ist es auch nicht besser gestellt. Sehr wahrscheinlich ist es sogar schlimmer, weil es in Chicago Hinweise auf eine Entsprechung von Anwesenheit der kriminellen Bande und Verbrechen vor Ort gab. Bei den vorgeschlagenen Burkaverboten aber gibt es keine vergleichbare Entsprechung von muslimischen Frauen in der ­Öffentlichkeit und Verbrechen am selben Ort. Fügen wir dann noch hinzu, dass es sich hier um Religionsfreiheit handelt, die für gewöhnlich stärker geschützt wird als der persönliche Bekleidungsgeschmack, dann scheint der Fall des Burkaverbots leichter zu sein als derjenige gegen das Chicagoer Gesetz. Noch etwas sollte erwähnt werden. Wenn wir wirklich die Sicherheit bestmöglich erhöhen wollen, dann wäre es besser, gemäßigte Muslime in unsere Gesell-

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schaften einzubeziehen, statt sie zu entfremden. Schließlich sind sie wertvolle Informationsquellen, was die Bedrohung durch muslimische Radikale angeht. ­ Wenn sie spüren, dass das Gesetz auf ihrer Seite ist und sie vollständig anerkannt werden, werden sie für uns von großer Hilfe sein. Bezeugt die Politik aber mangelnden Respekt gegenüber allen Muslimen oder behandelt ein Detail der religiösen Bekleidung als Sicherheitsproblem, dann werden die Muslime vermutlich kein Wort sagen und sich von Polizei und Untersuchungsbehörden fernhalten. Sie einzubeziehen ist nicht nur eine Geste des Respekts, sondern auch eine Vorsichts­ maßnahme.10

Burkaverbot: Transparenz und Freundschaft unter Bürgern Wir müssen uns nun dem Argument zuwenden (ich habe es das zweite Anti-Burka-Argument genannt), das sich auf die Transparenz bezieht, die unter Bürgern herrschen sollte. Ich habe bereits davon gesprochen, als ich auf Bereiche des täglichen Lebens hinwies – im Winter oder in der Hitze des Sommers –, bei denen wir Leuten begegnen, deren Gesicht zum guten Teil bedeckt ist. Dem können wir zwei weitere Punkte hinzufügen. Der erste bezieht sich auf eine Tradition in vielen Kulturen, die die Augen als Fenster zur Seele auffasst. Außerdem erfolgt der Kontakt von Mensch zu Mensch mehr über die Augen als über Nase und Mund. Babys suchen Augenkontakt und interessieren sich für ein Gesicht, wenn die Augen ihm zu­- und nicht abgewandt sind. Und das gilt für das tägliche Leben von uns allen. Bei Bauarbeiten in meinem Büro, als es eine Menge Staub gab, musste ich den ganzen Kopf bedecken bis auf meine Augen, während ich mit meinen Studenten sprach – und das über Wochen hinweg. Zunächst fanden sie das eher komisch, fragten mich aber bald, wo sie Maske und Schal bekämen, wie ich sie trug. Ich fühlte mich nicht unterdrückt, und die Studenten fanden nicht, dass sie keinen Zugang zu mir hätten. Zugegeben, einige Niqab-Arten bedecken die Augen bis zu einem gewissen Grad, aber nicht mehr als Sonnenbrillen. In aller Regel haben wir keine Probleme damit, uns mit jemandem zu unterhalten, der eine Sonnenbrille trägt, auch wenn verspiegelte Brillen, die die Augen komplett verbergen, oft als irritierend und abweisend empfunden werden. Im Allgemeinen stellen sich die Menschen schnell auf die jeweiligen Umstände der Kommunikation ein. Blinde entwickeln ein übergenaues Gehör und können ihr Gegenüber an der Stimme erkennen – was auch für Menschen zutrifft, die

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r­egelmäßig miteinander telefonieren. Zusätzlich zum Augenkontakt lässt die ­Burka das Erkennen per Stimme als auch die von typischen Körperhaltungen und Gesten zu. Ich sehe keinen Grund zur Annahme, dass Menschen sich nicht sehr schnell auf neue Arten, Individualität zu erkennen, einstellen können, je nach ­Erfordernis der Situation. Noch etwas sollten wir anführen, wenn wir ethisch konsequente Grundlagen suchen, nach denen wir leben können: Oft haben Menschen Probleme damit, mit Leuten zu sprechen, die merkwürdig aussehen, und leider haben wir Menschen die unglückliche Neigung, diese Probleme denen zuzuschreiben, die komisch aussehen, nicht aber uns selbst. Menschen mit Entstellungen im Gesicht werden in den meisten Kulturen stigmatisiert. Menschen mit geistigen und körperlichen Behinderungen werden oft vom Gespräch ausgeschlossen. Und Kinder mit Behinderungen wurden oft vor „normalen“ Kinder in einem separaten Raum versteckt, nicht in allgemeine Klassenräume integriert, dies auch deshalb, weil „normale“ Kinder ­Probleme hatten, mit ihnen umzugehen. Viele Gemeinschaften hatten „hässliche Gesetze“, die Menschen mit auffälligen Behinderungen verboten, in der Öffentlichkeit zu erscheinen. So erließ Chicago etwa im Jahr 1881 eine Verordnung, die ­vorsah, dass „keine Person, die behindert, verkrüppelt, entstellt oder sonst wie de­ formiert ist, so dass sie eine unansehnliche oder unpassende Person wird, auf öffentlichen Wegen oder anderen öffentlichen Orten dieser Stadt zugelassen ist oder sich dort der öffentlichen Ansicht preisgibt, bei Strafe von nicht weniger als einem und nicht mehr als fünfzig Dollar für jedes Vergehen“.11 Erst 1974 wurde dieses Gesetz ­zurückgenommen. Heute werden Menschen mit geistiger Behinderung, die sich ungewöhnlich benehmen oder entsprechend aussehen, immer noch stigmatisiert, auch wenn die Stigmatisierung anderer Behinderungen leicht nachgelassen hat. Heute weiß z. B. ein Universitätsdozent, dass er niemanden mit schweren Behinderungen wie etwa dem Tourette-Syndrom oder Blindheit ausschließen kann, weil das im Rahmen der Inklusion toleriert wird. Wenn also eine Dozentin es schwierig findet, mit einem solchen Menschen zu sprechen, wird sie nicht die Person dafür verantwortlich machen, sondern sich selbst, und versuchen, ihre Arbeit besser zu machen. Mit geistiger Behinderung verhält es sich oft andersherum, und der Student wird für sein merkwürdiges oder störendes Verhalten verantwortlich gemacht. Vermehrt aber wird i­nzwischen auch hier anerkannt, dass das ungerecht ist und Studenten mit geistiger Behinderung angemessen aufgenommen werden sollten. Ich denke, mit einer Frau zu sprechen, die eine Burka trägt, ist für den, der daran nicht gewöhnt ist,

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ähnlich schwierig, als würde er mit einem Blinden reden oder jemandem, der das Tourette-Syndrom hat, dabei aber weniger schwierig, als würde er mit einem geistig Behinderten sprechen. Doch allzu oft wird das Problem immer noch der Frau zugeschrieben, die die Burka trägt, kaum aber einem selbst. Ich möchte diese Wahrnehmung durch zwei Fälle aus meiner eigenen JuraFakultät illustrieren. Obwohl sich diese Institution schon vor einiger Zeit den ­Standards für die Inklusion Behinderter angeschlossen hat, was etwa Zugang für Rollstühle, Aufzüge etc. angeht, haben wir nur wenige Studenten mit schweren ­Behinderungen. Vor zwei Jahren legte eine Jura-Studentin als Beste ihrer Klasse das Examen ab. Sie brauchte einen Rollstuhl, war dem Gesetz nach blind und wurde immer von ihrem Blindenhund begleitet, atmete zudem durch einen Tubus. ­Zunächst dachten die Leute, sie würde scheitern und das Studium nicht abschließen. Doch nicht nur schloss sie tatsächlich ab; sie erwies sich außerdem als Star im Musical der Fakultät. Bei einer Lesung des Stücks bei mir zu Hause war sie Regisseurin und spielte die Rolle der Hermia in A Midsummer Night’s Dream – sehr komisch und zudem herrlich gelassen. Einige Jahre zuvor hatten wir einen jungen Verfassungsrechtler mit einem ­neurologischen Schaden eingestellt, dessen Extremitäten und Kopf plötzliche und unvorhersehbare Bewegungen vollführten. Er sagte mir, dass er unter dem alten Chicago-Gesetz nicht in der Öffentlichkeit hätte erscheinen dürfen. Und man kann durchaus sagen, dass manche Besucher nicht viel von ihm erwarteten, als sie ihm zum ersten Mal begegnen – und es war eine Freude zu sehen, wie sie sich veränderten, wenn sie merkten, dass er einer der brillantesten, klügsten und liebenswertesten Menschen war, die sie je getroffen hatten. Einige Jahre früher hätten sie die Möglichkeit nicht gehabt, sich umzuorientieren und hätten auch kaum angenommen, dass das nötig wäre. Vom Gesetz gezwungen zu werden, konsequent zu sein, kann die ethische Vorstellungskraft also durchaus sehr verbessern.

Burkaverbot: Degradierung zum Objekt Ein drittes Argument, heute sehr verbreitet, ist, dass die Burka ein Zeichen der männlichen Beherrschung ist, welches die Vergegenständlichung der Frau symbolisiert. Es bringt die Menschen dazu, Frauen für bloße Objekte zu halten und sie entsprechend zu behandeln. Ein Richter aus Katalonien nannte die Burka unlängst ein „degradierendes Gefängnis“.12 Präsident Sarkozy meinte: „Die Burka ist kein

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Zeichen von Religion; sie ist ein Zeichen der Unterwürfigkeit.“13 Zunächst sollte man bei derartigen Argumenten festhalten, dass diejenigen, die es vorbringen, meist nicht viel über den Islam wissen und Probleme hätten zu benennen, was in den verschiedenen Ausrichtungen und Auslegungen des Islams was symbolisiert. Doch die eklatantere Schwachstelle dieses Arguments besteht darin, dass moderne ­Gesellschaften durchsetzt sind von Symbolen männlicher Dominanz. Man spricht hier von Vergegenständlichung [objectification], bei der die Frauen als Objekte ­betrachtet werden. Sexmagazine, Pornographie, Aktfotos, enge Jeans, transparente oder enthüllende Kleidung – all das behandelt Frauen als Objekte, was in der ­Medienkultur weit verbreitet ist. Frauen werden aufgefordert, sich in diesem Sinne zu vermarkten, und schon seit langem beobachten Feministinnen, dass damit F ­ rauen ihrer Kompetenz und Individualität beraubt und zu Objekten oder Waren reduziert werden.14 Wir mögen das für schlecht oder gut halten oder uns einer generellen Einschätzung enthalten, weil wir spüren, dass wir nur von Fall zu Fall entscheiden können. Alle Antworten auf das Phänomen der „objectification“ kann man rechtfertigen. Was aber nicht gerechtfertigt werden kann, ist, gegen die „objectification“ nur dann Einwände zu erheben, wenn es sich um die Kultur der anderen handelt. Und was ist mit dem „degradierenden Gefängnis“ der plastischen Operationen? Jedes Mal, wenn ich mich in der Umkleide meines Fitness-Studios umziehe, sehe ich Frauen, die noch die Narben von Fettabsaugungen, Bauchstraffungen und Brustimplantaten haben. Geschieht nicht sehr vieles davon, um der männlichen Norm weiblicher Schönheit zu entsprechen, die die Frauen zu Sex-Objekten macht? Wenn der Vorschlag aufkäme, alle Praktiken zu verbieten, die ein FeminismusMinisterium als „objectification“ der Frauen eingestuft hätte, wäre dieser Vorschlag zumindest konsequent, obwohl nur wenige eine solche pauschale Beschränkung der Freiheit bzw. die Autorität befürworten würden, die dies einigen wenigen Feminismus-Expertinnen verliehe. Allgemeiner ausgedrückt: Auch wenn wir gegen bestimmte Optionen sind, denken wir doch meist, die Menschen sollten die Freiheit haben, ihre eigenen Fehler zu machen. Befürworter des Burkaverbots schlagen ja nicht das Verbot all dieser „objektivierenden“ Praktiken vor. Oft partizipieren sie hier sogar. So ist für viele europäische Frauen der US-Feminismus zu moralisch, zu sehr auf Zensur aus. Wir sollten die Komplexität der menschlichen Sexualität deutlicher akzeptieren, heißt es oft aus Europa. Auch dort sind die Gegner der Burka vollkommen inkonsequent und legen eine Angst vor dem Anderen an den Tag, die diskriminierend und einer liberalen Demokratie unwürdig ist. Tatsächlich aber ­beanspruchen sie die Position eines inquisitorischen Feminismus-Ministeriums – doch nur für

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­ estimmte Menschen, deren wirkliche Motive und Verständnis sie vermutlich nicht b klar erfassen, nicht aber für ihresgleichen. In diesem Fall wie in allen anderen geht man mit Sexismus am besten durch Überzeugung und Beispiel um, nicht durch Beschneidung der Freiheit. Vergleichbare Inkonsequenz trat in der Geschichte auf, wenn eine neue Reli­ gion mitsamt ihren kulturellen Praktiken Ängste hervorrief.15 Als die Mormonen in Amerika ankamen, war die offizielle US-Zivilisation sehr schnell dabei, die Poly­ gamie der Mormonen als schlimme Form der Sklaverei zu dämonisieren, obwohl Frauen in monogamen Ehen in jener Zeit keine Besitz- oder bürgerlichen Rechte hatten und sich nicht wegen Grausamkeit oder Verlassen-Werden scheiden lassen konnten – während Mormonen-Frauen immerhin 1872 in Utah das Stimmrecht erhielten. Kein Zweifel, es war nicht alles rosig in Mormonen-Ehen, doch in keiner Ehe jener Zeit sah es sonderlich gut aus. Mormonen warf man das Machtgefälle vor, was dann auf die gesamte Institution Ehe übergriff. Später förderte ein gewaltiger Anstieg katholischer Einwanderer eine Variante dieses Themas zutage, als anti-­ katholische Propaganda diese Religion als anti-weiblich brandmarkte. Paul Blanshards populäres Buch American Freedom And Catholic Power konzentrierte sich auf das (angeblich) sonderliche Leben von Nonnen mit ihren „unhygienischen Trachten und ihren mittelalterlichen Verhaltensregeln“; es betonte die Unterdrückung ihrer erotischen Instinkte und die „Attitüde der frommen und weiblichen Unterordnung, die dem generell so robusten und unabhängigen Geist amerikanischer Weiblichkeit“ so vollkommen fremd sei.16 Wenn man weiß, wie die Be­griffe der „objectification“ und Unterordnung benutzt wurden, um andere Immigrantengruppen in der US-Geschichte zu verleumden, dann sollte man noch vorsichtiger sein, sie heute anzuwenden. Natürlich kann man das, was legal ist, ablehnen, und wir sollten ethische wie auch legale Normen überdenken. Ich gehe davon aus, dass die meisten von uns der Meinung sind, dass die vulgäre und erniedrigende Behandlung von Frauen in der Werbung etwas Schlechtes ist. Und viele beklagen das Ausmaß, in welchem Frauen dazu aufgefordert werden, sich gefährlichen Operationen zu unterziehen, um ­wieder männliches Interesse auf sich zu ziehen. Und dennoch sagen wir nicht, dass Der­ artiges verboten werden solle. Wir befürworten angemessene Formen der Gesundheit und der Sicherheitsvorkehrung sowie die Grenzen, die vom aktuellen Obszönitäts-Gesetz gesteckt werden. Vergleichbares gilt für die Burka: Wir kritisieren sie (obwohl wir eigentlich zunächst einmal wissen sollten, worüber wir reden), und doch lehnen wir ein gesetzliches Verbot ab. Die Grundsätze, für die ich angetreten

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bin, besagen, dass Respekt für Menschen entsprechender Freiheits­bedingungen bedarf. Die Grundsätze bedürfen indes nicht einer vergleichbaren persönlichen Wertschätzung sämtlicher religiöser Praktiken: Legalität bedeutet nicht Zustimmung. Vieles, was legal ist, würden wohl die meisten von uns ablehnen: ­Unfreundlichkeit, Geiz, Zügellosigkeit, Unhöflichkeit, Narzissmus. Und in einer Gesellschaft, die auf gleichem Respekt gegenüber allen Menschen beruht, ist es denjenigen mit einer bestimmten religiösen oder säkularen Sichtweise vollkommen freigestellt, die Praktiken einer anderen Religion abzulehnen, sogar sämtliche religiöse Praktiken und die Religion gleich mit. Respekt bezieht sich auf den Menschen und ist vollständig vereinbar mit Abscheu gegenüber vielem, was diese Menschen tun. In einer Gesellschaft, die der gleichen Freiheit für alle verpflichtet ist, bleiben die Menschen also in vollem Umfang frei zu denken und zu sagen, dass die Burka ein störendes Kleidungsstück sei – wegen der Art und Weise, wie sie die Vergegenständlichung der Frauen symbolisiert. Doch wer das sagt, sollte zumindest über Inkonsequenz nachdenken. Und ich glaube, der Anstand fordert, dass man sich zumindest um Verständnis bemüht. Wir sollten auf das hören, was die Frauen, die eine Burka tragen, sagen, was sie darüber denken, ehe wir unsere eigene Meinung äußern. Wir sollten auch über Neugierde nachdenken. In den meisten Fällen ist es zudem unhöflich, unerbetene Meinungen darüber kundzutun, wie eine Person ­gekleidet ist, und man riskiert eine Beleidigung, auch wenn man die betreffende Person gut kennt. Höflichkeit ist eine ethische Tugend, und ich meine, in diesem Falle verlangt sie Zurückhaltung, die mehr ist als eine bestimmte Praxis nicht als illegal zu erklären. Gesetze enthalten nicht unsere gesamte Ethik. Man muss aber auch darauf hin­ weisen, dass gute Gesetze nicht unabänderlich sind, sondern vielmehr getragen sein müssen von Respekt, Anstand und Freundschaft. Wenn der konstitutionelle Schutz der Freiheit mit Missgunst und Widerwillen oder gar Feindseligkeit befolgt wird, wird er vermutlich nicht lange andauern. Wenn man also die Menschen auffordert, einige Schritte über das Gesetz hinauszugehen und einander freundlich und respektvoll zu begegnen, ist das etwas, das jeder Gesetzgeber anstreben sollte. Roger Williams widmete sein Buch über Religionsfreiheit dem „barmherzigen und mitleidvollen Leser“. Wenn eine religiöse Praxis die Rechte von Menschen verletzt, die dieser Praxis nicht zustimmen, oder wenn sie Hass gegenüber anderen schürt, sieht die Sache allerdings anders aus. Im ersten Fall ist eine gesetzliche Beschränkung sehr vernünftig. Im letzteren Fall sollte etwa die Redefreiheit nur dann eingeschränkt werden,

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wenn die öffentliche Ordnung unmittelbar bedroht ist. Den Ausdruck von Hass sollten wir aber allesamt verurteilen. Der Oberste Gerichtshof der USA befand, dass Neonazis in Skokie, Illinois, marschieren und ihre Ansichten kundtun dürften. Für andere Bürger aber war es angemessen, die Neonazis öffentlich wegen ihres Hasses zu kritisieren. Auch die weiße Kapuzenkleidung des Ku-Klux-Klan wird vermutlich als rassistisches Symbol gesehen, und auch wenn es meiner Meinung nach falsch wäre, sie für ungesetzlich zu erklären, ist es erlaubt, sie zu kritisieren. Man könnte wohl nur mit Schwierigkeiten behaupten, die Burka wäre der ­Kapuze des Ku-Klux-Klan zu vergleichen. Ein passenderer Vergleich wäre die Art, wie manche Reformjuden die Kleidung der ultra-orthodoxen Juden betrachten: Sie mögen sie altmodisch finden, durchaus auch repressiv, intellektuell fehlgeleitet (weil sie eine legalistische Interpretation des Judentums ablehnen). Doch insgesamt werden sie es für üble Nachrede halten, eine solche Wahl zu verurteilen; es sei denn, ein Freund hat sie um ihre Meinung gebeten. Gegen die Burka zu sprechen ist, wenngleich nicht illegal oder zutiefst unmoralisch, doch vermutlich üble Nachrede, vor allem dann, wenn man über den Islam wenig weiß. Eine Religion, die mich schaudern lässt, ist eine evangelikale Sekte, die von ­ihren Mitgliedern verlangt, Giftschlangen anzufassen (Gegenstand eines langen Rechtsstreits). Ich finde das bizarr, würde mich niemals einer solchen Schlange nähern und finde die entsprechenden Handlungen ekelhaft. Das heißt aber nicht, dass ich die Anhänger dieser Sekte als Träger gleicher Menschenrechte und mensch­ licher Würde nicht respektiere. Weil sie gleiche Menschenrechte und Menschenwürde haben, sollen sie ihre Religion weiter ausüben; es sei denn, ein zwingendes staatliches Interesse stünde dem entgegen. (Der langandauernde Rechtsstreit betraf eben dieses Problem. Da die Religion alle ablehnenden Erwachsenen und alle Kinder von den Schlangen fernhielt, war dies keine leichte Frage. Am Ende beschloss eine v­ orsichtige Regierung zu intervenieren.17) Die religiösen Praktiken zu kritisieren – wenn man befunden hat, dass ablehnende Menschen nicht gefährdet sind – ist üble Nachrede und ungehörig. Wir alle haben Ansichten über die Religion anderer Menschen, die wir für uns abwägen und mit unseren Freunden diskutieren. Respekt für Menschen bedarf also nicht der Unterdrückung kritischer Diskussionen, sondern des gleichen Raums für die Menschen, die ihre Gewissenspflichten ausüben; es ist egal, ob andere zustimmen und was sie in ihrem eigenen Freiraum tun und lassen. Außerdem ist gleicher Respekt für Menschen durchaus vereinbar mit der Begrenzung religiöser Freiheiten im Falle des „zwingenden staatlichen ­Interesses“. Was die Schlangenberührung angeht: Hier bestand das Interesse in der

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öffentlichen Sicherheit. Eine weitere Regierungs-Intervention, die meiner Meinung nach zu Recht geschah, war das Urteil, dass die Bob-Jones-Universität ihre Steuerbefreiung verlieren sollte, weil sie gemischt-rassische Verabredungen verbot.18 Hier befand das Oberste Gericht zwar, dass das Verbot Teil der Sektenreli­ gion und somit der Verlust der Steuerbefreiung eine „substantielle Belastung“ für die Ausübung dieser Religion war. Dennoch urteilte es, dass die Gesellschaft ein zwingendes Interesse habe, Rassismus in keiner Form zu unterstützen. Selbst die US-Regierung machte sich der Inkonsequenz in ihrem Gebrauch des Standards von „zwingendem Interesse“ schuldig. Noch nie hat unsere Regierung vergleichbare Schritte gegen die katholischen Universitäten eingeleitet, die nur Priester als Universitätsleiter vorsehen, und damit eben nur Männer. In meinen ­Augen sollten diese Universitäten allesamt aus diesem Grund ihre Steuerbefreiung verlieren. Wenn es einen relevanten Unterschied zwischen diesen beiden Fällen ­geben sollte, muss er benannt werden. Warum ist die Burka anders als der Fall der Bob-Jones-Universität? Zunächst einmal hat die Regierung dieser Universität nicht gesagt, sie könne mit ihrer Politik fortfahren, sondern hat sich nur geweigert, ihr einen finanziellen Vorteil in Form der Steuerbefreiung zu gewähren, die im Effekt eine Zusammenarbeit mit der ­Politik bedeutet. Ein zweiter Unterschied besteht darin, dass Bob Jones ein vollständiges Verbot gemischt-rassischer Verabredungen durchsetzte, die großen katholischen Universitäten (ausgenommen Georgetown, wo es jetzt einen Laien-Präsidenten gibt) haben ein vollständiges Verbot weiblicher Kandidaten für das Präsidentenamt durchgesetzt. Damit unterliegt jeder, der der Institution angehört, der Nötigung. Im Gegensatz dazu wird die Burka nicht durch eine institutionalisierte Regel vorgeschrieben. Und tatsächlich glauben nur wenige Muslime, dass alle muslimischen Frauen sie tragen müssen, und selbst die, die das glauben, machen dies nicht (jedenfalls in Europa) zur Bedingung für den Zugang zu Universitäten oder anderen Institutionen. Dieser Fall ähnelt eher dem von Studenten von Bob Jones (oder anderen Universitäten), die beschließen, sich nur mit weißen Männern oder Frauen zu treffen, weil sie selbst es so entschieden haben oder dem Druck der Eltern oder der ­Familie ausgesetzt waren. Traurig genug treffen sich die meisten Menschen an den meisten Orten ohnehin lieber mit Menschen aus ihrer eigenen Gruppe.19 Viele Religionen unterstützen das und widersetzen sich gemischten Ehen. Das mag moralisch kurzsichtig, aber kein Fall für eine Intervention seitens der Regierung sein. Schauen wir einen weiteren Fall an. Die indische Verfassung verbietet die Hindu-Praxis der „Unberührbarkeit“ in allen Formen.20 Unberührbarkeit war, wie die

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Rassentrennung in den USA, eine grausame und nicht einvernehmliche Praxis der Stigmatisierung und des Nichtkontakts, mit Zwang, oft durch Gewalt, durchgesetzt – gegenüber einer großen und relativ machtlosen Minderheit, die dementsprechend in politischer, erziehungsmäßiger und wirtschaftlicher Hinsicht benachteiligt wird. In diesem Fall war, wie bei der amerikanischen Rassentrennung, gesetzliche Intervention gerechtfertigt, trotz der damit einhergehenden Beschränkung der Freiheit. Beide Praktiken spielten eine äußerst grausame und schädliche Rolle, als Millionen von Menschen die ihnen zustehenden Rechte vorenthalten wurden, und sie hatten einen überwältigenden Einfluss auf Gestalt und Verlauf des öffentlichen Lebens. Eingriffe der Regierung, um die gleichen Rechte für alle zu schützen, waren gerechtfertigt. Im weiteren Verlauf werde ich darlegen, dass das Verbot muslimischer Kopfbedeckung in der Türkei in mancher Hinsicht diesen Fällen vergleichbar und vermutlich gerechtfertigt war, zumindest zu einem bestimmten Zeitpunkt. Das ­Tragen der Burka in Europa und den USA, eine individuelle Praxis kleinerer ­Gruppen, die sich nach religiösen Minderheiten-Normen richten, ist mit den genannten Fällen nicht ernsthaft vergleichbar. Das führt uns zu unserem nächsten Argument.

Burkaverbot: Nötigung Ein viertes Argument besagt, dass viele Frauen die Burka nur deshalb tragen, weil man sie dazu genötigt hat. Es ist dies ein ziemlich unglaubwürdiges Pauschal-Argument und wird meist von denen vorgebracht, die keine Vorstellung haben von dieser oder jener Frau. Unsere Antwort: Natürlich sind alle Formen von Gewalt und körperlicher Nötigung zu Hause längst illegal, und Gesetze gegen häusliche Gewalt und Missbrauch sollten viel intensiver durchgesetzt werden, als es der Fall ist. Glauben die Befürworter dieses Arguments wirklich, häusliche Gewalt sei ein rein muslimisches Problem? Wenn ja, dann irren sie sich. Nach dem US Bureau of J­ustice Statistics (BJS) macht partnerschaftliche Gewalt 20 % aller nichttödlichen ­Fälle aus, die von Frauen 2001 gemeldet wurden. Die National Violence against Women Survey [Nationales Gutachten zur Gewalt gegen Frauen], auf der Website von BJS zitiert, meldet, dass 52 % der befragten Frauen berichten, als Kind physischer Gewalt durch einen erwachsenen Fürsorgeberechtigten ausgesetzt gewesen zu sein bzw. als erwachsene Frau durch diese und andere Täter. Es gibt keinen Beweis, dass muslimische Familien einen unverhältnismäßig hohen Anteil an derartiger Gewalt

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aufweisen. Angesichts der starken Verbindung von häuslicher Gewalt und Alkoholmissbrauch scheint es plausibel, dass praktizierende Muslimfamilien hier eher einen geringeren Anteil haben. Angenommen, es gäbe statistische Beweise, dass die Burka mit Gewalt gegen Frauen in Verbindung steht. Könnte dann die Regierung die Burka verbieten? Der Oberste Gerichtshof der USA hat geurteilt, dass Nackttanzen wegen seiner möglichen Verbindung mit Verbrechen, einschließlich der Gewalt gegen Frauen, verboten werden darf, aber wesentliche Aspekte dieses Urteils sind vage formuliert, und es ist nicht klar, ob diese Analyse korrekt ist.21 College-Studentenverbindungen werden häufig mit Gewalt gegen Frauen in Verbindung gebracht, und manche Universitäten haben sämtliche Studentenverbindungen deshalb vom Campus verbannt. Doch private Institutionen haben das Recht, Regeln festzusetzen, was in ihren Räumlichkeiten stattfinden darf. Öffentliche Universitäten sind berechtigt, bestimmte Arten von Aktivitäten zu beschränken, die öffentliche Gelder erhalten, vor allem, wenn die Aktivitäten illegal sind (Alkoholkonsum Minderjähriger). Doch ein vollständiges regierungsseitiges Verbot von Kneipen für Männer (oder andere Orte, an denen Männer sich betrinken, wie etwa Fußballspiele) wäre eine bizarre Beschränkung der Versammlungsfreiheit, die nur von wenigen gutgeheißen würde. Alkohol gehört zu den Dingen, die nach unserer Kenntnis seit langem mit ­Nötigung und Gewalt gegen Frauen verbunden sind. Der Zusatz zur US-Verfassung, der Alkohol verbietet, wurde aus eben diesem Grund erlassen. Er stand auf schwachen Füßen, was Freiheit angeht: Warum sollten gesetzestreue Bürger an den Verbrechen derjenigen leiden, die Missbrauch treiben? Es war aber noch viel deutlicher, dass die Prohibition eine vollständige Katastrophe war, politisch und in der Praxis. Das Verbrechen stieg an, und die Gewalt gegen Frauen hörte nicht auf. Ähnlich beklagen heute College- und Universitäts-Verwaltungen generell die Tatsache, dass das Alter, ab dem Alkohol erlaubt ist, gegenwärtig bei 21 liegt und nicht bei 18, weil sie glauben, dass das höhere Alter tatsächlich Alkoholexzesse und Nötigung von Frauen befördert. Der Grund dafür ist, dass derzeit der Alkohol­ genuss im Verborgenen und illegal stattfindet und nicht legal und damit potentiell regulierbar und von Universitätsbeauftragten zu überprüfen ist. Außerdem erhielten während der Prohibition die Religionen, die den sakramentalen Gebrauch von Alkohol verlangten, eine Ausnahme. Und heute nimmt das Bundesgesetz den religiösen Gebrauch von Alkohol vom Jugend-Alkoholverbot aus. Korrekt wäre also ein Verbot der Burka, das all die ausnähme, die sie aus religiösen Gründen tragen – was de facto auf alle Benutzerinnen zutrifft.

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Wichtiger noch ist aber die Tatsache, dass jeder, der für das Burka-Verbot eintritt, dies zusammen mit den genannten Fällen bedenken, die Befunde abwägen und die Konsequenzen tragen muss, was die eigenen geliebten Hobbys angeht. Manche Leute könnten ernsthaft vorschlagen, legale Beschränkungen dazu einzusetzen, um an die schlimmsten Missbräuche heranzukommen, auch wenn das eine Beschränkung der Freiheit bedeuten würde. Doch werden sie einen glaubwürdigen Fall vortragen müssen, dass die Praktiken, die sie im Sinn haben, wirklich diejenigen mit den schlimmsten Missbräuchen sind. Was sollen wir verbieten? Partys von Studentenverbindungen? Den Verkauf von Alkohol? Gewaltpornografie? All diese mutmaßlichen Verbote fanden ihre Befürworter, obwohl Vernunft und das Interesse an Freiheit uns raten, die Finger davon zu lassen. Es wäre in der Tat schwierig zu zeigen, dass die Burka eine Gefahr für Frauen darstellt, vergleichbar der Gefahr, die mit den genannten Dingen verbunden ist. Was aber ist mit Kindern und Heranwachsenden? Sicher haben sie keine andere Wahl, solange sie bei ihren Eltern leben. Weshalb man dem familiären Druck, religiöse Kleidung zu tragen, kaum wird begegnen können. Diese Frage eröffnet ein weites Gebiet, weil in modernen Familien nichts mehr verbreitet ist als unterschiedliche Formen von Nötigung und Druck: Die Kinder sollen erstklassige Colleges besuchen, sich mit Leuten von der „richtigen“ Religion oder Ethnie treffen, „angemessene“ Kleidung tragen, eine hoch dotierte Karriere anstreben, sich duschen, „und so weiter und so fort bis zum nimmerletzten“, wie James Joyce einst sagte.22 Wo sollte die Regierung also anfangen? Sicher bei den Fällen, wo körperlicher und/oder sexueller Missbrauch vorliegt, was sehr oft der Fall ist. Wo ein religiöses Mandat betroffen ist, wäre eine solche Einmischung ebenfalls gerechtfertigt, wenn das Verhalten für körperliche Gesundheit und Sicherheit ein großes Risiko darstellt. So haben Gerichte oft im Hinblick auf Zeugen Jehovas geurteilt, als Eltern ihren Kindern lebensrettende Bluttransfusionen verweigerten bzw. bei Mitgliedern der Christian Scientists, wenn Eltern die notwendige medizinische Hilfe verwehrten. (Man beachte, dass es den Eltern selbst vollkommen freigestellt ist, für sich eine solche Behandlung in Anspruch zu nehmen oder nicht.) Gerichtliche Intervention scheint auch dann angebracht, wenn ein nicht einvernehmliches Vorgehen auf Dauer wesentliche Körperfunktionen beeinträchtigt. Es kann also mit Recht argumentiert werden, dass weibliche Genitalverstümmelung an Minderjährigen illegal ist, wenn sie sexuelles Vergnügen oder andere körperliche Funktionen schädigt. (Ein symbolischer Stich ist etwas anderes.) Männliche ­Beschneidung scheint mir dagegen in Ordnung zu sein, weil ich keine triftigen

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Beweise sehe, dass sie die sexuelle Funktion des Erwachsenen behindert. Vielmehr weiß man heute, dass sie die Ansteckung durch HIV/AIDS vermindert. Andere Formen der körperlichen Veränderung an Kindern – Durchstechen der Ohren etwa oder Zahnregulierung oder plastische Operation an einem Ohr, das angeblich zu weit absteht – sind gesetzlich nicht regulierbar, weil sie die grundsätzliche Funktion nicht beeinträchtigen.23 In jedem Fall gilt mein doppelter Test: Besteht eine substantielle Belastung der elterlichen Religionsfreiheit? Und wenn ja, gibt es ein zwingendes staatliches Interesse, das die Zumutung dieser Belastung rechtfertigt? Nun zur Burka. Die Burka (für Minderjährige) gehört nicht zur Kategorie der Genitalmanipulationen, da sie nicht unumkehrbar ist und auch nicht die Gesundheit bedroht und körperliche Funktionen nicht beeinträchtigt – längst nicht so sehr, wie das für hochhackige Schuhe gilt. Wenn die Burka durch körperliche oder sexuelle Gewalt aufgezwungen wurde, muss das gesetzlich bestraft werden. Andererseits scheint das in die gleiche Kategorie zu fallen wie alles, was Eltern ihren Kindern aufbürden: sich „anständig“ anzuziehen, auf die „richtige“ Schule zu gehen, beste Abschlüsse zu machen, Geige zu spielen, nur Leute mit der „richtigen“ Religion zu treffen, eine SpitzenUniversität zu besuchen. Manches davon scheint in der Tat gegen Gesetze zur Grausamkeit gegenüber Kindern zu verstoßen. Als etwa die Jura-Professorin Amy Chua in einem populären Buch zugab, dass sie ihre dreijährige Tochter gezwungen hatte, in der Kälte zu stehen, und bei anderer Gelegenheit sie genötigt hatte, am Klavier zu bleiben, ohne dass sie aufs Klo oder ins Bad durfte, weil sie eine schwierige Passage am Klavier nicht geschafft hatte, fragt man sich, warum die ­Polizei nicht an ihre Tür klopfte.24 Das hört sich für mich nach Kindesmissbrauch an, und ich meine, die Polizei hätte eingreifen können, obwohl das eindeutig nicht geschah. Wäre das in einer muslimischen Einwandererfamilie passiert und nicht im Obere-MittelklasseHaus zweier Yale-Universitäts-Rechtsprofessoren, die Mutter zudem aus einer ­Minderheit stammend, die für ihre Arbeitsethik gepriesen wird, dann hätte sich die ­Polizei mehr um das kleine Mädchen gekümmert, und zwar mit Recht. Wenn vergleichbare Nötigungen eingesetzt worden wären, um ein Kind dazu zu bringen, die Burka zu tragen, wäre der Fall reif für eine Intervention. Die meisten Fälle sind aber nicht so; sie sind vielmehr (wenn Nötigung ausgeübt wird, was aber oft nicht geschieht) wie eine emotionale Erpressung von allzu bekannter und weit verbreiteter Sorte. Eltern, die ihre Kinder durch emotionale Erpressung motivieren, sind tadelnswert, die Polizei aber in solchen Fällen zu holen, würde b­ edeuten, ein zu großes Maß an gesetzlicher Intervention bei Familienangelegenheiten zu befürworten.

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Zuweilen kann Nötigung auch den Hass auf eine Gruppe von Mitmenschen ausdrücken. So drohte beispielsweise mein Vater, mich zu enterben, wenn ich ­öffentlich mit einer Gruppe erschiene, zu der auch Afro-Amerikaner gehörten. Später weigerte er sich, zu meiner Hochzeit zu kommen, als ich einen Juden heiratete. Es wäre vollkommen angemessen, diese Nötigung zu kritisieren, auch von Seiten von Menschen, die meinen Vater nicht kannten: weil es immer richtig ist, gegen Hass und Stigmatisierung zu protestieren wie auch gegen den Druck auf Kinder, die den von Hass geleiteten Erwartungen entsprechen sollen – so wie es auch richtig ist, gegen die weiße Kapuze des KKK die Stimme zu erheben. In der überwiegenden Zahl der Fälle aber sind die Dinge weit weniger klar, und die Burka ist einer dieser Fälle, da sie nicht Ausdruck des Hasses auf eine Gruppe von Menschen ist. In diesem Fall also neige ich zur Ansicht, dass selbst lautstarker öffentlicher Protest üble Nachrede und ungehörig ist. Ich habe gesagt, der Schutz zentraler menschlicher Fähigkeiten sollte immer als zwingendes staatliches Interesse angesehen werden. Ein Grenzfall, was das staatliche Interesse angeht, die Möglichkeiten der Kinder zu schützen, ist der Fall Wiscon­ sin gegen Yoder vor dem Obersten Gericht; es ging um die Verweigerung von Ausbildung. Eine Gruppe von Amisch-Eltern ersuchte darum, ihre Kinder von den letzten beiden gesetzlichen Schuljahren zu befreien.25 Sie hätten ganz klar verloren, wenn sie ihre Kinder komplett von der Schule hätten nehmen wollen, doch es ging nur um die beiden letzten Jahre. Sie gewannen ihren Fall auf Grundlage der Anpassungs-Regelung, auch wenn sie vermutlich Richter Scalias lockeschen Test nicht bestanden hätten, weil das Gesetz, das die Ausbildung bis zum 16. Lebensjahr verlangt, kein diskriminierendes ist und nicht erlassen wurde, um die Amish zu verfolgen. Der Fall ist schwierig, weil die Eltern überzeugend vorbrachten, dass die Arbeit auf der Farm in diesem entscheidenden Alter ein Kernstück ihrer auf Gemeinschaft beruhenden Religion ist. Und doch eröffnet Bildung so viele Möglichkeiten zum Aufstieg, dass die Verweigerung der beiden letzten Jahre die Zukunft der Kinder unzumutbar beschneidet. Natürlich standen die Kinder unter schwerem Druck, zu tun, was die Eltern wollten. (Damit hat Richter Douglas’ Forderung, das Gericht möge den Fall entscheiden, nachdem es die Kinder befragt habe, einen deutlichen Mangel an praktischem Verständnis gezeigt.) Gesellschaften haben das Recht darauf zu bestehen, dass alle weiblichen Kinder eine geeignete Erziehung und Beschäftigungsmöglichkeiten erhalten, die ihnen Fluchtmöglichkeiten aus den häuslichen Situationen eröffnen, die sie ablehnen. Wenn die Menschen glauben, Frauen trügen die Burka nur durch Zwang, sollen sie

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ihnen genügend Möglichkeiten verschaffen und dann schauen, was die Frauen tatsächlich machen. Zusätzlich sollen Gesellschaften zu Recht darauf bestehen, Kinder über die verschiedenen Gruppen zu belehren, die innerhalb ihrer Gesellschaft leben, was ein wichtiger Teil der Geschichte und der bürgerlichen Bildung darstellt. Und indem sichergestellt wird, dass der öffentliche Raum nichtdiskriminierend gehandhabt wird, bietet man jungen Menschen ein weites Feld an Möglichkeiten, andere zu treffen, die anders sind als sie, was ihnen neue Wahlmöglichkeiten beschert. (Vom Standpunkt der Trennungsbestrebungen meines Vaters bot New York eine wunderbare Gelegenheit, ständig „falschen“ Leuten der unterschiedlichsten Art zu begegnen.) Amerikaner und Europäer müssen aber offen der Tatsache ins Gesicht sehen, dass manche Menschen in der Tat ein Leben wählen, das Autorität und Zwang beinhaltet. Angesichts der Tatsache, dass die USA und die meisten europäischen Nationen seit einiger Zeit Freiwilligen-Armeen haben und dass Deutschland das Gesetz zur Wehrpflicht abgeschafft hat, haben sämtliche Bürger dieser Nationen allen Grund, dankbar dafür zu sein, dass sich die Vorliebe für ein geordnetes Leben, das der Obrigkeit unterworfen ist, (immer noch) durch ihre Gesellschaften zieht. Und die meisten behandeln die Entscheidungen derjenigen Männer und Frauen, die zum Militär gehen, mit Respekt und sagen eben nicht, dass eine solche Wahlmöglichkeit verboten werden sollte. Autoritäre Möglichkeiten dieser Art, wie man sie vielleicht nennen könnte, scheinen für viele wohlhabende Mittelklasse-Amerikaner einigermaßen sonderbar zu sein, vielleicht besonders für Intellektuelle. Ich erinnere mich an ein Telefongespräch mit einer FBI-Agentin, die sich nach einem meiner früheren Philosophie-Absolventen erkundigte, der wegen einer Karriere als Marine­leutnant eine solche als Philosophie-Professor ausgeschlagen hatte und sich zu dem Zeitpunkt für die Leitungsebene der Sicherheitsüberprüfung bewarb. Als sie fragte, ob Tom Züge hatte, die innerhalb der Studentenschaft ungewöhnlich waren, musste ich bejahen: Er wollte Marinesoldat werden. Das gehört zu den vermutlich merkwürdigsten Zügen, die ein Philosoph aufweisen kann. Doch was die Agentin und ich sahen (als wir beide über die Gegensätzlichkeit der beiden Berufe lachten), war, dass eine Gesellschaft beide Typen braucht und aufnehmen sollte. Und die Menschen sollten anderen Leuten genügend Raum geben, um sich genauso entscheiden zu können. Vor allem sollten sie nicht ein Leben dämonisieren, das die Unterwerfung unter Autoritäten erfordert, andere Lebensformen dagegen hochhalten – bis sie einen relevanten Unterschied finden können. (Dass die USA eines Opfers an Autonomie wert sind, die Religion aber nicht? Viele Menschen

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glauben so etwas, aber es ist vielleicht üble Nachrede, solche Urteile über andere Menschen zu fällen, solange sie nicht meine Meinung dazu erbeten haben.) Ehe wir das Thema Nötigung verlassen, muss auf noch etwas in dieser Richtung hingewiesen werden. Als die Türkei vor langer Zeit den Schleier verbot, geschah das mit guten Gründen und in einem besonderen Zusammenhang: weil unverschleierte Frauen der Belästigung und Gewalt ausgesetzt waren. Das Verbot stellte einen Raum bereit für die Möglichkeit, unverschleiert zu gehen, und es war legitim, ­solange Frauen diese Wahlmöglichkeit nicht hatten, obwohl es nicht optimal war – wegen der Beschränkung der Freiheit, die es mit sich brachte. Das könnte man als „substantielle Belastung“, (zeitweilig) gerechtfertigt durch „zwingendes staatliches Interesse“, bezeichnen. Das Verbot scheint heute aber nicht mehr gerechtfertigt zu sein, da die Frauen die Möglichkeit haben, frei und unverschleiert zu gehen. Es wäre auch gegenwärtig in Europa und den USA nicht gerechtfertigt, wo die Frauen sich mehr oder weniger so anziehen können, wie sie wollen – mit nur dem gewöhnlichen Ausmaß an öffentlicher Belästigung, die die derzeitige Realität des Sexismus in den genannten Ländern mit sich bringt. In den USA und Europa gibt es also zurzeit keinen Grund, die Religionsfreiheit zu beschweren, was durch das Verbot geschähe.

