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German Pages [2032] Year 2020
Dominik von Roth / Ulrike Roesler (Hg.)
Die Neudeutsche Schule Phänomen und Geschichte Quellen und Kommentare zu einer zentralen musikästhetischen Kontroverse des 19. Jahrhunderts
Dominik von Roth / Ulrike Roesler (Hg.)
Die Neudeutsche Schule – Phänomen und Geschichte
Dominik von Roth / Ulrike Roesler (Hg.)
Die Neudeutsche Schule – Phänomen und Geschichte Quellen und Kommentare zu einer zentralen musikästhetischen Kontroverse des 19. Jahrhunderts Auf der Grundlage von Vorarbeiten von Detlef Altenburg und unter Mitarbeit von Daniel Ortuño-Stühring, Florian Schuck, Ruth Seehaber und Katharina Steinbeck Mit einer Einleitung von James Deaville
Die Herausgeber Dominik von Roth war Wissenschaftlicher Mitarbeiter, seit 2017 Projektleiter, im DFG-Projekt „Die Neudeutsche Schule“ an der Hochschule für Musik FRANZ LISZT Weimar und ist jetzt Projektkoordinator am Germanischen Nationalmuseum. Ulrike Roesler war Mitarbeiterin im DFG-Projekt „Die Neudeutsche Schule“ und ist nun Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Musikwissenschaft der HfM Weimar im DFG-Projekt „Das Liszt-Bild in der zeitgenössischen Musikpublizistik“.
ISBN 978-3-476-04922-3 (Metzler) ISBN 978-3-7618-2097-1 (Bärenreiter) ISBN 978-3-476-04923-0 (eBook) https://doi.org/10.1007/978-3-476-04923-0 Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. J. B. Metzler © Springer-Verlag GmbH Deutschland, ein Teil von Springer Nature 2020 Gemeinschaftsausgabe der Verlage J. B. Metzler, Berlin, und Bärenreiter, Kassel Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung, die nicht ausdrücklich vom Urheberrechtsgesetz zugelassen ist, bedarf der vorherigen Zustimmung der Verlage. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Bearbeitungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Die Wiedergabe von allgemein beschreibenden Bezeichnungen, Marken, Unternehmensnamen etc. in diesem Werk bedeutet nicht, dass diese frei durch jedermann benutzt werden dürfen. Die Berechtigung zur Benutzung unterliegt, auch ohne gesonderten Hinweis hierzu, den Regeln des Markenrechts. Die Rechte des jeweiligen Zeicheninhabers sind zu beachten. Die Verlage, die Autoren und die Herausgeber gehen davon aus, dass die Angaben und Informationen in diesem Werk zum Zeitpunkt der Veröffentlichung vollständig und korrekt sind. Weder die Verlage, noch die Autoren oder die Herausgeber übernehmen, ausdrücklich oder implizit, Gewähr für den Inhalt des Werkes, etwaige Fehler oder Äußerungen. Die Verlage bleiben im Hinblick auf geografische Zuordnungen und Gebietsbezeichnungen in veröffentlichten Karten und Institutionsadressen neutral. Einbandgestaltung: Finken & Bumiller, Stuttgart www.metzlerverlag.de www.baerenreiter.com J. B. Metzler ist ein Imprint der eingetragenen Gesellschaft Springer-Verlag GmbH, DE und ist ein Teil von Springer Nature Die Anschrift der Gesellschaft ist: Heidelberger Platz 3, 14197 Berlin, Germany
Inhaltsverzeichnis
Vorwort XV
Editionsrichtlinien XVII
Abkürzungsverzeichnis XX
Einleitung XXI
Anfänge der Kontroverse
1
Die Jahre 1845 bis 1847 Nr. 1
Franz Brendel, „Zur Einleitung“, in: NZfM (1845) 9
Nr. 2
Johann Christian Lobe, „Einige Gedanken über malende Instrumentalmusik“, in: NZfM (1845)
30
Nr. 3
Julius Becker, „Partituren. Hector Berlioz, Ouverture zu König Lear“, in: NZfM (1845) 37
Nr. 4
Franz Brendel, „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper. Dritter Artikel“, in: NZfM (1846) 47
Nr. 5
Franz Brendel, „Polemische Blätter. Aphorismen“, in: NZfM (1846) 59
Nr. 6
Louise Otto, „Parteien – Cliquen“, in: NZfM (1847) 68
Die Auseinandersetzung um eine gesellschaftlich-engagierte Musik in der deutschsprachigen Musikpublizistik
73
Die Jahre 1848 bis 1849 Nr. 7
Johann Christian Lobe, „Fortschritt“, in: AmZ (1848)
78
Nr. 8
Franz Brendel, „Fragen der Zeit. II“, in: NZfM (1848) 94
Nr. 9
Adolf Bernhard Marx, „Der Ruf unserer Zeit an die Musiker“, in: Neue Berliner Musikzeitung (1848) 101
Nr. 10 Eduard Krüger, „Beziehungen zwischen Kunst und Politik“, in: AmZ (1848) 133 Nr. 11 Carl Kretschmann, „Romantik in der Musik“, in: NZfM (1848) 141
VI
Inhaltsverzeichnis
Nr. 12 Emanuel Klitzsch, „Beziehungen zwischen Kunst und Politik“, in: NZfM (1848) 159 Nr. 13 Jean Friedrich Schucht, „Der überwundene Standpunkt in der Tonkunst“, in: AmZ (1848) 164 Nr. 14 Franz Brendel, „Fragen der Zeit. III“, in: NZfM (1848) 168 Nr. 15 Julius Becker, „Der deutsche Musikfortschritts-Verein in Kuhschnappel“, in: Signale (1848) 177 Nr. 16 Fr. S., „Parteiung auf dem Gebiete der Tonkunst“, in: AmZ (1848) 181 Nr. 17 Franz Brendel, „Fragen der Zeit. IV. Der Fortschritt“, in: NZfM (1848) 185 Nr. 18 Reorganista, „An den deutschen Musikfortschritts-Verein in Kuhschnappel“, in: Signale (1849) 194
Phase der Ernüchterung und Neuorientierung 199 Die Jahre 1850 bis 1851 Nr. 19 Franz Brendel, „Einige Worte über Malerei in der Tonkunst“, in: NZfM (1850) 207 Nr. 20 Ludwig Bischoff, „TU hoc intrivisti: tibi omne est exedendum“, in: Rheinische Musik-Zeitung (1850) 217 Nr. 21 Theodor Uhlig, „Drei Tage in Weimar. Das Herderfest. ‚Lohengrin‘“, in: NZfM (1850) 226 Nr. 22 Anonym, „Franz Liszt in Weimar“, in: Rheinische Musik-Zeitung (1850) 237 Nr. 23 Henry Fothergill Chorley, „Music at Weimar“, in: The Athenæum (1850) 240 Nr. 24 Ludwig Bischoff, „Plastische Musik“, in: Rheinische Musik-Zeitung (1851) 247 Nr. 25 Franz Brendel, „Einige Worte über Richard Wagner“, in: NZfM (1851) 252 Nr. 26 August Ferdinand Riccius, „Musikalischer Dilettantismus“, in: Die Grenzboten (1851) 258
Inhaltsverzeichnis
VII
Die Konsolidierung der ‚Fortschrittspartei‘ 267 Die Jahre 1852 bis 1853 Nr. 27 Franz Brendel, „Zum neuen Jahr“, in: NZfM (1852) 276 Nr. 28 Franz Brendel, „Ein Ausflug nach Weimar“, in: NZfM (1852) 283 Nr. 29 Richard Wagner, „Ein Brief an den Redacteur der Neuen Zeitschrift für Musik“, in: NZfM (1852) 291 Nr. 30 Johann Christian Lobe, „Einundvierzigster Brief. Richard Wagner“, in: Musikalische Briefe (1852) 303 Nr. 31 Julius Schaeffer, „Über Richard Wagner’s Lohengrin, mit Bezug auf seine Schrift: ‚Oper und Drama‘“, in: Neue Berliner Musikzeitung (1852) 314 Nr. 32 Ludwig Bischoff, „An unsere Leser“, in: Rheinische Musik-Zeitung (1852) 329 Nr. 33 V. B., „Das Musikfest in Ballenstädt, unter Leitung Dr. Franz Liszt’s“, in: Rheinische Musik-Zeitung (1852) 335 Nr. 34 Anonym, „Das Musikfest zu Ballenstedt“, in: Die Grenzboten (1852) 342 Nr. 35 Theodor Hagen, „Einige Worte über die Neunte Symphonie von Beethoven und Richard Wagner’s Lohengrin“, in: Süddeutsche Musik-Zeitung (1852) 348 Nr. 36 Jean Friedrich Schucht, „Ueber das tonkünstlerische Schaffen“, in: Rheinische Musik-Zeitung (1852) 356 Nr. 37 Franz Brendel, „Ein dritter Ausflug nach Weimar“, in: NZfM (1852) 362 Nr. 38 Johann Christian Lobe, „Liszt und Berlioz in Weimar“, in: Fliegende Blätter für Musik (1853) 381 Nr. 39 J. E., „R. Wagner als Dichter und Musiker. ‚Tannhäuser‘ in Frankfurt a. M.“, in: Süddeutsche Musik-Zeitung (1853) 385 Nr. 40 Henry Fothergill Chorley, „Schumann and Wagner“, in: Dwight’s Journal (1853) 393 Nr. 41 Joachim Raff, „An die Redaction der Neuen Zeitschrift für Musik“, in: NZfM (1853) 400 Nr. 42 Franz Brendel, „Die bisherige Sonderkunst und das Kunstwerk der Zukunft“, in: NZfM (1853) 409 Nr. 43 Johann Christian Lobe, „Hektor Berlioz“, in: Fliegende Blätter für Musik (1853) 445
VIII
Inhaltsverzeichnis
Nr. 44 Hoplit [Richard Pohl], „Die Rheinische Musikzeitung in der Schulprüfung“, in: NZfM (1853) 468 Nr. 45 Joachim Raff, „Vertrauliche Briefe an den Verfasser des Aufsatzes ‚Tannhäuser, Oper von Richard Wagner‘ in den ‚Grenzboten‘“, in: NZfM (1853) 476 Nr. 46 Hoplit [Richard Pohl], „Ein Blick nach dem ‚fernen Westen‘“, in: NZfM (1853) 488 Nr. 47 Anonym, „Kunst und Kunststil“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1853) 498 Nr. 48 Anonym, „Franz Liszt“, in: Rheinische Musik-Zeitung (1853) 511
Neue Protagonisten und die Zuspitzung der Kontroverse 517 Die Jahre 1853 bis 1854 Nr. 49 Robert Schumann, „Neue Bahnen“, in: NZfM (1853) 526 Nr. 50 Ferdinand Hiller, „Das karlsruher Musikfest am 3. bis 5. October“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1853) 533 Nr. 51 Richard Pohl, „Briefe aus Carlsruhe“, in: NZfM (1853) 541 Nr. 52 H–l., „Musikalische Charakteristiken. V. Moderne Kunstbestrebungen“, in: Neue Wiener Musik-Zeitung (1853) 553 Nr. 53 12., „Hannover, 16. November“, in: Rheinische Musik-Zeitung (1853) 562 Nr. 54 Peltast [Hans von Bülow], „Die Opposition in Süddeutschland“, in: NZfM (1853) 567 Nr. 55 Otto Jahn, „Hector Berlioz in Leipzig“, in: Die Grenzboten (1853) 596 Nr. 56 Peter Cornelius, „Eine Kunstfahrt nach Leipzig“, in: Berliner Musik-Zeitung Echo (1854) 609 Nr. 57 Ludwig Bischoff, „Nichts Neues“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1854) 621 Nr. 58 Anonym, „Neueste musikalische Literatur“, in: Die Grenzboten (1854) 628 Nr. 59 Anonym, „Our Wagnerism“, in: Dwight’s Journal (1854) 636 Nr. 60 J. B., „Die Opposition Süddeutschlands“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1854) 644
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IX
Nr. 61 Johann Christian Lobe, „Neue Bahnen“, in: Rheinische Musik-Zeitung (1854) 647 Nr. 62 Anonym, „Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik“, in: NZfM (1854) 651 Nr. 63 Anonym, „Richard Wagner“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1854) 669 Nr. 64 Anonym, „Aus Weimar“, in: NZfM (1854) 680 Nr. 65 Franz Liszt, „Weber’s Euryanthe“, in: NZfM (1854) 687 Nr. 66 DIXI [Eduard Krüger], „Heutige Kunstzustände“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1854) 697 Nr. 67 DIXI [Eduard Krüger], „Zöpfe und Coterieen“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1854) 707 Nr. 68 Hoplit [Richard Pohl], „Betrachtungen über die Musik der Gegenwart und die Gesammtkunst der Zukunft von Franz Brendel“, in: NZfM (1854) 713
Die Manifestierung des Fortschritts 757 Die Jahre 1855 bis 1856 Nr. 69 Peter Cornelius, „Concertmusik. Clavierauszüge zu vier Händen. Richard Würst, Op. 21“, in: NZfM (1854) 768 Nr. 70 Ferdinand Gleich, „Betrachtungen über Orchestration und Tonmalerei“, in: Rheinische Musik-Zeitung (1855) 775 Nr. 71 Anonym, „Moderne Kritik“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1855) 790 Nr. 72 Franz Brendel, „Dr. Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen“, in: NZfM (1855) 797 Nr. 73 Ludwig Bischoff, „Eduard Hanslick“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1855) 824 Nr. 74 Eduard Krüger, „Sonderliche Gedanken über die letzten Zeiten“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1855) 848 Nr. 75 James William Davison, [o. T., „Richard Wagner“], in: Musical World (1855) 862 Nr. 76 Franz Liszt, „Berlioz und seine Haroldsymphonie“, in: NZfM (1855) 873 Nr. 77 14., „Wagner’s Tannhäuser im Hoftheater in München“, in: Rheinische Musik-Zeitung (1855) 934
X
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Nr. 78 R. K., „Zeitgemäße Betrachtungen“, in: NZfM (1855) 943 Nr. 79 Eduard Krüger, „Marx und Brendel“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1855) 950 Nr. 80 Franz Liszt, „Marx: Die Musik im neunzehnten Jahrhundert“, in: NZfM (1855) 973 Nr. 81 Hoplit [Richard Pohl], „Johannes Brahms“, in: NZfM (1855) 995 Nr. 82 Gustav Engel, „Berliner Briefe. (Das Liszt-Concert.)“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1855) 1012 Nr. 83 Robert Zimmermann, „A. W. Ambros, Ueber die Gränzen der Musik und Poesie“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1855) 1023 Nr. 84 DIXI [Eduard Krüger], „Liszt ‚An die Künstler‘“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1855) 1034 Nr. 85 A. de Corvin, „Orphée et Prométhée par F. Liszt“, in: RGMP (1855) 1042 Nr. 86 Franz Brendel, „Programmmusik“, in: Anregungen (1856) 1053 Nr. 87 Felix Draeseke, „Richard Wagner, der Componist“, in: NZfM (1856) 1065 Nr. 88 Hoplit [Richard Pohl], „Vertrauliche Briefe aus Weimar“, in: NZfM (1856) 1091 Nr. 89 Leopold Alexander Zellner, „Musikalische Wochenlese“, in: Blätter für Musik, Theater und Kunst (1856) 1103 Nr. 90 Richard Pohl, „Hector Berlioz und seine künstlerische Stellung zur Gegenwart“, in: Anregungen (1856) 1111 Nr. 91 Leopold Alexander Zellner, „Aus der neuern Musikliteratur“, in: Blätter für Musik (1856) 1136 Nr. 92 James William Davison, [o. T., „Robert Schumann“], in: Musical World (1856) 1146 Nr. 93 Johann Christian Lobe, „Ein neuer Prophet der Zukunft“, in: Fliegende Blätter für Musik (1856) 1152 Nr. 94 Louise Otto, „Das Ewig-Weibliche in dem neuen Kunststreben“, in: Anregungen (1856) 1160 Nr. 95 John Sullivan Dwight, „Musical Party Warfare“, in: Dwight’s Journal of Music (1856) 1167 Nr. 96 Anonym, „Ein englisches Urtheil über die musikalische Zukunftsparthei in Deutschland“, in: Neue Wiener Musik-Zeitung (1856) 1172
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XI
Nr. 97 Anonym, „Fétis über die Lehre vom Fortschritt in der Musik“, in: Neue Wiener Musik-Zeitung (1856) 1178 Nr. 98 Johann Christian Lobe, „Das Gespenst der Zukunft“, in: Fliegende Blätter für Musik (1856) 1182 Nr. 99 Johann Christian Lobe, „Briefe über Liszt’s Symphonische Dichtungen“, in: Fliegende Blätter für Musik (1856) 1195 Nr. 100 Franz Brendel, „Fr. Liszt, Symphonische Dichtungen für großes Orchester“, in: NZfM (1856) 1230
Der Einzug in die Metropolen, neue Akteure und die Transformation der Kontroverse 1239 Die Jahre 1857 bis 1858 Nr. 101 Franz Brendel, „Betrachtungen beim Jahreswechsel“, in: NZfM (1857) 1245 Nr. 102 Anonym, „Aus Leipzig (Liszt-Concert)“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1857) 1259 Nr. 103 H–L., „Der Zopf als Schreckbild“, in: Neue Wiener Musik-Zeitung (1857) 1265 Nr. 104 Eduard Hanslick, „Les Préludes“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1857) 1275 Nr. 105 Richard Wagner, „Ein Brief von Richard Wagner über Franz Liszt“, in: NZfM (1857) 1286 Nr. 106 Anonym („Mehrere Musiker“), „Entstehung der sogenannten Zukunftsmusik“, in: Rheinische Musik-Zeitung (1857) 1306 Nr. 107 Felix Draeseke, „Franz Liszt’s neun symphonische Dichtungen“, in: Anregungen (1857) 1315 Nr. 108 Franz Brendel, „F. Liszt’s neueste Werke und die gegenwärtige Parteistellung“, in: NZfM (1857) 1360 Nr. 109 Louise Nitzsche, „Zur Würdigung der so genannten Zukunfts-Musik“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1857) 1394 Nr. 110 Karl Debrois van Bruyck, „Wiener Federstriche zur Charakterisirung des gegenwärtigen Standes der Tonkunst“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1857) 1401 Nr. 111 Hm., „Der offene Brief Richard Wagner’s über Franz Liszt“, in: Süddeutsche Musik-Zeitung (1857) 1422
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Nr. 112 Carl Banck, „Aufführung von Liszt’s Werken. Dresden, am 7. November“, in: Süddeutsche Musik-Zeitung (1857) 1429 Nr. 113 Carl Friedrich Weitzmann, „Zukunftsmusik“, in: Neue Berliner Musikzeitung (1857) 1437 Nr. 114 Anonym, „Die Oper. Ihre geschichtliche und ästhetische Berechtigung. VI“, in: Monatschrift für Theater und Musik (1858) 1445 Nr. 115 Anonym, „Zeitgemäße Betrachtungen“, in: NZfM (1858) 1452 Nr. 116 Philotechnus, „Musikalische Pflichten“, in: Anregungen (1858) 1456 Nr. 117 Anonym (π.), [o. T., „Weimar“], in: NZfM (1858) 1472 Nr. 118 Selmar Bagge, „Zur gegenwärtigen Parteistellung auf musikalischem Gebiete“, in: Monatschrift für Theater und Musik (1858) 1475 Nr. 119 Carl Debrois van Bruyck, „Das absolut- und poetisch-Musikalische“, in: Neue Berliner Musikzeitung (1858) 1486 Nr. 120 Anonym, „‚Lohengrin‘ in Wien“, in: Monatschrift für Theater und Musik (1858) 1493 Nr. 121 Ludwig Bischoff, „Zur Würdigung der Programm-Musik“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1858) 1502
Anbahnung einer Verständigung? 1513 Die Jahre 1859 bis 1860 Nr. 122 Richard Pohl, „‚Comala‘. Oper in 3 Aufzügen“, in: NZfM (1859) 1520 Nr. 123 Wilhelm Viol, „Musikalisches Leben und Treiben in Breslau“, in: Recensionen und Mittheilungen (1859) 1527 Nr. 124 Anonym, „Die Bannerträger der musikalischen Zukunft“, in: Recensionen und Mittheilungen (1859) 1536 Nr. 125 Hoplit [Richard Pohl], „Der musikalische Fortschritt jenseit des Oceans“, in: NZfM (1859) 1545 Nr. 126 Franz Brendel, „Zur Anbahnung einer Verständigung“, in: NZfM (1859) 1555 Nr. 127 Richard Pohl, „Die Leipziger Tonkünstler-Versammlung am 1.–4. Juni 1859“, in: NZfM (1859) 1577 Nr. 128 Anonym, „Zur Verständigung über unsere musikalische ‚Zukunft‘“, in: Recensionen und Mittheilungen (1859) 1611 Nr. 129 Adolph Kullak, „Ueber musikalische Aesthetik“, in: NZfM (1859) 1621
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XIII
Nr. 130 N. Z., „Allcompositionsskizze“, in: Berliner Musik-Zeitung Echo (1859) 1634 Nr. 131 Oscar Comettant, „Liszt, Wagner, Schumann, and Baron, and the Vital Fluids!“, in: The Musical World (1859) 1644 Nr. 132 E., „Wagner und die Liszt’sche Schule“, in: Recensionen und Mittheilungen (1859) 1654 Nr. 133 Lp., „Zukunftsmusik“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1859) 1659 Nr. 134 A–z., „Musikalische Parteiungen“, in: Recensionen und Mittheilungen (1859) 1666 Nr. 135 Hector Berlioz, „Hector Berlioz über seine Stellung zur Zukunftsmusik“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1860) 1683 Nr. 136 Richard Wagner, „Wagner’s Antwort auf die Kritik von H. Berlioz“, in: NZfM (1860) 1689 Nr. 137 Anonym, „Die Zukunftsmusik“, in: Niederreheinische Musik-Zeitung (1860) 1695 Nr. 138 Johannes Brahms, Joseph Joachim, Julius Otto Grimm, Bernhard Scholz, [o. T., „Unter den hiesigen“], in: Berliner Musik-Zeitung Echo (1860) 1704 Nr. 139 Fegweg [Carl Friedrich Weitzmann], „Correspondenz“, in: NZfM (1860) 1714 Nr. 140 Wilhelm Wauer, „Poetische Idee und Kunstwerk“, in: Deutsche Musik-Zeitung (1860) 1716 Nr. 141 Karl Debrois van Bruyck, „R. Wagner’s Faust-Ouverture und H. v. Bülow’s Broschüre“, in: Deutsche Musik-Zeitung (1860) 1727 Nr. 142 Anonym, „Offenes Schreiben an die Redaction“, in: Deutsche Musik-Zeitung (1860) 1735 Nr. 143 Franz Brendel, „Zeitgemässe Betrachtungen“, in: NZfM (1860) 1739
Zersplitterung – Überdruss – Vermittlung oder: die Institutionalisierung des Fortschritts 1757 Die Jahre 1861 bis um 1868 Nr. 144 Franz Brendel, „Zur Eröffnung der zweiten Tonkünstler-Versammlung zu Weimar am 5. August 1861“, in: NZfM (1861) 1766 Nr. 145 Felix Draeseke, „Die sogenannte Zukunftsmusik und ihre Gegner“, in: NZfM (1861) 1782
XIV
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Nr. 146 N., „Altes und Neues über Programmmusik [...] angeknüpft an die Schrift: ‚Die Mission der Kunst‘ von Luise Otto“, in: Deutsche Musik-Zeitung (1861) 1802 Nr. 147 Die Redaktion, „Zum neuen Jahre“, in: Neue Berliner Musikzeitung (1863) 1815 Nr. 148 Ferdinand Peter Laurencin, „Rückblick auf R. Wagner’s Concerte in Wien“, in: NZfM (1863) 1820 Nr. 149 Anonym, „Die Nachblüthe der deutschen Tonkunst“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1863) 1829 Nr. 150 Anonym, „Ueber den Einfluss der Zeit und der Umstände auf die jetzige Musik“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1863) 1836 Nr. 151 R., „Zukunftmusik vor Laienohren“, in: Recensionen und Mittheilungen (1864) 1842 Nr. 152 Hermann Zopff, „Rückblick“, in: NZfM (1865) 1847 Nr. 153 Ludwig Nohl, „Die musikalische Lage in München“, in: NZfM (1865) 1853 Nr. 154 Die Redaction, „Ein Wort in Angelegenheiten des ‚Allgemeinen Deutschen Musikvereins‘“, in: AmZ (1865) 1864 Nr. 155 Johann Joseph Abert, „Tristan und Isolde von Richard Wagner“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung (1865) 1866 Nr. 156 Anonym, „Allgemeine Betrachtungen über die jetzigen Beziehungen der Aesthetik zur Tonkunst“, in: Neue Berliner Musikzeitung (1866) 1873 Nr. 157 Heinrich Ehrlich, „Versuche zur Klärung und Verständigung“, in: Neue Berliner Musikzeitung (1866) 1878 Nr. 158 Franz Brendel, „Beim Jahreswechsel“, in: NZfM (1867) 1890
Ausgaben (Briefe, Schriften, Werke) 1902 Quellen und Literatur 1904 Register 1990
Vorwort Die im Jahr 2009 erfolgte Förderzusage der Deutschen Forschungsgemeinschaft für das Projekt, aus dem die vorliegende Publikation resultiert, ist Zeichen für den umfassenden Blick, mit dem der Antragsteller Prof. Dr. Detlef Altenburg die Musikgeschichte des 19. Jahrhunderts betrachtete und vor allem ein Bewusstsein dafür hatte, worin die notwendig und dringend zu erforschenden Themenfelder liegen. Phänomen und Geschichte der sogenannten „neudeutschen Schule“ polarisieren zuweilen bis heute die musikhistorische Forschung, weshalb nur eine umfassende Zusammenstellung von Originaltexten, an einem Ort versammelt, ausgewertet und kommentiert, den notwendigen Quellenfundus bieten kann, um eine wissenschaftliche Verortung und Bewertung vornehmen zu können, die das Phänomen als Ganzes differenziert erfasst. Das Bedürfnis nach solch einer Zusammenstellung spiegelte sich auch in der regen Teilnahme von internationalen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern an einem interdisziplinären Symposium mit dem Thema „Die Neudeutsche Schule. Schriftenedition, Datenbank und Studien“ an der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar im Oktober 2010, das vom damaligen Projekt-Team organisiert und durchgeführt wurde. Die Entstehungsgeschichte der dreibändigen Edition basiert auf einer mehrstufigen Auswahl aus rund 4 500 Artikeln angelsächsischer, französischer und vor allem deutschsprachiger Musikzeitschriften aus der Zeit von 1830 bis 1914. Die zunehmende Kenntnis der Primärtexte führte zu dem Entschluss, den Höhepunkt der musikästhetischen Auseinandersetzung Mitte der 1850er Jahre durch entsprechende Artikel von 1845 bis zum Jahr 1868 zu kontextualisieren. Es sind die zeitlichen Eckpunkte der Übernahme der Neuen Zeitschrift für Musik durch Franz Brendel sowie dessen Todesjahr. Als Initiator, Erfinder, Ideologe und schließlich Wortgeber der „neudeutschen Schule“ (1859) scheint diese Entscheidung folgerichtig und gerechtfertigt. Die Liste all jener, die zur Verwirklichung des Projekts sowie zur Fertigstellung der Edition beigetragen haben, ist lang und der Dank der Herausgebenden an alle, die uns mit Rat und Tat zur Seite gestanden haben, ist groß. Grundlegende wissenschaftliche Vorarbeiten erfolgten im Projekt durch Knut Holtsträter und Nina Noeske. Hauptverantwortlich für das Verfassen sämtlicher Sekundärtexte innerhalb der Edition ist das Kernteam des Projekts, bestehend aus Daniel Ortuño-Stühring, Ulrike Roesler, Dominik von Roth, Ruth Seehaber und Katharina Steinbeck; bedeutenden Anteil hatte darüber hinaus Florian Schuck. Als Hilfskräfte wirkten Mohamad Alfaham, Kiril Georgiev, Hannah Lütkenhöner-Krahe, Henriette Reinhold und Daniela Roth, für deren Korrekturlesen und Transkribieren der Originaltexte unser größter Dank gilt. Eine regelmäßige Einschätzung umfangreicherer Textproduktionen erfolgte durch ein hochkarätiges Ensemble einschlägig spezialisierter Professoren: Für diesen Einsatz bedanken wir uns bei Michael Heinemann, Bernd Sponheuer, Wolfram Steinbeck, Ulrich Tadday sowie besonders James Deaville, der sich bereit erklärte, die Edition mit einer Einführung zu versehen.
XVI
Vorwort
Allergrößter Dank gebührt Detlef Altenburg, der die Herausgabe der vorliegenden Arbeit nicht mehr miterleben darf – ihm ist diese Edition gewidmet. Als Ideengeber, Antragsteller und Projektleiter wurden die Artikel, Fußnoten und Kommentare der Bände 1 und 2 weitestgehend mit ihm gemeinsam redigiert sowie eine erste Auswahl der Artikel für Band 3 getroffen. Die umfassende Annotierung und Kommentierung von insgesamt 14 Artikeln konnte im Rahmen der Projektförderdauer nicht mehr fertiggestellt werden. Aufgrund des Wertes der Quellen wurden sie ohne Kommentierung publiziert, was durch einen zusammenfassenden Einleitungstext an entsprechender Stelle kompensiert wird. Für die Bewältigung der rechtlichen, vertraglichen und verlegerischen Herausforderungen, welche eine postume Übertragung der Projektleitung sowie das abschließende Publikationsvorhaben mit sich brachten, danken die Herausgebenden der Deutschen Forschungsgemeinschaft, der Hochschule für Musik Franz Liszt Weimar sowie dem Metzler-Verlag. Dominik von Roth und Ulrike Roesler Nürnberg und Weimar, Februar 2020
Editionsrichtlinien Die kritische Edition der ausgewählten Zeitschriftenartikel erfolgte in drei Schritten: die Transkription des Originaltextes, die Annotierung einzelner Textstellen und Begriffe durch Fußnoten sowie die kontextualisierende Kommentierung am Ende jedes Artikels. Allen Artikeln wurde eine vollständige bibliographische Angabe vorangestellt, die Autor, Titel, Zeitschrift, Jahrgang, Jahr, ggf. Band, Nummer, Datum und Seitenangaben aufführt. Eine Auswahl einzelner Artikelteile wurde extra gekennzeichnet. Namenskürzel und Pseudonyme wurden in der originalen Schreibweise beibehalten und in eckigen Klammern aufgelöst. War eine eindeutige Zuordnung nicht möglich, wurden die Kürzel unverändert übernommen und im Kommentar in Anführungszeichen wiedergegeben. Bei andernorts bereits kritisch editierten Artikeln wurde am Ende der bibliographischen Angabe durch eine Fußnote auf die entsprechende Edition verwiesen.
Originaltext Die Transkription des originalen Zeitschriftenartikels erfolgte grundsätzlich in Antiqua und beginnt mit dem mittig stehenden Titel; im Originalschriftbild ggf. auftretende Kapitälchen oder Versalien wurden nicht berücksichtigt. Bei Fortsetzungsartikeln wurden nur abweichende Titel bzw. neue Zwischenüberschriften angegeben, Titelwiederholungen und Hinweise wie „Fortsetzung folgt“ wurden weggelassen. Dem Haupttext vorangestellte Zitate bzw. Gedichte wurden rechtsbündig angeordnet. Der Artikelhaupttext selbst steht im Blocksatz, wobei die originalen Zeilenumbrüche nur bei Gedichten übernommen wurden. Längere Zitate wurden nicht zusätzlich eingerückt und doppelte Anführungszeichen innerhalb eines Zitats in einfache geändert. Originale Seitenwechsel wurden durch arabische Ziffern in eckigen Klammern gekennzeichnet. Erfolgt der Seitenwechsel innerhalb eines Wortes, wurde an der entsprechenden Stelle im Wort ein Bindestrich mit anschließender Seitenzahl in eckigen Klammern eingefügt; bei Fortsetzungsartikeln wurde die neue Seitenzahl dem ersten Absatz vorangestellt. Um diese editorischen Angaben von vergleichbaren Angaben im Originaltext zu unterscheiden, wurden alle eckigen Klammern des Originals in runde umgewandelt. Bei originalen Hervorhebungen innerhalb der Artikel wurden zwischen inhaltlichen und redaktionellen unterschieden. Erstere wurden immer durch Kursivdruck kenntlich gemacht, auch wenn sie im Original gesperrt oder unterstrichen gedruckt sind. Nicht übernommen wurden die redaktionellen Hervorhebungen wie Schriftartenwechsel oder der in einigen Zeitschriften standardmäßige Kursiv- bzw. Sperrdruck aller Namen. Im Originaltext verwendete, gängige Abkürzungen wurden nicht aufgelöst, heute jedoch ungebräuchliche durch eine Fußnote erklärt. Weiterhin wurden für den
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Frakturdruck typische Ligaturen und Sonderzeichen wie z. B. „etc.“ übertragen, noch heute gebräuchliche Ligaturen wie „æ“ oder „œ“ wurden unverändert übernommen. Eingriffe in die Orthographie erfolgten nur bei eindeutigen Druckfehlern wie fehlenden Buchstaben oder Leerzeichen; in Zweifelsfällen oder bei gravierenden Abweichungen von der damaligen Orthographie wurde die originale Schreibweise beibehalten und durch „[sic]“ gekennzeichnet. Als Referenzwerk galt bei Begriffserklärungen, wenn nicht anders angegeben, das Deutsche Wörterbuch von Jacob und Wilhelm Grimm (16 Bde. in 32 Teilbänden, Leipzig 1854 –1961, Quellenverzeichnis Leipzig 1971). Die in einigen Artikeln vorhandenen Notenbeispiele wurden neu gesetzt und anhand kritischer Werkausgaben geprüft. Dabei wurden auch solche in ein Notensystem übertragen, die im Original nur durch Tonbuchstaben und rhythmisierte Noten auf einer Zeile dargestellt sind. Fehlende Angaben und Korrekturen wurden in eckigen Klammern ergänzt, ausgenommen Notenschlüssel und ermittelte Taktzahlen. Zusätzliche Hinzufügungen, die in der kritischen Werkausgabe nicht vorhanden sind, wurden durch geschweifte Klammern gekennzeichnet. Enthält der Haupttext zudem originale Fußnoten, wurden diese als separater Fußnotentext gesetzt. Originale Fußnotenzeichen (z. B. Asterisk) wurden in hochgestellte römische Zahlen umgewandelt.
Annotationen in Fußnoten Die in Fußnoten gesetzten Annotationen enthalten kurze Erklärungen zu einzelnen Textstellen wie Begriffsklärungen, Zitatnachweise und Querverweise sowie Informationen zu Personen und Werken. Neben Übersetzungen oder Erläuterungen nicht im Duden nachgewiesener Fremdwörter wurden besonders die innerhalb der Edition relevanten Termini wie z. B. „spezifischer Musiker“, „Sonderkünstler“ etc. erklärt. Auch wenn ein Begriff in einem früheren Artikel bereits auftrat, wurde er in folgenden Artikeln erneut annotiert. Zusätzlich wurde ggf. auf Besonderheiten und Modifikationen in der Begriffsverwendung im Vergleich zum erstmaligen Auftreten hingewiesen. Für Zitatnachweise und Querverweise wurde die Primär- und Sekundärliteratur in Kurztiteln wiedergegeben, deren ausführliche bibliographische Angaben im Literaturverzeichnis im Anhang zum 3. Band zu finden sind. Die Kurztitel setzen sich aus dem Nachnamen des Autors und der Jahreszahl im Normaldruck sowie dem Titelbeginn im Kursivdruck zusammen, dies gilt sowohl für selbstständige als auch unselbstständige Publikationen. Bei Pseudonymen wurde im Kurztitel, soweit rekonstruierbar, der Klarname des Autors genannt, um eine gemeinsame Auflistung im Literaturverzeichnis zu ermöglichen. Wurden Artikel unter nicht auflösbaren Zeichen veröffentlicht, wurde der Kurztitel als „Anonym“ angesetzt und in eckigen Klammern das Kürzel hinzugefügt. Lexikonartikel wurden zusätzlich mit der Abkürzung „Art.“ gekennzeichnet und der Titel in Anführungszeichen gesetzt. Bei Querverweisen auf Artikel, Kommentare oder Kapiteleinleitungen innerhalb der vorliegenden Edition wurde hinter dem Kurztitel der Hinweis „in: NdS“ sowie Nennung der Artikelnummer und ggf. der Seitenangabe ergänzt.
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Die Informationen zu Personen und Werken wurden in standardisierter Form wiedergegeben. Als Hauptreferenzen galten die beiden Ausgaben der MGG, Kindlers Literaturlexikon, Thieme-Becker sowie die Gemeinsame Normdatei (GND) der Deutschen Nationalbibliothek. Die Personenangaben enthalten in schematischer Kurzform den Vor- und Nachnamen, das Geburts- und Sterbejahr in Klammern, ggf. Pseudonyme oder weitere Namensangaben, ggf. die Nationalität und den Beruf sowie weitere kurze Erklärungen. In Abgrenzung zur Sachliteratur wurden literarische Werke nicht als Kurztitel dargestellt, sondern folgen dem Schema: [Autor], [Titel] (ED/UA). Die Titel wurden grundsätzlich im Kursivdruck angegeben, ausgenommen bei titelgebenden Incipits. Für Zitatnachweise wurden, soweit vorhanden, kritische Werk- und Schrifteneditionen hinzugezogen, deren bibliographische Angaben im Literaturverzeichnis zu finden sind, dies gilt auch für Briefausgaben. Die Nachweise zu musikalischen Werken wurden je nach Gattung angepasst und entsprechen schematisch folgender Ordnung: 1. Instrumental- und Chorwerke: [Komponist], [Gattungstitel] [Werktitel] [Nummer] [Tonart] [Opuszahl/Werknummer] (ED/UA) 2. Opern und Oratorien: [Komponist], [Originaltitel] ([ggf. dt. Titel], UA) 3. Vokalwerke (z. B. Lieder): [Komponist], [Titel] [Opuszahl/Werknummer] (ED/UA) Die Schreibweise der Originaltitel entspricht der landesüblichen Groß- und Kleinschreibung. Eine deutsche Übersetzung des Originaltitels wurde nur dann aufgeführt, wenn diese als gebräuchlicher Werktitel Verbreitung gefunden hat. Erst nachträglich etablierte Titelzusätze (z. B. „Mondscheinsonate“) wurden in Klammern hinter dem Titel genannt. Sämtliche in den Artikeltexten und Kommentaren genannte Personen und Werke wurden zudem in einem Index erschlossen, der ebenfalls am Ende des 3. Bandes zu finden ist.
Kommentar Der Kommentar dient der Kontextualisierung des vorangestellten Artikels innerhalb der Edition. Dabei wurden folgende Punkte besonders berücksichtigt: 1. Thema, Anlass und Zielsetzung des Artikels, 2. Einordnung und Positionierung des Autors innerhalb der Debatte, 3. Reaktionen und Fortführungen des jeweiligen Themas in anderen Artikeln. Zur besseren Übersicht wurden bei umfangreichen und thematisch als bedeutend erachteten Auseinandersetzungen eine Tabelle mit zusammengehörigen Artikeln erstellt. Die einzelnen Bände wurden jeweils in zeitliche Abschnitte untergliedert, die sich an der inhaltlichen Ausrichtung der entsprechenden Artikel orientieren. Jedem Abschnitt ist eine zusammenfassende Kapiteleinleitung vorangestellt.
Abkürzungsverzeichnis ADMV Allgemeiner Deutscher Musikverein AmZ Allgemeine musikalische Zeitung Art. Lexikonartikel (Kurztitel) d. Bl. dieses Blatt/diese Blätter (Originalartikel) d. Red./d. R. die Redaktion/der Redakteur (Originalartikel) EA Erstaufführung ED Erstdruck EZ Entstehungszeit NdS Neudeutsche Schule (Editionsverweis) NZfM Neue Zeitschrift für Musik RGMP Revue et Gazette musicale de Paris Signale Signale für die musikalische Welt UA Uraufführung Verf. Verfasser (Originalartikel) WoO Werk ohne Opuszahl
Einleitung Als ich mir die imposante Ausgabe Die Neudeutsche Schule – Phänomen und Geschichte zum ersten Mal ansah, kamen mir unvermittelt jene gewichtigen Worte Richard Wagners aus dem Rheingold in den Sinn: „Vollendet das ewige Werk.“ Das Zitat ist nicht so unangebracht, wie es auf den ersten Blick erscheinen mag: Die Aufgabe, der die Mitarbeiter sich gestellt haben, war so groß angelegt, dass das Endresultat drei dicke Bände umfasst und die Arbeit daran über ein Jahrzehnt gedauert hat. Die vorliegende Edition stellt ein Monument dar für den Weitblick ihres Initiators, Prof. Dr. Detlef Altenburg, der leider mitten in der Arbeit starb. Doch sind die fertigen Bände auch eine wahrhaft bedeutende wissenschaftliche Leistung seitens ihrer Herausgeber, Dominik von Roth und Ulrike Roesler, die diese schwere Aufgabe couragiert in die Hand genommen und glänzend erfüllt haben. Das größte Verdienst der vorliegenden drei Bände ist das tiefgreifende, stets nuancierte Bild, das sie von den Streitigkeiten zwischen den Neudeutschen und ihren Gegnern vermitteln. Ganz im Gegensatz zu der einseitigen Perspektive nämlich, die bisherige, allzu selektive – und damit tendenziöse – Quellensammlungen zur Neudeutschen Schule geboten haben, können die geneigte Leserin, der geneigte Leser die Debatten nun genau so verfolgen, wie sie zwischen den beteiligten Akteuren geführt wurden – wir bekommen also auch dasjenige zu lesen, auf das die Fortschrittler mit ihren Schriften antworteten! Die umfassenden und detaillierten Kommentare, die neben den Kapiteleinleitungen auch den Anmerkungsapparat umfassen, sind ein unschätzbares Hilfsmittel, will man die vorgestellten Debatten in ihrem weiteren kulturgeschichtlichen Rahmen situieren (hierzu gleich mehr). Jedoch bleibt es den Lesern unbenommen, die Quellentexte auch ohne die Beigabe des wissenschaftlichen Apparats zu lesen und zu würdigen – wurden sie doch genauso sehr für die Öffentlichkeit geschrieben wie an die Adresse der jeweils attackierten Opponenten. Schon beim ersten Blick in das Inhaltsverzeichnis der vorliegenden Bände entfaltet sich vor unseren Augen das Panorama einer Epoche: der Aufstieg der Neuen Zeitschrift für Musik unter der Redaktion Franz Brendels zum hauptsächlichen Publikationsorgan der Neudeutschen; die Etablierung von Weimar und Leipzig als den beiden Polen der „Fortschrittspartei“ um Franz Liszt und Brendel; die vereinzelten Nester der Opposition gegen die Bewegung und ihre Vertreter; der starke Einfluss des Exilanten Richard Wagner in den 1850er-Jahren; das Erscheinen von Eduard Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen im Jahr 1854; Brendels Benennung der Bewegung als „neudeutsche Schule“ 1859 sowie die Gründung ihres „Allgemeinen Deutschen Musikvereins“ zwei Jahre darauf. All dies kann hier natürlich nur in Umrissen skizziert werden, aber es lässt sich doch kaum leugnen, dass die 1850er-Jahre in der deutschen Musikgeschichte ein ganz besonderes, ein wahrlich entscheidendes Jahrzehnt darstellen. Allein über das Jahr 1853 hat Hugh Macdonald ein ganzes Buch (Music in 1853. The Biography of a Year, Suffolk 2012) geschrieben! Meine allzu knappe Übersicht ist auf der Ebene der großen Ereignisse und Trends verblieben, die entweder von den Vertretern der Neudeutschen Schule ausgingen oder in ihrem Umfeld zu verorten sind. Wenn wir uns jedoch tiefer in die Quellen
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Einleitung
versenken, stellen wir bald fest, dass die musikästhetische Situation im Deutschland der 1850er-Jahre sich ganz und gar nicht so schwarz-weiß darstellte – im Sinne einer klaren Konfrontation zweier Opponenten oder klar umrissener Parteien –, wie es Alan Walker und andere mit der Formulierung vom „Krieg der Romantiker“ suggeriert haben. Damit soll nun nicht geleugnet sein, dass damals über die jeweils vertretenen Positionen viel – mitunter allzu viel – Tinte vergossen wurde; aber wie die Herausgeber übereinstimmend anmerken, gelangte die Debatte doch irgendwann an einen Punkt, von dem an der Streit nur um des Streites willen ausgefochten wurde – und nicht zur Klärung irgendwelcher tatsächlicher Probleme, geschweige denn aus Liebe zur Musik. Von Roth und Roesler haben deshalb Recht, wenn sie ihre Sammlung um 1860 beschließen. In den Jahren darauf wärmten die Kritiker nur mehr Themen auf, die bereits ausgiebig traktiert worden waren, und sie taten dies nicht zuletzt als Reaktion auf die Wagner-Aufführungen der 1860er-Jahre. Mit der vorliegenden Sammlung wird uns ein Mann ganz besonders vertraut, dessen Name in allen drei Bänden immer wieder auftaucht: Franz Brendel. Er war derjenige Musikschriftsteller, der den Aufstieg der Neudeutschen Schule entscheidend vorangetrieben hat. Seine Schriften – von dem programmatischen Aufsatz „Zur Einleitung“ („Kritik der bisherigen musikalischen Kritik“) von 1845 bis zu dem Essay „Zur Anbahnung einer Verständigung“ aus dem Jahr 1859 – sind eine absolute Pflichtlektüre, will man die Debatten um die Neudeutsche Schule wirklich verstehen. Genauso wichtig war jedoch Brendels Tätigkeit als Redakteur – der beispielsweise die Musikkritiker der Schumann-Ära durch eine gänzlich neue Mannschaft von Mitarbeitern ersetzte und auf diese Weise die Neue Zeitschrift für Musik binnen zehn Jahren in das Zentralorgan der Fortschrittler verwandelte. Tatsächlich liest sich das Impressum etwa des 42. Bandes von 1855 wie ein Who’s Who der Neudeutschen: Brendel, Hans von Bülow, Peter Cornelius, Liszt, Richard Pohl, Joachim Raff und Wagner, um nur einige zu nennen. Alle Genannten arbeiteten im Dunstkreis Liszts, bewahrten sich dabei jedoch ihre eigene Stimme – wenn auch freilich mit einem „Weimarer Akzent“, wie ich das mit Blick auf Cornelius, Pohl und Raff einmal formuliert habe (Deaville 2006 Die neudeutsche Musikkritik). Im Zusammenhang mit ihrer Charakterisierung des Weimar von 1852/53 als einem „Zentrum des musikalischen Fortschritts“ verweisen die Herausgeber auch auf „die zunehmend große Schar von Schülern, die Liszt in der Weimarer Altenburg um sich scharte“. Da ist es nicht überflüssig anzumerken, dass ihre literarischen Aktivitäten für jene Liszt-Schüler, die selbst Komponisten waren, durchaus sekundär blieben; dies gilt insbesondere von Cornelius und Raff, die sich früher oder später beide von ihrem Meister distanzieren sollten – Raff schließlich mit besonderem Nachdruck. Um zu Brendel zurückzukehren: Sein allererster Artikel – wie erwähnt ein umfangreicher Essay über die „bisherige musikalische Kritik“ – lässt seine Verwurzelung im Idealismus Hegel’scher Prägung erkennen. Brendel erhoffte sich von diesem Ansatz, dass die Musikkritik darin die subjektiv-poetische Art eines Robert Schumann hinter sich lassen und eine eher objektiv-wissenschaftliche Ästhetik würde anstreben können, im Interesse des musikalischen Fortschritts. Im engen Zusammenhang hiermit standen für Brendel die Bildung der Öffentlichkeit sowie gesellschaftspolitische Aktivitäten – Punkte, zu denen er zeit seines Lebens immer wieder zurück
Einleitung
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kehrte. Es ist durchaus beachtenswert, dass im Laufe der Zeit sowie mit zunehmender Opposition gegen die Richtung, die er und seine Mitstreiter vertraten, Brendels Einlassungen zwar merklich polemischer wurden – er jedoch nie das Thema der Debatte aus den Augen verlor, geschweige denn in Sarkasmus, Spott oder persönliche Angriffe verfiel. Ohnehin überließ der Redakteur Brendel die kräftigeren Reaktionen in der Regel Raff, Pohl und vor allem Bülow, der für seinen beißenden Esprit berühmt, wenn nicht gar berüchtigt war (siehe etwa Bülow 1853 Die Opposition in Süddeutschland). Teil der Sammlung sind auch mehrere von Liszts Beiträgen zu den musikalischen Debatten seiner Zeit, vor allem sein großer Essay über Berlioz und die Programmmusik, mit dem er Hanslick antwortete und zugleich eine Art von Manifest sowohl für die Neudeutschen als auch für ihre Kritiker entwarf. Im Allgemeinen mied Liszt den Lärm der Kontroverse, aber wenn er sich zu Unrecht angegriffen fühlte, bat er mitunter einen seiner Kollegen, doch für ihn zur Feder zu greifen, so geschehen anlässlich der schlechten Kritiken nach seinem Dirigat beim Karlsruher Musikfest im Herbst 1853. Trotz der frühen und enthusiastischen Unterstützung, die ihm Theodor Uhlig in der Neuen Zeitschrift für Musik zuteilwerden ließ, führte Wagner in der Zeitschrift doch nur ein Schattendasein – angeblich, weil er Brendel und dessen Blatt verachtete, aber ab und an ließ er sich eben doch zu einem Beitrag herab, etwa wenn er sich bei und über Brendel beschweren (1852) oder seine nicht unbedingt positive Meinung über Liszts symphonische Dichtungen zu Protokoll geben wollte (1857). Eine der größten Leistungen unseres Herausgeberduos bei ihrer differenzierten Aufarbeitung der musikgeschichtlichen Verwicklungen im Deutschland der vorletzten Jahrhundertmitte ist es, dass sie selbst von jeder einseitigen Parteinahme Abstand nehmen und dabei weder Gegenargumenten aus dem Weg gehen noch jene vielen Abzweigungen und Seitenwege ignorieren, wie sie unter anderem die britische, französische und amerikanische Forschung zur Neudeutschen Schule erschlossen hat. Ihr nuancierter Kommentar ist eine unschätzbare Hilfe, will man die Kontexte verstehen, in denen die hier versammelten Musikschriftsteller ihrer Arbeit nachgingen – und sofern es sich um Opponenten der Neudeutschen handelt, wirken ihre Ansichten womöglich nicht mehr ganz so unvernünftig und verkehrt, kennt man erst einmal den politischen, kulturellen und gesellschaftlichen Hintergrund ihrer Texte. Indem sie in ihrer Sammlung auch Ludwig Bischoff, Ferdinand Hiller und Henry Chorley das Wort erteilen, räumen die Herausgeber mit der überholten Vorstellung auf, die verkannten Genies Wagner, Liszt und Berlioz seien damals schlicht fehlgeleiteten, für ihre Musik unempfänglichen Kritikern zum Opfer gefallen. Immer wieder kommt die Edition auch auf politische Fragen zu sprechen, ob nun regionaler (Nord gegen Süd, Thüringen im größeren deutschen Kontext), kulturhistorischer (Weimar und der Klassizismus, das musikalisch konservative Berlin) oder nationalpolitischer Art (die Revolution von 1848/49, der Nachmärz, die Rezeption der Neudeutschen Schule im Ausland). Auch erinnern die Herausgeber uns immer wieder an die Spezifik der jeweiligen Kommunikationsmedien – und die bringt es mit sich, dass etwa die politische Ausrichtung einer Zeitschrift, die Reichweite einer Musikzeitung oder die Tendenz einer Konzertreihe die Reaktionen der Kritiker, die dort jeweils publizieren oder zuhören, maßgeblich beeinflussen kann.
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Einleitung
Zum Glück haben die Herausgeber hier eine Auswahl von Publikationsorganen getroffen, die durchaus weise genannt werden kann, versammelt sie doch musikkritische Fachjournale mit eher belletristisch ausgerichteten Zeitschriften. So können die Leser sich – ausgehend von einem breiten Spektrum an Quellen und Quellensorten – ihr eigenes Urteil bilden. Wer diesen breit verstandenen Ansatz weiterverfolgen wollte, könnte durchaus eigene Landkarten und chronologische Aufstellungen anlegen, um die Reisen der Neudeutschen durch Raum und Zeit besser nachverfolgen und in Beziehung zu ihren Schriften setzen zu können. Die Netzwerke von Individuen, Konzerten und Publikationen, die aus einer solchen Rekonstruktionsarbeit hervorgehen würden, legen es nahe, die Neudeutsche Schule einmal aus der theoretischen Perspektive von Bruno Latours Akteur-Netzwerk-Theorie (ANT) zu betrachten. Mit diesem sozialwissenschaftlichen Ansatz würde es möglich, das Immaterielle (etwa den Gedankenaustausch im Weimar jener Jahre oder die Aneignung von kulturellem Kapital im Kreis der Lisztschüler) und das Materielle (Zeitungen und Zeitschriften sowie andere Kommunikationsmittel wie Briefe, Noten, ja sogar Eisenbahnen) als miteinander verbundene Ursprünge eines Netzwerks zu betrachten, das aus den kausalen und paritätischen Beziehungen zwischen bestimmten Aspekten „der Realität“ erwächst. Wenn wir nun diese Vorgehensweise auf die Musikpolitik in Deutschland Mitte des 19. Jahrhunderts übertragen, wird uns vielleicht klar, dass wir bislang ein zu großes Gewicht darauf gelegt haben, Akteure – also Komponisten, Musikkritiker, Zeitungen oder Zeitschriften – auf eine bestimmte Position festzulegen, anstatt die Dynamik ihrer Beziehungen untereinander zu beleuchten. Aber diese Art von weit ausgreifender Spekulation fällt vielleicht eher in den Zuständigkeitsbereich des Kulturhistorikers als in jenen, mit dem die Herausgeber einer Schriftenedition betraut sind: Ihre vornehmste Pflicht besteht ja gerade darin, die Fakten auf den Tisch zu bringen und mithilfe eines kontextbasierten Kommentars zu erhellen. Dominik von Roth und Ulrike Roesler haben dieses mit Bravour geleistet, haben sowohl bei der Suche nach Hintergrundquellen als auch im Vorwegnehmen jener Fragen, die ein sachkundiger Leser an das Quellenmaterial richten dürfte, alle Register gezogen. Nicht zuletzt glaube ich, dass die vorliegenden drei Bände dem Andenken Detlef Altenburgs alle Ehre erweisen. Ganz bestimmt wäre er mit der Edition, wie sie nun vorliegt, hochzufrieden gewesen. Es ist mir deshalb eine besondere Freude, das nun vollendete Werk all jenen wissbegierigen Leserinnen und Lesern ans Herz zu legen, die mehr über einen der faszinierendsten Abschnitte der deutschen Musikgeschichte erfahren möchten. James Deaville (Übersetzt von Tobias Gabel)
Ottawa, im Oktober 2019
Anfänge der Kontroverse Die Jahre 1845 bis 1847
Franz Brendels „Kritik der Kritik“ und die zukünftige Rolle der Musik in der Gesellschaft Am 1. Januar 1845 präsentierte sich einer der einflussreichsten Akteure und Stichwortgeber der musikalischen Kontroverse des 19. Jahrhunderts mit einem programmatischen Aufsatz zur künftigen Aufgabe der Musikkritik der Öffentlichkeit: Franz Brendel (1811–1868), von Carl Dahlhaus zu Recht als „Ideologe der ‚musikalischen Fortschrittspartei‘“1 bezeichnet. Mit der darin selbstgestellten Aufgabe, eine „Kritik der bisherigen musikalischen Kritik“2 vorzulegen, ließ der bis dahin kaum journalistisch in Erscheinung getretene 32-jährige Autor wenig Zweifel an seinen Zielen, die er mit dem von ihm seit 1841 angestrebten3 Kauf der von Robert Schumann 1834 mitgegründeten Neuen Zeitschrift für Musik (NZfM) verfolgte. Diese bisherige musikalische Kritik – somit auch diejenige Schumanns – beurteilte Brendel aufgrund ihrer Subjektivität und Unwissenschaftlichkeit als unzureichend. Ausgehend von Ideen des literarischen Jungen Deutschlands, war Brendel von der antielitären Überzeugung einer umfassenden Aufgabe der Kunstkritik geleitet. Musikkritik dürfe nicht mehr wie bislang vorwiegend auf Empfindungen und Eindrücken des jeweiligen Rezensenten beruhen, sondern müsse auf wissenschaftlichen, d. h. geschichtsphilosophisch gewonnenen und überprüf- sowie benennbaren „Standpunkten“ basieren, um auf diesem Weg zu verbindlichen Aussagen über die Aufgabe und Gestaltung der zukünftigen Musik zu gelangen und um überdies eine Verbesserung der gesellschaftspolitischen Zustände zu erwirken.4
1982 Musikalischer Realismus, S. 42. 2 Siehe Brendel 1845 Zur Einleitung, in: NdS 1 Nr. 1. 3 Der erste Versuch des damals 30-jährigen Brendels, die NZfM käuflich von Schumann zu erwerben, datiert auf den 17. September 1841. Aus dem Brief dieses Datums geht deutlich hervor, dass Brendel bereits damals an einer Erweiterung des Inhalts der Zeitschrift um ein „Literatur u. Unterhaltungsblatt“ interessiert war, da man sich nicht ausschließlich an die Musiker wenden solle, sondern „an das Publicum selbst […], um verkehrte Bestrebungen u Wünsche zu vernichten. Auf diese Weise könnte vielleicht, neues Leben vorbereitet werden“ (Brief Brendels an Schumann vom 17. September 1841, in: Schumann-Briefe II, 5, S. 220). Ein neuerliches Angebot Brendels zur Übernahme der Zeitschrift datiert vom 25. Juni 1844. Obwohl Schumann dieses Mal zum Verkauf an Brendel bereit war, was aus einem Brief seines Leipziger Verlegers Robert Friese vom 27. Juni 1844 hervorgeht, bevorzugte dieser zunächst den erfahreneren Oswald Lorenz als Redakteur (vgl. Schumann-Briefe III, 3, S. 174 f.), bevor Brendel die Redaktion zum 1. Januar 1845 letztlich doch durch ein Vorkaufsrecht von Friese erwerben konnte (vgl. Brief Brendels an Schumann vom 22. August 1844, in: Schumann-Briefe II, 5, S. 226 – 229). 4 Vgl. Determann 1989 Begriff und Ästhetik der Neudeutschen Schule, S. 133 –137. 1 Dahlhaus
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Einleitung
Eine weitere Neuerung, welche Brendels Tätigkeit als Musikkritiker gegenüber älteren Kollegen wie etwa Ludwig Rellstab (1799 –1860) auszeichnet, ist nicht zuletzt die alles entscheidende Bewertungskategorie des „Fortschritts“.5 Hierdurch geriet die Frage nach der gesellschaftlichen Relevanz, nach der Teilhabe eines Kunstwerks am jeweiligen Zeitgeist, in bisher nicht dagewesenem Ausmaß zu einem wesentlichen Kriterium für die Beurteilung seines Gehalts und seiner kompositorischen Qualität. Daraus leitete Brendel die Kategorie des „überwundenen“6 oder „zurückgelegten Standpunkts“7 ab – ein der Geschichtsphilosophie Hegels entlehnter Gegenstand, der Brendel durch die Ästhetik seines Lehrers Christian Hermann Weisse8 vermittelt ewurde. Brendel wendete dieses Kriterium sowohl für Kunstwerke an, die in ihrem Gehalt und Ausdruck nicht mehr der aktuellen Gegenwart entsprächen, als auch für abweichende Positionen anderer am Diskurs beteiligter Akteure9 – ohne dass dadurch älteren Kompositionen eine grundlegende Bedeutung für die Gegenwart abgesprochen wurden sollte. Sein Vorhaben einer nicht mehr auf kompositionsästhetischen Kriterien allein basierenden Musikkritik setzte Brendel bereits in seinem wenig später veröffentlichten Vergleich Schumanns und Felix Mendelssohn Bartholdys um.10 In diesem 1845 publizierten, umfangreichen Aufsatz wird Schumann als subjektiv-romantischer Musiker charakterisiert, der sich jedoch in seinen neuesten, symphonischen bzw. chorsymphonischen Werken langsam der Allgemeinheit annähere; Mendelssohn Bartholdy hingegen komponiere, basierend auf Mozart, objektiv und klassisch, bleibe aber von den gegenwärtigen Zeiten unberührt. Da jedoch beide zu sehr ihrer aristokratischen Geisteshaltung verhaftet seien, um der republikanisch gesinnten Gegenwart als kompositorisches Vorbild dienen zu können, seien beide Komponisten letztlich ungeeignet, das Haupt einer Schule zu bilden. Ebenso folgenreich für die musikästhetische Kontroverse der Jahrhundertmitte war die in der NZfM bereits von Schumann und seinem Mitarbeiterkreis wiederholt geäußerte Auffassung, wahre Kunstkritik habe nicht nur die Aufgabe, Werke für das Publikum zu bewerten oder deren Komponisten zu belehren und zu bilden, um der durch virtuose Oberflächlichkeit und Epigonentum im Verfall befindlichen Musik entgegenzuwirken, sondern zugleich die zunehmend als problematisch empfundene Kluft zwischen Kunst und Leben bzw. Individuum und Gesellschaft zu überwinden.11 Während Schumann seine Pflicht darin betrachtete, das Musikverständnis des Publikums zu heben, zielte Brendel vorrangig auf die Bildung der Musiker selbst ab. Anders als etwa der Musikwissenschaftler und -kritiker Eduard Krüger (1807 –1885),
hierzu Kirchmeyer 1990 Kleiner Leitfaden. 6 Brendel 1848 Fragen der Zeit III, S. 101, in: NdS 1 Nr. 14, S. 196. 7 Brendel 1846c Polemische Blätter, S. 84, in: NdS 1 Nr. 5, S. 61. 8 Christian Hermann Weisse (auch: Weiße; 1801–1866), evangelischer Theologe und Philosoph, prägte als Philosophiedozent an der Leipziger Universität maßgeblich das musikgeschichtliche und ästhetische Denken Brendels, indem er insbesondere in seinem 1830 erschienenen zweibändigen System der Ästhetik eine vermittelnde Position gegenüber dem Kunstskeptizismus Hegels einnahm und so grundlegende Vorstellungen und Kategorien Hegels für die Musikästhetik und das Nachdenken über die künftige Aufgabe und Beschaffenheit der Künste nutzbar machte. 9 Siehe hierzu etwa Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14. 10 Siehe Brendel 1845 Schumann und Mendelssohn. 11 Vgl. hierzu Edler 2013 Reflexionen über Kunst und Leben. 5 Vgl.
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der eine bloß auf das Kunstschöne und klassische Muster konzentrierte Bildung der Musiker anmahnte,12 erkannte Brendel deren gesellschaftliches Ansehen als Problem. Musiker seien gedankenlose Handwerker,13 deren gesellschaftliche Lage zu einem Großteil selbstverschuldet sei, da sie gegenüber gesellschaftspolitischen Themen kein Interesse zeigten. Eine höhere, auf geschichtsphilosophischen Erkenntnissen beruhende Allgemeinbildung der Musikschaffenden war für Brendel letztlich die Voraussetzung dafür, sowohl originell als auch nicht mehr einseitig-subjektiv zu komponieren. Gleichzeitig könnten auf diese Weise neue Stoffe und Inhalte für ihre Werke erschlossen werden, wodurch breitere Bevölkerungsschichten wieder für die Musik interessiert werden könnten. Viele hatten sich während der vergangenen Jahre von der Musik abgewandt, weil diese als aristokratisch und esoterisch empfunden wurde.14 Die in Brendels Musikkritik damit erstmals relevante Frage nach der Allgemeinbildung von Musikern sollte fortan bei der Beurteilung ihrer Kompositionen ein ausschlaggebendes Kriterium sein.15 Ein Beispiel dafür, wie intensiv in dieser Zeit der Konnex zwischen Politik und Kunst auch außerhalb des engen Kreises der Musikzeitschriften diskutiert wurde, ist die 1846 erschienene Schrift Civilisation und Musik des Komponisten und Musikkritikers Theodor Hagen (1823 –1871). Darin vertrat der Autor vehement jungdeutsche Positionen, welche er mit aufklärerisch-philanthropischen Ideen einer Volksbildung durch eine neue Volksmusik verknüpfte – Ideen, die zum Teil auch in Richard Wagners geistiger Entwicklung ihre Spuren hinterließen. So sehr Hagens Thesen und Forderungen selbst bei fortschrittlich gesinnten Musikschriftstellern in ihrer einseitigen Radikalität mitunter belächelt wurden, sind sie doch ein Dokument für den starken Einfluss sozial- und kunstrevolutionärer Gedanken, die nach 1830 den Weg von Frankreich nach Deutschland fanden. So weist Hagens – und später auch Wagners – Kritik an der bestehenden, der Kunst abträglichen Gesellschaftsordnung des Vormärz16 unverkennbare Parallelen etwa zu Franz Liszt auf, der bereits 1835 in einem Aufsatz17 in der Pariser Revue et Gazette musicale seine Idee einer allgemeinen „Menschheitsmusik“ („Musique humanitaire“) formulierte. Gemeinsam mit entsprechenden Artikeln Brendels wird damit die große gedankliche Schnittmenge der Generation der um 1810 geborenen Musiker und Musikschriftsteller deutlich. 12 Siehe etwa Krüger 1842 Hegel’s Philosophie der Musik. Vgl. hierzu auch Edler 2013 Reflexionen über Kunst und Leben, S. 112 –114. 13 Siehe etwa Brendel 1845 Schumann und Mendelssohn, S. 150: „Die Bildung überhaupt ist bis jetzt viel zu sehr eine rein musikalische im engeren Sinne gewesen.“ 14 So heißt es etwa 1846 bei Brendel, es sei trotz des Vorbildes Beethoven zu beklagen, dass sich viele „Künstler der Gegenwart noch ganz auf den Inhalt, den ihnen ihr Inneres unmittelbar darbietet,“ beschränken, „ohne dasselbe durch Geschichte und Leben zu erweitern und zu steigern“ (Brendel 1846 Die Hauptentwicklungsstufen der Tonkunst, S. 198). Vgl. hierzu auch Brendel 1846 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper III. Zukunft, vor allem S. 63, in: NdS 1 Nr. 4, S. 55 f. 15 Vgl. Edler 2013 Reflexionen über Kunst und Leben, S. 114. 16 Der Begriff wird in der Edition im Sinne Thomas Nipperdeys verwendet, der ihn für die Jahre 1840, einsetzend mit der Thronbesteigung Friedrich Wilhelm IV. von Preußen und dem Ausbruch der Märzrevolution in Deutschland im Jahre 1848 ansiedelt (vgl. Nipperdey 1983 Deutsche Geschichte 1800 –1866, S. 396 f.). 17 Siehe Liszt 1835 De la situation des artistes.
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„Partei, Partei, wer sollte sie nicht nehmen?“18 Von den Davidsbündlern zur musikalischen Fortschrittspartei Ebenfalls im nachrevolutionären Frankreich der 1830er Jahre gründete sich die durch die Schriften der in Paris lebenden deutschen Exilanten ins vormärzliche Deutschland transferierte Vorstellung, die Bildung von Parteien und Verbänden sei ein wirksames Mittel, gesellschaftlichen und politischen Fortschritt zu bewirken. Dabei ist der damalige Parteibegriff nicht mit dem heutigen gleichzusetzen, der eine gesetzlich und institutionell fundierte, politische Vereinigung beschreibt. „Partei“ im damaligen Verständnis umfasste lediglich die Vorstellung einer lose assoziierten Gruppierung von Gleichgesinnten. Dass all dies bereits seit längerem selbst im Bereich der Musik virulent war, beweist eine oft zitierte Beschreibung der musikalischen Zustände in Deutschland durch Schumann aus dem Jahre 1834: „Die Gegenwart wird durch ihre Parteien charakterisirt. Wie die politische kann man die musikalische in Liberale, Mittelmänner und Legitime oder in Romantiker, Moderne und Classiker theilen. Auf der Rechten sitzen die Alten, die Contrapunctler, die Alter- und Volksthümler, die Antichromatiker, auf der Linken die Jünglinge, die phrygischen Mützen, die Formenverächter, die Genialitätsfrechen, unter denen die Beethovener als Klasse hervorstechen. Im Juste-Milieu schwankt Jung wie Alt vermischt. In ihm sind die meisten Erzeugnisse des Tags begriffen, die Geschöpfe des Augenblicks, von ihm erzeugt und wieder vernichtet.“19 Die ironische Art der Darstellung lässt Schumanns Distanz zum damaligen Parteiendiskurs erahnen. Vergegenwärtigt man sich außerdem die Vorgehensweise des Musikkritikers Schumann, indem er die beiden fiktiven Charaktere „Florestan“ und „Eusebius“ für sich sprechen lässt – beide wiederum Mitglieder des imaginierten Geheimbundes der „Davidsbündler“ –, so fällt die geistige Kluft zu Brendel und dessen Streben nach der Konstituierung einer auf festen „Standpunkten“20 basierenden musikalischen „Fortschrittspartei“ umso stärker ins Auge. Diese Haltung beruhte auf der ‚realpolitischen‘ Überzeugung Brendels, dass ein lediglich imaginierter Davidsbund bei der Bewältigung der angestrebten, grundlegenden Reformen des Musiklebens und der Stellung der Künstler nicht mehr ausreiche und stattdessen Vereine und Interessensverbände an dessen Stelle zu treten haben. Das regelrechte Partei-Ergreifen für den Fortschritt auf musikalischem und damit einhergehend auf gesellschaftlichem Gebiet beschränkte sich keineswegs auf Brendel und seine Mitarbeiter. Dennoch waren es die NZfM und ihr Herausgeber, durch die das Vorgehen maßgeblich forciert wurde. So ermöglichte Brendel u. a. auch außerhalb des musikalischen Diskurses stehenden Akteuren wie die Frauenrechtlerin Louise Otto (1819 –1895), sich in dieser Frage wiederholt zu Wort zu melden und in seiner
aus Georg Herweghs 1841 entstandenem Gedicht Die Partei (ED 1842). 1834 Kalliwoda, S. 38. 20 Siehe Brendel 1846c Polemische Blätter, in: NdS 1 Nr. 5.
18 Vers
19 Schumann
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Zeitschrift die Gründung einer „Fortschrittspartei“ im Bereich der Musik zu fordern.21 Tatsächlich ist in den Jahren vor Ausbruch der Revolution in Deutschland eine sprunghafte Zunahme von vermeintlich unpolitischen Vereinsgründungen und Zusammenkünften zu verzeichnen. Das bedeutendste Beispiel hierfür sind die 1846 in Frankfurt am Main und 1847 in Lübeck abgehaltenen „Germanistentage“, auf denen Historiker, Juristen, Sprach- und Literaturwissenschaftler zusammenkamen. Im Bereich der Musik war es bereits 1844 in Berlin zur Gründung des ersten Tonkünstlervereins in Deutschland unter Mitwirkung führender Kräfte wie Adolf Bernhard Marx (1795 –1866), Theodor Kullak (1818 –1882) und Otto Lange (1815 –1879) gekommen. Als ‚Parteiorgan‘ dieses Zusammenschlusses fungierte die 1847 gegründete Neue Berliner Musikzeitung (Verlag Bote & Bock). Auf Bestreben Brendels wurde am 13. und 14. August 1847 in Leipzig ebenfalls eine Tonkünstlerversammlung22 mit dem Ziel abgehalten, „aus der rein theoretischen Sphäre“ herauszutreten und eine Interessensvertretung „deutscher Tonkünstler und Musikfreunde“23 zu gründen, der in den nächsten Jahren weitere folgten.24 Eines der Ziele dabei war die Festlegung geregelter Qualitätsstandards im Bereich der Musiklehrerausbildung, welche den Musikern zu einem gesteigerten gesellschaftlichen Ansehen und gesicherter finanzieller Basis verhelfen sollten. Letztlich brachte die Versammlung jedoch kaum praktische Ergebnisse, wie auch in den Musikzeitschriften kritisch bemerkt wurde.25
Die deutsche Oper als Medium zur Nationenbildung Die zunehmende Politisierung in den Musikzeitschriften wird besonders in der seit längerem intensiv geführten Diskussion um die deutsche Oper, ihre Charakteristik und zukünftige musikalische Gestalt sowie ihre zu vertonenden Stoffe als ein Medium zur Nationenbildung deutlich. Diesem Thema widmete sich neben anderen Autoren dieser Zeit26 auch Wolfgang Robert Griepenkerls (1810 –1868) auf der Leipziger Tonkünstlerversammlung 1847 gehaltene Vortrag.27 Darin forderte er, Opernkomponisten sollten sich zukünftig Libretti wie Giacomo Meyerbeers Les Huguenots zum Vorbild nehmen und sich vorrangig der Verarbeitung gesellschaftlich relevanter Themen wie Massenerhebungen oder Revolutionen widmen. Brendel hatte sich in dieser Frage bereits im Jahr 1845 in einem umfangreichen Artikel28 zu Wort gemeldet. Darin forderte er in bemerkenswerter Übereinstimmung mit späteren Positionen Wagners in Kunstwerk der Zukunft29, dass die Oper ihren gegenwärtigen Status als bloßen ‚Luxusartikel‘ verlieren und endlich als Nationalangelegenheit begriffen werden müsse. Hierfür sei es notwendig, auf Stoffe wie das Nibelungen-
1847 Parteien – Cliquen, in: NdS 1 Nr. 6. 22 Siehe Brendel 1847 Ein Vorschlag. 23 Beide Zitate: ebd., S. 1. 24 Siehe Brendel 1848 Tonkünstler-Versammlung sowie Brendel 1848 Tonkünstler- Versammlung zu Leipzig. Vgl. hierzu auch Deaville 2011 Organizing Musical Life. 25 Siehe Hinrichs 1847 Tonkünstlerversammlung! 26 Siehe etwa Otto 1845 Die Nibelungen als Oper; Banck 1847 Die deutsche Bühne. 27 Siehe Griepenkerl 1847 Die Oper der Gegenwart. 28 Brendel 1845 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper, teilweise abgedruckt in: NdS 1 Nr. 4. 29 Wagner 1850 Kunstwerk der Zukunft. 21 Otto
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Einleitung
Epos zurückzugreifen. Wagner selbst wird an dieser Stelle bei Brendel nur in einer Fußnote erwähnt, die hier noch eine kritische Distanz zu den bisherigen Werken des Komponisten erkennen lässt.30 Zugleich lässt sich aus der in „Vergangenheit“, „Gegenwart“ und „Zukunft“ der Oper unterteilten Artikelreihe paradigmatisch Brendels dialektische Grundüberzeugung ableiten, durch das philosophisch fundierte Studium der Geschichte Aufschluss über die künftigen Aufgaben nicht nur der Oper, sondern der Gestaltung der Musik insgesamt gewinnen zu können. Letztlich sollte auf diese Weise der verbreiteten Ansicht vieler damaliger Musikschriftsteller entgegnet werden, dass der Höhepunkt der Oper mit Mozart oder Weber bereits erreicht worden sei. Verglichen mit dem Höhepunkt des musikalischen Parteienstreits in den 1850ern, weisen die Jahre 1845 bis 1848 noch keine feste, an einzelne Gegenwartskomponisten und Werke gebundene „Parteiung auf musikalischem Gebiet“31 auf. Trotz neuer Ausrichtung der NZfM unter Brendel, wurde nicht zuletzt durch die vielen aus der Schumann-Ära übernommenen Mitarbeiter an zahlreiche frühere Themen angeknüpft bzw. an diesen festgehalten. Neben der Frage nach der künftigen Beschaffenheit der Nationaloper oder die Selbstvergewisserung über das ‚Wesen‘ der deutschen Musik sowie diejenige nach der Überwindung der Dichotomie von Leben und Kunst gehörte auch das bereits in Schumanns Mendelssohn-Meyerbeer-Rezension32 ausgeprägte und durch Brendel intensivierte ‚Stilmittel‘ der Polemik zur Klärung und Untermauerung der jeweils eigenen Standpunkte, welche in der NZfM im Gegensatz etwa zur AmZ offensiv vertreten wurden.
Vor-Schule? Die später von Brendel propagierten Häupter der als „neudeutsch“ bezeichneten Trias – Berlioz, Wagner und Liszt – spielen während der Debatten vor 1850 keine Rolle im Sinne irgendeiner Art von Zusammengehörigkeit. Während Liszt ausschließlich als Klaviervirtuose ersten Ranges Erwähnung findet, wird Wagner vor allem als Komponist des – tendenziell kritisch betrachteten – Tannhäuser wahrgenommen.33 Die durch die bereits einige Jahre zurückliegende erste Deutschlandreise Berlioz’ entfachte Debatte über die Werke des französischen Komponisten war zudem schon wieder merklich abgeebbt.34 Vielmehr geht aus dem Aufsatz Brendels über Schumann und Mendelssohn Bartholdy aus dem Jahre 1845 hervor,35 dass zu diesem
Brendel 1846 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper III. Zukunft, S. 59, in: NdS 1 Nr. 4, S. 51. 31 Fr. S. 1848 Parteiung, in: NdS 1 Nr. 16. 32 Schumann 1837 Fragmente aus Leipzig. 4. 33 Siehe hierzu etwa F. W. M. 1845 Tannhäuser; Gaillard 1845 Tannhäuser und vor allem Brendel 1846 Leipziger Musikleben, worin Brendel sich dezidiert kritisch in Bezug auf die in Leipzig aufgeführte Tannhäuser-Ouvertüre äußert, die darin aufgrund des „Mangel an innerem Gehalt“ als „geradehin unschön“ bezeichnet wird (ebd., S. 72). 34 Vgl. zur frühen Berlioz-Rezeption in Deutschland insbesondere vor 1845 insgesamt Jacobshagen/Braam 2002 Berlioz in Deutschland. Zur Wahrnehmung von Kompositionen Berlioz’ im Untersuchungszeitraum siehe Lobe 1845 Malende Instrumentalmusik, in: NdS 1 Nr. 2 sowie Becker 1845 Hector Berlioz, Ouverture zu König Lear, in: NdS 1 Nr. 3. 35 Brendel 1845 Schumann und Mendelssohn. Vgl. dazu auch Seidel 2007 Schumann und Mendelssohn. 30 Siehe
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Zeitpunkt noch alle Zukunftshoffnungen – sowohl im Hinblick auf die zukünftige Instrumentalmusik als auch die anzustrebende deutsche Nationaloper – insbesondere auf einer Person ruhten: Robert Schumann. Ein geistiger Konnex oder gar eine direkte Verbindung der drei Komponisten als Vertreter einer „Schule“, sowohl in der Publizistik als auch in der öffentlichen Wahrnehmung, wie sie sich ab ca. 1852 in den Musikzeitschriften oder anderem Schrifttum dokumentiert, ist in diesem Zeitraum jedoch noch im wahrsten Sinne „Zukunftsmusik“. Die Bedeutung für die vorliegende Darstellung der Frühphase der Brendel-Ära in der NZfM liegt nicht nur in den damaligen Diskursen und Brendels Versuch der Etablierung einer wissenschaftlich fundierten Musikkritik und -Produktion begründet. Es besteht zudem die Notwendigkeit, das in der deutschsprachigen Musikforschung noch immer vorherrschende Bild Brendels und der NZfM, lediglich als bloßes Sprachrohr Wagners respektive Liszts fungiert zu haben, einer umfangreichen und differenzierten Betrachtung zu unterziehen. Die Proklamation der „neudeutschen Schule“ im Jahre 1859 bedurfte keiner wirklichen Revision der früheren, grundsätzlich geäußerten Positionen Brendels. Die Annäherung seiner theoretisch und zunächst ‚namenlos‘ geäußerten Ziele an die Werke Wagner, Liszts und Berlioz’ sind vielmehr eine bemerkenswerte gedankliche und herausgeberische Leistung, in diesen Kompositionen die künstlerische Verwirklichungen dessen zu begreifen, was Brendel bereits seit 1845 gefordert hatte, und schließlich – einer Beweisführung gleich – der Öffentlichkeit als historische Tatsache präsentierte.
Nr. 1 | Franz Brendel, „Zur Einleitung“, in: NZfM 12 (1845), Bd. 22, Nr. 1/2 (1. Januar), S. 1–12.
Bei der Uebernahme der Redaction dieser Zeitschrift scheint es mir am passendsten, mit einer Orientirung über den auf musikalischem Gebiete bis jetzt zurückgelegten Weg zu beginnen; ich gebe daher als Einleitung eine Kritik der bisherigen musikalischen Kritik, an welche sich Andeutungen über die Aufgabe, welche meiner Ansicht nach die Gegenwart und Zukunft zu lösen hat, schließen mögen. Franz Brendel.
Zur Einleitung. Erst mit einbrechender Dämmerung, erst wenn eine Gestalt des Geistes schon gereist, schon gealtert ist, beginnt die Eule der Minerva ihren Flug; erst am Ende der Entwickelung einer Sphäre in Kunst und Leben folgt die denkende Betrachtung, um das, was in frischer Unmittelbarkeit sich entfaltet hatte, mit höherem Bewußtsein zu durchdringen und die Gesetzmäßigkeit desselben zu erfassen. Dieser Gedanke eines Forschers1, der bis jetzt die tiefsten Blicke in das Leben und die Entwickelung der Geschichte gethan hat, findet seine Bestätigung auch in der Geschichte der Tonkunst. Erst als die Musik schon einen bedeutenden Höhepunkt erstiegen hatte, zeigten sich die frühesten zusammenhängenderen Versuche musikalischer Theorie, musikalischer Kritik, und erst sehr spät, erst in neuester Zeit ist der Anfang einer mehr philosophischen Betrachtung gemacht worden. Es war in der Mitte des vorigen Jahrhunderts, als zuerst Versuche in der Aufstellung allgemeiner Principien über Kunst überhaupt, und über Musik insbesondere, Versuche einer wissenschaftlichen Gestaltung der früher nur in einem Aggregat einzelner Regeln bestehenden Compositionslehre, Versuche einer musikalischen Kritik gemacht wurden. Die Tonkunst hatte damals den Höhepunkt in der contrapunctischen, fugirten Schreibart erstiegen; neue contrapunctische Combinationen zu erfinden, war das Hauptinteresse, und fast kein anderer Styl, die eigentlich deutsche Kunst ins Auge gefaßt, hatte Geltung. Seb. Bach und Händel standen auf dem Culminationspunct ihrer Wirksamkeit. Die Kritik ist jederzeit, wenigstens auf den ersten Stufen ihrer Entwickelung, der Reflex der Kunst; an der Kunst ist sie genöthigt sich heraufzubilden und durchläuft deshalb dieselben Stufen und Standpunkte, wie die Kunst selbst. Auch die Kritik
1 Gemeint
ist hier Georg Wilhelm Friedrich Hegel (1770 –1831), den Brendel zuvor bereits mit dem „Flug der Minerva“ indirekt zitiert hatte. In Hegels Grundlinien der Philosophie des Rechts (in: Hegel-Schriften 7, S. 28) heißt es „Wenn die Philosophie ihr Grau in Grau malt, dann ist eine Gestalt des Lebens alt geworden, und mit Grau in Grau lässt sie sich nicht verjüngen, sondern nur erkennen; die Eule der Minerva beginnt erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug.“
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sehen wir daher in jener Zeit auf technische Gesichtspuncte beschränkt und in technischen Untersuchungen das Hauptinteresse finden; auch ihr war es Hauptaufgabe, zu untersuchen, ob die Kunstwerke den technischen Forderungen entsprächen; wie die Ausarbeitung eines Tonstücks beschaffen, ob die Harmoniefolge correct sei, solche und ähnliche Fragen leiteten die Betrachtungen, und wenn es daher galt, auf den geistigen Inhalt einer Composition einzugehen, so finden wir die Kritik höchst dürftig, kahl und öde. So wenig den großen Componisten jener Zeit der [2] tiefe Inhalt, den sie in diese Formen hineinlegten, in höherem Sinne bewußt und Gegenstand freier Wahl war, so wenig vermochte die Kritik diesen Inhalt sich zum gegenständlichen Bewußtsein zu erheben. Es sind lange Beschreibungen des technischen Baues in den Recensionen jener Zeit, und wenn der Kritiker ein genaueres Bild der Composition geben wollte, so wußte er sich häufig nicht anders zu helfen, als gleich ein Bruchstück aus dem Werke selbst abdrucken zu lassen. So in den in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Leipzig erscheinenden wöchentlichen Nachrichten über Musik.2 Im raschen Fortgange eilte unsere Tonkunst einer neuern höheren Stufe entgegen; sie hatte ja, fühlt man sich versucht hinzuzufügen, das in früherer Zeit, im Jahrhundert des dreißigjährigen Krieges Versäumte nachzuholen. Die Zurückgebliebene mußte eilen, um die in der Entwickelung weit fortgeschrittene italienische Musik einzuholen. Bald traten Männer, wie Emanuel Bach, Gluck, Haydn, auf und bewirkten eine große Umgestaltung, schufen einen neuen Styl, eine neue Periode der Tonkunst. Die Kritik, nicht so schnell vorwärts eilend wie jene schöpferischen Geister, verkannte längere Zeit hindurch diese neuen Erscheinungen, und suchte noch ihren alten, tatsächlich überwundenen und beseitigten Standpunkt3 geltend zu machen, als in der Kunst selbst schon eine ganz andere Richtung die herrschende war. Man darf, um sogleich einen schlagenden Beweis für dieses Zurückgebliebensein der Kritik zu führen, nur an die Beurtheilung erinnern, die der große Gluck in Deutschland erfuhr, an die Beurtheilungen namentlich, die ihm von Seiten des Seb. Bach’schen Schülers, Bewunderers und Biographen Forkel in seiner kritischen Bibliothek zu Theil wurden.4 Keine Spur irgend eines Verständnisses zeigt sich hier; das Trefflichste ist verkannt und das Genie mit schulmeisterlichem Maßstabe gemessen. Unterdeß war durch Kant, Göthe und die anderen großen Männer jener Epoche eine mächtige Umgestaltung in Wissenschaft und Kunst herbeigeführt worden, eine Umgestaltung, die, es konnte nicht fehlen, auch auf die Tonkunst und deren kritische Betrachtung den lebendigsten, nachhaltigsten Einfluß äußern und der zurückgebliebenen Kritik eine entsprechende Fortbildung gewähren mußte. Es traten Schriftsteller auf, die, durch jene Heroen gebildet, der bald auf ihren Höhepunkt gelangten
Wöchentliche Nachrichten und Anmerkungen die Musik betreffend, herausgegeben von dem Leipziger Konzertdirektor, Organisten und späteren Thomaskantor Johann Adam Hiller (1728 –1804), erschienen von 1766 bis 1770. 3 Zur Kategorie des „überwundenen Standpunktes“ vgl. die Einleitung „Anfänge der Kontroverse“, NdS 1, S. 2. 4 Forkel 1778 Ueber die Musik des Ritters Christoph von Gluck. Forkel kritisierte die Bestrebungen des „angeblichen Reformators“ (ebd., S. 53) Gluck, u. a. dahingehend, dass diese in seiner Oper Alceste (UA 1767) „zu wenig Melodie […], ein trocknes Rezitativ und zu vernachlässigte einzelne Theile“ (ebd., S. 210) zur Folge hätten. 2 Die
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Tonkunst nacheilten und ein geistreicheres Element in die Auffassung und Beurtheilung der Musik brachten; Schriftsteller, ausgezeichnet durch weit umfassende Bildung, wie Fr. Reichardt5, der bekannte Liedercomponist und Freund Göthe’s, und insbesondere Friedr. Rochlitz6, der Gründer der allgem. Leipz. musikal. Zeitung, gleichfalls Göthe durch näheren Umgang vertraut. Sowie die Tonkunst selbst aus ihrer Abgeschlossenheit in Kirche und Schule heraus in eine freiere Region sich begeben hatte, und in den bunten Wechsel des Weltlebens eingetreten war, so wie hier jetzt der Contrapunct, einem bewegteren Tonspiel weichend, seine alleinige Macht und Herrschaft verloren hatte, so hatte sich jetzt auch die Kritik von den bisherigen Gesetzen emancipirt, und nicht mehr Prüfung der technischen Correctheit galt ihr nun als die Hauptsache, sondern Erfassung des Inhaltes, der durch das Tonstück ausgedrückten Empfindung, des Geistes überhaupt. Der namentlich durch Rochlitz begründete und entwickelte Standpunkt der psychologischen Beschreibung, der psychologischen Analyse, ein dem vorangegangenen gerade entgegengesetzter, wurde jetzt der herrschende. An die Stelle eines objektiven, durch feste Regeln bestimmten, auf Naturgesetze sich gründenden, aber geistleeren Urtheiles trat ein subjektives, schwankenderes, aber geistvolleres. Die in einem Tonstück enthaltene Empfindung rein in sich aufzunehmen und ohne alle Rücksicht auf das Technische sich zum Bewußtsein zu bringen und auszusprechen, war jetzt die Hauptsache; dem Empfindungswechsel der Composition beschreibend zu folgen, darin suchte man jetzt die Aufgabe der Kritik. Eine ganz andere Ansicht über den Contrapunct machte sich geltend, und es wurde geradezu ausgesprochen, daß dieser unwesentlich sei. Sehr charakteristisch ist in dieser Beziehung, was Rochlitz im zweiten Jahrgang seiner Zeitung vom Jahre 1800 sagt: „Wie, mein Freund, Sie sollen einer jungen Dame Unterricht geben im Generalbaß, Contrapunct, im gelehrten Satze, und ich soll mich über diese Nachricht freuen? Nun ja, ich thue mein Möglichstes, aber aufrichtig, es will mir nicht recht gelingen; es ist, als ob ich nicht wagte, darüber froh zu werden. Ihre schöne Schülerin glaubt weit mehr, weit reineren Genuß an den Werken der Tonkunst zu haben, wenn sie sich eine gründliche Kenntniß der Harmonie und ihrer Gesetze erworben haben wird. Mir ist um Ihretwillen bange. Musik und deren Genuß machte bisher ihre vorzüglichste Unterhaltung in den schönsten Stunden ihrer Einsamkeit aus. Wie, wenn sie auf dem jetzt erwählten Wege Gefahr liefe, sich um Alles, oder doch den größten Theil dieses Wohlthätigen zu bringen? Glauben Sie nicht, daß ich zu den Schwärmern gehöre, welche das Denken den Tod des Gefühles nennen, aber daß der reine Genuß an einem Kunstwerk aufhört, wenn man über die Mittel und Wege, wodurch man gerührt wurde, grübelt, das ist
5 Johann Friedrich Reichardt (1752 –1814), deutscher Komponist und Musikkritiker, der u. a. mit seinem von 1781 bis 1792 erschienenen Musikalischen Kunstmagazin für eine nicht mehr allein auf kompositionshandwerklichen Kriterien basierende Musikkritik eintrat. 6 Friedrich Rochlitz (1769 –1842), deutscher Musikschriftsteller, war u. a. Gründer der zwischen 1798 und 1848 erscheinenden AmZ, deren Redakteur er bis 1818 war. Rochlitz stand mit zahlreichen bedeutenden Zeitgenossen in engem Kontakt, wie etwa Goethe, Schiller und E. T. A. Hoffmann.
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nur allzuge-[3]wiß. Aller Genuß in unserem Leben ist mehr oder weniger Traum, und man darf nicht wachen, um zu träumen.“7 Es ist in diesen Worten entschieden das Gegentheil von allem bis dahin für wahr Gehaltenen ausgesprochen. So wie in der Kunst an die Stelle eines mehr verständigen Schaffens in Haydn und Mozart ein freies Waltenlassen des Genius getreten war, so sehen wir auch hier entschieden das Schwelgen in der Empfindung mit Beiseit setzung eines zugleich erkennenden und denkenden Genusses an die Spitze gestellt. Fr. Rochlitz hat sehr bedeutend gewirkt, und es gewährt mir Vergnügen, daß sich eine Gelegenheit darbietet, darauf aufmerksam machen zu können, da seine Verdienste um die Tonkunst später zum Theil aus Unkenntniß zu wenig eine gerechte Würdigung gefunden haben und man ihn in neuerer Zeit hin und wieder vernachlässigt und zurückgesetzt hat. Rochlitz erst hat den Deutschen ein Bewußtsein über die Heroen ihrer Tonkunst, Händel, Bach, Haydn, Mozart, Beethoven eröffnet; er war es, der das allgemeinere Verständniß jener Männer zuerst vermittelt hat. Wenn jetzt in jenen Rochlitz’schen Arbeiten nichts besonders Hervorstechendes mehr zu erblicken ist, so ist daran zu erinnern, daß das, was damals neu war, nun schon längst Gemeingut der Menge geworden ist, es ist daran zu erinnern, daß damals selbst bedeutende Männer noch nicht zu solcher Einsicht herangereift waren – der geistreiche Reichardt z. B. konnte noch im Jahre 1805 in seiner in Berlin erscheinenden musikalischen Zeitung Idomeneo für Mozart’s beste Oper erklären, weil dieselbe in Gluck’schem Styl gearbeitet ist und Reichardt über diesen hinaus zu einer umfassenderen Würdigung des durch Mozart bewirkten Fortschrittes nicht hatte gelangen können –; es ist endlich an die vielen verkehrten, Mozart’s Charakter als Mensch verkleinernden Urtheile zu erinnern, die noch zu Anfange dieses Jahrhunderts im Gange waren, und die erst Rochlitz durch genauere Charakteristik beseitigte. Jetzt freilich zweifelt Niemand daran, daß Männer wie Mozart, Beethoven u. A. die deutsche Nation verherrlicht haben. – Aber nicht blos die Anerkennung jener Heroen hat Rochlitz vermittelt; er ist stets auch mit Liebe auf Talente zweiten und dritten Ranges eingegangen, hat Ihre bescheidneren, aber schätzenswerthen Leistungen dem Publikum nahe gelegt und so Vieles der Vergessenheit oder der Gefahr des Vergessenwerdens entrissen, was als Glied in der Entwickelungskette nicht übersehen werden darf. Er hat endlich eine Menge Fragen über Tonkunst zur Sprache gebracht und durch ihre populäre Erörterung wesentlich die Bildung der zurückgebliebenen Musiker gefördert. Wenn er sich Anfangs über Beethoven täuschte, so kann nur böser Wille ihm daraus, wie es zuweilen geschehen ist, einen Vorwurf machen, da er es gerade war, der später wesentlich zum Verständniß dieses großen Meisters beigetragen hat und von diesem unter allen musikalischen Schriftstellern am höchsten geschätzt und zum Biographen für sich selbst gewünscht wurde. In Rochlitz war noch vereinigt und zu einem Ganzen verbunden, was in neuerer Zeit gesondert, einseitig und hin und wieder bis zum Extrem gesteigert sich geltend
7 Rochlitz
1799 Bruchstücke, Sp. 177 und Sp. 179.
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machte: Wohlwollen, Humanität, und zugleich Schärfe und Bestimmtheit des Ur theils. Jene Humanität hat sich später oftmals in eine flache, auch das Gewöhnlichste anerkennende Auffassungsweise umgesetzt, und dieser ist wieder eine herbe, rücksichtslose Kritik gegenüber getreten. Die Vereinigung jener Eigenschaften war die Ursache, daß wohl kein Kritiker eine so allgemeine Verehrung, so allgemeines Zutrauen von Seiten der Künstler genossen hat, als Rochlitz; eine Verehrung, von welcher ich oft Gelegenheit hatte mich zu überzeugen, wenn ich mit älteren Musikern darüber sprach. In der Hauptsache ist der von Rochlitz geltend gemachte Standpunct der psychologischen Beschreibung noch der gegenwärtig herrschende; es sind ihm Männer gefolgt, die jünger als er und gebildet von einer unterdeß fortgeschrittenen Zeit, manches Spätere einer richtigeren Würdigung unterworfen haben, insbesondere eine mehr moderne Behandlungsweise sich anzueignen wußten; – denn wenn auch der ältere Mann stets jugendlich fortstrebend an den Erscheinungen der Zeit Theil nimmt, so ist es doch ein ganz Anderes, ob Jemand schon gereift und in seiner Bildung bis zu einem gewissen Grad hin abgeschlossen, dieses Neue aufnimmt, oder ob er noch jugendlich unfertig, darin erst sich emporbildet – ich sage, es sind ihm Männer gefolgt, die manches Spätere einer richtigern Würdigung unterworfen haben und sich eine mehr moderne Behandlungsweise anzueignen wußten, zunächst in der allgemeinen musikalischen Zeitung, dann in anderen neu entstandenen Blättern; die Meisten aber nahmen jene früheren kritischen Leistungen zum Ausgangspunct, waren gebildet durch diese, und haben im Wesentlichen jenen Standpunct nicht verlassen, im Einzelnen zwar überstiegen, nicht aber in einer das ganze große Gebiet der Musik durchdringenden Gesammtauffassung. Vorzugsweise sind hier zu nennen: Fink8, der in der Geschichte der Tonkunst vorzüglich unterrichtet, vieles Tüchtige geleistet hat, öfter jedoch allerdings eine größere Schärfe und Bestimmtheit des Urtheils wünschen ließ; L. Rellstab9, der in das, was er mit Liebe erfaßte, sich geist-[4]reich hineinzuleben wußte; Marx in Berlin, der am Meisten von der neueren Wissenschaft berührte, geistreiche Kritiker und Theoretiker, so sehr er auch vor Kurzem bekämpft worden ist, so sehr auch das einseitige Princip, welches er vertritt, ihn zu Abwegen im eigenen Schaffen verleiten mag; endlich die Männer, welche die neue Zeitschrift für Musik gründeten,10 und durch ihre Beiträge unterstützten, vorzugsweise entweder, insbesondere anfangs, der neuesten Richtung der Tonkunst Bahn brechend oder bemüht, immer mehr die musikalische Betrachtung der Wissenschaft näher zu führen, das wissenschaftliche Element jener einzubilden. Zuletzt sah noch die neueste Zeit mehrere beachtenswerthe Erscheinungen auf kritischem
8 Gottfried
Wilhelm Fink (1783 –1846), deutscher Musikschriftsteller, evangelischer Theologe und Dichter, war von 1827 –1842 Chefredakteur der AmZ. 9 Ludwig Rellstab (1799 –1860), deutscher Dichter und Musikkritiker, arbeitete u. a. von 1826 bis 1860 als Kritiker bei der einflussreichen Berliner Vossischen Zeitung. In den Jahren 1830 gründete er die Musikzeitschrift Iris im Gebiete der Tonkunst, welche er bis 1841 herausgab und worin nahezu alle Artikel von ihm stammten. Nicht zuletzt seine umfangreiche Tätigkeit für die Iris verhalf Rellstab zu dem Ruf als einem der hervorragendsten – tendenziell konservativen – Musikkritiker Deutschlands. 10 Die NZfM wurde 1834 von Robert Schumann, Friedrich Wieck, Julius Knorr, Ludwig Schuncke, Ernst Ortlepp und Ferdinand Stegmayer gegründet.
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Gebiete hervorgehen. Diese sind jedoch noch zu sehr im Werden, als daß ein abschließendes Urtheil darüber an der Zeit wäre. Rochlitz hat das Verdienst, die Kritik dieses Jahrhunderts begründet und zwei Jahrzehnte hindurch geleitet zu haben. Der Fortschritt dieser Kritik war, daß weit mehr in den Geist des Kunstwerkes eingegangen wurde, als früher, daß überhaupt geistreichere Fragen und Untersuchungen zur Sprache gebracht wurden, daß auch in der Kritik ein freieres Bewußtsein sich entfaltete; der Mangel jedoch, daß jetzt nur eine weit schwankendere, unsicherere Basis sich vorfand, daß eine gute Kritik mehr von den zufälligen Eigenschaften, von der Empfänglichkeit des Kritikers, von seiner künstlerischen und allgemeinen Bildung, seiner Individualität, seinen Sympathieen und Antipathieen abhängig wurde, als früher, daß man die objective feste Grundlage des ersten technischen Standpunctes, die auch minder Befähigte in den Stand setzte, sicher zu urtheilen, die überhaupt weit weniger Schwankungen zuließ, verlassen mußte. Jetzt auf diesem zweiten psychologisch beschreibenden Standpunct ist die Kritik nur der Reflex des Kunstwerks; der Kritiker giebt wieder, wie sich die Composition in seinem Geiste spiegelt; der Eindruck, den das Werk auf seine, es bleibt unentschieden, ob hinreichend gebildete, oder verbildete oder beschränkte Empfindung macht, bestimmt das Urtheil. Der Kritiker theilt noch die halbe Bewußtlosigkeit, das Empfindungsleben des Künstlers, und er vermag deshalb wohl den Inhalt des Kunstwerkes als Empfindung, nicht aber als Gedanken auszusprechen. Ueberhaupt wurde es auf diesem Standpunkt der Betrachtung Sitte, die Musik als die Kunst, durch Töne Empfindungen auszudrücken, zu erklären, Sitte, anzunehmen, daß nur ein bestimmter Empfindungsgehalt in einem Tonwerke niedergelegt sei. Es ist aber immer noch eine sehr dürftige, bewußtlose Aeußerung, wenn man nur zu sagen vermag, wie man sich in seiner Empfindung berührt fühlt, wenn man in einem Kunstwerke nur Empfindungen ausgesprochen findet. Alle objective Bestimmtheit und Schärfe der Auffassung fehlt, und die Kunstentwickelung als ein zusammenhängendes Ganze[s] zu erfassen ist unmöglich. Die Erzeugnisse der Kunst erscheinen als ein gleichgiltiges, zufälliges Nebeneinander und Nacheinander, und es wird nicht erkannt, daß die gesammte Weltanschauung einer Zeit, der geistige Gehalt derselben, auch in den Werken der Tonkunst sich ausprägt. Zu einer Zeit, wo die Kunst noch in geschlossener, geordneter Entwickelung sich bewegte, wie zu Ende des vorigen und zu Anfang dieses Jahrhunderts, wo große Künstler den Mittelpunkt, um den sich Alles sammelte, bildeten, war dieser Standpunct der Kunst entsprechend und vollkommen ausreichend. Er mußte zudem nothwendig durchlaufen werden. Später jedoch, in neuerer und neuester Zeit, wo die heterogensten Subjectivitäten in der Kunstwelt auftraten, wo das stolze Gebäude unserer Tonkunst in mehrfacher Hinsicht zu sinken und auseinanderzufallen begann, wurde die Kritik, da sie nicht eine selbstständige feste Stellung der Kunst gegenüber behauptete, sondern mit derselben aus einer Basis erwachsen war, unsicher, schwankend, unvermögend, den in mehrfacher Hinsicht unleugbaren Verfall der Kunst zu hemmen und festgewurzelten, bösen Gewohnheiten entgegenzutreten, selbst theilweise in den Verfall hineingezogen. Die Kritik hörte auf, schon seit geraumer Zeit, streng genommen und im höheren Sinne, ihre wahre Bestimmung zu erfüllen. Im Einzelnen ist stets Gediegenes geleistet worden; aber im Großen und Ganzen fehlte es an einem festen und
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sicheren Fundament. Zur Zeit, als Rochlitz wirkte, reichte es aus, wenn eine gediegene Persönlichkeit den Hintergrund bildete. Jetzt kann dies nicht mehr genügen; jetzt wird es die Aufgabe, ein bewußtes Geistesleben an die Stelle nur individueller Geschmacksbildung treten zu lassen. Ich wende nach diesen Erörterungen den Blick auf die Kunst selbst, auf die Tonkunst unserer Tage, um das, was ich bisher aus der Betrachtung des Standpunctes der Kritik allein erwies, durch Beispiele aus dem Kunstleben selbst zu erhärten. Die Kritik hat den schnellen Verfall der Kunst, die Menge verfehlter Erzeugnisse, welche die neuere Zeit entstehen sah, wenn auch nicht allein, so doch sehr verschuldet. Wenn meine Schilderung ein fortlaufender Tadel ist, so bemerke ich, daß ich allein Richtungen im Großen und im Ganzen charakterisire, abgesehen von einzelnen Ausnahmen, daß ich damit dem höheren Streben Einzelner in der Gegenwart nicht zu nah, trete, überhaupt, wie bemerkt, weniger die Künstler, mehr die Kritik beschuldige. – Für den einzelnen Künstler, [5] wenn ihn nicht ein Alles überwältigendes Genie unterstützt, für das Talent ist es schwer, mit einem Male den allgemein betretenen Weg zu verlassen und neue Richtungen geltend zu machen. Ich fasse zunächst beispielsweise die Oper ins Auge; es sind fünf Hauptgebrechen, die hier neben vielen anderen Mängeln der Betrachtung vor Allem sich darbieten. Die Italiener haben die große Oper, in der der Dialog recitativisch behandelt ist, ausgebildet, und die Deutschen wurden veranlaßt, diese Kunstform aufzunehmen. Die Gattung, in der Gesang und Sprechen, gewöhnliche Recitation, abwechseln, die Operette, kam später von Frankreich herüber. Gerade diese unkünstlerische Kunstart jedoch hat in Deutschland bald großen Beifall gefunden und wurde nicht blos auf kleine, unbedeutende, oder komische Theaterstücke, wo vielleicht ein solcher Wechsel am Ort sein kann, angewendet, sondern sogar auf die große Oper übergetragen. Dieser Wechsel von Sprechen und Gesang ist das Aeußerste der Geschmacklosigkeit, eine Barbarei, die das bei aller Trivialität kunstsinnigere Italien nie geduldet haben würde. Es gehört wenig Nachdenken dazu, um zu finden, daß vor Allem Einheit der Kunstmittel vorhanden sein muß, wenn ein harmonischer, künstlerischer Eindruck hervorgebracht werden soll. Unsere Kritik jedoch, eingeschüchtert durch das Beispiel unserer Heroen Mozart und Beethoven, die, gebunden durch die größte Macht Deutschlands, die Gewohnheit, gleichfalls dieser Geschmacklosigkeit zum Theil huldigen mußten, unsere Kritik hat nicht nur nicht auf diese Verirrung aufmerksam gemacht, es haben sich sogar namhafte Schriftsteller gefunden, die dieselbe vertheidigten und empfehlen zu müssen glaubten, meinend, ein solcher Wechsel sei recht angenehm, um von der Musik auszuruhen, das viele Singen ermüde doch, und man könne auch dem Gange der Handlung besser folgen, wenn abwechselnd gesprochen werde.
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Kiesewetter11 sagt mit Recht: „In einem ganz auf Musik gegründeten Werke kann das, was zwischen den melodischen Theilen, dem höchsten Ausdruck der Leidenschaft, liegt, nur eine durch Musik erhöhete Deklamation sein, sonst ist die Kluft zu groß und der Begriff eines musikalischen Drama’s aufgehoben,“ und vergleicht den Wechsel von Sprechen und Gesang der Wirkung eines kalten Douchebades.12 Aber eine solche kurze Notiz in einem Werke, welches das größere Publikum nicht zur Hand nimmt, reicht nicht aus; es muß das Abgeschmackte solcher Art ausführlich erörtert und Künstlern und Publikum nahe gelegt werden, wenn man sich der Hoffnung einer gänzlichen Beseitigung hingeben will. Die musikalische Kritik hätte dieses Geschäft übernehmen müssen. Auch in anderer Beziehung, was dramatisches Leben betrifft, ist die Oper von der Höhe, die sie im vorigen Jahrhundert erreicht hatte, herabgesunken und befindet sich auf der Stufe des tiefsten Verfalles. Die Kritik hat bei diesem ganzen Fortgange, diesem zweiten Hauptgebrechen der gegenwärtigen Oper, wenn nicht Beifall gespendet, doch geschwiegen, und es ist ihr nicht in den Sinn gekommen, der herrschenden Thorheit mit Kraft und Energie entgegenzutreten, und, wenn es sein mußte, mit allen zu Gebote stehenden Waffen, auch des Witzes, der Satyre, des Spottes, das Bessere zu vertheidigen. Man vermag die Schlaffheit und Lauheit, die Gedankenlosigkeit auf diesem Gebiete kaum zu begreifen, wenn man damit das rege Leben in anderen Sphären, in Literatur, Poesie und Wissenschaft, vergleicht. Ganz wie vor Gluck sind sinnlose Gesangfiguren namentlich in der italienischen wieder zur Herrschaft gelangten Oper und anderen dieser nachgebildeten Werken an die Stelle dramatischen Ausdruckes getreten; ganz wie vor Gluck opfert man dramatischen Fortschritt, poetische Wahrheit auf, um dem Sänger Gelegenheit zu geben, seine Virtuosität zu entfalten, so daß man gegenwärtig oftmals nur Genuß finden kann, wenn man von den Forderungen des Verstandes ganz absieht, und sich einer gedankenlosen, sinnlichen, wollüstigen Anregung überläßt. So wie die Sachen jetzt standen, war es beinahe eine ausgemachte Sache, daß man in der Oper nur Widersinniges zu erwarten habe, da ja die Musik, die Schönheit derselben, abgesehen von der Einheit mit dem Text, die Kunst des Vortrages, der Darstellung und alles dahin Gehörige die Hauptsache sei. Man hat sich darein ergeben, ohne nach etwas Anderem, Geistvollerem Verlangen zu tragen. Dahin ist es gekommen, daß ernster strebende Männer, denen die Verwirklichung hoher, nationaler Zwecke am Herzen liegt, die die vorherrschende Gemüthlichkeit beseitigen und das deutsche Volk zu männlicher Charakterenergie emporbilden möchten, von der Musik sich abwenden mit der Entschuldigung, mit der Beschuldigung, daß die Tonkunst nur der Verweichlichung
11 Raphael
Georg Kiesewetter (1773 –1850), österreichischer Musikgelehrter, hatte vor allem durch seine musikhistorischen Forschungen, wie etwa seiner Schrift Die Verdienste der Niederländer um die Tonkunst (ED 1829) oder der Studie zu Guido von Arezzo (ED 1840) Bedeutung erlangt. 12 Im Original heißt es: „Wieviel auch die Gewohnheit ertragen lehrt, wird doch Jedermann gestehen müssen, etwas einer kalten Douche Aehnliches zu empfinden, wenn nach den herrlichsten, mit vollem Pomp der Instrumente auf ihn einwirkenden Gesängen, die Fürsten, Helden und Heldinnen des Drama mit einem Male die nackte Prosa des gemeinen Alltag-Lebens zu sprechen anfangen“ (Kiesewetter 1841 Schicksale und Beschaffenheit des weltlichen Gesanges, S. 55 f.).
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diene und alle Thatkraft und Strebsamkeit hemme. Die Wirklichkeit ins Auge gefaßt, leider gar sehr mit Recht! die Möglichkeit vorgestellt, sehr mit Unrecht! Ich sage, selbst die bessere Kritik hat zu diesem ganzen Fortgange geschwiegen, hat es geschehen lassen, daß italienische Sinnlosigkeiten, undramatische Bravourfiguren immer mehr die deutschen Theater überschwemmten, ohne einen kräftigen Versuch der Unter-[6]drückung zu wagen, und doch hatte sie gar nicht einmal nöthig, die Gesetze dramatischer Musik zu entwickeln, sie durfte sich nur dessen erinnern, was schon Gluck theoretisch und praktisch mit höchster Klarheit ausgesprochen und geleistet hatte. Schon Gluck sagte vor länger als einem halben Jahrhundert: „Als ich es unternahm, die Alceste in Musik zu setzen, war es mein Vorsatz, die Oper von allen jenen Mißbräuchen zu reinigen, welche durch eine übel verstandene Eitelkeit der Sänger oder durch eine zu große Nachgiebigkeit der Tonsetzer eingeführt, seit so langer Zeit die italienische Oper entstellen und aus diesem großartigsten und schönsten das lächerlichste und langweiligste aller Schauspiele machen. Ich wollte die Musik auf ihre wahre Aufgabe beschränken, der Poesie zum Behufe des Ausdrucks der Worte und der Situation des Gedichtes zu dienen, ohne die Handlung zu unterbrechen, oder diese durch unnütze, überflüssige Zierrathen zu erkälten. Darum habe ich weder die handelnden Personen in der größten Wärme des Dialogs aufhalten wollen, um ein langweiliges Ritornell abzuwarten, noch wollte ich sie in der Mitte eines Wortes auf einem günstigen Vocale Halt machen lassen, um in einer langen Passage mit der Geläufigkeit ihrer schönen Stimme zu prangen. Ich wollte vermeiden, mit Schwierigkeiten auf Kosten der Klarheit zu glänzen; die Erfindung irgend einer Neuheit galt mir nur dann Etwas, wenn sie sich natürlich aus dem Ausdrucke und aus der Situation ergab, und ich trug niemals ein sonderliches Bedenken, der Wirkung zu Liebe auch wohl eine Regel aufzuopfern.“13 Schon Gluck hatte die Aufgabe der dramatischen Musik, wie die mitgetheilten Sätze beweisen, vollkommen erfaßt, und ich konnte daher mit Recht auf sein Beispiel hindeuten. Aber jener herrliche Mann hat nur wenig Nachfolger gefunden und nie eine feste dauernde Stellung und Anerkennung beim großen Publikum gewinnen können. Schüchtern und behutsam hat man wohl auf sein Beispiel hingedeutet; man hat es andrerseits wohl als eine ausgemachte Sache unter Kennern betrachtet, daß die gegenwärtige italienische Oper nichts taugt. Jene Zaghaftigkeit jedoch und dieses vornehme Schweigen konnte hier unter solchen Umständen wenig nützen; es muß kräftig und ausdauernd dagegen gesprochen werden, wenn hier Erfolge errungen werden sollen. Hin und wieder ist es wohl auch geschehen, daß man jenen Verkehrtheiten entschieden gegenübergetreten ist. Aber es reicht nicht aus, zu sagen, daß dies Alles dem guten Geschmack zuwiderlaufe; es muß dies durch Eingehen in die Gesetze der Kunst nachgewiesen werden. Es reicht nicht aus, die gegenwärtige italienische Musik der Gedankenlosigkeit, des Mangels an Inhalt zu beschuldigen. Es muß das gegenwärtige Treiben der Nation überhaupt, ihre politische und allgemeine
13 Aus Christoph Willibald Glucks 1769 veröffentlichter Vorrede zur Oper Alceste (ED 1769). Im Original auf Italienisch.
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Bildung ins Auge gefaßt und gezeigt werden, wie aus diesem gesunkenen Volksleben, wie aus dieser schwächlichen, niedergedrückten, entnervten, altersgrauen Nation unmöglich etwas unserer Bildung, unserem Streben und Hoffen Entsprechendes hervorgehen kann. – Wenn ich hier auf Gluck und sein großes Beispiel hindeutete, so ist natürlich nicht meine Meinung, den Componisten der Gegenwart anzurathen, jetzt genau wie Gluck zu schreiben; die großen Erweiterungen, die die spätere Zeit gebracht hat, zu ignoriren und einen längst überwundenen Standpunct zurückzuführen. Nur das Princip Glucks soll aufgenommen und der Musik der Gegenwart eingebildet werden, denn für die heutige Tonkunst, für die heutige Oper scheint Gluck gar nicht vorhanden gewesen zu sein, so sehr hat Alles einer weitabliegenden Richtung sich zugewendet. Wir besitzen wenig gute Operntexte. Dies ist der dritte Punct der Beschwerde. Unsere Dichter halten es, trotz dem, daß Göthe mit seinem großen Beispiele vorangegangen ist und die Oper nicht unwerth seiner Beachtung fand,14 für zu gering, Dichtungen für musikalische Compositionen zu schreiben. Man kann die nicht musikalischen Dichter nicht tadeln, wenn sie das Vorurtheil des Publikums theilten und den Text nur für ein etwas geistreicheres do, re, mi, fa hielten. Der Kritik ist allein die Schuld beizumessen, wenn die Operndichtung Anfängern oder den mäßigsten Talenten überlassen wurde, indem sie versäumte zu entwickeln, daß auch in der Oper dichterisch Bedeutendes, was Wahl des Stoffs, Erfindung, Gestaltung im Großen und Ganzen betrifft, selbst bis herab auf sprachliche Einkleidung geleistet werden kann. In der wahren Oper z. B. muß es sich zeigen, ob der Dichter in dem Gebiete der Empfindung heimisch ist, ob er vermag, consequent und aus einer Grundanschauung heraus die Stimmungen seiner Personen jeder neuen Situation gemäß fortzuentwickeln und zu steigern. Im Drama können durch rhetorische Pracht und Sentenzen weit leichter die Mängel der Charakterentwickelung verdeckt werden. Weiterhin ist ein wesentlicher Tadel der Oper folgender: Unsere deutschen Operndichter treiben sich, was die Wahl der Stoffe betrifft, in der engsten kleinbürgerlichen Sphäre, im Geisterreich und verwandten Gebieten umher. Hofgeschichten, Hofintriguen, bürgerliche Familienscenen, der Jammer unglücklicher Liebe bei Personen, die durch kein anderes tieferes Pathos uns veran-[7]lassen, auch an diesen Privatangelegenheiten Theil zu nehmen, u. dgl., das sind meist die großen Gegenstände, für die sich Tausende interessiren sollen. Ich verwerfe keineswegs diese Stoffe schlechthin, nur die ausschließliche Herrschaft derselben. Jetzt verlangt die Zeit, die mächtig bewegte Zeit entschieden auch in der Oper einen bedeutenderen, tieferen, insbesondere, ja fast ganz allein geschichtlichen Inhalt, und es ist hierin zum Theil der Grund zu suchen, warum Werke, wie die Stumme von Portici15, die Hugenotten16,
14 Johann
Wolfgang von Goethe hatte nicht nur selbst Operntexte verfasst, sondern sich auch in ästhetischen Schriften wie etwa der Abhandlung Über Wahrheit und Wahrscheinlichkeit der Kunstwerke (ED 1798) für die Anerkennung der Oper als eigenständiger Kunstform eingesetzt, in: Goethe-Werke 18, S. 501– 507. 15 Daniel-François-Esprit Auber, La Muette de Portici (Die Stumme von Portici, UA 1829). 16 Giacomo Meyerbeer, Les Huguenots (UA 1836).
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in ganz Europa, Wagner’s Rienzi in Dresden entschiedenen Beifall fanden. Unsere Kritik aber hat den Umstand, daß nur die Oper sich Anerkennung in weiteren Kreisen und Dauer versprechen darf, die schon durch ihren Stoff ein allgemeineres und tieferes Interesse in Anspruch nimmt, fast gar nicht bemerkt. Sie warnt sogar vor der französischen Oper, ohne das Großartige, was dieselbe durch den bedeutenden geschichtlichen Hintergrund unstreitig besitzt, zu erkennen, und die deutschen Werke vermögen sich daneben kaum in ihrem Vaterlande, geschweige im Auslande emporzuarbeiten. Endlich ein Punct, welcher meines Erachtens noch gar nicht zur Sprache gebracht worden ist, sich aber als einer der wichtigsten darstellt. Ich habe in einer meiner Vorlesungen in Leipzig17 über die verschiedenen Principien gesprochen, welche der Bildung der Gesangsmelodie zum Grunde liegen, und unterschied dort wesentlich drei: das melodische Princip, welches die italienische Musik zur Geltung gebracht hat, das verständig deklamatorische Frankreichs, und die einfache, deutsche, dem in sich gekehrten Weben des deutschen Gemüths entsprechende Melodie, aus deren Grunde die von Mozart vollbrachte Einigung und organische Durchdringung der verschiedenen Richtungen, eine Durchdringung des italienischen, französischen und speciell deutschen Principes möglich wurde. Die italienische Melodie betrachtet das Wort nur als den allgemeinen Anknüpfungspunct, als die Basis, und entwickelt sich dann frei und unabhängig von demselben. Die französische Melodie im Gegensatz schließt sich eng an das Wort, an den Wortaccent, den deklamatorischen Ausdruck, sie verschmäht jenes freie melodische Sich-Ergehen, und die Singstimme ist mehr als anderwärts Dienerin des Wortes; dort herrscht der allgemeine, hier der besondere Ausdruck vor. Bis auf Mozart hatten sich diese Richtungen unabhängig von einander, selbstständig entwickelt, so daß jede derselben ausschloß, was der anderen wesentlich war: das deklamatorische Princip die italienische Weise, und umgekehrt die italienische Melodie jene mehr verständige französische Auffassung, die ursprüngliche deutsche Melodie Beides. Es war die Aufgabe, jede dieser Richtungen erst rein für sich zu entwickeln und zur Erscheinung zu bringen, bevor Mozart eine innere organische Durchdringung vollbringen konnte, und es würde vor dessen That eine große Inconsequenz gewesen sein, den einen Styl mit Elementen des anderen äußerlich ausschmücken zu wollen. Mozart, in seinem Schaffen begünstigt durch Gluck’s Streben nach Charakteristik, steigerte das melodische Element Italiens, dieses allgemeine freie melodische Ergehen, zur Charakteristik des Besonderen, vereinigte das nothwendig Zusammengehörige, welches bis auf ihn nur erst in seinen Elementen hatte zur Entwicklung kommen können. Jetzt aber, nachdem diese Einigung einmal vollbracht war, geschah es, daß die Nachfolger Mozart’s bis herab auf die Gegenwart, ohne dessen Universalität behaupten zu können, dennoch die Mischung
17 Brendel
hatte bereits ab 1841 in Leipzig, Dresden und Freiberg private Vorlesungen in Musikgeschichte und Ästhetik gehalten, bevor er von 1846 bis zu seinem Tode Musikgeschichte am Leipziger Konservatorium lehrte. Diese Vorlesungen bildeten die Grundlage für seine einflussreiche und vielfach wieder aufgelegte Geschichte der Musik in Italien, Deutschland und Frankreich (Leipzig 1852, 21855, 31860, 41867 u. a.), deren Neuauflagen jeweils aktualisierte Änderungen und zum Teil umfangreiche Erweiterungen aufweisen.
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der verschiedenen Elemente beibehielten, und wenn sie z. B. wieder einer mehr rein deutschen Richtung huldigten, dennoch auch der italienischen Coloratur Zugang gestatteten, so daß auf diese Weise die verschiedenen Style principlos durcheinander gemengt wurden. Auf diese Weise ist es gekommen, daß wir oftmals Werken begegnen, welche ohne alles Bewußtsein über diesen wichtigsten Punct zusammenstellen, was eben passend scheint, daß Sänger und Sängerinnen Verzierungen sich erlauben, welche in einem italienischen Werke vielleicht ganz am Orte, in einem deutschen eine Geschmacklosigkeit sind, daß überhaupt die innere Consequenz und Wahrheit in Compositionen und Darstellungen vielfach verloren gegangen, und Manier, äußerliche Gewöhnung an die Stelle der Anschauung von dem innern Wesen der Sache getreten ist. Man hat solche Vermengung wohl als eine Geschmacklosigkeit erkannt, aber man hat den Innern Grund nicht erfaßt, und so ist Alles einem, in einer Zeit wie der gegenwärtigen, stets unsicherem Instinkt überlassen geblieben. So sehr bei allen diesen fünf Hauptgebrechen, die ich bis jetzt besprochen habe, die Kritik sich anschmiegte, und zur Passivität herabsank, so ist sie in anderer Beziehung wieder den Bewegungen der Zeit nicht gefolgt, ist nicht eingegangen auf wirklich Berechtigtes, hat sich an ganz unpassender Stelle in schroffer Opposition verhärtet und daher Zweifel gegen ihre Einsicht erweckt. Sie zeigte hier wohl eine sonst wünschenswerthe Energie, aber leider an unpassender Stelle, an einem Orte, wo sie im Irrthum und die Künstler im Rechte waren. Geschichtlich berechtigt waren die großen Talente Franz Schubert und Löwe und ein Theil ihrer Neuerungen, geschichtlich berechtigt andere Liederkomponisten, die sich diesen anschlossen, berechtigt war die sogenannte neu romantische Schule als Repräsentantin einer Zeitrichtung. L. Rellstab hat in seiner damals viel gelesenen Zeitschrift Iris18 gegen diese Männer einen [8] jahrelangen, nutzlosen Kampf geführt, hat namentlich Chopin auf die geringschätzigste Weise besprochen,19 ohne ein anderes Resultat zu erringen, als daß er endlich gezwungen war, die neuen Erscheinungen anzuerkennen. So kämpfte er später noch lange gegen Liszt, aus bloßem Vorurtheil, bis er endlich ihn hörte, kennen lernte, und nun in das Gegentheil, einen etwas überschwänglichen Enthusiasmus, umschlug, so daß er ihn später geradehin überschätzte. Was soll das Publikum zu diesen Stimmführern der öffentlichen Meinung sagen, wenn sich bei ihnen ein wirkliches Zurückgebliebensein hinter der allgemeinen Einsicht zeigt? Ich erkläre mich deutlicher, um auch den wirklichen Verdiensten Rellstab’s, den ich beispielsweise anführte, nicht zu nahe zu treten, Verdiensten, die er sich in der That erworben hat, obschon er nur ein kleines Blatt redigirte und zu größeren Expositionen seltener Gelegenheit hatte.20 Es ist unmöglich, einen geschichtlich berechtigten Fortgang zu hemmen und eine schon überstiegene Stufe zurückzuführen und an die Stelle derselben zu
vorliegender Artikel, Anm. 9. 19 Vgl. beispielsweise Rellstab 1833 Chopin Mazurkas. Ziel, welches er in der Erstausgabe, einem sogenannten Probeblatt der Iris, formuliert hatte, war es u. a. für eine tendenziell breite, musikinteressierte Leserschaft zu schreiben und daher gerade auf ausführliche Analysen oder Notenbeispiele zu verzichten (Rellstab 1830 Standpunkt). 18 Siehe
20 Rellstabs
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setzen. Die Aufgabe kann stets nur sein, die Forderungen der Zeit klar zu erkennen, darauf hinzuwirken, daß diese realisirt werden, und vor Abwegen, vor Rückschritten zu warnen. Rellstab dagegen suchte das Unmögliche möglich zu machen, einen schon zurückgelegten Standpunkt uns wieder vorzuführen, und neu zur Geltung zu bringen. Dem Liede z. B. ist wesentlich, obschon das Gedicht mannichfach nuancirte Stimmungen, Anschauungen, Vorstellungen enthalten kann, daß eine Grundempfindung sich durch alle Verschiedenheit hindurchzieht, daß es hauptsächlich nur einen Gemüthston anschlägt. Diese eine Grundstimmung zu fassen und in Tönen wiederzugeben, ist die Hauptaufgabe des Componisten. Die Melodie bleibt aus diesem Grunde für alle Verse dieselbe, und es erhöht sich nur durch diese Wiederholung die Eindringlichkeit. – Das Technische ins Auge gefaßt bewegt sich das Lied in einem ganz einfachen Kreise von Tonarten und Accorden, ohne schwierige und verwickelte Combinationen, ohne schroffe Uebergänge, weil zu der Ausgleichung dieser in einem so engen Kreise kein Raum sein, und ohne solche umfassendere Ausgleichung die Harmonie des Ganzen, die Einheit des Tones nur gestört werden würde. Dies ist der Begriff des Liedes. Diesen Begriff hatte Rellstab richtig erfaßt, namentlich von den trefflichen Compositionen L. Berger’s21 sich abstrahirt. Die neuere Zeit aber ist solcher gemüthlichen Genügsamkeit des Liedes feind. Sie ist fortgegangen zur Darstellung schärferer Contraste, zur Darstellung ganz bestimmter, gesonderter Seelenzustände, zur Darstellung dramatischen Lebens auch im Lied, einer Kunstgattung, die diese Behandlungsweise sonst ganz ausschloß. Rellstab’s Thätigkeit bestand nun darin, den aus Werken früherer Zeit gewonnenen Begriff des Liedes den Componisten der Gegenwart entgegenzuhalten und zu verlangen, daß diese von den Forderungen ihrer Zeit absehen und sich zur Vergangenheit zurückwenden sollten. Ein ganz unersprießliches, wenig erfolgreiches Thun! Ich bemerkte, daß ich auch der positiven Seite von Rellstab’s Wirksamkeit Gerechtigkeit widerfahren lassen müsse; es hat sich jetzt nur ein noch bestimmterer, schärferer Tadel ergeben. Aber die positive, berechtigte Seite seiner Kritik schließt sich hieran. Indem die neuesten Componisten auch im Lied zu schärferer Charakteristik fortgingen, verloren sie die, so lange von Kunst irgend die Rede sein soll, stets zu bewahrende Einheit der Stimmung aus dem Auge, und prägten allzusehr einzelne Seiten auf Kosten des Ganzen aus, gingen unter überhaupt in einer allzu materiellen Auffassung. Ich wähle ein Beispiel. Franz Schubert’s Erlkönig ist allbekannt. Die Musik an sich ist trefflich, aber als Composition dieses Gedichts ist sie verfehlt.
21 Ludwig Berger (1777 –1839), deutscher Komponist, Pianist und Klavierpädagoge, der in seinen im 19. Jahrhundert recht populären Liedern die Stilistik der sogenannten „Zweiten Berliner Liederschule“ zugunsten größerer Selbständigkeit der Klavierstimme und expressiverer Harmonik weiterentwickelte. Eine ausführliche Würdigung der Lieder Bergers findet sich auch in der nach dessen Tode erschienenen biographischen Schrift von Ludwig Rellstab (siehe Rellstab 1846 Ludwig Berger, S. 109 –123).
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Göthe’s Gedicht hat etwas Phantastisches, Luftiges, Geisterhaftes, SchauerlichUnheimliches, aus dem nur die Worte des Vaters und Kindes als befreundete menschliche Stimmen entgegentönen und zugleich einen ernsteren, tiefer greifenden Gehalt geben. Das ganze Bild eilt schnell vor unseren Blicken vorüber, und ich denke immer dabei unwillkürlich an eine andere Stelle des Dichters: Wolkenzug und Nebelflor erhellen sich von oben, Licht im Laub und Wind im Rohr, und Alles ist zerstoben.22 Fr. Schubert läßt den Erlkönig in einer menschlichen lieblichen Melodie singen, um dadurch einen Contrast zu den Schmerzenslauten des Kindes zu gewinnen. Er hat aber damit gerade das Wesentliche des Gedichtes verkannt. Ist Erlkönig eine so liebliche Erscheinung, so sieht man ja gar nicht ein, warum sich das Kind entsetzt; diese angenehmen Töne sollten es wirklich, was Erlkönig beabsichtigt, locken und gewinnen. Das Unheimliche der Lockung, das Unheimliche der ganzen Erscheinung, was Erlkönig nicht bezwingen kann, verschwindet, und somit ist der eigentliche Mittelpunct des Ganzen gar nicht zur Darstellung gekommen, die Folge, das Entsetzen des Kindes, ist zur Hauptsache geworden. Statt eines unheimlichen, von Nebeln verhüllten [9] Bildes hat Schubert eine gewöhnliche dramatische Effectscene gegeben. Das Ganze ist aus einer geisterhaften Region in eine volle materielle Wirklichkeit herabgezogen. Dieses Versinken in eine zu materielle, unpoetische Auffassung in Folge des Strebens nach dramatischer Lebendigkeit in solchen Fällen hat Rellstab richtig herausgefühlt. Hier hat er viel Beherzigenswerthes, Geistreiches zur Sprache gebracht und sich mannichfache Verdienste erworben. Statt aber die einmal durch die Zeitentwickelung gebotene Richtung im Ganzen anzuerkennen und demgemäß Gesichtspuncte aufzustellen, nur vor der allzugroßen Zersplitterung, vor einem Zerfallen der Composition in nicht organisch verbundene Theile zu warnen, statt zu leiten, zu orientiren, verwarf er allzuschnell die ganze Richtung. Die Kritik hat darum ihren Einfluß auf das Publikum verloren, indem dies zwischen jenen Urtheilen und seiner eigenen Empfindung einen nicht auszugleichenden Widerspruch entdeckte. Das Publikum hat sich zurückgezogen, über die Werke der Tonkunst sich ein eigenes Urtheil gebildet, und ließ dahingestellt sein, was die Kenner meinten. Ich muß hier eine Bemerkung einschalten, um einer möglichen Ungewißheit und Unsicherheit über eine der ausgesprochenen Ansichten zu begegnen. Ich tadelte die neuere Zeit, bemerkte, daß Schubert und andere neuere Liedercomponisten, die seiner Richtung huldigten, in eine zu materielle Auffassung verfallen wären, und behauptete doch zugleich die geschichtliche Berechtigung dieser Talente. Jede Erweiterung ist beim Sinken der Kunst – und auf dieser Stufe befinden wir uns jetzt wenigstens momentan –, jede Erweiterung, jeder Fortschritt ist beim
Faust I, „Walpurgisnachtstraum“. Im Original heißt es: „Wolkenzug und Nebelflor / Erhellen sich von oben. / Luft im Laub und Wind im Rohr / Und alles ist zerstoben“ (V. 4395 – 4398). 22 Goethe,
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Sinken der Kunst zugleich ein Rückschritt. Das Pianofortespiel z. B., die Kunst der Behandlung dieses Instrumentes hat in den letzten 30 Jahren unaufhaltsame, außerordentliche Fortschritte gemacht. Dem Pianofortecomponisten der Jetztzeit stehen Mittel zu Gebote, von denen man selbst noch vor 45 Jahren keine Ahnung hatte. Die Componisten der Gegenwart wissen weit mehr auf die Natur des Instrumentes einzugehen und seine Eigenthümlichkeit zu benutzen und heraustreten zu lassen als die früheren großen Meister, Beethoven nicht ausgenommen. Diese Thatsache ist unleugbar. Aber eben so ist der frühere über das Technische übergreifende und dieses bändigende, es nur zu seinem Ausdrucksmittel benutzende tiefere Geist verschwunden, und die Aeußerlichkeit leerer Formen hat die Ueberhand gewonnen. Unvermerkt von Jahr zu Jahr trat der Geist mehr zurück, und die leere, inhaltslose, aber außerordentlich in sich gesteigerte Form hervor; trotz der großen Erweiterungen des Instrumentes zeigen sich jetzt demnach weit geringere Leistungen als früher. Zugleich ist ein Fortschritt und ein Rückschritt vorhanden. So haben auch Fr. Schubert, Löwe ein dramatisches Leben, eine Schärfe der Charakteristik im Lied, im Gesang erreicht, die ihre Vorgänger nicht in dem Maße besaßen, haben Regungen der Seele zur Darstellung gebracht, die früher ihren Ausdruck noch nicht gefunden hatten. Aber sie sind damit zugleich auch aus jener künstlerischen Geschlossenheit und Ganzheit herausgetreten und haben oftmals das Einzelne auf Kosten des Ganzen geltend gemacht. Zugleich ein Fortschritt und ein Rückschritt. Dies als Episode zur Erklärung jener anscheinend widersprechenden Ansicht. Ich kehre zurück. Ich besprach die Kritik, sagte, so sehr sie einerseits in ihrer Stellung zur Oper in Passivität und Nullität versunken sei, so sehr habe sie sich auf der anderen Seite, aber am unrechten Orte, in schroffer Opposition verhärtet, und führte dies an dem Beispiele Rellstab’s durch. Ich fahre fort, das Ungenügende der Kritik aufzuzeigen. Es ist in neuerer Zeit eine große Schwankung in das Urtheil über die bedeutendsten Künstler gekommen, und die Kritik hat nicht vermocht, eine bestimmte befriedigende Ansicht aufzustellen und zur Geltung zu bringen. Bis zum Jahre 1830 war Seb. Bach im größeren Publikum so ziemlich in Vergessenheit gerathen. Er wurde mit scheuer Ehrfurcht erwähnt, ohne gekannt zu sein. Einzelne Kenner und auf würdige Zwecke gerichtete größere Institute, Singakademieen, waren die einzigen, denen er näher stand. Jetzt wurden mehrere große Werke von ihm zum ersten Male veröffentlicht,23 und nun geschah es, daß die Stimmführer ihn zum Meister aller Meister erhoben und Händel und Mozart ganz aus dem Auge verloren. Bis zum Jahre 1830 herrschte Mozart, und Beethoven vermochte nicht zu ganz allgemeiner Anerkennung zu gelangen. Die revolutionären Bewegungen brachten den Revolutionär Beethoven auf den Thron, und Mozart trat von Jahr zu Jahr mehr zurück in den Hintergrund und das Verständniß seiner Classicität schwand. Wie
23 1830 waren die Matthäus-Passion Johann Sebastian Bachs (herausgegeben von Adolf Bernhard Marx), 1830 die Johannes-Passion (herausgegeben von Ludwig Hellwig) und 1833 die Messe h-Moll (bei Simrock in Bonn) erstmals im Druck erschienen.
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man früher ungerecht gegen Beethoven gewesen war, so wurde man es jetzt hin und wieder gegen Mozart. Meyerbeer wurde von der einen Partei der größte Künstler, der Weltcomponist, der Vermittler aller nationalen Style genannt, und die andere Partei verabscheute ihn als einen, der wesentlich dazu beigetragen habe, die letzten Spuren, [10] eines guten Geschmackes und gesunder frischer Natur zu vernichten. Die sich gegenüberstehenden Ansichten haben an Schroffheit und Schärfe verloren, aber eine durch Hinabsteigen in die Tiefe vermittelte höhere Ansicht scheint nicht gewonnen zu sein. Die Kritik hat nicht vermocht, eine bestimmte und befriedigende Ansicht aufzustellen und zur Geltung zu bringen. Ich habe bis jetzt die beiden Hauptstufen der musikalischen Kritik charakterisirt; ich habe sodann Beispiele aus dem Leben der Kunst selbst angeführt, um das dort Nachgewiesene zu veranschaulichen und durch praktische Belege fester zu begründen; ich fasse jetzt das bisher Gesagte zusammen: Die Kritik hat schon seit geraumer Zeit aufgehört, ihre höhere Bestimmung zu erfüllen. Sie wurde schwankend, unsicher und verlor sich bei dem Mangel eines sicheren Standpunktes in widersprechende Ansichten. Sie ist in einzelnen Fällen auch später noch oft trefflich gewesen, aber es waren dies vereinzelte Leistungen; sie beschränkte sich auf unmittelbar vorliegende Aufgaben, auf Besprechung von Werken des Tages, ohne große allgemeine Blicke zu geben; sie war zurückgeblieben wie zu Ende des vorigen Jahrhunderts bei dem Uebergang von dem ersten zu dem zweiten Standpunct, nur daß damals die Kunst auf ihrer Höhe der Kritik weniger bedurfte, während jetzt dieselbe der Kritik und Wissenschaft nicht entbehren kann, mindestens weit langsamere Fortschritte machen und Verfehltes abwerfen wird. Es ist natürlich nicht entfernt meine Ansicht, die früheren kritischen Bestrebungen herabzusetzen; soll aber ein Weiterschreiten möglich sein, so muß man sich über die Mängel des Bisherigen orientiren. Ich habe jetzt diese Mängel aufgezeigt, zugleich das Positive der bisherigen Leistungen, welches die Basis für den Weiterbau darbietet, dargelegt. Die erste Stufe der Kritik verweilte in technischen Bestimmungen; die zweite gab psychologische Beschreibungen des Eindrucks. Die erste behauptete eine gewisse Allgemeingiltigkeit, war objectiv, aber der Geist, der in diesen technischen Combinationen waltete, kam nicht zum Bewußtsein; die zweite war subjektiv schwankend, aber geistvoller; die erste war mehr denkend, die zweite mehr enthusiastisch empfindend und darum im weiteren Fortgange zu immer größeren Schwankungen, zu einem Zerfallen in ganz individuelle Ansichten und Meinungen gelangend. Die einende Zusammenfassung, die Ineinsbildung beider Standpuncte könnte vorläufig und in Kürze als die von der Zeit jetzt geforderte Aufgabe ausgesprochen werden. Die Lösung derselben, ein dritter Standpunct, müßte das Eingehen auf den Inhalt, was die zweite Stufe charakterisirte, bewahren und der Objectivität der früheren wieder zustreben, müßte beide Stufen zur Voraussetzung haben, aber als überwundene in sich tragen. Ich nehme meinen Ausgangspunkt von einem Beispiel, um das Princip dieses Standpunctes zu veranschaulichen. Beethoven hat diesen Geist ausgesprochen, sagt man auf dem Standpuncte der psychologischen Analyse, hat diese Stürme und Kämpfe in seinem Inneren durchlebt, hat das Ringen einer großen Seele zur Anschauung gebracht u. s. w. Er hat auch
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nebenbei in das Technische, umgestaltend und erweiternd, eingegriffen, hat die Dissonanzen gehäuft, einen freieren Gebrauch derselben eingeführt, hat weniger streng ausgearbeitet u. s. w. Die Kunst aber ist die innigste Vereinigung von Geist und Materie, Idee und Stoff. Beide Seiten können nicht getrennt existiren und nicht in der Betrachtung auseinandergerissen werden. Der Geist ist nichts ohne das sinnliche Material, in dem er erscheint, und das sinnliche Material nichts ohne den Geist. Der Geist ist nichts Jenseitiges, was nur äußerlich und locker an die harmonische Grundlage gebunden wäre, nichts flüchtig Verschwebendes, nichts von der technischen Ausarbeitung zu Trennendes, sondern in diese Combinationen hineingebannt und hier so zu sagen mit Händen zu greifen und zu erfassen. Beide Seiten sind nur vereint vorzustellen, und aus der technischen Gestaltung heraus ist der Geist zu begreifen. Der Irrthum, der Mangel des zweiten Standpunctes liegt darin, daß zwei Seiten, die wesentlich eins sind, die nur die verschiedenen Wendungen Eines und Desselben sind, auseinandergerissen und als etwas gleichgiltig Nebeneinanderstehendes gefaßt wurden, daß man vor der technischen Seite sogar warnte. Diese technische Eigenthümlichkeit, um zu dem gewählten Beispiele zurückzukehren, diese Häufung der Dissonanzen ist unmittelbar der Beethoven’sche Geist selbst, die Erscheinung desselben, die materielle Seite des Geistes. Mozart’s Symphonieen bezaubern durch ihre Grazie, ihre Harmonie, durch das ruhige Dahinfließen der Töne, das schöne Maß, das in jedem Theile sichtbar ist. Bei Beethoven ist dieses schöne Maß verschwunden, ein unruhiges Auf- und Abwogen, ein mächtiges, titanisches Stürmen ist an die Stelle getreten. Beethoven hat in seine Symphonieen die gewaltigsten Seelenkämpfe hineingelegt, Kämpfe, die für den von Haus aus in sich versöhnten Mozart gar nicht vorhanden waren. Wir haben die Anschauung, daß Mozart in Einheit war mit den gesammten Mächten des Daseins, mit Staat und Kirche, daß Beethoven dagegen herausgetreten ist [11] aus dieser schönen Harmonie, daß er losgerissen ist von dieser Basis, ein mächtiger Geist, der sich kühn auf sich selbst stellt und mit dem Dasein kämpft, zweifelt, und nur durch Kampf und Zweifel hindurch zur Versöhnung zu gelangen vermag. Die Hinbewegung zur Versöhnung, zur Erreichung dieses Zieles ist der Inhalt seines Lebens und seiner Werke. Wir haben bei Beethoven das Bewußtsein, daß hier das Individuum seine besondere Subjektivität vor uns ausbreitet, die auf sich selbst gestellte, losgerissene, während bei Mozart noch unmittelbare Einheit des Subjects mit allen Gestalten des Lebens vorhanden ist. Beethoven hat, wie schon bemerkt, in das Technische vielfach erweiternd und umgestaltend eingegriffen, die theoretischen Schranken, die seine Zeit ihm noch entgegenstellte, durchbrochen. Dieser Kampf mit den Naturgesetzen der Harmonie ist technisch das, was ich, die geistige Seite allein ins Auge fassend, als ein Losgerissensein von allen Mächten des Daseins bezeichnete. Durch diesen Kampf kommt jener Geist zur Erscheinung. Die Gesetze der Accordverbindungen, die Verwandtschaft der Accorde und alles dahin Gehörige, selbst in gewissem Sinne die Regeln des höheren Contrapunctes, sind von der Natur gegeben. Mozart ist noch in Einheit mit diesen Gesetzen, d. h. er folgt in seinem Schaffen der Forderung der Natur, er giebt noch die natürlichere Fortschreitung, jedoch so, daß dieses Natürliche zugleich geistig verklärt ist, daß er nicht blos diese Fortschreitung giebt, weil sie die natürliche ist, sondern weil zugleich eine geistige Bedeutung darin enthalten ist. Beethoven über-
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springt zum Theil diese natürlichen Forderungen, er eröffnet einen Kampf mit ihnen, er negirt das unmittelbar sich Darbietende, Natürlichste, und erbaut erst auf dieser Negation sein Gebäude, so daß man das Bewußtsein dieser Negation gegenwärtig hat. Dies ist der Gesichtspunkt, der ein tieferes Begreifen der Tonkunst und ihrer Geschichte, eine wissenschaftlichere Erfassung, zunächst möglich machen kann. Zugleich aber wird durch diese Auffassung die Betrachtung aus der Unmittelbarkeit des Empfindungslebens hinausgerückt, ein weiterer Gesichtskreis eröffnet sich und mehrere andere Aufgaben, welche eine produktive, selbständige Kritik allgemeiner machen können, schließen sich daran. Es ist ein Hauptbestreben der Gegenwart, die verschiedenen geistigen Disciplinen unter allgemeine Gesichtspuncte zu fassen, die einzelnen Gebiete, die ein abgesondertes, von dem Allgemeinen getrenntes Leben führen, einander zu nähern und zu einem großen Ganzen zu verschmelzen. Diese Absonderung in besondere Fächer, wo das eine nichts von dem andern wußte, war von jeher in Wissenschaft und Leben in Deutschland vorherrschend und hat die bedauernswerthesten Resultate gehabt. Die Gegenwart hat als Hauptaufgabe erkannt, diese starren, der Gefahr der Verdumpfung allzusehr ausgesetzten Existenzen in Fluß zu bringen, andererseits zugleich auch die hier gesammelten Schätze dem allgemeinen Leben zum Genusse zu geben. Was die Gegenwart in anderer Beziehung schon gethan hat, ist in Bezug auf Musik nachzuholen, auch sie muß in das allgemeine Bewußtsein hineingebildet werden. Zwar kann es scheinen, als ob von keinem geistigen Gebiete diese Absonderung weniger behauptet werden könne, als von der Musik, da sie ja die herrschende Kunst, ein Theil der Erziehung und des Lebens geworden ist. Aber es gilt das Gesagte auch von ihr und mehr als von manchen anderen Sphären. Die Werke der Tonkunst sind zwar in die Empfindung der Nation übergegangen, aber nicht in das denkende Bewußtsein, sie sind in die Empfindung übergegangen ohne höhere Einsicht und ohne Bewußtsein ihres Gehaltes. Gar seltsam muß es dem Kenner der Musik erscheinen, wenn in Darstellungen der Entwicklung des allgemeinen deutschen Lebens alle Zweige berührt werden, und der Tonkunst, einer der größten Seiten des deutschen Geistes, mit keinem Worte gedacht wird. Die musikalische Kritik hat nicht vermocht, die Werke der Tonkunst aus der engen musikalischen Sphäre herauszurücken und so zu fassen, daß sie der allgemeinen Intelligenz zugänglich wurden. Jetzt ist es die Aufgabe, sollen die großen Werke der Vergangenheit in das denkende Bewußtsein der Nation aufgenommen werden, soll die Musik der Gegenwart sich ihrer wahren Bestimmung wieder nähern, daß Alle, welche über Musik zu schreiben vermögen, dahin wirken, daß die Kluft, die die Wissenschaft, Literatur und Musik trennt, überbaut wird. Die Resultate der modernen Wissenschaft, die großen Fortschritte der Aesthetik, müssen auch der Tonkunst zu Gute kommen, und es ist der Versuch zu machen, über Musik so zu sprechen, daß der Inhalt derselben zum gegenständlichen Bewußtsein erhoben wird. Es muß dahin gewirkt werden, daß jede Kunsterscheinung in ihrer relativen Berechtigung erkannt wird, um diese zahllosen subjektiven Liebhabereien, Sympathieen und Antipathieen zu verbannen, dahin gewirkt werden, daß eine Ansicht, welche die Möglichkeit der Allgemeingültigkeit in sich trägt, an die Stelle tritt.
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Ich vermisse auf dem Gebiete der Tonkunst noch allzusehr ruhige Besprechung, ruhiges und unbefangenes Gegenüberstellen der verschiedenen Ansichten, die Neigung zu Untersuchungen, zur Berichtigung der einseitigen Ansichten, welche die Einzelnen oft hegen. Man glaubt, sogleich die Götter anflehen zu müssen, diesen [12] Irrthum zu verzeihen, wenn Jemand eine abweichende Meinung ausspricht, während eine nicht grundlos ausgesprochene Ansicht mindestens eine einseitige Berechtigung für sich in Anspruch nehmen darf. Wir müssen uns bemühen, festere Bestimmungen aufzustellen, die allgemeinen Entwickelungsgesetze, den Faden, der sich durch die Geschichte hindurchzieht, aufzufinden, das in neuester Zeit durch die Bestrebungen bedeutender Geschichtsforscher gewonnene Material in große Gruppen zu ordnen, die Höhepunkte der Entwicklung aufzusuchen, und Orientirung für die Gegenwart daraus zu schöpfen, die Geschichte hereinzuziehen in das Leben des Tages, endlich den Versuch zu machen, das Publikum, welches sich von der schwankenden musikalischen Kritik zurückgezogen hat, wieder zu gewinnen. Der Laie ist von der Seite der allgemeinen Bildung hereinzuführen in das Gebiet der Kunst, der Musiker aus der verhältnißmäßig engen Sphäre seiner Kunst herauszuführen in das allgemeine Leben. Wenn dann die Betrachtung, die Kritik jene vorhin entwickelte höhere Stufe auf musikalischem Gebiet ersteigt, hat sie zugleich den Standpunkt erreicht, wo sie mit dem allgemeinen Leben, mit Literatur und Wissenschaft in Verbindung treten kann, indem sie, aus dem musikalischen Empfindungsleben heraustretend, fortgegangen ist zu allgemein faßbaren Gedankenbestimmungen. Darum sind aus anderen Künsten entnommene Parallelen aufzustellen, welche den Stoff flüssig machen, und dasselbe Princip, welches anderwärts zur Erscheinung gekommen ist, auch in der Tonkunst wirksam zeigen. Bei einem Gegenstande, wo so viel zu thun ist, würde es indeß sehr übereilt sein, abschließen zu wollen. Es kommt vielmehr darauf an, anzufangen. Alle, die über Musik gedacht haben, wissen, daß lange Vorarbeiten oftmals nur dahin führen, wenig Worte sagen zu können. Es ist ein Anderes, ob schon Ausgearbeitetes vorliegt, wie es z. B. in Poesie und Malerei vielfach der Fall ist, oder ob man auf einem schwankenden Gebiet überall erst feste Bestimmungen versuchen muß, und ich muß daher ausdrücklich bemerken, daß nur durch vereintes Wirken Gleichgesinnter eine die Kräfte des Einzelnen gar sehr übersteigende Durchführung der angegebenen Richtung an den Erzeugnissen der Gegenwart möglich ist. Mehrfach hat sich seit einigen Jahren das Streben nach erhöhter, wissenschaftlicherer Auffassung kund gegeben; um so mehr fordere ich Alle, welche mir beistimmen, auf, meine Bestrebungen durch Beiträge in diesem Sinne zu unterstützen. Die Zeitschrift wird jedoch der bezeichneten Richtung keineswegs ausschließlich huldigen; sie wird zugleich fortfahren, ganz in der bisherigen Weise mit vorzüglicher Rücksicht auf das Praktische Werke des Tages zu besprechen, möglichst schnell die neuen Erscheinungen aller Gattungen anzuzeigen, überhaupt einen möglichst universellen Charakter anzunehmen suchen; Beiträge in dem bisherigen Sinne sind daher in gleicher Weise willkommen. Franz Brendel.
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Kommentar Nachdem Schumann sich am 1. Juli 1844 von der Redaktionsarbeit der von ihm im Frühjahr 1834 gegründeten Neuen Zeitschrift für Musik zurückgezogen und die Leitung an seinen Mitarbeiter Oswald Lorenz übergeben hatte, erwarb der 34jährige Brendel das Unternehmen im Herbst desselben Jahres und zeichnete ab 1. Januar 1845 für die Redaktion der Zeitschrift verantwortlich. Erstes und zugleich bedeutsames Dokument dieses Redaktionswechsels ist der vorliegende Artikel, der neben einer Geschichte der musikalischen Kritik in Deutschland zugleich Brendels eigene Überzeugungen hinsichtlich der zukünftigen Aufgabe der Musikkritik in zielsetzender Weise vorstellt. Das Geschichtsbild der deutschen Musikkritik, das Brendel dabei zeichnet, eröffnet mit einem programmatischen Rekurs auf Hegel24 und markiert gleichermaßen eine entscheidende Zäsur: Nachdem technische und psychologische, das heißt objektive sowie subjektive Kritik ihre Zeit durchlaufen und inhaltlich nicht zusammengefunden hätten – was dem Wesen der Musik selbst widerspreche –, sei es nicht nur an der Zeit diese zusammenzuführen, sondern auch dezidiertes Ziel, die Musik von ihrer ‚egoistischen‘ Einseitigkeit freizumachen und mit anderen Kunstdisziplinen gemeinsam und in ihrer Wechselseitigkeit zu betrachten, sie in die Nähe der Gesellschaft zu überführen sowie schließlich, Musik zum Gegenstand allgemeiner und politischer Bildung zu erheben. Mit dieser kritischen Diagnose stellt sich Brendel – ohne diesen im gesamten Artikel explizit zu erwähnen – in eine Traditionslinie mit Schumann. Dessen Bild einer unzureichenden Musikkritik hatte sich schon 1833 in einem Artikel Luft gemacht und wenig später mit zur Gründung der NZfM geführt: „Wie? Was? Eusebius, fuhr Florestan auf, Rellstab machte es zu arg? Soll denn diese verdammte deutsche Höflichkeit Jahrhunderte fortdauern? Während die literarischen Parteien sich offen gegenüberstehen und befehden, herrscht in der Kunstkritik ein Achselzucken, ein Zurückhalten, das weder begriffen noch genug getadelt werden kann. Warum die Talentlosen nicht geradezu zurückweisen? Warum die Flachen und Halbgesunden nicht aus den Schranken werfen samt den Anmaßenden? Warum nicht Warnungstafeln vor Werken, die da aufhören, wo die Kritik anfängt?“25 Ebenso wie von Brendel wird Rellstab auch von Schumann ins Fadenkreuz genommen und zum Stellvertreter der einstigen Musikkritik gemacht. So kämpferisch Schumann seinen Florestan auch sprechen lässt und so sehr Brendel die ‚intuitive‘ Kritik Schumanns wertschätzte, mit seiner Anmerkung, dass die bisherige Musikkritik versäumt habe, „die Werke der Tonkunst aus der engen musikalischen Sphäre herauszurücken und so zu fassen, daß sie der allgemeinen Intelligenz zugänglich wurden“26, richtet sich Brendels Kritik, wenngleich implizit, durchaus auch gegen seinen Vorgänger Schumann. Der Verlust des Einflusses der Kritik auf das Publikum, den Brendel maßgeblich an Fink und Rellstab festmacht, sieht er auch in der mangelnden, das heißt nicht vorhandenen gesellschaftspolitischen Motivation der Musikkritik begründet. Nach Brendels Verständnis müsse diese auf geschichtsphilosophischen Gesichtspunkten und den daraus gewonnenen
24 Zur
Auseinandersetzung Brendels mit der Geschichtsphilosophie Hegels vgl. Ramroth 1991 Robert Schumann und Richard Wagner, S. 76 – 91. 25 Schumann 1833 Der Davidsbündler, S. 260 f. 26 Vorliegender Artikel, S. 25 [11].
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Erkenntnissen der Gegenwart beruhen, um einerseits modernen wissenschaftlichen Ansprüchen zu genügen und der subjektiven Einseitigkeit zu entkommen. Andererseits habe die Kritik nach Ansicht Brendels die Aufgabe, sowohl die Musik für einen größeren Hörerund Leserkreis zu erschließen, um ihr hierdurch zu einem höheren gesellschaftlichen Ansehen und zu größerer Relevanz zu verhelfen. Zugleich sollen jedoch auch die Komponisten für die Fragen des Tages sensibilisiert werden, um diese so zu einer gesellschaftlich ‚engagierten‘ Musikproduktion und Rezeption zu ermutigen. Dem Prinzip der Dialektik entsprechend, sollen dafür die beiden früheren Entwicklungsstufen der Musikkritik, die auf kompositionstechnische wie auch die auf rezeptionspsychologische Aspekte abzielende Beschreibung, in einem „dritten Standpunct“27 aufgehoben werden. Insgesamt zeugt der Artikel vom Willen des an der Hegel’schen Dialektik geschulten Kritikers, mit Hilfe einer auf geschichtsphilosophischer Historiographie beruhenden Musikpublizistik nicht nur den Nachweis des hinter allen Erscheinungen wirksamen Fortschrittsprinzips zu erbringen; darüber hinaus war Brendel überzeugt, allein auf diese Weise könne ein intersubjektiv-wissenschaftlicher Beurteilungsmaßstab nicht nur der zeitgenössischen Kunst, sondern auch die zukünftigen Aufgaben der Musik gewonnen werden – eine Auffassung, die Brendels Schriften grundsätzlich von der subjektiv-‚poetischen‘ Art der Musikkritik Schumanns unterschied und an der er – so sehr diese zuweilen von beißender Polemik zersetzt ist – während seiner gesamten Zeit als Redakteur grundsätzlich festhält.
27 Vorliegender
Artikel, S. 23 [10].
Nr. 2 | J. [Johann] C. [Christian] Lobe, „Einige Gedanken über malende Instrumentalmusik“, in: NZfM 12 (1845), Bd. 22, Nr. 41 (21. Mai), S. 169 –171; Nr. 42 (24. Mai), S. 174 f.
Einige Gedanken über malende Instrumentalmusik.I Von J. C. Lobe.
Bei der Instrumentalmusik, wie bei allen Kunstwerken, kommt hauptsächlich zweierlei in Betracht: ihr Inhalt, und die daraus hervorgehende Wirkung auf den Hörer. Ihr Inhalt besteht erstens in einer musikalischen Gedankenreihe, durch thematische Bezüge und kunstgesetzliche Formen, als Sonate, Ouverture etc. zur faßbaren Einheit gebracht, und zweitens in dem Ausdruck eines Gefühls, von welchem der Künstler im Momente des Schaffens erfüllt war. Zwiefach ist auch die Wirkung solcher Werke. Einmal setzen sie den Verstand in Thätigkeit durch das Erkennen der thematischen Bezüge, ihrer Aehnlichkeiten und Verschiedenheiten, und sodann das Gefühl, indem sie den Hörer in dieselbe Stimmung, welche der Künstler empfunden hat, versetzen – können. Ich sage können; denn das Müssen ist wohl problematisch. Manche Hörer fühlen gar nicht, was der Componist hat ausdrücken wollen, manche etwas Anderes. Im Ganzen zeigen sich solche Werke als mystische, räthselhafte, unbestimmte Wesen, und mystisch, räthselhaft und unbestimmt ist ihre Wirkung. Es können sich dabei wohl auch bestimmte Gedanken einfinden, aber sie sind nicht das absolute Product der Musik, sondern der durch sie aufgeregteren individuellen Gedankenwelt des Hörers. Man könnte diese Art von Instrumentalmusik wohl die mystische nennen. Und sie wollen Viele als die allein rechte anerkannt wissen. – Ihre Wirkung, ihr Reiz und Genuß bestehe darin, daß sie dem Hörer Freiheit lasse zu eigenem beliebigen Gefühls- und Gedankenspiel. Es fragt sich indessen, ob solche Freiheit wirklich vorhanden sei? Wenn diese Art der Musik Gefühle und Gedanken aufregt, so regt sie wohl vorzüglich solche Gefühle und Gedanken auf, die in dem besonderen Charakter des Hörers liegen und von seiner besonderen Lebenssituation abhängen. Daher kann die mystische Musik eine herzugebrachte heitere Stimmung erhöhen, eine schwermü thige, traurige aber auch noch peinlicher machen. Sie ist mehr eine Dienerin der vorwaltenden Stimmung, als eine darüber gebietende Macht. I Der
Gegenstand dieses Aufsatzes ist zwar schon oft besprochen, noch keineswegs aber zum Abschluß gebracht worden. Die gegenwärtige Mittheilung darüber giebt interessante Beiträge zu Erledigung der Frage, und wir glauben daher, daß dadurch die Aufnahme derselben gerechtfertigt ist. (Die Red.)
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Und ist nun solche Wirkung auf den Menschen Aufgabe der Kunst? Nicht an unser eigenes, nacktes und unvollkommenes Erdentreiben soll sie, scheint mir, noch schärfer und möglicherweise peinlicher erinnern, sondern davon befreien, und in ein seliges Vergessen versenken, indem sie die Aufmerksamkeit von uns selbst abzieht und außer uns liegenden Erscheinungen zuwendet. Es liegt aber kein Widerspruch darin, daß sie auch traurige Gegenstände schildernd vorführt. Denn die durch ein Kunstwerk erregte Trauer ist eine andere, als die durch’s harte [170] Leben in uns geworfene. Das Selbstleiden im Leben ist eine Qual, das Mitleiden in der Kunst ist ein Genuß. Die oben geschilderte Art von Instrumentalmusik war lange Zeit die einzige. Es erschienen aber Kunstgeister, die sich mit so problematischer Wirkung nicht mehr zufrieden zu stellen vermochten. Sie wünschten den Hörer seiner momentanen und zufälligen Stimmung zu entführen und durch das Kunstwerk selbst unmittelbarer und gewichtiger zu erfassen. Dies sollte bewirkt werden durch möglichst erkennund erfühlbaren Ausdruck eines bestimmt vor die Einbildungskraft gestellten, der Musik schilderbaren Objects, einer klaren, Gefühle erzeugenden Idee. Doch wurde diese Idee selbst noch verschwiegen, und ob sie nun wohl nicht immer so bestimmt herauszuhören war, als sie der Componist gedacht und gefühlt, fühlte man sich doch überhaupt schon bedeutender angesprochen, und ahnete [sic] hinter den Tönen, wenn nicht welches bestimmte Bild, doch, daß eines dahinter walten müsse. Einzelne Hörer erriethen es zuweilen wirklich. Dieser Schöpfungsmaxime verdankt Beethoven wohl vorzüglich seine überaus mannichfaltigen, von einander verschiedenen, immer neuen und originellen Tongebilde, und deren tieferen Gehalt und tiefere Wirkung. Er schritt auf diesem Wege weiter, und gab mehreren seiner Werke die Erklärung der gewählten Objecte bei.1 Und damit war die zweite Art der Instrumentalmusik geboren, die malende, in künstlerischem Sinne, denn Tonmalereien in der Instrumentalmusik gab es freilich viel früher, Prager Schlachten2 etc. – musikalische Charlatanerien, welche die Art lächerlich machten, und als Beweise benutzt wurden, daß sie eine künstlerische nicht sei und niemals werden könne. Aber das Genie hat die Grenzbestimmungen der Theoretiker und Aesthetiker schon oft Lügen gestraft. Es folgt seinen Eingebungen, und schafft ihnen früher oder später Anerkennung. Die Wirkung der malenden Instrumentalmusik ist zunächst jedenfalls eine sicherere. Wenn ich die Pastoralsymphonie höre, so geht die Poesie des Landlebens in mir auf. Ich wandle an einem schönen Sommermorgen dem Lande zu, den „Qualm der Stadt hinter mir lassend“3. Die Blumen flüstern, die Bäume säuseln, ich
1 Gemeint sind Werke wie Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 3 Eroica Es-Dur op. 55 (ED 1806) und die Symphonie Nr. 6 Pastorale F-Dur op. 68 (ED 1809). 2 Gemeint ist hier möglicherweise die 1788 erstmals veröffentlichte und zu ihrer Zeit überaus populäre Schlachtenmusik The Battle of Prague, a Favourite Sonata op. 13 bzw. 25 des tschechischen Komponisten Franz Koczwara (um 1750 –1791), die bis zum Ende des 19. Jahrhunderts über dreißig Mal wiederaufgelegt wurde. 3 Möglicherweise ein ungenaues Zitat aus dem Gedicht „Herbstwanderung“ in der Sammlung Junges Leben (ED 1844) von Ferdinand Wendeborn. Dort heißt es: „Heil mir! so Dunst als Qualm der Staedt’ ist hinter mir!“ (ebd., S. 149).
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fühle und denke den Frieden, die Seligkeit einer solchen Situation, und alle nichtswürdigen, erdensorglichen Gedanken sind aus meiner Erinnerung vertrieben durch den Zauber der Töne, die aus dieser bestimmt geweckten Situation quellen und in meine Seele hineinfließen. Und eben so geht es mir, wenn ich die Eroica höre. Das Ringen und Kämpfen des Helden zieht an meiner Einbildungskraft vorüber, und das Bewußtsein des eigenen Lebenskampfes wird zurückgedrängt. Wenn nun ein Kunstwerk, welches die Gegenwart des alltäglichen Lebens vergessen macht, indem es ein ideales vorspiegelt, beglückender wirken muß, als eines, das uns möglicherweise noch peinlicher in jenes verstrickt, so kann der Vorzug der malenden Musik vor der mystischen nicht in Zweifel gezogen werden. Aber es entsteht nun freilich und ist oft aufgeworfen worden die Frage: ob es eine malende Instrumentalmusik in diesem Sinne, streng genommen, wirklich gebe und jemals geben könne? Man lasse, kann man sagen, die Eroica, die Weihe der Töne4, den Sommernachtstraum5 vor dem ächtesten Kennerkreise, aber ohne beigegebene Erklärung des Objects, aufführen, und sehe, ob ein Einziger nur daraus es mit Bestimmtheit herauszuhören und zu benennen vermag. Wenn aber nicht, so weckt auch nicht die Musik an sich den von dem Componisten vor die Einbildungskraft gerufenen Gedankenund Gefühlskreis eines bestimmten Objects in dem Hörer, sondern das beigegebene Wort thut es. Man täuscht die Phantasie, daß sie zu hören glaubt, was sie, von dem Begriff angeregt, sich doch nur selber schafft und vorspiegelt. Wahr ist allerdings, die Musik an sich kann ein Object so nicht ausdrücken, daß es bestimmt nur als solches herausgehört werden müßte. Was aber ist damit anderes zugegeben, als daß sie des erklärenden Wortes als klarermachende Beihülfe bedürfe? daß aber die Hauptwirkung doch in der Musik liege? Denn wenn das Wort allein die Wirkung machte, so müßte ja dieses allein, dem Menschen nackt entgegengeworfen, allen Reiz und Genuß in der Seele erzeugen, ohne Musik. Oder nicht so schroff ausgedrückt, wenn in dem Worte die Hauptwirkung läge, müßte jede Musik dazu recht sein. Wir fühlen aber von gar Manchen, und sprechen es aus, daß sie nicht dazu passe, daß sie nicht wahr sei. Und bei einer andern fühlen und erkennen wir die Wahrheit und Uebereinstimmung mit ihrem Objekte. Oder, könnten wir vielleicht irgend einem, die Verständnißfähigkeit der Musik überhaupt in sich tragenden Menschen weismachen, die Freischütz-Ouverture6 male das Landleben? Oder die Eroica sei ein Sommernachtstraum? Wir können von Beethoven’s Musik zu Egmont7, ohne das Stück zu kennen, nicht behaupten, daß sie Charaktere, Situationen und Gefühle daraus schildere; wissen wir es aber einmal, so fühlen wir auch die wunderbare Uebereinstimmung und Wahrheit der Tonbilder mit nur diesem Objecte. Es ist mit der malenden Musik wie mit einem Räthsel. Man liest es, und dunkel sind alle Beziehungen, ja viele scheinen in Widerspruch mit einander zu liegen. Man
Spohr, Symphonie Nr. 4 Die Weihe der Töne F-Dur op. 86 (ED 1834). 5 Felix Mendelssohn Bartholdy, Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum E-Dur op. 21 (ED 1832). 6 Carl Maria von Weber, Ouvertüre zu Der Freischütz (UA 1821). 7 Beethoven, Egmont op. 84 (ED 1810/1812). 4 Louis
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findet oder erhält das lösende Wort, und eine sonnenklare Wahrheit steht plötzlich vor uns da. [171] Es giebt eben viele räthselhafte Erscheinungen in der Kunst wie in der Natur, aber einmal erkannt, sind sie keinem Zweifel, keiner falschen Auslegung mehr unterworfen. Ist nun jede Opernouverture, insofern sie Objecte des nachfolgenden Stückes, Charaktere, Begebenheiten in Tönen voraus schildert, malende Musik, giebt hier der Inhalt der Oper, oder selbst schon ihr Name auf dem Zettel die erklärende Idee, und ist es trotz dem noch nie Jemand eingefallen, diese Art der Instrumentalmusik deshalb zu verwerfen, so ist nicht wohl abzusehen, warum eine selbstständig für sich auftretende Ouverture, Symphonie etc. nicht ein bestimmtes Object schildern, dieses Object zu leichterem und bestimmterem Verständniß dem Hörer nicht vorher bekannt gemacht werden dürfte. Es frage sich doch Jeder, ob die Freischütz-Ouverture z. B. an Wirkung auf ihn verloren, von der Zeit an, wo die Erkenntniß der Beziehungen auf das Stück in ihm klar geworden? oder ob sie nicht vielmehr an Reiz zugenommen? Sagt nun der Einzelne, daß ihm eine Musik, die seinen Gedanken nach Gefallen herumzuschweifen erlaubt, lieber sei, als eine, die ihn in einen fremden Kreis und von sich selbst abzieht, so kann man nichts dagegen haben. Wie der Mensch sich amüsiren will, ist seine Sache. Aber seine individuelle Vergnügungsweise als allgemein geltendes Kunstgesetz hinstellen, soll er wohl auch nicht. [174] Für die malende Musik lassen sich noch bedeutende Unterstützungsgründe anführen. Ein Hauptdrang der ganzen Menschheit ist, die Erscheinungen der Welt zu ergründen, von jedem Dinge zu erfahren, was es sei, was es wolle, was es bedeute. Und das Erkennen bringt Freude, Genuß. Dagegen peinigt den Menschen Alles, was ihm theilweise oder ganz unverständlich bleibt. Und die Kunst, als ein höheres Leben, sollte das Vage, Unbestimmte, Unverständliche, Zweifelhafte, Dunkle zum Darstellungs- und Wirkungszweck haben? Sie sollte den Universaldrang des Menschen nach Klarheit der Anschauungen und Eindrücke unbefriedigt lassen und ihn mit unaufgelösten Räthseln quälen? Man würde den Maler, den Bildhauer, den Baumeister, den Dichter, ja den dramatischen Componisten schelten, der uns unergründliche Bildungen vorschaffen wollte. Und nur allein der Instrumentalcomponist sollte eine Ausnahme machen, und was allen Anderen zum Vorwurf, sollte ihm zum Verdienst gemacht werden? Wie oft endlich hat man versucht, in mystischen Instrumentalwerken eine Bedeutung zu entdecken, oder eine hineinzulegen? Hunderte von Kritiken beweisen das. Ja, man hat erklärende Gedichte dazu geschrieben! Wozu alle diese Klarmachebestrebungen, wenn sie den Werken Schaden brächten. Beweisen sie nicht ein Unbefriedigtsein des Geistes mit solchen dunkeln Werken, und den Drang, sich durch die hineinleuchtende Fackel einer Idee mehr Genuß und Befriedigung zu verschaffen? Und wenn nun endlich sich dieser Art von Instrumentalmusik ein Beethoven, Spohr, Mendelssohn, Berlioz u. A. m. immer entschiedener zuwendeten und zuwenden, so möchte der Drang und die That dieser höchsten Kunstgeister unserer
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Zeit doch eine sicherere Offenbarung der Würdigkeit sein, als die entgegengesetzten Meinungen über Musik nur Schreibender.II Unbestreitbare Vortheile für die Kunst gehen aber aus der Richtung auf die malende Musik dadurch hervor, daß sie neue, eigenthümliche, originelle Gestaltungen fast als eine Nothwendigkeit mit sich führt. Wer eine Sonate, Quartett etc. in früherer Weise schreibt, legt in die überkommene Form in herkömmlicher Weise, was ihm seine subjective Gefühlsweise eingiebt, und wenn die nicht außerordentlich reich und mannichfaltig ist, wird seine Productionskraft einseitig bleiben und bald erschöpft sein. Daher sehen wir so viele gewöhnliche und einander ähnliche Erscheinungen in dieser Art Musik, die das Publicum kalt lassen. Wer dagegen ein Object vor die Einbildungskraft stellt, und die Darstellungsgesetze, Züge und Formen nur davon empfängt, muß leichter ein eigenthümliches Werk erschaffen, weil jeder scharf betrachtete Gegenstand eben eine eigenthümliche Erscheinung enthüllt. Die durchaus eigenthümlichen, in Charakter und Form so verschiedenen Ouvertu-[175]ren Mendelssohn’s10 wären aus seiner Subjectivität allein, ohne die scharf vorgefaßten Objecte niemals so hervorgegangen, wie wir sie jetzt haben. Eine weitere Frage ist freilich noch: wie weit sind wir in dieser Art der malenden Musik bis jetzt überhaupt gekommen? Manche musikalische Gedanken liegen, wenn ihr Gegenstand einmal erkannt ist, so bestimmt und ausdrucksklar da, daß eine andere Auslegung und Empfindung dabei nicht aufkommen kann. In Berlioz[’] Ouverture zu den Vehmrichtern11 z. B. treten manche Momente aus den Tönen fast plastisch vor die Einbildungskraft und schlagen von da aus mächtig in das Gefühl hinein. Man sieht bei den ersten Klängen des Adagios den mit verbundenen Augen in der dunkeln Höhle bang harrenden Angeklagten, man fühlt den Schauder, der sich steigernd seiner bemächtigt, als die Binde ihm abgenommen wird. Endlich tritt der Anblick der furchtbaren Richter mit niederschmetternder Gewalt vor, man hört sein Gnadeflehen und jenes furchtbare „Nein!“ – Auch im Allegro treten einzelne Momente eben so ausdrucksbestimmt und erkennbar auf, aber nicht alle. Man kann wohl zu allen passende Auslegungen finden, wenn man sie sucht, aber daß man sie erst suchen muß, ist eben
II Wir
finden diese letzte Bemerkung nicht richtig. Die Kritik anerkennt das Berechtigte in dieser Wendung des künstlerischen Schaffens. Marx hat schon vor Jahren eine kleine Brochure über Malerei in der Musik8 geschrieben, und in dem kürzlich in diesen Blättern mitgetheilten Aufsatz über Schumann und Mendelssohn9 ist eine geschichtliche Deduction der Nothwendigkeit dieser Richtung gegeben. Die eigentlichen Gegner finden sich im Publicum und unter älteren Musikern. Der Grund der widerstreitenden Ansichten und der Opposition liegt darin, daß die zarte Grenzlinie, über welche hinaus die musikalische Malerei in das Unschöne verfällt, noch nicht angegeben worden ist, daß die Vertheidiger diese Grenzlinie theoretisch und praktisch häufig überschreiten. (Die Red.) Marx 1828 Ueber Malerei in der Tonkunst. 9 Siehe Brendel 1845 Schumann und Mendelssohn. Bartholdy, Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum E-Dur op. 21; Ouvertüre Die Hebriden oder Die Fingals-Höhle h-Moll op. 26 (ED 1833); Ouvertüre Meeresstille und glückliche Fahrt D-Dur op. 27 (ED 1835) sowie Ouvertüre zum Märchen von der schönen Melusine F-Dur op. 32 (ED 1836). 11 Hector Berlioz, Grande Ouverture des Francs-Juges op. 3 (ED 1836). 8 Siehe
10 Mendelssohn
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ein Beweis von mangelnder Bestimmtheit des Ausdrucks. Konnte Berlioz das Adagio so scharf zeichnen, warum nicht das ganze Allegro? Was wir an diesem Werke finden, kann von allen Werken der Art ziemlich mit demselben Rechte gesagt werden. Wenn man überhaupt aus allen Instrumentalwerken alle ausdrucksklaren Gedanken zusammenstellte, käme eine schöne Sammlung heraus. Eine viel größere aber freilich noch von gar nicht verständlichen und zweifelhaft dunkeln. Zweierlei Ursachen können hier die Schuld tragen. Es kann an der Conception der Componisten liegen, daß sie nämlich den Gegenstand wohl im Ganzen klar vor der Phantasie gehabt, aber nicht die ganze daraus fließende Reihe der einzelnen Momente. Und es kann zweitens darin liegen, daß die Künstler selbst noch nicht zu der umfassenden Fertigkeit gelangt sind, alle Momente, wenn auch scharf gefaßt, eben so scharf und im Augenblick erfühlbar auszudrücken. Ganz gewiß aber ist, daß das vereinte Streben vorzüglicher Geister nach objectiver Darstellung, nach malender Instrumentalmusik im edleren Sinne, die Ausdruckskräfte und Ausdrucksmittel der Musik überhaupt immer mehr steigern und zu immer bedeutenderen Werken befähigen muß. Schon hat Berlioz darin Dinge geleistet, und ist durch dieses bestimmte Streben auf Erfindungen, Formen und Instrumentationseffecte gekommen, wie keiner vor ihm. Spricht man ihm, und wohl nicht ganz mit Unrecht, die anmuthende Melodie ab: ich ahne in der Zukunft die glücklichen Genien, die sie mit den Berlioz’schen Entdeckungen, Erfindungen und Erweiterungsmitteln zu vereinigen verstehen, und darum wollen wir die malende Instrumentalmusik gelten lassen. Sie hat bereits herrliche Werke gebracht, und herrliche und immer herrlichere wird sie uns und unseren Nachkommen bringen. J. C. Lobe.
Kommentar Der hier abgedruckte Artikel des Komponisten, Musikschriftstellers und Kritikers Johann Christian Lobe ist Teil einer zu dieser Zeit schon wieder im Abklingen befindlichen ästheti schen Diskussion um die Berechtigung einer malenden Instrumentalmusik, die sich Jahr zehnte zuvor an einzelnen Werken Beethovens entzündet hatte.12 Jedoch vertritt der Autor hier zugleich zukunftsweisende Thesen, die entscheidende Momente des Liszt’schen, ins besondere durch Schumann vermittelten Verständnisses innerhalb der musikästhetischen Auseinandersetzungen der 1850er Jahre um eine Programmmusik vorwegnehmen. So ist etwa Lobes Abgrenzung des „Mystischen“ gegen das „Malende“ innerhalb der Instrumental
12 Vgl.
hierzu insbesondere Weber 1825 Über Tonmalerei.
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musik dem Verständnis Schumanns vom „Historischen“ in der Symphonik sehr verwandt.13 Auch wird Brendel in der Diskussion um die Legitimität von Tonmalerei in der reinen Instru mentalmusik beispielsweise 1850 mit seiner Differenzierung zwischen dem „Materiellen“, „Äußerlichen“ und „Poetischen“, „Innerlichen“14 bzw. 1852 durch die Gegenüberstellung vom „Esoterischen“ und „Specifischen“15 an die hinter Lobes Anschauung stehende Ge dankentradition anknüpfen. In diesem Denken sind ebenfalls bereits wichtige Momente insbesondere der Liszt’schen Kategorien vom „specifischen“ und „malenden Symphonis ten“16 vorgezeichnet. Seine Gedanken und Positionen sowie sein Verständnis von „malender“ Instrumental musik entwickelt Lobe jedoch – im Gegensatz zu diesbezüglichen Äußerungen Brendels einige Jahre später17 – nicht vorrangig an den Werken Beethovens, sondern an denen Hector Berlioz’, die er dezidiert von den traditionellen Sturm- oder Schlachtenmusiken ab grenzt, die hier als „musikalische Charlatanerien“18 ästhetisch disqualifiziert werden. Auf fällig ist in diesem Zusammenhang Lobes Argumentation, nach der es gerade die „malende“ Musik mit ihrem Streben nach „Objectivität“ und „Bestimmtheit des Ausdrucks“19 sei, die der Instrumentalmusik neues Zukunftspotential eröffne, indem sie die Überwindung eines klassisch-epigonalen Komponierens ermögliche. Das Bemühen Lobes um eine „objective“ Instrumentalmusik und die Ablehnung der schon bei Ludwig Tieck 1799 zu findenden Vorstellung einer „mystischen“ Wirkung von Instrumentalmusik, die sich, laut Tieck, gerade nicht mit konkreten Vorstellungen der All tagswelt belasten und profanieren dürfe,20 macht zugleich deutlich, wie sehr in den Jahren um 1845 Jahrzehnte alte ästhetische Diskurse durch die Ankopplung an zeitgenössische Komponisten wie Berlioz gleichsam aktualisiert und hierdurch entscheidende Weichenstel lungen für die spätere Kontroverse zwischen ‚Zukunftsmusikern‘ und ‚Hanslickianern‘21 vorgenommen wurden.
etwa Altenburg 1997 Schumann und Liszt. 14 Alle Zitate: Brendel 1850 Einige Worte über Malerei, S. 243 f., in: NdS 1 Nr. 19. 15 Brendel 1852 Ein Ausflug nach Weimar, S. 39, in: NdS 1 Nr. 28. 16 Siehe Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, S. 40 f., in: NdS 2 Nr. 76. 17 Siehe Brendel 1850 Einige Worte über Malerei, in: NdS 1 Nr. 19. 18 Vorliegender Artikel, S. 30 [170]. 19 Beide Zitate: ebd., S. 34 [175]. 20 Tieck 1799 Symphonien, S. 241. 21 Siehe etwa Hanslick 1857 Les Préludes, in: NdS 2 Nr. 104. 13 Vgl.
Nr. 3 | Julius Becker, „Partituren. Hector Berlioz, Ouverture zu König Lear. Op. 4. Paris, bei Ad. Catelin u. Comp. Partitur Pr. 25 Frcs. Stimmen 18 Frcs. – Der römische Carneval, charakteristische Ouverture für großes Orchester. Op. 9. Paris, bei Schlesinger. Partitur Pr. 24 Frcs. Stimmen ditto.“, in: NZfM 12 (1845), Bd. 23, Nr. 2 (4. Juli), S. 5 f.; Nr. 3 (8. Juli), S. 9 –12.
Partituren. Hector Berlioz, Ouverture zu König Lear. Op. 4.1 Paris, bei Ad. Catelin u. Comp. Partitur Pr. 25 Frcs. Stimmen 18 Frcs. – Der römische Carneval, charakteristische Ouverture für großes Orchester. Op. 9. Paris, bei Schlesinger.2 Partitur Pr. 24 Frcs. Stimmen ditto.
Gleich bei seinem ersten Auftreten3 rief Hector Berlioz einen Widerspruch der Meinungen und Urtheile hervor, in Folge dessen die eine Partei in ihm den Columbus erblickte, welcher die zweite Hemisphäre der musikalischen Welt entdeckt, die andere ihn gar für einen potensirten [sic] Beethoven erklärte, und die dritte ihn geradezu einen Barbaren nannte, welcher mit ganzen Regimentern von Pauken, großen Trommeln, Ophicleiden und dergleichen musikalischen Streitkräften wie ein Attila mit seinen zügellosen Horden die civilisirte musikalische Welt zu verwüsten drohe.4 Offenbar ist H. Berlioz eine eigenthümliche Erscheinung, und es darf daher nicht Wunder nehmen, wenn er das Loos derjenigen theilt, welche, weil man für sie keinen von der Erfahrung gegebenen Maßstab oder auch kein recht passendes Futteral hat, um sie, wie die Steine in einem Mineraliencabinet, unter der betreffenden Rubrik aufzustellen, entweder als Curiositäten der bloßen Neugierde zum oberflächlichen Amüsement dienen, oder auf eine Höhe gehoben worden, auf welcher sie dem unvermeidlichen Sturze preisgegeben sind, oder endlich, die man gar als Sonderlinge oder Verrückte erklärt.
Berlioz, Grande Ouverture du Roi Lear op. 4 (EA 1831). 2 Berlioz, Le Carnaval romain (Der römische Karneval) op. 9 (EZ 1843 –1844). 3 Der erste Aufenthalt Berlioz’ in Deutschland datiert auf die Jahre 1842 und 1843 mit Konzerten u. a. in Hamburg, Braunschweig und Leipzig. Vgl. hierzu die Übersicht in Jacobshagen/Braam 2002 Berlioz in Deutschland, S. 607 – 618. Vgl. auch den kurz darauf erschienenen Bericht Berlioz’ über diese Reise, der unter dem Titel Musikalische Reise in Deutschland (ED 1843) in einer deutschen Übersetzung von Johann Christian Lobe erschien (neuediert in: Jacobshagen/Braam 2002 Berlioz in Deutschland, S. 239 – 328). 4 Vgl. hierzu insgesamt Jacobshagen/Braam 2002 Berlioz in Deutschland sowie Brzoska/Hofer/Strohmann 2005 Hector Berlioz. Ein Franzose in Deutschland. 1 Hector
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Je schroffer sich die Urtheile gegenüberstehen, um so klarer stellt es sich heraus, daß in der Regel weder das eine noch das andere sowohl unbedingt wahr, als unbedingt falsch sei. Hector Berlioz als den Begründer einer neuen Aera der Musik zu betrachten, ist eben so irrig, als ihn für einen musikalischen Charlatan zu erklären, oder ihm alle künstlerische Bedeutsamkeit abzusprechen. – Mit Hülfe der Musik selbstständige Facta, Situationen und Handlungen zur geistigen Anschauung zu bringen, war schon in früheren Zeiten, und zwar lange noch vor Haydn, die Aufgabe mehrer [sic] bereits wieder vergessener Musiker, mit deren Werken freilich die eines Hector Berlioz nicht verglichen werden können, da er nicht blos den cultivirten Boden der Gegenwart, in welchem auch er wurzelt, für sich hat, sondern auch als geistreicher Kopf die musikalischen Mittel in einer Weise benutzt, welche ein bei weitem mehr als flüchtiges Interesse der Musiker verdient. Dem Wesen und der Richtung nach ist daher Berlioz’s Muse durchaus keine neue und eine neue Gestaltung der Musik bedingende Erscheinung, sondern sie ist blos in Rücksicht auf die Art und Weise, wie sie sich äußerlich Geltung verschafft, eigenthümlich zu nennen. Dagegen ist aber auch der Vorwurf, den man ihm aus der Benutzung technischer Mittel für ästhetische Zwecke macht, unrecht, und verräth eben so Pedanterie, als engherziges Verwahren gegen die Fortschritte der Zeit, denn es lassen sich wohl alle jene ungewöhnlichen Instrumente, und die Art, wie sie Berlioz benutzt, mit den strengsten musikalisch-ästhetischen Grundsätzen vereinbaren, sobald ihre Anwendung durch den Vorwurf und den innermusikalischen Gedanken bedingt ist. Wir geben zu, daß [6] Luthers Wort: „Das Wasser thuts freilich nicht“5, auch hierbei anwendbar sei; indeß mit demselben Rechte, mit welchem z. B. erst Ende vorigen Jahrhunderts die Clarinette in die Reihe der Orchesterinstrumente aufgenommen wurde, kann auch die Ophicleide einen Platz finden, den sie mit Ehren ausfüllt. Hect. Berl. aber alle musikalische Bedeutsamkeit abzusprechen, offenbart ein gänzliches Verkennen seiner Bestrebungen und Leistungen, wenn nicht völlige Ignoranz, gegen die wir zu kämpfen der Mühe nicht werth halten. Aus der Beantwortung der Frage: wodurch sich seine Musik unterscheide, wird sich leicht das Urtheil über das Wesen derselben und den ästhetischen Standpunct ergeben. Gleich seine ersten Compositionen, wir meinen namentlich: „La vie d’un artiste“6, beweisen, daß er der Musik abzugewinnen versucht, was nur die Dichtkunst gewähren kann. Er empfindet, denkt und erfindet als Dichter, und bietet Himmel und Hölle auf, die Musik zur Sprache zu machen, welche in dieser Beziehung die äußere Darstellung des inneren geistigen Zustandes, oder die künstlerische Darstellung der im Geiste hervorgebrachten Ideen mit Beziehung der Vorstellung von äußeren Dingen ist. Es heißt dies aber dem Wesen der Musik Gewalt anthun, wenn man sie in eine Sphäre hebt, in welcher sie nicht heimisch ist; und was wir früher schon in den Worten aussprachen: „Berlioz verlangt von der Musik, was nur die Dichtkunst gewähren kann“, hat später in einer Anmerkung zu Theodor
Luther 1529 Kleiner Katechismus: „Wasser thuts freylich nicht, Sondern das wort Gottes, so mit und bey dem wasser ist, und der glaube, der solchem wort Gottes ym wasser trawet“ (in: Luther-Schriften 30, I, S. 311). 6 Hector Berlioz, Symphonie fantastique op. 14 (EA 1830). 5 Vgl.
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Hagen’s7 interessantem Aufsatze „Berlioz und einige andere Dinge“ (Neue Ztschr. f. Mus. Bd. 20. Nr. 5.)8 die frühere Redaction d. Ztschr. in folgenden Worten ausgesprochen: „Es ist ein schlimmes Zeichen für den beginnenden Componisten, wenn er nicht vor Allem blos Musik machen, sondern Allerhand durch die Musik darstellen will, wenn er die Musik nur als Dienerin und Dollmetscherin gebrauchen will.“9 Die engen Grenzen, welche die musikalische Schilderung, die Tonmalerei im engeren Sinne des Wortes, vermöge des Wesens der Musik überhaupt hat, rechtfertigen obige Behauptung auf das Vollständigste. Die Musik, will sie die Stelle der Malerei vertreten, kann sich nur auf Schilderung solcher äußerer Zustände und Begebenheiten beschränken, welche eine entschiedene und unmittelbar bestimmte Empfindung in uns hervorrufen. Die Musik, indem sie dabei irgend einen Gefühlseindruck, wie ihn z. B. der Aufgang der Sonne macht, zum bestimmten Bewußtsein bringt, kann mit dem zu schildernden Gegenstande nur eine entfernte äußerliche Aehnlichkeit haben, welche gleichwohl des erklärenden Wortes nicht entbehren kann; denn die Musik als rein romantische, auf die bloße Ahnung in uns wirkende Kunst, welche jedes Individuum zum Spiegel seiner eigenen Subjectivität nach freier Willkür machen kann, darf und soll auch nicht so weit ihr Wesen aufopfern, daß sie gleichsam mit Händen zu greifen ist. Sie hört dann auf Kunst zu sein; und bis zur Travestie (denn was sind z. B. musikalische Schlachtgemälde10 anders?) ist ein kleiner Schritt. Wir behaupten hiermit keineswegs, daß sie sich nicht mit Darstellung gewisser Charaktere, ja sogar gewisser zusammenhängender Handlungen und Ereignisse befassen, mit einem Worte nicht episch werden dürfe, aus welchem Grunde wir z. B. Ouverturen und Symphonieen wie die Eroica11 und Pastorale12 ablehnen müßten, aber es heißt ihr Gewalt anthun, wenn wir sie zum Sclaven eines für ihr Verständniß unentbehrlichen Textbuches machen, welches als Gebrauchs-Anweisung den Zuhörer zwingt, das aus der Musik herauszuhören, was der Componist in seine Musik hineingehört hat. Dieser Vorwurf trifft Berlioz in hohem Grade, obschon wir auf der andern Seite nicht verkennen, daß er dabei höchst geistreich zu Werke gegangen. Wenn wir früher schon behaupteten, daß er mehr Dichter als Musiker sei, so wird dies außer Obigem noch dadurch bewahrheitet, daß wir ihm einen Mangel an gründlichem musikalischem Wissen vorzuwerfen haben. Wir sind weit entfernt, aus einer, den Gesetzen des Generalbasses zuwiderlaufenden Note ein Verbrechen zu machen, weit
Hagen (1823 –1871), Musikschriftsteller, der seit 1844 in der NZfM unter dem Pseudonym „Joachim Fels“ publizierte. 8 Hagen 1844 Berlioz. Der Artikel, der unter dem Pseudonym „Joachim Fels“ veröffentlicht wurde, findet sich nicht in der im Artikel angegebenen fünften, sondern tatsächlich in der dritten Nummer vom 8. Januar. 9 Hagen 1844 Berlioz, S. 11. Gemeint ist hier Robert Schumann, der Hagens Aufsatz eine kritische redaktionelle Stellungnahme beigab. 10 Die Schlachtenmusik oder Battaglia, als eine eigene Untergattung der Instrumentalmusik, versucht meist mit tonmalerischen Elementen sowie der Verwendung charakteristischer Hymnen der beteiligten Armeen, das Schlachtgetümmel in Musik darzustellen. 11 Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr. 3 Eroica Es-Dur op. 55 (ED 1806). 12 Beethoven, Symphonie Nr. 6 Pastorale F-Dur op. 68 (ED 1809). 7 Theodor
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entfernt, über einen grammatikalischen Fehler in der Sprache den darin ausgesprochenen schönen Gedanken als Unsinn zu verwerfen, allein wir hegen auch die Ueberzeugung, daß wer z. B. keinen reinen Satz zu schreiben gelernt, trotz allen Talentes, es nie zu einer vollendet schönen Composition bringen wird, so wenig wie derjenige ein vollendet schönes Gedicht zu liefern vermag, der über die Syntax der Sprache nicht hinaus ist. Die zuweilen störenden Schroffheiten und Härten sind weit häufiger Resultate jenen Mangels an Gründlichkeit der musikalischen Elementarkenntnisse, als wohl überlegten Suchens nach ungewöhnlichen harmonischen Effecten, die bei ihrem outrirten13 Wesen und bei Mangel melodischer Stimmenführung aller Grazie Hohn sprechen. Wozu bei einem geistreichen und speculativen Kopfe auf der einen Seite der Mangel an Gründlichkeit des Elementarwissens, auf der andern eine poetische und scharfsinnige Einsicht in das rein Aesthetische der Kunst führen müsse, können wir an Berlioz sehr deutlich sehen, an ihm, der als Schriftsteller für Beethoven14 in warmer Begeisterung glüht, der bewiesen, in welch hohem Grade er Gluck15 zu würdigen verstehe, der noch neuerdings ein schlagendes Zeugniß seiner großen Befähigung in seinem vortrefflichen Werke über Instrumentation16 abgelegt hat, und dennoch als Componist sich weder für Beethoven noch für Gluck bekennt! [9] Was Hector Berlioz musikalische Bedeutsamkeit giebt und dem Musiker ein besonderes Interesse abnöthigt, das ist zunächst seine höchst charakteristische und originelle Instrumentation, welche meist den Mangel ursprünglich musikalischer Gedanken überkleidet, und dann das durchgreifende Beherrschen einer nach großem, ungewöhnlichem Maßstabe zu messenden Form. In Bezug auf Ersteres offenbart er durchgängig eine tiefe Einsicht in das Wesen und den Charakter der einzelnen Instrumente, so wie eine außerordentliche Combinationskraft, welche ihn Zusammenstellungen für neue und eigenthümliche Effecte finden läßt und mit deren Hülfe er seinen poetischen Intentionen, indem er sie musikalisch darzustellen sucht, eine drastische Wirksamkeit zu geben versteht. Bei der Eigenthümlichkeit seines Wesens hat er unbedingt mehr Recht für Anwendung ungewöhnlicher Instrumente und deren Zusammenhäufung zu großen Massen als jeder andere Componist, welcher vermöge seiner mehr musikalischen als dichterischen Natur sich verleugnen müßte, wollte er in Berlioz’s Weise componiren, was ein doppeltes Wagniß wäre und nur zu Geschmacklosigkeiten führen könnte. Mag auch Berlioz in dieser Beziehung zu weit gegangen sein, indem er vergebens mit einem ganzen Heere von Instrumenten zu erreichen sucht, was z. B. Beethoven zuweilen mit einem einzigen erwirkt, (man höre nur nach einer Symphonie von Berlioz eine von Beethoven, und bemerke, wie gigantisch sich letztere
übertrieben, aufgebauscht. 14 Siehe etwa Berlioz 1829 Beethoven (in: Berlioz-Schriften 1, S. 47 – 61) sowie Berlioz 1838 Symphonies de Beethoven (in: Berlioz-Schriften 1, S. 365 – 371, S. 373 – 381, S. 383 – 388, S. 391– 395, S. 399 – 401, S. 403 – 410). 15 Siehe etwa Berlioz 1834 Gluck (in: Berlioz-Schriften 1, S. 245 – 252); Berlioz 1835 Du système de Gluck (in: Berlioz-Schriften 2, S. 297 – 303). 16 Berlioz 1844 Grande Traité d’instrumentation. Das Werk erschien im gleichen Jahr in einer deutschen Übersetzung von Johann Christoph Grünbaum, allerdings mit nicht gekennzeichneten Ergänzungen (Berlioz 1844 Die Kunst der Instrumentation). Sie gilt als die erste umfassende Instrumentationslehre der Musikgeschichte. 13 (Frz.)
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über erstere trotz ihrer Einfachheit erhebt!) so sehen wir doch darin keinen Grund, auch das als Thorheit zu verwerfen, was füglich Beachtung und weise Benutzung zur zweckmäßigen Erweiterung der musikalischen Hülfsmittel Seiten unserer Componisten verdient. Mit einem bequemen mitleidigen Hinweglächeln allen Verdienstes ist nichts gethan! Wer verschmähte den Diamant, weil er unter taubem Gestein liegt?! – Mit Unrecht hat man Berlioz’s Compositionen den Mangel an Form vorgeworfen;17 denn nicht das ist Form, was man nach den gebräuchlichen Maßstäben ausmessen kann und was, in Zahlen dargestellt, ein Facit giebt, welches nicht um einige Bruchtheile von bekannten Größenverhältnissen abweicht. Die Umrisse seiner Formen gleichen denen eines für weite Entfernung berechneten Frescogemäldes. In der Nähe betrachtet zerfällt das Bild in Einzelheiten und die Harmonie löst sich in ein chaotisches Durcheinander auf. So gewinnen seine langathmigen Melodiephrasen, seine oft mit großer Beharrlichkeit ausgesponnenen Figuren, der weit und gewaltsam über Dämme und Klippen gedrängte Strom der Harmonieen, seine pikanten rhythmischen Verkettungen zu langen Perioden das Ansehen eines abgeschlossenen Ganzen, das mehr äußerlich durch die Form zusammengehalten wird, als es die innere Nothwendigkeit des Stoffes, die unmittelbar musikalische Idee zu erreichen vermöchte. Erwägt man, daß für Berlioz die Musik nicht Zweck und Mittel zugleich ist, sondern blos Mittel für dichterische Zwecke, so wird man [10] darin schon einen Theils eine Abweichung in der Form bedingt finden, andern Theils mit Rücksicht darauf zugeben müssen, daß er in Beherrschung der Form ein ungleich höheres Verdienst habe, als in Bezug auf den musikalischen Inhalt, den wir größtentheils seiner Musik insofern absprechen müssen, als sie nur das Gewand seiner dichterischen Intentionen ist. Unter allen den Compositionen, die wir von ihm, und zwar zu wiederholten Malen gehört haben, giebt für letztere Behauptung keine einen sichereren Beleg, als die Ouverture zu König Lear, welche wir in Bezug auf Bewältigung der großartigen Anlage zur abgeschlossenen Form für eines seiner bedeutungsvollsten Werke halten müssen. Nicht blos der Vorwurf, den Berlioz in dem Charakter des König Lear genommen, sondern auch die Entwicklung desselben nach Shakespeare’s Drama18 müssen wir schon als eine glückliche Idee betrachten, da beides, der Charakter sowohl als dessen Schicksale und Handlungen, günstige musikalische Momente bieten; denn einen Theils, indem der Componist sich in die Gefühlssphäre jenes unglücklichen Helden versetzt, vermag die Musik noch ergreifender als das Wort dessen inneren geistigen Zustand zur Anschauung zu bringen, und so Sympathieen für ihn zu erwecken, andern Theils bieten die im Drama vorgeführten Situationen der Musik günstige Umrisse für jene Malerei, welche, da sie einen entschiedenen und entsprechenden Gefühlsausdruck für sich hat, auch ohne das sie begleitende Wort,
17 Siehe etwa Hagen 1844 Berlioz, S. 10: „Die gänzliche Formlosigkeit aber, welche in der Mehrzahl dieser Musikstücke [Berlioz’] waltet, beweist mir eben, daß Berlioz kein musikalisches Genie ist, denn aus diesem gehen Idee und Form gleich groß und vollendet hervor.“ 18 William Shakes peare, The Tragedy of King Lear (UA 1605).
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welches, indem die Musik dasselbe verklärt, diese wiederum erklärt, bestehen und den vollen Zauber ihres geheimnißvollen Wesens über unser Herz ausüben kann. Nur zu häufig treten wir Musiker (der sogenannte Kunstkenner unter den Dilettanten jeder Zeit), den Werken, die wir in uns aufnehmen wollen, leider nicht mit jener Unbefangenheit und jener Bereitwilligkeit zur Hingebung an die fremde Individualität entgegen, welche Rousseau in den herrlichen Worten verlangt: „Wir müssen Alles vergessen, was wir gelernt haben, um einigermaßen klar zu sehen!“19 – Wir glauben gleich urtheilen zu müssen, und indem wir mit dem Kopfe und nicht mit dem Herzen hören, verlieren wir darüber die Hauptsache, nämlich die Unmittelbarkeit des Gefühlseindrucks, den erst später der sondernde Verstand in die Sphäre einer vernunftgemäßen Betrachtung zu erheben im Stande ist. Ohne dieses völlig vorurtheilsfreie Hingeben an Berlioz’s Musik zu König Lear wird man sogar später als bei einer andern zum Verständniß derselben kommen, und zwar deshalb, weil uns erst die weite Form viel zu schaffen macht, bevor wir zum Inhalt gelangen. Wenn man indeß vorliegender Ouverture [von] Seiten der Musiker mehr Zugeständnisse machte als andern Compositionen von Berlioz, so geschah es wohl größtentheils aus dem Grunde, weil man an dem rein Technischen einen mehr bekannten Anhaltepunct fand; wie denn überhaupt diese Ouverture bei weitem weniger Abweichendes bietet. Sie zerfällt in zwei Theile, von denen der erstere, ein Andante non troppo lento ma maëstoso, mit folgender großartigen Phrase beginnt:
Bratschen, Violoncelle und Contrabässe führen sie unisono im Forte vor und beendigen den so begonnenen Perioden in den nächstfolgenden 4 Tacten, indem sie imitationsweise bei rhythmisch genauer Wiederholung sich nach der Tonica C wenden. Der Schluß
auf der Thesis wird von dem zweiten C-Horn in der Arsis wiederholt, worauf das erste wiederum in der Thesis mit derselben Figur in der Octave antwortet. Nach diesem eingeschobenen einen Tacte beginnen mit dem zehnten die Violinen con sordini zu dem c und g der Flöten im Pianissimo die genaue Wiederholung jenes [sic] Perioden, und wiederum antworten im neunten Tacte von da ab die Flöten, Oboen und Clarinetten. Die Gegenphrase tritt abermals in den Bässen der Saiteninstrumente etwas variirt im ff ein, schon nach dem vierten Tacte von den Blas
19 Wahrscheinlich handelt es sich hier um eine Paraphrasierung grundlegender Gedanken JeanJacques Rousseaus.
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instrumenten durch Einschaltung eines fünften unterbrochen. In symmetrischen Gegenphrasen vereinigen sich die Fagotten mit den Bässen, die Violinen geben wiederum im pp, vom Pizzicato jener begleitet, das Echo, die Zwischenphrasen der Holzblasinstrumente werden regsamer, bis mit einem: un peu retenue in C-Dur eine Melodie von der Oboe vorgeführt wird, welche später die Holzblasinstrumente im Verein aufnehmen, indeß die Streichinstrumente in Achtelbewegung die Harmonie bilden, wobei aber die ersten Violinen im dolce und pp figurirend dazwischenlaufen. Immer belebter wird in Arpeggios der Saiteninstrumente die Begleitung jener durchklingenden in immer neuer Instrumentirung vorgeführten Melodie, immer heller werden die Lichter, immer tiefer die Schatten, immer gewaltiger die im ff hineingeworfenen Accorde. So steigert sich der Ausdruck bis, unterbrochen von Fermaten, nach abgestoßenen starken Accorden der Satz mit Pizzicato der Saiteninstrumente und dem c der Pauken schließt. Der zweite Satz disperato ed agitato assai C-Dur beginnt in ff der Saiteninstrumente mit folgendem Gedanken:
[11] welcher, weit ausgeführt, von genannten Instrumenten festgehalten wird, indeß die Blasinstrumente sich sehr discret halten. Nur allmälig treten im ff einige Messinginstrumente hinzu. Nach einigen 60 Tacten beginnt, eingeleitet von einem sich allmälig verlierenden Piano der Saiteninstrumente folgende charakteristische Melodie:
Wir haben sie absichtlich ziemlich ganz beigegeben, um die Art und Weise zu veranschaulichen, wie Berlioz in seinen Melodiephrasen weite, ausgedehnte Formen liebt. Dieser Gedanke wird im Verhältniß zu seiner Wesenheit ausgesponnen, wobei der Componist durch mannichfaltige Modificationen in Rhythmus, Instrumentation und Harmonie nicht blos das Interesse fesselt, sondern auch Steigerung des Ausdrucks hervorzubringen weiß. Wie das erste, so hat auch dieses Thema sein Gegenthema, welches sich nach der Mitte des Satzes hin zu einem riesigen Forte emporarbeitet, wobei das Thema des ersten Satzes höchst ergreifend verflochten ist. Man muß hier die Partitur vor sich haben, um das Großartige der Arbeit gehörig zu
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würdigen. Nach diesem Forte tritt jenes Thema in langen Noten folgendermaßen auf:
während das zweite Thema des Allegro in der Engführung dazwischen tritt. Daß hierbei alle Hülfsmittel einer charakteristischen und eigenthümlichen Instrumentation benutzt sind, bedarf wohl kaum der Erwähnung, und wie oberflächlich wir auch diese großartige Tondichtung haben skizziren können, so wird damit doch so viel zur Anschauung gebracht sein, daß sie eine Beachtung herausfordert, welche sich für den Künstler an höhere, als blos momentan vorübergehende Interessen knüpft. Ganz entgegengesetzten Charakters ist die „Ouverture caracteristique: le carneval romain“, welche rücksichtlich ihrer Ausführung wohl eben soviel, vielleicht noch mehr technische Schwierigkeiten bieten dürfte, als die zu König Lear, aber zu ihrem Verständnisse nicht einen so hohen Standpunct der ästhetischen Intelligenz voraussetzt, da der Vorwurf sich hier auf weit bekannterem Gebiete der Empfindung sowohl als der Phantasie bewegt. Sie nimmt in die Reihe der gewöhnlichen Orchesterinstrumente ein englisches Horn, zwei Cornets a Pistons en la20, Cymbeln, Triangel, und zwei Tambours de Basque21 auf, eine Erweiterung, die sich durch den Vorwurf vollkommen rechtfertigen läßt. Sie beginnt im Allegro assai con fuoco A-Dur, welches nach 13 Tacten in einen 5 Tacte langen 2/4Tact l’istesso tempo überspringt, und dann ein Andante sostenuto 3/4Tact folgen läßt. Das englische Horn führt in diesem Tempo eine heitere und graziöse Melodie zu einfacher Accordbegleitung der Saiteninstrumente vor. Allmälig weiter ausgesponnen, wird die Begleitung pikanter, bis alle Instrumente in regsamer Lust, doch immer graziös sich ergehen. Selbst die Piccoloflöte prickelt ihr e fis gis a 3 Tacte lang wiederholt in Zweiunddreißigtheilnoten fort, was freilich auf dem Papier zu der in gleicher Bewegung geführten Figur der andern Holzblasinstrumente wie Peitschenhiebe gegen das Ohr sich ausnimmt, aber in der Ausführung (welche keineswegs leicht ist) einen wunderlichen, wenn nicht unschönen Effect giebt. Im 6/8Tact tempo primo, Allegro vivace spinnt sich die Ouverture nun ohne Unterbrechung fort. Heitre Laune und Jovialität, die sich oft bis zum Muthwillen steigert, durchweht das Ganze, das in einer höchst effectvollen Instrumentation seinen Höhepunct hat, und was es sein will, auch ist, nämlich eine ouverture caracteristique, was freilich überhaupt jede sein sollte, die nicht geradezu Concertouverture im eigentlichsten Sinne des Wortes ist.
20 (Frz.)
kleines Ventilhorn in A.
21 Bezeichnung
der größeren Form des Tamburins.
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So haben wir denn an Besprechung vorliegender Werke ein Wort über eine Erscheinung in der Künstlerwelt geknüpft, welche einen fruchtlosen Streit der Parteien veranlaßt hat, der in der That längst sowohl zur gegenseitigen Genugthuung, als zur gerechten Anerkennung der Verdienste des Componisten (denn auch Ueberschätzung nennen wir ein Unrecht, das ihm zugefügt wird) beseitigt sein sollte. Möge unser Wort die gute [12] Absicht nicht verfehlen, und zur Aufführung der besprochenen Werke Veranlassung geben. Jul. B.
Kommentar Der vorliegende Artikel des Musikschriftstellers und -theoretikers Julius Becker stellt ein Zeugnis für die frühe Berlioz-Rezeption dar, welche im Anschluss an den ersten Aufenthalt des Komponisten in Deutschland während der Jahre 1842 bis 1843 und die damit verbundenen zahlreichen Besuche und Konzerte Berlioz’ u. a. in Stuttgart, Mannheim, Weimar, Leipzig, Dresden, Braunschweig, Hamburg, Berlin, Hannover und Darmstadt ihren ersten Höhepunkt gefunden hatte.22 Die durch die Konzerte und die Anwesenheit Berlioz’ ausgelöste Kontroverse zu seinen Kompositionen war von einer großen Ambivalenz und Unsicherheit in Bezug auf die Bewertung dieses „Dichter“23-Komponisten geprägt, der mit herkömmlichen Analysekriterien nur schwer zu beurteilen war und daher früh zu regelrechten musikästhetischen ‚Parteiungen‘ Anlass bot. So hatte etwa der Musikschriftsteller und Dramatiker Robert Wolfgang Griepenkerl zwei Jahre zuvor in seiner Novelle Ritter Berlioz in Braunschweig den Komponisten als ‚Bruder‘ Beethovens und als Teil einer auf Shakespeare und Jean Paul zurückreichenden geistigen Richtung innerhalb der Musik charakterisiert,24 während hingegen Franz Brendel noch Jahre später den Werken des Franzosen aufgrund ihrer deskriptiven musikalischen Elemente skeptisch gegenüberstand, da in diesen „das Ganze in Theile“ zerfalle und „die einzelnen charakteristischen Momente“ so sehr hervortreten, „dass der Gesamteindruck“ verlorengehe: „Es fehlt darum der Zauber der Schönheit“25. Entgegen diesem seit Beginn der Berlioz-Rezeption in Deutschland toposhaft wiederkehrenden Vorwurf der Formlosigkeit und des Unorganischen26 stellt Becker – neben der lobend erwähnten Instrumentationskunst des Komponisten – eine ästhetische Eigenständigkeit gegenüber Beethoven sowie gerade das Beherrschen der Form als wesentlichen Aspekt
hierzu die Übersicht in Jacobshagen/Braam 2002 Berlioz in Deutschland, S. XXXIII –XXXV. Artikel, S. 38 [6]. 24 Siehe Griepenkerl 1843 Ritter Berlioz. Vgl. hierzu Hennemann 2003 Ritter Berlioz und Prophet Mendelssohn. 25 Brendel 1852 Geschichte der Musik, S. 513. 26 Siehe etwa Marx 1829 Huit Scènes de Faust. 22 Vgl.
23 Vorliegender
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entgegen, welcher „Berlioz musikalische Bedeutsamkeit giebt“27. Dessen formale Freiheiten seien durch die „dichterischen Intentionen“28 des Komponisten gerechtfertigt, wodurch allein die Musik selbst jedoch noch nicht notwendigerweise „musikalischen Inhalt“29 erhalte. Somit nimmt der Artikel eine historische und argumentative Mittelstellung ein, zwischen der wegweisenden Schumann-Rezension der Symphonie fantastique30 aus dem Jahre 1835 sowie der späteren Diskussion der 1850er Jahre nicht nur um Berlioz selbst,31 sondern auch um die sich an Liszts Symphonischen Dichtungen ab der Mitte der 1850er Jahre wieder entzündenden Auseinandersetzungen über die generelle Berechtigung von Programm musik.32 Die bereits Mitte der 1840er Jahre auch in Deutschland zunehmende musikhistorische Verortung Berlioz’ als ‚Erbe‘ Beethovens sollte in der Folge nicht zuletzt aufgrund des künstlerischen und publizistischen Eintretens Liszts für die Werke Berlioz’ in Weimar33 zur allmählichen Umdeutung des französischen Komponisten zu einem ‚Bindeglied‘ zwischen Beethoven und Liszt und zugleich zu dessen Integration in die Zukunftsmusik-Debatte führen – eine Entwicklung, welche durch die allmähliche34 Ersetzung der französischen Abstammung Berlioz’ durch eine Art vermeintlicher Geistesverwandtschaft letztlich in dessen ‚Aufnahme‘ in das Triumvirat der Brendel’schen Konstruktion einer „neudeutschen Schule“35 im Jahre 1859 mündete.
Artikel, S. 39 [9]. 28 Ebd., S. 40 [10]. 29 Ebd. 30 Siehe Schumann 1835 „Aus dem Leben eines Künstlers“. 31 Siehe etwa Pohl 1853 Hector Berlioz; Lobe 1853 Hektor Berlioz, in: NdS 1 Nr. 43; Pohl 1856 Hector Berlioz, in: NdS 2 Nr. 90. 32 Siehe etwa Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, in: NdS 2 Nr. 76 sowie Hanslick 1857 Les Préludes, in: NdS 2 Nr. 104. 33 In einer sogenannten „Berlioz-Woche“ hatte Liszt 1852 verschiedene Werke des Komponisten in dessen Beisein in Weimar aufgeführt. Siehe hierzu etwa Brendel 1852 Ein dritter Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 37. 1855 folgte die Veröffentlichung einer ausführlichen Besprechung der Harold-Symphonie Berlioz’ durch Liszt (siehe Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, in: NdS 2 Nr. 76). 34 Noch 1857 wies Brendel die Zugehörigkeit Berlioz’ zur ‚Zukunftsmusik‘ mit dem Verweis auf dessen französische Herkunft und „schon de[m] Umstand, daß er nicht deutsch versteht“, dezidiert zurück (Brendel 1857 F. Liszt’s neueste Werke, S. 154 f., in: NdS 2 Nr. 108, S. 1383). 35 Siehe Brendel 1859 Zur Anbahnung einer Verständigung, in: NdS 3 Nr. 126. 27 Vorliegender
Nr. 4 | Franz Brendel, „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper. Dritter Artikel. Zukunft“, in: NZfM 13 (1846), Bd. 24, Nr. 15 (19. Februar), S. 57 – 60; Nr. 16 (22. Februar), S. 61– 64.1
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper, von Franz Brendel. Dritter Artikel. Zukunft.
Wie die Kritik sich heutzutage nicht mehr, so wie früher, auf Besprechung einzelner Werke beschränken kann, ohne den Zusammenhang derselben mit dem Entwicklungsgang der Kunst überhaupt zu erforschen, wie bei Beurtheilung einzelner Erscheinungen, wenn Principfragen in Anregung kommen, sich das Ungenügende zeigt, daß jene allgemeinen kunsthistorischen und philosophischen Fragen noch gar nicht erörtert sind, wie gerade der in diesen Blättern versuchte Fortschritt, das Ziel unseres Strebens, darin besteht, das Einzelne in seinem Zusammenhange mit dem Allgemeinen zu fassen, und der Tonkunst der Gegenwart jene ästhetische Basis, jene bewußte Orientirung zu geben, welche unserer Ansicht nach die wesentlichste Bedingung eines Fortschrittes ist, wie überhaupt die Kritik nicht mehr allein im Negativen verweilen darf, sondern sich selbst möglichst productiv gestalten muß,2 so habe ich in dem Bisherigen versucht, die Entwicklung der Oper seit ihrer Entstehung bis herab auf die Gegenwart zu verfolgen, die darin zur Erscheinung gekommenen Gesetze, die Wesenheit des gesammten Processes zu erkennen, und mir die Aufgabe gestellt, mit der Vergangenheit gewissermaßen Abrechnung zu halten, um damit den Anstoß für eine gesteigerte Tätigkeit auf diesem Gebiet zu geben;3 jetzt bleibt mir noch übrig, aus der Basis der Vergangenheit und Gegenwart die Zukunft, so weit als möglich zu bestimmen. Fassen wir die Resultate der bisherigen Untersuchungen in kurze Sätze zusammen, so ergiebt sich, daß die Erfindung der Oper einen der wichtigsten Wendepuncte in der Geschichte der Tonkunst bezeichnet. Die Oper war es, welche die Musik aus den kirchlichen Banden befreite, und die weltlichen Formen ins Leben rief; die Oper war es, welche die große Umbildung der Weltanschauung, die zu den Zeiten der Reformation zur Geltung gelangte, auf dem Gebiet der Tonkunst zur Darstellung brachte. Anfangs indeß in Italien huldigte dieselbe mehr einer rein
in Brendel-Schriften, S. 56 –114. 2 Vgl. hierzu die Ausführungen Brendels zu den Aufgaben der Musikkritik (Brendel 1845 Zur Einleitung, in: NdS 1 Nr. 1). 3 Siehe Brendel 1845 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper I. Vergangenheit; Brendel 1845 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper II. Gegenwart. 1 Wiederabdruck
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lyrischen Richtung, und genügte auf dieser Stufe noch keineswegs dem Begriffe, dem sie als dramatisches Kunstwerk angehört; Anbequemung an die Forderungen des Sängers, Virtuosität als Zweck der Kunst, und demzufolge auch eine überwiegend sinnliche Richtung gelangten bald in diesem Lande zur ausschließlichen Geltung, und entfernten die Oper desselben mehr und mehr von ihrem wahren Ziele. Sie war in das Leben eingeführt, und die Bahn für den späteren Aufschwung war dadurch gebrochen. Dies war der große Gewinn. Den Culminationspunct aber zu erreichen, das musikalische Drama zu dramatischem Ausdruck zu steigern, einen vertiefteren geistigen Inhalt in demselben zur Erscheinung zu bringen, dazu war Deutschland unter Mitwirkung Frankreichs auserkohren. Gluck bezeichnet die Geschichte als denjenigen, welcher diese größte That zu vollbringen, diesen Umschwung ins Leben einzuführen und auf diese Weise Italien gegenüber den entgegengesetzten Standpunct geltend zu machen berufen war. [58] Mozart endlich, universeller als Gluck, wußte der umfassenden Aufgabe Deutschland entsprechend die hier sich noch gegenüberstehenden Richtungen zu einen, und erstieg dadurch, mindestens in dem von mir früher ausführlicher erörterten Sinne, in rein künstlerischer, mehr formeller Hinsicht, die höchste Stufe, welche die Oper in ihrer Entwicklung bis jetzt erreicht hat. Wie jedoch höchste Reife, Stillstand und Rückgang untrennbare Momente, unmittelbar Eins sind, so datirt sich auch von Mozart an ein erneutes Versinken in Mängel, welche erst Gluck bekämpft und verdrängt hatte, ein Versinken in Mängel, welche die Oper wieder mehr und mehr von ihrem wahren Begriffe entfernten und zum Theil in kaum erst verlassene Bahnen zurückführten. Mozart besaß nicht den Ernst und die Strenge Gluck’s, vernachlässigte die von jenem erreichte Einheit des Textes und der Musik, faßte dem entsprechend seine Aufgabe mehr als Musiker, und gestattete in Folge seiner vermittelnden Stellung, dem lyrischen, italienischen Element oftmals einen allzugroßen Einfluß. – Die Nachfolger desselben aber insbesondere in Deutschland, mehr an ihn als an Gluck sich anschließend, haben vorzugsweise diese rein musikalische Seite ins Auge gefaßt, und so ist die große Anschauung von dem Wesen der Oper, welche der Letztere geltend gemacht hatte, mehr und mehr verloren gegangen. Eine Menge Gebrechen in der formellen Gestaltung der Oper sind die Folge gewesen, und Routine und Handwerksschlendrian an die Stelle hohen Kunstbewußtseins getreten. Zugleich waren die Nachfolger nicht im Stande, jene umfassende Einigung der verschiedenen Style, wie sie Mozart vollbracht hatte, festzuhalten, und beschränkten sich auf deutsches Wesen im engeren Sinne, Manches jedoch, was Mozart der Kunst erworben hatte, mit herübernehmend, so daß eine Vermengung der Kunststyle an die Stelle der früheren organischen Einigung trat, und weil auf diese Weise die geschichtlich berechtigten Richtungen Italiens und Frankreichs allzusehr vernachlässigt wurden, so gelangten diese bei uns wieder zu erneuter überwiegender Herrschaft. – Dies war die Entwicklung der Oper in rein künstlerischer Hinsicht. Zuletzt, als wir den Inhalt und den Zusammenhang der Oper mit der allgemeinen geistigen Entfaltung der neueren Zeit betrachteten, gewannen wir noch eine zweite wesentliche Gesammtanschauung. Wie die großen Männer des 18ten und 19ten Jahrhunderts in allen Gebieten der Wissenschaft und Kunst nicht ausschließlich in dem Charakter und den Interessen der Nation ihren Hintergrund fanden, sondern ihrem Wesen nach auf einer allgemeinen Basis ruhten, wie die allgemeine Grundlage eine geistige, von
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den nationellen Bestrebungen geschiedene Welt war, so war auch die Oper nicht ausschließlich Ausdruck der Nationalität, nicht Resultat einer harmonischen Gesammtentwicklung der Nation und des Volksgeistes, sondern aus verschiedenen Bildungseinflüssen hervorgegangen, und es ergab sich für uns darum das doppelte Resultat, daß sie als Kunstwerk in musikalischer Hinsicht zwar zur Spitze gelangte, hinsichtlich ihres Inhaltes aber auf die Zukunft verweist, und von dieser noch eine Steigerung erwarten muß, indem das Nationale im hohen und umfassenden Sinne, überhaupt der Geist der Neuzeit in ihr noch nicht zur Erscheinung gekommen ist. – So ist die Gegenwart geworden. Die deutsche Oper befindet sich zur Zeit in gar mancher Hinsicht in einem verkümmerten Zustande; bis vor kurzem war selbst die Productivität unbedeutend; das Ausland herrschte unbedingt, als ob es, wie Marx bemerkt, nie einen Gluck oder Mozart gegeben hätte.4 Neuerdings zwar ist eine größere Thätigkeit wieder erwacht, aber es ist nicht zu sagen, daß, mit wenig Ausnahmen, die deutschen Tonkünstler bis jetzt glückliche Erfolge erlangt hätten, und daß mit der erneuten Thätigkeit zugleich eine innere Steigerung und ein wahrhafter Fortschritt gekommen wäre. Die Operncomposition wird jetzt sogar mit weit geringerem Ernst, als früher, betrieben, und die meisten Werke verschwinden, wie in Italien, eben so schnell und spurlos, als sie entstanden waren. Es fehlt einerseits an Bewußtsein über die Aufgabe, welche die Oper in der Gegenwart zu lösen, es fehlt an Bewußtsein über die Bildungsschule, welche der dramatische Componist zu durchlaufen hat, an Bewußtsein über die Bedingungen, welche bei einem Operncomponist vorhanden sein müssen, wenn er mit Glück sich der Aufgabe unterziehen will, es fehlt überhaupt noch zu sehr der Grund und Boden, aus welchem ein Fortschritt für die Oper der Gegenwart hervorgehen könnte. Daß dieselbe anderseits, in ihrer höheren Bedeutung erkannt, als Nationalangelegenheit zu betrachten, daß es nöthig ist, wenn sie gedeihen soll, dieselbe einer nationellen Kritik zu unterwerfen und aus den engen künstlerischen Schranken hinauszurücken, ist ebenso wenig nachdrücklich beherzigt worden. Und doch sind gerade dies die wesentlichsten Bedingungen für einen höheren Aufschwung. Die Oeffentlichkeit muß die Versunkenheit in Particularität und Philisterhaftigkeit abschleifen, wie überhaupt, so namentlich auf dem Gebiet der Musik, wo man noch in Zuständen weilt, welche in anderen Kreisen des Lebens längst überwunden sind, wo überhaupt das Bewußtsein, daß ein neuer Geist die Welt regiert, noch nicht überall erwacht ist, und Einzelne in verjährten aristokratischen Sympathien Wurzel zu fassen suchen, oder selbst als Mittelpunct sich hinzustellen geneigt sind, einen Kreis von Verehrern um sich sammelnd, die sie von jeder rauhen Berührung mit der Außenwelt entfernen. Viel zu sehr ist man gewohnt [59] gewesen, die Oper nur als Unterhaltungsmittel zu betrachten, oder höchstens allein als eine rein musikalische Angelegenheit, und hat dieselbe ferngehalten von den Strömungen des Zeitgeistes und den Einflüssen eines auf anderen Gebieten längst zur Geltung gekommenen höheren ästhetischen Erkennens. Wem es darum zu thun ist, wirklich etwas zu leisten, sucht einsichtsvollen Tadel auf, und nur thörigte Eitelkeit kann gerade hier aus diesem Gebiet der
4 Marx
1845 Die Lehre von der musikalischen Komposition, S. VI.
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Ansicht sein, selbst Alles am besten zu wissen. Dieses Aufgehen aber im Interesse für die Sache, dieses rückhaltslose Sichhingeben ist überall eher zu finden, als auf musikalischem Gebiet, und so ist es gekommen, daß namentlich auch hinsichtlich der Ausführung die Einzelnen nicht mehr der Sache, sondern, mit wenigen darum mehr als billig hervorragenden Ausnahmen, allein ihrer Eitelkeit dienen, und ein ungeheurer Handwerksschlendrian sich der Bühnenkünstler und Künstlerinnen bemächtigt hat. – Ich wiederhole: so ist die Oper geworden; das sind die Zustände derselben in der Gegenwart. Fragen wir jetzt nach den Bedingungen des Fortschritts, so ist die Antwort zum Theil in dem Bisherigen, sowohl dem früher, als auch dem so eben Ausgesprochenen enthalten, zum Theil wird es die Aufgabe sein, dieselben in dem Nachfolgenden festzustellen. Sollen die bisherigen Wege verlassen werden, sollen die bisherigen Schöpfungen der Gegenwart nicht als schnell vergessene Spätlinge auftreten, und die Oper einer neuen und erhöhten Stufe entgegengehen, so ist der erste Schritt, daß die bisherige Entwicklung abgebrochen wird, daß die Componisten des Tages nicht allein mehr nach früheren Mustern arbeiten, und immer und immer sich in die Vergangenheit versenken, sondern zugleich sich auf sich selbst, auf ihre eigene Intelligenz stellen, ihren Ausgangspunct zugleich von der Wissenschaft nehmen, von Bestimmungen, wie die in dem Bisherigen aufgestellten; es muß das Herkommen verlassen, und in eine bewußtere Region eingetreten wer[den]. Wenn ich schon früher, am Schlusse des Aufsatzes über Schumann und Mendelssohn5, den Tonkünstlern allgemeinere Bildung empfahl, damit sie Gelegenheit erhalten, ihr Inneres mit einem neuen Inhalt zu erfüllen, wenn ich schon dort das stete und ausschließliche Zurückgehen auf das, was die Vergangenheit geleistet hat, als wenig förderlich bezeichnete, und dringend mahnte, statt den Inhalt aus jenen früheren Werken zu nehmen, und so nur das schon Gesagte zu reproduciren, die Blicke für die Ereignisse des Tages zu öffnen, und an den Bewegungen des Geistes überhaupt Theil zu nehmen,6 so zeigt sich hier die Notwendigkeit, solche Wege einzuschlagen, noch dringender und unabweislicher. Denn während in der Instrumentalmusik die neuere Zeit noch das Größte, in die Zukunft Dringende geleistet hat, ist die Oper zurückgeblieben, fast ausschließlich in den Zuständen der Vergangenheit weilend. Politik, Studium der Meisterwerke der Poesie und der ausgezeichneten Leistungen auf dem Gebiet der poetischen Kritik, Lessing’s7 z. B., um dadurch in den Organismus eines dramatischen Werkes eindringen zu lernen, allgemeine Bildung ist es, was jetzt den Tonkünstler befähigen muß, den breitgetretenen Weg zu verlassen, und den Muth verleihen, eine neue Entwicklung zu beginnen. Weit entfernt zwar bin ich zu sagen, daß die Werke der Künstler, welche bis auf die neuere Zeit herab das Bedeutendste
Brendel 1845 Schumann und Mendelssohn. 6 Ebd., S. 150: „Unsere tüchtigeren Künstler, – von Saloncomponisten, Routiniers kann nicht die Rede sein – unterlassen es so oft, sich mit dem Geist der Jetztzeit vertraut zu machen; die Bildung der Musiker überhaupt ist bis jetzt viel zu sehr eine rein musikalische im engeren Sinne gewesen, und so geschah es, daß man mit der Form auch den Inhalt ergriffen zu haben glaubte; alte Meister wurden, und zwar mit vollkommensten Recht, studirt, aber es ward übersehen, daß dadurch eigentlich nur Formenfertigkeit für den Ausdruck eines neuen Geistes errungen werden soll.“ 7 Brendel spielt dabei wohl vor allem auf Gotthold Ephraim Lessings Hamburgische Dramaturgie (ED 1767 –1769) an. 5 Siehe
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in diesem Fache geleistet haben, nicht studirt werden sollten; mache der Jüngere sich auf das Innigste mit ihnen vertraut. Bisher aber sind die von mir früher bezeichneten unleugbaren Mängel der Vorgänger und Meister, als eine künstlerische Erbsünde gewissermaßen, auch auf die Nachfolger übergegangen, und haben diese in ihrer freieren Entfaltung gehemmt. Dies muß vermieden werden, und darum ist es gebieterische Nothwendigkeit für den Künstler der Gegenwart, zugleich eine selbständige, kritische, reflectirende Stellung, die freilich, wie ich kaum zu erinnern brauche, in den Kunstschöpfungen selbst als überwunden sich darstellen muß, einzunehmen. Ich wiederhole nicht, was ich hinsichtlich der formellen Gestalt der Oper und der in den bisherigen Schöpfungen immer wiederkehrenden Mängel schon früher ausgesprochen habe, und verweise darauf.9 Die scenische und dramatische Gestaltung muß eine andere, mehr den Gesetzen des Dramas nachgebildete werden, und an die Stelle mannichfacher Widersinnigkeiten, zu denen die Oper bisher verdammt schien – Widersinnigkeiten, die, wie Gluck sagt, „aus dem großartigsten und erhebendsten aller Schauspiele das lächerlichste und langweiligste gemacht haben“10, – eine bis auf einen gewissen Grad hin logische Entwicklung treten. Das Zerspalten des ganzen Werkes in eine Menge kleiner für sich abgeschlossener Musikstücke ist unpsychologisch und undramatisch, und größere, die einzelnen Theile in sich aufnehmende Formen, wie sie unsere Finales zeigen, müssen daher vorzugsweise zur Anwendung kommen. In der großen Oper endlich ist der Dialog schlechterdings zu beseitigen.I Dies alles ist als unbedingte Forde-[60]rung hinzustellen, als Aufgabe,
I Unter
den jüngeren Tonsetzern der Gegenwart scheint mir R. Wagner vorzugsweise nach einem solchem Ziele zu streben. Sehen wir seine Bemühungen nicht mit dem erwünschten Erfolg gekrönt,8 so liegt der Grund, abgesehen davon, daß seine Erfindung viel zu sehr durch Reflexion vermittelt, viel zu wenig unmittelbarer Erguß ist, daß bei ihm, wie ich schon vorhin als nothwendig bezeichnete, die kritische Verstandesthätigkeit nicht vollständig beim Schaffen überwunden ist, hauptsächlich darin, daß es an bedeutenden Melodien, an lyrischen Culminationspuncten fehlt. Das ist der Mangel, in welchen Componisten, die dieser Richtung huldigen, so leicht verfallen. Sie glauben, wenn sie dem dramatischen Fortschritt genügt, und mehr als sonst Einheit des Textes und der Musik erreicht ist, allen Forderungen entsprochen zu haben, während doch auch die Musik bedeutend hinsichtlich der Erfindung und des Ausdrucks, – musikalisch möchte ich sagen, – sein muß. Wagner’s Streben scheint mir in mancher Hinsicht ein sehr beachtenswerthes zu sein, und es ist nöthig, darauf aufmerksam zu machen, das von ihm richtig Erkannte nicht mit dem unzulänglich Ausgeführten, die Idee nicht mit ihrer nicht entsprechenden Erscheinung zu verwechseln. 8 Brendel hatte in den vorherigen Artikeln der Aufsatzreihe vor allem den gesprochenen Dialog in der Oper, die Einteilung in sogenannte Nummern, also abgeschlossene musikalische Abschnitte, die von ihm als undramatisch gewerteten Libretti sowie deren Stoffe und generell das Primat der Musik vor dem Text kritisiert. 9 Deutsche Übersetzung aus dem 1769 von Christoph Willibald Gluck verfassten Vorwort zu seiner Oper Alceste (UA 1767). 10 Vgl. hierzu auch Brendels kurze Zeit später erschienene Rezension von Wagners Tannhäuser-Ouvertüre: „Wagner’s Ouvertüre zum Tannhäuser zu Anfang des 2ten Theils, fand Ref. geradehin unschön, und er muß dem Publicum Recht geben, wenn dasselbe das Werk entschieden fallen ließ, mag auch mangelhafte, freilich durch die große Schwierigkeit von dem Componisten verschuldete, Ausführung einigermaßen mitgewirkt haben. Interessante Instrumentalcombinationen, insbesondere ein interessanter Geigeneffect,
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wornach Jeder streben muß, wenn er der Bildung der Zeit entsprechen will; das ist das ein für allemal Nothwendige, was auch bei den früheren Werken, trotz ihrer geistigen Größe, ein Mangel war, und zugleich als Ursache bezeichnet werden kann, daß uns in äußerlichen Dingen gar Manches bei Mozart z. B. jetzt schon veraltet scheinen will. [61] Aber die Aufgabe ist mit dem bis jetzt Dargestellten nicht abgeschlossen. Es gilt nicht allein einen formellen Fortschritt, und Beseitigung aller der Uebelstände, die ich schon in den früheren Abschnitten zur Sprache gebracht habe, es gilt auch hinsichtlich des Inhaltes die Wege der Zukunft zu bezeichnen, und ich versuche es, wenn schon mit einer gewissen Zurückhaltung in dem Bewußtsein, ein schwankendes Gebiet zu betreten. Zwar kann es nicht der Zweck sein, diese Entwicklung mit derselben Ausführlichkeit zu geben, die ich, um zu den bisherigen Resultaten zu gelangen, der Betrachtung der Vergangenheit und Gegenwart angedeihen ließ. Dort galt es, die Aufgabe, deren Lösung die Gegenwart sich zu stellen hat, vorzubereiten, eine bestimmte Lehre auszusprechen, und ein bestimmtes Resultat herbeizuführen, hier kann ich mich kürzer fassen, da genaue Vorschriften auf einem Gebiet, wo der Künstler eigene Schöpferthätigkeit zu entfalten hat, wo das Entscheidendste von den allgemeinen Geistesbewegungen abhängig ist, völlig unstatthaft sein würden. Anregungen aber, Andeutungen des Zieles soll die Kritik geben, um den Proceß des Werdens zu beschleunigen, und eine hier und da vielleicht unbewußt eingeschlagene Richtung in sich selbst zu kräftigen. – Als ich im zweiten Artikel die Entwicklung der nachmozartischen Oper hinsichtlich ihres Inhaltes und im Zusammenhange mit dem Leben betrachtete, bemerkte ich, wie alle Richtungen jetzt hindrängen nach Erfassung deutscher Nationalität, als dem Mittelpunct aller Bestrebungen.11 Deutschland hat seit dem Wiedererwachen eines freieren Geistes nach dem Ende des Mittelalters zuerst seine theuerste Angelegenheit festgestellt; Deutschland war zuerst classisch auf religiösem Gebiet, dann trat eine höhere Ausbildung der Wissenschaften, der Philosophie insbesondere und Naturwissenschaften hervor, und die Poesie und Tonkunst schlossen sich an diese Zeit geistiger Erhebung. Jetzt drängt Alles nach einer höheren Entwicklung im Staatsleben, und die Zukunft wird uns eine classische Epoche Deutschlands auch im Praktischen bringen. Es ist in neuster Zeit ein Gesammtbewußtsein erwacht, welches glücklich die Jahrhunderte alte Zersplitterung zu überwinden beginnt; Denkmale, den großen Männern der Nation errichtet, gleichviel, welchem Fache sie angehörten und welche Provinz des deutschen Mutterlandes sie geboren hatte, Einsamm-
entschädigt nicht für Mangel an innerem Gehalt. Wohl glaubt man zu Zeiten etwas hinter den Aeußerlichkeiten suchen zu dürfen, aber man überzeugt sich bald, daß wenig oder nichts dahinter ist“ (Brendel 1846 Leipziger Musikleben, S. 72). 11 Siehe Brendel 1845 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper II. Gegenwart, S. 123: „Jetzt, als die Napoleonischen Kriege Deutschland aus seiner praktischen Erstarrung emporrüttelten, und die Nation genöthigt war, sich zusammenzuraffen, trat ein Wendepunct ein. Jetzt war der mächtigste Anstoß gegeben zu einer großen, tieferen und nachhaltigen Besinnung über deutsches Wesen, zur Weckung eines höheren nationalen Strebens. Jetzt begann in der That eine nationale Entwicklung, die Kunst trat in Verbindung mit dem Leben, und erschien als ein Ausfluß desselben.“
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lungen für die, welche durch Zeitereignisse plötzlich aus ihren Verhältnissen herausgeworfen wurden, insbesondere aber die Erscheinung einer nationalen, einer deutsch-katholischen Kirche sind der schönste Ausdruck dieses Strebens nach Einigung.12 Die Schranken fallen; jede einseitige Geltung wird vernichtet, und kann sich in ihrer abgeschlossenen Existenz nicht mehr halten; ein gemeinsames Ziel, an dessen Erreichung sich auch das Volk im engeren Sinne mehr und mehr betheiligt, wird je länger, je deutlicher erkannt. – Die Kunst soll mit diesen Bestrebungen sympathisiren, und eine zu der Höhe einer allgemeinen nationalen Anschauung sich erhebende Oper ist daher die nächste Aufgabe. – Ist es auch eine gänzlich irrige Ansicht, zu meinen, daß die Kunst in ihrer Totalität [62] allen Phasen des Lebens zum Ausdruck dienen, und jede Regung des Zeitgeistes in sich wiederspiegeln solle, ist es z. B. durchaus irrig, die Poesie heutzutage allein auf politische zu beschränken, und wäre es in diesem Sinne eben so übereilt, von der Tonkunst der Gegenwart zu verlangen, daß sie allen Bewegungen des Tages folgen solle, so ist es auf der anderen Seite nicht minder unzulässig, die Kunst auf eine abstracte Höhe zu stellen, unabhängig von dem Leben zu denken, und sie von dem Boden, in dem sie naturgemäß wurzeln soll, loszureißen. Die Kunst kann und soll in ihren untergeordneten Erscheinungen den Bedürfnissen des Augenblicks dienen, sie kann ebensosehr umgekehrt ausnahmsweise sich einmal von den Bewegungen der Zeit fern halten, und sich, wie es z. B. Mendelssohn thut, dem antiken Drama zuwenden,13 in ihrem innersten Mittelpunct soll sie die wesentlichen Richtungen der Zeit künstlerisch verklärt zur Erscheinung bringen, und nur wenn sie dies thut, ist sie geeignet, wahrhaft fortzuschreiten. So ist es jetzt die Aufgabe, in den innersten Mittelpunct des nationalen Lebens einzudringen, und Elemente, wie sie einerseits bei unseren Romantikern Spohr, Weber, Marschner, andrerseits bei Beethoven (ich verweise auf das früher Ausgesprochene) sich vorfinden, zu steigern und fortzubilden.14 Die
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hatte in Leipzig unter organisatorischer Mitwirkung des Märzrevolutionärs Robert Blum (1807 –1848) das erste deutsch-katholische Konzil der ein Jahr zuvor gegründeten sogenannten deutsch-katholischen Reformbewegung stattgefunden. Ihr Haupt war der vom Dienst suspendierte schlesische Priester Johannes Ronge (1813 –1887), der gegen die enge Verbindung von Altar und Thron in Preußen protestierte und sich für die deutsche Einheit sowie die Loslösung des katholischen Glaubens von Rom einsetzte und insgesamt für einen liberalen und sozial-politisch engagierten Katholizismus in Abgrenzung zur traditionell-dogmatischen Glaubensauffassung eintrat. 13 Felix Mendelssohn Bartholdy hatte 1841 vom preußischen König Friedrich Wilhelm IV den Auftrag erhalten, eine Schauspielmusik für das antike Drama Antigone von Sophokles zu komponieren, die noch im selben Jahr fertig gestellt wurde. Dem Werk folgten 1845 Oedipus in Kolonos op. 93 und die Schauspielmusik zu Athalie op. 74 (nach Jean Racine). 14 Siehe Brendel 1845 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper II. Gegenwart, S. 124: „Beethoven hat im Fidelio, mehr und höher noch im Egmont, die Bahn gebrochen. Was hier theils in noch ganz particularen Zuständen, theils allein durch Instrumentalmusik geleistet wurde, das muß sich auf allgemeinerem Standpunct in umfassenden nationalen Stoffen wiederholen. Darum erblicke ich in einer Bearbeitung der Nibelungen als Oper in der That einen Fortschritt, und glaube, daß der Componist, welcher diese Aufgabe in entsprechender Weise zu lösen vermöchte, der Mann der Zeit werden würde, […] und eine neue Glanzepoche der Oper wird dann erreicht werden können, wenn wir hinsichtlich der Form zu jener früheren classischen Zeit zurückkehrend, und […] zu der Höhe nationaler Stoffe uns erheben.“
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Künstler müssen jene gesonderten Bildungskreise verlassen, und jenes gemeinschaftliche Ziel, nach dessen Erreichung Alle streben, erkennen lernen; sie müssen auf den Markt des Lebens heraustreten, und die Gegenwart mit freiem, ungetrübtem Blick betrachten. Abschleifung aller subjectiven Particularitäten, welche das deutsche Einspinnen in sich und die eigene Gefühlswelt, oder Beschränkung aus Standesinteressen und besondere geistige Richtungen nur zu leicht erzeugt, Heraustreten aus den verschiedenen Kunstmanieren, und Erhebung zu einem nationellen Styl sind wesentliche Bedingungen. Jene deutsche Innerlichkeit und Gemüthlichkeit, so schön und liebenswürdig sie war, so Ausgezeichnetes, Deutschland allein Eigenes darin geleistet worden ist, jene ideale Schwärmerei kann jetzt nicht allein mehr den Inhalt der Kunst bilden; das Volk ist praktischer geworden, und es ist eine gerechte Forderung, wenn auch die Kunst diese Wendung in sich aufnehmen soll. Doch es sind dies Alles nur Andeutungen, verschieden gewendete Bezeichnungen für das eine Wort, des Räthsels Lösung, welches ich jetzt ausspreche: Popularität der Gesinnung ist es, demokratische Gesinnung im höheren Sinne, welche allein zu befähigen vermag, dieses Ziel zu erreichen. M. v. Weber hat im Freischütz15 trefflich den Volkston getroffen; aber er war im Leben Aristokrat, und hat sich nur in diese Sphäre künstlich vertieft; er hat Volksmusik gegeben, die sich auf diesen engen Kreis, beschränkt, keineswegs auf der Basis solcher Popularität alle Seiten des Lebens umfaßt, und wir erblicken ihn darum in anderen Werken ganz anderen Richtungen huldigend, ohne daß sich ein Ton durch alle hindurchzieht. Andere Componisten haben allein populäre Musik gegeben, vermochten sich aber weder im Leben noch in der Kunst zu der Höhe aristokratischer Anschauungen zu erheben, und waren darum eben so beschränkt in ihrem Empfinden, und auf besondere Kreise angewiesen; jetzt gilt es, aus allen diesen Particularitäten herauszutreten, und einen Standpunct einzunehmen, der, über allen einseitigen Richtungen stehend, alle in sich befaßt, – klingt es nicht zu gewagt, so möchte ich sagen – einen Standpunct zu erreichen, den Beethoven im Finale seiner 9ten Symphonie prophetisch bezeichnet hat. Das ist der Mangel unserer Poesie und Kunst, daß bisher, in Folge der Zeitumstände, noch Keiner vermocht hat, das gesammte Leben zu umfassen, daß die universellsten Künstler, wie Göthe und Mozart, nur einseitigen Bildungskreisen angehörten, weit verschieden von Shakespeare, der in dieser Hinsicht, begünstigt durch seine Zeit, bis jetzt einzig in der Geschichte dasteht. – Die gesammte Entwicklung der Nation drängt jetzt aus diesen Punct, und es ist darum keine Träumerei, wenn ich ihn als das nächste Ziel unserer Kunst bezeichne. Die Oper aber, die allen Kreisen des Volkes gleich sehr zugängliche Kunstgattung, ist berufen, zunächst diesen Fortschritt zu verwirklichen. – Aber wie? Nach jener weltumfassenden Entwicklung, welche unser Vaterland durchlaufen hat, und nachdem wir die Geistesschätze aller Nationen um uns aufgehäuft haben, sollen wir uns auf diese, zwar höchst bedeutende, doch ohne Frage engere – weil allein nationelle – Aufgabe beschränken, und jene universelle Richtung, welche Deutschland seit dem Erwachen eines höheren Bewußtseins verfolgt hat, und welche ihm, wie die Geschichte uns lehrt, gleich wesentlich ist, gänzlich fallen lassen? Keineswegs. Wie früher die verschiedenen Richtungen nebeneinander
15 Carl
Maria von Weber, Der Freischütz (UA 1821).
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herliefen, hindrängend auf jenen nationalen Mittelpunct, welchen die Gegenwart sucht, so werden künftig von diesem Mittelpunct aus die Strahlen wieder auseinander gehen, wird künftig sich die Nationalität zur Universalität, zum Kosmopolismus erweitern, nur mit dem Unterschied, daß früher und bis jetzt unaufhörliche Schwankungen bald das eine, bald das andere Element zur Herrschaft brachten, während dann auf jenem Grunde sicherster Errungenschaft ein fester Anhalt gewonnen ist, der allen Bestrebungen als Centrum dient. Alle Zeitbedingungen ins Auge gefaßt, Alles was eine Zukunft hat berücksichtigt, ergiebt sich auch jetzt wieder eine universelle Richtung als Aufgabe des Jahrhunderts, eine Mozart’sche Uni-[63]versalität, aber auf verändertem Standpunct, auf dem Grunde jener dann zum Abschluß gebrachten nationalen Richtung. Innerhalb unsers Vaterlandes fallen die Schranken, und während früher ein Jeder sich in seinem Kreise abschloß, nehmen jetzt Alle an Allem Theil. Pedantische, der Welt entfremdete Gelehrte sind fast gänzlich verschwunden, und es achtet dieser Stand die feine Bildung des Weltmanns jetzt für sich unerläßlich; man hat erkannt, daß ohne Kunstbildung Bildung überhaupt nicht möglich ist, und so finden wir unter den Gelehrten häufig die besten Dilettanten. Umgekehrt nähern sich die hervorragenderen unter den Künstlern der Wissenschaft, in dem Bewußtsein, daß ohne dieselbe ihre Existenz gleichfalls nur eine halbe ist; der Bürger sieht schon längst in dem Adel nicht mehr eine, eigenthümliche Vorzüge bewahrende Classe, und der Adel umgekehrt ist praktisch geworden, und lernt die alte Thorheit aufgeben, als ob Fleiß und Thätigkeit – und wäre es die des Handwerkers – für ihn unehrenhaft wäre. Kann das Ziel der Nationen ein anderes sein, kann jene selbstische Sonderung und Abgrenzung derselben dauern? Früher galt es, jedes Volk erst in seiner Eigenthümlichkeit fest werden zu lassen, und einen selbstständigen Charakter desselben hervorzubilden; die Aufgabe der Völker war, das ursprünglich Eigene sich zum Bewußtsein zu bringen. Jetzt hat der Geist der Geschichte diese Erziehung vollbracht, und in Zukunft gilt es daher, diese in sich erstarkten, aber auch in ihrer Einseitigkeit zum Theil schon verkümmernden und vertrocknenden Nationalindividualitäten durch das Fremde zu erfüllen. Dann ist allerdings nicht mehr das declamatorische Princip Frankreichs, wie Gluck und Mozart es thaten, nicht mehr eine künstlerische Form, nicht mehr ein bestimmter Kunststyl eines Landes aufzunehmen, dann ist der fremde Geist mit dem eigenen zu verschmelzen; dann gilt es, um im Sinne des gewählten Beispiels fortzufahren, jene Schärfe der durch Beobachtung gewonnenen Charakteristik in der französischen Kunst, jenes Geschick, aus sehr Geringfügigem etwas zu machen, jenen praktischen Blick, jene aus Sympathie mit den Bewegungen des Lebens hervorgehende Popularität auf oder zum Muster zu nehmen. Wie Göthe den Gedanken der Weltliteratur aussprach,16 und eine solche als die Aufgabe der
16 Siehe
etwa Goethes Aussage aus dem Jahre 1827: „Ueberall hört und lies’t man von dem Vorschreiten des Menschengeschlechts, von den weiteren Aussichten der Welt- und Menschenverhältnisse. Wie es auch im Ganzen hiermit beschaffen seyn mag, welches zu untersuchen und zu bestimmen nicht meines Amts ist, will ich doch von meiner Seite meine Freunde aufmerksam machen, daß ich überzeugt sey, es bilde sich eine allgemeine Weltliteratur, worin uns Deutschen eine ehrenvolle Rolle vorbehalten ist“, in: Goethe-Werke 22, S. 356. Vgl. insgesamt zu den verschiedenen Aussagen Goethes zur Weltliteratur: Strich 1957 Goethe und die Weltliteratur.
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Zukunft bezeichnete, so muß auch die Tonkunst – und die Musik ist ja gerade ihrer Natur nach die universelle Sprache – sich auf einen allgemeinen Standpunct erheben, und dem lebendigen Verkehr der Völker zum Ausdruck dienen. Früher, als Mozart zum ersten Male diese große Aufgabe löste, war jene Universalität eine durch Studium vermittelte, und allein Eigenthum eines höheren geistigen Gebiets. Jetzt ist das Leben selbst die Grundlage, und die Kunst Ausdruck desselben. Dort wurde jener, einer idealen Höhe angehörige Standpunct von Einzelnen erreicht, künstlich, und nur in Folge der kunstgeschichtlichen Voraussetzungen; jetzt nimmt die Gesammtheit diesen Standpunct ein, und die allgemeine Geschichte hat diesen Standpunct hervorgerufen. Wenn die Herrlichkeit eines durch die höchste Wissenschaft neu erzeugten, philosophisch wiedergeborenen Christenthums nicht blos die ersten und rohesten Fundamente unseres socialen und Staatslebens durchdringt, wenn der ewig wahre Inhalt desselben auch die entwickelteren Formen der Gesellschaft erfüllt, und das Verhalten der Einzelnen und der Völker wirklich bestimmt, wenn man eingesehen haben wird, daß die alte tiefeingewurzelte Abgrenzung der Individuen, Stände und Nationen nicht allein unchristlich, daß es Beschränktheit der Intelligenz ist, und wie viel Größeres und Herrlicheres eine Weltanschauung bietet, welche an die Stelle selbstischen Aufstrebens und egoistischer Geltendmachung auf Kosten der Anderen freie Anerkennung der gleichen Berechtigung derselben, an die Stelle thörigter Ueberhebung Bescheidenheit, an die Stelle knechtischen Hasses eine freie Erhebung des Inneren treten läßt, – es sind dies nicht leere, träumerische Hoffnungen, viele Zeichen der Zeit verkünden es – dann ist die Gesinnung vorhanden, welche, ohne die nationelle Eigenthümlichkeit aufzugeben, diese zu einer allgemeinen erweitert, und scheinbar heterogene Elemente organisch verschmilzt. – Das ist es, was ich für die Aufgabe der Völker, und demzufolge auch der künftigen Kunst halte; das ist zugleich, meiner Ansicht nach, die Lösung jener großen Frage, wie unsere Kunst sich der ausländischen, herrschenden gegenüber in Zukunft zu verhalten hat; gänzlich irrig aber würde es sein, dieses Ziel auf einmal erreichen und lösen zu wollen, die zuletzt ausgesprochenen Sätze für eine augenblickliche, praktische Anwendung geeignet, überhaupt für sogleich ausführbar zu halten. – Wie in der Entwicklung der Natur und Geschichte nirgends ein Sprung sich zeigt, so ist auch diese Bestimmung nur durch stufenweise Annäherung erreichbar; auch Mozart konnte nur eintreten, als die Zeit erfüllt war. – Indem ich hiermit meine Untersuchungen über die Entwicklungsgesetze der Oper schließe, kann ich nicht umhin, den deutschen Tonkünstlern noch Eins an’s Herz zu legen: die Nation wird, fürchte ich, bei den großen Bewegungen der Gegenwart die Tonkunst fallen lassen, wenn diese allzulange säumt, einen höheren Flug zu nehmen, und sich den geistigen Bestrebungen der Zeit anzuschließen. Ist es nicht das deutlichste Zeichen, daß gerade Viele der liberalen Partei unserer Kunst feindlich gesinnt sind, und sie häufig als unbrauchbar bei einer neuen Gestaltung der Dinge bezeichnen?17 – Um so [64] dringender ist die Mahnung, nicht immer neue Nah-
17 Zu diesen Kritikern der Musik auf Seiten der „liberalen Partei“ kann etwa der jungdeutsche Literat Karl Gutzkow gezählt werden, der in seinem Roman Wally, die Zweiflerin (ED 1835) einen seiner Charaktere äußern lässt: „[S]agen Sie mir von allen neuen Autoren einen, der ein gutes
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rung und Erquickung aus der Vergangenheit zu saugen, oder den Fortschritt in der geschmacklosen Ueberhäufung künstlerischer Mittel zu suchen. Eine neue Gesinnung ist es allein, welche fördern kann. Gegen die aber, welche über Musik schreiben, spreche ich den Wunsch aus, daß sie, so weit sie mit den von mir aufgestellten Sätzen übereinstimmen können, zur Verwirklichung derselben, dazu, daß dieselben als Maßstab angelegt werden, – wo sie Mängel finden, zur Ergänzung und Beseitigung beitragen mögen, damit wir aus der trostlosen Zersplitterung in individuelle Ansichten auf musikalischem Gebiet herauskommen, und zu allgemein anerkannten Bestimmungen gelangen, und auch unter uns eine geistige Gemeinschaft, wie sie, bei allen Differenzen, auf dem Gebiet der Wissenschaft längst vorhanden ist, endlich sich bilde. Frz. Brendel.
Kommentar Diese kurz nach der Übernahme der Redaktionsleitung entstandene Artikelserie Brendels zur Geschichte und Entwicklung der Oper, deren dritter und letzter Teil hier abgedruckt ist, stellt mehrere grundlegende Positionen vor, welche das Denken und Wirken des Herausgebers der NZfM zeitlebens beherrschten. Neben der Mahnung an die Musiker, sich über die Musik hinaus den allgemeinen Fragen und Themen der Gegenwart zu öffnen, um nicht in gesellschaftliche Bedeutungslosigkeit zu verfallen, gehört dazu vor allem die Auffassung, insbesondere das Medium der (deutschen) Oper verfüge über die Wirkmächtigkeit, die ersehnte Einheit Deutschlands vorzubereiten, womit Brendel deutlich an das von Lessing, Wieland, Schiller, Goethe und anderen vorgetragene Konzept einer Nationalbühne anknüpft. Um dieses Ziel zu erreichen, müsse die Gattung aber nicht nur aufhören, ein reines „Unterhaltungsmittel“18 zu sein, sondern Stoffe vertonen, welche aufgrund ihres allgemeinen Interesses zur Nationenbildung dienen könnten. Als besonders geeignet sah Brendel hierfür das bereits 1844 von Friedrich Theodor Vischer19 und ein Jahr später von Louise Otto20 in
Urtheil über Musik hätte? […] Was soll überhaupt die Musik? Diese klingende Mathematik? […] Musik ist absolut nichts: die Bildung legt erst das hinein, was wir darin zu finden glauben. Wenn ich bei irgend einem Musikstück ein solcher Narr bin, an die Unsterblichkeit der Seele zu glauben, so verbinden zu gleicher Zeit Sie damit einen Begriff, welcher vielleicht der entgegengesetzte ist. Wenn Sie bei einer Symfonie [sic] von Beethoven an einen gothischen Dom denken, so dachte der Componist an das Giebeldach einer Bauernhütte. Nein, mein Herr, die Musik wird aufhören zu den Künsten gerechnet zu werden“ (ebd., S. 35 – 37). 18 Vorliegender Artikel, S. 49 [59]. 19 Siehe Vischer 1844 Vorschlag zu einer Oper. 20 Siehe Otto 1845 Die Nibelungen als Oper.
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der NZfM vorgeschlagene Nibelungen-Epos an. So heißt es im zweiten, der Gegenwart gewidmeten Artikel diesbezüglich: „Beethoven hat im Fidelio, mehr und höher noch im Egmont, die Bahn gebrochen. Was hier theils in noch ganz particularen Zuständen, theils allein durch Instrumentalmusik geleistet wurde, das muß sich auf allgemeinerem Standpunct in umfassenden nationalen Stoffen wiederholen. Darum erblicke ich in einer Bearbeitung der Nibelungen als Oper in der That einen Fortschritt, und glaube, daß der Componist, welcher diese Aufgabe in entsprechender Weise zu lösen vermöchte, der Mann der Zeit werden würde, […] und eine neue Glanzepoche der Oper wird dann erreicht werden können, wenn wir hinsichtlich der Form zu jener früheren classischen Zeit zurückkehrend, und […] zu der Höhe nationaler Stoffe uns erheben.“21 Die hier geforderte Besinnung auf nationale Stoffe geht in Brendels dialektischem Geschichtsbild jedoch keineswegs mit einer chauvinistischen Abkapselung gegenüber französischen oder italienischen Einflüssen einher, sondern wurde von ihm vielmehr als die Bedingung für eine Fortentwicklung der Gattung Oper überhaupt betrachtet, da diese (Rück-) Besinnung auf den jeweiligen Nationalcharakter allein einen Bezug mit den allgemeineren geistigen Strömungen und Tendenzen der Gegenwart gewährleiste, was eine konzeptionelle Nähe zu Goethes Idee einer Weltliteratur22 verrät.23 Besondere Beachtung verdient die Fußnote Brendels, in der dieser erstmals Wagner und dessen Opernschaffen in bemerkenswert kritischer Weise erwähnt und in ihm gleichwohl – und nicht etwa Robert Schumann – den zukünftigen Protagonisten des von ihm skizzierten Weges ausgibt. Diese Aussagen, wie etwa der Verweis auf die 9. Symphonie Beethovens als ideeller Anknüpfungspunkt, der von ihm vorgeschlagene Nibelungenstoff sowie der Primat des Dramas verdeutlichen, dass Brendel bereits kurz nach der Übernahme der Zeitschrift eine Reform und Auffassung der Oper als nationales Medium vertrat, welche meist Wagner zugeschrieben wird, von diesem jedoch erst in seinen 1849 bis 1852 erschienenen Zürcher Reformschriften24 artikuliert werden sollte. Durch die wiederholt bei Brendel betonte Notwendigkeit einer allgemeinen Bildung nicht nur der Musiker und Komponisten wird jedoch bereits in diesem frühen Aufsatz deutlich, wie sehr hier im Bereich der Musikzeitschriften universalistische gesellschaftliche Ziel verfolgt werden, die sich keinesfalls allein auf das Feld der Musik beschränken.
Brendel 1845 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper II. Gegenwart, S. 124. 22 Vgl. hierzu insgesamt Matuschek 2003 Weltgedicht und Weltliteratur. 23 In einem fünf Jahre später verfassten Brief Brendels an Schumann vom 19. April 1850 heißt es im Hinblick auf germanische Sagenstoffe erläuternd: „Jede Zeit hat ihr Opernideal. Das Unglück der Gegenwart ist, daß sie das ihrige noch nicht hat. Erst, in Italien, waren es antike Stoffe. So weiter das Heroische bei Gluck, was sich noch in der großen französischen Oper fortsetzt. Mozart öffnet den Kreis des rein Menschlichen. Nun kamen die musikalischen Romantiker, paralell [sic] den poetischen Romantikern. D[a]ß aus der Oper weiterhin noch nichts wieder werden wollte, liegt darin, daß man noch kein neues Stoffgebiet fand. Für mich steht unzweifelhaft fest, dß es die alte deutsche Sagenpoesie ist. Der Kreislauf ist vollendet, die unmittelbaren Schöpfungen der Jugendzeit des deutschen Volkes müssen mit Bewußtsein wieder geboren werden. Das wird die wahrhafte Nationaloper, u das sind die Kränze der Zukunft“, in: Schumann-Briefe II, 5, S. 312 f. 24 Siehe vor allem Wagner 1849 Kunst und Revolution; Wagner 1850 Kunstwerk der Zukunft sowie Wagner 1852 Oper und Drama. 21 Siehe
Nr. 5 | Fr [Franz] Br. [Brendel], „Polemische Blätter. Aphorismen von Fr Br.“, in: NZfM 13 (1846), Bd. 25, Nr. 21 (9. September), S. 83 – 85; Nr. 22 (12. September), S. 87 – 89.
Polemische Blätter. Aphorismen von Fr Br. (Fortsetzung aus Nr. 5 u. 6.)1
Die neuere, deutsche Philosophie, mit unserer Tonkunst zugleich die größte und bedeutendste Offenbarung des deutschen Geistes, hat, seit sie den hohen Standpunkt, welchen sie in der Gegenwart behauptet, erreicht hatte, stets mit aller Macht und Entschiedenheit gegen die Unzahl der Ansichten, wie sich dieselben in jedem Individuum über ein und dieselbe Sache anders gestalten, gekämpft, und dieser Particularität gegenüber ein umfassendes, alle Gegensätze in sich einendes, objektives System hinzustellen versucht. Es ist das große Verdienst derselben, gezeigt zu haben, wie der Grund abweichender Meinungen und Ansichten, überhaupt allen subjectiven Beliebens nur darin liegt, daß man, unendlich weit von der Tiefe des Inhaltes entfernt, an der Oberfläche herumtastet, umgekehrt, daß, je mehr man sich der wirklichen Erfassung der Sache nähert, um so mehr auch die Ansichten sich einen. Die neuere Philosophie fand diese Zerbröckelung vor; in gewissen Kreisen und auf einem bestimmten Standpunkt der Bildung galt es und gilt es zum Theil noch jetzt als etwas Besonderes, Bemerkenswerthes, seine ganz besonderen, individuellen Gedanken über eine Sache zu haben, und die Einzelnen, die einer solchen Stufe angehören, finden oft eine Befriedigung der Eitelkeit in derartigen Abweichungen. Es wohnt jenem Standpunkt, auf welchem der Einzelne durch die Verschiedenheit seiner Ansichten seine Eigenthümlichkeit geltend zu machen sucht, unleugbar eine große Berechtigung bei, er ist die Errungenschaft der Neuzeit, gegründet in der Freiheit des Individuums, und ich bin keineswegs gemeint, diese Berechtigung anzugreifen. Aber er ist Durchgangspunkt, bestimmt das Subject an der früher nur äußerlich ausgenommenen Erkenntniß in Wahrheit innerlich zu betheiligen, dann aber dasselbe zurückzuführen zum Allgemeinen dadurch, daß sich der Einzelne zum Gefäß für die Sache erweitert, und über seine individuellen Schranken hinausgeht. Nirgends ist die Zersplitterung der Ansichten, die Willkühr der Individuen mehr zu Hause, als auf dem Gebiet der Musik, und es ist bis jetzt, namentlich in weiteren Kreisen, noch nicht ausreichend gelungen, alle die Besonderheiten der Meinungen um einige wenige bestimmte Mittel- und Sammelpunkte zu einen, oder, wie auf dem Gebiet der Philosophie, in ein allgemeines, die Gegensätze einendes Gesammt
1 Siehe
Brendel 1846a Polemische Blätter sowie Brendel 1846b Polemische Blätter.
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bewußtsein aufzulösen. Auf dem Gebiet der Musik trifft man insbesondere zur Zeit noch jenes Vorurtheil, jene Verkehrung der Wahrheit, daß dem subjectiven Belieben nicht zu nahe getreten werden dürfe. So hört man den Lehrer behaupten, daß er sich der Individualität des Schülers anbequemen müsse, und daß es daher hier nicht möglich sei, allgemein giltige, leitende Gesichtspunkte aufzustellen, eine Ansicht, die jene ungeheure Willkühr in dem Unterricht, welche für jeden Abweg in neuerer Zeit Thor und Thür öffnete, zur Folge gehabt hat. Allerdings hat der Lehrer ganz recht, wenn er sich der Individualität des Schülers anbequemen zu müssen glaubt, aber er vergißt, daß er in derselben nicht völlig aufge-[84]hen, nicht ihr sich völlig unterordnen darf, sondern daß es allein seine Aufgabe sein kann, das Allgemeine so zu individualisiren, daß es dem Schüler verständlich wird. So hatte die Kritik in einem ihrer ältesten Organe die Willkühr oftmals völlig zu ihrem Princip gemacht, und war damit endlich – vor dem vor Kurzem stattgefundenen Redactionswechsel2 – zu entschiedener Charakterlosigkeit und zur Anerkennung des Verwerflichsten gekommen. So erblicken wir in alledem, was der höheren, in der Aesthetik wurzelnden Theorie unserer Kunst angehört, eine beispiellose Unklarheit der Ansichten, eine Verworrenheit, welche zur Folge hat, daß das Entgegengesetzteste behauptet worden ist. So ist es gekommen, daß uns auf dem Gebiet der Musik eine öffentliche Meinung, ein mit richtigem Tact urtheilendes Gesammtbewußtsein fast noch ganz fehlt, und der individuelle Geschmack immer eine Geltung für sich in Anspruch zu nehmen sucht, die ihm nicht zugestanden werden darf. – Praktisch aber hat diese Zersplitterung in lauter individuelle Meinungen, dieser Mangel an entschiedener Gesinnung und bestimmt ausgeprägten Richtungen das bedauerliche Resultat gehabt, daß eine grenzenlose Falschheit der Einzelnen unter einander Eingang gewonnen hat, und daß so viele Künstler im Privatleben es lieben, die Leistungen ihrer Genossen auf unnoble Weise herabzusetzen. Die Zersplitterung in so viele Meinungsverschiedenheiten macht es jedem Einzelnen möglich, mit einem Schein des Rechtes gegen den anderen anzukämpfen und die Leistungen desselben zu verdächtigen. Statt freier Anerkennung des Tüchtigen was Jemand bringt, statt gemessener Haltung bei mangelhaften Leistungen, statt entschiedener Opposition gegen Schlechtes, statt freudiger Theilnahme an allgemeinen Bestrebungen, hat nur zu oft gleißnerische Falschheit, hat ein kleinliches Wesen Raum gewonnen, was uns den Künstler als gewandten Diplomat zeigt, und alle Unterschiede in einen abstracten Brei freundlichen, aber hohlen und nur affectirten Wohlwollens zusammenrührt. Ich habe für diese Blätter, im Sinne der neueren Wissenschaft, immer als eine Hauptaufgabe erkannt, dieser Zersplitterung entgegenzutreten, und Objektivität der Betrachtung und Einsicht auch auf dem Gebiet der Musik zu erreichen; denn jemehr es gelingt, die inneren Entwicklungsgesetze unserer Kunst zu erfassen, alle Fragen demgemäß erschöpfend zu besprechen, und zu bestimmten Resultaten hinzuführen, um so mehr werden dann auch jene Meinungsverschiedenheiten weichen. Soll indeß der Fortschritt und die Einigung durchgreifend sein, so kommt es, was den Einzelnen
2 Brendel spielt hier wahrscheinlich auf die seit 1798 existierende Leipziger AmZ an, welche zu Beginn des Jahres 1846 einen Wechsel ihres Chefredakteurs von Moritz Hauptmann (Redaktionszeit 1843 –1846) zu Johann Christian Lobe (Redaktionszeit 1846 –1848) vollzogen hatte.
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betrifft, namentlich auch darauf an, aus dem engherzigen Indifferentismus herauszutreten, und sich für bestimmte Ansichten und eine bestimmte Richtung wirklich zu entscheiden. Wie in kirchlicher Sphäre darin eine erhöhte Lebendigkeit sich kund giebt, daß jetzt die unendlichen Meinungsverschiedenheiten um bestimmte Mittelpunkte sich concentriren,3 und dadurch sich bewähren oder untergehen, so ist der nächste Fortschritt, den die Gegenwart in Bezug auf Musik zu thun hat, sich die Verschiedenheit der Richtungen und Bestrebungen wirklich zum Bewußtsein zu bringen, und wenn es sein muß, wenn allgemeine Einigung noch nicht zu erlangen ist, Partei zu ergreifen, theoretisch und praktisch, in den Kunstschöpfungen und im Leben, – die Nothwendigkeit einer Aenderung in so vielen praktischen und künstlerischen Verhältnissen zu erkennen, und das, was einer besseren Gestaltung hindernd entgegentritt, streng auszuscheiden. Stoff zu Parteiungen ist in der Musik der Gegenwart reichlich vorhanden, und es bedarf nur, die verschiedenen Richtungen einen Schritt weiter, zur Spitze, zu führen, um dieselben sich gegenüber stehen zu sehen. Ich wähle ein Beispiel. Entsprechend der Partei des Fortschritts im Staate, und jener, die das überlebte Alte festhalten möchte, ist auf dem Gebiet der Tonkunst ein großer Bruch zwischen älteren und jüngeren Tonkünstlern sichtbar. Die Gleichheit Aller, die Emancipation der Völker, Stände und Individuen, die Freiheit ist das große Princip des Jahrhunderts, das, was berufen ist, die Welt neu zu gestalten, und es ist nur das lebenskräftig, was diesem sich anschließt; alles Uebrige gehört einem zurückgelegten Standpunkt an. Dies Princip muß auch in den Tonkünstlern lebendig werden, wenn diese neue Lebenskeime in sich aufnehmen, und die Geistesfrischen der Zeit wahrhaft interessiren wollen. In der deutschen Tonkunst aber ist viel Aristokratisches, und das neue Princip hat hier noch am wenigsten Geltung gewonnen. Nichts ist dem wahren Geiste der Freiheit, dem Geist der Gegenwart, mehr zuwider, als stolze Ueberhebung und aristokratische Absonderung: – und wo findet man eine solche häufiger, als auf dem Gebiet der Musik? Mir sind Beispiele bekannt, wo ältere Tonkünstler, die sich mit Recht eines großen, wohlerworbenen Rufes erfreuen, mit größter Schroffheit die Bekanntschaft jüngerer tüchtiger Talente ablehnen, und damit eine Gesinnung geltend zu machen suchen, über welche die Zeit längst gerichtet hat, damit zugleich jeden lebendigen Einfluß, den sie auf Förderung der Kunst erlangen könnten, vernichtend. Unantastbar, unnahbar, kleine Götter, suchen diese Kunstaristokraten eine heilige Scheu um sich zu verbrei-[85]ten, und betrachten Jeden, der es wagt, sie in die Bewegung des Lebens hineinzuziehen, als einen Frevler. Aber nur solche Autoritäten haben gegenwärtig noch Werth, welche sich aus allen Bewegungen siegreich
3 In
den 1840er Jahren war es zur Gründung zahlreicher Gruppierungen und Laienbewegungen gekommen, die alle unabhängig von ihrer jeweiligen konfessionellen Ausrichtung auf eine Reform der Kirchen bzw. des Staatskirchentums abzielten. Dazu gehörten etwa die am 10. April 1845 in Preußen verbotene, auf ihrem Höhepunkt 150 000 Anhänger zählende „Lichtbewegung“, die eine Aussöhnung von modernem Denken und Religion anstrebte, sowie die „Preußische Generalsynode“, welche kurz vor Abdruck dieses Artikels vom 2. Juni bis 28. August 1846 in Berlin getagt hatte. Die zentrale Forderung der Synode nach größerer Laienbeteiligung und Zurückdrängung der Orthodoxie innerhalb der preußisch-unierten Kirche wurde von König Wilhelm IV. jedoch abgelehnt.
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zu erheben wissen, nicht jene, welche, die Berührung vermeidend, nur durch Abgeschlossenheit sich zu halten versuchen. Auf dem Gebiet der Literatur hatten die älteren, großen Schriftsteller versäumt auf die Bestrebungen der Jüngeren, selbst fortschreitend und mit den wechselnden Gestalten des Geistes sympathisirend, einzugehen. Sie stellten sich, wie Tieck, Steffens4 u. A. der Neuzeit schroff gegenüber, völlig verblendet, und ohne eine Ahnung dessen, was diese will. Göthe, mit einem Genie, wie es nur in Jahrhunderten geboren wird, konnte sich abschließen, ohne seine ununterbrochene Produktivität versiegen zu machen, und doch mußte er, bei dieser Geistesfülle, es erleben, daß er in gar manchen Dingen in späteren Jahren ein Philister wurde. Es sind aus dieser feindlichen Sonderung manche extravagante Erscheinungen zu erklären, die sonst wohl nicht vorgekommen sein dürften; so der oft beklagte Mangel an Pietät für das Aeltere bei den Jüngeren; so überhaupt der völlige Bruch zwischen älteren und jüngeren Schriftstellern. Dasselbe wiederholt sich auf dem Gebiet der Musik, und sehr viel Schuld tragen diese Verhältnisse, wenn jüngere Künstler oft ein gegründeter Tadel trifft. Wie aus dem Gebiet der Literatur versäumen die Aelteren viel zu sehr, auf das wirklich Neue einzugehen; sie verstehen so oft nicht mehr was sich regt, und wollen stets rückwärts, und so ist es zu erklären, wenn vor Jahren ein älterer namhafter Künstler von einem der allerbegabtesten jüngeren Componisten sagte, „daß er nicht acht Tacte schreiben könne“; wenn Jener mehrere Jahre später, als ein Werk des Letzteren ausgeführt wurde, diesen freundlich umarmte und beglückwünschte, und dann sich umwendend, aber den Umstehenden hörbar, zu seinen Freunden sagte: „es ist eine Schande, daß so etwas aufgeführt wird“5. Die widersprechendsten Ansichten, die widersprechendsten Beurtheilungen einer und derselben Leistung sind die nothwendige Folge so großer Differenzen, und mancher Jüngere steht nun schwankend und rathlos da. Besser aber wäre es, nicht immer Einflüssen Raum zu geben, welche nur hemmend wirken können; besser, derartige Differenzen sich ohne Scheu zum Bewußtsein zu bringen, und sich für die eine oder andere Seite bestimmt zu entscheiden. [87] Eine klare Orientirung über die verschiedenen Richtungen der Zeit und kräftiges Parteileben würde Kräftigung der Gesinnung überhaupt zur Folge haben. Diese aber ist der Tonkunst unserer Tage das Allerwesentlichste, sowohl auf dem Gebiet der Kritik, wie dem der Composition. * Der Geist der Freiheit, der große Aufschwung der Neuzeit, ist der Musik noch fremd. Betrachten wir zunächst das schriftstellerische Wirken. Auf dem Gebiet der Politik lassen uns die letzten Jahre mehr und mehr erkennen, wie eine freie, offene, männliche Sprache allmälig Eingang gewinnt, und wie man in einer solchen die einer gebildeten Nation einzig würdige erblickt. Auf dem Gebiet
4 Wahrscheinlich
ist hier Henrik Steffens (1773 –1845) gemeint. Dieser an Schelling geschulte norwegische Philosoph, Naturforscher und Dichter vertrat vor allem in seinem späteren Schaffen nach dem Ende der Napoleonischen Kriege konservative Positionen. 5 Der Bezug ist hier unklar.
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der Musik sind wir aus kleinlichen Beschränkungen noch am wenigsten herausgekommen. Das musikalische Leben ist viel zu sehr noch durch philisterhafte Rücksichten beengt; von Alters her ist man gewohnt, Mängel und Schwächen zu verdecken und zu beschönigen, und mit Resignation sich in das scheinbar Unabänderliche zu ergeben; es wird auf dem Gebiet der Musik viel zu viel gelobt; nicht daß man dem wahrhaft tüchtigen eine zu große Aufmerksamkeit schenkte; hier geschieht oftmals zu wenig, und man möchte häufig eine freudigere und energischere Anerkennung des Guten wünschen; das Mittelmäßige und Schlechte wird zu sehr gehätschelt, wird geduldet, aber wohl gar bevorzugt, und eine sehr mißverstandene Pietät läßt es geschehen, wenn der, welcher früher Großes leistete, nicht aufhören kann, die Welt mit seinen Gaben zu überschütten, und den Fortschritt und die Anerkennung des Zeitgemäßen hindert. – Auch eine der Neuzeit entsprechende Lebendigkeit der Sprache und Frische des Geistes ist noch zu sehr zu vermissen, und auf dem Gebiet der Musik begegnen wir vorzugsweise oft noch Gemeinplätzen. „Der geniale Schöpfer des unsterblichen Meisterwerks Don Juan“, heißt es da z. B., und man denkt nicht daran, daß derartige Worte, wenn sie längst Festgestelltes betreffen, ohne allen Sinn und Bedeutung sind. Das „kritische Repertorium“6 versuchte eine in der Gegenwart durchaus nothwendige größere Entschiedenheit geltend zu machen; aber es hat die richtige Grundanschauung, von welcher es ausging, nicht entsprechend durchzuführen vermocht. Freie Sprache verlangt vor allen Dingen die strengste Haltung und Selbstbeherrschung, wenn sie nicht in das Ordinäre herabsinken will, freie Sprache verlangt zugleich Wohlwollen und Humanität, Achtung und Anerkennung auch des Gegners, wenn sie nicht mit der in den niedrigsten Sphären des Lebens üblichen Rücksichtslosigkeit gleichgestellt sein will. Dies übersah das Repertorium. Das ist kein Fortschritt, wenn die Einzelnen aufeinander losschlagen wie mittelalterliche Ritter, – aber mit Verbannung jeder Rittersitte; – Derartiges kennt unsere Literatur zur Genüge. Den Fortschritt kann allein eine Entschiedenheit gewähren, die zugleich das Maß in sich selbst trägt. Man hat darum auch das Wahre, freilich oftmals zur Carricatur verzerrte, darin verkannt, und statt dem Repertorium gegenüberzutreten, und es, wo es nöthig war, mit Anerkennung der wirklich vor-[88]handenen Intelligenz, mit Anerkennung des gewissenhaften Strebens wissenschaftlich zu bekämpfen, hat man es mit niedrigen Schmähungen überhäuft. Freilich trug die hypochondrische, etwas kleinliche Anschauungsweise der Verhältnisse, die Lust darin, aus Allem hypochondrische Nahrung zu saugen, der Mangel an Wärme des Gemüths, der allein negative Charakter desselben nicht wenig dazu bei, die Stimmung zu verbittern. Ich spreche nicht von dem kritischen Repertorium; – weil es für seine richtige Grundanschauung nicht die angemessene Ausführung zu finden mußte, weil es die gegenwärtigen Zustände nicht ausreichend berücksichtigte, und mit dem Kopf durch die Wand rennen wollte, hat es der Freiheit der Rede auf dem Gebiet der Musik
6 Die
von Ende 1843 bis 1845 von dem Leipziger Musikkritiker und Komponisten Hermann Hirschbach (1812 –1888) herausgegebene Zeitschrift Musikalisch-kritisches Repertorium (1845 als Musikalisches Repertorium) war vor allem für die Schärfe und Kompromisslosigkeit ihrer Urteile über die rezensierten Werke bekannt, was letztlich auch zu ihrem raschen Ende beitragen sollte.
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eher geschadet als genutzt, und kann daher nicht als Beweis angeführt werden, wenn ich behaupte, daß wir in der Musik selbst gegen die Freiheit der Rede in der Politik zurückstehen. Ich theile eine Erfahrung mit, die ich selbst zu machen Gelegenheit hatte. Vor längerer Zeit war in unserer Zeitschrift in einer Correspondenz das Spiel eines Kapellmeisters getadelt, nur zum Theil, und auch dieser Tadel hatte eine ganz anständige Fassung. Ich erhielt einige Briefe, in denen sich der Betreffende sehr beleidigt fand, und worin er Versuche machte, den Namen des Correspondenten zu erfahren. Bei einer zufälligen Anwesenheit in Leipzig wiederholte er mündlich gegen mich diese Bemühungen, und als auch dies nicht zum Ziele führte, ging er ohne mein Wissen in die Druckerei der Zeitschrift und suchte daselbst auf sehr gewandte Weise, wiewohl auch vergeblich, zu seinem Ziele zu gelangen, indem er dort Manuscripte aus dem betreffenden Orte vorräthig glaubte, und sich diese erbat, um angeblich immer wiederkehrende – aber gar nicht vorhandene – Druckfehler in einzelnen Namen zu berichtigen.7 Dies ist charakteristisch für das Leben in kleineren Städten, und die Herrschaft, welche dort die musikalischen Autoritäten auszuüben suchen. Die Regierungen müssen sich weit härtere Entgegnung gefallen lassen, und in den Preßgesetzen wenigstens steht, daß ein, wenn nur wohlmeinend und anständig ausgesprochener, Tadel durchaus nicht beschränkt werden solle. Anders in Musik. Jene Autoritäten sind kleine Tyrannen, die Musiker sind in Fesseln geschlagen, und so geht den letzteren auch allmälig jede Freiheit des Blicks, und die Einsicht, daß es besser sein könnte, verloren. Aber ich frage: sind das nicht moralisch tief verdorbene Zustände, wo man die Oeffentlichkeit aus diesem Gesichtspunkt betrachtet, wo man sich der vorhin bezeichneten Mittel und Wege glaubt bedienen zu dürfen, um dagegen zu wirken? und welcher Standpunkt der Intelligenz gehört dazu, welche Nacht des Geistes! Wünschen wir, daß dort bald eine Ahnung der liberalen Bestrebungen der Neuzeit aufdämmern und damit zugleich eine höhere Gesinnung Raum gewinnen möge. * Ich sage: der Geist der Freiheit, der zugleich ein Geist gemeinschaftlichen Strebens ist, ist der Musik noch fremd! Betrachten wir jetzt das Leben der Tonkünstler. Die Musik, als Kunst des inneren Seelenlebens, des Gemüths, als vorzugsweise subjective Kunst, hat nothwenig die Vertiefung des Künstlers in sich selbst und die Welt seines eigenen Inneren sowohl zur Voraussetzung, wie zur Folge; der Künstler ist geneigt, sich in sich einzuspinnen, und betrachtet daher nur zu leicht seine innere Welt als die Einzige, sich als den Mittelpunkt. Ein gewisser Egoismus ist unausbleiblich, und so sehen wir viele Musiker in sich befriedigt, und ohne Theilnahme für das Allgemeine, sogar in ihrer Kunst, unbekannt mit den Erscheinungen des Tages und den Neuigkeiten desselben, auf dem Gebiet der Composition sowohl, wie des
7 Nicht nachweisbar. Möglicherweise handelt es sich um eine kurze Besprechung eines Konzerts im Rahmen der Abonnements- oder Euterpe-Konzerte in Leipzig.
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schriftstellerischen Wirkens, ohne Sinn für die Herrlichkeit gemeinsamen Wirkens, und eines „Lebens im Ganzen“. So geschieht es, daß man in persönliche, oder schlechte Parteirücksichten verfällt, und die Kunst Sonderinteressen zum Opfer bringt, daß man unfähig wird, lebendige Anregungen in sich aufzunehmen, und unbewußt zurückbleibt. – * Ich habe schon wiederholt darauf aufmerksam gemacht,8 wie die Tonkunst erschlafft und an Inhalt verliert, so daß zuletzt jene Philosophen Recht haben, welche ihr irrigerweise den Inhalt absprechen.9 Die Musik ist die geselligste der Künste und bringt daher auch den Tonkünstler vorzugsweise in die Gesellschaft. Aber unser sociales Leben ist krankhaft, die Formen desselben sind, dem Geist der Neuzeit durchaus widersprechend morsch und alt, und nicht mehr im Stande, irgend eine lebendige Anregung zu geben. Und doch ist dies der Boden für die Schöpfungen des Tonkünstlers, der Boden, aus welchem er Nahrung saugen soll! Weil ihn die Gesellschaft trägt und hebt, muß er derselben huldigen, und geht in solcher Unbequemung innerlich zu Grunde. Insbesondere sind es die Virtuosen, welche darauf angewiesen sind, eine Schule der Flachheit durchzumachen. Die Zeit verlangt von dem Künstler seine Sitte, und der Zutritt in gesellig gebildete Kreise, der Umgang mit Frauen ist daher etwas Erwünschtes. So gewaltigen Einfluß indeß dieselben für die innere Entwicklung bei gereifter Individualität und erstarktem Charakter äußern können, so nachtheilig ist dieser Einfluß, wenn er zu frühzeitig sich geltend macht, und mit den [89] Schroffheiten und Ecken auch jede freiere und selbstständige Regung abschleift. Daher das Matte und Hohle, im günstigeren Falle aber überwiegend Weibliche in so vielen Compositionen. Die Künstler des Salons, frühzeitig an die Gesellschaft gewöhnt und in der Entwicklung ihres Inneren gebrochen, gehen in Aeußerlichkeiten unter. Andere, die solche Einflüsse meiden, verfallen leicht in den entgegengesetzten Fehler einer eigensinnig auf sich beharrenden Individualität. * Man mißverstehe mich nicht, wenn ich behaupte, daß der Geist der Freiheit unserer Tonkunst einen höheren Aufschwung bringen könne, als wollte ich politische Musik, als wollte ich, daß der Künstler politischen Parteien speciell sich anschließen solle. Nur das Streben nach Selbstständigkeit, die höhere Charaktertüchtigkeit und männliche Gesinnung, welche das neue Princip verleiht, soll auf die Kunst zurück-
etwa Brendel 1846 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper III. Zukunft, in: NdS 1 Nr. 4. 9 Vgl. etwa folgende Aussage Hegels in dessen Ästhetik über die „selbständige Musik“, wonach diese „unter allen Künsten die meiste Möglichkeit in sich schließe, sich nicht nur von jedem wirklichen Text, sondern auch von dem Ausdruck irgendeines bestimmten Inhalts zu befreien, um sich bloß in einem in sich abgeschlossenen Verlauf von Zusammenstellungen, Veränderungen, Gegensätzen und Vermittlungen zu befriedigen, welche innerhalb des rein musikalischen Bereichs der Töne fallen. Dann bleibt aber die Musik leer, bedeutungslos und ist, da ihr die eine Hauptseite aller Kunst, der geistige Inhalt und Ausdruck abgeht, noch nicht eigentlich zur Kunst zu rechnen“ (in: Hegel-Werke 15, S. 148 f.). 8 Siehe
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wirken, und aus der Flachheit und dem Indifferentismus herausarbeiten, soll Bewußtsein darüber öffnen, daß es sich bei künstlerischen Leistungen hauptsächlich auch darum handelt, ob sie von einem würdigen Inhalt erfüllt sind. Nur das ist frisch, was an der Stimmung der Zeit Theil nimmt; es liegt nichts Herzen- und Welt bezwingendes, nichts lebendig Förderndes in jener alten Gesinnung mehr, und jede, wenn auch jugendliche Erscheinung, welche jener angehört, ist streng genommen eine verspätete. * Mögen Strebende, was ich andeutete, beherzigen; ich wählte diese Beispiele, um den Indifferentismus in den musikalischen Verhältnissen der Gegenwart und die Nothwendigkeit entschiedener Gesinnung darzulegen; mögen Strebende dies beherzigen, und hinter dem Aufschwunge auf anderen Gebieten nicht zurückbleiben! *
Kommentar Der vorliegende Artikel Brendels, der den Abschluss einer 1846 erschienenen Reihe von insgesamt drei mit „polemisch“ überschriebenen Beiträgen bildet,10 stellt einige Grundüberzeugungen in Bezug auf Reformen des Musiklebens des Autors vor, die sein gesamtes schriftstellerisches Wirken durchziehen. Hierzu gehört zunächst das Bemühen, die zuvor bereits von Liszt11, aber auch dem hier genannten Hermann Hirschbach12 beklagte Stellung
Brendel 1846a Polemische Blätter sowie Brendel 1846b Polemische Blätter. In diesen Artikeln setzt sich Brendel das Ziel, durch verschiedene aphoristische Betrachtungen etwa des Verhältnisses von Künstler, Publikum und Musikkritik oder die Betonung der Notwendigkeit geschichtlicher Kenntnisse für die Beurteilung und Komposition von Musik, das damalige „principlose Nebeneinanderstellen namentlich auf dem Gebiet der Musik“ zu überwinden, da es dort besonders notwendig sei, aus den „Schwankungen subjektiver Ansicht herauszukommen, und zu bestimmter Erkenntnis“ zu gelangen (Brendel 1846a Polemische Blätter, S. 7). Weitere „polemische Beiträge“ für die NZfM, die jedoch nur indirekt auf diejenigen Brendels Bezug nehmen, verfasste zu dieser Zeit auch die Frauenrechtlerin Louise Otto (siehe Otto 1846 Polemische Blätter I. Vorwort; Otto 1846 Polemische Blätter II. Garten-Concerte sowie Otto 1846 Polemische Blätter III. Fromme Wünsche). 11 Liszt 1835 De la situation des artistes. 12 Siehe hierzu etwa Hirschbach 1844 Rückblick auf das verflossene Jahr. Dort beklagt Hirschbach die damaligen Zustände, welche die Musik „von einer Göttin zu einer feilen Dirne“ degradierten (ebd., S. 58). 10 Siehe
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der Künstler und Komponisten in der Gesellschaft zu verbessern. Deren Indifferenz13 begründet Brendel mit den als defizitär erkannten gesellschaftlichen Zuständen, welche die Musik zur bloßen Unterhaltung degradierten, aber auch einem intensiven Umgang der Künstler mit Frauen, der das „Matte und Hohle, im günstigeren Falle aber überwiegend Weibliche in so vielen Compositionen“14 bewirke. Am gravierendsten sei jedoch die Gleichgültigkeit der Musiker und Komponisten gegenüber den „Fragen der Zeit“15, den damaligen gesellschaftspolitischen Reformbestrebungen, welche zu Zersplitterung im Musikleben führe und dadurch künstlerischen Fortschritt behindere. Ganz im damaligen vormärzlichen Selbstverständnis der Kritik als Katalysator von gesellschaftlichem Fortschritt sah Brendel daher das Hauptziel einer geschichtsphilosophisch fundierten Musikkritik, die in der Lage sei, die eigenen Standpunkte und Prämissen kenntlich zu machen, in der Überwindung dieser defizitären Situation. Dies verdeutlicht zugleich das Selbstverständnis Brendels als Musikschriftsteller, der die musikästhetische Auseinandersetzung als integralen Bestandteil der modernen Kunstproduktion verortete, da vorrangig diese es sei, welche der Musik Anschluss an die Gegenwart verschaffe. Die hier ausgesprochene grundlegende Überzeugung Brendels, „fortschrittliches“ Komponieren sei nur auf Basis einer inhaltlichen Verarbeitung gegenwärtiger geistiger Strömungen, Vorstellungen und ästhetischer Tendenzen möglich, bildete in der Folge nicht eine wesentliche Triebfeder für die politisch aufgeladenen Diskussionen über die Rolle der Musik im Kontext der Revolution von 1848, sondern ebenso für die späteren Auseinandersetzungen auf musikästhetischem Gebiet in den 1850er und 1860er Jahren – auch wenn diese vordergründig nicht mehr die „Gleichheit Aller, die Emancipation der Völker, Stände und Individuen“16 verhandelten, sondern die politischen Implikationen der musikästhetischen Auseinandersetzungen zwischen ‚Fortschrittlichen‘ und ‚Konservativen‘ in den Subtext der Kontroverse verbannten.