Burkaverbot: Gesundheit Schließlich ist oft das Argument zu hören, die Burka sei per se ungesund, weil sie heiß und unbequem sei. Das habe ich in Europa oft gehört, gerade jüngst in Spanien. Es ist vielleicht das dümmste aller Argumente. Kleidung, die den Körper bedeckt, kann bequem oder unbequem sein; das hängt vom Stoff ab. In Indien trage ich gewöhnlich einen vollständigen Salwar Kameez aus Baumwolle, weil er sehr ­bequem ist, mich vollständig bedeckt, den Staub abhält und zumindest auch das Hautkrebsrisiko verringert. Man kann kaum annehmen, dass das Ausmaß der von typisch spanischer Frauenkleidung entblößten Haut die Zustimmung von Haut­ ärzten findet. Manchmal verlangt die Intensität der Sonnenstrahlung, dass man das Gesicht bedeckt. Ich habe auch berichtet, dass ich beim Baseball meine Mütze herunterziehe und eine große Sonnenbrille trage. Und ich bedecke meine Nase und meinen Mund manchmal vor dem Angriff der Sonne. Um es klar zu sagen: Wollen die Befürworter des Verbots tatsächlich alle unbequeme und womöglich ungesunde Frauenbekleidung verbieten? Müsste man da nicht mit Stöckelschuhen anfangen, so schön sie auch sind? Aber nein, Stöckelschuhe

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­ erden mit Mehrheitsnormen assoziiert (und sind ein wichtiger spanischer Exportarw tikel). Also erregen sie keinen Zorn. Generell begrenzt der Staat seine r­ egelnden Eingriffe in puncto Bekleidung darauf, sicherzustellen, dass Kinderkleidung feuerfest und frei von schädlichen Chemikalien ist und größere Gesundheitsrisiken vermieden werden. Doch insgesamt dürfen Frauen Kleidung tragen – und werden geradezu dazu ermutigt –, die man mit Recht als gesundheitsgefährdend bezeichnen kann, sei es durch Verkürzung der Sehnen oder durch die Tatsache, dass sie der Sonne ausgesetzt sind. Angenommen, Eltern verlangen von ihren Töchtern, ein viktorianisches Korsett zu tragen – das große körperliche Schäden nach sich zog und etliche Organe einschnürte. Eine erwachsene Frau könnte etwas vergleichbar Hinderliches heute ohne Hemmung tragen. Wenn sich die Leute aufregen, weil junge Mädchen gezwungen werden, Korsetts zu tragen, würde ein Verbot wohl zumindest ins Auge gefasst werden. Wären Korsetts für eine Religion verpflichtend, müssten sie (nach der Regel der Anpassung, der ich zuneige) nicht nur einen vernünftigen Grund für das Verbot vorweisen, sondern auch ein zwingendes staatliches Interesse. Sie müssten also zeigen, dass das Gesundheitsrisiko sehr groß wäre. Die Burka aber rangiert nicht in der Kategorie eines Korsetts. Wie viele Leser meiner Kolumne in der New York Times bemerkten, ist die Burka bei heißem Klima ein sinnvolles Kleidungsstück, wenn die Haut leicht durch Sonne und Staub angegriffen wird. Was eher ein Gesundheits­ risiko darstellt, dürfte das Tragen synthetischer Stoffe bei großer Hitze sein, doch darüber redet niemand. Alle fünf Argumente zugunsten eines Burkaverbots sind also inkonsequent. Und diese Inkonsequenz ist nicht bloß eine logische Schwäche oder ein Mangel an umfassendem Denken wie etwa in den Kreuzverhören bei Sokrates. Es ist die ­Inkonsequenz, die im Matthäus-Evangelium beklagt und bei Kant einer erbarmungslosen Überprüfung unterzogen wird. Es ist die Inkonsequenz des Narzissmus und derjenigen, die anderen eine Lehre erteilen, sich selbst dabei aber ausnehmen. Wer so argumentiert, stellt sich über andere und behandelt sie nicht als Gleiche. Er benutzt sie nur als Mittel für den eigenen Zweck. Nach den Begriffen unserer gesetzlichen und politischen Prinzipien schafft keines der fünf Argumente den Neutralitäts-Test, der von John Locke und Richter Scalia befürwortet wird. Wir müssen nicht einmal den heiklen Punkt der religiös motivierten Anpassung ansprechen, um zu erkennen, dass sie vollkommen unakzeptabel in einer Gesellschaft sind, die sich der gleichen Freiheit für alle verpflichtet hat. Gleicher Respekt für das Gewissen bedeutet, die genannten Argumente zurückzuweisen.

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Was aber ist mit dem Argument, dass sie alle zusammengenommen von Wert sind, wenn auch nur ein wenig Wahres an einigen von ihnen ist? Mir scheint, dass viele Europäer so denken. Betrachten wir das genauer. Ich habe dargelegt, dass an den meisten dieser Argumente (z.B. zur Gesundheit) nichts dran ist. Das verleiht den anderen also kein zusätzliches Gewicht. In den anderen Fällen würde diese Kombinations-Strategie ein größeres Gewicht erhalten, wenn wir die MehrheitsPraktiken betrachten. Denken wir hier etwa an hochhackige Schuhe. Sie stellen ein Gesundheitsrisiko dar. Und man kann wohl behaupten, dass sie dazu beitragen, Frauen zum Objekt zu machen. Auf den Frauen liegt ein nicht geringer psychologischer Druck, solche Schuhe zu tragen (die ich ja liebe, um nicht falsch verstanden zu werden). Sie sind zudem ein Sicherheitsrisiko für die Trägerinnen, weil es sie daran hindert, vor Angreifern wegzulaufen. Oder man denke an Schönheitsopera­ tionen wie Bauchstraffung, Brustimplantate und Fettabsaugung. Sie stellen ein bedeutendes Gesundheitsrisiko dar, obwohl sie, wenn richtig ausgeführt, wie es das Gesetz vorschreibt, durchaus auch sicher sein können. Zudem halten sie Frauen von körperlicher Fitness ab, versprechen vielmehr einen schnellen Weg zu Un-Fitness. Sie sind einem Klima der „objectification“ förderlich und leiten sich auch davon her. Meist entstammen sie einer Atmosphäre starker psychischer Nötigung. Frauen ­haben vielleicht eine Vorliebe für solche Schuhe, die genannten schwierigen Operationen werden sie aber kaum lieben. Von solchen Operationen könnte man vielleicht sogar sagen, sie verhindern Transparenz und bürgerliche Freundschaft, weil sie ein künstliches Frauen-Konstrukt schaffen (einen eng anliegenden Dress, ähnlich wie die berühmten Playboy-Bunny-Kostüme), was die Erkenntnis der wirk­ lichen Frau verhindert. Schließen wir uns also der Kombinations-Strategie an, führt uns das zu einem noch stärkeren Verbot von Stöckelschuhen und zumindest einiger plastischer Operationen, nicht aber zum Burkaverbot. Die Kombinations-Strategie dient also nicht zur Verteidigung dieses Verbots.

Französische laïcité: Homogenität und Sexualität Betrachten wir nun den Sonderfall Frankreich etwas genauer. Anders als andere Nationen ist Frankreich konsequent – bis zu einem gewissen Punkt. Angesichts seiner Geschichte des Antiklerikalismus und der strengen Verpflichtung auf laïcité [Weltlichkeit] kann Religion in der Öffentlichkeit keine Zeichen setzen, und der öffentliche Bereich darf Religion im Vergleich zu Nichtreligion missbilligen. Diese

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Verpflichtung führt zu Beschränkungen in großen Bereichen religiöser Manifestationen, alles im Namen einer strikten Trennung von Kirche und Staat. Schauen wir aber genauer hin, sind die Beschränkungen ungerecht und diskriminierend. Der Schulkleidungs-Erlass verbietet das muslimische Kopftuch und die jüdische ­Yarmulke [Kippa] sowie „große“ christliche Kreuze. Das ist indes eine ungleiche Bürde, weil die beiden erstgenannten Kleidungsstücke für bekennende Mitglieder dieser Religionen verpflichtend sind, das dritte aber nicht: Christen stehen unter keiner religiösen Verpflichtung, ein Kreuz zu tragen, noch weniger ein „großes“. Es gibt also Diskriminierung im französischen System. Wäre der französische Säkularismus akzeptabel, wenn er unparteiisch gehandhabt würde? Nach dem amerikanischen Verfassungsrecht darf die Regierung eine Religion gegenüber einer Nichtreligion nicht bevorzugen, und umgekehrt. So war die Ankündigung der Universität Virginia verfassungswidrig, sie werde die Stu­ diengebühren dazu benutzen, alle Studenten-Organisationen (Umwelt-, politische und andere Vereinigungen) zu subventionieren, nicht aber religiöse Zusammenschlüsse (Rosenberger v. Rector and Visitors of the University of Virginia, 515 U.S. 819 [1995]). Ich muss bekennen, dass ich diese ausgewogene Politik vor der französischen laïcité bevorzuge; ich meine, dass sie gegenüber religiösen Menschen g­ erechter ist. Die Trennung ist keine vollständige, nicht einmal in Frankreich. Ein Feuer in einer brennenden Kirche würde immer noch von der Feuerwehr gelöscht; Kirchen sind noch an die öffentlichen Wasserwerke und das Abwassersystem angeschlossen. Dennoch scheinen Ausmaß und Art der Trennung, die das französische System vorsieht, im Hinblick auf die von mir verteidigten Prinzipien ungerecht zu sein, wenn auch historisch verständlich. Betrachten wir nun die Sprache des Gesetzes, das die Burka verbietet. Es verbietet „eine Kleidung zu tragen, die das Gesicht verbirgt“ (porter une tenue destinée à dissimuler son visage) – dann folgt eine lange Liste von Ausnahmen: „Das in Artikel 1 angeführte Verbot gilt nicht, wenn die Kleidung durch ­gesetzliche oder behördliche Ausnahmen vorgeschrieben ist, wenn sie aus gesundheitlichen oder beruflichen Gründen gerechtfertigt ist oder im Zusammenhang mit sportlichen Praktiken, Festivals, künstlerischen oder traditionellen Aufführungen erfolgt.“ [l’interdiction prévue à l’article 1er ne s’applique pas si le tenue est prescrite ou autorisée par des dispositions législatives ou réglementaires, si elle est justifiée par des raisons de santé ou des motifs professionals, ou si elle s’inscrit dans le cadre de pratiques sportives, de fêtes ou de manifestations artistiques ou traditionelles.]

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Die erste Reaktion auf diese umfassende Liste besteht darin, dass das Gesetz versucht hat, sämtliche Gelegenheiten zur Bedeckung des Gesichts aufzuführen – außer der Burka. Sicher, wenn wir meine Liste ähnlicher Fälle durchgehen, finden wir, dass die meisten darin vorkommen: Skater und Skifahrer, Ärzte und Zahnärzte wegen ihrer beruflichen Erfordernisse, meine Büromaske wegen meiner Gesundheit, viele weitere Theaterfälle, wo Masken aus Gründen der Ästhetik und der „Tradition“ benutzt werden. Ich weiß nicht, was im Winter in Chicago aus mir wird, aber ich wette, dass ich aus Gründen der santé eine Ausnahme erhalte. Sicher erhält man durchgängige Konsequenz nicht dadurch, indem man einfach alles als Ausnahme von der Regel anführt bis auf das, was man ablehnt. Doch die Franzosen müssen darauf eine Antwort finden. Denn sie nehmen ja nicht jede religiöse Gelegenheit oder alle Motive zur Bedeckung des Gesichts aus. Und im Falle des Erlasses zur Schulkleidung haben sie genau das getan: Die „kleinen“ Kreuze bezeugten eine Begünstigung der christlichen Mehrheit. (Vergleichbar sind Verbote des muslimischen Kopftuchs in anderen Ländern, wobei Nonnen in vollem Habit ausgenommen werden – inkonsequent und eine Form der MehrheitsBegünstigung.) Vom Standpunkt des Prinzips der gleichen Freiheit für alle geht die Politik der laïcité in die Irre, da sie Nichtreligion vor Religion auszeichnet und die Freiheit des religiösen Ausdrucks ohne zwingendes staatliches Interesse beschränkt (abgesehen von der laïcité selbst). Doch stellen wir hier keine Fragen dazu, sondern nur solche nach der Gerechtigkeit gegenüber den Religionen. Bedeutet die Anwendung des Verbots auf alle Religionen, dass es, anders als der Schulkleidungserlass, wirklich neutral ist? Natürlich, doch obwohl das Wort „Burka“ nicht in der Gesetzgebung auftaucht, begreifen wir sehr wohl, dass es genau darum geht. Und die ­Tatsache, dass das Gesetz so großzügig mit anderen kulturellen und beruflichen Ausnahmen ­verfährt, zeigt, dass die Franzosen sich nicht sonderlich um die Praxis als solche scheren – sondern nur dann, wenn es um eine religiöse Manifestation geht. Dennoch: Ist das nicht eine konsequente und bis zu einem gewissen Grad auch neutrale Anwendung der Politik der laïcité? Das Problem, das hier vorliegt, besteht darin, dass keine andere Religion eine solche Vorschrift hat. Das Gesetz hat also etwas ausgesondert, das von zentraler Bedeutung für zumindest einige Mitglieder einer Religion ist, und es hat ihnen eine schwere Bürde auferlegt, ohne zugleich zentrale und geschätzte Praktiken anderer Religionen zu belasten.26 Man muss ja kein Bußgeld zahlen, wenn man sich auf einem öffentlichen Platz bekreuzigt, auf den Straßen religiöse Lieder singt oder eine andere religiöse Bekleidung als die Burka trägt. Soutanen, Nonnenhabits, chas-

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sidische Kleidung, die Safrantracht der Hindupriester – all das bleibt unangetastet. In einer Hinsicht ist das Gesetz also neutral, in anderer aber nicht. An dieser Stelle werden Verteidiger des Verbots in aller Regel eines der anderen Argumente an­ führen und sagen, die Burka würde, anders als andere Kleidung, ein Sicherheits­ risiko darstellen, eine Behinderung normaler Beziehungen unter den Bürgern und dergleichen mehr. Doch die Tatsache, dass die Regierung diese Begründungen nicht anerkennt, wird an der Gewährung so vieler Ausnahmen ersichtlich. Selbst eine öffentliche Maskerade, wobei Hunderte von Menschen ihr Gesicht verhüllen, hat ausdrücklich in den Statuten ihre Berechtigung erfahren. Damit wird deutlich, dass die Regierung nicht der Meinung ist, die Sicherheit würde ein zwingendes Interesse im Sinne einer Beschränkung ausmachen. Das wird durch sehr schwache und sogar alberne Interessen widerlegt. Ich schließe daraus, dass das französische Verbot nicht wirklich neutral ist, ebenso wenig wie der Schulkleidungs-Erlass. Außer dem offensichtlichen Einwand, dass der französische Säkularismus keinen hinreichend großen Freiraum für das Befolgen religiöser Erfordernisse vorsieht, können wir hier noch den Einwand des Vorurteils anführen. Generell befördert das französische Gesetz das Vorurteil, dass die gewohnte und vorherrschende französische Lebensart die einzig wahre ist, was immer das auch ist. Doch sehr offensichtlich sind die Franzosen recht heterogen, und die Burka-Politik war Gegenstand intensiver Debatten. Dennoch ist es nicht unwahrscheinlich, dies als Ausdruck der herrschenden gesellschaftlichen Normen zu sehen. Wie die Historikerin Joan Scott beredt und überzeugend argumentiert hat (was das Kopftuch betraf, lange bevor ein Kopftuch-Verbot öffentlich diskutiert wurde): Die Kontroverse um islamische Kleidung reduziert sich in Wahrheit auf das dogmatische Insistieren auf die französische Art, eine Frau zu sein, worin Sexualität je nach Gelegenheit als Form der individuellen Initiative und des persönlichen Selbstausdrucks dargestellt wird. Dieses Verständnis weiblicher Sexualität gilt als „modern“, alles andere als archaisch, subversiv und bedrohlich. „Der Gegensatz von französischer und islamischer Kultur war eine ideologische Konstruktion, die komplexe ­Realitäten auf simple, gegensätzliche Kategorien reduzierte.“27 Natürlich ist die genannte Denkweise zutiefst fehlerhaft, weil sie weder wirklichen Respekt noch Neugier bezeugt. Sie gibt dem Bekannten großen Raum, verweigert dem Unbekannten ähnliche Zuwendung und eine ähnliche Freiheit. Die europäischen Nationen unterscheiden sich in vielfacher Hinsicht, und eine jede hat ihre eigene Geschichte, die im Einzelnen darzustellen ein eigenes Buch nötig machen würde. Dennoch sind alle auf Homogenität bedacht, was sie dazu

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bringt, manche Fehler in der öffentlichen Argumentation zu machen, die irritieren. Wären diese Nationen isolierte Inseln inmitten einer Wildnis, so wie sich die amerikanischen Kolonien früher selbst sahen, wäre es zumindest verständlicher, dass sie einen abgeschlossenen Raum suchen, wo sie sich mit ihresgleichen zusammentun könnten. Das wäre eine Art nationaler Entsprechung zu einer geschlossenen Wohnanlage. Das puritanische Massachusetts war in diesem Sinne eine „gated commu­ nity“, die Abweichler und Ketzer ausschloss, die sich deshalb woanders niederließen. Und selbst das war schwierig, weil es nicht genügend umfassende Freiheit vorsah. Wir haben gesagt, dass die Menschenwürde nicht nur eine gewisse, sondern umfassende Freiheit verlangt. Menschen sind suchende Wesen, und selbst Menschen, die anfänglich einander zustimmen, werden in Ablehnung enden, wenn sie auf ihre j­eweils eigene Weise nach dem Sinn des Lebens suchen. Massachusetts verhinderte ihr Bleiben, als sie mit der Mehrheit nicht übereinstimmten. Indem sie Minder­heiten gleichen Raum verweigern, sind die Nationen Europas dem puritanischen Massachusetts beunruhigend ähnlich. Wenn diese Nationen eine Einwanderungspolitik hätten, die Menschen wie sie begünstigte, täten sie genau das, was alle Nationen auf der ganzen Welt ständig tun. Eine solche Politik könnte man für problematisch halten, und man könnte und sollte darüber diskutieren. Zumindest würden die betroffenen Nationen ihre eigenen Bürger nicht ungerecht behandeln. Das aber ist nicht die gegenwärtige Situa­ tion in Europa. Sämtliche europäischen Nationen sind bereits pluralistisch, weil sie längst Arbeitskräfte zugelassen und sogar zu kommen aufgefordert haben, um einen wichtigen Beitrag zum nationalen Wohlstand zu leisten. Und die EU hat sich zur freien Arbeitsmobilität unter den Nationen verpflichtet, was auch die Mobilität vieler dunkelhäutiger und bzw. oder muslimischer Menschen bedeutet, die in Länder kommen, die von blonden Christen dominiert sind. Sich erst diese Verpflichtungen aufzuerlegen und dann die Menschen ungleich zu behandeln, ist ein schlimmerer Fehler als die Verweigerung, sie überhaupt zuzulassen. Wenn sie einmal da und zugelassen sind, ist die Gesellschaft eine pluralistische, und alle Anstrengungen müssen gemacht werden, damit alle Mitglieder mit gleichem Respekt behandelt werden. Gesellschaften haben das Recht, Maßnahmen zu ergreifen, um ihre innersten Werte und ihre politische Kultur in Zeiten wachsender Immigration aufrechtzuerhalten. Eine naheliegende Maßnahme, die die meisten Nationen bereits umsetzen, ist die obligatorische Staatsbürgerkunde. Das gilt für öffentliche wie auch für private oder religiöse Schulen, die ihre Zulassung anstreben. Und in diesem Punkt haben

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die USA nicht so gehandelt, wie sie es hätten tun können. Obwohl das Oberste Gericht angeordnet hat, dass den privaten und religiösen Schulen angemessene ­öffentliche Erfordernisse zugemutet werden können, wird der private Unterricht zu Hause derzeit mit äußerst laxen Anforderungen zugelassen – mit dem Ergebnis, dass viele junge Menschen ohne das Verständnis für die Vielfalt ihrer Gesellschaft oder für die grundlegenden Werte von Respekt und Gleichheit aufwachsen, die diese Gesellschaft zusammenhalten.28 Gesellschaften dürfen zudem auf Nicht­ diskriminierung im öffentlichen Raum bestehen und diesen Raum weitgehend ­definieren, was auch alle Läden und größere Mietshäuser betrifft. Auf diese Art schützen sie den öffentlichen Raum als einen Bereich, in dem sich unterschiedliche Bürger auf gleicher Ebene begegnen. Weder Minderheiten noch Mehrheiten, die diesen Raum betreten, dürfen sich vom Kontakt mit denen ausschließen, die anders sind. Diskriminierung im öffentlichen Raum kann und sollte illegal sein, und Minderheiten wie Mehrheiten müssen Nichtdiskriminierungsgesetze befolgen, soweit öffentliche Einrichtungen betroffen sind.29 Dazu kommt, dass die Nationen grundlegende Werte bei den Verfahren zur Einbürgerung längst festgesetzt haben. ­Nationen können zudem einen intelligenten Gebrauch von öffentlicher Kunst machen, von öffentlichen Parks, von Festivals wie auch der politischen Rhetorik, um Gefühle anzusprechen, die mit grundlegenden politischen Werten verbunden sind. Dass das für die politische Stabilität wesentlich ist, haben erfolgreiche politische Führer von Abraham Lincoln bis zu Martin Luther King jr. erkannt.30 All das sind positive Schritte; keiner davon verlangt das Verbot einer persönlichen und ein­ vernehmlichen religiösen Praxis, und keiner zieht Extrabelastungen für Minderheiten nach sich. Vorurteile sind hässlich. Wie schon Kant sagte, sind sie eine gute Vorbedingung für das Versagen auf ethischem Gebiet. In unseren Gesetzen und Institutionen ­dürfen wir Vorurteile nicht tolerieren und müssen uns intensiv darum bemühen, sie auch im informellen Bereich bei unseren Mitbürgern zu vermeiden. Sie zu vermeiden haben wir aber nur dann die Chance, wenn wir uns so intensiv wie möglich bemühen, ein „selbsterforschtes Leben“ zu führen.

5 Innere Augen: Respekt und mitfühlende Phantasie Um gute Grundsätze in die Tat umzusetzen, müssen wir unsere „inneren Augen“ entwickeln. Dieser Ausdruck stammt aus Ralph Ellisons Roman Invisible Man [dt.: Unsichtbar; Fischer-Verlag, Frankfurt 1954; S. 9], der so beginnt: „Ich bin ein Unsichtbarer. Nein, keine jener Spukgestalten, die Edgar Allan Poe heimsuchten, auch keines jener Kino-Ektoplasmen, wie sie in Hollywood hergestellt werden. Ich bin wirklicher Mensch, aus Fleisch und Knochen, aus Nerven und Flüssigkeit – und man könnte vielleicht sogar sagen, dass ich Verstand habe. Aber trotzdem: Ich bin unsichtbar – weil man mich einfach nicht sehen will. Wie die körperlosen Köpfe, die man manchmal auf Jahrmärkten sieht, als wäre ich von erbarmungslosen Zerrspiegeln umgeben. Wer sich mir nähert, sieht nur meine Um­ gebung, sich selbst oder die Produkte seiner Phantasie – ja, alles sieht er, alles, nur mich nicht. Meine Unsichtbarkeit wird auch nicht durch eine besondere bio-chemische ­Beschaffenheit meiner Haut bedingt. Die Unsichtbarkeit, die ich meine, ist die Folge einer eigenartigen Anlage der Augen derer, mit denen ich in Berührung komme, des Baus ihrer inneren Augen, mit denen sie durch ihr körperliches Auge die Wirklichkeit sehen.“ Die meisten von uns sehen die Welt durch ihre körperlichen Augen. Doch wir alle (mit und ohne Sehfähigkeit) blicken mithilfe eines inneren Organs durch unsere Augen: der Phantasie. Ellisons Held ist verstört, weil das innere Auge des weißen Amerika nicht seine menschliche Wirklichkeit sieht. Sie sehen „nur meine Umgebung, sich selbst oder die Produkte seiner Phantasie“. Nie haben sie ihn gefragt, wie er lebt und was seine Gefühle und Ziele sind. Sie haben wohl innere Augen, doch bleiben sie unausgebildet. Und dieser Mangel ist nicht nur bei amerikanischen Rassisten zu finden. Wir alle bewegen uns durch unser Leben, eingehüllt in den Nebel unserer selbstsüchtigen Ziele und Wünsche und sehen andere Menschen als bloße Instrumente dieser

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Wünsche. Kant sagte, dass wir gute Grundsätze brauchen, die diesen Mangel aufnehmen. Doch wir brauchen noch etwas anderes: Wir müssen andere Denkweisen ausbilden, eine Haltung der Neugier, der Frage und des Wahrnehmens, die uns sagt: „Hier ist ein anderer Mensch. Ich möchte wissen, was er oder sie gerade sieht und fühlt.“ Diese Neugier muss durch Tatsachen erhärtet werden, denn ohne eine ­genaue historische und empirische Information können wir diese Frage nicht beantworten. Und es braucht noch etwas: die Bereitschaft, aus sich heraus und in eine andere Welt einzutreten.

Bürgerliche Freundschaft und innere Vision Der erste Satz der Narragansett-Sprache [ein Indianerstamm im Nordosten der USA], den Roger Williams seinen Lesern beibringt, ist eine Frage: „Wie ist deine Stimmung, Nétop?“ Und dann erklärt er: „Nétop heißt Freund.“ Ich spreche also von der Phantasie, die in dieser schlichten Begrüßung ausgedrückt wird, die einerseits eine Tatsacheninformation ist – Williams hat gelernt, Narragansett zu sprechen, und zwingt seine Leser, zumindest etwas davon zu erfahren. Sie bezeugt aber auch eine Offenheit des Geistes, die durch Tatsacheninformation allein nicht ge­ leistet wird. Unser inneres Auge kann sehr gut arbeiten, auch wenn wir das nicht bewusst tun oder absichtlich phantasieren. Seine Tätigkeit kann zur täglichen Routine werden, wenn es von Anfang an kultiviert wurde. Im Sommer 2010 ging ich wie so oft zu einem Spiel der White Sox. Ich war mit zwei Freunden aus Texas und meinem Schwiegersohn dort, der in Deutschland geboren wurde und nun eine Green Card hat. An Chicago-Maßstäben gemessen, waren wir also ein gemischter multikultureller Haufen. Hinter mir saß ein Vater mit schulterlangem grauen Haar (ein gebildeter, offensichtlich wohlhabender Ex-Hippie, dem es Vergnügen machte, seiner Tochter und zwei weiteren Mädchen mit modischen Sommerkleidern die Fein­ heiten des Spiels zu erklären). Zu unserer Rechten saß ein gesetztes afro-amerikanisches Paar; die Frau hielt eine Tasche, die sie als Mitarbeiterin des U.S. Census Religion Subcommittee ihres Vorortbezirks auswies. Vor uns saßen drei jüdisch-­ orthodoxe Jungen, ungefähr sechs, zehn und achtzehn Jahre alt, ihre Zizijot (rituelle Fäden an jüdischen Schals sowie eine Art T-Shirt, die an Mose Gebote erinnern sollen) schauten unter ihren Sox-Shirts hervor, und sie trugen eine zweifache Kopfbedeckung: Während der Nationalhymne konnten sie ihre Sox-Mützen abnehmen,

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darunter aber ihre Kipot behalten. Obwohl sie damit ihre Köpfe nicht wirklich zur Nationalhymne entblößten, fingen sie sich keine hässlichen Blicke ein oder Kommentare wie: „Nehmt den Hut ab!“ oder „Hier setzen wir den Hut ab!“. Niemand außer mir schien ihnen überhaupt Aufmerksamkeit zu schenken. Diese Nichtbeachtung war sehr wahrscheinlich Resultat eines inneren Auges, das gut funktionierte. Was dachten die Menschen um mich herum? Vermutlich wussten nur wenige um die Bedeutung eines Zizit oder um Feinheiten des Judaismus. Aber alle hätten dies als jüdisch-religiöse Kleidung erkannt, und die meisten hätten verstanden, dass die Kippa religiös notwendig ist. Manche mögen also gedacht haben: „Diese Jungen befolgen ihre Religion; gut für sie“; andere vielleicht: „Alberne archaische Überbleibsel.“ Dann aber vielleicht auch: „Aber es ist ihre ­Religion, und das geht mich nichts an.“ Seit den Zeiten, als die Quäker und Mennoniten sich weigerten, den Hut zu ziehen und die Mennoniten und die Amischen sich für „vormoderne“ Kleidung entschieden, haben wir Amerikaner uns an merkwür­dige Kleidung gewöhnt sowie an die Vorstellung, dass das bewusste Befolgen reli­giöser Vorschriften den Menschen oft abverlangt, sich auf eine Weise zu kleiden, die auf die Mehrheit merkwürdig oder unangenehm wirkt. Meine eigene Reaktion war vermutlich besonders vielschichtig, weil ich eine Jüdin bin, die die Vorschriften der Orthodoxie ablehnt. Nie würde ich ein Kind oder einen Verwandten von mir auffordern, den Zizit zu tragen und außerhalb des Tempels eine Kippa. Als Reformjüdin betrachte ich solche Dinge als Totemismus und Fetischismus. Aber nie würde ich Fremde oder Bekannte durch eine entsprechende Bemerkung beleidigen, es sei denn, es wären Freunde, die mich um Rat gefragt hätten. Wieso behaupte ich, dass dies ein Fall des inneren Auges sei? Weil die Zu­ schauer an Menschen in merkwürdiger Kleidung gewohnt waren, vor allem an solche, die von der Religion vorgeschrieben ist. Mit dieser Vorstellung sind sie aufgewachsen. Menschen, die anders aussehen, schienen nicht unmittelbar bedrohlich zu sein und auch die Mehrheit nicht durch ihre Weigerung zu beleidigen, das Verhalten der Mehrheit zu übernehmen. Die „vormoderne“ Art ihres religiösen Gehorsams schien nicht anstößig zu sein – oder, wenn das doch auf einige zutraf, hatten sie immerhin ihren gesunden Menschenverstand und so viel Anstand, diese Reaktion für sich zu behalten. Eine wesentliche Idee hatte von den Jungen Besitz ergriffen: dass sie ihrem eigenen Gewissen folgen, auch wenn das dazu führt, dass man sich nicht assimiliert. Heute reden viele Menschen (vor allem vielleicht in Europa) darüber, wie sehr Immigranten lernen müssen, sich anzupassen. Doch ich frage: Was hätten sie denn gerne bei dem erwähnten Spiel der White Sox gesehen? Was ich

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gesehen habe oder doch lieber, dass drei jüdische Jungen aus dem Stadion vertrieben wurden, weil sie angeblich der Flagge den Respekt nicht erwiesen haben? (Man bemerke, dass die Jungen wie die meisten Minderheiten den Respekt so zeigten, wie es ihnen möglich war, ohne ihr Gewissen zu verletzen.) Diese Geschichte zeigt uns etwas über Respekt: dass er nämlich so lange ausbleibt, bis das „innere Auge“ kultiviert wurde. Man hätte annehmen können, dass wir nur gute Grundsätze brauchen, die gleichen Respekt für alle verlangen, dazu die Idee, dass gleicher Respekt gleiche und umfassende religiöse Freiheit nach sich zieht. Doch Grundsätze wenden sich nicht von allein an: Zunächst müssen wir die wesentlichen Aspekte der Situation erfassen, die sich vor uns auftut.1 Wenn man diese Jungen als „subversiv“ angesehen hätte, als „Sicherheitsbedrohung“ oder sogar als „Bedrohung der nationalen Identität“, hätte man sie nicht unter dem Prinzip der religiösen Freiheit betrachtet. Dann hätte ein „zwingendes“ öffentliches Interesse ausgereicht, eine Einschränkung ihres Verhaltens zu rechtfertigen. Hätten aber die Menschen sie gesehen und gedacht: „Hier sind Kinder in Gefahr, weil Erwachsene ihnen grausam vormoderne Werte aufzwingen“, wäre man wohl nicht darauf gekommen, dass ein Eingriff in die religiösen Gebräuche der Jungen eine „substantielle Bürde“ sei. Respekt gilt indes Personen und nicht notwendig dem, was sie tun. Die Vorstellung, dass gleicher Respekt für alle von uns verlangt, alle Religionen oder sogar jegliches religiöses Verhalten gleichermaßen gutzuheißen, ist falsch, und die mitfühlende Phantasie bedarf ebenfalls keiner Zustimmung. Wir sollten nur den anderen als Menschen mit seinen Zielen wahrnehmen und diese Ziele einigermaßen begreifen, damit man erkennt, was eine Belastung für ihr Gewissen darstellt und ob ihr Verhalten tatsächlich vitalen staatlichen Interessen zuwiderläuft. Ich selbst habe große Probleme mit dem orthodoxen Judaismus, den die Jungen exemplarisch ­zeigen, und wenn mich ein Freund fragen würde, würde ich auch meine Meinung sagen. Doch die mitfühlende Phantasie erinnert mich daran, dass die Jungen ihr eigenes Leben führen, so wie ich meines führe, und sie haben das Recht auf den Freiraum, ihre eigenen Ziele zu verfolgen so wie ich die meinigen, solange kein wirklich zwingendes öffentliches Interesse betroffen ist. Noch allgemeiner gesehen, macht die Phantasie andere Menschen für uns erst real. Ein verbreiteter menschlicher Fehler besteht darin, die Welt vom Standpunkt der eigenen Erwartungen zu sehen und das Verhalten der anderen auf sich zu beziehen. Also etwa: „Diese verschleierten Frauen fordern aggressiv das Französische heraus“ oder „Diese Jungen sind unamerikanisch“. Eine Verweigerung der Homogenität gilt nur allzu oft für die Mehrheit als Missachtung oder sogar Angriff. Wenn

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wir uns das Leben der anderen vorstellen, müssen wir nicht notwendig mit ihren Zielen übereinstimmen, erkennen aber die Realität dieser Ziele für sie. Wir lernen, dass es andere Denkwelten und Gefühle gibt. Ich habe gesagt, dass die mitfühlende Phantasie banal und unbewusst ist oder sein kann. Wir alle sind in der Lage, tägliche zahllose Entscheidungen zu fällen, die die Ansichten der anderen berücksichtigen, wenn wir nur darin geübt sind. Doch will ich jetzt einige Fälle einer bewussten Kultivierung der Phantasie anführen. Verschiedene Autoren laden ihr Publikum ein, über religiöse Minderheiten auf mit­ fühlende Art nachzudenken – nicht aber, indem man sie als Behinderungen der ­eigenen Überlegenheit ansieht. Wenn die beschriebenen Dinge historisch und soziologisch sorgfältig dargestellt sind, sind sie eine Einladung an den Leser, über die Welt vom Standpunkt der anderen nachzudenken.

Fallstricke der Phantasie: Parteilichkeit, Narzissmus Die mitfühlende Phantasie (oder Empathie) ist Teil der Sympathie und der mitfühlenden Fürsorge. Ein guter Schauspieler hat eine aktive, mitfühlende Phantasie, was die Charaktere betrifft [die er darstellt], doch er wird vermutlich manchen gegenüber mehr Sympathie aufbringen als anderen. Und ein Böswilliger wird Empathie einsetzen, um uns zu schaden und zu quälen. Denn es gehört zum Sadismus, dass man sieht, wie ein Opfer die Welt begreift. Die mitfühlende Phantasie ist also schlecht, wenn die Betreffenden nicht von Grund aus guter Absicht sind, wenn sie nicht Sorge und Sympathie für andere an den Tag legen. Wohl sind aber Menschen empathisch und dennoch wenig feinsinnig im Umgang mit anderen – weil sie sich nicht in deren Lage hineinversetzt haben. Deshalb dachte Ellison, dass sein Roman der Öffentlichkeit einen wertvollen Dienst leisten könnte: weil nach seiner Ansicht das weiße Amerika weniger boshaft war als vielmehr unwissend und unbedarft. Würde erst einmal den Weißen die Erfahrungswelt der Afro-Amerikaner zu Bewusstsein gebracht, würde sich ihr Verhalten ändern. Tatsächlich legen aussagekräftige Experimente nahe, dass eine lebhafte Phantasie zu Hilfsbereitschaft führt. Seit Jahren führt Daniel Batson von der Universität Kansas eine Reihe schlüssiger Experimente durch, die das testen.2 Beim klassischen Experiment lässt er die Probanden eine Radiosendung hören, die die missliche Lage einer Mitstudentin schildert. Sie hat sich z. B. ein Bein gebrochen und braucht jemanden, der sie zur Universität fährt. Einer Gruppe wird gesagt, der Geschichte

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keine Aufmerksamkeit zu schenken, sondern nur auf die technische Qualität der Sendung zu achten. Der anderen Gruppe wird aufgetragen, sich die Geschichte lebhaft vorzustellen und sich an die Stelle der Studentin zu versetzen. Diese zweite Gruppe gibt emotionale Antworten und bezeigt in signifikantem Ausmaß die Bereitschaft zu helfen. Empathie bewirkt also einen Unterschied (und Batson hat die Situation so angelegt, dass leicht Hilfe geleistet werden kann). Er zeigt außerdem, dass literarische Erzählungen ähnliche Wirkungen haben wie Radiosendungen. Diejenigen, die anderen halfen, mussten also einen anderen Hintergrund haben: Sie waren keine Soziopathen oder sonstwie gestörte Menschen, die von anderen ab­ geschnitten waren. Bei durchschnittlichem Anstand verändert also die Erfahrung der zweiten Gruppe die Ansicht darüber, was getan werden sollte. Die empathische Phantasie ist der Angst entgegengesetzt. Bei der Angst wird die Aufmerksamkeit eines Menschen eingegrenzt und konzentriert sich auf die ­eigene Sicherheit. Bei der Empathie richtet sich das Denken nach außen. Dieser Richtungs-Unterschied macht die Empathie zu einem wertvollen Gegenmittel zum Narzissmus der Angst. Doch wir müssen vorsichtig sein: Denn auch Empathie kann narzisstisch sein. Die mitfühlende Phantasie gehört zu unserem Primaten-Erbe. Arbeiten über Primaten, die Frans de Waal durchgeführt hat, zeigen, dass zumindest Schimpansen und Bonobos die Fähigkeit zum perspektivischen Denken haben, wodurch sie die Welt aus einem anderen Blickwinkel sehen. (Elefanten haben diese Fähigkeit gleichfalls, Hunde vielleicht auch.) Die Arbeit des Psychologen Paul Bloom zeigt, dass Kleinkinder diese Fähigkeit ab dem zweiten Lebensjahr besitzen. Sie können sich vorstellen, wie ihre Eltern oder andere Bezugspersonen sich auf eine Situation einstellen, und benutzen das, um ihre Wünsche erfüllt zu bekommen. Doch diese Fähigkeit ist vom Standpunkt der Moral und politischen Gerechtigkeit noch sehr unausgereift. Sie ist sehr begrenzt und beschränkt sich auf wenige Menschen. Tiere können für gewöhnlich die Welt nur vom Standpunkt ihrer engeren Gruppe aus sehen (obwohl Hunde die Grenzen ihrer Art überwinden und eine symbiotische Familie mit ihren menschlichen Aufpassern bilden können). Kleinkinder benutzen das perspektivische Denken vor allem, um ihre Bedürfnisse von einem kleinen Kreis von Bezugspersonen stillen zu lassen. Es muss viel geschehen, damit die Phantasie sich nach außen bewegt und die Situation von nicht anwesenden Menschen erfasst. Selbst wenn die Phantasie sich nach außen richtet, legt doch ihr animalischer U ­ rsprung nahe, dass es leichter ist, sich in die Zwangslage von Menschen der eigenen „Gruppe“ hineinzuversetzen, sei sie durch Ethnizität, Religion oder Nationalität definiert.

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Auch wenn die Menschen im Prinzip gelernt haben, die Welt vom Standpunkt nicht anwesender Menschen oder Gruppen zu sehen, kann starke Sym­ pathie gegenüber denen, die einem näher sind, diese Bewegung nach außen blockieren. Vor der Urteilsverkündung bei amerikanischen Strafprozessen kann der ­Angeklagte eine ausführliche Darstellung seines Lebens geben, wo er mildernde Umstände darlegt (etwa Missbrauch in der Kindheit oder Traumata). Dadurch wirbt er um Sympathie seitens der Jury. In jüngerer Zeit hat man auch Opfern von Verbrechen gestattet, ihre Geschichte zu berichten und zu beschreiben, welches Leid das Verbrechen über ihre Familie gebracht hat. Weil es aber oft vorkommt, dass Opfer von Verbrechen hinsichtlich sozialer Schicht, Rasse und Ethnizität den meisten Jury-Mitgliedern näher als dem Angeklagten stehen, scheint die starke Sympathie mit den Opfern die Phantasie der Jury deutlich weniger zum Angeklagten auszurichten.3 Angesichts der Tatsache, dass die Möglichkeit, um Mitleid zu bitten, zum verfassungsmäßigen Recht des Angeklagten gehört, stellt dieses Hindernis womöglich ein schweres Problem dar.4 Ob dieses Problem gravierend genug ist, um zukünftig keine Opferdarstellung mehr zuzulassen, ist eine andere Sache. (Solche Darstellungen werfen weitere Probleme auf und begünstigen zudem Opfer, die gefällige Freunde haben, vor jenen, die allein sind und keine Verbindungen ­haben.) Falls wir also Verständnis von Menschen bekommen wollen, die von anderer Ethnizität oder Rasse sind, sollten wir unsere Neigung bedenken (begründet in unserem tierischen Erbe), vor allem mit denen zu sympathisieren, die unserer eigenen Gruppe angehören – gleichgültig, ob diese Gruppe durch ­Verwandtschaft, Hautfarbe, Religion oder Nationalität definiert ist. Mehr Empathie ist also nicht immer besser. Wir müssen uns fragen, wo unsere blinden ­F lecken sind. Ich werde daher nun auf Arbeiten hinweisen, die der Phantasie helfen, aus ihrer narzisstischen Enge auszubrechen und in die Realität eines Lebens einzusteigen, das in mancher Hinsicht anders als das eigene und zudem schwierig ist. Literarische Werke sind nicht die einzige Quelle, die der Phantasie aufhelfen kann, aber sie sind sehr hilfreich für diesen Zweck. Um zu erkennen, wo die Phantasie gut ist und wo nicht, sollten wir uns der Vergangenheit zuwenden, auf die wir eine bestimmte Perspektive haben. In diesen Fällen aus alter Zeit können wir die Arbeit der Phantasie genau untersuchen und sehen, wie sie den Grundsätzen des gleichen Respekts für alle Leben einhauchte. Gleichzeitig erkennen wir, wie der Gebrauch von Phantasie zu deutlichen Fortschritten gegenüber Verdächtigungen und Ängsten führte.

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Warum habe ich mich bei meinem Baseball-Beispiel und zwei weiteren Fällen auf die Juden konzentriert? Zum einen, weil Dummheit und Boshaftigkeit bei der klischeehaften Wahrnehmung der Juden deutlich zutage kamen. Ein weiterer Grund ist, dass es Parallelen zwischen dem Antisemitismus von gestern und der heutigen Verdächtigung gegenüber Muslimen gibt. Jahrhundertelang hat man in Europa und zeitweilig auch in Amerika die Juden mit Angst und Verachtung ­betrachtet, weil sie sich anders kleiden und anders essen wollten als die Christen. Dieses Problem ist bei Diskussionen um religiöse Minderheiten in Europa (weniger häufig in Amerika) noch weit verbreitet. Muslime wie Juden werden immer der doppelten Loyalität beschuldigt: Von beiden Gruppen sagt man, sie würden sich zwei unterschiedlichen Gesetzen unterwerfen – dem religiösen, das sie zu schlechten Befolgern des anderen, des bürgerlichen Gesetzes macht. Natürlich weisen beide Fälle Entsprechungen wie auch Gegensätze auf, und ich möchte nicht, dass man meine Diskussion als bloßes Sinnbild der gegenwärtigen Islamophobie liest. (Denn es gibt auch noch viel zeitgenössischen Antisemitismus.) Ich bitte die Leser lediglich, die Fälle zu bedenken und dann zu schauen, ob vergleichbare Fehler des „inneren Auges“ irgendwo in ihren Gesellschaften gemacht werden.