13 Für
die oft beklagte ‚Krankheit des Jahrhunderts‘ steht der Begriff der Indifferenz bzw. des „Indifferentismus“ stellvertretend für die Verfallstheorie der Zeit, wie sie u. a. von Félicité Robert de Lamennais in seiner „Abhandlung über die Gleichgültigkeit in Sachen Religion“ thematisiert wurde (Essai sur l’indifférence en matière de religion, ED 1818 –1823). 14 Vorliegender Artikel, S. 65 [89]. 15 Siehe hierzu etwa Brendel 1848 Fragen der Zeit II, in: NdS 1 Nr. 8. 16 Vorliegender Artikel, S. 61 [84].
Nr. 6 | Louise Otto, „Parteien – Cliquen“, in: NZfM 14 (1847), Bd. 27, Nr. 9 (29. Juli), S. 53 f.
Parteien – Cliquen1.
Unsere Zeit wird von den verschiedensten Elementen bewegt, – dadurch gerade erhält sie ihr eigenthümliches Leben. Die verschiedenartigen Berührun-[54]gen, welche sowohl Anziehungen als Abstoßungen mit sich bringen, die Kämpfe, in welche die aus dem früheren Chaos sich scheidenden Elemente mit einander gerathen: diese sind es eben, welche die Gegenwart so reich machen an wechselnden Erscheinungen, an neuen Bahnen zu den weitesten und höchsten Zielen, denen der Zeitgeist entgegendrängt. Nur aus dem Verschiedenen entwickelt sich das Ganze, nur im Streit übt sich die Kraft, nur aus der Bewegung kann das Heil, nur aus dem Kampfe der Sieg kommen. Jeder Mensch, wenn er nur überhaupt einen Charakter hat und nicht dem schwachen Halme gleicht, der da und dorthin schwankt, je nachdem gerade der stärkere Luftzug geht, dem er nicht Stand zu halten vermag, wird einen bestimmten Standpunkt einnehmen, von dem aus er alle Erscheinungen betrachtet, seinen Maßstab zu deren Beurtheilung mitbringt und sein eigenes Wirken darnach richtet. – Es ist natürlich, daß dann ein Solcher zu denen sich gesellt, welche den gleichen Standpunkt mit ihm einnehmen. Ueberall werden uns die gleichen Wahrnehmungen: die Einen halten eigensinnig fest an dem Bestehenden, und möchten, daß immer Alles so bliebe, wie es gerade ist – so stehen sie in der Mitte zwischen denen, welche nur am Vergangenen sich erfreuen und das Alte, Ueberwundene aus seinem Staube aufsuchen und wirklich wiederholen – und denen, welche das Dagewesene nur als Grundlage wollen gelten lassen, darauf das Neue aufzubauen, dem die Zukunft gehören soll. So hat es denn zu allen Zeiten, besonders auf politischem Gebiete, dieselben Parteien gegeben, durch deren vielfache Kämpfe gerade das Beste und Größte gefördert worden ist. Tragen wir dasselbe über auf das Gebiet der Kunst – der Musik insbesondere. Möchten auch hier diejenigen, welche den gleichen Standpunkt einnehmen, einander sich näher zugesellen. Man glaube nicht, damit sei dem Cliquenwesen das Wort geredet. Parteien und Cliquen sind sehr verschiedene Dinge. Es wird nicht nöthig sein, das erst auseinanderzusetzen – ich fürchte, man kennt in der musikalischen Welt das Cliquenwesen nur zu gut. Da ist z. B. ein berühmter Componist, ein Kapellmeister, der organisirt sich aus den Mitgliedern der Kapelle ein förmliches Hülfschor, um nicht nur seine Compositionen, sondern auch seinen Ruf und Namen hinausklingen zu lassen in alle Welt, und nur
1 (Aus
dem Frz., cliquer) klatschen. Wurde im 19. Jahrhundert gleichbedeutend mit einer zusammenhaltenden, hinterlistigen Bande, Spießgesellschaft oder Sippschaft verwendet.
Otto 1847 Parteien – Cliquen
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was diesem Zwecke dient, darf von der Kapelle geschehen. Die jüngeren Talente finden dann weder Anerkennung noch Ermunterung, es sei denn, daß sie eifrige Bewunderer des Meisters sind und in seinen Fußtapfen ihm nachtreten, ohne sich je beikommen zu lassen, einen anderen Weg zu gehen oder den vor ihnen wandelnden Meister einzuholen, geschweige denn zu überholen. Untergeordneten Talenten bleibt vielleicht – um nur überhaupt ihr Fortkommen zu finden – gar nichts Anderes übrig, als irgend einer solchen machthabenden Persönlichkeit sich zu unterwerfen und nach deren Gutdünken sich brauchen zu lassen. Solche und ähnliche Vereinigungen sind Cliquen und keine Parteien. Bei der Clique handelt es sich um Personen, bei der Partei um Ideen – im Dienste dieser sich zu vereinigen und vereint um so Größeres zu wirken, ist eine Forderung, die auf keinem Gebiet, auch nicht auf dem musikalischen, vergebens gemacht werden sollte. Es ist aber als fehlte es hier dazu an Muth: Diejenigen, welche dem neueren Zeitbewußtsein huldigen, welche an den Fortschritt, an die nothwendige Weiterbildung der Kunst glauben, welche nicht in die Redensart der Kurzsichtigen einstimmen, als sei Alles, was zu erreichen möglich ist, erreicht durch die großen Leistungen der alten Meister, welche doch aber nur gerade dadurch so groß wurden, daß sie ihrer Zeit vorauseilten und ihre Vorgänger weit hinter sich ließen – Alle diese sollten durch festeres Zusammenhalten mit den Gleichgesinnten sich gewissermaßen als Fortschrittspartei organisiren, um so leichter der ungleich stärkeren Schaar Derer entgegenzutreten, welche von keinem Vorwärts etwas wissen wollen, die ihr Angesicht nur der untergehenden Sonne zuwenden und keinen neuen Tag mit neuen Schöpfungen vorausahnen. Diese Leute, welche nie von der Stelle wegzubringen sind, auf der sie einmal stehen, und sich einander schnell als Gleichgesinnte erkennen an ihrem Feldzeichen, den Zopf 2, halten eben deshalb, weil sie an gar kein Weitergehen denken, also auch keine verschiedenen Wege einschlagen können, weit einmüthiger zusammen, als die Freunde des Fortschrittes, da es viele Wege giebt, welche weiter führen. Gerade darum wäre es so nöthig, daß diese einander aufsuchten, näher träten und sich gegenseitig über die Standpunkte aussprächen, von denen aus sie ihr Wirken regeln, wie über das Ziel, welches sie im Auge haben. Nicht damit Einer vom Andern lerne, sondern damit Einer am Andern sich klar werde, und indem er diesem Rechenschaft über das Princip seines Wirkens geben muß, diese auch sich selbst zugleich ablegt und so gewissermaßen zum Bewußtsein seiner selbst und seiner Leistungen kommt, ohne welches alles Schaffen doch nur ein träumerisches Walten ist ohne wahre Lebenskraft. Louise Otto.3
2 Der
Soldatenzopf, der im 18. Jahrhundert bei vielen Armeen als Haarschmuck verpflichtend vorgeschrieben war, galt in liberalen Kreisen seit den Befreiungskriegen als Symbol für eine reaktionäre Gesinnung. 3 Louise Otto (1819 –1895, ab 1858 verh. Otto-Peters), Schriftstellerin, welche als Initiatorin der deutschen Frauenrechtsbewegung gilt. 1849 gründete sie die Frauen-Zeitung, die jedoch Ende 1852 endgültig verboten wurde. 1865 fungierte sie als Mitbegründerin des Leipziger Frauenbildungsvereins und war federführend bei der Durchführung der im selben Jahr stattfindenden ersten deutschen Frauenkonferenz in Leipzig beteiligt. Weiterhin war sie Gründungsmitglied des Allgemeinen Deutschen Frauenvereins, dem sie dreißig Jahre vorstand.
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Nr. 6 (1847)
Kommentar Der vorliegende Artikel der Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Louise Otto ist nicht nur eines der seltenen Beispiele für das publizistische Engagement einer Frau in den deutschsprachigen Musikzeitschriften um 1850; zugleich zeugt der Beitrag vom Ausmaß einer allgemeinen Politisierung im Vormärz, die auch vor dem Musikleben nicht Halt machte. Exemplarisch hierfür steht die in dem Beitrag vorgetragene Forderung Ottos nach einer Parteinahme bzw. einer Parteibildung der Musiker, Komponisten und Musikschriftsteller. Historischer Hintergrund hierfür war die insbesondere im deutschen Vormärz verbreitete Hoffnung vieler Intellektueller und liberaler Bürger, welche in der Gründung von Parteien und Vereinen ein „Mittel der Selbstmobilisierung“4 sowie zur Meinungsbildung sahen, auf diesem Wege zur Lösung der vielfältigen gesellschaftspolitischen und sozialen Missstände jener Zeit beizutragen.5 Diese Vorstellung mündete in eine regelrechte Parteigründungswelle, die letztlich die zeitweilige Existenz „mehrere[r] tausend politische[r] Vereine“6 im Jahre 1848 zur Folge hatte. Dabei darf jedoch der damalige Parteienbegriff keinesfalls mit dem heutigen identifiziert werden, da zu dieser Zeit schon aus Gründen des politischen Versammlungsverbots weniger von einer fest organisierten Gruppierung als vielmehr von einer „freien organisatorischen Vereinigung zumindest formal gleichberechtigter Personen zu selbstgesetzten spezifischen Zwecken“7 die Rede sein kann. Der Ort und Zeitpunkt der Veröffentlichung des Beitrages am 29. Juli in der NZfM dürfte sehr bewusst gewählt worden sein, fiel der Aufruf der seit 1842 mit Brendel eng befreundeten8 Otto doch in das unmittelbare zeitliche Vorfeld der ersten, auf Initiative Brendels in Leipzig abgehaltenen Tonkünstlerversammlung.9 Diese fand am 13. und 14. August im dortigen Gewandhaus statt und führte rund 150 Musiker aus ganz Deutschland zusammen, um über allgemeine Fragen ihres Berufsstandes und Fachs zu diskutieren.10 Diese Gelegenheit nutzte Otto nicht nur dazu, eine auf Veranlassung Brendels gedichtete „poetische Begrüßung“11 der Anwesenden vorzutragen, sondern auch, um nach eigener Aussage einen Toast folgenden Wortlauts auszusprechen: „Wer Etwas will und strebt, bekenn’ es frei! Recht’ oder link’! – es lebe die Partei!“12 4 Lipp 1986 Verein als politisches Handlungsmuster, S. 275. 5 Hartwig 1984 Vereinswesen in Deutschland 1789 –1848, S. 49. 6 Wettengel 1998 Parteibildung in Deutschland, S. 723. 7 Ebd., S. 701. 8 1842 besuchte Otto Brendels damals vielbeachtete musikgeschichtliche Vorträge in Dresden und lernte dabei Lysinka (Elisabeth) Trautmann (1814 –1866), ab November 1844 Brendels Ehefrau, kennen. 1844 plante Brendel in Dresden die Gründung einer Frauenakademie, zu der er auch Otto als Dozentin gewinnen wollte. Dies scheiterte jedoch an seiner Übersiedelung nach Leipzig im November des Jahres, da er dort die Leitung der NZfM übernahm. Dass Brendel auch später noch an der Idee einer Frauenbildungsanstalt festhielt, geht aus einer Einladung hervor, welche dieser im Februar 1850 in der von Louise Otto geleiteten und kurze Zeit später verbotenen Frauen-Zeitung veröffentlichte. Darin hatte Brendel Otto zur „Theilnahme an einer zu errichtenden Academie für Damen“ eingeladen, die laut Johanna Ludwig offenbar „guten Zuspruch erfuhr“ (Ludwig 2004 Zu bisher unbekannten Briefen von Louise Otto-Peters, S. 195). Vgl. hierzu insgesamt Ludwig 2007 Das Nibelungenlibretto von Louise Otto-Peters, S. 213. 9 So hatte Brendel bereits in der Neujahrsausgabe der NZfM von 1847 zur Teilnahme an einer solchen Versammlung aufgerufen (siehe Brendel 1847 Ein Vorschlag). 10 Siehe hierzu auch Brendel 1847 Die erste Versammlung deutscher Tonkünstler. 11 Siehe Otto 1847 Den versammelten Tonkünstlern, S. 81. 12 Otto 1856 Das Ewig-Weibliche, S. 217, in: NdS 2 Nr. 94, S. 1161.
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Das publizistische Engagement Ottos in den Musikzeitschriften beschränkte sich jedoch keineswegs auf das zeitliche Umfeld der Revolution von 1848,13 wie ein weiterer Artikel von ihr in den Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft aus dem Jahre 1856 belegt14, in welchem sie dezidiert für Wagner eintritt, indem Otto das von ihm in seinen Operndichtungen gezeichnete Frauenbild gegen Angriffe Arnold Schloenbachs verteidigt und ihn als „Verklärer“ des „Ewig-Weiblichen“ sowie als „Genius der Zukunft“15 preist.16 Insgesamt verdeutlicht die Tatsache, dass selbst vorrangig außerhalb der musikalischen Debatten stehende Persönlichkeiten wie Otto sich in einem Musikjournal wiederholt zu Fragen von Musik und gesellschaftlichem Fortschritt äußerten,17 das Bestreben Brendels, innerhalb seiner Zeitschrift mit dem musikästhetischen Diskurs an damals virulente gesellschaftspolitische Fragen anzuknüpfen und zugleich die Leser seines Blattes für diese zu sensibilisieren. Der Aufruf Ottos steht daher auch exemplarisch für die große gedankliche Schnittmenge eines allgemeinen gesellschaftlich emanzipatorischen Gedankenguts im Vormärz, welche auch solch entfernte Bereiche wie Musik und Frauenrechtsemanzipation in Bezug auf die damals verbreitete (und meist inhaltlich unscharfe) Forderung nach Fortschritt auf einer gemeinsamen, wenngleich abstrakten Ebene verbinden konnte.
13 Dass Brendel die durch Otto im hier kommentierten Beitrag vorgenommene Abgrenzung der „Partei“ von dem negativ konnotierten Begriff „Clique“ teilte, belegt ein Beitrag Brendels aus der Debatte um die Struktur des zukünftigen Leipziger Tonkünstler-Vereins im September 1848: „Um aber eine feste Basis zu erlangen, handle es sich vor allen Dingen darum, daß sich der Verein hier als Partei constituire. Das Wesen der neueren Zeit verlange Gestaltung von Parteien. Die Zeit sei endlich verschwunden, in welcher der deutsche Spießbürger es für einen Ruhm hielt, nicht für, nicht gegen eine Sache zu sein. Die Parteien seien so zu sagen die Fleisch und Blut gewordene Dialektik des göttlichen Menschengeistes. Nicht eine Clique solle gebildet werden, denn es handle sich nicht um kleinliche Persönlichkeiten, als vielmehr um Grundsätze“ (Brendel 1848 Tonkünstler-Versammlung zu Leipzig, S. 111). 14 Siehe Otto 1856 Das Ewig-Weibliche, in: NdS 2 Nr. 94. Vgl. hierzu insgesamt Pradel 2004 Louise Otto-Peters als Mitarbeiterin in den Anregungen. 15 Alle Zitate sind entnommen aus ebd., S. 218 f. 16 Vgl. insgesamt zu den Kunstansichten Louise Ottos Schötz 2007 Louise Otto-Peters – Über Kunst und Künstlertum. 17 So hatte Otto bereits im Jahre 1845 in der NZfM den Vorschlag unterbreitet, das Nibelungen-Epos als Grundlage für eine deutsche Nationaloper zu verwenden und dazu ein Libretto verfasst, das jedoch nicht vertont wurde (siehe Otto 1845 Die Nibelungen als Oper). Vgl. hierzu auch Ludwig 2007 Das Nibelungenlibretto von Louise Otto-Peters. Weitere Beiträge Ottos in der NZfM, welche sich primär mit gesellschaftlichen Fragen wie der kulturellen Teilhabe bislang ausgeschlossener Bevölkerungsgruppen beschäftigen, sind: Otto 1846 Polemische Blätter I. Vorwort; Otto 1846 Polemische Blätter II. Garten-Concerte sowie Otto 1846 Polemische Blätter III. Fromme Wünsche.
Die Auseinandersetzung um eine gesellschaftlich-engagierte Musik in der deutschsprachigen Musikpublizistik Die Jahre 1848 bis 1849
Revolution und Musik Die Jahre 1848/49 zeigen sich innerhalb der deutschsprachigen Musikpublizistik in einem beinahe einzigartigen Ausmaß von politischen Ereignissen geprägt, welche, von Paris ihren Ausgang nehmend, in kürzester Zeit ganz Europa ergriffen: Am 22. Februar 1848 war es in der französischen Hauptstadt zu Volksaufständen gekommen, die schließlich zur Abdankung des erst 1830 ebenfalls durch revolutionäre Erhebungen an die Macht gelangten „Bürgerkönigs“ Louis-Philippe führten. Am 13. März ereigneten sich daraufhin in Wien die ersten revolutionären Aufstände im deutschsprachigen Raum. Diese hatten unter anderem die Abdankung des Fürsten von Metternich und dessen Flucht nach England zur Folge. Fünf Tage später kam es zu blutigen Barrikadenkämpfen in Berlin, die hunderte Menschenleben kosteten, den Preußischen König Friedrich Wilhelm IV. aber schließlich zu Reformversprechen zwangen. Die Verwirklichung der seit Jahren immer lauter vorgetragenen Forderungen deutscher Liberaler und Demokraten nach Versammlungs-, Vereinsund Pressefreiheit sowie nach einer Überwindung der Kleinstaaterei zugunsten einer „groß-“ oder „kleindeutschen“ Lösung schien zu dieser Zeit tatsächlich greifbar nahe: Vorrangiges Zeichen hierfür war die Eröffnung der verfassungsgebenden Nationalversammlung in der Frankfurter Paulskirche am 18. Mai 1848. Zuvor war es in weiten Teilen Deutschlands bereits zu einer Abschaffung der rigiden Pressegesetze gekommen. Die Auswirkungen der politischen Kämpfe waren auch in den Musikzeitschriften intensiv spürbar und äußerten sich in erheblicher Zunahme und Verschärfung der musikästhetischen Auseinandersetzungen.
Tonkünstlervereine, Petitionen und Denkschriften Reformen des Musiklebens Die revolutionären Ereignisse und die mit ihnen verbundenen Erwartungen schlugen sich in den Musikperiodika vor dem Hintergrund der damals allgegenwärtigen Poli tisierung des gesamten Geisteslebens,1 aber auch im Nachdenken über die zukünftige
1 Ein extremes Beispiel, wie weit das Engagement eines Musikers im politischen Geschehen der Zeit gehen konnte, bietet das Schicksal des in Wien wirkenden, aber auch für die NZfM tätigen, Musikkritikers und Komponisten Alfred Julius Becher, der ab Juli 1848 das demokratische Kampf-
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Einleitung
Rolle der Musik in der Gesellschaft nieder. Hierfür verantwortlich war nicht zuletzt eine am 16. Juli 1848 veröffentlichte Aufforderung Adalbert von Ladenbergs (1798 –1855), Leiter des preußischen „Ministeriums für geistliche, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten“, an alle „Kunst-Vereine“, Vorschläge zur Reform des öffentlichen Musiklebens einzureichen.2 Daraufhin erschienen in den Musikjournalen diverse Petitionen und Denkschriften der zahlreichen, in dieser Zeit überwiegend in Nord- und Mitteldeutschland gegründeten Tonkünstlervereine. Hierzu zählen etwa die im September 1848 in der Neuen Berliner Musik-Zeitung3 veröffentlichte „Denkschrift“ des bereits 1844 in Berlin ins Leben gerufenen Deutschen Tonkünstlervereins sowie die im August 1848 in der NZfM abgedruckte Reform agenda4 für das Musikleben des kurz zuvor auf Betreiben Franz Brendels gegründeten Leipziger Tonkünstlervereins.5 Im Kern bewegten sich all diese Denkschriften und Forderungskataloge um die Frage, wie man den vielfach als defizitär erkannten Zustand des damaligen Musiklebens und dessen Organisationsformen zugunsten eines höheren künstlerischen Niveaus und größerer kultureller Teilhabe bislang benachteiligter oder ausgeschlossener Bevölkerungsgruppen reformieren könne. So herrschte beispielsweise grundsätzliche Einigkeit in der Forderung nach einer Einführung des Fachs Musik an höheren Schulen sowie einer dazu notwendigen staatlichen Prüfung für Musik- und Instrumentallehrer. Einigkeit bestand ebenso in Bezug auf eine zukünftige staatliche Kunstförderung, die sich nicht mehr am Kunstgeschmack einzelner Mäzene, sondern allein an künstlerischen Gesichtspunkten orientieren müsse. All dies hatte die gemeinsame Absicht, ein „demokratischeres“6 Musikleben zu verwirklichen, wie es in dieser Zeit wiederholt gefordert wurde.7
„Fortschrittspartei also und Zopfpartei!“8 Anti-Romantik und die zunehmende Lagerbildung innerhalb der Musikzeitschriften Während innerhalb der deutschsprachigen Musikzeitschriften hinsichtlich der Reformbedürftigkeit der gegenwärtigen musikalischen Zustände breiter Konsens herrschte, so barg die Frage nach der zukünftigen Entwicklung der Musik und ihrer Position in der Gesellschaft einiges an Konfliktpotential. Dies führte alsbald zu einer
blatt Der Radikale herausgab, maßgeblich am Wiener Oktoberaufstand beteiligt war und nach Niederschlagung der Revolution am 23. November 1848 standrechtlich erschossen wurde. Sogar in der ansonsten politischen Meldungen fern stehenden AmZ erschien daraufhin ein Nachruf (siehe Anonym 1848 Julius Becher). 2 In: Königlich privilegirte Berlinische Zeitung („Vossische-Zeitung“), Nr. 163. 3 Siehe Berliner Tonkünstler-Verein 1848 Denkschrift. 4 Siehe Leipziger Tonkünstlerverein 1848 Eingabe an das königl. preuß. Ministerium. 5 Vgl. zu den Leipziger Tonkünstlerversammlungen Deaville 2011 Organizing German Musical Life. 6 Brendel 1848 Tonkünstler-Versammlung zu Leipzig, S. 111; Kretschmann 1848 Romantik in der Musik, S. 10, in: NdS 1 Nr. 11, S. 153. 7 Siehe hierzu etwa Geyer 1848 Die Musik als sociale Kunst. 8 Siehe Lobe 1848 Fortschritt, Sp. 49, in: NdS 1 Nr. 7, S. 78.
Die Auseinandersetzung um eine gesellschaftlich-engagierte Musik
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nicht nur von Brendel seit längerem und mit großer revolutionärer Emphase geforderten Lagerbildung innerhalb der deutschen Musikpublizistik.9 In Anlehnung an die damals übliche und bis heute gültige Analogiebildung zur Sitzordnung des Frankfurter Paulskirchenparlaments ließe sich die NZfM tendenziell auf der linken Seite, die 1844 gegründete Neue Berliner Musik-Zeitung eher in der Mitte sowie die seit 1798 bestehende AmZ im rechten Flügel des vertretenen Meinungsspektrums verorten. Die 1843 als Verlagszeitschrift des Leipziger Verlegers Bartholf Senff (1815 –1900) gegründeten Signale für die musikalische Welt schlossen sich in ihren wenigen, aber substantiellen Artikeln eher dem konservativen Lager an. Die entscheidenden Impulse für diese parteiische Lagerbildung gingen wiederum von Brendel aus. Dieser hatte es sich zur Aufgabe gemacht – getragen von seiner Überzeugung einer engen Wechselwirkung von gesellschaftlichen und künstlerischen Verhältnissen und der daraus resultierenden Notwendigkeit, Fortschritt in der Kunst zu fördern –, in seiner Rolle als Musikkritiker die Komponisten durch geschichtsphilosophische Aufsätze auf die „Fragen der Zeit“10 aufmerksam zu machen und zugleich der Problematik nachzugehen, in welcher Form Fortschritt in der Musik zu bewirken sei. Vor allem in einer als Vision projizierten deutschen Nationaloper und einer ideell auf Beethoven fußenden Symphonik sahen Brendel und seine Mitstreiter der NZfM die Möglichkeit, die seiner Meinung nach von Epigonentum und Verfall bedrohte Gegenwartsmusik zu überwinden. Hintergrund all dieser Bemühungen um nationale Stoffe in der Oper und (Programm-)Symphonik war es nicht zuletzt, „ein neues Einverständnis zu schaffen, […] damit Kunst, so der große Traum, doch wieder Gemeinschaft bilde“11, um auf diesem Weg gleichermaßen zur erhofften gesellschaftlichen Umbildung als auch zur Einheit der deutschen Staaten beizutragen. Intensiv diskutiert wurde in der Folge vor allem, inwieweit Musik dafür im Gegensatz zu der als zunehmend subjektiv-innerlich kritisierten musikalischen Romantik in Texten, Themen und Stoffen ‚realistischere‘ Züge annehmen müsse, um auf die jeweilige Gegenwart zu reagieren.12 Jeweils mit Verweis auf Beethoven wurde dies vom einen Lager gefordert,13 vom anderen wiederum verworfen.14 Ideengeschichtlicher Hintergrund dieser Debatten und des vor allem in der NZfM proklamierten Fortschritts war neben den Ideen und Positionen des sogenannten Jungen Deutschlands auch die noch immer einflussreiche Ästhetik Hegels, vor allem dessen vielzitiertes Diktum vom Ende der Künste, welche durch den „Gedanken und die Reflexionen […] überflügelt“15 worden seien.16
hierzu Otto 1847 Parteien – Cliquen, in: NdS 1 Nr. 6. Eine ablehnende Haltung demgegenüber zeigt sich etwa in Fr. S. 1848 Parteiung, in: NdS 1 Nr. 16. 10 Siehe Brendel 1848 Fragen der Zeit I; Brendel 1848 Fragen der Zeit II, in: NdS 1 Nr. 8; Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14; Brendel 1848 Fragen der Zeit IV, in: NdS 1 Nr. 17 sowie Brendel 1848 Fragen der Zeit V. 11 Nipperdey 1988 Wie das Bürgertum die Moderne fand, S. 40. 12 Vgl. hierzu insgesamt die Darstellung bei Geck 2001 Zwischen Romantik und Restauration. 13 Siehe Klitzsch 1848 Beziehungen zwischen Kunst und Politik, in: NdS 1 Nr. 12 sowie Kretschmann 1848 Romantik in der Musik, in: NdS 1 Nr. 11. 14 Siehe Krüger 1848a Beziehungen zwischen Kunst und Politik, in: NdS 1 Nr. 10. 15 Hegel-Werke 13, S. 24. 16 Ein frühes Beispiel für den Versuch einer Übertragung der Ästhetik Hegels auf den Bereich der Musik hatte Eduard Krüger bereits 1842 in der NZfM vorgelegt (Krüger 1842 Hegel’s Philosophie der Musik). 9 Siehe
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Ein bemerkenswertes Zeugnis dieser Auseinandersetzungen um die Verteidigung der Geist- und Fortschrittsfähigkeit der Musik ist die in mehrteiligen Fortsetzungen ausgetragene Kontroverse zwischen Johann Christian Lobe (1791–1881), zu dieser Zeit Leiter der traditionsreichen AmZ, und Brendel. Deutlich erkennbar ist das Bemühen Lobes, innerhalb seiner Anfang des Jahres 1848 begonnenen, großangelegten „Fortschritts“-Artikelserie17 die Deutungshoheit über dieses damals omnipräsente Schlagwort nicht kampflos seinem schärfsten Konkurrenten zu überlassen. Lobe führte etwa Niels Wilhelm Gades 3. Symphonie als Beispiel dafür an, dass Fortschritt lediglich in kompositorischen Details, wie beispielsweise in einer differenzierteren Instrumentation, nicht jedoch grundsätzlich möglich sei. Damit stand er für den Versuch ein, den Fortschritts-Diskurs im Gegensatz zu Brendel nicht an eine programmatische Instrumentalmusik bzw. deutsche Nationaloper, sondern an solch traditionsbelastete Gattungen wie die Symphonie zu knüpfen: ein Versuch, der letztlich aufgrund mangelnden Interesses seitens der Leser fragmentarisch bleiben musste und dazu führte, dass die AmZ mit dem Ende des 50. Jahrgangs ihr Erscheinen vorläufig einstellte. Innerhalb der deutschen Musikzeitschriftenlandschaft sollte der NZfM ein bedeutender konservativer Gegenspieler erst wieder mit der Gründung der Rheinischen Musik-Zeitung durch Ludwig Bischoff (1794 –1867) im Jahre 1850 entstehen. Nach einer Übernahme durch August Ferdinand Riccius (1819 –1886) trat dieser drei Jahre später die ebenfalls von Bischoff gegründete und geleitete Niederrheinische Musik-Zeitung zur Seite. Vor allem diese beiden Blätter waren es in der Folge, welche die Debatten und Diskurse der Jahre 1848/49 in die Zeit der Restaurationsphase der 1850er-Jahre weitertrugen und so wesentlich zu den beinahe allgegenwärtigen politischen Implikationen und Untertönen in den Auseinandersetzungen der späteren musikalischen Parteienkämpfe beitragen sollten.
Das Scheitern der Revolution und die Folgen Im Gegensatz zum Ausbruch der lang herbeigesehnten politischen Aufstände und Umwälzungen im Frühjahr 1848 hinterließen die revolutionären Bemühungen im Laufe des Jahres 1849 mit dem Scheitern der Paulskirchenverfassung und der Ablehnung der Kaiserwürde durch den preußischen König Friedrich Wilhelm IV. in den Musikzeitschriften weit weniger deutliche Spuren. So lässt sich das Ausmaß der Enttäuschung über das Ausbleiben grundlegender politischer Reformen im Falle von Adolf Bernhard Marx nur an dessen jahrelangem öffentlichen Schweigen ablesen. Im Fall von Brendel hingegen zeigt sich die Ernüchterung über das Ausbleiben der erhofften Reformen sowohl in der Politik als auch im Musikleben darin, dass er bereits im Mai 1849 das revolutionäre Pathos spürbar zurücknahm und die von ihm stets gewünschte Verbindung von Musik und Politik aufgab.18
Lobe 1848 Fortschritt, in: NdS 1 Nr. 7. Brendel 1850 Zum Beginn.
17 Siehe
18 Siehe
etwa Brendel 1849 Fragen der Zeit V;
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Die ausgiebig thematisierte und beschworene Wechselwirkung von gesellschaftlichem und musikalischem Fortschritt sowie die damit einhergehende Frage nach dem Realismus-Bezug der Musik lässt die Vermutung aufscheinen, dass die musikalischen Debatten – gerade vor dem Hintergrund der wieder verschärften Pressezensur Anfang der 1850er Jahre – immer auch eine Art von ‚Stellvertreterkrieg‘ der eigentlichen politischen Geschehnisse darstellen. Hintergrund dieser Entwicklung ist nicht zuletzt das auf einem allgegenwärtigen historischen Bewusstsein basierende Phänomen, Kunststilen die Rolle politischer Gesinnungsabzeichen aufzubürden, ein Vorgehen, das schon in den Schriften Robert Schumann und seiner Mitarbeiter19 sowie der französischen Romantiker der 1830er Jahre zu beobachten ist. Ein Großteil des Konfliktpotentials bleibt ungeachtet des revolutionären Scheiterns auch nach 1850 bestehen und wird zuweilen unter neuem Namen und unter Beteiligung neuer Mitstreiter immer wieder zum Gegestand der sich zunehmend verschärfenden Auseinandersetzungen – letztlich ein Streit um die Deutungshoheit im Ringen der eigenen musikhistorischen Orientierungslosigkeit.
19 Vgl.
hierzu insgesamt Edler 2013 Reflexion über Kunst und Leben.
Nr. 7 | Johann Christian Lobe, „Fortschritt“, in: AmZ 50 (1848), Nr. 4 (26. Januar), Sp. 49 – 51; Nr. 5 (2. Februar), Sp. 65 – 69; Nr. 11 (15. März), Sp. 169 –173; Nr. 21 (24. Mai), Sp. 337 – 341; Nr. 36 (6. September), Sp. 581– 587; Nr. 37 (13. September), Sp. 589 – 601; Nr. 38 (20. September), Sp. 615 – 618; Nr. 39 (27. September), Sp. 625 – 628; Nr. 40 (4. Oktober), Sp. 641– 646; Nr. 42 (18. Oktober), Sp. 673 – 678. Auszug: Nr. 4 (26. Januar), Sp. 49 – 51; Nr. 5 (2. Februar), Sp. 65 – 69; Nr. 11 (15. März), Sp. 169 –173; Nr. 21 (24. Mai), Sp. 337 – 341.
Fortschritt. Erster Artikel.
Das Wort „Fortschritt“ ertönt in unseren Tagen immer öfter, lauter, gewaltiger. Es wird kaum mehr ein Tag vorübergehen, ohne zu vernehmen, unsere Zeit ist die Zeit des Fortschritt’s. Im Gebiete der Politik, der Religion, der Wissenschaft, der Industrie, am Meisten vielleicht heutzutage mit – [sic] im Gebiete der Tonkunst heisst es so. Alle, die diese Phrase aussprechen, zählen sich zur Fortschrittspartei. Wer sie dagegen – diese Phrase – nicht täglich mitspricht, und dazu das Unglück hat, in die älteren Mannesjahre getreten zu sein, d. h. längere Zeit Gelegenheit gehabt zu haben, in seinem erwählten Fache zu denken, zu schaffen, Erfahrungen zu sammeln und zu benutzen, sich auszubilden, der wird von Vielen ohne Weiteres als den Fortschritt zu begreifen nicht mehr fähig erklärt, der wird ausrangirt aus der Reihe strebender, nützen wollender Geister, der wird kurz abgethan durch das Anathem1: er ist ein Zopf.2 Fortschrittspartei also und Zopfpartei!3 Wer möchte wohl gern zu letzterer gezählt werden, wer nicht lieber der ersteren angehören?
1 Anathema
(griech.) wird hier als Synonym für einen Bannfluch verwendet. Diese Bedeutung basiert auf der griechischen Bibelübersetzung (Gal 1, 8 und 9; 1Kor 16, 22; Röm 9, 3), wo der Begriff etwas dem Untergange Geweihtes bezeichnet. Seit dem 4. Jahrhundert wird der Begriff daher auch als Verwünschungs-, Fluch- und Bannformel verwendet („anathematisieren“: verfluchen). 2 Der Zopf galt seit den Ereignissen der Französischen Revolution sowohl in Frankreich, wo die Zopfperücke nur noch in konservativen Kreisen getragen wurde, als auch in Deutschland als Ausdruck konservativer Gesinnung. Der preußische König Friedrich Wilhelm I. hatte 1713 per Dekret seinen Soldaten vorgeschrieben, einen „Soldatenzopf“ zu tragen. Erst 1807 wurde diese Regelung abgeschafft. Wie sehr der Zopf ein regelrechtes Symbol des Feudalstaates war, zeigt sich schon daran, dass ein (hessischer) Soldatenzopf 1817 auf dem Hambacher Fest öffentlich verbrannt wurde. 3 Vgl. hierzu auch Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67.
Lobe 1848 Fortschritt
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Ich rufe am Beginn dieses Jahrs des Heils 1848 so laut ich nur kann in die Welt hinein: ich bin für den Fortschritt. Nun aber könnte wohl Mancher sagen: mit dieser Phrase ist es nicht gethan. Was heisst bei dir Fortschritt? Beweise, dass du die Kenntnisse, die Erfahrung, die lebendige Empfänglichkeit besitzest, um ihn erfühlen und erkennen zu können in unserer Kunst, im Allgemeinen, im Besonderen und Besondersten. Obige Phrase kann jeder Knabe nachsprechen. Aber die Berechtigung dazu ist zu zeigen. Reden doch welche vom Fortschritt in der Kunst, die noch gar keinen Einschritt in dieselbe gethan. Nun ja, eben deshalb vermied ich die Phrase, und suchte die That. Ich lebte des unschuldigen Glaubens, das Streben nach Fortschritt sei etwas der besseren Menschheit zu allen Zeiten so Natürliches, Eigenes gewesen, die bessere Menschheit habe es ja von je her durch Fortschrittsthaten zu zeigen gesucht, – man könne [50] es eben bei jedem Vernünftigen, seinem Fache ergebenen Manne, man könne es auch bei allen musikalischen Zeitungen voraussetzen. Ich wenigstens kenne keine, deren Tendenz Stabilität oder gar Rückschritt wäre. Aber ich will etwas sein, heisst noch nicht: ich bin es. Wenn es nach Sr. Höllenmajestät Mephistopheles Erfahrung Menschen gibt, die in Ermangelung von Begriffen sich mit blosen Worten helfen,4 so gibt es auch Menschen, die mit Worten zwar Begriffe verbinden, aber dunkele, oder halbwahre, oder ganz falsche. Und kann mir solches Unheil nicht auch begegnen? Kann ich vom Fortschritt in unserer Kunst nicht auch dunkele, oder halbwahre, oder ganz falsche Begriffe haben? Locke5, glaube ich, war’s, der einst gestand, er habe in jüngeren Jahren manches Unhaltbare blos darum geschrieben, weil er den Sinn der Worte die er gebraucht, nicht immer genau genug vorher untersucht und sich deutlich zu machen gestrebt. Wohlan, so will ich von jetzt an, mir zur Belehrung, nach und nach die Bedeutungen des Wortes Fortschritt in der Tonkunst zu ergründen und deutlich zu machen suchen. Mögen die geehrten Leser dann urtheilen, ob die gefundenen Resultate mit ihren Ansichten übereinstimmen oder nicht. Fortschritt kann zunächst in Bezug auf den einzelnen Tonkünstler gemeint sein, nämlich, dass dieser in sich selbst, in seinem Wissen, Können, in seiner ganzen Bildung aus niederen zu höheren Graden aufsteigt. Der Natur nach geht das bekanntlich stufenweise aus den jüngeren Jahren den älteren zu. Kein Mensch, wenn nicht ein ausser dem gewöhnlichen Naturverlauf liegender Umstand in seinen Körper oder Geist eingetreten, ist im zwanzigsten Jahre gescheidt gewesen und im vierzigsten dumm geworden. Kein Mensch hat in späteren Mannesjahren weniger gewusst, geringere Erfahrung, unreifere Ansichten, beschränkteren Blick in’s Leben gehabt, als im jugendlichen Alter. Kein Künstler hat als Knabe seine besten, als Jüngling seine geringeren, als Mann seine schlechtesten
4 Angespielt wird hier auf die Studierzimmer-Szene in Johann Wolfgang von Goethes Faust I (ED 1808), V. 1995 f., in welcher Mephistopheles sagt: „Denn eben wo Begriffe fehlen, / Da stellt ein Wort zur rechten Zeit sich ein.“ 5 John Locke (1632 –1704), englischer Philosoph, gilt als Begründer des britischen Liberalismus und Empirismus.
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Werke geschaffen, kurz, kein Mensch ist in seiner Ausbildung vom Ende nach dem Anfange seines Lebens, sondern stets umgekehrt gegangen. Aber die Geisteskräfte nehmen mit der Zeit wieder ab? [51] In welchem Jahre, Monate oder Tage, übereinstimmend bei allen Menschen, tritt dieser Fall ein? bitte ich die Propheten des Seelenlebens, genau anzugeben. Es ist wahr, Mozart schuf seine herrlichsten Werke in den Jünglings- und jüngeren Mannesjahren. Haydn dagegen seine besten im reifen Mannesalter; Beethoven war 57 Jahr alt als er starb, und noch im Fortschritte begriffen, noch voll neuer, kühner Pläne; Gluck trat gar als reformatorisches Genie erst im Greisenalter hervor. Dieselben Erscheinungen sehen wir in allen anderen Gebieten menschlicher Thätigkeiten. Noch wirkt der greise von Itzstein6 mit jugendlichem Feuer für den politischen Fortschritt. Huss7 starb vor vierhundert Jahren als älterer Mann den Feuertod für den religiösen Fortschritt. Von Humboldt8 fördert den wissenschaftlichen Fortschritt noch heute in seinem hohen Alter, u. s. w. Ich denke, diese wenigen Beispiele genügen, zu beweisen, dass die Liebe und Kraft zum Fortschritt im einzelnen Menschen nicht mit diesem oder jenem Lebensjahre ihre bestimmte Grenze finden; dass die Flamme geistiger Regsamkeit nicht in jedem Menschen auf einer gewissen Lebensstufe plötzlich verlischt, er von da an blind wird für das, was um ihn herum vorgeht und Noth thut, – kurz, dass es, wie junge helle, auch alte helle, und wie alte blöde, auch junge blöde Geistesaugen gibt, oder, um in der Fortschrittssprache zu reden, dass, wenn nicht jeder Junge darum, weil er jung, ein Gelbschnabel, auch nicht jeder Alte, weil er alt, ein Zopf sein muss. Dass man „in unserer Zeit des Fortschrittes“, wenn man über den Fortschritt klar werden will, zuerst solche alte, abgedroschene Wahrheiten in Erinnerung bringen muss! [65] Der Fortschritt kann in Bezug auf unsere Kunst auch in der Bedeutung genommen werden, dass sie im Ganzen in eine neue, höhere Epoche, in eine vollkommenere als alle früher dagewesenen[,] entweder bereits vollständig eingetreten sei, oder doch schon erkennbar danach hindränge. Meinen wir es so, dürfen wir natürlich nicht auf den Schund und Schutt sehen, den jede Zeit gebracht und bringt, sondern auf die Höhen derselben, d. h. auf diejenigen Werke, welche von allen Gebildeten und wahren Kennern der bezüglichen Kunst als die besten unter allen vorhandenen erklärt werden. Soll die Phrase: unsere Zeit ist die Zeit des Fortschritts, etwa heissen: nach Beethoven und bis in die Gegenwart herein wimmelt es von Tongenien, die diesen Meister übertreffen, über ihn hinwegschreiten und seine Schöpfungen bereits als auf einem überlebten, abgethanen Standpunkte erscheinen lassen?
6 Johann Adam Itzstein (1775 –1855), ein Politiker, der u. a. als badischer Vertreter der Liberalen im Paulskirchenparlament saß. 7 Jan Hus (um 1369 –1415) wirkte als Priester und zeitweilig als Rektor der Universität Prag. Aufgrund seines Eintretens für eine Reform der katholischen Kirche wurde er als Ketzer verurteilt und hingerichtet. 8 Alexander von Humboldt (1769 –1859), bedeutender deutscher Naturforscher und Wissenschaftspolitiker.
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Blicken wir auf seine Symphonieen, seine Quartetten, die letzten besonders, welche er in den älteren Jahren geschaffen. Wir haben in der Gegenwart tüchtige Künstler in diesen Gebieten – welcher unter ihnen hat etwa einen höheren Standpunkt gewonnen, von dem aus betrachtet Beethoven’s neunte Symphonie9, seine letzten Quartette bereits einen niederen einnähmen? Wie? Kämpft die Gegenwart nicht noch mit dem Verständnisse dieser Werke? Und schon überschritten, schon niedergestampft wären sie von höheren Geistern? Ich glaube, jeder jetzt lebende beste deutsche Tondichter würde zufrieden sein, wenn man ihm sagte, du stehst auf gleicher Stufe mit Beethoven, du hast ihn erreicht, du bist ein ihm ebenbürtiger Genius. So dürfte man vielleicht sagen im Hinblick auf die Werke unserer besten Geister der Gegenwart in einigen Branchen der Tonkunst. Sieht man auf manche andere Musikgattungen, so werden sich die stolzen Pfauenräder unserer Zeit wohl senken. Wo ist die Oper der Neuzeit, die den Don Juan10, den Wasserträger11, Jacob und seine Söhne12, die Vestalin13, [66] den Freischütz14 an wahrem Kunstgehalt überbietet in der Musik? Wo ist die Sonate hin? Ist sie eine überlebte, abgethane Form, die die Berechtigung ihres Daseins in der Gegenwart verloren? Sie hat dieselbe Form wie die Symphonie, wie das Quartett. Erscheint eine in der Gegenwart, seht, ob sie die besten beethoven’schen übertrifft. Wenn aber nicht, so ist unsere Zeit in manchen Branchen der Musik, anstatt vorwärts-, zurückgeschritten, und im Hinblick auf solche, müsste es heissen: unsere Zeit ist die Zeit des Rückschritts. Oder sind etwa die unzähligen Etuden, Fantasieen etc. etc. die Morgenröthe einer neuen heraufsteigenden schöneren Kunstsonne im Reiche der Musik? Jeder, der unbefangen in die Gegenwart blickt, wird sagen müssen: ich vermag unter allen Werken, die nach Beethoven bis in die Gegenwart herein in seinen Hauptgebieten erschienen, keines zu erkennen, von dem ich zu behaupten wagte, es zeige einen Fortschritt über jenes Geistes letzte höchste Kunstoffenbarungen. In dieser Beziehung steht die Gegenwart still auf dem Standpunkte Beethoven’s. Die besten Geister gruppiren sich um ihn herum. Von einem Fortschritt über ihn hinaus bemerken wir in der deutschen Tonkunst noch nichts. Dagegen fehlt es unserer Zeit wahrlich nicht an flachem, inhaltlosem Geklingel, oder abenteuerlichem, überspanntem Spektakel. Soll hingegen obige Phrase ein Nothschrei sein nach Fortschritt der Tonkunst, in dem Sinne, dass alle die grössten schaffenden Genien der Vergangenheit und Gegenwart mit ihren Werken dem gesteigerten Kunstverlangen und Kunstbewusstsein des geniessenden Publicums nicht mehr zu genügen vermöchten? Dass die Hörer, und darunter auch die Kritiker, höhere Kunstideale in sich trügen, als ein Beethoven, Schumann, Gade fassen und in ihren Schöpfungen verkörpern konnten
9 Ludwig
van Beethoven, Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125 (ED 1826). 10 Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni (UA 1787). 11 Luigi Cherubini, Les Deux Journées (Der Wasserträger, UA 1800). 12 Étienne-Nicolas Méhul, Joseph et ses frères ( Jakob und seine Söhne, UA 1807). 13 Gaspare Spontini, La Vestale (UA 1807). 14 Carl Maria von Weber, Der Freischütz (UA 1821).
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und können? Dass unser ganzer gegenwärtiger Zustand der Tonkunst überall ein höchst unvollkommener sei, eine Durchgangsperiode blos, aus der man herauszukommen trachten müsse mit allen Kräften in das viel Vollkommenere? Ich sollte doch meinen, wir wären von dahingegangenen und lebenden Meistern mit Kunstwerken beschenkt [67] worden, so schön, so blühend, dass wir ein volles Kunstglück bei ihrem Genusse wohl empfinden könnten, wenn wir nur die rechte Genussfähigkeit, wenn wir nur einen gebildeten Kunstgeist, ein warmes, erregbares Tongemüth, und nicht etwa blos kritische Gewichte zum Abwägen, oder gar nur einige eingelernte Floskeln mit heranbringen. In diesem Sinne, im Hinblick auf die vielen herrlichen Tonwerke der Vergangenheit und Gegenwart, an denen sich das unbefangene wirkliche Tongemüth ergötzen und entzücken kann, wäre obiger Nothschrei nach Fortschritt nur ein Beweis von einer vorgegebenen, keineswegs wirklich existirenden Empfindungsfähigkeit für die Musik, oder von einer gedankenlosen Nachbeterei und Uebertragung einer Zeitphrase, die auf anderen Gebieten jetziger Menscheninteressen gegründet sein mag, aber in unserem Reiche, im Reiche der Tonkunst aus wirklichem Bedürfniss nicht hervorgetrieben werden kann. Soll die Phrase endlich bedeuten: neben einigen ächten Künstlern, die wahre Kunstwerke schaffen, laufen viele nicht schlechte Talente auf Abwegen, in’s Flache, Inhaltlose oder in’s Uebertriebene, wir erkennen das, zeigen es auf, warnen davor, treiben zum Fortschritt, d. h. zum Heraustritt aus solchen falschen Bahnen an, so lasst das Kompliment hinweg, unsere Zeit nur, wir nur thäten das. Denn Beides ist zu allen Zeiten dagewesen, Abweg und Klage und Warnung. Schon vor achtzehnhundert Jahren hat Pythagoras über den Verfall der Tonkunst geklagt und davor gewarnt, und so ist es fort gegangen durch alle Zeitperioden bis heute und wird so fortgehen, bis unser Planet, wie Oken15 versichert, in Feuer untergeht. Also wäre wohl mit Beethoven der Kulminationspunkt unserer Kunst erstiegen? ein Fortschritt derselben nicht mehr denkbar, nicht mehr möglich? Die Tonkunst wäre angekommen an dem Punkte wo es heisst: bis hieher und nicht weiter?16 Und allen künftigen Generationen bliebe nur übrig, entweder sich zu erhalten auf der erstiegenen Höhe oder krafterschöpft und beschämt ab- und seitwärts zu schleichen? Wenn mancher Schreiber der Jetztzeit nach Betrachtung einer Erstlingscomposition sich zu sagen getraut: ihr Verfertiger hat keine Zukunft; warum dürfte ich nicht hinschreiben: die Tonkunst hat keine Zukunft mehr? Jener spricht dem Geiste des Individuums ab, was ich dem Geiste der Kunst wegdisputirte: die Fortschrittsfähigkeit. Aber dass mich Gott behüte vor dem Einen wie vor dem Anderen. Ich habe zu viele Propheten der Zukunft sich schon blamiren sehen, um nicht einiges Misstrauen in die Wahrsagekunst zu setzen. Ich habe von früheren Kritikern, die auf der Höhe
15 Lorenz
Oken (1779 –1851), deutscher Mediziner und Naturforscher, der u. a. in Jena, München und Zürich wirkte und in seiner spekulativen Naturphilosophie stark von Schelling geprägt war. 16 In Anlehnung an die biblischen Worte Gottes, dem Ozean seine Grenzen aufzuzeigen: „Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter; hier sollen sich legen deine stolzen Wellen!“ (Hb 38, 11).
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ihrer Zeit standen oder zu stehen glaubten, gelesen: aus diesem oder jenem Componisten kann nichts werden, in unserer heutigen Sprache, er hat keine Zukunft; oder: die Kunst geht bereits mit weiten Schritten abwärts, während die also bewahrsagten Künstler und die also bewahrsagte Kunst rüstig vorwärts schritten, – ich habe, sage ich, solche Zukünftler zu allen Zeiten in der Geschichte gefunden und bin in das Alter getreten, wo man an seiner Unfehlbarkeit sehr [68] zu zweifeln pflegt, wo man zu begreifen anfängt, dass der erhabene Weltgeist seine geheimnissvollen Zwecke, Gänge, Thaten der allgemeinen musikalischen Zeitung wenigstens nicht alle vertraulich in’s Ohr flüstert, oder sie sich von irgend einem winzigen Menschenköpflein vorschreiben lässt. Wenn ich mich daher nicht getraue, irgend eines beginnenden oder auch schon vorgeschrittenen Künstlers geistige Fortschrittskraft, seine Schranke, über welche hinaus er nicht kommen wird, im Voraus zu bestimmen, wie möchte ich, kein Genie, mir anmaassen, zu wissen, was künftige Genie’s thun und bringen werden! Wie möchte ich mir anmaassen, zu behaupten, der Kunstgeist hat der Zukunft nichts mehr zu offenbaren, gestern oder heute ist er todtmüde und für immer erschöpft, an seinem endlichen Ziele angekommen! Dass ich solchen abgeschmackten Glauben nicht habe und nicht haben kann, wird sich in der Folge meiner kleinen Artikel ergeben. Hier wollte ich vorerst nur die Hauptphrase der Gegenwart: „unsere Zeit ist die Zeit des Fortschritts“ untersuchen, um zu sehen, ob irgend ein Sinn dahinter liegt, der ihren vorwaltenden Gebrauch in der Gegenwart auf dem Gebiete der Tonkunst rechtfertigte. Ich habe keine anderen, als die angedeuteten Resultate finden können, nämlich kurz wiederholt: a. Soll die Phrase bedeuten: die Tonkunst schreitet in unserer Zeit mehr vorwärts, als sie zu irgend einer anderen Zeit gethan, so widerspricht dem entschieden ein vergleichender Blick auf die Periode von Haydn bis Beethoven. Die Riesenfortschritte jener Epoche hat die Epoche nach Beethoven nicht gemacht. b. Soll die Phrase bedeuten: unserer Zeit thut der Fortschritt in der Tonkunst noth, denn wir haben keine Werke mehr, die den Zeitforderungen entsprechen, alles Vorhandene steht auf abgethanen, abgelebten Standpunkten, so widerspricht solchem Sinne die blühende Welt herrlicher Tonwerke früherer und jetziger Meister, an denen sich ein wirkliches Tongemüth ergötzen kann und sich ergötzt. c. Soll die Phrase bedeuten: es wird in unserer Zeit viel Mittelmässiges, Hohles, Inhaltloses, ja ganz Schlechtes gebracht, welches zu beseitigen ist, so sagen wir, was zu allen Zeiten gesagt worden, und sich von selbst versteht. Eine andere, als diese drei Bedeutungen, kann ich in Bezug auf den Fortschritt der praktischen Tonkunst im Allgemeinen nicht finden, und keine dieser drei Bedeutungen scheint mir das ewige Fortschrittsgerede und Geschreibe zu rechtfertigen. Wenn nun aber aus einem wirklich drangvollen Bedürfniss unserer Zeit, aus einem Heisshunger der jetzigen Generation nach besseren Werken, als sie die höchsten Geister der Vergangenheit und Gegenwart in so reicher Fülle uns schenkten und schenken, jene Phrase eben so wenig als gegentheils aus besonders glanzvollen, reissenden, riesenhaften Fortschrittsthaten der unmittelbaren Gegenwart im Gebiete der praktischen Tonkunst hervorgetrieben sein kann, woher denn sonst ist sie gekommen?
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Fast möchte ich wünschen, die Phrase angenommen, [69] in Untersuchung des Sinnes derselben mich aber nicht eingelassen zu haben. Ersteres ist so leicht, Letzteres so schwer! Ich sehe voraus, dass ich mit Fragen so bald nicht fertig werde, und Gott weiss, auf welche Entdeckungen ich noch gerathen mag, Entdeckungen, ich ahne es, die mich noch demüthiger in meinen Ansichten über Kunst und Künstler machen werden, als ich je zu sein mich bestrebt habe. Schon jetzt wenigstens möchte ich ausrufen: launische Natur, warum hast du mir diese glühende Liebe zu unserer Kunst, dieses warme, empfängliche Herz für ihre Reize, Lernbegierde und Fleiss von Jugend auf gegeben, und – das schaffende Genie versagt! Besässe ich letzteres, ich spräch’ und schrieb’ nicht von Fortschritt in der Tonkunst – ich hälfe ihn machen. [169] Wer bewirkt den Fortschritt in der Tonkunst? Die Praxis oder die Kritik? Der Schaffende oder der Beurtheilende? Die Lösung dieser Frage kann vielleicht auch zu einem Fortschritte führen. Ich will zuerst das Wesen des Kritikers betrachten. Wenn ich aber vom Kritiker rede, meine ich nicht die Papageien, denen das Wort eingelernt worden, und die nun jeden Vorübergehenden mit: „Fortschritt! Fortschritt!“ anschreien, ohne mehr dabei zu denken als jeder andere Papagei, sondern ich nehme bei meiner Untersuchung die höchste Erscheinung im Fache der Kritik vor, ich denke an ein kritisches Genie. Was ist ein kritisches Genie? Das weiss ich im Augenblicke noch nicht. Was thut ein kritisches Genie? Ist mir auch noch nicht ganz klar. Wie bildet sich ein kritisches Genie? Das wollen wir untersuchen. Vielleicht kommen wir dadurch auch zu Antworten auf die vorhergehenden Fragen. Ein kritisches Genie kann sich nicht anders heraufbilden, als durch Studium vorhandener Werke der bezüglichen Kunst, durch Abstrahiren der Kunstregeln und Kunstmaximen, so weit sie als helle Begriffe in’s Bewusstsein zu bringen sind. Durch Studium und Abstraktion sage ich, denn den Beweis, dass noch nie ein kritisches Genie unmittelbar mit seiner vollen Kunstweisheit auf die Welt gekommen, oder dass es diese Kunstweisheit ohne Beihilfe der Kunstwerke, a priori blos in seinem Geiste selbst erzeugt, wird man mir hoffentlich erlassen. Ich bitte, nicht zu vergessen, dass ich von einem Genie zur Kritik rede, getrennt von allem Genie, ja Talent, ja der allergeringsten Fähigkeit zum eigenen Schaffen und Bilden eines Kunstwerkes. Ehe ein solches kritisches Genie nicht alles das beste Vorhandene vollständig erkannt hat, kann es, das leuchtet wohl männiglich ein, kann es über das Vorhandene nicht hinaus, kann es folglich nicht von Fort-[170]schritt reden, den schaffenden Künstler nicht zu einem Fortschritt antreiben. Lassen wir an diesem Punkte das kritische Genie stehen, und wenden uns zum schaffenden. Wie bildet sich letzteres? Ich denke, genau nicht anders, als das kritische. Auch das Kunstgenie geht bei Kunstwerken in die Lehre, abstrahirt sich davon die Kunstregeln und Kunstmaximen,
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nimmt sie in sein Bewusstsein auf, bildet daran seinen Geschmack, sein Urtheil, nur mit dem Unterschiede, dass es das Erkannte nicht blos im Bewusstsein mit sich herumträgt, sondern es zugleich in die Kunstthat umzusetzen, dass es nicht blos über Anderer Kunstwerke reden, sondern selbst welche gestalten lernt. Oder sollte das kritische Genie wirklich noch behaupten wollen, Verstand, Erkenntniss- und Begriffsvermögen habe der schaffende Künstler nicht, blos Einbildungskraft und Fantasie? Erstere seien nur dem kritischen Genie verliehen? Ein Beethoven z. B. habe nur Kunstwerke schaffen, aber über Kunstwerke nicht urtheilen, das Falsche von dem Rechten, das Wahre von dem Unwahren, das Schöne von dem Unschönen nicht unterscheiden können? Das sei nur dem gegeben, der keine Kunstwerke zu schaffen vermag? Nein, dieser abgeschmackte Glaube hat sich wohl allgemach verloren. Schon Lessing sagte: „Nicht jeder Kunstrichter ist ein Genie, aber jedes Genie ist ein geborener Kunstrichter.“17 Aber auch das schaffende Kunstgenie, lehrt uns die Erfahrung, kann nicht eher über das Vorhandene hinaus, bis es dieses vollständig erreicht. Auch bei ihm kann demnach von einem Fortschritt in ein neues, höheres, noch unbekanntes Kunstgebiet nicht eher die Rede sein, als bis es alle bekannten durchschritten und an die Grenze derselben gekommen ist. Bis hieher also gehen Kritiker und Schaffende denselben Weg – Beide ranken sich an dem Vorhandenen hinauf, im besten Falle zunächst auf die Höhe ihrer Zeit, jener blos erkennend, dieser erkennend und schaffend zugleich. Wer nun von Beiden dringt von hier aus zuerst vorwärts in neue Regionen? Schreitet zuerst das kritische Genie hinein, und zieht später den hilf- und kraftlos [171] zurückgebliebenen Künstler nach? Oder marschirt dieser kühn vorwärts, während das kritische Genie erwartungsvoll stehen bleibt und lauert, um die Entdeckungen des Künstlers zu referiren? Wenn der die Sache machte, der am Meisten davon spräche, so wären die Fragen gleich entschieden. Nach dem Geschrei unserer Zeit machte die Kritik den Fortschritt, der Komponist würde durch jene emporgetrieben, fortgeschoben und gedrängt in’s Bessere, und – wenn unsere kritischen Journale nicht wären, hätten wir keinen Haydn, Mozart, Beethoven, Mendelssohn, Schumann, Gade, und wenn unsere kritischen Journale nicht existirten, bliebe die Kunst ganz gewiss verdutzt stehen, wie, man verzeihe mir das Bild, wie – die Kuh vor dem neuen Thore. Aber wie alsdann machte das kritische Genie den Fortschritt? Mit Notenköpfen geht es nun einmal nicht. Ach, da muss man eine andere Art von Genie haben und noch erschrecklich viel lernen, Harmonie, künstlichen Kontrapunkt, Instrumentation, und wie das dumme Zeug Alles heisst. Also mit Worten macht’s das kritische Genie. Es schreibt mit Worten den Fortschritt hin, nach welchen der Künstler dann schaffen soll. Das kritische Genie, das nur weiss, aber nichts kann, sagt z. B. zum künstlerischen Genie, das die Sache weiss und auch kann: Höre, Komponist, du hast zwar Genie, aber du machst mir’s doch nicht zu Danke; du hast
1767 Hamburgische Dramaturgie, 96. Stück, S. 657, Z. 27 – 29; der Originalwortlaut ist: „Nicht jeder Kunstrichter ist Genie: aber jedes Genie ist ein geborner Kunstrichter.“
17 Lessing
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das hohe Ideal der Gegenwart, du hast den Fortschrittsgeist unserer Zeit nicht begriffen, oder wenn du ihn begriffen, kannst du ihn nicht durch die künstlerische That in’s Leben rufen. Das Letztere kann ich zwar noch viel weniger als du, ja, ich bin nicht im Stande, nur ein Tänzchen aufs Papier zu bringen, aber wie die höchsten Kunstwerke der Gegenwart, ja der Zukunft beschaffen sein müssen, weiss ich viel besser als du. Siehe, es muss so und so sein. Nun spute dich, und mache es, sonst spreche ich dir die innere Berechtigung ab. Dies gelesen, geht dem Komponisten ein Licht auf. Geschwind setzt er sich hin, legt das Blatt des kritischen Genie’s vor sich hin, führt dessen Gebote aus, und – der Fortschritt ist da, der Fortschritt, bewirkt durch das kritische Genie, denn ohne dieses wäre der bewusstlos hinduselnde Komponist nimmermehr darauf gekommen! Hat es, ernstlich gefragt, jemals eine Zeit gegeben, wo der Fortschritt in irgend einer Kunst, auch in der der Musik, auf solche Weise bewirkt worden ist? Ich nehme die Geschichte der Musik zur Hand, und suche emsig nach dem kritischen Genie, das Gluck seine Opernreform, das ihm die Gestaltung seiner Iphigenien18 vorgeschrieben. Ich suche die Pensa’s, welche die Kritik Haydn, Mozart, Beethoven aufgegeben, um ihre Fortschrittswerke darnach zu modeln. Ich finde nirgends etwas der Art. Vielmehr sehe ich überall, durch alle Zeiten hindurch, die kritischen Genie’s den künstlerischen nachschleichen, und nacherzählen, was diese gethan. Und wie wäre es auch anders möglich! Wie sollte [172] Einer, der nur denken und erkennen kann, aber keine Fantasie hat, denn hätte er diese, so trieb’ es ihn zum Schaffen – wie sollte ein solcher fähiger sein, den Fortschritt zu bringen, als der, welcher erkennen und denken kann, und dazu das Himmelsgeschenk der bildenden Fantasie empfangen hat? Mein Gott! Beethoven hätte die Eingebung zu seiner neunten Symphonie von einem Kritiker und nicht von seinem eigenen Genius empfangen! Ein Kritiker hätte Mozart zuerst das Bild der Zauberflötenouverture etwa vorgehalten, und dieser es dann nur nachgeschrieben! Hat denn Gott die Welt in die Wirklichkeit gebracht, etwa nach dem vorgeschriebenen Bilde des Herrn Mephisto, des Verneinenden? Aber gehen denn nicht wenigstens Kritik und Schaffenskraft Hand in Hand vorwärts? Gewiss! das schaffende Genie gelangt ohne Hilfe der Kritik nicht auf seine Höhepunkte. Aber eben weil es ein Genie ist, hat es auch die Anlage zur Selbstkritik mit empfangen, und weil es ein schaffendes Genie ist, ist es bescheiden, zweifelt sehr oft an seiner Unfehlbarkeit und bildet dadurch seine kritische Kraft aus. „Nicht jeder Kunstrichter ist ein Genie, aber jedes Genie ist ein geborener Kunstrichter.“19 Mit der Selbstkritik Hand in Hand geht der schaffende Künstler. Diese zeigt, was Anderen und was ihm selbst noch abgeht, und so macht sich der Fortschritt, in ihm, und durch ihn, in der Kunst. Der blose Kritiker aber ist bis heute immer nur als
18 Gemeint sind die Opern Iphigénie en Aulide (UA 1774) und Iphigénie en Tauride (UA 1779) von Christoph Willibald Gluck. 19 Lessing 1767 Hamburgische Dramaturgie, S. 657.
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Genitiv erschienen. Er steht, und wartet, und sieht zu, was der praktische Künstler thut, und dann referirt er’s. Man könnte ein Beispiel gegen die Ansicht einwerfen: Lessing. Hat Lessing durch seine Kritik nicht seiner Zeit die Augen geöffnet, durch seine Dramaturgie z. B. nicht den dramatischen Fortschritt befördert? Gewiss. Aber war denn Lessing ein bloses kritisches Genie? War er denn nicht Praktiker zugleich? Dramatischer Dichter? Er sprach nicht, wie ich mich schon früher einmal ausgedrückt, er sprach nicht von Aussen in das Kunstgebiet hinein, sondern von Innen heraus. Und ferner: hat er denn einen Fortschritt zum noch nie dagewesenen Vollkommeneren bewirkt? Mit nichten. Sein Vorwärtsschreiten war nichts als ein Zurückblicken auf längst vergangenes Bessere. Bei Aristoteles und den alten griechischen Dichtern, und bei Shakespeare ging er in die Lehre, bildete an diesen Mustern seinen Geschmack, sein Urtheil, seine eigene Schaffenskraft aus, und trieb zu keinem wirklich neuen Fortschritt, sondern nur zum Nacheifern, Nachahmen und Wiederauflebenmachen eines früher viel besser Dagewesenen an. Und so, sollte ich meinen, wäre die Frage, welche diesem dritten Artikel an der Stirne steht, durch einen aufmerksamen Blick auf die Natur der Sache gelöst. Das schaffende Genie macht den Fortschritt, das [173] kritische referirt ihn im besten Falle, d. h. – wenn es ihn begreift. Also: wer macht den Fortschritt? Der am Wenigsten davon spricht. Wer spricht am Meisten davon? Der ihn nicht machen kann. Ich fürchte nicht, wegen des bisher Gesagten für einen Feind aller Kritik gehalten zu werden. Nur ihre anmaassende Selbstlobhudelei und Ueberschätzung wollte ich in’s Licht setzen. In einem folgenden Artikel werde ich den Schaden auseinanderzusetzen haben, welchen diese Anmaassung auf das Gedeihen der Kunst ausüben muss. Dann endlich wollen wir um uns blicken und zu erkennen trachten, wo nützlicher Fortschritt sich zeigt. [337] Bevor ich die letzte negative Seite dieses Gegenstandes betrachte, muss ich eine Vorerklärung geben. Es sind mir nämlich von mehreren Seiten theils mündlich, theils brieflich beifällige Aeusserungen über meine Fortschrittsartikel zugekommen, und Aufforderungen, sie fortzusetzen. Was Freundliches für mich darin enthalten, gehört nicht unter die Presse der Zeitung, die ich redigire.20 Aber aus einer Stelle eines solchen Briefes scheint, wenn ich recht gelesen, hervorzugehen, der geehrte Einsender halte mich für einen Konservativen. Doch wohl nicht für einen, der, allen Neuerungen abhold, nur an dem Bestehenden, weil Gewohnten hänge? Ich würde in solchem Falle gänzlich missverstanden. Wer mich kennt, dem brauche ich nicht zu sagen, dass auch mein Puls Takt hält mit dem Pulsschlage der Zeit für jeden wahren Fortschritt der Menschheit. Ich wünsche keinen Bauernaufruhr, keine Mordbrennereien, aber bei den dröhnenden Donnern, welche den despotischen Einzelwillen darniederschmetterten, hat auch mein Herz aufgejauchzt. Auch ich bebe, wenn irgendwo Gefahr sich zeigt, dass das gutmüthige Volk der Deutschen sich durch jesuitische Darstellungen und Verdrehungen
20 Lobe
leitete in den Jahren 1846 bis 1848 die AmZ.
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der schreiendsten Thatsachen wieder bethören und einlullen lassen könnte. Doch halte ich darum nicht jeden Fürsten für einen Feind der Menschheit und ihres Fortschrittes, weil er Fürst ist. Meine Erfahrungen widersprechen dieser Annahme. Ich freue mich ferner über den religiösen Fortschritt, der die Dogmengefängnisse, in welchen der menschliche Geist gefangen gehalten worden und verdumpfte, zersprengt. Oft zittert meine Feder vor Gierde, sich hineinzustürzen in den Strudel der Gegenwart, um aussprechen zu helfen, was Noth thut. Ja, ich würde es thun, mit Opfern thun, wenn ich nicht sähe, dass es Männer genug gibt, die es besser können, als ich es vermöchte. Auf dem Felde der Politik, der Religion, rufe ich daher das feurigste Jünglingsherz auf, mich einen schnelleren Herzschlag fühlen zu lassen, als den meinigen, wenn es sich um Freiheit, um Menschenglück, um Fortschritt handelt. Und auf dem Felde der Tonkunst? [338] Es gibt jetzt einen musikalischen Fortschrittsgeist, der an Kühnheit alle anderen übertrifft: Hektor Berlioz. Da er hervortrat mit seinen Werken, wurde er in seinem Vaterlande als ein musikalisches Monstrum verspottet, und als ein solches auch betrachtet und verworfen, wo ein Werk von ihm etwa in Deutschland zu Gehör kam.21 In dieser ersten Zeit, vor vielen Jahren, richtete ich in der damaligen Schumann’schen Zeitung22 ein öffentliches Sendschreiben an Berlioz23, worin ich den gewaltigen Eindruck, den seine Vehmrichterouverture24 auf mich gemacht hatte, mit Worten auszusprechen suchte. Dieser Aufsatz ist in’s Französische übersetzt worden mit der Ueberschrift: „Der deutsche Enthusiast.“ Ja, der deutsche Enthusiast, für einen damals fast durchaus verkannten kühnsten Fortschrittsmann. Der ehrliche Wedel25 schmähte26 mich deshalb in mehreren Zeitungen tüchtig aus und gab nicht undeutlich zu verstehen, mein Enthusiasmus müsse ein vorgeblicher, könne kein wirklicher sein, denn die Vehmrichterouverture sei ja ganz und gar nichts Künstlerisches und ich selbst habe ja – ganz andere Ouverturen geschrieben! Das Letztere war nicht etwa Ironie; er meinte wahrlich, die meinigen seien besser – regelmässiger! Wie ich damals dachte und fühlte, denke und fühle ich heute noch, und in Bezug auf Berlioz gewiss nicht mehr so allein, wie früher. Namentlich stimmt der neueste, geistreichste Fortschrittsmann, Herr Professor Griepenkerl jun. mit meinen Ansichten vollkommen überein.27 Wenn ich also auf der Spitze des musikalischen Fortschrittes
21 Vgl. zur frühen Berlioz-Rezeption in Deutschland insgesamt Jacobshagen/Braam 2002 Berlioz in Deutschland sowie Brzoska/Hofer/Strohmann 2005 Hector Berlioz. Ein Franzose in Deutschland. 22 Gemeint ist die 1834 bis 1844 von Schumann geleitete NZfM. 23 Lobe 1837 Sendschreiben. Wiederabgedruckt in Jacobshagen/Braam 2002 Berlioz in Deutschland, S. 42 – 45. 24 Hector Berlioz, Grande Ouverture des Francs-Juges op. 3 (ED 1836). 25 Hinter dem Pseudonym „Gottschalk Wedel“ verbirgt sich Anton Wilhelm von Zuccalmaglio, dessen Artikel zur Grande Ouverture des Francs-Juges sowohl 1837 in der NZfM (Zuccalmaglio 1837 Sendschreiben) als auch 1838 in der AmZ (Zuccalmaglio 1838 Die Vehmrichter-Ouvertüre) abgedruckt wurden. Zuccalmaglio, der die Qualität der Ouvertüre als gering ansetzt, bezichtigt Lobe in beiden Aufsätzen eines zu großen Enthusiasmus für Berlioz. 26 Im Original „schmälte“, in Lobes gesammelten Schriften jedoch korrigiert (Lobe 1869 Consonanzen und Dissonanzen, S. 201). 27 Wolfgang Robert Griepenkerl (1810 –1868), deutscher Dramatiker, Erzähler und Kunstkritiker. Mit seiner 1843 veröffentlichten Novelle Ritter Berlioz in Braunschweig hatte Griepenkerl Berlioz als einer der ersten als Haupt des musikalischen Fortschritts dargestellt.
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mit dem neuesten Fortschrittsmanne zusammenstehe, fähig bin, wie dieser Kritiker, jenes kühnen Geistes alle gewohnten Bahnen überschreitende Werke zu erkennen und zu erfühlen, andere Meinungen des Herrn Professors aber nicht theile und in diesem Artikel zu widerlegen trachte, so kann ich mich wohl irren ihm gegenüber, aber ich werde deshalb, denke ich, doch nicht plötzlich ein Konservativer oder gar ein Rückschrittler? Ich weiche nämlich von genanntem, so wie von manchem anderen Fortschrittsmanne darin ab, dass ich frühere Kunstwerke nicht blos historisch gelten lasse, sondern sie auch künstlerisch noch fort geniessen kann. Wie ich die Hoffnungen der politisch erregten Gegenwart freudig theile und mitgeniesse, [339] so verliere ich in diesem Sturmdrange nicht die Empfindungsfähigkeit für die gegensätzlichen Momente des Menschenlebens, für das friedliche Stillleben in der Familie, für die Pracht und die Reize der Natur, für die göttliche Ansprache der Kunst. Alles zu seiner Zeit. – Wenn ich im Gewandhaussaale bin, so bin ich nicht auf den Barrikaden. Und wenn ich an einzelnen Tonstücken Genuss finden kann, die die Gegenwart etwa abspiegeln, so vermag ich auch die Stimmungen mitzuempfinden, welche aus früheren Meisterwerken mich anwehen. Entzückt mich eine Beethoven’sche Symphonie, reisst mich ein Berlioz’sches Werk zum Enthusiasmus hin, so empfinde ich auch ein süsses Glück beim Anhören einer besseren Haydn’schen Symphonie. Kurz, ich gehe in Leben und Kunst nicht unter in der Gegenwart, so theuer sie mir ist; für mich ist auch das Schöne und Herrliche der Vergangenheit noch da, so wie ich mich vorahnend gern in die Zukunft zu schwingen suche. Ich denke, je weiter und breiter uns die Welt anspricht, je umfassender wir ihre mannigfaltigen Erscheinungen in uns aufzunehmen und liebevoll zu empfinden vermögen, desto mehr erfüllen wir den Zweck des Schöpfers. Wenn ich nun dahin strebe, und ich strebe dahin, Andere vor dem Einspinnen, sei es in die neueste oder in irgend eine frühere Kunstepoche, zu warnen, wenn ich die Kunst, deren Fortschritt jetzt Manche darin sehen, dass sie die Magd der Politik werde, vor dieser Einschränkung zu bewahren trachte, so wirke ich für den Fortschritt, der doch nimmermehr darin bestehen kann, dass man der Kunst ihre Rechte schmälere, anstatt sie erweitere, indem man ihr z. B. alle Darstellungsstoffe der Vergangenheit entziehen und sie nur auf die unmittelbare Gegenwart beschränken will. Man entschuldige diese Abschweifung mit dem gewiss verzeihlichen Wunsche eines jeden Menschen, sich nicht verkannt sehen zu wollen. Ich komme jetzt auf den letzten Punkt der Schädlichkeit des immerwährenden Fortschrittsdrängens[,] auf den Kunstjünger. Ich suchte in dem vorigen Artikel zu zeigen, dass das Fortschrittstreiben des kritischen Genie’s gegenüber dem schaffenden Meister ganz überflüssig sei, weil das schaffende Genie eben durch sein Genie selbst getrieben wird. Sehen wir jetzt, was es wirken kann auf den Schüler. Dieser bedarf vor Allem der unmittelbaren Anschauung der Muster. Läse er alle kunstphilosophischen und ästhetischen Bücher, Abhandlungen, einzelne Aussprüche und sammelte sie in dem Speicher seines Gedächtnisses vollständig auf, er würde keine Menuett[e] daraus schaffen lernen. Die wahre, praktisch befähigende höhere Schaffenslehre liegt allein in den Musterwerken selbst. Aus diesen weht dem Schüler der belebende, kräftigende, begeisternde Athem des schaffenden Kunstgenius entgegen, der Frühlingshauch, der die Knospen seines Talentes hervorlockt. An diese
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Muster muss der Schüler mit aller Fülle von Liebe und Ehrfurcht, mit Glauben und Vertrauen in ihre Grösse und Lehrfähigkeit als Enthüller der ächten Kunstgeheimnisse treten, damit er steten Anreiz behalte, täglich mit ihnen [340] umzugehen, sich in sie zu versenken, ihr Wesen im Ganzen und bis in’s Einzelnste herab zu ergründen, zu ergrübeln bis in die geringsten Handwerksgriffe. Bis in die Handwerksgriffe herab, sage ich, es geht einmal nicht anders. Aeusserte doch schon Schiller: „die ganze Aesthetik gäbe ich oft hin für einen einzigen Handwerksgriff.“28 Ja, bei dem praktischen Studium des schaffenwollenden Künstlers handelt es sich um gar viel Anderes, als um allgemeine philosophische und ästhetische Floskeln. – Wenn diese Meinung vielleicht von allen kritischen Genie’s mitleidig belächelt wird, so weiss ich ganz bestimmt, dass alle praktischen Künstler vom jüngsten bis zum ältesten sie vollständig theilen. Mit liebevollem Glauben, sage ich, müssen die Schüler an die Muster herantreten, mit Begeisterung für ihre Grösse, wenn sie bildend einwirken sollen. Wird ihnen diese Liebe, Ehrfurcht, Begeisterung, wird ihnen der Glaube an deren Grösse geraubt, so werden sie gleichgiltig dafür gestimmt, und der Anreiz zum Studium, zur Nachahmung fällt weg. In solcher den grossen Genius liebevoll würdigenden, seine Tiefen ergründenden, den Schüler zum Studium desselben anreizenden und ihn darin unterstützenden Weise ist das herrliche Buch des geistreichen und tiefeinsichtsvollen Russen Oulibicheff 29 über Mozart und seine Werke geschrieben. Nun höre man dagegen unserer neuesten deutschen Fortschrittsmänner, z. B. des Professors Griepenkerl Urtheile über die grössten Meister in seinen Vorlesungen über den Kunstgenius der Gegenwart30, – über die Meister, welche der Kunstjünger als die herrlichsten Muster bis jetzt verehrte und studirte. Haydn? Abgethaner Standpunkt; nur die Stimmungen des siebenjährigen Krieges in seinen Kompositionen widerspiegelnd. Mozart? Ebenfalls überlebter Standpunkt. Von den jüngeren besten Meistern: Mendelssohn? Nur klassisch, nicht romantisch. Schumann? Leider zurückgewendet zum Klassischen! Gade? Noch nichts Entschiedenes, erst im Werden. Alles noch nicht das Rechte; Alle noch nicht der Gegenwart vollständig genugthuend. Vorwärts! Fortschritt! Fortschritt! Ohne diese Urtheile hier einer Prüfung unterwerfen zu wollen, frage ich nur im Hinblick auf die der Muster bedürftigen Kunstjünger: wo sollen sie ihre Kunst studiren, wenn ihnen die Kritik alle ihre besten Muster mit einigen allgemeinen Aussprüchen zertrümmert vor die Füsse wirft? Man denke sich ein junges Talent für die Oper. Es fühlt das Bedürfniss, den Trieb, die Charaktere musikalisch wahr und schön zu bilden. Wo findet es schönere, ein-
28 Schiller
in einem Brief vom 27. Juni 1796 an Wilhelm von Humboldt (Schiller-Werke 29, S. 244 – 249, hier: S. 245): „Meine ganze Thätigkeit hat sich gerade jetzt der Ausübung zugewendet, ich erfahre täglich, wie wenig der Poet durch allgemeine reine Begriffe bei der Ausübung gefördert wird, und wäre in dieser Stimmung zuweilen unphilosophisch genug, alles, was ich selbst und Andere von der Elementarästhetik wissen, für einen einzigen empirischen Vortheil, für einen Kunstgriff des Handwerks hinzugeben.“ 29 Aleksandr Ulibischew (1794 –1858), russischer Musikschriftsteller und -publizist, der vor allem aufgrund seiner 1843 erschienenen, dreibändigen MozartBiographie Bedeutung erlangt hat (Ulibischew 1843 Mozart), welche fünf Jahre später in deutscher Übersetzung erschien (Ulibischew 1848 Mozart’s Opern). 30 Griepenkerl 1846 Der Kunstgenius.
Lobe 1848 Fortschritt
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dringlichere Muster aufgestellt, wo findet es eine bewunderungswürdigere musikalische Charakteristik, als in den Mozart’schen Opern? Nun hört ein solches junges Talent aber, dass Mozart auf einem abgethanen Standpunkte stehe. Es muss sich daher fürchten vor dem Studium dieses Meisters, es unterlassen, um nicht Gefahr zu laufen, als den Fortschritt nicht begreifend zu erscheinen! Trostlos blickt es um sich, denn wo sind die neueren Opern, die in dieser Hinsicht, in Hinsicht der musikalischen Charakteristik, die [341] Mozart’schen übertreffen, die einen Fortschritt in der musikalischen Charakteristik zeigen? Ich wiederhole hier, was jeder Komponist, wie jeder praktische Künstler zugibt: kein Talent, kein Genie, auch das höchste nicht, nimmt Alles unmittelbar aus sich, es bedarf des ununterbrochenen Studiums der besten Muster, um sich an ihnen hinaufzubilden. Solche verneinende Fortschrittskritik ist zugleich die vernichtende Kritik, die den Kunstjünger an seinen hohen Vorbildern irre macht, die ihn von ihrem Studium zurückschreckt, anstatt heranzieht, die ihn hinausstösst in eine leere, öde kunstraisonirende Welt, wo die lebensvollen begeisternden Anschauungen der Werke fehlen, und er nichts dagegen empfängt als philosophische Phrasen, allgemeine Ansichten u. s. w., die die schaffende Kunstkraft eher lähmen als fördern. „Zweitens“ – schreibt Kossmaly31, gewiss kein Rückschrittsmann oder Konservativer, in seiner Vorrede zu Oulibicheff – „bestimmte mich zur Uebersetzung dieses Buches die Ansicht: dass es vielleicht erspriesslich und zeitgemäss sein dürfte, dem Ueberlegenheitsfühle jener, gegenwärtig den Mund so voll nehmenden – sogenannten ‚Fortschrittspartei‘, die Mozart nur noch ein historisches Interesse zugestehen und ihn für ‚passé‘, seine Opern für ‚Schablonenmusik‘ zu erklären beliebt, dadurch einige wohlthätige Dämpfer aufzusetzen, indem man ihr zu heilsamer Belehrung die Ansichten entgegenhält, welche ein geistreicher, durch und durch musikalisch gebildeter Ausländer – an Kompetenz des Urtheils unseren ersten kritischen Notabilitäten vollkommen ebenbürtig – über den von ihr so cavalièrement32 abgefertigten Gegenstand hegt und durch die schlagendsten Gründe und Beweise belegt.“33 J. C. Lobe.
Koßmaly (1812 –1893), deutscher Musikkritiker, war Mitarbeiter sowohl der NZfM als auch der 1846 gegründeten Neuen Berliner Musikzeitung. 32 (Frz.) unbekümmert. 33 Die von Lobe hier frei zitierte Passage stammt aus der 1848 von Koßmaly übersetzten deutschen Ausgabe von Ulibeschews, bereits 1843 auf Französisch erschienener, Mozart-Biographie (Ulibischew 1848 Mozart’s Opern, S. XXV). 31 Carl
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Kommentar Die von Ende Januar bis Mitte Oktober 1848 erschienene Artikelserie „Fortschritt“ von Johann Christian Lobe, deren erste drei Teile hier abgedruckt sind, stellt den Versuch dar, die von Lobe zu Jahresanfang angekündigte programmatische Umorientierung der von ihm seit 1846 geleiteten AmZ in die Tat umzusetzen. Die seit 1798 erscheinende Musikzeitschrift hatte in der Zeit der Redaktionsleitung durch Gottfried Wilhelm Fink in den Jahren 1827 bis 1842 eine zunehmend konservative Haltung angenommen.34 Grundsätzliches Ziel dabei war es, so die redaktionelle Ankündigung im Neujahrsartikel für das Jahr 1848, sich zukünftig mit „besondere[r] Aufmerksamkeit“ dem „Fortschritt“ zu widmen, da dieser „das Wichtigste [sei,] was es gibt, denn es liegt in ihm unsere höhere Bestimmung, es ist der Marschbefehl Gottes für die ganze Menschheit“35. Dass es bei dieser Umgestaltung nicht zuletzt auch darum ging, die Begriffs- und Deutungshoheit über die Beschaffenheit und die Komponisten der anzustrebenden ‚fortschrittlichen‘ Musik nicht allein der NZfM und ihrem Chefredakteur Franz Brendel zu überlassen, wird ebenfalls an dem bereits zitierten Neujahrsartikel der AmZ deutlich. Darin heißt es mit einem deutlichen Seitenhieb auf die sich häufig philosophischen Vokabulars bedienende Musikkritik Brendels und dessen wiederholt vorgebrachten Forderungen nach einer „fortschrittlichen“ Musik36: „Doch keine hochtönenden Phrasen verlangen wir, sondern bestimmt ausgesprochene und bewiesene Mängel, Angabe der Verbesserungen und wo möglich praktische Winke, wie sie, diese Verbesserungen, zu bewirken.“37 Die sich im Original des vorliegenden Artikels anschließende musikalische Analyse der kurz zuvor in Leipzig uraufgeführten 3. Symphonie von Niels Wilhelm Gade38 wird in dieser Edition analog zu Lobes von ihm selbst zusammengestellter Schriftenausgabe39 nicht abgedruckt. Das Werk dient ihm in seiner Argumentation als Beleg für die These, Fortschritt in der Musik sei lediglich in kompositorischen Detailfragen, wie etwa in einer differenzierteren Instrumentation zu erzielen. Hierfür wird Gades Werk hinsichtlich der darin vorkommenden thematischen Arbeit, der verwendeten Harmonik, Modulationen, der Melodik sowie der Instrumentation untersucht. Ein angekündigter Vergleich40 der Instrumentation Gades mit derjenigen Hector Berlioz’ wurde jedoch nicht mehr realisiert. So kommt Lobe am Ende des fünften und letzten Artikels zu dem Schluss, dass die Symphonie Gades ein Meisterwerk sei; doch resümiert er im Vergleich mit Beethoven, dass der „geistige Inhalt und Gehalt, den z. B. die 9. Symphonie Beethoven’s in sich birgt, […] bisher weder von Gade noch von irgend einem anderen deutschen Komponisten überboten worden“41 sei – mithin eine Position, die dem Musikgeschichtsverständnis Brendels, welche ihr kompositionsgeschichtliches Telos in der Zukunft verortet, diametral entgegensteht. So sehr Lobe in seiner Aufsatzreihe auch bemüht ist, die Auseinandersetzung um ‚Fortschritt‘ in der Musik durch die ausführliche Analyse der Symphonie Gades auf konkrete
Kirchmeyer 1990 Kleiner Leitfaden, S. XIX–XXII. 35 Redaktion 1848 An den geneigten Leser, Sp. 1. 36 Vgl. hierzu etwa Brendel 1846c Polemische Blätter, in: NdS 1 Nr. 5. 37 Redaktion 1848 An den geneigten Leser, Sp. 1. 38 Niels Wilhelm Gade, Symphonie Nr. 3 a-Moll op. 15 (EZ 1847). 39 Lobe 1869 Consonanzen und Dissonanzen, S. 186 – 206. 40 Siehe Lobe 1848 Fortschritt, Sp. 645 f. 41 Lobe 1848 Fortschritt, Sp. 677. 34 Vgl.
Lobe 1848 Fortschritt
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musikalische Sachverhalte zurückzuführen und damit gleichsam den ‚Fortschritts‘-Diskurs seiner ideengeschichtlichen und gesellschaftspolitischen Dimensionen zu entkleiden, so belegt bereits die Vielzahl der in der Folgezeit sich mit dem Verhältnis von Zeitgeschichte, Politik und Musik auseinandersetzenden Artikel in den Musikzeitschriften,42 dass es Lobe nicht gelungen war, den insbesondere in der NZfM schon seit längerem43 propagierten Konnex von Musik und Politik seiner Wirkmächtigkeit zu berauben. Im Gegenteil: Nicht zuletzt durch Lobes Artikelserie und dessen darin aufgeworfene Frage nach der Rolle der Musikkritik im Musikleben – die Aussage, nur ein Komponist (wie etwa Lobe44) sei zur Musikkritik berechtigt, muss als mehr oder weniger indirekter Seitenhieb auf den lediglich schriftstellerisch tätigen Brendel verstanden werden – fühlte sich dieser zur Veröffentlichung seiner 1848 bis 1849 erschienenen Beiträge zu den „Fragen der Zeit“45 herausgefordert, die ihrerseits wesentlich zur Schärfung der Positionen und Gedanken Brendels beitrugen. Letztlich führte Lobes Versuch, sich mit seinen „Fortschritts“-Artikeln gegenüber damaligen aktuellen Fragestellungen zu öffnen, weder zu einer ‚Entpolitisierung‘ des zeitgenössischen und zukünftigen musikbezogenen Diskurses, noch konnte er das Ende der von ihm geleiteten Zeitschrift aufhalten, die mit dem Jahreswechsel 1848/1849 aufgrund geringer Nachfrage ihr Erscheinen einstellen musste.
42 Siehe etwa Kretschmann 1848 Romantik in der Musik, in: NdS 1 Nr. 11 sowie Klitzsch 1848 Beziehungen zwischen Kunst und Politik, in: NdS 1 Nr. 12. 43 Vgl. etwa die berühmte Schilderung Schumanns der musikalischen ‚Parteienlandschaft‘ aus dem Jahre 1834 (Schumann 1834 Kalliwoda, S. 38). 44 Vgl. zu Lobes kompositorischem Schaffen, das u. a. mehrere Opern und Instrumentalwerke umfasst, Brandt 2002 Johann Christian Lobe, S. 28 – 64. 45 Vgl. Brendel 1848 Fragen der Zeit I; Brendel 1848 Fragen der Zeit II, in: NdS 1 Nr. 8; Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14; insbesondere jedoch Brendel 1848 Fragen der Zeit IV, in: NdS 1 Nr. 17.
Nr. 8 | Franz Brendel, „Fragen der Zeit. II. Die Ereignisse der Gegenwart in ihrem Einfluß auf die Gestaltung der Kunst“, in: NZfM 15 (1848), Bd. 28, Nr. 33 (22. April), S. 193 –196.
Fragen der Zeit. (Fortsetzung.)
II. Die Ereignisse der Gegenwart in ihrem Einfluß auf die Gestaltung der Kunst. Ich sprach in dem ersten Artikel1 die Hoffnung aus, daß die Nation durch die gegenwärtige Bewegung innerlich erstarken, daß dieser Aufschwung die günstige Rückwirkung auch auf Musik haben werde. Ich sprach dort zunächst von der musikalischen Presse, die ich als bisher noch am wenigsten von dem modernen Geist berührt, bezeichnete, deren Gebiet ich als das knechtisch[s]te erkannte. – Die musikalische Presse indeß ist durchaus nichts Isolirtes, von der Kunst Getrenntes, sie ist wesentlich der Reflex der Bewegungen auf dem Kunstgebiet, und der Schluß liegt daher nahe, daß das, was von ihr zu sagen ist, auch von der Kunst gilt. Auch die Kunst selbst, die Musik unserer Tage, zeigt ähnliche Zustände, und es ist daher auch consequent, in Bezug auf sie ähnliche Einflüsse der Zeitbewegung, zuletzt einen gleichen Aufschwung, wie von den unmittelbar durch die neue Errungenschaft berührten Gebieten, zu erwarten. Die Musiker haben bisher in ihrer Mehrzahl an den nationalen Angelegenheiten zu wenig Antheil genommen, und es fehlt daher bei dieser Mehrzahl derselben an einer bestimmt ausgeprägten Gesinnung für die politischen Bewegungen des Tages. In derselben Weise wie von der musikalischen Presse insbesondere zu sagen war, ist von dem Gesammtgebiet der Tonkunst zu bemerken, daß die hier und da sich kundgebenden kräftigeren Regungen der Neuzeit, einzelne Ausnahmen abgerechnet, keinen Widerhall gefunden haben. Die Musiker waren zu sehr gewohnt, ihre Kunst als ein abgesondertes Gebiet zu betrachten, welches außerhalb aller geschichtlichen Bewegung steht; sie haben dem Fortschritt der Freiheit zu wenig gehuldigt; im Gegentheil die conservative Partei zählt unter ihnen die eifrigsten Anhänger. Schon die äußere Stellung derselben, die sie so häufig in die Nähe der Fürsten bringt, hat hierzu viel beigetragen, und nahe damit in Verbindung steht, daß die Kunst der Unterstützung bedarf, und sich darum vorzugsweise an die wohlhabenden Classen
1 Brendel
1848 Fragen der Zeit I.
Brendel 1848 Fragen der Zeit II
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der Gesellschaft wendet. Die Kunst war darum auch bis jetzt mehr ein Luxus der Höhergestellten, nicht eine Sache des Volkes, sie wurzelte weniger und seltener in der Gesammtheit, sie kannte nur die höheren Schichten der Gesellschaft als ihren Hintergrund. – Ein der Tonkunst ausschließlich eigener Umstand kam hinzu, den Indifferentismus gegen das Allgemeine in musikalischer Sphäre zu erhöhen. Die Musiker wenden sich mit ihren Tönen an die Gesammtheit aller für Tonkunst Empfänglichen; die Tonkunst ist die Weltsprache, während die Poesie zunächst auf die nationalen Grenzen beschränkt ist. Dies hat zur Folge gehabt, daß die Musiker die nationelle Basis zu sehr aus den Augen verloren, daß sie sich einem grundfalschen Weltbürgerthum, dessen Mittelpunkt die Gleichgültigkeit gegen alle Nationalität ist, ergeben haben. Ueberall und in jedem Lande [194] zu Hause, mußten sie oft das Interesse für ihr Vaterland verlieren, und mit der Abgeschliffenheit im äußeren Benehmen, die sie sich aneigneten, zugleich auch jeder inneren Bestimmtheit, jeder charaktervollen Eigenthümlichkeit sich entäußern. Wie wäre es möglich gewesen, daß die Unsitte, für die Titel deutscher Werke eine fremde Sprache zu wählen, zu so allgemeiner Geltung hätte gelangen können, und so schwer sich würde beseitigen lassen,2 wenn nicht solche beklagenswerthe Gleichgültigkeit vorherrschend gewesen wäre, wie wäre es möglich, daß noch jetzt im Concert – und dies nicht blos ausnahmsweise, sondern als Regel – italienisch, französisch, englisch gesungen würde, wie zu weiland Reinhard Kaiser[s]3 Zeit, in dessen Opern alle Sprachen durcheinander gemengt waren,4 wenn nicht der Sinn für Nationalität in der musikalischen Welt ganz untergegangen wäre! – Ich erinnere noch an ein tief eingewurzeltes Uebel im Gesammtleben der Nation, dem die Musiker eben so wenig wie die Anderen sich haben entziehen können, dem gerade sie, wie es scheint, mit einer gewissen Vorliebe geschuldigt haben. Es ist dies die aristokratische Haltung der Bildung, der Stolz derselben, der sich schämt, Sympathien mit dem Volke laut werden zu lassen, der Alles Das, was von diesem ausgeht, seiner unwerth erachtet und sich vornehm zurückziehen zu müssen glaubt. Dieser Stolz hat die unglückselige Zersplitterung, an welcher wir namentlich in Norddeutschland leiden, zur Folge gehabt, den Mangel an Thatkraft, den Mangel an gesundem Volksleben, den Mangel an ungetheilter Einheit und einem Gesammtwillen, und es ist nur eine ganz gerechte Vergeltung, wenn jetzt sich zeigt, wie die Aristokraten der Bildung hinter dem gesunden Sinne des Volkes, hinter der natürlichen Frische und gesunden Empfindung desselben zurückbleiben, wenn sich zeigt, wie die Ersten die Letzten werden. Ich glaube, es giebt, wenn auch hier und da und vereinzelt, Musiker, welche so sehr in die Macht
2 Diese
Frage beschäftigte damals u. a. auch Robert Schumann, der auf der von Brendel einberufenen ersten Tonkünstlerversammlung 1847 in Leipzig einen Antrag auf „Abschaffung aller Titel in französischer Sprache und Ausmerzung solcher italienischer Vortragsbezeichnungen, die sich eben so gut, wo nicht besser, in deutscher Sprache ausdrücken lassen“ gestellt hatte (siehe Brendel 1847 Die erste Versammlung deutscher Tonkünstler, S. 108). Vgl. hierzu insgesamt Deaville 2011 Organizing German Musical Life. 3 Reinhard Keiser (1674 –1739), deutscher Opernkomponist, Musiker und langjähriger Leiter der Hamburger Oper am Gänsemarkt. 4 An der von 1678 bis 1738 existierenden Hamburger Gänsemarktoper waren gemischtsprachige Opernproduktionen üblich, bei denen etwa die Rezitative auf Deutsch, die Arien hingegen häufig auf Italienisch oder Französisch vorgetragen wurden.
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des Irrthums verstrickt sind, daß sie noch jetzt, nach all’ den gewaltigen Resultaten, welche die Zeit gebracht hat, die Größe derselben zu negiren, oder vornehm, als Aeußerungen ungesitteter Volkskraft zu belächeln sich bemühen. Man höre das Urtheil über Männergesangsvereine und Männergesangsfeste. Man wird von Solchen Ungünstiges vernehmen, und das künstlerisch Geringfügige dieser Bestrebungen allein geltend gemacht sehen.5 Es bedarf keiner Bemerkung, daß dies Urtheil vom Standpunkt der Kunst aus richtig ist, denn sowohl Kompositionen wie Ausführung schreiten in ihrer Mehrzahl in diesen Kreisen nicht über eine untergeordnete Bedeutung hinaus; es ist eben so begründet, daß die Stimmen verdorben werden, und die höhere Gesangskunst, so wie der Gesang gemischter Chöre, der einzig wahre, vernachlässigt und in den Hintergrund gedrängt wird.6 Aber der große Werth, den unsere Kunst für das sociale Leben dadurch erhält, die Verschwisterung mit demselben, die allgemeinen Resultate, die sind in der freundlichsten Form auf diese Weise erreicht, Resultate, die bei dem gegenwärtigen Umschwunge nicht ohne mächtigen Einfluß gewesen sind, sind nicht laut genug zu rühmen, und eine schlechte künstlerische Leistung durch solche Volksmassen ist mir in diesem Sinne lieber, als die größte Kunstfertigkeit einer Sängerin im fürstlichen Salon. Das Interesse für die Kunst im engeren Sinne hat sein großes, wohlbegründetes Recht, sollte sich aber nicht dadurch bethätigen, daß man über jene Vereine geringschätzig abspricht; die Kunst soll positiv neben denselben gefördert und aufgemuntert werden, und es wäre zu wünschen, daß man hier eine eben so rege Thätigkeit entwickelte, wie auf jenem Gebiet der Fall. Eine besondere Folge derartiger Isolierungen, eines solchen vornehmen, beständigen Besserwissenwollens ist gewesen, daß man sich abwendet von dem Versuche besserer Gestaltung auf dem Gebiete der Musik, daß man das Bestehende vertheidigt, und über jedes neue Beginnen gleich anfänglich hinaus zu sein meint. Ich habe schon früher und bei anderer Gelegenheit mehrfach diese Verhältnisse erwähnt, und auf die Nothwendigkeit, daß auch die Kunst den nationalen Bestrebungen sich anschließt, hingedeutet;7 ich habe auch schon dort die Einschränkung hinzugefügt, daß ich keineswegs meine, die Kunst solle in Politik untergehen, sondern daß ich lediglich die Anregung im Sinne habe, welche aus neuen Ideen für die
5 In
einer Anfang Januar erschienenen Rezension Karl Emanuel Klitzsch’ von mehreren Werken für Männerchor hatte dieser den „moderne[n] Männergesang“ scharf kritisiert, da dieser „der Zerstörer des vollen Chorgesanges geworden [sei]. Dies läßt sich um so weniger ableugnen, je lauter von verschiedenen Seiten her die Klage über das Sinken der eigentlichen ganzen Gesangvereine – denn der Männerchor ist nur selten Chor – sich vernehmen läßt. Es ist dies kein gutes Zeichen, – wiewohl begründet im Geiste unserer Zeit, die mit dem Worte ‚liberal‘ auch im Gebiete der Kunst reformiren will. Denn es geht daraus hervor, daß man falsche Begriffe vom wahren Gesang hat und des Sinnes für das Höhere, Größere verlustig geworden. Freilich mag es wohl Vielen angenehmer sein, bei einem Glase Bier ‚Trink, Kamerad‘ so recht in ff herauszubrüllen, als in Kreisen zu weilen, wo die weibliche Umgebung gefälligere Formen anzunehmen gebietet und edlere Gefühle zu beanspruchen berechtigt ist“ (Klitzsch 1848 Mehrstimmige Gesänge, S. 4). 6 Brendel referiert hier weitere Kritikpunkte Klitzsch’ am damaligen Männergesangwesen, die dieser in der NZfM im Januar 1848 vorgebracht hatte (siehe ebd.). 7 Siehe hierzu etwa Brendel 1846c Polemische Blätter, in: NdS 1 Nr. 5.
Brendel 1848 Fragen der Zeit II
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Erweiterung und Vertiefung der Empfindung sich ergiebt. Was auf dem Wege ruhiger Entwicklung nur allmälig sich hätte gestalten können, und was erst die Zukunft nach langen und unausgesetzten Bemühungen uns zu bringen versprach, daß führt jetzt die Gewalt der Umstände mit einem Schlage herbei.8 Auch der Isolirteste muß jetzt berührt, der Ruhigste mit fortgerissen werden, und es ist Aussicht vorhanden, jetzt oder nie, daß der Beruf der gegenwärtigen Kunst lebendiger erkannt, daß der Fortschritt in dieser Beziehung schneller, als sich hoffen ließ, bewirkt werde. Wie bei der musikalischen Presse soll derselbe auch hier in ausgeprägterer Besinnung bestehen, soll an die Stelle der Zerfahrenheit der Charaktere geschlossene Kraft treten, soll durch kernhafte Besinnung die Diplomatennatur, die sich jetzt so vielfach bei den Künstlern, insbesondere bei den Virtuosen eingeschlichen hat, die schlaue Berechnung, die wenig verträglich scheint mit dem überwiegenden Gemüthsleben des Tonkünstlers[,] verdrängt werden. Dann ist zu hoffen, daß der Seicht-[195]heit, welche die Kunst zur leeren Unterhaltung herabwürdigt, und als einen Luxusartikel betrachtete, der künstlerischen Gesinnungslosigkeit ein kräftiger Damm entgegengesetzt wird, dann ist zu hoffen, daß das Nationalgefühl auch in der Kunst erstarken, und die Herrschaft des Italienischen und Französischen gebrochen werden wird. Das Publikum wird gegenwärtig einer solchen Richtung sich geneigt zeigen, und so läßt sich erwarten, daß Künstler und Laien sich wechselseitig die Hand reichen. Es sei jetzt der wichtigste Punkt in diesem Abschnitt besonders zur Sprache gebracht: ich erwarte von dem allgemeinen Aufschwung, daß die Kunst einen neuen Inhalt erhalten werde. Der Begriff des Inhalts ist bei der großen Bedeutung der Form in der Tonkunst immer vernachlässigt worden. Auch der Umstand, daß gerade der Inhalt es ist, welcher den unbewußten, in der Tiefe der Seele webenden Mächten angehört, dasjenige ist, was angeboren wird, ist bei der Vernachlässigung dieses Begriffs von Einfluss gewesen. Das Bewußtsein des Künstlers richtet sich auf die Form, die künstlerischen Ausdrucksmittel, in die er seinen unmittelbaren geistigen Besitz hineinlegt. Es ist ganz natürlich, wenn er von der Rücksicht auf den Inhalt nicht bewegt ist; das, was in seinem Bewußtsein lebt, ist die Kunst der Darstellung; Inhalt ist das, was die Natur in ihn hineingelegt hat, und wird vorausgesetzt. Dies ursprünglich ganz richtige Verhältniß erfährt indeß im Laufe der Zeiten mannichfache Modificationen. Was ich so eben in Bezug auf Inhalt bemerkte, gilt von dem Höhepunkt einer Entwicklungsstufe, gilt von den Genies, die berufen sind, diesen anzubahnen und zu vollenden. Hier ist der Künstler lediglich damit beschäftigt, die Fülle seines individuellen Besitzes, der Eins ist mit dem Gesammtgehalt der Zeit, auszusprechen. Anderes aber zeigt sich beim Herabsteigen von solchen Höhepunkten. Es treten Epochen ein, Wendepunkte, wo das Alte, das, was vordem ein Großes und Herrliches war, sich auslebt, und das Neue nur erst ein Werdendes, in einzelnen Anfängen Vorhandenes ist, mit dem Früheren ringt und kämpft. Die
8 Am 18. März 1848 war es in Berlin zu blutigen Auseinandersetzungen zwischen Militär und für freiheitliche Reformen demonstrierenden Bürgern gekommen, in deren Verlauf über 300 Menschen getötet wurden. Die Auseinandersetzungen markieren den Beginn der deutschen Märzrevolution, die fünf Tage zuvor bereits in Wien zu ersten Volkserhebungen geführt hatte.
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neuere Zeit muß als eine solche bezeichnet werden bis herab auf die Gegenwart. Die früheren Zustände waren schon längst unhaltbar geworden; dennoch behaupteten sie eine gewisse Geltung, ja zeigten den Schein, als ob sie das einzig Herrschende wären. In solchen Zeiten nun ist es falsch, wenn der Künstler wie in den Epochen höchsten Aufschwunges, den Inhalt voraussetzt, wenn er sich um ihn unbekümmert zeigt, und es, fast möchte ich sagen, dem Zufall überläßt, welcher Richtung er innerlich angehört. Abgesehen von dem schon vorhin erwähnten Umstand, daß das Bewußtsein des Künstlers sich vorzugsweise mit den Ausdrucksmitteln beschäftigt, und dadurch die große Selbsttäuschung entsteht, daß componiren könne, wer diese in der Gewalt habe, – eine Selbsttäuschung, welche ganz von dem allgemein menschlichen Inhalt der Kunst absieht, und nicht weiß, daß nur der berufen ist zur Production, dessen Inneres einen selbstständigen Inhalt birgt, nur der, welcher als Mensch bedeutende innere Erlebnisse erfahren hat, eine Selbsttäuschung, welche nicht weiß, daß jeder in geistigen Gebieten Thätige zuvor bedeutender Mensch sein muß, bevor es ihm gelingen wird, irgend etwas Menschheitsbeglückendes auszusprechen – ich sage, abgesehen von diesem Umstand, der die Tonkunst mehr wie jede andere Kunst mit einem leeren Formalismus bedroht, ist der Künstler dann zu sehr der Gefahr ausgesetzt, sich dem Alten anzuschließen, und statt voran zu schreiten auf der Bahn der Entwicklung, einer untergehenden Geisteswelt ausschließlich sich hinzugeben. Der Inhalt der früheren Zeit, als ein längst fertiger und ausgebildeter, erscheint als der wahre und bleibende, die Regungen des Neuen als ein Vorübergehendes, Vereinzeltes, und es geschieht auf diese Weise sehr leicht, daß der Künstler unbewußt mit seinem gesammten Empfinden in der Vergangenheit wurzelt, und nicht von dieser loskommen kann. Die Wichtigkeit des Inhalts nicht berücksichtigend, nimmt er mit der Formengewandtheit, die er den älteren Meistern entlehnt, auch den Inhalt derselben in sich auf, und begnügt sich, wiederzubringen, was diese schon längst besser gesagt haben. In solchen Zeiten, unter solchen Umständen demnach wird die Frage nach dem Inhalt eine weit berechtigtere, und erlangt eine ganz andere Bedeutung; dann gilt es, auf das, was sonst als ein unmittelbar Gegebenes vorausgesetzt wird, die Aufmerksamkeit ausdrücklich hinzulenken. Schon längst, schon seit Jahren suchte die Zeit nach neuen Stimmungen, nach einem neuen Mittelpunkt für dieselben. Weil aber das, was sie zu erreichen trachtete, immer nur ein Erstrebtes war, nichts schon Errungenes, fehlte die feste Gestaltung, fehlte der sichere Boden, auf den sich der Einzelne zu stellen vermochte. Das Alte erschien immer noch als das Sichere, das Neue als ein Schwankendes. Jetzt ist der Sieg des Letzteren errungen, und eine veränderte Weltanschauung beginnt der Geister sich zu bemächtigen. Jetzt ist daher auch der Moment gegeben, wo für die Künstler neue Schätze des Inhaltes sich öffnen, der Moment zugleich, wo dieselben eine klare und entschiedene Gestalt gewinnen können. Jetzt ist es von Wichtigkeit, daß eine deutliche Einsicht in die Bedeutung des Inhaltes den entschiedenen Schritt aus den alten Zuständen heraus in die neuen be-[196]wirke, daß der Künstler sich mit Bewußtsein auf den Standpunkt der Gegenwart stelle, und um dies zu vermögen, sich von den Ideen und Empfindungen derselben durchdringen lasse. Jetzt ist die Möglichkeit des Fortschritts durch Aufnahme eines neuen Inhaltes gegeben, in weit höherem Grade, als in Zeiten, wo Altes und Neues sich noch wechselseitig bekämpfte; jetzt ist aber auch die Forderung um so dringender. Das ist zugleich der wahre Fortschritt, wie
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ihn jede von selbstständigen Bestrebungen bewegte Zeit zu vollbringen hat, und es ist nur ein tadelnswerthes Verkennen derselben, wenn man ihr die Berechtigung dazu, wie es neuerdings geschehen ist, abzustreiten sucht. Ich habe in den bis jetzt aufgestellten Sätzen die möglichen Einflüsse der Zeitbewegung auf das Kunstgebiet angedeutet, die Mängel des Vorhandenen, und zugleich die Punkte, wo der große Umschwung in der Gegenwart auf die Kunst fördernd einzuwirken vermag; ich habe eine derartige Einwirkung nicht blos als wünschenswerth bezeichnet, ich habe sie als nothwendig gefordert, und dabei vorausgesetzt, daß man die Berechtigung einer solchen zugeben werde. Aber gerade in letzter Zeit ist diese Berechtigung, wie von der einen Seite (durch Prof. W. R. Griepenkerl) entschieden vertheidigt,9 von der anderen (in der Allg. mus. Zeit.) um so mehr in Zweifel gezogen worden.10 Es ist nothwendig, daß wir jetzt, so weit hier der Ort dafür, zum Princip aufsteigen, daß wir die einander gegenüberstehenden principiellen Fragen untersuchen, und hier im Allgemeinen beweisen, was im Besonderen schon erörtert wurde, insbesondere auch, damit die Forderung, wie ich sie stelle, nicht verwechselt werde mit der ganz anderen Fassung, die ihr von anderer Seite gegeben wird.
Kommentar Wie kaum ein anderer enthält der vorliegende Aufsatz Brendels in derart gedrängter Form dessen Vorstellungen bezüglich einer fortschrittlichen, gegenwartsbezogenen Musik. Vorausgegangen waren dem sowohl die revolutionären Erhebungen in Deutschland 1848, die u. a. die Abschaffung der Pressezensur zur Folge hatten, als auch im Bereich der Musikzeitschriften eine großangelegte Artikelserie Johann Christian Lobes, welche unter dem Titel „Fortschritt“ in der AmZ erschienen war.11 Darin hatte Lobe versucht, den insbesondere von Brendel wiederholt propagierten musikalischen Fortschritt lediglich auf eine technische Verbesserung der Musikinstrumente, der Instrumentation sowie ein Komponieren in tradierten Bahnen einzuschränken und somit von allem Nichtmusikalischen zu distanzieren. Demgegenüber entwickelte Brendel in seiner eigenen insgesamt fünf Artikel umfassenden Aufsatzserie der „Fragen der Zeit“, namentlich im vorliegenden zweiten Teil dieser
9 Wolfgang
Robert Griepenkerl hatte sich in seinem Vortrag auf der Leipziger Tonkünstlerversammlung am 14. August 1847 ausdrücklich für einen stärkeren inhaltlichen Gegenwartsbezug der Oper ausgesprochen (Griepenkerl 1847 Die Oper der Gegenwart). 10 Brendel bezieht sich hier offenbar auf die dem „Fortschritt“ gewidmete Artikelserie Johann Christian Lobes in der AmZ, in welcher dieser Fortschritt in der Kunst nicht in einem Aufgreifen außermusikalischer Ideen oder Zeitbezüge, sondern einzig innermusikalisch in einer Verfeinerung der Instrumentation oder einer differenzierteren Harmonik gerechtfertigt und möglich darstellt (siehe Lobe 1848 Fortschritt, in: NdS 1 Nr. 7). 11 Siehe Lobe 1848 Fortschritt, in: NdS 1 Nr. 7.
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Reihe, eine geschichtsphilosophische Position, der die in dieser Zeit durchaus verbreitete Annahme zugrunde liegt, die gegenwärtige Musik befände sich in einer Krise, die sowohl zu allmählicher gesellschaftlicher Delegitimierung als auch zu künstlerischem Verfall führe. Aus der Annahme Brendels, gesellschaftlicher und musikalischer Fortschritt bedingten sich gegenseitig, folgt die Forderung nach einem größeren Gegenwartsbezug der Musik durch die Vertonung neuer Inhalte als Abkehr von einem „leeren Formalismus“12, welcher sich sowohl ästhetisch als auch gesellschaftlich fortschrittsfeindlich auswirke. Die zu diesem Zeitpunkt bereits entwickelte inhaltästhetische Position Brendels entgegen einer Formalästhetik wird hier noch keineswegs an einzelnen Komponisten und ihren Werken festgemacht; doch zeigt sich stärker als in zuvor entstandenen Texten Brendels13 das an Hegel geschulte geschichtsteleologische Denken, welches die Verwirklichung der Ideale in die Zukunft projiziert. Die Reaktionen auf die Ausführungen Brendels waren vielstimmig: Während Carl Kretschmann14 wie auch Karl Emanuel Klitzsch15 ähnlich lautende Forderungen nach einer politisch engagierten Kunst aufstellten, lehnte allen voran Eduard Krüger, ein bereits langjähriger Mitarbeiter der NZfM, in der AmZ jegliche Vorstellung einer engen und wechselseitigen Verbindung zwischen Musik und Politik vehement ab,16 was jedoch die damalige Virulenz von Brendels Gedanken, die als ähnlich zeitkritische Diagnose alsbald zum Teil auch von Wagner geäußert wurden,17 nicht geschmälert hat.
12 Vorliegender Artikel, S. 98 [195]. 13 Siehe etwa Brendel 1846c Polemische Blätter, in: NdS 1 Nr. 5. 14 Siehe Kretschmann 1848 Romantik in der Musik, in: NdS 1 Nr. 11. 15 Siehe Klitzsch 1848 Beziehungen zwischen Kunst und Politik, in: NdS 1 Nr. 12. 16 Siehe Krüger 1848 Beziehungen zwischen Kunst und Politik, in: NdS 1 Nr. 10. 17 Siehe etwa Wagner 1849 Die Kunst und die Revolution sowie Wagner 1850 Das Kunstwerk der Zukunft.
Nr. 9 | Adolf Bernhard Marx, „Der Ruf unserer Zeit an die Musiker“, in: Neue Berliner Musikzeitung 2 (1848), Nr. 20 (17. Mai), S. 145 –148; Nr. 21 (24. Mai), S. 153 –156; Nr. 22 (31. Mai), S. 161–164; Nr. 23 (7. Juni), S. 169 –172.
Der Ruf unserer Zeitan die Musiker. Von Adolf Bernhard Marx.
Eine ungeheure Bewegung hat alle Geister, alle Völker und Volksklassen ergriffen. Es ist kein Einzelner, kein Stand, keine Nation vom Weltmeer bis in die russischen Steppen, vom Sund, der uns so lange schmachvollen Zoll abtrotzen durfte, bis zu dem äussersten Vorgebirge, wo der sonnverbrannte Kalabrese nach Afrika ausschaut: kein Stamm und kein Mann ist im ganzen Welttheile, der sich der übermächtigen Erweckung und Aufregung entziehen könnte, selbst wenn er wollte. Der Kundige staunt dem Gang der Ereignisse entgegen, die (ohne Vorbild in der ganzen Weltgeschichte!) gleich einer gewappneten Schaar von Riesen auf uns einschreiten, uns mit sich fortdrängen und vorwärts reissen – nicht wie einst die Völkerwanderung zu Sitzen reichlichern Leibes- und Lebensunterhalts hinaus, sondern empor zu unendlich höhern und schwerern Kämpfen und Siegen: zu dem Aufschwung aus Unterdrückung, Erniedrigung, aus innerer und äusserer Beschränktheit, Erlahmung, Verfallenheit in ein erneutes Leben geistiger und sittlicher Freiheit, Freudigkeit und Thatkraft.I Der Kundige schaut und erkennt das; der unbewusster Dahinlebende
I Dass
dieser Fortschritt, diese Revolution des gesammten nationalen und geistigen Lebens als ein unausbleiblicher wofern nicht ganz Europa mit allen seinen geistigen, staatlichen und sittlichen Bethätigungen erschlaffen, versumpfen, eine Beute der Barbaren werden sollte – von Jedem vorausgesehen wurde, der ein offenes Auge und theilnehmendes Herz für unsere Zustände hat; das wird gewiss überall jetzt Bestätigung finden, wenn auch (worauf im Grunde wenig ankommt) nicht Jeder für seinen Theil diese Voraussicht oder frühere Erkenntniss nachweisen kann. Ich meinerseits habe schon im März 1845 in der Vorrede zu Th. III. meiner Compositionslehre das Nachfolgende ausgesprochen: „Unsere Zeit ist eine zwiespältige nicht blos in der Politik, sondern in allen Richtungen und Zweigen des Lebens und Schaffens. Das Alte will selbst denen nicht mehr genügen, die es halten oder restauriren möchten; ein Neues drängt überall mächtig zum Leben und zur Herrschaft hervor, aber es herrscht noch nicht, in mancher Sphäre ist es noch nicht einmal geboren und möchte man bei dem ersten Wehen das junge Leben zurückdrängen und ersticken. Ja, man möchte sich und Andern verbergen und vergessen machen die Geburt, die die Zeit im Schoosse trägt und deren Unvermeidlichkeit man schon lange so deutlich hat ahnen und voraussehn müssen. Oder man möchte sich überreden, dass die Fortbewegung nur da oder dort (wo sie uns nicht stört!) etwa nur in der Politik, oder nur in der Religion, in der Wissenschaft, in dieser oder jener Kunst stattfinden und beachtet werden dürfe. Da giebt es denn genugsamen Anlass, die Blasirtheit bei leicht verträglicher und doch subtil reizender Kost vergessen zu machen, sich und
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fühlt es in allen Nervenfasern, dass ein neues Leben Alles durchzuckt, ein Leben, längst ersehnt und erschmachtet und endlich errungen, ein Leben frischen und gewaltigen Strebens, voll von Arbeit und Gefahr, überglänzt von dem morgendlichen [146] Schimmer jugendlicher höherer Freuden, frischaufgeblühter Ruhmesund Festeskränze. – Dass ein solcher Umschwung nicht ohne tiefe Erschütterungen, ohne manchen Umsturz von Besitz, Gütern und Erwerb, die fest gegründet schienen, vor sich geht – dass eine Zukunft höhern und reiner beglückten Daseins und Wirkens nicht ohne Opfer, ja, vielfach nicht ohne schwere bittere Opfer erkauft werden kann – dass mancher Einzelne unverschuldet leiden mag, vielleicht aus einer Bahn und von Aussichten hinweggedrängt wird, zu denen er durch Anlage und Arbeit wohl berechtigt erschien: damit sagt man Keinem, der offene Augen hat, etwas Neues. Aber wir müssen es uns dennoch sagen, recht klar und bestimmt es uns vor das Auge stellen. In bedenklichen und vollends in neuen Lagen ist das Nächstnöthige: dass jeder wisse, wie er steht; danach erst kann er beschliessen, was nun weiter zu thun sei. Dies also ist die Lage Aller. Es ist auch die Lage aller Musiker. An sie wende ich diesmal mein Wort, als treuer Kunstgenoss an alle Kunstgenossen, die mich hören und mit mir die höchste Anliegenheit Aller gemeinsam prüfen wollen. Mag ich vor einem Theil der Kunstgenossen einige Jahre voraushaben als Gelegenheit zu ausgebreiteterer Erfahrung, oder einige Studien und Erwägungen, während Andere nach andern Seiten wieder mir voraus sind: darauf kommt es nicht an; denn für diesmal ist es nicht meine Aufgabe, irgend eine Kunstlehre durchzuführen. Mag ich in dem, was mir zu sagen obliegt, meinen Widerspruch gegen Das und Jenes, vielleicht gegen Beliebtes und Weitgepriesenes erheben: man sehe darin keine Kritik und noch viel weniger eine Anfeindung. Wenn ich Lust gehabt oder für Pflicht erkannt hätte, mich kritisch zu bethätigen, so würde ich nicht Jahrelang mich aller Kritik enthalten haben;2 wenn ich Behagen fänd’ an Streiterei und Zänkerei, so hätte mir bekanntermaassen der Anlass – und vielleicht auch die Kraft dazu nicht gefehlt. Nicht ein Wort denke ich hier zu schreiben, als was dazu nöthig ist, uns über unsere Lage aufzuklären. Ich möchte herzlich bitten, dies wenigstens einstweilen als gewiss vorauszusetzen und jeden Zweifel, jeden Widerspruch, jede Empfindlichkeit gegen Einzelnes wenigstens einstweilen bei Seite zu halten, damit nichts Einzelnes und
Andern, ohne an den schlummernden Genius der nächsten Zukunft zu rühren, unverfängliche Zerstreuung zu schaffen. Das ist die Zeit der Virtuosen und Italiener, so gewiss sie es vor der grossen französischen Revolution war. Sie sind da willkommen, weil sie ein Bedürfniss des Tages befriedigen; und sie werden mit Recht bevorzugt, weil sie das besser als wir thun. Sie haben Recht, so lange dieser Tag der Verhehlung und Zerstreuung währt.“1 Dieselbe Ansicht lebt in meinen frühern und frühsten Schriften und bezeichnet den Grundton und die Richtung meiner Compositionen. Möchte mir dies Aufmerksamkeit gewinnen für meine jetzige Ansprache; nicht um meinetwillen wünsch’ ich es, sondern um der Sache willen, die uns Allen wichtig ist. 1 Marx 1845 Die Lehre von der musikalischen Komposition III, S. VII. 2 Marx hatte in den Jahren 1824 bis 1830 die von ihm gegründete Berliner Allgemeine musikalische Zeitung geleitet, sich aber entgegen seiner Aussage auch in der Folge als Musikkritiker für die Vossische Zeitung (ab 1844) sowie für die AmZ betätigt.
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darum Unwesentliches den Blick auf das Hauptsächliche und für Alle Entscheidende hemme oder trübe. Welchen Einfluss hat der Umschwung, den wir mit Staunen – und Viele unter uns gewiss mit begeisterndem Antheil erlebt, auf uns und unsere Kunst? Welche Folgen werden sich daran noch knüpfen? Vor Allem scheiden wir – das ziemt Künstlern, Männern, die sich das freieste geistige Wirken als Lebensberuf erkoren, vor vielen Andern – scheiden wir unsere Personen von der Sache, der wir uns geweiht. Für die Personen, leider für viele unter uns, mögen die nächsten Folgen bedenkliche, bittere sein. Vielen, wo nicht Allen, wird der Erwerb (den doch die Meisten nicht entbehren können) geschmälert, wo nicht gar eine Zeitlang ganz unterbrochen werden; verdiente Lehrer büssen ihre Schüler ein oder sehen die Honorare ausbleiben; geschickte Virtuosen und Sänger haben für das Erste keine Aussicht auf lohnende Concerte; mancher schon beliebte oder der Gunst des Publikums würdige Tonsetzer muss seine Werke zurückhalten oder unbeachtet bleiben sehn. Da ist im Allgemeinen nicht zu helfen; sehe jeder, wie er’s trage und wie er zurechtkomme. Wer dem Einzelnen rathen und beistehn kann, wird es thun; am sichersten hilft jeder sich selber und kann es in den meisten Fällen, wenn er ernstlich will. Mancher von uns wird andre Lebensverhältnisse annehmlich, ja begünstigend finden und löst sich damit von der Künstlerbestimmung los, die ihm keine innerlich nothwendige war und schon darum vielleicht nicht die rechte. Vergessen wir also alles Persönliche, wobei Jeder nur sich selber rathen kann. Wofern wir unserm Berufe wahrhaft ergeben sind, wird es auch gelingen, uns über die persönliche Sorge zu erheben. Allein, wenn wir nun über unsere Persönlichkeit hinausschauen, ist nicht der nächste Anblick eben so niederbeugend? Wenn der Unterricht sich beschränkt, ist dies nicht auch, abgesehn vom Verlust der Lehrer, ein Verlust für die Kunstbildung im Volk und in den künftigen Musikern? Wenn die Concerte, die Opern unbesucht, die Compositionen ungekauft bleiben, ist damit nur der Vortheil der Musiker, ist nicht auch der wohlthätige Einfluss der Kunst auf die Gemüther der Empfangenden, auf Gesinnung und Gesittung des Volks geschmälert oder aufgehoben? Hat man uns nicht lange genug diesen Einfluss angepriesen, in ihm den Adel unserer Bestimmung aufgewiesen und sind wir nicht in der That davon überzeugt? Haben wir also nicht gerechten und vollwichtigen Grund, etwas weit Höheres als unsere Personen, den Bestand und Einfluss der Kunst selber mit Bangen für gefährdet, schon für erschüttert zu achten? – Wenn wir uns erst zu diesen Fragen erhoben haben, dann ist unser Standpunkt ein höherer, unsere Anschauung so frei und rein, wie Künstlern ziemt, deren Leben ein geistig edles Ziel, nicht den blossen Erwerb oder persönlichen Eigennutz, Eitelkeit, Dünkel sich vorgesetzt sah. Dann können wir – wenn auch nicht gleich die wirklich vorhandene Bedrängniss, doch – die kleinliche, schwächende und ganz nutzlose Sorge überwinden, die vor allem den guten Muth, die freie Stimmung zerfrisst, damit aber die künstlerische und weiter jede sittliche des Mannes würdige Kraft abtödtet. Dann erst sind wir im Stande, den Ruf unserer Zeit recht zu vernehmen, recht zu verstehn und zu beherzigen. Dann wird sich auch jene edlere Sorge als eine grundlose ausweisen, ja in hohe Freudigkeit verwandeln. Wir werden auch in unserm
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Kunstleben aus augenblicklichem, zum Theil nur scheinbarem Verlust und Untergang ein höheres und reicheres Dasein erblühen sehn. Wir werden auch hier erkennen, dass nichts stirbt und untergeht, als was den Tod schon in sich trug und unfähig war erhalten zu bleiben. Wir werden und dürfen uns glücklich preisen, dass auch uns vergönnt war, aus dem in Nacht versinkenden Gestern hinauszublicken und hinüberzuleben in ein schöneres Morgen. Mögen uns denn Verluste augenblicklich kränken und drücken, mag uns die neue Zeit manchen vertrockneten Ehrenkranz vom Scheitel streifen und neue Pflichten, neues Ringen uns gebieten! Wir wollen das Alles freudig aufnehmen, als Wiedergeborene gleichsam zu einem zweiten Leben. Schon jetzt sind wir fähig und reif, das Ungenügen der abgestorbenen Vergangenheit und die Nothwendigkeit und Herrlichkeit der neuen Zeit zu fassen. Ich sprach vorhin aus: es sterbe nichts, als was den Tod schon in sich trage, was unfähig – und unwürdig sei, erhalten zu bleiben. Jetzt frage ich, – und es möge doch Jeder recht ernstlich prüfen, unerschrocken, wenn die Frage auch bis an das Herz dringt, unverhalten, wenn sie auch Liebgewordenes trifft, selbst wenn diese Frage einstweilen den ganzen Stand unserer Kunst, die ganze ihr gewordene Gunst oder Scheingunst zu erschüttern droht, – ich frage: ist denn der bisherige Zustand unserer Kunst ein wahrhaft lebenskräftiger und lebenswürdiger? ist er nicht theilweise ein Hinschmachten und Absterben eher als ein frisches Kunstleben zu nennen gewesen? war der Antheil, der sie auszeichnete und hervorhob, durchweg ein wahrhaft begründeter und deshalb Dauer versprechender und verdienender? – Die Frage mag befremden im Munde eines Mannes, der sich selber der Kunst gewidmet und für ihre Ausbreitung in mehr als einer Form nach Kräften gewirkt, der nicht zufällig (etwa durch Geburt in einer Künstlerfamilie) in seine Bahn getreten, sondern günstige Aussichten ihr geopfert hat und fortdauernder Liebe und Thatkraft für sei-[147]nen erwählten Beruf sich bewusst ist.3 Sie mag auf den ersten Blick die verletzen, welche von gleicher oder höherer Liebe für die Kunst beseelt sind. Allein vor Allem darf kein Vorurtheil und keine Vorliebe der aufrichtigen und gründlichen Prüfung in den Weg treten. Nicht wir Musiker allein, jeder Stand hat, wenn er von dem erschütternden Gange der Zeit nicht betäubt oder verstockt, sondern zum Nachdenken gebracht wird, gleiche und gleich herbe Fragen sich vorzulegen. Denn das ist eben das Ungeheure und Niedagewesene unserer Zeit, dass sie Alles, Alles zugleich in Frage stellt. Rom rang um die Herrschaft; – Noth und Ueber füllung der Lande trieb zur Völkerwanderung; – das Grab zu Jerusalem, in dem „der Herr nicht“ war, lockte Ritter und Pilger herbei, und im Wahnwitz zuletzt Kinderschaaren zum Kreuzzuge; – Luther brach eifernd das Joch des römischen Bischofs; – Frankreich stand auf zu blutigem Gericht über die Anmaassungen des Von Gottes Gnaden-Regiments und wusste die Errungenschaft seiner Freiheit blutig und helden thümlich zu behaupten oder wieder zu erringen. Jede dieser weltgeschichtlichen Bewegungen war ungeheuer gross, – und doch nur einseitig, nur beschränkt gegen das, was jetzt begonnen hat. Nicht die Herrschaft eines Volks, sondern die Selbst-
3 Marx’ Vater war Arzt, er selbst studierter Jurist. Diesen Beruf gab er jedoch auf, um sich ganz der Komposition und der von ihm in Berlin von 1824 bis 1830 herausgegebenen Berliner Allgemeinen musikalischen Zeitung zu widmen.
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ständigkeit aller Nationalitäten ist die Aufgabe; nicht um den Papst, um Freiheit und Bestand aller Religionen ist die Frage; nicht Ein Volk, alle Völker brechen die Bande des rechtlos gewordenen Absolutismus und haben auf sich genommen, ihr eigen Recht und ihre Wohlfahrt selber zu bestimmen. Und während das Dasein der Staaten, das Recht der Völker und Throne, Gesetz und Verwaltung, Glaubens- und Gedankenfreiheit, Alles miteinander um sein Bestehen ringt, Alles in Frage tritt, alle Verhältnisse bis in den Grund erschüttert schwanken: erhebt sich der Ruf von Millionen unserer ärmern Brüder in allen Landen, und fordert das Recht auf ein wahrhaft menschliches, menschenwürdiges Dasein, mahnt uns der Aufschrei der lange versäumten Darber an jene altheilige Lehre: Liebt euch wie Brüder unter einander.4 Wahrlich, wenn die Tonkunst von diesem Wehen des Geistes nicht mit ergriffen würde, wir Musiker selber müssten sie geistig todt nennen, abgefallen vom Baum des Volkslebens, abgestorben und nichts anderes werth, als hinweggeworfen zu werden wie verwelktes Kraut. Und wenn solch ein Umschwung uns nicht ernstliche Mahnung würde und Kraft gäb’, uns und unsere Aufgabe bis ins Herz hinein zu prüfen, so wär’ uns nicht zu helfen, und wir müssten vor jeder Arbeiterschaar schamroth vorbeischleichen, die um würdigeres Dasein ernst und entschlossen Rath pflegt. So scheue ich mich denn nicht, Angesichts meiner Kunstgenossen auszusprechen: Ja! auch unserer Kunst stockten die Lebenspulse, war ein neues Lebenselement, neue Anregung, höhere Beseelung nöthig! So dringend nöthig, dass der wahre Kunstfreund, der nicht blos tändeln will mit der Kunst und träumen, sondern sie liebt, um mit ihr zu leben, gern und willig sich eine zeitweilige Zurückstellung derselben in der allgemeinen Theilnahme gefallen lässt, wenn nur so die unerlässlich nöthige Verjüngung erlangt werden kann. Was war es denn auch mit dieser allgemeinen und so weit ausgebreiteten Theilnahme? Oft konnte man, eben in dem Bewusstsein der wahren Würde unserer Kunst, gereizt werden, bei solchem Kultus, wie der Tag ihr widmete, auszurufen: „Es kostet nichts, die allgemeine Schönheit Zu sein, als die gemeine sein für alle![“]5 wie Schiller’s Elisabeth im Anblick der erniedrigten Maria. Gestehn wir es uns nur zu: in der grossen Mehrzahl unserer Gesellschaften wurde die Musik nur herbeigerufen, um die breiten Lücken der Unterhaltung zu füllen, um die Langeweile zu – nicht zu bannen, sondern zu verdecken, oder eine Langeweile durch eine andere zu ersetzen. Geselligkeit ist ein Grundtrieb des Menschen; und uns fehlte gleichwohl in ihrem Schoosse jedes gemeinsame höhere Interesse. Denn ein Volksleben hatten wir nicht, am Staatsleben – wie unerquicklich, gemüthzurückweisend war es geworden! – hatten wir keinen Antheil; die Berühmtheiten der Bretter, die uns die Welt sein, nicht blos bedeuten sollten, und jene Floskeln und Notizen allgemeiner Bildung, mit denen wir in Schulen und Schriften und homöopathischen Vorlesungen überrieselt
4 Gemeint
ist hier wahrscheinlich das alttestamentarische Gebot „Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ (Lev 19, 18). 5 Friedrich von Schiller, Maria Stuart (UA 1800), 3. Aufzug, 4. Auftritt.
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wurden wie trocken liegende Wiesen aus dem Mühlbächlein: das Alles war bald verbraucht. Da musste denn Musik heran, die Lücken auszufüllen! und immer mehr Musik, je weniger man auf sie hörte; in den Gärten und Belustigungsorten doppelte und dreifache Orchester, damit von Rechts her der Lärm losginge, wenn sie Links ruhen müssten, Beethoven’sche Symphonieen zwischen Polkas und Mazurkas und Tellerund Gläsergeklapper; in den Gesellschaften die tollste Mischung von Sätzen, deren einer immer dem andern in’s Gesicht lachte und den Garaus machte (les noms hurlaient en se rencontrant,6 wie man von der französischen Ex-Pairie7 sagte mit ihren alten Jacobinern, Napoleonisten, Legitimisten und Konstitutionellen) oder auch, wenn man in das Salongenre gerieth, eine Chaine8 von Sätzen, deren einer immer dasselbe noch einmal sagte, was man so eben unter anderen Namen zehnmal schon gehört hatte. Wer hat das nicht selber jammervoll durchmachen und aushalten müssen und nur aus den Reihen langer blasser Gesichter den leidigen Trost verstohlen herausgefischt, dass man Leidensgefährten habe? Und wer hat nicht dasselbe in den Concertsälen erlebt? Wer weiss nicht, dass zuletzt selbst die deutsche Musikgeduld versiegt war und der Saal nur durch Hunderte von Freibilleten gefüllt werden konnte,9 selbst Berühmtheiten (die allerberühmtesten bisweilen ausgenommen) sich getäuscht sahen und auf eigene Kosten wenigstens den Schein retten mussten? Man war von klassischen Werken in das Salonwesen gerathen, rief mitten da heraus wieder jene zu Hülfe (wie Rom einst neben den eigenen alle fremden Götter und Zauberer anrief) und – les noms hurlaient en se rencontrant – es half nicht. Die frische Lust war entflohn; die Stille und Tiefe des Gemüths, der sinnige Ernst, ohne die man kein wahres Kunstwerk auffassen kann, sie waren gestört, getrübt, verloren. Man wende mir nicht ein, dass sich überall glückliche Ausnahmen gezeigt, dass unter Andern die Berliner Symphonie-Abende10 an Trefflichkeit der Ausführung
aus Heinrich Heine, Florentinische Nächte (ED 1837), 2. Nacht. Dort heißt es in einer französischen Ausgabe: „Les noms hurlent quand ils se rencontrent […]“. Im Original heißt es: „Da sah ich alte Mousketairs, die einst mit Maria Antoinette getanzt, Republikaner von der gelinden Observanz, die in der Assemblee-Nationale vergöttert wurden, Montagnards ohne Barmherzigkeit und ohne Flecken, ehemalige Direktorialmänner, die im Luxemburg gethront, Großwürdenträger des Empires, vor denen ganz Europa gezittert, herrschende Jesuiten der Restaurazion, kurz lauter abgefärbte, verstümmelte Gottheiten aus allen Zeitaltern, und woran niemand mehr glaubt. Die Namen heulen wenn sie sich berühren, aber die Menschen sieht man friedsam und freundlich neben einander stehen, wie die Antiquitäten in den erwähnten Boutiquen des Quai Voltaire.“ (Heine-Werke 5, S. 236). Das Gleichnis einer extrem disparaten, aber dennoch zur Koexistenz fähigen Pariser Salongesellschaft dient Marx hier zur Beschreibung der damaligen dissonanten „Vielstimmigkeit“ von höher- und minderwertigen Musikrichtungen z. B. in Gesellschaften, in der Öffentlichkeit („Gärten“ usw.). 7 Die „Pairie“ war ein im Mittelalter etablierter Titel für die (adeligen) Mitglieder einer Gruppe von Wahlmännern, die den König wählten. Im späteren Ancien Régime, bis zu ihrer Auflösung 1789, hatte die Pairie aber nur noch repräsentative Funktion und war politisch royalistisch gesinnt. 8 (Frz.) Kette. 9 So hatte eine Preiserhöhung für das königliche Theater in Berlin durch den Intendanten Karl Theodor von Küstner (1784 –1864) im Jahre 1847 zu einer „stets halbleeren Tribüne“ geführt, was in der Folge durch eine Erhöhung der Freibillets kompensiert werden sollte (siehe Nanté 1847 Signale aus Berlin, S. 35 f.). 10 1842 hatte Hofkapellmeister Wilhelm Taubert (1811–1891) die Leitung der sogenannten Symphonie-Soireen übernommen (bis 1883), welche ab 1845 im Apollo-Saal des Opernhauses stattfanden. 6 Zitat
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und Andrang der Hörer vorwärts gekommen. Diese Ausnahmen weisen auf den unvergänglichen Kern im Kunstleben und in unsern Künstlern und Kunstfreunden hin, während die weit überwiegende Reihe der Musikerscheinungen leider nur zu deutlich zeigen, wie würdelos der Zustand im Allgemeinen, wie oberflächlich, zerflossen, unnachhaltig die Theilnahme geworden war. Wie unnachhaltig, das beweisen selbst die gediegenen und in ihren einzelnen Leistungen oft so trefflichen Abende. Oder glaubt man ernstlich, dass es dem Kunstfreunde möglich – und oft möglich ist, hintereinander weg drei Quartette oder zwei Symphonien und zwei Ouvertüren mit sinniger seelerwärmender Hingebung und nachhaltigem Gewinn für Gemüth und Kunstbildung aufzunehmen? – Ich meinerseits werde es von dem Abend an glauben, wo man zwei Tragödien hintereinander giebt und auffasst. Bis dahin aber will und muss ich es bestreiten. Die menschliche Seele darf man sich nicht wie eine Brunnenröhre vorstellen, durch die das Wasser gleichgültig und spurlos (ausser dass die Röhre nach gerade faul wird) durchströmt, rechts hinein und links hinaus. Wenn sich unsere Seele einer Stimmung, einer Theilnahme hingiebt, von einer Liebe, von einer Idee ergriffen und durchglüht und ganz erfüllt ist: dann gehört sie dieser Idee, dieser Liebe an, hat keinen Raum, keine Auffassungskraft und Lust für [148] eine zweite, bis jene erst ganz im Leben des gewonnenen Herzens aufgegangen ist; welcher edle Jüngling hätte wohl neben dem Bilde der Geliebten ein zweites im Herzen getragen? Nur dem schlaffen, gleichgültigen Gemüth ist es möglich, sich unverweilt von Einem zum Andern hinzuwenden, Eins um das Andere gleichgültig durch sich durchlaufen zu lassen wie Wasser durch die faule Brunnenröhre, und daran immer mehr in Schlaffheit, Gleichgültigkeit und Verfaultheit zu versinken. Die Masse von Musik, die wir zu verzehren gaben und bekamen, war ein Zeichen des Mangels an Innigkeit, Vertiefung und Fruchtbarkeit für Geist und Herz in den Aufnehmenden. Dieser Zustand von Ueberfüllung und Ueberschwemmung, nicht in Kraft der Liebe und Gesinnung, sondern aus Angst und Druck der Leere und Langweile, konnte nur in einer Zeit Raum gewinnen, wo das Volk der höhern und gemeinsamen Interessen verlustig, jeder Einzelne in seine kleinen und besondern Anliegenheiten abgesperrt war, Jeder sich blasirt fühlte und innerlichst unbefriedigt am Gegenwärtigen, Jeder im Vorgefühl einer allgemeinen Umwandlung und der Ohnmächtigkeit, sie mit eigener Kraft hervorzurufen, bald zerstreut und an theillos das drückende Gefühl der Leere durch Zeitvertreib los werden, bald sich durch erheuchelten und erzwungenen Antheil oder Enthusiasmus darüber hinweglügen wollte. Der berüchtigte forcirte Berliner Enthusiasmus hatte seinen letzten Grund nur in der Interessenlosigkeit der hiesigen Zustände und in dem quälenden und noch bis zum 18. März11 unerfüllbaren Bedürfniss eines wahren und gemeinsamen Interesse. Die Tonkunst ist aber eines bessern Looses werth, als ihr in dieser hohlen und kalten Anhänglichkeit einer des höhern gemeinsamen Interesse verlustigen Zeit
11 Am
18. März 1848 war es in Berlin zu Barrikadenkämpfen zwischen Militär und protestierenden Bürgern gekommen, welche die Durchsetzung demokratischer Reformen in Preußen gefordert hatten. Bei den Auseinandersetzungen kamen etwa 300 Menschen ums Leben, die schon bald als „Märzgefallene“ bezeichnet wurden.
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zufallen konnte. Ihre ächten Jünger und Freunde haben, was daran eingebüsst worden, nicht als einen wahren Verlust zu beklagen. [153] Wenn die vorhergehenden Betrachtungen im ersten Theile dieses Aufsatzes nicht grundlos genannt werden dürften: so erwies sich die Theilnahme, die unsrer Kunst in der letzten Zeit zugewendet worden, als ein gar zweideutiges Zeichen für ihre Wirkung auf sittliche und geistige Erhebung des Volkes und als eine oft zweifelhafte Ehre für Kunst und Künstler. Einen grossen, wo nicht den grössten Theil der allgemeinen Hinwendung zur Musik konnten wir nicht umhin, der Leere und Langweiligkeit unsrer bisherigen Zustände zuzuschreiben. Sie singen, weil sie nichts zu reden wissen – sie hören zu, weil sie nichts zu thun haben – sie donnern am Piano, weil sie stumm unterducken müssen, wo freie Männer die Geister wach rufen – sie wüthen mit Posaunen und Tuben, weil sie so zahm im Leben sind, so scharf gehalten in den Kreuzzügeln der Polizei, der Pietisterei, der Prüderie, der Geckerei und Pedanterei, kurz aller der Rücksichten und Einschnürungen und Heruntermässigungen, aller der Glacéehandschuhhaftigkeit und Theebegeisterung, in denen wir verfangen waren wie in flachem Wasser, wo man weder recht gehn noch schwimmen kann. Wer trug die Schuld? Niemand; Niemand hatte die Zustände gemacht, Niemand konnte sie überwinden, bis die Stunde geschlagen hatte; der Einzelne, der die Zukunft im Geist und Herzen trug und in seinen Werken anklingen liess, stand ausserhalb der Flutung des Tags, zumal in unsrer Kunst, die nicht vermag, so deutlich und bestimmt zu reden, wie die Poesie, die nur auf einem Umwege, durch Stimmungen, zum Bewusstsein der Hörer dringt und leicht Verstimmung weckt, wenn sie dem Bewusstsein oder der vorhandenen Stimmung Allzufremdes anregt. In solchen Zuständen ist die Uebergunst und maasslose Verbreitung der Kunst des stillen Fühlens und süssen Träumens begreiflich, eine Nothwendigkeit; das Dasein zwischen Traum und Wachen fand in ihr seinen Ausdruck. Dass sie noch eine höhere Kraft und Bestimmung in sich trägt, wurde weniger klar gefasst, wo nicht vergessen oder bestritten, trotz der unvergänglichen Zeugnisse unsrer grossen Vorgänger. Aber gerade für diese Zustände war die verwandte Kunst ein bedenkliches Förderungsmittel, ein entnervender Schlaftrunk, wo man hätte wachschreien und zur That rufen mögen. Ein solches Gift war die Tonkunst, so weit man sie nicht selber rein und wach erhielt im Streben nach der geistlich-sittlichen Kraft, die sie auf das Gemüth und den Geist der Völker auszuüben und zu übertragen vermag und oft schon übertragen hat. Und hier wollen wir Musiker Hand auf ’s Herz legen und uns gewissenhaft fragen: Ist wohl von uns selber genug geschehn, um die Theilnahme des Volks an unsrer Kunst zu veredeln und dadurch zu verdienen und zu erhalten? haben wir auf das Erhaltungswürdige mit Ernst und Nachdruck, mit Liebe und Beharrlichkeit hingeführt? haben wir nicht gar zu oft gegen das baare Gold des Volks werthlose Rechenpfennige12 ausgewechselt und das Zutrauen, die dunkle Ahnung
12 Rechenhilfsmittel,
steht.
das keinen Wert an sich hat, sondern stets symbolisch für einen anderen Wert
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von den unvergänglichen Schätzen der Kunst getäuscht und irregeleitet auf das Nichtige und schon darum Schädliche? Leider können wir uns nicht freisprechen, wenn wir gegen uns und die uns Vertrauenden offenherzig sein wollen. [154] Nur das können wir – und mit vollem Rechte – zu unsern Gunsten anführen: dass unser Fehl und unsre Schwäche die allgemeine der Zeit und unsrer Zustände war und dass es nur Wenigen gegeben ist, sich davon mehr oder weniger – Niemandem vielleicht, sich ganz davon frei zu halten. Der Rückblick auf unsre Versäumnisse und Fehler darf uns daher nicht beugen und lähmen. Rings um uns herum ist Niemand, kein Mann und kein Stand, von gleichen Vorwürfen ganz frei; man denke nur der Ausführungen des geistreichen Dr. Kossak über die Ergebnisse der Malerkunst.13 Aber schuldig sind wir diesen Rückblick uns und unsrer Kunst und den uns Vertrauenden, weil nur helle Selbsterkenntniss uns und ihnen Bürge sein kann für ein heilvolleres Wirken. Ich meine daher in dem hier Auszusprechenden nicht gegen irgend Jemand, sondern für Jedermann das Wort zu nehmen, indem ich es einem Jeden überlasse, sich freizusprechen, so weit er in seinem Bewusstsein vermag. Es ist eine allgemeine Beichte, die ich nicht Andern zuschiebe, sondern selber mit ihnen, in gleichem Maasse gegen mich wie gegen sie anerkenne, so weit sie jeden trifft. Und nun frage ich die Lehrer: was hat man uns dargebracht und was haben wir dafür geleistet? – Hier kann ich vor Manchem aus Erfahrung reden, da ich als Compositionslehrer mit vielen Klavier- und Gesangslehrern in nähere Bekanntschaft gekommen und durch sie wie auf andern Wegen von dem Lehrgang und Lehrerfolg reiche Mittheilungen empfangen habe. Millionen auf Millionen – das beherzige man wohl! – sind bisher Jahr aus Jahr ein für Musikbildung verausgabt worden. Dies ist keine Uebertreibung. Man erwäge, dass der Klavier- wie der Gesangunterricht in der Regel einen Zeitraum von 3 bis 5 Jahren umfasst, wöchentlich 2 bis 3 Lektionen fodert; – dass ferner nicht blos die bisher sogenannten höhern Stände oder die Vermögenden, sondern auch der Mittelstand und die wenig Vermögenden, wenn es nur irgend anging, sich verpflichtet achteten, ihre Kinder in Musik unterrichten zu lassen; – dass man nicht etwa einige, z. B. die besonderes Talent oder besondere Lust zeigten, sondern wo möglich alle Kinder am Unterricht theilnehmen liess, in vielen Familien drei und mehrere Kinder unterrichtet wurden. Man rechne zu den Ausgaben für den Unterricht noch die für Musikalien und Instrumente – und die obige Behauptung wird nicht übertrieben scheinen. Dies ist gleichwohl noch nicht der kostbarste Aufwand; höher müssen wir die Zeit schätzen. Der Unterricht kann keinen nennenswerthen Erfolg haben ohne eine zweistündige Uebungszeit täglich, das heisst ohne Aufwand eines Sechstels der Arbeitszeit, wenn wir sie (für die Jugend unverantwortlich!) auf 12 Stunden täglich ansetzen. Von der aufgewendeten Kraft wollen wir lieber gar nicht reden; sie wird bekanntlich von der Musik vorzugsweise in Anspruch genommen, lässt sich aber nicht bestimmt
13 Der
Berliner Feuilletonist und Schriftsteller Ernst Kossak (1818 –1880) hatte 1846 in seiner Broschüre Die Berliner Kunstausstellung einen kritischen Bericht über die auf der international besetzten Kunstausstellung präsentierten Gemälde vorgelegt (Kossak 1846 Die Berliner Kunstausstellung).
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berechnen. Ohnehin soll die ganze Rechnung nur der Frage das gebührende Gewicht geben: was empfangen die Lernenden für ihren Aufwand? Erreichen sie ihren Zweck – Musikbildung – in hinlänglicher Sicherheit und Ausdehnung? Kaufen sie sich mit ihrem Aufwand einen Schatz für das Leben, der mit jenem in Verhältniss steht? Nein! muss darauf geantwortet werden; unbeschadet der verdienstlichen, ja ausgezeichneten Leistungen vieler einzelner Lehrer: Nein und abermals Nein! Ein vorläufiger und nicht gewichtloser Beweis liegt schon darin, dass die Mehrzahl der Musiklernenden bald nach dem Ende der Unterrichtszeit aufhört, Musik zu üben. Es ist ein Irrthum, wenn man das den dringendern Pflichten der Häuslichkeit, Berufsgeschäfte, höhern Studien u. s. w. beimisst. Jeder von uns (mit Ausnahme der bedrücktesten, ohnehin nicht musiklernenden Stände)[,] jede von unsern Frauen oder Töchtern hat, zumal in der bisher so interesseleeren Zeit, übergenug Musse gehabt für Musik, wenn nur der Unterricht die Lust erhöht und befestigt und besonders, wenn er den Schüler befähigt hätte, selbständig vorwärts zu schreiten, selbständig, mit würdigem und befriedigendem Erfolg sich weiter zu bethätigen. Deutlichere Einsicht gewinnt man durch den Einblick in die Richtung, die der Unterricht meistens, mit wenigen Ausnahmen, nimmt. Damit wir uns hier sicher verständigen, sei der Blick vorerst auf andre Bildungszweige gelenkt. – Wenn sich, Beispielsweise, ein Jüngling für einen Aufenthalt in Frankreich ausbilden sollte, würde es genügen, dass er sich fertig französisch ausdrücken und französisch lesen könnte? Gewiss nicht; er würde mit all seinem Parliren und Exponiren ein Fremdling bleiben, unfähig, sich dem Leben und den Interessen des Landes anzuschliessen, wenn er nicht neben der Sprachfähigkeit auch die Bildung desselben aus seiner Literatur, die Einsicht in seine Zustände u. s. w. sich zu eigen gemacht hätte. Nun frage ich: was lernen und lehren wir meistens in der Musik? – Um im Gleichnisse zu bleiben: nur lesen, nicht einmal schreiben. Der Klavierlehrer übt unsre Hand in Elementar-Uebungen und Etüden, der Gesanglehrer unsre Kehle in Scalen und Solfeggien; hierauf wird die bei Weitem grössere Masse der Bildungszeit und Kraft verwendet. Da hiermit offenbar nur die Mittel der Ausübung gewährt werden, so schliesst sich natürlich das Studium von Werken an. Welche Werke sind das? Für den Pianisten erstens solche, die im Grunde nichts sind, als erweiterte Uebungen unter der Form und dem Namen von Sonaten, Rondo’s, Fantasien u. s. w., Werke ohne Anspruch auf Innigkeit und Tiefe, ohne Begeisterung und Hingebung, kurz ohne künstlerische Kraft und Weihe verfasst, oft von den Tonsetzern selber nur für Uebung bestimmt, öfter der unabsichtliche Beweis, dass der Verfasser sich nicht über den technischen Standpunkt erhoben hat. Wie viele Werke von Clementi14, Kalkbrenner15, Hummel16 und Neuern noch in unsrer Mitte Wirkenden hierher gehören, mag unberechnet bleiben. Zweitens dürfen (meist noch weniger als jene) die durch die Mode empfohlnen oder befohlnen Tagesneuigkeiten, diese Transcriptionen und
14 Muzio
Clementi (1752 –1832), italienischer Komponist, Pianist, Musikpädagoge, Klavierbauer und Musikverleger. 15 Friedrich Kalkbrenner (1785 –1849), deutscher Pianist und Komponist, galt vor Liszt als größter Klaviervirtuose seiner Zeit. 16 Johann Nepomuk Hummel (1778 –1837), österreichischer Pianist und Komponist, einer der bedeutendsten Klaviervirtuosen seiner Epoche.
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Fantasien und Reverien und Pensées17 und wie die Kostbarkeiten sonst heissen, nicht eine Woche lang versäumt werden. Dass gerade für sie maasslose technische Uebungen nöthig, dass gerade sie durch ihre unglaubliche Einseitigkeit auch der technischen Ausbildung eine einseitige Richtung geben (so dass Mancher, der seinen Thalberg18 ganz wohlgemuth herunterspielt, selbst bei den mittelschweren Sonaten Beethovens stockt) dass beide Richtungen vom Geistigen ab in das Technische führen – das kommt nicht in Betracht. Drittens endlich werden dann ehrenhalber (oder schandehalber) auch einige „klassische Werke“ mitgenommen; das trifft denn unwandelbar einige dazu prädestinirte „klaviermässigere“ Sonaten von Beethoven: die pathétique19, die aus As-Dur mit den Variationen20, die Cis-moll-Sonate21, noch wenige minder allgemein bestimmte; vielleicht schliessen sich auch ein paar Fugen aus dem tem perirten Klavier22 an. – Der Gesangunterricht zehrt in gleicher Richtung von einer Masse jener gemüthlich-nichtssagender, scalagleich unrhythmischer und kernloser Lieder und von italienischen oder auch französischen Arien, die „stimmgerechter“ oder „stimmbildender“ befunden, oft selbst von solchen Lehrern maasslos heran- und vorgezogen werden, deren Compositionen einen höhern Standpunkt bezeichnen. Dies ist der Umkreis der Musikbildung, über den nur ausnahmsweise hinausgegangen wird. Abgesehen also von den Ausnahmen, die mancher treffliche Lehrer und manches günstigere Verhältniss gewähren, ist technische Uebung und Hinwendung auf das Oberflächlichere und Gehaltlosere das Hauptergebniss der Musikunterweisung. [155] Wie kann Schülern, denen man diese Richtung gegeben, die man vorzugsweise technisch und selbst da nur einseitig beschäftigt, die man in die Seichtigkeiten mehr als in die Tiefen der Kunst eingeführt, die man gewöhnt hat, mehr auf das Vergängliche als auf das Ewige derselben hinzublicken: wie kann denen die tiefe geistig-sittliche Bedeutung der Kunst anschaulich und eigen geworden sein? Wie kann man von Denen, die nicht mit den Meistern bekannt worden, an denen unsre Kunst so reich ist, in denen sie ihre wahren Schöpfungsmomente erlebt, in denen sie unsterblich ist – wie kann man von denen, die nicht in den Werken Seb. Bach’s, Händel’s, Gluck’s, Haydn’s, Mozart’s, Beethoven’s (der zweiten Reihe sich diesen Anschliessender zu geschweigen) einheimisch, mit den durch sie geöffneten Richtungen und allen neben ihnen erschlossenen irgend zur Bedeutung gekommenen vertraut worden, wahre Einsicht, Liebe und dauernde Anhänglichkeit an der Kunst erwarten? Was können sie im Herzen haben, als – im glücklichsten Falle – die blos natürliche und ungepflegte Entzündbarkeit für Musik, die sich dann jeder Anregung von innen oder aussen bahnlos und ziellos wie ein Schiff ohne Steuer dahingiebt? Was können sie lieben und ferner im Auge haben, als die Einzelheiten und Zufälligkeiten, die ihnen ohne Fülle und System, ohne Regel als die Rücksicht auf Technik und Mode in bunter Willkühr in die Hände gegeben sind? Was können sie
17 (Frz.)
Träumereien und Gedanken. Damals beliebte Bezeichnungen für kleinere, salonmusikalische Klavierstücke. 18 Sigismund Thalberg (1812 –1871), österreichischer Pianist und Komponist, war neben Liszt einer der prominentesten Klaviervirtuosen des 19. Jahrhunderts. 19 Ludwig van Beethoven, Klaviersonate Sonate pathétique Nr. 8 c-Moll op. 13 (ED 1799). 20 Beethoven, Klaviersonate Nr. 12 As-Dur op. 26 (ED 1802). 21 Beethoven, Klaviersonate Nr. 14 („Mondscheinsonate“) cis-Moll op. 27/2 (ED 1802). 22 Johann Sebastian Bach, Das Wohltemperierte Klavier, BWV 846 – 893.
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selbst aus den Meisterwerken, überhaupt aus der Kunst sich angewinnen, als wieder nur das Aeusserliche, das Oberflächliche, das blosse Ergötzen, oder gar den blossen Zeitvertreib und die Eitelkeit allenfalls auf virtuosisches Geschick? „Diese Schilderung mit ihren Folgerungen ist höchst übertrieben!“ – wird man mir von mehr als einer Seite zurufen. Nein, sie ist nicht um einen Farbenton greller als die Wirklichkeit. Im Gegentheil wünschte ich nicht, dass man bei grossen Reihen Lernender genau nachfragte, womit sie die Unterrichtszeit durch beschäftigt worden – und in welchem Sinne; die Auskunft möchte überraschen. Ich selber (längst nicht mehr mit Klavier- und Gesangunterricht beschäftigt) habe unter sehr vielen Lehrern, die sich mir für Compositionsunterricht anvertraut, nur sehr wenige gefunden, die mit den Meistern Bekanntschaft gemacht, nur Einzelne, die in den Werken derselben einheimisch geworden und aus ihnen Gluth und Kraft gewonnen hatten. Wohl aber könnte ich Lehrer genug nennen, die aus öffentlichen Musikinstituten hervorgegangen und jahrelang im Klavier und Gesang unterrichtet worden waren, gleichwohl von den Meisterwerken nichts kennen gelernt hatten, als etwa ein paar Fugen von Bach und höchstens noch eine oder zwei Sonaten von Beethoven (wenn überhaupt dergleichen), zufällig vielleicht ein paar Chöre von Händel, öfter nicht einmal das so populäre Mozart’sche Requiem23. Einen Theil der so mangelhaft vorgebildeten Lehrer wird ohne Zweifel eigner Trieb und günstiges Verhältniss zur Ausfüllung der Lücke gefördert haben; den grössern Theil nicht oder zu spät, da es schwer ist, im Drang der Berufsarbeit und der Erwerbsnoth noch kräftig und harmlos genug für die eigne Fortbildung zu sorgen. Von der Compositionslehre ziemt mir hier zu schweigen.24 Es ist bekannt, dass ich die alte Lehre theilweis für unvollständig, theilweis für falsch, die alte Methode – soweit sie in Büchern und bekannt gewordner Ueberlieferung vorliegt – für unlebendig halte,25 ohne gleichwohl (wie Gegner anzunehmen geschienen) jemals die grosse Vorarbeit und die Errungenschaften jener Lehre geläugnet, oder in Abrede gestellt zu haben, dass geschickte und eifrige Lehrer selbst mit mangelhafter Methode Treffliches leisten können, indem sie die Mängel (vielleicht sogar unbewusst) aus eigner Kraft ergänzen. Jedenfalls aber bin ich Partei in der Sache und enthalte mich hier des Urtheils. Auch über den Unterricht auf andern Instrumenten fehlt mir genugsame Kenntniss der Thatsachen; er ist jedenfalls weniger verbreitet und schon darum weniger einflussreich. Ein letztes und entscheidendes Zeugniss über die Lehrweise giebt das Kunst bewusstsein, das sie im Volk erzogen hat. Nicht das ist daran am meisten bedenklich, dass etwas Geringeres dem Edleren vorgezogen wird. Für gewisse Stimmungen, Bildungsstufen, Volkszustände kann das im Allgemeinen Niedrigere einstweiligen
23 Wolfgang
Amadeus Mozart, Requiem KV 626. 24 Marx selbst verfasste eine für lange Zeit nahezu ausschließliche Geltung besitzende Kompositionslehre (Die Lehre von der musikalischen Komposition) in vier Bänden, die zwischen 1837 und 1847 in Leipzig erschien. 25 Marx bezieht sich hier auf seine 1841 erschienene Schrift Die alte Musiklehre im Streit mit unserer Zeit, in welcher er sich gegen musiktheoretische, ästhetisch restriktive Lehrwerke, namentlich gegen die des Berliner Musiktheoretikers und Kontrapunktlehrers Siegfried Wilhelm Dehn (1799 –1858) gewendet und darüber hinaus viele der 1848 ausgesprochenen Gedanken über die Reformen des Musiklebens geäußert hatte.
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Vorzug verdienen; ein Strauss’scher26 Walzer und eine Gungl’sche27 Polka sind oft (ich bekenne mich gern dazu) mehr an ihrer Stelle, als eine der zerstreuten Plauderund Tischgenossenschaft aufgedrungene Symphonie; Spontini musste in der napoleonischen Zeit vor Gluck gelten, der üppige Rossini und der halb frivole, halb gleichgiltig blasirte Auber mussten in der heiss dürren, von feuchten Schwaden verstohlner Lüste durchzognen Atmosphäre der Restaurationsperiode die Lieblinge und Helden der müssigen Menge sein. Nicht das ist das Bedenkliche, sondern dass man Alles unterschiedlos, ohne Bewusstsein über den Unterschied und eigentlichen Sinn hinnahm. Wenn Heinrich IV. von England seine Jugend unter nichtsnutzigen Gesellen ausbrausen liess: so wusste er ganz genau, was er an ihnen habe – und das rettete ihn.28 Wir aber verzehrten gemüthlich alle Schüsseln durcheinander, sauer und süss, Disteln und Ananas, wie sie die Garküche Polyhymnias29 lieferte, wir tranken dazu den Wein, den Beethoven kredenzte und die Wasser, die uns Mecklenburg30 zurückfliessen liess, mit gleich zufriednem Lächeln, – wenn nur die Zeit, die liebe Zeit hinging, wenn wir nur amüsirt wurden (das heisst angereizt ohne Befriedigung und Förderung) oder uns wenigstens einbilden durften, uns faute des mieux31 zu amüsiren. Ja, wir liessen uns einreden, dass ein ganz neuer Born frischern, reinern – heiligen Trunkes aus jenen Zeiten sich in unsre lustheissen Tage hinüberleiten lasse, in denen die Kunst – sich erst zu gestalten begann, noch fern von dem war, was unserm Gefühl und Bewusstsein als befriedigender Inhalt der Kunst Bedürfniss geworden.II Wir liebten nicht blos Gungl und Beethoven, wir liebten auch Palestrina und Flotow. Unser Herz war so ausgeweitet, dass es für alle denkbaren Liebschaften Raum hatte; wir liebten alle – oder auch keinen. Soll ich noch zuletzt auf die Kritiker und Aesthetiker hinweisen? Ueber die letztern will ich für diesmal schweigen. Die Erstern, die unmittelbar eingreifen sollen in das
II Aber damit taste ich das Recht und den Werth geschichtlicher Bildung an! Im Mindesten nicht. Die geschichtliche Bildung beruht nicht darauf, dass man das Vorübergegangene zurückbringe, wo es nicht mehr leben und wirken kann, sondern dass man es erkenne in seiner wahren Bedeutung und diese Einsicht für die geistige Bildung der Gegenwart zu benutzen wisse. Das Vergangne hat nicht darum das Recht, in unsre Lebenskreise zurückgeführt zu werden, weil es einstmals gelebt hat; sonst sollten wir lieber gleich, wie die alten Aegypter, die Särge mit den Mumien unsrer Vorfahren an unsre Festtafeln schieben. Es kann nur mit uns leben, so weit es unserm Leben selbst noch angehört – das heisst, noch nicht ein wirklich Vergangnes ist. Später kann nur noch sein Gedanke fortleben auf den Erinnerungsblättern der Geschichte und im webenden Geiste des Denkers. Ja, er mag dann einem seligen Schatten gleich heranschweben in die einsame Weihestunde des Schaffenden und ihn als aufzuckende Eingebung machtvoll hinausrücken in fremde Regionen. Nur dem lauten hellen Tage des Volkslebens gehört er nimmer. 26 Johann
Strauß (Vater, 1804 –1849), österreichischer Komponist und Kapellmeister, war bekannt für seine Märsche und Walzer. 27 Joseph Gungl (1810 –1889), ungarischer Komponist und Kapellmeister, vor allem berühmt als Verfasser zahlreicher Märsche, Walzer und Polkas. 1843 hatte Gungl in Berlin eine eigene Militärkapelle gegründet, mit der er in Europa und sogar in den Vereinigten Staaten konzertierte. 28 Wahrscheinlich eine Anspielung auf Shakespeares gleichnamiges Drama Henry IV (ED 1598). 29 Muse der Hymnendichtung, des Tanzes, der Pantomime und der Geometrie. 30 Konnte nicht nachgewiesen werden. 31 (Frz.) in Ermangelung eines Besseren.
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Bewusstsein des Volks über die einzelnen Kunsterscheinungen: stehen sie – wieder einzelne Ausnahmen abgerechnet – etwa höher, als die Masse, der sie das Stichwort zu geben scheinen, das sie im Grunde erst jener abgehorcht haben? Was helfen uns ihre willkührlich ohne Begründung, ja ohne Grundsatz ausgetheilten Phrasen: das [156] und das Werk sei schön oder nicht schön, originell (nämlich, was sie in ihrer Unkunde überrascht), oder nicht, melodienreich (etwa als wollte man ein Gedicht damit beloben, es habe viele schöne Gedanken oder Gefühle oder Verse in sich) oder melodienarm? Ist es ihnen Ernst gewesen, sich zuvor selber im Kunstgebiet einheimisch zu machen, in dem sie uns Führer sein wollen? Haben sie sich durch eigne künstlerische oder wissenschaftliche Werke uns karakterisirt und beglaubigt – oder ist es ihnen möglich, das in dem Gedränge von tausend Berichtchen und Recensiönchen nachzuholen, deren jede in wenig Zeilen eingesperrt werden muss und höchstens einmal, wenn es etwa eine Oper gilt, zu einer Auslegung des Hergangs, zu einigen allgemeinen Phrasen – und zu der Versicherung Raum giebt: dass zu näherm Eingehen kein Raum vorhanden sei? Selbst über die auffallendsten und beliebtesten Erscheinungen der Zeit hat die Kritik nur in seltnen Fällen Licht verbreitet. [161] Noch einmal rufen uns die Lehrenden heran und verlangen gerechtes Gehör. „Wie sollten wir“ – können sie meinen Bemerkungen entgegnen – „uns dem Einflusse des Tages entziehen, von dem wir doch leben müssen? Wenn wir diese junge[n] Damen, die in den Salons der eiteln Mütter glänzen sollen, diese jungen Modeherrn, die uns aus dem gestrigen Concert von Thalberg oder Littolf 32 [sic] zulaufen, zu Euern veralteten Beethovens und Mozarts führen, mit andern als den „En vogue Sachen“ oder den unmittelbar dahinzielenden Vorübungen beschäftigen wollten: wir würden in vier Wochen unsern Kredit und in drei Monaten unsre Schüler und unser Einkommen verloren haben!“ Mir liegt nicht ob, anzuschuldigen; daher lasse ich auch unerörtert, wieweit es möglich, sich gegen den schlechten Einfluss der Tagesrichtung zu stemmen und das Bessere trotz aller Hindernisse festzuhalten. Grundlos ist jene Vertheidigung gewiss nicht. Aber sie ist nur ein Beweis mehr für die Ansicht von dem bisherigen Kunstzustande, die sich uns nach jeder Richtung hin vor das Auge stellt. Wollten die Lehrer sich auf die Kritik berufen, die ebenfalls im Ganzen für und nicht gegen die Zeitrichtung – also auch nicht für das edlere Streben der Lehrer sich bethätige: ich müsste wieder beistimmen und wiederum jene Ansicht daran bestärkt finden. Und endlich: Bietet uns die Wirksamkeit der Komponisten – der Künstler, die das Neue, den Fortschritt uns zubringen, in denen Lehrende, Urtheilende, Aufnehmende den frischen Born des Lebens finden sollen, einen andern Anblick, als den überall hervortretenden? Es müsste wunderbar zugehn, wenn nicht auch in den schaffenden Künstlern der Geist ihrer Zeit obwaltete, wenn er nicht in den anerkanntesten und wirksamsten vorwaltete. In jeder Zeit zwar giebt es Künstler, die im Sinn oder nach der Manier einer vorangegangenen Periode weiter bilden; ihr Wirken aber ist nicht eigentlich Schaffen, sondern Wiederholen zu nennen und kann nur vorhandne Vorstellungen verbreiten und verwässern, nicht aber frisches Leben erwecken. Dann treten von Zeit zu Zeit tiefsinnige schöpferische Geister an den Tag, denen in einer gewissen
32 Henry
Litolff (1818 –1891), englischer Klaviervirtuose, Komponist und Musikverleger.
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Vorahnung oder einem Vorausblick die Idee einer erst kommenden Zeit aufgegangen und zum Lebenspunkt für ihr Schaffen geworden ist – etwa wie bisweilen die Luftspiegelung am hohen Meeresgestade Schiffe vorauszeigt, die noch weit vom Horizont entfernt sind, wo man sie wirklich erblicken könnte. Mögen diese selten erscheinenden, zu bedenklichem Loose Berufnen in der Unerschütterlichkeit ihres Bewusstseins Trost und Stärke finden! Die Gegenwart ist ausser Stande, sie voll anzuerkennen und ihnen zu lohnen. Dies sind indess einzelne und beschränkte Ausnahmen. Die Regel, welche in der Natur der Sache liegt, ist die: dass in den Künstlern keine andre Idee und Gesinnung leben und wirken kann, als die ihrer Zeit und ihres Volkes. Die ganze Kunstgeschichte giebt, wofern man nur jede Zeit und ihre Künstler klar anschaut, Zug um Zug in jedem Mann und seiner Zeit Beweis dafür. Der Karakter aller griechischen Kunst ist unmittelbarer Ausdruck griechischer Nationalität und Zeit: derselbe heitre Himmel, dieselbe Naturfrische und Naturbestimmtheit des Daseins, dieselbe Ab-[162]geschlossenheit im Menschenthum, das die Götter nach seinem Bilde schafft, dieselbe Leichtigkeit und Beweglichkeit und Tageshelle, dieselbe Scheu vor dem trostlosen, unmächtigen Jenseits. – Die ganze hebräische Poesie und ihre Fortsetzungen im Christenthum und Islam erhebt sich in der Anknüpfung an ein geistiges Obwalten, an den einen Gott, der die Menschen nach seinem Bilde schuf 34. Das irdische Dasein hat an Weite, Leichtigkeit, Naturbehagen verloren; aber durch die schwarze Pforte des zeitlichen Todes bricht ein Hoffnungsstra[h]l neuen geistigen Lebens von Ewigkeit zu Ewigkeit. – Dante trägt den Kampf der beiden Schwerdter, Papstthum und Kaiserthum, und die gediegne Kraft scholastischer Geistesarbeit mit ihrer Schranke zugleich in sich. – Raphael konnte nur in den Tagen eines Leo35 möglich werden, wo die katholische Kirche noch einmal im Zauberglanz aller Farben, einem todwunden Delphin gleich, schimmerte und sich mit der Hinterlassenschaft des Alterthums aufschmückte – und in ihr verlor. Palestrina konnte nur berufen werden, als seine Kirche bis ins Herz hinein das schmerzlich dringende Bedürfniss fühlte, sich von aller dogmatischen Klügelei und aller Zerfahrenheit eines aus Ueberfülle an Gedanken gedankenlos wordnen Zustandes herauszureissenIII[,] dem „ewigen Worte“ wieder in Heiligung Opfer und Gebet darzubringen, sich wieder menschlich dem Menschen
III Die
Kontrapunktik der vorpalestrinensischen Periode, diese sechsfachen Kanons in 24 Stimmen eines Josquin33 – und jenes gleichzeitige Absingen von vier ganz verschiednen Texten in den vier Stimmen eines Satzes – sie mögen erinnern, dass die obige Schilderung (wenigstens mit dem Wissen und Willen des Verfassers) keinen Zug und kein Wort enthält, das nicht thatsächlich wahr, das etwa nur zum Schmuck oder Anreiz dienen sollte. Jenen äusserlichen Aufputz, jene Reize, die nicht in der Sache selber liegen, habe ich wissentlich nie gesucht, sondern vielmehr als Entstellungen oder Verhehlungen der Wahrheit zu meiden gesucht und verschmäht. 33 Nach dem Alten Testament, wo es heißt: „Und Gott schuf den Menschen ihm zum Bilde, zum Bilde Gottes schuf er ihn; und schuf sie einen Mann und ein Weib“ (Gen 1, 27). 34 Gemeint ist Leo X (1475 –1521, Pontifikat ab 1513), weltlich: Giovanni de’ Medici. Leo X gilt als äußerst kunstliebender Papst, der viele Maler, darunter auch Raffael, mit Aufträgen unterstützte. 35 Marx spielt hier wahrscheinlich auf die Motette Qui habitat (EZ 1520?, ED 1568) von Josquin Desprez (um 1450 –1521) an, die als 6-stimmiger Quadrupelkanon für insgesamt 24 Stimmen komponiert ist.
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zu nähern, so viel der geweihte Priester dem Laien zu nahen vermag. Ueberall, wohin wir uns wenden, tritt dieselbe Wahrheit in ihrer Unvermeidlichkeit hervor. Ja, sie lässt sich noch weiter verfolgen, als oben ausgesprochen worden, und damit noch tiefer begründen. Es ist kein Künstler, in dem sich nicht eine der Richtungen seiner Nation, eine der Strömungen seiner Zeit offenbarte. Der Gesammtinhalt einer Zeit spricht sich in der Gesammtheit ihrer Künstler aus. Also umgekehrt: Die Gesammtheit der Künstler giebt in dem substantiellen Inhalt ihres Wirkens Zeugniss von dem Gesammtinhalt ihrer Zeit. Dieser Gedanke, ohne den weder Kunst noch Künstler (wie mir wenigstens scheint) vollkommen begriffen werden können, lässt überall seine Spuren findenIV und weiset überall für Einzelnes und das Ganze auf den Weg der Erkenntniss. Er umfasst auch jene Künstler – die Nachfolger und Nachahmer einer ausgelebten und die Vorboten einer erst noch kommenden Zeit – die oben einstweilen als nicht bezeichnend für ihre Zeit erschienen; denn in jede Zeit lebt die vorhergegangene hinein und jede Zeit trägt den Keim, also auch das Vorgefühl ihrer Zukunft in sich. Blicken wir, um uns unbefangen sicher zu stellen, noch einmal auf fremde Beispiele. Im letzten Theile des vorigen Jahrhunderts begeistert sich Klopstock für den ewig wahren und darum ewig dichterischen Inhalt des neuen Testaments und bezeichnet damit: dass derselbe nicht länger mit blos theologischen Augen angesehn, nicht mehr als blosse Offenbarung gläubig stumm und ohne daran zu rühren verehrt, sondern aus dem verschimmelnden Kirchenschatz in das freie natürliche Leben herausgegeben werde, um nun im Menschenthum menschlich aufzugehn37Goethe (angeregt besonders durch Rousseau) stellt gegen verrottete Satzungen, unlebendige Verhältnisse, todtes Wissen und Klügeln und das Pathos leerer Prätension die Wahrheit, Lebendigkeit, Frische und beseligende Innigkeit des Naturgefühls wieder her. Schiller, der kühne Sohn der deutschen Geistesrevolution und der begeisterte Zeitgenoss der französischen Stürme, lässt gegen die verderbte Gesellschaft, gegen höfische und politische Verstrickung den unwiderstehlichen Ruf der Freiheit erschallen. – Und nun in unserm Gebiete. Seb. Bach bewahrt mit der Herzinnigkeit und seelenvollen ganz rückhaltlosen Hingebung der ersten wahrhaften und damals vollberechtigten Pietisten die Offenbarung als ein zugleich Geheiligtes und als den tiefsten und wahrsten Inhalt und Ausdruck des Menschenthums. Händel abentheuert auf Glück in Italien, ohne seine deutsche Geradheit aufgeben zu können, die nur in den grosssinnigen Verhältnissen des freien, durch und durch protestantischen und doch kirchlich (wenn auch in grossartigen Formen) gebundnen englischen Volkslebens Freistatt und Rednerbühne gewinnt.
hier, sondern in meiner (hoffentlich bald vollendeten) Musikwissenschaft und später vielleicht in einem geschichtlichen Werke findet sich Raum, diesen Gedanken vollkommen zu begründen und auszuführen.36 IV Nicht
36 Im
1898 herausgegebenen Nachlass Marx’ fanden sich Vorarbeiten zur „Musikwissenschaft“ und „Musikgeschichte“, die Marx lange Zeit beschäftigten, welche er jedoch nie vollendete (vgl. Siegfried 1992 Das Wirken Adolf Bernhard Marx’, S. 240). 37 Friedrich Gottlieb Klopstock (1724 –1803), deutscher Dichter, hatte es sich in seinem Epos Der Meßias (ED in Teilen: 1748, 1751, 1755, 1768, 1773) zur Aufgabe gemacht, das Neue Testament in Hexametern nachzudichten und damit zugleich zu ‚aktualisieren‘.
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Der schmiegsamen Lakaienseele eines Hasse gelingt es schon besser, sich in die welschen Formen und Reize hineinzuschmeicheln und sie mit seiner Frau dem polnischsächsischen Augustus zuzuführen.39 Währenddem findet die abgekühlte und engbürgerlich gewordne Andacht der protestantischen Gemeinden in Graun’s Tod Jesu40 ihre anerkannteste Stimme. Und zum Zeugniss, dass „die Gesellschaft“, der Hof schon anderswo sein Genügen zu suchen gewohnt sei, treten zwischen die bürgerlich treuen Kirchenlieder Arien in welscher Façon und Ausschmückung. Hiller aber, indem er Händel’s Riesengestalt anstaunt und im Vaterland einheimisch machen möchte, schneidet – und zwar wohlgemeint – die wallenden Absalonslocken41 seines Riesen zum deutschbürgerlichen Zöpfchen zurecht und schnürt die grosssinnige Leidenschaft des Helden in die Korsetts des ModezwangsV hinein.42 Er spinnt mit dem Dichter Weise idyllische Liederspiele nach dem Herzensbehagen der enggedrückten deutschen Häuslichkeit,43 während Gluck erst in Frankreich sich selbst zu erkennen und darzustellen vermag, wo ein Drama in grossartig geordneten Formen, wo die Heroengestalten des Alterthums und das nahe Wehen der hervordringenden Freiheitsluft ihn erwarten.44 Blicken wir nun auf die Komponisten der Gegenwart, was finden wir? – In der nächsten Vergangenheit zuvörderst Rossini, der süsse Schwelger, der geniale Vergnügling, seiner Genüsse und der Bewunderung Europa’s und des anspruchsvollen Dringens auf dramatischen Ernst müde, wird Fischfänger;45 sein Sohn Bellini
V Man
sehe seine Ausgabe des Händel’schen Judas Maccabäus und seine Vorrede dazu.38
38 Johann
Adolf Hasse (1699 –1783), deutscher Komponist, wirkte vornehmlich in Italien als meistgefeierter Komponist italienischer Opern seiner Zeit. Hasses Frau war die berühmte Primadonna Faustina Bordoni (1697 –1781). Zusammen wirkten sie von 1733 –1763 am Dresdner Hof unter König August III. 39 Carl Heinrich Graun (1703/1704 –1759), deutscher Komponist und Sänger. Sein Passionsoratorium Der Tod Jesu (UA 1755) war vor der Wiederaufführung der Matthäus-Passion Johann Sebastian Bachs (1829) die meistgespielte Passionsmusik in der preußischen Hauptstadt. Doch auch nach der Bach-Renaissance ab den 1830er Jahren hielt sich das Stück noch bis 1884 in dem durch seinen konservativen Musikgeschmack geprägten Berlin als fester Repertoire-Bestandteil am Karfreitag. 40 Abschalom (auch Absalon), ein vermutlich um 1000 v. Chr. lebender Sohn König Davids, dessen biblische Darstellung in 2 Sam 15 –18 seine Locken als Kennzeichen seiner Männlichkeit hervorhebt. 41 Siehe Hiller 1789 Auszug der vorzüglichsten Arien. 42 Johann Adam Hiller (1728 –1804), deutscher Komponist, Kapellmeister, Thomaskantor und Musikschriftsteller, hatte mit seinen dem Zeitgeschmack entsprechenden Bearbeitungen von Händel’schen Oratorien für die von ihm geleiteten Berliner Aufführungen des Messiah im Jahre 1786 sowie im folgenden Jahr Judas Maccabaeus maßgeblichen Anteil an der Verbreitung der Oratorien Händels in Deutschland. 43 Hiller schuf in Zusammenarbeit mit dem Dichter Felix Christian Weiße (1726 –1804) mehrere Singspiele, u. a. Der lustige Schuster (UA 1766), Lottchen am Hofe (UA 1767), Die Liebe auf dem Lande (UA 1768), Die Jagd (UA 1770). 44 Christoph Willibald Gluck wirkte von 1770 bis 1779 in Paris, wo er seine in Wien begonnenen Bemühungen um eine Reform der Oper fortsetzte. Kompositorischen Niederschlag fanden seine reformatorischen Ideen u. a. in den Opern Iphigénie en Aulide (UA 1774) und Iphigénie en Tauride (UA 1779) sowie in den französischen Bearbeitungen von in Wien entstandenen Werken wie Orphée et Euridice (UA 1774) und Alceste (UA 1767). Als Sujets seiner in Paris komponierten Opern dienten ihm antike Mythen und Stoffe. 45 Gioachino Rossini (1792 –1868) hatte sich, nachdem er 1829 Guillaume Tell vollendet hatte, von der Komposition von Opern zurückgezogen und in Italien eine ertragreiche Fischzucht betrieben.
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zehrt sich in Wehmuth auf, sein Verflacher Donizetti verliert Sinn und Besinnung;46 auch die Nachkömmlinge wissen keinen neuen Sinn zu finden. Gegenüber Weber schliesst sich mit seinem ersten und grössten Erfolg dem Erwachen des deutschen Volksgeistes an. Und wie der verkommt, muss er an adlicher Frauenhand in die verkommene mittelalterige Ritterlichkeit zurück, versteht sich dazu, die Engländer mit einem ausser aller Zeit stehenden Märchenspiel (nicht ohne merkliche Annäherung an Rossini) zu unterhalten, – stirbt in den Anstalten zu neuem Lust- und Lebensspiel.47 Auber aber unterhält die unmusikalischen Franzosen mit trockener Minauderie48 und heisser, unter der Maske kokett sich verrathender Lüsternheit, bis in seinen Opern die Musik thatsächlich (auch äusserlich, wie zuvor innerlich) zur Nebensache wird. Und nun in nächster Nähe ist es bezeichnend, dass ein blosser Exekutant und Uebertrager, Liszt, nicht etwa in jenen Eigenschaften, die ihn auf das Höchste auszeichnen [163] (wo es nicht auf Verständniss tieferer Werke ankommt), sondern als Ebenbürtiger und Gleicher der schaffenden Künstler gefeiert wird. Sein Name führt uns in den Salon, in diesen Parfüm des bisherigen Kunst- und Modelebens; er soll auch der einzige hier ausgesprochene bleiben. Was ist nun auf diesem weiten prosaisch taglichten Felde angebaut? Wer weiss nicht, wie wohlfeil jene Etüden und Rhapsodien und Transscriptionen sich aus einigen entlehnten „Motifs“, aus einigen krankhaft herausgeseufzten Liedmelodien und den gränzunbewusst wiederkehrenden Arpeggio’s zusammenleimen? Wer vermöchte da, – oder in diesem durch alle Verlagshandlungen sich hinwälzenden Heerwurm von „Liedern ohne Worte“49 die Entfaltung eigenthümlicher und mannigfaltiger Gedanken, Empfindungen oder nur Gestaltungen zu bewerkstelligen oder aufzuweisen, wo die unerlässliche Grundbedingung einer engen Form und einer stets und durchaus glanz- und klangvollen, äusserlich schimmernden Darstellung jede Vertiefung, jede eigenthümliche Innigkeit, jedes reichere Durchleben und Durchführen eines Gemüthzustandes von vorn herein Jedem unmöglich macht? In der splendiden Leerheit dieser rastlos auf- und absäuselnden und sausenden und brausenden Arpeggien, – in dem lammfrommen Nichtswollen, in dem unschuldvollen Nichtsaussprechen dieser Lieder, die beinahe gesungen werden könnten, wenn das Wort seine Kraft, zu binden und zu lösen, herzugethan, und man es nicht hätte blos herzuahnen lassen zum süssen Spiele, –
46 Gaetano
Donizetti (1797 –1848) litt seit 1843 unter den Symptomen einer Syphilis-Erkrankung. Maria von Weber (1786 –1826) hatte mit seiner Oper Der Freischütz (UA 1821) großen Erfolg. Seine nächste vollendete Oper Euryanthe (UA 1823) wurde jedoch vor allem wegen des von Helmina von Chézy (1783 –1856) verfassten Librettos kritisiert. Die letzte Oper Webers, Oberon (UA 1826), entstand für die Londoner Royal Opera. 48 (Frz.) Geziere. 49 1835 veröffentlichte Felix Mendelssohn Bartholdy in seinem op. 30 erstmals eine Sammlung von Klavierstücken unter dem Titel „Lieder ohne Worte“, denen noch sechs weitere Hefte folgten. Nur insgesamt fünf Stücke dieser Sammlungen tragen jedoch neben dieser Gattungsbezeichnung noch einen individuellen Titel. Hierzu zählen op. 19 (EZ 1829 –1830); op. 30 (EZ 1833 –1834); op. 38 (EZ 1836 – 37); op. 53 (EZ 1839 –1841); op. 62 (EZ 1842 –1844); op. 67 (EZ 1843 –1845) sowie die posthum erschienenen op. 85 (EZ etwa 1834 –1845) und op. 102 (EZ 1842 –1845). Marx’ Kritik bezieht sich hier offenbar auf Liszts Liedtranskriptionen, die als Übertragungen für Klaviersolo in einem ganz wörtlichen Sinne ‚Lieder ohne Worte‘ sind. 47 Carl
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da wurden uns die meisten Stunden abgeschmeichelt, die wir im reinigenden und kräftigenden Stahlbade tondichterischen Ergusses zu leben gedachten und nun im lösenden Schlummer verträumten. Nicht einmal technische Bildung war da erfodert oder zu beweisen. Jeder Klavierspieler, der eine Weile geathmet hatte die musikschwangere At[h]mosphäre, war schon ohne Weiteres Komponist, – und im Grunde so geschickt wie jeder andere, das hundertmal Gesagte noch einmal zu sagen. Die Kunst sank hier zum Metier herab und vollbrachte sich so unfehlbar und schimmervoll, wie die bunten Stickereien unserer Damen auf den abgezählten Maschen des Canevas. Und dieses Wesen überbreitete alle Salons und alle Ladentische der Verleger, dass für Besseres kaum ein Plätzchen blieb. Sehr blind oder ungerecht müsst’ ich sein, wäre mir das Bessere neben der Sündfluth des Tages entgangen. Vielmehr – und das erkennt Niemand mit mehr Hochachtung als ich, das ist ein Grundstein zu unser Aller Hoffnung für die Zukunft – vielmehr hat sich vielleicht seit einem Jahrhundert kein so beharrliches und kräftiges Ringen zugleich nach ausgebildeter Kunsttüchtigkeit und Erweiterung des Bildungskreises in gar Vielen hervorgethan, als eben in den verflossenen Jahrzehnten. Diese edlen Jünger der Kunst – und die Schaar ist nicht klein – wollen ihren Lebensberuf nicht mehr in dumpfer Handwerkmässigkeit üben, nicht mehr der blossen Routine (wie einst Mozart’sche Schüler, z. B. Süssmaier50, und die meisten Italiener) in diesem oder jenem Fache sich hingeben. Ihr Streben ist auf Allseitigkeit und sichernde Bewusstheit gerichtet, sie verschliessen sich nicht länger in ihrem nächsten Berufskreise, sie bedürfen erweiterter Geistesbildung und suchen sie. Der Musikanten werden weniger und der Künstler mehr. Nur Eins hat gefehlt, ohne das alle Bildung und Geschicklichkeit nicht Macht hat, die ewige Palme künstlerischen Vollbringens zu erringen: – eine Idee, die den Künstler über sein Persönliches gleichsam hinaus hebt, die Begeisterung entzündet in der sehnsüchtig schwellenden Brust – jene wahre Begeisterung, die Eins ist mit dem lichtvollsten und liebeglühendsten Durchdringen des Gegenstandes zu neuem Dasein, die sich über die blosse Entzündlichkeit der Seele unterm Schaffen so rein und hoch erhebt, wie der Azur des Himmels über die niedrig engbegränzte Erde – die weit hinausfliegt über alle Geschicklichkeiten und Glücksgriffe des Talents als ein Genius, der die Völker in eine neue lichtere Zukunft hinüberwinkt. Dies Eine lässt sich nicht geben und erlangen. Es wird auch nicht zufällig, heut oder morgen etwa, Einem gegeben. Es entzündet sich an der Glut einer Idee, die die Zeit – oder die Zukunft in sich trägt, schlägt blitzgleich in den Busen, der sich zu erschliessen auserkoren war und der nun den Funken mit entzückensvollem Schmerz in sich hegen muss, bis er in lichter Flamme herausbricht und emporlodert. Dieses Eine ist, was Goethe gemeint hat in dem unsterblichen Verse: Sagt es Niemand, nur den Weisen, Weil die Menge gleich verhöhnet:
50 Franz Xaver Süßmayr (1766 –1803), österreichischer Komponist und Schüler Mozarts, bekannt vor allem als Bearbeiter des Mozart’schen Requiem-Fragments, das bis heute überwiegend in der von Süßmayr ergänzten Fassung erklingt.
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Das Lebend’ge will ich preisen, Das nach Flammentod sich sehnet. ................... Und so lang du das nicht hast, Dieses Stirb! und Werde! Bleibst du nur ein trüber Gast Auf der dunkeln Erde.51 Und es ist das, was in der Interesselosigkeit und Entleerung des allgemeinen Lebens, in der man verschwimmen und verkommen oder in sich selber zurückkehren und sich abschliessen musste, kaum werden, gewiss nicht im Volke durchdringen konnte. Die gefeiertsten Talente bezeugen das am deutlichsten. Denn in ihnen verband sich erfreuendste Befähigung und hebendes Glück und es fehlte selbst das ausgesprochene Bedürfniss nicht, das Neue zu erlangen, den Schritt vorwärts zu thun, aus dem ausgelebten Alten in die verheissne oder von Allen geahnte neue Zeit. Hier ist zunächst Mendelssohn’s Standpunkt bezeichnend. Gewinnendste Persönlichkeit, vollendete gesellschaftliche Bildung, die günstigsten Verhältnisse von der Wiege bis zum Grabe, virtuosische Ausübungskunst, höchste Gewandtheit in allen Kompositionsformen, Erfindungskraft durch jene Gewandtheit und ein glücklich kombinirendes ausserordentliches Gedächtniss gehoben, ein feiner Sinn für Maass und Schicklichkeit in der Kunst, von Kindheit bis ans Ende die machtvolle Förderung erwärmender Gunst – was hat ihm gefehlt? – Nicht einmal die weitverbreitete Ueberzeugung, dass ihm der Genius erschienen sei. Er war es nicht. Und konnte es nicht sein. Die geist- und karakterglättende Umgebung der „Gesellschaft“, die früh und mühlos, allzuleicht gewonnene Bildung, der kampflose Lebenslauf, die Glücksgewöhnung, die vielseitige Beanspruchung besonders der ausübenden Thätigkeit, der Mangel an Stille, Einsamkeit und Insichgekehrtheit und innerlichem Kampf und Ringen – Alles hätte sich vereint, den ungestümen Brand einer wahren Begeisterung zu umbauen und zu sanfter Erwärmung, zu freundlichem Schimmer zu ermässigen. Mendelssohn konnte nur – aber mit hohem Geschick, glücklicher Anlage, feinem Geschmack – ausbeuten, wiederholen, verknüpfen, weiterführen, was schon geboren und vorhanden war aus der Idee der grossen Vorgänger. Und er war besonnen, künstlerisch-politisch genug, das mit der erfolgreichsten Berücksichtigung der Verhältnisse zu thun, die höchsten Vorgänge zu ermässigen nach dem Bedürfniss einer mattern und begeisterungsfreien Zeit. Die umfassende Form der neunten Symphonie, bei Beethoven aus innerster Nothwendigkeit, im Sturm und der Bedrängniss genialer Begeisterung hervorgesprungen, gab dem Nachfolger nur das Modell zu seiner ohne alle innre Nothwendigkeit und Berechtigung gebildeten Symphoniekantate;52 aber eben darum war sie gemässigter, fasslicher, ausführbarer, verträglicher als jenes Titanengeschöpf, das die
51 Die Verse entstammen Johann Wolfgang von Goethes, Selige Sehnsucht, in: West-östlicher Divan (ED 1819). 52 Mendelssohn Bartholdy, Symphonie Nr. 2 Lobgesang B-Dur op. 52 (UA 1840).
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Gegenwart überragt, wie der Fels des Prometheus das Wogenfeld, über das mildernde Okeaniden hinziehn. – Paulus ist die folgsame Nachzeichnung der matthäischen Passion, bis auf den recitativischen Zwischenredner und die Choräle.54 Nur dass bei Bach Alles innre Nothwendigkeit war: die Vollständigkeit des [164] evangelischen Textes, also der Evangelist, die Choräle, von der Gemeinde gottesdienstlich mitgesungen; und dass Bach ungemildert und unverhalten in evangelischer Botentreue den ganzen vollen Lebensinhalt des Vorgangs mit allen bitterlichen Schmerzen, durch alle Windungen kämpfender und sich verrathender und verdrängender Karaktere, durch alle Stürme der Wuth hindurch bis zu der Glorie des Opferleidens und der Heiligung hinauf in sich getragen und aus sich geboren hat. Diese evangelische, diese gottesdienstliche Nothwendigkeit war für den Nachfolger nicht vorhanden; und da er den Schein der letztern festhielt, konnte die künstlerische Nothwendigkeit eben so wenig zu Recht kommen. Auch im Elias55 nicht. Zwischen ihm und dem Paulus war der nothwendige Uebertritt des Oratoriums, das ja doch nicht mehr Gottesdienst ist, in die Sphäre des Drama zu einleuchtend geworden, als dass nicht die alte Form hätte verlassen werden und dramatische Belebung entschieden hätte eindringen müssen. Aber auch hier sollte es nicht zu innerlicher Alles bestimmender Evidenz und damit zu künstlerischer Nothwendigkeit kommen. Der deïstisch-pietistische Sinn stand auch hier dem dramatisch vollen Leben ferner, als der christlich-biblische des grossen Vorgängers. Soll ich von der so geschickten und talentvollen und bewunderten – und doch so treulosen Heruntersetzung der Musik zur Aufhelferin bei griechischen Tragödien reden, mit denen sieVI sich nimmermehr vertragen, an denen sie nur unwahr werden und sich verleugnen kann?56 – Soll ich von dem noch talentvollern Meierbeer [sic] und seinem raffinirtesten Kunstgeschick reden, der deutsche Kunst, bewundernswürdige Zeichnung, welschen Kitzel, virtuosische Kehl- und Fingerkünste – der Laute aus dem innersten Herzen, pariser Koketterie, alle scenischen Künste Scribe’s, alle die heftigsten Schlaglichter und tiefsten Schatten französischer Melodramatik, – Alles in seiner Hand hält und Alles ausstreut, Eins ums Andre und neben dem Andern – der Arm in Arm mit einem Rellstab sogar den siebenjährigen Krieg und
VI Nämlich
unsre Musik, nicht das ganz andre Wesen, das den Griechen Musik war. Einiges darüber ist Theil III. meiner Kompositionslehre gesagt,53 Mehr ein andermal nachzutragen. seinem 1836 uraufgeführten Oratorium Paulus reihte sich Mendelssohn Bartholdy bewusst in die Oratorientradition Bachs und Händels ein. Abweichend von den historischen Bezugspunkten verzichtete er jedoch auf die epische Rolle des Evangelisten und (bis auf wenige Ausnahmen) auf den protestantischen Choral. 54 Mendelssohn Bartholdy, Elias op. 70 (UA 1846). 55 Marx 1845 Die Lehre von der musikalischen Komposition III, S. 364 f. 56 Marx spielt hier wahrscheinlich auf Mendelssohn Bartholdys Schauspielmusiken zu Antigone (UA 1841) und Oedipus in Kolonos (UA 1845) an, deren erstgenannte er 1845 im dritten Teil seiner Kompositionslehre aufgrund ihrer nicht zum antiken Versmaß passenden Vertonung kritisiert hat (siehe Marx 1845 Die Lehre von der musikalischen Komposition, S. 364 f.). 53 Mit
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den alten Fritz (oder doch seinen Mantel und seine Antichambre) in Oper bringt,58 der da wieder unbeschreiblich glücklich den Soldatenton trifft und den Unschuldston süsser Liebe versteht, der Allen Alles geben und sein möchte – der es vermöchte, wär’ es nur möglich, dass nicht Eins dem Andern den Garaus machte? [169] Wohin wir blickten – auf das Publikum, in die Konzerte, auf Lehrende und Lernende, auf Kritik und Komposition – überall fanden wir zugleich mit weitester Verbreitung entschiedne Verflachung, Entleerung der Kunst von tiefbelebendem Interesse, von sittlich-würdigender, begeisternder Idee. Wär’ es nur hier an der Stelle, tiefer in das Einzelne zu dringen, das Ergebniss würde sich von Schritt zu Schritt noch einleuchtender, noch vollständiger feststellen, an jedem Komponisten, an jedem seiner Werke, an jedem Erfolg oder Nicht-Erfolge – ja sogar an scheinbaren Aeusserlichkeiten. Oder wär’ es etwa nicht andem [sic], dass die Zustutzung des Waldhorns und der Trompete nach den dilettantischen Einfällen französischer und italienischer Kompositeurs und ihres deutschen Gefolges dem erstern seinen eigenthümlichen Karakter romantischer Schwärmerei, der letztern die heldenhafte Klarheit und Machtfülle verkümmert, aus einem stolzen und eben in der Beschränkung und Einseitigkeit gleich dem Achilles vorleuchtenden „Rufer im Streit“ einen „Hans in allen Gassen“ gemacht?59 Dass die Eindrängung der dumpfen Kornette und stierhaften Tuben zwischen unsere Rohrund Blechinstrumente Alles vermischt und verstumpft hat unter dieser überall deckenden boue de ParisVII?60 Und thun unsre bequemen und wohlfeilen Notenleihinstitute nicht das Ihrige, das Publikum von Tag zu Tag mit Fluthen von Neuigkeiten zu überschwemmen, aus einer Hast und Zerstreuung in die andre zu stürzen, Sammlung, Besinnung, liebendes Hegen und Hineinleben von Tag zu Tag mehr zu stören und zu hemmen? – Ueberall derselbe Anblick: Die Kunst aus ihrem ureignen hochsittlichen, hochgeistigen, schöpferischen und begeisternden Dasein unmächtig hinabgesunken in Unwahrhaftigkeit, Halbheit, zu einem Spiel für müssige Stunden, – wie das Leben der Völker und namentlich unsers Volks in Ermattung, Thatlosigkeit, Interesselosigkeit hinabgesunken war. Dies der Zustand im Ganzen und Grossen. Die schönen Stunden, die demungeachtet im Einzelnen gewonnen wurden, das edlere und oft – so weit es möglich – glückliche Streben, das aus der allgemeinen Mattigkeit und Verfallenheit hervordrang und die
VII Vergl. 57 1844
meine Kompositionslehre Th. IV.57 S. 95, 514 u. a.
wurde in Berlin zur Wiedereröffnung der ein Jahr zuvor abgebrannten königlichen Hofoper Meyerbeers Ein Feldlager in Schlesien (Libretto von Eugène Scribe, deutsche Übersetzung von Ludwig Rellstab) aufgeführt, welches während des Siebenjährigen Krieges spielt und den preußischen König Friedrich II. verherrlicht. Zwar erscheint der König nicht direkt auf der Bühne, sondern lediglich einige ihm treu ergebene Bedienstete (Marx: „Antichambre“), jedoch dient ein Kleidertausch dazu, dem König das Leben vor den feindlichen Truppen zu retten, indem sein berühmter blauer Soldatenrock die Gegner verwirrt. 58 Marx spielt hier auf die Einführung der um 1814 von Friedrich Blühmel und Heinrich Stölzel erfundenen und 1838 von François Périnet weiterentwickelten Ventile für Trompeten und Hörnern an, die zwar einerseits eine chromatische Skala auch in tieferen Lagen ermöglichten, andererseits aber die charakteristischen Klangeigenschaften der Instrumente nivellierten, weshalb sie von vielen deutschen Komponisten lange abgelehnt wurden. 59 Marx 1847 Die Lehre von der musikalischen Komposition IV. 60 (Frz.) etwa: der Schmutz von Paris.
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Erinnerung an die ewige Aufgabe der Kunst und ihre Zukunft wach erhielt: das Alles konnte so wenig für volle Befriedigung gelten, als einzelne wohlgemeinte ja treffliche Unternehmungen, Bethätigungen, Einrichtungen im bürgerlichen Leben das mangelnde Volksleben ersetzen. Ein Donnerschlag hat das Dasein der Völker emporgerissen aus Schlaf und Betäubung zum wachen Leben. Die morschen Verhüllungen und Schranken reissen und brechen, frischer Sinn schaut aus hellen Augen umher und prüft im Vorgefühl freien Daseins und kräftigern Wirkens im Schwunge die Glieder. Lächerlich ist es nur, wenn einige Verschlafene meinen: das sei blos ein Anstoss von Aussen gewesen, etwa von Wien her, oder von Paris. Wie elend wären also die Zustände gewesen – die Ihr doch belobt und deren Störung Ihr beklagt – wenn ein blosser Anstoss von Aussen genügt hätte, sie umzustürzen, ihnen nicht in einem, nein bei [170] allen Völkern, nicht in den Völkern, sondern im Rath aller gerüsteten Könige den Garaus zu machen! Und wer hat den ersten Anstoss gegeben? – Für uns etwa Wien! und für Wien? – Paris! und für Paris? – Neapel! und vorher Rom, die Lombardei, die Schweiz, Polen, Baden;61 – ich sehe nur Umfang, und einen Anfang oder Anstoss nur in der Unhaltbarkeit und Unleidlichkeit der Zustände. Ja, bekennte sich Einer oder ein Verein – eine Propaganda vielleicht – als Anstifter: sie wären selbst nur unwissentliche Diener der Verhältnisse, eine kleine – vielleicht an einem Steinchen etwas höher schlagende Welle mitten im Strome der Ereignisse, dem eine ganz andre Hand das Bette weiset, einherzubrausen winkt und, wenn die Stunde gekommen ist, das: „Bis hieher und nicht weiter! Hier sollen sich legen deine stolzen Wellen!“62 gebieten wird und allein gebieten kann. Auf diesem übergewaltigen Strome fähret dahin, dahin – der Nachen, aus dem die Lieder erschallen, in das Wogengespiel ermuthigend, tröstend, beseelend hineinschallen, hinein in die Herzen der Völker.
61 Bereits im Jahre 1846 war es durch polnische Revolutionäre zu einem regional begrenzten und erfolglosen Aufstand im preußischen Posen gekommen. Auf deutschem Gebiet wurden bei der sogenannten „Offenburger Versammlung“ am 12. September 1847 durch radikal-demokratische, badische Politiker freiheitliche Grundrechte eingefordert und am 10. Oktober 1847 in Heppenheim auf einer Tagung das politische Programm der gemäßigten Liberalen formuliert. Als ein weiterer Vorläufer der revolutionären Ereignisse des Jahres 1848 gilt u. a. der sogenannte „Sonderbundskrieg“: 1847 besiegten die liberalen die konservativ-reaktionären Kantone der Schweiz und schufen in der Folge eine moderne Verfassung für diese, wodurch die Schweiz zum Bundesstaat wurde. Im Januar 1848 kam es in Sizilien und in Norditalien (Mailand, Padua und Brescia) zu nationalrevolutionären Aufständen gegen die Herrschaft der spanischen Bourbonen bzw. gegen die der Österreicher. Diesen Erhebungen folgte am 24. Februar 1848 die französische Hauptstadt durch die Ausrufung der Zweiten Republik, in deren Folge es zur Abdankung des „Bürgerkönigs“ LouisPhilippe kam. Am 27. Februar 1848 griff die Revolution auf Baden über, wo die Mannheimer Volksversammlung, inspiriert von der Februarrevolution in Frankreich, eine Petition an die Regierung in Karlsruhe mit den sogenannten „Märzforderungen“ proklamierte. Am 1. März griffen die Ereignisse auch auf Karlsruhe über, wo es zur Besetzung des Ständehauses des badischen Landtags durch Aufständische kam. Dem schlossen sich am 4. März Erhebungen in München, Heidelberg (5. März) und am darauffolgenden Tag in Berlin an. Am 13. März folgte der Beginn der Revolution in Wien mit dem Sturm auf das dortige Ständehaus, wodurch es zum Rücktritt und der anschließenden Flucht des Staatskanzlers Fürst Metternich nach England kam. 62 Hi 38, 11.
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Thöricht wär’ es, sich ob des stärkern Wellenschlags zu ängstigen, statt fröhlich und kühn – und um so freudiger je kühner – einherzufahren. Oder wollten wir den Strom des Lebens meiden und ausgeworfen werden, wie fauler Seetang an das öde todte Sandufer, ehe denn frisch und muthig mitzuleben den kühnsten Tag, der den Völkern, der unserm so lange tief erniedrigten und gelähmten deutschen Volke je gegeben ward? Freuen sich nicht die Väter noch jetzt der Befreiungskämpfe? und sie waren so kurz! und galten nur Befreiung von äusserm Druck. Und wenn der Nachen, aus dem Polyhymnia in buntglänzenden Schleiern und Gewanden herüberschallen lässt die herzkundigen, herzstärkenden Lieder, wenn der Nachen heftiger schwankt – wenn allzuschwache Planken im Wogenschwall ächzen und sich zusammenbiegen: so sinke, was nicht schwimmen kann! so breche, was nicht halten kann! es war nichts Anderes werth. Aber wir, wir Schiffer wollen nicht mitschwimmen wie die todten Planken, dahingeführt von der Welle Willenlos. Wir wollen wissen, wohin die Fahrt geht, wollen uns zu ihr rüsten, wollen mit Ruder und Steuer sie fördern, – und dann wird unserm Segel der gute Fahrtwind nicht ausbleiben. Denn das ist der Ruf unserer Zeit und ihre erste Mahnung: Dass jeder sich als ein Selbstbewusster auf eignen Füssen feststelle, seinen Platz sich wähle und ihn mit vollgemessnem Recht und nach voller wohlabgewogner Pflicht erfülle – der Musiker an seiner Stelle, wie jeder andre Beruf an der seinigen und jedes Volk gleichermassen. Welches ist nun unsre Stelle, unser Beruf, unsre Pflicht? Wollen wir – dürfen wir in unsrer Kunst nichts sehn, als einen Zeitvertreib, als ein Spiel das vielleicht (vielleicht! die Aerzte und Seelenkundigen werden Nein! sagen) unschuldiger oder unschädlicher ist, als Andre? Können wir Komponisten in unserm Werke nichts erkennen, als ein sinnreich geordnetes und damit ergötzliches Formgewebe (wie einige Theoretiker gemeint und einige Kritiker ohne weitere Prüfung nachgesprochen) allenfalls geeignet zu gewissen Anregungen oder Reizungen des dunkeln Fühlens, aber aller tiefern und bestimmtern Betheiligung des Geistes baar und unfähig? Es wird das von Vielen geschehn und Vielen genügen, also auch seinen Lohn finden, nach der Zeit der Erhebung wie vor. Niemand darf den Einzelnen darum schelten, denn jedes Dasein hat sein Recht; ein Volk, eine Zeit umfasst alle Stufen und Richtungen – neben der vordringenden zu geistiger That und Erhebung auch das Recht, es sich behaglich sein zu lassen im freundlich beruhigenden Spiel und in süsser Musse. Allein der Ruf unserer Zeit fodert rüstigeres Leben. Ihre zweite Mahnung – versteh’ ich sie recht – geht dahin: dass Alles sich männlich kräftige, dass Jeder sich als eignes festes Wesen, als Mann – als Karakter bewähre und bethätige; und wehe den Musikern, wenn sie das nicht vermöchten! Ein alter morgenländischer Despot befahl unterworfnen bis dahin kriegerischen Stämmen, Weiberkleider zu tragen und sich des Lautenspiels zu befleissigen.63 Er erreichte – zunächst wenigstens – seinen Zweck. Auch in unserm nun umgerüttelten und verwandelten
63 Der
Bezug ist unklar.
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Dasein wurde gar viel Zeit und Nervenkraft und Gesinnungsfeste verspielt und hinweggespült im geistleeren und karakterlosen, verweichlichenden oder betäubendem Tongeschwirre. Mag das so forttreiben und über sich ergehn lassen, wer da will oder – nicht anders kann. Die Zeit und ihre rechten wackern Söhne schreiten neben dem weichlich müssigen Spiele vorüber zu rüstigerer erhebender Bethätigung. Ja, wäre das wahr, was Jene, deren ich oben gedachte, behaupten – wär’ es gegen das Zeugniss aller wahren Tondichter, gegen das Bewusstsein aller tiefern Denker, gegen das Gefühl und die Erfahrung, die wir in unserm Innern tragen und die sich selbst in jenen Widersprechenden unwillkührlich einmal über das andre Mal verrathen und Luft machen – wär’ es gegen all diese Zeugnisse wahr: dass unsre Kunst unfähig sei, das Geistesleben in bestimmter sichrer Theilnahme mitzuleben, so wollte Ich wenigstens nicht beklagen, wenn sie zurückgedrängt würde vom Antheil der erhobnen Nationen, die dann Höheres und Beseelenderes zu suchen und zu lieben hätten. Gleichviel, dass dann die lebenslängliche Liebe, die wir unsrer Kunst geweiht, auf einem Irrthum beruhte: – das Wahnbild mag immerhin sich in Wolkendunst auflösen und in die Lüfte verfliegen! Beklagen könnten wir es nur, wenn wir nicht längst vor den jetzigen Tagen gewusst und beherzigt, was uns die Tonkunst istVIII und einzig sein soll.
VIII Zuletzt
am 15. Mai 1847 (in der Vorrede zu Th. IV. der Kompositionslehre) habe ich es für mich bekannt: „Ich nun bekenne unverhalten und freudig: dass mir die Kunst, wie viel Wonnen sie mir auch seit der Kindheit gespendet, dennoch und durchaus keinen wahren Werth zu haben scheint, als soweit und sofern sie fähig ist und gerüstet, das Leben des Geistes mitzuleben, den Flug der unsre Zeit erhebt mitzuschwingen, die Stunde selbst theilnehmend an ihrer That mitzuleben, die der Menschheit in ihrem Vorschreiten schlägt. Wer mit ihr die ledige Musse vertändeln will, der thu’ es. Wer in ihrem Kreise schauprunken will, der hab’ es. Wer am Halbschlummer jener weichseligen Gefühls-Dämmermomente Genügen findet, die uns ausschliesslich als das Gemüthvolle angepriesen werden, als das deutsche Gemüthsleben – aus der thatlosen Schäferzeit, die Deutschland neben dem ehernen Gang der Weltgeschichte hinträumte – dem sei es sammt aller Sympathie der „weichgeschaffnen Seelen“ gegönnt. Wer seine Kunst und sich verkaufen will an die hin und her wankenden Gelüste der Menge, deren Schuld es nicht ist – denn überall, wo die Kunst gesunken, ist sie es nur durch die Schuld der Künstler – wenn sie auf hundert Irrgängen „den unbekannten Gott“, den Verheissnen der kommenden Zeit, sucht und einstweilen vom geweihten Ochsen Aegyptens zum goldnen Kalb Arabiens tänzelt: wer das und all dergleichen will und zu erlangen trachtet, dem bekomm’ es, wie es kann. Die Langweile eurer Salons, der Flitter eurer Virtuoseneitelkeit, eure welschen Lüste, euer Schacher mit den Effecten dreier Länder, euer schön thuerisches Liebedienern rechts mit Klassizität und links mit Romantizismus, mit Allem, was von Bach bis Beethoven und Berlioz Glück gemacht und – sich nachmachen lässt: das Alles will nicht so gar viel bedeuten und sagen gegen die Zeugenschaft der vorangeschrittenen Jahrhunderte und die Foderung einer karaktervollern geisteskräftigern Zukunft, das kann den Beweis und den Trost der Geschichte nicht überstimmen. Die Geschichte aller Künste aber lehrt, dass das wahre Kunstwerk nur aus der reinsten Geisterhebung erblüht und nur [171] unter der Bedingung treuester Widmung und Hingebung an die Idee, ohne alles Rücksichtnehmen und Abmäckeln oder Zuputzen geboren wird zum ewigen Leben; alles Andre achtet sie für Tand, sei es auch durch die Laune des Tags noch so schön vergoldet und gepriesen! die Morgenluft verweht es, wie Asche vergilbter Billetdoux64 von der Flamme des Lichts.“65 64 (Frz.)
Liebesbrief.
65 Marx
1847 Die Lehre von der musikalischen Komposition IV, S. VIf.
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[171] Ist uns aber ein höheres Ziel geboten von der höhern Zeit: so wollen wir uns – und das gilt als dritte Mahnung, die der Aufschwung des Lebens gebieterisch vernehmen lässt – mit verdoppeltem Ernst rüsten und kräftigen, jenes Ziel zu erreichen. Nur für niedre Zwecke, für nahe und geringe Zielpunkte mag lässig gestrebt werden; wir wollen das jenen überlassen, denen die Kunst nur Spiel und Zeitvertreib ist. Sie mögen erhaschen die wohlfeilen Erfolge, die ihnen der Wind des vergänglichen Tages zuweht und wieder aus den Händen der schlaffen Träumer weht, wie schon von jeher ihren Vorträumern geschehn ist. Sie mögen die Aehren lesen, die vom reichen Aerndtewagen der Fleissigen abfallen und mögen sich in ihren Fantasien damit herausputzen, als wär’s auf ihrem Acker gebaut und gewachsen. Sie mögen sich erhitzen und anspannen in der Stunde, wo der persönliche Ehrgeiz oder Gewinnlust sie aufstachelt – und dann in genussvolle Musse zurücksinken oder in äusserlicher Emsigkeit wucherisch wiederholen, wobei ihr Geist nicht mehr arbeitsvoll und mit Hingebung sich zu betheiligen hat. Wenn ein Goethe – der in dem Idiom geschaffen, das ihm und Allen vom frühesten Erwachen des Bewusstseins her das geläufige und eingewohnteste ist – auf keinen Lobspruch so zufrieden hingehört hat, als auf die Bemerkung, er sehe aus wie Einer, der es sich habe sauer werden lassen:66 so dürfen wir, die wir ein geheimnissvolles, räthselhaftes, Vielen tiefverhülltes Idiom zu verwenden haben, nicht meinen, im Halbschlummer des Geistes seiner mächtig zu werden. Spielen und tändeln lässt sich damit, wie Kinder mit den Lettern, aus denen der kundige Setzer Worte gewaltig treffender Kraft zusammenstellt. Aber wirken mit derjenigen Macht der Wahrheit, die in das Tonleben gelegt und aus ihm schon oft übergeströmt ist in die Herzen der Menschen: das ist kein Spielgewinn, das wird nur dem sich vertiefenden, in reiner Liebeswidmung und Treue geweihten Künstlergeiste zu Theil. Ach! wie viel wird verspielt und gelogen in diesen Willkührgriffen in alle Tonarten! wie viel wird gelogen in diesen wundersam graziösen Accorden und Figuren, in diesem hergebrachten Flüsterbeben, in diesem renommistischen Gestampf und Geschrei der Orchester! Wie viel Trug und Heuchelei versteckt sich hinter diesen schmeichelnden Melodien, hinter diesen frommthuenden Engelgesängen, hinter der Scheinheiligkeit dieser
Zitat findet sich in Goethes Aufsatz „Antik und Modern“ (ED 1818), in: Goethe-Werke 20, S. 346 – 353. Darin heißt es: „Bejahrten Personen fällt aus der Fülle der Erfahrung oft, bey Gelegenheit, ein was eine Behauptung erläutern und bestärken könnte; deßhalb sey folgende Anekdote zu erzählen vergönnt. Ein geübter Diplomat, der meine Bekanntschaft wünschte, sagte nachdem er mich bey dem ersten Zusammentreffen, nur überhin angesehen und gesprochen, zu seinen Freunden: Voila un homme qui a eu de grands chagrins! Diese Worte gaben mir zu denken: Der gewandte Gesichtsforscher hatte recht gesehen, aber das Phänomen bloß durch den Begriff von Duldung ausgedrückt, was er auch der Gegenwirkung hätte zuschreiben sollen. Ein aufmerksamer, gerader Deutscher hätte vielleicht gesagt: Das ist auch einer, der sichs hat sauer werden lassen!“ (ebd., S. 347). 66 Das
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Gebete! Hätten wir unter unsern Kritikern einige Talleyrand’s, wie oft müssten wir hören: diese Weisen sind erfunden, um die Wahrheit zu verbergen!67 Wir wollen zu höherm Werk und Leben uns rüsten mit der [sic] tiefdringendsten Verständniss und mit der umfassendsten Allgewandtheit in unsrer Sprache, wie vor uns die Meister, ein Bach, ein Beethoven, gethan – und, dass sie’s gethan, thatsächlich bewiesen; wie Goethe gethan und ausgesprochen. Und wer uns, Lehrer oder Genoss, um diese Vorschule herumführen, wer uns Eins oder das Andre ausreden und scheinbar wohlmeinend ersparen will – wer uns vorredet: diese Handwerksgewandtheit oder dieser Theil der Technik (z. B. die Fuge) brauche der moderne, der romantische (!), der begeisterte Geist des Künstlers nicht, sei vielmehr in Gefahr, daran zu erstarren und zu vertrocknen; – oder umgekehrt: wenn wir nur diese Technik hätten, das Uebrige „gebe dann sich von selber“, oder könnten wir „den Philosophen und Kritikern“ überlassen; – wer uns gar jene unselige Halbwahrheit überlästig in die Ohren schreit, Talent, Genie, Begeisterung sei es allein, was den Künstler mache, alles Uebrige sei unnütz, wo nicht gar vom Uebel: den wollen wir jetzt mehr wie je von uns weisen und stehn lassen, wenn wir ihn nicht zu besserer Einsicht gewinnen können.68 Jene Aufregung und Erhitzung, die man oft für Begeisterung hält, wir können sie auch bei den Wilden, bei den rohesten Menschen, bei den Knaben beobachten. Welche Früchte bringt sie? – keine andre, als die der Rohe oder Unreife schon in sich trägt. Die wahre Begeisterung des Künstlers aber, die nicht ohne eine Idee welche begeistert gedacht werden kann, ist noch niemals einem andern als einem für die Aufnahme der Idee reifen und durchgebildeten Geist zu Theil geworden und kann es nicht. Sie ist der Silberblick aller in Einem Schöpfungsmoment zusammenströmenden Intelligenz, aller Geisteskräfte überhaupt, die sonst nur vereinzelt und ohne Machtfülle sich bethätigen. Diese Begeisterung, ohne die allerdings kein wahres Kunstwerk entsteht, kann zwar nicht willkührlich gemacht oder genommen werden, aber sie muss verdient, es muss die Möglichkeit ihres Eintretens durch unsern werkthätigen Willen gegeben werden. Sonst kommt sie nicht, sonst kann die Stunde des Schaffens uns erhitzen mit dunkler Glut, aber nicht erleuchten mit befruchtendem, beseelendem Sonnenstrahl. – Von jenen seltensten Erscheinungen, die allein den Karakter der Genialität – eine neue Grundidee – in sich tragen, will ich lieber gar nicht reden. Noch nie ist der Genius einem leeren oder rohen Kopfe nahe getreten. Sind wir nun unsrer Liebe, unsers Berufes selbstbewusst und in der Rüstung durchgebildeter Kraft und Verständniss herangetreten, so darf uns – das ist ferner die Mahnung der mündig gewordnen Zeit – die Selbständigkeit und Mündigkeit für unser Lebenswerk
67 Charles-Maurice
de Talleyrand-Périgord (1754 –1838) war ein französischer Staatsmann und Diplomat während der Französischen Revolution, der Napoleonischen Kriege und des Wiener Kongresses. Marx bezieht sich hier wohl auf einen angeblichen Ausspruch Talleyrands: „La parole a été donnée à l’homme pour déguiser sa pensée“ (Die Sprache ist dem Menschen gegeben, um seine Gedanken zu verbergen). 68 Wahrscheinlich spielt Marx hier auf die Hegel’sche Bestimmung des Künstlers im ersten Teil der Ästhetik an, in: Hegel-Werke 13, S. 392 – 403.
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nimmer fehlen. Ist uns die Sprache gegeben, haben wir die Gewandtheit und die Lust zu reden: so darf uns – wenn wir nicht ewig als Unmündige dastehn wollen – auch der Gedanke, der Inhalt für unsre Reden nicht fehlen. Hier rufe ich wieder Kossak’s geistreiche Blätter über die Ausstellung der Maler als Zeugniss über uns Musiker herbei.69 Kossak hat den Hunderten von Bildern mit liebenswürdigster Heiterkeit und Grazie den Dolch der Erkenntniss an die fette Kehle gesetzt; er fand hinter all’ den schönen Farben und Linien – Gedankenbankerott, viel Pinsel, wenig Geist. Ach! wie viel Musik ist schon gemacht und wird immerfort gemacht! Wie oft schon haben diese Flöten geflötet und diese Geigen geschwirrt! diese Posaunen gewüthet, diese Triller gegirrt! Wie oft ist uns schon dieses „namenlose Sehnen“ zugeseufzt und diese fromm gelassne Gemüthlichkeit in gleichmässigen Dosen eingeflösst worden! Wie oft haben wir uns einreden wollen: hier, da sei ein neues, glückliches Motiv, eine neue originelle Wendung, eine innigere Innigkeit, eine romantischere Romantik! Es ist ja nicht wahr. Nicht die Formen sind es, in denen wir das Neue, das Originelle zu suchen haben, das wir im geheimen Gefühl der Uebersättigung herbeiseufzen. Alle Formen, alle Motive und Wendungen und Fügungen sind schon dagewesen, oder von dagewesnen nur unwesentlich und kaum merklich unterschieden. Unsre Kunst wär’ ausgelebt oder an der Gränze des Aberwitzes angelangt (Mancher hat sie mit Ruhm schon betreten) wenn sie eben nur in den Formen lebte. Sie lebt aber, wie jede Kunst, in der Idee, in ihrem geistigen Inhalte. Was nun der natürliche, der kreatürliche Mensch schon mitbringt, das ist schon unzähligemal gesungen und gesagt. Es wird es auch öfter noch und wird ewig sein volles Recht des Daseins behalten. Allein nicht hier, das leuchtet ein: nicht in dem von jeher Dagewesenen und ewig gleichartig Daseienden liegt der Fortschritt, liegt das Neue, das wir ersehnen. Wir gelangen nur dazu, wenn [172] wir unser Dasein erweitern über die kreatürliche Schranke hinaus, wenn wir die Menschheit in ihrer Geistes- und Gestaltenfülle in unserm Geist aufnehmen, damit wir etwas Weiteres und Höheres auszuspenden vermögen, als unser kleines Ich mit seinen Millionenmal schon dagewesenen, jedem andern kleinen Ich längst bekannten kleinen Freuden und Schmerzen. Welcher Jüngling hat nicht schon sein Mädchen im Arme gehabt oder geträumt und die Triebe seiner Liebe, die Schmerzen aus seinem Herzen, seine Wonne an die Sonne des Verschens gebracht? Das ist das Allen Gemeine. Die Liebesglut, das Heldenthum, den Flammentod einer Julia70 zu singen, dazu bedurft’ es des weltumfassenden Dichtergeistes, der die Idee des Menschenthums und die Karakterzüge der Nationen, als so vieler Persönlichkeiten zu seinem Eigenthum gemacht hatte. Wir Musiker dürfen nicht länger, – wollen wir der mündig und kräftig gewordenen Zeit würdig angehören, – uns in dem Gitterwerk unserer Partituren einsperren. Das ist ein Gefängniss für den Geist und keine Wehr gegen die Foderung der Zeit und der mündig gewordenen Völker. Wir müssen hinaus! hinaus in die Welt! Was Vergangenheit und Gegenwart uns in der Geschichte der Nationen und der gesammten Menschheit verkünden, was aus dem Reiche des Geistes geistige
1846 Die Berliner Kunstausstellung. 70 Womöglich unterlief Marx an dieser Stelle eine Verquickung des antiken Dido-Mythos bzw. seiner Gestaltung in Vergils Aeneis mit Shakespeares Romeo and Juliet (ED 1597).
69 Kossak
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Unsterblichkeit gewonnen hat auf der Leinwand des Malers, im Steine des Bildners oder Baumeisters, im Verse des Dichters, im Gedichte der Völker, das wir Mythologie oder Religion nennen, – was uns aufhellen und weiterführen kann in der Erkenntniss, alle Früchte des Menschengeistes, wo sie auch geerntet und wie sie auch gestaltet seien, wofern sie nur den Funken des Lebens in sich tragen, der das Menschenthum beseelt und den Dichter begeistert: – Alles das, soweit unser Arm reicht, ist für uns da, muss unser werden, Nahrung für unsern Geist, Stoff für unser Bilden! Die Grenze dürfen wir nur da ziehn, wo der künstlerische oder dichterische Beruf, wo das Bedürfniss reichster und kräftigster Geistentwickelung, wo das Vermögen des Einzelnen gebieterisch und unableugbar Halt gebietet. Da ist die wahre Mündigkeit und Selbständigkeit für unser Werk errungen, wo wir es aus eigener Kraft hinausführen können über die kümmerliche Beschränktheit der Person in das freie weite Lebensgebiet des Menschengeistes, das allein der würdige und genügende Schauplatz ist für künstlerisches Schaffen. Und hier ergeht der höchste Ruf der Zeit an uns und ihre höchste Verheissung. Wohin sollte vorher unser Herz sich neigen, wenn wir über die Persönlichkeit hinausgingen? Der Blick schweifte irr’ umher über alle Völker und Zeiten, hing sich bewundernd, liebestrahlend an dieses, jenes Bild, weilte in diesem, jenem Jahrhundert, leuchtete bei den Thaten jenes Volks, trübte sich bei den Bedrängnissen eines andern. Es war der Sucheblick eines Einsamen. Jene Griechen, jene herrschaftstolzen Römer, – wie fern standen sie uns Unfreien, uns kaum noch Selbständigen, von der russischen Brutalität, ja von den seeräuberischen Dänen, von den Holländern Bedrückten, deren Reich wir in einem halben Jahrhundert dreimal wiederhergestellt – und sogar die Auslagen geschenkt hatten!71 Jene Stürme der ersten Revolution, konnten sie uns anders als beschämen? die wir neben ihnen unser Recht verschlafen, ja die Volkskraft hinnehmen lassen zu vergeblichem Kampfe gegen die Idee der Freiheit, wie eben jetzt wieder Oestreich seine Söhne für die Knechtung Italiens hinschlachten lässt, während es selbst mühselig um Befreiung, Erhaltung ringt!72 Und jener bewunderte Napoleon! War er, den wir anstaunen, nicht unser Unterdrücker? War es nicht unser Feind, an dessen Drängen sich nothgezwungen die ersten Schritte zu freierm und haltbarerm Staats- und Volksleben schlossen? Von da und in den Befreiungskriegen wurde zuerst uns lebendig fühlbar, welch ein Hochgefühl, welche
71 Hiermit
spielt Marx wohl auf die Befreiung der Niederlande von der Napoleonischen Herrschaft und die endgültige Niederlage Napoleons bei Waterloo, damals niederländisches Territorium, jeweils im Jahre 1813 u. a. durch deutsche Truppen an. Mit der dritten von Marx erwähnten territorialen Wiederherstellung der Niederlande durch Deutschland ist wohl die britische und preußische Neutralität während der sogenannten „Belgischen Revolution“ im Jahre 1830 gemeint, die letztlich zur Loslösung der französischsprachigen Landesteile Flamen und Wallonien von den Niederlanden und damit zur (wenn auch eher unfreiwillig akzeptierten) Wiederherstellung der früheren Eigenständigkeit der Niederlande führen sollte. 72 Während es in Wien am 13. März 1848 zum Ausbruch der Revolution gekommen war, bekämpfte Österreichs Armee unter der Führung von Josef Wenzel von Radetzky zeitgleich die seit dem 17. März in Venedig und Mailand ihren Ausgang nehmenden revolutionären Erhebungen in Norditalien, welche unter dem Schlagwort „Risorgimento“ eine Vereinigung der österreichischen Besitzungen Lombardei, Venetien, die Toskana und Modena mit dem Königreich Sardinien-Piemont anstrebten.
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Kräftigung darin liegt, einem Volk anzugehören, das nicht neben den Ereignissen oder unter ihrem Einherschritt, das selbstbewusst, selbständig und mitthätig in ihnen lebt und die Geschichte mit macht, statt sie neben sich verlaufen oder über sich ergehen zu lassen. Das haben wir nun erlangt. Das Werk des Völkerlebens ist nun unsere Mitaufgabe geworden. Selbständig nach aussen, in eigner Kraft, mit eigner freier Mündigkeit im Innern stehn wir nun, ein freies Volk unter freien ebenbürtigen Völkern. In dieser Erhebung und in dieser Verbrüderung der Nationen ist jede ein höheres, mächtigeres Wesen geworden; und da ist Keiner im Volke, der das nicht empfände, genösse als Hochgewinn an Kraft und Freudigkeit, die Beklagenswerthen ausgenommen, die verkümmert in selbstischer Beängstigung nicht hinausschaun können und hinaustreten mögen an die freiere Luft. Uns, – wofern wir das erhöhte Leben der Völker, unsers Volkes mitleben, wofern wir Künstler, Dichter, Tondichter sein wollen, das heisst Priester und Propheten der Idee, die in den Nationen lebt, die unsere Nation emporträgt und der Lebensfunke jeder erhobenen Brust ist, – uns ruft die Zeit hinaus aus der engen Klause, hinaus aus dem Verschluss des kleinen Privatlebens, der kleinen Gefühle und Gelüste an den jungen Tag des Volkslebens, uns an ihm zu betheiligen, an ihm zu begeistern, in dem erfrischenden Bade der Freiheit die eigne Kraft zu stählen, das eigene Ich zu erhöhn, uns zu würdigen und zu ermächtigen zu neuen, entscheidungsvollen Thaten.
Kommentar Der vorliegende Artikel des in Berlin tätigen Juristen, Komponisten, Musikschriftstellers und 1830 zum ersten außerordentlichen Professors für Musik an der dortigen Friedrich-WilhelmsUniversität ernannten Adolf Bernhard Marx stellt ein Beispiel für dessen rege publizistische Tätigkeit im Kontext der revolutionären Ereignisse im Jahr 1848 dar. Neben Denkschriften und Petitionen zur staatlichen Reform des preußischen Musiklebens73 und Aufrufen zur Selbstorganisation der Musiker74 umfasste das Engagement Marx’, der darüber hinaus selbst federführend an der Gründung des ersten deutschen Tonkünstlervereins 1844 in Berlin beteiligt war,75 auch Stellungnahmen zu rein tagespolitischen Fragen, wie die beiden 1848 in Berlin veröffentlichten Broschüren Unsre Wahlen. Die wichtigste Tagesfrage für jeden patriotischen Preußen sowie Berufung und Beruf des Landtags. Ein Wort zur Verständigung und Einigung an meine Mitbürger eindrucksvoll belegen.
Marx 1848 Denkschrift. Insgesamt liegen von Marx mindestens fünf umfassende Reformpläne für das Musik- und Bildungswesen aus einem Zeitraum von 1832 bis 1848 vor (vgl. die Übersicht über die verschiedenen Reformpläne in Siegfried 1992 Das Wirken Adolf Bernhard Marx’, S. 194 – 224). 74 Siehe Marx 1848 Assoziation im Kunstgebiete. 75 Vgl. hierzu insgesamt Siegfried 1992 Das Wirken Adolf Bernhard Marx’. 73 Siehe
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Marx’ hier abgedruckter Artikel, welcher sich bereits im Titel vorrangig an Musiker und Komponisten richtet, deckt sich in seiner kritischen Gegenwartsanalyse, wonach die Musik in ihrem jetzigen Zustand Gefahr laufe, zusammen mit den alten gesellschaftlichen Kräften in einer demokratischen Gesellschaft zukünftig an Einfluss und Akzeptanz in der Bevölkerung zu verlieren,76 in bemerkenswertem Maße mit mehreren programmatischen Aufsätzen Brendels77 und anderer Autoren der NZfM in dieser aufgewühlten Zeit.78 Dies gilt auch hinsichtlich der Forderungen Marx’ an die Musiker, um ein von zahlreichen ‚jungdeutschen‘ Autoren der Zeit prophezeite ‚Ende der Kunstperiode‘ abzuwenden. Dazu gehört zunächst die Kritik an einer rein auf das virtuose Element beschränkten Musik und Musikausbildung, die Ablehnung einer esoterisch-‚romantischen‘ Musikästhetik sowie die Forderung nach einem stärkeren Gegenwartsbezug im Denken der Komponisten und ihrer Kompositionen, die auf der – ebenfalls bei Brendel explizierten79 – Vorstellung beruht, Fortschritt in der Musik sei einzig in der Erschließung und Verarbeitung neuer Inhalte und Ideen möglich, während ein Nichtbefolgen dieser Forderung zu einem bloß formal-epigonalen Nachschöpfen klassischer Meisterwerke und damit einem Absterben der Kunst führe. Hiermit widersprach Marx implizit dem zu dieser Zeit in der Leipziger AmZ in Form einer großangelegten Artikelserie publizierten Versuch Johann Christian Lobes, „Fortschritt“80 einzig in einer noch dichteren thematisch-motivischen Arbeit oder einer Innovationen auf dem Gebiet des Instrumentenbaus sich zunutze machenden Orchesterbehandlung zu beschreiben. Trotz dieser inhaltlichen Schnittmengen zwischen Marx und Brendel fällt auf, dass der Erstgenannte in der NZfM zu dieser Zeit kaum Erwähnung fand. Einzig Ernst Gottschald wies 1848 in einer publizistischen Auseinandersetzung mit Jean Friedrich Schucht um die Bewertung der künftigen Musikzustände darauf hin, dass Marx „vor Kurzem […] gleichfalls die Zeitereignisse und deren Einfluß auf die Kunst zum Gegenstand seiner Betrachtung gemacht hat, und zwar ganz in demselben Sinne, wie es von dies. Bl. geschah.“81 Wenn auch zeit- und gesellschaftskritischen Diagnosen wie etwa diejenige, die Art der Konzertprogramme sei reformbedürftig, der Musikunterricht müsse wieder verstärkt auf die
1841 hatte Marx diesen Gedanken in seiner Schrift Die alte Musiklehre im Streit mit unserer Zeit formuliert. Dort heißt es bezüglich der Auseinandersetzungen um die zukünftige Gestaltung der Musik in bemerkenswerter Deutlichkeit: „Denn um was es sich hier handelt, das ist nichts Andres und nichts Geringres, als, – auf eine einzelne Seite des Lebens hingewendet, – der Streit, in dem unsre Zeit nach allen Seiten hin mit den edelsten Kräften ringt: es ist der Kampf des Geistigen gegen das Materiale, der freien Erkenntniss gegen die Satzung, des unverhaltlichen Fortschritts gegen Stillstand und Verstockung. Nach allen Seiten und in allen Gestalten wird dieser Streit gefochten; in der Politik wie in der Theologie, in Wissenschaften und Künsten wie in dem Unterbau aller Bildung, dem Lehr- und Erziehungswesen: überall ist es darum zu thun, dass der Geist frei werde. Wie aber derselbe Eins ist in aller Vielheit seiner Bethätigungen: so kann auch der Fortgang zur Freiheit kein einseitiger und theilweiser sein; keine Richtung, keine Angelegenheit wird der wahre Freund des Fortschrittes und der Freiheit gering achten und bei Seite schieben, in der jener allgemeine Streit und Drang der Geister athmet. Und hierin liegt der Anspruch des Musikers auf allgemeineres Gehör, über den Binnenkreis seiner Kunst hinaus“ (Marx 1841 Die alte Musiklehre, S. VI). 77 Siehe vor allem Brendel 1848 Fragen der Zeit II, in: NdS 1 Nr. 8; Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14 sowie Brendel 1848 Fragen der Zeit IV, in: NdS 1 Nr. 17. 78 Siehe etwa Kretschmann 1848 Romantik in der Musik, in: NdS 1 Nr. 11. 79 Siehe etwa Brendel 1848 Fragen der Zeit IV, in: NdS 1 Nr. 17. 80 Siehe Lobe 1848 Fortschritt, in: NdS 1 Nr. 7. 81 Gottschald 1848 Ein Prophet des Stillstands, S. 300. 76 Bereits
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ästhetische Qualität der behandelten Stücke Wert legen oder die Allgemeinbildung der Musiker müsse gehoben werden – in dieser Zeit durchaus verbreitet waren, so zeigt der vorliegende Artikel zugleich, dass die hier beschriebene gedankliche Nähe zwischen Marx und Brendel, die sich beide in ihrer Argumentation auf Teile der Hegel’schen Philosophie beziehen, keinesfalls zwangsläufig zu einer Übereinstimmung hinsichtlich der Frage führen musste, welche Komponisten den angestrebten musikalischen Fortschritt letztlich repräsentieren beziehungsweise bewirken könnten: Während Brendel ab 1851 öffentlich für das Werk Wagners eintrat,82 sah Marx – der sich zunächst für mehrere Jahre aus dem musikpublizistischen Tagesgeschäft zurückgezogen und erst 1855 mit seiner umfangreichen Schrift Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Pflege. Methode der Musik wieder in Erscheinung getreten war – in der Musik Beethovens einen nicht wieder erreichten Höhepunkt, in der ‚Zukunftsmusik‘ jedoch einen Irrweg.83 Wie schon in Marx’ Aufsätzen des Jahres 1848 angedeutet, wird in der sieben Jahre jüngeren Veröffentlichung noch deutlicher vor Augen geführt, dass dessen reformerische, mehr auf das praktische Musikleben bezogene Positionen keineswegs mit Brendels Eintreten für Wagner oder Berlioz einhergehen mussten, ohne zugleich für die Zeitgenossen in den Verdacht zu geraten, formalästhetische Standpunkte zu vertreten oder jegliche gesellschaftlich-politische Berührungspunkte der Musik zu negieren.
82 Siehe Brendel 1851 Einige Worte über Wagner, in: NdS 1 Nr. 25 sowie Brendel 1852 Zum neuen Jahr, in: NdS 1 Nr. 27. 83 Siehe Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 143 –152. Vgl. hierzu auch den Kommentar zu Krüger 1855 Marx und Brendel, in: NdS 2 Nr. 79.
Nr. 10 | E. [Eduard] Krüger, „Beziehungen zwischen Kunst und Politik“, in: AmZ 50 (1848), Nr. 25 (21. Juni), Sp. 401– 405.
Beziehungen zwischen Kunst und Politik.
Die gewaltige Eröffnung deutscher Freiheit hat auch die künstlerischen Gemüther berührt, hie und da zu leidenschaftlicher Parteinahme verzückt und bereits wunderliche Früchte getragen. Wunderlich sagen wir, insofern es zu verwundern ist, wie ein grosses Wogen und Stürmen der Zeit die Flachköpfe so rasch überflutet, so dass sie, wie sich selbst, auch die übrige Welt auf den Kopf stellen müssen. Was soll doch die Phrase bedeuten: „Welchen Einfluss wird die politische Freiheit auf die Tonkunst üben?“1 Sie bedeutet, dass Derjenige, der das sagt, weder Freiheit noch Kunst begreift. Die politische Bewegung wirkt überall hin, sie ergreift Einzelne und Völker, sie gestaltet oder zerstört – alles das sind Prädikate, die der Kunst ebenfalls zukommen: daraus schliesst nun der gutmüthige Anfänger im Denken, es summire sich offenbar eine Wechselbeziehung, es müsse sich berechnen lassen, wie die Bewegung aus dem staatlichen in das künstlerische Gebiet einfliesse. O ihr guten Leute und schlechten Musikanten!2 Darum, weil ein Musikus auch ein Mensch, und wahrlich ein ganzer Mensch,3 also auch ein Bürger und Glied des Vaterlandes sein soll – darum rechnet ihr flugs her, er müsse nunmehr auch wissen in lit[t]eris et musicis4 den Parteischild zu heben, um fortschreitender oder stillstehender, republikanischer oder monarchischer Kontrabassist zu werden! Wahrlich, die Philosophen, die dem Künstler eine merkliche Grösse der unteren Seelenkräfte5 zuschreiben, werden sich dieses triumphirend in’s Gedenkbuch tragen, zum Zeichen, dass die Musikanten auch heute noch nicht denken gelernt haben.
1 Hiermit
bezieht sich Krüger indirekt auf Franz Brendels Artikelserie „Fragen der Zeit“, in welcher dieser u. a. die Frage gestellt hatte, welchen Einfluss die „Ereignisse der Gegenwart“ auf die „Gestaltung der Kunst“ ausüben sollten (siehe Brendel 1848 Fragen der Zeit II, in: NdS 1 Nr. 8). 2 Das Zitat stammt aus E. T. A. Hoffmanns Lebens-Ansichten des Katers Murr (ED 1819/1821), in: Hoffmann-Werke 5, S. 173. 3 Indirekte Anspielung auf einen angeblich aus einem Gespräch mit Joseph Pleyer am 6. August 1822 stammenden Ausspruch Johann Wolfgang von Goethes: „Wer Musik nicht liebt, verdient nicht, ein Mensch genannt zu werden; wer sie liebt, ist erst ein halber Mensch; wer sie aber treibt, ist ein ganzer Mensch“ (zit. nach Borchmeyer 2002 Goethes Musikästhetik, S. 413). In den Frankfurter und Münchner Goethe-Werk-Ausgaben ist das Zitat nicht nachgewiesen. 4 (Lat.) in Schriften und Musikstücken. 5 Seit der frühaufklärerischen Philosophie Christian Wolffs und der von ihm von Leibniz übernommenen und abgewandelten Monadenlehre wurde zwischen „oberen“, dem Verstand, und den „unteren Seelenkräften“, den Sinnen und dem Empfinden, hierarchisch unterschieden.
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Was soll denn innerhalb der Tonkunst von jenen äusseren Einflüssen affizirt werden? Gibt es eine republikanische oder monarchische Harmonie, Melodie etc.? Oder wird in einem republikanischen Staate der Republikaner jedes Mal die Posaune besser blasen, als der Aristokrat? Gedenket doch des Jammers, als vor’m Jahre ein Organist irgendwo in der Residenz angestellt ward, weil er das königlich-orthodoxe Bekenntniss beschworen – was gab’s für Geschrei darüber, dass nicht das Verdienst, nicht die Kunst, die Musik selber, sondern die königliche Gesinnung zu Ehren kam! – We-[402]der die Instrumente noch die Dreiklänge, noch die Begabung und Einsicht des Künstlers wird sich viel um den Frankfurter Bundestag6 kümmern. Und dass die Kunst so im Innersten von der Politik unberührt bleibt, wie kein Besonnener leugnen kann, das ist ihr weder Ehre noch Schande; sie hat es mit allen anderen Geistesarbeiten, ja selbst die Politik nicht ausgeschlossen! – gemein, ihren eigenen Himmel und ihre eigene Hölle zu besitzen. Welche Früchte es trägt, wenn Einem auf das politische Gewissen gelauert wird, dessen geistige Thaten man nöthig hat, das sehen wir ausser jenem Organistenbeispiel am Schönsten und Deutlichsten an der Schweiz, wo der Lateinlehrer nicht nach seiner Latinität, sondern nach der Scala des Parteithermometers angestellt wird, die Jungen aber um ihr Latein kommen, was denn doch auch, trotz aller Glaubensbekenntnisse, gelernt sein will. Die Declinationen aber richten sich nicht nach der Bundesregierung, wie bekannt. – Umgekehrt: wolltet ihr begeisterte Parteikünstler etwa den Bundespräsidenten für Frankfurt nach seiner musikalischen Begabung auserwählen, da käme das Vaterland in dieselbe Lage, wie die Musik und die Latinität nach jenem Maassstabe. Aber die Sinnvolleren unter unseren politischen Tonkünstlern wollen es wenigstens so gröblich nicht angefangen wissen; haben sie doch die Freiheit des religiösen Glaubens mit Anerkennung empfangen, wie sollten sie die Freiheit des politischen Glaubens nicht folgerecht anerkennen? Diese Sinnvolleren haben sich vielmehr eine Arrière-pensée7 ausgebildet, die zarter und feiner klingt, aber nicht stichhaltiger ist und keinesweges künstlerischer. Sie meinen nämlich so: Allerdings wollen wir keinen Generalmusikdirektor um seines schwarzrotgoldenen Bekenntnisses willen, wenn er sonst nichts taugt; caeteris paribus8 möchten wir freilich bei gleicher Begabung den Deutschgesinnten vorziehen nach dem Grundsatze: „Thut Gutes an Jedermann, allermeist aber an des Glaubens Genossen.“9 – Indessen, das wissen wir wohl, hiermit ist für uns nur wenig erledigt, und wir lassen es uns gerne gefallen, wenn aus dem bösen Russland gute ästhetische Betrachtungen über Mozarts Opern
6 Der Bundestag mit Sitz in Frankfurt am Main war im Anschluss an die Beschlüsse des Wiener Kongresses im Jahre 1815 als oberstes Organ des Deutschen Bundes ins Leben gerufen worden. In ihm tagten einmal wöchentlich die Abgesandten der vier Freien Städte und 37 Fürstenstaaten des Deutschen Bundes. Im Juli 1848 erfolgte die Selbstauflösung des Bundestages, welcher seine Befugnisse auf die kurz zuvor aus freien Wahlen hervorgegangene verfassungsgebende Nationalversammlung übertrug, die in der Frankfurter Paulskirche tagte. Nach dem letztlichen Scheitern der Revolution wurde der Bundestag im September 1850 jedoch erneut ins Leben gerufen, bis er mit dem Ende des Deutschen Bundes im Gefolge des Preußisch-Österreichischen Krieges im Jahre 1866 endgültig aufgelöst wurde. 7 (Frz.) Hintergedanken. 8 Eigentlich: „ceteris paribus“ (lat. wobei die übrigen Dinge gleich sind). Hier etwa: unter ansonsten gleichen Bedingungen. 9 Gal 6, 10.
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kommen10, ja wir ertragen es, dass ein Däne11 die besten Symphonieen schreibt und [403] danken ihm dafür. – Ueberhaupt, sagen jene sinnvolleren Abderiten12, ist es uns zunächst nicht um irgend ein bestimmtes Bekenntniss zu thun, sondern – das ist nun die Arrière-pensée! – um Gesinnungstüchtigkeit! Ein Künstler muss sein zuvörderst ein guter Mensch, dann ein edler, ferner ein zeitbewusster, endlich ein Kraftmensch, der die höchsten Zeitgestalten erkennt und fasst und sie darzustellen weiss. – Muss, Muss! – Ja, wenn’s mit dem Fordern gethan wäre! Er muss fortschreiten, er muss Gesinnung haben, ehrlich sein, nicht lügen u. s. w. Und was sagt ihr nun hiermit Besonderes? Gar nichts! Denn jenes Muss gilt jedem Menschen. Das sind allgemeine sittliche Forderungen, die aller Welt gesagt sind, und weil sie so allgemein gesagt sind, so werden sie eben nicht befolgt und Jeder lebt nach seinem Stiefel nach wie vor. Aber wenn auch: gesetzt, die Künstler nähmen sich euer Wort speziell zu Herzen – welcher Hochmuth, die köstlichen Tugenden der Menschheit einem beschränkten Stande unter den Menschen zu vindiciren!13 Die letzte der Forderungen allein hat etwas mehr Sinn, ist aber nicht minder schief und irrig, wenn sie dem Künstler besonders soll gesagt sein. Er soll auf der Höhe des Zeitbewusstseins stehen, er soll es zu schönen Gestalten verleiblichen.14 – Jenes „auf der Höhe stehen“ verlangen wir von jedem tüchtigen Manne, dem wir unser Vertrauen schenken; das „Verwirklichen und Verleiblichen“ gelingt Niemandem, als dem gottbegabten Genius, und der thut’s, ohne euch zu fragen, hat’s gethan lange, ehe ihr anfinget zu denken, und wird es thun bis an der Welt Ende, so lange es Dichter gibt – allen diesen aber sagt es der Gott, nicht der Schulmeister, was sie thun sollen und müssen. Wir gehen noch einen Schritt weiter in die Tiefe, um den Kern jener Forderung zu entdecken. Man wünscht z. B. – und man hört dies oftmals recht anmaasslich von jungen Denkkünstlern betonen – es soll irgend eine Zeitgestalt oder ein zeitgemässes Ding in künstlerische Formen gegossen werden; das würde, meint man dann, einen gar herrlichen Eindruck machen, wenn z. B. statt des ewigen sentimentalen Liebesgewinsels ein heroisches vaterländisches Lied die Bühne beschritte – statt der
10 Anspielung
auf die kurz zuvor auch in deutscher Übersetzung erschienene Mozart-Biographie Aleksandr Ulibischews (Ulibischew 1848 Mozart’s Opern). 11 Gemeint ist der dänische Komponist Niels Wilhelm Gade (1817 –1890). Seine 1. Symphonie wurde 1843 im Leipziger Gewandhaus unter der Leitung Felix Mendelssohn Bartholdys uraufgeführt. 1844 folgte die Uraufführung der 2. Symphonie sowie 1847 die der 3. Symphonie, welche Gade beide selbst dirigierte. 12 Vor allem seit Christoph Martin Wielands Fortsetzungsroman Die Abderiten. Eine sehr wahrscheinliche Geschichte von Herrn Hofrath Wieland (ED 1774 –1780) sind die Bewohner des antiken Abdera Inbegriff für das moderne Schilda. 13 Vindizieren (von lat. vindicare): beanspruchen, geltend machen. Hier eher als zuschreiben gemeint. 14 Krüger paraphrasiert hier Forderungen Brendels aus dessen kurz zuvor veröffentlichtem ersten Aufsatz der Reihe „Fragen der Zeit“ (siehe Brendel 1848 Fragen der Zeit I).
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Novellenintriguen ein Epos, statt der lüderlichen Salonhelden ein Hohenstaufe!15 – Das klingt schon vernünftiger, wenn sich nur, wie gesagt, die Künstler von eigenem Herz und Blut so etwas sagen liessen! Bittet Gott, dass er einen Genius wecke, der weiter sieht als Mozart und Beethoven – für das Uebrige lasst ihn selber sorgen. Was es übrigens mit dem Verleiblichen der gegenwärtigen Zeitmächte auf sich habe, das wissen nur die, die mit aufrichtiger Hingabe die Geschichte der Kunst in sich erlebt haben. Dies ist der schwierigste Punkt, den die logische Denkübung nicht löst, sondern die poetische Erfahrung allein lösen kann. Was gegenwärtig ringt in Welt und Leben, was noch strebet und unfertig sehnet zu entstehen, was im Geburtsschmerze des Werdens leidenschaftlich arbeitet: dieses Alles ist ein Schwebendes und deshalb der Kunst fern. Das ist das grosse Wort, dass der Dichter wie der König über [404] den Parteien stehe; das tiefe Wort, das Goethe sprach16 und Freiligrath nicht verstand.17 Nicht während der Reformation, sondern ein Jahrhundert nach ihr sind die schönsten Lieder und Töne evangelischer Dichter gesungen; und Rafaels18 verklärte Engel zeigen, was in der römischen Kirche fertig und strebend vollendet war, längst bevor es seine himmlische Kunst in ewige Gestalt bewahrte. Nicht der Kämpfende ist ein Dichter, aber der vollendete Kampf kann ein Gedicht werden. Sogar der alte Horatius, dem es oft an ächter Lebensglut so bedenklich fehlt, hat in guten Stunden dasselbe gefühlt, wo er sagt: nil me, sicut antea, juvat Scribere versiculos, amore perculsum gravi;19
15 Forderungen dieser Art hatte etwa Robert Wolfgang Griepenkerl anlässlich der ersten Leipziger Tonkünstler-Versammlung vom 14. August 1847 in seinem Vortrag zur „Oper der Gegenwart“ gestellt (siehe Griepenkerl 1847 Die Oper der Gegenwart). Hierin hatte dieser alle existierenden Opern abgelehnt, deren Handlung vorwiegend in aristokratischen Milieus angesiedelt und daher ohne Zeitbezug zur Gegenwart seien. Um das Interesse des gegenwärtigen deutschen Volkes für die Oper wiederzubeleben, forderte Griepenkerl eine Neuorientierung innerhalb der Wahl der Opernsujets, wie es etwa in Meyerbeers Les Huguenots (UA 1836) der Fall sei, die aufgrund ihrer Darstellung von Volksaufständen und Revolutionen als Beispiel für eine solche „Oper der Gegenwart“ ausdrücklich empfohlen wird. 16 Im West-östlichen Divan (ED 1819) Goethes heißt es unter „Eingeschaltetes“: „Der Dichter steht viel zu hoch als daß er Parthey machen sollte“, in: Goethe-Werke 3, 1, S. 196. 17 Ferdinand Freiligrath (1810 –1876), deutscher Lyriker, war ein politisch engagierter Befürworter der demokratischen Kräfte im Vormärz, der zwischenzeitlich ins Exil gehen musste. An erster Stelle steht hierfür Ein Glaubensbekenntniß (ED 1844), in welchem er dezidiert für eine demokratische Neugestaltung Deutschlands eintrat und im Vorwort bekannte, „nun doch von jener höheren Warte auf die Zinnen der Partei herabgestiegen“ zu sein (Freiligrath 1844 Ein Glaubensbekenntniß, S. X). 18 Raffael (1483 –1520), italienischer Maler und Baumeister der Frührenaissance. Vor allem die beiden Puttenfiguren in Raffaels 1512/1513 entstandener Sacra Conversazione (Sixtinische Madonna) galten im 19. Jahrhundert vielfach als Inbegriff der Engeldarstellung schlechthin. 19 „Es freut mich nicht mehr wie, Pettius, wie einst / Gedichte zu schreiben, von heftiger Liebe getroffen“, in: Horaz, Epodi, Nr. 11, V. 1 f. Im Original heißt es abweichend: „scribere versiculos amore percussum gravi“.
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und jeder ordentliche Kerl, der einmal redlich geliebt hat mit Seel’ und Blut, hat es erfahren, dass der wachende Traum des Verzückten kein Gedicht ist, wohl aber die spätere Erinnerung daran. Das sagten unsere tiefsinnigen Alten auch mit ihrem Wort „Minna“; „die Minne ist die Dichterin“ heisst ebensowohl: die Liebe, als: die Erinnerung dichtet. Wer’s nicht erlebt hat, dem können wir’s nicht beweisen; wir wundern uns auch nicht länger über ihn, als nur darum, dass er ohne Erlebniss beweisen will und absprechen über die unaussprechlichsten Dinge. – Nothwendig ist dem Dichter der Liebe, dass er die Liebe kenne. Will aber der heut Verliebte heute ein „Romeo und Julia“20 dichten, so unternimmt er etwas Unmögliches, d. h. Wahnwitziges, gleich dem Kriegshelden, der mitten im Kampfe ein Epos dichten will: da ist entweder der Kampf oder das Epos nicht wahr, vielmehr Beides eitel. Das Werdende ist Natur, die Kunst Gewordenes. Die grossen Zeitschwingungen also – lasst sie nur in Ruhe, sie werden auch ohne euch schwingen und ihren Sänger finden, sobald sie ausgehallt sind und zu neuen Kristallisationen fähig. Oder drängt es euch, Theil zu haben an dem löblichen Kampfe der edelsten Kräfte, so thut’s, das ist aller Ehren werth; aber meint nur nicht, Künstler zu sein, wenn ihr einen Zeitungsartikel in Musik gesetzt habt. Wie lange meint ihr, dass die Herwegh’schen prosaischen Zornlieder künstlerisch gelten?21 Nicht länger als die Unruhe des Zeitgeistes sich unruhig eitel d’rin spiegeln mag. – Wie ist die Marseillaise entstanden? Nicht im Getümmel des Schlachtfeldes, nicht von einem Beteiligten … was in den Tönen der Marseillaise erregend ist, hat ein Deutscher gesungen, der ausserhalb der republikanischen Raserei stand;22 die Worte aber sind, den einleitenden Satz abgerechnet, von einer prosaischen Trockenheit, die nur einen Franzosen begeistern kann. Kalter deklamatorischer Hass in glänzende Verse gegossen, ergreift nur den Gleichgesinnten; ächte Dichtung alle Menschen, auch die Feinde der Konfession. Wie kommt’s, dass das Stabat mater 23 mit seinen tiefen heiligen Worten auch den Protestanten ergreift? Wie konnte Sophokles24 dem demokratischen Athen die Darstellung alter absoluter Königsherrschaft vorsingen, dass sie sich bis in’s Herze hinein freuten? Wie hallet das [405] Rule Britannia25 über Land und Meer, Freund und Feind bezwingend mit herrlicher Gewalt des ächtesten volkstümlichen Tonlebens? Nur darum, weil sie nicht befehlen: „Ich will und du
Shakespeare, Romeo and Juliet (ED 1597). 21 Georg Herwegh (1817 –1875), deutscher Dichter, der vor allem durch seine politisch engagierten Gedichte im Vormärz Berühmtheit erlangte. 22 Offenbar eine Anspielung auf die damals verbreitete These, dass die Melodie der Marseillaise von einem deutschen Organisten namens Holtzmann aus Meersburg stamme. 23 Der mittelalterliche Text des „Stabat mater“, der die Schmerzen der Maria am Kreuz zum Inhalt hat und dessen Verfasser bis heute nicht eindeutig ermittelt werden konnte, wurde vielfach vertont (u. a. durch Giovanni Battista Pergolesi, Joseph Haydn und Gioachino Rossini). 24 Sophokles (um 497 – 406 v. Chr.), griechischer Tragödiendichter, berühmt vor allem durch seine überlieferten Stücke Antigone und König Ödipus. 25 Rule, Britannia!, ein patriotisches Lied, dessen Text von James Thomson (1700 –1748) und David Mallet (um 1705 –1765) Großbritanniens Vorherrschaft auf den Meeren verherrlicht. Die Musik stammt von Thomas Augustine Arne (1710 –1778) und findet sich ursprünglich als Schlussgesang des Bühnenstücks Alfred, einer Masque von 1740. Das Thema des Liedes wurde u. a. von Beethoven in Wellingtons Sieg op. 91 (EA 1813) verwendet. 20 William
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sollst“, sondern weil sie darstellen und sagen: „Kommt her und schauet das Seiende, das ist!“ Kurz weil sie nicht auf Bestellung der Kritiker oder der politischen Clique26 fabricirt sind, sondern ohne alle Rücksicht Leben sind und Leben geben. Nun sagen freilich die Allerfeinsten unter euch: Ei ja! das wissen wir! wollen auch kein fabricirtes Fabrikat, möchten indess gar gerne, wenn sich irgend ein Genius erhöbe und das Rechte ergriffe, – und da möchten wir denn weiter nichts als bescheidentlichst in geziemender Ehrfurcht die Wege weisen u. s. w. Auf dergleichen höfliche Redensarten hat der Genius nichts zu erwidern als ein gleichgemessenes höfliches Lächeln; und wo er auftritt – seid versichert, er wird seine Wege finden, ohne euch zu fragen. Er wird auch, wenn diese hochwogenden Schwankungen unseres Staatslebens sich zu senken anfangen, sicherlich die Gestalt zu finden wissen, die aus diesem tosenden Gerassel des Gemäldes werth ist, und sicherlichst eine ganz andere, als ihr meinet. Wie Mozart die Liebe, Haydn die begnügte Einfalt, Beethoven die tiefe sehnende Leidenschaft der Zeit in lebende Bilder zu fesseln wussten, so wird, wenn die Zeit neuer Kunstschöpfung erfüllt ist, der Hochbegabte schon den Inhalt finden, der ihm gemäss und wahrhaft zeitgemäss ist – schwerlich aber die Pressfreiheit, das Parlament und die Volkssouveränetät [sic] in Musik setzen. – Für diesen Augenblick muss die Kunst der Höhe entsagen; willig oder nicht, muss sie erkennen, dass sie jetzt nicht weltbewegende Macht ist, dass auch kein weltbewegendes Werk heutigen Tages erstehen kann, so lange die Wogen brausen. Dauern wird die Kunst bis an’s Ende der Welt, und ewig wird sie ein Abbild des Lebens sein, aber nimmer des schwebenden Werdens, immer des erfüllten gewordenen Seins. Wer’s anders weiss, der zeige es, aber nicht mit kritischen Worten, sondern in künstlerischer That. Emden, im Mai 1848. E. Krüger.27
26 (Aus
dem Frz., cliquer) klatschen. Wurde im 19. Jahrhundert gleichbedeutend mit einer zusammenhaltenden, hinterlistigen Bande, Spießgesellschaft oder Sippschaft verwendet. 27 Eduard Krüger (1807 –1885), Organist, Komponist, Musikschriftsteller und -theoretiker. Krüger studierte in Berlin und Göttingen Philologie und wirkte ab 1830 als Gymnasiallehrer in Emden und Aurich. Krüger war u. a. von 1839 bis 1853 Mitarbeiter der NZfM, daneben trat er aber auch mit Aufsätzen für die AmZ, nach 1854 dann in der Niederrheinischen Musik-Zeitung zunächst unter den Pseudonymen „DIXI.“ und „A E K.“, später unter seinem Klarnamen hervor.
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Kommentar Mit dem vorliegenden Artikel reagierte der Musikschriftsteller und -kritiker Eduard Krüger auf die kurz zuvor veröffentlichte Forderung Brendels, die „Ereignisse der Gegenwart“ müssten sich zukünftig stärker „auf die Gestaltung der Kunst“ auswirken, damit diese am durch die revolutionären Ereignisse in Deutschland ausgelösten allgegenwärtigen Aufschwung und „Fortschritt“ partizipiere und den Status der Musik als bloßes Luxusgut, abseits der Lebensrealität der Bevölkerung, überwinde.28 In seiner strikten Ablehnung jeglicher Beeinflussung der Musik durch aktuelle politische Fragen und Positionen stellt Krügers Aufsatz ein repräsentatives Beispiel für die negative Haltung vieler Musikschriftsteller insbesondere gegenüber der in der NZfM propagierten ‚Fortschrittspartei‘ in der Musik dar. Allen voran Brendel hatte in mehreren programmatischen Artikeln29 aus dieser Zeit vor dem Hintergrund seiner Überzeugung eines engen Zusammenhangs von Kunst und Gesellschaft für eine stärkere Sympathie der Komponisten mit den ‚fortschrittlichen‘ Ideen und Gedanken geworben, um so nicht nur deren allgemeines Bildungsniveau zu heben, sondern auch die liberalen Intellektuellen wieder für die Musik als Kunstform zu interessieren.30 Krüger indes sah die vordringliche Aufgabe der Musiker darin, schöpferisch tätig zu werden, anstatt bloß zu „reden“31, wie es in Krügers 1847 erschienenen Beiträgen für Leben und Wissenschaft der Tonkunst explizit heißt – eine Überzeugung, die auch die späteren Artikel Krügers in der Niederrheinischen Musik-Zeitung32 ‚leitmotivisch‘ durchziehen und die ein Grund für die scharfe oppositionelle Stellung gegen die NZfM gewesen sein dürften, für die er noch bis 1854 schrieb.33 Kritische Reaktionen auf die vorliegenden Äußerungen Krügers finden sich nicht nur in der NZfM, wo Karl Emanuel Klitzsch einen Monat später eine Erwiderung auf Krüger veröffentlichte,34 sondern sogar in der vorwiegend konservativen AmZ. Dort nahm Fritz Schnell in seinem Bericht über die „Kunstzustände in Hannover“ explizit auf Krügers Artikel Bezug.35 In seinem Bericht äußerte Schnell die Hoffnung, dass mit der von ihm herbeigesehnten Ablösung adeliger Kräfte in der Intendanz der hannoverschen Oper eine Stärkung des Anteils deutscher Opern einhergehe, da die bisherigen Entscheidungsträger „nicht deutsch, sondern adelig, aristokratisch“ seien und daher „eine Kaste für sich und weiter nichts“36. Dementsprechend heißt es in Schnells Artikel abschließend – gleichsam zwischen Krüger und Brendel vermittelnd: „Steht die Kunst nicht mit der Politik wenigstens in einem deutlich vorliegenden äusseren Zusammenhange, wenn auch der innere, falls ein solcher überhaupt stattfinden sollte, wenigstens schwer zu erkennen und aufzudecken sein möchte?“37
1848 Fragen der Zeit II, S. 193, in: NdS 1 Nr. 8, S. 95. 29 Siehe Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14; Brendel 1848 Fragen der Zeit IV, in: NdS 1 Nr. 17. 30 Vgl. hierzu auch Ortuño-Stühring 2012 Democratische Musik. 31 Krüger 1847 Beiträge für Leben und Wissenschaft der Tonkunst, S. 309. 32 Siehe etwa Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, in: NdS 1 Nr. 66; Krüger 1854 Ueber Musik-Literatur; Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67; Krüger 1855 Liszt „An die Künstler“, in: NdS 2 Nr. 84; Krüger 1855 Marx und Brendel, in: NdS 2 Nr. 79 sowie Krüger 1855 Sonderliche Gedanken, in: NdS 2 Nr. 74. 33 Vgl. hierzu auch Hoppenrath 1965 Eduard Krüger. 34 Klitzsch 1848 Beziehungen zwischen Kunst und Politik, in: NdS 1 Nr. 12. Auf diesen Beitrag reagierte Krüger am 26. Juli 1848 mit einem weiteren Aufsatz desselben Titels (siehe Krüger 1848b Beziehungen zwischen Kunst und Politik). 35 Siehe Schnell 1848 Ueber den Zusammenhang von Politik und Musik. 36 Ebd., Sp. 542. 37 Ebd. 28 Brendel
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Insgesamt gibt der vorliegende Beitrag nicht nur ein Beispiel für die damalige Virulenz der durch die revolutionären Erhebungen aufgeworfenen Frage nach dem Verhältnis von Musik und Politik; zugleich zeigt sich an den ästhetischen Einwänden Krügers bereits der Kern der späteren Debatten um die Legitimation einer Programmmusik und der Frage, inwiefern und in welcher Form die Musik als ‚innerliche‘ Kunstform an gesellschaftspolitischen Fragen und Problemen partizipieren könne, ohne ihre ästhetische Qualität aufzugeben, denn keinesfalls stand Krüger einem allgemeinen Fortschrittsglaube pauschal ablehnend gegenüber. Seine diesbezüglichen Vorstellungen beziehen sich jedoch maßgeblich auf eine moralische – für Krüger religiöse – Erbauung sowie eine soziale Stärkung durch Musik bzw. Musizieren. Die späteren Debatten zwischen den immer stärker polarisierten gegnerisch auftretenden Gruppierungen innerhalb des Musiklebens verdeutlichen jedoch, dass die um 1848 noch vom revolutionären Schwung getragenen Diskussionen durch das repressive Klima des Nachmärz nach 1849 zu einer vermeintlich innermusikalisch-unpolitischen wurden bzw. zunächst werden mussten.
Nr. 11 | Anonym [Carl Kretschmann], „Romantik in der Musik“, in: NZfM 15 (1848), Bd. 29, Nr. 1 (1. Juli), S. 1– 6; Nr. 2 (4. Juli), S. 9 –11.
Romantik in der Musik.
Daß die Musik eine der romantischen Künste im Gegensatz zu den antiken Kunstarten, nämlich der symbolischen (Architectur) und classischen (Plastik) ist,1 – diese Neuigkeit soll nicht den Gegenstand und Ausgangspunkt dieser Betrachtungen bilden. Wir gedenken vielmehr innerhalb der Musik eine Richtung herauszuheben, welche sich als „die romantische Musik“ qualificirt, fassen somit den Begriff Romantik enger, als die Schule es thut.2 Sehen wir zu, wie sie sich abgrenzt. Zuvor aber den Standpunkt nicht zu vergessen!
1. Die Musik und ihre Kritik. Der Gegenstand der Musik überhaupt ist die Stimmung; sie bringt diesen innerlichsten Proceß der Persönlichkeit, der noch nicht Begriff, noch nicht Entschluß ist, das Gemüth in seiner Unmittelbarkeit zum Ausdruck. Die reine Musik bringt es daher nicht bis zur bestimmten Anschauung und Vorstellung. Die Gährung des Gemüthes für sich, noch nicht zum concreten Inhalt oder Resultat gediehen, in den verschiedensten Abstufungen und Richtungen, vom Zusammensinken in unendlichem Weh bis zum Aufschwung der Seele in das tapferste Selbst- und Siegesgefühl, diese weiß sie darzustellen. Das Gemüth ist aber nicht nur Vegetiren, sondern Geist; – wie könnte auch sonst die Musik eine Kunst sein? – wiewohl noch nicht selbstbewußter, erkennender Geist, und es fragt sich, wie überhaupt der bestimmte Gedanke mit der Musik, als Ausdruck des unbestimmten Gemüths in Rapport tritt. Man hat mehr als ein Mal die Unsäglichkeit und Anonymität dieser unserer Kunst ihr zum Vorwurf gemacht, man hat ihr die Ebenbürtigkeit abgesprochen, weil sie in ewiger Bewegung, in ewigem Streben nach dem Ausdruck des anfangenden Gedankens ringe,
Einteilung der Künste entspricht derjenigen in Georg Wilhelm Friedrich Hegels Vorlesungen über die Ästhetik, welche 1835 bis 1838 in einer von Heinrich Hotho redigierten postumen Erstausgabe erschienen waren und rasche Verbreitung erfuhren (in: Hegel-Werke 13 –15). 2 Hegel rubriziert in seiner Ästhetik die Musik insgesamt zusammen mit der Poesie und der Malerei unter die „romantischen Künste“. 1 Diese
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ohne doch je mit eigenen Mitteln es bis zu diesem Ziele zu bringen.3 Dieser Vorwurf trifft aber nicht die Musik als Kunstspecies; sie wie jede ihrer Schwestern ist als eine der großen Formen des Bewußtseins zu begreifen, in welche der Geist sein Wesen und seine Weltanschauung so lange niederlegt, bis er im reinen Denken sich in seiner Wahrheit erfaßt, und welche daher allerdings sowohl phänomenologisch, als auch (weil sie nämlich dadurch, daß sie als verschwindende Stufen im Wege des Geistes zu seiner Reinheit erfaßt werden, keineswegs aufhören, real fortzubestehen) systematisch auftreten. Von den einzelnen Ausdrucksformen auf einen bestimmten Inhalt, auf den besonderen Geist zu kommen, dessen Anfänge als solche die Kunst manifestirt, ist für alle Kunstgattungen gleich schwierig; für die Tonkunst insbesondere noch dadurch, daß die schwebende Immaterialität ihrer Mittel einen noch schwankenderen Ausgangspunkt zu gewähren scheint, als z. B. die feste Leiblichkeit der Plastik. Die Stimmung, sagten wir, sei das Feld der Musik, das unmittelbare Regen des Geistes vor der That, die Bewegung der innerlichsten Persönlichkeit vor der bestimmten Anschauung, oder aber – eine Stimmung als Erlebniß, als geistiges Factum betrachtet – der unendliche Ueberschuß [2] des Inhaltes jener Situation über das Besondere, Endliche, Bestimmte, welches sich in Vorstellungen und Worte fassen läßt, hinaus; die bestimmte That, Anschauung, Entschließung fallen außerhalb der Musik, begrenzen sie; eben darum aber wirken jene drei bestimmend auf die musikalischen Ausdrucksformen, welche sie begrenzen, zurück; an ihnen gewinnt die Kunst in ihren einzelnen Erzeugnissen Bestimmtheit, Gegenständlichkeit für die Speculation; an diesen wird sich der Charakter ganzer Perioden der Musik und der Fortgang ihrer Entwicklung als Kunst erkennen lassen; in ihnen endlich wird die Vermittlung der Kunstgeschichte mit der Geschichte überhaupt beruhen. Wir behaupten hiermit keinesweges, daß das Erfassen der bestimmten Anschauung, welche ein Componist etwa bei einem Werke vor Augen gehabt, ein wesentliches Moment des Kunstgenusses sei; im Gegentheil, ein solches Streben wird nur störend und fremdartig wirken.4 Kunst und Kunstgenuß sind und bleiben in der Sphäre der
3 Vgl.
etwa folgende Aussage Hegels in dessen Ästhetik über die „selbständige Musik“, wonach diese „unter allen Künsten die meiste Möglichkeit in sich schließe, sich nicht nur von jedem wirklichen Text, sondern auch von dem Ausdruck irgendeines bestimmten Inhalts zu befreien, um sich bloß in einem in sich abgeschlossenen Verlauf von Zusammenstellungen, Veränderungen, Gegensätzen und Vermittlungen zu befriedigen, welche innerhalb des rein musikalischen Bereichs der Töne fallen. Dann bleibt aber die Musik leer, bedeutungslos und ist, da ihr die eine Hauptseite aller Kunst, der geistige Inhalt und Ausdruck abgeht, noch nicht eigentlich zur Kunst zu rechnen“ (in: Hegel-Werke 15, S. 148 f.). 4 Vgl. eine Passage Hegels in dessen Ästhetik: „Der Komponist seinerseits kann nun zwar selber in sein Werk eine bestimmte Bedeutung, einen Inhalt von Vorstellungen und Empfindungen und deren gegliederten geschlossenen Verlauf hineinlegen, umgekehrt aber kann es ihm auch, unbekümmert um solchen Gehalt, auf die rein musikalische Struktur seiner Arbeit und auf das Geistreiche solcher Architektonik ankommen. Nach dieser Seite hin kann dann aber die musikalische Produktion leicht etwas sehr Gedanken- und Empfindungsloses werden, das keines auch sonst schon tiefen Bewußtseins der Bildung und des Gemütes bedarf. Wir sehen dieser Stoffleerheit wegen die Gabe der Komposition sich nicht nur häufig bereits im zartesten Alter entwickeln, sondern talentreiche Komponisten bleiben oft auch ihr ganzes Leben lang die unbewußtesten, stoffärmsten Menschen“ (in: Hegel-Werke 15, S. 217).
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nur empfundenen, nichts sagenden, also auch nichts profanirenden Innerlichkeit. „In dem ästhetischen Zustande (sagt Schiller) fühlen wir uns wie aus der Zeit gerissen, und unsre Menschheit äußert sich mit einer Reinheit und Integrität, als hätte sie von der Einwirkung äußerer Kräfte noch keinen Abbruch erfahren. Schönheit ist der einzig mögliche Ausdruck der Freiheit in der Empfindung, die ästhetische Stimmung die absolute Bestimmbarkeit zur Wahrheit und sittlichen Güte.“5 – Mit der Kritik treten wir aus dieser Unmittelbarkeit heraus, und finden unsern Anhalt in jenen bestimmteren Nachbargebieten der Kunst, welche ihr selbst aber nicht mehr angehören. Die Kritik bedarf zu ihrem Auftreten der Vergangenheit einer ganzen Kunstperiode; einer Allgemeinheit der Entscheidungen, Entwicklungen, Gestaltungen dieser Periode nach anderen Richtungen hin.6 Ihr Amt und ihre Aufgabe ist es, den geistigen Inhalt, der eine Kunstperiode erwachsen ließ, über die Unbestimmtheit und Unmittelbarkeit der Kunstform hinaus auf das der Kunst fremde Gebiet der Erkenntniß zu führen, und so auch die sittlichen und geistigen Resultate der Schönheit, „unserer zweiten Mutter“, zu entwickeln. Der Inhalt einer Kunstperiode, d. h. die geistige Bestimmtheit, deren Vorgängen jene „Stimmung“ ist, ist der Hauptgegenstand jeder Kritik; und die Theorie, welche über den Formalismus hinaus zur Pragmatik und Systematik strebt, hat keine andere reelle Grundlage, als sie. Der Weg, zu diesem Inhalte zu gelangen, ist allerdings Sache des ästhetischen Urtheils. Eine Probe der Richtigkeit dieses Urtheils liegt in der Musik nahe, nämlich, bei der sogenannten gemischten Musik wenigstens, in der Erforschung des Textes. Wir werden sehen, daß diese Rechnungsprobe auch bei unserer Betrachtung stimmt.
2. Musikalische Romantik. Die Thätigkeit des Gemüthes in der Kunst, welche also die noch visionäre, von keiner prosaischen Besonnenheit gebändigte Phantasie ist, ist eine doppelte: das männliche Pathos oder die Leidenschaft, und das weibliche oder die Sentimentalität oder Schönseligkeit. Die Leidenschaft ist der Sturm der ethischen Welt, die heftigere Anspannung des Gemüthes zur Ueberwindung der Welt, das Aus-sich-selbst- Heraustreten des Geistes – der Drang zur Allgemeinheit. Ihr gehört der Charakter und die Geschichte. Die Sentimentalität dagegen, das Leben im tiefsten Inneren ist
von Aussagen aus dem 22. Brief von Friedrich von Schillers Über die ästhetische Erziehung des Menschen (in: Schiller-Werke 20, S. 379 – 383). 6 Kretschmann schließt sich hier dem Versuch einer philosophisch fundierten Musikkritik an, welche Brendel bei Übernahme der Redaktionsleitung der NZfM als sein wesentliches Ziel den Lesern vorgelegt hatte: „Erst als die Musik schon einen bedeutenden Höhepunkt erstiegen hatte, zeigten sich die frühesten zusammenhängenderen Versuche musikalischer Theorie, musikalischer Kritik, und erst sehr spät, erst in neuester Zeit ist der Anfang einer mehr philosophischen Betrachtung gemacht worden“ (Brendel 1845 Zur Einleitung, S. 1, in: NdS 1 Nr. 1, S. 9). 5 Wiedergabe
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zunächst selbstgenügsam. Ihre Beziehung zu Anderem will nicht Ueberwindung der Welt, sondern Selbstgenuß, allenfalls Bekehrung, allerhöchstens Ehrgeiz. Im Allgemeinen kann sie sich mit der Welt, wie sie ist, sehr wohl vertragen; sie liebt die Natur, denn – im Anschauen dieser schaut man eigentlich nur sich an, und genießt auch weiter nichts, als die Regungen des eignen trauten Herzens. Diese Gegensätze manifestiren sich nun auch in unserer Kunst auf das Entschiedenste, und die einseitig festgehaltene letztere Seite wird das ergeben, was wir als die romantische Musik bezeichnen. Haydn – um nicht noch weiter auszuholen – trennt diese beiden Gegensätze eigentlich noch nicht. Sein Grundzug ist ja das Kindliche, also das gegen Geschlechtsunterschiede noch Indifferente. Das Pathos als Ganzes, sowohl das männliche als das weibliche, ist in ihm noch unentwickelt. Heiterkeit, Natürlichkeit, Laune färben seine Weltanschauung, bestimmen seine kindliche Religiosität. Vom Boden schöner in sich gesättigter Sinnlichkeit erhob sich Mozart zum Tragischen und Erhabenen, zum Pathos der Handlung, und er betrat hiermit den Weg der Classicität, auf dem ihm die schönsten und unverwelklichsten Kränze künstlerischen Lorbeers erwuchsen. Beethoven überholte ihn. Mit dem Schwerte der Leidenschaft zog er gegen die träge Substantialität des Bewußtseins zu Felde. Die inneren selbstständigen Forderungen des Individuums wurden zu ihrer Berechtigung den alten Gesetzen, Convenienzen und Regeln gegenüber erhoben. In ihnen sind die revolutionairen, aber wahrhaft allgemeinen Forderungen, nämlich die geistige Befreiung, gesetzt, und mit diesem Schritt war der Bruch des inneren Menschen in der Kunst geschehen – die Freiheit war erkannt, sie war und blieb aber nur Ideal. Die Form, in der sich das vorgeschrittene Bewußtsein zur bekämpften Widerstand leistenden Wirklichkeit in ein Verhältniß [3] setzte, wird der Humor, und zwar der Humor, welcher, in die allgemeine Unvollkommenheit und ihr Schicksal verwickelt, eben durch seinen unendlichen Schmerz über sie, sich darüber emporschwingt, gerade durch den Selbstverlust zu sich zurückkehrt, und im Triumphe seiner Innerlichkeit der Welt voran der Sonne der Freiheit zufliegt. Elemente zu dieser höchsten Befreiung aus dem totalen Bewußtsein des Widerspruchs finden sich in den Werken aus Beethoven’s mittleren Lebensjahren. In den späteren und letzten ist er theils wieder zu sehr mit der inneren Welt beschäftigt, theils bleibt sein Humor ein gebrochener, welcher das Unglück des Zweifels nur fühlt, ohne mehr zur Auferstehung des Bezweifelten in die Unendlichkeit des zweifelnden Geistes selbst zu gelangen. Mit diesem gebrochenen Humor, der mit der allerentschiedensten Nothwendigkeit auf eine Zukunft hinweist, schied Beethoven. Es beginnt die romantische Musik. Der Geist, von übermenschlicher Arbeit erschöpft, beschloß sich in seine tiefste Innerlichkeit. Das Auge, geblendet von der Sonne ohne Erde, welche ihm gezeigt worden war, bedurfte wieder der dunkeln Welt, um sich für einen neuen Tag zu stärken. Die Wunderwelt des eigenen Gemüthes, die Heimlichkeit des subjectivsten Empfindens, Naturschwärmerei – kurz die Lyrik katexochen, wurden der Boden der Musik. Sie verschwisterte sich mit der Poesie, und im grellen Gegensatze zu der männlichen Sprödigkeit eines Beethoven gegen jede bestimmende Fessel eines Textes, schmiegte sie sich an diese mit einer ächt weiblichen Innigkeit an. Die Poesie wußte nun wohl die neue Liebe zu schützen, und singt in liebender Dankbarkeit einmal über das Andere: „Liebe denkt in
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süßen Tönen“7, wohl wissend, daß das Unbegreifliche und Wunderbare, dem sie als Absolutem dient, seine wahre Vollendung in der Musik, als der Unmittelbarkeit der Lyrik, findet. Sei es nun, daß die Musik Folie der Poesie, und fast mehr ihre Dienerin als ihre Genossin wurde – sicher unterliegt sie mit ihr einer Beurtheilung, und diejenige Poesie, welche sich mit der Musik zu einer vielgestaltigen und reichen Liederlyrik zusammenschloß, die romantische Poesie, ist der Schlüssel zur romantischen Musik. Alle namhaften Componisten von Fr. Schubert an, sind mehr oder weniger ausschließlich Romantiker. Hier wie dort haben wir alle Elemente zusammen. Schwärmerische Liebe, in allen Variationen von der unschuldigen Heimlichkeit eines nur geträumten Naturzustandes bis zu dem zur Wollust gesteigerten Selbstgefühl; Unglücksgefühl in Liebe und Leben, welches ebenfalls wieder zu weiter nichts, als einem ekstatischen Selbstgenuß sich steigert; Gemüths- und Phantasieschwelgerei im Grauen der Nacht; ein ewiges Sehnen ohne Ende und ohne Resultat, als der blos innerlichen Bewegung des Ichs, einer Passivität der Selbstanschauung; Naturschwärmerei mit Waldeinsamkeit und heimlichen Gesprächen der Blumen, oder der lieben Sternenaugen, wobei indeß auch diese, die Natur, zum Spiel, zum Moment des Genusses verflüchtigt wird; religiöse Vertiefung in die Mystik des Glaubens, der „theoretischen Wollust“I ganz abgesehen jedoch von der unhaltbaren objektiven Wahrheit der Dogmen und heiligen Geschichten, rein wieder auf das persönliche Gefühl der Schwärmerei in den Visionen einer paradiesischen Zeit beschränkt, möge diese nun dagewesen oder erst zu erwarten sein (der Himmel!); wobei der ächten Romantik gemäß das Alte (die ächt protestantische Innigkeit eines Bach) mit dem Neuen (der zur Weltlichkeit aufgelösten Gefühlswelt) gehörig verschmolzen und verquickt wird. Endlich die Erbauung eines zweiten, weltlicher gestalteten Himmels: eine Mährchenund Geisterwelt, Elfenreigen, Mondscheinspuk, Anklänge an alte Sagen, verzauberte Ritter, Legenden, Romanzen, kurz das Wunderbare und Geheimnißvolle quand mème – das sind die Umrisse der Poesie und Musik, welche wir uns romantische zu nennen erlauben. Es ist eine Lüge, daß unsere „durch und durch romantische Kunst“9 über diese Grenzen hinaus zum Ausdruck des wahrhaft Humanen, über die Willkühr der Phantasie zur Verkündigung der Freiheit nicht gelangen könnte. Die höchste der bestehenden Kunstformen – die Symphonie, und der eine Name Beethoven bürgt uns dafür. Aber zurück! Blicken wir der romantischen Musik noch etwas näher in’s Auge!