Roger Williams und die Narragansett-Indianer Wir sind Roger Williams in Kapitel 3 als Philosoph und Theoretiker der Religionsfreiheit begegnet. Als Gründer von Rhode Island war er zugleich Gründer der ­ersten (und offenbar weltweit einzigen) Kolonie, in der wahre Religionsfreiheit für alle herrschte.5 Williams war ein Philosoph, der sich um geistige Annäherung und Wege des inneren Sehens bemühte. Betrachten wir nun einen der bemerkens­ wertesten Aspekte seiner Karriere: seine lebenslange Freundschaft zu den Narragansett-Indianern, über die er sein erstes Buch veröffentlichte.6 Williams wurde in England in einer wohlhabenden Familie geboren, vermutlich 1603. Er wuchs in London auf, nahe der Ebene von Smithfield, wo seit Jahren religiöse Abweichler exekutiert wurden. Diese Exekutionen hörten erst kurz vor seiner Geburt auf. Als junger Mann zog er die Aufmerksamkeit des vornehmen Advokaten Sir Edward Coke auf sich, Oberster Richter des Königs. Bei einem Besuch zurück in England, als er an Cokes Tochter Mrs. Anne Sadleir schrieb, erinnerte er sich, dass der „große Mann oft Gefallen daran fand, mich seinen Sohn zu

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nennen“, und er spricht von der „ehrenwerten und teuren Erinnerung an seine ­Person und das Leben, die Schriften, die Reden und Beispiele seines herrlichen Lichts“. Mrs. Sadleir antwortete nicht. Als fromme Anglikanerin weigerte sie sich sogar, Williams’ eigene Schriften anzusehen, und wies sein Geschenk zurück, John Miltons Eikonoklastes – eine Anklage gegen den verstorbenen Karl I. – mit der grauen­erregenden Bemerkung: „Ihr hättet Gottes Urteil über ihn beachten sollen, der ihn mit Blindheit schlug. Gott hat sein Gericht über ihn hier angefangen, seine Strafe wird danach in der Hölle folgen.“7 Man ersieht daraus einen Mangel an Neugier, was allerdings zu Williams’ Zeiten die Norm war. Dass wir heute anders reden, können wir dem Erfolg seiner Argumente und den politischen Institutionen zuschreiben, die seine Auseinandersetzungen auf den Weg brachten. Coke sorgte für die Ausbildung des jungen Mannes in Sutton’s Hospital, der zukünftigen Charterhouse School (einer Eliteschule, die sich der klassischen Erziehung widmete). Danach besuchte er Pembroke Hall an der Universität Cambridge, wo er 1627 seinen BA ablegte. Schnell beeindruckte er durch seine sprachliche ­Auffassungsgabe; er beherrschte Latein, Griechisch, Hebräisch, Französisch und Holländisch. Darüber schloss er Freundschaft mit John Milton: Er lehrte Milton Holländisch und erhielt im Gegenzug Hebräisch-Stunden. Diese sprachliche Genauigkeit sollte sich zudem als Schlüssel zu seinem gewagtesten Akt der Freundschaft erweisen. Bereits kritisch gegenüber der anglikanischen Orthodoxie eingestellt und entsetzt über die gewalttätige Verfolgung der puritanischen Andersgläubigen, merkte Williams, dass er in England nicht das religiöse Leben führen konnte, das ihm vorschwebte. 1630 ließ er die Segel nach Massachusetts setzen. Zunächst wurde er von den Anführern der Massachusetts Bay Colony willkommen geheißen.8 Doch gleich zu Beginn widersetzte er sich der Behandlung der Ureinwohner durch die Siedler und veröffentlichte ein Pamphlet, das die Ansprüche der Siedler am Eigentum der Indianer anprangerte. Die Offiziellen der Massachusetts Bay zitierten ihn vor Gericht, unternahmen aber nichts, als Williams sein Pamphlet nicht zurückzog. Unvermindert verkündete er also die Unrechtmäßigkeit des Besitzanspruchs der Siedler. Während dieser Zeit verbrachte Williams einige friedliche Monate in Plymouth, wo er seine Studien des Lebens der Indianer fortsetzte und längere Zeiträume bei den Narragansett-Indianern verbrachte. Insgesamt betrachteten die Siedler die Ureinwohner mit einer Mischung aus Angst und Verachtung. Das Heidentum der Indianer und ihr Nomadenleben galten den Siedlern als primitiv. Anders als Williams erkannten diese Leute, an europäi-

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sche Eigentumsvorstellungen gewöhnt, das regelmäßige Muster der Nomadenwanderungen nicht. Doch Williams sagte, dass die Indianer auch als Nomaden Eigentumsrechte hätten.9 Mit ihren bemalten Gesichtern und den häufigen Kriegen zwischen den Stämmen erregten die Ureinwohner Angst, und Angst war einer der wichtigsten Gründe für das Interesse der Siedler, das Land der Indianer zu konfiszieren. Das gesamte Leben dieser frühen europäischen Siedler war in der Tat voller Angst, da das Land wild und ungastlich war, sie fast nichts davon kannten. Angst und Verachtung sind eine toxische Kombination. In diesem Fall untergruben sie jeden ernsthaften Versuch der Freundschaft und des Verständnisses. In den Jahren 1635 und 1636 erkannten die Behörden, dass Williams seine strittige Lehre fortsetzen wollte, und befahlen seine Festnahme. Rechtzeitig gewarnt, konnte er fliehen. 1670 sah er aus Providence auf dieses Ereignis zurück: „Ich war unfreundlich und unchristlich (wie ich glaube), vertrieben von Haus und Land, von Frau und Kindern (mitten im Neu-England-Winter, jetzt 35 Jahre zurückliegend). … Ich steuerte meinen Kurs von Salem (im Winterschnee, den ich noch jetzt spüre) bis zu diesem Landstrich, wo ich als Jacob ,Penuël‘ sagen kann: Ich sah das Angesicht Gottes.“10 So fängt die Geschichte von Rhode Island an. Mit seinem Gespür für göttliche Befreiung nannte er die neue Siedlung Providence. Einer ihrer Grundpfeiler war die respektvolle Freundschaft mit den Indianern. Immer schon hatte Williams sie als Menschen angesehen, nicht als Tiere oder Teufel. Er achtete ihre Würde. Als der große Narragansett-Häuptling Canonicus (der kein Englisch sprach) einen Stock in zehn Teile zerbrach, um zehn Fälle gebrochener Versprechen der Engländer zu demonstrieren, verstand Williams und schlug sich auf seine Seite.11 Als die Siedler einwandten, dass die Indianer kein Land ­besitzen könnten, weil sie Nomaden seien, erklärte Williams ihnen die jahreszeitlich bedingte Jagdpraxis und sagte, das sei ausreichend, um Besitzansprüche zu formulieren – ein Gesetzes-Argument, das auf schlagende Weise den jüngsten Rechtsstreit zu den Landforderungen der Aborigines in Australien vorwegnimmt.12 Als Sprachforscher hatte er während dieser Zeit ein „stetes und eifriges Verlangen, in die Sprache der Ureinwohner einzutauchen“, und er lernte mehrere ihrer Sprachen, als er längere Zeit mit ihnen lebte. „Es hat Gott gefallen, mir einen schmerzvollen, geduldigen Geist zu geben, damit ich mit ihnen in ihren verschmutzten, rauchigen Höhlen leben kann, … um ihre Sprache zu erwerben, etc.“13 Als Williams als Flüchtling ankam, hatte seine Auseinandersetzung mit den Indianern längst schon den Weg zu fruchtbaren Beziehungen geebnet. Die Häupt-

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linge Massasoit und Canonicus hießen ihn als alten Freund willkommen. Er hatte sich längst mit ihnen befreundet, ehe er sie brauchte, und über Jahre hinweg hatte er ihnen Geschenke gemacht. Man kannte ihn zudem bereits als guten öffentlichen Redner in indianischen Sprachen, „und daher wurde [ich] von ihnen für ein Häuptling gehalten“.14 Eine der wichtigsten Regelungen der Rhode-Island-Charta war, dass „es ungesetzlich für die anderen Kolonien sein soll, die eingeborenen Indianer zu erobern oder sie zu belästigen“. Er sagte, dass Feindschaft gegenüber den Indianern „bis heute zu unserer beständigen und großen Betrübnis und Verstörung ausgeübt“ worden sei.15 Während seines ganzen Lebens hielt Williams diese Freudschaft aufrecht. Er half den Narragansett bei ihrem Kampf gegen den Stamm der Pequot; „nahm mein Leben in die eigenen Hände, konnte mein Weib kaum daran gewöhnen, dass ich ganz allein in einem bescheidenen Kanu mich einschiffte und losfuhr (stürmischer Wind, 30 Meilen auf hoher See, jede Minute in Lebensgefahr)“.16 Man erhält den Eindruck, dass Williams – ein Abenteurer, oft von Schmerzen in Gelenken und Gliedern geplagt – es genoss, sich den Indianern bei diesem Kampf mit den Elementen anzuschließen. In vielfacher Hinsicht waren sie die treuesten Freunde, die er hatte. Wie er dem Gouverneur von Massachusetts Bay schrieb: „Ich fühle mich hier sicherer bei den christlichen Wilden in der Narragansett Bay als bei den wilden Christen in der Massachusetts Bay Colony.“ Williams war nicht der Meinung, dass die Indianer Konvertiten seien. In s­ einem Buch A Key into the Language of America erklärte er, dass er keinen Versuch unternahm, sie zu bekehren. Das Verhalten der Indianer drückte für Williams den christlichen Geist der Liebe deutlicher aus als die Unbeugsamkeit [der Leute] von Massachusetts. Gerne verwies er auf Beispiele indianischer Anständigkeit und Ehrlichkeit und verglich das Verhalten der Ureinwohner mit dem der Engländer oder seiner Nachbarn in Massachusetts.17 „Es ist eine merkwürdige Wahrheit, dass ein Mann generell mehr freie Unterhaltung und B ­ ewirtung unter diesen Barbaren finden wird als unter Tausenden derer, die sich Christen nennen.“18 Gegen Ende seines Lebens erinnerte er sich, dass er niemals gegenüber Canonicus oder (seinem Nachfolger) Miantonomi verweigert hätte, „was immer sie von mir begehrten, was Güter und Gaben oder den Gebrauch meines Bootes oder meiner Pinasse anging, und die Arbeit meiner Person, Tag und Nacht, was, auch wenn es die Menschen nicht wissen und auch nicht zu wissen trachten, allein das Alles sehende Auge hat es gesehen, und Seine allmächtige Hand hat mir geholfen.“19 Er malt sich aus, Gott sei erfreut über seine Großzügigkeit gegenüber den „Barbaren“. In einem seiner

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letzten Briefe aus England macht er am Ende den Zusatz: „P.S., alles Liebe all meinen indianischen Freunden.“20 Während einer Reise 1643 zurück nach England nutzte Williams seine Zeit, um den Schlüssel zu verfassen, der kurz darauf in England veröffentlicht wurde. Als Sprachlehrbuch mit wertvollen Hinweisen auf die Sprache der Narragansett ist es eher eine Sammlung von Redewendungen als eine analytische Grammatik. Es gibt seinen englischen Lesern viele Hinweise, wie man sich den Ureinwohnern gegenüber verhalten soll, wenn sie ihnen begegnen, und wie sie über sie denken sollen, ohne direkte Kenntnis von ihnen zu haben. Williams gibt ausführliche Kommentare zu Gebräuchen und Verhalten der Indianer. Er will, dass die Christen erkennen, dass Heiden ethische Werte haben können, die von den Christen nicht immer erreicht werden. Und auch die linguistische Belehrung ist höchst bezeichnend. Indem er den Leuten die Sätze beibringt, von denen Williams meint, sie müssten sie kennen, sagt er ihnen in Wahrheit, was sie den unbekannten Menschen gegenüber sagen sollten, die merkwürdig und furchterregend aussehen. Wie wir gesehen haben, lehrt Williams die Leser als ersten Satz: „Wie ist deine Stimmung, Nétop?“, und erklärt: „Nétop heißt Freund.“ Eine Mischung aus Neugier und Freundschaft liegt hinter diesem Ansatz. Diese Redewendung, so Williams, „ist die allgemeine Begrüßung aller Engländer ihnen gegenüber“. Natürlich weiß Williams, dass das nicht die Realität ist; mit den Worten „die allgemeine Begrüßung“ will er sagen „sollte die allgemeine Begrüßung sein“ oder „ist die angemessene Begrüßung“. Danach ermahnt er die Engländer, dass sie mehr tun müssten, um die Sprache oder zumindest einen Teil davon zu lernen: „Sie sind äußerst erfreut über Begrüßungen in ihrer eigenen Sprache.“ Diese Empfehlung ist tiefgründig: Will man mit Menschen guten Umgang haben, versuche man zumindest, einige Sätze in ihrer Sprache zu lernen, und komme ihnen auf diese Weise auf halbem Wege entgegen. Diesem Rat folgt eine kurze Liste von Dingen, die der Reisende als erste ausprobieren sollte: Neèn, Keèn Ewò Ich, du, er Keén ka neen du und ich Ascowequássin, Asco wequassunnúmmis Guten Morgen Askuttaaquompsìn? Wie geht es dir? Asnpaumpmaûntam Mir geht es sehr gut Taubot paumpmaúntam Ich freue mich, dass es dir gut geht Cowaúnckamish Mein Dienst für dich

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Man bedenke, dass dieses Buch in England veröffentlicht und somit von Menschen gelesen wurde, von denen nur eine winzige Minderheit je die Gelegenheit haben würde, einen dieser Sätze anzuwenden – und man erkennt, dass dieses Buch allgemeine Überlegungen über menschliche Aufmerksamkeit und Höflichkeit darstellt. Williams’ Liste ist wichtig, weil er dem Leser zeigt, dass ein Buch über andere eigentlich ein Buch über ihre Sprache und ihre Weltanschauung sein müsste. Die Liste bezeugt zudem Höflichkeit und Respekt. Englische Reisende hätten ohne Williams’ Anleitung vermutlich nicht zunächst zu diesen Sätzen gegriffen, wenn sie sich den halbnackten „Wilden“ zugewandt hätten. Die Indianer waren den Engländern gegenüber sehr ängstlich, und es ist einfacher, sie sich als gefährlich vorstellen, als dass man sich über ihre Menschlichkeit Gedanken macht. Keén ka neen, „du und ich“, bekundet Anerkennung auf gleicher Augenhöhe. Und „mein Dienst für dich“ erinnert die Engländer daran, dass ein Reisender großzügig gegenüber Gastgebern sein sollte, die ihn selbst freundlich aufnehmen. Das wird im Folgenden verdeutlicht. Nachdem er den Satz „Warum kommst du nicht herein?“ gelehrt hat, kommentiert Williams: „In dieser Hinsicht sind sie bemerkenswert frei und zuvorkommend, alle Fremden einzuladen. Und kommt einer zu ihnen bei welcher Gelegenheit auch immer, bitten sie ihn hereinzukommen, sofern sie nicht von allein hereinkommen.“ Es folgte eine weitere zweispaltige Liste, wovon ich hier nur die Übersetzung gebe: Wärme dich, setz dich ans Feuer. Was sagst du? Ist das dein Freund? Komm her, Freund. Komm herein. Hast du mich gesehen? Ich habe dich gesehen. Ich danke dir für die freundliche Erinnerung. Ich danke dir. Ich danke dir für deine Liebe. … Ich liebe dich. Er liebt dich. Du liebst. Verstehst du? Ich verstehe.

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Wieder gibt Williams durch die Übersetzung zugleich Empfehlungen: Das sollte man als Erstes sagen, wenn einer mit fremden Gebräuchen, fremder Religion und Sprache einen eingeladen hat. Das sagt man gewöhnlich nicht zu „Wilden“ oder „Ungläubigen“. Am Ende seines ersten Kapitels erscheint ein Gedicht über die Höflichkeit: Der höfliche Heide soll verdammen Die unhöflichen Engländer, die wie Füchse, Bären und Wölfe oder Löwen in ihrem Käfig leben. Niemand soll den Segen für ihre Seelen singen, Nur weil sie höflich sind. Die wilden Barbaren mit nichts Als der Natur gehen so weit: Wenn der Natur Söhne, wild und zahm, Menschlich und höflich sind: Wie schlecht steht es den Söhnen Gottes an, Menschlichkeit zu begehren?21 Dieses Gedicht macht klar, dass Williams nicht meint, die Engländer seien sonderlich höflich oder auch begierig, die Sätze zu lernen, die die Höflichkeit verlangt. Er will ihnen aber nicht zugestehen, dass sie wie „Füchse, Bären und Wölfe“ reden. Indem er vorgibt, was sie in Narragansett zu sagen in der Lage sein sollten, gibt er eine neue Art der Interaktion vor. Nach 150 Seiten bringt Williams Redewendungen, die von schlechtem Benehmen und von Zorn herrühren. Er bringt den Engländern bei, wie man Dinge sagt wie „Du bist ein Lügner“ und „Ich will das vergelten“.22 Doch damit der narzisstische Leser nicht meint, der Fehler liege beim anderen, folgt eine weitere Liste mit „Beobachtungen“: „Nie konnte ich jenes Übermaß skandalöser Sünden bei ihnen ausmachen, die in Europa im Überfluss vorhanden sind.“ Trotz ihres höheren Zugangs zu religiöser Wahrheit sind die Engländer auf vielen Gebieten unterlegen, wenn es um ethisches Verhalten geht. Williams schließt diesen Abschnitt mit e­ inem weiteren Gedicht, dessen letzte Strophe lautet: Wir tragen keine Kleider, haben viele Götter, Und doch sind unsere Sünden gering: Ihr seid Barbaren, Heiden wild, Euer Land ist die Wildnis.23

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Es soll aber betont werden, dass Williams den Indianern gegenüber nicht unkritisch ist. Immer wieder betont er die Tatsache, dass ihre Religion vollständig fehlgeleitet sei. Vor allem ihrer Gewohnheit, ihre Gesichter zu bemalen, was er als Gegensatz zum göttlichen Gesetz begreift, begegnet er mit Kritik. Doch er war weitsichtig genug zu erkennen, wie abgründig das Benehmen der Engländer gegenüber den Indianern in aller Regel war: Im direkten Vergleich liegen die Indianer moralisch vorn. Williams spricht hier als Indianer: sein „wir“ bedeutet „sie“; er ­bezieht sich selbst mit ein. Wenn man die Religion einer Gruppe und sogar deren Leben nicht gutheißt, bedeutet das noch lange nicht, die Tugenden dieser Gruppe nicht wertzuschätzen oder sie als weniger denn vollgültige Menschen anzusehen. Die englischen Leser seines Sprachbuches lernen damit zugleich, bei der nächsten Beziehung gleich alles richtig zu machen.

Juden im Europa des 18. Jahrhunderts: Lessings Nathan der Weise Jahrhundertelang wurden die Juden in Europa wie die amerikanischen Ureinwohner in den Kolonien mit einer Mischung aus Angst und Verachtung betrachtet. (Und in der Tat sollten wir nicht die Vergangenheitsform benutzen, da negative Klischees immer noch weit verbreitet sind: Eine Umfrage aus dem Jahr 2011 über Einstellungen zur Religion zeigt ein Ansteigen positiver Urteile über Juden, dennoch haben etwa in Spanien nur 59 % der Befragten eine positive Meinung über Juden, während 76 % positiv über Christen denken. England und Russland weisen hier vergleichbare Differenzen auf, während Frankreich und Deutschland Juden und Christen in gleichem Maß schätzen.24) Die Situation der Juden war vollkommen anders als die der amerikanischen Ureinwohner, da Juden als höchst intelligent und als fähig zu geistiger Exzellenz galten – trotz der vielen Hindernisse in Erziehung und Beruf, die die Nationen Europas ihnen in den Weg legten (wenn sie sie nicht sogar gleich ganz ausschlossen, wie England es zwischen dem Jahr 1290 und Cromwells Protektorat im 17. Jahrhundert tat). Der Judaismus galt bis zu einem gewissen Grad auch als eine dem Christentum verwandte Religion. Christen akzeptierten jüdische Schriften als Teil ihres heiligen Schriftkanons, obwohl sie im Allgemeinen der Meinung waren, die Ethik des Neuen Testaments habe die des Alten aufgehoben. Die Menschen machten sich kaum klar, dass Christus ein Jude von nahöstlicher Herkunft war; Kunstwerke stellten ihn in der Regel mit europäischen Zügen und europäischer Hautfarbe dar.

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Die Verachtung für die Juden konzentrierte sich auf ihre angebliche Gier und ihre Verbindung mit Wucher(-zins) (ein Ergebnis beruflicher Beschränkungen). Die Ansicht, die Juden seien geldgierig und zu geistiger Verfeinerung nicht in der Lage, war allgemeine Meinung über Juden. Zugleich fürchtete man sie als diejenigen, die Christus ermordet hatten, und eine hartnäckige Phantasie, die sogenannte Ritualmordlegende, besagte, dass Juden christliche Kinder ermordeten, weil sie ihr Blut bei ihren Ritualen brauchten.25 Und alles, was Juden in sämtlichen Bereichen des Lebens unternahmen, war weiterer Treibstoff für Verdächtigungen und Feindseligkeiten. Wenn wir über mögliche Analogien zwischen europäischem Antisemitismus und der weit verbreiteten Angst und Verachtung gegenüber Muslimen nachdenken, müssen wir die grundlegende Bedeutung des Separatismus und der Nicht-Assimilierung seitens der Juden bedenken. Wie Shakespeares Shylock es sagte: „Ich will mit euch handeln und wandeln, mit euch stehen und gehen, und was dergleichen mehr ist; aber ich will nicht mit euch essen, mit euch trinken, noch mit euch b­ eten.“26 Diese Verweigerung eines gemeinsamen gesellschaftlichen Lebens in Verbindung mit dem auffälligen Unterschied in der Kleidung wurde dahingehend ausgelegt, dass die Juden zu einem normalen bürgerlichen Leben nicht fähig seien. Die Protokolle der Weisen von Zion, die wir in Kapitel 2 erwähnten, fassen Jahrhunderte der Vorurteile wie in einem Brennglas zusammen. Dieses gefälschte, ­dennoch vielfach für wahr gehaltene Dokument zeigt die Hindernisse, die jeder Versuch überwinden müsste, eine Politik des gleichen Respekts und der Sympathie in Europa aufzubauen. Die Vorstellung, dass Juden immer lügen (in ihrer islamischen Variante heute sehr verbreitet, da die Menschen oft meinen, dass der Koran die Muslime lehre, andere über die eigenen wahren Absichten zu täuschen) – dass Juden nur eine Rolle spielen, wenn sie sich als gute Mitbürger oder sogar potentieller Freund verhalten –, unterminiert Vertrauen, wirkliche Neugier und Offenheit. Der Gedanke, es gebe eine Verschwörung zur Weltübernahme und alle Juden hätten auf ihre Art daran teil, erstickt jede wirkliche Kenntnis im Keim und ist schwer zu widerlegen, weil alles als Beweis dafür ausgelegt werden kann. Wie soll in einer solchen Atmosphäre eine andere Haltung aufkommen? Ein bemerkenswertes Beispiel für klarsichtiges Denken im christlich-kantianischen Sinne, worüber ich in Kapitel 4 sprach, ist Christian Wilhelm von Dohms Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (1781). In diesem einflussreichen Werk unternimmt Dohm es, die Deutschen davon zu überzeugen, den Juden die vollen Bürgerrechte zu gewähren – was hieß, viele falsche Mythen über sie zurückzu­

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weisen.27 Dohms Abhandlung führte zu einer lebhaften Debatte, wobei der große jüdische Philosoph Moses Mendelssohn (1729–1786) eine führende Rolle spielte. Er unterstützte und verbreitete Dohms Argumente. Dohm erwähnt die Angst, dass Juden die Nichtjuden hassen und daher Verbrechen gegen sie begehen. Er antwortet: Wenn einige Juden die Nichtjuden hassen sollten, dann ist diese Feindseligkeit durch die Jahrhunderte der Misshandlung gerechtfertigt und somit ein Fehler der Unterdrücker selbst. Außerdem verbietet die jüdische Schrift – die auch Christen als heilige Schrift anerkennen – das Verbrechen und liefert eine gute Grundlegung für das moderne Bürgertum, wenn nur Vorurteil und schlechte Behandlung aufhören würden. Dohm spricht auch die subtile Angst davor an, dass Juden an ihrer eigenen Gruppe festhalten und sich mit anderen weder befreunden noch vermischen. Das trifft in der Tat zu, wie er sagt, und zwar für die meisten religiösen Gruppen, zu allen Zeiten und an allen Orten. Nur bemerkt die Mehrheit nicht, dass sie das auch tut, weil sie eben die Mehrheit ist. Was die Vorstellung angeht, die Juden seien geldgierig und geizig, so entspringt dieses Vorurteil den Gesetzen, die die Juden auf das Geldverdienen beschränken. Diese Vorstellung verschwände, wenn man ihnen zudem gleiche Rechte und Zugang zu allen Berufen gäbe. Zu den gleichen Rechten gehören auch religiöse. Dohm führt an, dass zu den gleichen Bürgerrechten für Juden auch das Recht zum Bau von Synagogen „an allen Orten“ gehöre. Man vergleiche unsere gegenwärtigen Debatten um den Bau von Moscheen. Dohm ist bis zu einem gewissen Grad ein Vertreter der Assimilierung. Er glaubt, dass Juden die jeweils herrschende Sprache ihres Landes lernen sollten, und im Bereich der beruflichen Ausbildung sollten sie sogar zusammen mit Christen in der herrschenden Sprache erzogen werden. Trotzdem betont er, dass alle Christen sich selber bilden und sich dadurch an eine Welt gewöhnen müssten, in der auch Juden leben; und sie mögen ihre „Vorurteile und lieblosen Meinungen“ loswerden. Dohm entwirft einen pluralistischen Erziehungsplan, der mit der Kindheit einsetzt: Junge Menschen sollte man lehren „die Juden wie ihre Brüder und Mitmenschen zu betrachten, die auf einem anderen Wege das Wohlgefallen Gottes zu erhalten suchen“. [Christian Wilhelm Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden (Neudruck Hildesheim etc., Olms-Verlag, 1973), S. 122.] Dohm argumentiert stimmig, und seine Argumente blieben nicht ohne Einfluss. Doch oft lassen die Menschen von eingewurzelten Ängsten nicht ab, nur weil sie gute Argumente hören: In dieser Hinsicht predigte Dohm eigentlich den

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­ ekehrten oder zumindest den relativ Aufgeschlossenen, deren inneres Auge sich B ­bereits entwickelt hat. Ein weiteres Werk, das die Phantasie ansprach, war zeitlich vor Dohm und hat ihn gewissermaßen vorbereitet. Gemeint ist Nathan der Weise (1770) von Gotthold Ephraim Lessing, einem der bekanntesten deutschen Dramatiker (1729–1781). Lessing war Philosoph und Theaterautor, und die Art seiner Argumentation ist für den Erfolg seines Stückes nicht unerheblich. Ein enger Freund von Moses Mendelssohn, schrieb er die Ideen seines Freundes (sowie dessen Persönlichkeit) der Gestalt seines Nathan ein. Das Stück war von überragender Bedeutung innerhalb der Weltliteratur und ist heute noch in Deutschland populär, während Mendelssohns Ideen im Allgemeinen vergessen sind. Während seiner gesamten Laufbahn sorgte sich Lessing um die Situation der Juden in Deutschland. Ein frühes Drama Die Juden (1749) behandelt das weit verbreitete Vorurteil, die Juden seien kleinlich und gemein. Lessing zeigt indes, dass sie zu einem edlen Charakter fähig sind. Im Stück ist ein jüdischer Reisender hoch geachtet, ehe seine Identität als Jude bekannt wird. Als sie schließlich enthüllt wird, kommt der Baron zu dem Schluss, dass Juden anständige Menschen seien. Das ­hätte er vermutlich nicht gelernt, wäre die Identität des Reisenden nicht offenbart worden. Doch Lessing fährt fort im Sinne von Dohm: Der Reisende antwortet, dass er seinerseits gelernt habe, dass Christen großzügig sein können, und es wäre gut, ­würden sich alle Christen so verhalten wie der Baron. Meist hält die Mehrheit die Minderheit für unwürdig und findet sich großzügig, wenn sie Ausnahmen von ­dieser Verallgemeinerung zulässt. Die Minderheit aber empfindet die Klischees als verletzend. Nur selten sind die Menschen bereit, den anderen mit ein wenig Phantasie zu betrachten. Im Nathan will Lessing zeigen, wie Menschen verschiedener Religion sich ­untereinander verhalten sollten. Im Jerusalem zur Zeit der Kreuzzüge spielend, handelt das Stück sogar von drei Religionen. Christliche Ritter treten auf, die nach ­Jerusalem gekommen sind, um zu bekehren und zu erobern; es gibt Muslime einschließlich Sultan Saladins (der von 1138 bis 1193 lebte); ein Herrscher, der in ganz Europa für seine Weisheit und Ritterlichkeit berühmt war. Und endlich ist da die jüdische Familie, die in Jerusalem lebte und mit den Muslimen gut auskam. Der Kaufmann Nathan ist das Oberhaupt dieses Haushalts. Nathans Frau und sieben Kinder verbrannten einige Jahre zuvor bei einem Pogrom. Nun erzieht Nathan ­Recha, eine junge Waise, als seine Stieftochter. Die komplexe Handlung hat viele Aspekte, einschließlich einiger komischer Wendungen und einer kleinen Romanze.

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Kern des Stückes aber ist eine Szene zwischen Saladin und Nathan – sie wurde unabhängig vom Stück berühmt –, in der Nathan, vom Monarchen zur Aussage gedrängt, welche Religion die wahre sei, mit einer Parabel antwortet.28 Ein wertvoller Ring wurde in einer Familie weitergereicht; immer gab der Vater dem Sohn, den er am meisten liebte, diesen Ring, egal, wer der Erstgeborene war. Bis der Ring zu einem Vater kam, der drei Söhne hatte, die er alle gleich liebte und die ihm gleich würdig schienen. In Momenten der Schwachheit versprach er jedem der drei diesen Ring. Als der Tod näherkam, wusste er nicht, was er tun sollte, weshalb er einen berühmten Künstler bat, ihm zwei Duplikate des Rings anzufertigen. Das gelang dem Künstler so gut, dass von da an keiner mehr wusste, welcher Ring der ursprüngliche war. Die Söhne fochten untereinander und trugen ihren Fall einem Richter vor. Der Richter sagte, dass er, da der Vater nicht mehr lebte, den Fall nicht entscheiden könne. Doch eine Eigenschaft des Ringes bestünde darin, dass er seinen Träger beliebt mache. Deshalb müssten alle drei Söhne so leben, dass sie sich beliebt machten, und so könnte derjenige mit dem wahren Ring entdeckt werden. So muss sich jeder der drei Söhne bemühen, den Ring durch sein Leben zu gewinnen, „mit herzlicher Verträglichkeit, mit Wohltun, Mit innigster Ergebenheit in Gott“. [3. Aufzug, 7. Auftritt] Nach einer gewissen Zeit wird vielleicht ein anderer Richter den Fall entscheiden können. Nathan erzählt Saladin, dass dies den drei großen Religionen in der Gesellschaft entspricht. Jeder denkt, er besäße die wahre, doch sie sind so ähnlich, dass man die Frage unmöglich entscheiden kann. Was?, sagt Saladin, unterscheiden sich die drei nicht vollkommen in Kleidung, Essen und Trinken? Sicher, sagt Nathan, doch nicht in ihrem Kern und in ihrem letzten Zweck. Sie erhalten alle ihre Berechtigung durch historische Texte. Am Ende der Zeiten wird sich die Rivalität unter ihnen vielleicht auflösen, doch gegenwärtig können wir nur mit Großmut und Bruderschaft gegenüber dem Nächsten leben. Wir sollten die ganze Menschheit lieben und alle versuchen, zu würdigen Erben der wahren Religion zu werden, welche auch immer das ist. Dieses Gespräch begründet eine enge Freundschaft zwischen Saladin und Nathan. Schließlich stellt sich heraus, dass die drei Glaubensrichtungen außerdem durch zuvor unbekannte Familienbande verknüpft sind: Recha (Nathans Ziehtochter) und der junge christliche Ritter entpuppen sich als Nichte und Neffe von Saladins Bruder Assad. Jetzt müsse sie ihn lieben, scherzt Saladin. Und natürlich geht es darum, dass wir letztlich alle Blutsbrüder sind und uns dementsprechend verhalten sollen, wie es die Handlung des Stücks und die Ringparabel nahelegen.

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Nathan der Weise war ein gewaltiger Erfolg. Seine Popularität hält bis heute an; es gehört zum Kanon der deutschen Literatur, und immer noch hat es großen Einfluss auf unsere Geisteshaltung. Als Pflichtlektüre in deutschen und österreichischen Schulen für Schüler von vierzehn Jahren eingesetzt, bietet es Stoff für Diskussionen um religiöse Freundschaft und die Behandlung von Muslimen und anderen Untergruppen. Seine philosophischen Argumente entstammen vielen Quellen, doch die ansprechenden Porträts der vielschichtigen Charaktere, dazu die Macht der Dichtung waren von großem Einfluss auf viele Menschen, auch wenn sie sich weniger für grundlegende philosophische Prinzipien interessieren. Die Geschichte hat aber ihre Schwachstellen. Etwa wenn Nathan sich nicht vorstellen kann, dass es am Ende des Tages noch mehr als nur einen Weg geben könnte, zu spirituellem Verständnis zu kommen. Und niemand im Stück sagt, dass auch Polytheisten, Agnostiker und Atheisten zur Gemeinschaft der moralisch Tugendhaften gehören können. Doch die Grundidee des Stücks ist auch die von Roger Williams: Wenn wir Menschen begegnen, die eine andere Religion haben, sollten wir uns auf die ethischen Tugenden der Großzügigkeit, Freundlichkeit und Liebe konzentrieren und die Frage nach der religiösen Wahrheit beim Umgang miteinander besser beiseitelassen.

Juden im England des 19. Jahrhunderts: George Eliots Daniel Deronda England hat eine lange Geschichte des Antisemitismus, die auch heute noch nicht ganz abgeschlossen ist, unlängst dokumentiert in Anthony Julius’ schonungslosem und brillantem Buch Trials of the Diaspora.29 Weil die Juden 1290 aus England vertrieben wurden und erst zur Mitte des 17. Jahrhunderts während des Protektorats inoffiziell wieder aufgenommen wurden, beruhte ein Großteil des britischen Antisemitismus auf reiner Phantasie. (Demzufolge ist dies in der Tat ein deutlicher Fall der Tatsache, dass Vorurteile einer Gruppe gegenüber immer Phantasie beinhalten: Menschen sehen nur Aspekte ihrer selbst, wenn das innere Auge nicht kultiviert ist, wie Ellison sagt.) Das Publikum, das auf Shakespeares Bild des Shylock reagierte, hatte also nie Juden gesehen und konnte daher diese Darstellung nur durch den Vergleich mit anderen literarischen und traditionellen Konstrukten einschätzen. Auch nachdem die Juden wieder in England leben durften, waren sie – für sehr

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lange Zeit – das Ziel gesetzlicher Verbote und sozialer Ausgrenzungen. Die Ritualmordlegende spielte eine Schlüsselrolle, die Juden zu Objekten der Angst und Verachtung zu machen, und fiktive Judenporträts, von Shylock bis zu Charles Dickens’ Fagin (Oliver Twist, 1838–1839), stellten sie ohne die Tugenden der Nächstenliebe und Großzügigkeit dar. Zur Mitte des 19. Jahrhunderts veränderten sich diese Einstellungen allmählich. Die Forderung, dass Juden nicht zu politischen Ämtern zugelassen werden sollten, weil sie nie gute Bürger sein könnten – eine Forderung, die mit bedrückender Regelmäßigkeit fast jede neue religiöse Gruppe trifft –, erhielt nun nicht länger allgemeine Zustimmung. Der einflussreiche Schriftsteller Thomas Babington ­Macaulay setzte dieses Argument seinem vernichtenden Spott aus, veröffentlicht 1831 in der Edinburgh Review: „Wenn alle Rothaarigen in Europa jahrhundertelang gequält und unterdrückt, von hier verbannt, dort eingekerkert worden wären, ihres Geldes, ihrer Zähne beraubt, der unwahrscheinlichsten Verbrechen auf Grund schwächster Zeugenaussage überführt erachtet, von Pferden geschleift, gefoltert und lebendig verbrannt worden wären; wenn sie bei höherer Gesittung noch demütigenden Beschränkungen unterworfen und gemeinen Beschimpfungen ausgesetzt worden wären – wie groß würde der Patriotismus der Herren mit rotem Haar sein? Und wenn unter solchen ­Umständen ein Antrag gestellt würde, Rothaarige zu Ämtern zuzulassen, welche fulminante Rede würde ein beredter Bewunderer unserer alten Institutionen gegen eine so revolutionäre Maßregel halten? ,Diese Leute‘, würde er sagen, ,betrachten sich kaum als Engländer.‘ Sie stehen einem rothaarigen Franzosen oder Deutschen näher als einem Engländer mit braunem Haar in ihrem eigenen Kirchsprengel. Wenn ein fremder Herrscher rotes Haar bevorzugt, so lieben sie ihn mehr als ihren eigenen König. Sie sind keine Engländer – sie können keine Engländer sein – die Natur verbietet das – die Erfahrung bestätigt die Unmöglichkeit …… Wenn sie aber eine Macht ausüben wollen über eine Gemeinschaft, deren Beschaffenheit im Wesent­ lichen dunkelhaarig ist, so wollen wir ihnen wie unsere weisen Ahnen antworten: Nolumus leges Angliae mutari. [Wir wollen die Gesetze Englands nicht ä­ ndern.]“30 Dieses Argument ist in einem bestimmten Sinne gut sokratisch-kantianisch: Es fordert die Menschen auf, konsequente Standards auszubilden, was die Qualifizierung für öffentliche Ämter angeht, und dabei die vollen bürgerlichen Rechte nicht durch Berufung auf ein Charakteristikum zu verweigern, das für die Fähigkeit zum loyalen und guten Bürger unerheblich ist. Doch das Argument vermeidet auch ­einen wichtigen Punkt, denn es geht davon aus, jüdisch zu sein sei lediglich etwas

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Äußeres. Die Religion eines Menschen sei so oberflächlich wie die Haarfarbe und könne ebenso leicht aufhören, ein Merkmal der Lebensgestaltung der betreffenden Person zu sein. Im vorliegenden Beispiel ist rotes Haar nur wegen der Vorurteile der anderen wichtig. Doch das Jüdisch-Sein hat wie andere religiöse Identitäten für die meisten seiner Träger eine grundlegende Bedeutung. Insgesamt ist Macaulay ein viel stärkerer Anhänger der Assimilierung als Dohm: Er glaubt, die Juden würden de facto aufhören, Juden zu sein, sobald die Engländer aufhören, sie zu malträtieren. Das Gleiche würde er über Christentum und Christen nicht sagen; seine Phantasie ging also nicht tief genug. Er hat nicht versucht, sich die verschiedenen Lebenswege der Juden in England und ihre Identität vorzustellen. Diese Aufgabe bedarf des Lernens und der Phantasie. Das wurde von der Romanschriftstellerin George Eliot 1876 in ihrem Roman Daniel Deronda ausgezeichnet vorgeführt. Im Jahre 1858 wurde den Juden erlaubt, einen Sitz im Parlament einzunehmen. Der Amtseid wurde überarbeitet, so dass der Bezug auf den „wahren Glauben eines Christen“ optional wurde. Lionel de Rothschild, der sein Haupt bedeckte und schwur: „Hilf mir, Jehova“, wurde das erste jüdische Parlamentsmitglied. (Erst viel später, 1886, erhielt der erste Atheist dort seinen Sitz.) Benjamin Disraeli, mit zwölf Jahren getauft, doch kulturell und in der öffentlichen Wahrnehmung ein Jude, fungierte von 1874 bis 1880 als Premierminister. (Seitdem hatte England keinen jüdischen Premierminister mehr.) Doch gesellschaftliche Einstellungen ändern sich nur langsam, und immer noch wurden Juden nach etlichen Klischees beurteilt. Wie Eliot an die amerikanische Schriftstellerin Harriet Beecher Stowe schrieb: „Kann etwas abscheulicher sein als mit anzuhören, wie sogenannte ,gebildete‘ Menschen billige Witzchen machen über den Verzehr von Schinken, wobei sie sich ohne jedes echte Wissen bezeigen, was die Beziehung ihres eigenen sozialen und religiösen Lebens zur Geschichte derjenigen angeht, die zu beleidigen sie für witzig halten? Kaum wissen sie, dass Christus ein Jude war. Und ich kenne Menschen, die in Rugby erzogen wurden und glauben, Christus habe Griechisch gesprochen. Nach meinem Dafürhalten liegt diese Taubheit gegenüber der Geschichte, die die halbe Welt uns zu Füßen gelegt hat, diese Unfähigkeit, Interesse an jedweder Lebensform zu finden, die nicht in die gleichen Rockschöße und Rüschen gekleidet ist wie wir, sehr nahe bei der schlimmsten Religionslosigkeit. Das Beste, was man davon sagen kann, ist, dass dies ein Zeichen von intellektueller Beschränkung ist – auf gut Englisch die Dummheit, welche immer noch die Norm in unserer Kultur darstellt.“31 Eliot beschreibt mehr als nur eine gesellschaftliche Situation. Auf charakteristische Weise verbindet sie ethisches Fehlverhalten mit Behäbigkeit der Phantasie.

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Den „gebildeten“ Engländern wirft sie vor, dass sie keinerlei Neugier bezüglich der Menschen haben, die anders als sie selbst sind. Niemals sind sie aus sich herausgetreten, um auch nur gedanklich eine andere Lebensart anzunehmen. Doch diese Dummheit ist, sagt sie, verwandt mit der „schlimmsten Religionslosigkeit“ – weil der gleiche Narzissmus, der uns annehmen lässt, wir kämen ohne die ­geringste A ­ nstrengung der Phantasie zusammen mit anderen Menschen durch das Leben, auch eine grundlegende Art des ethischen Irrtums ist. Ein Irrtum, der die Gesetze nur für einen selbst aufstellen lässt und dabei die Realität und Gleichheit der anderen verleugnet. Eliot zeigt, warum gute Prinzipien ohne Phantasie unvollständig sind. Ihr eigenes Interesse an den Juden brachte sie dazu, Hebräisch zu lernen und sich einer starken Selbsterziehung zu unterziehen, worüber sie in ihren Tage­büchern berichtete. Dort gab sie eine beeindruckende Liste der Schriften, die sie gelesen hatte.32 Auch ihr Titelheld Daniel Deronda hatte früher, wie sie berichtet, die Juden für eine antiquierte Sekte gehalten, womit er dem narzisstischen Habitus der Engländer folgte, der über die Juden genauso wie über die Christen dachte. Judaismus sei nichts anderes als eine archaische Form des Christentums: „Das ,auserwählte‘ Volk ist gewöhnlich so behandelt worden, als sei es für jemand anderen auserwählt worden, und jüdisches Denken als etwas (gleichgültig, was es genau war), das eigentlich ganz anders sein sollte. Genau wie seine Mitmenschen hatte Deronda das Judentum als wunderliches Fossil betrachtet, mit dem ein gebildeter Mann sich nicht zu beschäftigen brauchte und das man Spezialisten überlassen konnte. … Dieses Erwachen eines neuen Interesses – die Aufgabe der Meinung, wir besäßen die richtigen Ansichten über ein Thema, das uns nichts ­bedeutet, und das Auftauchen einer plötzlichen Anteilnahme im Gefühl, unsere Meinungen seien unbegründet – ist ein wirkungsvolles Heilmittel gegen Lange­ weile, das leider von keinem Arzt verschrieben werden kann.“33 Zu Beginn ist Deronda nicht neugierig auf die Juden, doch seine bewegliche Phantasie bereitet ihn auf diese Neugierde vor. Aber bald schon soll sein gesamtes Leben vollkommen umgekrempelt werden. Eine zufällige Begegnung mit Mirah, einer jungen Jüdin, die auf der Suche nach ihrer Familie ist, versetzt ihn in die jüdische Welt, wo für ihn eine Odyssee des Lernens und der Freundschaft beginnt, die in der Entdeckung kulminiert, dass seine eigenen Ursprünge jüdisch sind. Er ist nicht, wie er geglaubt hatte, das uneheliche Kind des Aristokraten, der ihn aufzog, sondern der Sohn einer jüdischen Opernsängerin, die ihre Familie und Gemeinschaft verließ, um ihrer Karriere nachzugehen, wobei sie ihr (eheliches) Kind dem

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Aristokraten anvertraute, damit dieser es aufzöge. Diese Entdeckung seiner Identität ist indes ein durchsichtiger literarischer Kunstgriff – es knirscht gleichsam im Gebälk, weil diese Wendung die Aufmerksamkeit des Lesers von der Haupt­ geschichte, die voll Neugier, Phantasie und Freundschaft ist, ablenkt; und diese Wendung legt nahe, dass alle moralischen Züge Derondas nur Ausdruck seiner ­Abstammung sind. Wenn man das aber beiseitelässt, kann man sich auf das zentrale Thema Eliots konzentrieren: auf die Befreiung des Geistes. Durch die Vorurteile um ihn herum abgestumpft, hat Deronda doch einen großen Vorteil gegenüber den meisten seiner Zeitgenossen – er denkt und fühlt: „Seine früh erwachte Sensibilität und Nachdenklichkeit hatten sich zu einer allgemeinen Sympathie entwickelt.“ Seine „weite und weiche Sympathie“ schließt auch eine sehr gut entwickelte Fähigkeit dazu ein, „die Dinge so zu sehen, wie sie anderen erscheinen mochten“.34 An diesem Punkt seines Lebens hat Derondas Neigung, seinen Standpunkt zu verändern, ihn chronisch unentschlossen und unfähig zu entschiedener Parteinahme werden lassen, weil er immer auch den Standpunkt der anderen Seite erkennen kann. Als er älter wird, kann er endlich Sympathie und Engagement besser zusammenführen. Und Sympathie ist die beste Vorbereitung für seine Begegnung mit einer anderen kulturellen Tradition. Seine Haltung ist die der wissbegierigen Romanautorin: Er will lernen, reisen, Tatsachen erfassen, doch zugleich in Beziehungen mit realen Menschen eintauchen, die er als unterschiedlich wahrnimmt. Von Anfang an sind seine Beziehungen zu Mirah, Ezra Cohen und dem knorrigen Intellektuellen Mordecai unbelastet von der Vorstellung, dass sie alle gleich sein müssten, nur weil sie alle Juden sind. Wie Anthony Julius feststellt, markiert Daniel Deronda eine neue Ära der Darstellung von Juden in England; nicht nur wegen seiner positiven Einstellung und Neugierde. Julius gibt fünf weitere Gründe an: (1) Konversion und Heirat über ­religiöse Grenzen hinweg (die Kehrseite dessen, was ich als „Knirschen im Gebälk“ in der Geschichte von Derondas Geburt bezeichnet habe) kommen im Buch nicht vor. (2) Das Buch bricht mit der Tendenz, die Juden immer und wesentlich als Juden darzustellen, wobei alle in ihrem Jüdisch-Sein gleich seien. Vielmehr werden uns viele jüdische Typen gezeigt, darunter Zionisten, philosophisch Liberale (im Philosophen-Club), antireligiöse Abtrünnige (Derondas Mutter) und sogar ein amoralischer Mensch (Mirahs Vater). (3) Es zeigt, dass die Liebe ganz und gar in jüdischen Zusammenhängen zu finden ist, womit Shakespeares berühmte Assoziation des Judaismus mit Rache, des Christentums dagegen mit der Liebe, unterlaufen wird.