I Ruge.
Werke Bd. I., S. 241,8 den wir überhaupt nachzulesen bitten.
7 Ludwig Tieck, Glosse (ED 1803). Die Strophe, aus welcher der zitierte Vers entnommen ist, lautet vollständig: „Liebe denkt in süßen Tönen, / Denn Gedanken stehn zu fern, / Nur in Tönen mag sie gern / Alles, was sie will, verschönen.“ 8 Ruge 1847 Geschichte der Poesie und Philosophie, S. 246. Die Seitenangabe bei Kretschmann bezieht sich möglicherweise auf die Erstauflage des Werkes. Kretschmann zitiert auch ansonsten viel aus dem Werk, vgl. ebd. S. 338 ff. 9 Formulierung, welche sich u. a. in Gustav Schillings Geschichte der heutigen oder modernen Musik (ED 1841) auf S. 813 findet und dort gegen die „Neuromantiker“ gerichtet ist.
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3. Romantische Lyrik. In der Lyrik ist sie offenbar am reinsten ausgeprägt; hier ihre wahre Stätte, hier ihre Spitzen, hier ihre Gebrechen. Wir haben eine Anzahl Lieder vor uns, mit und ohne Worte, mit und ohne Überschriften.10 Wir finden unter ihnen Göthe’s Romanzen, Schiller’s BalladenII, Volkslieder, wahre und falsche. Wir haben hier die Namen Uhland, Mosen, Geibel, R. Burns, Reinick, Eichendorff, dort Hoffmann, Tieck, W. Müller, Rückert, Lenau, ja selbst Schlegel, und vor Allem die verlockende Sirene, das schöne Weib mit dem eklen Fischschwanze – Heine.11 An musikalischen [4] Namen stehen F. Schubert, Löwe,12 Mendelssohn, Schumann, R. Franz13 voran. Hatte Beethoven die alten traditionellen Formen zertrümmert, und aus einem Guß nach eigenen Gesetzen eine große Neugestaltung vollendet, so wurde es Aufgabe dieser seiner Epigonen, jene Formen aufzuweichen, und das so willig gemachte Material zum schönen Detail, zur kleinen Arabeske zu verarbeiten. Schubert, der Novalis14 der neueren Musik, hat uns aus einem kurzen, aber rasch und energisch durchlebten Dasein Hunderte der edelsten Blüthen aus der Romantik Garten gepflückt, und zwar zumeist dunkle Rosen. Flüchtig verbrausend, form- und gesetzlos wie seine Lieder, war sein Leben. Er gab sich ganz in seinen Liedern; er lebt darin fort. Man hat bedauert, daß Schubert’s eigenstes Element, die tief innerlich wühlende Empfindung nicht zu einer größeren Exaktheit und Rundung der Form gelangt, nicht mehr von den Gesetzen der „Schule“15 beherrscht werde, wie es der Fall. Wir sehen die Möglichkeit des Gegentheils nicht ein. Schubert’s Musik entspricht seinen besten Texten auf das Vollständigste. Seine Harmonieen sind die Wahrheit seiner Gedichte, verfallen aber
II F. Schubert, 10 1835
nachgelassene Werke.
veröffentlichte Felix Mendelssohn Bartholdy in seinem Opus 30 erstmals eine Sammlung von Klavierstücken unter dem Titel „Lieder ohne Worte“, denen noch sechs weitere Hefte folgten. Nur insgesamt fünf Stücke dieser Sammlungen tragen jedoch neben dieser Gattungsbezeichnung noch einen individuellen Titel. Hierzu zählen op. 19 (EZ 1829 –1830); op. 30 (EZ 1833 –1834); op. 38 (EZ 1836 – 37); op. 53 (EZ 1839 –1841); op. 62 (EZ 1842 –1844); op. 67 (EZ 1843 –1845) sowie die postum erschienenen op. 85 (EZ etwa 1834 –1845) und op. 102 (EZ 1842 –1845). 11 Die Dichter Ludwig Uhland (1787 –1862), Julius Mosen (1803 –1867), Emanuel Geibel (1815 –1884), Robert Burns (1759 –1796), Robert Reinick (1805 –1852), Joseph von Eichendorff (1788 –1857), E. T. A. Hoffmann (1776 –1822), Ludwig Tieck (1773 –1853), Wilhelm Müller (1794 –1827), Nikolaus Lenau (1802 –1850), Friedrich von Schlegel (1772 –1829) und Heinrich Heine (1797 –1856), auf dessen Gedicht über die Loreley Ich weiß nicht, was soll es bedeuten (ED 1824) angespielt wird. 12 Carl Loewe (1796 –1869), deutscher Komponist, vor allem durch seine Balladen bekannt. 13 Robert Franz (1815 –1892), deutscher Komponist, schrieb vorrangig Lieder. 14 Friedrich von Hardenberg (1772 –1801), Pseudonym Novalis, deutscher Dichter. Der Vergleich mit Franz Schubert erfolgt hier wahrscheinlich vor allem aufgrund des frühen Todes beider Künstler. 15 Gemeint ist wohl die sogenannte „zweite Berliner Liederschule“, unter welcher die Komponisten Johann Abraham Schulz (1747 –1800), Johann Friedrich Reichhardt (1762 –1814) und Carl Friedrich Zelter (1758 –1832) zusammengefasst werden, die, der Liedästhetik Goethes sehr nahestehend, in ihren zahlreichen Liedvertonungen eine volksliedhaft-schlichte, strophische Art der Vertonung bevorzugten.
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auch dem gleichem Urteilsspruche der Verfehltheit und Unzureichendheit mit diesen. Eine Rubricirung der einzelnen seiner hervorstechendsten Lieder unter die einzelnen obigen Grundzüge der Romantik versagen wir uns hier, bei Schubert, wie bei den folgenden Componisten, auszuführen. Sie macht sich aber von selbst. Verweilte Schubert mehr bei der dunklen Seite der Sentimentalität, bei der Sentimentalität des inneren Wehes und Schmerzes, und trieb Löwe das Grauengefühl, den Teufelsspuk und Reckenunsinn bis zur Forcirtheit, ja bis zur abstoßenden Häßlichkeit fort – offenbar seine Hauptseite – so tritt in Mendelssohn’s Liedern mehr die populäre, freundliche Seite des heiteren Selbstgenusses, ja bis zum Spielenden und sein-sollender Naivität auf. Diese erfreuen sich der größten Popularität, der besseren Musik; sie sind diejenigen, welche eine so allgemeine, freilich auch öfters so gewöhnliche Saite anschlagen, daß ihre Aufführung im Concerte möglich ist, während die ächt romantischen Lieder vom reinsten Feuer eigentlich für Niemand, höchstens für eine Aristokratie „genaturter“ Subjecte sind. Die ächte Romantik ist so heimlich, daß sie allerdings das freche Licht der Oeffentlichkeit scheuen muß; sie profanirt sich mit dem ersten Schritt aus dem Allerheiligsten heraus. – Schumann war nur in einer Periode seines Lebens Liederkomponist, aber auch hier, wie immer, vielseitig. Mit jugendlicher Wärme vertiefte er sich in die potenzirte Innerlichkeit des Liedes, aber um diese Kunstform, wie wir unten zeigen werden, schließlich zu überwinden. Seine ersten Lieder tragen den deutlichsten Stempel der Ursprünglichkeit, die letzteren laufen einerseits in Uebertreibung, andererseits in fadenartige Zierlichkeit aus (: Die Rose, die Lilie16 etc.). – Franz hat sich bis jetzt nur als Liederkomponist gezeigt;17 er ist, gegen jene gehalten, am meisten Epigone, am wenigsten durchbrechendes Talent, und doch wegen der ausschließlichen Zuwendung einer schönen Individualität an das romantische Lied, und wegen seiner größten Formenvollendung, d. h. flüssig gewordener Formlosigkeit, der eigentliche Romantiker. Die fast pflanzliche Empfindsamkeit, das stille, tiefe Weh eines gebrochenen Herzens, ein Schmerz, welcher ohne Auflösung und Ende festgehalten, zu einem Selbstgefühl treibt, welches an Wollustempfindung streift; das träumerisch receptive Verhalten in der Stimmung seiner Lieder, das sind die Momente, die einen früheren Recensenten in diesen Blättern berechtigten, Franz den Bildner der weiblichen Empfindung zu nennen.18 Wir begegnen demselben mit dem Namen Romantik für diese Kunstrichtung, von der wir eben sagten, daß wir sie die Kunst des weiblichen Pathos nannten. Ob Franz aus dieser Welt sich noch zur wahren Aktivität entwickeln wird, wagen wir nicht zu bestimmen. Der Recensent vermuthete es aus einem Liede Op. 7: Und nun ein End’ dem Schauern, Dem Trauern in den Mauern etc.19
16 Das dritte Lied aus Schumanns Zyklus Dichterliebe op. 48 (ED 1844). 17 Robert Franz’ erstes veröffentlichtes Werk, das nicht der Gattung Lied angehört, ist das Kyrie op. 15 (ED 1858). 18 „Die Darstellung des Weiblichen scheint uns der Schwerpunct des F[ranz]’schen Strebens zu sein“ (H – s 1846 Rob. Franz, Zwölf Gesänge, S. 94). 19 Es handelt sich um Franz’ Lied Genesung op. 5/12 (ED 1846) auf einen Text von J. Schröer, dessen Anfang hier zitiert wird.
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Diese Hoffnung hat ihn bis jetzt getäuscht; noch sein Op. 14,20 gewiß zu den schönsten Früchten der romantischen Musik gehörig, zeigt uns den Componisten wesentlich auf derselben Empfindungsstufe. Unter die Lieder ohne Worte gehören nicht nur die Phantasiestücke mit und ohne Überschriften, sondern wesentlich auch Romanzen, Balladen, Mondscheinbilder, Kinderscenen, Etüden, Arabesken, Frühlingsblumen, und was für Namen noch sonst eine geistreiche Willkühr für solche romantische Miniaturgemälde erfunden hat. Die meisten derselben bewegen sich in denselben Schranken, wie die Lieder mit Worten, blos wo möglich noch schrankenloser und verschwommener, wie jene. Wir erinnern an G. Flügel’s Mondscheinnächte.21 Mendelssohn ist in seinen Liedern ohne Worte22 am meisten Romantiker. An neuen Namen könnten noch einige halb ebenbürtige, tüchtige Persönlichkeiten, dann aber eine Menge der größten Namenlosigkeiten genannt werden.
4. Der romantische Humor. Mit Uebergehung derjenigen Zeitgenossen, welche, wie man wohl hört, classische Musik schreiben, d. h. [5] Nachahmer der musikalischen Classiker sind, sich in deren Formen bewegen, nichts Neues hinzubringen, als etwas Tünche der Weichlichkeit, wohl aber das Beste fortlassen, den geistigen Drang der classischen Musik, wie Spohr,23 Hummel,24 Fesca,25 Kalkbrenner,26 Onslow,27 David,28 Rietz,29 Schneider,30 deren literar-historische Bedeutung bei aller Gerechtigkeit, welche wir der Wirkung ihrer jugendlichen Produkte widerfahren lassen, selbst hinter der Wichtigkeit der eigentlichen Romantiker zurücksteht, betrachten wir eine andere Seite der Romantik. Die Erstlingswerke jener tragen bis zu verschiedenen Graden den Stempel der Ursprünglichkeit, die That des Schaffens an sich. Aber sie nehmen nur einen Ansatz, und zwar zur Romantik; bald geht ihnen, wie allen Componisten zweiten Ranges, der Athem aus; sie spinnen sich in einen engen Kreis selbstgeschaffener Manieren ein, innerhalb dessen sie dann nur noch verstandesmäßig – reflectirt – also
Sechs Gesänge op. 14 (ED um 1848) 21 Gustav Flügel, Mondschein-Bilder op. 18 (ED 1847). 22 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 9. 23 Louis Spohr (1784 –1859), deutscher Komponist, Geiger und Dirigent. 24 Johann Nepomuk Hummel (1778 –1837), österreichischer Komponist, Pianist und Dirigent. 25 Friedrich Ernst Fesca (1789 –1826), deutscher Komponist, einer der meistbeachteten Streichquartettkomponisten seiner Zeit. 26 Friedrich Kalkbrenner (1785 –1849), deutscher Komponist, wirkte als angesehener Klaviervirtuose hauptsächlich in London und Paris. 27 Georges Onslow (1784 –1853), französischer Komponist, in Deutschland vor allem durch seine zahlreichen Streichquartette und -quintette bekannt. 28 Gemeint ist wahrscheinlich Ferdinand David (1810 –1873), deutscher Geiger und Komponist, seit 1836 Konzertmeister des Gewandhausorchesters zu Leipzig. 29 Julius Rietz (1812 –1877), deutscher Komponist, wurde 1848 zum Leipziger Gewandhauskapellmeister ernannt. 30 Friedrich Schneider (1786 –1853), deutscher Komponist, Organist und Dirigent, komponierte mit Das Weltgericht (UA 1820), eines der erfolgreichsten Oratorien des frühen 19. Jahrhunderts. 20 Franz,
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unkünstlerisch wirken. Sie kommen nicht weiter, und bringen die Kunst nicht weiter. Einen Schritt, der ein Anfang zum Fortschritt genannt werden muß, that aber die Romantik, indem sie sich (freilich auf ihre Weise) des Humors bemächtigte, es ist der Schritt aus der gestaltenlosen Innerlichkeit heraus zur Gegenständlichkeit. Der romantische Humor ist wesentlich der geistreiche, abstract geniale, darum willkührliche, die Grenze zwischen Originalität und spröder Willkühr wird überschritten und verwischt, und er scheut sich nicht, auch zur absichtlichen Frivolität und Frechheit auszuwachsen. Auf diesem, jetzt wahrlich sehr unterminirten Boden des Princips origineller Persönlichkeit ruht auch das ganze Virtuosenthum der letzten Jahrzehende [sic!], und wird als treuer Freudensgefährte im Leben auch hoffentlich mit der Romantik zugleich zu Grabe getragen werden. Das Organ der romantischen Empfindsamkeit ist das Lied, d. h. meist eine Singstimme mit untergelegter Clavierbegleitung, als das der humoristischen Romantik wird sich fast ausschließlich das Clavier, als das schrankenloseste und ungebundenste, wiewohl ärmste (denn Reichthum beruht nur in der Vielgestaltigkeit), erweisen. Abgesehen von den Virtuosen stehen hier als produktive Talente Chopin und wieder Schumann obenan. Ersterer ist unbedingt in seinen Walzern und Mazurken am größten, selbst die Notturnos spielen mehr zu diesem Charakter des elastischen Humors herüber, als daß sie auf ihrem eigentlichen Gebiete verblieben. Die Mazurken sind die adäquate Form für den Chopin’schen Humor, und wen hätte diese originelle Keckheit, die aus hundert Orten immer neu und anders hervorlugt, nicht angezogen, wohl auch vexirt, und wenn man dem Schalk auch manches Schnippchen, ja manchen unanständigen Purzelbaum nachsehen mußte, schließlich angenehm beschäftigt? Wer wäre von einem Walzer wie der in Es Op. 1831 nicht einmal in den Wirbel des sinnlichsten Taumels mit fortgerissen worden? Aber ein Mehreres, als vive la bagatelle! mit Chopin zu rufen, sind wir nicht berechtigt. Die ungewöhnliche Gewalt seines Talentes, und die natürliche Liebenswürdigkeit seines Gemüthes, so wie die unendliche Leichtigkeit und Biegsamkeit, mit denen er Feinheit und Witz in die subjectivsten Grillen und Kleinigkeiten streut, machten ihn unendlich wirksam, und für immer bedeutend, aber schon von der Form eines Concertes, noch mehr von der der Kammermusik (Trios in Es und G-Moll)32 prallt er ab; diese sind, wenn nicht ohne Fluß, so doch ohne inneren Drang, kurzathmig, und von nichts weiter entfernt, als ein organisches Ganzes zu sein. Den Chopin’schen Humor bis zur Frivolität und Frechheit fortzutreiben, blieb minderen Geistern, wie Liszt, vorbehalten. Schumann, der, wie oben angedeutet, der eigentlichen romantischen Lyrik nur in einer Mittelperiode seines Schaffens angehörte, wurzelt in seinen Anfängen recht eigentlich auf dem romantischen Humor, und man muß gestehen, daß er schon früh, noch als Knappe des romantischen Banners, bei weitem ernster, wiewohl auch ungeschlachter drein zu schlagen begann. Sein Humor liegt tiefer; er hat mehr Kampf gehabt, um zu der demselben entsprechenden Form zu gelangen, als jener, und sein Bestes nicht in der romantischen Willkühr stecken gelassen, sondern Kraft genug behalten, um sich weiter, zur Classicität hin, durchzuschlagen. Von seinen
31 Frédéric
Chopin, Walzer Es-Dur op. 18 (ED 1834). ist Chopins einziger Beitrag zu dieser Gattung.
32 Das
Klaviertrio g-Moll op. 8 (ED 1832)
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hervorstechenden Werken zählen wir hierher seine Etüden,33 Novelletten,34 Kreisleriana35 und Humoreske,36 so wie einige Phantasiestücke37. Das ihn Auszeichnende ist, daß er im Ueberspringen der alten Schranken nicht dabei blieb, für die absolute Willkührlichkeit die entsprechende Form zu suchen, sondern daran ging, sich selbst neue Gesetze zu geben, und durch die Willkühr zu einer neuen Allgemeinheit hindurchzudrängen, die Art dieser Vermittlung ist freilich in dieser Periode wieder nur eine romantische. Denn jene Gesetze sind in Wahrheit nur die alten (z. B. Verarbeitung eines Motivs, Wiederholung, Nachahmung, Contrapunkt, Orgelpunkt, Canon), denen nur eine neue Seite (die der erweiterten Harmonik) abgewonnen wird. Das romantische Element in der Art ihrer Befolgung aber finden wir in dem mit absoluter Willkühr, ja öfters bis zur Eigensinnigkeit gehandhabten Maxime, immer wieder auf das an sich unbedeutende thema explicationis zurückzukommen, und dadurch den Schein einer Allgemeinheit für dasselbe zu erzeugen, während z. B. Chopin’s Humor ohne ein solches einigendes Centrum seine Gedanken in rein [6] peripherischer Zerstreuung auseinanderlegt. Mit dem Moment, wo jener Schein einer Allgemeinheit Wirklichkeit gewinnt, wo jenes äußerliche Gesetz zu einem innerlichen wird, und sich von der reinen Willkührlichkeit mehr und mehr entbindet, schreitet Schumann zur polyphonen Composition, zur concertirenden Instrumentalmusik fort, und betritt, die hier bezeichnete Stufe des romantischen Humors verlassend, den Pfad zum Gipfel der Classicität.
5. Das romantische Drama. Die Lyrik, so schien es uns, sei die am reinsten ausgeprägte Romantik. Die Romantik ist jedoch Grundzug der Zeit, daher auch die reine Instrumentalmusik, mehr noch die dramatische Musik damit behaftet. Die im vorigen Abschnitt benannten Instrumentalcomponisten sind Nachbildner der classischen Formen, und erschienen uns dort schon für die Fortentwicklung der Kunst minder bedeutend. Andere, vom Lande der Romantik kommend, haben mit der Wahl der Instrumentalmusik den Weg betreten, welcher aus demselben heraus zu einer höheren, der Classicität näheren Stufe führt. Einige romantische Dramatiker dürfen jedoch auch hier nicht übergangen werden. Vor allen wird Weber38 als ein Mitbegründer der romantischen Schule genannt. Wir können dem nicht unbedingt beipflichten. Weber hat das Drama, wie er es von Mozart überliefert empfing, einen guten Schritt weiter zu einer Stufe höherer Wahrhaftigkeit fortgerückt, an der, wie wir meinen, die weitere Entwicklung der Musik fortan anzuknüpfen hat. Diese That ist aber eine classische.
33 Robert
Schumann, Sechs Konzert-Etüden nach Capricen von Paganini op. 10 (ED 1835) und Symphonische Etüden op. 13 (ED 1837). 34 Schumann, Noveletten op. 21 (ED 1839). 35 Schumann, Kreisleriana op. 16 (ED 1838). 36 Schumann, Humoreske B-Dur op. 20 (ED 1839). 37 Schumann, Phantasiestücke op. 12 (ED 1838). 38 Carl Maria von Weber (1786 –1826), deutscher Komponist und Dirigent. Für die Entwicklung der deutschen Oper im ersten Viertel des 19. Jahrhunderts waren vor allem seine Werke Der Freischütz (UA 1821) und Euryanthe (UA 1823) von Bedeutung.
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Weber hat kernige, gesunde Gestalten zu seinen Charakteren; die romantische Seite am Stoffe seiner Handlung, welche wir nicht in Abrede stellen, mag immerhin unter unsere obigen Begriffsbestimmungen der Romantik fallen, sie ist, gegen jene gehalten, nur accessorisch. Gleichfalls nebenbei, aber nicht neben einem Drange classischer Bewegung, sondern neben einer breitesten Gewöhnlichkeit der Empfindung, geht die Romantik in den Werken der Cohorte der ausländischen Modeoperncomponisten einher; diese bleiben mithin außerhalb der Grenzen dieser Betrachtung. Einer Persönlichkeit aber müssen wir hier gedenken, des Hauptes einer jungen romantischen Propaganda – Meyerbeer’s.39 Er ist gewiß ein Künstler, ein großes dramatisches Talent, aber seine Wirksamkeit in der Kunst ist ein grandioser Irrweg, eine totale Lüge.40 Seine Romantik treibt ihn zu einer Frechheit und Raffinirtheit der Empfindung, wie sie nur eine Fr. Schlegel’sche Doctrin zum Gegenstück hat. „Es ist wunderbar genug, daß nicht längst die Association von Wollust, Religion und Grausamkeit die Menschen aufmerksam auf ihre innige Verwandtschaft und gemeinschaftliche Tendenz gemacht hat.“41, III So auch hier. Meyerbeer excellirt in der Zeichnung dieser drei. Sobald er sie verläßt, schrumpft er zur Gewöhnlichkeit zusammen, welche nur sein eminentes, aber gewissenloses Formentalent und seine meisterhafte Routine mit knallfarbigen Federn ausschmückt. Hat man je die Lüsternheit, die zitternde Wollust treuer darstellen sehen, als im zweiten Act der Hugenotten?42 Was reiht sich an großartiger Abscheulichkeit der Schwerterweihe derselben Oper,43 als einer Feier des Fanatismus, der Grausamkeit und Religionsschwärmerei an? Was geht über die Frivolität der durchlaufenden Behand-[10]lung des Chorals: „Ein’ feste Burg“ in dieser Oper?44 Meyerbeer hatte vielleicht die Kraft, eine Epoche in der Kunstgeschichte herbeizuführen. Er verschmähte den Nachruhm, er zog es vor, sich der Welt zu fügen, wie sie war, und dadurch, daß er auf eine noch unerhörte Weise der abgestumpften Sinnlichkeit und Gemüthsliederlichkeit durch neue Reizmittel fröhnte, ein Heros
III Novalis’
Worte.
39 Giacomo Meyerbeer (1791–1864), deutscher Komponist, wirkte seit 1824 dauerhaft in Paris. Seine Opern Robert le diable (UA 1831) und Les Huguenots (UA 1836) waren auch in Deutschland sehr erfolgreich, wurden aber von der Musikkritik, vor allem vonseiten der NZfM, kontrovers diskutiert (siehe etwa Uhlig 1850 Der Prophet von Meyerbeer; Uhlig 1850 Noch einmal der Prophet von Meyerbeer; Uhlig 1850 Zeitgemäße Betrachtungen sowie Bischoff 1850 TU hoc intrivisti, in: NdS 1 Nr. 20). 40 Anspielung auf Aussagen in Schumanns berühmter Doppelrezension von Mendelssohns Paulus (UA 1836) und Meyerbeers Les Huguenots (UA 1836), der in dieser Oper einen „Weg zum Uebel“ erblickte, siehe Schumann 1837 Fragmente aus Leipzig, S. 75. 41 Novalis-Schriften 3, S. 568. 42 Gemeint ist wohl der Anfang des zweiten Aktes, die Auftrittsarie der Marguerite und die anschließende Szene mit Chor. 43 Meyerbeer, Les Huguenots, 4. Akt, Nr. 23 „Conjuration et bénédiction de poignards“. 44 Der Choral Ein’ feste Burg ist unser Gott durchzieht als mit den Hugenotten konnotiertes Erinnerungsmotiv die Oper. Seine erste Zeile wird ausgiebig bereits in der Ouvertüre verarbeitet. Vollständig erscheint die Melodie beim Auftritt des Marcel (1. Akt, Nr. 3 „Récitative et choral“, T. 49 ff.). Die Art der Verwendung des Chorals hatte schon in Schumanns scharfer Kritik an dem Werk eine wesentliche Rolle gespielt (siehe Schumann 1837 Fragmente aus Leipzig. 4.).
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des Augenblicks zu werden. Meyerbeer ist nicht frei, er ist mir großartig klug; er ist keine Natur, sondern ein Eklektiker; er beherrscht die Gegenwart, aber die Zukunft ging ihm, und er der Zukunft verloren. Wie sehr er aber die Gegenwart beherrscht, das mag der glänzende Irrthum in der Kritik eines Griepenkerl über die Entwicklung der Oper in seinem Vortrag vor der Tonkünstlerversammlung 1847 beweisen.45 Ueber Meyerbeer’s Raffinirtheit hinaus giebt es keinen Fortschritt, man müßte den Componisten von Wilhelm von Oranien46 hierher zählen. „M.’s Romantik ist eine Sackgasse“47 (Kossak).
6. Unsere Zeit und unsere Hoffnungen. Die Romantik enthält eine Niederlage des Geistes; sie führt, einseitig festgehalten, zur Erschlaffung; ja sie ist selbst der Geist, der von der höchsten Spannung zur Schwachheit herabstieg, und in konvulsivischer Krankhaftigkeit nur emporzuckt, um wieder zu erschlaffen. Dieser Abfall trat als besonderer mysteriöser Geist und als die allerüberschwenglichste Freiheit, die genialste Willkühr auf, nie ganz ohne Talent, immer ohne den wahren Geist. Aber sie ist die Gemüthsunruhe und Sehnsucht, welcher eine Befriedigung folgen muß; sie mußte sein, um wieder zu vergehen. Nach dem langen romantischen Traume hebt eine andere Richtung an, die des Stürmens und Drängens, die Zeit einer tief aufwühlenden, aber durchaus unklaren Gährung. Auf dem Instrumentalgebiet die Namen Gade (zum Theil)48, Fel. David49, Hector Berlioz, C. A. Franck50, für die Oper R. Wagner. Der flammende Hauch der wildesten Zügellosigkeit ist die Seele, die in ihnen lebt. Aber bis jetzt ist nicht viel anderes, als Schlacken an’s Licht gediehen: Wem mag es aufbehalten sein, den ersten reinen Silberblick aus dieser neuen Gluth hervorzulocken? Wir hoffen von Schumann viel, aber bei weitem nicht Alles, ja wir können uns nicht verhehlen, daß die Zeit der auf den objektiv vorhandenen Geist gerichteten Leidenschaft, die Zeit der
45 Der
Dramatiker und Musikschriftsteller Wolfgang Robert Griepenkerl (1810 –1868) hatte in seinem auf der ersten von Brendel initiierten Leipziger Tonkünstlerversammlung im Jahre 1847 einen Vortrag über „Die Oper der Gegenwart“ gehalten. In diesem forderte er u. a., die deutsche Oper müsse, um zu einer Nationaloper zu werden, sich fortan ausschließlich aktuellen gesellschaftlich relevanten Themen zuwenden, wie dies etwa in Giacomo Meyerbeers Les Huguenots der Fall sei, da hierin „Weltgeschichte“ und „Weltgericht“ thematisiert würden (siehe Griepenkerl 1847 Die Oper der Gegenwart, S. 26). Zu Griepenkerls kunstästhetischen Ansichten vgl. insgesamt Hennemann 2003 Ritter Berlioz und Prophet Mendelssohn. 46 Karl Anton Florian Eckert (1820 –1879), deutscher Komponist und Kapellmeister. Seine Oper Wilhelm von Oranien wurde am 19. November 1846 im Königlichen Opernhaus zu Berlin uraufgeführt. 47 Konnte nicht nachgewiesen werden. 48 Niels Wilhelm Gade (1817 –1890), dänischer Komponist und Dirigent. Kretschmann denkt hier vermutlich vor allem an die frühen Werke Gades, wie dessen Ouvertüre Efterklange af Ossian (Nachklänge von Ossian) op. 1 (EZ 1840) und die in Leipzig unter Mendelssohn Bartholdy uraufgeführte Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 5 (EZ 1842), welche u. a. durch die Verwendung norwegischer Volksmelodien geprägt sind. 49 Félicien David (1810 –1876), französischer Komponist, der zu dieser Zeit vor allem durch seine symphonische Ode Le désert (UA 1844) bekannt war. 50 César Franck (1822 –1890), französischer Komponist und Organist.
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Extremität politischer Parteien für die Kunstproduction eine unangemessene, fast eine unmögliche ist. Dem Geiste der Revolution, dieser Ehrenrettung der Zeit, welcher wie ein segnendes Gewitter unter Blitz und Donner die Schwüle der Vergangenheit vor einem kühlen Hauch aus dem Lande der Freiheit weichen heißt, steht die radikale Kritik näher, als die Schöpfung einer neuen Kunst aus neuen Grundlagen. Für die erstere scheint uns auch in unserer Kunst die Zeit gekommen. Herbei, ihr Kritiker, zeigt, wie ihr den Geist verstandet, der einmal nicht auf dem altgewohnten ruhigen Wege des Fortschritts im Sinne der Allg. Musik-Zeitung51, sondern durch eigene unendliche Triebkraft sich verwirklicht. Haltet zusammen, und räumet zunächst radical auf. Um das zu erwartende neue Zeitalter der Kunst seid unbesorgt; es wird kommen, und wenn auch nicht ein goldenes, so doch ein schönes. Auf dem Grunde eines schönen politischen Lebens, einer Wirklichkeit, wie sie die Freiheit verlangt, wird und muß sich auch der künstlerische Geist verjüngen. Demokratisch soll die Kunst werden. Ja freilich, Ihr Herren, welche Ihr zwar die Bestrebungen des Volksgesanges (z. B. der Liedertafeln, die ihren Schwerpunkt immerhin außer sich, nämlich im dunkeln politischen Gefühle haben mochten) verhöhntet,52 die Ihr jedoch die Flachheit des Salons nicht zu verachten vermochtet! Aber jene schöne Wirklichkeit construirt sich nicht im Nu, und ist sie wirklich die Vorbedingung auch eines neuen Kunstlebens, so wird die Hoffnung auf ein solches sich bedeutend vertagen müssen. In diesem Sinne und mit solchen Hoffnungen nehmen wir gern, vielleicht auf lange Zeit von der Kunst Abschied, von der Romantik aber auf immer. Auf dem Gebiete der orchestralen und dramatischen Musik wird es sein, daß dereinst der Prophet erstehet, mit dem die neue Welt auch in unsere Kunst hereinbricht. Wir wollen ihm entgegenjubeln. Die Romantik aber, aus deren heimlichem Schooße innerlichsten Lebens der neue Held erstanden sein wird, hat ihre Zeit schon jetzt erfüllt. Sie hört auf, berechtigt zu sein, und rein romantische Produktionen können von jetzt an nur klägliche Nachläufer einer einst reichen, aber beschränkten Welt genannt werden, welche die Bestimmung schon in ihrem Entstehen an sich tragen, – versunken und vergessen zu sein. Wir wollen fürder keine Romantik, wir sind ihrer müde; erheben und erbauen wir uns bis zum Anbrechen des neuen Tages an unseren Classikern; wie sehr bedürfen wir doch
51 Wohl
eine Anspielung auf eine mit „Fortschritt“ betitelte Artikelserie Johann Christian Lobes, dem Herausgeber der in Leipzig von 1798 bis 1848 erscheinenden Allgemeinen musikalischen Zeitung. In diesen Artikeln hatte Lobe einen auf den tradierten Kunstgesetzen basierenden Fortschritt in der Kunst proklamiert (siehe Lobe 1848 Fortschritt, in: NdS 1 Nr. 7). 52 In einer Anfang Januar erschienenen Rezension Karl Emanuel Klitzschs von mehreren Werken für Männerchor hatte dieser den „moderne[n] Männergesang“ scharf kritisiert, da dieser „der Zerstörer des vollen Chorgesanges geworden [sei]. Dies läßt sich um so weniger ableugnen, je lauter von verschiedenen Seiten her die Klage über das Sinken der eigentlichen ganzen Gesangvereine – denn der Männerchor ist nur selten Chor – sich vernehmen läßt. Es ist dies kein gutes Zeichen, – wiewohl begründet im Geiste unserer Zeit, die mit dem Worte ‚liberal‘ auch im Gebiete der Kunst reformiren will. Denn es geht daraus hervor, daß man falsche Begriffe vom wahren Gesang hat und des Sinnes für das Höhere, Größere verlustig geworden. Freilich mag es wohl Vielen angenehmer sein, bei einem Glase Bier ‚Trink, Kamerad‘ so recht in ff herauszubrüllen, als in Kreisen zu weilen, wo die weibliche Umgebung gefälligere Formen anzunehmen gebietet und edlere Gefühle zu beanspruchen berechtigt ist“ (Klitzsch 1848 Mehrstimmige Gesänge, S. 4).
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ihrer noch zur Reinigung der Welt! Der Fortschritt über sie wird, nicht als ob sie das Vollkommene und die freie Welt des Schönen nicht erreicht hätten, nur darin, darin aber auch sicherlich bestehen, daß eine reichere Wirklichkeit auch eine reichere Idealwelt erreichen wird. Jetzt fort mit dem stillen Weben, Träumen, Genießen still für sich, fort mit dem vornehmen Sichabschließen. Die Zeit ist ernst, der Schauplatz geistigen Schaffens ist nicht mehr das Ich allein – denn jetzt, [11] Wo selbst die Wirklichkeit zur Dichtung wird, Wo wir den Kampf gewaltiger Naturen Um ein bedeutend Ziel vor Augen sehn, Und um der Menschheit große Gegenstände, Um Herrschaft und um Freiheit wird gerungen, Jetzt darf die Kunst auf ihrer Schattenbühne Auch höhern Flug versuchen, ja sie muß, Soll nicht des Lebens Bühne sie beschämen.53 Magdeburg, Mai 1848.
□
Kommentar Der vorliegende Artikel stammt von dem Magdeburger Juristen Carl Kretschmann54 und ist ein bemerkenswertes Dokument für die vor und während der Revolutionsjahre 1848/1849 aufblühende Diskussion um die Notwendigkeit einer Umgestaltung der Musik, damit diese als Medium stärker als bislang an den politisch-gesellschaftlichen Umwälzungen partizipieren könne – eine Forderung, die zugleich eine scharfe Kritik der musikalischen Romantik implizierte.55 Diese verortete Kretschmann in den intimen Gattungen des Klavierstückes und des Liedes und deutete ihren Beginn – ähnlich wie vor ihm bereits Julius Becker in seinem 1840
von Schiller, aus dem Prolog zu Wallensteins Lager (UA 1798), V. 62 – 69. 54 Carl Kretschmann (1826 –1899), studierte nach seinem 1844 abgeschlossenen Besuch des Magdeburger Domgymnasiums in Halle und Berlin Jura, bevor er ab 1847 in seiner Heimatstadt als Jurist am Oberverwaltungsgericht tätig war. Kretschmann war federführend in der Gründung und Leitung des Magdeburger Männerturnvereins und setzte sich in dieser Funktion auch für die Einführung von Singübungen der Turner ein (siehe Thomas 2005 Art. „Carl Kretschmann“). Vgl. hierzu auch Geck 2001 Zwischen Romantik und Restauration, S. 20. 55 Vgl. Tadday 1999 Das schöne Unendliche, S. 163 – 202; Tadday 2006 Abschied von der Romantik sowie vor allem Geck 2001 Zwischen Romantik und Restauration. 53 Friedrich
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veröffentlichten Roman Der Neuromantiker – zugleich mit dem Tod Beethovens. Den Ausführungen Kretschmanns zufolge herrsche seit dem Wirken Franz Schuberts, dem eigentlichen Gründer der musikalischen Romantik, nur mehr ein epigonales, mystisch-schwärmerisches Nachschöpfen vor, welches sich jedoch mit dem politisierten Zeitgeist und den damit einhergehenden Erfordernissen an eine zeitgemäße Kunst nicht mehr in Einklang bringen lasse. Bemerkenswert ist die abschließende Äußerung Kretschmanns, dass der erhoffte „Prophet“ einer ‚realistischeren‘ Umgestaltung der Musik dies „[a]uf dem Gebiete der orchestralen und dramatischen Musik“ vollziehen werde, damit die Periode des „langen romantischen Traume[s]“ bald durch eine des „Stürmens und Drängens“ und damit einer „demokratischen“ Musik abgelöst werde.56 Die Reihe der Komponisten, welche Kretschmann als Hoffnungsträger anführt, umfasst auf dem Gebiet der Orchestermusik Félicien David, Hector Berlioz und César Franck sowie Richard Wagner auf dem der Oper. Robert Schumann, dessen neueste Werke zwar einerseits als „Pfad zum Gipfel der Classicität“57 beschrieben werden,58 dient in Kretschmanns Argumentation jedoch zugleich als Beleg dafür, dass „die Zeit der Extremität politischer Parteien für die Kunstproduction eine unangemessene, fast eine unmögliche ist“59. Damit sieht der Autor – im Gegensatz beispielsweise zu Adolf Bernhard Marx60 – den damaligen Verfall und den Bedeutungsverlust der Musik nur zum Teil in den kulturellen Institutionen und dem vorwiegend auf Luxus, Konsum und Zerstreuung abzielenden Musikleben begründet, vor allem aber in den „romantischen“ Komponisten und ihrer esoterischen, den Zeitfragen gegenüber sich verschließenden Haltung selbst verwurzelt.
Romantik-Kritik Kretschmanns Aufsatz61 ist Teil einer 1848 auf ihrem Höhepunkt sich befindenden Debatte, welche u. a. von verschiedenen, vornehmlich dem sogenannten „jungdeutschen“ Lager zugerechneten Autoren wie Arnold Ruge, Georg Gottfried Gervinus und Karl Gutzkow ausgehend, in der Subjektivität und Innerlichkeit der romantischen Musik den Grund für die Unfähigkeit der Komponisten und Musiker erblickte, an den damaligen gesellschaftlichen Umwälzungen zu partizipieren, welche daher dazu verurteilt seien, zukünftig ein weitgehend unbeachtetes Eigenleben zu führen. Diese Ansicht wurde rasch auch in den Musikzeitschriften diskutiert. So hatte kurz vor Kretschmanns Aufsatz der Breslauer Philosophieprofessor August Kahlert, Verfasser eines
56 Alle
Zitate: vorliegender Artikel, S. 153 [10]. 57 Ebd., S. 150 [6]. 58 Bereits Martin Geck (Geck 2001 Romantik und Realismus, S. 22) hat darauf verwiesen, dass der Aufsatz durchaus die Zustimmung Schumanns fand, welcher sich in einem Brief an Brendel über die Identität des Verfassers erkundigt hatte: „Wer ist der Magdeburger von dem ich in der letzten Nummer las? Franz ist darin ganz vortrefflich charakterisirt, wie er überhaupt viel Schönes und Gutes enthält. Nur bei Meyerbeer und Gade möchte ich Fragezeichen machen; jenem ist zu viel Ehre, diesem zu wenig geschehen. Wie dem sei, Kenntniß, eigene Anschauungskraft, wahrhaft warme Theilnahme an der Fachstellung unserer Kunst zeichnen den Verfasser jedenfalls aus. Wer ist er?“ (Brief von Schumann an Brendel vom 3. Juli 1848, in: Schumann-Briefe II, 5, S. 271). 59 Vorliegender Artikel, S. 153 [10]. 60 Siehe Marx 1848 Der Ruf unserer Zeit, in: NdS 1 Nr. 9. 61 Weitere Artikel des Autors in der NZfM finden sich 1857 und 1860 (siehe Kretschmann 1857 Weltliche Lieder von Orlando di Lasso sowie Kretschmann 1860 Die temperirte Stimmung).
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„Systems der Ästhetik“62, im Mai 1848 in der AmZ einen Aufsatz mit dem Titel „Ueber den Begriff von klassischer und romantischer Musik“ veröffentlicht. In diesem beschrieb Kahlert, im Gegensatz zu den radikaleren Positionen Kretschmanns, Mozart zwar ebenfalls als einen Klassiker, sah jedoch in Beethoven aufgrund seines ihm eigenen „Humors“ und des „Triebes, Grenzen zu Durchbrechen“63 einen „Prototyp des Romantikers“, die beide als Ganzes betrachtet zueinander in einem Gleichgewicht stünden. Als Romantiker führte Kahlert Schumann, Berlioz, Loewe, David und Liszt an.64 Dennoch heißt es auch bei Kahlert in Bezug auf die damaligen revolutionären Entwicklungen: „Der politische Ernst der Gegenwart hat die romantische Weltansicht zu Boden geschlagen. Es ist nicht mehr Zeit, sich in Träume zu verlieren, denn Gesetz und Ordnung zur Giltigkeit überall zu bringen, das ist die Lösung, nachdem seit zehn Jahren Männer wie Gervinus und Ruge den Beweis geführt, dass die Romantik die politische Kraft der deutschen Nation gebrochen habe. Jetzt begreift jeder Zeitungsleser, dass Ordnung ohne Freiheit den Despotismus, und Freiheit ohne Ordnung Anarchie hervorbringt, Kunstwerke können bis zum todten Mechanismus oder zum Ausdrucke der Verrücktheit herabsinken, dies ist dasselbe.“65 Im Gegensatz zu Kretschmann nennt Kahlert jedoch keine Komponisten, welche diesen Prozess noch abwenden könnten.
Hegels Romantikbild als ideengeschichtlicher Ausgangspunkt Dem allen lag die in Hegels System der Künste vorgenommene Charakterisierung der Musik als romantisch zugrunde, da sie dem Geist des Christentums entspringe, im Gegensatz zur klassischen Plastik, welche aus der Antike herrühre. Dieser Kategorisierung haftete jedoch nicht zuletzt durch Goethes Altersdiktum, wonach das „Klassische das Gesunde“, das „Romantische“ hingegen „das Kranke“66 sei, ein pejoratives Moment an. So war die (Instrumental-)Musik als Kunstform gleich in mehrfacher Hinsicht in die Kritik geraten, rangierte sie doch einerseits bei Hegel aufgrund ihres Unvermögens, bestimmte Gedanken auszudrücken, unterhalb des Rangs der Poesie und Philosophie, während die Musik andererseits aufgrund des tendenziell apolitischen Wesens vor allem der Instrumentalmusik in den Augen vieler Vormärz-Autoren – insbesondere vor dem Hintergrund der damaligen Forderungen nach einer Politisierung der Künste – in den Generalverdacht geriet, weltfremd, subjektiv und damit indirekt reaktionär zu sein.67
Kahlert, System der Ästhetik (ED 1846). 63 Beide Zitate: Kahlert 1848 Ueber den Begriff von klassischer und romantischer Musik, Sp. 292. 64 Ebd. 65 Ebd., Sp. 295. 66 Siehe etwa Goethe in einem Gespräch mit Eckermann vom 2. April 1829, in: Goethe-Werke 39, S. 324. Im Zusammenhang heißt es bei Goethe: „Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke. Und da sind die Nibelungen klassisch wie der Homer, denn beide sind gesund und tüchtig. Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kränklich und krank ist, und das Alte ist nicht klassisch, weil es alt, sondern weil es stark, frisch, froh und gesund ist. Wenn wir nach solchen Qualitäten Klassisches und Romantisches unterscheiden, so werden wir bald im Reinen sein.“ 67 Vgl. hierzu auch Tadday 1999 Das schöne Unendliche, S. 170 –177. 62 August
Kretschmann 1848 Romantik in der Musik
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Vor diesem Hintergrund muss nicht zuletzt die Aussage Kretschmanns gesehen werden, der Inhalt der Musik sei „Stimmung“, hatte doch Hegel geäußert, ihr Inhalt sei der „Ton“ und daher ihre Aufgabe, „daß sie jedweden Inhalt nicht so für den Geist macht, wie dieser Inhalt als allgemeine Vorstellung im Bewußtsein liegt oder als bestimmte äußere Gestalt für die Anschauung sonst schon vorhanden ist oder durch die Kunst seine gemäßere Erscheinung erhält, sondern in der Weise, in welcher er in der Sphäre der subjektiven Innerlichkeit lebendig wird. Dieses in sich eingehüllte Leben und Weben für sich in Tönen widerklingen zu lassen oder den ausgesprochenen Worten und Vorstellungen hinzuzufügen und die Vorstellungen in dieses Element zu versenken, um sie für die Empfindung und Mitempfindung neu hervorzubringen, ist das der Musik zuzuteilende schwierige Geschäft.“68 Das Musikverständnis Kretschmanns, wonach die (Instrumental-)Musik zwar in der Tat keine bestimmten Begriffe darstellen könne, aber den dahinführenden Prozess, die von ihm so bezeichnete „Gährung des Gemüthes“69, stellt offenkundig den Versuch dar, die Musik ebenfalls an dem idealistischen Paradigma Hegels teilhaben zu lassen, da auch die Stimmung – ebenso wie der Gedanke – Ausdruck des menschlichen Geistes sei. Diese Aussagen lassen zugleich einen Bezug zu den vormärzlichen Diskussionen um einen stärkeren Wirklichkeitsbezug der Musik erkennen, führt die geschichtsphilosophische Argumentation Kretschmanns doch in die apologetische Feststellung, die vermeintlich innerliche Musik sei – wie die Symphonien Beethovens bewiesen hätten – durchaus in der Lage, zur „Verkündigung der Freiheit“70 beizutragen.
Brendel und der Fortschrittsgedanke in der Musik Mit dieser Auffassung stand Kretschmann eindeutig Positionen Brendels nahe, der zu dieser Zeit in seinen den „Fragen der Zeit“71 gewidmeten Aufsätzen oder in seiner vergleichenden Charakterisierung Haydns, Mozarts und Beethovens eine ähnliche Geschichtsauffassung entwickelt hatte.72 Die Bedeutung, welche Brendel den Aussagen Kretschmanns offenbar beimaß, geht allein aus der Stellung des Artikels als Eröffnungsaufsatz des 29. Bandes der NZfM hervor, wodurch er gleichsam als Seitenstück der programmatischen Neujahrsartikel gesehen werden muss. Dies dürfte nicht zuletzt auch in der tragenden Rolle begründet sein, die Kretschmann der Musikkritik bei der Überwindung der von ihm diagnostizierten Missstände zuschrieb, worin er mit der Auffassung Brendels73 übereinstimmte. Eine Reaktion auf die Ausführungen Kretschmanns lieferte Julius Schaeffer in den Jahren 1849 und 1850, wiederum in der NZfM. In seinen ebenfalls „Romantik in der Musik“74 betitelten Artikeln sekundiert Schaeffer darin im Grunde Kretschmanns Versuch, die Geist-
68 Hegel-Werke 15,
S. 149. 69 Vorliegender Artikel, S. 141 [1]. 70 Ebd., S. 145 [3]. 71 Siehe Brendel 1848 Fragen der Zeit I; Brendel 1848 Fragen der Zeit II, in: NdS 1 Nr. 8; Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14; Brendel 1849 Fragen der Zeit IV, in: NdS 1 Nr. 17 sowie Brendel 1849 Fragen der Zeit V. 72 Siehe Brendel 1848 Haydn, Mozart, Beethoven. 73 Siehe etwa Brendel 1845 Zur Einleitung, in: NdS 1 Nr. 1. 74 Siehe Schaeffer 1849 Romantik in der Musik. I.; Schaeffer 1850 Romantik in der Musik. II. Das historische Auftreten der Musik sowie Schaeffer 1850 Romantik in der Musik. III. Die musikalische Kritik.
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fähigkeit der Musik gegen die Aussagen Hegels und Ruges in Schutz zu nehmen, indem er auf die ‚Geist-Sinnlichkeit‘ der Musik im Gegensatz zur abstrakten Philosophie verweist – eine Aufgabe, die einer zukünftigen philosophischeren Musikkritik obliege, dies in den jeweiligen Werken herauszuarbeiten.75 Insgesamt belegt der Aufsatz Kretschmanns nicht nur die damalige Virulenz der Frage, wie in der Musik ein stärkerer Bezug zur Wirklichkeit erzielt werden, um nicht gesellschaftlich an Relevanz und Aufmerksamkeit zu verlieren, und zugleich – und damit untrennbar verbunden – welche Rolle die Musik bei der demokratischen Umgestaltung der Gesellschaft spielen könne; zugleich wird deutlich, wie sehr zu dieser Zeit der „Romantik“ eine Art Stellvertreterfunktion für die verhasste Restauration zugewiesen wurde, die eine ‚realistische‘ Kritik zu bekämpfen hatte.76 Darüber hinaus ist der Artikel ein Beweis dafür, wie sehr die für Brendel77 und die von ihm später propagierte „neudeutsche Schule“ so charakteristische Idee eines ‚fortschrittlichen‘, ‚zeitgemäßen‘ und ‚objektiven‘ Komponierens, welche sich etwa in der Bevorzugung der ‚großen Form‘ der Oper bzw. des Musikdramas und der Symphonischen Dichtung sowie eines im Ausdruck ‚bestimmten‘, programmatischen Komponierens manifestierte, in Vorstellungen und ästhetischen Diskursen des Vormärz und der Revolutionsjahre wurzelte, deren Bedeutung jedoch weit über das Scheitern der Revolution im Jahre 1849 hinaus reicht. Letztlich waren es diese hier explizierten Vorstellungen über die zukünftige ‚realistischere‘ Gestaltung der Kunst, welche – zusammen mit den von diesen nicht zu trennenden kulturellen und gesellschaftlichen Reformplänen Brendels78, Liszts79 und Wagners80 – dem Redakteur der NZfM die spätere Zusammenführung solch unterschiedlicher Komponisten unter dem gemeinsamen Dach einer ‚Schule‘ erst ermöglichen sollten.
Tadday 1999 Das schöne Unendliche, S. 185 f. 76 Vgl. ebd., S. 174. 77 Vgl. hierzu OrtuñoStühring 2012 Democratische Musik. 78 Siehe etwa Brendel 1847 Die erste Versammlung deutscher Tonkünstler; Brendel 1848 Auch eine Petition sowie Brendel 1848 Erklärung des Leipziger Tonkünstler-Vereins. 79 Siehe etwa Liszt 1835 De la situation des artistes. 80 Siehe etwa Wagner 1848 Organisation eines deutschen Nationaltheaters; Wagner 1849 Kunst und Revolution sowie Wagner 1850 Kunstwerk der Zukunft. 75 Vgl.
Nr. 12 | Emanuel Klitzsch, „Beziehungen zwischen Kunst und Politik“, in: NZfM 15 (1848), Bd. 29, Nr. 9 (29. Juli), S. 45 – 47.
Beziehungen zwischen Kunst und Politik. Von Dr. Emanuel Klitzsch.
In Nr. 25 der Allg. musik. Zeitung von dies. Jahre befindet sich ein Artikel unter obigem Titel1 von dem geehrten Mitarbeiter dies. Blätter, Dr. Krüger2. Der Gegenstand, um den es sich handelt, ist zu wichtig, als daß der oben Genannte seine abweichende Ansicht nicht aussprechen sollte. Hr. Dr. Krüger eifert gegen die Stimmen, welche sich seit der Eröffnung deutscher Freiheit auf dem tonkünstlerischen Gebiete haben vernehmen lassen, und schwingt die Geißel über Alle, welche, seiner Meinung nach, zu „leidenschaftlicher Parteinahme verzückt“3, von Rückwirkung des gegenwärtigen Aufschwunges auf die Tonkunst sprechen. Wir verhehlen es nicht, daß ein solches Verkennen der jüngst sich kundgebenden Bestrebungen, ein Verdrehen der ausgesprochenen Ansichten über den möglichen oder wahrscheinlichen Einfluß der Zeitereignisse auf die Gestaltung der Kunst uns höchlichst in Verwunderung gesetzt hat. Denn wir achten in Hrn. Krüger einen wackeren Kämpfer. Was thut er aber jetzt? Er ergeht sich in humoristischen Expectorationen und beißenden Declamationen über die, welche der Hoffnung auf reformatorische Bestrebungen innerhalb des musikalischen Gebietes sich hingeben! – Von leidenschaftlicher Parteinahme, vom Schwören zur republikanischen oder monarchischen Fahne haben wir nichts vernommen; es ist auch Niemand eingefallen, die Politik in den Kreis der Kunst zu ziehen, das Innerste derselben von dem politischen Treiben afficiren zu lassen, ihren Himmel, ihre Hölle ihr zu rauben, oder maßgebend einem künftigen Genie die Pfade zu weisen, die Bahn zu bestimmen, die es wandeln soll. Von solchen praktischen Uebergriffen, die Hr. Krüger substituirt, soll nicht die Rede sein; auch sind die Forderungen, das „muß“, welches an die Musiker gestellt wird, und das Hr. Kr. des Hochmuths bezüchtigt, keineswegs als kategorischer Imperativ zu fassen; jenes schroffe „muß“ ist ein Ruf mitten aus den Stürmen und Wogen heraus, der wohl erklingen darf, wo Gefahren drohen. Wir erachten es für ein schönes, muthbelebendes Zeichen, daß hier und da, und
1 Krüger 1848 Beziehungen zwischen Kunst und Politik, in: NdS 1 Nr. 10. 2 Eduard Krüger (1807 –1885), Organist, Komponist, Musikschriftsteller und -theoretiker. Krüger studierte in Berlin und Göttingen Philologie und wirkte ab 1830 als Gymnasiallehrer in Emden und Aurich. 3 Krüger 1848 Beziehungen zwischen Kunst und Politik, Sp. 401, in: NdS 1 Nr. 10, S. 133.
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wahrlich nicht von „Flachköpfen“4, Stimmen sich verlauten lassen, die, von einem inneren, aufrichtigen Drange beseelt, in die Zukunft hinein rufen. Dieses Rufen verstummen zu machen, über dasselbe mitleidig zu lächeln und zu sagen: „O ihr gutmüthigen Anfänger im Denken, dergleichen Dinge versteht ihr nicht; laßt die großen Zeitschwingungen in Ruhe, sie werden ohne euch aushallen,“ mag wohl denen gut anstehen, die um jeden Preis die Ruhe wünschen, die sich nur höchst ungern in ihrer Privatclause incommodiren lassen durch den Sonnenstrahl der jungen Freiheit, nicht aber denen, so mitzukämpfen berufen und befähigt sind. Haben die Musiker wirklich „noch nicht denken gelernt“5, so kommen, meinen wir, jene Rufe der Zeit eben zu rechter Zeit, und die sogenannte Phrase: „Welchen Einfluß wird die politische Freiheit auf die Tonkunst üben?“6 dürfte wohl [46] etwas bedeuten, nämlich, daß die Musiker die kräftigen Regungen der Neuzeit nicht spurlos an sich vorübergehen lassen, dem Indifferentismus7 entsagen und demokratische Sympathien nicht vornehm zurückweisen sollen. Und wenn den Musikern insbesondere dies gesagt, und von „jungen Denkkünstlern“8 betont wird, so hat dies seinen guten Grund darin, daß es nöthig ist, weil vielleicht Manche taub bleiben gegen die kräftigen Mahnungen der Zeit, wenn sie nicht aus ihrer Lethargie aufgerüttelt werden und angetrieben, einem bloßen ergötzlichen Formenspiel zu entsagen und dem Geistesleben tieferer Betheiligung Raum zu geben. Wenn von so verschiedenen Seiten her geklagt wird über „Verflachung und Entleerung der Kunst von sittlich-würdigenden Ideen“, wenn das in Ermattung hinabgesunkene Völkerleben diesen Gedankenbankerott willig hinnahm, und die Musiker in der großen Mehrzahl trotz der Mahnungen, die an sie ergingen, einer frivolen Sinnlichkeitswirthschaft nicht entsagten: was Wunder, wenn nun, nachdem die Völker aus ihrem Traum erwacht, auch auf diesem Gebiete die Blicke in die Zukunft schauen und prüfen? Geschieht dies auf anderen Gebieten, wo vielmehr das geistige Leben auf diese neue Wendung der Dinge vorbereitet wurde, so ist es hier wahrlich doppelt von Nöthen, wie bereits anderweit in dies. Blättern nachgewiesen worden ist.9 Damit wird aber das innere Wesen der Kunst selbst nicht alterirt; es soll damit nicht gesagt werden, so oder so sollt ihr künftig Musik machen, denken, fühlen etc., sondern die Forderung, welche durch die Zeit selbst gestellt wird, geht dahin, in
4 Siehe ebd.: „Wunderlich sagen wir, insofern es zu verwundern ist, wie ein grosses Wogen und Stürmen der Zeit die Flachköpfe so rasch überflutet, so dass sie, wie sich selbst, auch die übrige Welt auf den Kopf stellen müssen.“ 5 Siehe ebd.: „Wahrlich, die Philosophen, die dem Künstler eine merkliche Grösse der unteren Seelenkräfte zuschreiben, werden sich dieses triumphirend in’s Gedenkbuch tragen, zum Zeichen, dass die Musikanten auch heute noch nicht denken gelernt haben.“ 6 Siehe etwa Brendel, der kurz zuvor in einem Aufsatz „Die Ereignisse der Gegenwart in ihrem Einfluß auf die Gestaltung der Kunst“ dargestellt hatte (siehe Brendel 1848 Fragen der Zeit II, in: NdS 1 Nr. 8). 7 Siehe dazu Brendel 1846c Polemische Blätter, in: NdS 1 Nr. 5. 8 Siehe Krüger 1848 Beziehungen zwischen Kunst und Politik, Sp. 403, in: NdS 1 Nr. 10, S. 135: „Man wünscht z. B. – und man hört dies oftmals recht anmaasslich von jungen Denkkünstlern betonen – es soll irgend eine Zeitgestalt oder ein zeitgemässes Ding in künstlerische Formen gegossen werden; das würde, meint man dann, einen gar herrlichen Eindruck machen, wenn z. B. statt des ewigen sentimentalen Liebesgewinsels ein heroisches vaterländisches Lied die Bühne beschritte – statt der Novellenintriguen ein Epos, statt der lüderlichen Salonhelden ein Hohenstaufe!“ 9 Siehe etwa Brendel 1848 Fragen der Zeit I sowie Brendel 1848 Fragen der Zeit II, in: NdS 1 Nr. 8.
Klitzsch 1848 Beziehungen zwischen Kunst und Politik
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sich zu blicken, zu sehen, wie ein neuer Boden, ein neuer Inhalt zu gewinnen sei, Theil zu nehmen an der großen Geisterschlacht, die jetzt geschlagen wird, damit man im Stande sei, die neuen Schwingungen, die in den Herzen der Völker vibriren werden, zu verstehen und davon zu singen und zu dichten. Oder glaubt man vielleicht, daß, ohne mitzukämpfen, das neue Ziel erreicht, daß es den künftigen Genies im Halbschlummer des Geistes kommen werde? Sagt doch Hr. Kr. selbst: „Nicht der Kämpfende ist ein Dichter, aber der vollendete Kampf kann ein Gedicht werden“, und „nicht der wachende Traum des Verzückten ist ein Gedicht, wohl aber die spätere Erinnerung daran“10. Wie ist es aber möglich, fragen wir, daß Jemand dichte, wenn er keine Erlebnisse in sich trägt? Wie ist es möglich, daß ein neuer Aufschwung auf unserem Gebiete eintrete, wenn die Träger der neuen Ideen, des neuen Inhalts den Wogen und Strömen der Zeit fern bleiben, sich nicht berühren lassen von den gewaltig tönenden Schwingungen, die uns die Riesenharfe, auf der die Völker jetzt spielen, entgegenbraust? Wie wurde Beethoven zum Propheten der Zukunft? Gewiß nicht durch engherziges Abschließen. Er kämpfte den Kampf der damaligen Zeit in sich mit, war leidenschaftlicher Parteigänger, entschiedener Republikaner. So nur konnte es kommen, daß er die gewaltigen Töne schuf, so nur konnte er als ächter Prophet die Musik schreiben zu dem Texte unserer Zeit. Hiermit fordern wir nicht etwa auf, daß nun Jeder den Parteischild erhebe – ein solches Mißverständniß findet in der Auslassung des Hrn. Dr. Kr. statt – sondern die Mahnung geht dahin, das Herz zu öffnen den Zeitideen, den Inhalt der Zeit in sich aufzunehmen, den Geist zu tränken mit den Alles durchdringenden Ideen und in dem frischen Bade der Freiheit zu stärken. So nur wird ein neues Leben erstehen auf unserem Gebiete. Die Freiheit klopft an euere Thüren, der junge Tag des Völkerlebens wirft seine ersten Strahlen in euere enge, verschlossene Clause. Wohlan denn, öffnet das Thor! Mit einem Male werden die kleinen Leiden und Schmerzen, von denen ihr uns schon allzu viel vorgesungen, würdigeren und entscheidungsvolleren Thaten weichen. Nur frisch zu! ausgetreten aus der Befangenheit eures Selbst ist die weite, große, objective Welt! habt den Muth, euren Particularismus zu überwinden, so wird euch das erhöhtere Leben, das Leben im Ganzen, zu ruhmvolleren Thaten emportragen. In diesen Mahnungen liegt aber ferner nicht, daß jetzt, mitten im Kampfe, dasjenige, was nach Gestaltung ringt, was leidenschaftlich hin und her getrieben wird, sich consolidire und von irgend einem Genius künstlerisch verleiblicht werde – ein Mißverständniß, dessen Hr. Kr. sich schuldig macht. Diese Forderung ist von Niemand ausgesprochen worden und liegt nicht in dem, was von Seiten der Fortschrittspartei über die zukünftige Gestaltung der Kunst bemerkt wurde. Diese wollen wir freilich dem gottbegabten Genius anheim geben, von Schulmeistern und Dareinreden soll nicht die Rede sein; wir wünschen ja eben nur, – und das wird Hr. Kr. gewiß verzeihlich finden – daß ein Genius, sei es spät oder bald, erstehe, der die Pfade entdecke, auf denen die Kunst zu neuem Leben gelange. Und er wird erstehen, vielleicht einer, der mitten im Kampfe gelebt, über den die Wogen des tosenden
10 Beide Zitate: Krüger 1848 Beziehungen zwischen Kunst und Politik, Sp. 404, in: NdS 1 Nr. 10, S. 136.
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Stromes hinweggingen. Der wird dann, nachdem die Wellen sich gelegt, mit neuem Nachen den großen Ocean der Töne befahren und neue Hymnen singen zur Feier des Auferstehungsmorgens der Völker. Aber nimmer wird er es können, wenn er nicht heraustritt an die freiere Luft und die Kraft stählt, und das eigene Ich erhöht hat an dem Aufschwunge, der Erhebung und Verbrüderung der Nationen. Die künftige Gestaltung der Kunst wird sicher [47] einen politischen Charakter annehmen. Denn die Kunst, die das innerste Leben äußerlich darstellt, nimmt schon durch die öffentliche Darstellung der persönlichen Ideen und Gefühle die gemeinsame Sympathie in Anspruch, und wird dadurch politisch. Wenn nun das politische Leben bei uns seither verkümmert war, die Kunst daher dem Egoismus, der Unbedeutenheit und Frivolität des Privatlebens anheimfallen mußte, so wird auch sie, sobald der gesellschaftliche Körper, – der, so lange er krank war, die krankhaften Gebilde, Separatismus genannt, nicht ausstoßen konnte – genesen ist, zu einem neuen, gesünderen und frischeren Leben erstehen. In der Poesie sind die politischen Lieder die Verkündiger der neueren Zeit; so sehr sie auch erfüllt sind von „declamatorischem Haß“11, so athmen sie doch Liebe für die Menschheit. Auf dem musikalischen Gebiete regen sich die Spuren des künftigen, neuen Lebens in den Männergesangsfesten, welche allerdings aus den demokratischen Bewegungen der Völker entsprungen sind. Der politische oder demokratische Charakter derselben ist, so geringfügig auch die Kunstleistungen bisher sein mochten, für die Entwicklung des neuen, socialen Lebens wichtig geworden, und läßt uns keinen Augenblick darüber in Zweifel, ob Empfänglichkeit und Bedürfniß des Volkes dafür vorhanden sei. Und so harren wir nur der Geister entgegen, die die Zeit erfassen und in der Begeisterung für das große vollendete Werk, für die errungene Freiheit, Kunstwerke schaffen, die erleuchtend, befruchtend und beseligend ihre Strahlen über Alle, die da Leben und Liebe in sich tragen für das Edle und Schöne, der erwärmenden Sonne gleich aussenden.
Kommentar Die Kontroverse zwischen Eduard Krüger, der sich lediglich eine Woche zuvor in der AmZ – nicht in der NZfM, für die er ansonsten schrieb12 – skeptisch-mahnend über die Beziehungen zwischen Kunst und Politik geäußert hatte,13 und Karl Emanuel Klitzsch um die Frage,
11 Vgl.
ebd.: „Kalter deklamatorischer Hass in glänzende Verse gegossen, ergreift nur den Gleichgesinnten; ächte Dichtung alle Menschen, auch die Feinde der Konfession.“ 12 Krüger war u. a. von 1839 bis 1853 als Mitarbeiter der NZfM tätig, daneben trat er aber auch mit Aufsätzen für die AmZ, nach 1854 dann in der Niederrheinischen Musik-Zeitung, zunächst unter den Pseudonymen „DIXI“ und „A E K.“, später unter seinem Klarnamen hervor. 13 Krüger 1848 Beziehungen zwischen Kunst und Politik, in: NdS 1 Nr. 10.
Klitzsch 1848 Beziehungen zwischen Kunst und Politik
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inwieweit Musik von politischen Fragen beeinflusst werden dürfe und wie Kompositionen beschaffen sein müssen, damit sie einen stärkeren Bezug zur gesellschaftlichen Realität aufbauen können, stellt im Grunde den Nukleus der Auseinandersetzungen der Jahre 1848/1849 in den deutschsprachigen Musikzeitschriften dar. Der Hintergrund dieser Debatte ist die vor allem von Seiten Jungdeutscher Autoren14 herrührende Kritik an der Musik als romantische, das heißt subjektiv innerliche und damit esoterisch-abstrakte Kunstform. Wie auch Brendel an anderer Stelle zuvor15 machte sich Klitzsch diese Diagnose der aktuellen Musikproduktion zu eigen, um mit Hilfe eines stärker inhaltlichen Gegenwartsbezugs der Kompositionen einen Ausweg aus dieser ‚Krise‘ aufzuzeigen. Bemerkenswert ist auch die Aussage, es gebe gegenwärtig keinen Komponisten, der bereits diese Forderungen nach einer gegenwartsbezogenen Musik erfülle; stattdessen überlässt er diese Aufgabe einem zukünftigen, „gottbegabten Genius“16. Eine Projektion dieser Ideen auf konkrete Gegenwartskomponisten sollte sich jedoch erst wenige Wochen nach dem Erscheinen von Klitzschs Beitrag in bislang nicht dagewesener Deutlichkeit bei Carl Kretschmann17 finden, der u. a. Schumann, Berlioz, Wagner und Gade als Vertreter einer „Richtung“ des „Stürmens und Drängens“18 benannte. Daneben sticht vor allem die von Klitzsch vorgenommene Gleichsetzung einer formalästhetischen Musikanschauung, welche diese Kunstform zu einem „bloße[n] ergötzlichen Formenspiel“19 reduziere, mit einer politisch-reaktionären Gesinnung ins Auge – eine Position, welche mehr oder weniger offen vorgetragen, den gesamten musikästhetischen Parteienstreit der 1850er Jahre durchziehen sollte.20
etwa die Kritik an der Musik als „klingende Mathematik“ in Karl Gutzkows Wally, die Zweiflerin (ED 1835), S. 35 – 37. 15 Siehe Brendel 1845 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper III. Zukunft, in: NdS 1 Nr. 4. 16 Vorliegender Artikel, S. 161 [46]. 17 Siehe Kretschmann 1848 Romantik in der Musik, in: NdS 1 Nr. 11. 18 Ebd., S. 152 [10]. 19 Vorliegender Artikel, S. 160 [46]. 20 Vgl. etwa Nitzsche 1857 Zur Würdigung der Zukunfts-Musik, in: NdS 2 Nr. 109 sowie Geck 2002 Zwischen Romantik und Restauration, S. 177 –184. 14 Vgl.
Nr. 13 | J. [Jean Friedrich] Schucht, „Der überwundene Standpunkt in der Tonkunst“, in: AmZ 50 (1848), Nr. 33 (16. August), Sp. 536 – 538.
Der überwundene Standpunktin der Tonkunst. Von J. Schucht.
Seit einiger Zeit hat sich auch unter den Kunstkritikern, und vorzüglich in der Musik, ein recht lobenswürdiges Streben gezeigt, die Recensionen über Kunstwerke und künstlerische Leistungen auf Prinzipien zu gründen und nicht nur mit einigen ästhetisch sein sollenden Floskeln oder subjektiven Meinungen wohl oder übel abzufertigen. Denn nur gar zu oft hat sich gezeigt, wie der grösste Theil gewisser Recensenten ihr Geschäft zur Befriedigung niedriger Leidenschaften herabwürdigten und so nach pekuniärem Vortheil oder persönlichem Hass ihren Beifall oder giftigen Tadel spendeten. Man fühlte sich daher gedrungen, feste Grundsätze aufzustellen, damit auch jede Kritik wieder kritisirt werden könnte und so jenem Unwesen ein Ende gemacht würde. Wie weit dieses bisher gelungen ist oder überhaupt in einem Jahrhunderte gelingen kann, darüber wollen wir uns hier nicht aussprechen; nur über eine schon angenommene Maxime oder doch wenigstens sehr oft gebrauchte Redensart mögen hier einige Zeilen Platz finden. So liest man unter Anderem oft Folgendes: „Der Komponist hat noch nicht Selbständigkeit errungen, der Standpunkt, auf dem er steht, ist ein überwundener; er bestrebe sich, dessen immer mehr sich zu entschlagen und den Anforderungen der Neuzeit zu genügen. Wir beziehen dieses nicht auf Kleinigkeiten in der Form, sondern auf den gesammten Geist, der ihn beseelen soll, wenn er die Kritik, die nicht anders kann, als vorwärtstreiben, für sich haben will etc.“1 Mit der noch nicht errungenen Selbständigkeit ist Referent völlig einverstanden, in so fern man in jeder Zeile nur eine schlechte Kopie eines zum Ideal gewählten Meisters erblickt. Was aber den überwundenen Standpunkt anbetrifft, so sind mir denn doch einige Zweifel darüber entstanden, als ich wahrnahm, wie man nicht nur die Werke eines Bach, Händel, Haydn und Mozart, sondern auch sogar die eines Beethoven und Spohr zu den nun völlig überwundenen Standpunkten zählt. Wer kann es begreifen und fassen, was für Ideen sich dieser Köpfe bemeistert haben! Mozart’s und Beethoven’s Werke für nun längst überwunden zu erklären! Sagt mir
1 Das Zitat stammt aus einer Rezension Karl Emanuel Klitzschs (Klitzsch 1848 Lieder und Gesänge, S. 28) von Liedern von Jean Joseph Bott (1826 –1895), einem deutschen Violinisten und Komponisten, der in den Jahren 1857 bis 1866 als Kapellmeister in Meiningen sowie 1866 bis 1878 und Hannover wirkte.
Schucht 1848a Der überwundene Standpunkt
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doch nur, ihr Herren Kunstrichter, welcher Komponist unserer Tage repräsentirt denn eigentlich den errungenen Standpunkt der Neuzeit?? Bleibt ja im Interesse unserer geliebten Kunst die Antwort nicht schuldig, damit unsere jungen Komponisten sich mit dem Standpunkte des Zeitgeistes vertraut machen können und also fähig werden, den Anforderungen der Neuzeit zu genügen. In der Philosophie erklärt man die Weltanschauung eines Plato, Aristoteles, und in der neueren Zeitepoche die eines Leibnitz [sic], Kant und Fichte für überwunden, [537] welches auch sehr wahr von Hegel begründet worden ist; dieses aber auf die Tonkunst anzuwenden, ist sehr widersinnig, wie ich sogleich zeigen werde. Welcher Literatur-Recensent hat schon die Werke des Sophokles, Euripides, Dante, Tasso, Shakespeare und Goethe für überwunden erklärt? so wie es auch in der Malerei noch Keinem eingefallen ist, Rafaels und Dürer’s Werke unter diese Rubrik zu stellen; und doch eher liesse sich diese Maxime auf die Dichtkunst und Malerei anwenden, wenn auch nur scheinbar, als auf die Musik, denn die Weltanschauung und die dadurch bedingten Sitten der Völker, welche beide Künste hauptsächlich darzustellen haben, werden durch den höher erreichten Standpunkt der Wissenschaft überwunden. Aber die Sprache des Herzens, die unaussprechbaren Gefühle der Seele, Eifersucht und Rache, Liebe, Lust und Schmerz, werden gefühlt in ihren tausendfachen Modifikationen, so lange noch Menschenherzen schlagen. Und die Darstellung dieser Seelenzustände ist die Hauptaufgabe der Tonkunst, und hierin ist sie bisher von ihren Schwesterkünsten noch nicht übertroffen worden und wird es auch fernerhin nie werden. Aber auch nicht auf die anderen Künste lässt sich dieses Prinzip anwenden; denn welcher menschliche Geist fühlt sich nicht tief ergriffen von den gewaltigen Schicksalsschlägen des Oedipus, Laokoon, trotzdem uns die griechische Weltanschauung und Religion weit entfernt liegt, denn nur wie Mährchen aus der Kindheit klingen uns ihre Mythologieen entgegen. Auch die Weltansicht des Mittelalters ist nicht mehr die unserige und dennoch bleiben uns die Werke eines Dante, Tasso, so wie eines Rafael fast unerreichbare Ideale. Fragen wir uns aber näher, was uns denn bei diesen hohen Meisterwerken so mächtig ergreift und zur höchsten Begeisterung und Bewunderung entflammt, so ist es nicht nur die hohe, ja fast unerreichbare Meisterschaft der Form, sondern hauptsächlich die wahrhaft treue, naturgemässe Schilderung der Seelenzustände in ihren unendlich mannigfaltigen Regungen von Liebe, Lust und Schmerz. Das ist ja aber, wie schon gesagt, das rechte Gebiet für die Tonkunst, die uns zu schildern vermag, und da am mächtigsten ist, wo Worte nicht mehr ausreichen, um all’ die unendlichen Regungen und Gefühle wieder zu geben, die eine Menschenbrust in diesem Erdenleben bewegen. Doch nun zu den musikalischen Kunstwerken selbst. Also das Wahre oder Wesentliche, die Seele der Plastik und Dichtung ist, wie gesagt wurde, die treue naturgemässe Darstellung der Seelenzustände; mochte es nun der betende Grieche vor seinem Zeus oder der Christ des Mittelalters vor seinem Marienbilde sein, belebt nur Beide das wahrhaft tief religiöse Gefühl, so fühlen wir uns davon ergriffen, so erregt es unser höchstes Interesse, unbekümmert, dass wir nicht mehr zum griechischen Zeus noch zum Marienbilde die Hände betend emporheben. Aber wie um so weniger können nun wahrhaft klassische Schöpfungen der Tonkunst veralten und überwunden werden, da sie ja eben weiter nichts darzu
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stellen haben, als dasjenige, was noch nie gealtert hat und auch nie altern wird, so lange Men-[538]schenherzen schlagen! Und wirklich finden wir auch dieses bestätigt, gehen wir die Meisterwerke unserer Tondichter ersten Ranges hindurch. Denn wer bleibt kalt und fühlt sich nicht erhoben und mit fortgerissen bei den gewaltigen Chören des Messias und der Passion2? und dennoch differiren wir gewaltig mit der christlichen Weltanschauung eines Bach und Händel. Aber das ist ja eben die wahre Befähigung zur Auffassung und zum Genuss eines Kunstwerkes, die freilich nicht Jedermann gegeben ist, – sich hinein zu versetzen und wahrhaft mitzufühlen, unbekümmert, ob es hellenischer oder germanischer Weltschmerz, so wie Jubel oder Gottesverehrung sei. Denn nur ein engherziger Mensch kann verlangen, nur eben dasjenige in der Kunst dargestellt zu sehen und sich daran erfreuen zu wollen, was er mit einigen guten Freunden glaubt und wohl gar für die alleinseligmachende Politik oder Religion hält und verficht. Nur bewundern können wir einen Bach, Händel und Mozart, wie sie mit so wenigen Mitteln so hohe effektreiche Werke schaffen konnten. Aber, ihr Herren Kunstrichter, zeigt uns doch nur auf, was an den Werken dieser Männer veraltet ist, gewiss doch wohl nur einzelne Sätze, die nicht als ihre gelungensten Produkte zu betrachten sind. Denn sicherlich werden die gelungensten Schöpfungen unserer vorzüglichsten Meister aus den frühesten Zeiten, von Palestrina bis Spohr und Mendelssohn, dem wahren Künstler und Kunstfreunde nie veraltet und überwunden erscheinen, so wenig als die Werke eines Homer, Sophokles und anderer Klassiker aller Zeiten und Nationen.
Kommentar Der vorliegende Artikel ist Teil einer im Jahre 1848 in den Musikzeitschriften intensiv geführten Auseinandersetzung um ‚Fortschritt‘ in der Musik und die Frage, inwieweit die Kunst einerseits dem jeweiligen Zeitgeist zu entsprechen habe, andererseits aber dadurch zugleich, ob ein Veralten von musikalischen Kunstwerken möglich sei oder es eine überzeitlich-klassische Norm der musikalischen Ästhetik gebe. Jean Friedrich Schucht, dem in seiner ablehnenden Haltung gegenüber den von Franz Brendel postulierten Gedanken bereits Johann Christian Lobe mit seiner „Fortschritt“-Artikelserie3 vorausgegangen war, reagierte mit seinem Beitrag wohl nicht zuletzt auf einen längeren Aufsatz Brendels von Anfang 1848,4 in welchem Haydn, Mozart und Beethoven vergleichend gegenübergestellt wurden. Darin findet sich die in der Folge wiederholt von Brendel vertretene – und ebenso wiederholt von gegnerischer Seite kritisierte – Ansicht, die Werke Mozarts und Haydns würden eine „Welt-
dürfte hier die Matthäus-Passion BWV 244 (UA 1729) von Johann Sebastian Bach sein. Lobe 1848 Fortschritt, in: NdS 1 Nr. 7. 4 Siehe Brendel 1848 Haydn, Mozart, Beethoven.
2 Gemeint 3 Siehe
Schucht 1848a Der überwundene Standpunkt
167
anschauung des vorigen Jahrhunderts“ repräsentieren, der „Democrat Beethoven“ dagegen habe in seiner 9. Symphonie das „Evangelium der Menschheit“5 komponiert und repräsentierte somit noch am ehesten den gegenwärtigen revolutionären Zeitgeist. Auf den Einwand Schuchts folgte kurze Zeit später eine Entgegnung Brendels.6 Darin definierte er den viel kritisierten, seit 1838 in den Schriften der sogenannten Junghegelianer nachweisbaren, aus der Hegel’schen Geschichtsphilosophie abgeleiteten Terminus „überwundener Standpunkt“ als den „nicht mehr herrschende[n], in dem die Gegenwart ihren höchsten Ausdruck findet“, schränkte jedoch wiederum ein: „Seine Berechtigung, seine ewige Geltung als Stufe der Entwicklung oder als einstiger Höhepunkt derselben wird ihm damit nicht entzogen“7. Die Kontroverse wurde in weiteren Artikeln zwischen der NZfM8, der AmZ 9und der Neuen Berliner Musik-Zeitung10 fortgeführt, auch wenn sie nicht grundsätzlich zu einer Annäherung in dieser Frage beitragen konnten, da wiederholt eine bewusste Verkürzung des teleologischen Geschichtsbildes Brendels11 erfolgte, die eine differenziertere Auseinandersetzung in dieser Frage erschwerte. Nicht zuletzt daher zeigte sich die Frage nach Fortschritt in der Musik sowie das Problem einer überzeitlichen ästhetischen Klassizität sowie der gleichzeitigen ‚Verpflichtung‘ der Kunst, die jeweilige Gegenwart auszudrücken, in der Folge langlebiger als die gescheiterten revolutionären Bemühungen in Deutschland und konnte sich so zu einem regelrechten ‚Leitmotiv‘ der späteren, oftmals polemisch geführten musikästhetischen Kontroverse der 1850er Jahre entwickeln.12
Zitate des Satzes: ebd., S. 52. 6 Siehe Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14. S. 171. 8 Gottschald 1848 Ein Prophet des Stillstands. 9 Schucht 1848b Der überwundene Standpunkt. 10 Koßmaly 1849 Ein Wort. 11 Vgl. zu Brendels Geschichtsbild insgesamt Edler 2013 Reflexionen über Kunst und Leben, S. 416 – 434. 12 Siehe etwa Anonym 1857 Der überwundene Standpunkt; H – L. 1857 Der Zopf als Schreckbild, in: NdS 2 Nr. 103. 5 Alle
7 Ebd.,
Nr. 14 | Franz Brendel, „Fragen der Zeit. III. Die Forderungen der Gegenwart und die Berechtigung der Vorzeit“, in: NZfM 15 (1848), Bd. 29, Nr. 19 (2. September), S. 101–105.
Fragen der Zeit. Von Fr. Brendel.
III. Die Forderungen der Gegenwart und die Berechtigung der Vorzeit In den beiden Artikeln, welche ich unter obiger Aufschrift im vorigen Bande der Zeitschrift gegeben habe,1 betrachtete ich die Einflüsse, welche die großen Zeitereignisse auf Kritik und Kunst auszuüben geeignet sind; ich deutete hin auf die tiefe Demoralisation in Leben und Kunst, die vor dem Umschwung durch dieselben vorhanden war, und sprach das Resultat aus, daß Belebung, daß erneute Kräftigung in Aussicht stehe. Werden die Errungenschaften der Neuzeit richtig verstanden, so ist eine Reformation im socialen Leben davon unzertrennlich; das ist erst die wahre Vollendung der Bestrebungen, das ist das Ziel, welches angestrebt werden muß, vor dessen Erreichung nicht geruht werden kann. So wird zugleich der gesammte Hintergrund, auch für die Kunstschöpfungen, ein anderer. Der alte, morsch gewordene Bau in Staat und Sitte stürzt zusammen; täuscht er zur Zeit noch mit dem Schein des Bestehens, so wird solche Täuschung nicht lange mehr dauern. Soll nun in Zukunft von einer lebendig fortschreitenden Tonkunst die Rede sein, so muß sie diese Einflüsse in sich aufnehmen. Ein Beharren in dem Bisherigen ist unmöglich; entweder die Tonkunst stirbt ab, oder sie geht neu verjüngt aus den Bewegungen hervor. Damit ist keineswegs gesagt, daß schon der Augenblick große Kunstwerke hervorrufen müßte; das ist nicht wahrscheinlich, das ist kaum möglich. Erst wenn aus der Bewegung feste Gestaltungen resultirt sind, ist der richtige Moment gekommen. Aber schon das ist ein großer Gewinn, daß dem alten Trödel ein Ende gemacht wird, der unwürdigen Stellung der Kunst, der Lüge und dem Schein. Noch immer herrschen über diese und ähnliche Sätze große Mißverständnisse unter den Musikern, und es hat sich neuerdings eine ziemlich lebhafte Polemik darüber entsponnen.2 Was diese Blätter betrifft, so sprechen wir in unseren Recensionen
Brendel 1848 Fragen der Zeit I; Brendel 1848 Fragen der Zeit II, in: NdS 1 Nr. 8. 2 Siehe etwa Krüger 1848a Beziehungen zwischen Kunst und Politik, in: NdS 1 Nr. 10 sowie Klitzsch 1848 Beziehungen zwischen Kunst und Politik, in: NdS 1 Nr. 12.
1 Siehe
Brendel 1848 Fragen der Zeit III
169
häufig von den Forderungen der Neuzeit, von dem neuen Inhalt, der jetzt in die Welt eintritt, wir bezeichnen die früheren Stufen als überwundene Standpunkte. Erst kürzlich wurde in dieser Hinsicht, Nr. 33 der Allg. musik. Zeitg., eine Anfrage gestellt.3 Schon am Schlusse des zweiten Artikels versprach ich eine weitere Erörterung. Treten wir darum der Lösung der Aufgabe jetzt wiederum einen Schritt näher. Es ist zunächst zu untersuchen, wie weit die gegenüberstehenden Ansichten, von denen die eine ausschließlich der Gegenwart huldigt, die andere die Vorzeit vertritt, berechtigt sind, um dann die Ansicht dies. Blätter als eine vermittelnde näher zu bezeichnen. Die eine Partei macht die Forderung geltend, daß die Kunst Ausdruck und Spiegelbild der Zeit sei. Sie verlangt, daß dieselbe sich in die Mitte des Ta-[102] geslebens versetze, und spricht ihr die Berechtigung ab, wenn sie sich einer solchen Stellung entzieht. Die Größen der Vorzeit sind vorübergegangen; sie haben nur Berechtigung, in soweit sie die Gegenwart vorbereitet haben. Diese, die Gegenwart, ist für die bezeichnete Partei die höchste Spitze der bisherigen Entwicklung, und die Größen der Vergangenheit sind darnach zu messen. Solchen Sätzen entschieden gegenüber tritt jene Ansicht, welche den Einfluß der Zeitbewegung auf die Kunst leugnet, und sie als ein abgeschlossenes, von den Stürmen der Geschichte unberührtes Gebiet betrachtet. Es ist diese Ansicht die der conservativen Partei in der Musik, während jene die der Reformbewegung vertritt. Diese stützt sich auf die hohe, auch von der modernen Wissenschaft bestätigte Stellung der Kunst, der zufolge dieselbe, erhaben stehend über den Schwankungen des Zeitlichen und Endlichen, nur das Ewige und Unendliche zu ihrem Gegenstand wählen dürfe; jene betrachtet die Entwicklung aller Gebiete des Lebens, des Staates, der Wissenschaft als ein großes Ganzes, und behauptet, daß in diesem Strome der allgemeinen Bewegung nichts sich festsetzen, nichts sich an die Ufer stiller Beschaulichkeit zurückziehen dürfe. Vielfach schon sind diese Ansichten zur Sprache gebracht worden, immer aber begegnen wir großer Unklarheit darüber, und einem Hin- und Herschwanken in den Extremen. Diejenigen, welche eine höhere Kunstanschauung in sich ausgebildet haben, werden ohne Weiteres übereinstimmen, wenn behauptet wird, daß die Kunst nicht bestimmt sei, in ihren großen und bedeutenden Schöpfungen den Bewegungen des Augenblicks zu dienen. Die großen Kunstwerke haben die Aufgabe, Ausdruck ganzer Epochen zu sein, und diese in ihrer Wesenheit darzustellen, keineswegs aber den nur vorübergehenden Erscheinungen des Tages Gestalt zu verleihen. Die Kunst wählt das Rein-Menschliche, das sich stets Gleichbleibende, von den Schwankungen des Augenblicks Unberührte zum Gegenstand ihrer Darstellungen. Die Ansicht der conservativen Partei in der Musik erscheint darum nicht ohne große Berechtigung. Aber es übersieht dieselbe, daß sie jeder Bewegung entflieht, indem sie den kleinen Bewegungen sich entziehen will, daß sie die Kunst aus dem Gebiet des Lebens hinausrückt, einsargt, dem Fortschritt entzieht. Nirgends ist der Maaßstab gegeben, zu beurtheilen, wo die Bewegung des Tages aufhört, und die des Jahrhunderts beginnt, nirgends zeigt sich die Grenzlinie, bis wohin die Kunst sympathisiren darf,
3 Siehe
Schucht 1848a Der überwundene Standpunkt, in: NdS 1 Nr. 13.
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Nr. 14 (1848)
ohne ihrem ewigen Charakter untreu zu werden, nirgends die Grenzlinie, welche sie nicht überschreiten darf. Der allgemeine Strom der Bewegung bedarf nothwendig auch der einzelnen Wellen zu seiner Erscheinung, und eine Erfassung des Großen und Ganzen ist nicht möglich ohne ein Durchleben auch des Einzelnen. Die Kunst kann sich daher nur auf dem Grunde einer Sympathie mit dem Tagesleben zum Ausdruck der ganzen Epoche, des Jahrhunderts erheben, sie kann ihre Aufgabe nicht erreichen ohne das, was sie dieser Ansicht zufolge vermeiden soll. Es ergiebt sich hieraus, wie das einseitige Festhalten derselben zu einer ganz falschen Stellung der Kunst hinführt. Geht aber diese Ansicht so weit, wie dies wohl zu geschehen pflegt, daß sie auch der Kunst den Beruf, Ausdruck großer Entwicklungsepochen zu sein, bestreitet, demnach aus aller Zeit hinausrückt, und ihren Inhalt lediglich als den rein-menschlichen, stets sich gleichbleibenden, von allen Zeitläuften unabhängigen bezeichnet, so verkennt sie, daß ein solcher Inhalt überhaupt nicht existirt, daß alles Erscheinende einseitiger Bestimmtheit verfällt und seine Totalität des Inhaltes nur in einzelnen Momenten nacheinander auseinanderlegen kann. Eben so wenig, wie das Absolute als solches erscheint, eben so wenig, wie es einen normalen Menschen giebt, ist das Höchste einer bestimmten Zeit ausschließlich übertragen, oder sich stets gleichbleibend auf alle Epochen vertheilt, und es verräth einen Mangel an der allerdürftigsten Einsicht in geschichtliche Entwicklung, wenn man in ihr etwas Starres und sich Gleichbleibendes zu finden glaubt. So pflegt man wohl zu sagen, sei die Liebe, was sie vor Jahrtausenden gewesen, noch heute dasselbe, während das Wahre ist, daß sie im Flusse der Zeiten ganz andere Erscheinungsformen angenommen hat, die moderne Liebe z. B. von dem Alterthum gar nicht gekannt, entschieden Resultat des Christenthums ist. Es giebt im Flusse der Geschichte so wenig Sichgleichbleibendes, daß nicht einmal die körperliche Beschaffenheit des Menschen dieselbe ist, und nicht blos die einzelnen Länderstrecken, auch die Jahrhunderte zeigen in dieser Beziehung die größte Verschiedenheit. Die allgemein menschliche Form freilich bleibt dieselbe, aber diese Form selbst ist unendlicher Mannichfaltigkeit fähig, und einer Durchdringung mit immer größerem und umfassenderem Inhalt. – Dem zufolge ist jene conservative Ansicht, nicht blos wenn sie sich auf die Spitze stellt, und neben der allgemeinen Bewegung Gebiete, die sich ewig gleichbleiben, aufstellen, sondern auch, wenn sie die Kunst zum Ausdruck großer Geschichtsepochen bestimmt wissen will, und dies durch Ausschließung der Sympathie mit dem Tagesleben zu erreichen glaubt, entschieden falsch, und verkehrt sich, selbst im Fall sie der Bewegung zu huldigen meint, in das Gegentheil einer ganz unhistorischen Starrheit und Leblosigkeit. Unser Resultat ist die Wahrheit und ganz ent-[103]schiedene Berechtigung der zweiten Richtung, welche ich als die der Reformbewegung bezeichnete. Indem aber diese Ansicht die jedesmalige letzte Stufe als die höchste betrachtet, die eben letzte aber im Augenblick schon von der nachfolgenden verschlungen wird, verliert dieselbe jeden festen Boden unter den Füßen, und verfällt wie die vorige in Starrheit, so in einen haltungslosen Taumel. Wie jene rein willkührlich verfahren muß, wenn sie eine Grenzlinie aufzustellen sucht, wenn sie bestimmte Bewegungen als blos dem Tagesleben angehörig, andere als bleibende Resultate in sich bergend betrachten muß, so verfährt auch die zweite Ansicht völlig willkührlich, wenn sie die jedesmalige letzte Stufe als die höchste betrachtet. Sie ist zugleich, wie jene,
Brendel 1848 Fragen der Zeit III
171
völlig unhistorisch, weil sie ungerecht wird gegen die Vergangenheit, die Höhepunkte, die dieser angehören, oftmals irriger Weise in der Zukunft sucht, oder das Herabsteigen von dem schon Erreichten, das Zurücksinken als ein Hinaufsteigen, als einen Fortschritt betrachtet. Die Beurtheilung der Vergangenheit wird eine schwankende, da dieselbe von der jedesmaligen Gegenwart abhängt, und die Kunst wird Dienerin des Augenblicks. Wie die gegenüberstehende Ansicht endlich verkehrt sich auch diese in ihr Gegentheil, indem sie ihrer Meinung nach die Spitze der Lebendigkeit repräsentirend, nur stets das Veraltete, das Todte in den Händen hält. Das was heute neu war, ist schon morgen ein Vorübergegangenes, und das Jagen nach dem Augenblick hat ein beständiges Zurückbleiben hinter demselben zur Folge. Alles Bleibende in der Entwicklung verschwindet. So ist unser gegenwärtiges Resultat, daß wir zur Berechtigung des ersten Standpunktes wieder hinübergeführt werden. Wir erblicken das dialektische Umschlagen dieser in ihrer extremen Beschaffenheit gefaßten Richtungen. Beide sind berechtigt, beide zugleich einseitig, und fordern ihre Ergänzung durch den Gegensatz. Die Einheit, die Durchdringung beider ist das einzig Wahre, die Einsicht, wie die Kunst nur in dem lebendigen Flusse der Zeiten existirt, hocherhaben über der wechselnden Bewegung der Mode, und doch zugleich dieser unterworfen, und die mannichfachen Gestaltungen derselben durchlebend. In der flüchtigsten Zuspitzung des Augenblicks erscheinen jene allgemeinen Mächte, und nur auf dem Grunde der Sympathie mit dem Augenblick ist der Aufschwung zu den Höhen der Zeit möglich. Fassen wir jetzt die praktische Seite dieser Sätze in ihrer Anwendung auf die Aufgaben des Künstlers in dieser, wie in jeder Zeit. Die Mißverständnisse, welche uns entgegentreten, beruhen zumeist auf der nicht ausreichend erkannten oder mißverstandenen Bedeutung des Ausdrucks: „überwundener Standpunkt“. Man versteht darunter etwas für Ungültig-Erklärtes, Beseitigtes, Veraltetes, während der Sinn einfach der ist, daß ein solcher Standpunkt nicht mehr der herrschende, in dem die Gegenwart ihren höchsten Ausdruck findet, genannt werden kann. Seine Berechtigung, seine ewige Geltung als Stufe der Entwicklung oder als einstiger Höhepunkt derselben wird ihm damit nicht entzogen. Wenn daher gesagt wird, der Standpunkt Bach’s, Mozart’s sei ein überwundener, so wird dieser dadurch nicht zur Bedeutungslosigkeit herabgesetzt. Es heißt allein, daß der Inhalt jener Werke nicht mehr das Wesen des gegenwärtigen Bewußtseins bildet, daß wir als Menschen dieser Zeit nicht mehr unseren innersten Mittelpunkt, das, was uns gerade von den Vorfahren unterscheidet, darin ausgesprochen finden. Keinem Vernünftigen aber ist es jemals in den Sinn gekommen, die ewige Bedeutung der Schöpfungen dieser Männer in Abrede zu stellen, eben so wenig als wir Homer, Sophokles, Raphael etc. als bedeutungslos betrachten. Nur das muß die conservative Partei zugestehen, daß alle diese Größen der Vergangenheit von Geistesrichtungen ihren Ausgangspunkt genommen haben, die nicht mehr die der Gegenwart sind. Würde die Ansicht der Letzteren als gültig erkannt, so wäre mit einem Male ewiger Stillstand ausgesprochen, und die Aufgabe des Menschengeschlechts wäre fortan nur die, den großen Geistern der Vergangenheit nachzutreten. Der Künstler soll sich nicht abschließen gegen seine Zeit, und lediglich die Fäden seines Daseins an die Vergangenheit knüpfen; es ist grundfalsch, von der Vergangenheit aus eine oppositionelle Stellung gegen die Gegenwart einzunehmen. Wer heutzutage ausschließlich
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den großen Meistern der Vergangenheit huldigt, und was die Gegenwart leistet, schmäht und verachtet, der darf sich nicht beklagen, wenn auch diese Gegenwart ihn völlig unbeachtet läßt. Von welcher praktischen Wichtigkeit diese Sätze sind, wird Der erwägen, der da weiß, wie viele junge Künstler unter der Unklarheit darüber leiden. Nur zu viele Beispiele sind mir bekannt, wo junge Künstler mit Starrheit an der älteren Zeit festhalten und die Gegenwart mißachten, und doch in den Widerspruch verfallen, von dieser Gegenwart Anerkennung zu verlangen, und unglücklich sind, wenn ihre jahrelangen Bestrebungen, z. B. ihre Werke zu ediren, die ohne eine Spur des neuen Geistes dieser Zeit geradezu in’s Gesicht schlagen, nothwendig scheitern mußten. Es soll ein Jeder in seiner geistigen Richtung seiner Zeit angehören, und jedes Zurückziehen rächt sich durch die traurigsten Folgen. Mißverständniß aber würde es sein, und gleich verwerflich, ausschließlich auf diese Gegenwart sich zu beschränken und, wie es allerdings an-[104]dere Künstler in großer Anzahl thun, ausschließlich dem Augenblick nachzujagen. Nur die einigende Durchdringung der verschiedenen Seiten gewährt die wahre Stellung. Der musikalische Reactionair lebt ausschließlich in der Vergangenheit, und sieht die Gegenwart mit mißtrauischem Blick an; der Ultra des Fortschritts verwirft diese Vergangenheit; er anerkennt ihre Berechtigung als Entwicklungsstufe, ohne sich weiter um dieselbe zu kümmern, wir umfassen gleichmäßig die alte wie die gegenwärtige Zeit, wir kämpfen gegen den Philister eben so sehr, als wir bei der musikalischen äußersten Linken (Griepenkerl) die Ungerechtigkeit gegen die Vorzeit tadeln.4 Die Wahrheit beider Richtungen ist auf unserem Standpunkt geeint. Allerdings sympathisiren wir mehr mit jener äußersten Linken, denn das Alte steht fest, während für den Fortschritt das Terrain erobert werden muß; wir ergreifen in sofern Partei, entschieden Partei gegen Jene, die immer noch die alte Confusion bewahren möchten; aber wir vergöttern diese Gegenwart nicht ausschließlich. Wollen wir der Kunst näher treten in ihrer Größe und Hoheit, wollen wir Abgeschlossenes, Classisches, so zweifeln wir keinen Augenblick, daß wir das in der Vergangenheit suchen müssen. Wollen wir aber uns wiederfinden in unserem eigensten Empfinden, so sind es die Werke der Gegenwart, die wir bevorzugen. Ich sprach früher von dem neuen Inhalt, der für die Zeit gewonnen ist.5 Es ist die Frage nach der Beschaffenheit desselben aufgeworfen worden; man weiß nicht, worin derselbe besteht.6 Es sind in dies. Bl. vielfach Andeutungen darüber gegeben worden; auch ist eine musikalische Zeitung nicht der Ort, ausführlicher darüber zu sprechen. Nur so viel sei bemerkt, daß unter den früheren Zuständen nicht an eine des Mannes würdige Existenz gedacht werden konnte. Wem jetzt nicht durch die Ereignisse eine drückende, ungeheure Last von der Brust abgewälzt wurde, wer nicht bemerkt, daß jetzt zum ersten Male eine menschlich würdige Existenz sich zu gestalten beginnt, wer jetzt nicht von Stimmungen bewegt wird, die zum Theil wohl in
4 Brendel
spielt hier auf den anlässlich der ersten Leipziger Tonkünstler-Versammlung am 14. August 1847 gehaltenen Vortrag von Wolfgang Robert Griepenkerl zur „Oper der Gegenwart“ an (siehe Griepenkerl 1847 Die Oper der Gegenwart). Hierin hatte dieser alle bestehenden Opern, deren Handlung vorwiegend „aristokratisch“ und daher ohne Zeitbezug zur Gegenwart sei, abgelehnt. 5 Siehe Brendel 1848 Fragen der Zeit II, in: NdS 1 Nr. 8. 6 Siehe Krüger 1848a Beziehungen zwischen Kunst und Politik, in: NdS 1 Nr. 10.
Brendel 1848 Fragen der Zeit III
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Poesie und Musik prophetisch vorausgenommen, aber noch in keiner Kunst und von keinem Künstler erschöpfend dargestellt sind, der freilich ist nicht berechtigt, hier mit zu sprechen. Wer von dem Standpunkte alten, aristokratischen Empfindens aus componirt, wessen Herz nicht schlägt für Verbrüderung des Menschengeschlechtes, für die Demokratie, der hat heutzutage nichts mehr zu sagen. Sein Inneres ist todt und abgestorben, sei er auch noch so jung an Jahren; er spricht nur aus, was die Vorzeit, die in jenen Richtungen einmal berechtigt war, weit besser gesagt hat, er spricht nur aus, was als „überwundener Standpunkt“ einer lebendigen Gegenwart in den Herzen sich nicht mehr erfreut. Anderseits aber ist diese Gegenwart, wie es in verkehrter Weise geschehen ist, nicht so mißzuverstehen, daß man an schweizerische Tagsatzung7, preußischen Landtag und Parlament dächte. Es ist ein gründliches Mißverständniß, wenn man meint, der Künstler solle sich in spitzfindige Untersuchungen über die politischen Fragen des Tages einlassen. Nicht die lediglich dem untersuchenden Verstande angehörigen Entscheidungen über das Specielle, die geistigen, die Zeit bewegenden Mächte in ihrem tiefsten Grunde, wo sie aus dem Gebiet der Stimmungen noch nicht herausgetreten sind, brauchen allein in dem Bewußtsein des Künstlers lebendig zu werden. Ich sage allein, daß der, der in solcher Weise unberührt ist von der Zeit, innerlich im Gefühl, als ein Zurückgebliebener zu bezeichnen ist. Hierbei bedarf wohl kaum ein mögliches Mißverständniß einer ausführlichen Widerlegung, das Mißverständniß nämlich, als ob durch solche Sympathie der moderne Künstler fertig wäre. Es handelt sich hier allein um den Inhalt der Kunstwerke. Das speciell Künstlerische, die Form, ist Gegenstand ganz anderer Untersuchungen. Es leuchtet ein, daß von unserem Standpunkte aus von einer ausschließlichen Beschränkung des Künstlers auf die Gegenwart, wie Griepenkerl will,8 nicht die Rede sein kann. Von dieser aus wende er sich immerhin zur Vergangenheit, – der Operncomponist z. B., was Stoffe der Vorzeit oder rein Phantastisches, der Welt der Phantasie Angehöriges betrifft, – der Künstler lasse aber dieselbe unter der Beleuchtung der Gegenwart erscheinen, nicht so demnach, daß er der letzteren völlig fremd, ein Zurückgebliebener, in der Vorzeit lebt und webt, er wende sich erst, wenn er gesättigt ist durch Anschauungen dieser Zeit, zur Vergangenheit. Eben so wie der Dichter, will er seiner Nation etwas sein, sich nicht ganz seiner Nationalität entäußern, in die Zustände eines fremden Volkes versenken, aus dessen Individualität heraus einen Stoff, der der Geschichte desselben entnommen ist, behandeln darf, sondern den entlehnten Gegenstand, bei aller objectiven Charakteristik, doch – nach dem großen Vorbild Shakespeare’s – auf den Boden seines Volkes herüberziehen
7 In
der Schweiz wurde bis 1848 die Versammlung der Abgeordneten der Kantone als „Tagsatzung“ bezeichnet. Nach 1848 wurde sie vom „Ständerat“ abgelöst, der bis heute besteht. 8 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 4. In seinem 1847 gehaltenen Vortrag „Die Oper der Gegenwart“ forderte Griepenkerl eine Neuorientierung innerhalb der Wahl der Opernsujets und die ausschließliche Hinwendung zu Stoffen, welche das Interesse der Gegenwart und des deutschen Volkes besäßen. Während demnach Opern, wie etwa Mozarts Le nozze di Figaro (UA 1786), welche eine überwiegend aristokratische Thematik und Personenkonstellation enthielten, daher weniger zeitgemäß und aufführenswert seien, so seien etwa Meyerbeers Les Huguenots (UA 1836) als ‚Oper der Gegenwart‘ ausdrücklich zu empfehlen (siehe Griepenkerl 1847 Die Oper der Gegenwart).
174
Nr. 14 (1848)
muß, so lasse der Operncomponist die Vergangenheit auf dem Grunde der Gegenwart erscheinen. Es wäre eine ganz irrige Beschränkung, heutzutage nur das politische Leben in der Oper zur Darstellung zu bringen, vielleicht gar noch an Stoffen, die der Zeit unmittelbar entnommen sind. Das aber ist als Forderung geltend zu machen, und um so entschiedener, je mehr heutzutage noch dagegen gefehlt wird, daß die Farbe der Zeit, der das Werk [105] seine Entstehung dankt, überall erkennbar sei. Es wäre ferner eine große Thorheit und eine nicht zu rechtfertigende Starrheit, den Reichthum und die unendliche Mannichfaltigkeit des Lebens einzwängen zu wollen in enge, vorgeschriebene Bahnen, das aber ist weiter als Forderung geltend zu machen, daß jede Zeit auch in der Kunst ihren Ausdruck findet. Ist kein Organ da für die Bestrebungen derselben, gelangen diese letzteren in der Kunst nicht zum Ausdruck, so ist diese der Zeit unwürdig, und das Verdammungsurtheil ist über sie ausgesprochen. Man fragt, welche Künstler die der Neuzeit sind. Sie sind oft genug in diesen Bl. genannt worden, so daß eine namentliche Aufzählung kaum nöthig sein sollte. Betrachtet den Inhalt der Werke der Künstler der Gegenwart, fragt welcher Zeitrichtung derselbe angehört, fragt ob aristokratische oder demokratische Gesinnung darin zur Erscheinung gekommen ist, und die Antwort kann nicht zweifelhaft sein. Schon im Eingange wurde die Ansicht erwähnt, welche der unmittelbaren, von den politischen Ereignissen bewegten Gegenwart den Beruf zu großen Kunstschöpfungen abspricht. Auch ich bekenne mich zu dieser Ansicht. Sie versteht sich beinahe von selbst, und ist eine allbekannte Lehre der Wissenschaft. Ganz irrig aber ist die Consequenz, darum stillzustehen, oder sich in die Vergangenheit zurückzuziehen. Es ist um Vieles besser, mit der Zeit zu leben, und wenn auch mit ihr vorübergehende Werke zu produciren, als den Größen der Vergangenheit nachzutreten, und Compositionen zu liefern, die nicht einmal das vorübergehende Interesse modischer Neuheit haben. Diese sind sogleich todt geboren; jene tragen wenigstens das Leben des Tages in sich. Noch gefahrbringender aber wird diese Ansicht, indem wir bedenken, daß, wenn jetzt die Künstler die Bewegungen nicht mit durchleben, die Zukunft, die der Production günstige festgegründete Neuzeit, nicht vorbereitete, mit dem Geiste derselben vertraute Jünger treffen wird, sondern Zurückgebliebene, die den Umschwung der Zeiten verschlafen haben. Dann werden die Kräfte fehlen, welche die neuen Aufgaben zur Ausführung bringen können, und die Kunst wird mit der, dem Gericht verfallenen Vergangenheit zugleich untergegangen sein. Darum diene die Kunst, welche die herrschende der Zeit ist, immerhin dem Augenblick und seiner wechselnden Mode. Die wenigst Begabten werden bei dieser niedrigsten Aufgabe stehen bleiben. Die größeren Naturen aber heben sich aus den Regungen des Augenblicks empor zu den Höhepunkten der Zeit, und befestigen, was in schwankender Erscheinung schwebt, mit dauernden Gedanken. Am schlimmsten sind die berathen, deren ganzes Dasein, weil an eine untergegangene Welt gekettet, ein erlogenes ist, und die darum nie zu einer reellen Existenz in ihrer Zeit zu gelangen vermögen.
Brendel 1848 Fragen der Zeit III
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Kommentar Im Gefolge der politischen Aufstände in Deutschland seit 1848 hatte sich im Bereich der Musikzeitschriften vornehmlich zwischen der NZfM, der AmZ sowie der Neuen Berliner Musikzeitung eine intensiv geführte, monatelange Kontroverse entsponnen, welche in ihrem Kern um die Frage kreiste, ob Musik die gesellschaftspolitischen Ereignisse der Zeit verarbeiten solle und könne. Wichtiger Impulsgeber war dabei Brendels Artikelreihe „Fragen der Zeit“, deren dritter Aufsatz hier vorliegt. Die darin in aller Deutlichkeit ausgesprochenen Positionen legen ein bemerkenswertes Zeugnis für die durch die politische Revolution in liberalen Kreisen ausgelöste Euphorie ab, sich innerhalb des Mediums der Musikzeitschriften – nicht zuletzt auch durch die Aufhebung der Pressezensur in Deutschland – erstmals offen und öffentlich in schriftlicher Form über den Konnex von Musik und Politik zu verständigen. Hatte Brendel in den beiden vorhergehenden Artikeln die künftige Aufgabe der Musikkritik9 sowie das enge Wechselverhältnis von Musik und Politik10 dargelegt, stehen im Zentrum des vorliegenden dritten Artikels wiederum mehrere Vorstellungen, die sein Denken – und damit auch das der damaligen musikästhetischen Kontroversen – über die revolutionären Zeitereignisse hinaus wesentlich bestimmen sollten. Hierzu gehört vor allem die Überzeugung, ‚fortschrittliches‘ künstlerisches Schaffen könne ohne Sympathie mit den Ideen und Positionen der jeweiligen Gegenwart nicht den herrschenden Zeitgeist im Sinne der zu dieser Zeit noch präsenten Hegel’schen Geschichtsphilosophie verkörpern – eine Aufgabe, die jeder wahren Kunst erst ihren Wert und ihre wahre Legitimation verleihe.11 Damit wandte sich Brendel zugleich gegen ein ‚akademisches‘ Komponieren nach tradierten Mustern und Ausdrucksmitteln, wie er es wiederholt für die Gegenwart konstatierte und kritisierte. Die Zeitgenossen entzündeten ihre Kritik hauptsächlich daran, dass diese Position Brendels, welche zwar nicht der Vorstellung einer überzeitlichen Klassizität von Kunstwerken, jedoch deren ästhetischer Vorbild- und Normhaftigkeit für die gegenwärtigen Komponisten widersprach, die damals gerade etablierten Vorstellung einer ‚Wiener Klassik‘ durch das Dreigestirn Haydn, Mozart und Beethoven (scheinbar) in Frage stellte.12 Dieser Vorwurf war es auch, der Jean Friedrich Schucht (Pseudonym Julius Schucht) zuvor in der AmZ zu der Aussage bewogen hatte, Brendel und mit ihm die musikalische ‚Fortschrittspartei‘ lehnten die Werke der Vergangenheit nur mehr als „überwundene Standpunkte“ ab.13 Auffällig ist darüber hinaus, wie vage zu diesem frühen Zeitpunkt der musikästhetischen Kontroverse die Aussagen Brendels bezüglich der kompositionsästhetischen Eigenschaften einer ‚fortschrittlichen‘ Musik mit dem Verweis auf den „Inhalt der Werke der Künstler der Gegenwart“ und deren „darin zur Erscheinung“ kommenden „aristokratische[n] oder demokratische[n] Gesinnung“14 ausfallen. Diese ästhetisch wenig konkrete Aussage erstaunt umso mehr, da bereits zuvor Johann Christian Lobe ebenfalls in der AmZ
1848 Fragen der Zeit I. 10 Brendel 1848 Fragen der Zeit II, in: NdS 1 Nr. 8. 11 Zu Brendels Auseinandersetzung mit der Geschichtsphilosophie Hegels vgl. Ramroth 1991 Robert Schumann und Richard Wagner, S. 76 – 91 sowie Dahlhaus 1996 Die Musik des 19. Jahrhunderts, S. 203 – 209. 12 Siehe hierzu etwa Koßmaly 1849 Ein Wort. 13 Siehe Schucht 1848a Der überwundene Standpunkt, in: NdS 1 Nr. 13. 14 Vorliegender Artikel, S. 174 [105]. Vgl. hierzu insgesamt Ortuño-Stühring 2012 Democratische Musik. 9 Brendel
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Nr. 14 (1848)
in seiner großangelegten Artikelserie unter dem Titel „Fortschritt“15 Brendel dazu aufgefordert hatte, zu benennen, worin und durch welche Komponisten bzw. Werke musikalischer Fortschritt konkret verkörpert würde. Während der Magdeburger Jurist Carl Kretschmann eine Antwort bereits im Juli 1848 in seinem bemerkenswerten Aufsatz „Romantik in der Musik“16 – wohl in stillschweigender Übereinkunft mit Brendel – in der NZfM gegeben hatte, erfolgte diejenige Brendels auf diese Frage jedoch erst im Juni 1851 in seinem öffentlichen Bekenntnis zu Richard Wagner,17 dessen Zürcher Reformschriften18 kurz zuvor erschienen waren und vermutlich mehr zu dieser ‚Parteinahme‘ beitrugen als die bis dahin Brendel bekannte Musik des Komponisten selbst.
15 Siehe Lobe 1848 Fortschritt, Sp. 173, in: NdS 1 Nr. 7, S. 87. 16 Kretschmann nennt darin als Hoffnungsträger einer fortschrittlichen musikalischen Zukunft Niels Gade, Félicien David, Hector Berlioz, César Franck und Richard Wagner, in: Kretschmann 1848 Romantik in der Musik, S. 10, in: NdS 1 Nr. 11, S. 152. 17 Siehe Brendel 1851 Einige Worte über Wagner, in: NdS 1 Nr. 25. 18 Siehe Wagner 1849 Kunst und Revolution; Wagner 1850 Kunstwerk der Zukunft sowie Wagner 1852 Oper und Drama.
Nr. 15 | Epslein [Julius Becker], „Der deutsche Musikfortschritts-Verein in Kuhschnappel“, in: Signale 6 (1848), Nr. 41 (4. Oktober), S. 321 f.
Der deutsche Musikfortschritts-Verein in Kuhschnappel.1
An die Spitze der Berichte, welche ich Ihnen, Herr Redacteur, für die Signale von Zeit zu Zeit über den in Kuhschnappel gegründeten Verein zu liefern gedenke, stelle ich die Eröffnungsrede seines Präsidenten, des Herrn Mag. Fritzschmeisel, weil sie über die Zwecke und die in Aussicht stehende Wirksamkeit des Vereines Licht verbreitet. Sie lautet im Auszuge: Meine Herren! Theilhaftig der großen Errungenschaften des Volkes lassen Sie uns, verehrte schwarzroth-goldne Collegen, nicht blos als deutsche Bürger, sondern hauptsächlich auch als deutsche Künstler unsere Souveränität feierlich documentiren! Wir thun dies indem wir heut den Grundstein zum Bau eines Freiheitsdomes2 deutscher Musik legen, in welchem das Evangelium einer durch die großen politischen Umwälzungen bedingten neuen Epoche der Musik verkündigt und gepredigt wird. Auf der
seit Jean Pauls Roman Blumen- Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel (ED 1796) gilt der Name des in der Nähe von Chemnitz tatsächlich existierenden Orts als Inbegriff von Kleingeistigkeit und bornierter Rückständigkeit. In diesem Sinne verwendete auch August Heinrich Hoffmann von Fallersleben in seinen 1843 entstandenen Gedichten Kuhschnappelsche Volksrepräsentation und Stiftungslied der adelichen Ressource zu Kuhschnappel den Namen als Sinnbild für die preußische Reaktion gegenüber den liberalen Bestrebungen des Vormärz. 2 Anspielung auf die zu dieser Zeit vonstattengehende Vollendung des Kölner Doms. Dessen Deutung als „Freiheitsdom“ geht zurück auf das ursprüngliche Vorhaben des Architekten Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) aus dem Jahr 1813, anlässlich des Sieges über das Napoleonische Koalitionsheer in der sogenannten „Völkerschlacht bei Leipzig“ einen „Freiheitsdom“ im neugotischen Stil zu errichten. Tatsächlich erhielt Schinkel 1814 einen diesbezüglichen Auftrag durch Wilhelm III. (Preußen), der jedoch letztlich aufgrund finanzieller Bedenken scheiterte. Ausdruck der Idee Schinkels, durch die gemeinsame finanzielle Beteiligung aller deutschen Staaten an dem Bau zur inneren und äußeren Einheit der Nation beizutragen und ein gemeinsames Symbol nationaler Identität zu stiften, projizierte sich daraufhin auf die seit Jahrzehnten diskutierte Vollendung des Kölner Doms, dessen Grundstein für die Vollendungsarbeiten 1842 von Friedrich Wilhelm IV. (Preußen) gelegt worden war. 1 Spätestens
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breitesten democratischen Grundlage3 ruhend, soll er überragen die überwundenen Standpunkte4. Offen sollen seine Hallen dem souveränen Volke stehen, das bis zum Februar des Jahres 1848 in schmählicher Knechtschaft schmachtete; und neben dem Minister soll der Schusterjunge anbetend knieen vor dem Allerheiligsten der Kunst! Sie, die bisher eine üppig wuchernde Treibhauspflanze des Aristokratismus war, soll neu erstarken und erblühen am frischen Sonnenlichte des Democratismus, ein mächtiger Hebel der Volksbildung, soll sie alle Schichten des Volkes durchdringen und, hervorgegangen aus dem weltbürgerlichen, als dem höchsten Bewußtsein des Menschen, soll sie dasselbe durch freie Tonschöpfungen steigern. Stürzen soll sie die aristokratische Salonmusik und die als Schänken- und Gassenmusik noch im Keime schlummernde Volksmusik zur vollen Blüthe ausgestalten.5 Wie Gespenster vor dem Morgenrufe des Hahnes müssen die aus der finstern Zeit des Sentimentalen und Gemüthlichen stammenden Volkslieder verschwinden; neue, edlere Weisen wird das Volk anstimmen, und zwar Lieder ohne Textwiederholungen6 mit Melodien von republikanischer Kürze. Ein unübersehbares Feld der Revolution eröffnet sich für uns, verehrte schwarz-roth-goldne Collegen! Große [322] Thaten sind zu thun! Vor Allem aber lassen Sie uns planmäßig das große Werk beginnen! Ich fordre Sie auf, in unserer constituirenden Versammlung ein Centrum und eine Rechte wie eine Linke zu bilden. (Allgemeiner Applaus.) Ich fordre Sie auf, bei Ihren Vorschlägen, Debatten und Beschlüssen zu bedenken, daß ganz Deutschland, ja das ganze musikalisch reife Europa auf Sie sieht. Ich fordre Sie auf zu erwägen, daß Sie es sind, von denen das Heil der musikalischen Zukunft Deutschlands abhängt! (Tiefe Sensation.) So sprach Herr Präsident M. Fritzschmeisel. Leider bin ich der hochgelehrten Ausdrücke, mit denen er seinem blühenden Style die Folie giebt, nicht mächtig genug, als daß ich nicht fürchten sollte, die Leser möchten statt seiner mich für jenen Schüler Schelling’s halten, von welchen dieser Philosoph gesagt haben soll: „Von
3 Die
Forderung nach einer ‚demokratischen‘ Musik bzw. Musikkultur findet sich auf liberaler Seite etwa im Juli 1848 bei Carl Kretschmann (Kretschmann 1848 Romantik in der Musik, S. 10, in: NdS 1 Nr. 11, S. 153) oder auch kurze Zeit später bei Ernst Gottschald, der als Beispiele für eine solche ‚demokratische‘ Musik Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125 oder dessen Ouvertüre zu Egmont op. 84 angeführt hatte (Gottschald 1848 Beziehungen zwischen Kunst und Politik, S. 299). Vgl. hierzu insgesamt Ortuño-Stühring 2012 Democratische Musik. 4 Der Autor spielt hiermit auf verschiedene Aussagen vor allem von Brendel, aber auch anderer Mitarbeiter der NZfM an, welche unter dem Schlagwort ein notwendiges Fortschreiten in der Musik proklamierten, da einige Aspekte in den älteren Kompositionen nicht mehr dem aktuellen Zeitgeist entsprächen und damit ‚überwunden‘ seien. Vgl. hierzu Schucht 1848a Der überwundene Standpunkt, in: NdS 1 Nr. 13; Schucht 1848b Der überwundene Standpunkt; Gottschald 1848 Ein Prophet des Stillstands; Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14. 5 Der Autor paraphrasiert hier Aussagen, wie sie zuvor Adolf Bernhard Marx und Brendel geäußert hatten (siehe Marx 1848 Der Ruf unserer Zeit, in: NdS 1 Nr. 9 sowie Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14). 6 Um diese Frage war kurz zuvor eine Kontroverse zwischen Julius Becker und Karl Emanuel Klitzsch in der NZfM entbrannt. Während Becker Textwiederholungen als unabdingbares Mittel nicht zuletzt zur musikalischen Gestaltung der Lieder ansah (Becker 1848 Ueber Text-Wiederholungen im Liede), lehnte Klitzsch diese als undramatisch und unrealistisch ab (Klitzsch 1848 Ueber Textwiederholungen).
Becker 1848 Der deutsche Musikfortschritts-Verein in Kuhschnappel
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allen meinen Schülern hat mich nur dieser einzige verstanden, und ach [sic] dieser einzige leider falsch!“7 – Epslein.
Kommentar Der vorliegende Artikel des anonymen Autors, bei dem es sich sehr wahrscheinlich um den Komponisten, Musikschriftsteller und früheren Schumann-Mitarbeiter in der NZfM, Julius Becker8, handelt, ist einer von insgesamt zwölf „Kuhschnappel“-Satiren, welche von 1844 bis 1849 in den Leipziger Signalen für die musikalische Welt publiziert wurden.9 Historischer Hintergrund im Jahr 1848 sind die zahlreichen Berichte und Aufsätze in den Musikzeitschriften im Gefolge der revolutionären Ereignisse in Deutschland, welche sich mit den Auswirkungen der politischen Reformen auf das Musikleben und dessen künftiger Umgestaltung beschäftigten.10 Hierzu zählte neben einer stärkeren finanziellen Beteiligung des Staates an der Kultur oder der Einführung des Faches Musik an höheren Schulen, wie es vor allem von den zahlreichen zwischenzeitlich entstandenen musikalischen Interessenverbände wie etwa den 1848 gegründeten Tonkünstlervereinen in Leipzig11 oder Breslau12 wiederholt verlangt wurde, auch die Forderung nach einer inhaltlichen Umorientierung der Komponisten und ihrer Werke, um so den Anschluss an den revolutionären Zeitgeist zu halten.13 Wie die parodistische Wortwahl innerhalb des Artikels, durch die darin angemahnte „democratische Grundlage“14 der Musik oder die Rede von „überwundenen Standpunkten“15 verdeutlicht, bot dabei insbesondere das Fortschrittspathos liberaler Musikschriftsteller wie Adolf Bernhard Marx in der Neuen Berliner Musikzeitung, Brendel und seiner
7 Tatsächlich
wird dieser anekdotisch überlieferte Ausspruch meist Georg Wilhelm Friedrich Hegel zugeschrieben. 8 Anhaltspunkt ist das Indiz, dass einige der in den Signalen erschienenen „Kuhschnappel“-Satiren mit dem Autorenkürzel „J. B.“ gezeichnet sind (siehe J. B. 1848 Kuhschnappel in Revolution). 9 Hierzu gehört neben dem vorliegenden Artikel u. a. Reorganista 1849 An den deutschen Musikfortschritts-Verein, in: NdS 1 Nr. 18. 10 Siehe etwa Marx 1848 Denkschrift über Organisation des Musikwesens. 11 Leipziger Tonkünstlerverein 1848 Eingabe an das königl. preuß. Ministerium sowie Leipziger Tonkünstlerverein 1848 Erklärung des Leipziger Tonkünstler-Vereins. 12 Anonym 1848 Adresse der musikalischen Section. 13 Siehe vor allem Klitzsch 1848 Beziehungen zwischen Kunst und Politik, in: NdS 1 Nr. 12 sowie Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14. 14 Vorliegender Artikel, S. 178 [321]. 15 Ebd.
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Mitarbeiter in der NZfM wie Ernst Gottschald16 ein dankbares Ziel für satirische Spitzen, ohne dass die hier genannten Autoren hierfür angeführt und direkt zitiert werden mussten. Dies belegt nicht nur das Ausmaß der damaligen Politisierung des Geisteslebens, sondern verdeutlicht zugleich auch die Verbreitung und den Einfluss der NZfM und ihres Herausgebers im damaligen Musikdiskurs.
16 Gottschald hatte in der NZfM neben dem auch von Brendel mehrfach genannten Chorfinale der 9. Symphonie Beethovens, welches vor allem durch die vertonten Worte Friedrich von Schillers als Beleg für den „geistigen Zusammenhang“ des Komponisten „mit den Ideen der modernen Demokratie, mit den Ideen der Freiheit, Gleichheit, Bruderliebe“ (Gottschald 1848 Ein Prophet des Stillstands, S. 299) stand, als weiteres Werk noch Beethovens Egmont-Ouvertüre angeführt. In dieser begegne eine „durch und durch demokratische Gesinnung, es stellt den siegreichen Kampf der Freiheit gegen die Unterdrückung dar, freilich nicht in der Weise, wie es sogenannte Objectivitätstheoretiker wollen, indem es das Wuthgeschrei des Volkes, den Donner der Schlacht, das hinfließende Blut, das Todesröcheln und den endlichen Hurrahschrei des Sieges, und Gott weis[s] was noch, recht deutlich copirt, sondern indem es die Stimmungen, die geistigen Mächte, die hinter der äußeren That verborgen liegen, in Tönen zeichnet.“ (Ebd.)
Nr. 16 | Fr. S., „Parteiung auf dem Gebiete der Tonkunst“, in: AmZ 50 (1848), Nr. 41 (11. Oktober), Sp. 657 – 659.
Parteiungauf dem Gebiete der Tonkunst.
Durch die ganze politische Welt geht jetzt der Ruf: „Man muss Partei nehmen“, und eines der Losungsworte unserer Zeit ist das bekannte Herwegh’sche1: Partei! Partei! wer sollte sie nicht nehmen, Die noch die Mutter aller Siege war!2 Ohne Zahl sind jetzt die Illo’s,3 die mit dem Wallenstein’schen Feldmarschall sagen: „Wer nicht ist mit mir, der ist wider mich.“4 Es ist wohl keine Frage, dass dem Bürger dieser Welt die Pflicht obliegt, durch Parteinahme auf dem politischen Felde mitzuwirken, um im staatlichen Leben bessere Zustände herbeiführen zu helfen. Nun bleibt man aber nicht dabei stehen, man trägt diese Forderung auch auf das Gebiet der Kunst herüber, und namentlich hat sich in der Musik neuerlich immer häufiger die Meinung geltend zu machen gesucht, man müsse auch hier zu einer bestimmten Fahne schwören, man müsse in den verschiedenen Richtungen der Tonkunst für oder wider entschieden auftreten.5 Sehen wir, was Haltbares daran ist. Was bringt auf dem politischen Felde die Parteien hervor? (Ich bemerke ein für alle Mal, dass ich letzteres Wort hier in edlem Sinne nehme, also darunter nicht etwa das wilde Toben einer anarchischen Wühlerei verstehe, sondern den geistigen Kampf der verschiedenen Ansichten gebildeter, redlicher Staatsbürger.) Die politischen Parteien entspringen aus der Verschiedenheit der Ansichten des Verstandes über die absolut oder relativ beste Regierungsform. Das Gesetz, das hier siegen soll, ist das der Mehrheit. Wenn einmal auf unserer Erde nicht jedes einzelnen Menschen politischer Wille erfüllt werden kann und ein Unterordnen der Theile demnach
1 Georg
Herwegh (1817 –1875), Dichter und Schriftsteller, der vor allem für seine sozialrevolutionären Gedichte im Vormärz Bekanntheit erlangte und aufgrund seiner revolutionären Gesinnung bereits 1839 in die Schweiz fliehen musste, später nach seiner Beteiligung an den blutig niedergeschlagenen Aufständen in Baden 1848 wiederum nach Zürich emigrierte, wo er u. a. mit Richard Wagner in Kontakt stand und sich in der europäischen Arbeiterbewegung engagierte. 1863 fungierte Herwegh als Mitbegründer des „Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins“. 2 Herwegh, Die Partei, in: Gedichte eines Lebendigen (ED 1843). 3 Figur aus Friedrich von Schillers Dramentrilogie Wallenstein (UA 1798 –1799). 4 Schiller, Die Piccolomini (UA 1799), 4. Aufzug, 7. Auftritt. 5 Vgl. etwa Otto 1847 Parteien – Cliquen, in: NdS 1 Nr. 6 sowie Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14.
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nicht zu vermeiden ist, so müssen doch wohl die kleineren Zahlen sich der grössten fügen? Damit aber der überwiegende Wille sich sicher herausstelle, muss jeder Einzelne den seinigen kundgeben, und deshalb ist die Forderung, auf dem politischen Gebiete entschieden Partei zu nehmen, eine nothwendige und vernünftige. Aber in der Kunst, in der Musik? Sie wurzelt in der Gemüthswelt; nur darin also können die Quellen der sogenannten Parteien zu suchen sein; die letzteren [658] können nur entspringen aus der Verschiedenheit der Empfindung, des Gefühles für die Kunst, des Geschmackes. – Da stellen sich nun allerdings Parteien heraus. 1) Die Männer der Vergangenheit, die nur an Werken früherer Meister Gefallen finden, auf die Gegenwart aber verächtlich herabblicken. 2) Die Männer der Gegenwart, die nur die heutige Musik anerkennen und ehren, die Schöpfungen älterer Tondichter aber schlechtweg für einen Zopf 6 erklären, der entweder schon abgeschnitten sei oder doch abgeschnitten werden müsse. 3) Die Männer der Zukunft, die weder mit den Werken der früheren, noch mit denen der Jetztzeit zufrieden sind und alles Heil von den kommenden Zeiten erwarten. Dazwischen laufen noch verschiedene Schattirungen, z. B. Solche, die zwar die Leistungen der Vergangenheit und Gegenwart anerkennen, damit aber auch den Kreis abschliessen und der Zukunft kein Vorwärts mehr zugestehen u. s. w. Ist hier ein vernünftiger Grund zur Parteiung im scharfen politischen Sinne, zu ausschliesslichem Festhalten der einen und entschiedenem Bekämpfen der anderen Gefühls- und Geschmacksrichtung? Wer nicht blind und taub ist, kann das Herrliche, was die Vergangenheit in der Tonkunst schuf, nicht verkennen. Werke, wie die von Mozart, Haydn, Beethoven, Cherubini, Weber u. s. w., welche Tausende entzückt haben und noch entzücken, sind nicht als eine Bagatelle zu betrachten, und wer sie für „Zopf“ ausgibt, der besehe sich doch ja, wenn er’s vermag, einmal von hinten.7 Welch’ tiefen Eindruck die Werke unserer früheren grossen Meister hervorbringen, wie bedeutend sie auf die gesammte Kultur der Menschheit eingewirkt haben und noch einwirken, das ist gar nicht zu ermessen. Dasselbe gilt von den Werken der Gegenwart. Ist sie auch nicht so reich an Kunstprodukten ersten Ranges, was Erfindung, Schwung, Genialität anlangt, so hat sie doch sehr bedeutende Erscheinungen aufzuweisen. Und wäre denn die gewaltige Vervollkommnung der äusseren Mittel, der Technik, der Instrumentation u. s. w. für nichts zu achten? Will man endlich nicht annehmen, die Kunst habe sich erschöpft und es sei um das Menschengeschlecht gethan, so dür-[659]fen wir auch von der Zukunft schöne Werke erwarten. Im Gebiete der Kunst, und speziell der Musik also auffordern, wie in der Politik, entschieden Partei zu nehmen, heisst verlangen, einseitig einer
6 Anspielung
auf den in liberalen Kreisen als Symbol für eine reaktionäre Gesinnung geltenden Zopf, der im 18. Jahrhundert bei vielen Armeen als Haarschmuck verpflichtend vorgeschrieben war. 7 Anspielung auf das Gedicht Tragische Geschichte (ED 1822) von Adelbert von Chamisso (1781– 1838), dessen erste beiden Strophen lauten: „’s war Einer, dem’s zu Herzen ging, / Daß ihm der Zopf so hinten hing, / Er wollt’ es anders haben. // So denkt er denn: wie fang ich’s an? / Ich dreh’ mich um, so ist’s gethan – / Der Zopf, der hängt ihm hinten.“
Fr. S. 1848 Parteiung
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Gefühls- und Geschmacksrichtung in derselben sich zu ergeben, und folglich etwas der Kunst Widerstrebendes zu verlangen. Ist das Wesen des politischen Seins stets an die herrschende Idee eines gegebenen Zeitmomentes gebunden und eine gewisse Unfreiheit des Individuums darin nimmer zu verbannen, so soll das Gemüth in seinen Kunstgenüssen frei und unbeschränkt sein; es soll sich nicht einspinnen; es soll die besten Gaben der Vergangenheit, so wie der Gegenwart empfinden können, ja es soll versuchen, auch die Kunstschöpfungen, die schon mehr der Zukunft zustreben, nach Möglichkeit in sich aufzunehmen. Je weniger der Geschmack sich einer bestimmten Richtung nur ergibt, je allgemeiner, allumfassender er alles Aechte und Schöne aller Zeiten zu empfinden und zu geniessen vermag, je freier er sich demnach von aller Parteinahme, d. h. von Einseitigkeit zu halten weiss, desto kunstwürdiger ist er. Je mehr sich Einer nur einer Partei ergibt und je mehr er Andere auffordert, dasselbe zu thun, desto geringer muss seine künstlerische Empfänglichkeit und seine kritische Bildung sein. Die Forderung hier zur Parteinahme hat nichts Haltbares in sich, sie fliesst nicht aus der Natur der Sache, sondern aus einer gedankenlosen Uebertragung von einem Gebiete auf das andere, kurz, aus bloser Nachbeterei. Und das ist eine geistige Krankheit unserer Zeit, die mehr und mehr in der musikalischen Literatur überhand nimmt, und wenn sie Einfluss gewänne, grossen Schaden anrichten könnte. Fr. S.
Kommentar Dieser Text eines anonymen Autors ist ein Beispiel für das frühe Auseinanderdriften von grundsätzlich nicht allzu fernen Ansichten. Vor allem seit der Übernahme der Redaktionsleitung durch Brendel und seinem in der NZfM proklamierten Konnex von musikalischem und gesellschaftlichem Fortschritt, der u. a. durch eine bewusste Parteinahme der Musiker und Komponisten nicht nur im Bereich des Musiklebens vorangetrieben werde müsse,8 ist das Einsetzen einer Tendenz zur Polarisierung festzumachen. Der Autor der AmZ vertritt in seinen Aussagen eine ästhetische Position, welche Musik traditionell als reine Gefühlssprache versteht, Aspekte der Macht und des Sieges, wie sie in der Politik bestimmend sind, jedoch nicht auf den Bereich der Kunst übertragen wissen will. Mit ähnlichen Argumenten
8 Vgl. hierzu etwa Brendel 1848 Fragen der Zeit II, in: NdS 1 Nr. 8; Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14. Bereits 1847 hatte die Schriftstellerin und Frauenrechtlerin Louise Otto in der NZfM Musiker und Komponisten zu einer entschiedenen Parteinahme aufgefordert (siehe Otto 1847 Parteien – Cliquen, in: NdS 1 Nr. 6).
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bestritten auch Jean Friedrich Schucht9 und Eduard Krüger10 durch drei ebenfalls in der AmZ veröffentlichte Artikel eine substanzielle Verbindung von Musik und Politik. Eine direkte Replik auf den vorliegenden Text veröffentlichte der Musikkritiker August Dörffel drei Wochen später in der NZfM, welche die eigene Position zu konkretisieren sucht: „Oft genug ist’s gesagt worden, was wir wollen. Vor Allem will unsere Partei Wahrheit gegen Freund und Feind, Unparteilichkeit im Urtheil. Sie will richtiges Erkennen der Zustände des Kunstlebens, bewußtes Fortschreiten in demselben. Sie will bessere Organisation desselben, sie will, daß der Musiker mit der Bildung der Zeit Schritt halte. Sie will nicht den Schlendrian mehr, der überall eingerissen. Sie will bessere Gestaltung des Concert- und Bühnenwesens. Sie will nicht nur Anerkennung der früheren Meister, sie will Anerkennung der Lebenden. Sie will die Kunst mit dem Gesammtleben der Menschheit vermitteln, den Einfluß derselben auf die Bildung der Jugend fördern, diesem den Weg bahnen durch alle Hemmnisse, die vorhanden. Sie will, daß die Kunst eine nationale Stellung einnehme“11. Die Auseinandersetzung um eine Parteiung innerhalb des Musiklebens, die nicht mit dem modernen Parteienbegriff verwechselt werden darf, sondern in der damaligen Zeit nur eine lose Assoziation Gleichgesinnter bezeichnete,12 sollte auch nach dem Scheitern der Revolution im Jahre 1849 nicht abreißen.13 Im Gegenteil intensivierte sich – vermutlich nicht zuletzt unter dem Druck der wieder wirksamen Pressezensur, die hauptsächlich auf den Bereichen des politischen und literarischen Feldes konzentriert war – diese Vorstellung noch, so dass im weiteren Verlauf der Ereignisse Schlagworte wie „Fortschritt“ und „Zopf“ mehr und mehr durch musikhistoriographisch wirkmächtigere Bezugsgrößen ersetzt werden, welche vonseiten der NZfM – und namentlich durch Brendel – an zeitgenössischen Komponisten festgemacht werden sollten, während gegnerische Stimmen eine vermehrt konservative Haltung einnahmen und sich verstärkt auf Werke und Künstler aus der Vergangen heit bezogen.
9 Siehe Schucht 1848a Der überwundene Standpunkt, in: NdS 1 Nr. 13; Schucht 1848b Der überwundene Standpunkt. 10 Siehe Krüger 1848 Beziehungen zwischen Musik und Politik, in: NdS 1 Nr. 10. 11 Dörffel 1848 Intermezzo, S. 210. 12 Vgl. zum Parteienbegriff des Vormärz: Wettengel 1998 Parteibildung in Deutschland sowie Lipp 1986 Verein als politisches Handlungsmuster. 13 Siehe etwa Lobe 1852 Politische Musik sowie Brendel 1857 F. Liszt’s neueste Werke, in: NdS 2 Nr. 108; Bagge 1858 Zur gegenwärtigen Parteistellung, in: NdS 3 Nr. 118 sowie A – z. 1859 Musikalische Parteiungen, in: NdS 3 Nr. 134.
Nr. 17 | Franz Brendel, „Fragen der Zeit. IV. Der Fortschritt“, in: NZfM 15 (1848), Bd. 29, Nr. 37 (4. November), S. 213 – 217.
Fragen der Zeit. Von Fr. Brendel.
IV. Der Fortschritt. So wie neuerdings der Ruf nach Fortschritt auf dem Gebiet der Musik mehrfach ausgesprochen worden ist,1 sind auch sogleich verschiedene Fragen darüber entstanden, bald einfach Erläuterungen verlangend, worin der geforderte Fortschritt bestehe, bald den Beruf unserer Zeit für eine solche Aufgabe bezweifelnd, bald endlich dieselbe direct verneinend.2 Es ist in dies. Bl. zuweilen von dem Fortschritt der Neuzeit die Rede gewesen; man hat von einer Fortschrittspartei gesprochen; ich selbst trug bei der diesjährigen Tonkünstler-Versammlung3 am Schlusse meiner Vorschläge über die Bildung von Zweigvereinen (Nr. 17)4 darauf an, daß die Vereine sich als Fortschrittspartei constituiren möchten,5 und es wird darum jetzt nöthig, ausführlicher auf die Bedeutung, welche für die Gegenwart mit dieser Bezeichnung zu verknüpfen ist, einzugehen, nachzuweisen, welches die schon vollbrachten, oder noch zu vollbringenden Fortschritte des Tages sind. Es gilt, dadurch nicht allein positiv die Einsicht zu fördern, es gilt auch eine Menge von Mißverständnissen von der Hand zu weisen. In den bisherigen „Fragen der Zeit“ ist so weit vorgearbeitet,6 daß wir sogleich an die Erörterung der Sache gehen können.
1 Siehe etwa Brendel 1848 Fragen der Zeit I; Brendel 1848 Fragen der Zeit II, in: NdS 1 Nr. 8 sowie Kretschmann 1848 Romantik in der Musik, in: NdS 1 Nr. 11. 2 Siehe etwa Lobe 1848 Fortschritt, in: NdS 1 Nr. 7; Schucht 1848a Der überwundene Standpunkt, in: NdS 1 Nr. 13. 3 Nachdem bereits auf Brendels Betreiben am 13. und 14. August 1847 in Leipzig die erste Tonkünstler-Versammlung mit rund 150 Anwesenden stattgefunden hatte, kam es dort am 26. Juli 1848 zu einer erneuten Zusammenkunft, bei der sich deutlich weniger Interessierte einfanden, darunter lediglich 11 Auswärtige. 4 Siehe Brendel 1848 Tonkünstler-Versammlung. 5 Ebd., S. 92. 6 Siehe Brendel 1848 Fragen der Zeit I; Brendel 1848 Fragen der Zeit II, in: NdS 1 Nr. 8. Während Brendel im ersten der beiden Aufsätze auf die Notwendigkeit hinweist, dass die Musikzeitschriften sich nach dem Ende der Pressezensur in Deutschland stärker als bisher auch gesellschaftlichen Fragen widmen und ihren Standpunkt deutlich benennen und diesen vertreten sollten, so fordert er im zweiten die Musiker auf, sich verstärkt mit den nationalen Einigungsbestrebungen zu identifizieren und kompositorisch
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Zunächst ist zu bemerken, wie jede Zeit zum Weiterschreiten berufen ist; Fortschritt ist zunächst Bewegung, ist Leben, im Gegensatz zu dem geistigen Tod des Beharrens bei dem schon Geleisteten; Pflicht jedes Zeitalters ist es, weiter zu streben, sei auch das Größte unmittelbar vorangegangen. Es liegt darum nicht die Arroganz in dem Streben nach Fortschritt, Vollendetes der Vorzeit übertreffen und überflüssig machen zu wollen; es liegt blos das Bewußtsein der Pflicht darin, sich nicht von dem Schweiße Anderer zu nähren, auszuruhen auf dem, was diese gethan haben, und es wird mit unserem Rufe in diesem Sinne nur bekämpft, was auch Platen7 bekämpfte, wenn er sagt: „Wie Mancher dünkt sich Virtuos und schlägt gewalt’ge Triller, Der nur als leere Phrase drischt, was Göthe sprach und Schiller; Wenn die sich auch nur des bedient, was Andre schon erworben, So ständen wir bei Rammler noch, der längst in Gott verstorben.“8 Die Entwicklung der Geschichte ist ein ununterbrochener Strom; sei der Inhalt, welcher eine Epoche bewegt, der größte und mächtigste: dieser Inhalt hat seine Zeit, mit welcher er steht und fällt. Es treten andere Epochen ein mit anderem Inhalt; jener frühere wird herabgesetzt zum Moment, er ist – in dem neulich besprochenen Sinne9 – überwundener Standpunkt, und es wird der Beruf für die Träger jedes geistigen Gebietes, dem Strome der allgemeinen Bewegung zu folgen, und dem geistigen Inhalte jedes [214] Zeitabschnittes willig als Organ zu dienen. Auch die Kunst ist berufen, den jedesmaligen Inhalt ihrer Zeit in ihren Werken zur Erscheinung zu bringen. In diesem Sinne wird zunächst die Mahnung nach einem unablässigen Fortschreiten von uns ausgesprochen; der Künstler soll den neuen Inhalt der Zeit in sich selbst, und somit auch in seine Werke aufnehmen, nicht denselben fort und fort aus der Vorzeit entlehnen; in diesem Sinne bedeutet unser Ruf an den Künstler, aus den Stimmungen einer vorübergegangenen Weltanschauung herauszutreten, sein Herz seiner Zeit zu öffnen, in seiner Zeit zu leben. Fortschritt ist zunächst Sympathie mit dem Inhalt der jedesmaligen Gegenwart, gleichviel, ob diese eine größere oder geringere im Vergleich mit der ihr vorangegangenen Epoche ist. Hier kann sogar der Fall eintreten, daß der Fortschritt ein Rückschritt ist, wenn der neue Zeitabschnitt, geringer als der frühere, dem geistigen Schaffen nicht mehr eine gleiche Nahrung zu bieten vermag, oder der Kunst in Rede nicht in gleichem Grade günstig ist, als ein vorangegangener. Immer aber ist eine derartige Bewegung vorzuziehen dem Beharren bei dem schon Geleisteten, weil es stets eine Thorheit genannt werden muß, das was einst groß und herrlich war, bei veränderten und nicht mehr entsprechenden Zeitumständen im Kampfe mit denselben festhalten zu wollen.
auseinanderzusetzen. Neue „Inhalte“ der Musik sollten daher in den Mittelpunkt rücken, ohne dass Brendel an dieser Stelle erläutert, welche genau damit gemeint sein könnten. Siehe auch Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14. 7 August von Platen-Hallermünde (1796 –1835), deutscher Dichter. 8 Platen-Hallermünde, Die verhängnisvolle Gabel (UA 1826), 3. Akt. Mit „Rammler“ ist der seinerzeit berühmte Lyriker Karl Wilhelm Ramler (1725 –1798) gemeint, der vorrangig Oden in antiken Versmaßen schrieb. 9 Siehe Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14.
Brendel 1848 Fragen der Zeit IV
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In dem Bisherigen liegt die erste und allgemeinste Antwort auf die Frage nach der Bedeutung, welche wir mit dem Rufe nach Fortschritt verknüpfen. Glücklicher Weise sind wir noch nicht auf dem zuletzt erwähnten Punkte, wo der Fortschritt zugleich ein Rückschritt ist, angekommen; im Gegentheil, es ist noch Großes zu erreichen möglich, es bieten sich Aufgaben zur Lösung dar, welche eine frühere Zeit noch gar nicht zu fassen vermochte. Wir treten hiermit einer specielleren Beantwortung der Frage näher. Betrachten wir die musikalischen Zustände der letzten großen Epoche, so unterliegt es keinem Zweifel, daß hier Vollendetes, für alle Zeiten Gültiges geschaffen worden ist. Und demohngeachtet wurde so eben bemerkt, daß Neues sich darbiete, und der Gang der Entwicklung keineswegs abgeschlossen sei! Es ist dies in der That der Fall, denn die Zeit selbst ist noch nicht eines neuen, bewegenden Inhaltes verlustig, im Gegentheil, das Höchste und Herrlichste, was der Menschheit gegeben, gelangt jetzt zur Offenbarung. Wollen die Künstler diesem Aufschwunge folgen, so sind sie schon durch diesen auf einen anderen Standpunkt gestellt, und bedürfen zugleich neuer Ausdrucksmittel für den neuen Inhalt. Treten wir der Kunst der Gegenwart näher, so erblicken wir diese Fortschritte, und wir erkennen die durch die Bewegungen der Zeit auch auf dem Gebiet der Kunst gemachten Eroberungen. Spohr, Weber u. A. sind zu ihrer Zeit über Mozart hinausgeschritten; Schubert, Schumann u. A. gegenwärtig über Beethoven, auch Mendelssohn, Gade, wenn schon diese letzteren nicht in demselben Sinne; sie haben zugleich neue Seiten des Schönen, welche in Beethoven und Mozart noch keineswegs ihren Ausdruck gefunden hatten, zur Darstellung gebracht, sie haben selbstständige Individualitäten zur Erscheinung gebracht, die, genährt und gekräftigt durch die großen Vorgänger, ihre Stellung keineswegs in dem Umkreise des durch jene Meister begrenzten Gebietes finden. Damit ist nicht gesagt – und es ist dies eine Haupteinsicht in Bezug auf Fortschritt, der Punkt, welcher von den Gegnern fortwährend mißverstanden oder gar nicht verstanden wurde – daß diese Späteren jene Früheren nach allen Seiten hin übertroffen und dieselben überflüssig gemacht hätten, nicht gesagt, daß sie jene in der Totalität der künstlerischen Begabung, der Originalität, Gedankenfülle und plastischen Kraft der Gestaltung überragten, nicht gesagt, mit einem Worte, daß die Letztgenannten als künstlerische Persönlichkeiten eine höhere Bedeutung beanspruchen könnten als jene, es ist einfach die Thatsache dargelegt, daß dieselben nicht geistlose Nachtreter geblieben sind, das wiederbringend, was jene schon erwarben, es ist die Einsicht ausgesprochen, daß Einer sehr wohl sich eine eigenthümliche Stellung verschaffen, einem großen Manne gegenüber selbstständig und neu sein kann, ohne diesem selbst in jeder Beziehung gleich zu stehen. Dies ist die zweite Antwort auf die Frage. Schon vor Jahren habe ich ausgesprochen, wie die frühere Epoche naturalistischen Schaffens zu Ende gehe, und Wissenschaft und Kritik in Zukunft mit der tonkünstlerischen Thätigkeit sich verschwistern müßten, wenn Bedeutendes geleistet, wenn Fortschritte gemacht werden sollten.10 Das vorige Jahrhundert besaß einen saftreicheren Boden als die Gegenwart. Bei der scheinbaren Unergiebigkeit desselben,
10 Siehe
Brendel 1845 Zur Einleitung, in: NdS 1 Nr. 1.
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wenn wir es oberflächlich betrachten, bei dem hausbacknen, engbegrenzten, spießbürgerlichen Wesen desselben, offenbarte es im tiefsten Grunde eine Schöpferkraft, wie sie fast ohne Beispiel in der Geschichte dasteht. Die neuere Zeit überragt das vorige Jahrhundert durch die Höhe ihrer Einsicht, durch die Höhe des Princips und des Standpunktes, aber es ist das Wesen derselben eine mehr republikanische Vertheilung der geistigen Güter an die Massen, ohne jene hervorragenden Persönlichkeiten, in denen sich damals der gesammte Gehalt ihrer Zeit concentrirte. Was jene Männer mit Leichtigkeit in der Fülle ihres Genies schufen, das würde jetzt bei [215] der Menge sich entgegenstellender Schwierigkeiten und nachdem so viele Wege erschöpft sind, selbst einer gleichen Begabung nicht mehr zu erreichen möglich sein, geschweige unter den eben angegebenen Verhältnissen, bei minder ganz eminenter Begabung der Einzelnen. Jetzt gilt es – insbesondere auf dem Gebiete der Tonkunst – selbst bei den glücklichsten Naturanlagen auch zu arbeiten, jetzt gilt es sich herauszuarbeiten aus dem zur Gewöhnlichkeit Herabgesunkenen, und neue Wege zu betreten. So deutlich als möglich mich erklärend, spreche ich aus, daß es sich nicht mehr darum handeln kann, blos, wenn das Glück günstig, neue musikalische Ideen und Ideencombinationen auszusprechen, und im Uebrigen die Formen aufzunehmen, welche die früheren Meister festgestellt hatten; es muß die Aufgabe sein, in den Formen selbst Fortschritte zu machen. Die Form der Oper bei Mozart, sowohl im Ganzen wie im Einzelnen z. B., der Standpunkt des Oratoriums in früherer Zeit kann nicht mehr maßgebend für die Gegenwart sein; vor allen Dingen gilt es, wissenschaftlich und kritisch über die Gesammtaufgaben zur Einsicht zu kommen, bevor an das musikalische Schaffen gegangen werden kann. Es würde zu weit führen, wenn ich in diesem Zusammenhange an alles in dieser Hinsicht früher Ausgesprochene erinnern wollte; blos beispielsweise und zur Erläuterung sei bemerkt, wie ich in einer früheren Arbeit den Unsinn des gesprochenen Dialogs, wenigstens in der großen Oper, verbannt wissen, die Anlage im Ganzen und im Einzelnen dramatischer, die principlose Vermengung der verschiedenen nationellen Style in der Behandlung der Singstimme u. s. f. beseitigt sehen wollte.11 Was Instrumentalmusik betrifft, kann hier an den Aufsatz „über das Classische in der Musik“ von J. L. Fuchs12, und an die Nachweisung darin erinnert werden, wie die früheren Formen, des belebenden Geistes verlustig, bei veränderter Richtung zu einem leeren Formalismus herabgesunken sind. Fuchs geht zu weit, und greift Unumstößliches an, wenn er z. B. den Zusammenhang der einzelnen Sätze in der Symphonie leugnet, aber er spricht zugleich die wichtige Einsicht aus, daß die frühere Form, insbesondere das Speciellere der Gestaltung nur damals berechtigt war, als sie sich mit innerer Nothwendigkeit aus dem Geiste der Künstler, dem Inhalt, welchen sie behandelten, ergeben hatten, während im Ganzen die Neuzeit dem früheren Schematismus, der Wiederholung der Theile u. s. f. bei der poetischeren und dramatischeren Richtung auch der Instrumentalmusik abhold ist. – Noch sei des Oratoriums gedacht und der
ist hier Brendel 1846 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper III. Zukunft gemeint, in: NdS 1 Nr. 4. 12 Der genannte Aufsatz von Johann Leopold Fuchs (1785 –1853), einem in St. Petersburg wirkenden deutschen Musiktheorielehrer, war im Januar 1847 in der NZfM erschienen (Fuchs 1847 Ueber das Klassische in der Musik). 11 Wahrscheinlich
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Beibehaltung des alten Inhaltes und der alten Form bei den Componisten der Gegenwart. Ich kann nicht umhin, die Kräfte als nutzlos verschwendet zu bedauern, die jetzt für kirchliche Stoffe in der alten Weise verwendet werden. Man verlangt Interesse, gläubiges Interesse für biblische Geschichten in einer Zeit, die aus allen Kräften über die bisherige bildliche Erfassung des religiösen Inhalts, die Erfassung desselben nur in der Vorstellung und Phantasie hinauszuschreiten bemüht ist; man glaubt, ein Oratorium könne nicht ohne große, weit ausgeführte Fugen bestehen, während diese objective Form der Subjectivität der neuesten Zeit längst nicht mehr homogen ist, und stets nur eine Vermengung verschiedener Style zur Folge haben wird. Schumann’s „Paradies und Peri“13 bezeichnet auf dem Gebiet des Oratoriums einen großen Fortschritt, und ich erblicke hier den Weg, der in dieser Gattung fortan zu betreten ist. – Bei allen diesen Umbildungen nun, welche für die Tonkunst der Gegenwart unabweisbare Forderung sind, ist es völlig gleichgültig – wieder ein arges Mißverständniß – ob dieselben zuerst von der Kritik ausgesprochen, oder Resultat der Erwägung des Künstlers vor der Composition eines Werkes sind; es kommt ausschließlich darauf an, daß diese Forderungen verwirklicht werden; von wem dieselben zuerst ausgegangen sind, dies zu untersuchen ist denen überlassen, welche die Persönlichkeit stets über die Sache stellen. Thatsächlich gehen Kritik und Composition in der Gegenwart Hand in Hand, und was wir theoretisch aussprechen, wird zugleich von den besten Künstlern der Zeit erstrebt. Denjenigen aber, welche gegen diesen Fortschritt kämpfen, ist der Blick für das, was wir wollen, noch gar nicht erschlossen, und sie sind weit entfernt, über die Aufgaben der Neuzeit zu klarem [sic] Begriffen gekommen zu sein. Das bisher Gesagte giebt eine dritte Antwort auf unsere Frage. Der Ruf nach Fortschritt endlich bezieht sich auch auf die Kritik innerhalb ihres eigenen Gebietes. Es sei hier aller der Forderungen nicht gedacht, welche ich schon früher aussprach, und durch die ich einen höheren Standpunkt der Kunstauffassung und der Kritik zu begründen versuchte; hier in diesem Zusammenhange sei nur erwähnt, daß es sich insbesondere um die Anerkennung einer „radical aufräumenden“14 Kritik handelt, daß die Nothwendigkeit einer solchen immer mehr zum Bewußtsein kommen muß. Es ist dies eine weitere Folge des so eben Ausgesprochenen. Die Kritik ist durch die Aufgaben der gegenwärtigen Kunst berufen, eine andere Stellung zu derselben einzunehmen, als früher, und es ist abermals ein Verkennen der Zeit und ihrer Forderung, wenn Einzelne gegen eine solche Stellung eifern. Wir sind eingetreten in die Epoche des durch Kritik vermittelten Schaffens in dem vorhin ausgesprochenen Sinne, und ich nenne es [216] darum eine grundfalsche Auffassung, wenn man der Kritik zumuthet, noch jetzt passiv der Kunstentwicklung zuzuschauen, und in zaghafter Zurückhaltung gleichzeitig das Widersprechendste gut zu heißen. Die Kritik erhält jetzt die Aufgabe, lebendig in den Gang der Ereignisse einzugreifen, sie behauptet eine selbstständige Stellung der Kunst gegenüber, und es beweist nichts, wenn man fragt, welchen Einfluß dieselbe auf Haydn, Mozart und Beethoven gehabt habe, d. h. zu einer Zeit gehabt habe, wo die geschichtliche
Schumann, Das Paradies und die Peri op. 50 (UA 1843). Romantik in der Musik, S. 10, in: NdS 1 Nr. 11, S. 153.
13 Robert
14 Siehe
Kretschmann 1848
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Constellation eine solche war, in der dieselbe überhaupt noch keinen Einfluß äußern konnte. Bezieht man sich vielleicht, gegen die hier ausgesprochene Richtung polemisirend, auf eine Aeußerung Schiller’s, der einst im Unmuth ausrief, daß er die ganze Aesthetik dahin gebe für einen einzigen Kunstgriff des Handwerks,15 so ist daran zu erinnern, daß sowohl von Schiller, wie von Göthe eine Menge derartiger Aussprüche vorhanden sind, aus denen man das Entgegengesetzte herausdemonstriren kann, sobald man sie in ihrer einseitigen Wahrheit festhält, statt, wie es geschehen muß, die vereinzelten Bemerkungen mit einander in Verbindung zu bringen, und die eine durch die andere zu ergänzen[,] es ist daran zu erinnern, daß Schiller es war, der den Höhepunkt seines Schaffens erst durch vieljährige wissenschaftliche und kritische Studien erreichte, daß er diesen Ausspruch that, als er jene große Entwicklung zurückgelegt hatte, und demselben daher keine andere Bedeutung beizulegen ist als die eines durch den Augenblick hervorgerufenen Paradoxons. Im Ernst aber dergleichen nachzusprechen, wohl gar als Lehre, als Maxime aufzustellen, ist gefährlich, und man fühlt sich versucht, solchem Verfahren die, ursprünglich freilich in anderer Bedeutung gebrauchten Worte des Mephistopheles gegenüber zu stellen: Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, Des Menschen allerhöchste Kraft, So Hab’ ich dich schon unbedingt.16 Es ist hier nicht der Zweck, ausführlicher die Stellung der Kritik zu erörtern, eben so wenig, als das Verhältniß des Kritikers zum Künstler zur Sprache gebracht werden soll; es wird das die Aufgabe eines späteren Abschnittes sein; hier kam es nur darauf an, bei der Frage nach dem Fortschritt auch dieses Gebietes, seiner durchaus neuen Stellung und der erhöhten Aufgaben desselben zu gedenken. – Der Ruf nach Fortschritt bezieht sich demnach auch auf die Kritik im engeren Sinne, und dies ist die vierte Antwort auf unsere Frage. Hiermit kann im Wesentlichen die Sache als erledigt betrachtet werden, obschon im Einzelnen noch Vieles hinzuzufügen wäre. Ich beabsichtige jetzt nur noch einige Erläuterungen folgen zu lassen, welche aus dem Gesagten hervorgehen, oder mit demselben in enger Verbindung stehen. Es kann die Frage entstehen, wer Repräsentant des Fortschrittes sei, durch wen derselbe bewirkt werde, insbesondere, ob durch die Aelteren oder die Jüngeren. Die Frage ist indeß durchaus müßig, und die
15 Schiller
in einem Brief vom 27. Juni 1796 an Wilhelm von Humboldt (Schiller-Werke 29, S. 244 – 249, hier: S. 245): „Meine ganze Thätigkeit hat sich gerade jetzt der Ausübung zugewendet, ich erfahre täglich, wie wenig der Poet durch allgemeine reine Begriffe bei der Ausübung gefördert wird, und wäre in dieser Stimmung zuweilen unphilosophisch genug, alles, was ich selbst und Andere von der Elementarästhetik wissen, für einen einzigen empirischen Vortheil, für einen Kunstgriff des Handwerks hinzugeben.“ Vgl. Lobe 1848 Fortschritt, Sp. 340, in: NdS 1 Nr. 7, S. 90. 16 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, „Studierzimmer“, V. 1851–1854; im Original heißt es: „Verachte nur Vernunft und Wissenschaft, / Des Menschen allerhöchste Kraft, / Laß nur in Blend- und Zauberwerken / Dich von dem Lügengeist bestärken / So hab’ ich dich schon unbedingt“.
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Antwort einfach die, daß derjenige den Fortschritt macht, der ihn macht. Es kann Einer sehr jung, und demohngeachtet Philister sein, und umgekehrt einem höheren Lebensalter angehören, und trotzdem an der Spitze der Bewegung stehen. So hat Spohr in den Kreuzfahrern, was das Formelle betrifft,17 gewiß einen Fortschritt gemacht, und ist dabei von einer höheren Idee von dem Wesen der Oper ausgegangen, als Viele der Jüngeren. Das Natürliche freilich wird immer sein, daß die Vorzüge des Alters in der reiferen Ausbildung des ursprünglich Gegebenen, die Vorzüge der Jugend in der Neuheit und Frische des Inhaltes bestehen. – In dieselbe Kategorie, weil gleich müßig, gehört die schon vorhin berührte Frage, ob der Künstler oder der Kritiker den Fortschritt mache; die Antwort ist auch hier die einfache, daß ihn derjenige bewirkt, der ihn bewirkt. In wessen Bewußtsein das Neue die größte Energie erlangt hat, sei er Künstler, sei er Kritiker, der wird den Uebrigen vorangehen. Daraus aber, daß der Kritiker die That nicht selbst vollbringt, sondern nur den Weg zu zeigen vermag, folgern zu wollen, daß der Kritiker überhaupt tiefer stehe, und zu dem Rufe nach Fortschritt nicht berechtigt sei, würde zu dem absurden Satze führen, daß die erkennende Thätigkeit tiefer stehe, als die der Phantasie, und insbesondere bei einem Volke sich sehr wunderlich ausnehmen, das seine größte Bedeutung und seine weltgeschichtliche Aufgabe bisher, neben seiner Kunst, zugleich in seiner Philosophie gefunden hat. Endlich sei noch jenes Einwandes gedacht, welcher meint, der Ruf nach Fortschritt entziehe den älteren Meistern die Hochachtung der Jüngeren, sie mit der Täuschung nährend, daß das, was jene geleistet haben, abgethane Sachen seien. Die Antwort ist leicht, und ergiebt sich aus dem Bisherigen. So wenig derjenige hoffen darf, zur Meisterschaft zu gelangen, der nicht den classischen Werken der Vorzeit ein vieljähriges Studium gewidmet hat, so wenig auch der, welcher stets bei ihnen stehen geblieben ist. Der Beruf der Jugend ist es, sich an Andere hinzugeben, und dadurch zu erstarken; der Beruf des reiferen Alters, sich auf sich selbst zu stellen. Die Besten der Neueren sind es dadurch, daß sie beiden Bedingungen vollständig genügt haben; wir, die wir den Fortschritt [217] aussprechen, haben ein klares Bewußtsein über beide; die Gegner sind es, welche beständig nur die eine Seite, die Verehrung für das Alte, die kein Vernünftiger in Abrede stellt, predigen, dadurch den Stillstand mittelbar vertheidigen, und durch Verkennung der Schwächen der Vorzeit, durch Verkennung dessen, was auch bei unseren classischen Schöpfungen der Zeit angehörte und hinfällig und vergänglich ist, den besseren neueren Bestrebungen, welche thatsächlich schon über diesen Standpunkt hinaus sind, den Weg versperren. Diesen aber Bahn zu brechen und ihnen schneller, als es sonst geschah, die Anerkennung zu verschaffen, die sie verdienen, ist ein Hauptpunkt in dem Rufe nach Fortschritt, ist der nächste praktische Zweck, und wenn man daher in völliger Verkennung dessen, was unsere Partei will, fragt, ob Schumann, ob Gade u. A. schon veraltet sind, so ist die Antwort, daß es sich eben um den zum Theil durch sie vollbrachten
17 In seiner Oper Die Kreuzfahrer (UA 1845) hatte Louis Spohr nach dem Vorbild der französischen Grand opéra auf gesprochenen Dialog sowie eine klare Unterteilung in Rezitativ und Arie verzichtet, wie Brendel es bereits im Jahre 1845/1846 gefordert hatte (siehe Brendel 1846 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper III. Zukunft, in: NdS 1 Nr. 4).
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Fortschritt handelt. Was aber ein einzelner Ultra (Griepenkerl) in dieser Beziehung ausspricht, hat dieser selbst zu verantworten, und es ist das nicht zu vermengen mit den Grundsätzen der Fortschrittspartei überhaupt.18
Kommentar Beim vorliegenden Artikel handelt es sich um den vierten einer Reihe von insgesamt fünf den „Fragen der Zeit“ gewidmeten Aufsätzen Brendels aus den Jahren 1848/1849,19 welche sich u. a. mit der Frage nach den künftigen Aufgaben der Musikkritik, dem Verhältnis von Musik und Politik sowie der Rolle der Musik in der nachrevolutionären Gesellschaftsordnung beschäftigen. Neben den damaligen politischen Veränderungen, welche entsprechend der auch im vorliegenden Artikel ausgesprochenen Forderung Brendels sich in der Kunst widerspiegeln müssen, dienten als konkreter Entstehungsanlass vermutlich die Aufforderung Jean Friedrich Schuchts20, Brendel möge seine zuvor wiederholt gemachten Äußerungen hinsichtlich einer ‚fortschrittlichen‘ Musik näher erläutern und konkretisieren, sowie vor allem die von Januar bis November 1848 erscheinende „Fortschritt“-Artikelreihe Johann Christian Lobes21. Dieser hatte, ebenso wie Schucht, Brendels häufig unkonkrete ästhetische Aussagen kritisiert und stattdessen den Versuch vorgelegt, anhand einer Partituranalyse der dritten Symphonie Niels Wilhelm Gades ein kompositorisches Fortschreiten über Beethoven hinaus nachzuweisen, was sich jedoch lediglich auf technische Einzelheiten wie eine differenziertere Instrumentation beschränke. So sehr Brendels Bemühen erkennbar ist, eigene Standpunkte und auf Hegels Ästhetik und Geschichtsphilosophie basierende Überzeugungen zu erläutern und darzulegen, konnten tautologische Aussagen, wie etwa die, „daß derjenige den Fortschritt macht, der ihn
18 Der
Musikschriftsteller und Dramatiker Wolfgang Robert Griepenkerl (1810 –1868) hatte in seinem auf der ersten, von Brendel initiierten, Leipziger Tonkünstlerversammlung im Jahre 1847 einen Vortrag über „Die Oper der Gegenwart“ gehalten. In diesem forderte er u. a., die deutsche Oper müsse, um zu einer Nationaloper zu werden, sich fortan ausschließlich aktuellen gesellschaftlich relevanten Themen zuwenden, wie dies etwa in Giacomo Meyerbeers Les Huguenots der Fall sei, da hierin „Weltgeschichte“ und „Weltgericht“ thematisiert würden (siehe Griepenkerl 1847 Die Oper der Gegenwart, S. 26). Dass Brendel sich an dieser Stelle trotz der auch von ihm wiederholt geforderten Verknüpfung von Kunst und gesellschaftlichem Fortschritt so explizit von Griepenkerl distanziert, dürfte nicht zuletzt in dessen lobender Nennung Meyerbeers sowie der in seinem Vortrag geäußerten Ablehnung von Opern Mozarts wie dessen Don Giovanni oder Le nozze di Figaro aufgrund ihrer vorwiegend aristokratischen Stoffe begründet sein. Zu Griepenkerls kunstästhetischen Ansichten vgl. insgesamt Hennemann 2003 Ritter Berlioz und Prophet Mendelssohn. 19 Siehe Brendel 1848 Fragen der Zeit I; Brendel 1848 Fragen der Zeit II, in: NdS 1 Nr. 8; Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14 sowie Brendel 1848 Fragen der Zeit V. 20 Siehe Schucht 1848a Der überwundene Standpunkt, in: NdS 1 Nr. 13. 21 Siehe Lobe 1848 Fortschritt, in: NdS 1 Nr. 7.
Brendel 1848 Fragen der Zeit IV
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macht“22 nicht zur endgültigen ‚Anbahnung einer Verständigung‘ der damals sich bereits herausbildenden Parteien in der deutschsprachigen Musikzeitschriftenlandschaft beitragen; dies beweist schon die gleichsam ‚leitmotivische‘ Präsenz des Vorwurfs, Brendel und die von ihm vertretene ‚Fortschrittspartei‘ hielten die eigenen Kompositionen für künstlerisch höherwertig als die der musikalischen ‚Klassiker‘ – ein Topos, welcher noch Jahre später zur ästhetischen Delegitimierung der Werke und Schriften Wagners, Liszts und Berlioz’ herangezogen wurde.23
Artikel, S. 191 [216]. 23 Siehe etwa Koßmaly 1849 Ein Wort; H – L 1857 Der Zopf als Schreckbild, in: NdS 2 Nr. 103; Wolzogen 1857 Musikalische Leiden sowie Philotechnus 1858 Musikalische Pflichten, in: NdS 3 Nr. 116. 22 Vorliegender
Nr. 18 | Reorganista, „An den deutschen Musikfortschritts-Verein in Kuhschnappel“, in: Signale 7 (1849), Nr. 9 (10. Februar), S. 66 – 68.
An den deutschen Musikfortschritts-Verein in Kuhschnappel.1
Verehrtester Herr Fritzschmeisel, Hochachtbarer Herr Zippelmüller!2 Mit großem Freudenrausche haben wir hier in Regiomonsschnappel3 Ihre großartigen Maßregeln für Freiwerdung der Musik gelesen. Auch wir athmen gleiches Verlangen, auch wir wollen Freiheit und Fortschritt, und zwar ungeheuern, schrankenlosen in der Kunst wie in andern Dingen. Vorzüglich aber hat uns Ihre Ansicht, edler Herr Zippelmüller, bis zu Thränen gerührt, Ihre allumfassende Ansicht nämlich, daß die Musik fortan demokratisch werden soll.4 Wer kann den Gedanken: die Kunst und ihre Ausbildung in den Händen des Volkes, der Kohlenbrenner, Sackträger, Fuhrknechte, Proletarier und Vagabonden zu sehen, fassen, ohne zu weinen? Doch hellsehender Herr Fritzschmeisel, freidenkender Herr Zippelmüller! was nützt alle Freiheit, wenn sie nicht auf den breitesten Grundlagen basirt ist? Warum den Genuß der Freiheit, die Emancipa-[67]tion der Kunst durch irgend eine Einschränkung verkümmern wollen? Weg daher mit aller Pedanterie, weg mit allen Fesseln, mit allem Plunder von Theorien; sie sind grau und grün ist doch nur der Freiheit
seit Jean Pauls Roman Blumen- Frucht- und Dornenstücke oder Ehestand, Tod und Hochzeit des Armenadvokaten F. St. Siebenkäs im Reichsmarktflecken Kuhschnappel (ED 1796) gilt der Name des in der Nähe von Chemnitz tatsächlich existierenden Orts als Inbegriff von Kleingeistigkeit und bornierter Rückständigkeit. In diesem Sinne wurde der Name auch in einer Satire über die dortigen Musikzustände verwendet (siehe auch Becker 1848 Der deutsche Musikfortschritts-Verein in Kuhschnappel, in: NdS 1 Nr. 15). 2 Bei beiden Namen handelt es sich um fiktive Personen, die in früheren Artikeln der „Kuhschnappel“-Satire als „Präsidenten“ des dortigen Musikvereins und als von dort berichtender Korrespondent ausgewiesen wurden (siehe ebd.). 3 Regiomons (lat.) Bezeichnung für Königsberg (Ostpreußen). 4 Vgl. Fritzschmeisel 1848 Signale aus Kuhschnappel, S. 322. Der eigentliche Bezugspunkt dieser Passage ist jedoch wahrscheinlich die zuvor im Juli 1848 von Carl Kretschmann (Kretschmann 1848 Romantik in der Musik, S. 10, in: NdS 1 Nr. 11, S. 153) sowie von Ernst Gottschald auf der Leipziger Tonkünstler-Versammlung vom September 1848 ausgesprochene Forderung, das Musikleben solle fortan „wahrhaft demokratisch“ werden (Brendel 1848 Tonkünstler-Versammlung zu Leipzig, S. 111). Vgl. hierzu Ortuño-Stühring 2012 Democratische Musik. 1 Spätestens
Reorganista 1849 An den deutschen Musikfortschritts-Verein
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frischer Baum.5 Darum hören Sie mich, ehe Sie weiter gehen in dem großen Werke, hören und prüfen Sie nachstehende Vorschläge, ohne deren Realisirung nun und nimmermehr wahres Heil für die Musik zu erwarten ist. Hier sind sie: 1) Wie gesagt wird die Musik durchaus demokratisch. Ich schlage vor zu sagen: demokratisch-republikanisch-anarchisch. 2) Um dies auf einfache Art auszuführen, werden alle theoretischen Regeln, alle Lehren der Harmonie, des reinen Satzes etc. abgeschafft. 3) Zu den schönsten Stücken gehören die, in welchen recht viel Dissonanzen, besonders unaufgelöste, Quinten- und Octaven-Fortschreitungen, und alle diejenigen Dinge vorkommen, die früher als fehlerhaft bezeichnet wurden. Hierdurch wird 4) der einzig mögliche Zweck erreicht, daß jeder Mensch, der sich einem Instrument nähert, auch dasselbe sogleich behandeln kann, ohne es erlernt zu haben. Hat er z. B. die Kraft, die Tasten des Pianofortes niederzuschlagen, so spielt er Pianoforte; hat er gehörigen Wind, so bläs’t er Flöte, Clarinette, Fagott, je nach seiner Individualität. Daher fällt auch 5) aller Musikunterricht als eine unnütze, die Freiheit der Kunst beeinträchtigende Quälerei weg. Natürlich sind dann auch künftig 6) alle Musiklehrer und Lehrerinnen, die letztern besonders als die eigentlichen Zopfwesen, gänzlich überflüssig und werden als veraltet entweder in irgend einer Kammer an den Nagel gehenkt oder nach Rußland geschickt, um da ihr Unwesen fortzusetzen. 7) Die Tonarten Dur und Moll sind ebenfalls als den Zeiten des Zopfs angehörig abgeschafft und statt ihrer der Ausdruck: „Freie Tonart“ angenommen. 8) Um die Musik vor Einseitigkeit zu sichern behalten zwar alle Saiteninstrumente, als Violinen und Bässe vier Saiten; indeß wird alles Haschen und Greifen auf den Saiten als ein lästiger Zwang und in vielseitiger Hinsicht unschicklich erachtet und daher abgeschafft. Jeder, der ein solches Instrument übernimmt, streicht, je nachdem sein Gefühl es mit sich bringt, bald die tiefe, bald die höhere Saite an, bisweilen auch zwei zugleich, wobei man nur, um der Musik den Reiz der Mannigfaltigkeit zu geben, die Vorsicht beobachten muß, beim Streichen mit den tiefen und höhern Saiten periodisch abzuwechseln. 9) Das Ziehen bei den Posaunen wird als zu beschwerlich abgeschafft. Ebenso sind 10) die Pauken von dem schmäligen Druck zu befreien, wonach sie bisher verur theilt waren, bis zu einer gewissen Höhe hinauf geschroben zu werden. Dergleichen verträgt sich ferner nicht mit der Freiheit im Reiche der Töne. Im Gegentheil, je weniger die Pauke stimmt, desto mehr erhöht sie die Schönheiten der freien Musik.
5 Anspielung auf einen Ausspruch Mephistopheles’ in Johann Wolfgang von Goethes Faust I. Dort heißt es: „Grau, teurer Freund, ist alle Theorie / Und grün des Lebens goldner Baum“ (V. 2038 f.). Die Ersetzung des Wortes „Lebens“ durch „Freiheit“ ist wahrscheinlich eine Anspielung auf den auf die Französische Revolution zurückgehenden Brauch, sogenannte „Freiheitsbäume“ zu pflanzen, der auch im Gefolge der Märzrevolution 1848 in Deutschland wieder Verbreitung gefunden hatte.
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Nr. 18 (1849)
11) Die Trommeln müssen ansehnlich vermehrt werden und in jedem gut eingerichteten Orchester wenigstens so viele vorhanden sein, daß auf jedes andere Instrument etwa 3 bis 4 Trommeln kommen. Hierdurch erhält die Musik eine gewisse Haltung und einen festen Charakter. 12) Der Unterschied zwischen Hoch und Niedrig ist aufgehoben. Dieser Beschluß kommt besonders den Sängern und Sängerinnen zu statten, welche des Strebens nach Höhe dadurch enthoben sind. Jeder singt künftig wie er will und wie es einem freien Menschen zusagt. 13) Musikstücke zu componiren ist ganz unnöthig. Soll eine Kirchen-, Fest-, Leichen- oder Opernmusik gemacht werden, so sucht man sich die gehörige Mannschaft zusammen, sorgt für die nöthigen Instrumente, die an die Leute vertheilt werden. Auf ein gegebenes Zeichen beginnt die Musik, indem alles streicht, bläs’t, paukt, trommelt [68] und singt, je ungezwungener, desto freier, desto demokratischer. Es läßt sich denken, daß die Wirkungen dieser freien Musik ganz eigenthümlich, in Wahrheit volksdümmlich sind. Sie gehören einer neuen Aera an. 14) Damit das Publicum weiß, wofür es die jedesmalige Musik zu halten habe, ruft ein Herold vorher aus, welche Gattung von Musik gemacht wird, z. B. hört, hört! Eine Kirchenmusik, oder: eine Fest-, oder: eine Opernmusik. Bei Leichenmusiken, welche gemeinhin einen kläglichen Charakter haben, ist diese Ankündigung unnöthig. 15) In den Kirchenorgeln dürfen keine andern Register als Mixturen vorkommen; Principale, Flöten- und Rohrwerke sind herauszuschaffen.6 16) Die Tuben müssen bedeutend verlängert und ihre Zahl in jedem Orchester den übrigen Instrumenten gleich gemacht werden. 17) Besonders wirksam wird die freie Musik in Schlachten dazu dienen, den Angriff der Truppen zu unterstützen und den Feind in die Flucht schlagen zu helfen. 18) Sogenannte Musiker vom Fach werden, wenn sie mit diesen Beschlüssen nicht einverstanden sind, als Volksverräther, als Verächter der freien Kunst gefangen gesetzt und zur Anhörung der Aufführungen im freien Styl verurtheilt, damit sie ihre Ir[r]thümer einsehen und an der freien Musik sich mit der Zeit ergötzen lernen. 19) Zur Beurtheilung der Vortrefflichkeit der demokratischen Musik werden auf Kosten des Staats drei Richter ernährt und von den Landleuten die nöthigen Hühner, Tauben etc. dazu geliefert. Diese drei Richter sind: ein Botokude7, ein Feuer- und ein Lappländer. Diese bilden eine musikalische Jury. Gefällt ihnen die Musik, so ist sie ohne Widerrede als vortrefflich zu erachten.
6 Das
Klangideal der damaligen Zeit innerhalb des Orgelbaus suchte maßgeblich einen weichen, grundtönigen Klang zu verwirklichen, der vor allem auf eine Mischung der Einzelstimmen abzielte. Diesem romantischen Orgelklangideal mussten die obertonreichen Mixturen grundsätzlich widersprechen und wurden daher vielfach entfernt oder im Sinne des Vogler’schen „Simplifikationssystems“ nicht mehr in Orgelneubauten verwendet. 7 Bezeichnung für einen Teil der Ureinwohner Südamerikas, die im südöstlichen Teil des heutigen Brasiliens lebten.
Reorganista 1849 An den deutschen Musikfortschritts-Verein
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Sehen Sie, edler Fritzschmeisel, theuerster Zippelmüller, dies sind nach meinem Dafürhalten die breitesten Grundlagen, die uns zu einer Musik führen, welche uns aller Erdenqual entreißt und uns für die höhern Regionen schnell reif macht. Theilen Sie mir doch mit, welche von obigen Vorschlägen in Ihrem hochachtbaren Vereine angenommen und zu Beschlüssen erhoben worden. Ich verharre Ihr ganz ergebenster Reorganista.
Kommentar Der vorliegende Artikel, zugleich der letzte der „Kuhschnappel“-Satiren, welche in den Signalen von 1844 bis 1849 erschienen, nimmt – ähnlich der anderen Beiträge im Jahr 18488 – gleich in mehrfacher Hinsicht parodistisch auf die durch die revolutionären Ereignisse hervorgerufenen Debatten um eine ‚demokratische‘ Reform des Musiklebens Bezug. Historischer Hintergrund dafür sind neben entsprechenden Aufsätzen allen voran von Carl Kretschmann9 und Franz Brendel10 die zahlreichen Petitionen aus den im Jahre 1848 neu entstandenen Tonkünstlerverbänden etwa an das „Preußische Ministerium für geistliche, Unterrichts- und Medicinal-Angelegenheiten“ oder das Frankfurter Paulskirchen-Parlament zur Verbesserung der künftigen Organisation und Finanzierung des Musiklebens in Deutschland.11 In all diesen Ansuchen finden sich immer wieder ähnlich lautende Forderungen nach Reformen und Reorganisation der Kirchenmusik, der Theater, der Stadtmusik bis hin zu Fragen des Orgelbaus. Doch auch in anderen Blättern erschienen zu dieser Zeit, in der sich das Scheitern der Revolution abzeichnete, Aufsätze, wie derjenige des Berliner Musikschriftstellers Carl Koßmaly, der über die „musikalischen Errungenschaften der neuesten Zeit“ berichtet.12 Wie auch der anonyme Autor in der hier vorliegenden „Kuhschnappel“-Satire karikiert Koßmaly in seinem eigenen Beitrag die unter ‚fortschrittlich‘ gesinnten Musikschriftstellern verbreitete Forderung nach ‚demokratischer‘ Musik, indem er diese mit den „Katzenmusiken“ gleichsetzt, also dem aus der französischen Revolution 1789 stammenden Brauch, unliebsamen Personen Schmähgesänge oder lärmend-kakophone ‚Ständchen‘ zu bringen.13
8 Siehe Becker 1848 Kuhschnappel in Revolution; Becker 1848 Der deutsche Musikfortschritts-Verein in Kuhschnappel, in: NdS 1 Nr. 15, sowie Fritzschmeisel 1848 Signale aus Kuhschnappel. 9 Siehe Kretschmann 1848 Romantik in der Musik, in: NdS 1 Nr. 11. 10 Siehe Brendel 1848 Tonkünstler-Versammlung zu Leipzig. 11 Siehe Brendel 1848 Auch eine Petition; Leipziger Tonkünstlerverein 1848 Eingabe an das königl. preuß. Ministerium; Marx 1848 Denkschrift; Anonym 1848 Adresse; Berliner Tonkünstler-Verein 1848 Denkschrift. 12 Koßmaly 1848 Die musikalischen Errungenschaften. 13 Vgl. hierzu Geck 2001 Zwischen Romantik und Restauration, S. 40 f.
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Nr. 18 (1849)
Die Vermutung, dass diese Art Artikel, zu denen auch die „Kuhschnappel“-Satiren zählen, zuallererst die aus dieser Zeit stammenden Beiträge Brendels und die seiner Mitarbeiter in der NZfM zu Reformen des Musiklebens und der Musik zum Gegenstand ihrer Satire machten, zeigt nicht zuletzt Brendels Reaktion im letzten Artikel seiner „Fragen der Zeit“ vom Mai 1849, wo er darauf Bezug nehmend äußert: „‚Katzenmusiken‘ freilich sind auch keine große Kunst-Errungenschaft, und man kann wohl im Scherz die Gegenwart in Hinblick auf die Kunst in solcher Weise parodiren; im Ernst es zu behaupten, würde ein absichtliches Verkennen des unzweifelhaft Guten sein, was schon jetzt resultirt.“14 Bemerkenswert ist darüber hinaus, dass viele der hier gemachten reformerischen ‚Vorschläge‘ beispielsweise bezüglich der Kompositionstechnik, wie etwa der intensive Einsatz von Schlagwerk und Blechblasinstrumenten oder von ‚chaotischen‘ Rhythmen, keineswegs rein fiktiv sind. So wurden bereits zu dieser Zeit nicht zuletzt Kompositionen von Berlioz tatsächlich wiederholt für ihre angeblich Kakophonie und ihren ‚lärmenden‘ Klangeindruck kritisiert,15 sodass sich die hier genannten Aspekte in den folgenden Jahren innerhalb der Kontroverse um die ‚Zukunftsmusik‘ zu regelrechten Topoi entwickelten. Nicht zuletzt hieran wird einmal mehr sichtbar, wie sehr die Politisierung des Musiklebens in den Jahren 1848/1849 auch über das Scheitern der Revolution in Deutschland hinaus Bestand hatte und zu einer moralisch-politischen ‚Vor-Verurteilung‘ bestimmter Werke und Komponisten in den 1850er Jahren beitrug, wie sie Felix Draeseke noch 1861 in seiner Rede auf der Gründungsfeier des ADMV beklagte.16
1849 Fragen der Zeit V, S. 223. 15 Vgl. zur frühen Berlioz-Rezeption insgesamt Jacobshagen/Braam 2002 Berlioz in Deutschland. 16 Siehe Draeseke 1861 Die sogenannte Zukunftsmusik, S. 77, in: NdS 3 Nr. 145, S. 1791. 14 Brendel
Phase der Ernüchterung und Neuorientierung Die Jahre 1850 bis 1851
Die Jahre 1848/49 bewirkten nicht nur in politischer Hinsicht einen tiefen Einschnitt, dessen Folgen sich auch bis in das Musikleben und bis in die Musikzeitschriften erstreckten. Insbesondere für die Generation der um 1810 geborenen Komponisten brachten diese Jahre tiefgreifende Veränderungen mit sich, wie etwa im Fall Richard Wagners die Flucht ins Exil oder für Franz Liszt die Entscheidung, sich in Weimar als Hofkapellmeister niederzulassen. In Anbetracht des Todes von Felix Mendelssohn Bartholdy (1847), Gaetano Donizetti (1848) und Frédéric Chopin (1849) wird der Eindruck einer musikgeschichtlichen Epochenwende zusätzlich verstärkt, der auch in der damaligen Diskussion um die zunehmend kritisierte musikalische Romantik bzw. Neuromantik sichtbar wird.1 Durch das zeitweilige Begraben aller revolutionären Hoffnung nach 1849 musste auch das vor allem von liberaler Seite stets zur Stützung eigener Positionen herangezogene Fortschrittsprimat2 einen empfindlichen Rückschlag hinnehmen. Die insbesondere bei Franz Brendel und in der von ihm geleiteten NZfM allgegenwärtige Überzeugung von der notwendigen Realisierung eines vernunftbasierten Fortschritts in allen Lebensbereichen war bereits im Vormärz mehr und mehr zum Beurteilungsmaßstab nahezu aller menschlichen Errungenschaften geworden. Dementsprechend ist die Ernüchterung über das Scheitern der Umgestaltung Deutschlands und die Aussicht auf eine baldige nationale Einheit vor allem in den ersten Aufsätzen Brendels aus dieser Zeit umso greifbarer, wie etwa in seinem Neujahrsartikel für das Jahr 1850: „Die Erwartungen, denen man sich bei dem Aufschwunge der verflossenen Zeit glaubte hingeben zu dürfen, haben sich nicht erfüllt, auch in Bezug auf die Tonkunst; die Aussichten für ein specielleres Interesse des Staats an derselben sind wieder in die Ferne gerückt; die Zeitstimmung im Allgemeinen ist eine gedrückte.“3 Während auf liberaler Seite viele Wortführer der musikpublizistischen Auseinandersetzungen in den Jahren nach 1849 von ihrem radikalen Fortschrittspathos zunächst wahrnehmbar abrückten oder vorläufig ganz verstummten, wie etwa Adolf Bernhard Marx – der sich vor dem Hintergrund der zwischenzeitlich von König Friedrich Wilhelm IV. gewährten Pressefreiheit in Preußen4 in den Musikzeitschriften besonders hierzu insgesamt Geck 2001 Zwischen Romantik und Restauration; Tadday 1999 Das schöne Unendliche, S. 163 – 202 sowie Dahlhaus 1973 Neuromantik. 2 Vgl. hierzu insgesamt Hentschel 2006 Bürgerliche Ideologie und Musik, insbesondere S. 257 – 314. 3 Brendel 1850 Zum Beginn, S. 1. 4 Mit der auf revolutionären Druck hin verabschiedeten Erklärung Friedrich Wilhelms IV. vom 20. März 1848 wurde die bis dahin geltende Pressezensur außer Kraft gesetzt. De facto wurden diese für alle Bundesstaaten geltenden Grundrechte jedoch durch einen Beschluss der Bundesversammlung am 23. August 1851 wieder aufgehoben. 1 Vgl.
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vehement und explizit für eine Umgestaltung nicht nur der musikalischen, sondern auch der gesellschaftlichen Zustände Deutschlands ausgesprochen hatte –,5 ist in der NZfM und den Schriften Brendels eine allmähliche ‚realistische‘ Umorientierung hin zu vornehmlich musikalischen Fragen, wie etwa der Besprechung von eingesandten Manuskriptwerken oder Fragen einer Reform des Musiklebens zu beobachten.6 Doch auch auf der sich selbst als „konservativ“ bezeichnenden Seite gingen zu dieser Zeit gravierende Veränderungen und Weichenstellungen für die nächsten Jahre vonstatten.
„[…] es wird darum zu Zeiten nothwendig werden, ein wenig dreinzuschlagen“7 Die Polemisierung und Radikalisierung der Kontroverse Durch das Einstellen der AmZ Ende des Jahres 1848 wurde das musikalisch konservative Lager in Deutschland zeitweilig seines traditionsreichsten Periodikums beraubt. Mit der Gründung der Rheinischen Musik-Zeitung Mitte 1850 in Bonn durch Ludwig Bischoff existierte schließlich wieder ein einflussreiches Medium, das alsbald nach seiner Gründung in einen regelrechten publizistischen „Kampf“8 mit der NZfM geriet. Dieser entzündete sich jedoch nicht an der über das Jahr 1848 hinausgetragenen und zuvor viel diskutierten Frage nach dem Verhältnis von Musik und Politik;9 auch die immer wieder unter wechselnden Voraussetzungen diskutierte Berechtigung einer „plastische[n] Musik“10, d. h. in diesem Falle einer politisch-motivierten programmatischen Instrumentalmusik war nicht primärer Gegenstand der Debatte. Es waren die Person Giacomo Meyerbeer und dessen Opern, die die musikalischen Gemüter in maximale Aufregung versetzten. Verantwortlich hierfür war zunächst Theodor Uhlig (1822 –1853), der 1850 in der NZfM die kurz zuvor in Dresden aufgeführte Oper Meyerbeers Le Prophète wegen der darin angeblich zu findenden „Propaganda des hebräischen Kunstgeschmacks“11 in mehreren seiner Artikel mit deutlich antisemitisch motivierten Äußerungen attackierte.12 Daneben war der seit 1847 mit Wagner eng befreundete Violinist der Dresdner Hofkapelle vor allem durch seine umfangreichen Zusammenfassungen der im Züricher Exil entstandenen Kunst-
Marx 1848 Assoziation im Kunstgebiete; Marx 1848 Denkschrift über Organisation des Musikwesens; vor allem Marx 1848 Der Ruf unserer Zeit, in: NdS 1 Nr. 9. 6 Siehe Brendel 1850 Zum Beginn, S. 2. Dieses Phänomen weist bemerkenswerte Parallelen zum Kurs der Grenzboten unter ihren Schriftleitern Julian Schmidt und Gustav Freytag auf, welche in den Jahren nach 1850 ein „Programm realistischer Kunst, das den Gegebenheiten angesichts der gescheiterten Revolution Rechnung tragen“ sollte, da „der Gesellschaft nur noch das Streben nach nationaler Einheit, liberaler Verfassung und einem leistungsstarken Wirtschaftssystem“ geblieben sei (Geck 1998 Art. „Realismus“, Sp. 92). 7 Brendel 1851 Polemisches, S. 253. 8 Redaktion 1850 Nachschrift der Redaction, S. 33. 9 Siehe Lobe 1852 Politische Musik. 10 Siehe Anonym 1851 Plastische Musik, in: NdS 1 Nr. 24. 11 Uhlig 1850 Zeitgemäße Betrachtungen, S. 170. 12 Uhlig 1850 Der Prophet von Meyerbeer; Uhlig 1850 Noch einmal der Prophet von Meyerbeer; Uhlig 1850 Zeitgemäße Betrachtungen. 5 Siehe
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schriften Wagners13 in Erscheinung getreten und hatte innerhalb der musikalischen Kontroverse in Deutschland nicht nur für neue thematische Impulse, sondern auch für eine spürbare Verschärfung des Tonfalls gesorgt.14 Uhligs Angriffe gegen Meyerbeer wurden unter anderem durch Bischoff in der Rheinischen Musik-Zeitung scharf verurteilt.15 Aber auch Wagner persönlich meldete sich zu Wort: Am 3. und 9. September 1850 veröffentlichte die NZfM sein berüchtigtes, mit dem Pseudonym „K. Freigedank“ gezeichnetes Pamphlet über „Das Judenthum in der Musik“ inklusive einer vagen ‚Neutralitätserklärung‘ Brendels, in der er von einer „Genialität der Auffassung“16 des Verfassers sprach.17 Doch regte sich bald auch Widerstand gegen die durch Uhligs Aufsätze verbreiteten Ansichten, die primär die kunsttheoretischen Schriften Wagners betrafen. Innerhalb der NZfM war es der schon zur Zeit Schumanns publizierende Eduard Krüger (1807 –1885), der ebenfalls eine antisemitisch gefärbte Abneigung gegen Meyerbeers Musik zum Ausdruck gebracht hatte,18 sich aber gleichzeitig gegen die zunehmende Wagner-Parteinahme der Zeitschrift aussprach.19 Die Folge dieser Auseinandersetzungen des Jahres 1850 war eine deutliche Radikalisierung der von der NZfM vertretenen Positionen. Dies dokumentierte schließlich auch das Anfang 1852 veröffentlichte Bekenntnis Brendels20 – und damit auch das der gesamten Zeitschrift – zu Schriften und Werk des im Schweizer Exil lebenden, ehemaligen Dresdner Hofkapellmeisters, Richard Wagner. Das öffentliche Eintreten Brendels für Wagner21 und die in der NZfM publizierten Attacken gegen Meyerbeer führten nicht nur zu einer jahrelangen, wechselseitigen Polemik mit der Rheinischen Musik-Zeitung; auch die sich primär literarischen Fragen widmenden Grenzboten hatten im Laufe des Jahres 1851 sowohl Brendel „musikalischen Dilettantismus“22 vorgeworfen als auch einen längeren, August Ferdinand Riccius zuzuschreibenden, Wagner-kritischen Artikel veröffentlicht.23 In diesem wurde Wagner als eigentlicher Autor des „Judenthums in der Musik“ enttarnt und seine bis dahin geheimen Pläne, in Weimar Siegfrieds Tod aufzuführen, der Öffentlichkeit mitgeteilt. Im Gegensatz zu dem in Bonn wirkenden Bischoff waren Riccius nicht nur die kurz zuvor erschienenen Züricher Reformschriften Wagners be kannt; vielmehr war Riccius, selbst Dirigent, Komponist und ehemaliger Schumann-
Uhlig 1850 Wagner’s Schriften. 14 Neben Uhlig hatte sich auch Eduard Krüger in der NZfM gegen Meyerbeers Opern ausgesprochen, siehe Krüger 1850 Prophetisch und Unprophetisch. 15 Siehe Bischoff 1850 TU hoc intrivisti, in: NdS 1 Nr. 20, der Kommentar hierzu ist durch eine tabellarische Übersicht der zentralen Artikel dieser Debatte ergänzt; Bischoff 1850 Der Prophet von Scribe und Meyerbeer. 16 Wagner 1850 Das Judenthum, S. 101, Anm. 1. 17 Vgl. hierzu insgesamt Fischer 2000 Richard Wagners Das Judentum, S. 18 – 32 sowie Dahm 2007 Der Topos der Juden, S. 143 –165. 18 Siehe Krüger 1850 Prophetisch und Unprophetisch sowie Krüger 1850 Judenthümliches. 19 Siehe Krüger 1851 Zeitsinniges. Zur Reaktion Uhligs darauf, siehe Uhlig 1851 Bekenntnisse. 20 Siehe Brendel 1852 Zum neuen Jahr, in: NdS 1 Nr. 27. 21 Siehe auch Brendel 1851 Zur Beurtheilung der Schriften. 22 Siehe hierzu Riccius 1851 Musikalischer Dilettantismus, in: NdS 1 Nr. 26 sowie die Entgegnung hierauf (Brendel 1851 Polemisches). 23 Riccius 1851 Richard Wagner. James Garratt vermutet hinter der Hinwendung der Grenzboten zu musikalischen Fragen vor allem den Einfluss des Mitherausgebers der Zeitschrift, Julian Schmidt (Amtszeit 1848 –1861), der in seiner gemäßigten politischen Haltung gegen den immer noch einflussreichen (Jung-)Hegelianismus eintrat (vgl. Garratt 2010 Music, Culture and Social Reform, S. 158). 13 Siehe
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Mitarbeiter der NZfM, auch Zeuge der Weimarer Lohengrin-Uraufführung im Jahre 1850 sowie der dortigen Tannhäuser-Aufführungen gewesen, was seinem Wagnerkritischen Urteil in den Grenzboten über die von ihm publizierten Weimarer ‚Insiderinformationen‘ hinaus ein zusätzliches Gewicht verlieh. Die von Hans von Bülow (1830 –1894) – zu dieser Zeit Klavierschüler bei Liszt in Weimar – verfasste Entgegnung24 auf den Aufsatz von Riccius sowie die Ankündigung Brendels, von nun an die Gegenpartei mit „polemischeren“25 Mitteln zu bekämpfen, eröffneten die jahrelange Kontroverse zwischen den beiden Zeitschriften und manifestierte gleichermaßen den fortan radikal polemischen Tonfall. Zugleich ist die Bülow-Replik eines der ersten Beispiele für die intensive publizistische Tätigkeit des Weimarer Liszt-Kreises, der sich um den seit 1848 in der Ilmresidenz wirkenden Hofkapellmeister Anfang der 1850er Jahre zu formieren begann.26
„Music at Weimar“ Zwischen Selbststilisierung und Projektionsfläche Es ist diese virulente Zeit, in der auch die internationale27 Wahrnehmung des Wirkens Liszts in der kleinen Thüringer Residenz einsetzte. Von Anfang an spielte die historische Bedeutung des nationalen „Erinnerungsortes“ Weimar und seine Reihe ehemaliger Geistesgrößen dabei eine wesentliche Rolle. Dass Liszt diesen historischen Nimbus des 1840 nur etwa 11 000 Einwohner zählenden Städtchens bei der Entscheidung, das Virtuosen- zugunsten des Kapellmeisterlebens einzutauschen, von Anfang an in sein kulturpolitisches Kalkül einbezog, zeigen seine zu Beginn der 1850er Jahre publizierten Reformschriften, darunter die 1851 veröffentlichte Idee einer „Goethe-Stiftung“28, die eine Umgestaltung des Kulturlebens sogar noch weit über die Grenzen Thüringens bewirken sollte.29 Äußerer Entstehungsanlass der im September 1849 verfassten Reformschrift Liszts, De la Fondation-Goethe à Weimar, war ein kurz zuvor am 5. Juli veröffentlichter Aufruf 30 zur Gründung einer Goethe-Nationalstiftung. Ziel dieser Stiftung sollte es sein, nach dem Scheitern der Frankfurter Paulskirchenverfassung und der niedergeschlagenen Mai-Revolution die nationale Identität aller deutschen Staaten zumindest auf dem Gebiet der Kunst zu verwirklichen. Anknüpfend an seine schon 1835 formulierten Ideen31 sowie in Anlehnung u. a. an Goethe entwarf Liszt den Plan eines nationalen Kunstwettbewerbs, der – im jährlichen Turnus wechselnd – sich der Literatur, Malerei, Skulptur
1851 Entgegnung. 25 Siehe Brendel 1851 Polemisches. 26 Vgl. hierzu Deaville 2006 Die neudeutsche Musikkritik. 27 Siehe hierzu den sehr wahrscheinlich von Henry Fothergill Chorley stammenden Bericht über die Feierlichkeiten zur Enthüllung des Weimarer Herder-Denkmals für das in London erscheinende Athenæum (Chorley 1850 Music at Weimar, in: NdS 1 Nr. 23). 28 Liszt 1851 De la Fondation-Goethe. 29 Vgl. hierzu insgesamt den Kommentar zu „De la FondationGoethe“ in: Liszt-Schriften 3, S. 257 – 293. 30 Diese von Mitgliedern der Berlinischen Gesellschaft für deutsche Sprache, Kunst und Altertum verfasste „Aufforderung zu einer allgemeinen deutschen Göthefeier“ wurde in allen deutschen Tageszeitungen veröffentlicht. Der Wortlaut des Aufrufes findet sich in: Liszt-Schriften 3, S. 5 – 7. 31 Liszt 1835 De la situation. 24 Bülow
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und Musik widmen sollte. Damit begründete er sein Konzept des ‚Neuen Weimar‘, das anstelle eines musealen Erinnerungsortes für Goethe und Schiller dauerhaft als ein Zentrum der zeitgenössischen Kunst etabliert werden sollte. Im Februar 1851 publizierte Liszt seine Gedanken einer Goethe-Stiftung bei Brockhaus in Leipzig in französischer Sprache. Die Broschüre erfuhr eine relativ breite Rezeption in den größeren deutschen Tageszeitungen und in der musikalischen Fachpresse. Während Karl Gutzkow (1811–1878) das Projekt und vor allem die Kunstwettbewerbe entschieden ablehnte32 und Wagner darin nichts anderes als eine „kunstlotterie unter der Firma Göthe“33 sah, wurden Liszts Pläne ansonsten überwiegend positiv aufgenommen.34 Liszts Position, der als Ungar in französischer Sprache das Wort für ein deutsches Anliegen ergriff, sorgte einerseits für Verwunderung, andererseits wurde dies als ein Beitrag zu Goethes Konzept einer Weltliteratur verstanden. In den Rezensionen wurde häufig auch auf die politischen Wirren der Zeit hingewiesen, die eine Verwirklichung des Projekts beeinträchtigen könnten. Letztlich fand Liszts Plan – wie so viele der in dieser Zeit entstandenen kulturellen Reformschriften, die als Reaktion auf das Scheitern der Revolutionen entstanden waren – in den folgenden Jahren aus unterschiedlichsten Gründen in Weimar keine unmittelbare Umsetzung.35
„Lohengrin et Tannhaüser“ Liszts Weimarer Programmpolitik Mehr noch als die publizistische Tätigkeit Liszts war es vor allem seine ambitionierte und bewusst symbolträchtige Programmpolitik als Weimarer Hofkapellmeister und sein Einsatz für fremde Komponisten und deren wenig gespielte Werke, welche die überregionale Aufmerksamkeit in den Musikzeitschriften für sich beanspruchten. Die Goethe-Zentenarfeier 1849, mit der Weimar unverhofft als Identifikationsort der deutschen Kultur ins Blickfeld des intellektuellen Deutschlands rückte, markiert den Auftakt zu einer ganzen Reihe von Festen, bei denen Liszt Aufführungen von Werken anderer Komponisten, wie etwa den Symphonien Beethovens, mit eigenen Kompositionen kombinierte, denen er Texte oder Stoffe der Jubilare des jeweiligen Festes zugrunde gelegt hatte.36 Diese insbesondere vor dem Hintergrund der kurz zuvor
1851 Die Goethestiftung. 33 Richard Wagner in einem Brief an Franz Liszt vom 8. Mai 1851, in: Wagner-Briefe 4, S. 37. Zu Wagners ablehnender Haltung gegenüber Liszts Konzept vgl. insgesamt: Liszt-Schriften 3, S. 276 – 279. 34 Siehe hierzu etwa Stahr 1851 Franz Liszt über die Goethestiftung; E. 1851 De la Fondation-Goethe; Uhlig 1851 De la Fondation-Goethe. 35 Ein Großteil der Ideen konnte im Bereich der Musik allerdings 1861 mit der Gründung des ADMV realisiert werden, an dessen Satzungsentwurf Liszt wesentlichen Anteil hatte. 36 Das dazu zusammengestellte Programm der Goethe-Feier 1849 belegt deutlich die Absicht Liszts, dem Publikum sein Kunstideal des ‚Neuen Weimar‘ vorzustellen. Neben Werken Bachs, Schuberts, Ludwig van Beethovens 9. Symphonie, Felix Mendelssohn Bartholdys Meeresstille und glückliche Fahrt, Fausts Verklärung und dem dritten Teil der Scenen aus Göthes Faust von Robert Schumann, führte er seine Ouvertüre zu Tasso auf, die er später zur Symphonischen Dichtung gleichen Namens umarbeitete (vgl. hierzu Altenburg 1997 Liszt und das Erbe der Klassik, S. 14 f.). 32 Gutzkow
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gescheiterten Revolution deutschlandweit beachteten Feierlichkeiten läuteten eine ganze Reihe von Gedenktagen und Denkmalsenthüllungen ein, mit denen der Weimarer Hof seine kulturelle (und dynastische) Bedeutsamkeit weit über die Grenzen des kleinen Großherzogtums hinaus in Erinnerung zu rufen bestrebt war. Zugleich konnte Liszt so den eigenen Anspruch dokumentieren, in seinem Schaffen das Erbe der Weimarer und Wiener Klassik zugleich anzutreten und miteinander zu vereinen. Die zeitnah einsetzende, überregionale Berichterstattung37 belegt wiederum, dass das kulturpolitische Sendungsbewusstsein Liszts – dessen Vorbild sicherlich die publizistisch flankierte Selbststilisierung Weimars als Zentrum der literarischen Klassik im Zeitalter Goethes und Schillers bildete – tatsächlich bald breiten Widerhall fand. So hob 1849 ein Weimarer Rezensent in den Leipziger Signalen Liszts ambitionierte Spielplanpolitik für das großherzogliche Opernhaus hervor und stellte ihm einstige Größen wie Johann Gottfried Herder, Christoph Martin Wieland, Goethe, Schiller und Johann Nepomuk Hummel vergleichend zur Seite.38 Auch der zeitweilig unter Liszts Leitung in der Hofkapelle als Flötist wirkende Johann Christian Lobe veröffentlichte in den Signalen eine positive Kritik über die musikalische Gestaltung der 1850 stattgefundenen Feierlichkeit zur Enthüllung des Herder-Denkmals in Weimar.39 Durch einen enthusiastischen Bericht des während des sogenannten Herderfestes in Weimar anwesenden Londoner Musikkorrespondenten Henry Fothergill Chorley (1808 –1872) wurde auch englischsprachigen Lesern bald Liszts Wandlung vom umherreisenden Klaviervirtuosen zum komponierenden Weimarer Kapellmeister berichtet; einzig die Weimarer Uraufführung von Wagners Lohengrin unter Liszts Leitung im August 1850 wurde aufgrund der musikalischen Beschaffenheit der Oper kritisiert.40 Als englische Außensicht auf das deutsche Musikleben fällt die Stilisierung Weimars zum Zentrum für die neue deutsche Musik auf und mit ihr die Werke Wagners, Schumanns, Berlioz’ und Joachim Raffs (1822 –1882), die als zusammengehörig beschrieben und dabei erstmals unter dem Begriff „Young Germany“ subsumiert wurden.41 Die ablehnende Haltung Schumann und Wagner gegenüber, die sich dabei ebenfalls zeigt, wird sich in den folgenden Jahren nicht nur verstärken. Sie wird darüber hinaus selbst zum Gegenstand einer ‚externen‘ Auseinandersetzung der Kontroverse zwischen den USA und England, welche maßgeblich im Dwight’s Journal auf der einen und dem Athenæum sowie der Musical World auf der anderen Seite ausgefochten wird.42 Welche Schlüsselposition Liszts Eintreten für die
etwa Anonym 1850 Franz Liszt in Weimar. 38 Siehe C. 1849 Liszt in Weimar. 39 Vgl. etwa Lobe 1850 Das Herderfest. Die enthusiastischen Berichte über Liszt in den Signalen müssen stets vor dem Hintergrund gesehen werden, dass das Blatt primär die Aufgabe hatte, dem Publikum Werke anzuempfehlen, die der Eigentümer der Signale, der Leipziger Verleger Bartholf Senff, in seinem Verlagskatalog führte, wozu zu dieser Zeit auch Klavierwerke Liszts zählten. 40 Chorley 1850 Music at Weimar, in: NdS 1 Nr. 23. 41 In einem Brief Raffs an Doris Genast vom 26. Januar 1852, bezugnehmend auf die Begriffsbildung Chorleys, heißt es: „Meine musicalischen Freunde interessirt das Werk [die Fantasie] insoweit als es die erste einigermaßen berechtigte Manifestation des ‚jungen Deutschlands‘ (um mit Chorley zu sprechen) in diesem Genre ist“ (Quelle: D-Mbs. Handschriftenabteilung. Raffiana II [ungeordnet], unpaginiert, 10 S., hier: S. 4). 42 Vgl. u. a. Dwight 1854 Our Wagnerism, in: NdS 1 Nr. 59 sowie Dwight 1856 Musical Party Warfare, in: NdS 2 Nr. 95. 37 Siehe
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Werke des politisch verfolgten Wagners bei der Errichtung eines ‚Neuen Weimar‘ spielte, verdeutlicht nicht zuletzt die prominente Rolle, die den Wagner-Aufführungen im kulturellen Leben der kleinen Residenz zugewiesen wurde. So fand die Weimarer Erstaufführung von Wagners Tannhäuser zum Geburtstag der Großherzogin Maria Pawlowna am 16. Februar 1849 sowie die Uraufführung des Lohengrin zum Herderfest und Goethe-Geburtstag am 28. August 1850 statt. Entsprechend Liszts Selbstverständnis als schreibender Künstler flankierte er diese Aufführungen durch die Veröffentlichung umfangreicher Feuilleton-Artikel43 und sogar einer Broschüre44, welche den Darbietungen eine kulturpolitische Dimension internationalen Charakters verleihen sollten. Bemerkenswert ist hierbei, wie Liszt Wagners Werke wiederholt in die Reihe der großen kulturellen Tradition des Weimarer Musenhofes einreihte, um so eine Kontinuität zwischen dem Vergangenen und der Gegenwart herzustellen. Vor allem in Wagners Lohengrin sah Liszt „eines der poetischsten Werke“ der jüngeren Zeit, wodurch es „als ein Ereignis in der Geschichte der deutschen Musik sowie als Ausdruck eines ganz neuen Systems für die dramatische Kunst zu betrachten“45 sei. Während der Lohengrin-Artikel aus der Leipziger Illustrirten Zeitung in der deutschsprachigen Musikpresse weitgehende Beachtung erlangte,46 wurde die Broschüre zudem international rezipiert47 und in Teilen sogar ins Englische, Niederländische, Russische und Spanische übersetzt. Durch all diese Aktivitäten, denen unter anderem 1852 und 1853 noch die sogenannte „Berlioz-Woche“ folgte48, gelang es Liszt rasch, Weimar in der öffentlichen Wahrnehmung nicht nur zum Ausgangspunkt für die Wagner-Rezeption im 19. Jahrhundert, sondern auch zugleich zur Pflegestätte neuer oder bislang vernachlässigter Werke zu etablieren.49 Beide genannten Aspekte trugen wesentlich zur stetig wachsenden Anziehungskraft Liszts sowohl für junge Künstler und Komponisten bei, die sich in Weimar die Förderung ihrer Kompositionen erhofften, als auch für all diejenigen, die – wie etwa Brendel – in Liszts Weimarer Wirken eine Umsetzung
43 Der zur Tannhäuser-Aufführung verfasste Aufsatz erschien am 18. Mai 1849 im Pariser Journal des Débats (Liszt 1849 Le Tannhaeuser), während der zweite, der Uraufführung des Lohengrins gewidmete Aufsatz, am 12. April 1851 von Richard Wagner redigiert in einer deutschen Übersetzung von Karl Ritter und Hans von Bülow in der Leipziger Illustrirten Zeitung publiziert wurde (Liszt 1851 Richard Wagner’s Lohengrin). 44 Im September 1851 erfolgte die (französischsprachige) Veröffentlichung der beiden Aufsätze Liszts zu Wagners Lohengrin und Tannhäuser in umfassend erweiterter Form bei Brockhaus in Leipzig (Liszt 1851 Lohengrin et Tannhaüser). Die Schrift erschien 1852 in deutscher Übersetzung in Köln (Liszt 1852 Richard Wagner’s Lohengrin und Tannhäuser). 45 Liszt-Schriften 4, S. 23. 46 Siehe Stahr 1851 Ueber Richard Wagner’s „Lohengrin“; Raff 1851 Signale aus Weimar; Riccius 1851 Richard Wagner; Brendel 1852 Ein Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 28. 47 Siehe Anonym 1851 Music and the Drama, Anonym 1853 News from Liszt. 48 Siehe hierzu etwa Anonym 1852 Hector Berlioz en Allemagne; Anonym 1852 Hektor Berlioz in Weimar; Bülow 1852 Aus Weimar sowie Bülow 1852 Hektor Berlioz. 49 An dieser Stelle sind vor allem die Aufsatzreihe der „Dramaturgischen Blätter“ Liszts zu nennen, die vordergründig der Erläuterung einzelner Opernaufführungen in Weimar dienen, im Grunde aber Liszts ambitionierte Spielplangestaltung des Weimarer Hoftheaters einer überregionalen Öffentlichkeit vorstellen sollten (vgl. Liszt-Schriften 5 sowie Liszt 1854 Weber’s Euryanthe, in: NdS 1 Nr. 65).
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der bereits seit Jahren vielstimmig und wiederholt geforderten Reform des Musiklebens unter ausschließlich künstlerischen Aspekten verwirklicht sahen.50 In seiner Gesamtheit bildete dies Nährboden und Voraussetzung für die Stilisierung Weimars zum Zentrum der sogenannten „Zukunftsmusik“51 und damit letztlich auch für die spätere Konstruktion Brendels einer „neudeutschen Schule“ samt der ihr zugeschriebenen Protagonisten Berlioz, Wagner und Liszt.
hierzu etwa Leipziger Tonkünstlerverein 1848 Eingabe an das königl. preuß. Ministerium; Brendel 1848 Tonkünstler-Versammlung zu Leipzig; Anonym 1849 Das Nationaltheater des neuen Deutschlands; Marx 1848 Der Ruf unserer Zeit, in: NdS 1 Nr. 9. 51 Siehe etwa Brendel 1852 Ein Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 2; Brendel 1852 Ein zweiter Ausflug nach Weimar; Brendel 1852 Ein dritter Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 37. 50 Siehe
Nr. 19 | F. [Franz] Brendel, „Einige Worte über Malerei in der Tonkunst“, in: NZfM 17 (1850), Bd. 32, Nr. 47 (11. Juni), S. 241– 244; Nr. 48 (14. Juni), S. 249 f.
Einige Worte über Malereiin der Tonkunst. Von F. Brendel.
Indem ich dem in der Ueberschrift bezeichneten Gegenstand eine kurze Betrachtung widme, scheint es, daß ich etwas schon längst Erörtertes wieder zu bringen unternehme. Dies ist allerdings der Fall. Besprochen ist der bezeichnete Gegenstand schon oft,1 aber eine bestimmte, klare Entscheidung herbeizuführen, ist, streng genommen, bis jetzt nicht gelungen, und es erklärt sich hieraus die Unklarheit der meisten Musiker hinsichtlich dieser Frage. Nicht allein, daß wir auf praktischem Gebiet, d. h. in der Composition selbst thatsächlich großer Unsicherheit und Unklarheit der Ansicht begegnen, auch in der Theorie zeigt sich die größte Meinungsverschiedenheit; die Lehre selbst ist schwankend, und bald dem einen, bald dem anderen Extrem sich zuneigend. Ein recht schlagendes Zeugniß für diese Unklarheit mögen die nachstehend mitgetheilten Worte eines englischen Kunstrichters geben. Sie veranschaulichen die Unsicherheit des Urtheils, das Hinüber- und HerüberSchwanken, die bisherige Halbheit, welche weder entschieden zu verdammen, noch entschieden anzuerkennen wagt: „Nur Mangel an Urtheilskraft kann die kindischen Nachahmungsversuche von Tönen, selbst in Werken großer Meister bewundern, und noch thörichter ist es, sie dort zu suchen, wo sie wirklich nicht bestehen. Solche Nachahmungen waren sehr im Schwange in der frühern Zeit, wo die Tonkunst sich noch in ihrer Kindheit befand, doch dieselbe Läuterung des Geschmackes, welche Zoten, Wortspiele und Wortwitze aus den Dichterwerken verbannte, schied diese Formen aus den Tonwerken. Händel sündigt gegen den guten Geschmack, wenn er das Niederfallen auf das Angesicht dadurch ausdrückt, daß die Tonzeuge2 von einem hohen Tone zu einem sehr tiefen herabspringen, wenn in einem seiner Gesänge „Tief in Qual und hoch in Leidenschaft“3 das Wort tief immer in einem tiefen, das Wort hoch immer in einem hohen Tone ausgedrückt wird, wenn er in „Israel in Egypten“ das Hüpfen der
u. a. Marx 1828 Ueber Malerei in der Tonkunst; Lobe 1845 Malende Instrumentalmusik, in: NdS 1 Nr. 2. 2 Veraltet: Musikinstrumente. 3 Georg Friedrich Händel, Ode for St. Cecilia’s Day HWV 76 (UA 1739), Nr. 9. Dort heißt es: „Depth of pains, and height passion“. 1 Siehe
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Frösche durch eine hüpfende Form in der Begleitung4 ausmalen will. Jetzt wird viel weniger gegen die Schranke verstoßen innerhalb welcher sich die musikalische Nachahmung halten soll. Die Tonkunst, die blos in Tönen besteht, kann unmittelbar nur reine Töne nachahmen. So kann der Gesang der Vögel, das Murmeln der Bäche, das Tosen der Waldströme, das Heulen des Sturmes, das Rollen des Donners, das Läuten der Glocken u. s. w. geistreich nachgeahmt angenehme Stimmungen hervorrufen, besonders wenn diese Töne durch die Tonbühne ausgedrückt werden. Wenn sie aber durch die Gesangstimmen nachgebildet werden, gewähren sie den unangenehmen Eindruck der Possenreißerei. Das Geschrei der edleren Thiere, wie das Gebrüll des Löwen mag aufgenommen werden, jedoch nur sparsam selbst in ernsten Tonwerken; doch sonst zeugen Nachahmungen der Thierstimmen, ausgenommen in launigen Werken, von [242] sehr schlechtem Geschmacke. Haydn gibt in seiner Schöpfung in der Begleitung der Recitative, welche die Schöpfung der Thiere erzählen, sowohl das Schnarchen als Bäumen des Rosses5 – ein Einfall, der in einem so großartigen Werke wohl nicht passend ist. Neben dieser Nachahmung giebt es noch eine Art von mittelbarer, wobei durch Töne Gedanken ausgedrückt werden, die in das Gebiet der übrigen Sinne fallen. Und zwar durch Klänge, welche ähnliche Gefühle in uns anregen, als es die nachzuahmenden Dinge thun. Von solcher Art ist die vielgepriesene Stelle in Haydn’s Schöpfung „und Gott sprach, es werde Licht! und es ward Licht!“ in welcher der Glanz des Lichtes ausgedrückt wird durch einen kühnen Uebergang in eine neue frische Tonfülle.6 Die Stelle hat unläugbar eine großartige Wirkung, würde aber ohne das erläuternde Hinzutreten der Worte nie verstanden werden; als ob sie mit Licht irgend einen Zusammenhang habe. In derselben Weise drückt Haydn den Sonnenaufgang aus7 und zwar dadurch: daß er blos ein, oder zwei Tonzeuge leise beginnen läßt, daß nun immer mehr und lauter eingefallen wird bis zuletzt das Möglichststarke der vollen Tonbühne, nach der Dämmerung das volle Licht ausströmen soll. Der Tonmeister will hier auf das Ohr (plötzlich oder stufenweise) in der Art wirken, als Licht auf das Auge wirkt und also das Gemüth in ähnlicher Weise anregen. Die Tonkunst muß sich hierauf beschränken. Versuche, das Große, Prächtige und Schöne der Naturerscheinungen in dieser Weise darzustellen, werden gewöhnlich ansprechen; weil selbst dann, wenn der Tonsetzer nicht im Stande ist den Gegenstand deutlich vorzuführen, die Bilder, die seine Seele erfüllen, dem Werke den Stempel des Eigenthümlichen aufdrücken, der trotz der Unbestimmtheit der Tonkunst den Hörer einnimmt. Doch bleibt es immer gefährlich sich solchen Schilderungen hinzugeben. Wir können nicht umhin zu behaupten, daß z. B. Haydn in seiner Schöpfung, wenn er den Sprung des Tigers, den Galopp des Rosses, das Kriechen des Wurmes,8 das Tummeln des Wallfisches9 schildert, solche widerharrige Mittel dazu nöthig hat, die im Gegensatze mit dem Ernste und der Würde des großen Werkes stehen. In „den Jahreszeiten“10 desselben großen Tonmeisters sind die nachahmenden
Israel in Egypt HWV 54 (UA 1739), 2. Teil, Nr. 16 „Their land brought forth frogs“. Haydn, Die Schöpfung (UA 1798), 2. Teil, Nr. 9b „Gleich öffnet sich der Erde Schoß“. 6 Ebd., 1. Teil, Nr. 1a „Im Anfange schuf Gott Himmel und Erde“. 7 Ebd., 1. Teil, Nr. 6b, „In vollem Glanze steiget jetzt die Sonne“. 8 Alle drei Stellen in: ebd., 2. Teil, Nr. 9b „Gleich öffnet sich der Erde Schoß“. 9 Ebd., Nr. 8a, „Und Gott schuf große Wallfische“. 10 Haydn, Die Jahreszeiten (UA 1801). 4 Händel, 5 Joseph
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oder beschreibenden Stellen, welche vorkommen mehr übereinstimmend mit der Natur der Sache, also bei weitem weniger störend. Die Sinfonia pastorale11 des berühmten Beethoven ist ein äußerst liebliches Werk beschreibender Tonkunst. Es gehört freilich ein Schlüssel dazu alle Andeutungen des Meisters zu verstehen, doch wenn alle diese Ueberschriften12 des Werkes verstanden sind, wie füllt es dann auch das Gemüth mit den lieblichsten Bildern des Landlebens!“13 Die Malerei auf dem Gebiete der Tonkunst wurde längere Zeit hindurch gänzlich verworfen; sie wurde als unkünstlerisch, als eine Verirrung des Geschmacks bezeichnet; noch gibt es Viele, welche über die Malerei in Haydn’s Oratorien die Achseln zucken und auch die Pastoralsymphonie von der Hand weisen. Dafür fand die entgegengesetzte Ansicht später in A. B. Marx 14 einen entschiedenen Vertreter. Dieser sprach in seiner Brochüre: „Ueber Malerei in der Tonkunst. Ein Maigruß an die Kunstphilosophen“ entschieden aus: „sie sei fortan erlaubt.“15 Aber es war die erwähnte Schrift eine Jugendarbeit, in welcher das im Ganzen richtige Gefühl, wie mir scheinen will, noch nicht den entsprechenden Ausdruck durch Worte fand. Die dort gewonnenen Resultate sind nicht frei von Einseitigkeit, und in Folge derselben geeignet, auf Abwege zu führen. Betrachten wir die Werke der Tonkunst selbst. Die moderne Musik zeigt das entschiedenste Streben nach Bestimmtheit des Ausdrucks, nach möglichster Schärfe der Charakteristik auch in der reinen Instrumentalmusik. Bestimmt erfaßbare poetische Seelenzustände zur Darstellung zu bringen, ist das gemeinsame Streben, und um diesen Zweck zu erreichen, werden alle zu Gebote stehenden Mittel, Schilderungen der manichfachsten Art, wird Malerei zu Hülfe genommen. Man darf nur an Mendelssohn’s Ouvertüren16 erinnern, um dieß bestätigt zu finden. Die moderne Musik zeigt innerhalb ihres Gebietes entschieden eine Hinneigung zur Malerei und es fällt dadurch ein bedeutendes Gewicht in die Waagschale der durch den genannten geistvollen Theoretiker vertretenen Ansicht. Andererseits aber bietet uns die Tagesliteratur Werke dieser Gattung, vor denen das nicht irre geleitete Gefühl entschieden als vor einer Verirrung warnt. Wir finden endlich auch jene Richtung der reinen Tonkunst vertreten, welche der Mozart’schen Bahn folgend, aller Malerei entschieden feindlich gesinnt ist. Es entsteht die Frage, ob Malerei in der Tonkunst gestattet, und wenn dieß der Fall, bis wie weit dieselbe erlaubt, welches die Grenzlinie ist, die das Echte von dem Unechten scheidet. Die Betrachtung der Werke der Tonkunst selbst giebt uns keinen
van Beethoven, Symphonie Nr. 6 Pastorale F-Dur op. 68 (ED 1809). 12 Die einzelnen Sätze tragen außer der üblichen italienischen Spielanweisung folgende Überschriften: 1. Erwachen heiterer Gefühle bei der Ankunft auf dem Lande; 2. Szene am Bach; 3. Lustiges Zusammensein der Landleute; 4. Gewitter und Sturm; 5. Hirtengesänge – Frohe und dankbare Gefühle nach dem Sturm. 13 Übersetzung aus Anonym 1830 Musical Literature, S. 478 f. 14 Adolf Bernhard Marx (1799 –1866), Musikwissenschaftler, Pädagoge und Komponist sowie Mitbegründer des sogenannten Stern’schen Konservatoriums in Berlin. 15 Marx 1828 Ueber Malerei in der Tonkunst, S. 53. 16 Felix Mendelssohn Bartholdy, Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum E-Dur op. 21 (ED 1832); Ouvertüre Die Hebriden oder Die Fingals-Höhle h-Moll op. 26 (UA 1832; ED 1833); Ouvertüre Meeresstille und glückliche Fahrt D-Dur op. 27 (ED 1835); Ouvertüre zum Märchen von der schönen Melusine F-Dur op. 32 (UA 1834; ED 1836). 11 Ludwig
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sichern Maßstab an die Hand; die verschiedenen, entgegenstehenden Ansichten finden sämmtlich Gründe in denselben, ihre Behauptungen zu stützen; wir müssen einen anderen Standtpunkt der Betrachtung suchen, um zu einem bestimmten Resultate zu gelangen. Früher, vor dem Aufschwunge der modernen Aesthetik, fand man das Ziel und den Zweck der Kunst in der Nachahmung der Natur; getreue Nachbildung des Gegebenen galt für die Aufgabe insbesondere der bildenden Künste. Da alle Künste an der Erscheinung haften, war es natürlich, wenn die sinnliche [243] Seite als von besonderer Wichtigkeit betrachtet wurde, das Ideale sich den Blicken entzog, und die materielle Grundlage als das einzig Wahre erschien. Die moderne Philosophie hat das Berechtigte dieser Ansicht erkannt, zugleich die Einseitigkeit darin nachgewiesen. Ihr voran ging die Poesie. Der große Aufschwung derselben, die hohe Ansicht, welche durch unsere ersten Dichter über Poesie und Kunst ausgesprochen wurde, gab diesen eine ganz andere Bedeutung. Die geistige Seite der Kunst kam mehr und mehr zum Bewußtsein, das Schöpferische in der künstlerischen ThätigkeitI, die Einsicht, wie das Wesen der Kunst in der wechselseitigen Durchdringung eines Geistigen und Materiellen besteht, wie das Geistige das über das Materielle Uebergreifende, dasselbe Gestaltende, in einem Brennpunkt concentrirende ist. Das wissenschaftliche Resultat dieser höheren Anschauung war die Erkenntniß der idealen Natur der Kunst. Betrachten wir die Werke der Tonkunst, um den Einfluß dieser Ansichten auf dieselben zu erkennen, so finden wir im vorigen Jahrhundert und früher als das Princip der Nachahmung des Aeußeren noch das herrschende war, viele platte, prosaische Nachahmungen äußerer Vorgänge und Gegenstände durch Töne. C. F. Becker18, in seiner „Geschichte der Hausmusik“19 theilt mehrere derartige Beispiele mit. Selbst Händel und Bach waren nicht frei von solcher Anschauungsweise. Mit der sich heraus arbeitenden, eben erwähnten höheren Kunstauffassung, zugleich mit der poetischeren Auffassung, welche auf dem Gebiete der Tonkunst sich geltend machte, fand die gegenüberstehende Ansicht, die alles Derartige als geschmacklos und der Kunst unwürdig verwarf, Boden. Jetzt belächelte man jene aus kindlicher naiver Anschauung hervorgegangenen Gebilde. Mozart’s Instrumentalmusik zeigt uns die von allen Aeußerlichkeiten freie, reine Tonkunst als solche. Dem trat Beethoven wiederum gegenüber. Auf höherem Standpunkt und mit Bewußtsein verläßt er das Gebiet der reinen Tonkunst, nimmt in seinem Werke äußere Schilderungen auf, zeichnet bestimmte Situationen, und begründete dadurch die neueste Richtung. I Göthe
läßt das Wesen derselben tief erfassend, in dem, dem Faust vorangestellten Vorspiel auf dem Theater, den Dichter sagen: // „Wodurch bewegt er alle Herzen? // Wodurch besiegt er jedes Element? // Ist es der Einklang nicht, der aus dem Busen dringt, // Und in sein Herz die Welt zurücke schlingt? // Wenn die Natur des Fadens ew’ge Länge, // Gleichgültig drehend auf die Spindel zwingt, // Wenn aller Wesen unharmon’sche Menge // Verdrießlich durch einander klingt; // Wer theilt die fließend immer gleiche Reihe // Belebend ab, daß sie sich rhythmisch regt? // Wer ruft das Einzelne zur allgemeinen Weihe, // Wo es in herrlichen Accorden schlägt?“17 Faust I, „Vorspiel auf dem Theater“, V. 137 –149. 18 Carl Ferdinand Becker (1804 –1877), Organist und Musikschriftsteller in Leipzig. 19 Becker 1840 Die Hausmusik in Deutschland. 17 Goethe,
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Als sicheres Resultat der gesammten modernen Kunst in Praxis und Theorie stellt sich uns jene Forderung dar, daß in dem Kunstwerk der geistigen wie der materiellen Seite gleiche Rechnung getragen werde. Man verlangt dieß schon von dem Portraitmaler, demjenigen, welcher am meisten seine Kunst an das Aeußerliche und Zufällige hingiebt; eine blos äußerliche Nachbildung der Gesichtszüge genügt nicht; man verlangt, daß der Portraitmaler das innere Seelenleben des Individuums zur Darstellung bringe, und die Gesichtszüge als die nothwendige Erscheinung desselben auffasse. Künstlich nachgeahmte Blumen- und Fruchtstücke lassen den Beschauer kalt; man verlangt daß die gemalte Traube uns schwellend zum Genusse einlade, und so die Freude am Dasein erwecke. Reiche Stoffe, noch so künstlich nachgebildet, sind etwas Aermliches und Todtes, wenn sie nicht die Behäbigkeit eines glücklichen Lebens dadurch zur Anschauung bringen. Fehlt solchen Darstellungen diese poetische Färbung, so sind sie nichts als technische Studien. Wenden wir das Gesagte auf Musik an. Der Kreis der Gegenstände, die sich ihr darbieten, ist ein viel beschränkterer; die innerliche Kunst der Töne kann aus dem Reiche des Hörbaren nur sehr wenig für ihre Zwecke benutzen. Möge aber auch der Tonkünstler mit noch so großer Sorgfalt bei der Auswahl der Gegenstände aus dem Reiche des Hörbaren, welche er nachbildet, verfahren, seine Nachbildung wird dasselbe Schicksal treffen, wie die blos äußerliche Nachbildung sichtbarer Gegenstände in der Malerei, wenn seine Schilderung des belebenden, poetischen Hauches entbehrt. Es lassen sich innerhalb solcher Nachahmung noch zwei Stufen unterscheiden. Entweder der Künstler bildet das Hörbare möglichst getreu nach, so daß sein Hauptbestreben ist, mit Hintansetzung der Forderungen seiner Kunst nur möglichst getreu zu copiren; – in dem Falle, z. B. wenn er sich anderer als rein künstlerischer Mittel bedient, der Kanonenmaschinen etwa, wie in Beethoven’s Schlachtsymphonie20, um den Kanonendonner ja recht vernehmbar zu Gehör zu bringen; – oder er bildet nur in soweit nach, als die als streng kunstmäßig anerkannten Mittel es ihm gestatten. Im ersteren Falle wird er entschieden ein ästhetisches Ungeheuer, eine Carricatur (wie Beethoven’s Schlachtsymphonie es ist) zur Welt bringen, im anderen zweiten Falle etwas technisch aber nicht künstlerisch im höheren Sinne des Worts Befriedigendes, etwas, was wie erwähnt, mit jenen Portraits, die sich ausschließlich auf äußere Nachahmung beschränken, auf eine Stufe zu stellen ist. Entsprechend den vorhin angedeuteten Gesichtspunkten ist das wahre Kunstwerk nur dann zu [244] erlangen, wenn die Nachbildung des Aeußern durch die poetische Idee des ganzen Werkes belebt ist, sobald demnach die Nachahmung nicht um ihrer selbstwillen da ist, sondern nur als Erscheinung, als Ausdruck der Idee auftritt. Wiedergeboren im Innern des Künstlers muß das Aeußerliche sein, aus dem Innern hervorgehen, dann aber ist auch jede Nachbildung von Gegenständen aus dem Reiche des Hörbaren, aus der äußeren Natur erlaubt, selbst Schlachtgemälde, vorausgesetzt, daß sich der Künstler dabei nur rein künstlerischer Mittel bedient, denn mit Kanonenmaschienen und dergleichen fällt er aus der Idealität der Kunst heraus in die platte, prosaische Wirklichkeit. Die Malereien in Haydn’s Oratorien erscheinen als Momente eines größeren Ganzen,
20 Beethoven,
Wellingtons Sieg op. 91 (EA 1813).
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sie sind getragen von der poetischen Idee des Ganzen, und es ist daher entschieden Zopf zu nennen, wenn man von diesen Malereien im Ganzen und ohne Unterschied nichts wissen will. Verirrt sich Haydn zuweilen in das Spielende, oder verletzt er den geläuterteren Geschmack, so entschuldigt dies doch die kindliche Anschauungsweise, die Frische und Ursprünglichkeit, welche uns überall entgegentritt. Dieselbe Rechtfertigung, aber noch im höheren Sinne, gilt von der Pastoralsymphonie. Die scheinbaren Aeußerlichkeiten darin sind nur Ausdruck der Idee, eine hohe geistige Anschauung liegt dem Werke zu Grunde, und ich muß es, im gerechten Unwillen über die Macht einmal eingewurzelter Vorurtheile, Beschränktheit nennen, gerade diesem Werke, einem der bedeutungsvollsten für Beethoven und die Neuzeit überhaupt, nur eine untergeordnete Geltung zugestehen zu wollen. [249] Die Verständigung über die bis jetzt ausgesprochenen Sätze, macht, wie ich glaube, nur geringe Schwierigkeiten. Unser Resultat ist die Berechtigung der musikalischen Malerei, die Zulässigkeit der Nachbildung alles Hörbaren in der Tonkunst, sobald die Nachbildung der Idee nur als Ausdrucksmittel dient, nicht als Selbstzweck auftritt, sobald „der Einklang, der aus dem Busen dringt, in das Herz des Künstlers die Welt zurücke schlingt,“21 kurz: das Aeußerliche idealisirt erscheint. Dieser eine Satz, welcher den Knoten löst, wurde bisher wohl richtig gefühlt, aber nie mit Bestimmtheit ausgesprochen. Die Untersuchung gewinnt an Wichtigkeit, indem wir das Gebiet des Geistes betreten, und die Malerei der Leidenschaften, die Nachbildung der Affecte der Seele, die Berechtigung solcher Schilderungen ins Auge fassen. Es begegnen uns hier dieselben gegenüberstehenden Ansichten. Marx polemisirt gegen die, welche solche Malerei nicht zulässig finden, und bezieht sich u. A. auf eine Stelle Mozart’s in einem Briefe an seinen Vater,22 worin er über Malerei in der „Entführung aus dem Serail“ u. A. über die Arie: „O wie ängstlich, o wie feurig,“ spricht. Daß er mit diesem Beispiel vollkommen Recht hat, kann keinen Augenblick bezweifelt werden, aber es giebt auch eine unwahre, verwerfliche Malerei von Seelenzuständen, und vor dieser wird hier nicht gewarnt. Die zarte Grenzlinie kann leicht überschritten werden, und wir können hier ebenso sehr, wie dort auf dem Gebiet des Aeußerlichen künstlerische Ungeheuer, Carricaturen erhalten. – Der schon aufgestellte Gesichtspunkt wird uns auch hier die Entscheidung der Frage geben, und uns ebenso die Berechtigung der Seelenmalerei, wie den leicht möglichen Abweg erkennen lassen. Göthe sagt: „Dem Dichter“ und wir können hinzufügen: dem Künstler überhaupt, „ist die Kenntniß der Welt angeboren.“23 Es liegt in diesen Worten wieder jenes schon ausgesprochene Bewußtsein von der Innerlichkeit der Kunst, und wie das Geistige das über alles Aeußerliche Uebergreifende ist. Verwerflich ist das Copiren eines Seelenzustandes nach äußerer Beobachtung, der wahre Künstler beobachtet das Innere des Menschen, nicht um erst zu erfahren und zu lernen, was darin vorgeht, und wie die Bewegungen der Seele beschaffen sind, er beobachtet, um das, was schon in ihm selbst liegt, zu entwickeln, sich zum Bewußtsein zu bringen, und
Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, „Vorspiel auf dem Theater“, V. 140 f. 22 Wolfgang Amadeus Mozart, Brief an seinen Vater, 26. September 1781, in: Mozart-Briefe 3, S. 162 f. 23 Johann Peter Eckermann, Gespräche mit Goethe, 26. Februar 1824, in: Goethe-Werke 39, S. 98. 21 Nach
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zu schärferer Bestimmtheit herauszuarbeiten. Malerei der Leidenschaften ist entschieden verwerflich, sobald sie nicht aus dem Innern des Künstlers hervorgegangen, sobald sie lediglich durch Beobachtung gewonnen ist, während der Künstler selbst nichts in sich trägt; sie ist der wichtigste Gegenstand der Tonkunst, wenn sie als Resultat des eigenen Inneren des Künstlers auftritt. Auch von der Schilderung von Seelenzuständen gilt jener oben ausgesprochene Satz, daß Alles, was der Künstler zur Darstellung bringt, in seinem eigenen Innern wiedergeboren, von ihm innerlich erst errungen und angeeignet sein muß. In diesem Falle [250] haben wir eine poetische Schöpfung, in jenem dagegen unschöne Musik, Musik, die alle äußeren Forderungen eines Kunstwerkes erfüllt, und uns doch zurückstößt, ja wohl gar widerwärtig ist. Ich habe nicht nöthig, an besondere Beispiele zu erinnern, sie sind dem Kenner der Literatur hinlänglich bekannt. Jene Ansicht, welche Malerei in der Tonkunst vertritt, hat daher das richtige Bewußtsein, daß mit leerem musikalischen Formenspiel nicht mehr fortzukommen, daß der Standpunkt der reinen, blos den Gesetzen musikalischer Ausarbeitung folgenden Tonkunst nicht mehr ausreichend ist; aber sie übersieht, in welcher Weise dieselbe als zulässig bezeichnet werden kann, sie übersieht, indem sie die mannichfachsten Schilderungen gestattet, die nothwendige Mitwirkung des künstlerischen Inneren, die Wiedergeburt des Aeußeren im Inneren, und unschöne Werke sind leicht das Resultat. Die andere Ansicht hält an der künstlerischen Idee, der Mannichfaltigkeit der Schilderungen gegenüber, an der Einheit fest, sie vertritt den Standpunkt der reinen Tonkunst. Aber sie übersieht, daß das künstlerische Innere sich durch den Reichthum der Welt erfüllen soll, und beschränkt die Tonkunst auf eine viel zu enge Sphäre. Beide Ansichten sind einseitig extreme; ihre Durchdringung, ihre wechselseitige Ergänzung gewährt erst das Wahre. Erlaubt man Malerei in der Tonkunst mit richtigem Bewußtsein, doch ohne jene Einschränkung, so öffnet man der Häßlichkeit Thor und Thür; will man sie gar nicht gestatten, so verzichtet man auf den größten Reichthum. Die Frage ist daher auf unserem Standpunkte gar nicht mehr, ob irgend ein Stoff, z. B. eine Schlacht, für künstlerische Behandlung fähig ist, oder nicht; bemächtige sich der Künstler des ganzen Reichthumes der Welt; in seiner Behandlung des Stoffes liegt das Künstlerische oder Nicht künstlerische, nicht in dem Stoff. Jede Nachahmung ist künstlerischer Bedeutung fähig, wenn die Idee sich darin wiederspiegeln kann, jede Nachahmung ist verwerflich, sobald sie die Idee vermissen läßt. Nicht in der Wahl eines äußerlichen Gegenstandes liegt der Fehler, er liegt, sobald das Werk ein fehlerhaftes ist, in dem Mangel des künstlerischen Blickes. Uebertragung eines Sichtbaren auf Hörbares, Schilderung eines Sonnenaufgangs, ist kunstgemäß, wenn wir nicht blos eine äußere Anschauung von der Sache durch die Töne gewinnen, sondern uns zugleich die Empfindung, welche wir bei einem Sonnenaufgang haben, belebt. Eben so kann die Nachahmung von hörbaren Naturerscheinungen, der Bach, die Vogelstimmen, der Wald, das Gewitter, Gegenstand der Tonkunst sein, wenn der Künstler nicht blos jene Laute nachbildet, sondern uns den poetischen Eindruck giebt, so wie der wahre Landschaftsmaler uns nicht blos die Aeußerlichkeiten der Gegend, die Felsen, Bäume u. s. w. darstellt, sondern dies Alles durch die Stimmung eint. Wie weit der Tonkünstler, um solche Eindrücke zu erreichen, nachbildet, welcher Mittel er sich dabei bedient, ist gleichgiltig, vorausgesetzt, daß es nur kunstgemäße sind. Eben so können
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selbst Thierstimmen in einem Werke höheren Styls zulässig sein, wenn ihre Aufnahme durch die Idee des Ganzen bedingt ist, und die Nachahmung sich streng in den Grenzen musikalischer Kunst hält, so daß dieselbe, abgesehen von ihrer Beziehung zum äußeren Object, an sich selbst gut, und musikalisch schön ist. Im Geistigen aber wollen wir im Kunstwerk nicht die mühselige Verstandesarbeit eines Copirens der Leidenschaften, oder eines Objectes überhaupt, sondern Schöpfungen, die aus dem Vollen und Ganzen entworfen, aus ursprünglicher poetischer Anschauung heraus geboren sind. Wenden wir uns nach alle Dem noch einmal zurück zu den oben angeführten Worten des englischen Autors, so werden wir diesem in seinem Tadel beistimmen, wenn Händel bei den Worten: „tief in Qual und hoch in Leidenschaft“ etwas, was entschieden einen geistigeren Ausdruck verlangt, sinnlich anschaulich darstellen will, oder wenn er etwas Unwesentliches, das Hüpfen der Frösche, als etwas Wesentliches in den Vordergrund stellt, jedoch immer nur mit der Einschränkung, daß Händel von seinem Standpunkt aus, der ihn auf größtmöglichste Anschaulichkeit hindrängte, Recht hatte; wir werden die Nachahmung von elementarischen Lauten oder Thierstimmen durch Menschenstimmen als etwas Widersinniges mit ihm zugleich verdammen, im Uebrigen aber seinen Zweifeln in Bezug auf die anderen angeführten Beispiele, was das Princip betrifft, durchaus nicht beistimmen, im Gegentheil in durch poetische Auffassung geadelter Malerei eine wesentliche Erweiterung der Grenzen der Tonkunst erblicken.
Kommentar Mit diesem Artikel wandte sich Brendel erstmals dem ästhetischen Problemfeld der Tonmalerei zu. Dass die Diskussion um deren Berechtigung in der Instrumentalmusik bereits Jahre zuvor intensiv geführt worden war, betont Brendel gleich zu Beginn seines Artikels. So schien schon Johann Christian Lobe 1845 mit seinem Artikel über „malende Instrumentalmusik“ eine beinah beschlossene Debatte wiederbeleben zu wollen.24 Reagierte Brendel hier lediglich indirekt darauf, so konkretisiert er seine Ansicht gegenüber Lobe später durch direkte Bezugnahme. Das Thema ist in anderem Zusammenhang auch für zwei Beiträge über Instrumentalmusik und über Beethoven von Theodor Uhlig relevant, die im Frühjahr 1850 in der NZfM erschienen waren.25 Uhlig, dem seit November 1849 das Manuskript zu Wagners Schrift über Das Kunstwerk der Zukunft vorlag,26 betrachtete dort systematisch die Symphonien
24 Siehe Lobe 1845 Malende Instrumentalmusik, in: NdS 1 Nr. 2. 25 Siehe Uhlig 1850 Natürliche Grundlage der Instrumentalmusik sowie Uhlig 1850 Beethoven’s Symphonien. 26 Siehe Wagner-Briefe 3, S. 165 –169.
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Beethovens unter Wagners Prämisse, dass der Tanz „die natürliche Grundlage der Instrumentalmusik“ sei.27 Daran angelehnt, gesteht Uhlig einer ‚malenden Instrumentalmusik‘ nur eine Berechtigung als Übergangsgattung „von der reinen Tonkunst zum Drama“ zu.28 Brendel wiedersprach dieser Ansicht insofern, als für ihn das Mittel der Tonmalerei eine qualitative Weiterentwicklung der Instrumentalmusik ermögliche. Zwar lehnte er den rein äußerlichen, plakativen Einsatz tonmalerischer Elemente ab, räumte jedoch die Möglichkeit ein, dass die Verwendung solcher Mittel „durch die poetische Idee des ganzen Werkes belebt“, diese rechtfertigen könne.29 Es ist diese Vorstellung einer poetischen Idee, die Brendel – eine ästhetische Anleihe bei Schumann30 – als tragendes Element zur Bestimmung von Tonmalerei betonte und die er auch später immer wieder heranzog, um die dadurch gesetzte „Grenzlinie“ anzuzeigen, welche nicht überschritten werden dürfe und ihn für längere Zeit in ästhetische Distanz zu den Orchesterwerken Berlioz’ brachte.31 Zwei Jahre später, 1852, formulierte Brendel ähnliche Gedanken, indem er diese explizit mit einem Programm in Verbindung brachte, Lobes Ansichten diesbezüglich widersprach sowie auch das Überschreiten besagter Grenze durch Berlioz verwirklicht sah: „Diese feine Grenzlinie schien bei Berlioz nicht innegehalten; es kam hinzu, daß Lobe gerade die Seite, die wir tadeln, als die wesentliche bezeichnete. Hatte doch Lobe immer eine die äußerste Bestimmtheit anstrebende Instrumentalmusik als die wahre bezeichnet, und in diesem Sinne z. B. den als verfehlt zu bezeichnenden Versuch gemacht, die Ouvertüre zum Don Juan Tact für Tact zu erklären,32 auf diese Weise unsere moderne Instrumentalmusik mit jenen alten Bildern, denen Zettel aus dem Munde gehen, um zu erklären, was sie bedenken, auf gleiche Linie stellend.“33
1850 Beethoven’s Symphonien, S. 29. 28 Ebd., S. 70. 29 Vorliegender Artikel, S. 211 [ 244]. Robert Schumanns Berlioz-Rezension schreibt dieser die Bedeutung des Poetischen dezidiert der Musik und nicht dem Programm zu: „Ob nun in dem Programme zur Berliozschen Symphonie viele poetische Momente liegen, lassen wir dahingestellt. Die Hauptsache bleibt, ob die Musik ohne Text und Erläuterung an sich etwas ist, und vorzüglich, ob ihr Geist inwohnt“ (Schumann 1835 „Aus dem Leben eines Künstlers“, S. 50). 31 Siehe etwa Brendel 1852 Geschichte der Musik, S. 512 – 515. Dort heißt es u. a.: „Berlioz, über den das Urtheil zur Zeit immer noch schwankt, ist, so weit wir ihn kennen, nicht zur Vollendung gekommen. Schon sein für Instrumentalmusik nicht günstig organisirter Nationalcharakter bereitet ihm Hindernisse und es liegt hierin zugleich der Grund, wesshalb er bei uns weniger festen Fuss fassen konnte. […] Wir sehen hier das was Beethoven wollte noch weiter fortgeführt, höchste Bestimmtheit des Ausdrucks. Darum haben wir bei ihm als den hervorstechendsten Zug ein ausserordentliches Talent für Charakteristik; er hat darin so Schlagendes, als nur möglich geleistet. Hierin liegt aber auch zugleich sein Fehler. Er hat diese Bestimmtheit bis zum Extrem geführt, er giebt überwiegend Einzelheiten, aber weniger ein Ganzes, die einzelnen Momente sind übermächtig, das Ganze besteht aus diesen einzelnen Schilderungen, und es fehlt an jener Alles bewältigenden Einheit, jener Gesammtstimmung, welche das Ganze in Fluss bringt, das Einzelne zum verschwindenden Moment macht. […] Hierzu kommt sein französisches Naturell, der Mangel deutscher Innerlichkeit, dass überwiegend Aeusserliche seiner Richtung, dass z. B. die Instrumentation nicht Ausdruck des Innern ist, sondern wie bei den Virtuosen, der Gedanke durch die Instrumente bestimmt wird. […] Es fehlt das deutsche Gemüth, diese innerliche Einheit, die Instrumentalmusik aber vermag nur auf diesem Boden sich zu bewegen und geräth ausserdem leicht in Widerspruch mit ihrem Wesen.“ 32 Siehe Lobe 1846 Das Gehaltvolle in der Musik. 33 Brendel 1852 Ein dritter Ausflug, S. 238, in: NdS 1 Nr. 37, S. 367 f. 27 Uhlig 30 In
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Die Relevanz dieser frühen Bestimmung von Tonmalerei zeigt sich insbesondere in Brendels späterem Artikel zur „Programmmusik“34. Es ist bemerkenswert, dass Brendel trotz veränderter Kontextualisierung durch neue ästhetische Konzepte wie auch neue Kompositionen seinen früheren Aussagen zur Notwendigkeit einer poetischen Idee treu blieb und die Idee eines programmatischen Vorwurfs nicht pauschal guthieß, sondern an differenziert geäußerte Voraussetzungen anknüpfte. Gerade da Brendel damit auf eine auf Schumann basierende Tradition rekurrierte – der in diesem Zusammenhang unerwähnt bleibt – und da das Thema Programmmusik spätestens Ende der 1850er Jahre zum wesentlichen Gegenstand der Debatte um die sogenannte ‚Zukunftsmusik‘ wurde, welches Brendel dann in den fachübergreifend angelegten Anregungen platzierte, ist dieser frühe Beitrag ein bemerkenswertes Zeugnis für die implizite Traditionsgebundenheit ästhetischer Gegenstände, um die vor allem auch die Kontroverse um die ‚Zukunftsmusik‘ immer wieder kreiste.
34 Brendel
1856 Programmmusik, in: NdS 2 Nr. 86.
Nr. 20 | Ludwig Bischoff, „TU hoc intrivisti: tibi omne est exedendum“, in: Rheinische Musik- Zeitung 1 (1850/1851), Nr. 6 (10. August 1850), S. 43 – 47.
TU hoc intrivisti: tibi omne est exedendum.I
Terentius in Phormion. II, 2, 4.1 Unsere wenigen Bemerkungen in Nr. 1 dieser Blätter2 über die Art und den Ton der Kritik in einigen Artikeln der Leipziger neuen Zeitschrift für Musik, betreffend Meyerbeers Propheten, haben dieser Zeitschrift Veranlassung gegeben, sich in eilf bis zwölf Spalten ihrer Nummer über uns auszulassen.3 Wir können ihr nur Dank dafür zollen. Denn was kann einem jungen schüchternen Mädchen willkommener sein, als dass eine ehrenwerthe ältere Dame von verdientem Ansehen den ersten geringfügigen Worten desselben eine so lebhafte Aufmerksamkeit widmet und es dadurch auf eclatante Weise in die Gesellschaft einführt? Freilich pflegt es bei solchen Anlässen nicht ohne einige hingeworfene Seitenbemerkungen abzugehen, z. B. „sie ist recht hübsch, nur schade, dass sie ein wenig schielt“ und dergleichen: allein das thut der Wirksamkeit der Empfehlung keinen Abbruch – die Welt ist einmal neugierig gemacht und will nun mit eigenen Augen sehen, ob die empfohlene denn wirklich schielt; denn man kennt die Damen, besonders diejenigen, welche eine [44] Zeit lang unangefochten den Ton in einer geschlossenen Gesellschaft angegeben haben. Ein Herr T. U. hat sich getrieben gefühlt, im Namen seiner Dame unsere Einführung in die grosse Welt zu übernehmen. Er wird aus diesem Eingang schon ersehen, dass wir weit gutmüthigerer Natur sind, als er meint. Allein wir gehen noch weiter. Er verbrämt seinen Empfehlungsbrief mit den zarten Stickereien von „Perfidie, Beschränktheit, Unwürdigkeit“, welche er uns nebenbei anheftet, und zeihet uns gerade zu der Absicht, als sei der „unverkennbare Zweck“ jener harmlosen
I Du
hast dies eingebrockt u. s. w.
Terenz (um 195 – nach 159 v. Chr.), Phormio, 2. Akt, 2. Szene: „Tute hoc intristi, tibi omnest exedendum“ (lat.: Was du dir eingebrockt hast, musst du auch auslöffeln). Ludwig Bischoff änderte „tute“ in „TU“, um direkt auf das Kürzel von Theodor Uhlig anzuspielen. 2 Anonym 1850 Welcher ist der wahre Prophet. Dieser Artikel nimmt Bezug auf eine Korrespondenz aus der NZfM, in der Friedrich Wilhelm Markulls Oper Der König von Zion (UA 1850) rezensiert wurde (– n 1850 Aus Danzig). 3 Uhlig 1850 Zeitgemäße Betrachtungen, Bd. 33, S. 29 – 33. Der Artikel ist Teil einer siebenteiligen Artikelserie aus den Jahren 1850/1851, in der sich Theodor Uhlig pointiert mit Giacomo Meyerbeers Oper Le Prophète (UA 1849) auseinandersetzt. 1 Siehe
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Worte in unserer Nummer 1 gewesen, „die neue Zeitschrift für Musik in Miscredit zu bringen, wahrscheinlich zum Vortheile der rheinischen Musikzeitung.“4 Wir dagegen, wir hegen von ihm eine ganz andere Meinung: wir glauben nach Lesung seines Aufsatzes, dass er es darauf abgesehen habe, sich selbst um allen Credit zu bringen, lediglich zu unserm Vortheil. Er überschreibt seine Rhapsodie gegen uns „Ausserordentliches“ – überall aber tritt aus derselben nur das sehr Gewöhnliche hervor, dass eine verletzte Eitelkeit sich überschlägt, und dann allerlei possirliche Sprünge macht, um wieder auf die Beine zu kommen. Sie sind sehr anspruchsvoll, Herr T. U., wenn Sie alles von mir dort Gesagte, so wenig es auch ist, auf sich beziehen. Ihnen als T. U., habe ich nur Eins vorgeworfen, nämlich dass Sie in Ihren kritischen Bemerkungen über eine Kunstschöpfung die persönlichen Verhältnisse des Künstlers herbeiziehen, um Ihre individuelle Meinung über sein Werk dadurch zu stützen. Dies thun Sie durch Dreierlei: 1) indem Sie den moralischen Charakter Meyerbeers verunglimpfen, denn Sie nennen ihn einen „glücklichen Intriguanten gegen die gesunden Erzeugnisse gewisser Anderer“5 – 2) indem Sie an seine jüdische Confession erinnern – und 3) indem Sie den Beifall des Publikums und der Kritiker, wo er sich findet, allein auf Rechnung des Reichthums des Componisten schreiben.6 Diese Rügen trafen allerdings Ihre Kritik und ihr „Ausserordentliches“ hat sie nicht entkräftet, sondern noch weit mehr gerechtfertigt, als sie es der Natur der Sache nach schon waren. Oder soll etwa die Angabe, dass Sie, der Herr T. U., nichts von dem vernommen haben, was Meyerbeer zur Beförderung der Aufführung des Freischütz in Paris gethan habe,7 soll diese Angabe den Vorwurf rechtfertigen, dass Meyerbeer intriguire? Gesetzt Ihre Angabe wäre richtig, was beweist sie? Wenn ich z. B. für Ihren Ruhm nichts thue, intriguire ich deshalb gegen Sie? Sie werden gewiss die Anklage, dass Meyerbeer [„]mit Glück gegen die Erzeugnisse gewisser Anderer zu intriguiren verstehe“8 nicht in die Welt schleudern, ohne thatsächliche Beweise für diese in mehrern Fällen, wie Sie behaupten, gelungenen Intriguen in Händen zu haben. Wenn Sie nun damit wirklich gegen ihn hervortreten, dann wird gewiss Jedermann einsehen, wie schlecht – seine Musik sei! Die Erwähnung des Jüdischen suchen Sie zu entschuldigen und als zur Sache gehörig darzustellen. Sie behaupten dass es „in der Musik vieler jüdischen [sic] Componisten Stellen gibt, die fast alle nicht jüdische Musiker im gewöhnlichen Leben“ (das ist immer schon etwas ganz anderes, als in einem Organ wissenschaftlicher Kunstkritik) „und mit Bezugnahme auf die allgemein bekannte jüdische Sprechweise als Judenmusik, als ein Gemauschele oder als ein dergl. bezeichnen.“9 Dieses Gemauschele
4 Ebd.,
Bd. 33, S. 30. 5 Ebd., Bd. 32, S. 218. 6 Ebd., Bd. 33, S. 29 – 33. 7 Carl Maria von Weber und Meyerbeer waren aufgrund ihrer gemeinsamen Schülerschaft bei Abbé Vogler zeitlebens befreundet. Beide waren 1810 neben Gottfried Weber, Alexander von Dusch und Johann Gänsbacher Gründungsmitglieder des Harmonischen Vereins, dessen § 16 die „Verbreitung und Würdigung“ der Werke der Mitglieder als „angenehme Pflicht“ vorschreibt (vgl. Huck/Veit 1998 Die Schriften des Harmonischen Vereins, S. 6). Somit ist anzunehmen, dass sich Meyerbeer auch in Paris für das Schaffen Webers einsetzte. 8 Siehe Uhlig 1850 Zeitgemäße Betrachtungen, Bd. 32, S. 218. 9 Ebd., Bd. 33, S. 30.
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setzen Sie dann „theils in die metrische Gestaltung, theils in einzelne melodische Tonfälle der musikalischen Phrase,“ und lassen es „bei Mendelssohn sehr gelind, bei Meyerbeer in höchster Schärfe in den Hugenotten und dem Propheten hervortreten“ – ja, es erinnert Sie bei Meyerbeer „ganz unmittelbar an das, was Sie nicht anders denn als Judenschule zu bezeichnen wissen.“10 Diese Auseinandersetzung kann ihre Wirkung nicht verfehlen: T. U. begründet die christlich-musikalische Lehre von der neu entdeckten Judenmusik nicht etwa auf den Nationalcharakter des Volkes, was doch noch einigen Sinn haben könnte, sondern auf ihren Dialekt, auf ihre Sprechweise! So sehr sich nun auch die Feinheit der kritischen Nase T. U’s in Aufspürung des Judaismus in der Musik wie wir sehen auszeichnet, so wenig hat sie sich doch bewährt, als sie in mir „einen wahrscheinlichen Glaubensgenossen Meyerbeers“11 witterte. Beruhigen sie sich, T. U.; Ihr Glaube, Sire, ist auch der meinige –12 d. h. an Christus, nicht aber an diesen oder jenen musikalischen Götzen.13 Damit Sie mich aber nicht wie den verstorbenen Mendelssohn trotz dieser Versicherung doch noch zu den Alttestamentlichen rechnen, so notiren Sie sich gefälligst, dass ich der bekannten thüringischen Familie angehöre, welche manche wackere Künstler, und was für Sie weit wichtiger ist, schon vor 200 Jahren General-Superintendenten unter ihren Gliedern zählte! (S. Gerber’s altes und neues Lexicon14). Sie werden nun gegen [45] meine neutestamentliche Ebenbürtigkeit nichts einzuwenden haben: aber trotz derselben kann ich mich nicht auf denjenigen christlichen Standpunkt schwingen, auf welchem Sie in der Musik einen besondern, auf das Analogon der Judenschule begründeten Stil jüdischer Componisten, und zwar bis in’s zweite oder vielleicht auch dritte Glied der Abstammung hinab, entdecken. Ich halte dies für eben so unrichtig, als wenn Jemand umgekehrt z. B. die Langweiligkeit Ihres Stils auf das Christenthum schieben und sie aus dem Analogon des allgemein bekannten Geplärres der alten Weiber in den protestantischen Kirchen erklären wollte. Der Stil ist der Mensch – nicht wahr? Zur Sache schlagen wir vor: man gebe diejenigen Stellen, welche man in Mendelssohn und vielen andern tüchtigen Componisten jüdischer Confession für Judenmusik erklärt, genau an, denn mit dem allgemeinen Geschwätz von metrischer Gestaltung und melodischen Tonfällen ist nichts gesagt. Finden sich nun diese charakteristischen Stellen nicht bei allen jüdischen Componisten, so fällt dadurch allein schon die Behauptung, dass sie auf dem Judaismus, beziehungsweise der Judenschule, beruheten, in ihr Nichts zurück, und jene musikalischen Wendungen sind dann nur Eigenthümlichkeiten von Individuen. Stellen wir ihnen nun aber vollends ähnliche
10 Alle Zitate des Satzes: ebd. Mit diesen antisemitischen Äußerungen bezogen auf die Sprache und deren Auswirkung auf die Musik lässt sich Uhlig direkt mit Richard Wagners Schrift „Das Judenthum in der Musik“ in Verbindung bringen, die kurze Zeit darauf erstmals unter dem Pseudonym K. Freigedank in der NZfM erscheint (Wagner 1850 Das Judenthum). Vgl. dazu Fischer 2000 Wagners Das Judentum in der Musik. 11 Siehe Uhlig 1850 Zeitgemäße Betrachtungen, Bd. 33, S. 30. 12 Friedrich von Schiller, Don Karlos, 3. Akt, 10. Auftritt (UA 1787). 13 Gemeint ist Uhligs Verehrung für Richard Wagner. 14 Gerber 1790 Historisch-biographisches Lexicon der Tonkünstler sowie Gerber 1812 Neues historisch-biographisches Lexikon der Tonkünstler.
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Wendungen und Rhythmen aus christlichen Tonsetzern zur Seite, und gelingt uns dies, so ist die ganze Lehre von der sogenannten Judenmusik eine Phantasie, welche eben so aus Vorurtheilen hervorgegangen ist, wie viele andere gehässige Behauptungen ähnlicher Art. Der wahre Kunstfreund wird stets mit Freuden dasjenige anerkennen, was deutsche Männer jüdischer Confession in Kunst und Literatur geleistet haben, und Aeusserungen auf dem Gebiete der ästhetischen Kritik, wie „Gemauschele u. dgl.“ wird jeder Edelgebildete mit Widerwillen von sich weisen. Was den dritten Punkt betrifft, den Reichthum, oder wie Sie zu sagen belieben, die Geldsäcke, so haben Sie in Bezug darauf allerdings manches zwar allbekannte, jedoch wahre zu Papier gebracht, allein nichts, was Ihre dreiste Anklage entschuldigen könnte, dass das Publikum und jeder Kritiker, der an Meyerbeers Musik irgendwie Beifall finde, entweder bestochen oder vom Respekt vor dem Gelde geblendet sei. Da bei Geldfragen bekanntlich die Gemüthlichkeit aufhört, so müssen wir diese Voraussetzung, welche einen Jeden, der Meyerbeers Musik Anerkennung zollt, entweder für feil, oder für verächtlich erklärt, weil kriechend vor der Grösse des Geldes, sehr ernstlich zurückweisen und Herrn T. U. an seine Confession erinnern: denn hier ist nicht von Kunst, sondern von Sittlichkeit die Rede. Dass ich ferner in der 400maligen Aufführung des Robert15 „den Maassstab für den Werth der Meyerbeer’schen Opern fände“,16 ist eine unwahre, durch keines meiner Worte zu rechtfertigende und mithin arglistige Behauptung, da jene Thatsache nur angeführt worden ist, um den Beifall des Publikums zu beweisen. Wenn wir nebenbei erfahren, dass Spohr’s und Marschner’s Opern „Deutsches Mittelgut“, sind und den prophetischen Jammer hören, dass so wie Gluck, Euryanthe17, Cherubini, Spontini, auch die Genoveva18, welche T. U. zwar wie er selbst sagt, noch gar nicht kennt, nirgends würde aufgeführt werden (!), und dann die feine Wendung bewundern, mit welcher Hiller’s Conradin19 grossmüthig in den T. U’schen Kanon, wenn auch nicht ohne Seitenblick, aufgenommen wird, – nun, so sind das Eigenthümlichkeiten, die mich nichts angehen.20 Aber wenn Herr T. U. sich gebehrdet, als habe ich mit dem, was ich über die Triebfedern der heutigen Kritik im Allgemeinen gesagt, ihn im Auge gehabt, so muss man sich höchlich verwundern, welch’ eine reiche Ader von Selbstgenügsamkeit in ihm strömt, dass er sich für die personificirte Kritik hält! – Sie versichern uns, T. U., dass Sie keineswegs „mit Meyerbeer revalisiren“ [sic] wollen: diese Versicherung war eben so überflüssig als die andere, dass Ihnen der Beschränktheit und Böswilligkeit gegenüber „stets der Witz auszugehen pflege“21 – dergleichen bedarf für den Leser keiner Betheurung; ja selbst der Zweifel, ob etwas ausgehen könne, wovon überhaupt kein Vorrath da war, dürfte nicht allzukühn sein. Hier könnte ich Ihnen: Nun leben Sie mir aber recht wohl! zurufen, wenn nicht die Sache, um derentwillen allein ich Ihrer gütigen Einladung mit Ihnen das Dessert zu nehmen gefolgt bin, noch einige Worte verlangte.
15 Giacomo Meyerbeer, Robert le diable (Robert der Teufel, UA 1831). 16 Siehe Uhlig 1850 Zeitgemäße Betrachtungen, Bd. 33, S. 31. 17 Carl Maria von Weber, Euryanthe (UA 1823). 18 Robert Schumann, Genoveva (UA 1850). 19 Ferdinand Hiller, Konradin (UA 1847). 20 Siehe Uhlig 1850 Zeitgemäße Betrachtungen, Bd. 33, S. 31. 21 Ebd., S. 29.
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Ich habe nicht von der Kritik als solcher geringschätzend gesprochen, sondern eben weil ich ihre Reinheit unbefleckt bewahren möchte diejenige Kritik angegriffen, welche ihre Zwecke, sie mögen Namen haben wie sie wollen und aus noch so guten Motiven ursprünglich hervorgehen, durch unedle Mittel zu erreichen sucht. Es mag oft ein wirkliches oder vermeintes Kunstinteresse zum Grunde liegen, das gebe ich zu: aber wenn dieses für die Qualität der Mittel blind macht, durch welche es [46] sich bewähren will, so gräbt es sich sein eignes Grab und schadet offenbar der Sache, welche es fördern will. Zu solchen verwerflichen Mitteln rechne ich eines Theils das Vermischen von Aussendingen mit dem eigentlichen Objekte der Kritik, der Person mit dem Kunstwerk, die Anwendung der persönlichen Verhältnisse jeder Art auf die Beurtheilung und Würdigung des innern Werthes eines künstlerischen Produkts; und andern Theils die Begründung von Lob oder Tadel durch Analysen des Kunstwerks oder Anführungen aus demselben, welche geradezu falsch sind; mag ihre Quelle nun Oberflächlichkeit und Unkenntniss oder gar Absichtlichkeit sein. Von dem ersten haben wir oben hinreichende Beispiele gegeben und jedes weitere Wort darüber wäre für verloren zu achten: von dem Zweiten müssen wir aus Herrn T. U.’s „Betrachtungen“ selbst noch einige handgreifliche Beweise beibringen und überlassen dann getrost das Urtheil einem Richterhof, vor dem wir wenigstens noch alle Achtung haben, dem Publikum. In Nro. 3 der neuen Zeitschrift für Musik vom 9. Juli nennt T. U. den dritten Akt des Propheten „die Krone alles Unsinns“ und gibt dann, um dies zu beweisen, „drei Bilder“, welche uns diesen Unsinn klar machen sollen.22 „Erstes Bild. Auf dem Eise eine Schlittschuhläufer-Quadrille! – Drei Ballets werden auf dem Eise aufgeführt, ziemlich leicht (?) gekleidete Mädchen und Frauen sehen auf dem Eise zu – vergessen, dass sie die Füsse verfrieren – sollten sich mit Schnee reiben, der da liegt u. s. w.“23 Dass sich T. U. über eine Schlittschuhläufer-Quadrille wundert, wollen wir ihm nicht verargen: um sich davon eine Vorstellung machen zu können, muss man einige Winter in Holland und am Niederrhein verlebt haben, wo dergleichen Vergnügungen auf dem Eise, wie Wettlaufen, Schlittenfahren mit Pferden, Kegelschieben, Rundlaufen in Masse und Paarweise und allerlei Spiele etwas ganz gewöhnliches sind. Dies zu idealisiren steht dem Dichter offenbar frei. Dass T. U. aber behauptet, die Ballets würden auf dem Eise getanzt, ist falsch und alle daraus gefolgerten Witze über das Erfrieren verfrieren selber. T. U. hat die Beschreibung der Decoration nicht nachgesehen oder nicht verstanden: das erste war aber seine Pflicht, für’s zweite ist er freilich nicht zurechnungsfähig. Der gefrorene See füllt nur den Hintergrund der Bühne: die Decoration stellt eine Winterlandschaft dar ohne Schnee, wie sie die Koekkoek’schen und Achenbach’schen Bilder24 und die Natur in den nordwestlichen Gegenden gibt – zu beiden Seiten im Vordergrunde ein alter Wald, welcher sich rechts längs dem Ufer des Sees hinzieht, während links am Eise die Zelte der Wiedertäufer stehen. So ist die Vorschrift: auf der Vorderbühne wird das Ballet aufgeführt, so wie die Gräuelscene bei Eröffnung des Akts und die Aufmarschirung des Heeres am
22 Ebd.,
S. 14 f. 23 Ebd., S. 14. 24 Gemeint sind hier der niederländische Maler Barend Cornelis Koekkoek (1803 –1862) und der deutsche Maler Andreas Achenbach (1815 –1910).
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Schlusse desselben, nicht auf dem Eise, auf welchem bloss das Herüberfahren der Lebensmittel und nachher der Schlittschuhläufertanz Statt findet. „Zweites Bild. Der Prophet fragt: „Wer hat euch, eh’ ich’s befahl, zum Kampf geführt?“ Die Getreuen zeigen auf Spitzbube Matthisen, Spitzbube M. auf Spitzbube Zacharias: „Er war’s!“ – „I, sagt der Prophet, der war ja noch vor drei Minuten bei mir im Zelte, der kann es nicht gewesen sein!“ Doch nein, diese voreilige Bemerkung entschlüpfte nur uns (sagt T. U.), der falsche Prophet macht sie keineswegs, sondern nennt ihn Verräther u. s. w. O Unsinn!“25 Was will nun T. U. erwidern, wenn Scribe26 ihn also anredet: „Schlaukopf T. U.! wenn du meine Spitzbuben citiren willst, so sei künftig dabei selber ehrlich: denn Zacharias hat in einer besondern drei Seiten langen Scene (Klavierauszug S. 156 –158) dem Matthisen schon beim Anbruch des Abends den eigenmächtigen Befehl zum Sturm gegeben,27 und erst auf S. 194 fragt der Prophet, wer es gethan, nachdem vier lange Scenen und noch obendrein eine Verwandlung dazwischen getreten sind.28 Ich verbitte mir dergleichen Falsa!“ O weh, T. U.! wieder einer Ihrer zeitgemässen Witze unrettbar verloren! „Drittes Bild. Am Schlusse des Akts ruft Alles: Auf zum Sturme nach Münster! – Die Feinde jedoch sind grossmüthig und warten, bis die Reihe an sie kommt; die Getreuen des Herrn haben keine sonderliche Eile, sondern singen eine Hymne, die den Triumph über die Feinde anticipando29 ausspricht – das Sieg[e]sbewusstsein der für ihre h.[eilige] Sache so wahrhaft Begeisterten ist ein eben so feiner Zug, als die Vorausnahme des Siegesgesanges. Dergl. Dinge sollen wir so mir nichts dir nichts hinnehmen? solch’ offenbaren Unsinn?“30 O Tu si tacuisses!31 Also Sie würden als Commandant einer Festung Ihren Mauern und Wällen und allem schweren Geschütz den Rücken wenden und den Feind nicht auf sich warten lassen? Sie würden ferner jeden Führer für unsinnig erklären, der bei seinen Soldaten das Siegsvertrauen vor der Schlacht zu entflammen wüsste? Jetzt müssen wir Ihnen doch rathen, ja bei Ihrem Fach zu bleiben, [47] mögen Sie nun Künstler oder sonst was sein: im Militär wenigstens können Sie niemals eine Carriere machen. Genug und übergenug: aber tu l’as voulu, George Dandin!32 Nur noch das ernste Wort: Eine Kritik, welche sich solcher Mittel bedient, um ihr Kunstinteresse zu bethätigen, und dabei so auffallende Blössen gibt, darf die sich anmaassen [sic], einer ganzen Gattung von Musik, der historisch-dramatischen, die Berechtigung abzusprechen, überhaupt nur als Kunsterscheinung zu gelten? L. Bischoff.
Uhlig 1850 Zeitgemäße Betrachtungen, Bd. 33, S. 15. 26 Eugène Scribe (1791–1861), französischer Schriftsteller, Dramatiker und Librettist. 27 Meyerbeer, Le Prophète, 3. Akt, 4. Szene. 28 Ebd., 9. Szene. 29 (Lat.) vorwegnehmend. 30 Siehe Uhlig 1850 Zeitgemäße Betrachtungen, Bd. 33, S. 15. 31 (Lat.) O hättest du geschwiegen. Das großgeschriebene „Tu“ soll wieder auf Uhlig verweisen. Zudem existiert der Sinnspruch: „Si tacuisses, philosophus mansisses.“ (Wenn du geschwiegen hättest, wärest du ein Philosoph geblieben.) Frei nach Boethius (um 480 – um 524 n. Chr.), Consolatio philosophiae, II, 7. 32 Sprichwörtlich: selbstverschuldetes Missgeschick. Frei nach Molière (1622 –1673), George Dandin, 1. Akt, 7. Szene. 25 Siehe
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Kommentar Ludwig Bischoffs vorliegender Artikel ist Teil der Debatte um Giacomo Meyerbeers Le Prophète, die sich vor allem an den beiden deutschen Erstaufführungen der Oper in Hamburg (25. Januar 1850) und Dresden (30. Januar 1850) entzündet hatte. Dabei stand die gerade erst gegründete Rheinische Musik-Zeitung unter Bischoffs Leitung der Oper positiv gegenüber,33 während Autoren der NZfM wie Eduard Krüger und insbesondere Theodor Uhlig das Werk verurteilten.34 Neben dieser für Musikzeitschriften nicht ungewöhnlichen Diskussion um Zustimmung oder Ablehnung eines musikalischen Werks oder Komponisten sind die Artikel Krügers, Uhligs und Bischoffs von außerordentlicher Bedeutung, da sie direkte und ausschlaggebende Vorgänger des am 3. September 1850 in der NZfM veröffentlichten Aufsatzes „Das Judenthum in der Musik“ des pseudonymen K. Freigedank waren, den Wagner verfasst hatte.35 Die von Erfolg gekrönten Opern Meyerbeers musikalisch zu kritisieren, fand in der NZfM schon einmal 1837 ein Medium mit Schumanns Rezension der Hugenotten;36 ein frühes Urteil gegen Meyerbeer, auf das sich Uhlig 1850 bewusst zu berufen wusste.37 Freilich ist der Artikel Bischoffs auch ein frühes Dokument für die aufkeimende Gegnerschaft der beiden Zeitschriften – es ist die Rede vom Beginn des „Kampf[s]“38 – sowie insbesondere auch für die Art und Weise der Auseinandersetzung, den jeweils anderen aufgrund seiner vermeintlich unzulänglichen Art der Kritik als ‚schuldig‘ zu überführen. In der historischen Rückschau ist er von Wagners antisemitischem Pamphlet jedoch kaum mehr zu trennen, indem er noch vor dessen Publikation die einzige weitestgehend objektive Verteidigung Meyerbeers gegenüber der abschätzigen Kritik Uhligs darstellt und damit den Antisemitismus – wenngleich für nur kurze Zeit – selbst zum Gegenstand des musikalischen Parteienstreits macht.39 War die Politisierung der Musik nach der gescheiterten Revolution der Jahre 1848/1849 als Thema aus der Musikkritik zumindest vonseiten der NZfM weitestgehend verschwunden, so bildete der antijüdische Angriff Uhligs, von Krüger mitgetragen, eine neue Folie, um musikästhetische Anschauungen nicht nur parteiisch, sondern auch rassisch zu motivieren.40 Die hier abgedruckte Gegenschrift Bischoffs ist der letzte Artikel41 im Disput um Meyerbeer vor der Veröffentlichung von Wagners Schrift über das Judentum, welche ohne diese
Bischoff 1850 Der Prophet von Scribe und Meyerbeer. 34 Siehe Krüger 1850 Prophetisch und Unprophetisch sowie Uhlig 1850/51 Zeitgemäße Betrachtungen. 35 Wagner 1850 Das Judenthum. 36 Schumann 1837 Fragmente aus Leipzig. 4. 37 Uhlig zitierte speziell einen kurzen Abschnitt, der Schumanns latent antijüdische Vorbehalte zum Ausdruck bringt: „Robert Schumann spricht in Bezug auf zahlreiche Stellen in den Hugenotten von einem ‚eigenthümlich mekkernden Rhythmus‘, der vornehmlich Meyerbeers Musik auszeichnet“ (Uhlig 1850 Zeitgemäße Betrachtungen, S. 30). 38 Redaktion 1850 Nachschrift der Redaction, S. 33. 39 Dazu siehe Einleitung „Die Jahre 1850 bis 1851“, in: NdS 1, S. 199–206. 40 Vgl. dazu Vazsonyi 2012 Richard Wagner, insbesondere den Abschnitt „Journalismus, Markt und Antisemitismus“, S. 38 – 41. 41 Siehe Riccius 1851 Musikalischer Dilettantismus; zwar ist dieser Artikel wiederum als Reaktion auf Bülow zu betrachten, da er dessen Artikel dezidiert anführt und das Thema ‚Judentum in der Musik‘ abschließend behandelt, doch primär wirft Riccius der NZfM und insbesondere deren Herausgeber Brendel musikalisches Unvermögen vor – in der sich entfaltenden Debatte ein hartes Urteil, das Brendel nachhaltig als Dilettanten brandmarkte. 33 Siehe
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‚Vorleistung‘ – worunter sicherlich auch das Kalkül von Brendels Publikationsdramaturgie zu zählen ist42 – kaum die entsprechende Aufmerksamkeit gefunden hätte, die ihr die Geschichte zuteilwerden ließ. „Bis ins einzelne der Wortwahl hinein läßt sich nachweisen, daß Wagner wesentliche Schlagworte seiner eigenen Meyerbeer-Kritik direkt von Uhlig übernommen hat.“43 Die Reaktionen in der Folge von Wagners pseudonym veröffentlichter Schrift waren im Vergleich zur späteren Neuauflage von 1869 verhalten und ebbten im Herbst des Jahres 1851 bereits ab.44 Meldete sich Bischoff zu diesem Thema nach Wagners Streitschrift nicht mehr zu Wort, so sprachen sich Eduard Bernsdorf,45 Johann Christian Lobe46 und August Ferdinand Riccius47 gegen Wagner aus, wobei letzterer es war, der schließlich die Identität Wagners öffentlich machte. Neben den genannten, für den musikkritischen Diskurs der Zeit bedeutenden Autoren und Persönlichkeiten, die am öffentlichen Streit über das ‚Judentum in der Musik‘ teilnahmen, war es schließlich der junge Hans von Bülow, dessen „Entgegnung“48 auf Riccius einen Abschluss dieser Debatte bildete und gemeinsam mit Brendels ‚Polemik‘49 die jahrelange Kontroverse zwischen NZfM auf der einen sowie Grenzboten und Rheinische Musik-Zeitung auf der anderen Seite endgültig eröffnete. Zugleich ist die Bülow-Replik eines der ersten Beispiele für die intensive publizistische Tätigkeit des Weimarer Kreises, der sich um den seit 1848 in der Ilmresidenz wirkenden Hofkapellmeister Liszt Anfang der 1850er Jahre zu formieren begann.50
42 In
einem Brief Wagners an Karl Ritter vom 24. August 1850 heißt es: „Ob Brendel sich getrauen wird den Consequenzen desselben in seiner Zeitschrift die Spitze zu bieten, weiß ich nicht. Hat er Furcht, so ist er ein Esel!“ (zit. nach Deaville 1986 Franz Brendel – ein Neudeutscher, S. 383). Siehe auch Roth 2017 Mythisierende Musikgeschichtsschreibung. 43 Fischer 2000 Richard Wagners Das Judentum, S. 26. 44 Dazu vgl. ebd., S. 102 –120. 45 Bernsdorf 1850 K. Freigedank und das Judenthum. 46 Lobe 1851 Das Judenthum in der Musik. 47 Riccius 1851 Richard Wagner. 48 Bülow 1851 Entgegnung. 49 Brendel 1851 Polemisches. 50 Vgl. hierzu Deaville 2006 Die neudeutsche Musikkritik.
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Übersicht der Artikel unmittelbar vor und nach Erscheinen von Wagners Schrift über „Das Judenthum in der Musik“ Autor
Titel
Datum
Zeitschrift
Theodor Uhlig
„Der Prophet von Meyerbeer“ und
5. und 26. Februar
NZfM
„Noch einmal der Prophet von
1850
Meyerbeer“ Eduard Krüger
„Prophetisch und Unprophetisch“
18. und 21. Juni
NZfM
1850 Ludwig Bischoff
„Welcher ist der wahre Prophet?“
6. Juli 1850
Rheinische Musik-Zeitung
Theodor Uhlig
„Zeitgemäße Betrachtungen VI.
23. Juli 1850
NZfM
10. August 1850
Rheinische
Außerordentliches“ Ludwig Bischoff
„TU hoc intrivisti: tibi omne est
Musik-Zeitung
exedendum“ Theodor Uhlig
„R. Wagner’s Schriften über
20. August 1850
NZfM
3. und 6. Septem-
NZfM
Kunst“ (Die Kunst und die Revolution) K. Freigedank
„Das Judenthum in der Musik“
ber 1850 Eduard Krüger
„Judenthümliches“
1. Oktober 1850
NZfM
Eduard Bernsdorf
„K. Freigedank und das
15. Oktober 1850
NZfM
25. Januar 1851
Illustrirte
Judenthum in der Musik“ Johann Christian Lobe
„Das Judenthum in der Musik“
Zeitung August Ferdinand
„Richard Wagner“
Riccius
Erstes Halbjahr
Die Grenzboten
1851
Franz Brendel
„Das Judenthum in der Musik“
4. Juli 1851
NZfM
Hans von Bülow
„Entgegnung auf die in Nr. 24
10. und 17.
NZfM
der Grenzboten erschienene
Oktober 1851
Beurtheilung Richard Wagner’s“
Nr. 21 | T. U. [Theodor Uhlig], „Drei Tage in Weimar. Das Herderfest. Richard Wagner’s Oper ‚Lohengrin‘“, in: NZfM 17 (1850), Bd. 33, Nr. 19 (3. September), S. 107; Nr. 21 (10. September), S. 115 f.; Nr. 22 (13. September), S. 118 –120; Nr. 25 (24. September), S. 136 –138; Nr. 28 (4. Oktober), S. 151 f.; Nr. 30 (11. Oktober), S. 162 –164. Auszug: Nr. 25 (24. September), S. 136 –138; Nr. 28 (4. Oktober), S. 151 f.; Nr. 30 (11. Oktober), S. 162 –164.
Drei Tage in Weimar. Das Herderfest. Richard Wagner’s Oper „Lohengrin“.