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(4) Es thematisiert nur wie nebenbei den Antisemitismus und verweilt eher im ­jüdischen Leben, wobei Letzteres nicht durch die Mehrheit definiert wird.35 (5) Schließlich trifft am Ende die Christen, nicht die Juden, die Strafe: Grandcourt stirbt, Gwendolyn muss ein einsames und unglückliches Leben führen.36 All dies ist bedeutend, und Julius weist zu Recht darauf hin. Doch Eliot wollte nicht nur einen literarischen Coup landen: Sie will vielmehr diese Einsichten als Ergebnis einer bestimmten Phantasie darstellen, was sich einerseits in der Kons­ truktion dieses Romans zeigt, andererseits durch die Odyssee der Romanfiguren. Indem der Leser der Darstellung folgt, wird er für Freundschaft und Sympathie über kulturelle Grenzen hinweg sensibilisiert. Daniel Deronda weist indes einige Schwachstellen in der Ausführung auf. Wie in ihrem in Florenz spielenden historischen Roman Romola verbreitet Eliot ihre Bildung nicht mit der Leichtigkeit, die man sich gewünscht hätte. Romola ist (zumindest für mich) unlesbar, so dick wird die Belehrung über die politische und Geistesgeschichte aufgetragen, und so aufdringlich ist der Stolz der Verfasserin auf ihre Bildung. Deronda ist sehr viel weniger belehrend, und doch ist auch er nicht ganz frei von dieser Tendenz. Als Ergebnis dessen steht bei den jüdischen Abschnitten des Buchs eher die Autorin im Mittelpunkt. Die Charaktere dagegen sind psychologisch weniger interessant als die christlichen, denen Eliot immerhin ein eigenes, fehlerhaftes Leben gestattet. So weiß man am Ende kaum, ob man wirkliche Juden kennen gelernt hat oder nur edle abstrakte jüdische Gestalten. Die rebellische Mutter, die nur kurz am Romanende erscheint, und der betrügerische Vater, der leider nur eine kleine Rolle spielt, sind vielleicht die am besten gestalteten jüdischen Charaktere, weil sie nicht zeigen müssen, wie gut Juden sein können. Sie dürfen eine innere Spannung haben und eine Komplexität, was den Cohens und Deronda abgeht. Ein weiteres Charakteristikum des Romans wird deutlich: Wie wir sahen, neigen auch englische Philosemiten zur Haltung der Assimilierung. Macaulay stellt den jüdischen Partikularismus dar als Ergebnis der Verfolgung, und die Annahme hinter seiner Analogie der roten Haare lautet, dass eine bestimmte Art des jüdischen Lebens verschwinden wird, wenn die Verfolgung aufhört. Ob er vom Zionismus wusste, ist unklar, doch sein Hinweis auf die zweigeteilte Loyalität ist stichhaltig: Jede Suche nach einer Heimat außerhalb des eigenen Landes ist Ergebnis der schlechten Behandlung, als hätte man kein Recht, hier zu sein; man könnte erwarten, dass das wegfällt, wenn die Integration vollbracht ist. Wie Gertrude Himmelfarb in ihrer ausgezeichneten Abhandlung von Eliots Begegnung mit dem Judaismus darlegt,

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g­ ehört zu den herausragenden Kennzeichen von Daniel Deronda die starke Sympathie für den Zionismus. Mordecai, der Intellektuelle und Träumer, kann selbst nicht nach Eretz Israel gehen, weil er vorzeitig stirbt, weshalb er Deronda seine Träume anvertraut. Der ist am Ende des Romans tatsächlich mit seiner Braut Mirah unterwegs zum Heiligen Land. Dieses Insistieren darauf, dass einige integere Juden sich immer der Assimilierung widersetzen und somit in der Tat eine doppelte Loyalität haben könnten – weshalb man auch ihr Streben eher bewundern muss als sie zu verfolgen –, trennt Eliot von den meisten ihrer liberalen Zeitgenossen. Trotzdem ist es verwirrend, wie Eliot das Thema der Nicht-Assimilierung angeht. Denn eine Alternative fehlt oder ist zumindest unterentwickelt: dass die Juden in Europa bleiben könnten und dennoch sich für eine andere Lebensweise entscheiden, wozu auch andere Kleidung, Nahrung und anderer Gottesdienst gehören. Es gibt keinen Grund, warum jüdische Identität unbedingt mit Israel verbunden werden muss. Und die Juden sollten nicht in die unbequeme Lage gebracht werden, sich zwischen Assimilation und Immigration entscheiden zu müssen. Die Alternative, die wir in diesen Kapiteln ansprechen, ist die des respektvollen, freundlichen Mit­ einanders. In diesem Sinne begreife ich Derondas Abreise nach Palästina als Kapitulation. Er und Mordecai haben England zu früh abgeschrieben. Wie Nathan der Weise hat auch Daniel Deronda als politische Philosophie sowie auch künstlerisch seine Schwächen. Dennoch bleibt der Mut dieses phantasievollen Unternehmens in einer Kultur, in der Intelligenz und Phantasie Mangelware sind, beeindruckend.

Kinderbücher: Marguerite de Angeli Williams, Lessing und Eliot wenden sich an erwachsene und gebildete Leser. Doch die Einstellung zu anderen Religionen formt sich schon im Kindesalter aus. Selbst wenn sie später noch verändert wird wie bei Daniel Deronda, ist eine pluralistische Gesellschaft gut beraten, bei der Jugend anzufangen. Kinder können ihre Einstellungen von den Eltern lernen, durch ihresgleichen, aus Fernsehen und Film wie auch – zunehmend wohl weniger – aus Büchern. Dieser Abschnitt ist deshalb ein Beispiel dafür, was getan werden kann, um die Phantasie anzuregen. Jedes konstruktive Programm für unsere heutige Zeit sollte populäre Medien, aber auch Bücher einbeziehen. Bücher sollten nicht übergangen werden, weil sie zu wichtigen Erfahrungen in der Schulzeit werden können.

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Kinderbücher über Minderheiten scheinen oft leichtgewichtig zu sein. Sie k­ önnen manchen schwierigen Punkt außer Acht lassen und die MinderheitenCharaktere liebenswert und idealistisch darstellen. Die hier zu besprechenden ­Bücher sind von diesem Fehler nicht frei, doch ein wenig Idealisierung ist nicht schlecht, wie der gesellschaftliche Einfluss der Bill Cosby Show zeigt. Man sollte auch bedenken, dass Kinderliteratur oft in der politischen Schuss­ linie liegt, auch wenn sie in der Rückschau eher harmlos wirkt. Das dänische Buch Jenny lives with Eric and Martin (1981) beschreibt, wie ein kleines Mädchen mit seinem Vater und dessen männlichem Partner lebt, wobei die Mutter es oft besucht, eine Geburtstagsparty plant und die Wäsche wäscht. Das Buch hat nicht nur einen Skandal in England verursacht, sondern auch zur Verabschiedung eines Gesetzes geführt, das von 1986 bis 2003 in Kraft war und öffentlichen Bibliotheken verbot, Bücher zu erwerben, die „Homosexualität befürworten“ oder „die Akzeptanz von Homosexualität als angebliche Familienbeziehung“ wiedergeben. (Ein Teil des Skandals war kulturell bedingt: Die britische Ö ­ ffentlichkeit störte sich an der Vorstellung, dass die Männer mit entblößter Brust im Bett lagen; trotz der Tatsache, dass Jenny auf dem Bettbezug saß, nahm man an, dass eine allzu skandinavische Nacktheit darunter verborgen sei.) Was also in e­inem Kinderbuch harmlos erscheint, kann angesichts des realen Widerstands der engstirnigen Phantasie durchaus drastisch sein. Ich habe eine Autorin gewählt, um zu zeigen, wie Kinderliteratur wirken kann. Weil ich diese Zeilen von den heutigen Kontroversen freihalten will, bleibe ich in der Vergangenheit. Ein zusätzlicher Grund für mein Interesse an diesen Büchern: Ich bin mit ihnen aufgewachsen. Obwohl ich in einem extrem konservativen Haus der oberen Mittelklasse in einem Vorort Philadelphias aufwuchs, fand ich diese Bücher. Vielleicht hat man sie mir auch gegeben, und vielleicht haben der Charme und die Ehrbarkeit ihrer Autorin den subversiven Charakter der Bücher vor meinen Eltern verborgen. Marguerite de Angeli (1889–1987) war eine erfolgreiche Autorin und Kinderbuchillustratorin. Während ihres langen Lebens schrieb sie viele später sehr bekannte Bücher, meist für Mädchen von ungefähr acht bis zwölf, was auch das Alter ihrer meisten Hauptfiguren war. Weil sie und ihr Mann viel umzogen und sie viel damit zu tun hatte, eine große Familie zu versorgen, veröffentlichte sie ihr erstes Buch erst im Alter von 47 Jahren. De Angelis Thema waren die Erfahrungen von Minderheiten, und meist schrieb sie über religiöse Minderheiten. Ihre Heldinnen (und manchmal ein Held) waren junge Menschen von den Amischen, Mennoniten,

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schwedisch-amerikanischen Lutheranern (des 17. Jahrhunderts), von den Quäkern, Afro-Amerikanern, polnischen Amerikanern, und in einem Fall war es ein Kind mit Körperbehinderung. Ihre Geschichten waren schlicht, berührten manchmal aber gewichtige soziale Themen, wie ethnische Abstammung und Armut. Ihre religiösen Minderheiten waren allerdings keine umstrittenen Minderheiten. Über Mormonen oder die Zeugen Jehovas findet sich nach meinem Wissen demzufolge nichts bei ihr, während Juden als Charaktere deutlich herausragen. Selbst wenn sie von einer „populären“ Minderheit schrieb wie den Amischen, wollte De Angeli immer die Menschlichkeit der Personen zeigen, und die jungen Leserinnen sollten sie nicht als holzschnittartige Gestalten idealisieren. Oft sind ihre Kinder frech und aufsässig, letztlich aber voller Liebe und vollkommen liebenswert. Junge Menschen können durch die Meinungsverschiedenheiten, in die sie geraten, lernen, ohne Blessuren abzubekommen. Menschliche Gefühle können eine ansonsten fremde Welt mit Leben erfüllen. Unauffällig vermittelt De Angeli jede Menge an Information über diese fremde Welt – auch sprachliche, etwa im Sinne Roger Williams’. (So wird beispielsweise der Dialekt der Amischen aus Pennsylvania vereinfacht wiedergegeben, zeigt dem Leser dennoch, dass die Amischen manche Dinge eben anders sehen und auch so bezeichnen.) De Angeli sucht die Andersartigkeit, und der Reiz ihrer Bücher besteht darin, dass man über Gebräuche, Nahrung, Spiele und Sprache verschiedener Bevölkerungsgruppen und manchmal auch verschiedener Zeiten viel lernen kann. Thee, Hannah! [Du, Hannah!] beruhte auf einer Geschichte, die ihr von einem älteren Quäker berichtet wurde, der mit ihrer Familie befreundet war und für die U-Bahn arbeitete. Assimilierung interessiert De Angeli nicht. Ihre Minderheiten sind stolz auf ihre Andersartigkeit, und wenn sie rebellieren, lernen sie am Ende, stolz auf das zu sein, was sie von anderen unterscheidet. Doch zugleich ist sie im Herzen auch ­Universalistin, und das ist auch der Schlüssel zu ihren Geschichten: Die Menschen erkennen ihre Menschlichkeit über alle Unterschiede hinweg und lernen, die anderen als Freunde zu sehen, trotz der Unterschiede von Abstammung oder Glaube. Man könnte sich vorstellen, dass auch Roger Williams so für Kinder geschrieben hätte. Doch schauen wir nun zwei Bücher näher an. Thee, Hannah! ist ein Klassiker, der seit seiner Veröffentlichung 1940 mehr oder weniger durchgängig gelesen wird. Er erzählt die Geschichte eines neunjährigen Quäker-Mädchens zur Zeit des Bürgerkrieges.37 In diesem Zusammenhang sollte man wissen, dass Quäker keine angesehene oder populäre Minderheit in Philadelphia waren. Ihr Pazifismus stellte seit den Tagen von George Washingtons Brief ein

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Problem dar, auch während des Zweiten Weltkriegs. Später, als ich während des Kalten Krieges das Buch kennenlernte, verdächtigte man die Quäker, bloße Mitläufer zu sein, und meine Familie verbot mir, mich bei einem von Quäkern geleiteten College zu bewerben wie etwa Oberlin oder Swarthmore. Der Herausgeber des Main Line Chronicle, einer örtlichen Zeitung, für die ich kurzzeitig während meiner HighschoolZeit Kolumnen schrieb, griff immer wieder Haverford College an [AdÜ: Hochschule für Freie Künste, 1833 von Quäkern gegründet] (damals war das College nur Männern zugänglich) und nannte es „pink“ und „anti-amerikanisch“. Die Quäker waren also nicht wie die Amischen: Sie galten für viele als eine „fünfte Kolonne“. Ein großer Teil des Buchs behandelt ein Familiendrama. Hannah ist eine Neunjährige, die sich nach der modischen Kleidung sehnt, die sie überall sieht. Obwohl ihre Mutter versucht, ihr Quäker-Ideen von Einfachheit und Innerlichkeit zu erklären und ihr die Bedeutung des Gewissens als inneres „Licht“ und „bremsende ­Stimme“ wiederholt deutlich macht, kommt sie immer wieder wegen ihres Mode-­ Geschmacks in Schwierigkeiten: Sie will eine pinkfarbene Schärpe und lange Rüschen-Unterhosen. Vermutlich werden die Leserinnen hier mit ihr sympathisieren, da die Freudlosigkeit der Quäker-Kleidung zwanghaft und unsinnig scheint, doch kleine Mädchen ziehen sich nun einmal gerne hübsch an. Aber Hannahs Mutter behält von Anfang an ihre eigene Meinung bei, und gern möchte man mehr darüber wissen, wofür diese Leute eigentlich stehen. Im wichtigsten Teil der Handlung geht Hannah mit ihrer Quäker-Haube durch die Straßen von Philadelphia, als sich ihr eine entlaufene Sklavin mit ihrem kleinen Kind nähert. Sie sind mit der Untergrundbahn gekommen und hoffen, den Ehemann zu finden, einen freien Werftarbeiter in Boston. Hannah mobilisiert ihre Familie, und die nimmt das Paar auf und behält das Geheimnis für sich. Schließlich wird die ganze Familie eingespannt, als sie die beiden an Bord eines Bootes schmuggeln, das nach Boston fährt. Beim Abschied sagte die Frau zu Hannah, dass sie sie angesprochen habe, weil sie die Quäker-Haube erkannt hatte und wusste, dass sie ihr trauen könne: Sie war ein „Freund“. (Alle Kinder in Philadelphia kannten das Wort „Freund“ für die Quäker, da es in den Namen der von Quäkern gegründeten Schulen auftaucht wie Germantown Friends oder Friends Central.) Zum ersten Mal fühlt Hannah Stolz wegen ihrer Haube: „Es war etwas, auf das man stolz sein konnte, so wie es eben war – ohne irgendwelche Blumen oder Bänder wie bei Cecily. Sie sah zu ihrer Mutter auf, und das ,innere Licht‘ leuchtete in ihren Augen.“ Diese Geschichte ist vorhersehbar und auf ihre Weise schlicht, doch sie erzählt den Kindern etwas über eine wichtige Zeit der amerikanischen Geschichte und über

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die Rolle der Quäker in dieser Geschichte – ihrer Bereitschaft, sich um der Gerechtigkeit und Humanität willen Gefahren auszusetzen. Auch die Themen Einfachheit und Extravaganz bzw. Gewissen und äußere Autorität werden behandelt, und es wird gezeigt, wie man religiöse Überzeugung mit sozialer Tat verbinden kann. Doch das mutigste Buch De Angelis ist Bright April [Die strahlende April]. 1947 entstanden, ist es eine Geschichte um Rassismus in Germantown, einem Stadtteil von Philadelphia.38 Noch sehr viel später, als ich zehn Jahre alt war und in der Nähe von Germantown lebte, war es ein mutiges Buch. Die Geschichte handelt von Rasse, nicht Religion, obschon Religion auch ein Teil der Geschichte ist: durch die Rolle der Juden. Es wird eine Parallele zwischen rassischer und religiöser Exklusion gezogen. Es scheint angebracht, sie hier anzubringen, da sie die Aufmerksamkeit auf Mängel der menschlichen Einbildungskraft richtet und darauf, wie man sie überwindet. April Bright ist ein zehn Jahre altes afro-amerikanisches Mädchen, Tochter ­einer Hausfrau und eines Post-Angestellten, der gerade wegen seiner zwanzigjährigen Arbeit für das U.S. Post Office ausgezeichnet wurde. April hat drei Geschwister: Einen älteren Bruder, zwölf Jahre alt, der zur Schule geht, aber glücklicher ist, wenn er trommeln kann. An den Wochenenden arbeitet er in einem Drugstore, um etwas dazuzuverdienen. Aprils ältere Schwester ist Krankenpflegerin. Das­ älteste Kind der Familie ist in der Armee und kurz vor der Entlassung, doch voller Angst, in eine Gesellschaft voller Rassismus zurückzukehren. Dieser älteste Sohn hat eine Ausbildung als Architekt und konnte sie bis zu einem gewissen Grad in der Armee auch einsetzen, doch er will wissen, welche Arbeitsmöglichkeiten ihn zu Hause erwarten. Deutliches Beispiel einer Mobilität nach oben ist ein Onkel, der gerade an die Fakultät der „berühmten Musikschule in New York“ berufen wurde – ein g­ etreues Abbild der Tatsache, dass manche Straßen des Aufstiegs den AfroAmerikanern weniger verschlossen waren als andere. Aprils Familie ähnelt der von Bill Cosby mit ihren Idealen des Anstands, doch nicht, was die Privilegien angeht, und wirtschaftlicher Druck herrscht überall.39 Ihre Eltern sind bescheiden und immer damit beschäftigt, die Kleidung auszubessern, das Haus zu reparieren und alles zu putzen – kurz, sie halten das Bild der Ehrbarkeit aufrecht. Sie haben Angst vor sozialem Abstieg; manche Häuser in der Nachbarschaft sehen bereits heruntergekommen aus, manche Leute achten nicht auf ihre Kleidung. (April trägt sogar Handschuhe, wenn sie zum Zahnarzt in die Stadt fährt. Aprils Mutter sagt ihr immer, dass sie allesamt Achtung vor sich selbst haben müssten, wenn sie wollten, dass auch andere sie achten. Und so ist der Sieg der Reinheit über alles, was verdächtig erscheint, ein wiederkehrendes Motiv in

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diesem Buch. Auf subtile Weise beschreibt De Angeli eine Gesellschaft, die von versteckter Abneigung beherrscht wird. April ist sich immer dessen bewusst, dass andere ihre Hautfarbe bemerken, wo immer sie hingeht, und dass andere nicht recht wissen, ob sie, April, so rein wäre wie sie. Vorurteile tauchen allenthalben auf: Aprils Bruder Tom wird von der Polizei wegen vager Verdächtigungen schikaniert, als er an einem Häuserblock herumlungert, wo kürzlich mehrere Diebstähle verübt wurden. Nur der gute Ruf seines Vaters hält die Behörden davon ab, seine Akte nicht mit einer falschen Anklage zu verunzieren. Die gesamte Familie weiß sehr wohl, dass ihr Vater bei der Besetzung der Chefposition in der Post übergangen wurde, obwohl er größere Verdienste und ein höheres Dienstalter hatte als derjenige, der den Job bekam. Zum Glück hat April eine beste Freundin, Sophie Meyer, deren jüdische Familie sie herzlich willkommen heißt und ihr sogar die Geschichte des Passahfestes erzählt und inwiefern dies Freiheit für alle Menschen bedeutet. Aprils Mutter ­unterstützt ihrerseits diese Freundschaft. Sie betont, dass Passah und Ostern historisch gesehen der gleiche Feiertag sind und dass „keiner von uns Freiheit oder ­Frieden haben kann, solange wir dies nicht alle haben“. Das Thema der schwarzjüdischen Freundschaft und des entsprechenden Verständnisses ist in diesem Roman wichtig. Es erinnert Kinder an die vergleichbaren Vorurteile gegenüber Juden und besagt, dass sich beide Formen des Vorurteils entsprechen. Es sendet zugleich eine ­Botschaft der Toleranz und der Inklusion an die schwarze Community, in der der Antisemitismus seit langem ein Problem ist. Und es beschreibt die aktuelle historische Allianz dieser beiden Gruppen beim Kampf um Gerechtigkeit. Aprils Lehrerin, Miss Bell, und die Leiterin ihrer Pfadfindergruppe, Mrs. Cole, sind beide sehr intelligent und geradezu Lichtjahre ihrer Zeit voraus, wenn es um das geringste Vorurteil bei den Kindern geht. Miss Bell lehrt sie etwa amerikanische Geschichte, indem sie die Leistungen der Minderheiten herausstellt. April erfährt so von Crispus Attucks, der in der Amerikanischen Revolution kämpfte, und die Lehrerin empfiehlt Sophie auch die Geschichte von Haym Solomon, der einen Großteil der Revolution finanzierte. Damals wurde den Schulkindern die amerikanische Geschichte so nicht beigebracht, dergleichen kam erst um das Jahr 2000 auf – und dies war auch von De Angeli bewirkt worden. Zu erkennen ist, dass Mrs. Cole, die Pfadfinder-Leiterin, in den Zeichnungen des Buchs wiederholt als Afro-Amerikanerin gezeigt wird, während die Hautfarbe von Miss Bell nie klar wird; sie ist auf keinem Bild zu sehen. Einem Kind wird aufgetragen, sie durch ein Porträt wiederzugeben, das „den Kamm in ihrem Haar, das

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Grübchen im Kinn und das kleine Muttermal im Nacken“ zeigt. Doch wir werden absichtlich bei unserer naheliegenden Frage im Dunkeln gelassen und implizit ­dafür getadelt, dass wir dies für den wichtigsten Punkt halten. Den Schulkindern sind nur individuelle Eigenschaften wichtig; (noch) achten sie nicht auf das, was die Gesellschaft wissen will. Einige Bemerkungen, wie schwer es für Schwarze ist, Zugang zu geachteten Berufen zu finden, lassen uns annehmen, dass Miss Bell eine Weiße ist. Die Schulklasse ist eine Art Zeitkapsel in eine ideale Zukunft hinein, wo die Hautfarbe nicht mehr das Schicksal bestimmt. Aprils Mutter hat ähnlich ­zukunftsweisende Ansichten und sagt ihrer Tochter, dass sie eine hübsche kaffeebraune Hautfarbe habe, andere Kinder dagegen eine hübsche rosafarbene. (Ich ­erinnere mich daran als eine noch neue Art, über die Hautfarbe zu reden, als meine Tochter in den späten 1970ern zur Grundschule ging.) Und Mrs. Bright verurteilt die R ­ assisten wegen ihrer Ignoranz: Sie haben keine naturwissenschaftlichen Studien absolviert und wissen nicht, dass das menschliche Blut überall das gleiche ist. Dennoch muss sich auch April mit der Realität der Vorurteile auseinander­ setzen. Als die Mädchen in der Pfadfindergruppe darüber reden, was sie machen wollen, wenn sie groß sind, sagt April, sie würde gerne Frauenkleidung verkaufen und einen Laden aufmachen. Zwei andere Mädchen (Italo-Amerikanerinnen) ­lachen sie aus und meinen, jemand wie April könnte das nie tun. Die nette Mrs. Cole erläutert April darauf, dass die Gesellschaft ihr tatsächlich Hindernisse in den Weg räumen würde, und es wäre zu hoffen, dass sich die Gesellschaft schnell genug ändert: „,Vielleicht kannst du, wenn du erwachsen bist, tatsächlich dahin gehen, wo du willst.‘ Und sie fügte nachdenklich hinzu: ,Das hoffe ich wenigstens.‘ Sie war sehr ernst dabei und lächelte nicht.“ Am Höhepunkt der Geschichte bezieht De Angeli entschieden Position gegen jegliche Politik der Ablehnung. April wird wegen ihrer guten Noten zu einem Treffen aller verdienten Pfadfinderinnen (das Beherrschen von Vogel- und Pflanzennamen gehört dazu) auf eine Farm eingeladen. (Ein wenig ­Humor kommt auf, als das Stadtkind zum ersten Mal das Landleben sieht, was uns an weitere Grenzen des Verständnisses erinnert.) Eines der Kinder bei diesem ­Treffen – das als Gast, nicht als Pfadfinderin dargestellt wird (als ob sie bessere Werte beigebracht bekommen hätte, wenn sie ein echtes Mitglied wäre) – ist ein rassistisches Kind. Es ist sehr grob zu April und fühlt sich durch deren Gegenwart herabgesetzt. Die Lehrerin sagt zu April, dass dieses Kind, Phyllis, seine Mutter v­ erloren habe, und appelliert an Aprils Phantasie, was bewirkt, dass sich deren Verletzung in Sympathie verwandelt. Ein schwerer Sturm zieht auf und die Kinder können über Nacht nicht nach Hause

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fahren. Sie müssen alle in ein paar Zimmern auf der Farm zusammenkriechen. April wird mit Phyllis in dasselbe Zimmer gesteckt und Mrs. Cole schickt sie mit dem geflüsterten Pfadfinder-Motto ins Bett: T.d.B. (Tu dein Bestes). Als Phyllis durch den Donner und die Blitze aufwacht, will April sie trösten, doch der Groll hält sie zurück: „April hörte, wie Phyllis sich auf der Couch bewegte. Sie hörte ihr Seufzen und dachte, wie einsam muss Phyllis ohne ihre Mutter sein. Sie tat ihr leid, und sie wollte hingehen und sie trösten. Doch als sie daran dachte, wie Phyllis es abgelehnt hatte, neben ihr am Tisch zu sitzen, konnte sie es nicht. Also biss sie sich auf die Lippen, drehte sich um und zog sich die Bettdecke über den Kopf. Der köstliche Lavendelduft aus den weichen Kissen und die leichte Wärme der Decke trösteten sie. April schlief ein. Irgendwann spürte April, wie sie sanft an den Rand ihres Bettes geschubst ­wurde. Halb wurde sie wach, als zwei kleine Arme sich um sie schlangen. Dann flüsterte jemand: ,Ich bin’s – Phyllis. Mir ist kalt, und ich bin so alleine. Kann ich bei dir bleiben?‘ Jetzt war April wach. ‚Na klar‘, antwortete sie und nahm Phyllis fest in den Arm. Einen Moment schwieg Phyllis, sagte dann zögernd: ,Weißt du, zuerst mochte ich dich nicht. So jemanden wir dich habe ich noch nie gekannt. Aber Flicker [die weiße Hilfs-Pfadfinderführerin] hat mir von dir erzählt und gesagt, wie nett du bist. Sie hat mir gesagt, wie viel du von den Vögeln und Bäumen weißt, und sie sagt, du liest gerne Bücher. Das tue ich auch. Ich lese die ganze Zeit, auch wenn ich das Geschirr abtrockne. Ich stelle das Buch dann auf das Regal, gegen die Salzdose ­gelehnt. Märchen mag ich am liebsten. Du auch?‘ Sie wartet Aprils Antwort nicht ab und redete weiter, als ob sie es nicht abwarten könnte, alles auf einmal zu sagen: ,Als ich vorhin deine Hand berührt habe, habe ich gespürt, wie schön und sanft sie ist. Ich habe auch gesehen, dass deine Kleidung so frisch und sauber wie meine ist.‘ Dann hielt sie einen Moment inne, fuhr danach fort: ,Ich mag dich jetzt.‘ Sie gab einen tiefen Seufzer von sich und fiel wieder in einen festen Schlaf.“ Eine Illustration zeigt, wie sich vier Mädchen am Morgen anziehen: Drei weiße Mädchen mit kurzem Haar sehen bewundernd auf April, die ihr langes schwarzes Haar flicht. Alle tragen blütenreine weiße Unterhosen. Dies ist eine vielfältige und faszinierende Episode. Einerseits führt uns De ­Angeli universelle Menschlichkeit vor, als Phyllis auftaut, nachdem sie von Aprils Liebe zu Büchern und Vögeln erfahren hat wie auch nach der Entdeckung, dass

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auch ihre Haut sich ähnlich anfühlt. April wird ihrerseits durch Phyllis’ Einsamkeit berührt. Diese Erkenntnis ist so durchdringend, weil sie körperlich ist: Phyllis schläft in Aprils Bett und schmiegt sich an sie. Doch erinnert uns diese Episode auch an die Ablehnungs-Phantasien, die zu Trennungen unter den Menschen ­führen. Phyllis ist überrascht, dass sich Aprils Haut „schön und sanft“ anfühlt. Und noch überraschter ist sie, dass Aprils Kleidung sauber ist. Da köcheln ganz offensichtlich Vorstellungen von Schleim und Schmutz unter der Oberfläche. Wir sehen, dass die Besessenheit bei den Brights, was Sauberkeit angeht, ihre Berechtigung hat: Nur ein einziger Ausrutscher bei der idealen Sauberkeit, bei den erdichteten strahlenden Kleidern und sogar bei der Unterwäsche – und alle rassenübergreifende Verständigung wäre nicht möglich gewesen. Doch ein jegliches Verständnis ist zerbrechlich. Einerseits beruht es auf etwas Wahrem: Die Körper der Menschen sind alle gleich, und schwarze Haut ist wirklich sanft und warm. Der letzte Satz des Buchs ist Aprils Mutter anvertraut; sie sagt, dass Phyllis sie zunächst abgewiesen hatte, weil sie die Wahrheit nicht kannte. „Wir müssen immer die Wahrheit kennen, immer, auch wenn es wehtut. Die Bibel sagt: ,Ihr sollt die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit wird euch frei machen!‘“ Und dennoch liegt noch eine weitere Ebene unter diesem Appell an die Wahrheit. Denn Phyllis’ neu gefundene Freundschaft beruht in einem anderen Sinne auf Fiktion, auf der Leugnung, dass Körper und Kleider der Kinder dreckig werden können. Die herrschende Gruppe kann schwitzen und dabei den sichtbaren Schweiß ignorieren. Die Minderheit muss es schaffen, schweißfrei zu bleiben, fast körperlos in der weißen, gestärkten Unterwäsche zu sein. All dies wird den Kindern subtil vorgeführt, die das noch nicht vollständig ­begreifen können. Doch sie werden viel darüber nachdenken und sprechen können – oder schweigen. Ich selbst habe damals das Buch zu der Zeit gelesen, als mein Vater (im tiefen Süden aufgewachsen) wütend wurde, weil ich einem afro-amerikanischen Mädchen aus der Nachbarschaft (die Tochter von Hausdienern, andernfalls hätte sie nicht dort sein können) in unserer Küche etwas Wasser zu trinken gegeben hatte. Ich musste also aus De Angelis Fallstudie einer irrationalen Angst einerseits und einem lebenden Beispiel andererseits mir einen Reim machen. Die meisten weißen Kinder in Philadelphia, die dieses Buch lasen, waren wohl in ähnlichen ­Situationen gewesen, obwohl ihre Eltern, die nicht alle aus dem Süden stammten, vermutlich höflicher gewesen sind. Ich bin sicher, dass dieser Lehrgang im Nachdenken mich hat verstehen lassen, dass mein Vater in einer fremden Phantasiewelt lebte, die gegenüber den Erkenntnissen der Wissenschaft und Wahrheit über­

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raschend immun war; gegenüber Werten, die er zu anderen Zeiten hoch schätzte. Kaum nötig zu erwähnen, dass meine Überlegungen in dem zarten Alter nur durch eine mitreißende Geschichte angestachelt werden konnten. Abstrakte Argumentationen hätte wenig bewirkt. Heute ist De Angeli eine von Tausenden von Autoren, die rassische, ethnische und religiöse Unterschiede für Kinder verständlich schildern, obwohl sie damals nur eine von wenigen war. Oft war sie wenig provozierend und wählte „sichere“, weil gut angesehene religiöse Minderheiten aus, weniger diejenigen, die im Fokus von ­Vorurteilen und Ängsten standen. Doch in ihrer Darstellung rassistischer Vorurteile geht sie über den Rest ihrer Arbeit und über ihre Zeit hinaus und liefert Vorlagen, über sehr viele Vorurteile nachzudenken und wie man sie überwinden könnte, wenn wir sie in der Kindheit ansprechen, und zwar auf eine Art und Weise, die das ­Augenmerk auf die gewöhnliche Wahrnehmung des Körpers legt. Unsere vier genannten Beispiele zeigen, wie die „Dummheit“ durch mitfühlende Phantasie überwunden werden kann. Sie bringt zustande, was allein eine Argumentation kaum erreicht hätte. Sympathie schließt empathische Anteilnahme ein und geht doch weiter als sie, weil sie in der jeweiligen Situation Werte setzt und Hierarchie sowie gesellschaftliche Uneinsichtigkeit kritisiert, was Stigmatisierung und ungerechtes Leiden der Minderheit zur Folge hat. Um in unserem ethischen Leben von Wert zu sein, muss Sympathie bei der Wahrheit beginnen, wie unsere vier Autoren gezeigt haben. Diese Autoren haben historische und kulturelle Forschungsarbeit geleistet und dem Leser gezeigt, dass Neugier auf die Wirklichkeit und darauf, wie andere Menschen leben und denken, grundlegend ist, wenn unsere Phantasie sich gut entwickeln soll. Denn oft arbeitet unsere Phantasie nur unzureichend: entweder dumpf, als würde sie sich für Unbekanntes nicht interessieren, oder, noch schlimmer, von narzisstischer Phantasie geleitet, wenn etwa Menschen, die sich sicher sind, beseelte Menschen zu sein, sich Indianer als bloße Wilde vorstellen oder Afro-Amerikaner als Tiere ansehen, faul und dreckig. Damit haben unsere Autoren eine dreifache Aufgabe: erstens, Tatsachen zu ­zeigen; zweitens, zugleich die Phantasie der Menschen in jene Welt zu locken und sie anzuregen, sich um die Menschen zu kümmern, die sie dort vorfinden; drittens, die Leser zu überzeugen, dass die Menschen dort nicht ekelerregend oder böse sind, sondern Freundschaft und Respekt verdienen. Denn unsere vier Beispiele handeln alle von bürgerlicher oder politischer Freundschaft. Roger Williams hat das wohl begriffen, als er „Wie ist deine Stimmung, Freund?“ ganz oben auf seine Liste setzte. Alle wollen sie ein Stückchen

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Freundschaft: Neugier, Zuhören, Antworten, die Bereitschaft, „dort drüben“ ein vollgültiges Leben und eine Welt anzuerkennen, die außerhalb der unsrigen sind. Freundschaft kommt kaum ohne Kritik aus, und Freunde mögen andere Werte und Denkweisen haben, zuweilen auch sehr ausgeprägt. Doch um Freunde zu bleiben, müssen sie den ersten Schritt tun und die Welt von einem anderen Standpunkt aus zu sehen versuchen. Der Irrtum muss vermieden werden, sich selbst zu etwas Besonderem zu machen; man sollte die Welt nicht durch den Narzissmus der Angst betrachten. Gute politische Leitlinien und stringente Argumente wirken nur vor dem ­Hintergrund ethisch gegründeter Wahrnehmungen, und diese Wahrnehmungen bedürfen der Phantasie. Nur die „inneren Augen“ können uns mitteilen, dass das, was wir sehen, ein vollgültiger Mensch ist, der Wünsche und Ziele hat und eben keine Waffe ist, die unsere Sicherheit bedroht, oder ein Stück Müll. Mit den drei Pfeilern unserer Annäherung – ethischer Folgerichtigkeit, besonderen Grundsätzen der Religionsfreiheit, einer Annäherung durch Phantasie – wollen wir nun zu den Problemen der Gegenwart zurückkehren und uns die Frage stellen, wohin uns unsere Grundsätze bei den komplizierten Fällen der jüngsten Vergangenheit führen.

6 Der Fall Park51 Eines der schwierigsten und am meisten polarisierenden Themen in den neueren US-Debatten um Religion war die Frage, ob ein von Muslimen initiiertes multi­ religiöses Gemeindezentrum mit einem Gebetsraum wenige Blocks von Ground Zero erbaut werden sollte. Dort hatten die verheerenden Angriffe eine Lücke hinterlassen, die nun, nach zehn Jahren, mit einer Gedenkstätte für die Opfer von 9/11 gefüllt wird. Seit seinem zunächst stillen und unumstrittenen Start zu Beginn des Jahres 2009 hat das Projekt Park51 landesweit an Kontur gewonnen, erwies sich dabei aber als sehr strittig. Obwohl inzwischen einiges an Klärung und Versöhnung erreicht wurde, zeigt die Verwendung dieser Kontroverse als Wahlkampfthema bei den New Yorker Kongresswahlen vom 13. September 2011, wie sehr das Thema noch nachhallt. Dabei ging es um einen Wahlkreis, der noch nicht einmal das betreffende Gebiet umfasste. Ground Zero wurde zu einem quasi heiligen Ort, zu einem Ort der Klage für die Opfer und des Nachsinnens über die Verwundbarkeit Amerikas und des amerikanischen Way of Life angesichts der Bedrohung durch den globalen Terrorismus. Damit ist es ein Ort der Angst wie auch der Trauer. Soweit sie sich auf die Attacken von 9/11 und die zukünftige Bedrohung bezieht, ist diese Angst auch sehr rational. Ground Zero liegt nicht irgendwo. Lower Manhattan ist ein rasch wachsender Teil der Stadt mit einer großen, sehr gemischten Bevölkerung aus Anwohnern und Berufstätigen. Anders als andere Teile Manhattans ist das Gebiet um Ground Zero nicht Beschränkungen unterworfen: Alle Wirtschaftsbereiche sind dort erlaubt.1 Nur zwei Blocks entfernt, an der Church Street, gibt es ein Wettbüro. Um die Ecke dann, an der Murray Street, ist New York Dolls, ein Striptease-Lokal. Etwas weiter südlich von Ground Zero ein weiterer Stripclub, die Pussycat Lounge. Schnapsläden, Restaurants und weitere kleinere Läden sind im Überfluss vorhanden. Die Gegend ist meist voller Menschen. Etliche Gebäude wurden durch 9/11 beschädigt. Eines der Häuser war die Burlington Coat Factory, ein Gebäude aus dem 19. Jahrhundert,

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das nach dem Angriff nicht mehr benutzt werden konnte. Im Januar wurde es von dem Investor Sharif El-Gamal erworben, einem 37-jährigen muslimischen Geschäftsmann mit einem libanesischen Vater und einer polnisch-katholischen Mutter, der schon lange in dieser Gegend lebt.2 (Das größere Grundstück 45-51 Park Place gehört Con Ed [Con Edison; ein Unternehmen, das als Energieversorger in New York City tätig ist], und El-Gamal hat es gemietet.) In der unmittelbaren Nähe gibt es bereits zwei Moscheen. Die eine fasst nicht mehr als 65 Menschen und musste mehrere Gottesdienste organisieren, um allen Menschen gerecht zu werden. Die andere Moschee, an der Warren Street, fünf Blocks entfernt von Ground Zero, ist seit Jahren in Benutzung, doch ist ihr Platz begrenzt, und die muslimische ­Arbeiterschaft wuchs rapide an. Daher brauchte man mehr Platz für Gebete und für Gemeindeangelegenheiten. Die Moschee konnte zwar 1500 Menschen fassen, war aber dennoch zu klein, und die Menschen mussten auf dem Bürgersteig beten. Seit sieben Jahren suchten El-Gamal und andere Muslime nach einem geeigneten Ort, und als das Burlington-Gebäude 2006 aufgegeben wurde, sah er die Gelegenheit gekommen. Schließlich konnte er dann 2009 als Vorstand der Entwicklungs-Gesellschaft SoHo Properties das Gebäude kaufen. Anfangs dachte er noch an weitere Nutzungsmöglichkeiten für diesen Ort, etwa an ein Mehrfamilien-Wohnhaus. Im Mai 2009 verlor aber die Moschee an der Warren Street ihr Grundstück, weshalb der Bedarf für einen Gebetsort dringender wurde. El-Gamal, der seinen Kindern im Jüdischen Gemeindezentrum an der Upper West Side das Schwimmen beigebracht hatte, entwickelte die Idee eines vergleich­ baren Zentrums für Lower Manhattan. Es sollte allen Glaubensrichtungen offenstehen, den Menschen des Bezirks zudem viel bieten: Kurse, Sportmöglichkeiten, Kinderprogramme – und einen Gebetsort für Muslime. El-Gamal begann, muslimische Gebete in dem aufgegebenen Gebäude abzuhalten, wo heute auch Yoga-Kurse und Lesungen stattfinden. Er wollte, dass sein Zentrum auch Lower Manhattan mit neuem Leben erfüllt. „Ich kann es nicht oft genug sagen: Wir arbeiten in Lower Man­ hattan, wir kümmern uns um Lower Manhattan, und wir wollen für Lower Manhattan Dienstleistungen anbieten.“3 Doch er sagte auch, dass der Ort ebenso für Menschen aus anderen Bezirken da sei, weil man ihn von Manhattan, Brooklyn und Staten Island leicht erreichen kann. Immer wieder stellte er klar, er würde „keinerlei illegale oder unamerikanische Aktivitäten und Rhetorik dulden. Radikale und hasserfüllte Themen werden in unserem Gemeindezentrum oder der Moschee keinen Raum haben. Wir bauen dieses Zentrum für New York City, weil wir New Yorker sind. Wir sind Amerikaner. Wir haben unsere Familien und unsere Zukunft hier.“

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El-Gamal war in die Katastrophe von 9/11 selbst miteinbezogen. Wie viele weitere Bewohner Lower Manhattans ging er zum Ort des Geschehens und unterstützte Helfer und Opfer. Eine seiner besten Freundinnen, eine Frau, die er als „Muslima und New Yorkerin“ bezeichnet, wurde durch die Druckwelle schwer verletzt. Sie wurde aus den Trümmern geborgen und half ihrerseits anderen Opfern. El-Gamal erinnert sich: „Wir verstehen den Horror dieses Tages, weil wir ihn erlebt haben. Terroristen haben unsere Stadt und unser Land angegriffen, und Terroristen bedrohen weiterhin unsere Stadt und unser Land. Wir sind stolz auf die vielen Muslime, die mit unseren amerikanischen Mitbürgern daran gearbeitet haben, unsere Stadt und unser Land sicher zu machen. … Hunderte von Muslimen sind an jenem Tag gestorben. New Yorker aller Glaubensrichtungen und auch ohne jede Religion sind gemeinsam gestorben. Es gibt Hunderte von Muslimen bei unserer Polizei und der Feuerwehr, und viele Muslime haben freiwillig den Opfern und Verletzten geholfen.“4 Oft erwähnt El-Gamal, dass es die Tragödie von 9/11 war, die ihn zu seinem Glauben zurückführte. Trotz des Eifers der Gegner des Projekts, sämtliche Befürworter als Radikale hinzustellen, scheint kein Mensch El-Gamals Darstellung seiner Religion, seiner Motive oder seiner Geschichte des Dienstes an der Gemeinde je in Frage gestellt zu haben. (Er gestand, 1994 als Stammkunde einer Prostituierten eingesperrt worden zu sein, und einmal wurde er wegen Körperverletzung angeklagt, weil er angeblich einem Mieter ins Gesicht geschlagen hatte, der die Miete zu spät gezahlt hatte, obwohl er das bestritt und die Anklage schließlich fallen gelassen wurde. Diese Fälle haben keine weitere Aufmerksamkeit erregt.5) El-Gamal hat seine Absichten nicht von Anfang an klargestellt. Seine Pläne hat er vielmehr ohne viel Aufsehen und mit nur wenig Rücksprache entwickelt. Doch er fällte eine grundsätzliche Entscheidung: Er wählte den Imam einer nahen Moschee, Feisal Abdul Rauf, als religiösen Führer des geplanten Zentrums und als Imam der dortigen Moschee. Rauf, in Kuwait geboren, ist Sufi. Der Sufismus ist eine geistliche Bewegung innerhalb des Islam, die in Bezug auf interreligiöse Zusammenarbeit starke historische Wurzeln hat und sich immer gegen Aggression und radikale politische Ideen ausgesprochen hat.6 So haben etwa in Indien Sufi-Muslime während der Herrschaft des Mogul-Kaisers Akbar sich mit liberalen Hindus zusammengetan, als der Sufi-Dichter Kabir Verse schrieb, die mit den Worten begannen: „Kabir ist das Kind von Allah und Rama“, um die Verwandtschaft aller Religionen anzuzeigen. In jüngerer Zeit waren die Baul in Westbengalen, die von liberalen Hindus sowie von Sufis abstammen, die Vorbilder des Philosophen Rabindranath Tagore für eine neue „Religion der Humanität“, die auf Liebe und Hingabe beruht.7

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Rauf und seine Frau Daisy Khan agieren international und sind aktiv in der interreligiösen Zusammenarbeit.8 Rauf hat drei Bücher über den Islam und die heutige Gesellschaft verfasst, einschließlich What’s Right with Islam Is What’s Right with America [Was am Islam gut ist, ist gut an Amerika]. Er hat den radikalen Islam scharf kritisiert und die Terrorangriffe als anti-islamisch bezeichnet, als mittelalterlichen islamischen Konservatismus. Zu seinen Freunden gehört die frühere US-Außen­ ministerin Madeleine Albright, und öffentlich ist er mit Bushs Außenministerin Condoleezza Rice sowie seiner Beraterin Karen Hughes aufgetreten. Während der Kontroverse gab er eine Darstellung seiner Überzeugungen und Ziele, woraus klar wird, dass seine Cordoba Initiative, eine multinationale, multireligiöse Organisation, die er 2004 gegründet hat, dem islamischen Extremismus entgegentreten und generell „das Verständnis der Menschen aller Religionen und Kulturen pflegen“ soll.9 Rauf wurde zuweilen zwiespältig aufgenommen, was einerseits seine Bestrebungen betraf, in Saudi-Arabien Gelder einzutreiben, andererseits, was seine eher bombastischen Vorstellungen über die Größe des Zentrums und die welthistorische Rolle anging, die es einnehmen sollte. Zudem hat er einige provokative Äußerungen getan. In einem Interview für die CBS nannte er die USA einen „Helfer“ bei den 9/11-Angriffen, ohne dies allerdings zu erläutern.10 Später stellten er und seine Frau klar, dass er sich dabei auf die Rolle der USA in früheren Jahren bezog, als sie die Taliban in Afghanistan gegen die von den Sowjets gestützte Regierung unterstützten und Osama bin Laden finanzierten. Das war ein stichhaltiges Argument, und es stimmt, dass die US-Unterstützung für die Taliban, aus glühendem Antikommunismus gespeist, den radikalen Islam in jener Weltgegend überhaupt erst gestärkt hat.11 Doch Rauf hat nicht geschickt agiert, als er kommentarlos eine solche Bemerkung machte. Zudem hat er die Kontroverse weiter angeheizt, als er die Aussage verweigerte, ob er die Hamas als Terrororganisation ansehe – obwohl er dann die Terrorakte der Hamas verurteilte. Schließlich hat er die US-Sanktionen gegen den Irak für den Tod von Tausenden irakischer Kinder verantwortlich gemacht. Obwohl also Rauf schon lange in Lower Manhattan als Imam tätig gewesen war, war er doch eine Figur auf der größeren Weltbühne, ein Führer mit vielen Qualitäten, doch zugleich auch jemand, der bei bestimmten Gelegenheiten fragwürdige Urteile abgab. Durch die Wahl seiner Person schien das Projekt seinen Kurs zu ändern und von einer lokalen zu einer internationalen Sache zu werden. Er verkündete, dass das neue Zentrum Teil der Cordoba Initiative würde und daher Cordoba House heißen solle. Der Name ging zurück auf das spanische mittelalterliche ­Córdoba, als diese Stadt ein Ort war, wo Muslime, Christen und Juden zusammen-