Aus der vorangegangenen Mittheilung der Hauptmomente des Lohengrin-Gedichts und seiner dramatischen Anordnung wird der Nichtkenner des Tannhäuser1 im Stande gewesen sein, sich einen ohngefähren Begriff von der neuesten Richtung zu bilden, die Wagner in der Oper genommen hat – soweit dabei das Drama selbst nach Inhalt und Form in Frage kommt; der Kenner des Tannhäuser aber mußte daraus entnehmen, daß Wagner den einmal eingeschlagenen Weg nicht wieder verlassen hat. Diese Art und Weise, den Stoff des musikalischen Drama’s zu wählen und zu gestalten, ist daher grundsätzlich bei Wagner – mögen die Kritiker von Fach auch in Verlegenheit gerathen, was sie mit ihren allezeit fertigen Begriffen einer solchen Oper gegenüber anfangen sollen. „Es ist keine Handlung in der Oper“ – meinte ein namhafter, moderner Schriftsteller und Schauspieldichter, der ebenfalls in Weimar anwesend war.2 Der Mann hatte in der That nicht ganz Unrecht, denn es ist wirklich etwas mehr darin, als eine Handlung wie etwa in den Schau- und Trauerspielen unserer heutigen Dramatiker. Dagegen sagte mir ein einfacher Musiker der Weimar’schen Kapelle mit besonderer Beziehung auf die Musik Wagner’s: „dieser Mann versteht es, Einem in die tiefste Seele der redenden und handelnden Personen blicken zu lassen.“ Mit diesen beiden Aussprüchen ist der principielle Unterschied zwischen der Wagner’schen Oper und dem, was heut zu Tage sonst noch die Aufmerksamkeit auf der Tonbühne in Anspruch nimmt, einigermaßen angedeutet: hier ruhiger Gang einer einfachen Handlung, eine kurze Reihe von großen Scenen – Bildern, möchte man sagen – die eben so nothwendig als Theile des Ganzen, als in sich von nothwendiger Gestaltung sind, in deren jeder das Drama um ein wesentliches Stück weiter rückt und die in ihrem Detail ein mehr plastisches und psychologisches Interesse bieten, als der rohen Schaulust eines unterhaltungssüchtigen Publikums fröhnen – am füglichsten dem griechischen Drama eines Aeschylos3 oder
Wagner, Tannhäuser (UA 1845). 2 Konnte nicht nachgewiesen werden. 3 Aischylos (525 – 456 v. Chr.), griechischer Tragödiendichter. Zu den bekanntesten seiner sieben erhaltenen Tragödien zählt die Trilogie Orestie (EZ 458 v. Chr.).
1 Richard
Uhlig 1850 Drei Tage in Weimar
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Sophokles4 zu vergleichen; dort ein Gemengsel von flüchtigen Scenen, bei denen die Absicht des Verfertigers nur auf die Unterbringung von möglichst Vielem und Verschiedenartigem gerichtet ist, und von charakterlosen Personen, die da kommen und gehen, wie es diesem Verfertiger zur Erreichung jener Kunstabsicht dienlich erscheint – ein Gemengsel, das viel zu willkührlich ist, um wahrhaft zu interessiren, und viel zu bunt, um irgend einen bestimmten und nach-[137]haltigen Eindruck zu hinterlassen, das höchstens den Gelangweilten auf einige Zeit über die Trägheit zu täuschen vermag, mit der ihm außerhalb des Theaters die Stunden dahinschleichen – am füglichsten einem Gu[c]kkasten zu vergleichen. Nun, man kennt die moderne Oper zur G[e]nüge: die Wagner’sche ist das vollkommendste Gegentheil davon. Man muß freilich den Schulstaub vollständig von sich abgeschüttelt und den formellen Krimskrams einer wortreichen und thatarmen Zeit entweder nie gekannt haben oder absichtlich ignoriren, um den Standpunct von höchster Ursprünglichkeit auffinden zu können, von dem aus die Oper Wagner’s betrachtet – oder vielmehr genossen – sein will. Am dringendsten ist das dem spezifischen Musiker5 anzurathen, der seine einseitigen Schulansichten so gern auch auf das musikalische Drama überträgt; denn allerdings hat Wagner schon in seinem Tannhäuser mit dem musikalischen Formalismus vollständig gebrochen. Es darf daher nicht Wunder nehmen, wenn der vorzugsweis musikalische Kritiker in Bezug auf die Oper Wagner’s eben so oft von geistreichen Formlosigkeiten spricht, als der vorzugsweis literarische Kritiker von Mangel an Handlung, epischer Breite und dergl. Die Oper Wagner’s entbehrt keineswegs der musikalischen Formen, nur geht sie nicht darauf aus, Arien, Duette und Chöre um ihrer selbst willen zur Anwendung zu bringen, sondern macht die Art der Anwendung der Musik von höheren Rücksichten abhängig; sie entbehrt eben so wenig der Handlung, nur vermischen sich in ihr dramatische, epische, lyrische und selbst theatralische Momente auf eine Weise, nach welcher die Personen bald handeln, bald erzählen, bald dem Ergusse des Gefühls sich hingeben, bald nur Aeußerliches darstellen. Man wähne doch ja nicht, daß mit den Anforderungen unserer heutigen Kritiker der Begriff „Möglichkeit der theatralischen Wirkung“ erschöpft sei. Bei einer Erscheinung, die so unmittelbar und so ganz den Menschen in Anspruch nimmt, als die harmonischste Vereinigung von Wort, Ton und Darstellung reichen die Maaßstäbe nicht aus, die die Kritik aus den Schöpfungen der bisherigen Genies herausgeklaubt hat theils zu ihrer Selbstverherrlichung, theils in einseitiger Rücksicht auf das mittelarme und gefühlsleere Wortdrama, theils endlich, damit es dem Kunsthandwerker möglich werde, jene Schöpfungen wenigstens in ihren Aeußerlichkeiten nachzuahmen. Die Wagner’sche Oper aber ist die harmonischste Vereinigung von Wort, Ton und Darstellung, die unsere moderne Kunstgeschichte aufzuweisen hat. Allerdings haben bisher unsere wahrhaften Dichter es
4 Sophokles (um 497 – 406 v. Chr.), griechischer Tragödiendichter, berühmt vor allem durch seine Antigone (EZ um 442 v. Chr.) und König Ödipus (EZ um 425 v. Chr.). 5 Der hier von Uhlig vermutlich erstmals gebrauchte Begriff bildet das Antonym zu Wagners „Künstler der Zukunft“, den er im letzten Kapitel seiner Schrift Das Kunstwerk der Zukunft (Wagner 1850 Kunstwerk der Zukunft) postuliert. Während der „Künstler der Zukunft“ der „Genossenschaft aller Künstler“ angehört, die gemeinsam das „Kunstwerk der Zukunft“ schaffen (in: Wagner-Schriften 3, S. 162), bleibt der „spezifische Musiker“ im Sinne Uhligs ausschließlich auf das Gebiet der Musik beschränkt.
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vorgezogen, entweder in Worten oder wie Beethoven in Tönen allein zu dichten. Es ist wiederum die Kritik gewesen, die aus dieser Erscheinung als eine absolute Wahrheit den Satz entwickelt hat: ein vollkommenes Wortgedicht vertrage die musikalische Wiedergabe eben so wenig, als eine wahrhafte Dichtung in Tönen die Wortumschreibung, und dieser Satz ist nicht nur bis zum Ueberdruß in allen Zungen nachgebetet, sondern auch mit einem Fanatismus zu neuer praktischer Anwendung gebracht worden, daß wir es jetzt zur Ehre der Kunst alle Tage erleben, wie selbst dem bedeutenden Componisten die erbärmlichsten Worte nicht zu schlecht sind, um sie durch seine Töne zu verherrlichen. Man mag jedoch die Wahrheit dieses Satzes in Bezug auf die bisherigen Erscheinungen in unseren Kunstarten immerhin anerkennen, ohne daß damit bewiesen wäre, es sei eine vollkommene gegenseitige Durchdringung von Wort, Ton und Darstellung im Sinne eines Dichters nicht möglich oder gar verwerflich oder etwa kein mächtiger und zwar principieller Fortschritt. Allerdings würde durch eine Reihe von durchschlagenden Erscheinungen einer solchen „ganzen“ Kunst das künstliche Gebäude, das die Aesthetiker auf Grundlage einer bisherigen einseitigen Entwickelung, von bloßen Kunstarten mit Mühe und Noth aufgeführt haben, vollständig über den Haufen geworfen; ein Bedauern hierüber könnte jedoch nur dann einigermaaßen am Platze sein, wenn die gesteigerten Anforderungen, die diese Aesthetiker auf Grund ihrer Lehre mit gutem Rechte an die schaffenden Künstler der Gegenwart stellen, von diesen auch wirklich erfüllt würden. Dies ist jedoch keineswegs der Fall; denn wir mögen hinblicken, wohin wir wollen: überall bietet sich uns die Wahrnehmung einer allgemeinen schöpferischen Ohnmacht, überall sehen wir die schaffende Kunst weit hinter den Anforderungen der Kritik zurückbleiben, überall die bedeutendsten Kunsterzeugnisse der Gegenwart für unzureichend erklären von Denen, die, weil sie noch ein wirkliches Kunstbedürfniß empfinden, auch ein moralisches Recht besitzen, über die neuen Erscheinungen im Gebiete der Kunst Gericht zu halten. Ob nun Wagner ein Genie ist oder nicht? – diese Frage zu beantworten kann um so mehr den kommenden Geschlechtern überlassen bleiben, als es auf Worte hier nicht ankömmt und der Thatsache gegenüber, daß die Mitwelt sich noch niemals ihren Genies günstig gezeigt hat, selbst oder vor Allem der Freund des Lebenden vorsichtig mit der Anwendung eines solchen Ausdrucks sein sollte. Ob mit der Oper Wagner’s ein neuer Weg eröffnet worden ist, der auch von Anderen betreten werden kann, oder ob die Nachwelt seine Werke vereinzelt als Kunsterzeugnisse eines besonders reichbegabten Geistes überkommen wird? – fast möchte man das letztere glauben, wenn man einen Blick auf die heutige Künstlerwelt wirft. Sollte die Oper Wagner’s aber wirklich eine Erlösung aus dem jetzigen [138] trostlosen Zustande anbahnen, so mag man aus ihr vorläufig die Ueberzeugung schöpfen, daß der Künstler der Zukunft ganz andere Qualitäten besitzen müsse, als die Opernverfertiger der Gegenwart. Doch möge dem sein, wie ihm wolle: aus dem bisher Gesagten dürfte wenigstens hervorgehen, daß der Maaßstab erst noch gefunden werden muß, nach dem man sich eine Kritik von Opern wie Tannhäuser oder Lohengrin6 erlauben darf. Das Beste, was man thun kann, ist, daß man den Menschen zuruft: Gehet hin, streift einmal alle eure Vorurtheile
6 Wagner,
Lohengrin (UA 1850).
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auf einige Stunden vollständig ab, hört und seht es selbst, gebt euch die Mühe zu genießen, wo ihr bisher nur kritisirtet – und wenn ihr nicht mit ganz anderen Begriffen von dem, was die Kunst vermag, das Theater verlaßt, so seid ihr Klötze, die nichts Besseres verdienen, als daß ihnen tagtäglich die Martha des Freiherrn von Flotow7 vorgespielt wird. [151] Es wird im Besondern nun noch von der Musik der Opern Wagner’s zu sprechen sein. In ihrem innersten Kerne ist sie eben so eigentümlich, als die Art ihrer Anwendung eine durchaus nothwendige genannt werden muß: – beides ist wiederum nur notwendige Folge von der Stellung, die Wagner der Musik im musikalischen Drama anweist und die ihr allerdings auch nur Derjenige anweisen konnte, der erst Dichter war, ehe er Componist wurde. In seiner ersten Oper „Rienzi“8 hat Wagner hinreichend bewiesen, daß er die vom musikalischen Kritiker geforderten Arien, Duetten, Chöre, Ballets und Finale’s nicht nur eben so manierlich, als unsere übrigen Operncomponisten, sondern sogar viel eigenthümlicher zu verfertigen weiß; auch ist er in dieser Oper der vom literarischen Kritiker aufgestellten „zeitgemäßen“ Forderung eines historischen Stoffes nachgekommen. Eine erworbene Fertigkeit wie z. B. die der Verfertigung stereotyper Opernnummern verliert sich nicht so leicht, wenn man in der Uebung des Operncomponirens bleibt: wir sehen im Gegentheil mit Schaudern, wie diese Fertigkeit bei manchen andern Operncomponisten sich zu einer wahrhaft davon jagenden Vollkommenheit allmählig auszubilden vermag. Man darf daher in der Erscheinung, daß Wagner in seinen späteren Opern von der Darlegung der bereits erlangten und bewiesenen Fertigkeit fast durchweg absieht, kein Unvermögen des Componisten, sondern man muß in ihr wiederum einen Grundsatz, ein Gebot innerer Nothwendigkeit erblicken. Entsprechend dieser Erscheinung und ihrer Bedeutung ist auch des Dichters Aufgeben des historischen Stoffes zu Gunsten eines rein menschlichen, wie er ihn in Ermangelung einer Geschichte, die ein rein menschliches Leben von wirklicher Nothwendigkeit aufzuweisen hätte, zunächst nur in der Volkssage findet. Ueber diesen höchst bedeutungsvollen Wendepunct im Verlaufe der Wagner’schen Künstlerlaufbahn möchte an einem anderen passenden Orte das Weitere zu sagen sein: hier sei zur Musik zurückgegangen. Die musikalische Urform, das Thema, das als Lied oder Tanz in den mannigfaltigsten Spielarten den Kern von allen unseren künstlichen Formen bildet, giebt Wagner natürlich nie auf – mußte es ja vor Allem gerade ihm Bedürfniß sein, auf den Urquell alles wirklich nothwendigen Schaffens zurückzugehen; wohl aber giebt er jene künstlichen Formen überall da auf, wo ihre Entfaltung dem zwar ruhigen, aber steten Fortgange seines Drama’s hinderlich sein würde – und das ist freilich an sehr vielen, an den meisten Stellen desselben der Fall. Daher findet man in der Oper Wagner’s wohl Melodien in Fülle, jedoch nur wenig abgeschlossene Musikstücke: die Musik schließt sich eng der Wortdichtung an, in der zunächst das Drama sich unaufhaltsam weiter entwickelt. Hat nun aber irgend eine Kunst die Fähigkeit und das Bedürfniß dazu, durch Wiederholung zu wirken,
von Flotow, Martha (UA 1847). 8 Vor Rienzi (UA 1842), der ersten gedruckten Oper Wagners, entstanden die Opern Die Hochzeit, Die Feen und Das Liebesverbot, von denen die erstgenannte jedoch unvollendet blieb und nur Das Liebesverbot 1836 in Magdeburg uraufgeführt wurde. 7 Friedrich
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so ist es die Musik. Wagner schafft viel zu sehr nach innerster Notwendigkeit, als daß er jener Fähigkeit und jenem Bedürfniß nicht auch in seinen Opern Rechnung tragen sollte. An die Stelle des zur Arie oder zur stereotypen Opernnummer künstlich erweiterten musikalischen Themas tritt daher bei ihm das zum stereotypen Charakteristikon erhobene Hauptmotiv des wesentlichen musikalischen Themas, d. h. die bezeichnendsten musikalischen Gedanken ziehen sich bei ihm wie ein rother Faden durch die ganze Oper und dadurch wird derselben eine musikalische Einheit in viel höherem Sinne verliehen, als durch die Aneinanderreihung einer Anzahl verschiedener in sich abgeschlossener Musikstücke. Dieses Verfahren, dessen erste Spuren man schon in [152] seinem Rienzi findet, hat Wagner in seinem fliegenden Holländer9 zum planvollen Systeme erhoben, im Tannhäuser nach Umständen wieder, im Lohengrin aber mit einer Consequenz und Meisterschaft zur Anwendung gebracht, daß gerade diese Oper die musikalisch einheitsvollste von allen seinen bisherigen dramatischen Schöpfungen genannt werden muß. Als solche characteristische Motive sind im Lohengrin nun die folgenden zu nennen:
9 Wagner,
Der Fliegende Holländer (UA 1843).
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und gewissermaßen auch der oft und auf den mannichfaltigsten musikalischen Grundlagen ertönende Königsruf:
Von den angeführten Motiven sind namentlich die ersten 3 wichtig: sie sind sämmtlich wesentlichste Bestandtheile größerer musikalischer Themen, welche an vollkommen bezeichnender Stelle des Dramas zuerst vollständig auftreten und auf die an zahlreichen späteren Stellen desselben durch das bloße Motiv gleichsam zurückgewiesen wird. Das Motiv I tritt mit der Elsa auf und begleitet sie durch die ganze Oper; das Motiv II bezeichnet Lohengrin und erklingt zuerst bei der Erzählung Elsa’s von ihrer Vision; das Motiv III endlich characterisirt den heiligen Gral, das Motiv IV das verhängnißvolle Verbot Lohengrin’s, ihn nach „Nam und Art“ zu fragen, das Motiv V den Kampf zwischen Lohengrin und Friedrich. – Sowohl die am Clavier singende Menschheit, als auch die speculative Genossenschaft der Gartenconcertmusikdirectoren haben trotz aller „Formlosigkeit“ des Tannhäuser ihre Rechnung wenigstens einigermaßen in dieser Oper gefunden: für einige Nummern derselben schwärmt in der That in Dresden und Weimar die gesammte musikalische Welt.10 Ich nenne hier nur die Ouvertüre, das Lied des Tannhäuser11, den großen Marsch und Chor im zweiten Acte12 und das Lied Wolfram’s an den Abendstern13. Auch der Lohengrin entbehrt nicht gänzlich der Musikstücke, die sich allenfalls auf der Brühl’schen Terasse oder im großen Garten unter den ehrwürdigen Herren Gungl, Labitzky, Flotow, Balfe und Consorten sehen lassen können,14 ohne gradezu ob ihrer Monstruosität [sic] ausgelacht zu werden. Gleichwohl mag, um Denjenigen eine spätere Täuschung zu ersparen, die keine andere Oper kennen, als daß sie ihnen hinter den Bierkrügel sitzend und Cigarren schmauchend – stückweise aufgespielt werde, der Wahrheit getreu hier sogleich bemerkt sein, daß nicht nur die ganze Oper Lohengrin, sondern vornehmlich auch die Musik derselben noch idealistischer ist, als die zum Tannhäuser, und daß im Lohengrinhöchstens die beiden Instrumentalvorspiele zum 1sten und 3ten Acte, das Brautlied im 5ten [sic]15 und ein langsamer Marsch gegen Ende des 2ten Actes16 es sind, die man anständiger Weise auch außerhalb des Theaters spielen und anhören kann. [162] Jetzt noch über Aufführung und Aufnahme des Lohengrin das Wesentlichste.
Tannhäuser war bisher nur in Dresden (UA 1845) und Weimar 1849 anlässlich des Geburtstags der Großherzogin Maria Pawlowna aufgeführt worden. 11 Wagner, Tannhäuser, 1. Aufzug, 2. Szene, „Dir töne Lob“ oder 2. Aufzug, 4. Szene, „Auch ich darf mich so glücklich nennen“. 12 Ebd., „Freudig begrüßen wir die edle Halle“. 13 Ebd., 3. Aufzug, 2. Szene, „O du, mein holder Abendstern“. 14 Gemeint sind hier die Komponisten Joseph Gungl (1810 –1889), Joseph Labitzky (1802 –1881), Friedrich von Flotow (1812 –1883) und Michael Balfe (1808 –1870), deren Tanz- und Opernmelodien zum gängigen Repertoire der Kur- und Promenadenkonzerte gehörten, so auch in Dresden auf der Brühlschen Terrasse und im Großen Garten. 15 Wagner, Lohengrin, 3. Aufzug, 1. Szene, „Treulich geführt ziehet dahin“. 16 Ebd., 2. Aufzug, 4. Szene. 10 Wagners
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Weimar verdankt den Ruhm, diese Oper zum ersten Male in Deutschland zur Aufführung gebracht zu haben, zunächst wohl der Kunstbegeisterung und den Bemühungen Liszt’s, so wie dem Kunstsinne und der Vorurtheilslosigkeit des dortigen Hofes. Lisz’t [sic] hat auch – unterstützt von Genast17 – für das Gelingen der Aufführung Alles gethan, was nur irgend zu ermöglichen war. Muß daher auf der einen Seite anerkannt werden, daß mit verhältnißmäßig geringen Mitteln hier Bedeutendes geleistet worden ist, so darf auf der andern Seite doch nicht verschwiegen werden, daß für eine Aufführung im Sinne des Werkes selbst und seines Schöpfers diese Mittel sich zuweilen als unzureichend herausstellten. Namentlich zeigte sich das in der Besetzung der Partie des Lohengrin, so wie der Anzahl der Violinen im Orchester und der Stimmen im Chore. Hr. Beck18, der – wie man mir sagte – in vielen anderen Partieen recht Rühmenswerthes leistet, war doch der zwar sehr schwierigen, aber auch höchst dankbaren Aufgabe, einen Lohengrin darzustellen, in einigen sehr wesentlichen Beziehungen nicht gewachsen, weshalb denn auch die Wirkung des 3ten Actes nicht die erwartete sein konnte. Die übrigen Partieen befanden sich in den Händen der Damen Agthe 19 (Elsa), Fastlinger 20 (Ortrud) und der HH. Milde21 (Friedrich), Höfer 22 (König Heinrich) und Pätsch23 (Heerrufer). Sechs erste Violinen zu einem Blasorchester, das in seinen einzelnen Partieen nicht zwei-, sondern consequent dreistimmig besetzt ist, müssen unter jeder Bedingung ebenfalls als unverhältnißmäßig bezeichnet werden.24 Doch – wie gesagt – ist dies kein Tadel für die Ausführung, sondern nur eine Aussprache des Bedauerns darüber, daß bedeutendere Mittel zu beschaffen nicht möglich gewesen ist. So lange die größeren Theater Deutschlands so überschwemmt mit herrlichen neuen Opernwerken sind, daß sie für die Wagner’schen keine Zeit erübrigen können: so lange muß der bedeutendste deutsche Operndichter noch froh sein, wenn man seiner [163] Schöpfungen sich wenigstens in einem Winkel des Vaterlandes zu erinnern für der Mühe werth hält. Wie war es doch – jubelte nicht kürzlich ein Hamburger Zeitungsschreiber, als mit der ersten Aufführung des Propheten in Deutschland das Hamburger Theater dem Dresdner den Rang abgelaufen hatte?25 – Was den Erfolg der neuen Wagner’schen Oper anbelangt, so fehlte es nicht an zahlreichen und lebhaften äußeren Zeichen
17 Eduard
Genast (1797 –1866), Bassbariton, Schauspieler, Komponist und Regisseur, gehörte ab 1829 dem Ensemble des Weimarer Hoftheaters an und trat dort in den Jahren 1833 bis 1851 auch als Opernregisseur in Erscheinung. 18 Karl Beck (1814 –1879), Tenor, sang die Titelpartie im Lohengrin und war in den Jahren 1850 bis 1853 am Weimarer Hoftheater engagiert. 19 Rosa von Milde, geb. Agthe (1827 –1906) Sopran, debütierte 1845 am Weimarer Hoftheater und feierte große Erfolge als Wagnerinterpretin. 20 Josephine Fastlinger (1827 –1866), Sopran, war seit 1849 in Weimar engagiert. Ab 1851 unternahm sie einige Gastspiele und war zudem in Leipzig, München und Freiburg i. Br. tätig. 21 Feodor von Milde (1821–1899), Bariton, wirkte von 1848 bis 1884 am Weimarer Hoftheater und galt als einer der bedeutendsten Wagnerinterpreten seiner Zeit. 22 August Höfer (1812 –1875), Bassbariton, kam 1841 nach ersten Engagements in Budapest, Berlin und Breslau nach Weimar, wo er bis zu seinem Tod lebte. 23 August Ferdinand Paetsch (1817 –1885), Schauspieler, war neben Weimar u. a. in Berlin, Hamburg und Frankfurt a. M. tätig. 24 Zur Besetzung der Weimarer Hofkapelle siehe Huschke 1982 Musik im klassischen und nachklassischen Weimar, S. 152. 25 Die deutsche Erstaufführung von Giacomo Meyerbeers Le Prophète fand am 24. Januar 1850 in Hamburg statt. Am 30. Januar 1850 wurde die Oper am Dresdner Hoftheater aufgeführt.
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des Beifalls. Ich möchte jedoch das Klatschen des Publikums durchaus nicht für maßgebend in solchem Falle halten; auch sind mir die Gewohnheiten der Weimaraner in dieser Beziehung vollkommen fremd; endlich aber liegt es ganz und gar nicht in der Natur einer Oper, wie Tannhäuser oder Lohengrin, auf eine Zuhörerschaft einen Eindruck zu machen, der zum Händeklatschen antriebe. Alle die kindischen Zeichen, die wir der Kleinlichkeit unserer meisten Kunsterscheinungen gegenüber uns allerdings mit einigem Recht gewöhnt haben, als Beweise des Beifalls kund zu geben, erscheinen als geradezu läppisch bei einem Werke, das die Seele des Zuhörers so ganz in Anspruch nimmt. Es ist eine mehr religiöse Stimmung, in die man sich während des Anhörens einer solchen Oper versetzt fühlt und so wenig Derjenige, der aus wirklichem Bedürfniß der Seele in die Kirche geht, daran denken wird, den Vortrag des Geistlichen mit einem beifälligen Lächeln zu beehren und nach Beendigung eines gottesdienstlichen Actes mit den Händen zu klatschen oder mit den Füßen zu stampfen: so wenig wird der von den Schönheiten eines Tannhäuser oder Lohengrin wahrhaft Ergriffene Veranlassung zu neuer Uebung alter Theatergewohnheiten finden. Deshalb kann allein die Zukunft entscheiden, ob jener augenblickliche Beifall eines heutigen Theaterpublikums als ein Urtheil über den Werth des Werkes gelten darf oder nicht. Thatsache aber ist, daß der Tannhäuser in Dresden gegen 20, in Weimar – ein dort unerhörter Fall – während eines Zeitraumes von wohl kaum 1 ½ Jahren 7 oder 8 Vorstellungen erlebt, in Dresden zwar nicht das ganze Theaterpublikum, wohl aber einen recht beträchtlichen – und wahrlich nicht den schlechtesten – Theil desselben, nebenher jedoch auch diejenigen edleren Naturen für sich gewonnen hat, die aus gewissen Gründen nur noch in gewissen Fällen das Theater zu besuchen pflegen, in Weimar aber – wie ich zu einigem Erstaunen und nicht geringer Freude von allen Seiten vernehmen mußte – Lieblingsoper des ganzen Publikums geworden ist. So dürfte es wahrscheinlich auch mit dem Lohengrin ergehen und so dürfte es nicht minder wahrscheinlich im übrigen Deutschland sich ebenfalls herausstellen, wenn man auf allen seinen größeren Theatern die Werke Wagner’s in würdiger Weise zur Aufführung bringen wollte; doch dazu hat man – wie gesagt – keine Zeit. Es wird hier der geeignete Platz sein, der Verdienste zu gedenken, die Liszt seit seiner Anstellung in Weimar26 um das dortige Kunstleben sich erworben hat. In einem Zeitraume von ungefähr zwei Jahren hat er von größeren Tonwerken neu zur Aufführung gebracht: Tannhäuser, Iphigenie in Aulis27, Lohengrin, die 9te Simphonie [sic] von Beethoven28, Elias von Mendelssohn29, die Schlußscene zum Faust
26 Schon seit November 1842 wurde Liszt durch Großherzog Carl Alexander zum Kapellmeister in außerordentlichen Diensten ernannt, übte diese Tätigkeit in vollem Umfang jedoch erst aus, nachdem er sich 1848 in Weimar niedergelassen hatte. 27 Liszt dirigierte am 16. Februar 1850 Christoph Willibald Glucks Oper Iphigénie en Aulide (UA 1774) in der Bearbeitung Wagners. Weitere Aufführungen folgten am 13. März und 25. August desselben Jahres. 28 Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125 (ED 1826) wurde zur Feier von Johann Wolfgang von Goethes 100. Geburtstag am 29. August 1849 von Liszt in Weimar aufgeführt. Eine weitere Aufführung folgte am 24. Februar 1850. 29 Das Oratorium Elias op. 70 (UA 1846) von Felix Mendelssohn Bartholdy wurde am 10. Mai 1850 von Liszt in der Stadtkirche St. Peter und Paul dirigiert.
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von Schumann30. Ist ihm zur Ermöglichung solcher Dinge stets die bereitwilligste Unterstützung von Oben zu Theil geworden, so hat er doch – wie man bei nur einiger Kenntniß solcher Verhältnisse sich leicht denken kann – nach Unten hin mit nicht geringen Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt. Möge ihn für die etwaigen Unannehmlichkeiten seiner Stellung das Bewußtsein trösten, daß er den Weimaranern Kunstgenüsse verschafft hat, deren sie ohne ihn wahrscheinlich niemals theilhaftig geworden wären und daß es Deutschland zunächst ihm, dem Fremden, verdankt, wenn der Werke seines bedeutendsten Operndichters überhaupt nur noch gedacht wird. Die Anerkennung der Verdienste Liszt’s um die Kunst hat bei der ersten Aufführung des Lohengrin auch durch ein äußeres Zeichen seinen Ausdruck gefunden: vom Orchesterpersonale wurde ihm ein eleganter Tactstock überreicht mit der Inschrift: „Dem Träger des Genie’s, dem Dirigenten der Opern Tannhäuser und Lohengrin.“ War es mir interessant, zu beobachten und zu erfahren, wie Liszt als officieller Mittelpunkt des musikalischen Lebens in Weimar dieses Leben zu hoher Blüthe gefördert hat, so war es mir nicht minder interessant, bei dieser Gelegenheit ihn auch als Componisten in größerem Maaßstabe kennen zu lernen. Ich trete nach dieser Kenntnißnahme ohne Vorbehalt denjenigen vereinzelten Stimmen bei, die hier und da auf die der größeren musikalischen Welt allerdings noch unbekannten Leistungen Liszt’s als auf sehr bedeutende Erscheinungen aufmerksam gemacht haben. Ich hörte von ihm die Musik zum „Entfesselten Prometheus“31, zwei Musikstücke bei der Enthüllung des Herderdenkmals32 und jene beiden Pianoforte-Concerte, deren neulich Fétis irgendwo öffentlich erwähnte.33 Als Componist sucht Liszt seinen Ursprung in Berlioz, hat vor diesem aber voraus, was der spezifische Musiker immer vor dem nur reflectirenden Componisten voraus haben wird: eine größere Vollendung der Ideen nach der Seite der musikalischen Schönheit hin. Vom Standpunkte einer populären Tonkunst muß man prinzipiell gegen eine Richtung sein, wie die ist, die Berlioz in seinen Instrumentalwerken verfolgt; man müßte jedoch nicht denkender Musiker sein, wollte man sich nicht [164] lebhaft für das interressiren [sic], was wirklich Bedeutendes nach dieser Richtung hin in der Tonkunst geleistet wird. Die Ouvertüre zum Entfesselten Prometheus steht auf gleicher Stufe mit den bedeutendsten Tonsätzen von Berlioz – was die Großartigkeit der Conception anbelangt; sie übertrifft diese jedoch nicht nur an Schönheit der musikalischen Ideen, sondern auch an Consequenz der Gedankenausführung und daraus resultirender Klarheit der Form. Concertinstituten, deren Publikum es gelungen ist, sich bis zu
30 Bei
dem Konzert zur Goethefeier am 29. August 1849 wurde vor Beethovens Symphonie Nr. 9 die 3. Abteilung „Fausts Verklärung“ aus Schumanns Szenen aus Goethes Faust WoO 3 aufgeführt. 31 Liszt, Chöre zu Herders entfesseltem Prometheus S 69 (UA 1850). 32 Das Programm zur Enthüllung des Herder-Denkmals erwähnt eine Introduktion und Chorgesang von Liszt. Als Chorgesang konnte der Festchor zur Enthüllung des Herder-Denkmals in Weimar S 86 identifiziert werden. 33 Gemeint sind hier die beiden Klavierkonzerte Nr. 1 in Es-Dur S 124 (ED 1857) und Nr. 2 in A-Dur S 125 (ED 1863), deren erste Umarbeitung Liszt 1849 fertigstellte. François-Joseph Fétis erwähnt eine Aufführung der Konzerte in Weimar 1849 in seinen Berichten für die Revue et gazette musicale (Fétis 1849 Deuxième Lettre). In ihrer endgültigen Fassung wurden die Werke 1855 bzw. 1857 aufgeführt.
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einer Genußfähigkeit an den Berlioz’schen Compositionen emporzuschwingen, ist diese Ouvertüre vor Allem zu empfehlen. Unter den 8 bis 10 übrigen Nummern der Musik zum Entfesselten Prometheus zeichnen sich namentlich noch zwei Chöre durch Frische, Originalität und populäre Wirkungsfähigkeit aus: der Chor der Schnitter und der der Winzer34. So tiefsinnig die Dichtung ist und so sehr eine Aufführung des Entfesselten Prometheus Denjenigen in Anspruch zu nehmen vermag, der, mit der Dichtung vertraut, die Scenen Herder’s mit der Musik Liszt’s an sich vorüberziehen läßt, so liegt es doch in der Natur der Sache, daß ein derartiges Werk wohl Gelegenheitsstück, nicht aber geeignet sein kann, Repertoirbestandtheil eines heutigen Theaters zu werden. Es ist dies aber hauptsächlich der Musik wegen zu bedauern, die es wohl verdiente, wiederholt und auch anderwärts zur Aufführung gebracht zu werden. Dresden, September 1850. T. U.
Kommentar Die Uraufführung von Wagners Lohengrin am 28. August 1850 in Weimar bildete neben der Goethe-Zentenarfeier 1849 das zweite Großereignis, mit dem es Liszt innerhalb kürzester Zeit gelang, in den Musikzeitschriften internationale Aufmerksamkeit für sein Wirken als Hofkapellmeister zu erlangen und Weimar nach dem Scheitern der revolutionären Erhebungen und dem vorläufigen Ende der Hoffnungen auf einen vereinten Nationalstaat als Identifikationsort der deutschen Kultur ins Blickfeld des intellektuellen Deutschland zu rücken. Unter den zahlreichen Gästen befanden sich namhafte Schriftsteller und Kritiker wie Henry Fothergill Chorley, Franz von Dingelstedt, François-Joseph Fétis, Johann Christian Lobe, Gérard de Nerval, August Ferdinand Riccius und Adolf Stahr, die die Aufführung in umfangreichen Berichten würdigten.35 Zu diesen Berichten zählt auch Theodor Uhligs in sechs Teilen veröffentlichter Artikel in der NZfM. Dabei umfassen die ersten drei Teile, die hier nicht abgedruckt sind, eine detaillierte Inhaltsbeschreibung der Oper. In den abschließenden Artikelteilen unternimmt Uhlig den Versuch, die Musik von Wagners Lohengrin einer kurzen Beurteilung zu unterziehen und die Oper in dessen bisheriges Schaffen einzuordnen. Uhlig, der den ersten Klavierauszug des Lohengrin angefertigt hatte,36 beschreibt in diesem frühen Dokument schon Wagners
Chöre zu Herders entfesseltem Prometheus S 69, Nr. 4 und Nr. 5. 35 Siehe u. a. Chorley 1850 Music at Weimar, in: NdS 1 Nr. 23; Dingelstedt 1850 Weimarischer Festkalender; Lobe 1850 Das Herderfest. 36 Uhlig arrangierte den Klavierauszug zu Lohengrin, der im Dezember 1851 bei Breitkopf & Härtel im Druck erschien, laut Wagners Korrespondenz vom 8. April 1851 mit dem Verlag aber spätesten Anfang April des Jahres fertiggestellt war (Wagner-Briefe 3, S. 539). 34 Liszt,
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Erinnerungsmotivtechnik und betont deren Bedeutung für die musikalische Einheit der Oper, indem er feststellt, dass an „die Stelle des zur Arie oder zur stereotypen Opernnummer künstlich erweiterten musikalischen Themas“ bei Wagner „das zum stereotypen Charakteristikon erhobene Hauptmotiv des wesentlichen musikalischen Themas“ tritt.37 Am Ende des Artikels würdigt Uhlig schließlich Liszts Eintreten für Wagner und beurteilt zugleich Liszts Wirken als Komponist. Zwar sei er als „spezifischer Musiker“ auf die Musik allein beschränkt, jedoch besäßen seine Werke eine größere musikalische Schönheit als die Instrumentalwerke Berlioz’, den er diesbezüglich als „nur reflectirenden Componisten“ kritisiert.38 Mit Uhligs Bericht über die Aufführung begann in der NZfM nach über drei Jahren Pause wieder eine regelmäßige Korrespondenz über das Weimarer Musikleben. Uhlig selbst setzte mit diesem Artikel sein wenige Wochen zuvor begonnenes Eintreten für das Schaffen Wagners fort. Er hatte im August 1850 auf Brendels Anregung eine umfangreiche Artikelserie über Wagners Schriften eröffnet, die sich bis 1852 in der Zeitschrift fortsetzte.39 Mit seiner vehementen Parteinahme für Wagner, die sich auch in der strikten Ablehnung Giacomo Meyerbeers äußerte,40 gilt der bereits zu Beginn des Jahres 1853 verstorbene Uhlig als einer der frühesten und bedeutendsten Wagnerapologeten.41
37 Siehe
vorliegender Artikel, S. 230 [S. 151]. 38 Ebd., S. 234 [S. 163]. 39 In Uhligs Artikel werden neben den drei Züricher Kunstschriften auch „Ein Theater in Zürich“ (Wagner 1851 Ein Theater in Zürich) und Drei Operndichtungen nebst einer Mittheilung an meine Freunde (Wagner 1852 Drei Operndichtungen nebst einer Mittheilung an meine Freunde) besprochen (Uhlig 1850 Wagner’s Schriften). Im Nachruf auf Uhlig 1853 erwähnt Brendel, dass er Uhlig 1849 durch Schumann kennengelernt hatte und diesen nach ersten Artikeln, u. a. über Beethoven (Uhlig 1850 Natürliche Grundlage der Instrumentalmusik; Uhlig 1850 Beethoven’s Symphonien) und Meyerbeers Propheten (Uhlig 1850 Der Prophet von Meyerbeer; Uhlig 1850 Noch einmal der Prophet von Meyerbeer; Uhlig 1850 Zeitgemäße Betrachtungen), gebeten hatte, in der NZfM „die Wagner’sche Richtung zu vertreten“ (Rühlmann/Brendel 1853 Theodor Uhlig, S. 36). 40 Zur Anfeindung Meyerbeers siehe insbesondere den Kommentar zu Bischoff 1850 TU hoc intrivisti, in: NdS 1 Nr. 20. 41 Zur Rolle Uhligs als Sprachrohr Wagners vgl. Vazsonyi 2012 Richard Wagner, S. 119 –125.
Nr. 22 | Anonym, „Franz Liszt in Weimar“, in: Rheinische Musik-Zeitung 1 (1850/1851), Nr. 11 (14. September 1850), S. 85 f.
Franz Liszt in Weimar.
In Weimar hat F. Liszt seine Musik zu Herders „Entfesseltem Prometheus“ mit ausserordentlichem Erfolg aufgeführt.1 Sie besteht in einer Ouvertüre, acht Chören und einigen melodramatischen Stücken. Am Schlusse wurde der Componist stürmisch gerufen. Hoffentlich wird er diese seine neueste Arbeit der Veröffentlichung nicht vorenthalten. – Wenn irgend Jemand für die Kunst thätig ist, so ist es Liszt: mit demselben Feuer und der Begeisterung, womit der Herrliche über die Tasten hinstürmt und [86] dabei doch dem kleinsten Nötchen seine Bedeutung gibt, hat er jetzt die Aufgabe ergriffen: Weimar in Hinsicht auf musikalische Kunst zu dem zu erheben, was es einst in Bezug auf die poetische Litteratur Deutschlands war.2 Die Aufführung der neuesten Oper „Lohengrin“ von R. Wagner, dem flüchtigen, heimathlosen Wagner,3 ist eine schöne That für die deutsche Kunst, und wenn die weimarsche Kapelle ihrem Kapellmeister bei dieser Gelegenheit einen silbernen Taktirstab überreicht hat, so wird der Sinn der Gabe gewiss von allen deutschen Künstlern richtig erkannt und mit Beifall begrüsst werden. Und Liszt selbst, der in seinem Leben so reich und so glänzend beschenkte, ihm wird die kleine Gabe mehr werth sein, als mancher Brillant, weil sie ihm das freudige Zusammenwirken eines wackern Vereins von Künstlern mit ihrem Meister verbürgt. Hat er es doch mitten in den Triumphen auf seinen Reisen, überschüttet von Lorbern und erdrückt von Ehrenbezeigungen so oft gegen diejenigen, denen er sich offen hingab, ausgesprochen, dass sein Wunsch, ja seine Sehnsucht sei, der Kunst irgendwo eine wahre, sichere, unabhängige Freistatt zu gründen und dann nur ganz ihr und ihren höchsten Anforderungen zu leben! Mögen denn die äussern Verhältnisse in Weimar, wie es der Fall zu sein scheint, sich immer mehr so gestalten, dass er mit Freuden ausrufen kann: „hier habe ich diese Freistatt gefunden“, und mit innerer Befriedigung
1 Franz Liszts Chöre zu Herders entfesseltem Prometheus S 69 waren anlässlich des sogennanten „Herderfests“ am 24. August 1850 im Hoftheater aufgeführt worden. Vgl. hierzu den Kommentar zu vorliegendem Artikel. 2 Liszts Selbstverständnis als Nachfolger der Weimarer Klassik ist in zahlreichen seiner Briefe der 1840er und 1850er Jahre dokumentiert. Besonders sein 1849 verfasster und 1851 publizierter Entwurf zur Gründung einer Goethe-Stiftung zeigt deutlich seine Ambitionen, Weimar als ein Zentrum der zeitgenössischen Kunst dauerhaft zu etablieren (Liszt 1851 De la Fondation-Goethe, vgl. auch Altenburg 1997 Liszt und die Weimarer Klassik). 3 Richard Wagner war bei der Weimarer Uraufführung von Lohengrin am 28. August 1850 nicht anwesend, da er aufgrund seiner Beteiligung am Dresdener Maiaufstand 1849 steckbrieflich gesucht wurde und seitdem in Zürich im Exil lebte.
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sich sagen: „ich habe redlich darauf erbaut, wozu der Geist mich trieb!“ Wie mancher weit weniger gefeierte Virtuose geht in dem Treiben der Salons und dem berauschenden Dunst der Concert- und Theatersphäre verloren für die Idee der Kunst! Und Liszt, der, wenn die Instrumentalmusik der Triumph der Tonkunst ist, als die sichtbare Verkörperung, als die Incarnation derselben am Fortepiano erscheint, Liszt, der wie ein Eroberer durch die Welt zog und jeden Augenblick seinen Siegeszug von neuem beginnen könnte, ihn betäubte der Weihrauch nicht auf seiner Höhe. Wohl warf er aus der Fülle seiner Schätze der staunenden Menge Blumen und Sträusser von Rubinen und Smaragden zu, aber den Demant, den ihm ein Gott gegeben, bewahrte er wohl: an seinem Feuer erglühte in einsamen heiligen Weihestunden das Herz des Künstlers, wenn die Welt den Virtuosen vergötterte, und nach den Augenblicken, in welchen er das Ideal der Ausführung zauberisch verwirklicht hatte, beugte er in Demuth sein Knie vor dem Ideal der höhern Kunst, das vor seiner Seele schwebte, und von dessen unsterblichem Lichte er in jenem nur einen vergänglichen Strahl sah. Und was er diesem Ideale dann gelobte, er hat es gehalten in Wahrhaftigkeit. Darum Bewunderung dem Virtuosen (wiewohl dieser Ausdruck nur eine ärmliche Vorstellung von dem gibt, was Liszt als Klavierspieler ist); aber Liebe und Verehrung dem Künstler, der schafft und wirkt. So wird sein Lorber nicht ein dahinwelkender Zweig, sondern der Stamm eines weithin schattenden Baumes werden.
Kommentar Die Feierlichkeiten zur Enthüllung des Herder-Denkmals am 25. August 1850 und das anschließende Fest zu Goethes Geburtstag am 28. August gaben Liszt die Gelegenheit, seinem Anspruch, in seinem Werk das Erbe der Weimarer Klassik anzutreten, programmatisch Ausdruck zu verleihen.4 Die Aufführung eigener Kompositionen und vor allem die Uraufführung von Wagners Lohengrin ermöglichten es Liszt, die öffentliche Wahrnehmung seiner Person vom gefeierten und reisenden Klaviervirtuosen zunehmend in die Richtung des avantgardistischen Kapellmeisters und Komponisten zu lenken. Schon 1849 hatte ein Rezensent aus Weimar in den Signalen Liszts Engagement für die Oper bemerkt und ihn mit Stolz an die Seite von Herder, Wieland, Goethe, Schiller und Hummel gestellt.5 Der vorliegende Artikel zeigt, wie die seit ihrer Gründung tendenziell konservativ-klassizistisch orientierte Rheinische Musik-Zeitung – die meist eine dezidiert kritische Position gegenüber den ‚Zukunftsmusikern‘ einnahm –, Liszts Wirken in Weimar und die Wiederbelebung des ‚verwaisten Musenwitwensitzes‘ unter seiner Führung in den
4 Vgl.
dazu Altenburg 1997 Liszt und das Erbe der Klassik.
5 Siehe
C. 1849 Liszt in Weimar.
Anonym 1850 Franz Liszt in Weimar
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frühen 1850er Jahren noch überaus positiv beurteilte.6 Bemerkenswert ist dabei der Umstand, dass der anonyme Autor seine hoffnungsvolle Verheißung daran knüpft, dass er Liszt als die Inkarnation der Instrumentalmusik begreift, welche „der Triumph der Tonkunst“7 sei, womit der Autor zwar den ästhetischen Maßgaben seines Blattes zu folgen scheint, damit jedoch möglicherweise eine andere Vorstellung assoziierte, als Liszt sie kompositorisch späterhin erfüllte; zumal erst Ende Juli des Jahres die deutsche Übersetzung eines Artikels des britischen Kritikers James William Davison in der Rheinischen Musik-Zeitung abgedruckt wurde, worin Liszt nicht bloß als reiner Wagner-Apologet, sondern geradezu als Kopf der ‚Music of the Future‘ in Deutschland dargestellt wurde.8 Diese Gleichzeitigkeit von teilweise widersprüchlichen Urteilen innerhalb derselben Zeitschrift sowie die Zuschreibung musikalischer Eigenschaften oder Richtungen in ein und derselben Person sind ein paradigmatisches Charakteristikum, das sich über diese frühe Zeit bis in die späterhin, erbittert parteiisch geführten Debatten der musikästhetischen Kontroverse abzeichnet.
auch Lobe 1850 Das Herderfest; Uhlig 1850 Drei Tage in Weimar, in: NdS 1 Nr. 21. 7 Vorliegender Artikel, S. 238 [86]. 8 Siehe Davison 1855 „Richard Wagner“, in: NdS 2 Nr. 75 sowie den zugehörigen Kommentar. 6 Vgl.
Nr. 23 | Anonym [Henry Fothergill Chorley], „Music at Weimar“, in: The Athenæum (1850), Nr. 1194 (14. September), S. 980 f.
Music at Weimar.
The world of letters knows in what manner Europe was stirred to its very centre, towards the close of the last century, by the genius of the distinguished men whom once on a time the sovereign of this tiny capital drew around him.1 It would be curious enough if a like phenomenon were to be produced in the world of Art, – if a musical revolution were in its turn to be dated from Weimar. – Such a thing seems to be among possibilities just now. All those who have followed the career of M. Liszt with other eyes than those of either foolish wonder or jaundiced antipathy, must have speculated with no ordinary curiosity as to the direction which his genius would take when its years of wandering apprenticeship (to use the German phrase2) should be over, – and when his career as a public favourite would out of either choice or necessity be closed. Such a problem, always involving no ordinary solicitude, becomes doubly interesting when one so original (not to say eccentric) as M. Liszt is concerned. But few would have conceived it possible that the idol of whose broken pianoforte-strings German damsels wove bracelets – who was starred with an Order here, decorated with nobility and a sword there, ere he had reached middle age, and long ere the fire of idolatry had burned itself out – should subside into the comparative obscurity of a musical directorship in a very small German town. Fewer still could have believed that the change could last, – fewest of all would have admitted that any very striking or signal result could proceed therefrom. But the distinguishing peculiarity of M. Liszt, a spirit which nothing can daunt combined with a will which nothing can bend, bids fair to vindicate itself in this as in former transactions of his life, – and will, if we mistake not, work itself out in a form which, be its value greater or less, may at all events prove one alike individual and significant. – It will be no surprise if the opera-house at Weimar under his musical direction shall become as notorious as was the theatre of Weimar when Goethe had it under his hand as a field not merely for enterprise but also for experiment. The orchestra is capitally under control and curiously effective, – its numerical strength considered. Measures are in progress to strengthen it: Herr Cossmann3, the excellent violoncellist, has just joined it. It is
1 Angespielt
wird auf Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich von Schiller, die Anna Amalia bzw. Carl August nach Weimar holte. 2 Offenbar Anspielung auf Goethes Roman Wilhelm Meisters Wanderjahre (ED 1821 und 1829). 3 Gemeint ist Bernhard Cossmann (1822 –1910), der von 1850 bis 1860 als Cellist in der Weimarer Hofkapelle tätig war.
Chorley 1850 Music at Weimar
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mentioned as possible that Herr Joachim, the best of young German violins, will remove from Leipsic to Weimar.4 The chorus is less satisfactory, – and wants entire revision. We were much struck with the excellence, liberality, and (what is rare in Germany) tastefulness of the stage appointments. The costume, groupings and scenery of this little theatre would do no discredit to Paris. The special interest, however, imparted by M. Liszt’s presidence is in his obvious resolution to make the town and the theatre a rallying point and focus of German music as it was, as it is, and as it is to be. His conducting is excellent; animated, and inspiriting, without pedantry or pettiness. He has already placed on the repertory some of the known masterpieces of German opera in spite of the indifference of the public; – while he is resolute, we hear, to give every facility to the writers of young Germany5. Hence, at Weimar those interested in the matter may see the principles of the newest manner of composition illustrated to the uttermost, and every possible advantage and protection given to them by a liberal court, at the instance of one who is as genial in his sympathies as bold in his ambitions, – and who, moreover, has a fund and foundation of precise knowledge not always possessed by either the genial or the ambitious. Viewed in this light, we have rarely assisted at any celebration more interesting than the first production of Herr Wagner’s opera of ‘Lohengrin,’ on the anniversary of Goethe’s birthday. The story of the commission is worth recording. The composer appears to have been born under a star of nonconformity, – to be largely endowed with enterprise, fancy, and obstinacy. He has always been his own librettist; having some years ago submitted a libretto, ‘The Flying Dutchman’ to the management of L’Académie in Paris, with the hopes of being commissioned to set the same.6 There, the story was found so original, and the musician so little practicable, that the latter was fairly bought out, while the libretto was purchased and given to M. Dietsch7, – by whom it was set without success. Herr Wagner is his own copyist, too, – and more exquisite manuscript than his we never saw. While under the service of the King of Saxony8 as Kapellmeister he took part in the recent German revolutions; and on this ground (to say nothing of the more direct argument of the style of his music,) he has since knocked at theatre-door after theatre-door without chance of hearing until the opera-house of Weimar let him in. Assuredly no establishment solely depending
4 Gemeint ist Joseph Joachim (1831–1907), der seit 1843 am Leipziger Konservatorium und seit 1848 Mitglied des dortigen Gewandhausorchesters war; in den Jahren 1849 bis 1853 wirkte er als Konzertmeister in Weimar. 5 Hier wird vermutlich erstmals in der englischsprachigen Presse der Begriff „Young Germany“ im Kontext des Wirkens Franz Liszts in Weimar verwendet. Inwieweit der Ausdruck in Anlehnung an das literarische „Junge Deutschland“ (englisch ebenfalls „Young Germany“) gewählt ist, ist nicht bekannt. 6 Richard Wagner hatte im Juli 1841 in der Hoffnung auf einen Kompositionsauftrag den Prosaentwurf zum Fliegenden Holländer für 500 Francs der Pariser Oper überlassen. 7 Pierre-Louis Dietsch (1808 –1865), französischer Dirigent, Chorleiter und Komponist. Das Libretto von Dietschs Oper Le Vaisseau fantôme (UA 1842) stammt von Paul Foucher und Henri Révoil. In ihrer Grundkonstellation ähnelt die Oper dem Prosaentwurf Wagners, bezieht jedoch auch Elemente aus Walter Scotts The Pirate (ED 1822) und aus Frederick Marryats The Phantom Ship (ED 1839) mit ein. 8 Friedrich August II. (1797 –1854).
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on public opinion and not on the court ipse-dixit9 would have received his ‘Lohengrin.’ ‘Lohengrin,’ though not a work to be ignored, is still less one to be generally accepted. The libretto, based on the well-known legend of the ‘Knight of the Swan,’ contains some picturesque points, – but it is vexatiously full of effects missed and improbabilities unreconciled. Principal characters are allowed to stand still on the stage without note to sing or sign to make during entire finales. Such neglects of contrast abound as duett succeeding duett. The pieces are immoderate in their length. All these faults would be singularly odd as coming from a musician writing for music, were they not explained by the fact that Herr Wagner has “a system.” When such a defence is made for novelties that are merely so many blemishes, who can avoid recollecting Horace Walpole’s farewell words to Hogarth – “My dear Sir, you grow too wild, I must take my leave of you”?10 – Who will not deprecate our ever becoming used to pyramids with their points downward, pilgrimages that lead nowhere, question without reply, ponderous machinery set in motion when the strings prove not so much cables as cobweb-threads perpetually broken? To particularize a little more closely: – Herr Wagner’s attempt has been, to produce a work of pure declamation, without the slightest reference to melody, charm, or established form on the part of the vocalists. ‘Lohengrin’ reminded us of nothing so much as one of the weakest operas of Lulli’s school11, – spiced with outrageous orchestral condiments of which Lulli never dreamed. Even considered as a tissue of recitatives accompanied, the effect was bad: – monotonous from the superabundance of suspences and pauses, and from the platitude of many of the phrases devoted to the strongest emotions. Despite the perpetual efforts now made to prove them separate, no one, it may be suspected, will ever write a really fine reci-[981]tative who cannot also write a really beautiful melody. But we were yet more struck by another particularity. Though Herr Wagner will not minister to the meretricious a due which every pair of singers naturally enough like to sing – though to judge from ‘Lohengrin’ he would not be guilty of a cabaletta were the success of his opera (or of his republican ideas) dependent on it, – seeing that rhythm and ordinance must be somewhere or the work could never be kept together, he has lavished rich devices of form and melody on the orchestra. Listening very attentively, we came to the conclusion that it is the violins and others that declaim, while the actors and actresses scream. The parts of hero and heroine, villain and confidant, are terribly wearying in their excess of over-strained monotony, – in their perpetual and tantalizing approach toward some great climax, explosion, or combination which never arrives. But the band has intelligible and vivacious services to perform. Some of the accompaniments are excellent. A curtain tune to the third act (almost important enough
9 (Lat.)
Er selbst hat es gesagt. Die Formel, mit der sich die Pythagoreer auf die Lehren ihres Meisters beriefen und ihre Ansichten rechtfertigten, wird sprichwörtlich für Autoritätsglauben verwendet. 10 Zitiert nach einem Brief des englischen Schriftstellers Horace Walpole (1717 –1797) an George Montagu (1713 –1780) vom 5. Mai 1761. 11 Jean-Baptiste Lully schuf zusammen mit seinem Librettisten Philippe Quinault in den 1670er Jahren die Gattung der Tragédie en musique. Die frühe Repertoirebildung in Frankreich führte zeitnah zu einer fest etablierten Aufführungstradition und zur Herausbildung eines klassischen Kanons.
Chorley 1850 Music at Weimar
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to make a short overture) is one of the most captivating and joyous inspirations we ever heard; and a march at the opening of the last scene, with four separate groups of trumpeters on the stage, is so grandiose and exciting as a piece of combination and effect and parade that M. Meyerbeer may well take to bed on hearing of it, – unless it should prove that it was he who originated the same by the much-talked-of finale in his ‘Camp de Silésie.’12 In short, the impression left on us by ‘Lohengrin’ is that of power and perversity perpetually jostling and neutralizing each other. A system more systematically inconsistent has rarely been so emphatically illustrated. If the accomplishments of the beautiful art of singing are to be so entirely abrogated on the plea of their conventionalism, why not also the beauties and effects of instrumental execution? Does the trill which is meretricious in the voice, and incapable (say the transcendentalists) of conveying inner meaning, become pathetic, poetical, philosophical when it is produced by the fingers on the strings of twenty violins at once? Why is a vocal scale passage on “mania” or “gioja,” whether ascending or descending, more unbeseeming and frivolous than an orchestral one? Why are melodies in even numbers of bars to be counted as elegant in a symphony, if they are vulgar in a song? Why write thirds for the violins if thirds for the voices are to be exploded as so much sugary twaddle? Time is wasted over questions like these. – The truth is, that such nonsense will not bear looking into; being virtually – let Herren Wagner and Schumann and M. Berlioz take it as they will – merely a mask snatched up to conceal want of invention, or that want of knowledge which takes its refuge in a hot and unreasoning partisanship. There is small fear, we think, of Opera being thus destroyed at present. While the principle of dramatic propriety is respected, the canons of grace and beauty must not be outraged. Nor do we apprehend that “Young Germany” will ever really thrive till some genius shall appear, rich, wise, and calm enough to conciliate both. Meanwhile, such experiments as Herr Lachner’s13 are of the deepest interest. Every one seems to agree that the ‘Tannhauser,’ the penultimate opera by the same composer, (holding a relation to ‘Lohengrin’ similar to those of ‘Der Freischütz’ with ‘Euryanthe’14 and of ‘Robert’ with ‘Les Huguenots,’15) is a much more popular and pleasing work. The overture, which we heard admirably played on the pianoforte, seemed to be grand, noble, on clearly marked subjects, – and, though overcharged, excellent in structure and exciting in developement. We should expect it when heard with orchestra to prove more interesting and fresh than Meyerbeer’s overture to ‘Struensee:’16 – with which it is but natural to compare it. Who could help speculating on what the great poet and critic in commemoration of whom ‘Lohengrin’ was produced would have said to such a chaotic tribute? – The opera was most carefully given; preluded by an elegant prologue, written for the
Meyerbeer, Ein Feldlager in Schlesien (UA 1844). 13 Gemeint sind hier wahrscheinlich die beiden historischen, an Meyerbeer orientierten Opern Catarina Cornaro (UA 1841) und Benvenuto Cellini (UA 1849) von Franz Lachner (1803 –1890). 14 Carl Maria von Weber, Der Freischütz (UA 1821) und Euryanthe (UA 1823). 15 Meyerbeer, Robert le diable (Robert der Teufel, UA 1831) und Les Huguenots (UA 1836). 16 Meyerbeer, Struensee (UA 1846, Bühnenmusik). 12 Giacomo
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occasion by Herr Dingelstedt.17 The two principal female parts were agreeably sustained by Mdlle. Agthe18 and Mdlle. Fastlinger19. Both these young ladies have fresh agreeable soprano voices, – as yet guiltless of the vices of German solo singing. If M. Liszt has given up pianoforte exhibition in public for a while, it is from no diminution of means, – but that he may addict himself to composition. His new overture to ‘Prometheus’20 is a work of the highest ambition – full of force and contrast; with perhaps too wilful a disdain of the beautiful in some of its chords and progressions, but closer and more intelligible in structure than we had expected to find it. The same remark might apply to his two new pianoforte Concertos with orchestra,21 – the effect of which in places must be prodigious. But the execution of these compositions as intended by their writer is totally beyond the reach of any one else; demanding an ease and an apparent carelessness combined with the utmost brio and brilliancy, and a variety of modifications of finger, such as no one else commands. When heard again after a lapse of time, his playing reminds the hearer more forcibly than ever that whereas the many are pianists of talent, M. Liszt is the genius of the pianoforte. We can only speak further of a pianoforte Trio by Herr Raff,22 parts of which are excellent and effective. It is, however, enormously difficult: – in its style “Young German,” but more orderly and more melodious than many among its contemporaries of the same school. – An opera by Herr Raff 23 has been accepted, – and will be performed at Weimar early in the next year.
Kommentar Der vorliegende Artikel unter dem Titel „Music at Weimar“ zeichnet eine frühe Außenwahrnehmung des damaligen um Liszt gruppierten Weimarer Kreises, dessen Aufmerksamkeit durch die Kapellmeister- und Kompositionstätigkeit des nun ‚niedergelassenen‘ Klavier
17 Franz von Dingelstedt (1814 –1881) ließ den Prolog drucken und bei der Uraufführung an das Publikum verteilen. Er wurde zudem am 31. August 1850 im Morgenblatt für gebildete Leser vollständig veröffentlicht (Dingelstedt 1850 Prolog). 18 Rosa von Milde, geb. Agthe (1827 –1906), Sängerin. Sie sang die Rolle der Elsa. 19 Josephine Fastlinger (1827 –1866), Sängerin. Sie sang die Rolle der Ortrud. 20 Liszt, Chöre zu Herders entfesseltem Prometheus S 69. Die Ouvertüre zu den acht Chören erweiterte Liszt 1855 zur Symphonischen Dichtung Nr. 5 Prometheus S 99. 21 Gemeint sind hier die beiden Klavierkonzerte Nr. 1 in Es-Dur S 124 (ED 1857) und Nr. 2 in A-Dur S 125 (ED 1863), deren erste Umarbeitung Liszt 1849 fertigstellte. In ihrer endgültigen Fassung wurden die Werke 1855 bzw. 1857 aufgeführt. 22 Joachim Raff, Klaviertrio g-Moll WoO 9 (EZ 1849). Das Trio wurde am 26. August 1850 in Weimar von Liszt am Klavier, Joachim an der Violine und Cossmann am Violoncello aufgeführt. Raff hat das Werk später vernichtet. 23 Raff, König Alfred (UA 1851).
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virtuosen in den Feuilletons erregt wurde. Liszts damit verbundene Bestrebungen, das Erbe Goethes und Schillers anzutreten, wurden im deutschsprachigen Musikschrifttum dieser Zeit sehr positiv beurteilt.24 Der anonyme Autor, Henry Fothergill Chorley25, stellt die Uraufführung von Wagners Lohengrin durch Liszt in den Mittelpunkt seiner Betrachtung, die er wie die kurz zuvor stattgefundenen Feierlichkeiten zur Enthüllung des Herder-Denkmals am 25. August 1850 in Weimar miterlebt hatte. Wenngleich Liszts Person und dessen Dirigat, über das Chorley sich sehr positiv äußert, den Artikel einrahmen, bildet ein kurzer Rückblick auf Wagners Werdegang, insbesondere aber die Kritik an seinem Lohengrin den wesentlichen Gegenstand der Besprechung. Diese Kritik ist insofern bemerkenswert, da er Wagners Musik in den Kontext des erfolgreichsten Opernkomponisten der Zeit, Giacomo Meyerbeer, stellt und sich von einer Vielzahl von Stellen, Effekten der Orchestrierung und dergleichen überwältigt zeigt. Zugleich jedoch spricht er Wagners Musik das Vermögen der großen Form ab, wenn nicht sogar des Formalen an sich: „A system more systematically inconsistent has rarely been so emphatically illustrated.“26 In diesen Zusammenhang des Effektvollen, des Konstruierten und Gemachten, stellt er Wagner neben die in seinen Schriften wiederholt abgelehnten Kompositionen Robert Schumanns und Hector Berlioz’. Während Wagners Opernschaffen eine nachhaltige Wirkung auf das Musikleben abgesprochen wird, erfahren Liszts Ouvertüre zu den Chören zu Herders entfesseltem Prometheus sowie seine Klavierwerke eine außerordentlich positive Beurteilung, ebenso die Ouvertüre des Tannhäuser; letzteres ist insofern bemerkenswert, da sich Chorley später auch darüber abwertend äußerte.27 Der zumeist von Ironie und Sarkasmus durchdrungene Ton der englischen Polemik verstellt nicht die zutiefst klassizistisch-konservative Musikanschauung des Autors. Als englische Außensicht auf das deutsche Musikleben fällt die Stilisierung Weimars zum Zentrum für die neue deutsche Musik auf und mit ihr die Werke Wagners, Schumanns, Berlioz’ und Joachim Raffs28, die als zusammengehörig beschrieben und hier wahrscheinlich erstmals unter dem
etwa Anonym 1850 Franz Liszt in Weimar; Lobe 1850 Das Herderfest. 25 Henry Fothergill Chorley (1808 –1872), englischer Schriftsteller und Musikkritiker, war ab 1834 für über dreißig Jahre Mitarbeiter der Londoner Zeitschrift The Athenæum. Chorley, der ab 1836 jährlich für eine gewisse Zeit in Deutschland weilte (Bledsoe 1998 Henry Fothergill Chorley, S. 167, Anm. 2), hatte Liszt bei einem Konzert in London 1840 kennengelernt und war 1850 beim Herderfest in Weimar zugegen (vgl. Liszt-Schriften 4, S. 17 sowie zum Wirken Chorleys in den 1850er Jahren insgesamt Bledsoe 1998 Henry Fothergill Chorley, S. 178 – 243). 26 Vorliegender Artikel, S. 243 [981]. 27 Chorley 1852b Notes on Music in Germany beziehungsweise Chorley 1852 Schumann and Wagner; vgl. dazu Chorley 1853 Schumann and Wagner, in: NdS 1 Nr. 40. 28 In einem Brief Raffs an Kunigunde Heinrich (November oder Dezember begonnen, am Neujahrstag 1851 abgeschlossen) heißt es: „das Trio haben wir während der Augustfeste von Liszt, Joachim und Cossmann in großer Vollendung gehört. Chorley aus London, der gerade mit in der Soirée war, schreibt im dortigen Athenaeum am Schluße eines langen Artikels über unsere Musikzustände ‚I can only speak further of a pianoforte Trio by Herr Raff, parts of which are excellent and effective. It is however, enormously difficult: – in its style ‚Young German‘ but more orderly and more melodious then many among its contemporaries of the same school‘” (Quelle: Autograph, Bayerische Staats- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung. Raffiana II, bislang nicht katalogisierte Briefe, unpaginiert, 10 S., hier: S. 4). 24 Siehe
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Begriff „Young Germany“ subsumiert wurden.29 Die ablehnende Haltung Schumann und Wagner gegenüber, die sich dabei bereits zeigt, wird sich in den folgenden Jahren nicht nur verstärken. Sie wird darüber hinaus selbst zum Gegenstand einer ‚externen‘ Auseinandersetzung der Kontroverse zwischen den USA und England, welche maßgeblich im Dwight’s Journal auf der einen und dem Athenæum sowie der Musical World auf der anderen Seite ausgefochten wird.30
29 In
einem Brief Raffs an Doris Genast vom Januar/Februar 1852, bezugnehmend auf die Begriffsbildung Chorleys, heißt es: „Meine musicalischen Freunde interessirt das Werk [die Fantasie] insoweit als es die erste einigermaßen berechtigte Manifestation des ‚jungen Deutschlands‘ (um mit Chorley zu sprechen) in diesem Genre ist“ (Quelle: Autograph, Bayerische Staats- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung. Raffiana II, bislang nicht katalogisierte Briefe, unpaginiert, 10 S., hier: S. 4). 30 Vgl. u. a. Dwight 1854 Our Wagnerism, in: NdS 1 Nr. 59 sowie Dwight 1856 Musical Party Warfare, in: NdS 2 Nr. 95.
Nr. 24 | Anonym [Ludwig Bischoff], „Plastische Musik“, in: Rheinische Musik-Zeitung 1 (1850/1851), Nr. 46 (17. Mai 1851), S. 363 – 365.
Plastische Musik.
Fortschritt! Fortschritt! Dieser Ruf wiederhallte vor einigen Jahren in allen musikalischen Blättern.1 Wir gestehen, dass bei der grössten Ueberzeugung von der Nothwendigkeit und Wirklichkeit des Fortschritts in der Wissenschaft, den staatlichen Dingen und in Allem, was die Entwickelung der menschlichen Gesellschaft betrifft, uns doch stets etwas unheimlich zu Muthe wurde, wenn wir die ungestümen Forderungen der Apostel der Zeit an den Fortschritt in der Kunst, namentlich in der Musik lasen. Wenn wir an Homer und Shakespeare dachten, an die Propyläen in Athen und dann wieder an die deutschen Dome des Mittelalters, an Praxiteles2 und Leucippus3, an Raphael von Urbino, so stellte sich Beethoven wie von selbst in diese Reihe und der ketzerische Gedanke wollte sich nicht abweisen lassen, dass die Kunst des Gesetzes des Fortschritts spotte, dass ihr Entwickelungsgang ein ganz eigenthümlicher sei, dass sie, um einen Vergleich von der Bildung der Erdrinde herzunehmen, ihre Gestaltung mehr durch plötzliche vulkanische Erhebungen, durch den Ausbruch des Genies, als durch Anschwemmung oder Niederschlag regelmässiger Schichten erlange, welches eine secundäre Formation ist, die man dem allmäligen Wirken der Reflexion und Theorie vergleichen könnte. Doch wir werden zu ernst für den Spass, den wir unsern Lesern zum Besten geben wollen, und versparen die ausführlichere Erörterung des angeregten Themas auf eine andere Gelegenheit. Für jetzt wollen wir nur ein Pröbchen von den Resultaten geben, zu welchen gewisse Sätze der Fortschrittslehre führen. Einer dieser Lehrsätze ist, dass es endlich an der Zeit sei, dass die Instrumentalmusik einen tiefern Gehalt ausspreche, als Töne, dass der Componist bei seinen Schöpfungen etwas Höheres denken müsse als Musik, dass er aus der Subjektivität heraustreten und objektiv werden, dass die Instrumentalmusik plastisch wirken und die Elemente der Zeit in sich aufnehmen, die weltbewegenden Ideen der gegenwärtigen Menschheit in Tongestaltungen zur Darstellung bringen müsse.4 Das klingt in Worten ganz prächtig: schade nur, dass Töne keine Worte sind, und der Schlüssel noch nicht
sind hier insbesondere Artikel des Jahres 1848. Siehe dazu Brendel 1848 Fragen der Zeit IV, in: NdS 1 Nr. 17 sowie Lobe 1848 Fortschritt, in: NdS 1 Nr. 7. 2 Praxiteles (um 395 – um 320 v. Chr.), griechischer Bildhauer. 3 Leukipp (5. Jh. v. Chr.), griechischer Philosoph. 4 Vgl. etwa Brendel 1848 Fragen der Zeit IV, in: NdS 1 Nr. 17. Dort spricht Brendel auch von einer „plastischen Kraft der Gestaltung“ (ebd., S. 187 [214]). 1 Gemeint
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gefunden, die Hieroglyphen der Notenschrift durch den Klang der Instrumente urplötzlich in das Alphabet der jedesmaligen Muttersprache der Zuhörer zu verwandeln. Doch das schreckt die Kunstjünger nicht ab von dem Streben, der plastischen Schule gerecht zu werden, und da leider das Concertpublikum noch nicht so weit fortgeschritten ist die neuen Bildungen der Musicoplastik sogleich zu erkennen, so kommt man dem Verständniss durch ein Programm zu Hülfe und bedient sich – wenigstens so lange bis völlig ausgebildete musikalische Formen und Phrasen für „jede Gegenständlichkeit“ erfunden und durchgedrungen sind – einstweilen noch des alltäglichen Mittels der Vermittlung der Ideen zwischen den Menschen, der Sprache und der Schrift. Solch ein Programm, als Schlüssel zu den Tonchiffern [sic] einer Sinfonie, und zwar einer Sinfonie, die um einen Preis ringt, ist das Folgende, welches wir aus der mitgetheilten Handschrift mit diplomatischer Treue abdrucken: „Sinfonia historica.“ „Die Ereignisse in Deutschland seit des Märzes 1848 sind in geschichtlicher Beziehung so merkwürdig und bedeutungsvoll, dass sie dem Geschichtsschreiber, dem Maler u. s. w. jetzt schon und noch mehr in späterer Zeit Stoff zu mancherlei Bearbeitungen dar-[364]bieten. Warum sollten diese Ereignisse nicht auch den denkenden und für das Wohl seines Vaterlandes begeisterten Compositeur auf die Idee führen, ein Tongemälde zu liefern, worin die Hauptmomente dieser Zeit besonders hervorgehoben sind? Von dieser Idee beseelt, erwachte in mir der Gedanke, diess in einer Sinfonie, die ich desshalb Sinfonia historica betitelte, zu versuchen. I. Satz. Adagio molto. Trompeten und Posaunen lassen den Unisono-Ruf (als von Westen herkommend) ertönen, um die Nation auf die verheissenen Völkerrechte aufmerksam zu machen, die ihnen seither nicht gewährt wurden, daher die SeptimenGänge und Vorenthalte bei a.I; glücklicher und harmonischer wäre Deutschland ohne Vorenthaltung, daher der Grundgedanke in A dur bei b.; mächtig hemmte diess den geistigen Entwickelungsgang der ganzen Nation, daher bei c. die Fülle des Orchesters; zuletzt ein elektrischer Schlag, der der Sache eine neue Gestalt giebt. Allegro. 1. Theil. Das Thema giebt kurz die Forderungen an, die das deutsche Volk seinen Beherrschern ehrfurchtsvoll zu Füssen legt; darauf hin erwägen bei d. dies die Fürsten, daher das Thema im Bass; e. Motivirung der gemachten Anforderungen von Seiten der Nation; f. tiefere Erwägung. g. süsse Verheissungen und Versicherungen von Oben herab, daher der liebliche Satz in den Blasinstrumenten; h. bedenklichere Auftritte, mitunter zu rasch und überstürzend; i. Beschwichtigung und Aussicht auf eine deutsche Nationalversammlung; k. freudige Gefühle des deutschen Volks wegen Errichtung des 1. deutschen Parlaments, daher der Mittelsatz oder sogenannte Quinten-Gesang; l. bei Vielen Besorgnisse der Nationalversammlung, daher die Fortführung des Mittelsatzes mit Anhängung des Schlussgedankens vom 1. Theil.
I Die
Buchstaben stehen in der Partitur bei den betreffenden Stellen.
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Der 2. Theil giebt die Nachahmung, Durchführung und Contrapunktirung der Grundgedanken. Zuerst bei m. der Schlussgedanke erweitert, versinnbildet die parlamentarischen Auftritte; n. neue süsse Hoffnungen erwachen, die entnommen sind aus den gegebenen Verheissungen von Seiten der Fürsten; o. alsbald dreht sich der Wind, die Sachen gestalten sich ganz anders als man glaubte; p. dämpft sich einigermaassen wieder; q. erheben sich Barricadenkämpfe, so gegeben durch den verzierten und grossartigen Contrapunkt; r. man dämpft diese Aufstände, übermannt die Aufwiegler, stürzt das Parlament, und siehe da, es bleibt Alles wieder beim Alten, daher s. die Wiederholung des 1. Theils, der sich etwas in die Länge zieht, weil in der Wirklichkeit die Sache noch ziemlich unentschieden vor uns liegt. II. Satz. Andante con moto. Grund-Idee: die Huld des Herrn ist unermesslich. Er ist seinen Kindern ein freundlicher Hort und führt sie durch Stürme zum sicheren Bort.5 Wie an einem schönen milden Sommernachmittage die wohlthätigen Sonnenstrahlen auf jedes Jahr erquickend wirken, so sollen auch die Töne dieses lieblichen Andante’s in den Herzen guter Menschen erquickende und beruhigende Gefühle hervorheben. O möchte es so fromm und innig aufgegriffen werden, als es aus meiner Seele hervorging. Im zweiten Theil zeigt sich plötzlich eine düstere Wolke, es erhebt sich ein Sturmwind, es blitzt und donnert; es regnet; diess wechselt einige Male, es lichtet sich allmälig und der liebliche Sonnenschein tritt bei A dur wieder hervor. III. Satz. Scherzo a la Menuetto. Grund-Idee: der politische Zankapfel. Zänkischer Weise beginnen die Violinen, und diese Idee geht durch’s ganze Scherzo. Die Mittelstimmen führen das eigentliche Thema und die Zwischenschläge vom Orchester deuten auf die Auftritte der Militair-Massen hin, die zwar gegen einander zu sein scheinen, und sich doch am Ende verständigen. Die Gesangstelle im Trio, die die Blasinstrumente vortragen, deutet auf die Einheit hin, die in den Cabinetten herrscht, obwohl von auswärts gezankt wird, was die kurzen Staccato-Sätze in den Saiten-Instrumenten bezeichnen. Das Ganze wiederholt sich, bildet in der That nichts anderes als einen Tanz, daher die Betitelung Scherzo a la Menuetto. IV. Satz. Maestoso. Die Weltgeschichte ist das Weltgericht6 – Grund-Idee! Posaunen und Trompeten deuten majestätisch auf eine Zukunft hin, wo man Deutschland und seine Führer richten wird. Allegro: bespricht die Unmündigkeit des deutschen Volkes; die Kraft-Figuren in den Blasinstrumenten bezeichnen die Machtsprüche der Weltgeschichte, der Mittelsatz bespricht und besingt die glückliche Zeit, wo die Nation zum klaren Bewusst-
5 Das Zitat stammt aus dem Gedicht Das Kind im Sturme (ED 1848) von Simon Eduard Zirndorfer (1816 –1876). Im Original steht „Port“ statt „Bort“. 6 Ein Vers aus Friedrich von Schillers Gedicht Resignation (ED 1786), ebenfalls übereinstimmend mit dem Anfang des Gedichtes Das Weltgericht (ED 1840) von Heinrich Hoffmann von Fallersleben (1798 –1874) sowie der Titel eines Gedichtes von Robert Linderer (1824 –1886), Die Weltgeschichte ist das Weltgericht (ED 1849).
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sein und zur geistigen Reife gediehen sein wird. Sieg dem Schönen, Wahren und Guten!![“] [365] Auditum admissi risum teneatis amici?7 – Und doch hat bei allem Ergötzlichen die Sache ihre sehr ernste Seite, wie jede Narrheit sie hat. Hier erscheint die plastische Absicht des Herrn Compositeur’s freilich einem Jeden lächerlich, weil sie eine Carricatur geworden ist: aber die Prätention des Mannes ist doch nur vollkommen dieselbe, welche namhafte Componisten der Neuzeit ebenfalls haben, wenn sie uns zumuthen, durch ihre Musik die oft ganz speciellen Anschauungen in unserm Geiste hervorzurufen, welche sie durch Ueberschriften und dergl. bezeichnen, mögen sie uns nun durch die „Wüste“8, oder auf ’s „Schaffot“9, oder an eine „verrufene Stelle“10 führen, oder uns eine „Forelle“11 mit musikalischer Brühe auftischen, die uns auf jeden Fall in Salz und Wasser gekocht lieber ist.
Kommentar Am 10. August 1850 hatte die musikalische Gesellschaft zu Köln in der Rheinischen MusikZeitung eine Preis-Aufgabe zur Komposition einer Sinfonie ausgeschrieben,12 als deren Gewinner im Mai 1851 der in Berlin wirkende Richard Wüerst mit seiner Sinfonie in F-Dur bestimmt wurde.13 Am 17. Mai 1851 lieferte Ferdinand Hiller als einer der Preisrichter in seinen Kritischen Briefen einen Überblick der eingesandten Werke,14 unter denen er auch den oben abgedruckten Entwurf zu einer Sinfonia historica anführte. Der Artikel „Plastische Musik“ weist im Inhaltsverzeichnis zum ersten Jahrgang der Rheinischen Musik-Zeitung Ludwig Bischoff als Autor aus, sodass die Einleitung und die Schlussworte von ihm selbst zu stammen scheinen. Vermutlich ist jedoch Hiller der Verfasser dieses fiktiven Programms und formuliert damit seine Zweifel daran, über die Musik hinausgehende Gehalte, Gegenständliches und insbesondere historische Begebenheiten in Instrumentalmusik ‚übersetzen‘ zu können.15 Hinter den satirischen Ausführungen des Artikels steht durch die Bezugnahme auf Kompositionen von Félicien David, Hector Berlioz und Robert Schumann auch eine deutliche Kritik an dem vornehmlich von Brendel in zahlreichen Artikeln immer wieder geforderten stärkeren Gegenwartsbezug der Musik, welcher sich vor allem durch die „Aufnahme eines
Zum Hören zugelassen, könntet ihr anders als Lachen, Freunde? Angelehnt an Horaz, Ars Poetica, V. 5. 8 Anspielung auf Félicien Davids Symphonien-Ode Le Désert (Die Wüste, UA 1844). 9 Hier wird verwiesen auf Hector Berlioz, Symphonie fantastique op. 14 (EA 1830), 4. Satz „Marche au supplice“. 10 Gemeint ist Robert Schumann, Waldszenen op. 82 (ED 1850), Nr. 4 „Verrufene Stelle“. 11 Hier handelt es sich um Franz Schubert, Quintett A-Dur („Forellenquintett“) D 667 (ED 1829). 12 Siehe Direction 1850 Musikalische Preis-Aufgabe. 13 Siehe Direction 1851 Die musikalische Gesellschaft. 14 Siehe Hiller 1851 Kritische Briefe. 15 Siehe ebd., S. 362. 7 (Lat.)
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neuen Inhaltes“16 in die Musik sowie mit der „plastischen Kraft der Gestaltung“17 dieser neuen Inhalte erzielen lasse. Nicht zuletzt durch Artikel wie dem vorliegenden wurden die Divergenzen um eine politisch-engagierte beziehungsweise ‚fortschrittliche‘ Musik der Jahre 1848/1849 in die Zeit nach dem Scheitern der revolutionären Bemühungen hinübergetragen, und nun auch verstärkt von klassizistisch-konservativer Seite. Zugleich wurden damit aber auch die politischen Konnotationen einer Inhaltsästhetik tradiert, die in der Folge die Auseinandersetzungen um Programmmusik und den musikalischen Parteienstreit seit Mitte der 1850er Jahre wesentlich mitbestimmten. Es ist eine Besprechung Bischoffs von Eduard Hanslicks Traktat Vom Musikalisch-Schönen, in welcher der Autor noch mehrere Jahre später explizit auf den vorliegenden Artikel verweist: „Dasselbe Thema behandelte in Nr. 46 (vom 17. Mai 1851) der Artikel ‚Plastische Musik‘, in welchem die ‚lächerlichen Prätentionen der neueren Componisten, die uns zumuthen, durch ihre Musik die speciellen Vorstellungen in uns hervorzurufen, welche sie durch Ueberschriften u. dgl. Bezeichnen‘.“18 Es folgt eine kurze Aufzählung weiterer Artikel zu diesem Themenkomplex, den Bischoff im Geiste Hanslicks durch ein Selbstzitat abschließt: „Wollt ihr wissen, was der wahre Inhalt der Musik ist? Die Melodie ist es, der musicalische Gedanke, das Thema; und ein denkender Tonkünstler ist nicht der, der einen Inhalt ausserhalb der Musik sucht, sondern der in der Sphäre der Musik bleibt, nur Musik denkt und den Verstand nur gebraucht, die Thema’s, die ihm aus der Seele gequollen, als musicalische Gedanken durch diejenigen Mittel zu entwickeln, welche ihm seine Kunst und sein Wissen in dieser darbieten.“19 Durch derlei instrumentalisierte Wiederauf- und Bezugnahmen Bischoffs lässt sich innerhalb der musikalischen Kontroverse das Vorgehen beobachten, ästhetisch grundsätzliche Anschauungen über die Zeit hinweg für jeweils aktuelle Diskussionen anzupassen und zu nutzen oder sie als Grundtenor der eigenen Zeitschrift einer für den Disput solch bedeutenden Schrift wie Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen zu unterlegen.
16 Siehe Brendel 1848 Fragen der Zeit II, S. 196, in: NdS 1 Nr. 8, S. 98. 17 Siehe Brendel 1848 Fragen der Zeit IV, S. 214, in: NdS 1 Nr. 17, S. 187. 18 Bischoff 1855 Eduard Hanslick, S. 57, in: NdS 2 Nr. 73, S. 831. 19 Ebd., Bischoffs Zitat ist aus verschiedenen Aussagen des Artikels zusammengesetzt (Bischoff 1854 Nichts Neues).
Nr. 25 | Fr. [Franz] Brendel, „Einige Worte über Richard Wagner“, in: NZfM 18 (1851), Bd. 34, Nr. 25 (20. Juni), S. 264 – 266.
Einige Worte über Richard Wagner. Von Fr. Brendel.
Durch die Ausarbeitung eines größeren Werkes über Musik, welches demnächst im Druck erscheinen wird,1 in letzter Zeit ausschließlich in Anspruch genommen, war ich verhindert, wie ich gern gethan hätte, über mehrere neuerdings in dies. Bl. angeregte wichtige Punkte meine Ansicht ebenfalls auszusprechen. Ein Bericht von Adolf Stahr in der „Nationalzeitung“ über R. Wagner’s „Lohengrin“ nach der 5ten Vorstellung dieser Oper in Weimar,2 den ich nachstehend mittheile, giebt mir Veranlassung, wenn auch nur im Vorübergehen, dieß zunächst in Bezug auf den genannten Tonsetzer zu thun. Es ist neuerdings von W. in dies. Bl. viel die Rede gewesen, es sind zum Theil widersprechende Urtheile laut geworden; von der einen Seite sahen wir seine Richtung mit Begeisterung vertreten, während von anderer, wenn auch nur beiläufig, der heftigste Tadel ausgesprochen wurde.3 Derartige Widersprüche fallen vielleicht Manchem auf. Leser, welche mit dem Standpunkt und der Richtung dies. Bl. vertraut sind, wissen dagegen, daß ich entschieden für möglichste Freiheit der Meinungsäußerung bin. Diese Freiheit kann in einem, eine bestimmte Richtung verfolgenden Kunstblatt nicht so weit gehen, daß gänzlich Unberechtigtes, von veralteten Standpunkten Ausgehendes oder ungewaschenes Zeug zum Vorschein kommen darf. Wohl aber muß es in ihrer Richtung tüchtigen Männern gestattet sein, die Consequenzen ihres Standpunktes offen auszusprechen, wenn auch dadurch die entgegengesetzten Ansichten zu Tage kommen. In diesem Sinn ist es zu nehmen, wenn z. B. mein geehrter Freund und Mitarbeiter Dr. Krüger von Wagner’s Opern als von „tollem Zeuge“ spricht,4 während meine eigene Ansicht himmelweit von dieser verschieden ist. Ich begreife jene kleinliche Engherzigkeit nicht, welche vor einem entschieden ausgesprochenen Wort erschrickt, ich bedauere jene Aengstlichkeit, welche bei einem polemischen Artikel sogleich außer
1852 Geschichte der Musik. 2 Stahr 1851 Ueber Richard Wagner’s Lohengrin. 3 Gemeint sind hier die seit 1850 publizierten enthusiastischen Artikel Theodor Uhligs über Richard Wagners Werke und Schriften (Uhlig 1850 Wagner’s Schriften; Uhlig 1850 Drei Tage in Weimar; Uhlig 1851 Die Ouvertüre zu Tannhäuser). Als ein negativer Beurteiler innerhalb der NZfM ist Eduard Krüger zu nennen (z. B. Krüger 1851 Robert Schumann). 4 In seiner Rezension zu Robert Schumanns Genoveva (UA 1850) bezeichnet er Wagners Opern und vor allem seine Libretti als „tolles Zeug mit vielem Gerassel und wenig Witz, fast so schlimm wie Jacob Meyer-Beers erlogenes Zeug“ (Krüger 1851 Musik für das Theater, S. 130). 1 Brendel
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Fassung geräth. „Die meisten Menschen wissen nicht, in welch’ unzugänglicher Burg derjenige wohnt, dem es nur um die Sache zu thun ist,“5 sagt Göthe, und in diesem Sinne meine ich, daß derjenige, der sich bewußt ist, etwas Wahres und Berechtigtes zu vertreten, auch eine Anfeindung muß ertragen können. Dies beiläufig. Ich bezeichne kurz meine frühere Stellung zu den Wagner’schen Productionen, um hieran die Mittheilung meiner jetzt veränderten Ansicht anzuschließen. Ich lernte Wagner’s Rienzi durch die Aufführung in Dresden kennen.6 Das Werk interessirte mich lebhaft, und stieß mich zugleich ab; in allgemein künstlerischer Hinsicht hielt ich es für vorzüglich, in musikalischer Beziehung war ich weniger befriedigt. Es war zunächst die Wahl dieses prachtvollen Stoffes, es war die aufrichtige Begeisterung W.’s dafür so wohl in der Dichtung, wie in der Musik, welche gewinnen mußte. Die Oper enthielt wirklich in Dichtung und Musik Momente, wobei einem das Herz aufging. Die Abwesenheit in der Gegenwart Tonsetzern und Publikum zur zweiten Natur gewordenen Opernunsinns, dies, daß ein Mensch der Neuzeit wirklich mit Teilnahme diesen Vorgängen folgen konnte, daß substantielle Interessen geboten wurden, nicht Tand und Albernheiten, wie gewöhnlich, mußte in Wahrheit begeistern. Neben dieser Frische und Gesundheit erschien nur die Oper aber wesentlich unter Pariser Einflüssen entstanden, ich fand keinen bestimmt ausgeprägten Styl, keine Richtung, keine konsequente Gesinnung, ich glaubte sogar Meyerbeer’sche Wege zu entdecken, ein derartiges, ganz äußerliches Effectstreben, und ich wußte mir so den Widerspruch zwischen Innerem und Aeußerem, zwischen gesundem Leben im innersten Kerne des Werks, und Ungesundheit in seiner Erscheinung nicht zu erklären. Ich war nur im Stande, in einem Zuge einige Acte anzuhören, es litt mich nicht länger bei der Darstellung und die Folge war, daß ich W. wohl für einen geistreichen, auch musikalisch begabten Mann hielt, von ihm aber eine reinigende und veredelnde Einwirkung auf unsere Opernzustände nicht erwartete. Ein anderes Werk von ihm, welches ich um dieselbe Zeit kennen lernte,7 bestärkte mich in dieser Ansicht, und so folgte ich seiner Entwicklung nicht weiter, und wurde erst wieder aufmerksam, als die beiden, in dies. Bl. ausführlich besprochenen Bücher erschienen.8 So ist es Vielen ergangen, so geht es Vielen [265] noch jetzt, und auch Dr. Krüger bekennt in einem noch ungedruckten, in meinen Händen befindlichen Aufsatz, daß er nur Rienzi und den fliegenden Holländer kenne.9 Dies ist entscheidend; man beurtheilt W. nach den früheren Leistungen und weiß nicht, daß er später ein ganz Anderer geworden ist. Namentlich dieses Umstandes wegen
5 Das
durch Brendel frei wiedergegebene Zitat findet sich in einem Brief von Johann Wolfgang von Goethe an Friedrich von Schiller vom 5. Dezember 1796, in: Goethe-Werke 31, S. 262. 6 Wagners Rienzi wurde am 20. Oktober 1842 in Dresden uraufgeführt. 7 Wahrscheinlich ist Wagners Fliegender Holländer gemeint, dessen Uraufführung am 2. Januar 1843 in Dresden stattgefunden hatte. 8 Gemeint sind hier Wagner 1849 Kunst und Revolution sowie Wagner 1850 Kunstwerk der Zukunft, die Theodor Uhlig in der NZfM bis zu diesem Zeitpunkt vorgestellt hatte (Uhlig 1850 Wagner’s Schriften). 9 Krüger 1851 Zeitsinniges. Ähnlich wie in seiner Rezension zu Schumanns Genoveva bezeichnet er Wagners Schaffen als verfehlt (Krüger 1851 Robert Schumann) und lehnt die Idee des Gesamtkunstwerkes, bei ihm als „All-Kunst“ bezeichnet (ebd., S. 31), ab. Diesen Artikel nahm wiederum Uhlig zum Anlass, um gegen Krüger zu polemisieren (Uhlig 1851 Bekenntnisse), da Krüger darin die Position des rückwärtsgewandten, doktrinären Gelehrten einnehme.
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ergreife ich hier das Wort. Auch viele derjenigen, welche ein ernsteres Interesse an der Tonkunst nehmen, kennen zur Zeit W.’s „Tannhäuser“ nicht, und haben doch ihr Urtheil über ihn abgeschlossen. Der Clavierauszug des „Lohengrin“ wird demnächst erscheinen.10 Um so mehr ist es an der Zeit der Bekanntschaft mit diesem Werk die des so eben genannten früheren vorausgehen zu lassen. – Ueber W.’s theoretische, neuerdings uns bekannt gewordene Ansichten werde ich bei anderer Gelegenheit noch ausführlicher sprechen,11 ich bemerke hier nur so viel, daß denselben eine ganz andere Bedeutung inne wohnt, als von Vielen, namentlich von Musikern zur Zeit anerkannt wird. Mag es sein, daß Manches sehr extrem erscheint, – ich stimme in der That in mehreren Sätzen nicht überein, – mag es sein, daß für Diesen und Jenen verletzende Elemente darin vorhanden sind, – Vieles aber, glaube ich, fällt nur der Darstellung zur Last, bei weitem weniger der wirklichen Ansicht W.’s, – so sind doch auch so viel große, neue, wahrhaft geniale Anschauungen darin, daß man gern bei der reichen Ausbeute, welche namentlich das „Kunstwerk der Zukunft“12 gewährt, das, wodurch man sich weniger angesprochen fühlt, übersieht. Genug: diese Werke waren für mich die Veranlassung, mich sogleich mit der Oper „Tannhäuser“ bekannt zu machen. Ich kann nur nach dem Clavierauszug urtheilen, aber schon dieser gewährte mir die Ueberzeugung, daß wir es hier mit der bedeutendsten Opernschöpfung der letzten Decennien, ja mit einem Werke zu thun haben, welches sich würdig den größten Leistungen aller Zeiten anschließt. Ich habe schon früher wiederholt in dies. Bl. ausgesprochen, daß auf dem bisherigen Wege der Operncomposition nichts mehr zu erlangen ist, ich habe gesagt, daß man mit der Vergangenheit brechen müsse und sich der Zukunft zuwenden, wenn überhaupt die Oper eine Zukunft haben solle.13 Dies ist in W.’s Tannhäuser und noch entschiedener, wie berichtet wird, im Lohengrin geschehen. W. hat den neuen Standpunkt errungen, von welchem aus die Oper einzig und allein noch eine Zukunft haben kann. Alle Zöpfe der alten Opernform sind abgeschnitten, die unwürdige Herrschaft der Sänger und Sängerinnen, diese Thorheiten, welche die Oper immer zum Concertsaal machen, sind beseitigt, ein echtes, dramatisches Leben bewegt das Ganze. Hierzu kommt die innige Einheit von Dichtung und Musik, das Echte, Gesunde, durchaus Wahrhafte und Gediegene des Inhalts. Aber nicht blos diese mehr kritischen Verdienste, diese Resultate des Verstandes besitzt W., sein Werk ist zugleich Zeugniß von einer so bedeutenden musikalischen Schöpferkraft, daß ich mich keinen Augenblick besinne, wenn ich ausspreche, W. habe das Größte in der Gegenwart auf dem Gebiet der Oper geleistet. R. Schumann in seiner Genoveva14 hat neuerdings denselben Weg betreten, er ist im Ganzen von denselben Anschauungen ausgegangen; W. aber hat zur Zeit auf dem Gebiet der Oper ein glücklicheres Gelingen vor ihm voraus.
arrangierte den Klavierauszug zu Lohengrin, der im Dezember 1851 bei Breitkopf & Härtel im Druck erschien, laut Wagners Korrespondenz vom 8. April 1851 mit dem Verlag aber spätestens Anfang April des Jahres fertiggestellt war (Wagner-Briefe 3, S. 539). 11 Brendel 1851 Zur Beurtheilung der Schriften. Der Artikel enthält eine Besprechung der Schriften Die Kunst und die Revolution und Das Kunstwerk der Zukunft. 12 Wagner 1850 Kunstwerk der Zukunft. 13 Brendel 1846 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper III. Zukunft, in: NdS 1 Nr. 4. 14 Robert Schumann, Genoveva (UA 1850). 10 Uhlig
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Wunderbar wäre es, wie ein solches Werk schon seit einer Reihe von Jahren existiren konnte,15 ohne allgemein gekannt zu sein, wäre uns nicht die Erbärmlichkeit unserer Opernzustände sattsam bekannt. Auf dem Boden, wo der Unsinn und die Albernheit die kräftigste Nahrung finden, kann die höhere Kunst nicht zugleich gedeihen. Hierzu kommt die Macht des Vorurtheils, die Macht eingewurzelter Vorstellungen; man ist innerlich so sehr mit der bisherigen Opernrichtung verwachsen, man hält diese zahllosen Mängel so sehr für das Wesen der Sache, daß man die neue Welt, welche in W.’s Werken sich vor unseren Blicken öffnet, gar nicht erkennt. Ich lasse jetzt den schon im Eingang erwähnten Bericht von A. Stahr folgen: „W.’s Lohengrin ist eine Schöpfung, in welcher das dramatische Gedicht der musikalischen Composition ebenbürtig ist. Verlassen, wie es die Oper ist von den Dichtern der Gegenwart, ist dem Schöpfer des Lohengrin und des Tannhäuser nichts Anderes übrig geblieben, als die beiden bisher getrennten Rollen des Dichters und des Componisten selbst zu übernehmen. Und so soll es sein. Die Zeichnung gehört so gut zum Malen wie die Farbe. Die Trennung, wie sie bisher bestanden, wird darum noch nicht aufhören. Es ist überall dafür gesorgt, daß die Bäume nicht in den Himmel wachsen. Aber das hat diese Trennung denn doch bewiesen, daß eine specifisch musikalische Begabung leider die Möglichkeit nicht ausschloß, daß ein so Begabter ohne alle Einsicht in das Wesen des Drama, ja ohne alles Gefühl für das Wesen des Poetischen, d. h. des menschlich Wahren und Schönen sein kann. – Der ‚Text‘ des Lohengrin ist wirklich ein Gedicht, ein Drama, ein poetisch einheitliches ‚Kunstgewebe‘, das auch, ganz abgesehen von der musikalischen Bearbeitung und Ausstattung, auf den Rang eines selbstständigen Kunstwerks Anspruch machen darf. Darum verlohnt es sich, davon mit Ernst zu reden, während ein Eingehen auf die Strumpfwirkerei ordinärer moderner Operntexte wie ‚Robert der Teufel‘16 u. Comp. eine Thorheit wäre. – Die Aufführung des Lohen-[266]grin hat mir den größten Eindruck gemacht, den ich noch je in meinem Leben durch eine musikalisch-dramatische Dichtung empfangen habe (ich hatte bisher noch kein Werk Wagners gehört): sie war für mich ein Ereigniß. Und so ergreifend und erschütternd, so ganz aus einem Gusse war die Einwirkung, welche ich empfand, daß ich seit langer Zeit zum ersten Male mich ganz und voll einem Kunstganzen hingegeben fühlte, ohne auch nur einen Augenblick von kritischer Regung ergriffen zu werden. Ein längst Ersehntes schien mir hier erreicht; die würdigste Verbindung zwischen zweien Künsten, die harmonische Ehe der Kunst des redenden Gedankens mit der Kunst der tönenden Empfindung vollzogen. Und eine Ahnung, daß hier mit dieser Schöpfung der neuen Zeit der erste Schritt gethan sei zur freien Erneuerung des althellenischen musikalisch-dramatischen Kunstwerks, erfüllte mein Herz mit einem Entzücken, dessen Aufregung ich kaum zu bemeistern vermochte. W. hat mit diesem musikalischen Drama einen Lichtblitz gerade in diejenige Region unserer Kunst geworfen, über welche die Nacht am sternenlosesten niederhing, in das Unwesen der Oper, in welcher die Schmarotzerpflanzen eines meist von Vernunft und Verstand verlassenen sogenannten ‚Textes‘ und einer dem Begriffe der Schönheit wie
Komposition des Lohengrin hatte Wagner bereits am 28. April 1848 abgeschlossen. como Meyerbeer, Robert le diable (Robert der Teufel, UA 1831). 15 Die
16 Gia-
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der Sittlichkeit hohnsprechenden Tanzkunst den üppigsten Sumpfboden fanden. Seine Schöpfung erschien mir wesentlich als eine praktische Kritik, als eine tatsächliche Polemik, eine schöpferische Negation. Wie werden einige unbedeutende Mangel derselben aufgewogen, vor Allem durch die wundervolle Harmonie der Dichtung mit der Musik, durch jene Tiefe, Wahrheit und Schönheit des geistigen Gehalts, der denn doch am Ende allein im Stande ist, ein gebildetes Interesse nachhaltig zu fesseln, während eine Albernheit, noch so meisterhaft componirt und noch so virtuosistisch [sic] gesungen, einen gesunden Sinn mit Widerwillen erfüllt. Die Musik ist der Leib, das Wort die Seele des musikalischen Dramas. Eine Schönheit ohne Geist und Seele kann uns wenigstens, wenn sie schweigt, durch ihre Formen erfreuen, oder dem Künstler als Modell dienen. Aber der Zauber hört auf, sobald sie zu sprechen beginnt. Die moderne Oper ist in der Regel eine solche geistlose Schönheit, nur daß wir ihr nicht, wie der Künstler seinem Modell, nöthigenfalls den Geist verleihen können, den sie nicht hat, weil sie in Einem fort ihrer Geistverlassenheit Worte giebt. Denn auf die meisten modernen Opern paßte Voltaire’s spottendes Wort: ‚Was zu unsinnig ist, um gesprochen zu werden, das singt man!‘17 – Hier aber bei der Aufführung des Lohengrin sah ich zum ersten Male die Zuhörer nicht blos von der seiltänzerischen Virtuosität des bis an die äußersten Grenzen des Möglichen ausgedehnten und ausgerenkten Kunstgesanges, sondern auch von einfachen Empfindungen, Gedanken, Motiven und Situationen bewegt und ergriffen. Es war ein dorisch männlicher Geist, der hier die Gemüther der Menschen zur Theilnahme bewegte, und wo die Weiche des Gefühls an seine Stelle trat, hatte man sich ihrer wenigstens nicht zu schämen, weil sie ächt poetisch und menschlich motivirt erschien.“18
Kommentar In diesem Artikel bezog Brendel erstmals ausführlich Stellung zum Schaffen Wagners, nachdem Theodor Uhlig schon ab 1850 begonnen hatte, in der NZfM Partei für ihn zu ergreifen19. Während Brendels Redaktionszeit war in der Zeitschrift bis dahin einzig zur Uraufführung des Tannhäuser in Dresden 1845 eine Rezension erschienen, in welcher der Oper ein „Mangel
17 „Aujourd’hui, ce qui ne vaut pas la peine d’être dit, on le chante.“ Fälschlicherweise Voltaire zugeschrieben, findet sich der Ausspruch in Pierre Augustin de Beaumarchais, Le Barbier de Séville, 1. Akt, 2. Szene (UA 1775). 18 Stahr 1851 Ueber Richard Wagner’s Lohengrin. Eine ausführlichere Besprechung des Werkes und der Weimarer Uraufführung findet sich in: Stahr 1852 Weimar und Jena, S. 100 –135. 19 Zum Beispiel Uhlig 1850 Wagner’s Schriften; Uhlig 1850 Drei Tage in Weimar; Uhlig 1851 Die Ouvertüre zu Tannhäuser.
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an Charakterzeichnung“, Effekthascherei und Schwülstigkeit vorgeworfen wurde.20 Brendel selbst hatte das Schaffen Wagners bis 1851 nur an zwei Stellen erwähnt: im Rahmen einer kurzen Rezension der Tannhäuser-Ouvertüre, die darin aufgrund von „Mangel an innerem Gehalt“ als „geradehin unschön“21 bezeichnet wird sowie innerhalb einer Fußnote seines Aufsatzes zur „Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper“. Darin stellte er den Komponisten zwar als beachtenswerten „jüngeren Tonsetzer der Gegenwart“22 vor, sprach seinem Werk jedoch einen direkt auf den Zuhörer einwirkenden Einfluss aufgrund des zu hohen reflexiven Anteils darin ab. An dieses Urteil knüpfte Brendel auch im hier abgedruckten Artikel an, betonte aber, dass Wagners späteres Schaffen mit Tannhäuser und Lohengrin gegenüber den frühen Opern Rienzi und Der fliegende Holländer wesentliche Veränderungen erfahren und Wagner nun den neuen Standpunkt errungen habe, „von welchem aus die Oper einzig und allein noch eine Zukunft haben kann“23. Mit diesem öffentlichen und dezidierten Bekenntnis für Wagner, dem Besprechen seiner Werke und seiner Schriften leistet der vorliegende Artikel auch den später immer wieder gemachten Vorwürfen bereits implizit Vorschub, Wagners kunsttheoretische Schriften trotz des offenkundigen Anachronismus als theoretische Folie seiner Kompositionen zu betrachten, um vermeintliche Missstände im damaligen Musikleben aufzudecken.24 Brendels hier bekundete Begeisterung für Wagner führte schließlich dazu, dass er im Neujahrsartikel 1852 die NZfM offiziell zum Organ der Fortschrittspartei erhob, indem er statuierte, dass diese „Blätter […] fortan die Aufgabe [haben], die Umgestaltung, welche der Kunst bevorsteht, nach allen Seiten hin entschieden zu vertreten.“25 Diese Wende vollzog sich nur scheinbar plötzlich und das Bekenntnis Brendels, das hier noch durch die bewundernden Worte Adolf Stahrs gestützt wird, ist nicht von der schmeichelnden Intention des Herausgebers freizusprechen, Wagner als Mitarbeiter der NZfM zu gewinnen, denn mangelndes Vertrauen des Komponisten gegenüber Brendel zeigte sich bereits im Zusammenhang der Veröffentlichung von „Das Judenthum in der Musik“.26 Wenn Wagner sich Ende des Jahres 1851 auch durch Uhlig dazu bewegen ließ, zwei Beiträge27 für die NZfM zu verfassen, erscheint der vorliegende Artikel ebenso im Licht des Vermittlungsversuchs Brendels, den von ihm zum Vertreter erkorenen der neuen Richtung seiner Zeitschrift positiv zu stimmen. Ein Brief Wagners an Uhlig zwei Monate vor Erscheinen des vorliegenden Artikels zeigt diese offenbare Notwendigkeit, wenn Brendel darin als „vollkommene[r] Schwachkopf und Hosenscheißer“ bezeichnet wird; ebenso wenig wollte Wagner „diese lächerliche Zeitschrift“ „als Parteiblatt für mich [Wagner] und meine Richtung […] angesehen wissen“.28
F. W. M. 1845 Tannhäuser, S. 159. 21 Siehe Brendel 1846 Leipziger Musikleben, S. 72. Brendel 1846 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper III. Zukunft, S. 59, in: NdS 1 Nr. 4, S. 51, origin. Anm. 1. 23 Siehe Brendel 1851 Einige Worte über Wagner, S. 265, in: NdS 1 Nr. 25, S. 254. 24 Siehe den Artikel sowie den Kommentar zu Schaeffer 1852 Über Richard Wagner’s Lohengrin, in: NdS 1 Nr. 31. 25 Siehe Brendel 1852 Zum neuen Jahr, S. 4, in: NdS 1 Nr. 27, S. 281. 26 Wagner 1850 Das Judenthum; vgl. dazu Deaville 1986 Franz Brendel – ein Neudeutscher. 27 Wagner 1852 Ein Brief an den Redacteur sowie Wagner 1852 Ein Brief an Franz Liszt. 28 Beide Stellen aus einem Brief von Wagner an Uhlig vom 19. April 1851, zit. nach: Deaville 1986 Franz Brendel – ein Neudeutscher, S. 38. 20 Siehe 22 Siehe
Nr. 26 | Anonym [August Ferdinand Riccius], „Musikalischer Dilettantismus“, in: Die Grenzboten 10 (1851), 4. Quartal, [Nr. 47], S. 298 – 303.
Musikalischer Dilettantismus.
Der Dilettantismus hat die üble Nebenbedeutung, welche man jetzt damit verknüpft, nicht ursprünglich gehabt.1 An sich kann die Kunst nur dadurch gewinnen, wenn das Interesse, das man an ihr nimmt, und das Studium, das man ihr widmet, sich so weit als möglich ausdehnt, wie unvollkommen und mangelhaft auch das Resultat dieser Studien sein mag. Allein schädlich wird der Dilettantismus, wenn er über seine Grenzen hinausgeht, sich den Anschein eines Verständnisses giebt, das er nicht haben kann, und das öffentliche Urtheil verwirrt. In keiner Kunst ist dieser Dilettantismus so weit getrieben, als in der Musik. Seitdem Heinse und Hoffmann ihre dithyrambischen2 Phantasien über verschiedene Musikstücke in die Welt geschickt haben,3 glaubt sich jeder Mann von Geist und Bildung berufen und berechtigt, durch eigenthümliche Ansichten über Musik dem Publicum zu imponiren, gleichviel ob er im Stande ist, einen Ton von dem andern zu unterscheiden. So lange sich dieses Urtheil darauf beschränkt, ein Wohlgefallen oder Mißfallen an hervortretenden Melodien auszusprechen, oder sich über [299] die Uebereinstimmung des musikalischen Ausdrucks mit dem Text zu erklären, ist dieses Urtheil vollkommen berechtigt, denn es ist auch ein wesentliches Moment, durch welches das technische Urtheil ergänzt wird. Aber dabei bleibt es in der Regel nicht stehen. Wenn man gefunden hat, daß der musikalische Ausdruck ungefähr den Worten des Liedes oder der Action in der
1 Der Begriff des Dilettanten, synonym zu dem des Liebhabers, ist seit dem 17. Jahrhundert in musikalischem Zusammenhang belegt und meinte zunächst wertneutral den nicht-professionellen Umgang mit Musik. Im Zuge der Entwicklung des öffentlichen Konzertlebens wurden im Musikschrifttum um die Mitte des 18. Jahrhunderts Dilettant und Kenner zur Schematisierung des Publikums einander gegenübergestellt. Dabei gewinnt der Kenner sein Urteil rational und objektorientiert, während der Dilettant subjektzentriert aus dem Gefühl heraus urteilt. Die pejorative Besetzung des Begriffs ist ab Ende des 18. Jahrhunderts zu beobachten und geht auf den negativen Dilettantismusbegriff der Weimarer Klassik zurück, der eine Reaktion auf die Dichotomisierung von Kunst- und Unterhaltungsliteratur war. Vgl. auch Johann Wolfgang von Goethe, „Über den Dilettantismus“, in: Goethe-Werke 18, S. 739 – 786, hier: S. 756: „Wenn es [die Hervorbringung von Musik] autodidaktisch geschieht und nicht unter der strengen Anleitung eines Meisters, wie die Applikatur selbst, erlernt wird, so entsteht ein ängstliches immer ungewisses unbefriedigtes Streben, da der Musikdilettant nicht wie der in andern Künsten, ohne Kunstregeln Effekte hervorbringen kann.“ 2 Überschwänglich. 3 Der Autor spielt hier auf das musikschriftstellerische Wirken von Johann Jakob Heinse (1746 –1803) und E. T. A. Hoffmann (1776 –1822) an. Siehe z. B. Heinse Hildegard von Hohenthal (ED 1795/1796) und Musikalische Dialogen (ED 1805) sowie Hoffmann Fantasiestücke in Callot’s Manier (ED 1814/1815).
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Oper angemessen ist, und wenn man noch dazu dem Text selbst seinen Beifall schenken kann, so glaubt man damit ein vollständiges Urtheil über die Musik ausgesprochen zu haben, wozu denn doch noch sehr viel fehlt. Schwieriger ist es schon mit der reinen Orchestermusik, die gerade in Deutschland sehr ausgebildet und in gewissem Sinn fashionabler4 ist, als die Oper. Hier läßt man sich bei den Tönen eines Meisters, dessen musikalischer Werth bereits hinlänglich constatirt ist, allerlei einfallen, und glaubt durch die Combination dieser Einfälle eine vollständige Ueber setzung der Musik in Poesie vollzogen zu haben. So wunderlich es mitunter auch aussieht, wenn man Beethoven bei irgend einer beliebigen Symphonie einen Gedanken- oder Vorstellungskreis unterschiebt, welcher der Musik vollkommen fern liegt, so ist es doch so lange ein unschuldiges Spiel, als es sich innerhalb der Grenzen des reinen Dilettantismus bewegt. Aber ganz, wie es mit der Kannegießerei in politischen Dingen5 der Fall ist, üben diese Einfälle, wenn sie mit einer gewissen Ueberzeugung auftreten, ihre Einwirkung zuerst auf das Publicum, dann auf die handelnden Acteurs. Die Staatsmänner fangen an, mit den Zeitungen um die Wette zu kannegießern, und die Componisten und ausübenden Musiker fühlen sich berufen, in schöngeistigem Dilettantismus ihre Kritiker zu überbieten. Das ist in unsren Tagen mehr als je der Fall, und wir haben bereits bei einem sehr begabten Tonkünstler, bei Richard Wagner, den Versuch gemacht, diesen kunstphilosophischen Dilettantismus zurückzuweisen.6 Wagner steht aber nicht allein. Er hat eine ziemlich ausgebreitete Schule gewonnen, die für seine Doctrinen Propaganda macht, und was ihr an Geist fehlt, durch derbe und kräftige Schlagworte zu ersetzen sucht. Der Sammelplatz dieser Schule ist die hier erscheinende „Neue Zeitschrift für Musik“, und der Redacteur derselben, Herr Franz Brendel7, hat in der, so eben erschienenen „Geschichte der Musik“8 uns ein so vollständiges Bild von dem phrasenhaften Dilettantismus gegeben, der in dieser Schule überhaupt Sitte ist, daß wir in diesem Sinn die Musiker darauf aufmerksam machen müssen. Eine im „Literarischen Centralblatt“ erschienene Kritik dieses Buches erleichtert uns die Mühe.9 Es wird in derselben nachgewiesen, daß an eine historische Forschung nicht zu denken ist, weil die Kenntniß des Verfassers sich nicht einmal auf den bekannten und allgemein zugänglichen Kreis von Musikalien ausdehnt, und eben so wenig an eine geschickte und brauchbare Compilation, weil die musikalische und allgemeine Bildung des Verfassers nicht so weit reicht, um die benutzten Hilfs-
4 Modisch-elegant.
5 „Kannegießerei“ meint das leere Geschwätz über Politik und geht auf die Figur eines ohne Sachverstand politisierenden Zinngießers aus dem Lustspiel Den politiske kandestøber (Der politische Kanngießer, UA 1722) des dänischen Dichters und Historikers Ludvig Holberg (1684 –1754) zurück. 6 Riccius 1851 Richard Wagner. August Ferdinand Riccius gibt in seinem Artikel einen Überblick über Wagners bisheriges Schaffen, wobei er den kunsttheoretischen Schriften ablehnend gegenübersteht. 7 Franz Brendel war kein ausgebildeter Musiker, er hat in Leipzig und Berlin Philosophie studiert. 8 Brendel 1852 Geschichte der Musik. Das Werk erschien vermutlich schon vor 1852. Brendels Vorwort ist auf den 1. Oktober 1851 datiert. Die erste Rezension dazu erschien am 8. November 1851 im Literarischen Centralblatt (Anonym 1851 Tonkunst). 9 Der Autor der Rezension wirft Brendel Unkenntnis und Dilettantismus vor und spricht dem Buch formal wie inhaltlich jeglichen Wert ab (ebd.).
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mittel zu verstehen. Es ist zu dieser Recension eigentlich nichts [300] hinzuzufügen, als einzelne Beispiele für jeden Satz. Aber hier ist die Auswahl sehr schwierig, denn das Buch besteht aus 546 eng gedruckten Seiten, und abgesehen von den biographischen Notizen, die nichts Neues enthalten, und die auch keinen sehr großen Raum einnehmen, könnte man fast von jeder Seite behaupten, daß sich jener hohle Dilettantismus in ihr wiederfinden läßt, der alles Mögliche sagt, nur nicht das, was zur Sache gehört, und der daher nur durch einen Zufall verhindert werden kann, in handgreifliche Ungereimtheiten zu verfallen. Solche Ungereimtheiten finden sich häufig genug, sowol in Beziehung auf das musikalische, als auf das literarische Ur theil, wie z. B. wenn der Verfasser den „demokratischen Beethoven“ in Beziehung auf seinen Inhalt mit Schiller vergleicht10 (S. 355), in Beziehung auf die künstlerische Form aber behauptet, er habe ihn weit übertroffen und sich bis zu Jean Paul aufgeschwungen; wenn er behauptet, Beethoven hätte einen Gegenstand wie Don Juan11 nicht componiren können, weil er von einem viel zu großen sittlichen Ernst durchdrungen gewesen sei, u. s. w.12 Aber diese Ungereimtheiten verschwinden gegen den traurigen Eindruck der Leere in diesen ewigen, geistreich sein sollenden Antithesen und Parallelen, an die wir schon durch hundert ähnliche Schriften gewöhnt sind, und die sich als das bequemste Mittel darbieten, mit Esprit und Pathos um sich zu werfen, ohne irgend eine Einsicht in die Sache; Parallelen wie etwa die, daß er in Mozart’s Wesen die Ironie, in Haydn’s Wesen die Laune, in Beethoven’s Wesen den Humor findet.13 Ganz ähnlich ist es mit den Auseinandersetzungen über den Inhalt der C-moll-Symphonie14, S. 359I), oder mit dem Nachweis, daß Meyer-
I Er
findet die Gesammtstimmung derselben weicher, als die eroica15. „Es ist nicht die heroische Kraft u. s. w. Schon haben passive Seelenzustände Raum gewonnen, schon hat der Meister sich in sich zurückgezogen, jenen Inhalt, von welchem er früher als seinem eigenen erfüllt war, die Welt allgemeiner Stimmungen, als eine fremde aus sich ausscheidend, heraustretend aus der ungetheilten Einheit beider Seiten in die Entzweiung. Schon stellt sich uns das Selbst des Künstlers isolirt dar, nach Versöhnung ringend mit jener Welt allgemeiner Stimmung; schon ist der Bruch entschieden.“16 – Das klingt sehr vornehm, es ist aber nichts als leeres Gerede, das weder zur C-moll-Symphonie irgend eine Beziehung hat, noch an sich einen Sinn enthält; und gerade so verwaschen sind alle übrigen Charakteristiken. 10 Brendel
vergleicht in seiner 15. Vorlesung, in der er eine allgemeine Charakteristik zu Haydn, Mozart und Beethoven gibt, Haydn mit Wieland, Mozart mit Goethe und Beethoven mit Schiller. Dabei bezeichnet er Beethoven nicht direkt als demokratisch, sieht ihn aber als den Komponisten „der neuen Ideen von Freiheit und Gleichheit, Emancipation der Völker, Stände und Individuen“ (Brendel 1852 Geschichte der Musik, S. 355). 11 Der Don-Juan-Stoff – vergleichbar mit dem des Faust – ist ein alter literarischer Gegenstand, der neben Bearbeitungen für das Theater u. a. durch Molière und Carlo Goldoni insbesondere durch Wolfgang Amadeus Mozarts Oper Don Giovanni (UA 1797), nach einem Libretto Lorenzo da Pontes, Berühmtheit erlangte. 12 Brendel 1852 Geschichte der Musik, S. 356 f. 13 Ebd., S. 353. 14 Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr. 5 c-Moll op. 67 (UA 1808). 15 Beethoven, Symphonie Nr. 3 Eroica Es-Dur op. 55 (ED 1806). 16 Brendel 1852 Geschichte der Musik, S. 359.
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beer’s Musik entschieden unsittlich und verabscheuungswürdig sei, Seite 469II). Es kommt hier gar nicht darauf an, ob in einzelnen Fällen das Urtheil ein richtiges ist, denn es ist das immer ein Zufall; die Begründung ist immer eine falsche, denn sie wird nicht aus dem Wesen der Musik, sondern aus [301] anderen Gesichtspunkten hergeleitet, die auf das musikalische Urtheil gar keinen Einfluß haben können, die aber für den Dilettanten das einzige Mittel sind, sich auszudrücken. Der Dilettant pflegt es als eine gleichgiltige Sache zu betrachten, daß er den Ton, oder das Intervall, oder den Accord, oder die Form der Stimmführung, die gerade im Augenblick vorliegt, nicht mit Namen bezeichnen kann, aber das ist nicht blos ein Mangel im Ausdruck, sondern zugleich ein Mangel im Verständniß. Aehnlich sagt man zuweilen, daß man die herrlichsten Gedanken von der Welt habe, sie aber nur nicht auszudrücken wisse, während doch der Gedanke erst durch die Sprache zum Gedanken wird. Die Worte und Bezeichnungen sind das Allgemeine, durch welche die einzelne Erscheinung ihren geistigen Inhalt erhält. Erst wenn man die musikalische Sprache spricht, wozu freilich nöthig ist, daß man sie gelernt hat, ist man auch im Stande, sie zu verstehen, d. h. aus der zufälligen einzelnen Empfindung sich zu einem bewußten und motivirten Urtheil zu erheben. Es kommt noch hinzu, daß zum Urtheil über den historischen Werth eines musikalischen Kunstwerks eine vollständige Einsicht in die Mittel, über welche die Kunst zu disponiren hat, und in die Formen, welche die bisherige Entwickelung der Musik dem Künstler suppeditirt18, nothwendig ist. Auch eine solche Kenntniß ist nicht möglich, wenn man nicht im Stande ist, für die einzelne sinnliche Anschauung den entsprechenden allgemeinen Ausdruck zu finden, also von einem Ton, einem Accord etc., den man hört, zu sagen, er heißt so und so, und von einem Ton, Accord, etc. den man liest, zu wissen, er klingt so und so. Am unangemessensten erscheint jenes Verwischen des bestimmten musikalischen Urtheils in ein allgemeines ästhetisches Gerede in einer Zeitschrift, die ausschließlich für Musiker bestimmt ist, und am unangemessensten, wenn sich Musiker dazu hergeben. An der Neuen Zeitschrift für Musik arbeiten wirkliche Musiker mit, aber sie reden nicht anders, als Herr Brendel. Einer derselben hat auf unsren Artikel über Wagner eine Entgegnung geschrieben, die nach der beliebten Gewohnheit dieser
II Die
Unsittlichkeit findet er unter andern in der Aufnahme des Luther’schen Chorals. Gegen diese Aufnahme hat er „nicht das Geringste einzuwenden, wenn sie in einem wahrhaften Kunstwerk geschieht“17; in der Umgebung aber, in die ihn Meyerbeer gestellt hat, hält er es entschieden für eine Profanation. – Wenn er statt dieser Entschiedenheit lieber die Gründe auseinandergesetzt hätte, warum die Umgebung eine unsittliche ist, und wie ein wahres Kunstwerk beschaffen sein muß, um das Recht zu haben, den Luther’schen Choral aufzunehmen, so hätte er seine Sache besser gefördert. Daß die Frömmigkeit und die Frivolität Gegensätze sind, die geschickt behandelt einen poetischen Contrast darstellen, wird er doch wohl nicht bezweifeln. 17 Ebd.,
S. 469.
18 Unterstützen.
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Schule vorzugsweise mit den Kategorien der Sittlichkeit und Unsittlichkeit operirt.19 Unser Aufsatz wird der Unsittlichkeit beschuldigt, theils weil wir den „ersten Meister der Jetztzeit“ mit nüchternen Worten besprechen, anstatt ihn anzubeten, theils weil wir ihn, den so vielfach Verfolgten, vor den Regierungen als einen Demokraten, vor den Juden als einen Judenfeind denunciren20. Was den ersten Vorwurf betrifft, so ist es weder bei den Grenzboten, noch bei dem musikalischen Referenten derselben Sitte, sich in jenen überschwänglichen Ausdrücken zu ergehen, an die unsre Künstler durch die kleinen Klatschblätter gewöhnt sind; dafür glauben wir, daß ein, wenn auch in einfachen Worten ausgesprochenes, und selbst ein bedingtes Lob bei uns ernster genommen wird, als die ersterbende Devotion, mit der man unsren großen Männern anderwärts entgegenkommt. Wenn man ferner dem musikalischen Referenten Principlosigkeit vor-[302]wirft, weil er verschiedene Componisten anerkennt21, von denen doch jeder seine eigene Schule hat, die nach Herzenslust die Nebenbuhler ihres Meisters verketzert, so muß er darauf erwidern, daß es gerade sein Stolz ist, keiner von diesen Cliquen22 anzugehören, sondern das Schöne hervorzuheben und das Verkehrte anzugreifen, wo er es findet. Was den zweiten Vorwurf betrifft, so haben wir das Gegentheil von dem gethan, dessen wir beschuldigt werden; wir haben Wagner nicht den Regierungen als Demokraten denuncirt, sondern wir haben ihn, der von seinen ungeschickten Anhängern in demokratischen Blättern als ein Opfer ihrer Sache ausgerufen wird, und der sich selbst einredet, die Principien Feuerbach’s auf die Musik zu übertragen23, als einen eingefleischten Aristokraten denuncirt.24 Aristokratisch ist seine Musik sowol darum, weil sie ganz wie die Meyerbeer’sche, mit der wir sie in dieser Beziehung in Parallele gestellt haben,25 zu ihrer Ausführung die Mittel einer Weltstadt erfordert, als auch darum, daß zu ihrem Verständniß eine tiefere musikalische Bildung gehört,
1851 Entgegnung. Hans von Bülow polemisiert in seinem Artikel vor allem gegen Riccius’ Vergleich zwischen Wagner und Meyerbeer und kommt zu dem Schluss, dass Riccius sowohl Wagners Schriften als auch dessen Opern nicht verstanden habe. 20 Wagners Schrift über „Das Juden thum in der Musik“ war im September 1850 unter dem Pseudonym K. Freigedank in der NZfM erschienen. Riccius hatte dieses Pseudonym als Erster offengelegt, indem er geschrieben hatte, „er [Wagner] würde die gehässige Polemik gegen seine ‚jüdischen‘ Collegen, Meyerbeer u. s. w. unterlassen haben, die in dem bekannten Aufsatz der ‚Neuen Zeitschrift für Musik‘ sich zu einem vollständigen Fanatismus steigert, und die mit der Gewalt einer Monomanie beständig bei ihm wiederkehrt“ (Riccius 1851 Richard Wagner, S. 405). 21 Bülow hatte Riccius vorgeworfen, dass er sowohl den ‚frivolen‘ Meyerbeer als auch den ‚gediegenen‘ Schumann anerkenne. 22 (Frz.) Rotte, Haufen, Spießgesellschaft. 23 Wagner hatte die erste Ausgabe seiner 1849 erschienen Schrift Die Kunst und die Revolution Ludwig Feuerbach gewidmet. Darin adaptierte Wagner Feuerbachs 1841 in Das Wesen des Christentums postulierte Religionskritik und forderte die Revolution der Gesellschaft durch die Kunst, nachdem er sie selbst zur Religion erhoben hatte. 24 Beginnend mit den Worten: „Eigentlich ist die künstlerische Richtung Wagners entschieden antidemokratisch“ (Riccius 1851 Richard Wagner, S. 402), stellt Riccius Wagners vermeintlich demokratische Orientierung anhand dessen künstlerischen Idealen bloß. 25 Bei Riccius heißt es u. a.: „Zur Erreichung des Zweckes bedienen sich Beide derselben künstlerischen Mittel. Wirft man Meyerbeer ein übertriebenes Raffinement vor, redet man […] von der Bestechung des Publicums durch Tanz und Scenerie, so darf dieser Vorwurf dem Ersteren auch nicht erlassen werden, um so weniger, da seine reformatorischen Tendenzen ihn davon abhalten sollten“ (Riccius 1851 Richard Wagner, S. 420). 19 Bülow
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weil er entweder aus Absicht, oder aus einem Mangel an Fähigkeit es verschmäht, durch Melodien und dergleichen, welche ins Ohr fallen und das einzige Mittel sind, die Musik mit der Demokratie, d. h. mit der Masse, zu vermitteln, das Publicum mit sich fortzureißen. Wir sind im Gegentheil als Vertreter der gemäßigten Demokratie gegen den aristokratischen Hochmuth der musikalischen Priesterschaft aufgetreten, und haben eine gewisse Berücksichtigung des größern Publicums als ein Recht dem Künstler gegenüber in Anspruch genommen, weil die Musik nach unsrer Ueberzeugung nicht blos für die Musiker ist. Wir haben nachgewiesen, daß seine Theorie und die demokratisirenden Phrasen derselben mit seiner Praxis in einem schreienden Widerspruch stehen, und zwar zum Heil der letztern, denn die Theorie ist absurd. Wenn man uns zumuthet, daß wir begreifen sollen, was die neue Tanzkunst, die der heutigen Tanzkunst entgegengesetzt sein soll, und was die neue Malerei, die nicht auf „bepinselte Leinwand“ herauskommt, eigentlich heißen soll, so können wir uns dieser Zumuthung nicht unterziehen, eben so wenig, als wir begreifen, was Feuerbachs Wesen des Christenthums26 mit der Musik zu thun hat, da die heftigen Angriffe desselben gegen den bestehenden Glauben unsres Wissens den Generalbaß noch nicht erschüttert haben; oder daß die Mitwirkung der Tanzkunst zum vollendeten Kunstwerk erforderlich sei, da wir Don Juan, Fidelio27, Figaro28, den Barbier 29 etc. für vollkommen befriedigende Kunstwerke halten, obgleich in denselben kein Ballet vorkommt; so wie wir es beiläufig für kein großes Unglück halten, wenn in einer Hauptstadt, die einmal ein ausgebildetes Ballet besitzt, auch die Oper dasselbe zu verwerthen sucht. Wir würden z. B., wenn im Uebrigen im Propheten30 oder in den Hugenotten31 eine solide Musik wäre, uns durch die eingestreuten Ballette nicht stören lassen; wir würden höchstens unsre kleinen Theater auffordern, uns mit dergleichen Sprüngen zu verschonen. Was Wagner in der Kunst [303] geleistet hat, haben wir gern anerkannt; wir haben aber behauptet, daß diese guten Leistungen nicht einer neuen unerhörten Kunstform, sondern der alten Kunst der Musik angehören, die sich wahrlich ihrer früheren Meister vor den neueren nicht zu schämen hat. Wenn man uns wegen dieser conservativen Gesinnung der „Bourgeoishaftigkeit“32 beschuldigt, so können wir uns das trotz unsrer grammatischen Bedenken gegen diesen Ausdruck wohl gefallen lassen, denn er sagt doch nichts Anderes, als das Gegentheil von Pöbelhaftigkeit. Wenn man uns aber von der Zukunft einer demokratischen Musik vorspricht, so müssen wir dagegen behaupten, daß eine solche bereits besteht: man kann sie in den Opern von Flotow 33 und in den Melodien finden, die von unsren Drehorgeln und von unsren Harfenmädchen gespielt werden. Um mit einem halb scherzhaften Umstand zu schließen: Wir haben Herrn Wagner auch nicht der Judenfeindschaft bezüchtigt; wir haben im Gegentheil die Juden-
1841 Das Wesen des Christenthums. 27 Beethoven, Fidelio (UA 1805). 28 Mozart, Le nozze di Figaro (Die Hochzeit des Figaro, UA 1786). 29 Gioachino Rossini, Il barbiere di Siviglia (Der Barbier von Sevilla, UA 1816). 30 Giacomo Meyerbeer, Le Prophète (UA 1849). 31 Meyerbeer, Les Huguenots (UA 1836). 32 Bülow 1851 Entgegnung, S. 154. 33 Friedrich von Flotow (1812 –1883), ist als Komponist zahlreicher Bühnenwerke nach dem Vorbild der Opéra comique bekannt. Besonderen Ruhm erlangte er mit den Opern Alessandro Stradella (UA 1844) und Martha (UA 1847). 26 Feuerbach
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feindschaft, die sich anscheinend in seinen Schriften ausspricht, dadurch zu erklären gesucht, daß sein Haß nicht den wirklichen Juden gilt, sondern einem imaginairen Gedankending, dem bösen Geist des Zeitalters, den er bald mit dem Ausdruck Judenthum, bald mit dem Ausdruck Bourgeoisie bezeichnet. Da der musikalische Referent der Grenzboten des letztern Verbrechens eingeständig ist, so muß er auch die Anklage des verkappten Judenthums geduldig über sich ergehen lassen, da er ohnehin auf seinen germanisch-christlichen Stammbaum kein großes Gewicht legt.
Kommentar Der Artikel ist Teil einer 1851 beginnenden Debatte zwischen den Grenzboten, vertreten durch deren Musikreferenten August Ferdinand Riccius, und der NZfM. Auslöser dieser Auseinandersetzung war eine umfangreiche Kritik von Riccius, in welcher dieser die politische Orientierung Wagners sowie dessen kunsttheoretische Schriften verurteilt, die Kompositionen hingegen, trotz zu ‚reflektierten‘ Komponierens, prinzipiell positiv bewertet hatte.34 Es folgte eine polemische Entgegnung Hans von Bülows in der NZfM, in welcher Bülow Riccius das Verständnis der Wagner’schen Werke, auch aufgrund dessen Vergleichs mit Giacomo Meyerbeer, absprach.35 Darüber hinaus ist der vorliegende Artikel Teil der sich seit Anfang des Jahres 1850 entwickelnden Auseinandersetzung um Wagners „Judenthum in der Musik“, welcher eine von Theodor Uhlig ausgelöste Besprechung36 gegen Meyerbeers Oper Le Prophète unmittelbar vorausgegangen war.37 Nachdem Riccius die Identität Wagners offengelegt hatte, schlug diese Debatte eine neue Richtung ein: Das zuvor von Uhlig und Krüger in der NZfM dem ‚Jüdischen‘ angelastete Unvermögen in der Kunst richtete sich seit Riccius’ Enthüllung – nun ohne die Notwendigkeit eines rassischen Überbaus – gegen die NZfM und deren mangelnde fachliche Kompetenz und der daraus resultierenden Art ihrer Musikkritik. Insbesondere geriet Brendel als der Herausgeber der Zeitschrift in den Fokus, der sich in diesem Disput zunächst zurückhaltend verhalten hatte, schlussendlich jedoch mit Überzeugung die volle Verantwortung dafür übernahm.38
Riccius 1851 Richard Wagner. 35 Siehe Bülow 1851 Entgegnung. 36 Siehe Uhlig 1850 Der Prophet von Meyerbeer sowie Uhlig 1850 Noch einmal der Prophet von Meyerbeer. 37 Infolge der Neuauflage von Wagners antisemitischem Pamphlet (Wagner 1869 Das Judenthum) entbrannte erneut ein Disput, der ungleich heftiger geführt wurde und in seiner Wirkung weitaus folgenreicher war (vgl. Fischer 2000 Richard Wagners Das Judentum, S. 102 –120). 38 Brendel äußerte sich dazu u. a. wie folgt: „Von einer Gesinnung, ähnlich der, aus welcher die Judenverfolgungen hervorgegangen sind, ist demnach in dem besprochenen Aufsatz [Wagner 1850 Das Judenthum] nicht die Rede. […] In der Anmerkung zu Krüger’s Aufsatz in der Nr. 27 bezeichnete ich Freigedank’s Ansichten als extrem. Bis hierher aber stimmte ich in den Grundgedanken, in der Hauptsache, ganz mit ihm überein“ (Brendel 1851 Das Judenthum in der Musik, S. 6). 34 Siehe
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In der hier abgedruckten, wiederum auf Bülows Entgegnung reagierenden Antwort Riccius’, kompromittierte dieser die NZfM als eine Verkörperung des musikalischen Dilettantismus – ein Vorwurf, den er einerseits auf Brendel und seine jüngst erschienene Geschichte der Musik39 und andererseits auf Wagner und seine Anhänger bezog. Brendel parierte diesen Angriff und schlug gleichzeitig neue Töne an, indem er den Leser zu Beginn seines mit „Polemisches“ überschriebenen Artikels davon in Kenntnis setzte, dass „es […] darum zu Zeiten nothwendig“ werde, „ein wenig dreinzuschlagen.“40 Es ist einerseits die Manifestierung musikkritischer Polemik sowie andererseits das erneute Changieren des Gegenstandes innerhalb der gegenseitigen Anfeindungen, der nach Politik und Antisemitismus nun die jeweils persönlichen Fähigkeiten einzelner Autoren als Mittel zum Zweck in den Mittelpunkt rückte, wobei Brendel – als einer der Wortführer – seine Stigmatisierung als musikalischem Dilettanten fortan anhaftete. Die Relevanz für diese ‚Nebenschauplätze‘ der Musikkritik dieser Zeit zeigt sich u. a. darin, dass Brendels heftige Reaktion kaum auf Riccius’ positive Besprechung der Kompositionen Wagners zurückzuführen ist. Vielmehr scheint der wiederholte Vergleich von Wagners Musik mit derjenigen Meyerbeers ausschlaggebend für seine Polemik gewesen zu sein, war es doch gerade Meyerbeer, an dessen Schaffen sich die antijüdischen Angriffe Uhligs, Krügers und Wagners einst entzündet hatten.
39 Brendel 1852 Geschichte der Musik, siehe vorliegender Artikel, Anm. 8. Polemisches, S. 253.
40 Brendel
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Die Konsolidierung der ‚Fortschrittspartei‘ Die Jahre 1852 bis 1853
In den Jahren 1852 und 1853 verband sich in einer breiten Öffentlichkeit die Vorstellung von einer musikalischen Fortschrittspartei mehr und mehr mit konkreten Namen, Institutionen und Zielen, während Weimar zum Zentrum der musikalischen Avantgarde avancierte. Die prägenden Ereignisse musikpublizistischer Art waren Franz Brendels Parteinahme für Richard Wagner und die Debatten um dessen Schrift Oper und Drama. Musikalische Marksteine bildeten Franz Liszts Wirken in Weimar, insbesondere seine Aufführungen der Werke Hector Berlioz’ und Wagners, sowie das von ihm geleitete Ballenstedter Musikfest.
Die NZfM wird Parteiorgan Mit Beginn des Jahres 1852 änderte sich die Situation insofern, als Brendel in der Neujahrsausgabe der NZfM verkündete, dass die Zeitschrift von nun an eindeutig Partei ergreifen werde.1 Zwar war der Herausgeber der NZfM bereits Mitte 1851 zum ersten Mal öffentlich für Wagner eingetreten2, aber hatte sich sonst, etwa im Vergleich zu seinem Mitarbeiter Theodor Uhlig, relativ bedeckt gehalten bzw. die Aufgabe seiner Zeitschrift in einer neutralen Berichterstattung gesehen. Brendel selbst gab an, dass insbesondere die Bekanntschaft mit Wagners Schriften die Änderung seines Standpunktes ausgelöst habe.3 So war es auch kein Zufall, dass nur einen Monat nach diesem Bekenntnis Brendels Wagner selbst erstmals wieder mit einem Artikel in der NZfM in Erscheinung trat.4 Daneben begann sich das Augen-
1852 Zum neuen Jahr, S. 2, in: NdS 1 Nr. 27, S. 277: „Die Zeit fordert jetzt eine bestimmtere Haltung auch von einer musikalischen Zeitung, eine bestimmte Parteinahme. Mir ist diese Forderung keine äußerliche Nöthigung, sie ist das von mir innerlich längst Ersehnte. Ich entschließe mich zu diesem Schritte, da sich der Kreis gleichgesinnter Freunde mehrt.“ 2 Brendel 1851 Einige Worte über Wagner, in: NdS 1 Nr. 25. 3 Brendel 1852 Zum neuen Jahr, S. 2, in: NdS 1 Nr. 27, S. 278: „Was mich selbst betrifft, so war für mich das Auftreten R. Wagner’s von entscheidendem Einfluß. Ich fand hier eine Uebereinstimmung, wie ich sie kaum erwartet hatte, ich fand mit Entschiedenheit ausgesprochen, wonach ich selbst gestrebt […].“ 4 Wagner 1852 Ein Brief an den Redacteur, in: NdS 1 Nr. 29 sowie Wagner 1852 Ein Brief an Franz Liszt. Die beiden Briefe übersandte Wagner im Dezember 1851 an Brendel und gingen dem Neujahrsartikel Brendels somit eindeutig voraus. Sie stellten keineswegs eine Reaktion auf letzteren als vielmehr ein Exempel für Brendels Kalkül dar. Wagner hatte bereits in der Redaktionszeit Robert Schumanns an der NZfM mitgearbeitet, aber unter Brendels Herausgeberschaft bis dahin lediglich unter dem Pseudonym „K. Freigedank“ seine Abhandlung „Das Judenthum in der Musik“ veröffentlicht (Wagner 1850 Das Judenthum). Vgl. hierzu auch die Einleitung zum Kapitel „Die Jahre 1850 bis 1851“, S. 199–206. 1 Brendel
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Einleitung
merk der Leipziger Zeitschrift im Jahr 1852 verstärkt auf Liszts Wirken in Weimar zu richten.5 ‚Opfer‘ dieses Transformationsprozesses der unter Brendel geführten Zeitschrift waren einige noch aus der Schumann-Ära stammende Mitarbeiter, wie etwa August Ferdinand Riccius und Eduard Krüger. Letzterer hatte sich in der NZfM gegen die „in unsre Fehden [eingedrungene,] so persönliche Engherzigkeit“6 und zunehmende Parteinahme des Blattes für Wagner durch Uhlig ausgesprochen7 und verließ Ende 1853 endgültig die Redaktion. Er bezog später in der Niederrheinischen Musik-Zeitung u. a. unter dem Pseudonym „DIXI.“ Stellung gegen die NZfM.8 Im Gegenzug trat 1852 Richard Pohl (1826 –1896), alias „Hoplit“ dem Kreis der NZfM bei,9 dessen zahlreiche Abhandlungen die Zeitschrift von nun an prägten. Die klare Positionierung der NZfM führte nicht zuletzt dazu, dass sich die Fronten zwischen den Musikzeitschriften verschiedener Ausrichtung zunehmend verhärteten. Seinen wohl größten Gegenspieler hatte Brendel weiterhin in Ludwig Bischoff, der den dritten Jahrgang seiner Rheinischen Musik-Zeitung mit einer erneuten Kampfansage gegen die NZfM begann.10 Im Juli 1853 gründete Bischoff die Niederrheinische Musik-Zeitung und Riccius übernahm die Redaktion der Rheinischen Musik-Zeitung. Weitere Antipoden waren außerdem die Leipziger Grenzboten, die ab 1853 den Musikgelehrten Otto Jahn als Redakteur gewannen.11 Die allmähliche Zuspitzung der Kontroverse zwischen den Zeitschriften offenbarten höchst polemische Artikel wie Pohls „Die Rheinische Musikzeitung in der Schulprüfung“12 oder Joachim Raffs „Vertrauliche Briefe an den Verfasser des Aufsatzes ‚Tannhäuser von Richard Wagner‘ in den ‚Grenzboten‘“13. Relativ neutral gaben sich hingegen weiterhin die Neue Berliner Musikzeitung sowie die 1852 ins Leben gerufene Süddeutsche Musik-Zeitung. Wichtige Beobachter zwischen den Lagern waren in dieser Zeit Persönlichkeiten wie Johann Christian Lobe, der sich – nach der Einstellung der AmZ, welcher er als Chefredakteur vorstand – keiner der großen Zeitschriftenredaktionen mehr anschloss, sondern nach seinen Musikalischen Briefen von 1852 in den Jahren 1853 bis 1857 seine eigenen Fliegenden Blätter veröffentlichte, um
5 Allein
Brendel verfasste im Jahr 1852 vier Artikel zu den musikalischen Ereignissen unter Liszts Ägide (Brendel 1852 Ein Ausflug, in: NdS 1 Nr. 28; Brendel 1852 Ein zweiter Ausflug; Brendel 1852 Das Musikfest zu Ballenstedt; Brendel 1852 Ein dritter Ausflug, in: NdS 1 Nr. 37). 6 Krüger 1852 Magna polemica, S. 31. 7 Siehe Krüger 1851 Zeitsinniges. Zur Reaktion Uhligs darauf, siehe Uhlig 1851 Bekenntnisse. 8 Siehe beispielsweise Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, in: NdS 1 Nr. 66; Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67. 9 Seine ersten Artikel waren: Pohl 1852 Akustische Briefe; Pohl 1852 Dresdner Musik III. 10 Bischoff 1852 An unsere Leser, S. 835, in: NdS 1 Nr. 32, S. 333: „[…] gegen alle solche Ausgeburten einer kranken, fieberhaft erregten Zeit die wirklichen Kunstfreunde zu wahren, ihnen den Genuss an schönen musikalischen Werken nicht verkümmern zu lassen, ihren Geschmack für die Kunst, nicht für das Erkünstelte, zu nähren, das gesunde Urtheil in Sachen der Tonkunst, welches in Gefühl, Wahrheit, Einfachheit und Natur wurzelt, zu schützen und zu pflegen – das sei unsere Aufgabe, für welche wir mit freudiger Zuversicht gegen jede Zunftgenossenschaft in die Schranken treten und die Lanze brechen werden.“ 11 Jahn 1853 Tannhäuser; Jahn 1853 Die Verdammniß des Faust; Anonym 1853 Hector Berlioz in Leipzig, in: NdS 1 Nr. 55. 12 Pohl 1853 Die Rheinische Musikzeitung in der Schulprüfung, in: NdS 1 Nr. 44. 13 Raff 1853 Vertrauliche Briefe, in: NdS 1 Nr. 45.