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lebten und arbeiteten und eine synkretistische Kultur schufen. Doch implizierte der Name Córdoba für viele auch die muslimische Eroberung Spaniens im 8. Jahrhundert und damit die Herrschaft der Muslime über die Christen. Es überrascht, dass Rauf daran nicht gedacht hatte. Selbst die kulturelle Koexistenz von Muslimen, Juden und Christen in Córdoba konnte in Frage gestellt werden, da sie auf der muslimischen Herrschaft und religiöser Ungleichheit beruhte. Córdoba war eine unglückliche Namenswahl, selbst bei wohlwollender Interpretation. El-Gamal hatte stets die neutrale und bescheidene Bezeichnung Park51 bevorzugt. Zudem fasste Rauf einen Bau von 13 Stockwerken ins Auge, was viel beeindruckender war als der bescheidene Bau, den El-Gamal wollte. Raufs Engagement und seine klare Vision ließen die Frage aufkommen, warum das Zentrum an einem so kontroversen Ort errichtet werden musste, sollte es doch ein Monument des Friedens und der Zusammenarbeit sein. Das konnte auch andernorts geschehen, was auch Rauf später zugab. Er verteidigte den vorgesehenen Ort mit dem Argument, das Zentrum „sendet die entgegengesetzte Botschaft aus von dem, was am 11. September geschah“.12 Später meinte er dann, diese Botschaft könne auch von jedem anderen Ort ausgehen. El-Gamals ursprünglicher Plan war demgegenüber mehr den örtlichen Notwendigkeiten angepasst. Die Muslime hatten in der Gegend nicht genug Platz zum Beten, und ihm gehörte das Gebäude, und er ließ es bereits für das Gebet benutzen wie auch für weitere Aktivitäten. Deshalb hatte er vorgeschlagen, auf dem vorhandenen Grundstück zu expandieren und so der Gemeinde von Lower Manhattan zu helfen. Das alte Burlington-Gebäude hätte nicht unbedingt der Ort dafür sein ­müssen: Auch unweit davon hatte er eine Liegenschaft erworben, die bereits benutzt wurde. Der Plan für das Zentrum wurde von den beiden Organisationen verkündet, ohne dass zuvor die örtliche Gemeinde oder die nationale islamische Gemeinde konsultiert worden wären. Anfangs gab es auch keine Kontroversen. Das FBI gab eine Verlautbarung heraus und lobte Raufs Rolle nach 9/11 als Verbindung zur Muslim-Gemeinde. Das Jüdische Gemeindezentrum äußerte sein Wohlgefallen, dass man es als Modell für El-Gamals Plan erwählt hatte. Als Daisy Khan am 21. Dezember 2009 den Plan das erste Mal im nationalen Fernsehen erläuterte, wurde er sehr begrüßt. Die Expertin Laura Ingraham sagte: „Ich glaube nicht, dass die Menschen damit Probleme haben. Bloomberg [der damalige Bürgermeister] ist ­dafür; die Rabbis sagen, sie hätten kein Problem damit … Ich finde es gut, was Sie da machen wollen, Ms. Khan.“ Khan antwortete: „Klar, wir brauchen dringend die

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­ nterstützung von Leuten wie Ihnen.“ „Also, machen Sie’s gut“, sagte die konserU vative Ingraham. Später änderte sie aber ihre Haltung vollständig und schloss sich der Opposition an.13 Diese Opposition kann man vor allem auf Pamela Geller und ihren politisch rechten Blog zurückführen. Sie leitet die Organisation Stop the Islamization of Ame­ rica und schreibt einen beliebten Blog namens Atlas Shrugs (was sich auf einen Roman von Ayn Rand bezieht). Es ist ein Blog, den auch der norwegische Mörder Anders Behring Breivik schätzte (was kein Fehler Gellers war, aber eine passende Beschreibung des Inhalts und ihrer Blogger). Der Blog konzentriert sich auf die angebliche Bedrohung einer muslimischen Über­nahme der USA. Sehr früh behauptete Geller, dass das geplante Zentrum zum Ort der radikalen Organisierung würde und allein schon dessen Existenz ein Triumph für Muslime sei und zugleich die Opfer von 9/11 und deren Familien verletze. Eine typische Geller-Schlagzeile lautete: „Monster-Moschee treibt im Schatten des World Trade Center islamischen Tod und Zerstörung voran.“ (Geller ist kein Freund von Beweisen; so behauptete sie, Präsident ­Obamas Vater sei Malcolm X. Und ebenfalls ohne Beweis verkündete sie, der Präsident habe eine „Cracknutte“ als Freundin gehabt. Wiederholt setzte sie zudem die Falschnachricht in die Welt, Obama sei ein Muslim.) Zusammen mit dem anti-muslimischen Autor Robert Spencer startete Geller die Kampagne „Stoppt die 9/11-Moschee“.14 Keine Überraschung also, dass die Debatte losging, als Fox News Gellers Schriften prominent als Schlagzeile herausstellte. Nationale Medienberühmtheiten wie die Anti-Muslim-Autorin Brigitte Gabriel und Politiker wie Sarah Palin und Newt Gingrich schlossen sich der Schlacht an. Selbstverständlich wurden ihre Denunziationen von den überraschten Projektentwicklern und Bürgermeister Bloomberg ­zurückgewiesen. Als die Diskussion hitziger wurde, zeigten Umfragen einen deut­ lichen Widerstand gegen das geplante Projekt, auch bei den New Yorkern. Im Mai 2010 bestand der Vorschlag dennoch den ersten Test. Bei einem Vier-StundenTreffen stimmte das Community Board 1, das sämtliche Pläne für diesen Teil Lower Manhattans absegnen muss, mit 21 zu 0 Stimmen, bei 10 Enthaltungen, für den Plan. Religionsführer und Verwandte der Opfer sagten bei der Anhörung aus. Oft hörte man, dass die Errichtung einer Moschee gegenüber den Familien der 9/11-Opfer unsensibel sei. C. Lee Hanson, dessen Sohn bei dem Angriff getötet wurde, sagte: „Der Schmerz vergeht nie. Wenn ich dorthin schaue und eine ­Moschee sehe, tut das weh. Baut sie woanders.“15 Bei diesem und vielen anderen Einwänden kann man nicht sagen, inwiefern sie auf Fehlinformation beruhen. Bedeutet „wenn

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ich dorthin schaue“ vielleicht „von Ground Zero aus“? Wenn ja, dann ist Mr. Hanson falsch informiert. Das Zentrum könnte er von dort aus gar nicht sehen. Und verursacht der Anblick einer Moschee ihm Schmerz, weil er denkt, 9/11 sei vom Islam als solchem verursacht? Oder weil er glaubt, dass genau diese Moschee eine Brutstätte für Terroristen würde? Die nächste Hürde bestand darin, über den Vorschlag zu verhandeln, der dem alten Gebäude Denkmalschutz-Status gewährt hätte, womit es nicht hätte zerstört werden dürfen, um das Zentrum zu bauen. Dieser Vorschlag, vor zwanzig Jahren schon einmal aufgebracht, war lange verschüttet gewesen, doch die Gegner des Zentrums gruben ihn wieder aus. Aber auch dieser Vorstoß schlug mit 9 zu 0 Stimmen fehl. Im Juni jenes Jahres versammelten sich mehr als 1000 Demons­ tranten und trugen Transparente mit Aufschriften wie „Keine 9/11-Mega-­ Moschee“ und Äußerungen von Tea-Party-Unterstützern, das geplante Zentrum würde für „den Gottesdienst des Affengottes der Terroristen“ dienen. Pamela Geller bezahlte ein Plakat gegen das Zentrum, das an städtischen New Yorker Bussen in bestimmten Stadtbezirken angebracht werden sollte. Das Plakat zeigte die ­Angriffe von 9/11, mit Rauch und einem der Flugzeuge, das in einen der Türme flog; daneben war eine Zeichnung der geplanten „Moschee“. Als die Busbetriebe die Plakate ablehnten, klagte Geller, und das Unternehmen gab nach. Auf weiteren Plakaten, die sie finanzierte, wurde Muslimen Hilfe angeboten, wie sie ihre Religion aufgeben könnten. Seither sind „Gebt den Islam auf“-Plakate auch in anderen Städten aufgetaucht. Während des Sommers gewannen die Gegner an Boden, als einige Verantwortliche sich gegen den Plan aussprachen. Abraham Foxman, Chef der Anti-Defama­ tion League, und Carl Paladino, republikanischer Gouverneurs-Kandidat, hoben auf das Thema der Insensibilität ab: Die Organisatoren sollten sich den Wünschen der New Yorker fügen und das Projekt woanders errichten. Bürgermeister Bloomberg hielt dagegen: „Dem allgemeinen Gefühl nachzugeben hieße, den Terroristen einen Sieg zu schenken“, sagte er am 2. August, nachdem das Urteil der DenkmalschutzKommission den Weiterbau gestattet hatte.16 Ihm schloss sich der Kongress-Abgeordnete Jerrold Nadler an, dessen Bezirk auch das umstrittene Gebiet umfasst. Am 13. August äußerte sich Präsident Obama unterstützend, doch nur einen Tag darauf sagte er, seine Bemerkungen seien keine Bestätigung dafür, dass es klug wäre, mit dem Projekt fortzufahren. Die Kontroverse köchelte weiter. Die Denkmalschutz-Kommission wurde vom American Center for Law and Justice verklagt, das einen Feuerwehrmann vertrat, der

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9/11 überlebt hatte. Die Anklage warf der Kommission Verletzung der eigenen Grundsätze vor. Die Kläger stellten auch beim State Supreme Court in Manhattan einen Antrag auf Beendigung des Baus. (Da der Bau noch nicht einmal begonnen und die Gelder noch nicht eingetrieben waren, kam das ein wenig voreilig.)17 Die nächste größere Entwicklung trat Mitte Januar 2011 ein, als El-Gamal verkündete, Imam Feisal Rauf und seine Frau würden nicht länger für das Projekt sprechen. Die Trennung, die aus den langanhaltenden Spannungen und Differenzen erwuchs, ließ Rauf wohl noch als Mitglied des Beratergremiums fungieren, aber er war nicht mehr der Imam des Zentrums. El-Gamal verkündete, dass kein Imam das öffentliche Gesicht des Projekts mehr sein würde. Ein neuer Imam, Scheich Abdallah Adhami, wurde noch als Beisitzer gewählt – doch schnell seiner Pflichten am 5. Februar 2011 wieder enthoben, als herauskam, dass er unsensible Bemerkungen zur Homosexualität gemacht hatte. („Ein kleiner, winziger Prozentsatz von Menschen ist mit einer natürlichen Veranlagung geboren, die diese Menschen nicht erklären können. So etwas findet man auch im Tierreich auf einem bestimmten Niveau.“ Ein schwuler muslimischer Filmemacher meinte dazu, das sei nicht so schlimm wie das, was er von vielen anderen Muslim-Führern gehört habe, und es sei bereits ein Zeichen von Fortschritt.18) Das ist im Grundsatz der Stand der Dinge. El-Gamal sammelt eifrig für das Projekt, Blogger und Politiker streiten immer noch, und es ist sogar zu einem wichtigen Thema im knappen Rennen anlässlich der Wahlen zum Kongress geworden, wo Anthony Weiners Nachfolger gesucht wurde. Der Republikaner-Kandidat Bob Turner behauptete, der Demokrat David Weprin wolle „der Tragödie gedenken durch den Bau einer Moschee auf Ground Zero“, was sowohl ungenau als auch aufrührerisch war. Er gewann die Wahl am 13. September, obwohl dieses Thema im Vergleich zu anderen weniger gewichtig war. Am zehnten Jahrestag von 9/11 gab es eine kleine Anti-Muslim-Demonstration mit ungefähr 1000 Teilnehmern. Doch die Darstellung der interreligiösen Einheit und Freundschaft anlässlich der offiziellen Feiern, die vom Bürgermeister abgehalten wurden, war weit größer. Hier können wir innehalten und nachdenken, wie sich dieser Bericht zu den philosophischen und gesetzlichen Argumenten verhält, die wir in den früheren ­Kapiteln entwickelt haben. Zunächst schauen wir auf Tatsachen, danach auf Werte, die sich in den Reaktionen der verschiedenen Seiten zeigten. Schließlich werden wir unseren dreifachen Ansatz anwenden und die tatsächlichen Wahrnehmungen bewerten sowie die, die auf Wertungen beruhen.

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Die Debatte: Allgemeine Irrtümer Die Debatte war von Anfang bis Ende voller Fehlinformationen, weshalb wir dort ansetzen müssen. Philosophische Grundsätze haben nichts mit stimmigen Tat­ sachen zu tun; manchmal wurden in der Debatte die Tatsachen grob verzerrt. 1. Eine Moschee wird auf Ground Zero errichtet. Wie wir sehen, ist das geplante Zentrum hauptsächlich ein interreligiöses Gemeindezentrum, nicht in erster Linie eine Moschee, auch wenn es einen Gebetsraum geben soll. Und es ist drei Häuserblocks von Ground Zero entfernt und von dort aus nicht zu sehen. Zudem werden in dem Gebäude schon seit Jahren muslimische Gebete abgehalten, eine weitere, lange bestehende Moschee ist nur fünf Blocks entfernt. Relevant ist auch, dass dieses Gebiet von Lower Manhattan kein heiliger Ort ist, wie sich durch das Vorhandensein des Wettbüros und zweier Stripclubs zeigt. 2. Das Zentrum soll eine Botschaft des Sieges übermitteln und zeigen, dass Muslime die USA anlässlich 9/11 geschlagen haben. Wie wir sahen, ist das Gegenteil der Fall: Sowohl Rauf als auch El-Gamal sind Gemäßigte, die den radikalen Islam in all seinen Formen verurteilen, und sie haben die Garantie abgegeben, dass der­ gleichen im geplanten Zentrum keinen Ort haben wird. Raufs Ziel ist eine symbolische Darstellung interreligiöser Zusammenarbeit; El-Gamals Ziel ist eher lokal und bescheidener: ein schlichtes Zentrum, das der Gemeinde in Lower Manhattan langfristig dient. Der Name Córdoba, obgleich eine unglückliche Wahl, sollte ­Zusammenarbeit und Respekt verdeutlichen. Dieser Fehler ist einem viel größeren Irrtum geschuldet: die Gleichsetzung des Islam mit seinen radikalsten und ­gewalttätigsten Richtungen sowie ein vollständiges Missverständnis dessen, was der Sufismus innerhalb dieser Religion darstellt. 3. Das Zentrum soll am zehnten Jahrestag von 9/11 eröffnet werden. Dieser Mythos, von Pamela Geller und danach auf Fox News verbreitet, geht an der Realität vorbei. Abgesehen von der Kontroverse hätte es Jahre gedauert, das bestehende Gebäude abzureißen, die Gelder für einen neuen Bau einzutreiben, diesen dann zu entwerfen und zu bauen. Die Organisatoren hatten noch nicht einmal zum zehnten Jahrestag die Gelder beisammen, und nie haben sie ein Zieldatum genannt. 4. Das Zentrum würde eine Zelle für radikale Muslim-Organisationen werden. Auch das stimmt nicht, es sei denn, man hält alle Aussagen der Organisatoren für falsch. El-Gamal hat darauf bestanden, dass dergleichen in dem Zentrum keinen Platz hat. Auch hier gilt: Dieser Irrtum kam auf vor dem Hintergrund eines umfassenderen. Unterschiede und Konflikte zwischen den Glaubensrichtungen werden

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nicht gesehen, und die Aussage, dass Muslime immer lügen, mag hier außerdem eine verhängnisvolle Rolle gespielt haben.

Zwei Fragen, nicht nur eine Wir können die Dinge nicht analysieren, ohne erst festzulegen, wie die Frage überhaupt lautet. Obgleich die Diskussion um das geplante Gemeindezentrum oft den Punkt verunklart hat, war das weitaus öfter nicht der Fall. Ein Großteil der öffentlichen Debatte, auch einiges von dem, was Politiker und Experten sagten, hat zwei Punkte sorgsam auseinandergehalten, die tatsächlich deutlich verschieden sind. ­Zunächst einmal: Haben die Projektentwickler das verfassungsmäßige Recht, auf diesem Grundstück ein islamisches Zentrum zu errichten, einschließlich einer M ­ oschee? Zweitens: Ist es klug (sensibel, hilfreich, wohl überlegt), dass sie mit diesem Plan fortfahren angesichts der Kontroverse, die aufgekommen ist? In manchen Stellungnahmen ist vorgebracht worden, dass die erste Frage mit ja, die zweite mit nein beantwortet werden müsse, und zwar angesichts des Leidens einiger Angehöriger von Opfern (obwohl andere Opfer-Angehörige dem nicht zustimmen und zu den Projektentwicklern auch Angehörige und Freunde von Muslimen zählen). Diese beiden Fragen sind in vielen Bereichen unserer Verfassung deutlich voneinander getrennt. Die Tatsache, dass der Erste Zusatz zur Verfassung dazu benutzt wurde, Nazi-Marschierer bei ihrer Demonstration in jüdischer Nachbarschaft zu schützen, heißt wohl kaum, dass es klug oder richtig wäre, dass die Nazis ihren Marsch durchführen, oder dass es falsch wäre, wenn andere dagegen Einwände ­erheben und protestieren. Die Tatsache, dass eine beleidigende Sprache ebenfalls durch den Ersten Zusatz geschützt wird, heißt gleichfalls noch nicht, es wäre gut oder klug, wenn eine Zeitung derartige Reden publiziert – eine Sprache, die etwa rassische oder religiöse Gruppen sowie Frauen herabsetzt. Das lässt oft Verwirrung aufkommen. Im Fall der umstrittenen dänischen Karikaturen, die Muslime beleidigten, beriefen sich die Menschen auf die Redefreiheit, als ob diese darüber entscheide, ob eine bestimmte Zeitung diese Karikaturen veröffentlichen sollte. Natürlich drucken Zeitungen nicht alles, was sie von der Verfassung her drucken dürften. Erwägungen, ob dadurch jemand beleidigt würde, werden gewöhnlich mit einbe­ zogen. Hätte die New York Times eine rassistische Karikatur veröffentlicht, die AfroAmerikaner beleidigt hätte, könnte niemand sagen, die Zeitung hätte kein verfas-

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sungsmäßiges Recht, das zu tun, aber der Chefredakteur würde vermutlich, und zu Recht, seinen Job verlieren. Es ist also konsequent, wenn man sagt, dass die Projektentwickler eindeutig das verfassungsmäßige Recht haben, weiterzumachen, aber man könnte fragen, ob das klug wäre. Viele meinen, das sollte nicht sein. Wir können aber nicht ohne Weiteres davon ausgehen, dass das Vorhandensein starker negativer Gefühle bei vielen Menschen bedeutete, es wäre unklug fortzufahren. Hat man die Gesellschaft im Blick, sind die negativen Gefühle der Menschen von Gewicht: Die Bürger können sogar Gesetze verabschieden, die Dinge verbieten, welche abstoßend und beleidigend sind, auch wenn sie denjenigen, die dagegen sind, keinen Schaden zufügen. In dieser Position sah sich der Brite Lord ­Devlin, was die Zustimmung zu homosexuellen Akten betrifft; eine Sichtweise, die in unserer Gesellschaft zurückgewiesen wurde: wie das persönliche Recht auf sexuelles Verhalten geschützt ist, auch wenn viele Menschen den Gedanken nicht mögen, dass dergleichen passiert. Doch es besteht ein Unterschied zwischen jenem und unserem Fall: Das sexuelle Verhalten wird vor Eingriffen geschützt, weil es in der Privatsphäre stattfindet und somit keinen Einfluss auf das Leben anderer Menschen hat, es sei denn durch deren Phantasie. Mit anderen Worten ist das, was sie sich vorstellen, genau das, was John Stuart Mill eine „vollständig konstruierte Verletzung“ nannte. Die Menschen sehen sie nicht, haben damit auch nichts zu tun, weshalb sie nur durch ihre Phantasie davon betroffen werden und nicht mögen, was sie da phantasieren. Der Fall Park51 ist nicht ganz so, weil die Menschen das Gebäude in einer gewissen Nähe zu Ground Zero werden sehen müssen. Sie werden daran vorbeigehen, wenn sie zur Arbeit oder zur 9/11-Gedächtnisstätte wollen. Auf den ersten Blick also scheint es nicht, dass die Verletzung „vollständig konstruiert“ ist. Doch auch hier müssen wir genauer hinsehen. Das geplante Gebäude würde von Ground Zero aus nicht direkt zu sehen sein. Zweieinhalb Blocks in einem stark bevölkerten Gebiet Manhattans sind eine ziemliche Entfernung, und wenn die betreffende Person einfach spazieren ginge, hätte sie keinen Grund zur Vorstellung, dass die beiden Orte eng miteinander verbunden sind; nicht mehr jedenfalls, als dies für Ground Zero und jedes andere Gebäude in der Nachbarschaft gilt wie etwa Stripclubs und Wettbüros. Deshalb kann die Verletzung schließlich doch „vollkommen konstruiert“ sein. Die Menschen reagieren auf die Worte Ground-Zero-­ Moschee, die so oft in diesem Zusammenhang benutzt wurden, nicht aber auf die Realität des Lebens in New York, das weitergehen würde, würden die Pläne ausge-

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führt – und ja auch weitergeht, da das Gebäude der Burlington Coat Factory seit einiger Zeit für muslimisches Gebet benutzt wird. Ein weiterer Aspekt, der zeigt, dass die Verletzung „konstruiert“ ist, besteht in der Vorstellung der Menschen, was sich vermutlich in diesem Gemeindezentrum abspielen würde. So wie sich Nachbarn ein schwules Pärchen vorstellen – nicht in Liebe und Zuneigung, der der ihren ähnlich, sondern mit bösem, verbotenem Analverkehr, der für die Gemeinschaft ansteckend ist –, mögen sich auch die Gegner des Projektes vorstellen, worauf die Blogger immer wieder anspielen: eine triumphierende, verächtliche Feier der „Niederlage Amerikas“ anlässlich 9/11, dazu die Geldsammlung für radikale Islamisten-Organisationen in aller Welt, und so fort. Wenn der Schmerz der Leute auf ihrer Phantasie über die Vorgänge im Zentrum beruht und nicht auf der Realität vor ihren Augen, scheint der Schmerz auch hier „vollkommen konstruiert“ zu sein. Zählen würde nur die Zusicherung, dass dort keine die Sicherheit bedrohenden Aktivitäten stattfinden und der Ausdruck religiösen Hasses nicht Absicht des neuen Zentrums, sondern dem sogar direkt entgegengesetzt ist. Angenommen, die Gegner sagen, sie würden nicht von bestimmten Vorstellungen darüber geleitet, was im geplanten Zentrum sich abspielte, auch nicht durch irrige Ansichten über die Erscheinung des Baus, sondern nur durch die lokale Entfernung von Ground Zero, die jedermann sehen könne: Was dann? Dann müssten sie erklären, welche Distanz groß genug ist, da ja bereits eine Moschee in einer Entfernung von fünf Blocks existiert, wogegen sie ja keine Einwände erheben. Sie müssten also erklären, warum sie dann gegen den Unterschied von zweieinhalb zu fünf Blocks Einwände erheben. Und sie würden darlegen müssen, warum ihre Einwände sich gegen ein Gemeindezentrum und einen Gebetsort, nicht aber gegen Stripclubs, Schnapsläden und das Wettbüro richten. Nehmen wir an, sie würden darauf eine Antwort liefern. Würde der strenge Blick der Öffentlichkeit und vor allem der Opferfamilien diese Antwort für stichhaltig erachten? Das Problem besteht darin, dass die Menschen oft gegen Dinge Einwände ­erheben, die sie sehen, doch ihre Einwände sind nicht immer überzeugend, auch vor den Schranken der öffentlichen Meinung nicht (weil alle sagen, dass sie rechtlich damit kaum durchkämen). Viele Menschen mögen nicht sehen, wie ein gemischtrassiges Paar in der Öffentlichkeit seine Zuneigung bekundet und eng umschlungen durch die Straßen geht. Und noch weniger Menschen mögen es, wenn gleichgeschlecht­ liche Paare so etwas tun. Diese Paare haben aber das gesetzliche Recht, ihre Zu­ neigung auszudrücken, solange sie keine Gesetze zur Nacktheit oder öffentlichen

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Anstößigkeit verletzen. Sind wir aber der Meinung, dass, moralisch gesehen, es für diese Paare klüger wäre, ihre Zuneigung zu verbergen? Hier ist die Meinung geteilt, doch generell denken wir nicht so, weil wir finden, solche Meinungen seien zugleich eine ungerechte Diskriminierung: Normale und einrassige Paare erhalten Privilegien, die andere Paare nicht erhalten. Es ist also nicht klar, ob wir uns dem fügen sollten, auch angesichts dessen, was die Leute erleiden bei dem, was sich vor ihren Augen abspielt. Wir müssen noch deutlicher fragen, was eine ethisch legitime Quelle der Beleidigung ist und was nicht. Noch etwas müssen wir hier beachten. Verfassungsgrundsätze sind etwas an­ deres als ethische Normen und können nicht durch Mehrheits-Entscheidungen verändert werden. Dennoch brauchen sie bis zu einem gewissen Grad die Bekräftigung durch die Gefühle der Öffentlichkeit. Wenn Menschen jeden Tag ihre Dosis an tiefem religiösem und rassistischem Hass zu spüren bekommen, werden sie vermutlich den Willen verlieren, die verfassungsmäßige Norm aufrechtzuerhalten. Die Weimarer Republik erlag der boshaften Saat des Antisemitismus, und viele andere Gesellschaften haben im Laufe der Zeit ihre guten Grundsätze aufge­ geben, weil negative Gefühle jedes Gerechtigkeitsgefühl überrannt haben. Deshalb habe ich ja gesagt, gute Grundsätze bedürften der Phantasie: Sie halten ohne eine spezielle Sichtweise und entsprechende Gefühle nicht lange an. Deshalb ­haben auch Verteidiger der Religionsfreiheit wie Roger Williams und John Locke viel Zeit darauf verwandt, den Menschen zu sagen, wie sie einander begegnen sollten: mit feinfühliger, respektvoller Aufmerksamkeit, Großzügigkeit und Freundlichkeit. Das bedeutet, dass eine scharfe Trennung zwischen ethischen und verfassungsmäßigen Fragen nicht immer klug ist. Wo es um Mitbürger geht, die weder Hass noch Verachtung ausdrücken (wie die Nazi-Marschierer), sondern nur ihrem religiösen Leben nachgehen, werden unsere Grundsätze des gleichen Respekts für alle unterhöhlt, wenn wir beleidigendes Verhalten zulassen. Roger Williams hat Recht, wenn er sagt, wir sollten die bürgerliche Freundschaft pflegen, sofern wir das Prinzip der Religionsfreiheit schätzen. Mit diesen Fragen wollen wir nun einige der in der Kontroverse vorgetragenen Meinungen betrachten. Danach wollen wir zu unseren philosophischen Grund­ sätzen zurückkehren und sehen, wie sie uns weiterhelfen können.

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Optionen: Irrtum und Einsicht Hunderte von Ansichten sind auf beiden Seiten der Kontrahenten geäußert worden. Wir wollen die wichtigsten zusammenfassen und schauen, ob sie durchdacht sind und wie sehr sie die Unterschiede bedenken, die ich formuliert habe. Danach wollen wir uns anschauen, wie die Debatte sowohl das Verständnis für die drei ­Elemente eines gerechten Urteils, von dem ich sprach, sowie auch deren Fehlen offenbart hat.

Pro: Bloomberg, Nadler, Friedman Bürgermeister Bloomberg hat von Anfang an das Zentrum befürwortet. Er bringt ein Argument, das sowohl ethisch wie verfassungsmäßig ist. Oft hat er auf die verfassungsmäßigen Rechte der Planer angespielt. Doch er hat auch betont, wie gut und klug es wäre, das Zentrum zu bauen. Schon am 9. Dezember 2009 ließ er durch einen Sprecher verkünden: „Die Idee eines Kulturzentrums, das die Bande zwischen Muslimen und Menschen aller Glaubensrichtungen und Hintergründe stärkt, ist positiv.“19 Als die Kontroverse hitziger wurde, wurden seine Kommentare ausführ­ licher. Bei einer Pressekonferenz im Juli 2010, als er auf Bemerkungen Sarah Palins reagierte, welche Leiden ein solches Zentrum verursachen würde, sagte er: „Ich glaube, unsere jungen Männer und Frauen in Übersee kämpfen genau dafür – für das Recht der Menschen, ihre Religion auszuüben, damit Regierungen nicht beliebig sagen können, welche Religionen sie unterstützen und welche nicht. … Wofür die USA und New York stehen, ist Toleranz und Offenheit, und ich denke, es ist eine gute Botschaft an die Welt, dass anders als an anderen Orten, wo man tatsächlich die Menschen davon abhält, eine Burka zu tragen oder ein Gebäude zu errichten, dies nicht das ist, worauf Amerika gegründet wurde, und auch nicht das ist, was Amerika werden sollte.“20 Bloomberg beginnt mit Verfassungsgrundsätzen und erklärt, warum diese Grundlagen auch vom Geist der Gerechtigkeit getragen sind: Die Regierung sollte andere Religionen nicht anders behandeln. Diese Idee der Gerechtigkeit wiederum ist verbunden mit einer grundsätzlichen Haltung der Offenheit und Akzeptanz. Indem er die USA mit Europa vergleicht, sagte Bloomberg, die Erlaubnis, dieses Zentrum zu errichten (wo eine christliche Kirche ohne jeden Kommentar gebaut werden könnte), sei Ausdruck der Akzeptanz und Offenheit, die genau das wäre,

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worauf Amerika gegründet sei. Damit argumentiert er, dass Grundsätze der religiösen Freiheit durch eine Ethik gestützt werden, die aus unserer Geschichte zwar bekannt, dennoch fragil geworden ist, wenn man riskiert, die USA in eine Richtung zu steuern, die Europa unlängst eingeschlagen habe; eine Richtung, die er als an­dere ausschließend und ungerecht empfindet. Das geplante Zentrum zu errichten sei eine Darstellung grundlegender ethischer Werte Amerikas, die die Grundlage unserer politischen Kultur bilden. Insgesamt ist Bloomberg mit seiner offenkundigen Bereitschaft zu führen erfrischend; er scheint sich um die nächste Wahl nicht zu sorgen. Deshalb äußerte er sich konsequent und umfassend. Seine Position ist zugleich die der meisten Unterstützer des Projekts: Er bringt ethische wie verfassungsmäßige Argumente. Der Kongressabgeordnete Jerrold Nadler formulierte sehr ähnlich und meinte, er finde es „beschämend und spalterisch“, wenn muslimische Amerikaner aus Feindseligkeit und Hass wegen ihrer ­Religion stigmatisiert würden, und er sagte, New York habe seit Jahrhunderten die positiven Werte der Vielfalt, Toleranz und des Verständnisses aufrechterhalten.21 Der Journalist Thomas Friedman befürwortet das Zentrum aus einem interessanten Blickwinkel in seiner Kolumne für die New York Times. Er sagte, dass die Vermischung unterschiedlicher ethnischer und religiöser Gruppen, die ja das Charakteristikum New Yorks sei, auch das Geheimnis amerikanischer Glaubwürdigkeit und Innovation auf vielen Gebieten sei, von Tanz und Musik bis zur Geschäftswelt. Die bloße „kreative Energie, die entsteht, wenn man unterschiedliche Menschen und Kulturen vermischt“, sei „Amerikas wichtigster Wettbewerbsvorteil. … Wir leben in einem Zeitalter, da der größte Vermögensposten, den eine Wirtschaft haben kann, in der Fähigkeit zur Kreativität besteht, neue Ideen zu entfachen und neue Ideen sich auszumalen, seien es Broadway-Melodien, herausragende Bücher, iPads oder neue Mittel gegen Krebs.“ Kreativität müsse unterschiedlichen Ideen und Menschen ausgesetzt werden. Das geplante Zentrum zu errichten, wäre also eine Aussage g­ egenüber der Welt, die wir lieben, und würde Vielfalt bedeuten: „Wenn wir der Welt sagen, ,Ja, wir sind ein Land, das sogar eine Moschee in der Nähe des Schauplatzes von 9/11 toleriert‘, verschicken wir damit auch eine Botschaft der Inklusion und der Offenheit. Das wird andere Nationen schockieren. Man weiß nie, wer da draußen die Botschaft hört und sagt: ,Was für ein bemerkenswertes Land! In diesem Schmelztiegel möchte ich leben, auch wenn ich mir ein Boot aus Milchkartons bauen müsste, um dahin zu kommen.‘ Solange das passiert, wird Silicon Valley Silicon Valley bleiben, der Broadway wird der Broadway sein,

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und Amerika wird okay sein, wenn wir es noch schaffen sollten, unsere Politik und unsere Schulen in Ordnung zu bringen.“22 Friedman schreibt nicht sehr gut (die Metaphern des Schmelztiegels und des Milchkartons sind besonders schlimm), und er überschätzt den gegenwärtigen Zustand des Broadway-Theaters ganz gewaltig. Anders aber als Bürgermeister Bloomberg bringt er ein wirtschaftliches, kein ethisches Argument: Es ist in Amerikas wirtschaftlichem Interesse, Menschen verschiedenen Ursprungs und mit jenem schöpferischen Treibmittel willkommen zu heißen, das New York oft an den Tag legt. Zugleich befürwortet er Offenheit und Vielfalt, die zutiefst ethisch sind. (In  vieler Hinsicht erinnert seine Argumentation an Salman Rushdies Schriften über Indien; Rushdie betont gleichfalls die Energie, die durch Vielfalt entsteht, womit er die Ideologie der Homogenität und Reinheit zurückweist.) Und wie Walt Whitmans poetisches Lob der Vielfalt Amerikas bekundet sein Essay einen Geist, der Gesetzesprinzipien untermauert und ihnen Leben verleiht.

Contra: Palin, Reid, Cohen, Foxman, Gingrich, Peretz Die Meinungen gegen das Zentrum waren sehr unterschiedlich, weshalb wir mehrere davon betrachten sollten. Obwohl Sarah Palin oft als radikal und unverantwortlich wahrgenommen wird – und manchmal auch so ist –, waren ihre Kommentare zur Sache ausgewogen und angemessen, wenn auch nicht in vollem Umfang überzeugend. „Ihr friedlichen Moslems, bitte lehnt ab“, äußerte sie. Sie holte aus: Ein großer, öffentlich sichtbarer islamischer Bau bei Ground Zero fühle sich an „wie ein Stich ins Herz aller Amerikaner, die immer noch Schmerzen haben wegen 9/11“. Weiter: „Ihr friedliebenden Muslime, bitte versteht, eine Ground-Zero-Moschee ist eine unnötige Provokation: Sie versetzt den Herzen einen Stich. Bitte lehnt ab im Interesse der Heilung.“ Ausdrücklich bestand Palin darauf, dass die Gruppe ein verfassungsmäßiges Recht auf den Bau des Zentrums habe. Ihren eigenen Widerstand begründete sie mit mangelnder Sensibilität. „Wir alle wissen, dass sie das Recht haben zu bauen, aber sollten sie das wirklich tun?“ Sicher kann man sie wegen des irreführenden Begriffs „Ground-Zero-Moschee“ kritisieren. Doch grundsätzlich ist ihre Trennung von verfassungsmäßigen Rechten und moralischer Sensibilität sehr klar, was auch für ihre Unterscheidung von Terroristen und „friedliebenden Muslimen“ gilt. Ein ähnliches Argument wurde von Harry Reid vorgebracht, dem Mehrheitsführer des Senats. „Es ist Zeit, die Menschen zusammenzuführen, nicht die Zeit für

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Polarisierung, und ich meine, wir wären alle besser dran, wenn das Zentrum woanders gebaut würde.“ Reid betonte, dass der Erste Zusatz [zur Verfassung] die Freiheit der Gruppe schützte, das Zentrum zu errichten, doch er hält es für besser, es woanders zu bauen. Die Reid/Palin-Position wurde allgemein übernommen. Am genauesten wurde sie vielleicht von Roger Cohen in der New York Times ausgedrückt. Cohen, der das Aufkommen anti-muslimischer Gefühle überall auf der Welt beklagte, sagte, der Grundsatz der Religionsfreiheit sei sehr wichtig und in den USA auch sehr abgesichert. Deshalb müsse man sich auf den emotionalen Gehalt der Sache konzentrieren. In einer Zeit der erregten Gefühle wäre es besser, alles zu tun, um Frieden und Versöhnung voranzubringen: „Das Moschee-Projekt nahe Ground Zero hält ein großes Prinzip Amerikas aufrecht, doch es ist keine sensible Idee. Gutes Gespür ist vonnöten, wenn die Ernte der Wut ansteht.“23 Cohen erwähnte den vergleichbaren Fall von Kreuzen in der Nähe von Auschwitz, auf den wir gleich zurückkommen. Und dieser letzte Fall war auch zentral in der Argumentation Abraham Friedmans, des Chefs der Anti-Defamation League, der sich gleichfalls gegen den Bau aussprach. Alle genannten Positionen sind verantwortungsbewusst (wenn auch nicht unbedingt vollständig oder korrekt), weil sie sorgfältig die Frage der Verfassungsrechte von der Frage einer klugen Beurteilung des Themas trennen. Und sie dämonisieren nicht die Muslime. Zudem haben sie auf ihrer Seite, dass gegenwärtig unser erstes Ziel Frieden und Versöhnung sein sollte, während die Debatte um Park51 die Stimmung weiter anheizt. Doch sie lassen einige schwierige Themen wie die Freundschaft zwischen Bürgern aus, worauf wir später zurückkommen. Ganz anders waren die Bekundungen weiterer Redner, von denen wir hier nur zwei auswählen. Präsidentschafts-Kandidat Newt Gingrich formulierte seinen Einspruch so: „Amerika erleidet gegenwärtig eine islamisch-kulturpolitische Offensive, die unsere Zivilisation untergraben und zerstören will.“ Man kann kaum weniger nuanciert reden. Und er fuhr fort: „Die Zeit für zweierlei Maß, was den Islamisten erlaubt, sich uns gegenüber aggressiv zu verhalten, während von uns Schwäche und Unterwerfung gefordert werden, ist vorüber.“ Womit er das geplante Zentrum mit terroristischer Aggression und dem Verlangen nach Unterwerfung gleichsetzte. Und indem er behauptete: „Dies ist ein Krieg“, meinte er, der Kongress solle Ground Zero zum Schlachtfeld erklären, offenkundig im Glauben, es würde die Errichtung eines islamischen Zentrums drei Häuserblocks entfernt unmöglich machen. (Und was ist mit den Stripclubs und dem Wettbüro? Was ist mit der Moschee im Pentagon, einem der Ziele von 9/11?) Gingrich meinte auch, man solle in New York ­so

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lange keine Moschee zulassen, solange es in Saudi-Arabien keine Kirchen gebe – als wäre diese Nation das Modell einer verfassungsmäßigen Demokratie für die USA! Seine Äußerungen krönte er mit der Aussage, die Errichtung dieses Zentrums wäre, als würde man ein Nazi-Emblem neben dem Holocaust-Museum aufstellen. Diese Bemerkungen, die Nazis mit Muslimen gleichsetzen, tragen bei zur unverantwortlichen Angstmache gegenüber Muslimen. Sie unterscheiden zudem nicht zwischen Islam und Terrorismus, trennen nicht verfassungsmäßige Rechte von moralischer Sensibilität; sie sind unverantwortliche Demagogie. Noch schlimmer war eine Kolumne von Marty Peretz im New Republic, in der es u. a. hieß: „Aber offen gesagt ist das Leben eines Muslims nicht viel wert, ganz besonders nicht den Moslems. Und unter den Muslimen, die von Imam Rauf angeführt werden, ist kaum einer, der sich über das gewohnheitsmäßige und zufällige Blutvergießen aufgeregt hätte, das ihre Bruderschaft definiert. Und da frage ich mich, warum ich diese ­Leute ehren und so tun soll, als wären sie der Privilegien des Ersten Zusatzes würdig, wobei ich das verdammte Gefühl habe, dass sie sie missbrauchen werden.“ Man weiß gar nicht, wo man hier anfangen soll. Peretz unterschlägt sämtliche Aussagen von Rauf, Daisy Khan und El-Gamal, dass Terrorismus hasserfüllt ist und damit nach ihrer Ansicht unislamisch. (Oder geht er davon aus, dass Muslime immer lügen?) Indem er behauptet, dass Terrorismus und „zufälliges Blutvergießen“ den Islam definieren, lässt er die Realität außer Acht wie etwa die Tatsache, dass die beiden Nationen mit der weltgrößten Muslim-Bevölkerung, Indonesien und Indien, blühende Demokratien sind. Er vergisst auch die Tatsache, dass islamische Anführer in aller Welt den Terrorismus verurteilt haben. Ganz zu schweigen von der eher subtilen Tatsache, dass der Sufismus sich gegen jede Gewalt wendet. Was Tatsachen angeht, ist Peretz so schlecht wie Gingrich und Geller, nur hat er weniger Ausreden auf seiner Seite, da er ein Intellektueller mit entsprechender Ausbildung ist. (Allerdings hat auch Gingrich einen Doktor in Geschichte, vielleicht sind sie beide also doch auf der gleichen Ebene.) Hinterhältiger und unverantwortlicher ist aber seine Haltung zur US-Verfassung. Seine Worte „der Privilegien des Ersten Zusatzes würdig“ legen nahe, er hielte Verfassungsrechte für bloße Verdienste und nicht für universelle Rechte, die jeder unserer Bürger hat (auch Nichtbürger) und die in unserer Humanität begründet sind. Die Menschen werden durch den Ersten Zusatz geschützt; egal, ob sie gute oder schlechte Menschen sind und ob sie selbst die Idee der Religionsfreiheit verstehen oder nicht. (So haben auch Amerikaner mit schwerer geistiger Behinderung dieselben Rechte wie alle anderen.) Peretz greift damit auf eine auf Hierarchie

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­ egründete religiöse Toleranz zurück, die schon von George Washington zurück­ b gewiesen wurde, als er schrieb: „Heute spricht niemand mehr von Toleranz, als würde eine Klasse von Menschen dank der Gefälligkeit einer anderen Klasse sich der Ausübung ihrer natürlichen Rechte erfreuen.“ Im alten Europa, so Washingtons Aussage, wurde man toleriert, wenn die Menschen das guthießen; im neuen Amerika ist Religionsfreiheit ein Naturrecht, das alle Amerikaner im gleichen Maße besitzen. Peretz dagegen scheint das Ancien Régime zu bevorzugen. Seine Kolumne war sicherlich der Tiefpunkt des Journalismus der selbst ernannten Intellektuellen.

Unklar: Präsident Obama Im August 2010 gab der Präsident eine Stellungnahme ab, die so klang, als würde er Bürgermeister Bloomberg zustimmen. Danach gebe es nicht nur das verfassungsmäßige Recht, das Zentrum zu errichten, sondern es sollte auch im Namen der Werte Amerikas vorangetrieben werden. In einer Rede zum Beginn des Ramadan sagte Obama, dass er „als Bürger und als Präsident“ glaube, dass „die Muslime dasselbe Recht wie jedermann sonst in diesem Land haben, ihre Religion auszuüben. Dies ist Amerika, und unsere Verpflichtung zu religiöser Freiheit muss unerschütterlich bleiben. Der Grundsatz, dass Menschen aller Glaubensrichtungen in diesem Land willkommen sind und von der Regierung nicht anders behandelt werden, ist wesentlich dafür, wer wir sind.“24 Damit berührt er nur die verfassungsrechtliche Seite, obwohl er durch den Punkt der andersartigen Behandlung das ethische Problem anspricht, dass Muslime zu Unrecht ausgesondert würden. Doch dann fuhr er fort, indem er die Terroristen von 9/11 vom Islam als Religion unterschied: „Die Sache von Al-Qaida ist nicht der Islam – es ist eine große Verzerrung des Islam. Tatsächlich hat Al-Qaida mehr Muslime getötet als Menschen aus anderen Religionen, und dazu gehören auch die unschuldigen Muslime, die bei 9/11 getötet wurden.“ Er führte auch an, dass Muslime ehrenhaft im US-Militär dienten. Mit diesen Bemerkungen formulierte er zumindest seine Befürwortung des geplanten Zentrums, und in diesem Sinne haben Bürgermeister Bloomberg und viele andere ihn auch verstanden. Am nächsten Tag sagte er jedoch, wobei er sich vielleicht einigen Kritikern beugte, er habe nur die Verfassungsfrage angesprochen und nicht, ob es klug wäre, das Zentrum am vorgesehenen Ort zu bauen. „Ich habe nicht davon gesprochen und werde es auch nicht tun, ob es klug wäre, sich für den Bau der Moschee an

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diesem Ort zu entscheiden. Ich habe mich nur über das Recht der Menschen geäußert, das auf unsere Fundamente zurückzuführen ist. Genau darum geht es in unserem Land.“25 Dieser doch etwas verwirrende Rückzug ist aber nicht untypisch für das Schwanken, das diesen Präsidenten oft kennzeichnet, dennoch überraschend, da Obama monatelang geschwiegen und dann offenbar eine größere Rede zum Ramadan-Beginn geplant hatte. Eine wichtige Stellungnahme zu planen und u ­ mzusetzen, dann aber sie am Folgetag zu „klären“, so dass sie nicht mehr die Bedeutung hat, die von den meisten intelligenten Menschen herausgelesen wurde, ist sicherlich Zeichen einer schwachen Führung.

Überblick: Time Magazine In Zeiten der erhitzten Meinung ist ein sorgfältiger Blick darauf, wie Muslime in Amerika leben, dringend vonnöten. Die Phantasie kann nicht in einem Vakuum tätig werden, und viele Amerikaner leben nicht da, wo sie in ihrem täglichen Leben Muslimen begegnen. So wurde der Entschluss des Time Magazine, eine Titelgeschichte über das Leben der Muslime in Amerika zu veröffentlichen, sehr begrüßt. Betitelt: „Islamophobie: Hat Amerika ein Muslim-Problem?“, erschien der Artikel mit vielen Fotos am 19. August 2010, auf dem Höhepunkt der Kontroverse. Er ­begann mit einer Einladung zur Empathie: „Um zu erfahren, wie es ist, heute in Amerika Muslim zu sein, sollte man in den Schuhen von Dr. Mansoor Mirza aus ­Sheboygan County gehen.“ Dieser Arzt, in Pakistan geboren, seit langem US-Bürger, besucht ein Gemeindetreffen in Wisconsin, bei dem er einen Vorschlag unterstützt, in der Stadt Oostburg eine Moschee zu bauen, und zwar auf einem Grundstück, das ihm gehört. Schnell kommen Spott und Feindschaft auf, selbst von Leuten, die tagsüber seine Patienten sind. Es heißt, der Islam sei wesentlich eine Religion des Hasses. Obwohl einige der Beteiligten versuchten, die Stimmung zu beruhigen, wurde Mirza mit seiner Behauptung, die Moschee würde ein Ort des stillen Gebets werden, verspottet. Man fragt ihn, ob es Waffen und militärische Ausbildung in der Moschee geben werde. Ein christlicher Pastor stachelt auf: Es sei „politisches Ziel des Islam, die Welt mit seinen Lehren zu beherrschen – und alle anderen Religionen militärisch zu beherrschen“. Der Arzt ist verblüfft, dass dieselben Leute, die ihn im Krankenhaus mit Respekt behandeln, hier so reden. Der Artikel benutzt das als Aufhänger, um das Aufkommen anti-muslimischer Gefühle in den USA zu untersuchen. Viele Umfragedaten und Zitate einfluss­

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reicher Personen werden angeführt, die den Islam denunziert haben (Pat Robertson, Franklin Graham, der Sohn des Evangelisten Billy Graham, u. v. a.). Es wird auch auf den großen Unterschied von USA und Europa in diesem Punkt hingewiesen sowie auf die Bemühungen Präsident Bushs nach 9/11, die Dämonisierung des ­Islam zu verhindern. Doch die Betonung liegt auf den normalen muslimischen Amerikanern. Der Artikel beschreibt die enorme Vielfalt dieser Gemeinde, die aus vielen verschiedenen ethnischen und nationalen Ursprüngen und Sekten innerhalb des Islam entstand. Das Time Magazine interviewte bekannte Experten zum Islam für diese Geschichte – ein krasser Kontrast zum Journalismus um das Projekt Park51, der das nicht getan hatte (auch nicht die New York Times). Der Artikel verpasst allerdings eine Gelegenheit, denn er lässt die Behauptung, dass die meisten Terrorakte durch Muslime begangen worden seien, unwidersprochen durchgehen. Dabei zeigt die Aktenlage, dass in den letzten Jahren der weitaus größte Anteil an terroristischen Selbstmord-Attacken von Tamil Tigers verübt wurden, einer säkularen politischen Gruppe aus Sri Lanka.26 Dennoch ist es ein umfassender und nützlicher Artikel, vor allem deshalb, weil er viele tatsächliche Muslime mit ihrem Leben, ihren Karrieren, der Verwurzelung in der Gemeinde und dem Wunsch zeigt, ein ganz normales amerikanisches Leben zu führen. Und er endet mit einem kleinen Sieg: Der Stadtrat in Wisconsin stimmt Mirzas Bitte zu, und er kann ein Haus auf seinem Grundstück zur Moschee umbauen lassen. Der Artikel wirkt ein wenig wie ein Buch von Marguerite de Angeli. Mit seinem Happy End weist er dennoch auf große und ungelöste Probleme hinter den Kulissen hin. Es ist also nicht schlecht, über Park51 nachzudenken, als eines der Beispiele dafür, welche schwierigen Zeiten vor uns liegen. So war und ist die öffentliche Meinung. Doch weil die Projektentwickler von Park51 immer wieder im Mittelpunkt standen, die Meinung anführten und ihrerseits darauf reagierten, wollen wir nun ihre Leistungen und Unzulänglichkeiten ­bewerten.

Irrtümer der Projektentwickler Sie hatten eine vielversprechende Idee; sie hatten sogar – und das war Teil des Problems – viele vielversprechende Ideen. Der örtlichen Gemeinde zu helfen, indem man ein multireligiöses Zentrum errichtet, scheint der Sache wert zu sein. Das gilt auch, obgleich ganz anders, für das Projekt, ein Symbol der religiösen Versöhnung

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und Freundschaft zu schaffen. Beide Ziele bedeuteten zugleich die Absage an Gewalt und Hass wie auch den Entschluss, extremistischen Ideen im Zentrum keine Heimat zu bieten. Diese Aufmerksamkeit und Deutlichkeit waren bewundernswert. Doch worum ging es beim Zentrum eigentlich? In der Rückschau ist es offensichtlich, wie El-Gamal öffentlich gestand, dass in der Anfangsphase des Projekts große Fehler gemacht worden sind. Zunächst hätten die Verantwortlichen mit ihren Plänen nicht an die Öffentlichkeit gehen sollen, bevor sie nicht mehr Übereinstimmung darüber erzielt hatten, worum es beim ­Zentrum eigentlich gehen sollte. Rauf und El-Gamal hatten Absichten, die nicht ganz deckungsgleich waren, was sich in den unterschiedlichen Namen spiegelte, die sie für das Projekt wählten: Cordoba House bei Rauf, Park51 bei El-Gamal. Raufs Plan war groß, mit welthistorischem Anspruch und schien sich wesentlich auf 9/11 zu beziehen: Er wollte ein großes Zentrum der religiösen Harmonie und Toleranz haben, das der ganzen Welt zeigen sollte, wie Muslime sich mit anderen Menschen in einer Atmosphäre der Freundschaft und der Zusammengehörigkeit treffen können, genau an der Stelle, wo viele nichtmuslimische wie auch muslimische New Yorker getötet wurden – obwohl er eindeutig mit der Bezeichnung als Cordoba House einen Fehler machte, was weithin als Hinweis auf muslimische Eroberung ausgelegt wurde. Er hatte aber Córdoba als Metapher für einen Ort benutzt, wo Muslime, Christen und Juden harmonisch und im kulturellen Synkretismus lebten, als großes Symbol der kulturellen Ziele des Projekts. Leider nur hat er das erst sehr spät klargestellt und erklärt, er habe sich nicht öffentlich dazu äußern wollen, während er im Ausland war. Diese Verteidigung lässt ihrerseits die Frage aufkommen, warum er es für passend erachtet hatte, so lange Zeit zu verreisen und sich nicht um die Dinge vor Ort zu kümmern.27 El-Gamals Ziele waren weit bescheidener und zudem lokal begrenzt. Zuerst sollte das Bedürfnis der Muslim-Gemeinde in Lower Manhattan nach mehr Raum für Gebet und Freizeitaktivitäten befriedigt werden. Außerdem wollte er ein interreligiöses Gemeindezentrum errichten, das allen Menschen Lower Manhattans nützen sollte bzw. jedem New Yorker; ganz in der Art des Jüdischen Gemeinde­ zentrums an der Upper West Side oder wie der YMCA an der 92nd Street, dessen christliche Ursprünge fast vergessen sind angesichts seiner Dienste für die gesamte Gesellschaft. Rauf war derjenige, der ein Haus mit 13 Stockwerken wollte, was Teil der ­Kontroverse war und Grund ernsthafter Besorgnis, ein solches Gebäude würde größer als alle anderen in der Umgebung. El-Gamal war skeptisch bezüglich der Höhe

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und wies nur darauf hin, dass die örtliche Gemeinde gegenwärtig sowohl zu wenig Platz zum Gebet als auch für Freizeitaktivitäten habe. Nun sagt er: „Wenn die ­Gemeinde nur vier oder fünf Stockwerke haben will, dann werden es nur vier oder fünf.“ Das hätte von Anfang an klargestellt werden müssen, ebenso, wer die ­Entscheidungs- und die Redebefugnis hat, d. h., wer für das Projekt öffentlich sprechen sollte. Heikler und bis in die jüngste Zeit anscheinend unklar war ein weiterer Punkt: ob das geplante Gebäude eine Moschee oder nur einen Gebetsort enthielte. Der Unterschied, wie ihn Daisy Khan erläuterte: Eine Moschee ist verpflichtet, jeden Muslim zuzulassen, der dies will, während ein Gebetsort festlegen kann, wer ­Zugang hat und wer nicht. (Wer Extremisten außen vor lassen will, muss sich für das informellere Konzept entscheiden.) Anfangs und für recht lange Zeit be­nutzte El-Gamal das Wort „Moschee“ für sein Vorhaben, dies vielleicht aber in Unkenntnis der Details. Nun nennt er es „Gebetsort“, doch noch immer ist unklar, ob es im technischen Sinne eine Moschee ist. In jedem Fall besteht er weiterhin darauf, dass Extremisten und zum Hass Aufrufende ausgeschlossen bleiben. Diese Unterscheidung geht bei Journalisten verloren, die meist weiterhin von einer ­„Moschee“ sprechen. Außerdem hätte auch das Fundraising geklärt werden müssen, ehe man an die Öffentlichkeit ging, und wieder schienen die beiden Wortführer unterschiedlicher Meinung zu sein. Rauf wollte in der ganzen Welt Geld sammeln und hatte auch schon damit angefangen, wobei er anscheinend Gelder aus undemokratischen Staaten wie Saudi-Arabien nicht ausschloss. El-Gamal hatte darauf bestanden, nur in den USA zu sammeln, wobei New York im Zentrum sein sollte. Er sagte auch, er würde kein Geld von Gruppen annehmen, die nicht für „amerikanische Werte“ stünden. Auf dieser Grundlage hatte er angefangen, Geld zu sammeln. Und er hatte verkündet, dass das Gemeindezentrum und der „Gebetsort“ getrennt wären, was gesetzliche und finanzielle Dinge beträfen; beide sollten letztlich ohne Gewinn ­arbeiten. Erstaunlich, dass diese Punkte nicht vor Beginn des Fundraising durchdacht worden sind. Die Vorstellung, ausländisches Geld für ein solches Projekt zu sammeln, ist nicht gut, und Raufs Offenheit demgegenüber lässt auf einen Mangel an Urteilsfähigkeit schließen. Noch wichtiger: Der Plan hätte niemals ohne ausführliche Beratung auf den Weg gebracht werden dürfen; man hätte New Yorker aller Glaubensrichtungen, dazu weitere Muslim-Führer aus dem ganzen Land, Wissenschaftler und Journalisten befragen sollen. Wir wollen damit aber nicht sagen, dass alle Minderheiten-

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Religionen wie auf Eiern gehen müssen, wenn sie ihre verfassungsmäßigen Rechte beanspruchen wollen. Mir scheint nicht, dass bei den Planungen für Moscheen in DuPage County bei Chicago oder in Murfreesboro, Tennessee, eine moralische Verpflichtung besteht, sich ausführlich mit den Gemeinden zu beraten, auch wenn die politische Umsicht das ratsam erscheinen lässt. Doch die Nähe zu Ground Zero ist etwas Anderes, und eine solche externe Beratung hat mehr oder weniger vollständig gefehlt, worüber sich lokale Muslim-Sprecher wie auch Persönlichkeiten aus anderen Bereichen beklagt haben. Nun hat El-Gamal das eingeräumt: „Es war nicht alles durchdacht“, meinte er im August 2011. „Wir gehen zurück an den ­Anfang.“ Er sieht einen langen Konsultations-Prozess vor sich. Das Gelände soll in den nächsten Jahren nicht bebaut werden, und die Beratungen werden Form und Funktion des Zentrums festlegen. Die Ersten, die befragt werden sollten, wären ­Bewohner aller Glaubensrichtungen in Lower Manhattan sowie Muslime aus dem Gebiet von New York insgesamt. Außerdem wollen die Projektentwickler weiterhin alle Aktivitäten evaluieren, die derzeit schon im Gebäude stattfinden, „was von Kunstausstellungen, Yoga und brasilianischen Kampfkünsten bis zu hinduistischen Feiertagen sowie Diskussionen mit muslimischen und nicht-muslimischen Kindern über Mobbing reicht“. Diese Ankündigung ist zu begrüßen, wenn sie auch zu spät kommt, wie El-Gamal auch zugesteht. In der Rückschau war zudem die Allianz der beiden Leiter problematisch. Man kann erkennen, was den jungen El-Gamal dazu brachte, den dramatisch wirkenden, dynamischen, wohlbekannten und intellektuellen Rauf als Chef einzusetzen, und die Vision des Letzteren ist in jeder Hinsicht bewundernswert. Doch insgesamt hat Rauf wenig Gespür für die Verwurzelung des Projekts in der Gemeinde, und seine große Vision wäre womöglich an einem anderen Ort besser aufgehoben. Wie er später meinte, gab es keinen bestimmten Grund dafür, dass das Zentrum in Lower Manhattan sein müsse, abgesehen vielleicht von der symbolischen Bedeutung, an einem Ort des Hasses die Toleranz zu feiern. Und kürzlich sagte er, hätte er gewusst, welche Pein sein Vorschlag verursachen würde, hätte er als Mann des Frieden ihn nie gemacht. Doch das sollte die Probleme, dass ein Ort in Lower Manhattan ­gebraucht wurde, nicht lösen. El-Gamals Plan ging von den Bedürfnissen der ­Gemeinde aus. Hätte er sich ohne Raufs Fanfarentöne daran gehalten, wären die Probleme wohl nie aufgekommen. Alle Kritikpunkte scheinen ihre Berechtigung zu haben. Doch betrachten wir nun einen, der weniger angebracht erscheint. Unbeliebte Minderheiten sehen sich Anforderungen an ihr Verhalten ausgesetzt, was auf Mehrheiten meist nicht zutrifft.

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Sie müssen sich selbst beobachten, innehalten und sich fragen, ob ihr Verhalten auch keine Beleidigung darstellt. Was Mehrheiten angeht, so ist die Welt gewissermaßen nach deren Geschmack ausgerichtet. Die öffentliche Kultur drückt deren Lebensgefühl aus, und sie können sich im Glauben zurücklehnen, dass ihr normales Verhalten niemanden beleidigt. Sie definieren, was „normal“ ist. Das Gefühl einer internalisierten Kontrolle kann bei Minderheiten trotz guter Absichten aber große Spannungen hervorrufen. Vielleicht gilt, dass, wenn man von Rauf und El-Gamal einen solchen Standard der Reflexion und Konsultation erwartet, genau dieses Spannungsfeld berührt wird.

Philosophie und Kontroverse: Grundlagen der Verfassung Man kann viel über diesen Fall sagen und sich dabei lediglich auf Gespür und ­Anstand berufen. Doch schauen wir nun, wie uns unsere dreigleisige Annäherung weiterhilft. Man sieht sehr schnell, dass viele, wenn nicht die meisten Menschen sehr wohl zwischen dem verfassungsmäßigen Prinzip und dem ethischen Gehalt trennen, und fast alle (außer vielleicht Newt Gingrich und Marty Peretz) bekräftigen auch, dass Muslime das Recht haben, eine Moschee zu bauen, wo immer sie wollen, solange sie sich ans Eigentumsrecht halten und es keine weiteren gesetzlichen Hinderungsgründe gibt. Es wird sogar allgemein zugestanden, dass auch Baubeschränkungen nicht dazu benutzt werden können, sie davon abzuhalten, angesichts dessen, wie dieses Gebiet gegenwärtig genutzt wird. Daher hat auch keine der beiden Anhörungen zu unklaren negativen Ergebnissen geführt. Und keiner fordert, dass unsere Verfassung geändert werden sollte oder dass ihre Regelungen zu beklagen wären oder Fragen der öffentlichen Sicherheit das Recht der Muslime auf freie Religionsausübung beeinträchtigen. Was also in Europa sehr lange gedauert hätte, wird in den USA erst gar nicht angefangen – zum Glück. Niemand ruft nach weitreichenden Verfassungsänderungen, die die fraglichen Rechte beschneiden oder eine Ausnahme gewähren würden. Ganz im Gegenteil, das Referendum in der Schweiz hat das Minarett aus seinem vormaligen verfassungsrechtlich geschützten Status herausgenommen. Und das ­italienische Burka-Verbot hat jüngst erst die Ausnahmeregelung wegen religiöser Freiheit für Muslim-Kleidung getilgt, welche zuvor mit dem Gesetz verbunden war, das gesichtsbedeckende Kleidung verbot. (Ich weiß nicht, wie das italienische

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­ esetz meine anderen Fälle der Gesichtsbedeckung bewertet: Vielleicht gibt es für G winterliche Bedeckungen keine Notwendigkeit, doch es müsste zumindest Ausnahmen für Gesichtsbedeckung bei bestimmten Sportarten zulassen.) Oft waren Bauvorschriften ein Refugium für all die, die eine Erlaubnis für den Bau eines Gebetsorts verweigern wollen, dabei aber keine Verfassungsänderung befürworten. Das ist in DuPage County der Fall, und eine solche Verweigerung des Moscheebaus mittels Bauvorschriften könnte eine verfassungsmäßige Prüfung überstehen. Doch nicht alle Bauvorschriften entsprechen der Verfassung. Der Oberste Gerichtshof der USA hat eine Bauverordnung aufgehoben, die die Stadt Cleburne, Texas, dazu benutzte, den Antrag auf Bau eines Hauses für Menschen mit geistiger Behinderung abzuweisen. Das Gericht befand, der Grund für die Abweisung würde nicht einmal eine erste Überprüfung auf ihre rationale Grundlage hin bestehen, da die Sache auf bloßer Feindseligkeit und Angst beruhe.28 Wenn das Verbot in DuPage County es je vor die Gerichte schaffen würde, würde man solche Fragen stellen müssen. Und jedes anscheinend neutrale Gesetz, das das geplante Zentrum für illegal erklären würde, würde die vernichtende Überprüfung durch Richter Scalias Lukumi-Aussage bestehen müssen, worin er befand, dass das generelle Verbot der Tierschlachtung nur ein Vorwand war, Santería-Anhänger gerichtlich zu verfolgen.29 Jedenfalls ist es bezeichnend, dass sich so etwas nicht im Falle von Park51 ereignet. Es ist nicht gedacht, Lower Manhattan wieder in bestimmte Bauzonen einzuteilen. Der Streitfall wird allein auf Grundlage ethischer Gesichtspunkte entschieden. Es ist sehr deutlich, dass diese Debatte eine große Unterstützung für die verfassungsmäßigen Prinzipien zeigt, für die auch ich mich ausgesprochen habe und die Europa nie akzeptiert hat. Wir müssen hier nicht einmal zwischen der Position Lockes und derjenigen der Anpassungs-Befürworter unterscheiden, weil ja niemand behauptet, Muslime würden um eine spezielle Anpassung bezüglich ihrer Praxis nachsuchen. Und das entspricht einem grundlegenden Aspekt der gegen­ wärtigen politischen Kultur Amerikas. In vielen Punkten ist unsere Nation zutiefst gespalten, doch die freie Religionsausübung ist von dieser Spaltung ausgenommen. Wie mein Scalia-Zitat belegt, ist vielmehr eine starke Unterstützung für die freie Religionsausübung von Minderheiten, zumindest nach Begriffen der lockeschen Gleichheit, eine Frage, bei der der Oberste Gerichtshof eben gerade nicht gespalten ist. Einige US-Konservative (z. B. der frühere Berufungsrichter und Verfassungsrechtler Michael McDonnell, in gewisser Hinsicht auch der Oberste Richter ­Roberts) sprechen sich für Anpassung aus; andere (Scalia) bevorzugen den Weg

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Lockes. Doch beide stimmen überein, dass scheinbar neutrale Gesetze vor der ­Verfassung scheitern können, wenn sie Minderheiten besondere Lasten auferlegen, die den Verdacht der ungerechten Behandlung aufkommen lassen. Und diese Idee muss Europa noch ernsthaft diskutieren, von deren Inkraftsetzung ganz zu schweigen. Die deutsche Entscheidung, die das Kopftuch-Verbot für Lehrerinnen an öffentlichen Schulen aufrechterhielt, dabei aber Nonnen und Priestern die Arbeit in voller Ordenstracht gestattet, ist ein ausgezeichnetes Beispiel für eine Verfügung nach Art von Hialeah, und sie würde in den USA nie akzeptiert werden. Ich habe gesagt, dass das Burka-Verbot auf ähnliche Weise fehlschlagen würde. All dies legt nahe, dass Europa sich dringend auf eine tiefgehende und intensive Debatte über Gleichheit einlassen muss sowie darauf, was gleicher Respekt für alle Bürger auf dem Gebiet der Religion bedeutet. In den USA ist wenigstens das unumstritten. Hoffen wir, dass das auch in Zukunft so bleibt. Und die Tatsache, dass nicht einmal Sarah Palin diese Normen infrage stellt, ist recht beruhigend. Als die Proteste um Park51 anfingen, sorgte sich Cassandra, eine Stripperin im New York Dolls, dem Stripclub an der Murray Street, einem der beiden Stripclubs, die nahe bei Ground Zero sind, zunächst darum, dass der Gebetsruf die Nachbarn aufwecken würde, die gerne lange schlafen. Als man ihr aber sagte, dass man keine Lautsprecher installieren wolle, meinte sie, sie hätte kein Problem mit dem Projekt. „Keine Ahnung, was dabei rauskommen soll“, sagte sie einem Reporter vom Wall Street Journal. „Es geht doch um Religionsfreiheit, oder?“30

Philosophie und Kontroverse: Konsequenz Von jetzt an beschränken wir uns auf Fragen der Ethik, und hier wird die Frage nach der Konsequenz dringend und heikel. Sind also die Einwände gegen das ­geplante Zentrum in Wirklichkeit Anzeichen für eine Suche nach Fehlern bei einer unbeliebten Minderheit, wobei eine vergleichbar strenge Prüfung auf die Mehrheit nie angewandt würde? Zunächst einmal: Selbst wenn 9/11 das Resultat einer umfassenden Verschwörung aller muslimischen Völker gewesen wäre, würde es nicht zur allgemeinen ­Praxis in Amerika passen, wenn man neu angekommenen Menschen, die eindeutig nichts mit der Missetat zu tun haben, verbieten wollte, ihren Geschäften in jener Gegend nachzugehen. Richter Stevens hat jüngst diesen Punkt deutlich gemacht, als er über seine eigenen Gefühle sprach. Er sah japanische Touristen, die die Gedenkstätte für

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die Toten von Pearl Harbor besuchten: „Diese Leute gehören da nicht hin. … Wir sollten ihnen nicht erlauben, den Angriff auf Pearl Harbor zu feiern, auch wenn es einer ihrer größten Siege war.“31 Doch dann fand er, dass er sich bei seiner Schlussfolgerung bezüglich dieser Gruppe geirrt hatte – wegen ethnischer Ähnlichkeit. Diese Touristen waren ja nicht verantwortlich für das, was ihre Landsleute getan hatten. Ähnlich gilt: „Die Muslime, die eine Moschee planen, sind nicht verantwortlich für das, was eine ganz andere Gruppe von Muslimen bei 9/11 getan hat.“ Und er schloss: „Unwissen – die Angst vor dem Unbekannten – ist die Quelle der meisten Vorurteile.“ Doch wie Präsident Bush sofort betonte und eigentlich alle anderen Politiker gleichfalls, war 9/11 nicht das Ergebnis einer weltweiten Muslim-Verschwörung. Es war das Ergebnis der kriminellen Verschwörung einer bestimmten Terrororgani­ sation namens Al-Qaida. Unser Streit als Nation findet mit Kriminellen und mit Al-Qaida statt, nicht mit dem Islam und den Muslimen. Es wäre also inkonsequent, wenn die Menschen die Verantwortlichen für Park51 als eine Art Platzhalter für AlQaida ansähen und dann nicht vergleichbare Verbindungen zwischen Kriminellen, die im Namen einer anderen Religion töten, und genau dieser Religion ziehen würden. Viele Kriminelle töten im Namen des Christentums. Wir könnten behaupten, dass die Explosionen von Oklahoma City dazu gehören, wenn auch deren miliz­ artige Organisation sehr vielschichtig ist. Anders Behring Breivik war sicher stolz auf seine Zugehörigkeit zum Christentum und sah seine Taten als Teil des „Heiligen Krieges“ zwischen Christen und Muslimen; damit liegt die genannte Verbindung noch offener zutage. Wir sollten auch die Extremisten dazuzählen, die AbtreibungsÄrzte im Namen ihres Glaubens ermorden, da ihre Taten terroristisch sind und dementsprechend von den Untersuchungsbehörden erfasst wurden. Und doch ist der christliche Glaube nicht nur die öffentliche Rechtfertigung, sondern vermutlich auch das wahre Motiv für diese Taten. Noch viele andere Terrorgruppen waren christlich: der Ku-Klux-Klan und eine Reihe weiterer weißer Rassistengruppen. Wenn alle die, die sich gegen Park51 aussprechen, zugleich die Muslime mit AlQaida assoziieren, dabei aber niemals die Christen mit den genannten anderen Verbrechen, müssten wir sie der Inkonsequenz bezichtigen, die wir in Kapitel 4 besprachen. Dass einige dieser Leute durch Propaganda getäuscht wurden, die ­ihnen erzählt, alle Muslime seien Teil einer weltweiten Verschwörung mit Al-­Qaida, um Amerika zu zerstören, ändert nichts an der Tatsache, dass sie sich täuschen ließen, obwohl Präsident Bush und etliche weitere politische Führer ihnen versichert haben, dass das nicht der Fall sei. Willentliche Gutgläubigkeit ist keine Entschuldigung.

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In meinen Augen ist das Karmeliterinnenkloster auf dem Gelände von A ­ uschwitz ein krasser Fall von Inkonsequenz; Abraham Foxman von der Anti-Defamation League hatte es erwähnt, als er den Widerstand seiner Organisation gegenüber dem geplanten Zentrum in New York erklärte. 1984 errichteten Karmeliternonnen ein Kloster in einem Teil des Konzentrationslagers in Auschwitz, genannt Auschwitz I, und zwar in einem Gebäude, das früher das Lagerhaus für die Zyklon-B-Gaspatronen war, die in den Gaskammern des Vernichtungslagers eingesetzt wurden.32 Die Nonnen hatten die Zustimmung von Kirche und Regierungsstellen, vorher aber keinen Dialog mit der polnischen Öffentlichkeit oder der internationalen jüdischen Gemeinschaft geführt. Ein Jahr darauf fügten sie ein großes Kreuz hinzu, das anlässlich einer Messe errichtet wurde, die von Papst Johannes Paul II. in Auschwitz II (Birkenau) 1979 gelesen worden war. Das Kreuz wurde direkt neben Block II aufgestellt, einem Foltergefängnis innerhalb von Auschwitz I. Die Kirche befahl zwar den Karmeliterinnen 1989 umzuziehen, doch sie blieben bis 1993 und ließen das Kreuz zurück, als sie abzogen. Die Kontroverse um dieses Kreuz setzte sich fort und spaltete sogar die Regierung. In der Zwischenzeit waren Hunderte von kleineren Kreuzen außerhalb von Auschwitz errichtet worden, trotz des Widerstands der katholischen Bischöfe Polens. 1999 verabschiedete das Parlament nach Konsultationen mit jüdischen Organisationen ein Gesetz, das der Regierung das Recht einräumte, alles zu kontrollieren, was auf dem Gelände des einstigen Lagers vor sich ging. Doch ein Anführer der Pro-Kreuz-Opposition verkündete, er habe Sprengstoff unter die Stelle platziert und würde ihn zur Explosion bringen, sollte die Regierung versuchen, das Kreuz zu entfernen. Er wurde festgenommen, die kleineren Kreuze wurden zu einem nahen Kloster gebracht. Das große Kreuz blieb. Diese Kontroverse entspricht in vieler Hinsicht der Debatte um Park51. Die Eigentumsverhältnisse sind zwar ganz anders: Das Grundstück ist Eigentum der polnischen Regierung, und keine private Gruppe hat dort irgendwelche Rechte. Das ist in der Tat ein Unterschied. In Polen zogen also die Karmeliterinnen auf ein öffentliches Grundstück und veränderten es ohne Erlaubnis. Im anderen Fall ist El-Gamal Eigentümer des Gebäudes und hat als Mieter von Con Ed einen gesetzlichen Anspruch auf den umliegenden Besitz. Doch die moralischen Umstände sind ähnlich. Die Seite, die gegen Kloster und Kreuz ist, sagt, dass Kloster und Kreuze jüdische Empfindlichkeiten verletzen – vor allem angesichts der Rolle, die die ­katholische Kirche gespielt hat, als sie einerseits seit langem die Ansicht vertrat, die Juden hätten Christus getötet, und als andererseits in jüngerer Vergangenheit Papst Pius XII. nichts tat, um gegen den Holocaust zu protestieren. Die Seite, die für

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­ loster und Kreuze ist, sagt, der Ort sei auch für polnische politische Gefangene und K berühmte katholische Widerstandskämpfer verwendet worden. Pater Maximilian Kolbe und die Karmeliterin Edith Stein fanden dort den Tod. Auf beiden Seiten zieht also eine Gruppe ein, die ihre Religion mit Verbrechern teilt, und erscheint dort, wo die Verbrecher ihre Untaten begingen, und beide Male wurden Verwandte der Opfer beleidigt. In beiden Fällen ist dem zuzustimmen, dass die Besetzer (oder im Falle von Park51 die möglichen Besetzer) selbst nicht schuldig der Verbrechen sind, und allgemein hält man ihre Absichten für edel. In beiden Fällen kann die protestierende Gruppe zudem darauf verweisen, dass auch ihre Mitglieder an dem Ort des Schreckens litten: Katholiken wurden in Auschwitz getötet, Muslime bei 9/11. Das sind die Entsprechungen; wo aber sind die Gegensätze? Zunächst und sehr deutlich stehen Kloster und Kreuze auf dem Gelände von Auschwitz, und genau deshalb sind sie auch dort. Sie sind nicht einfach nur in der Nachbarschaft des ­Ortes: Sie sind direkt auf ihm. Sie beziehen sich darauf und wollen ihn ins Gedächtnis heben. Nichts anderes gibt es dort, und sie haben keine praktische Rolle in der Gegend einzunehmen. Im Gegensatz dazu ist Park51 inmitten einer geschäftigen Stadt, einige Blocks von Ground Zero entfernt. Die unterschiedlichsten Institutionen liegen zwischen Park51 und der (zukünftigen) Gedenkstätte, Institutionen höchst „unheiliger“ Art wie die erwähnten Stripclubs und das Wettbüro. Und Park51 hat eine praktische Rolle in der Nachbarschaft: Es soll auf vielfältige Weise Gläubigen dienen, Familien und weiteren Anwohnern. Wenn es eine symbolische Rolle hatte (was Teil des Disputs zwischen Rauf und El-Gamal war; die Vision von Rauf wurde inzwischen verworfen), war diese immer dem praktischen Gebrauch nachgeordnet. Die Geschichte der katholischen Verurteilung der jüdischen Jesus-Mörder ist lang und grässlich. Und es besteht überhaupt kein Zweifel, dass sie beim Holocaust eine bedeutende Rolle spielte. Dabei ist gleichgültig, ob die Rolle so groß war, wie manche Historiker angenommen haben. Man braucht nur die eindringlichen letzten Momente von Teil 1 aus Claude Lanzmanns Dokumentarfilm Shoah zu sehen, um zu erkennen, warum Juden gute Gründe haben, sich verletzt zu fühlen. Ein ­jüdischer Pole, der das Lager als Junge überlebte, vor allem auch dadurch, weil Ortsansässige seinen Gesang mochten, kehrt in die Stadt zurück, wo sich polnische ­Einwohner mit ihm befreundeten und Jahre nach dem Krieg hofften, ein wenig Verbindung miteinander aufzubauen. Ein religiöses Fest findet statt, und die Bewohner des Ortes strömen aus der Kirche. Nachdem sie den Gast anfangs willkommen geheißen haben, wenden sie sich ihm zu und rufen: „Die Juden haben Christus

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getötet!“ Er weint. In diesem Sinne kann man mit Recht argumentieren, dass die katholische Kirche (als Organisation) im großen Stile Komplize beim Holocaust war, auch wenn viele, heute wohl die meisten ihrer Mitglieder den Antisemitismus ­verabscheuen. Im Falle des Islam ist die Erinnerung undurchsichtiger und nicht eindeutig ausgerichtet. Es gibt extremistische Imame und Moscheen, doch es gibt weit mehr Imame und Muslime, die Extremismus verabscheuen und ablehnen. Vor allem in den USA ist diese letztere Gruppe viel größer als die der Extremisten, so dass man kaum die Religion als Ganzes tadeln kann. Es gibt im Christentum wie auch im Islam Texte, auf die man verweisen kann, wenn man diesen Religionen Gewalt vorwerfen will. Aber alles hängt davon ab, wie diese Texte interpretiert werden, und die Bilanz der Erinnerung ist bei der katholischen Kirche uniformer und zielgerichteter. Wichtig ist auch, dass das geplante Zentrum den amerikanischen Muslimen dienen soll, die keine Rolle bei 9/11 spielten, da die Täter Ausländer waren. Doch polnische Christen spielten eine große Rolle im Holocaust. Unlängst hat man sich von der Position entfernt, die Juden für die Tötung Christi zu verurteilen. Doch auf dem Gelände von Auschwitz hat Papst Benedikt 2006 in auffallender und strittiger Weise kein Wort der Entschuldigung hervorgebracht. Er verurteilte den Holocaust nur wegen der „Verbrecher“ des Nazi-Regimes und fragte, warum Gott das zugelassen hat – aber er fragte nicht, warum Katholiken und die Kirche das zugelassen hatten. Das erinnert uns daran, dass die katholische Kirche eine hierarchisch organisierte Religion ist, mit einem einzigen Führer, dessen Lehren, auch wenn nicht ­unfehlbar, dennoch für alle Mitglieder normativ sind. Und dieser Lehrer, Pius XII., schwieg schuldhaft während des Holocaust und tat nichts von dem, was er angesichts seiner großen Macht zum Beenden des Mordens doch hätte tun können. Er arbeitete sogar mit dem Vichy-Regime zusammen und hieß ausdrücklich einige der anti-jüdischen Gesetze dieses Regimes gut. Wir können hier nicht den ganzen Fall ausbreiten, doch es reicht festzustellen, dass man mit gutem Grund der Kirche eine Teilschuld am Holocaust geben kann. Und man kann auch sagen, dass Mitglieder der Kirche, die deren Autorität unkritisch akzeptierten, ohne Widerspruch oder Protest zu versuchen, zumindest einen Teil der Verantwortung für die tödliche ­Politik des Schweigens tragen. Der Islam dagegen ist nicht zentralisiert – sogar noch weniger als das Judentum –, weshalb es sinnlos ist, einem Sufi die Schuld für die Taten wahabitischer Extremisten zuzuschreiben – einem Sufi, der vielem von dem widerspricht, wofür die Wahabiten stehen. Es ist ein wenig so, als würde man den amerikanischen Reformjuden die Taten der israelischen Ultraorthodoxen

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v­ orwerfen, was natürlich niemand tut. Angemessen wäre, wenn jeder Verurteilende ein wenig Geschichte lernte. Der Reformjudaismus existiert gerade deshalb, weil er die Autorität der Rabbiner ablehnt und nach Autonomie strebt. Der katholische Fall scheint wahrhaft schwierig zu sein. Es ist nachvollziehbar, wenn Karmeliterinnen an Christen erinnern wollen, die in Auschwitz starben, und es ist nachvollziehbar, dass sich Juden dadurch beleidigt fühlten. Park51 scheint im Vergleich dazu weniger schwierig zu sein. Und man kann kaum mit Grund sagen, dass eine Kränkung von dem Vorschlag zur Errichtung des Zentrums ausgeht, nachdem alle Tatsachen korrekt angeführt wurden – es sei denn, es läge ein „vollständig konstruiertes“ Unrecht im Sinne Mills vor. Obwohl Foxmans Aufforderung, beide Fälle gemeinsam zu untersuchen, wertvoll ist, kann man sich konsequenterweise sehr wohl im ersteren Fall verletzt fühlen, im letzteren dagegen nicht. Die Suche nach prinzipieller Konsequenz ist also hier sehr hilfreich, zeigt uns einige schwierige Fälle, aber auch, dass andere weit weniger problematisch sind. Und es ist vorbildlich, dass man hier Konsequenz angestrebt und die ungleiche Behandlung von Muslimen aufgrund ihrer Religion abgelehnt hat. Insgesamt muss die US-Debatte den gewöhnlichen europäischen um die Burka vorgezogen werden, weil sie sich auf die wirklich schwierigen Fälle konzentriert.

Philosophie und Kontroverse: Phantasie Wir haben aber gesagt, dass Konsequenz nicht alles ist, was wir brauchen. Wir brauchen auch stimmige und sachkundige ethische Wahrnehmungen, damit wir sicher sein können, dass unsere Argumente nicht nur uns dienen. Und wir haben gesagt, dass Neugier, Empathie und Freundschaft hilfreich sind, um gute Grundsätze aufzunehmen, die in Zeiten der Belastung untergehen könnten. Was also zeigt uns die literarische Phantasie über diese Fälle? Und wer hat seine „inneren Augen“ gut ausgebildet? Empathie ist nur ein Teil beim moralischen Argument. Wenn man sich an die Stelle des anderen versetzt, heißt das noch nicht Zustimmung oder Ablehnung. Das kann nur die Verbindung von deren Weltsicht mit einem umfassenden ethischen Argument leisten. Doch Empathie leistet dennoch etwas Wichtiges: Sie zeigt uns die menschliche Realität anderer Menschen, die wir vielleicht als widerwärtig oder untermenschlich angesehen haben, als Fremde und Bedrohung. Um aber empathisch in dem Sinne sein zu können, dass die Reflexion durch Empathie geleitet wird, muss man sich auch denjenigen zuwenden, die man eher

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undeutlich oder inadäquat betrachtet, nicht nur denjenigen, die wir schon kennen und mögen. Wir haben gesehen, dass eine unausgewogene Empathie das moralische Urteil verfälschen kann und uns der Erfahrung derjenigen annähert, die wie wir sind, was uns den Blick auf die wahre Menschlichkeit derjenigen verstellt, die anders sind. Mehr Empathie ist also nicht immer besser. Wir müssen uns ausmalen, wo vermutlich unsere blinden Flecken sind und wie wir Empathie eher zielgerichtet als narzisstisch einsetzen. Unsere vier Autoren in Kapitel 5 haben uns Wege dafür gezeigt. Der Fall Park51 birgt einige der Gefahren eines Strafprozesses (siehe Kapitel 4): Wenn wir die Stellungnahmen der Opfer anhören, die ein Teil von „uns“ sind, die wir für gute und loyale Amerikaner halten, werden wir vielleicht die Situation und die Gefühle anderer Muslime, die in diese Debatte verwickelt sind, nicht besser, sondern schlechter erfassen. Gefühle adäquat zu erfassen gehört aber sicherlich zu einem gerechten moralischen Urteil. Obwohl Sarah Palin sich auf festem Boden bewegt, wenn sie die Menschen bittet, sich die Gefühle der Opferfamilien vorzustellen, pflegt sie den Narzissmus, indem sie nicht dazu auffordert, noch weiter zu gehen und die Phantasie auf schwierigerem und herausforderndem Terrain walten zu lassen. Menschen, die nur an die Opfer denken, werden wahrscheinlich unausgewogen in ihrer Sympathieverteilung sein und nicht erkennen, wie die Welt mit den Augen stigmatisierter Minderheiten aussieht. Um die Phantasie davon abzuhalten, auf Abwege zu geraten, brauchen wir viele historische und kontextbezogene Tatsachen. Insofern die Opferfamilien verletzt sind, weil sie diese geistige Arbeit nicht geleistet haben (und alle Muslime als Terroristen ansehen, die auf militärische Eroberung aus sind), zählt ihre Verletzung weit weniger. Doch wie kommen wir an genaue Information? Es gibt sicher viele gute Darstellungen des Islam, die man leicht findet. Sind wir in New York, dann gehen wir zu den Muslimen in unserer Gemeinde. Sind wir nicht in New York, können wir Berichte darüber lesen, wie sie leben. Wir können leicht feststellen, aus welchen fremden Ländern sie stammen, welche Berufe und Jobs sie haben und wie viele bei 9/11 starben. Wir könnten hingehen und mit Menschen aus unserer Gemeinde sprechen, die eine andere Religion haben. Wir könnten eine Moschee, eine islamische Schule oder ein Gemeindezentrum besuchen. El-Gamal betont, dass er neulich in einer Moschee in Midtown gebetet habe, und der Gottesdienst wurde von einem Angehörigen der New York City Police geleitet, der Muslim war. Es gehört zur komplexen Realität, mit der die Menschen klarkommen müssen. ­Zumindest könnten die Leute die Time-Profile von Muslimen in Amerika lesen,

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was ihnen eine Menge unterschiedlicher muslimischer Stimmen bescheren würde. Wir müssen hier nicht so ausführlich werden wie George Eliot bei ihrer Bitte um ­Verständnis für die Juden, um ein besseres Verständnis für den gegenwärtigen Islam zu bekommen, als die meisten Amerikaner es heute haben. Wir brauchen vielmehr auch Entsprechungen zu Nathan der Weise, Daniel De­ ronda und den Kinderbüchern, über die wir sprachen. Und wir müssen viel mit Muslimen darüber reden. Andere Teile der Welt kennen längst ausgezeichnete ­Romanautoren, für die das Leben der Muslime zentrale Themen sind; etwa Nagib Machfus in Ägypten oder E. M. Forster, der über Indien schreibt, bis zu Vikram Seth und vielen weiteren zeitgenössischen indischen Autoren. Vorschläge sollten vor a­ llem von der muslimisch-amerikanischen Gemeinde kommen, und es sollten ­Bücher dazugehören, worin Probleme der Diskriminierung und Verdächtigung angesprochen werden; Bücher, in denen gezeigt wird, dass Muslim zu sein nur eine besondere Art ist, Amerikaner zu sein und nicht ein Drama oder ein Konflikt. Ein Artikel eines muslimischen Autors, der als Anfang einer Bücherliste für Kinder und Erwachsene herhalten könnte, ist „Muslims in Children’s Books“ von R ­ ukhsana Khan (School Library Journal, 1. September 2006). Mein Kollege Aziz Huq hat Romane von Nadeem Aslam, Daniyal Mueenuddin, Usma Aslan Khan und Kamila Shamsie vorgeschlagen, die alle über die Erfahrung berichten, Muslim in England oder Amerika zu sein. Bollywood-Filme sind wenig amerikanisch, und doch sind sie eine gute Möglichkeit, etwas über die religiösen Verzwicktheiten in Indien zu erfahren, wo derzeit mehr als 160 Millionen Muslime leben, die trotz der Spannungen und Konflikte eine wunderbare und bewundernswerte Tradition des religiösen Pluralismus und Respekts darstellen. Diese Tradition wird vor allem in Bollywood hochgehalten. Es ist wie Kricket ein Bereich, in dem religiöse Durchmischung und Freundschaft erfolgreich praktiziert werden. Ein besonders gutes Beispiel eines solchen Films ist Lagaan. Er zeigt eine Gruppe von Dorfbewohnern, die ein britisches Team beim Kricket schlagen (im späten 19. Jahrhundert), dabei aber nur durch Überwindung religiöser Animositäten es schaffen, ein wirklich vereintes Team zu sein. Das ist eine gute Metapher, nicht nur für Indien, sondern auch für die USA. In jedem Fall sollte eine gewisse Selbsterziehung jedem vorschnellen Urteil ­vorangehen. Das ist bei Park51 eindeutig nicht geschehen. Die meisten Amerikaner wissen herzlich wenig über den Islam. Die wenigsten würden Indonesien und Indien nennen, wenn man sie nach den Staaten mit der größten Muslim-Bevölkerung fragen würde; beides sind Demokratien. Viele denken, dass Muslime meistens oder

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sogar nur aus arabischen Nationen kommen, und noch mehr glauben, dass Muslime nie demokratische Bürger waren. Sie denken nicht an Muslime aus Indien, Indonesien und Bangladesch. Und sicher vergessen sie dabei auch Afro-Amerikaner, die zum Islam übergetreten sind (fast ein Viertel aller Muslime in den USA sind Konvertiten). Sie lassen die Tatsache außer Acht, dass eine bedeutende Anzahl chinesischer Amerikaner Muslime sind. Und sie verstehen nicht einmal den Unterschied von Sunniten und Schiiten. Kurz: Sie sehen grobe Umrisse, ohne sie mit der Realität von Menschen zu füllen. Worum George Eliot im Fall der Juden bat, sollten wir auch für die Muslime erbitten: Neugier, begierige und bewegliche „innere Augen“ sowie eine Offenheit gegenüber bürgerlicher Freundschaft. Wer besteht den Phantasie-Test am besten? Die Projektentwickler waren bei der Abwägung der wahrscheinlichen Reaktionen vieler Amerikaner sicher im ­Irrtum. Hätten sie ihre Phantasie mehr angestrengt, hätten sie sicher viel mehr ­erklärt und sich beraten lassen, ehe sie ihre Pläne verkündeten. Womöglich wäre dadurch die gesamte Kontroverse vermieden worden. Zumindest kannten sie ihre eigene Gemeinde und deren Vielfalt und wussten, dass viele dazugehörten, die bei 9/11 starben oder den Opfern während der Angriffe halfen. Und viele gehören dazu, die Grund zur Klage hatten. Aber wer stellt sich das Leben der Muslime adäquat vor? Viele New Yorker taten das auf unprätentiöse, schlichte Art, weil in New York zu leben heißt, jeden Tag die Realität der Verschiedenheit zu erfahren, und für gewöhnlich genießt man (wenn man sich entschließt, in New York zu bleiben) auch die Energie, die das mit sich bringt. Cassandra hat genau das getan: Sie stellte die entsprechende Frage (würden die, die beten, die Nachbarn aufwecken?) und tat den Rest beiseite, weil sie wusste, wie das Leben in New York ist. Sie behandelte die Betreffenden als Menschen und Mitbürger (und nicht als Verschwörer und Feinde), die so lange das Recht haben, ihren Geschäften nachzugehen, solange sie nicht die Sache der anderen Leute stören. Eine solche Haltung, die keiner hohen Bildung bedarf, verlangt einen humanen Blick auf die Menschen. Was ich von den Jungen mit ihren Zizijot sagte, gilt auch hier: Wenn das innere Auge gut funktioniert, muss man nicht ausführlich oder tief nachdenken. Präsident Bush sagte vergleichbar wenig Genaues, und vermutlich hat er den Islam oder das Leben von Muslimen nicht sonderlich studiert, doch nach 9/11 gab er den Menschen die Richtung an, wie sie ihre Phantasie lenken sollten, und die meisten unserer Präsidenten haben dergleichen gemacht, vor allem, wenn sie Muslim-Feiertage angemessen feiern und die Führer der Muslim-Gemeinde respektvoll empfangen. Bürgermeister Bloomberg hat das sehr

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überzeugend getan als jemand, der jeden Tag mit der Bevölkerung einer sehr viel­ fältigen Stadt zu tun hat. Der größte Fehler vieler Gegner des geplanten Zentrums bestand darin, nicht zu sehen, dass Muslime in New York allgegenwärtig sind, dass sie Polizisten, Computer-Fachleute, Anwälte, Ärzte, Lehrer – dass sie eben überall in den Städten Amerikas sind; dass ihre Herkunft sehr unterschiedlich ist, sie aus Südasien, dem Nahen Osten, aber auch aus England und anderen Ländern des Commonwealth stammen, wo viele Muslime lebten, ehe sie in die USA umzogen. Man kann kaum glauben, dass diejenigen, die sich laut über Muslime äußern, fast nichts davon wissen, da es doch für nicht-muslimische Amerikaner nahezu unmöglich ist, durch das Leben zu gehen, ohne fast überall auf Muslime zu treffen. Und Muslime leben, anders als früher Schwule und Lesben, selten im Verborgenen. Oft denken die Menschen nicht darüber nach, wer ihre Kollegen sind, wo ihr Arzt herkommt und dergleichen. Vermutlich haben die Menschen, die das Moschee-Projekt in Sheboygan verteufelt haben, es nicht mit dem Arzt verbunden, der sie im örtlichen Krankenhaus behandelt hat. Das ist ein Versagen des inneren Auges, und in Amerika mit seinen vielen Muslimen ist es noch falscher, einer Vorstellung von Muslimen anzuhängen, dass alle gleich und eine Bedrohung der USA seien. Menschen, die also über amerikanische Muslime nachdenken, machen oft den gleichen Phantasie-Fehler wie bei Schwulen und Lesben: Sie haben ein standardisiertes Bild, das zum Teil von irrationaler Angst herrührt (Schwule sind Ursache von Ansteckung und unterminieren die heterosexuelle Ehe), und benutzen das Bild, um über öffentliches Verhalten nachzudenken, anstatt wirklich auf die Menschen zu schauen, die vor ihnen stehen; Menschen, die sehr unterschiedlich und indivi­ duell sind. Dieses Fehlverhalten hat Ralph Ellison in seinem Roman Unsichtbar angesprochen: Seine Hauptfigur erklärte sich für „unsichtbar“, weil ein Klischee über den „Schwarzen“ das Denken beherrschte. Diese unheimliche Gestalt war kein wirklicher Mensch mit einem Beruf, mit Verwandtschaft, Freunden, Hoffnungen und Ängsten. Es ist nichts als ein verallgemeinertes Bild, das der menschlichen Wirklichkeit übergestülpt ist und gegenwärtig viele ungute Ergebnisse zeitigt – wenn etwa ein Taxifahrer an der Park Avenue nicht wegen eines afro-amerikanischen Professors mit Anzug anhält; oder Frauen ihre Handtaschen an den Körper pressen, wenn sie einen Afro-Amerikaner in seiner Tweedjacke im Supermarkt ­sehen. So gilt auch hier: Das Phantasiebild des Muslim-Verschwörers, der die Weltherrschaft will, ersetzt die empirische Wirklichkeit. Und dergleichen passiert sehr wahrscheinlich, weil zu diesem Klischee (wie bei den Juden in den Protokollen)

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g­ ehört, dass der Feind ein Meister der Verkleidung ist. Die beruhigende nachbarliche Erscheinung eines muslimischen New Yorkers ist also keine Versicherung dafür, dass dieser Mensch kein Radikaler ist, der die Weltherrschaft will – wie der teure Anzug des Professors an der Park Avenue eine Versicherung dafür hätte sein sollen, dass er dem Taxifahrer keine Pistole an den Kopf hält. Die Fiktion sagt uns, dass alle Stichworte aus der Realität Teil der Handlung sind. Es ist nicht rational, die Angst vor muslimischem Terror schlichtweg abzu­ lehnen. Diese Angst ist im Licht der Geschichte und der jüngsten Ereignisse rational und sollte eine sensible Politik bestimmen. Deshalb habe ich gesagt, dass eine intelligente Kontrolle auf Flughäfen (ohne grobe Fehler wie in jüngster Zeit, da das Auftauchen des Namens Ali auf einer Flugverbotsliste jedem Träger dieses N ­ amens Schwierigkeiten bereitet) eine legitime Antwort auf eine begründete Angst ist. Aber unbegründet ist die Annahme, dass unsere sämtlichen Nachbarn verkleidete Feinde seien. Insgesamt also war Park51 voll guter Ideen – die zu hastig vorgebracht wurden, mit zu wenig Klärung der Ziele und Konzepte und zu wenig Konsultation der ­lokalen Behörden. Nachdem man aber an die Öffentlichkeit gegangen ist und die Kontroverse (oft sehr unverantwortlich) aufgekommen war, schienen beide Positionen plausibel. Beide lassen klug unsere Verfassungsgrundsätze intakt, unterscheiden sich aber in Bezug auf das, was Ethik und der Respekt für andere uns vorschreiben. Die Position der Gegner will, dass in diesem Fall die Sensibilität gegenüber den Gefühlen der Öffentlichkeit zur Verlegung des Zentrums führen sollte – auch wenn die Ängste auf Stigmatisierung und Fehlinformation beruhen. Bloombergs Position besagt dagegen, dass zu Amerikas besten Errungenschaften das Akzeptieren der Vielfalt gehört und die Unterstützung des Zentrums ethisch bewundernswert ist, zudem ein Ausdruck bürgerlicher Freundschaft, der unsere Verfassung festigt und stützt. Man bemerke, dass beide Positionen die Gewaltlosigkeit und den grundsätzlichen Anstand der Planer voraussetzen und nicht ausführen, was die Ethik verlangen würde, wenn die Verantwortlichen Hassprediger wären. Wie ich schon über den Ku-Klux-Klan sagte, kann das Predigen von Hass durch eine Gruppe immer noch von der Verfassung geschützt werden, doch sollte man dagegen öffentlich protestieren, und so würde ich auch argumentieren (vermutlich auch Cohen und Bloomberg), wenn die Tatsachen über die Planer und deren Absichten vollkommen anders lauten würden. Meiner Ansicht nach hat Bloomberg das bessere Verständnis davon, was in den USA religiöse Freiheit und Respekt so stark gemacht haben und was zukünftig

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weiter dafür geschehen muss. Man kann nicht einfach der Angst oder dem Hass nachgeben oder zulassen, dass die Politik von der vehementen Opposition der­ jenigen bestimmt wird, die (wie bewundernswert auch in anderer Hinsicht) in ­diesem Punkt voreingenommen und fehlinformiert sind. Auch scheint Cohen nicht recht zu haben, dass das Zentrum zu einer Spirale des Hasses führen würde. Auch wenn Gegengewalt aufkäme (wie bei der Integration des Südens in den 1950ern und 1960ern), heißt das noch nicht, dass besonnene und anständige Menschen vor dieser Drohung zurückweichen sollten – sondern dafür sorgen, dass Verbrechen verhindert und notfalls bestraft werden. Doch Bloombergs New York ist nicht das Alabama von Gouverneur Wallace. Weshalb Cassandras Reaktion vermutlich den Weg weist: Amerika insgesamt und New York insbesondere sind groß und phantasievoll genug, um Differenzen auszuhalten, wie das schon so oft der Fall war. Wenn wir nicht auf Anstand und Inklusion bestehen, wird die Nation zu einer anderen werden, die Fremden gegenüber Verdacht schöpft und mehr auf Homogenität drängt. Das wäre ein gewaltiger Verlust. Am Mittwoch, dem 21. September 2011 eröffnete Park51 für die Öffentlichkeit seine Türen mit einer Fotoausstellung NYChildren: A Child from Every Country, All Living in New York City. Die Website park51.org bietet das Motto Building Hope, Building Community, Building Beauty. Zu sehen sind Geschichten von Immigranten, darunter auch What is possible: A Woman’s Journey from Iran to America, dazu ein Interview mit El-Gamal, ein Gespräch mit einem prominenten Rabbi, ein A ­ bschnitt mit dem Titel „Park51 und Patriotismus“, dazu Bilder der Gründerväter Amerikas in Verbindung mit einer Diskussion der Religionsfreiheit, wobei eine Frau zitiert wird, die ihre Schwester bei 9/11 verlor; ferner eine Diskussion mit ­einem prominenten afrikanischen Führer über Islam und Umweltschutz, zuletzt viel weiteres Material zur Gemeinde. Bei der Eröffnung war überraschend wenig Ö ­ ffentlichkeit anwesend. Die Zukunft von Park51 muss noch geschrieben werden. Doch es scheint wahrscheinlich, dass sie von gewöhnlichen New Yorkern geschrieben wird, nicht von nationalen Medien oder Bloggern. Die ganz gewöhnlichen New Yorker sind hartnäckig und skeptisch und dennoch nicht unfähig zur Freundschaft. Also könnte es eine gute Geschichte werden.

7 Wie man die Politik der Angst überwindet Unsere Suche nach einer ethischen Antwort auf die Politik der Angst begann im alten Athen mit Sokrates. Athen war in vielfacher Hinsicht eine große Demokratie, doch sein Volk – und damit seine Politik – war anfällig für die Appelle unverantwortlicher Demagogen und ebenso gewöhnlicher Schwächen wie Schlamperei, ­Anhängen an Tradition und eigensüchtiger Parteinahme. Sokrates rief seine Mitmenschen auf, ein „selbsterforschtes Leben“ zu führen und eine Demokratie zu schaffen, die eher rücksichtsvoll als ungestüm, eher nachdenklich als spaltend sei. Zugleich riet er den Bürgern, am politischen Leben teilzunehmen und nach Argumenten zu suchen anstatt nur eigene Überzeugungen kundzutun. Er wollte kon­ sequente Urteile, und niemand sollte für sich Vorteile erwirken. (In Athen waren damals nur Männer vollgültige Bürger.) Sokrates’ Antwort auf die Fehler seiner Demokratie war vielversprechend, aber unvollständig. Drei Elemente fehlten, die heute jede sokratische Antwort aufweisen muss. Zunächst fehlte das Bewusstsein für die Vielfalt der Menschen und ihre Lebensumstände; dazu gehört der Entschluss, alle Menschen und Gruppen in das demokratische Gespräch mit einzubeziehen. Sokrates versuchte es: Berühmt ist seine Äußerung, dass er sich nach seinem Tod in der Unterwelt mit Frauen unterhalten würde – die in Athen abgesondert waren und mit denen er demzufolge zu Leb­ zeiten nicht sprechen konnte (eine Erinnerung daran, dass die Absonderung der Frauen tiefe Wurzeln ausgerechnet in der Kultur hat, die als Wiege der westlichen Zivilisation gilt). Er fragte einen jungen Sklaven aus und demonstrierte, dass dieser Junge geistig so rege war wie jeder andere und sehr schnell die Grundlagen der Mathematik begriff (Erinnerung daran, dass diese Wiege der Zivilisation die grausame Institution der Sklaverei verteidigte). Er traf auf Menschen, die von weit her kamen, weil in Athen auch viele Fremde lebten. Sie hatten allerdings wenig Rechte. Und zuweilen war auch ihr Leben bedroht. (Aristoteles, ein Fremder, musste zweimal aus Athen fliehen.) Doch konnte Sokrates alle Menschen in Athen erreichen,

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die zu seiner Zeit dort lebten. Die Stadt war klein und nicht so gemischt wie moderne Demokratien mit ihren unterschiedlichen religiösen Ansichten, ethnischen Ursprüngen, den vielen Geschmäckern und Vorlieben. Ein moderner Sokratismus muss also einen viel umfassenderen Respekt an den Tag legen, was ein historisches und gesellschaftliches Verständnis einschließt, das Sokrates weder hatte noch ­anstrebte. Zweitens hatte Sokrates keine Vorstellung davon, dass Respekt für Menschen zugleich die Anerkennung vieler verschiedener religiöser und säkularer Lebens­ weisen bedeutet und dass die Menschen nach der Bedeutung ihres Lebens suchen dürfen, wie es ihnen ihr Gewissen vorschreibt. Sokrates glaubte nicht an eine ein­ zige Idee des Guten, er war ethischer Relativist. Viele, vermutlich die meisten ­Menschen, die heute an die Gewissensfreiheit glauben, halten ihre eigene Ansicht für richtig, die der anderen dagegen oft für falsch. Sokrates fehlte die Einsicht, dass es nicht Sache der Politik oder der Regierung ist, den Menschen zu sagen, was Gott ist oder wie man den Sinn des Lebens findet. Auch wenn Regierungen nicht die Menschen nötigen, ist schon die bloße Verkündigung, dass eine gegebene Religion (oder Antireligion) die bevorzugte Sichtweise sei, eine Beleidigung derjenigen, die diese Sichtweise nicht teilen können und ihrem eigenen Weg weiter folgen wollen. Sokrates und viele andere Philosophen nach ihm haben das nicht begriffen. Die Idee der gleichen Freiheit des Gewissens brauchte lange, um sich in der westlichen Gesellschaft festzusetzen. Die europäischen Religionskriege endeten mit einem Kompromiss, als einige Staaten den Katholizismus, andere den Protestantismus etablierten. Doch kein Staat folgte den Grundsätzen des gleichen Respekts für alle. Auch wenn Minderheiten (etwa die Juden) allmählich offiziell toleriert wurden, war es genau diese Tolerierung, die von George Washington als hierarchisch kritisiert wurde. Denn es bedeutete eben nicht die Anerkennung, dass alle Menschen gleiche Freiheitsrechte hätten. Selbst im 19. Jahrhundert, als viele internationale Denker von einer universalistischen „Religion der Menschheit“ sprachen, die alle Menschen in einer Kultur der Menschenrechte und des Mitleids vereinen würde, stellten sie sich diese als Ersatz für die traditionelle Religion vor, die ihrer Meinung nach als altmodisch und rückschrittlich erkannt und deshalb schnell erledigt würde. Bei der Errichtung ihrer politischen Institutionen bewiesen sie aber nicht viel Respekt für diejenigen, denen die alten Religionen lebensbestimmend waren. Interessanterweise existierte diese Idee schon vor langer Zeit in Indien: zumindest seit dem zweiten vorchristlichen Jahrhundert, als Kaiser Ashoka vom Hindu­ ismus zum Buddhismus konvertierte und überall Pfeiler aufstellen ließ, die seine

196  •  Die neue religiöse Intoleranz

Edikte des gegenseitigen Respekts und der Toleranz zwischen den Religionen ­verkündeten. Das wurde später weiterentwickelt, als Akbar, ein praktizierender Muslim, die Politik der Toleranz in seinem Reich etablierte. Akbar blieb nicht ohne Einfluss in Europa, und seine Ideen waren wohlbekannt. Doch die europäische Sektiererei und Arroganz erwiesen sich als stärker – bis zur späteren Geschichte der Rajputen; und zwar in einem Grade, der Winston Churchill sagen ließ, die Hindus seien ein „abscheuliches Volk mit einer abscheulichen Religion“. Und damit geriet er noch nicht einmal in politische Schwierigkeiten. Die Idee, dass politische Grundsätze nicht zugunsten einer Religion die anderen vernachlässigen, sondern gleichen Respekt für alle bezeigen sollten, funktionierte in den amerikanischen Kolonien viel besser und letztlich auch in der neuen N ­ ation. Diese Nation bildete die Grundlagen aus, mit den heutigen Problemen der Religionsvielfalt umzugehen. Doch die Wirklichkeit war immer schon weniger glorreich als die Grundsätze: Den Katholiken, Mormonen, Zeugen Jehovas und den amerikanischen Ureinwohnern ging es schlecht bei der Suche nach Gleichheit. Hindus, Muslime und Buddhisten, durch die Einwanderungspolitik großenteils in die Enge gedrängt, wurden erst in allerjüngster Zeit überhaupt ernsthaft mitein­bezogen. Das Versagen der guten Grundsätze, der Lebenswirklichkeit den Weg zu weisen, erinnert uns an das dritte Element, das Sokrates fehlte: eine neugierige Phantasie. Bis zu einem gewissen Grad hatte er sie, als er sich den Sklavenjungen aussuchte oder verkündete, nach seinem Tod mit Frauen zu reden. Andere Griechen taten aber viel mehr in dieser Richtung. Der Historiker Herodot reiste durch die gesamte bekannte Welt und berichtete mit Neugier und ohne jeglichen kulturellen Chauvinismus vom Leben anderer Völker. Immer wieder nahm auch die athenische Tragödie das Thema der Erfahrungen von Frauen, Fremden, gelegentlich sogar von Sklaven, auf und regte das Publikum an, diese ungewohnte Perspektive einzu­ nehmen. Damit behauptete sie zugleich, dass eine solche Phantasiearbeit auch für die Politik relevant sei. Auch in Indien geschah in dieser Hinsicht viel. Der große Dichter Kalidasa schrieb im fünften Jahrhundert ein Gedicht Megadhuta, worin er eine Wolke imaginiert, die über ganz Indien zieht, um eine Liebesbotschaft zu überbringen, dabei aber mit liebevoller Neugier das Leben der Menschen in verschiedenen Gegenden beobachtet. Phantasie über religiöse Grenzen hinweg war ein Hauptthema der Sufi-Poesie zur Zeit der Mogul-Kaiser. Kein Zweifel: Jede Nation hat ihre eigene Tradition, diese Themen zu verfolgen. In Europa hat diese Tradition der Neugier und Freundschaft viele Nachkommen, wie in Kapitel 5 dargestellt, und jeder spricht die Probleme des „inneren Auges“ aus seiner Zeit an.

Wie man die Politik der Angst überwindet  •  197 

Heute wissen wir, wie gute politische Grundsätze auf dem Feld des religiösen Respekts und der Gleichheit aller Menschen aussehen. In den USA, aber viel ­uneinheitlicher in Europa, werden diese Grundsätze in Gesetz und öffentlichem Leben beachtet. Doch sie bleiben in Zeiten der Angst fragil. Wie Eisenbahngleise leiten sie den Zug – bis sie bei einem Unglück, sei es durch einen Systemfehler oder ein Erdbeben, den Zug entgleisen lassen. Heute erkennen wir allzu viele Fälle, wo Panik zu solchen Entgleisungen führt. Der Dichter Walt Whitman sagte: „Die Menschen zusammenzuhalten durch Papier und Siegel oder durch Zwang zählt nicht, / nur das hält Menschen zusammen, das sie in lebendigen Grundsätzen erfasst.“ Gesetze werden von Menschen gemacht; sie können verändert und aufgehoben werden, falls die Menschen ihre Sichtweise verändern. Eine politische Kultur, die von Dauer sein soll, muss über Menschen nachdenken und wie sie die Welt sehen. Menschen aber sind nicht sehr verlässlich: Gerne kümmern sie sich um ihre eigenen Dinge und begreifen ihre Nachbarn nicht. Unser gegenwärtiges Klima der Angst zeigt, dass die Menschen nur allzu leicht von guten Werten und Gesetzen entfremdet werden können, wenn Unsicherheit und Bedrohung herrschen. Unsere Zeit ist in der Tat gefährlich. Wie wir gesehen haben, sind viele Ängste rational, und Appelle an die Angst müssen eine Rolle in einer Gesellschaft spielen, die das Leben der Menschen ernst nimmt. Doch hier ist die Balance allzu oft in eine Richtung verschoben worden, wo grundlos erzeugte Ängste gerade die Grundsätze bedrohen, denen wir weiterhin folgen und auf die wir stolz sein sollten. Um der unheilvollen Tendenz entgegenzutreten, unsere Sicht auf das angeblich so wichtige Ich einzuengen, braucht es in erster Linie einen jeden von uns; es braucht die ­sokratische (und christlich-kantianische) Verpflichtung, unsere Wahlmöglichkeiten genau zu prüfen, um zu erkennen, ob sie selbstsüchtig sind, ob sie uns privilegieren und die gleichen Ansprüche anderer vernachlässigen. Und wir brauchen gleichermaßen den inneren Geist, der die Suche nach konsequenter Haltung beleben muss, soll dies nicht eine leere Hülle bleiben. Wir brauchen also den Geist der Neugier und der Freundschaft.

Anmerkungen I. Religion: Zeit der Angst und der Verdächtigung 1. Im Folgenden benutzte ich den Begriff Burka, um damit die Burka wie auch den Niqab zu erfassen. Die allgemein akzeptierte Unterscheidung besagt, dass die Burka den Körper vollständig bedeckt und vor den Augen einen Netzschleier hat; der Niqab ist ein Gesichtsschleier, der die vollständige Körperbedeckung ergänzt und vor den Augen einen Sehschlitz hat. 2. „Italian Law to Ban Veil Wins Early Approval“, Sydney Morning Herald, 4. August 2011. 3. Ian Fisher, „Italian Woman’s Veil Stirs More Than Fashion Feud“, New York Times, 15. Oktober 2004. 4. Vgl. Legifrance (public service for diffusion of the law), Loi no. 2004-228 du 15 mars 2004, gültig seit 7. November 2011. Verfügbar auf http://www.legifrance.gouv.fr/affichTexte.do?cidTexte=JORFTEXT000000417977&dateTexte=. 5. Stephen Schwartz, „Kosovo Says No to the Headscarf in Public Schools“, Weekly Standard, 14. April 2010. 6. „Dutch Government Pact Bans Burqa,“ Reuters, 30. September 2010, verfügbar auf http://www.reuters.com/article/2010/09/30/us-dutch-politics-idUSTRE68T5T 420100930; „Another Spanisch Town Bans Burqa in Public“, Fox News, 6. September 2011, verfügbar auf http://www.foxnews.com/world/2011/09/06/another-spanish-townbans-burqa-in-public/; „Belgian Lawmakers Pass Burka Ban“, BBC News, 30. April 2010, verfügbar auf http://news.bbc.co.uk/2/hi/europe/8652861.stm. 7. „Swiss Court Uphols Basketball Hijab Ban“, Muslim News (UK), 26. Februar 2010, verfügbar auf http://www.muslimnews.co.uk/paper/index.php?article=4517. 8. „Russian Muslims Hail Headscarf Ruling“, BBC News, 15. Mai 2003, http://news.bbc. co.uk/2/hi/europe/3031379.stm; „Russian Pupil Fired from School for Wearing Hijab“, Union of Islamic World Students, 28. September 2010, http://www.rohama.org/en/ pages/?cid=2921; „University in Russia’s North Caucasus Bans Muslim Headscarves“, Ria Novosti, 23. Dezember 2010, http://en.rian.ru/russia/20101223/161905836.html. 9. Nick Cumming-Bruce und Steven Erlanger, „Swiss Ban Building of Minarets on Mosques“, New York Times, 29. November 2009. 10. „Giunta leghista: niente kebab in centro“, Corriere della Sera (Italien), 19. August 2009, verfügbar auf http://www.corriere.it/politica/09_agosto_19/kebab_vietato_giunta_le­ ghista_capriate_san_gervasio_7a6a8484-8ceb-11de-90bb-00144f02aabc.shtml.

Anmerkungen  •  199 

11. „Anti-Immigrant Italians Find New Foe: Food From Abroad“, The Observer (England), 14. November 2009, verfügbar auf http://www.guardian.co.uk/world/2009/nov/15/italys-kebab-war-hots-up. 12. „Muslim Headscarves Unveil Attitudes and Opinions“, YLE (Finland), 8. Oktober 2008, verfügbar auf http://www.yle.fi/uutiset/news/2008/10/muslim_headscarves_unveil_attitudes_and_opinions_354627.html. 13. KGS, „Muslim Women’s Head Scarf Use at Work Causes Controversy“, Tundra Tabloids, 2. Februar 2009, verfügbar auf http://tundratabloits.com/2009/02/finland-muslim-headscarf-controversy.html. Der Helsinki Osuus Store in Elanno verfolgt diese Politik, und einige Geschäfte mit koscherer Nahrung haben das übernommen. 14. „Raasepori Schools Frown On, But Will Allow, Islamic Scarves“, YLE (Finland), 9. Mai 2010, verfügbar auf http://www.yle.fi/uutiset/news(2010/05/raasepori_schools _frown_ on_but_will_allow_islamic_scarves_1695371.html. 15. Anu Ilomäki, „No Special Meals for Muslim Children at Helsinki and Espoo Municipal Playgrounds“, Helsingin Sanomat (Finnland), 16. Juni 2007, verfügbar auf http://www. hs.fi/english/article/No+special+meals+for+Muslim+children+at+Helsinki+and+Espoo+ municipal+playgrounds/1135228145208. Die einzige derzeit angebotene besondere Mahlzeit ist für Kinder mit Laktose-Intoleranz. Da es den Muslimen hauptsächlich um eine Alternative zu Schweinefleisch ging, kann angenommen werden, dass auch die Befürchtungen jüdischer Kinder nicht berücksichtigt werden. 16. „All Nationalities Welcome during ‘Muslims-only’ Hours at Helsinki Public Swimming Pools“, Helsingin Sanomat (Finnland), 22. Juni 2009, verfügbar auf http://hs.fi/english/ print/1135247093619. Muslimische Frauen halten es für unanständig, von anderen Frauen nackt gesehen zu werden, was bedeutet, dass sie die Duschen einzeln benutzen möchten, wogegen nicht-muslimische Frauen Einwände erheben. Dieser Artikel benutzt den Begriff „Finnen“ auf eine Weise, die den Schluss erlaubt, dass muslimische Frauen keine Finnen sind. 17. Steven Erlanger, „Norway Suspect Denies Guilt and Suggests He Did Not Act Alone“, New York Times, 25. Juli 2011. 18. Neil Sears, „‘Vlad the Impaler was a Genius’: The Crazed and Hate-Filled ‘Manifesto’ of the Mass Murderer“, Daily Mail (England),25. Juli 2011. 19. Mark Hughes und Gordon Rayner, „Norway Killer Anders Behring Breivik Had Extensive Links to English Defence League“, The Telegraph (England), 25. Juli 2011; „Norwegian Murderer Had Links With Anti-Muslim Groups in Israel, UK and USA“, English Islam Times, 26. Juli 2011, verfügbar auf http://www.islamtimes.org/vdce7n8v.jh8fxik1bj.html. 20. „Norway Attacks: National Front Member Suspended For Defending Anders Behring Breivik“, The Telegraph (England), 26. Juli 2011. 21. „Italy MEP Backs Ideas of Norway Killer Breivik“, BBC News, 27. Juli 2011, http:// www.bbc.co.uk/news/world-europe-1415108. 22. Edwin S.  Gaustad und Leigh E. Schmidt, The Religious History of America, rev. ed. (New York: HarperCollins 2002), S. 67, 170.

200  •  Anmerkungen

23. Ebenda, S. 43. 24. Ebenda, S. 170. 25. Ebenda, S. 352; Gary L. Ward, Mormonism I: Evangelical Christian Anti-Mormonism in the Twentieth Century (New York: Garland, 1990). 26. Leonard Dinnerstein, Antisemitism in America (New York: Oxford University Press, 1994). 27. „Jewish Prayer Ritual Causes LA Flight Lockdown“, CBS News, 14. März 2011, verfügbar auf http://www.cbsnews.com/stories/2011/03/14/national/main20042769.shtml. 28. Laurie Goodstein und Tamar Lewin, „Victims of Mistaken Identity, Sikhs Pay a Price for Turbans“, New York Times, 19. September 2001; Laurie Goodstein, „A Nation Chal­ lenged: Civil Rights; American Sikhs Contend They Have Become a Focus of Profiling at Airports“, New York Times, 10. November 2001. 29. Ken Maguire, „American Sikhs Decry Screenings“, New York Times, 6. November 2010. 30. „U.S. Military Quietly Opens Up to Sikhs“, Today in the Military, 10. September 2010, verfügbar auf http://www.military.com/news/article/us-military-quietly-opens-up-tosikhs.html. 31. „Protesters Arrested for Disrupting First Hindu Senate Prayer“, CNN, 12. Juli 2007, verfügbar auf http://politicalticker.blogs.cnn.com/2007/07/12/protesters-arrested-fordisrupting-first-hindu-senate-prayer/. 32. „Airline Apologises after Muslim Woman Wearing a Headscarf is Thrown Off Flight for ‘Suspicious Behaviour’“, Daily Mail (England), 17. März 2011. 33. „Muslim Woman Sues Disneyland Over Headscarf “, The Telegraph (England) 19. August 2010. 34. „Muslim Disney Employee Agrees to Wear a Beret over Her Hijab after Theme Park Objected to Her Head Scarf “, Daily Mail (England), 29. September 2010. 35. „Controversy Shrouds Muslim Women’s Head Coverings“, USA Today, 15. April 2010. 36. Laurie Goodstein, „Georgia: Lawsuit Over Muslim Woman’s Head Scarf “, The New York Times, 15. Dezember 2010. 37. Joseph Ruzich, „DuPage Zoning Panel opposes Plan for Mosque Near Willowbrook“, Chicago Tribune, 14. Januar 2011. 38. „Naperville Not Putting Out Welcome Mat for Islamic Religious Center“, Chicago Trib­une, 14. Januar 2011. 38. „Naperville Not Putting Out Welcome Mat for Islamic Religious Center“, Chicago Trib­une, 7. Oktober 2011. 39. Robbie Brown, „Incidents at Mosque in Tennessee Spread Fear“, New York Times, 30. August 2011; „Justice Department Wades into Tennessee Mosque Controversy on Side of Islam“, Fox News, 18. Oktober 2010, http://www.foxnews.com/politics/2010/10/18/ justice-department-wades-into-tennessee-mosque-controversy-islam/. 40. „Man Charged with Mosque Threat Ruled Incompetent“, CBS Detroit, 22. August 2011, http://detroit.cbslocal.com/2011/08/22/man-charged-with-mosque-threat-ruled-incompetent/. 41. Nationwide Anti-Mosque Activity (map), American Civil Liberties Union, ohne Datum, verfügbar auf http://www/aclu.org/map-nationwide-anti-mosque-activity.

Anmerkungen  •  201 

42. Garrett Epps, „In Sharia Law Ban, Oklahoma Juggles Dynamite“, Atlantic, 16. November 2010. 43. James McKinley, „Oklahoma Surprise: Islam as an Election Issue“, New York Times, 14. November 2010. 44. James McKinley, jr., „Judge Blocks Oklahoma’s Ban on Using Shariah Law in Court“, New York Times, 29. November 2010. 45. Aziz Huq, „Defend Muslims, Defend America“, New York Times, 19. Juni 2011. 46. Zaid Jilani, „Report: At Least 13 States Have Introduced Bills Guarding Against NonExistent Threat of Sharia Law“, Think Progress, 8. Februar 2011, http://thinkprogress. org/politics/2011/02/08/142590/sharia-states/. 47. Bob Smietana, „Tennessee Bill Would Jail Shariah Followers“, USA Today, 23. Februar 2011. 48. Siehe: Huq, „Defend Muslims, Defend America“; und Steven Greenhouse, „Muslims Report Rising Discrimination at Work“, New York Times, 23. September 2010. 49. J. H. H. Weiller, „To Be a European Citizen: Eros and Civilization“, Center for European Studies, University of Wisconsin-Madison, Arbeitspapier, Frühjahr 1998, verfügbar auf http://uw-madison-ces.org/sites/ces.wisc.edu/files/weiler.pdf. 50. Jacob Katz, Out of the Ghetto (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1973). 51. Eric Hobsbawm, Nationen und Nationalismus. Mythos und Realität seit 1780 (Frankfurt/Main, Campus-Verlag 1991); Graham Robb, The Discovery of France (New York: Norton, 2007); Linda Colley, Britons: Forging the Nation 1707–1837 (New Haven: Yale University Press, 1992). 52. George Mosse, Nationalismus und Sexualität. Bürgerliche Moral und sexuelle Normen (München, Hanser-Verlag 1985). 53. Anssi Paasi, Territories, Boundaries and Consciousness: The Changing Geographies of the Finnish-Russian Border (Chichester: John Wiley and Sons, 1996), S. 79–97. 54. Maureen O’Donnell, „S. Side St. Pat’s Parade Yanks Mat from Buchanan“, Chicago SunTimes, 9. März 1996. 55. Siehe: Martha C. Nussbaum, The Clash Within: Democracy, Religious Violence, and India’s Future (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2007).

2. Angst: Ein narzisstisches Gefühl 1. Diogenes Laertius, Leben und Meinungen berühmter Philosophen, Buch I–X, übersetzt von Otto Apelt (Meiner-Verlag, Hamburg 1967), IX, 61. 2. Ebenda, IX, 63. 3. Zu beiden siehe die ausgezeichnete Textsammlung in: Paul Mendes-Flohr (Hg.), The Jew in the Modern World (New York: Oxford University Press, 2011), S. 336–342. 4. Joseph LeDoux, Das Netz der Gefühle. Wie Emotionen entstehen (München, HanserVerlag 1998); Joseph LeDoux, „Emotional Memory Systems in the Brain“, Behavioural Brain Research 58 (1993), S. 69–79; Joseph LeDoux, „Emotion, Memory, and the Brain“, Scientific American 270 (1994), S. 50–57.

202  •  Anmerkungen

5. LeDoux, „Emotion, Memory, and the Brain“, S. 56. 6. Ebenda, S. 57. 7. Siehe: Jenefer Robinson, „Startle“, Journal of Philosophy 92 (1995), S. 53–74. Sowohl Angst als auch Schreckhaftigkeit beziehen Wahrnehmung in dem Sinne ein, dass sie Weitergabe und Verarbeitung von Information leisten sowie eine gewisse rudimentäre Einschätzung der Situation; sie umfassen nicht Reflexion oder bewusste Wahrnehmung. 8. John Stuart Mill, Utilitarismus, Kapitel 5. 9. Erich Maria Remarque, Im Westen nichts Neues (Köln, Kiepenheuer und Witsch 1999), S. 44–45. 10. Ebenda, S. 145. 11. Eine gute Darstellung dieses Themas bei: Corey Robin, Fear: The History of a Political Idea (New York: Oxford University Press, 2004). 12. Aristoteles, Rhetorik, 1382a 2 (übersetzt von Franz G. Sieveke) (Wilhelm-Fink-Verlag. München 1993). 13. Ebenda, 1382b 20–21. 14. In seinen Werken zur Biologie behauptet Aristoteles, Angst gebe es in allen Lebewesen, was auf andere Gefühle wie Trauer, Zorn und Mitleid nicht zutreffe. Siehe: Juha Sihvola, „Emotional Animals: Do Aristotelian Emotions Require Beliefs?“, Apeiron 29 (1996), S. 105–144. 15. Siehe: Cass R. Sunstein, Risk and Reason: Safety, Law, and the Environment (Cambridge: Cambridge University Press, 2002), S. 33–35, mit Hinweisen auf psychologische Literatur. 16. Siehe: Timur Kuran, „Ethnic Norms and Their Transformation through Reputational Cascades“, Journal of Legal Studies 27 (1998), S. 623–659; und: Sunstein, Risk, S. 37–39. 17. Sudhir Kakar, Die Gewalt der Frommen. Zur Psychologie religiöser und ethnischer Konflikte (München, C. H. Beck Verlag, 1997). 18. Solomon Asch, „Opinions and Social Pressure“ (1955), http://www.panarchy.org/asch/ social.pressure.1955.html. 19. Anne Hollander, Anzug und Eros. Eine Geschichte der modernen Kleidung (Berlin, Berlin-Verlag 1995). 20. Dazu, mit Beispielen aus den Broschüren, siehe: Martha C. Nussbaum, From Disgust to Humanity: Sexual Orientation and Constitutional Law (New York: Oxford University Press, 2010). 21. Siehe etwa: Otto Weininger, Geschlecht und Charakter, eine prinzipielle Untersuchung (Wien 1905), worin Juden in dieser Hinsicht mit Frauen verglichen werden. 22. Siehe: Sander Gilman, The Jew’s Body (New York: Routledge, 1991); Sander Gilman, Creating Beauty to Cure the Soul: Race and Psychology in the Shaping of Aesthetic Surgery (Durham, NC: Duke University Press, 1998). 23. Im Gegensatz dazu hielten die Griechen den beschnittenen Penis für reiner, wenn auch für weniger schön. 24. The 2010 Human Development Report, United Nations Development Programme, verfügbar auf http://hdr.undp.org/en/, erwähnt, dass 62,0 % der Schweizerinnen und 74,5 %

Anmerkungen  •  203 

der Schweizer zumindest Sekundarschul-Ausbildung haben; die Teilhabe am Arbeits­ leben betreffend sind es 76,6 % bzw. 87,8 %. 25. Ashley Hall, „Media Rushed to Judgement in Norway Attacks“, ABC News (Australia), 26. Juli 2011, verfügbar auf http://www.abc.net.au/news/2011-07-25/media-rushedjudgement-in-norway-under-fire/2809786/?site=sydney. 26. Magnus Nome, „Why Let Facts Ruin the Story?“, Open Democracy, 8. August 2011, verfügbar auf http://www.opendemocracy.net/magnus-nome/why-let-facts-ruin-storynorwegian-comments-on-us-coverage-of-norway-terror. 27. Genevieve Long Belmaker und Jack Phillips, „Media Slammed for Linking Islam to Norway Attacks“, Epoch Times, 27. Juli 2011. 28. „Norway Attacks ‘A Sign’ Say Far Right“, Herald Sun (Australia), 27. Juli 2011. 29. http://uk.reuters.com/article/2011/07/23/uk-norway-killer-idUKTRE76M1OJ20110723. 30. Eugene Robinson, „Stoking Irrational Fears about Islam“, Washington Post, 7. April 2011. 31. Ebenda. 32. Aziz Huq, „Defend Muslims, Defend America“, New York Times, 19. Juni 2011. 33. Zum Diagramm und der Darstellung dieser Gruppe siehe: Spencer Ackerman, „After Oslo, Group Accuses Thousands of Being Homegrown Terrorists“, Wired, 25. Juli 2011, verfügbar auf http://www.wired.com/dangerroom/2011/07/thousands-accused/. 34. Spencer Ackerman, „FBI ‘Islam 101’ Guide Depicted Muslims as 7th-Century Simpletons“, Wired, 27. Juli 2011, verfügbar auf http://www.wired.com/dangerroom/2011/07/ fbi-islam-101-guide/. 35. Ebenda. 36. Danios, „Pamela Geller Hiding Identity of Norwegian Terrorist (Or Possible Future Terrorist)“, Loonwatch, 31. Juli 2011, verfügbar auf http://www.loonwatch.com/2011/07/ pamela-geller-hiding-the-identity-of-norwegian-terrorist-or-possible-future-terrorist/. 37. Murdoch entlehnt diesen Begriff aus der buddhistischen Ethik, für die sie sich zeitlebens interessierte. 38. Iris Murdoch, Der schwarze Prinz (Düsseldorf, Claassen-Verlag, 1975), S. 188.

3. Grundprinzipien: Gleicher Respekt für das Gewissen 1. Siehe: Amartya Sen, The Argumentative Indian (London: Allen Lane, 2005). 2. Christine Korsgaard, Fellow Creatures: Kantian Ethics and Our Duties to Animals, The Tanner Lectures on Human Values, vol. 25/6 (2004), S. 79–110. 3. Siehe: Richard Sorabji, Animal Minds and Human Morals: The Origins of the Western Debate (Ithaca, NY: Cornell University Press, 1993). 4. Wegen der Möglichkeit des Klonens von Menschen. 5. Martha C. Nussbaum, Frontiers of Justice: Disability, Nationality, Species Membership (Cambridge, MA: Harvard University Press, 2006); Martha C. Nussbaum, „The Capa­

204  •  Anmerkungen

6.

7. 8. 9. 10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17. 18. 19. 20. 21. 22. 23. 24. 25. 26. 27. 28. 29. 30. 31.

bilitites of People with Cognitive Disabilitites“, in: Cognitive Disability and Its Chal­ lenge to Moral Philosophy, ed. Eva Kittay und Licia Carlson (Malden, MA: WileyBlackwell, 2010), S. 75–96. Das bekannte „der Bigotterie keine Unterstützung“ und auch die Worte „Freiheit des Gewis­sens und die Sicherheit durch Staatsangehörigkeit“ sind Zitate aus dem Brief an Washington von der Jüdischen Kongregation in Newport, unterschrieben von deren Leiter Seixas. Washingtons Brief wird oft zitiert, oft mit kleinen Veränderungen und anderem Wortlaut. Ich habe diese Version mit dem Foto des Originals von Washingtons (klarer) Handschrift verglichen. Siehe: http://gwpapers.virgina.edu/documents/hebrew/ reply.html. John Locke, Ein Brief über Toleranz (1689) (Hamburg, Meiner-Verlag 1957; englischdeutsch), S. 97. Ebenda, S. 105. Ebenda, S. 59. Ebenda, S. 105. Ebenda, S. 83. Church of the Lukumu Babalu Aye v. City of Hialeah, 508 U.S. 520 (1993). Locke, Brief über Toleranz, S. 83. Fraternal Order of Police v. City of Newark, 170 F. 3d 359 (3d Cir. 1999). Ebenda, S. 365. Siehe: Michael McConnell, „The Origins and Historical Understanding of Free Exercise of Religion“, Harvard Law Review 103 (1990), S. 1409ff. Die Quäker schrieben zuerst an Washington und dankten für die Religionsfreiheit und wiesen darauf hin, gute Staatsbürger zu sein und zum Unterhalt der Armen und zur Stärkung der Regierung beizutragen. Stansbury v. Marks, 2 Dall. 213 (Pa. 1793); People v. Philips, New York Court of General Sessions, 1813. Der maßgebliche Fall war Cantwell v. Connecticut, 310 U.S. 296 (1940). Sherbert v. Verner, 374 U.S. 163 (1965). Siehe: U.S. v. Seeger, 380 U.S. 163 (1965), und Welsh v. U.S., 398 U.S. 333 (1970). 406 U.S. 205 (1972). Siehe meine Diskussion in: Martha C. Nussbaum, Liberty of Conscience: In Defense of America’s Tradition of Religious Equality (New York: Basic Books, 2008), Kap. 4. 494 U.S. 872 (1990). Ebenda, S. 909. Mehr zu dieser Kontroverse in: Nussbaum, Liberty of Conscience, Kap. 5. 521 U.S. 507 (1997). Siehe die detaillierte Aufzählung in: Nussbaum, Liberty of Conscience, Kap. 4. 544 U.S. 709 (2005). Siehe: Christopher L. Eisgruber und Lawrence G. Sager, diskutiert in: Nussbaum, Liberty of Conscience, Kap. 4. Das ist im Wesentlichen die Linie, die ich verfolge in: Liberty of Conscience.

Anmerkungen  •  205 

32. U.S. v. Seeger, 380 U.S. 163 (1965), Welsh v. U.S., 398 U.S. 333 (1970). Diese Fälle bedurften jedoch der gesetzlichen Auslegung und können daher nicht als generelles Mandat einer solchen Politik begriffen werden. 33. Kent Greenawalt, Religion and the Constitution, vol. 1: Free Exercise of Fairness (Princeton: Princetion University Press, 2006), Kap. 4 und 5. 34. Rosenberger v. Rector and Visitors of the University of Virginia, 515 U.S. 819 (1995). 35. Die zentralen menschlichen Fähigkeiten: 1. Leben. In der Lage zu sein, bis zum Ende eines Lebens von normaler Dauer zu leben; nicht vorzeitig zu sterben oder bevor das Leben so reduziert ist, dass es nicht mehr lebenswert ist. 2. Körperliche Gesundheit. In der Lage zu sein, eine gute Gesundheit zu haben, einschließlich der Fortpflanzungsfähigkeit; angemessen ernährt zu sein; über angemessenen Schutz zu verfügen. 3. Körperliche Integrität. In der Lage zu sein, sich frei von Ort zu Ort zu bewegen; gegen gewalttätige Angriffe sicher zu sein, einschließlich sexueller und häuslicher Gewalt; die Möglichkeit zu haben zu sexueller Befriedigung und zur Auswahl bei der Fortpflanzung. 4. Sinne, Phantasie und Denken. In der Lage zu sein, seine Sinne zu benutzen, zu phantasieren, zu denken und zu urteilen – und dies auf „wahrhaft menschliche“ Weise zu tun, angeregt und kultiviert durch eine angemessene Ausbildung, einschließlich und keinesfalls begrenzt auf Belesenheit sowie grundlegende mathematische und wissenschaftliche Ausbildung. In der Lage zu sein, Phantasie und Denken einzusetzen einschließlich der Wahrnehmung und Produktion von Arbeiten und Ereignissen nach eigener Auswahl religiöser, literarischer, musikalischer Art usw. In der Lage zu sein, den eigenen Verstand zu gebrauchen, geschützt durch die Garantie der Freiheit des Ausdrucks in politischer wie auch künstlerischer Sprache, und Freiheit der Religionsausübung. In der Lage zu sein, angenehme Erfahrungen zu machen und nicht förderliche Schmerzen zu vermeiden. 5. Gefühle. In der Lage zu sein, Beziehungen zu Dingen und Menschen außerhalb von uns zu haben; die zu lieben, die uns lieben und sich um uns sorgen, über ihre Abwesenheit zu trauern; generell zu lieben, zu trauern, Sehnsucht, Dankbarkeit und gerechtfertigte Wut zu erfahren. In der eigenen emotionalen Entwicklung nicht durch Angst und Furcht behindert zu werden. (Diese Fähigkeit zu ermöglichen bedeutet, alle Formen menschlicher Verbindungen zu unterstützen, die für ihre Entwicklung wesentlich sind.) 6. Praktische Vernunft. In der Lage zu sein, sich einen Begriff des Guten zu machen und kritische Reflexion zur eigenen Lebensplanung anzustellen. (Dies bezieht den Schutz der Freiheit des Gewissens und des religiösen Gehorsams mit ein.) 7. Zugehörigkeit. A. In der Lage zu sein, mit und gegen andere zu leben, Sorge für andere Menschen anzuerkennen und zu bezeigen, sich an verschiedenen Formen der gesellschaftlichen Interaktion zu beteiligen; in der Lage zu sein, sich die Situation anderer vorzustellen. (Diese Fähigkeit zu schützen bedeutet, die Institutionen zu schützen, die solche Formen der Zugehörigkeit bilden und fördern, aber auch die Freiheit der Versammlung und der ­politischen Rede zu schützen.)

206  •  Anmerkungen



B. Die gesellschaftlichen Grundlagen für Selbst-Respekt und Nicht-Verletzung zu haben; in der Lage zu sein, als würdiges Wesen behandelt zu werden, dessen Wert gleich ist dem der anderen. Dies schließt Nicht-Diskriminierung nach Rasse, Geschlecht, sexueller Orientierung, Ethnizität, Kaste, Religion und nationaler Herkunft mit ein. 8. Andere Arten. In der Lage zu sein, mit Besorgnis um und in Beziehung mit Tieren, Pflanzen und der Welt der Natur zu leben. 9. Spiel. In der Lage zu sein zu lachen, zu spielen und erholsame Aktivitäten zu genießen. 10. Kontrolle über die eigene Umwelt. A. Politisch. In der Lage zu sein, wirksam an politischen Wahlen teilzunehmen, die das eigene Leben betreffen; das Recht auf politische Teilhabe und Schutz der freien Rede und des Zusammenschlusses zu haben. B. Materiell. In der Lage zu sein, Eigentum zu haben (Land und mobile Güter), und Eigentumsrechte auf gleicher Grundlage mit anderen zu haben; das Recht zu haben, Beschäftigungen auf gleicher Grundlage mit anderen nachzugehen; die Freiheit von unberechtigter Nachforschung und Festnahme zu haben. In der Lage zu sein, als Mensch zu arbeiten, den praktischen Verstand einzusetzen und in bedeutungsvolle Beziehungen gegenseitiger Anerkennung mit anderen Arbeitenden einzutreten.

4. Der Splitter im Auge meines Bruders: Unparteilichkeit und das selbsterforschte Leben 1. 2. 3. 4.

Matthäus 7, 3–4. http://news.bbc.co.uk/2/hi/6159046.stm. http://news.bbc.co.uk/2/hi/uk_news/politics/5413470.stm. http://dailymail.co.uk/news/article-1249812/Justice-Secretary-Jack-Straw-rejects-­ burka-ban-Muslim-women.html. 5. Richterin Janet Thorpe, zitiert in: http://news.bbc.co.uk/2/hi/americas/2970514.stm. 6. „The Case of Mrs. Sultaana Freeman“, American Civil Liberties Union of Florida, ohne Datum, verfügbar auf http://www.aclufl.org/issues/religious_liberty/freemanstatement.cfm. 7. Ebenda. 8. Siehe etwa: http://www.nbcwashington.com/news/local/Hairline-Headline–A-NewRule-for-Dcs-DMV-90857884.htm. Alex Cameron, „Muslim Woman Wins Driver’s License Flight“, News9 (Oklahoma City), 19. Februar 2009. 9. City of Chicago v. Morales, 527 U.S. 1 (1999). Die Vielfalt der Meinungen bei dieser 6:3-Abstimmung macht dies zu einem komplizierten Fall, der gesondert betrachtet werden muss. Sowohl die Unbestimmtheit als auch die Argumente zur Freiheit bilden eindeutig eine Mehrheit, doch sind sie in den vier Mehrheits-Stellungnahmen jeweils anders formuliert. Angesichts der knappen Entscheidung konnte die Stadt ein ähnliches Gesetz verabschieden, wonach man annehmen darf, dass das Tragen von Banden-Farben plus die ethnische Zugehörigkeit für die Vollstreckung immer noch relevant sind.

Anmerkungen  •  207 

10. Siehe: Aziz Huq, „Defend Muslims, Defend America“, New York Times, 19. Juni 2011. Huq, ein Jura-Professor an der University of Chicago, spricht von vorbeugenden Verboten der Scharia, aber dies gilt auch für viele weitere Fälle. 11. Municipal Code sec. 36034. 12. Siehe: volokh.com/2011/05/18/substantive-dignity-dwarf-throwing-burqa-bans-andwelfare-rights/. 13. Peter Allen, „Nicolas Sarkozy Says the Burqa Is ‘Not Welcome’ in France“, Telegraph (England), 22. Juni 2009. 14. Siehe mein: „Objectification“, in: Martha C. Nussbaum, Sex and Social Justice (New York: Oxford University Press, 1999), 213–239, wo ich viele feministische Literatur diskutiere. 15. Siehe: Martha C. Nussbaum, Liberty of Conscience: In Defense of America’s Tradition of Religious Equality (New York: Basic Books, 2008), Kap. 5, wegen weiterer Details zu diesen Fällen. 16. Paul Blanshard, American Freedom and Catholic Power, 2., revidierte und erweitere Auflage (Boston: Beacon Press, 1958), S. 88. 17. Swann v. Pack, 527 S.W. 2d 99 (Tenn. 1975). 18. Bob Jones v. U.S., 461 U.S. 574 (983). 19. Siehe: Edward O Laumann und Robert T. Michael (Hgg.), Sex, Love, and Health in America: Private Choices and Public Policies (Chicago: University of Chicago Press, 2000); und Edward O. Laumann, John H. Gagnon, Robert T. Michael und Stuart ­Michaels, The Social Organization of Sexuality: Sexual Practices in the United States (Chicago: University of Chicago Press, 1994). 20. Es gibt keine ausdrückliche Beschränkung auf „Öffentlichkeit“, doch das Verbot wird nur dort durchgesetzt. Höherkastige Eltern wenden sich immer noch zum überwältigenden Teil gegen Heiraten ihre Kinder in niedrigere Kasten, was mit Sicherheit auch innerfamiliäre Druckmittel und zuweilen Nötigung bedeutet, um die Unberührbarkeit im eigenen Haus aufrechtzuerhalten. 21. Barnes v. Glen Theater, 501 U.S. 560 (1991), zustimmende Äußerung von Richter Souter. Seine Analyse kritisiere ich in: Martha C. Nussbaum, From Disgust to Humanity: Sexual Orientation and Constitutional Law (New York: Oxford University Press, 2010), Kap.  6. Souter steht mit seiner Analyse allein, die in diesem Fall mit 5:4 entschieden wurde. Doch weil seine Begründung für die Aufrechterhaltung des Verbots knapper als die der anderen Mitglieder der Mehrheit ist, ist seine Meinung die entscheidende. 22. James Joyce, Ulysses (Frankfurt/Main: Suhrkamp-Verlag, 1975, 2004), S. 995 [Kapitel 17, Ithaka]. 23. Eine Operation am Ohr war die einzige, die ich je über mich ergehen lassen musste. Sie war vollkommen unnötig und von elterlicher Eitelkeit diktiert. 24. Amy Chua, Die Mutter des Erfolgs. Wie ich meinen Kindern das Siegen beibrachte. München 2011; auch: Amy Chua, „Why Chinese Mothers Are Superiour“, Wall Street Journal, 8. Januar 2011. 25. 406 U.S. 205 (1972).

208  •  Anmerkungen

26. Die Burka wird nicht direkt vom Koran verlangt: Sie ist eine Sache der Interpretation. In manchen Gemeinschaften (z. B. Bengalen) ist die Gesichtsbedeckung unbekannt. 27. Joan Wallach Scott, The Politics of the Veil (Princeton: Princeton University Press, 2007), S. 127. 28. Pierce v. Society of Sisters, 268 U.S. 510 (1925). 29. Natürlich gibt es hier schwierige Fragen wie etwa die nach Anpassung im Fall von Ärzten, die aus religiösen Gründen keine Abtreibungen vornehmen wollen. Meine Ansicht dazu: Solche Anpassungen sollten im Einzelfall gewährt werden, doch nur in Verbindung mit einer festen Garantie, dass eine Frau andere Möglichkeiten für die Ausübung ihrer gesetzlichen Rechte hat; was für ähnliche Fälle gleichfalls gilt. 30. Siehe mein: „Teaching Patriotism“, University of Chicago Law Review, 2012.

5. Innere Augen: Respekt und mitfühlende Phantasie 1. Siehe: Barbara Herman, The Practice of Moral Judgment (Cambridge, MA: Harvard University Press, 1996), wo argumentiert wird, dass eine kantianische Ethik von geschulter Wahrnehmung abhängt. 2. Diese Arbeit wird in seinem Opus magnum: Altruism in Humans (New York: Oxford University Press, 2011), zusammengefasst; es enthält auch eine vollständige Bibliographie seiner früheren Publikationen. Sein frühes Werk wird diskutiert in: C. Daniel Batson, The Altruism Question: Toward a Social Psychological Answer (Hillsdale, NJ: Lawrence Erlbaum, 1991). 3. Siehe: Susan Bandes, „Empathy, Narrative, and Victim Impact Statements“, University of Chicago Law Review 63 (1997), S. 361–412. 4. Siehe: Woodson v. North Carolina, 428 U.S. 280 (1976). 5. Wie er feststellt, hat Barbados Religionsfreiheit de facto und mit Zustimmung von Karl II. zugelassen, doch vor der Rhode-Island-Charta von 1658 gab es keine offizielle Charta, die die Religionsfreiheit für alle Fälle garantierte. Zur ausführlichen Darstellung der Charta sowie zum Denken und Leben von Williams allgemein siehe: Martha C. Nussbaum, Liberty of Conscience: In Defense of America’s Tradition of Religious Equal­ ity (New York: Basic Books, 2008), Kap. 2. 6. Wichtigste Quellen für Williams’ Denken: Roger Williams, The Correspondence of ­Roger Williams, ed. Glenn La Fantasie (Providence, RI: Brown University Press, 1988), nachfolgend C I and C II, gefolgt von der Seitennummer; sowie: The Complete Writings of Roger Williams (New York: Russell and Russell, 1963), in sieben Bänden, deren erster enthält: A Key into the Language of America; das Buch aus dem Jahre 1643, das uns am meisten beschäftigen soll. 7. C I, 379. 8. Siehe die detaillierte Darstellung in C I, 12–23, „Editorial Note“. 9. Wie ich in: Nussbaum, Liberty of Conscience, diskutiere, nimmt dieser Roman Gesetzes-Argumentationen des australischen Obersten Gerichts im Fall Mabo v. Queensland (1992) um mehr als dreihundert Jahre vorweg.

Anmerkungen  •  209 

10. 11. 12. 13. 14. 15. 16. 17.

C II, 610. Key into the Language of America, S. 85. Mabo v. Queensland (1992), 175 CLR 1. C II, 750. C II, 751. C II, 535, 541, wo die Charta zitiert wird. C II, 611. Etwa C II, 534, wo er sich über die Weigerung der Engländer beklagt, seinen Abgesandten zu bezahlen: „Diese Barbaren, wenn sie einen öffentlichen Boten ausrüsten und fortschicken, übernehmen sie alle Kosten, gewähren ihm Belohnungen, und wenn er lahm und krank wird und nicht mehr heimkehren kann, kommen sie und tragen ihn auf ihren Schultern heim (und das über viele Meilen hinweg), mit aller Sorge und Schicklichkeit.“ 18. Key into the Language of America, S. 47. 19. C II, 754. 20. C I, 387. 21. Key into the Language of America. 22. Ebenda, S. 164–165. 23. Ebenda, S. 167. 24. Pew Global Attitudes Project, Pew Research Center, veröffentlicht 21. Juli 2011, verfügbar auf http://www.pewglobal.org/2011/07/21/muslim-western-tensions-persis/1/. 25. Eine gute Darstellung dieser Vorurteile in England mit einer sehr ausführlichen Geschichte der Ritualmordlegende und einer Reihe überzeugender Beweise findet sich in dem brillanten Buch von Anthony Julius, Trials of Diaspora: A History of Anti-Semitism in England (New York: Oxford University Press, 2010). 26. William Shakespeare, Der Kaufmann von Venedig, I. Akt, 3. Szene (dt. von August Wilhelm Schlegel). 27. Christian Wilhelm Dohm, Über die bürgerliche Verbesserung der Juden, Berlin 1781 (Neudruck Hildesheim etc., Olms-Verlag, 1973). 28. Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise. Die Ringparabel leitet sich letztlich von Boccaccio ab. 29. Julius, Trials of the Diaspora, betont die Kontinuität anti-jüdischer Klischees, von denen manche heute als anti-israelische Klischees wieder auftauchen. 30. Thomas Babington Macaulay, Civil Disabilities of the Jews, 1831 [dt. in: ders.: Sind die Juden gleichberechtigt? Übers. von J. Friedländer (Berlin, Philo-Verlag 1922), S. 13–14]. 31. Zitiert in: Julius, Trials of the Diaspora, S. 212–213. 32. Siehe: Julius, Trials of the Diaspora, und die faszinierende Darstellung in: Gertrude Himmelfarb, The Jewish Odyssey of George Eliot (New York: Encounter Books, 2009). 33. George Eliot, Daniel Deronda, übersetzt von Jörg Drewitz (Manesse-Verlag, Zürich 1997) S. 457–458. 34. Ebenda, S. 459. 35. Eliot umgeht den Antisemitismus nicht, wie wir sahen, sie spricht ihn direkt im Titel des letzten und längsten Essay ihres letzten Buchs an: The Impressions of Theophrastus

210  •  Anmerkungen

Such; der Titel des Essays: „The Modern Hep! Hep! Hep!“, womit sie auf die Rufe der Kreuzfahrer anspielt, als sie die Juden niedermachten. 36. Julius, Trials of the Diaspora, S. 207–208. 37. Marguerite de Angeli, Thee, Hannah! (1940; Scottsdale, PA: Herald Press, 2000). 38. Marguerite de Angeli, Bright April (New York: Doubleday, 1947). 39. Man könnte auch darüber klagen, dass April und Miss Cole, ihre Pfadfinder-Führerin, sehr „weiß“ geschildert werden, was aber nicht auf ihre Mutter zutrifft oder auf die Männer in der Familie Bright.

6. Der Fall Park51 1. Andrew Grossman, „For Strippers Near Ground Zero, It’s Business as Usual Amid Mosque Uproar“, Wall Street Journal, 19. August 2010. 2. „Sharif El-Gamal: ‘I Am Going to Do Everything Humanly Possible to Make This Project Happen’“, PBS Frontline, 27. September 2011, http://www.pbs.org/wgbh/pages/ frontline/religion/man-behind-mosque/sharif-el-gamal-i-am-going-to-do-everythinghumanly-possible-to-make-this-project-happen/. 3. Siehe: Aziz Poonawalla und Shahed Amanullah, „We Want to Build Park51 So It Has Something for Everyone“, Altmuslim, 24. Juli 2010, verfügbar auf http://www.altmuslim. com/a/a/n/3866. 4. Ebenda. 5. Siehe: James Fanelli, „Park51 Developer Sharif El-Gamal Has a History of Run-ins with the Law“, New York Daily News, 28. August 2010. 6. Zeyno Baran (Hg.), Understanding Sufism and Its Potential Role in U.S. Policy, Nixon Center Conference Report, Hudson Institute, March 2004, verfügbar auf http://www. hudson.org/files/publications/Understanding _Suffism.pdf. 7. Edward C. Dimock, jr., „Rabindranath Tagore – ‘The Greatest of the Bauls of Bengal’“, Journal of Asian Studies, 19, no. 1 (November 1959), S. 33–51. 8. Siehe: „Imam Feisal Abdul Rauf“, American Society for Muslim Advancement, verfügbar auf http://asmasociety.org/about/b_rauf.html. 9. Feisal Abdul Rauf, „Building on Faith“, New York Times, 7. September 2010. 10. Anne Barnard, „Parsing the Record of Feisal Abdul Rauf“, New York Times, 21. August 2010. 11. Siehe: Michael Rubin, „Who Is Responsible for the Taliban?“, March 2002, verfügbar auf http://www.michaelrubin.org/1220/who-is-responsible-for-the-taliban. 12. Ralph Blumenthal und Sharaf Mowjood, „Muslim Prayers and Renewal Near Ground Zero“, New York Times, 8. Dezember 2009. 13. Justin Elliott, „How the ‘Ground Zero Mosque’ Fear Mongering Began“, Salon, 16. August 2010, verfügbar auf http://www.salon.com/2010/08/16/ground_zero_mosque_origins/. 14. Anne Barnard und Alan Feuer, „Outraged, and Outrageous“, New York Times, 8. Oktober 2010.

Anmerkungen  •  211 

15. Javier C. Hernandez, „Vote Endorses Muslim Center Near Ground Zero“, New York Times, 26. Mai 2010. 16. Bloomberg-Zitat in: Michael Barbaro und Javier C. Hernandez, „Mosque Plan Clears Hurdle in New York“, New York Times, 3. August 2010. 17. Kirk Semple, „Opponent Seeks to Block Construction of Downtown Mosque“, New York Times, 11. Januar 2011. 18. John Bayles, „Park51 Rift Grows, Remarks by New Imam Spark Debate“, Downtown Express 20, no. 38 (2.–8. Februar 2011). 19. New York Times, 9. Dezember 2009. 20. CNN News, 25. Juli 2010. 21. Justin Elliott, „Nadler: Attacks on Mosque ‘Shameful and Divisive’“, Salon, 5. August 2010. 22. New York Times, 4. August 2010. 23. Roger Cohen, „Harvest of Anger“, New York Times, 9. September 2010. 24. New York Times, 13. August 2010. 25. New York Times, 14. August 2010. 26. Siehe: Robert A. Pape, Dying to Win: The Strategic Logic of Suicide Terrorism (New York: Random House, 2005). 27. Rauf, „Building on Faith“. 28. City of Cleburne v. Cleburne Living Center, Inc., 473 U.S. 432 (1985). 29. Church of the Lukumi Babalu Aye v. City of Hialeah (91–948), 508 U.S. 520 (1993). 30. Grossman, „For Strippers Near Ground Zero“. 31. „Justice Stevens on ‘Invidious Prejudice’“, New York Times, 9. November 2010. 32. Für eine erschöpfende Darstellung dieser Ereignisse siehe: Carol Rittner und John K. Roth (Hgg.), Memory Offended: The Auschwitz Convent Controversy (New York: Praeger, 1991), eine Essaysammlung.

Stichwortverzeichnis 9/11-Angriffe 17, 44  f., 50, 156, 158  ff., 182  f., 185  f., 188, 190, 193; siehe auch Ground Zero Abdallah, Noor 18 Aborigines 129 Abscheu 10, 48, 56, 103, 196 Abtreibungsärzte, Mord 183 Abweichler 118 Adhami, Scheich Abdallah 163 Afghanistan 50, 159 Afro-Amerikaner 39, 110, 124, 147, 149  f., 154, 165, 190 f. Agnostizismus 66, 70, 139 Ägypten 189 Akbar 58 f., 158, 196 Albright, Madeleine 159 Alito, Samuel 69 Alkohol 21, 74, 79 f., 87, 107 f. Allgemeine Erklärung der Menschenrechte 60 Al-Qaida 50 f., 174, 183 Altes Testament 91 American Center for Law and Justice 162 American Civil Liberties Union 80 Amerikanische Kolonien 16, 65, 70, 118, 130, 134, 196; siehe auch Vereinigte Staaten Amerikanische Unabhängigkeit 70 ff., 83, 85 Amisch 110, 122, 146 ff. Amisch der Alten Ordnung 74 Anaxarchos 27 Anenzaphalie 62 Anglikaner 65, 84, 128

Angst 12 ff., 27 ff., 58, 68, 74, 87 ff., 92, 94, 101  f., 125  ff., 134  ff., 140, 149, 153  ff., 173, 181, 183, 191 ff., 194 ff. Animalität 40, 56 Anpassung 59, 69 ff., 110, 113, 181 Anti-Defamation League 162, 172, 184 Antisemitismus 12, 17, 23, 127, 135, 139, 144, 150, 168, 186 Araber 53 f., 190 Aristoteles: Nikomachische Ethik; Rhetorik 34 ff., 37, 39, 41, 194 Armani, Giorgio 14 Asch, Solomon 39 Ashoka 58, 195 Aslam, Nadeem 189 Assimilierung 22, 59, 135 f., 141, 144 f., 147 Atheismus 65 f., 70, 82, 139, 141 Athen 88f., 195 Athenische Tragödie 196 Augen 94 ff. Auschwitz 172, 184 f., 187 Austin, J. L. 54 Australien 24, 129 Bangladesch 53, 190 Baptisten 16, 65, 67, 92 Batson, Daniel 124 f. Baul 158 Behinderung 61 f., 99 f., 117, 124, 147, 173, 181 Belgien 13 f., 92 Benedikt XVI. 186 Berlusconi, Silvio 16 Beschäftigung 110

Stichwortverzeichnis  •  213 

Beschneidung 54 Bielefeldt, Heiner 50 Blackmun, Harry 76 Blanshard, Paul: American Freedom and Cath­ olic Power 16, 102 Blindheit 35, 89, 99, 128 Bloom, Paul 125 Bloomberg, Michael 43  f., 160  f., 169, 174, 190, 192 f. Bluttransfusion 108 Bob-Jones-Universität 105 Borghezio, Mario 16 Bösche, Susanne: Jenny lives with Eric and Martin 146 Boudlal, Imane 18 Breivik, Anders Behring 15f., 49 ff., 161, 183 Brennan, William 76 Buchanan, Pat 24 Buddhismus 58, 195 f. Bürger/Staatsbürgerschaft 13  ff., 19, 22  ff., 28 ff., 48, 51, 66 f., 70 ff., 82 ff., 92, 98, 104, 107, 111, 117f., 121, 136, 140, 158, 166, 172 ff., 182, 190, 194 Burka 13 f., 17, 41, 47, 74, 92 ff., 112 ff., 169, 180, 182, 187; siehe auch Kleidung, muslimisches Kopftuch; Niqab Burlington-Coat-Factory-Gebäude 156  f., 160, 167 Bush, George W. 159, 176, 183, 190 Canonicus 129 f. Capriate 14 Chicago 94 ff., 116 China 64 Chinesische Amerikaner 190 Chinmaya-Mission 19 Christen 17, 30, 70, 85, 91, 115, 118, 127, 130  f., 134  ff., 141  ff., 159  f., 177, 183, 186 f. Christentum 91, 134, 141 ff., 183, 186 Christliche Ethik 60, 89 Christliche Kreuze 115 Christian Scientists 108

Chua, Amy 109 Church of the Lukumi Babalu Aye v. City of Hialeah 68 f., 77., 92, 181 Churchill, Winston 196 Citizens for National Security 50, 52 Cleburne, Texas 181 Clinton, William Jefferson 76 Cohen, Roger 172, 192 f. Coke, Sir Edward 127 f. College-Studentenverbindungen 107 Colley, Linda 22 Connecticut, Kolonie 70 Controlled Substances Act 78 f., 80 Cordoba House 159, 177 Córdoba 159 f., 164, 177 Cordoba-Initiative 159 Cosby Show 146, 149 Coutela, Jacques 16 Cromwell, Oliver 134 Cutter v. Wilkinson 77 Dante 56, 64 De Angeli, Marguerite: Bright April; Thee, Hannah! 145 ff., 149, 176 De Waal, Frans 125 Demokratie 12, 16, 28, 65, 69, 76, 80, 89, 101, 173, 189, 194 Deutschland 12, 14, 22, 28, 111, 121, 134, 137 Devlin, Lord 166 Dickens, Charles: Oliver Twist 140 Diskriminierung 15, 21, 28, 34, 52, 80, 95, 115, 119, 168, 189 Disney 18 Disneyland 18 Disraeli, Benjamin 141 Dohm, Christian Wilhelm von: Über die bürgerliche Verbesserung der Juden 135  f., 141 Douglas, William O. 110 Douglasville, Georgia 18 Dreyfus, Alfred 42 Drogen 69, 74, 79 ff., 87

214  •  Stichwortverzeichnis

Duncan, Rex 20 DuPage County, Illinois 18, 179, 181 Egerkinger Komitee 46 f. Einwanderung 22, 24, 46, 51, 59, 93, 96, 118, 196 Elefanten 62, 125 El-Gamal, Sharif 157  f., 160, 163  f., 173, 177 ff., 184 f., 188, 193 Eliot, George: Daniel Deronda; The Impressi­ ons of Theoprastus Such; Brief an Stowe; Ro­ mola 139, 141 ff., 189 f. Ellis Island 24 Ellison, Ralph: Unsichtbar 120, 124, 139, 191 Eltern 62, 83, 105, 108 ff., 113, 125, 145 f., 149, 153 Empathie 124, 175, 187 f.; siehe auch Phantasie, Sympathie Employment Division v. Smith 74 England 22, 54, 66, 92, 127 ff., 130 ff., 139 ff., 145 f., 189, 191 English Defense League 51 Entstellung im Gesicht 99 Equal Employment Opportunity Commission (EEOC) 21 Erster Zionisten-Kongress 29 Erster Zusatz 71 ff. Espoo 15 Etablierte Kirche 59, 84 siehe auch Erster Zusatz Ethik 7, 60, 62, 81, 89 f., 92, 103, 134, 170, 182, 192; siehe auch Moral Ethnische Aussonderung 97 Ethnizität 26, 60, 86, 125 f. Euripides: Bakchen 27 Europa 12 ff., 21 ff., 27 ff., 41 f., 46, 50 f., 59, 65  ff., 80, 82, 85  f., 92, 94  f., 101, 105  f., 111 f., 114, 117 f., 122, 127 ff., 133 ff., 140, 145, 160, 170, 174, 176, 180 ff., 187, 195 ff. Europäische Union (EU) 46, 118 Evangelien 89  ff., 113; siehe auch Jesus Christus; Neues Testament Evolution 32, 34 f., 38, 140

Familie 105 ff. Fatal Attraction 29 FBI 17, 19, 53 f., 111, 160 Eidgenössisch-Demokratische Union (EDU) 46 Feminismus 47, 49, 101 Finnland 15, 22 f., 84 Flughafen-Sicherheitskontrolle 17  f., 43  f., 96, 192 Forster, E. M. 189 Fox News 161, 164 Foxman, Abraham 162, 171, 184, 187 Frankreich 13 f., 22, 92, 114 f., 134 Fraternal Order of Police v. City of Newark 69, 77 Frauen 14 f., 18, 27, 36, 39 ff., 46 ff., 60, 64, 73, 94 ff., 100 ff., 121, 123, 165, 194, 196 Freeman, Sultaana 96 Freiheit 12, 14, 24, 27, 46 ff., 63 ff., 69 ff., 76, 78, 80  ff., 91, 93, 95, 97, 101  ff., 112  f., 116 ff., 123, 150, 170, 172, 174, 180, 192, 195; siehe auch Religion Freiheitsstatue 24 Freundschaft; 15, 37, 98, 103, 114, 121, 127 ff., 131, 138, 142 ff., 150, 153 ff., 163, 168, 172, 177, 187, 189 f., 192 f., 196; siehe auch Beziehung Frieden 11, 65  f., 70, 73, 77, 82  f., 87, 150, 160, 172, 179; siehe auch Sicherheit Friedman, Thomas 169 ff. Front National (FN), Frankreich 16 Führerschein-Foto 95 f. Funktion, Beeinträchtigung der 108 f. Gabriel, Brigitte 54, 161 Gandhi, Mohandas 24, 49 Gang Congregation Ordinance 97 Gefahr 16, 25, 27, 31 ff., 48, 56, 62, 64, 119 f., 124, 147, 166, 168, 172, 175, 182, 188, 192; siehe auch Sicherheit Gefängnisse 77 Gefühle 15, 25, 27, 31 ff., 48, 56, 62, 64, 119 f., 124, 147, 166, 168, 172, 175, 182, 188, 192

Stichwortverzeichnis  •  215 

Gehirn 31, 55 Geller, Pamela 50, 53 ff., 161 f., 173 Genitalverstümmelung 108 Genua 15 Georgetown University 105 Georgia 18 Gerechtigkeit 59, 64, 71, 79  f., 116, 125, 149 f., 168 f. German, Mike 54 Gesetz 13 ff., 19 ff., 24 f., 32 f., 47, 59, 65 ff., 68  f., 71  ff., 90, 92  f., 97  ff., 102, 106  f., 109  ff., 127, 129, 134, 136, 140, 142, 146, 162  f., 166  f., 170  f., 180  ff., 186, 197; siehe auch zwingendes staatliches Interesse Gesundheit 15, 35 f., 45, 64, 68, 83, 87, 92, 102, 108, 112 ff. Gewalt 12, 16 f., 28, 30, 39, 51 f., 106, 108, 170, 177, 186 Gewissen 12, 58 ff., 91, 93, 104, 113, 122 f., 148 f., 185 Gilman, Sander 40 Gingrich, Newt 161, 171 ff., 180 Gleichheit 12, 24, 28, 44, 59 f., 62, 64 ff., 71, 77 f., 81, 84, 86, 119, 142, 181 f., 196 f. Godse, Nathuram 49 f. Goedsche, Hermann: Biarritz 28 Gonzales v. O Centro Espírita Beneficente União Do Vegetal 77, 79 Gott 60 Gowdy, Barbara: The White Bone 62 Graham, Billy 176 Graham, Franklin 176 Ground Zero 53, 156 f., 162 ff., 171 f., 179, 182, 185; siehe auch 9/11-Angriffe Hamas 159 Hanson, C. Lee 161 f. Hass 49, 53, 57, 103 f., 110, 136, 157, 167 f., 173, 175, 177 ff., 192 f. Heidentum 70, 128, 131 ff. Heilige Schrift der Juden 136 Helsinki 15

Herodot 196 Heterogenität 16, 21 Heuchelei 29; siehe auch Konsequenz/Inkonsequenz Hialeah, Florida; 68, 79, 92, 182; siehe auch Church of the Lukumi Babalu Aye v. City of Hialeah Hijab 18 Himmelfarb, Gertrude 144 Hindus 17, 19, 24, 39, 50, 58, 105, 117, 158, 179, 195 HIV/AIDS 109 Hoasca 77 Hobsbawm, Eric 22 Hollander, Anne 40 Holocaust 184 ff. Holocaust-Museum 173 Holyland Foundation 52 Homogenität 15, 21 ff., 25, 87, 114, 123, 171, 193 Homosexualität 40, 146, 163 Hughes, Karen 159 Hunde 125 Huq, Aziz 9, 20, 52, 189 Hurrikan Irene 43 f. Hüte, Absetzen 72 Indien 24, 39, 45, 53, 65, 112, 158, 171, 173, 189, 190, 195 f. Indische Verfassung 105 Indonesien 53, 173, 189 f. Ingraham, Laura 160 f. Inkonsequenz 89, 91, 96, 102f., 105, 108, 113, 183 f., 187 Innere Augen 13, 58, 120 ff., 127, 137, 139, 155, 187, 190 f., 196; siehe Phantasie Invasion of the Body Snatchers 30 Irak 50, 159 Islam 15 ff., 30, 44 ff., 73, 92, 95, 101, 104, 117, 127, 135, 158 ff., 164 f., 167, 172 ff., 183, 186, 188 ff., 193; siehe auch Scharia Islamic Center of America 19 Islamophobie 127, 175

216  •  Stichwortverzeichnis

Israel 10, 145 Italien 13 f., 92 Jesus Christus 70, 91, 185 Johannes Paul II. 184 Joyce, James 108 Juden 12, 16 f., 22, 27 ff., 30, 39 ff., 47, 59, 65, 67, 70, 72, 84, 86, 91, 93, 104, 110, 127, 134  ff., 147, 149  f., 159  f., 177, 184  ff., 189  ff., 195; siehe auch Antisemitismus; Protokolle der Weisen von Zion Jüdische Kongregation in Newport 66 Jüdisches Gemeindezentrum 157, 160 Julius, Anthony: Trials of the Diaspora 139, 143 Kabir 158 Kakar, Sudhir 39 Kalevala 23 Kalidasa: Megadhuta 196 Kalter Krieg 16, 30, 148 Kanada 24 Kant, Immanuel 60 f., 90 ff. 113, 119, 121 Kantianisch-christliche Perspektive 135, 197 Kantianismus 61, 64, 140 Karl I. 128 Karmeliter-Nonnen 184 f., 187 Kaskaden 39, 42 Katholiken 13 Katholische Kirche 184 ff. Katholische Universitäten 105 Kebab-Läden 114 f. Kennedy, Anthony 25, 68 Ketzer 16, 118 Khan, Daisy 159 f., 173, 178 Khan, Rukhsana: Muslims in Children’s Books 189 Khan, Usma Aslan 189 Kinder 15, 24, 36,74, 83, 99, 104, 108 ff., 123, 125, 129, 135, 145 ff., 159, 179, 189, 193 King, Martin Luther, jr. 119 King, Peter 51 f.

Kleidung 12 ff., 21 f., 25, 31, 40, 47, 50, 85, 94 ff., 101 ff., 112 ff., 122, 135, 138, 145, 148 ff., 152 f., 180, 192; siehe auch Burka; muslimisches Kopftuch; Niqab Kognitive Fähigkeiten 64 Kohlmann, Anthony 72 Kolbe, Maximilian 185 Koma 62, 64 Konsequenz 116, 182 Kontrollen 43, 78, 96, 192 Koran 69, 135 Körper 32  ff., 39  ff., 55  f., 95, 99, 112  f., 153 f., 158 Korsgaard, Christine 61 Kosovo 14, 47 Kreuzzüge 12, 137 Ku-Klux-Klan 52, 104, 183, 192 Kubanische Einwanderer 68 Kultur 12 ff., 25, 28 f., 34, 53 ff., 93, 98 f., 101 f., 117 f., 141, 145, 159 f., 170, 180, 194 f. Kuran, Timur 39 Lagaan 189 Laïcité 86, 114 ff.; siehe Frankreich und laïcité Lanzmann, Claude: Shoah 185 Lazarus, Emma 24 LeDoux, Joseph 31 f. Lega Nord (Italien) 15 f. Lessing, Gotthold Ephraim: Die Juden; Nathan der Weise 134, 137, 145 Liebe 10, 23, 56  f., 62, 130  ff., 140  ff., 158, 167 Lincoln, Abraham 119 Literatur 137, 139, 146 Locke, John 65, 67  ff., 85  ff., 92, 110, 113, 168, 181 f. Loughner, Jared Lee 49 Lower Manhattan 156 ff., 177 f., 181 Lucca 15 Lutherische Kirche 84 Macaulay, Thomas Babington 140, 144 Machfus, Nagib 189

Stichwortverzeichnis  •  217 

Madison, James 84 Männliche Beschneidung 41, 108 Maritain, Jacques 60 Marshall, Thurgood 76 Martell, Karl 16 Massachusetts Bay Colony 128, 130 Massasoit 130 Matthäus-Evangelium 90 f., 113 Mazedonisch-orthodoxe Kirche 19 McCarthy-Ära 30, 54 Medien 50 f., 54 ff., 101, 145, 161, 193 Mehrheit 12, 17, 22, 28 f., 41, 59, 66, 69 f., 75 ff., 79 ff., 87, 92, 113 f., 118, 122, 136 f., 144, 168, 171, 179 f., 182 Mendelssohn, Moses 136 Mennoniten 16, 65, 70, 72 f., 84, 122, 146 Menschen, als Zweck, nicht als Mittel 60 Menschenrechte 40, 60, 62, 104, 195 Menschenrechtsbewegung 60 Miantonomi 130 Michigan 19 Militärdienst 17, 67 ff., 80 f. Miliz-Bewegung 16, 183 Mill, John Stuart: Utilitarismus 32 ff., 37, 56, 166, 187 Milton, John: Eikonoklastes 128 Minarette 13 f., 18, 21, 45 ff., 180 Minderheit 12 f., 16, 24 f., 27 f., 33, 41, 58 f., 65 ff., 76 f., 84 ff., 106, 109, 118 f., 123 f., 127, 132, 137, 146 f. Mirza, Mansoor 175 f. Mitleid 32, 56, 87 ff., 103, 126, 195 Mogulreich 58 Moral 33  ff., 56, 59, 61, 74, 85, 90  f. 101. 104 f., 125, 134, 139, 143, 168, 171, 173, 179, 184, 187 f.; siehe auch Ethik Mormonen 12, 16, 27, 102, 147, 196 Moscheen 14, 16, 18 f., 45, 52, 92, 136, 157, 179, 186 Mosse, George 22 Mueenuddin, Daniyal 189 Murdoch, Iris: Der schwarze Prinz 56f. Murfreesboro, Tennessee 19, 179

Muslim-Bruderschaft 52 Muslime 14 f., 17 f., 20 f., 24, 39, 44 f., 47 ff., 52  ff., 59, 65, 70, 79, 92, 97, 105, 127, 135 ff., 156 ff. Nackttanzen 107 Nadler, Jerrold 162, 169 f. Naher Osten 53, 95, 191 Naperville, Illinois 18 f. Narragansett-Indianer 127 ff. Narzissmus 55, 103, 113, 124  f., 142, 155, 188 Nationale Identität 21 ff., 123 Nativismus 12, 16, 24, 26 Nazis 165, 168, 173 Nehru, Jawaharlal 24 Neonazis 45, 51, 104 Neues Testament 134; siehe auch Evan­ gelien Neugier 28, 30, 56, 87, 102, 117, 121, 128, 131, 135, 142 f., 154 f., 187, 190, 196 f. Neurowissenschaft 42 Neuseeland 24 Neutralität 46, 65, 77, 113; siehe auch Locke, John New Jersey 68 New York 43 f., 111, 149, 156 ff., 166, 169 ff., 178 f., 184, 188, 190 ff. New-York-City-Busse 162 Niederlande 14, 92 f. Niqab 13, 94 ff., 98 Nonne und Priester, Bekleidung 14, 102, 116, 182 Norwegen 45, 49 f., 55 O’Connor, Sandra Day 75 Obama, Barack Hussein 161 f., 174 f. Oberster Gerichtshof der USA 13, 25, 73, 104, 107, 181 Objektivierung 100 f., 114 Oklahoma 19 ff., 25 Oklahoma-Explosionen 16, 51 f., 183 Oregon 74 f., 79

218  •  Stichwortverzeichnis

Osama Bin Laden 159 Oslo 15 Osmanisches Reich 59 Österreich 139 Paladino, Carl 162 Palin, Sarah 161, 169, 171 f., 182, 188 Park51 156 ff. Pazifismus 147 Pequot-Indianer 130 Peretz, Marty 171, 173 f., 180 Perspektivisches Denken 31, 125 Peyote 74 f., 78 ff. Phantasie 27  f., 33, 35  f., 40  f., 44, 56, 87, 120 ff., 135, 137, 139, 141 ff., 151, 153 ff., 166 ff., 175, 187 f., 190 f., 193, 196; siehe auch Empathie Pharisäer 91 Phillips, Jonas 72 Pius XII. 184, 186 Platon: Euthyphron; Laches 88 Pluralismus 16, 65, 189 Polen 184 Polygamie 102 Pornographie 101 Primaten 125 Privatunterricht 119 Protestantismus 23, 72, 195 Protokolle der Weisen von Zion 28, 41, 135 Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlore­ nen Zeit 42 Providence, Rhode Island 129 Puritaner 65 Pyrrhon 27 Quäker 16, 65, 70 ff., 84, 122, 147 ff. Quine, W. V. O. 54 Raasepori 15 Rasse 14, 22, 126, 149, 153 Rassische Trennung 106 Rassismus 105, 149 Rationale Angst 43

Rauf, Feisal Abdul: What’s Right with Islam is What’s Right with America 158 ff., 163 f., 173, 178 f., 180, 185 Rawls, John 61, 64 Rede des Rabbi 28 Regierung 16, 42, 62, 65 ff., 73, 75, 77 f., 83, 89, 93, 104  ff., 108, 115, 117, 159, 169, 174, 184, 195 Reid, Harry 17, 171 f. Religion gegen Nicht-Religion 115 Religion 12, 19 ff., 25 f., 31, 44, 53, 62, 65 ff., 71, 73  f., 77, 80  ff., 91  ff., 96, 101  ff., 113 ff., 122, 125 f., 133 f., 137 ff., 141, 149, 156, 158, 162, 164, 169 f., 174 f., 182 ff., 195 f.; siehe auch Religionsfreiheit Religionsfreiheit 50, 64 f., 69 ff., 87, 97, 103, 109, 112, 127, 155, 168, 172 ff., 182, 193 Religiöse Abweichler 127 Religiöses Establishment 84 ff. Religious Freedom Restoration Act (RFRA) 76 Religious Land Use and Institutionalized Persons Act (RLUIPA) 77 Remarque, Erich Maria: Im Westen nichts Neues 33f., 55 Respekt 13 f., 47, 58 ff., 64, 70, 82, 85, 98, 103, 111, 113, 117  ff., 120  ff., 123, 126, 132, 135, 154, 164, 175, 182, 189, 192, 195 ff. Rhetorik 27, 34, 36, 42, 45, 48, 52, 56, 119, 157 Rhode Island 16, 69 f., 127, 129 f. Rice, Condoleezza 159 Robb, Graham 22 Roberts, John 78, 181 Robertson, Pat 176 Robinson, Jenefer 32 Romantik 21, 23, 86 Rosenberger v. Rector and Visitors of the University of Virginia 115 Rothschild, Familie 41 Rothschild, Lionel de 141 Rushdie, Salman 171 Russland 14, 23, 29, 134

Stichwortverzeichnis  •  219 

Sadismus 124 Sadleir, Anne 127 f. Säkularismus 82, 115, 117 SanterÍa-Religion 25, 68, 92, 181 Sarkozy, Nicolas 100 Saudi-Arabien 159, 173, 178 Scalia, Antonin 25, 68, 75 f., 77, 79f., 92, 110, 113, 181 Scharia 16, 19 ff., 47, 92; siehe auch Islam Schönheitsoperationen 114 Schreckhaftigkeit 32 f., 40, 43 Schulhofer, Stephen 52 Schweiz 14, 18, 21, 45 ff., 56, 180 Schweizer Volkspartei 46 Scott, Joan 117 Selbsterforschtes Leben 37, 119, 194 Selbstsüchtigkeit 57, 87, 90 ff., 120, 197 Seneca 63 Seth, Vikram 189 Sexualität 22, 101, 114, 117 Shakespeare, William: Der Kaufmann von Venedig 135, 139, 143 Shamsie, Kamila 189 Sherbert v. Verner 73 ff., 79 f., Sibelius, Jean 23 Sicherheit 82  f., 93  ff., 105, 108, 117, 125, 135, 167, 180; siehe auch Frieden Sikhs 17 Sinne 33, 39 Skokie, Illinois 104 Smith, Al 74 ff. SoHo Properties 157 Sokrates 13, 37, 88 ff., 113, 194 ff. Sokratisch-kantianisches Argument 140, 197 Southern Poverty Law Center 53 Southwest Airlines 17 f. Spanien 14, 92, 112, 134, 160 Spencer, Robert: The Truth about Mohammed 50, 53 f., 161 Sri Lanka 176 Staaten 21, 82, 178, 189, 195 Stadt Boerne v. Flores 77

Stein, Edith 185 Stevens, John Paul 182 Stigmatisierung 99, 106, 110, 154, 192 Stöckelschuhe 112, 114 Stockham, Roger 19 Stoiker 60 f., 63 f. Stop Islamisation of Europe (SIOE) 51 Stop the Islamization of America 53, 161 Stowe, Harriet Beecher 141 Strafprozesse 126, 188 Straw, Jack 93 Substantielle Bürde 73, 105, 109, 112, 123 Südafrika 24 Südasien 191 Südeuropa 16 Sufismus 158, 164, 173 Sympathie 28, 87, 124, 126, 135, 143 ff., 151, 154; siehe auch Empathie Tagore, Rabindranath 158 Taliban 159 Tamil Tigers 176 Tea Party 162 Tennessee 21, 179 Terrorismus 50 f., 94 f., 156, 173 Thukydides: Geschichte des Peloponnesischen Krieges 36 Tiere 31 f., 89, 56, 61 f., 92, 125, 129, 154 Time Magazine 175 f. Tolerierung 66, 195 Tourette-Syndrom 99 f. Transparenz 93 f., 98, 114 Transportation Security Administration (TSA) 17 Trauer 32, 55, 62, 156 Trennung von Staat und Kirche 115 Trittbrettfahrer 90 Türkei 47, 106, 112 Turner, Bob 163 Tyler, Tom 52 Überleben 20, 31 f., 34, 36, 42, 55, 85 Ungerechtigkeit 25, 35, 42, 71, 90

220  •  Stichwortverzeichnis

Universität Virginia 82, 115 Unparteilichkeit 56, 82, 88 Ureinwohner Amerikas 66, 70, 74, 78, 81, 128 ff., 134, 196 USA 16 ff., 25 ff., 40, 43 f., 50, 52 f., 59, 67 f., 73  f., 82, 86, 92, 94  f., 97, 104, 106  f., 111  f., 119, 121, 159, 161, 164, 169  f., 172 f., 175 f., 178, 180 ff., 186, 189 ff., 197; siehe auch amerikanische Kolonien US-Armee 17 US-Kongress 71, 76 ff., 156, 162, 172 US-Verfassung 20, 25, 47, 65, 71, 107, 173; siehe auch Erster Zusatz Verdonk, Rita 93 Verfügbarkeitsheuristik 38, 41, 43 f., 48, 50 Vergewaltigung 63 f. Vergiftung 38, 40, 44 Verletzlichkeit 60, 63 f., 78, 85 Verstand 120 Versteck 30, 35, 42, 48 Vietnamkrieg 81 Virginia Assessment Bill 84 Vorurteil 12 f., 16 f., 21, 38 f., 50, 61, 68 f., 117, 119, 135 ff., 141, 143, 150 f., 154, 183 Wallace, George 193 Wangen bei Olten (Minarett) 45 f. Washington, George 66, 71 f., 147, 174, 195 Weibliche Genitalbeschneidung 108 Weiner, Anthony 163

Weprin, David 163 Werktage 79 West Chicago, Illinois 18 West, Allen 52 Westbengalen 158 Wahabiten 186 White, Patrick: Voss 25 Whitman, Walt 171, 197 Williams, Roger: The Bloudy Tenent of Perse­ cution; A Key into the Language of America 16, 63, 69  ff., 82, 85, 87, 91, 103, 121, 127 ff., 139, 145, 147, 154, 168 Wilowbrook, Illinois 18 f. Wisconsin v. Yoder 74 Wolf, Arnold Jacob 9 Wright, George 17 Würde 59 ff., 86, 91, 104, 124, 129, 167 Yarmulke 115 YMCA 177 Zentrale menschliche Fähigkeiten 83, 110 Zeugen Jehovas 12, 17, 27 f., 108, 147, 196 Zionismus 144, 145 Zizit 122 Zola, Emile 42 Zorn 113, 133 Zweiter Weltkrieg 23, 54, 148 Zwingendes öffentliches Interesse 83, 105, 123 Zwingendes staatliches Interesse 73  ff., 78, 80, 83, 96, 104, 109 ff., 116