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darin seinen Anteil zur Diskussion beizutragen, ohne sich der einen oder anderen Seite anschließen zu müssen.
Die Auseinandersetzungen um Wagners Oper und Drama Ein zentraler Gegenstand in den Debatten der Jahre 1852/53 waren die Schriften Wagners, vor allem dessen Oper und Drama. Die Erstauflage erschien 1852 in Leipzig, wobei Ausschnitte bereits 1851 in der Deutschen Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben publiziert worden waren.14 Nach seinen Broschüren Die Kunst und die Revolution und Das Kunstwerk der Zukunft war Oper und Drama die dritte der großen Kunstschriften aus der Zeit des Züricher Exils, die eine recht zwiespältige Aufnahme erfuhr. Konnten die bisherigen Publikationen Wagners im Zweifelsfall als kleinere, durch aktuelle Anlässe motivierte Abhandlungen abgetan werden, so legte Wagner mit Oper und Drama eine umfassende Theorie vor, die eine Stellungnahme der Leser geradezu provozierte und zu einer deutlichen Spaltung in Befürworter und Gegner Wagners führte. Eine der frühesten Besprechungen von Oper und Drama war vermutlich diejenige von Uhlig in der NZfM, mit welcher er offensichtlich zur Popularisierung der Schrift Wagners beitragen wollte.15 Etwa zeitgleich veröffentlichten die Grenzboten eine Rezension16, über die sich Wagner kurz darauf in seinem „Brief an den Redacteur der Neuen Zeitschrift für Musik“ in polemischer Weise äußerte.17 Ebenfalls negativ wurde Oper und Drama im Literarischen Centralblatt18 und in der Berliner Musik-Zeitung Echo19 beurteilt, wohingegen etwa die Süddeutsche Musik-Zeitung 20 Wagners Schrift recht wohlwollend gegenüberstand. Auch im Ausland wurden Oper und Drama bereits unmittelbar nach dem Erscheinen erste Rezensionen gewidmet, genannt seien hier etwa die beiden kritischen Stellungnahmen innerhalb der umfangreichen Wagner-Artikel der französischen RGMP 21 und im amerikanischen Dwight’s Journal 22. Durch Brendels öffentliches Bekenntnis zu Wagner wurde Oper und Drama zeitweise als regelrechtes Programm der sogenannten Fortschrittspartei aufgefasst.23 Dabei schieden sich auch innerhalb des Kreises um Brendel und Liszt die Geister, inwieweit Wagners Theorien zuzustimmen sei. Offenkundig wurde dies erstmals vor allem mit Joachim Raffs Artikel „An die Redaction der Neuen Zeitschrift für Musik“ im Februar 1853, in welchem er darlegte, dass die Einzelkünste nicht restlos im „Gesamtkunstwerk“ aufgehen könnten.24 Brendel reagierte darauf eine Woche später mit seinem Aufsatz „Die bisherige Sonderkunst und das Kunstwerk der Zukunft“ und versuchte darin, zwischen den Positionen Wagners und Raffs zu ver-
1851 Ueber moderne dramatische Dichtkunst. 15 Uhlig 1852 Wagner’s Schriften V; Uhlig 1852 Wagner’s Schriften VI. 16 Anonym 1852 Das Verhältnis der Oper zum Drama. 17 Wagner 1852 Ein Brief an den Redacteur, in: NdS 1 Nr. 29. 18 Anonym 1852 Wagner Oper und Drama. 19 N. Z. t. 1852 Oper und Drama. 20 Anonym 1852 Drama und Operndichtung. 21 Fétis 1852 Richard Wagner. 22 Anonym 1852b Richard Wagner. 23 Siehe etwa Schaeffer 1852 Über Lohengrin von Richard Wagner, in: NdS 1 Nr. 31. 24 Siehe etwa Raff 1853a An die Redaction, in: NdS 1 Nr. 41. 14 Wagner
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mitteln.25 Obwohl sich Raff in anderen Artikeln zu dieser Zeit noch sehr positiv zu Wagner äußerte,26 deutete sich hier bereits eine Divergenz an, die in Raffs drittem Artikel des Jahres27 sowie vollends 1854 mit seinem Buch Die Wagnerfrage zutage trat. Dies führte letztlich zum Ausschluss Raffs aus dem Kreis der Weimarer Publizistik um Liszt und bewies der damaligen Öffentlichkeit, dass innerhalb der Gruppe der sogenannten Zukunftsmusiker durchaus inhaltliche Differenzen bestanden, die auch durch Brendels Schlichtungsversuche nicht vollends aufgehoben werden konnten.
Weimar als Zentrum des musikalischen Fortschritts Nachdem der Hofkapellmeister Hippolyte Chelard im April 1851 von seinem Dienst entbunden worden war, hatte Liszt die alleinige Leitung der Hofkapelle und -oper inne und daher in künstlerischer Hinsicht nun noch größere Freiheiten. Allerdings war sein Spielraum durch die äußeren Bedingungen im Hinblick auf die ungenügende personelle und finanzielle Ausstattung der Oper nach wie vor eingeschränkt. Am 14. Januar 1852 richtete Liszt deshalb eine Denkschrift zur Situation des Weimarer Theaters an die Großherzogin Maria Pawlowna, in der er eine Zwischenbilanz seiner ersten Jahre als Hofkapellmeister zog. Angesichts der aus Liszts Sicht miserablen Arbeitsbedingungen forderte er darin mehr finanzielle Unterstützung und eine Umverteilung der Mittel zugunsten der Oper. Maria Pawlowna hatte ihm daraufhin einen größeren Betrag zur Verfügung gestellt, doch grundlegende Verbesserungen waren damit nicht zu erreichen. Seine tiefe Enttäuschung angesichts dieser Situation drückte Liszt ein Jahr später in einem Rücktrittsgesuch an Carl Alexander vom 16. Februar 1853 aus, doch seine neuerlichen Forderungen für Hoftheater und Hofkapelle waren nicht realisierbar. Erst mit dem Tod von Großherzog Carl Friedrich am 8. Juli 1853 und dem Regierungsantritt seines Sohnes Carl Alexander am 28. August 1853 wurde eine vorsichtige Umschichtung zugunsten der musikalischen Sparte innerhalb des Theaters möglich. Allerdings sollte sie gleichzeitig der Beginn eines langjährigen Prioritätenstreits zwischen Oper und Schauspiel bzw. zwischen Liszt und dem Theaterdirektor Heinrich Marr sein, der 1852 als Nachfolger von Eduard Genast nach Weimar gekommen war. Vor diesem Hintergrund ist umso erstaunlicher, welch ambitionierte Projekte Liszt dennoch gerade zu dieser Zeit verwirklichte. Auch wenn sein Plan von der Gründung einer Goethe-Stiftung in Weimar vorerst gescheitert war,28 hielt Liszt weiterhin an seinem ehrgeizigen Vorhaben fest, an die Ära Goethe und Schiller anzuknüpfen und Weimar als Zentrum der zeitgenössischen Musik zu einer neuen Blüte zu führen. So leitete Liszt beispielswiese in den Jahren 1852/53 am Weimarer
25 Siehe Brendel 1853 Die bisherige Sonderkunst, in: NdS 1 Nr. 42. 26 Siehe etwa Raff 1853 Vertrauliche Briefe, in: NdS 1 Nr. 45. 27 Raff 1853b An die Redaction. 28 Vgl. Einleitung zum Kapitel „Die Jahre 1850 bis 1851“, S. 199–206.
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Hoftheater nicht weniger als acht Opern-Erstaufführungen.29 Im Mittelpunkt seines Wirkens als „Kapellmeister in außerordentlichen Diensten“ standen jedoch weiterhin eindeutig die Opern Wagners sowie ab 1852 verstärkt die Werke von Berlioz, die für Liszt den Inbegriff des musikalischen Fortschritts darstellten. In diesen Kompositionen sah er ebenso wie in Beethovens 9. Symphonie oder auch in Schumanns Faust-Szenen das verwirklicht, was sich in seinem eigenen Schaffen zu diesem Zeitpunkt noch zu keinem klaren Konzept entwickelt hatte: Dichtung und Musik waren hier eine Verbindung ganz neuer Qualität eingegangen. Wenn sich Liszt nicht am Theater engagierte – ab März 1853 blieb er ihm beispielsweise acht Monate ganz fern –, widmete er sich der Arbeit an seinen Kompositionen und Schriften, wobei erstere zu dieser Zeit in den Musikzeitschriften noch nicht registriert wurden. Wahrgenommen wurde hingegen die zunehmend große Schar von Schülern, die Liszt in der Weimarer Altenburg um sich scharte: Nach Joachim Raff (seit 1850) und Hans von Bülow (seit 1851) zählte ab 1852 auch Peter Cornelius (1824 –1874) dazu, die allesamt nicht nur bei Liszt studierten, sondern auch musikpublizistisch in verschiedenen Journalen für dessen Ideen eintraten.30
Liszts Programmpolitik – die „neudeutsche Schule“ avant la lettre Da sich Liszts Hoffnung, Wagners Ring-Projekt für Weimar zu gewinnen, aufgrund der politischen Vergangenheit des im Exil lebenden Kollegen langfristig als unrealistisch erwiesen hatte, kam der Präsenz von Berlioz für die Präsentation des Kunstideals eines ‚Neuen Weimar‘ umso mehr Bedeutung zu. Schon als Pianist hatte Liszt sich für Berlioz, mit dem ihn seit 1830 eine enge Freundschaft verband, eingesetzt, etwa durch seine Klaviertranskriptionen der Symphonie fantastique und des Harold en Italie oder durch Mitwirkung an Konzerten unter Berlioz’ Leitung. Während der Weimarer Jahre wurde Liszt nun als Dirigent und Organisator für den Freund aktiv und hatte bereits am 31. April 1851 erstmals Berlioz’ Harold en Italie dirigiert. Liszts erste aufsehenerregende Unternehmung des Jahres 1852 war am 20. März die von ihm geleitete deutsche Erstaufführung von Berlioz’ Oper Benvenuto Cellini.31 Nachdem die Oper bei ihrer Uraufführung 1838 an der Pariser Oper nach dem Fiasko dreier Aufführungen sofort wieder vom Spielplan abgesetzt worden war, verhalf Liszt dem Werk, das Berlioz auf seine Anregung für die Weimarer Aufführung überarbeitet hatte, zu einem ersten Erfolg, der u. a. bewirkte, dass Benvenuto Cellini am 25. Juni 1853 von Berlioz selbst geleitet auch in London im Covent Garden aufgeführt wurde, wo die Oper allerdings erneut scheiterte.32
Berlioz: Benvenuto Cellini (20. März 1852), Johann Hoven: Der lustige Rat (12. April 1852), Robert Schumann: Manfred (13. Juni 1852), Giuseppe Verdi: Ernani (12. September 1852), Louis Spohr: Faust (24. Oktober 1852), Richard Wagner: Fliegender Holländer (16. Februar 1853) Friedrich von Flotow: Indra (21. Mai 1853), Daniel F. E. Auber: Carlo Broschi (15. Juni 1853). 30 Vgl. Deaville 2006 Die neudeutsche Musikkritik, S. 57. 31 Vgl. Bülow 1852 Aus Weimar; Schindelmeisser 1852 Aus Weimar. 32 Vgl. Anonym 1853 Benvenuto Cellini in London; Anonym 1853 Berlioz’s Opera Again. 29 Hector
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Im November 1852 widmete Liszt dem französischen Komponisten zudem eine Festwoche, in der an zwei Abenden nochmals Benvenuto Cellini dargeboten wurde, und an einem weiteren Abend ein Konzert mit Roméo et Juliette und den ersten beiden Teilen aus La Damnation de Faust von Berlioz selbst dirigiert wurde. Über diese „Berlioz-Woche“, die ein Novum im damaligen Konzertbetrieb darstellte, wurde nicht nur in mehreren deutschen Musikzeitschriften33, sondern beispielsweise auch in der Pariser RGMP34 berichtet. So waren es insbesondere die Berlioz-Aufführungen in Weimar, die bewirkten, dass sich die Musikzeitschriften erneut intensiver mit diesem Komponisten auseinandersetzten, was sich nochmals anlässlich seiner Konzertreisen durch Deutschland ab Herbst 1853 wiederholen sollte. Eine zweite und dritte „Berlioz-Woche“, bei denen wiederum ausschließlich Werke des französischen Komponisten gespielt wurden, folgten in den Jahren 1855 bzw. 1856 und ermöglichten Aufführungen aller seiner großen Werke. Während Liszt in seinem Engagement für Berlioz ungeteilten Zuspruch beispielsweise durch Lobe erhielt,35 blieb die Haltung Brendels gegenüber Berlioz zunächst noch ambivalent.36 Er würdigte zwar durchaus Liszts Eintreten für Berlioz und bezeichnete diesen bereits als „Vermittler zwischen Beethoven und Wagner“37. Ungeachtet des Umstands, Berlioz sechs Jahr später als einen Protagonisten der „neudeutschen Schule“ für seine Ideen zu reklamieren, bewertete Brendel ihn 1852 noch wie folgt: „Innerlich überwiegend deutsch, ist Berlioz wieder zu sehr Franzose in seiner Ausdrucksweise, in der Art wie er seine Intentionen zur Erscheinung bringt, um vollständig als Einer der Unsrigen zu erscheinen.“38
„… wo Wagner und ich die Koryphäen gewesen wären …“ Als dritte und letzte Wagner-Oper39 unter Liszt in Weimar wurde am 16. Februar 1853, genau vier Jahre nach Tannhäuser und mit ähnlichem Erfolg, Der Fliegende Holländer erstaufgeführt und ins ständige Repertoire aufgenommen.40 Wie schon zu Tannhäuser und Lohengrin verfasste Liszt auch diesmal eine ausführliche Abhandlung, um der Oper den Weg zu bereiten, die sich bei ihren bisherigen Aufführungen in Dresden, Berlin, Kassel und Zürich nicht hatte durchsetzen können. Liszt äußert in der Schrift, dass Der Fliegende Holländer „geistig und begabte und hervorragende Sänger“41 erfordere, und preist in diesem Zusammenhang das Sängerehepaar Milde, die u. a. die Hauptrollen in der Weimarer Aufführung des Fliegenden Holländers über-
33 U. a. Anonym 1852 Hektor Berlioz in Weimar (Grenzboten); Anonym 1852 Weimar (Berliner Musik-Zeitung Echo); Brendel 1852 Ein dritter Ausflug nach Weimar (NZfM), in: NdS 1 Nr. 37. 34 Anonym 1852 Hector Berlioz en Allemagne. 35 Siehe Lobe 1853 Hektor Berlioz, in: NdS 1 Nr. 43; Lobe 1853 Liszt und Berlioz in Weimar, in: NdS 1 Nr. 38. 36 Siehe Brendel 1852 Ein dritter Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 37. 37 Ebd., S. 371 [240]. 38 Ebd., S. 368 [239]. 39 Die erste Wagner-Oper in Weimar war die Tannhäuser-Erstaufführung am 16. Februar 1849, die zweite die Lohengrin-Uraufführung am 28. August 1850. 40 Weitere Aufführungen im Jahr 1853: 19. Februar, 2. März und 30. Oktober. 41 Liszt 1854 Wagner’s Fliegender Holländer, in: Liszt-Schriften 5, S. 109; vgl. auch Dufetel 2013 Franz Liszt. Trois opéras de Richard Wagner.
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nommen hatten und als Wagner-Sänger bald einen Ruf weit über Weimar hinaus genossen. Den Höhepunkt der Wagner-Pflege Liszts bildeten fünf Wagner-Aufführungen in ununterbrochener Folge zwischen dem 16. Februar und dem 5. März 1853, was für die Opernpraxis der Zeit beispiellos war.42 Tatsächlich bewirkten die Weimarer Aufführungen, dass Wagners Opern auch auf anderen Bühnen Einzug hielten. Nachdem z. B. Tannhäuser nach der Uraufführung 1845 in Dresden zunächst nur dort gespielt worden war, war mit der Weimarer Inszenierung der Bann gebrochen: 1852 folgten die Erstaufführungen in Schwerin, Breslau und Wiesbaden sowie im Jahr 1853 in weiteren 18 Städten.43 Entsprechend groß war die Anzahl an Besprechungen der Oper, die in dieser Zeit in den verschiedenen Musikzeitschriften erschienen.44 Ähnliches galt für die Uraufführung von Lohengrin, die ab 1853 Inszenierungen in Wiesbaden, Leipzig und Darmstadt mit ebenfalls breitem Niederschlag in der Musikpresse nach sich zog.45 Wagner selbst hatte bekanntlich keinen eigenen Anteil daran, da er sich zu diesem Zeitpunkt nach wie vor im Exil in Zürich befand.46 Nach seinem kurzen Aufenthalt in Weimar auf der Flucht aus Dresden 1849 trafen sich Wagner und Liszt erst wieder im Juli 1853 auf einer Reise Liszts nach Zürich.
Ballenstedt oder das „erste Zukunfts-Musikfest“ Ein weiteres herausragendes musikalisches Ereignis des Jahres 1852 war schließlich das von Liszt geleitete Musikfest am 22. und 23. Juni 1852 in Ballenstedt im Harz. Das Programm dokumentierte das Kunstideal des ‚Neuen Weimar‘, indem Liszt die Gelegenheit nutzte, neben der für das damalige Konzertpublikum noch immer gewöhnungsbedürftigen 9. Symphonie Beethovens auch hier Werke von Berlioz und Wagner zu präsentieren. So erklangen gleich zweimal die Ouvertüre zu Wagners Tannhäuser, dessen Kantate Das Liebesmahl der Apostel sowie Ausschnitte aus dem Fliegenden Holländer; Berlioz war im Programm mit zwei Sätzen aus Harold en Italie vertreten. Als eigenes Werk führte Liszt zudem die Orchesterfassung seines Liedes Die Macht der Musik auf. Daneben waren Kompositionen von Joachim Raff, Felix
42 Aufgeführt wurden: Fliegender Holländer am 16./19. Februar und 2. März, Tannhäuser am 27. Februar, Lohengrin am 5. März. 43 Vgl. Kirchmeyer 1993 Robert Schumanns Düsseldorfer Brahms-Aufsatz, S. 86 – 88. 44 Vgl. J. E. 1853 Wagner als Dichter. 45 Zur Wiesbadener Eerstaufführung am 2. Juli 1853 siehe z. B. 11. 1853 Richard Wagner’s ‚Lohengrin‘; zur Leipziger Erstaufführung am 7. Januar 1854 siehe z. B. Pohl 1854 Erste Aufführung des Lohengrin in Leipzig und Jahn 1854 Lohengrin, Oper von Richard Wagner sowie zur Darmstädter Erstaufführung am 17. April 1854 siehe z. B. N. B. 1854 Lohengrin von Richard Wagner. Auch über die Weimarer Lohengrin-Aufführungen wurde weiterhin berichtet: z. B. Wauer 1852 Richard Wagner, Franz 1852 Ein Brief über Richard Wagner, Nauenburg 1852 Richard Wagner und das musikalische Drama. 46 Wagner trat lediglich mit kürzeren Schriften zu den drei Opern in der NZfM in Erscheinung: Wagner 1852 Ueber die Aufführung des Tannhäuser, Wagner 1853 Ueber Inhalt und Vortrag der Ouvertüre zu Wagner’s Tannhäuser, Wagner 1853 Die Instrumental-Einleitung zu Lohengrin, Wagner 1853 Die Ouvertüre zum Holländer.
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Mendelssohn Bartholdy, Elias Parish Alvars und Christoph Willibald Gluck zu hören. Damit handelte es sich bei fast allen Werken um solche aus dem 19. Jahrhundert. Trotz dieses im Vergleich zu anderen damaligen Musikfesten ungewöhnlich progressiven Programms fand die Veranstaltung in Ballenstedt nicht nur ein breites, sondern vor allem auch ein durchweg positives Echo innerhalb der Musikzeitschriften.47 Sogar die konservative Rheinische Musik-Zeitung wertete die Veranstaltung als einen Erfolg.48 Dabei wurde dieses erste Musikfest durchaus in deutlicher Verbindung mit Liszts Wirken in Weimar gesehen49 und als ein Forum der sogenannten Zukunftsmusik aufgefasst.50 Nicht zuletzt markierte es somit den Beginn einer Tradition, die ein Jahr später mit dem Musikfest in Karlsruhe sowie schließlich ab 1859 mit denen des ADMV ihre Fortsetzung fand.
Von der ‚Wagner-Partei‘ zur ‚Fortschrittspartei‘ Während der Zeit zwischen Brendels Parteinahme im Neujahrsartikel 1852 und dem Karlsruher Musikfest im Oktober 1853 lässt sich innerhalb der Musikzeitschriften ein Wandel in der Wahrnehmung der musikalischen Fortschrittspartei beobachten. Insbesondere vor dem Hintergrund der hitzigen Debatten um Wagners Oper und Drama im Jahr 1852 begegnet noch vorwiegend die Sichtweise einer Wagner-Partei, die sich vor allem durch ihre Anhängerschaft der musikalischen wie musiktheoretischen Werke Wagners definierte. So liest man etwa im Mai 1852 bei Julius Schaeffer, einem „Vertheidiger Wagners“51: „jetzt […] hat Richard Wagner eine neue Parthei in’s Leben gerufen, deren Anhänger theils unter der Ägide Franz Liszt’s in Weimar, theils unter dem Banner der ‚Neuen Zeitschrift für Musik‘ in Leipzig (Franz Brendel und Th. Uhlig) schon seit einigen Jahren mit rühriger Begeisterung durch Schrift und That für ihren Meister Propaganda machen.“52 Ähnlich klingt es bei „J. E.“ im Januar 1853: „Diese Partei, durch Wagner’s unläugbar bedeutende Schöpfungen, durch seine geistvollen Schriften eigentlich bezaubert, durch ihn erst gebildet, behauptet ebenso hartnäckig den gewonnenen ‚dramatischen‘ Standpunkt, wie die Musiker den ihrigen, und lässt sich eben so wenig zu Concessionen herab, wie diese.“53 Liszts Eintreten für Berlioz als weiteren Vertreter eines ‚Neuen Weimar‘ führte wahrscheinlich ebenso wie die ‚innerparteilichen‘ Differenzen zu Wagners Thesen dazu, dass sich das Bild zu dem einer umfassenderen Bewegung wandelte. Obwohl schon mit eigenen Kompositionen etwa beim Ballenstedter Musikfest in Erscheinung
47 Brendel 1852 Das Musikfest zu Ballenstedt; Anonym 1852 Das Ballenstedter Musikfest; G. N. 1852 Musikfest in Ballenstedt am Harze; Anonym 1852 Musikfest in Ballenstedt; in: NdS 1 Nr. 34; K. – l. 1852 Das Ballenstädter Musikfest; A. Z. 1852 The Musical Festival at Ballenstedt. 48 Siehe V. B. 1853 Das Musikfest in Ballenstädt, in: NdS 1 Nr. 33. 49 Vgl. etwa Anonym 1852 Das Musikfest in Ballenstedt, in: NdS 1 Nr. 34. 50 Siehe beispielsweise Anonym 1852 Das Ballenstedter Musikfest, S. 267. 51 So bezeichnete Lobe Schaeffer in seinem gleichnamigen Artikel (Lobe 1853 Ein Vertheidiger Richard Wagner’s). 52 Schaeffer 1852 Über Richard Wagner’s Lohengrin, S. 153, in: NdS 1 Nr. 31, S. 314. 53 J. E. 1853 Wagner als Dichter und Musiker, S. 14, in: NdS 1 Nr. 39, S. 387.
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getreten, so wurde Liszt dabei nach wie vor meist in der Rolle des Förderers und Dirigenten gesehen. Als weitere Protagonisten wurden nun aber neben Wagner, sowohl aus der Eigen- als auch aus der Fremdsicht, immer häufiger Berlioz und Schumann genannt.54 So schrieb etwa Brendel in einem Bericht über die „BerliozWoche“ Ende des Jahres 1852: „[…] wenn es nicht zu gewagt erscheint, möchte ich darum die Aufeinanderfolge der Spitzen der neuesten Kunstentwicklung in folgender Reihe darstellen: Beethoven, Schumann, Berlioz, Wagner.“55 Eine weitere neuartige Qualität der musikalischen Kontroverse der Jahre 1852 und 1853 ist schließlich die zunehmend internationale Wahrnehmung des Parteienstreits u. a. in Musikzeitschriften im englischsprachigen Raum. Als Berichterstatter für diese Zeitschriften dienten etwa der englische Musikkritiker Henry Fothergill Chorley (1808 –1872), der sich beispielsweise 1852 in Weimar aufhielt, oder der amerikanische Korrespondent Charles Callahan Perkins (1823 –1886), der Anfang der 1850er Jahre u. a. mehrfach Leipzig bereiste. Wie am Beispiel der Kontroverse zwischen dem konservativen Londoner Athenæaeum und dem eher fortschrittlich gesinnten Bostoner Dwight’s Journal56 deutlich wird, blieb es dabei nicht bei einem neutralen Außenblick, sondern kam – trotz der kaum vorhandenen Kenntnis der umstrittenen Werke – rasch zu einer ‚Parteinahme‘, die für viele Jahre Bestand hatte und eine teilweise sehr eigene Dynamik zwischen den Vereinigten Staaten von Amerika und Großbritannien entwickelte.
54 Siehe beispielsweise Pohl 1853 Ein Blick nach dem „fernen Westen“, in: NdS 1 Nr. 46. 55 Brendel 1852 Ein dritter Ausflug, S. 240, in: NdS 1 Nr. 37, S. 371. 56 Siehe Chorley 1853 Schumann and Wagner, in: NdS 1 Nr. 40, Pohl 1853 Ein Blick nach dem „fernen Westen“, in: NdS 1 Nr. 46; Anonym 1856 Musical Party Warfare, in: NdS 2 Nr. 95.
Nr. 27 | Fr. [Franz] Br. [Brendel], „Zum neuen Jahr“, in: NZfM 19 (1852), Bd. 36, Nr. 1 (1. Januar), S. 1– 4.
Zum neuen Jahr.
Es ist dies Mal nicht allein der Wunsch, den Lesern dies. Bl. meinen herzlichen Gruß zum neuen Jahre darzubringen, wenn ich die Nr. 1 mit einigen einleitenden Worten eröffne, es ist zugleich meine Absicht, Rechenschaft zu geben über die Grundsätze, welche ich in Zukunft einzuhalten hoffe, über die Richtung, welche ich zu verfolgen gedenke. Veränderte Verhältnisse erheischen veränderte Standpunkte. Schon öfter im Laufe des verflossenen Jahres dachte ich daran, den Lesern ein neues Programm vorzulegen. Die alte Sitte, beim Wechsel des Jahres betrachtend zu verweilen, giebt mir jetzt eine erwünschte Veranlassung. Erst vor kurzem (in Nr. 24) habe ich Gelegenheit genommen, die Grundsätze, welche ich bisher befolgte, noch ein Mal auszusprechen.1 Ich that es schon im Hinblick auf das, was ich hier sagen will, ohne indeß dort auf das Gegenwärtige hinzudeuten. Jene Grundsätze waren die vor Jahren aufgestellten und bis jetzt festgehaltenen.2 Sie wurden in einer Zeit aufgestellt, die in der That – bei dem raschen Umschwung der letzten Jahre – von der gegenwärtigen sehr verschieden ist. Eine Reihe ausgezeichneter Talente zwar ist im Laufe der letzten 20 Jahre aufgetreten, und unserer Kunst wurde durch sie nach einer Zeit der Trivialität und Aeußerlichkeit eine höhere Belebung gebracht. Aber der Fortgang im Großen und Ganzen war doch nur ein Fortschritt innerhalb der gebahnten Wege; an Reformen von Grund aus dachte bis vor wenigen Jahren Niemand. Wir erblicken darum, was jene Talente betrifft, eine höchst erfreuliche Thätigkeit, diese letztere im Wesentlichen aber immer auf der Grundlage des bis dahin Geltenden, und trotz mancher kleinen Stürme bietet der Anblick der musikalischen Entwickelung ein ziemlich ruhiges Bild. Es gab Parteien auf musikalischem Gebiet, streng genommen indeß nur wenig ausgeprägt, von nur geringer charakteristischer Färbung. So sehr demnach auch dies. Bl. (wie ich schon in Nr. 24 bemerkte) im Allgemeinen der Partei zugehörten[,] welche den Blick in die Zukunft gerichtet hielt, so sehr dieselben bemüht waren, nach Kräften alles Jugendlich-Strebsame zu fördern und neue Gesichts-
Brendel 1851 Polemisches. Der Artikel ist die Replik Brendels auf eine nicht gezeichnete, ablehnende Besprechung durch August Ferdinand Riccius (Riccius 1851 Musikalischer Dilettantismus, in: NdS 1 Nr. 26) der ersten Auflage von Brendels Musikgeschichte (Brendel 1852 Geschichte der Musik). 2 Brendel hatte seine Grundsätze und seine Auffassung von den Aufgaben einer auf wissenschaftlicher Basis beruhenden Musikkritik erstmals 1845 gleich zu Beginn seiner Tätigkeit als Redakteur der NZfM dargelegt (Brendel 1845 Zur Einleitung, in: NdS 1 Nr. 1). 1 Siehe
Brendel 1852 Zum neuen Jahr
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punkte geltend zu machen, so vermochten dieselben doch in so weit von aller Parteistellung abzusehen, daß sehr verschiedenen Ansichten, wenn nur nicht gänzlich überlebten, Raum gegeben werden konnte. Ich war nachsichtig gegen manche veraltete Meinung, gegen vieles Mangelhafte unserer musikalischen Zustände, gegen Erscheinungen, welche der Richtung dies. Bl. gegenüber eigentlich nicht mehr berechtigt waren. Es geschah dies keineswegs aus tadelnswerther Accommodation; es war achtungsvolle Rücksicht gegen das, was noch immer galt und zahlreiche Vertreter hatte, es war die Erwägung, daß das Ziel, welches wir [2] im Auge hatten, von einer größeren Zahl noch zu wenig erkannt sei, um schon damals auf die Erreichung desselben mit aller Entschiedenheit hinzuarbeiten. So mußte ich mich begnügen, einem künftigen Umschwunge vorzuarbeiten, allmälig [sic] darauf hinzuleiten, ich mußte mich auf Andeutungen beschränken, ohne diesen überall eine consequente Durchführung geben, ohne das Gewollte überall mit Energie aufrecht erhalten zu können. In diesem Sinne sprach ich mich bei Beginn des 32ten Bandes aus.3 Ich habe darum selten oder nie in dies. Bl. gesprochen, wie ich es wünschte, wie mein Standpunkt in Wahrheit es erfordert hätte; nicht, ich wiederhole, aus tadelnswerther Accommodation, wohl aber weil der Umschwung bis dahin zu wenig vorbereitet war. So sehr ich erfreuliche Zustimmung fand, stand ich doch auch in weitergreifenden Fragen häufig vereinzelt. Erst vor Kurzem (an angef. O.) erwähnte ich, wie ich selbst in den Grundsätzen, die ich geltend machte, für Manche zu weit ging.4 Oft habe ich Schmerz, stets aber Sehnsucht empfunden nach einer Zeit, wo ich ganz offen würde sprechen dürfen, wo eine solche Rücksichtsnahme nicht mehr nöthig sein würde. Diese Zeit ist jetzt gekommen, und ich begrüße sie mit Freude. Die Umbildung der Ansichten ist in letzter Zeit verhältnißmäßig sehr rasch vor sich gegangen. Mehr und mehr scheiden sich jetzt zwei bestimmte Parteien, die Gegensätze des ruhigen Beharrens in dem, wie unsere musikalischen Zustände einmal sind, aber auch der Gedankenlosigkeit und Trägheit, der Indifferenz, und andrerseits des energischen Drängens nach Fortschritt. Die Zeit fordert jetzt eine bestimmtere Haltung auch von einer musikalischen Zeitung, eine bestimmte Parteinahme. Mir ist diese Forderung keine äußerliche Nöthigung, sie ist das von mir innerlich längst Ersehnte. Ich
1850 Zum Beginn, S. 1: „Unsere Pflicht, so wie Aller, welche verwandten Aufgaben nachstreben, ist es, den Boden zu bereiten für das Kommende, und zu wachen, daß die Zukunft nicht künstlerisch verwahrloste Zustände antrifft; unsere Pflicht ist es, auch unter minder günstigen Verhältnissen Stand zu halten, die ächten Bestrebungen zu fördern, der Gesinnungslosigkeit consequent und mit Entschiedenheit entgegenzutreten; unsere Pflicht ist es, während eines solchen Kunstinterims praktisch so weit wir vermögen, einzugreifen, und bei dem allmäligen Umschwung der Verhältnisse Kunst und Künstlern eine entsprechende Stellung erringen zu helfen.“ 4 Brendel 1851 Polemisches, S. 254: „Nur zufällige Mängel der Erscheinungen, Uebertreibungen und Einseitigkeiten können durch Polemik vernichtet werden, nicht das wirklich Berechtigte. Darum trug ich kein Bedenken auch bei Angriffen gegen Anerkanntes. Daß war die von mir klar erkannte und allen Anfechtungen gegenüber mit Entschiedenheit aufrecht erhaltene Richtung dies. Bl., meiner Ansicht nach unter den bisherigen Verhältnissen die angemessenste. Aber selbst diese Haltung, diese Unparteilichkeit war für Manchen zu viel, weil man überhaupt noch nicht reif war, Freisinnigkeit und ernste Haltung auf musikalischem Gebiet zu ertragen.“ 3 Brendel
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entschließe mich zu diesem Schritte, da sich der Kreis gleichgesinnter Freunde mehrt. Schon im Laufe des vergangenen Jahres sind mehrere neue Mitarbeiter gewonnen worden, andere stehen in bestimmter Aussicht.5 Es sind die frischesten, tüchtigsten Kräfte. Unter Mitwirkung dieser soll es möglich werden, bestimmter jetzt unser Princip durchzuführen. Was mich selbst betrifft, so war für mich das Auftreten R. Wagner’s von entscheidendem Einfluß.6 Ich fand hier eine Uebereinstimmung, wie ich sie kaum erwartet hatte, ich fand mit Entschiedenheit ausgesprochen, wonach ich selbst gestrebt, ich fand aber auch Neues, was nur dem bahnbrechenden, schaffenden Künstler sich erschließt, Neues, welches uns bestimmter das Ideal der Zukunft enthüllt. Vor Allem war es Wagner’s freudiger Glaube an die siegreiche Kraft des Besseren in der Kunst, der auch mich kräftigte, denn schon wollte ich so manches Mal an der Möglichkeit verzweifeln, daß die Tonkunst, wenigstens in der gegenwärtigen Weltepoche, aus ihrer Versunkenheit sich wieder herausarbeiten würde. Bestimmter, als bisher in dies. Bl., habe ich in meiner „Geschichte der Musik“7 meine Ansicht ausgesprochen; ich konnte mir dies erlauben, weil ich da als Einzelner sprach, während ich in dies. Bl. Rücksicht zu nehmen habe auf die Stimme des musikalischen Publikums. Entschiedenere Parteinahme demnach ist der neue Grundsatz, welchen ich ausspreche, entschiedenere Bekämpfung dessen, was nicht mehr lebensfähig, Opposition gegen jenen gedankenlosen Schlendrian, welcher jedes bessere Streben vereitelt. Die Tonkunst gewährt uns jetzt das Bild eines traurigen Hinschleppens, eines allmäligen Absterbens. Unsere Pflicht ist es, so viel wir immer vermögen, den Untergang abzuwenden, die Keime, welche eine erneute Blüthe versprechen, zu pflegen. Indem ich jenen Grundsatz ausspreche, hoffe ich nicht so mißverstanden zu werden, als sei von einem rücksichtslosen Dreinfahren, rücksichtslosem Dreinschlagen, wo es nicht am Ort, die Rede. Ich glaube, die Leser dies. Bl. kennen mich ausreichend, um eine Uebereilung nicht zu fürchten. Wohl weiß ich, daß wir nicht überall mit bösem Willen zu thun haben, daß nicht jedwedem Handeln in unserer Zeit egoistische Motive zu Grunde liegen; wohl weiß ich, daß eingelebte Vorstellungen Schonung verlangen, wohl weiß ich, daß wir selbst das neue bisher noch nicht so weit in fertiger Gestalt hingestellt hatten, um dessen Anerkennung überall fordern zu können. In der Kritik insbesondere ist dem, was bisher galt, Rücksicht zu tragen. In der Kritik stimmte ich sogar bisher nicht immer mit meinen Mitarbeitern überein, und habe manche Schroffheit gemildert, manche Härte beseitigt. Der Rücksichtslosigkeit der Kritik im Gegentheil gegenüberzutreten ist immer mein Wunsch gewesen.8 Ich verabscheue jenes Losschlagen, jenes literarische Faustrecht mit Verbannung
5 Hiermit
könnte Brendel insbesondere auf Theodor Uhlig (seit 1849, Bd. 31) und Louis Köhler (seit 1850, Bd. 33) als neue Autoren der NZfM anspielen. 6 Brendel meint hiermit vermutlich das Erscheinen von Wagners Schriften Wagner 1849 Kunst und Revolution und Wagner 1850 Kunstwerk der Zukunft. Über den Eindruck, den diese auf ihn machten, hatte Brendel bereits in seinen beiden Artikeln Brendel 1851 Einige Worte über Wagner (in: NdS 1 Nr. 25) und Brendel 1851 Zur Beurtheilung der Schriften berichtet. 7 Brendel 1852 Geschichte der Musik. 8 Dies äußerte Brendel etwa in seinem ersten Neujahrsartikel in der NZfM 1845 (Brendel 1845 Zur Einleitung, in: NdS 1 Nr. 1). Zu Brendels oftmals vermittelnder Haltung als Redakteur der NZfM vgl. insgesamt Deaville 1986 Franz Brendel – ein Neudeutscher.
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jedweder edlen Rittersitte, wie es sich so oft in unserer Kritik geltend macht, ich betrachte es als einen Rest mittelalterlicher Barbarei. Ich kann der Kritik nur dann Berechtigung zugestehen, wenn sie, zwar unerbittlich, ernst und streng, zugleich aber mit Liebe auf die Erscheinungen einzugehen sucht, und habe mich dem entsprechend stets bemüht, zuerst das Gute herauszufinden, bevor ich mich dem Verfehlten zuwandte. Die Kritik soll nicht, wie sie es häufig thut, vernichten, die Keime zertreten, sie soll fördern, aufbauen. Machen doch unsere Kunstzustände selbst schon ein gesundes, freudiges Schaffen häufig unmöglich; wie sehr ist unter solchen Verhältnissen eine Kritik vom Uebel, welche statt zu unter-[3]stützen, jedes Beginnen nur erschwert! Wohl aber muß die Rücksichtsnahme endlich einmal aufhören, wenn man beharrlich, schonend und mild auf vorhandene Uebelstände aufmerksam gemacht hat, und zuletzt in Erfahrung bringt, daß Alles beim Alten bleibt. Jene Faulheit, jener Schlendrian werde bekämpft, der immer fortduselt, ohne nur zu merken, daß von Verbesserungen die Rede ist, der sich gar nicht die Mühe giebt, zu überlegen. Wie oft ist in der Gegenwart gesagt worden, – um nur an nahe liegende Beispiele zu erinnern – Eure Concertprogramme taugen nichts; keine leitende Idee, kein bestimmtes Princip liegt ihnen zu Grunde. Ihr stellt Unvereinbares zusammen, wie es der Inhalt bietet. Wie oft ist gesagt worden: Ihr müßt die gesammte Kunst vertreten, nicht einzelne Lieblingsmeister und Richtungen, Ihr müßt die Gegenwart weit mehr ins Auge fassen, damit nicht erst 20 Jahre hinterher eine neue Erscheinung sich Bahn bricht.9 Die Erfahrung zeigt, wie wenig dies Alles genützt hat, weil es nur ganz im Allgemeinen ausgesprochen wurde, ohne daß man Allen denen, auf die es Anwendung findet, ernstlich zu Leibe ging. Viele wollen das Gute in der Kunst, aber sie wollen das, was vor 50 Jahren gut war, und denken nicht daran, daß dies sich im Laufe der Zeit zu einem Uebel verkehrt haben kann. Weil solche Leute in außerordentlicher Selbstgefälligkeit gar nichts lesen, weil sie jede Anregung, welche geboten wird, verschmähen, so wissen sie gar nicht, daß das, was sie bieten, der fortgeschrittenen Zeit nicht mehr genügt. Ganz dasselbe gilt in weitester Ausdehnung von unseren Theatern. Wie viele oder wie wenige derselben nehmen von Dem, was musikalische Zeitungen sagen, Notiz? Die theatralischen Darstellungen sind von einer Beschaffenheit, daß der höher gebildete Sinn fast genöthigt ist, sich von ihnen abzuwenden. Davon aber haben die Betheiligten kaum eine Ahnung, träumen im Gegentheil von hoher Vortrefflichkeit. Um auch hier eines naheliegenden Umstandes beispielsweise zu gedenken, so ist man endlich so weit gekommen, die Barbarei des gesprochenen Dialogs in der Oper zu erkennen. Man hat angefangen,
9 Siehe etwa die diesbezüglichen Reformvorschläge der verschiedenen Tonkünstlervereine, wie etwa des 1848 in Breslau (Anonym 1848 Adresse der musikalischen Section) oder des 1844 in Berlin gegründeten (Berliner Tonkünstler-Verein 1848 Denkschrift) sowie der unter Brendels Leitung stattgefundenen Leipziger Tonkünstlerversammlungen 1847 (Brendel 1847 Die erste Versammlung deutscher Tonkünstler) und 1848 (Brendel 1848 Tonkünstler-Versammlung zu Leipzig). Vgl. hierzu insgesamt Deaville 2011 Organizing German Musical Life.
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diesem Mißbrauch zu steuern, man giebt z. B. in Dresden und a. a. O. Don Juan10 mit Recitativen; ich selbst überzeugte mich dort von der unendlich gesteigerten Wirkung, und gelangte zu der Ansicht, daß dies, zum ersten Male in deutscher Sprache, eine würdige Darstellung des Werkes genannt werden könne. Es ist eine Sache, über die kein Vernünftiger eigentlich in Zweifel sein kann, und doch! wie so höchst langsam findet die Verbesserung Eingang! Bisher mußten wir die Dinge nehmen, wie sie waren; wir konnten höchstens andeuten, daß es anders sein könne. Der Umstand, daß jetzt eine geschlossene Partei auftritt, deren Bekenner täglich sich mehren, läßt uns derartige Forderungen mit weit größerer Bestimmtheit stellen. Ich selbst gewinne an Zuversicht, und gebe mich der Hoffnung hin, daß es möglich sein wird, die Kunst aus der gegenwärtigen Versunkenheit zu befreien, einem neuen und höheren Ziele zuzuführen. Stets habe ich gesagt, unsere Zeit in Bezug auf Musik sei eine Zeit der Kritik; in meiner „Geschichte der Musik“ habe ich diesem Satze eine weitere Ausführung gegeben,11 während derselbe in dies. Bl. erst ganz kürzlich (Nr. 25) eine nähere Besprechung fand.12 In dem gegenwärtigen Zusammenhange bin ich genöthigt, darauf zurückzukommen, denn in diesem Satze ist ausgesprochen, worauf es zunächst ankommt. Unsere Kunst in ihrer bisherigen Entwicklung zeigt sowohl innerlich wie äußerlich, sowohl im eigentlichen Kunstschaffen als auch in der Gestaltung der äußeren Kunstverhältnisse ein überwiegend naturalistisches Element, ein natürliches Werden; was die äußere Gestaltung der musikalischen Verhältnisse betrifft, so war es nur zu oft der Zufall, oder eine augenblickliche Nöthigung, welche entscheidend wurden. Innerhalb dieser Richtung sehen wir in der Gegenwart als endliches Resultat ein allmäliges Absterben. Um der Kunst aufzuhelfen, ist es nothwendig, daß neue Grundlagen gewonnen werden, sowohl im eigentlichen Kunstschaffen, wie in den äußeren Verhältnissen. Daß z. B. auf den bisher betretenen Wegen innerhalb der Oper nicht mehr von der Stelle zu kommen ist, wird bald einem Jeden einleuchten. Es kann sich deshalb im Augenblick nicht darum handeln, Opern zu schreiben, sondern erst über den nothwendig zu machenden Fortschritt, die große Umgestaltung, welche bevorsteht, ins Klare zu kommen. Einem solchen Fortschritt aber, muß auch die äußere Organisation der musikalischen Verhältnisse entsprechen. Dies Alles ist Aufgabe der Kunst in weiterer Bedeutung, und dies der Sinn, wenn wir von einer Epoche der Kritik sprechen. Die Kritik soll auch nicht entfernt in das künftige Schaffen sich drängen, die künstlerische Begeisterung soll
Amadeus Mozart, Don Giovanni (UA 1787). Die Oper wurde bis etwa Mitte des 19. Jahrhunderts auf deutschen Bühnen überwiegend in deutscher Übersetzung (etwa von Friedrich Rochlitz) und mit gesprochenen Dialogen aufgeführt. Brendel erwähnt die Dresdner Aufführung, die mit dieser Tradition brach und die Rezitative wieder einbezog, ebenfalls in seinem Artikel Brendel 1853 Die bisherige Sonderkunst (in: NdS 1 Nr. 42). 11 In Brendels letztem Kapitel seiner Musikgeschichte heißt es: „Ich habe stets darauf aufmerksam gemacht, dass jetzt eine Epoche der Reflexion gekommen ist, eine Zeit der Kritik, gleichviel ob die Letztere von der Fachkritik oder durch die Künstler selbst ausgeübt wird. Bedeutsam in dieser Beziehung erscheint, dass in der That die Fachkritik in der Gegenwart der Production in den meisten Fällen vorausgeeilt ist. […] Ich wiederhole: Die Erkenntnis dieser Bedingungen ist der erste Punct des Fortschritts“ (Brendel 1852 Geschichte der Musik, S. 539). 12 Uhlig 1851 Eine Belehrung. 10 Wolfgang
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nicht einen Theil ihres Rechts an die Kritik abtreten, die letztere soll nur den Boden bereiten für das Neue. Dies ist auch die Meinung, wenn Th. U. in Nr. 25 von einer Selbstvernichtung der Kritik spricht.13 Sie hat ihre Mission erfüllt, sobald sie diese Aufgabe vollbracht; sie steht dann dem Kunstschaffen mindestens nicht mehr fremd und äußerlich gegenüber, sie geht im Gegentheil in demselben auf, und wenn sie jetzt die Herrschaft beansprucht, ist sie dann das Dienende. Noch vieles wäre zu sagen. Bedeutende Aufgaben, an deren Lösung musikalische Zeitungen noch [4] gar nicht gegangen sind, liegen vor. Ich wagte bisher nicht daran zu denken, weil die Kräfte dafür fehlten, oder richtiger: weil dieselben nicht vereinigt waren. Auch dafür eröffnet sich jetzt Aussicht. Diese Blätter haben fortan die Aufgabe, die Umgestaltung, welche der Kunst bevorsteht, nach allen Seiten hin entschieden zu vertreten. Es ist dies ein neues Programm, weil für eine strengere Durchführung des Gewollten früher noch keine Möglichkeit vorhanden war; alt ist es zugleich, weil ich das hier ausgesprochene Ziel von Haus aus im Auge gehabt habe. So darf ich hoffen, daß die Leser, welche bisher Antheil an dies. Bl. nahmen, ein erhöhtes Interesse gewinnen werden, sobald die Zeitschrift, das was sie bisher erstrebte, noch fester und bestimmter in’s Auge faßt. Fr. Br.
Kommentar Dieser Neujahrsartikel von Brendel markiert eine Wende in der Geschichte der NZfM, die deren Herausgeber vor dem Hintergrund der „veränderten Verhältnisse“14 und seiner Bekanntschaft mit den kunsttheoretischen Schriften Wagners als eine „entschiedenere Parteinahme“15 für den im Exil lebenden Komponisten seinen Lesern mitteilte. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte Brendel jegliche eindeutige Aussagen vermieden, welche lebende Künstler die von ihm seit der Übernahme der Redaktion vertretene Forderung nach einem ‚fortschrittlichen‘ Komponieren16 in ihren Werken verkörperten, obwohl etwa Theodor Uhlig und Hans
13 Ebd.,
S. 275: „Unsere Zeit ist eine Zeit der Kritik: wir haben sie nicht gemacht und tragen keine unmittelbare Schuld an diesem ihren Charakter. Die einzige Möglichkeit aber, aus dem Zustande der Kritik herauszukommen, ist die Fortsetzung der Kritik bis zu ihrer Vernichtung, die Arbeit, in dem Selbstvernichtungsproceß der Kritik.“ Dieser Gedanke Uhligs ähnelt den Aussagen Wagners, welche dieser kurze Zeit später in einem offenen Brief an die Redaktion der NZfM formulierte (Wagner 1852 Ein Brief an den Redacteur, in: NdS 1 Nr. 29). 14 Vorliegender Artikel, S. 276 [1]. 15 Ebd., S. 278 [2]. 16 Siehe etwa Brendel 1846c Polemische Blätter, in: NdS 1 Nr. 5 sowie Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14.
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von Bülow bereits seit 1850 bzw. 1851 in der NZfM mit offensichtlicher Billigung Brendels offen Partei für Wagner ergriffen hatten.17 Neben dem Bekenntnis für Wagner nahm Brendel diesen Neujahrsartikel nicht zuletzt auch zum Anlass, um zum wiederholten Mal auszuführen, worin er die Funktion einer wissenschaftlichen Musikkritik sah. Wenn er dabei äußert, dass man beispielsweise die Umgestaltung der Oper zunächst theoretisch umreißen müsse, bevor man sie in die Tat umsetze, bezog sich dies, wenn auch nicht explizit erwähnt, sicherlich auf die von Wagner so praktizierte Vorgehensweise und dessen in zeitlich naher Umgebung veröffentlichte Schriften Das Kunstwerk der Zukunft (ED 1850) sowie Oper und Drama (ED 1852, aber 1851 bereits im Umlauf) – Bücher, die in umfangreichen Artikeln des Wagner-‚Hofberichterstatters‘ Theodor Uhlig18 in der NZfM einem größeren Kreis nahegebracht werden sollten. Eine weitere Folge der hier angekündigten Neuausrichtung der NZfM waren die ab 1852 einsetzenden, umfangreichen Korrespondenzen über das kulturelle Leben Weimars u. a. mit Beiträgen Uhligs19 sowie Brendels20, in denen die Leser ausführlich über das musikalische Geschehen in der Residenzstadt informiert wurden, wodurch auch Liszts dortiges Eintreten für die Werke Wagners und Hector Berlioz’ einem überregionalen Publikum zugänglich gemacht und zugleich Liszts Rolle als einflussreicher Wagner-Förderer – weniger als eigenständiger Komponist – in der öffentlichen Wahrnehmung gestärkt wurde. Mit der intensiven Berichterstattung über die Musik und Schriften des im Exil lebenden Wagners, der sich zum Teil direkt in der Zeitschrift zu Wort meldete,21 ging in der Folge eine Vertiefung der seit 1850 zunehmend offenen künstlerischen Distanzierung22 gegenüber dem Gründer der Zeitschrift, Robert Schumann, einher, dessen jüngste Kompositionen vor allem in den Rezensionen Theodor Uhligs23 gleichsam als ‚Negativfolie‘ für das anzustrebende Gesamtkunstwerk Wagners instrumentalisiert wurden. Die nachhaltigste Zäsur des vorliegenden Artikels liegt sicherlich in der von Brendel seit seiner Übernahme der Zeitschrift projizierten und regelrecht ‚herbeigeschriebenen‘ Fortschrittspartei, die bislang bloß als feuilletonistisches ideales Gedankengebäude existierte und mit Wagners Schriften, gefolgt von seiner Musik, endlich die erhoffte Konkretion erhielt.
1850 Drei Tage in Weimar sowie Bülow 1851 Entgegnung. 18 Siehe etwa Uhlig 1850 Wagner’s Schriften; Uhlig 1851 Aus Richard Wagners „Entwurf zur Organisation eines deutschen Nationaltheaters“ sowie Uhlig 1851 Die Ouvertüre zu Tannhäuser; Uhlig 1852 Wagner’s Schriften V sowie Uhlig 1852 Wagner’s Schriften VI. Zur Rolle Uhligs als Sprachrohr Wagners vgl. Vazsonyi 2012 Richard Wagner, S. 119 –125. 19 Uhlig 1850 Drei Tage in Weimar, in: NdS 1 Nr. 21. 20 Brendel 1852 Ein Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 28; Brendel 1852 Ein zweiter Ausflug nach Weimar; Brendel 1852 Ein dritter Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 37. Hinzu kamen drei weitere Artikel anderer Autoren, die das Weimarer Musikleben thematisierten: Pohl 1852 Aus Weimar; Anonym 1852a Aus Weimar; Bülow 1852 Aus Weimar. 21 Siehe Wagner 1852 Ein Brief an den Redacteur, in: NdS 1 Nr. 29. 22 Siehe etwa Brendel 1850 Genoveva. 23 Uhlig 1851 Robert Schumann, Op. 98; Uhlig 1852 Robert Schumann sowie Uhlig 1852 Schumann, Op. 97. Dritte Symphonie. 17 Uhlig
Nr. 28 | F. [Franz] Brendel, „Ein Ausflug nach Weimar“, in: NZfM 19 (1852), Bd. 36, Nr. 4 (23. Januar), S. 37 – 40.1
Ein Ausflug nach Weimar. Von F. Brendel.
Die erneute Aufführung des Lohengrin am 11ten Januar2, die erste in dieser Saison, veranlaßte mich zu einem Ausfluge nach Weimar, um endlich jenes Werk, dem ich in Folge der bisherigen Berichte mit größter Spannung entgegen sah, durch die theatralische Darstellung selbst, nachdem ich kurz vorher seine Bekanntschaft durch den Clavierauszug3 gemacht hatte, kennen zu lernen. Es kann nicht meine Absicht sein, nach alle Dem, was diese und andre Blätter schon darüber mitgetheilt haben4, hier noch eine ausführliche Schilderung desselben zu versuchen. Wer eine solche wünscht, den muß man insbesondere auf den schon oft erwähnten, neuerdings auch besonders gedruckten meisterhaften Artikel Liszt’s in der „Illustrirten Zeitung“ verweisen.5 Noch weniger aber ist eine Recension alten Styls einem solchen Werke gegenüber möglich. Ich habe jetzt an mir selbst
1 Wiederabdruck in Brendel-Schriften, S. 129 –140. 2 Wagners Lohengrin wurde am 28. August 1850 unter Franz Liszts Leitung am Weimarer Hoftheater uraufgeführt. Bis zu der hier von Brendel erwähnten Aufführung am 11. Januar 1852 war die Oper dort noch vier weitere Mal gespielt worden: am 14. September und 9. Oktober 1850 sowie am 12. April und 11. Mai 1851 (vgl. Digitales Archiv des Thüringischen Hauptstaatsarchivs, [03.03.2019]). 3 Theodor Uhlig arrangierte den Klavierauszug zu Lohengrin, der im Dezember 1851 bei Breitkopf & Härtel im Druck erschien, laut Wagners Korrespondenz vom 8. April 1851 mit dem Verlag aber spätesten Anfang April des Jahres fertiggestellt war (Wagner-Briefe 3, S. 539). 4 Siehe Uhlig 1850 Drei Tage in Weimar, in: NdS 1 Nr. 21 sowie Brendel 1851 Einige Worte über Wagner, in: NdS 1 Nr. 25. 5 Liszt 1851 Richard Wagner’s Lohengrin. Diesen in der Illustrirten Zeitung erschienenen Artikel veröffentlichte Liszt zusammen mit demjenigen über Tannhäuser kurz darauf auch als selbstständige Broschüre, zunächst in französischer Sprache (Liszt 1851 Lohengrin et Tannhaüser) und ein Jahr später in deutscher Übersetzung (Liszt 1852 Richard Wagner’s Lohengrin und Tannhäuser). Liszts Lohengrin-Aufsatz in der Illustrirten Zeitung, auf den auch zahlreiche andere Zeitschriften hinwiesen, fand innerhalb des deutschen Sprachraums immense Verbreitung, vgl. Liszt-Schriften 4, S. 234 – 240. Seine Neuartigkeit lag u. a. darin, dass Liszt in seiner Besprechung der Oper durchgängig Text und Musik aufeinander bezog, was der bis dahin üblichen Praxis entgegenstand. Als unmittelbare Wirkung des Artikels kann auch der große Erfolg der hier von Brendel besprochenen Lohengrin-Aufführung vom 11. Januar 1852 gelten (vgl. Liszt-Schriften 4, S. 250).
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erfahren, worauf Uhlig schon öfter in dies. Bl. hingedeutet hat, daß ein derartiges Recensiren hier ganz aufhört.6 Hier kann allein ein dichterisches Nachschaffen, eine Darlegung der inneren Erlebnisse des Genießenden das Entsprechende sein, und dies ist durch Liszt schon in erschöpfender Weise geschehen. Wenn ich jetzt de[m] Leser dies. Bl. einen kurzen Bericht gebe, so geschieht es zunächst, um dem Drange des Herzens Raum zu geben, es geschieht – denn um nichts Geringeres handelt es sich hier – um den Schöpfer des Tannhäuser und Lohengrin als den neuen Genius der dramatischen Musik zu begrüßen, es geschieht, um so eindringlich als möglich Alle, welche lebendiges Interesse für die Kunst und Poesie (nicht allein die Tonkunst) der Zukunft hegen, auf diese größte Erscheinung der Gegenwart aufmerksam zu machen, sie zu veranlassen, Weimar zu besuchen, und hier sich selbst von der Herrlichkeit dessen zu überzeugen, was geleistet ist. – Ich kann nicht vermeiden, Prädikate des höchsten Lobes zu gebrauchen, es ist indeß kein flüchtig verschwebender Enthusiasmus, der hier sich ausspricht, es ist begründete Ueberzeugung, die darin sich kund giebt. Ich habe Wagner’s Schöpfung nachempfunden, ich habe sie in mir erlebt, und sage es freudig, daß sie dem Größten sich anreiht, was wir auf künstlerischem Gebiete besitzen, daß hier erreicht ist, was in Bezug auf das musikalische Drama die vorausgegangenen Jahrhunderte bisher immer nur annäherungsweise erstrebt haben. Leider erlaubte mir die Zeit nicht, sogleich nach meiner Zurückkunft durch die Durchsicht des Clavierauszuges das dort Vernommene im Gedächtniß zu festigen. Um so mehr aber schwebt mir das Gehörte wie ein Traum von wunderbarer Schönheit vor, und Sehnsucht erfaßt mich nach diesen so schnell [38] verklungenen Tönen. Man hat durchaus die Empfindung eines Fertigen, Vollendeten diesem Werke gegenüber, es ist ein Eindruck, den nur die größten Meisterwerke hervorbringen, es ist eine Seligkeit, wie ich sie fast nur bei der neunten Symphonie7 empfunden habe. Um so weniger ist man geneigt, Betrachtungen anzustellen. Sogleich ist man im Tiefsten erfaßt, hineingerissen in den Gang der Darstellung, jedes einseitige Denken hört auf, jeder einseitige Kunstgenuß; der ganze Mensch ist gleichmäßig in Anspruch genommen; es ist die höchste Unmittelbarkeit der Wirkung. Man hat das Bewußtsein, daß man einer neuen, vollen Kunst gegenüber steht, dem Aufgange einer neuen Kunstepoche, und ist froh, daß man sich auf dieser Stufe aller Zweifelsqualen, die uns bis jetzt beunruhigten, entschlagen kann. Es ist hier erreicht, was die
etwa Uhlig 1850 Drei Tage in Weimar, S. 137 f., in: NdS 1 Nr. 21, S. 228: „Bei einer Erscheinung, die so unmittelbar und so ganz den Menschen in Anspruch nimmt, als die harmonischste Vereinigung von Wort, Ton und Darstellung reichen die Maaßstäbe nicht aus, die die Kritik aus den Schöpfungen der bisherigen Genies herausgeklaubt hat theils zu ihrer Selbstverherrlichung, theils in einseitiger Rücksicht auf das mittelarme und gefühlsleere Wortdrama, theils endlich, damit es dem Kunsthandwerker möglich werde, jene Schöpfungen wenigstens in ihren Aeußerlichkeiten nachzuahmen. […] Doch möge dem sein, wie ihm wolle: aus dem bisher Gesagten dürfte wenigstens hervorgehen, daß der Maaßstab erst noch gefunden werden muß, nach dem man sich eine Kritik von Opern wie Tannhäuser oder Lohengrin erlauben darf.“ Theodor Uhlig, der seit 1849 als Autor der NZfM tätig war, bildete gleichsam das Sprachrohr Richard Wagners innerhalb der Zeitschrift. Vgl. hierzu auch Vazsonyi 2012 Richard Wagner, S. 119 –125. 7 Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125 (ED 1826). 6 Siehe
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Besten unserer Zeit immer vergeblich ersehnt haben, eine Rückkehr zur Natur, die uns mit einem Male von dem Wust, der uns bis jetzt gefangen hielt, befreit. Ich wiederhole nicht, was zur Erläuterung der neuen Richtung bisher schon gesagt ist. Man weiß, daß die bisherige Opernform fast ganz verschwunden,8 man weiß, was Wagner von dem musikalischen Drama verlangt.9 Eben so wenig ist es nöthig an die schon anerkannten Eigenschaften zu erinnern, welche ihn als Tonsetzer auszeichnen, an den glänzenden Reichthum seiner Harmonien, den wirklich neuen Gebrauch des Orchesters, die meisterhafte Behandlung der Recitative: Eigenschaften, welche die sorgfältigsten Studien, eine unermeßliche Arbeit voraussetzen. Daß W. in der Wahl seiner Texte in der Gegenwart am glücklichsten gewesen ist, habe ich schon früher, als mir seine Richtung noch nicht näher bekannt war, ausgesprochen.10 Dem ohngeachtet würden Die irren, welche nach alle dem bisher Veröffentlichten schon eine klare Vorstellung seiner Kunst zu haben meinen. Auch die Durchsicht des Clavierauszuges – es ist dies sehr charakteristisch für die neue Richtung – vermag kaum ein annäherndes Bild zu gewähren, und diejenigen würden sich gewaltig irren, welche nach diesem die Wirkung des Lohengrin beurtheilen wollten. Am nächsten glaubt man gewöhnlich der Sache zu kommen, wenn man W. mit Gluck vergleicht, ihm ein ähnliches reformatorisches Streben zuschreibt. In der That ist die Stellung Beider eine verwandte, in so weit eine gleiche, als Beide den leeren Formalismus ihrer Zeit vernichtet haben. Der himmelweite Unterschied W.’s und Gluck’s ist aber der, daß der Letztere nur Wahrheit erstrebte innerhalb der bisherigen Stellung der Musik zum Text, während bei dem Ersteren zum ersten Male die innigste Vereinigung von Wort und Ton zur Erscheinung gekommen ist, so daß eine Trennung beider Elemente, eine Loslösung der Musik insbesondere, gar nicht denkbar ist. Gluck war Reformator der Oper, Wagner ist Schöpfer des musikalischen Dramas; Jener wollte als Musiker Wahrheit des Ausdrucks, Dieser als universeller Künstler; früher hatten wir allein durch die Musik, insbesondere durch die charakteristischen Wendungen der Singstimme dargestellte Charaktere, hier ist die Charakteristik eine durch das Zusammenwirken aller künstlerischen Elemente erzielte. Die Musik als selbstständige Kunst hört auf; das, was ihr bisher diese Selbstständigkeit verlieh, ist verschwunden; statt dieser einseitigen Bevorzugung haben wir eine weit größere, einheitsvolle, harmonische Schöpfung aller Künste, und das insbesondere ist das Bewunderungswürdige, daß auf diesem völlig neuen Wege Alles schon so klar, fertig, vollendet erscheint, so wenig noch von irgend welchem Versuch, von einer Unsicherheit die Rede sein kann, daß sich uns das Werk mit der Gesundheit, mit der inneren Nothwendigkeit eines Naturproducts darstellt. Eine wesentlich andere ist die Stellung des Orchesters, sowohl in seiner äußeren Anordnung, wie noch viel mehr in seiner geistigen Bedeutung. Ich kann nicht anders sagen, als: eine Welt der Poesie ist in dieses Orchester gelegt. Die Charaktere im Lohengrin erscheinen wie aus Erz gegossen, so groß ist die Gewalt dieser Charakteristik. Das Orchester ist es,
Brendel 1846 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper III. Zukunft, in: NdS 1 Nr. 4. Wagner 1852 Oper und Drama sowie die das Werk popularisierenden Aufsätze Theodor Uhligs in der NZfM (siehe Uhlig 1850 Wagner’s Schriften). 10 Siehe Brendel 1846 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper III. Zukunft, S. 59 f., in: NdS 1 Nr. 4, S. 51, originale Anm. 1. 8 Siehe 9 Siehe
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dem ein Hauptantheil daran gebührt. In das innerste Leben der handelnden Personen gestattet es uns den Einblick in einer Weise, wie ich fast kein zweites Beispiel dafür zu nennen weiß. Auch die Behandlung der Singstimme ist natürlich eine ganz andere, und alles Figurenwerk völlig beseitigt. Trotzdem ist dieselbe eine so wirkungsvolle, daß hier nicht entfernt an jene Umkehrung des wahren Verhältnisses zwischen Gesang und Orchester, wie es in neuerer Zeit so oft bei uns vorgekommen ist, gedacht werden kann. War bisher die Kunst eine künstliche, war sie durch eine im Fortgange der Zeiten sich immer mehr vergrößernde Scheidewand von der Natur getrennt, war die musikalische Form nach und nach dahin gediehen, daß sie im Widerspruch stand zu aller Natur, so haben wir hier eine Rückkehr zu derselben, in einer Weise, daß Kunst und Natur in vollendetster Einheit sich uns darstellen. Wenn daher Jemand ta[d]elnd sagte, daß wir bei solcher Kunst in die Wälder zurückkehren könnten zu uranfänglicher Wildheit, so liegt darin neben der Verkennung der unermeßlichen Kunst Wagner’s das Wahre, daß wir hier allerdings zur Natur zurückkehren, in der That aber nur um erst wahrhafte Menschen zu werden, um uns von allem Erlogenen und Gemachten zu befreien. Was den Inhalt des Werkes betrifft, so bekenne ich offen, daß wir hier den einer erneuten Menschheit vor uns haben. Man sieht sogleich, wie diese Per-[39]sönlichkeit nicht mehr kämpft mit dem Bisherigen, wie dieselbe im Gegentheil in ihrem Innern siegreich eine neue Welt aufgebaut hat. Der Inhalt des Lohengrin ist ein so ursprünglich kräftiger, rein menschlicher, daß sich hieraus die Erscheinung erklärt, wie in den bisherigen Vorurtheilen Befangene ganz verdutzt dastehen, und nicht wissen, was sie sagen sollen. Ueberwiegend sind Stimmungen schwärmerischer Entrücktheit, wozu der Text so viel Gelegenheit bietet; aber es würde falsch sein, diese Seite vorzugsweise hervorzuheben, denn die universelle Natur des Schöpfers dieses Werkes weiß den verschiedenartigsten Situationen gleich sehr gerecht zu werden, und es ist darum ganz unmöglich, Einzelnes aus dem Zusammenhange zu reißen, und besonders namhaft zu machen. Nur eine Einzelheit sei mir zu erwähnen gestattet. Wenn ängstliche Gemüther bei der einseitigen Bekanntschaft mit dem Texte an dem Anfang des dritten Actes, wo Lohengrin und Elsa im Brautgemach allein sind, Anstoß glaubten nehmen zu müssen, so werden diese Bedenken bei der Darstellung glänzend widerlegt. Es ist das Alles so keusch und rein, dieses Liebesgespräch gehört so sehr zu dem Herrlichsten, was überhaupt die gesammte Kunst aufzuweisen hat, daß nur Einer, der sich glücklich aus der Verdorbenheit unserer Zustände und Empfindungen herausarbeitete, etwas Derartiges schaffen konnte. Wagner hat in sich den ganzen Entwicklungsproceß unserer Zeit durchlebt, in künstlerischen sowohl, wie in allgemein menschlichen Dingen; er hat die ganze Arbeit, die ein totaler Umschwung mit sich bringt, auf sich genommen, und ist durch alle Zweifel und Reflexionen hindurch zum neuen, sichern Ausgangspunkte vorgedrungen, er hat den Boden einer erneuten Naivität im Schaffen betreten. Entsteht nach alle Dem die Frage, ob Wagner’s That die des Genius der Zeit ist, so bejahe ich diese Frage aus voller Ueberzeugung. Wir Alle, die wir der Ansicht sind, daß die bisherige Kunst sich nicht mehr zu halten vermag, die wir uns mit Ekel und Widerwillen von dem Scheusal der gegenwärtigen Oper abwandten, haben das Bewußtsein besessen, daß der Wagner’sche Weg als der einzig richtige jetzt zu betreten ist, wir haben die nächsten Bedingungen erkannt, welche zu dem Besseren,
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zu dem Neuen führen. Wagner hat diese Bedingungen alle erfüllt; neben der Erfüllung aber dieser Bedingungen ist er mit einer That des Genies hervorgetreten, von der wir keine Ahnung hatten, und ich bekenne, daß ich mich glücklich fühle, diese That, diesen mächtigen Fortschritt der Kunst erlebt zu haben, daß ich den Eindruck, den die Aufführung des Lohengrin auf mich machte, zu den schönsten künstlerischen Erinnerungen meines Lebens zähle. Nicht mit einer genialen Absonderlichkeit haben wir es hier zu thun, die nur einmal vorhanden, an die Person ihres Schöpfers sich knüpft. Wenn irgend etwas, so ist das Wagner’sche Princip geeignet die Massen zu beherrschen. Nicht eine esoterische Kunst, eine specifische, haben wir vor uns, die nur für Eingeweihte verständlich; im Gegentheil, die Befreiung der Kunst zu allgemein menschlicher Wirkungsfähigkeit. Erscheinen jetzt noch nicht Alle von dieser Richtung erfaßt, so liegt der Grund darin, daß die Sache noch zu neu, daß noch zu viele alte Vorurtheile zu beseitigen sind. Immer zahlreicher indeß werden die Stimmen, welche unbedingt beipflichten. Wagner hat es uns leicht gemacht, eine solche Prophezeiung auszusprechen, da er die Bahn mit so vollendeten Werken gebrochen. Wohl möglich, daß meine Worte dem ruhigen Leser wie im Rausche des Enthusiasmus gesprochen erscheinen; ich kann nur wiederholen, daß ich damit zugleich die ruhigste Ueberzeugung darlege. Statt alles Weiterem berufe ich mich auf alle Die, welche zu verschiedenen Zeiten den Aufführungen in Weimar beigewohnt haben; zum Theil die Urtheilsfähigsten unserer Zeit, ist der Eindruck auf sie derselbe gewesen. Noch Vieles ist zu sagen, doch drängt mich die Zeit; ich mag diesen Bericht nicht länger verzögern, und bin daher genöthigt, abzubrechen. Die Besprechung des Clavierauszuges wird Gelegenheit geben, das hier Gesagte zu ergänzen. Nur einige Worte über das Weimarische Musikleben überhaupt mögen mir hier noch gestattet sein. Es ist hier namentlich der Wirksamkeit Liszt’s zu gedenken; ihm haben wir es ja zu danken, daß Wagner’s Schöpfungen, daß insbesondere Lohengrin, den der Autor selbst noch nie gehört hat, unter uns Leben gewann. Die Thätigkeit Liszt’s in Weimar ist die rühmlichste, musterhafteste. Es hat den Anschein, als könne jetzt Weimar Das für die Tonkunst werden, was es früher für die Poesie war.11 Weimar ist jetzt die bedeutendste Musikstadt Deutschlands, nicht zwar durch die Größe seiner Mittel, wohl aber durch den Geist, der dort waltet. Liszt’s Thätigkeit ist eine solche, wie wir sie immer in diesen Bl. als die von der Zeit geforderte Aufgabe bezeichnet haben, wie wir sie aber bis jetzt an keinem Orte Deutschlands in diesem Grade verwirklicht finden. Ein Beweis für die große Begabung desselben ist es, daß er vermocht hat, nach einer künstlerisch stürmischen, bewegten Jugend diese Wendung in sich zu vollbringen, eine zweite auf das Höchste der Kunst gerichtete Entwicklungsstufe zu erreichen. Nicht blos in seiner praktischen Wirksamkeit zeigt sich diese Wendung, auch in seiner Compositionsthätigkeit, die eine ganz andere Richtung genommen hat. Was die erstere betrifft, so hat sich Liszt ganz [40] ent-
11 Brendel referiert hier Liszts Anspruch, das Erbe Goethes und Schillers anzutreten und Weimar zu einer neuen Blüte der Kunst zu führen. Vgl. Altenburg 1997 Liszt und die Weimarer Klassik.
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schieden auf den Standpunkt der Neuzeit gestellt. Während man bis jetzt mehr oder weniger gewohnt war, von der Größe der Vergangenheit zu zehren, an die Gegenwart und Zukunft der Kunst aber nicht zu denken, womit man jede Weiterentwicklung derselben natürlich schon im Keime ertödtete, bringt Liszt das Hervorragendste der Gegenwart zur Aufführung, ohne dabei das Classische der Vergangenheit zu vernachlässigen. – Ein sprechender Beweis für seinen allbelebenden Einfluß, für die Begeisterung, welche er zu wecken vermag, ist die Darstellung des Lohengrin. Hier zeigt sich deutlich, was, selbst bei beschränkten Mitteln, geleistet werden kann, wenn Intelligenz von oben und guter Wille und Strebsamkeit der Ausführenden zusammenwirken. Auch die Darstellung, die Leistung der Sänger hat mich im hohen Grade befriedigt. Ich will hiermit keineswegs aussprechen, daß nichts zu wünschen übrig blieb, aber ich war freudig überrascht, der Unnatur und dem Schlendrian auf anderen Bühnen gegenüber, hier dem Geiste der Wagner’schen Schöpfungen entsprechend, eine ganz andere Bahn betreten zu sehen. Es ist hier der Verdienste Genast’s12 zu gedenken. Genast ist eingegangen auf die Forderungen, die bei der Darstellung eines Wagner’schen Werkes gemacht werden müssen. Er steht in seinem Wirken Liszt würdig zur Seite. Wie man Ernst macht, wie man dem theatralischen Herkommen, wenn nöthig, entgegentritt, möge, statt vieler, ein Beispiel beweisen. Das Herkommen schreibt vor, daß die Darstellenden die Albernheit begehen, sich dem Publikum stets zuzuwenden, auch in Fällen, wo die Sache eigentlich fordert, daß sie ihm den Rücken zukehren. Hier haben wir den Fall, daß einmal der ganze Chor dies thut, indem er dem Hintergrunde der Scene sich zuwendet. Daß diese Wahrheit der Darstellung von einer ohne allen Vergleich größeren Wirkung ist, bedarf keiner Bemerkung. Ich erwähnte schon der Verdienste der Ausführenden. Frau v. Milde13 als Elsa war vortrefflich; auch von Hrn. v. Milde’s14 (Telramund) Leistungen gewann ich eine ganz andere Vorstellung, als nach seinem Auftreten in unseren Gewandhausconcerten der Fall war. Der Lohengrin wurde dargestellt von Hrn. Beck15, die Partie der Ortrud war in den Händen der Frau Knop-Fehringer16. Alle Mitwirkende beeiferten sich, zum Gelingen des Ganzen beizutragen. Eine solche Vorführung ist aber auch durchaus nothwendig. Ein Wagner’sches Werk in den gegenwärtigen Schlendrian der Darstellung hinein-
12 Eduard Genast (1797 –1866), Sänger, Schauspieler, Komponist und Regisseur, gehörte ab 1829 dem Ensemble des Weimarer Hoftheaters an und trat dort in den Jahren 1833 bis 1851 auch als Opernregisseur in Erscheinung. Nach seiner Pensionierung 1860 wirkte Genast als Gesangslehrer am Leipziger Konservatorium. 13 Rosa von Milde, geb. Agthe (1825 –1906), Sängerin, debütierte 1845 am Weimarer Hoftheater. Als führende Sopranistin der Hofoper war sie z. B. in den Rollen der Elisabeth, Elsa und Senta in den Ur- bzw. Erstaufführungen Wagner’scher Opern zu erleben, bevor sie sich ab 1867 verstärkt dem Unterrichten zuwandte. 14 Feodor von Milde (1821–1899), Sänger, wirkte gemeinsam mit seiner Frau Rosa ab 1848 am Weimarer Hoftheater. Er sang als Bariton u. a. 1850 in der UA des Lohengrin die Rolle des Telramund sowie 1858 die Titelpartie in Cornelius’ Barbier von Bagdad und blieb noch bis 1884 der Bühne treu. 15 Karl Beck (1814 –1879) war in den Jahren 1850 bis 1853 als Tenor am Weimarer Hoftheater engagiert und sang u. a. die Titelpartie in der Uraufführung von Lohengrin am 28. August 1850. 16 Agathe Auguste KnoppFehringer (1822 –1877), Sängerin und Schauspielerin, kam nach Engagements u. a. in Berlin, Hamburg und Prag sowie erfolgreichen Gastspielen im gesamten deutschsprachigen Raum 1851 an das Theater in Weimar, wo sie mit Unterbrechungen bis 1861 wirkte.
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gerissen, führt unausbleiblich zur Carrikatur. Wenn einst Gluck sagte, daß die Vernachlässigung des Geringsten bei ihm den Effect einer Scene gänzlich zerstören könne, so gilt dies in noch weit höherem Grade von Wagner’s Werken. Man kann unsere Theater nicht auffordern, sie zur Aufführung zu bringen, man muß sie eher ersuchen, dieselben nicht zu geben, so lange nämlich, als sie sich nicht bequemen wollen, höheren Anforderungen an die Darstellung Eingang zu gestatten. In solchem Falle sind dann freilich unsere Theater nur noch für den geistigen Pöbel vorhanden, während die Gebildetsten der Nation sich von ihnen zurückziehen. Jedenfalls ist als unbedingte Forderung aufzustellen, daß Lohengrin nur nach dem Tannhäuser gegeben werde. Es ist durchaus nöthig, daß das Publikum sich erst an den neuen Kunststandpunkt gewöhne. Wie in Dresden Tannhäuser, in Weimar beide Opern Lieblinge des Publikums geworden sind,17 so kann das auch an anderen Orten nicht ausbleiben, wenn man diesen Wink beachtet. Im anderen Falle würde ich, wenigstens für den Augenblick, ein minder günstiges Resultat fürchten. Die großherzogliche Familie wohnte der Aufführung von Anfang bis zu Ende, d. h. von 6 bis gegen 10 Uhr, mit sichtlicher Theilnahme bei. Es ist der Weimar’sche Hof, dem alle diese Kunstbestrebungen zu danken sind. Wie er einst der deutschen Poesie eine Heimath gründete, so jetzt der Tonkunst. Noch hatte ich Gelegenheit, die Leistungen des schon vor Kurzem in dies. Bl. erwähnten18, durch die HH. Joachim, Stör19, Walbrül 20 und Coßmann21 vertretenen Streichquartetts im Vortrag des Beethoven’schen Cis-Mollquartetts22 zu bewundern. Gestehe ich’s nur: als der geehrte Correspondent dies. Bl. bemerkte, daß ein zweites von gleicher Vortrefflichkeit jetzt wohl kaum existire, hielt ich diese Aeußerung für eine etwas enthusiastische. Um so mehr war ich überrascht, als die Vollendung der Ausführung mich zwang, in meinem Inneren stillschweigend dem Correspondenten Abbitte zu thun, und ihm beizupflichten.
17 Das
Werk hatte in Weimar von seiner Erstaufführung am 16. Februar 1849 bis zum Erscheinen des vorliegenden Artikels neun Aufführungen erlebt (vgl. Digitales Archiv des Thüringischen Hauptstaatsarchivs, [03.03.2019]). 18 Anonym 1851 Aus Weimar, S. 287: „[S]o wird man uns nicht der Uebertreibung anklagen, wenn wir sagen, daß die Weimar’schen diesjährigen Quartettabende etwas Exceptionelles bieten, was nicht leicht oder vielmehr gar nicht anderwärts gefunden werden dürfte.“ 19 Karl Stör (1814 –1889), war jahrzehntelang Geiger der Weimarer Hofkappelle und ab 1851 deren erster Musikdirektor. Nach Liszts Ausscheiden 1858 übernahm er zusammen mit Eduard Lassen die Leitung der Weimarer Hofkapelle. 20 Johann Walbrül (Lebensdaten unbekannt) war Geiger und Konzertmeister in der Weimarer Hofkapelle und unterrichtete später auch Violine und Streichquartett an der Weimarer Orchesterschule. 21 Bernhard Cossmann (1822 –1910), war von 1850 bis 1860 Cellist in der Weimarer Hofkapelle und trat daneben u. a. als Solist und Kammermusiker im Streichquartett von Joseph Joachim auf. In den Jahren 1866 bis 1870 hatte Cossmann eine Celloprofessur am Konservatorium Moskau und seit 1878 am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt am Main inne. 22 Beethoven, Streichquartett Nr. 14 cis-Moll op. 131 (ED 1827).
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Kommentar Der vorliegende, enthusiastische Bericht Brendels markiert in mehrfacher Hinsicht einen Beginn in seinem Wirken als Redakteur der NZfM: Durch die Bekanntschaft mit Wagners kunsttheoretischen Schriften sowie dem Klavierauszug des Lohengrin vertraut, stellte die Weimarer Aufführung des Werkes unter der Leitung Liszts für Brendel gleichsam den ‚praktischen‘ Beweis für die Richtigkeit der von ihm bereits zuvor in Artikeln ausgesprochenen Überzeugung dar,23 in Wagner denjenigen Komponisten zu erblicken, der die von ihm seit 1845 angemahnte Reform der Oper in die Tat umsetzen könnte. Darüber hinaus wird in dem Aufsatz zugleich erstmals sowohl die kompositorische als auch dirigentische Tätigkeit Franz Liszts in Weimar, der dort seit 1848 seinem Amt als „Hofkapellmeister im außerordentlichen Dienst“ nachkam, in der NZfM gewürdigt. Liszts Pläne für das Weimarer Theater waren ambitioniert und verbanden das Anknüpfen an die große literarische Vergangenheit der Stadt mit dem Eintreten für zeitgenössische musikalische Werke. Sowohl im Bereich des Musiktheaters als auch schriftstellerisch24 setzte sich Liszt vor allem für die Opern Wagners ein, dessen Tannhäuser er bereits 1849 in Weimar erstaufgeführt hatte. Die von Liszt geleitete Weimarer Lohengrin-Uraufführung im Jahr 1850 markierte nicht zuletzt den Beginn einer internationalen Wagner-Rezeption. Das Musikleben Weimars fand aufgrund dieser herausragenden Ereignisse nicht nur in der NZfM, sondern auch in zahlreichen anderen Musikzeitschriften breiten Niederschlag.25 Diese Berichterstattung, welche die mitteldeutsche Residenzstadt bewusst zum musikkulturellen Zentrum Deutschlands stilisierte,26 flaute erst nach Liszts Niederlegen seines Kapellmeisteramtes 1858 und endgültig 1861 mit seinem Weggang aus Weimar ab.
1851 Einige Worte über Wagner, in: NdS 1 Nr. 25; Brendel 1851 Zur Beurtheilung der Schriften sowie Brendel 1852 Zum neuen Jahr, in: NdS 1 Nr. 27. 24 Liszt 1851 Lohengrin et Tannhaüser sowie Liszt 1851 Richard Wagner’s Lohengrin, kritisch ediert in Liszt-Schriften 4. 25 In der NZfM z. B.: Brendel 1852 Ein zweiter Ausflug nach Weimar; Brendel 1852 Ein dritter Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 37; Anonym 1852a Aus Weimar. In anderen Zeitschriften z. B.: Anonym 1852b Aus Weimar; Anonym 1852 Weimar; Anonym 1852 Hektor Berlioz in Weimar; Schindelmeisser 1852 Aus Weimar; x. 1853 Aus dem Musikleben Weimars; Lobe 1853 Liszt und Berlioz in Weimar; Anonym 1854 Aus Weimar; Anonym 1855 Weimar; Damrosch 1855 Weimar; Anonym 1855 Liszt, Wagner, and Weimar; Pohl 1856 Vertrauliche Briefe aus Weimar, in: NdS 2 Nr. 88; Anonym 1857 Die Festtage in Weimar; Cornelius 1857 Weimar; Gottschalg 1858 Musikleben in Weimar; Anonym 1861 The World of Weimar sowie Müller 1861 Ein Blatt der Erinnerung. 26 Vgl. hierzu Deaville 2006 Die neudeutsche Musikkritik sowie Deaville 2012 Liszt and Brendel. 23 Brendel
Nr. 29 | Richard Wagner, „Ein Brief an den Redacteur der Neuen Zeitschrift für Musik“, in: NZfM 19 (1852), Bd. 36, Nr. 6 (6. Februar), S. 57 – 63.1
Ein Brief an den Redacteurder Neuen Zeitschrift für Musik. Von Richard Wagner.
Geehrter Freund! Sie wünschen, ich möchte Ihnen meine Ansicht darüber aussprechen, welchen Antheil eine „Zeitschrift für Musik“ an dem Prozesse nehmen solle, den unsre heutige Musik nothwendig zu bestehen hat, und in welcher Weise dieser Antheil zu einer gemeinnützigen Geltung zu bringen wäre? Es ist mir jetzt unmöglich, und ich wünschte sehnlichst, es würde mir für alle Zeiten unnöthig, mich mit weiteren schriftstellerischen Arbeiten zu befassen; dennoch will ich es versuchen, über die vorliegende Frage mit Ihnen mich zu verständigen, und zwar in der mir einzig möglichen Weise, nämlich daß ich die mitzutheilende Ansicht als die aus meinen besonderen Anschauungen hervorgegangene, durch Das, was mir als Wunsch verbleiben mußte, veranlaßte, somit nicht als absolute, Ihnen durchaus aufzunöthigende, hinstelle. Ich will Ihnen also darüber mich kundgeben, was ich thun würde, wenn Umstände und Stimmungen es mir auferlegten, eine Zeitschrift für Musik herauszugeben; nur wenn ich auf diesem ganz individuellen Standpunkt mich halten darf, wird auch mein Wunsch, Sie mit meiner Ansicht zu befreunden, ein unbefangener bleiben können. Zunächst gestehe ich Ihnen aufrichtig, daß es eine Periode in meinem Leben gab, in der ich keine musikalischen Zeitschriften mir zu Gesicht brachte, und daß ich nachher Grund erhielt, jene Periode – mindestens gerade in diesem Bezuge – für eine der glücklicheren meines Lebens zu halten. Es war dies die Zeit, wo ich in Dresden als Kapellmeister all meinen Eifer auf die Aufführung musikalischer Kunstwerke verwandte, wo ich somit all meine Hoffnungen für das Gedeihen der Kunst auf die von mir geleitete unmittelbare Darstellung, auf die praktische Verwirklichung meiner künstlerischen Absichten setzen zu dürfen glaubte.2 In dieser Zeit widerte mich alles Gerede und Geschreibe über die Kunst so heftig an, daß höchstens dieser
1 Auch
abgedruckt als „Über musikalische Kritik. Brief an den Herausgeber der ‚Neuen Zeitschrift für Musik‘“, in: Wagner-Schriften 5, S. 53 – 65. Das Originalkonzept des Briefes an Brendel findet sich in Wagner-Briefe 4, S. 257 – 268. 2 Wagner wirkte von 1843 bis 1849 als Königlich Sächsischer Hofkapellmeister in Dresden.
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mein Widerwille mich veranlassen konnte, ab und zu mich selbst auszusprechen.3 Ich nannte soeben diese Periode eine glücklichere meines Lebens: sie war es dadurch, daß ich mich zu täuschen vermochte. Das, was ich damals wollte, konnte ich nie zu meiner vollen Befriedigung ausführen; von allen den Umständen, die mich daran hinderten, und die ich ihrem Zusammenhange nach in einer „Mitteilung an meine Freunde“4 kürzlich bestimmter andeutete, hebe ich für meinen heutigen Zweck hier zwei heraus: die gänzliche Geschmacksverwirrung des Publikum’s, und die Kopf- und Ehrlosigkeit der Kritik. – Am liebsten wendet sich [58] der wirkliche Künstler an die volle Unbefangenheit des rein menschlichen Herzensgefühles: trifft er dies, wie seine Erfahrung ihn belehren muß, bei unsrem Theater-Publikum nicht an, so sieht er sich nothgedrungen nach Hülfe von Seiten des gebildeten Kunstverstandes, nach Vermittelung durch die Kritik um. Der bald gewonnene Ekel vor dem Publikum trieb auch mich endlich unwiderstehlich in diese bedürfnißvolle Stellung zur Kritik, und hier, wo ich sie selbst suchte, und somit nicht mehr absichtlich sie von mir weisen konnte, war es, wo ich das Wesen unsrer modernen Kritik ganz erkennen und gegen sie zunächst fast einzig nun zu Felde ziehen mußte. Was ich von Kunstschriften seitdem veröffentlicht, ist keineswegs, wie Manche mir dies als Absicht unterstellen zu müssen glaubten, ein Appell an das Publikum, sondern in ihnen wende ich mich von dem modernen Publikum, das ich als eine sinn- und herzlose Masse verloren zu geben hatte, ab gegen die Kritik, das heißt: gegen die kritiklose, schlechte Kritik, die Kritik, die weder vom Gefühle noch auch vom wahren Verstande geleitet wird, und die ihr Fortbestehen einzig auf die Verwahrlosung der Masse gründet, von dieser Verwahrlosung lebt, und um ihres Lebens Willen sie selbst fördert. Ich sage: ich wandte mich gegen diese Kritik, nicht aber an sie; denn sie selbst verbessern zu wollen, kann Demjenigen nicht beikommen, der bereits das Publikum aufgeben mußte, – das Publikum, das in seiner Verderbtheit doch wenigstens unwillkürlich ist, wogegen die Kritik in ihrer Versunkenheit von willkürlicher Grundsätzlichkeit ausgeht. Immerhin aber wandte ich mich, wie dies mit schriftstellerischen Arbeiten gar nicht anders der Fall sein kann, nur an die Kritik, das heißt jedoch: an die neu zu gewinnende Kritik der gesunden Vernunft, nämlich des Verstandes, der mit Bewußtsein keinen Augenblick als seinen fortgesetzten Ernährer das gesunde Gefühl aufgiebt; somit nicht an die kritische Routine der alten, vom Gefühle losgeschraubten Methode, der Methode, die höchstens aus derselben Gefühlsverwirrung und Stumpfsinnigkeit sich erhält, die wir am Publikum wahrnehmen, sondern an die durchaus unroutinirte Anschauung derjenigen gebildeten Menschen, die gleich mir sowohl von dem modernen Publikum, wie von der heutigen Kritik sich unbefriedigt fühlen.
3 In
dieser Zeit verfasste Wagner etwa seine Abhandlung über Beethovens 9. Symphonie (Wagner 1846 Neunte Symphonie) sowie die Reformschrift „Entwurf zur Organisation eines deutschen Nationaltheaters für das Königreich Sachsen“ (Wagner 1848 Organisation eines deutschen Nationaltheaters). 4 Wagner 1852 Drei Operndichtungen nebst einer Mittheilung an meine Freunde.
Wagner 1852 Ein Brief an den Redacteur
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Seit dieser Zeit nahm ich auch wieder musikalische, wie überhaupt Kunstinteressen gewidmete Zeitschriften zur Hand, weil ich fühlte, daß ich anderswo, als da – im Publikum – wo ich sie bisher suchte, die Menschen aufsuchen müßte, an die ich zur Befriedigung meines neuen Mitteilungsbedürfnisses mich zu wenden hatte. Ich hatte nämlich einsehen gelernt, daß es ein ganz voreiliges, und deshalb fruchtloses Bemühen sei, mit dem Kunstwerke selbst sich an das unbefangene Gefühl wenden zu wollen, sobald dies eben den beabsichtigten neuen Erscheinungen einer lebenvollen Kunst gegenüber gar nicht vorhanden ist, sondern daß vor Allem auf die Zerstörung der, für den Künstler so tödtlich hinderlichen Befangenheit dieses Gefühles, wie wir es in der Oeffentlichkeit antreffen, hinzuarbeiten sei. Mußte ich nun wohl erkennen, daß der Grund dieser Gefühlsbefangenheit tief in unsrem politischen und socialen Leben selbst wurzele, und daß nur eine vollständige Umgestaltung dieses Lebens die natürliche Geburt der Kunst zu Tage fördern könnte, die ich in das Auge faßte; hatte ich diese Forderung, zum klaren Verständnisse meiner eigentlichen Absicht, voranzustellen, und auf sie den Hauptnachdruck so zu legen, wie ich es in den ersten Schriften aus meiner neueren Periode (in „Kunst und Revolution“5 und im „Kunstwerk der Zukunft“6) that: so mußte ich dagegen doch ebenfalls inne werden, daß zu jener Neugeburt der Kunst aus dem Leben eine zweite Macht mitschöpferisch sein müsse, die sich als bewußtes Wollen dieser Kunst kund zu geben habe. Diesen bewußten Willen in allen Denen hervorzurufen, die sich von unsrer heutigen Kunst und Kritik eben unbefriedigt fühlen, mußte mir zunächst als die Hauptaufgabe für das Streben des Künstlers der Gegenwart erscheinen; denn aus dem Mitverlangen Anderer, und endlich Vieler, kann ihm einzig die ernährende Kraft für sein höheres, auf das Kunstwerk selbst gerichtetes Streben erwachsen. Dieser Wille kann aber nicht eher gefaßt werden, als bis wir den Erscheinungen des heutigen Kunstlebens gegenüber uns vollkommen klar darin geworden sind, daß der Grund, weshalb sie uns nicht befriedigen, nicht etwa ein zufälliger, z. B. ein unbedingtes Ausgehen des künstlerischen Vermögens, sondern vielmehr ein ganz nothwendiger, in einem großen Zusammenhange wohlbedingter sei: und diese klare Einsicht gewinnen wir jetzt nur auf dem Wege der Kritik, d. h. aber eben einer unterscheidungs- wie verbindungsfähigen, gesunden, gefühlskräftigen, revolutionären Kritik, im Gegensatze zu der modernen sichtungs- und vereinigungsunfähigen, daher das reine Herkommen conservirenden, restaurationssüchtigen Kritik. Eine genaue Verständigung über die Beschaffenheit der modernen Kunst, sowie über die Ursachen dieser unbefriedigenden Beschaffenheit, ist daher das Nächste, was wir uns verschaffen müssen; ehe sie unter uns nicht mit rücksichtslosester Aufrichtigkeit bewerkstelligt worden ist, können wir über Das, was wir an die Stelle der jetzigen Kunst wünschen, nur in immer größere Verwirrung gerathen; wogegen wir dann, sobald wir uns über dieses Nächste vollkommen aufgeklärt haben, ganz von [59] selbst auch die Kraft zu dem Willen erlangen müssen, den ich soeben als nothwendig zur Mitwirkung bei der Geburt der Kunst der Zukunft, finde diese ihre letztermöglichenden Bedingungen auch nur im Leben selbst, bezeichnete.
5 Wagner
1849 Kunst und Revolution.
6 Wagner
1850 Kunstwerk der Zukunft.
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Sie sehen also, geehrter Freund, daß ich den Werth der Mitwirksamkeit der Kritik zu den höchsten künstlerischen Zwecken gewiß nicht gering anschlage, und wahrlich! wie könnte ich anders, sobald ich, gerade in meinem Drange zum Leben, eben der Zeit und den Umständen, in denen wir leben, Rechnung trage und erkennen muß, daß eben unsrem Leben gegenüber jede Bemühung fruchtlos bleiben muß, wenn das Charakteristische und Wesenhafte gerade unsrer Zeitumstände, dieser durchaus nur der Kritik, nicht aber der Kunst raumgebenden Zeitumstände, nicht vollständig in Betracht genommen wird? Leben wir denn nicht nur dadurch, daß wir gerade heute und unter den Bedingungen der Gegenwart leben, und geht selbst unser edelstes Streben, das Streben nach Vernichtung der Gründe der Kritik, nicht eben aus dieser Gegenwart hervor? Ist unser Wunsch, den Charakter der Gegenwart zu vernichten, nicht eben ein Wunsch, der nur aus unsrer Gegenwart seine Nahrung gewinnt, und können wir ihn anders zur erfolgreichen Geltung bringen, als eben nur in den Formen, die uns die Gegenwart als einzig verständliche ermöglicht? Gerade die entscheidendste, weil zunächst nothwendigste, Thätigkeit für die Geburt der neuen Kunst läßt sich meiner stärksten Ueberzeugung nach jetzt sehr wohl, ja fast einzig erfolgreich, in einer diesem Zwecke gewidmeten Zeitschrift ausüben, und die Frage gälte jetzt nur Dem, inwiefern und unter welchen Bedingungen eben eine „Zeitschrift für – Musik“ zum Vereinigungspunkte der in diesem Sinne wirkenden kritischen Kräfte geeignet sein könnte? Lassen Sie mich eben diese Frage nach meiner besonderen Ansicht beantworten. Zuvörderst erzähle ich Ihnen, daß ich, als in letzter Zeit ab und zu der Wunsch in mir entstand über diese oder jene Erscheinung unsres Kunstlebens mich öffentlich auszusprechen, vergebens nach einer Zeitschrift suchte, die mir zur Aufnahme des von mir Verfaßten wirklich geeignet erschienen wäre: entweder half ich mir eben nur so gut es ging, oder ich unterdrückte meine Mittheilung ganz. – Unsre ästhetischen Zeitschriften sind nicht künstlerischen, sondern literarischen Interessen gewidmet, und daher in Dem, was sie wollen (wenn sie überhaupt etwas wollen) ganz so verschieden von Dem, was ich will, wie die Literatur eben von der Kunst verschieden ist. Sie kommen nie mit der wirklichen Kunst in Berührung, sondern immer nur wieder mit der Kritik, sie leben einzig von der erdenklichsten Möglichkeit der Kritik, und indem sie Kritik auf Kritik übereinander speichern, gleicht ihre Thätigkeit derjenigen der verschiedenen russischen Polizeien, von denen eine über die andere gesetzt ist, weil von jeder angenommen wird, daß sie unredliches Spiel treibe. Wie nun aber das eigentliche Volk, oder besser: der Mensch, sich zu diesen Polizeien verhält, so verhält sich auch die wirkliche Kunst zu jenem kunstliteraturkritischen Zeitschriftenkomplex: wie man in den Bureaux jener verschiedenen Polizeien den wirklichen Menschen, wollte er sich nach seinem natürlichen Gefühle dort äußern, für toll und verrückt halten müßte, so kann der wirklich die Kunst wollende Mensch in diesen Literaturzeitschriften ebenfalls nur als verdrehter, überspannter Kopf erscheinen; denn wenn jene verschiedenen Polizeien ihren Gesichtskreis am Weitesten ausdehnen, so schwingen sie sich endlich nur zu dem Begriffe: Polizei überhaupt,
Wagner 1852 Ein Brief an den Redacteur
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auf, ganz wie unsre Literaturzeitschriften in ihrer höchsten Potenz endlich nur den Begriff: Literatur überhaupt, fassen könnenI. Unsre moderne Musik hat vor der eigentlichen Literatur nun wenigstens Das voraus, daß sie durchaus sinnlich wahrnehmbar sein, erklingen muß, um vorhanden zu sein, und eine Zeitschrift für Musik hätte demnach das Vorzüglichere an sich, daß sie sich wenigstens unmittelbar mit der sinnlichen Erscheinung einer Kunst befaßt, die ohne diese Sinnlichkeit gar nicht gefasst werden kann; wogegen z. B. die dichterische Literatur selbst nur dadurch vorhanden ist, daß sie ohne diese Sinnlichkeit vorhanden ist. Daß allerdings die Musik einer Literatur bedurft hat, die sich mit ihr befasse und ihr Verständniß vermittele, daß es somit „Zeitschriften für Musik“ geben konnte, dies hat uns eben die schwache Seite auch dieser Kunst aufdecken müssen, wie die schwache Seite aller unsrer „bildenden“ Künste, Architektur, Bildhauerei und Malerei, [60] sich dadurch herausgestellt hat, daß auch sie der literarischzeitschriftlichen Vermittelung zu ihrem Verständnisse nöthig hatten. Es kommt nun aber nur darauf an, in der literarisch vermittelnden Bemühung für die Musik so weit zu gelangen, daß diese schwache Seite vollkommen aufgedeckt, die Beschaffenheit unsrer Musik, eben aus dem Grunde, daß sie der literarischen Vermittelung bedurfte, als eine fehlerhafte erkannt, der Charakter und die Ursache dieser Fehlerhaftigkeit genau erörtert, und somit der redliche Wille an den Tag gelegt werde, die Musik aus ihrer unrichtigen Stellung zu befreien, und dagegen sie in die einzig richtige zu bringen, in welcher sie dereinst der literarischen Vermittelung zu ihrem Verständnisse eben nicht mehr bedürfen soll: so ist auch fortan der Thätigkeit einer Zeitschrift „für Musik“ ein Charakter gewonnen, der sie, unmittelbar auf das Leben der Kunst
I Daß
zwischen unsren kritischen Literaten und der russischen Polizei eine ganz bestimmte Verwandtschaft der Gesinnung besteht, können Sie beiläufig aus einer neuesten Recension meines Buches „Oper und Drama“ in den Grenzboten erfahren, wo von dem Kritiker (allerdings dem ungeschicktesten seines Metiers) eine Schauspielerin, von der ich anführe, daß sie die jambischen Verse ihrer Rollen, um durch den Anblick derselben nicht zur Unnatur im Vortrage verleitet zu werden, in Prosa ausgeschrieben sich vorlegen ließ, für dieses Beginnen nachträglich mit dem „Staubbesen“7 (soll heißen: Staupbesen8) bedroht wird.9 Sie ersehen hieraus, mit welch grausamen Gegnern wir es zu thun haben: seien wir daher auf unsrer Hut! Von der Grenze, auf der sie sich aufgestellt haben, schicken sie ihre Boten nach Links und Rechts, und sollte von Rechts her einmal die russische Polizei einmarschiren, so sind wir sicher, von ihnen denuncirt zu werden. Die Furchtbarkeit der Züchtigung, die sie dann für uns Männer erbitten, können Sie aber leicht nach dem bemessen, was sie für ein zartes Weib ersonnen haben! Ragocky 1831 Der flotte Bursch, S. 11: „Unter Besen überhaupt wird jedes Frauenzimmer verstanden. Ist sie von Stande, so wird sie Florbesen, ist sie nicht von Stande, sondern aus der niederen Volksklasse, so wird sie Staubbesen genannt.“ 8 Als „Staupbesen“ wurde das Reisigbündel bezeichnet, mit dem ein Verurteilter im Mittelalter öffentlich ausgepeitscht wurde. 9 Siehe Anonym 1852 Das Verhältnis der Oper zum Drama. Darin heißt es (S. 93): „Er [Wagner] läugnet mit der größten Allgemeinheit die Möglichkeit eines Versmaßes in den modernen Sprachen überhaupt, und giebt jener Schauspielerin, die sich Schiller’s Jamben in Prosa ausschreiben ließ, um nicht zu einer falschen Declamation verleitet zu werden, – ein Unterfangen, wofür sie den Staubbesen verdient hätte, – vollkommen Recht.“ 7 Vgl.
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gerichtet, als eine erfreulichste und unter den heutigen Umständen nützlichste im wahrsten Interesse der Kunst erscheinen läßt. Sie, geehrter Freund, geben uns in Ihren neuesten Auslassungen nun die Versicherung, so weit, als ich es hier bezeichnete, vorgedrungen zu sein, und zugleich das Versprechen, einzig in dem soeben von mir dargelegten Sinne fortan ihre literarische Thätigkeit aufwenden zu wollen.10 Ich gestehe Ihnen, bis zu dieser Erklärung nicht im Stande gewesen zu sein, auf die Wirksamkeit einer Zeitschrift für Musik Hoffnungen zu setzen; jedes Erscheinen einer neuen musikalischen Zeitung konnte mir nur ärgerliche oder lächerliche Empfindungen erwecken: die in ihnen gewonnene Möglichkeit, die Musik immer wieder zu bereden und zu beschreiben, und das Gerede und Geschreibe über sie immer wieder von Neuem zu überschreiben und zu überreden, dann aber gar der ekelhafte industrielle Charakter derselben, der sich von der Musik ganz ab endlich nur noch auf Musikalien und Musikanten (was für mich, wie im Grunde auch für sie, ganz dasselbe ist), bis auf musikmachende Räder- und Walzenwerke wandte, – ließen mich bereits den vollsten Byzantinismus ersehen, in welchem unsre Musikzustände angelangt waren, und der ihnen in meinen Augen nur noch die Zeugungsfähigkeit von Eunuchen bewahren konnte. Durch Ihre Erklärung beabsichtigen Sie nun aber vollkommen mit diesen Zuständen zu brechen, d. h. ihren Einflüssen sich zu entziehen, um sie selbst nach Möglichkeit bis zu ihrer Vernichtung zu bekämpfen. Verständigen wir uns jetzt darüber, wie dieser Erfolg einzig zu erstreben wäre, und welcher praktische Weg hierzu eingehalten werden müsse. Soll unsre Musik aus der fehlerhaften Stellung befreit werden, die eine literarische Vermittelung ihres Verständnisses ihr aufnöthigt, so kann dies meines Erachtens nur dadurch geschehen, daß der Musik die weiteste Bedeutung zugelegt werde, die ihr Name ursprünglich in sich schließt. Wir haben uns gewöhnt, unter „Musik“ nur noch die Tonkunst, jetzt endlich sogar nur noch die Tonkünstelei, zu begreifen: daß dies eine willkürliche Annahme ist, wissen wir, denn das Volk, welches den Namen „Musik“ erfand, begriff unter ihm nicht nur Dichtkunst und Tonkunst, sondern alle künstlerische Kundgebung des inneren Menschen überhaupt, in soweit er seine Gefühle und Anschauungen in letzter überzeugendster Versinnlichung durch das Organ der tönenden Sprache ausdrucksvoll mittheilte. Alle Erziehung der athenischen Jugend zerfiel demnach in zwei Theile: in Musik und – Gymnastik, d. h. den Inbegriff all der Künste, die auf den vollendetsten Ausdruck durch die leibliche Darstellung selbst Bezug haben. In der „Musik“ theilte sich der Athener somit an das Gehör, in der Gymnastik an das Auge mit, und nur der in Musik und Gymnastik gleich Gebildete galt ihnen überhaupt als ein wirklich Gebildeter. Wie der als Politiker verkümmernde Mensch endlich das Bemühen, sich leiblich schön darzustellen, aufgab, und somit die Gymnastik Denen überließ, die ihre Ausübung zum Fachgewerbe machten, bis wir jetzt dahin gekommen sind, daß wir diese Kunst nur noch als das Sondereigenthum unsrer Ballet- und Seiltänzer zu erkennen vermögen: so gab derselbe Mensch, als er nur noch philosophische Kritik zu üben vermochte, die wirklich tönende Musik auf, so daß zur Zeit der Alexandriner, wo die Dichtkunst entschieden
10 Siehe
Brendel 1852 Zum neuen Jahr, in: NdS 1 Nr. 27.
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zur Literatur geworden war, die tönende Musik einzig nur noch von Flötern und Leierern ausgeübt wurde. Was diese nun bis auf den heutigen Tag kundgeben, nennen wir routinirten Gedankenlosen allerdings immerfort noch „Musik“; erkennen wir nun aber, daß wir dies mit keiner besseren Befugniß thun, als wenn wir im modernen Leben z. B. die Bezeichnungen „Recht“, „Pflicht“ und „Sitte“ in einem Sinne verwenden, der ihrer ursprünglichen Bedeutung geradezu entgegensteht! – Unsre Musik hat nun in ihrer edelsten Richtung aber bereits die Entwicklung genommen, in welcher sie nothwendig zu ihrer ächtesten Bedeutung, durch Vermälung mit der Dichtkunst gelangen muß; und diese Richtung, wie diese Nothwendigkeit, ist es eben, die ich wahrnahm und mit Bewußtsein bezeichnet habe. Nehmen wir jetzt in einer Zeitschrift für Musik diese Richtung ebenfalls mit Bewußtsein auf, weisen wir ihre Nothwendigkeit in allen Theilen ihres Wesens nach, und dringen wir somit in jeder unsrer Auslassungen auf den Wiedergewinn der wahresten und einzig rechtfertigenden Bedeutung der „Musik“, wonach sie die innigste Vereinigung der Dichtkunst und Tonkunst, [61] als entsprechendste und befriedigendste Aeußerung des inneren Menschen, seiner Empfindungen und Anschauungen, durch das Organ der tönenden Sprache ist, so sind wir gerade in einer „Zeitschrift für Musik“ am einzig rechten Orte, und gar keinen glücklicheren Namen könnten wir finden, um die Kunst, für die wir kämpfen, zu bezeichnen, als eben den Namen: Musik. Einigen wir uns hierüber, und fassen wir den Entschluß, nur noch für diese „Musik“ zu streiten, so gestehen wir uns zunächst aber auch ein, daß wir mit unsrer heutigen Musik plötzlich dann nicht das Mindeste mehr zu thun haben, außer darin, daß wir sie als absolute Sonderkunst11 bis auf den Tod bekämpfen, d. h. ihre Fehlerhaftigkeit und endlich aus dieser Fehlerhaftigkeit hervorgegangene Hohlheit und Nichtigkeit, wie sie in der Summe ihrer heutigen Erscheinungen sich uns kundgiebt, auf das Schonungsloseste nachweisen. Beachten wir wohl, was hierunter zu verstehen ist, so werden wir begreifen müssen, daß die von uns gemeinte Zeitschrift von dem Inhalte einer bisherigen „musikalischen Zeitung“ durchaus zu reinigen sei: in ihr dürfen die Erscheinungen der modernen Sonderkunst gar keine Berücksichtigung, ja nur Erwähnung mehr finden, außer dann, wenn entweder die Richtung nach der wirklichen Musik, wie wir sie verstehen, in ihnen nachzuweisen, hervorzuheben, zu stärken und zu kräftigen, oder aber die absolut entgegengesetzte Richtung als das Irrige, Fehlerhafte, Sinn- und Vernunftlose zur Belehrung deutlich aufzudecken ist. Aus irgend einem andern Grunde darf irgend welche musikalische Erscheinung in dieser Zeitschrift gar nicht auch nur im Entferntesten beachtet werden, und gar der industrielle, merkantilische Charakter, der sich bisher auch in musikalischen Blättern so widerlich breit machte, muß bis auf die letzte Spur aus ihr verschwinden. Von diesem Geiste erfüllt, wird die Zeitschrift ganz von selbst dann zu dem Bekenntnisse des Verlangens gedrängt, den Dichter mit in sich aufzunehmen, denn
11 Den
Begriff „Sonderkunst“ verwendete Wagner zuvor schon in „Das Judenthum in der Musik“ als Bezeichnung für Kunst, die keine Verbindung zu den anderen Künsten aufweist, im Falle der Musik somit im Sinne von „absoluter Musik“ (Wagner 1850 Das Judenthum, S. 105 und S. 111 sowie Fischer 2000 Richard Wagners Das Judentum, S. 156 und 171).
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er ist es, der nothwendig mit dem ächten Tonkünstler sich zu vereinigen hat, um das volle Einverständniß zu Tage zu fördern, dem dann die Blüthe der wahren musischen Kunst entsprießen soll. Wir haben uns deshalb an den Dichter zu wenden, der aus dem bloßen literaturpoetischen Geleise zu seiner wirklichen Befriedigung sich eben so heraussehnt, wie der Tonkünstler aus seiner Sonderstellung nach dem Dichter verlangt. Diesem Dichter haben wir die Arme weit zu öffnen, denn nicht eher dürfen wir uns zu wirklicher Hoffnung berechtigt fühlen, als bis wir ihn mit vollster Liebe umfangen können. An seinem aufmerksamen Hinneigen, seiner allmäligen Annäherung zu uns, haben wir zunächst daher einzig zu erkennen, daß wir von unsrem Standpunkte aus auf dem richtigen, heilbringenden Wege zu unsrer eigenen Befriedigung sind: so lange wir dieses Hinneigen, diese Annäherung nicht gewahr werden dürfen, müssen wir uns auch für überzeugt halten, daß wir selbst noch in der einsamen Sonderstellung befangen sind, aus der wir eben den Literaturdichter seinerseits herauslocken wollen. Mit uns kann sich der Dichter nicht eher einlassen, als bis ihm derselbe Widerwille gegen den bloßen Musikmacher benommen ist, den wir gegen den bloßen Literaten empfinden; und so lange wird er diesen Widerwillen nähren, als er uns der modernen Tonkünstelei irgend wie noch Vorschub leisten sieht. Der erste Dichter aber, der uns die Hand zustreckt, möge uns beweisen, daß wir wirklich und vollständig aus dem alten Geleise herausgetreten sind, und aus unsrem unproduktiven Egoismus uns gänzlich befreit haben. Dem vereinigten Wirken des Dichters und Tonkünstlers, ist es so erreicht und befestigt, eröffnet sich nun ein unabsehbar reiches Feld zur fruchtbringendsten künstlerischen Besprechung. Ich habe in meinem kürzlich erschienenen Buche „Oper und Drama“ dieses Feld in weiten Umrissen bereits bezeichnet: was ich dort in allgemeinen Zügen oder nur in einzelnen scharfen Strichen andeutete,12 kann meiner innigsten Ueberzeugung nach nur dann zum ergiebigen Eigenthume meiner dichterischen und tonkünstlerischen Genossen werden, wenn sie selbst ihre Erfahrungen, Kenntnisse und Ueberzeugungen auf die Bebauung jenes Feldes verwenden, um so an Dem, was ihnen auf ihren verschiedenen Wegen bereits selbst zur eigensten Wahrnehmung gekommen ist, das Werkzeug zur Aufdeckung der ganzen Fülle von Wahrheiten zu gewinnen, die bis jetzt dort noch unsrem Blicke verborgen liegen, und die wir doch Alle ersehen und wissen müssen, wenn wir mit vollem Bewußtsein dem einigen Kunstwerke der Zukunft, wie das Leben es dereinst zu seiner höchsten Befriedigung gebieterisch fordern wird, unsre Kräfte zuwenden wollen. Was wir so uns erringen, das wird das volle Wissen der wahren „musischen Kunst“, der „Musik“ nach ihrer umfassendsten Bedeutung, sein, nach der Bedeutung, in welcher Dichtkunst und Tonkunst als eins und unzertrennlich enthalten sind. Noch nicht aber wären wir dann an unsrem vollen Ziele; denn bis dahin hätten wir uns eben nur das Wissen erworben: dies Wissen könnte sich aber nur dann als ein wahrhaftiges beurkunden, wenn es nothwendig und unwillkürlich zur Bethätigung des Gewußten, zur Erzeugung des wirklichen Kunstwerkes selbst drängt.
1852 Oper und Drama, 3. Teil: „Dichtkunst und Tonkunst im Drama der Zukunft“, VII, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, vor allem S. 369 – 371. 12 Wagner
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Um ganze Künstler zu sein, hätten wir uns nun aus der „Musik“ zur „Gymnastik“, d. h. zur wirklichen, leiblich sinnlichen Darstellungskunst, zu der [62] Kunst, die das von uns Gewollte erst zu einem wirklich Gekonnten macht, zu wenden. Ehe wir diesen Drang nicht unabweislich in uns fühlen, müßten wir uns auch einzugestehen haben, daß wir noch nicht vollständig einig, noch nicht zum wirklichen Wissen der Natur der Kunst gereift wären; so lange würden wir, Dichter und Tonkünstler, immer noch nicht wahre „Musiker“, sondern, trotz unsrer entgegengesetzten Bemühungen, doch nur noch „Literaten“ sein, und erst wenn wir mit der vermögendsten Kraft unsres vereinigten Willens nichts Anderes mehr wollen müssen, als die sinnlichste Darstellung unsrer Kunst, dürften wir uns siegreich am Ziele unsres Erlösungskampfes erkennen. Bis jetzt fällt es unsren gesammten Literaten auch noch nicht im Traume ein, an die hier bezeichnete Frage zu rühren: für sie muß all unsre öffentliche Darstellungskunst so sein, wie sie heut zu Tage eben ist, und neben der widerlichen Erscheinung unsrer Theater und Concerte nebeln und webeln sie in buchdruckschwärzlichem Gewande einher, als ob Das, was da draußen sich an die Sinne darstellt, sie durchaus gar nichts angehen könnte. Allerdings geht es sie, wie sie nun einmal sind, auch nichts an: aber daß sie sich nicht darum bekümmern zu müssen glauben, das eben drückt ihrer literarischen Thätigkeit den Stempel der vollsten Verachtungswürdigkeit auf. Ab und zu hören wir wohl aus diesem grauen Literaturschwammgewächse einen ächzenden Laut zu uns dringen, der fast wie ein Seufzer klingt: nicht aber das Seufzen der Sehnsucht nach Menschwerdung ist es, nicht das Grollen des Unmuthes, das Drohen des Zornes über eine ehrlose Sinnlichkeit in den Erscheinungen unsrer öffentlichen Kunst, sondern nur das Stöhnen der Impotenz und Feigheit. Hier gilt es aber anzugreifen, nicht abzuwarten wie das mit unsren Theatern und den ihnen verwandten Instituten nach Gottes und der Direktoren Fügung wohl einmal werden möchte; sondern muthig und entschlossen die Waffe in die Hand zu nehmen, mit der der Nichtswürdigkeit unsrer öffentlichen Darstellungskunst ein Ende gemacht werde. Dieser Muth wird uns erwachsen, wenn wir ganze „Musiker“ geworden sind, und diese Waffe wird sich uns von selbst zuführen, sobald wir auch denjenigen darstellenden Künstler für uns gewinnen, der sich aus unsrem heutigen Komödiantenund Musikantenthume ebenso heraussehnt, wie wir aus unsrer entwürdigenden Stellung heraus verlangten; und daran, daß dieser Künstler in nothgedrungener Freiwilligkeit sich endlich zu uns gesellt, um mit uns gemeinschaftlich die Verwirklichung des Kunstwerkes zu wollen, haben auch wir dann erst zu ermessen, ob Tonkünstler und Dichter auf dem unfehlbaren Wege zum Heile angelangt sind. Das Ziel des vereinigten Strebens dieser drei Künstler, des Dichters, des Tonsetzers und des Darstellers, kann somit einzig nur das in seiner leiblichsten Vorführung an die Sinne verwirklichte Kunstwerk, also dem jetzt einzig gekannten gegenüber: das Kunstwerk der Zukunft, das andrerseits allerdings nur das Leben der Zukunft selbst uns ermöglichen kann, sein. Dieses Kunstwerk für das Leben der Zukunft vorzubereiten, darin beruht die vernünftigste Thätigkeit des Künstlers der Gegenwart, wie in dieser Thätigkeit allein auch nur die Gewährleistung für das Erscheinen dieses Kunstwerkes in jenem Leben liegt. Ehe es selbst aber noch nicht in das volle Leben getreten ist, haben wir Alle unser Ziel auch noch nicht erreicht: ist dies jedoch im wirklichen Kunstwerke erreicht, steht das von uns Gewollte unfehlbar unser
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Gefühl bestimmend vor uns da, dann ist auch unsre Kritik zu Ende; dann sind wir aus Kritikern erlöst zu Künstlern und kunstgenießenden Menschen, und dann, verehrter Freund, schließen Sie die Zeitschrift für Musik: sie stirbt, weil das Kunstwerk lebt! – Eine so ungemeine, noch nie dagewesene, und dennoch von unsrer Zeit nothwendig gestellte Aufgabe kann, meines Erachtens, eine Zeitschrift für Musik erfüllen. In Ihrem Willen liegt es, diese Aufgabe unverrückt im Auge zu behalten, in der Fähigkeit Ihrer jetzigen und zukünftigen Mitarbeiter, sie zu erfüllen. Gern bin ich bereit, auch mich unter diese zu stellen; nur ist es mein liebster Wunsch, zu erfahren, daß ich Ihnen überflüssig sei. Ich kann mir das Zeugniß geben, in jeder Weise der Kundgebung als Einzelner das Meinige nach Kräften gethan zu haben, um der neuen Richtung den Weg zu bahnen; sowohl meine rein künstlerischen, wie meine schriftstellerischen Arbeiten werden Ihnen und Ihren Genossen sehr vermuthlich zunächst eine Zeitlang als Stoff und Gegenstand zur Besprechung und Entwicklung jener Richtung dienen, so daß ich mir sagen könnte, im Voraus auch das Meinige für Ihre Zeitschrift gethan zu haben. Groß würde daher meine Freude sein, wenn Sie meiner, als wirklichen Mitarbeiter, gar nicht bedürften, nicht nur weil ich jetzt das äußerste Bedürfniß fühle, ungestört einem großen rein künstlerischen Vorhaben mich zuzuwenden, sondern namentlich auch weil ich dadurch die Gewißheit erhielte, daß meine Ueberzeugungen von dem Wesen der Kunst nicht mehr die eines Einzelnen, sondern das gewonnene Eigenthum einer möglichst immer wachsenden Zahl gleichgesinnter Freunde geworden seien. Nichts desto weniger verrede ich es nicht, daß es mir ab und zu auch zum Bedürfnisse werden könnte, mich selbst noch über einen künstlerischen Gegenstand theoretisch mitzutheilen: leider muß ich ja mit hellstem Wissen erkennen, daß oft nur so Mißverständnisse zu berich-[63]tigen sind! Mögen Sie mir dann immer eine freundliche Aufnahme gönnen! Mit dem herzlichsten Wunsche für das Gedeihen Ihrer Unternehmung auf der neuen Bahn, empfehle ich mich denn so Ihrer steten freundschaftlichen Gesinnung als Ihr ergebener Richard Wagner. Zürich, 25sten Januar 1852.
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Kommentar Einen Monat nachdem Brendel in seinem Neujahrsartikel13 bekannt gegeben hatte, dass die NZfM von nun an stärker Partei für die Werke Wagners als Vorreiter einer neuen Kunst ergreifen werde, meldete sich letzterer im vorliegenden Artikel selbst zu Wort. In seinem offenen Brief befasste sich Wagner mit der Aufgabe einer Musikzeitschrift im Hinblick auf die künftige Gestaltung der Kunst und rekurrierte dabei auf Gedanken, die er bereits in seinen Züricher Kunstschriften Die Kunst und die Revolution (ED 1849), Das Kunstwerk der Zukunft (ED 1850) und Oper und Drama (ED 1852) ausgeführt hatte. Die Ankündigung Wagners, sich auch in Zukunft gelegentlich in der NZfM zu äußern, setzte er tatsächlich in den Folgejahren mit sechs weiteren Artikeln in die Tat um.14 Bereits während der Redaktionszeit Schumanns hatte Wagner an der NZfM mitgearbeitet, aber die Zeitschrift während seiner Dresdner Jahre zwischen 1843 und 1849 selbst möglicherweise gar nicht rezipiert.15 Unter Brendels Ägide als Herausgeber war bereits im September 1850 unter dem Pseudonym K. Freigedank ein erster Artikel Wagners publiziert worden: „Das Judenthum in der Musik“.16 Der „Brief an den Redacteur“ kann zwar ein Beleg für die Anerkennung der NZfM vonseiten Wagners als Organ für den Fortschritt in der Musik gelten; zugleich jedoch drücken die Äußerungen des Komponisten über das anzustrebende Ende der Musikkritik Wagners deutliche Distanz gegenüber dem Blatt und ihrem Redakteur Brendel aus.17 So warf er in den Briefen an Theodor Uhlig aus den Jahren 1850 bis 1852 der NZfM u. a. Inkonsequenz vor18 und bezeichnete sie als „Luderblatt“19 sowie Brendel als „Schwachkopf und Hosenscheißer“20. Auch das öffentliche Bekenntnis Brendels zu Wagner mit dem Artikel „Einige Worte über Richard Wagner“21 änderte nur wenig an dieser Einstellung, und es ist vermutlich der Vermittlung Uhligs zu verdanken, der als Vertrauter und ‚Mittelsmann‘ des im Schweizer Exil lebenden Wagners fungierte, dass der Komponist die beiden Schriften „Ein Brief an Franz Liszt über die Goethe-Stiftung“ und „Ein Brief an den Redacteur“ im Dezember 1851 Brendel zur Veröffentlichung in der NZfM zur Verfügung stellte.22 Chronologisch gingen die beiden Briefe Wagners somit dem Neujahrsartikel Brendels voraus und stellten keineswegs eine Reaktion auf letzteren als vielmehr ein Exempel für Brendels Kalkül dar. Beide Texte erschienen kurz nach ihrem Abdruck in der NZfM auch beim Leipziger Verleger Bruno Hinze als Sonderdruck unter dem Titel Zwei Briefe von Richard Wagner.23
1852 Zum neuen Jahr, in: NdS 1 Nr. 27. 14 Wagner 1852 Ein Brief an Franz Liszt; Wagner 1852 Ueber die Aufführung des Tannhäuser; Wagner 1853 Ueber Inhalt und Vortrag; Wagner 1853 Die Ouvertüre zum Holländer; Wagner 1854 Gluck’s Ouvertüre zu Iphigenia; Wagner 1857 Ein Brief über Franz Liszt, in: NdS 2 Nr. 105. 15 Vgl. Deaville 1986 Franz Brendel, S. 36. 16 Wagner 1850 Das Judenthum. 17 Vgl. hierzu insgesamt Deaville 1986 Franz Brendel sowie Deaville 2006 Die neudeutsche Musikkritik. 18 Siehe hierzu auch den Kommentar zu Brendel 1853 Die bisherige Sonderkunst, in: NdS 1 Nr. 42, S. 443. 19 Brief Wagners an Theodor Uhlig vom 20. September 1850, in: Wagner-Briefe 3, S. 523 f. 20 Brief Wagners an Uhlig vom 19. April 1851, in: Wagner-Briefe 3, S. 552 f. 21 Brendel 1851 Einige Worte über Wagner. 22 Vgl. Deaville 1986 Franz Brendel, S. 38. Zur Rolle Uhligs und der NZfM als Medium für die Propagierung der Musik und Schriften Wagners vgl. Vazsonyi 2012 Richard Wagner, S. 119 –125. 23 Wagner 1852 Zwei Briefe. 13 Brendel
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Wagners Gedanken zu einer adäquaten Musikzeitschrift ähneln in gewissen Zügen den Plänen Liszts, wie er sie 1851 im Zusammenhang mit seiner Schrift De la Fondation-Goethe à Weimar formuliert hatte.24 Eine Fortführung der Überlegungen Wagners kann zudem in dem Vorhaben Brendels und Liszts im Jahr 1853 gesehen werden, neben der NZfM eine Zeitschrift mit dem Titel Kunstwerk der Zukunft zu gründen, die ausschließlich die von ihnen propagierte Richtung in der Musik vertreten sollte. Als eine späte Realisierung dieser Pläne können schließlich die 1856 bis 1861 von Brendel und Richard Pohl (ab 1857) herausgegebenen Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft angesehen werden, welche zum Ziel hatten, „die schon längst und ganz abgesehen von den Wagner’schen Grundsätzen als nothwendig erkannte Kunstreform zu unterstützen“25.
24 Vgl.
Liszt-Schriften 3, S. 271– 276.
25 Brendel
1856 Einleitung, S. 1 f.
Nr. 30 | Anonym [Johann Christian Lobe], „Einundvierzigster Brief. Richard Wagner“, in: ders., Musikalische Briefe. Wahrheit über Tonkunst und Tonkünstler. Von einem Wohlbekannten. Zweiter Theil, Leipzig 1852, S. 155 –167.
Einundvierzigster Brief.
An diesem jugendlichen Haupte hängen So viele Hoffnungen als an den Zweigen Im wonnevollen Maimond hängen Blüthen.1 Shakespeare. Wie mögt Ihr Euere Rederei Nur gleich so hitzig übertreiben?2 Shakespeare. –
Richard Wagner. „Es erstand aber ein überragendes Genie, ein sprühender Flammengeist, berufen eine doppelte Krone von Feuer und Gold zu tragen, der träumte kühn, wie Dichter träumen, ein Ziel so hoch sich zu stecken, daß, wenn es je von der Kunst erreicht und von der Gesellschaft anerkannt werden kann, dies sicher nur in einer Zeit geschehen wird, wo das Publikum sich nicht mehr aus jener schwankenden, gelangweilten, zerstreuten, unwichtigen und hochmüthigen Masse zusammensetzen wird, die in unsern Tagen in die Schauspielhäuser kommt zu Gericht zu sitzen und Gesetze zu dictiren, deren Macht kaum die Kühnsten zu lähmen versuchen, – Wagner, der Künstler voll Leidenschaft, [156] dem man nicht blos Gewissenhaftigkeit in seiner Liebe zum Schönen nachrühmen kann, denn er ist verzehrt von der innerlich brennenden Wunde des Kunst-Fanatismus, – Wagner, dessen Geist durch seine natürlichen Fähigkeiten wie durch seine hohe Bildung gleich empfänglich für die Reize aller Kunst ist.“3 In so hochtönenden Worten spricht Liszt von Wagner. Indem er
1 Konnte
nicht nachgewiesen werden. 2 Entgegen der Angabe Lobes stammt das Zitat aus Johann Wolfgang von Goethes, Faust I, Studierzimmer. Im Original heißt es bei Mephistopheles an Faust gerichtet: „Wie magst du deine Rednerei / Nur gleich so hitzig übertreiben?“ (ebd., V. 1734 f.). 3 Liszt 1851 Richard Wagner’s Lohengrin, S. 231, in: Liszt-Schriften 4, S. 167 f. Die Hervorhebungen stammen von Lobe.
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demselben aber nicht blos Leidenschaft, sondern sogar Fanatismus in Sachen der Kunst zuschreibt, bricht er mitten in seiner Lobeserhebung den Stab über ihn. Richard Wagner ist allerdings jedenfalls das bedeutendste Talent in unserer Zeit, aber er überragt alle Mitstrebenden nicht blos durch die Größe der Gaben, die ihm verliehen worden sind, sondern auch durch die Größe des Irrthums, in welchem er befangen ist. Daß ein Talent wie Wagner nach vorwärts drängt in seiner Kunst, ist sehr natürlich und leicht erklärlich; nur daß er zu weit geht, daß er nicht Maß hält, sondern übertreibt, ist sein Fehler und sein Unglück. Gluck schon fand keine Nachahmer in seiner Strenge, so Viele auch nach ihm gekommen sind. Die großen Geister, die ihm folgten, nahmen das Gute, was er hatte; an seinen Uebertreibungen gingen sie weise vorüber. Und Wagner will noch strenger sein als Gluck! Goethe sagt einmal sehr richtig: „es kommt darauf an, daß der Dichter (Künstler etc.) die Bahn zu treffen wisse, welche der Geschmack und das Interesse [157] des Publikums genommen hat. Fällt die Richtung des Talentes mit der des Publikums zusammen, so ist Alles gewonnen; denn es fragt sich hierbei keineswegs, wie groß der Künstler sei, vielmehr kann ein solcher, der mit seiner Persönlichkeit aus dem allgemeinen Publikum wenig hervorragt, oft eben dadurch die allgemeinste Gunst gewinnen.“4 Das weiß Wagner gewiß sehr wohl, er weiß aber auch eben so gut, daß seine Richtung mit der des jetzigen Publikums nicht zusammenfällt. Das Publikum ist des gewaltigen Lärms in der Musik übersatt, – und er steigert den Lärm noch; das Publikum verlangt dringend wieder nach Einfachheit und Melodie – und er bringt ihm nicht Einfachheit, sondern Zerrissenheit und er verbannt die Melodie. Wie leicht wäre es Wagner, alle Neuern zu übertreffen und der Liebling des ganzen deutschen Publikums zu sein! Aber er will es nicht, weil er eine falsche Ansicht von der Kunst hat. Mozart hatte bekanntlich die richtigsten Ansichten von der Kunst und handelte auch stets nach denselben. Nur einmal machte er eine auffallende Ausnahme davon. Er wollte eine Arie der Elvira im Don Juan im Händelschen Stile schreiben und schrieb sie.5 Das war ein gänzlicher Fehlgriff, denn mit dieser Arie trat er aus dem Stil und Charakter der ganzen Don-Juan-Musik heraus. Das, was Mozart einmal aus Laune that, thun Manche aus Mangel an richtiger Erkennt-[158]niß mit ganzen Werken und zu Diesen gehört leider Richard Wagner, der sich ein ganzes neues System aufgebaut hat und nach demselben handelt. Hat er aber bei seinem System ernstlich die Fragen sich gestellt und aufrichtig beantwortet: führt dieses neue System das Volk mehr in die Kunstgenüsse ein? Zieht es mehr Genießende herbei? Bringt es höhern Genuß? Gewährt es also mehr und höhere Reize als die frühern? Ist es faßlicher und verständlicher? Werden die Charaktere, Situationen, Gefühle wahrer und anmuthiger ausgedrückt? Bringt es Melodien, die ins Herz und in das Volk dringen? Giebt es den Theaterdirectionen höhere Einnahmen?
4 Goethe in einem Gespräch mit Johann Peter Eckermann vom 24. Februar 1825, in: Goethe-Werke 39,
S. 145. 5 Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni (UA 1787). Gemeint ist hier wahrscheinlich die Auftrittsarie der Donna Elvira im 1. Akt, 5. Szene, Nr. 3 „A chi mi dice mai“, mit ihren Koloraturen in den T. 92 –100.
Lobe 1852 Richard Wagner
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Leider wird er alle diese Fragen verneinen müssen, er sollte es wenigstens, aber Wagner ist in Politik und Kunst ein Posa6, ein liebenswürdiger Schwärmer, dem sich die Welt anders darstellt als sie in der Wirklichkeit ist und der sich, wenn er dies einmal erkennt, mit der Nachwelt und der Hoffnung tröstet, sie werde sein, wie er sie sieht. Welches System hat nun aber Wagner eigentlich? Ich habe seine Schriften und namentlich sein neuestes dreibändiges Werk, „Oper und Drama,“7 gewissenhaft und aufmerksam gelesen, muß aber gestehen und vorausschicken, daß ich nicht mit sicherer Bestimmtheit weiß, ob ich ihn überall recht verstanden habe. Er selbst verwahrt sich freilich gegen jedes Nichtverständnis seiner Ansichten, denn er nimmt an, er sei durch-[159]aus verständlich und wem das nicht so vorkomme, der könne ihn entweder aus Mangel an Begriffsvermögen nicht verstehen oder er wolle ihn nicht verstehen.8 Trotzdem wage ich aber zu behaupten, daß es vielen Andern bei der Lectüre, namentlich des letzten seltsamen Werkes, genau so ergehen wird, wie es mir ergangen ist. Dasselbe strotzt nicht nur von ungewöhnlichen Behauptungen und Bildern, wie „Effect ist Wirkung ohne Ursache,“9 „das Auge des Gehörs,“10 „das Fleischfell der Seele,“11 „horizontale und vertikale Tonarten“12 – sondern auch von allgemeinen Sätzen, die durch keine Thatsachen zu begründen sind.13 Vor Allem hat Wagner immer nur eine Seite im Auge, die sogenannte große Oper. Diese hat er in ein System gebracht und um die Richtigkeit desselben zu beweisen, läßt er alle andern Seiten, ja läßt er die Wirklichkeit überhaupt außer Acht. Ueberdies spricht er fortwährend in Bildern; es folgen ganze Bildergallerien hinter einander, aber ich will Jeden glücklich preisen, der darin oder dahinter bestimmte Gedanken findet. Er stellt Fragen auf und man wartet begierig auf die Lösung derselben, aber statt dieser Lösungen folgen – wieder Bilder. Seine Ansichten scheinen folgende zu sein. Alles was bis jetzt, also bis zu Wagner, in der Musik geleistet worden ist, namentlich Alles, was die Oper bis jetzt hervorgebracht hat, ist – verfehlt. Es giebt weder einen rechten Operntext, noch rechte Opern-[160]musik. Kein Dichter und Componist hat erkannt, was eine Oper sein soll.
aus Friedrich von Schillers Don Karlos (UA 1787). 7 Wagner 1852 Oper und Drama. 3. Teil, VII, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 365: „Wer mich hiergegen so verstanden hat, als wäre es mir darum zu thun gewesen, ein willkürlich erdachtes System aufzustellen, nach dem fortan Musiker und Dichter arbeiten sollten, der hat mich nicht verstehen wollen. – Wer ferner aber glauben will, das Neue, was ich etwa sagte, beruhe auf absoluter Annahme und sei nicht identisch mit der Erfahrung und der Natur des entwickelten Gegenstandes, der wird mich nicht verstehen können, auch wenn er es wollte.“ 9 Wagner 1852 Oper und Drama, 1. Teil, VI, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 101. 10 Wagner 1852 Oper und Drama, 3. Teil, II, in: ebd., S. 280. 11 Ebd., S. 284. 12 Hierbei handelt es sich um eine verkürzte Wiedergabe von Ausführungen Wagners vom Verhältnis der Harmonik zur Melodik (Wagner 1852 Oper und Drama, 3. Teil, III, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 293), welche jedoch den von Lobe zitierten Begriff nicht enthalten. 13 Lobe folgt hier bei der Auswahl und Reihenfolge der aufgelisteten Begriffe Wagners exakt einer zuvor in den Grenzboten erschienenen, wahrscheinlich von Julian Schmidt stammenden Rezension von Oper und Drama. Siehe Schmidt 1852 Richard Wagner, S. 94. 6 Figur 8 Ebd.,
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Jedermann wird nun sehr gespannt sein, endlich zu erfahren, wie denn die rechte Oper, die ganz andere, die wahre, die Zukunftsoper beschaffen sein solle und müsse. Parturiunt montes, nascitur ridiculus mus.14 – Der allein taugliche Stoff zum Operntexte soll sein der Mythus und die wahre Form der Katastrophe – das Wunder. „Joseph in Egypten,“15 „die Entführung,“16 „der Wasserträger,“17 „die Vestalin,“18 „die Hugenotten,“19 „Rienzi“20 selbst etc. sind also Texte, die nichts taugen, denn sie behandeln keinen Mythus und bringen in der Katastrophe kein Wunder. Habe ich aber den Satz wirklich richtig verstanden? Beschränkt Wagner die Oper wirklich so sehr? Hören Sie selbst: „in seiner vielhandlichen Zerstreutheit über Raum und Zeit vermag der Mensch seine eigene Lebensthätigkeit nicht zu verstehen; das für das Verständniß zusammengedrängte Bild dieser Thätigkeit gelangt ihm aber in der vom Dichter geschaffenen Gestalt zur Anschauung, in welcher diese Thätigkeit zu einem verstärkten Moment verdichtet ist, der an sich allerdings ungewöhnlich und wunderhaft erscheint, seine Ungewöhnlichkeit und Wunderhaftigkeit aber in sich verschließt und vom Beschauer keineswegs als Wunder aufgefaßt, sondern als vollständige Darstellung der Wirklichkeit begriffen wird.“21 Sei dem wie ihm wolle, so viel ist gewiß, daß [161] Wagner, der Mann der Freiheit, durch seine Oper dem Künstler die Freiheit nimmt, seinen Anlagen, Neigungen und den mannichfaltigen Richtungen und Wünschen der Kunstfreunde zu folgen, und die Schaffenden wie die Genießenden auf einen einzigen Punkt, eine einzige Kunstart beschränkt. Selbst angenommen, diese einzige Kunstart wäre wirklich eine rechte, – wie lange würde das Publikum sie ertragen, wenn alle übrigen verbannt werden sollen? Und nun denke man sich, es stände ein Wagner unter den Malern auf und decretirte, alle Künstler bis heute wären auf falschem Wege gewesen. Wenn sie wirklich Kunstwürdiges bringen wollten, dürften sie nur Madonnen malen, aber bei Leibe nicht etwa wie Rafael22, sondern nach einem neuen eigenthümlichen Ideale! So haben denn auch, wie Wagner meint, weder Mozart noch Weber, noch irgend ein Anderer eine wahre Oper zu Stande gebracht, weil sie Alle bisher Nichts weiter thaten als versuchten den Text durch schöne Melodie und charakteristischen Ausdruck zu beleben. Und – „die Poesie kann erst dann wieder Raum finden, wenn wir wieder ein Schicksal haben; das kann aber nur dann geschehen, wenn es keine Politik mehr geben wird, d. h. wenn die Staaten aufhören.“23 Arme Dichter, tretet die Quelle Euerer Gefühle und Gedanken zu, denn noch giebt es Politik und Staaten. Armer Wagner selbst mit der schönen warmen Dichter-
14 (Lat.) Gebirge wollen gebären, und nur eine lächerliche Maus wird hervorgebracht, aus: Horaz, Ars poetica, V. 139. 15 Étienne-Nicolas Méhul, Joseph ( Joseph in Ägypten, UA 1807). 16 Mozart, Die Entführung aus dem Serail (UA 1782). 17 Luigi Cherubini, Les Deux Journées (Der Wasserträger, UA 1800). 18 Gaspare Spontini, La Vestale (UA 1807). 19 Giacomo Meyerbeer, Les Huguenots (UA 1836). 20 Wagner, Rienzi (UA 1842). 21 Wagner 1852 Oper und Drama, 2. Teil, V, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 222 f. 22 Raffael (1483 –1520), italienischer Maler und Architekt, dessen Madonnendarstellungen wie die sogenannte „Sixtinische Madonna“ (Sacra conversazione, um 1512) vor allem im 19. Jahrhundert als musterhaft galten. 23 Verkürzende Zusammenfassung von Gedanken Wagners, siehe Wagner 1852 Oper und Drama, II, IV, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 202 – 213.
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seele, der so poetische Operntexte schreibt! [162] Wirklich in Erwartung, daß es auf unserem Planeten einmal gar keine Politik und keine Staaten mehr geben werde? An einer andern Stelle behauptet er: „um eine gute Musik zu machen, sei Nichts weiter erforderlich als sich mit gläubiger Begeisterung den Intentionen der Dichtung hinzugeben.“24 Darauf kann man nur mit zwei Fragen antworten: ist eine solche Begeisterung in unserer Zeit bei einem Componisten unmöglich? Und zweitens: kann die gläubigste Begeisterung allein, ohne Talent und Studium, eine Oper componiren, nur fünf Tacte schreiben? „Die Oper konnte zu keiner Kunstform kommen, sie mußte naturgemäß immer mehr verwildern, weil sie von einem absolut falschen Prinzip ausgegangen. Sie verträgt auch keine Reform, sie kann die Sünden ihrer Existenz nur durch absoluten Untergang büßen.“ So kann nur „absolute“ Verirrung sprechen. Aber „glaubt meinen Worten, nicht meinen Thaten!“ Wir werden später sehen, daß Wagners Opern keineswegs von der Art sind, daß wir in ihnen den absoluten Untergang der bisherigen Oper erblicken können. Worin aber bestand das absolut falsche Prinzip der Oper? „Daß in ihr die Musik, die nur Ausdruck sein kann, zugleich unternahm den Gegenstand zu schaffen. Wenn sie in erster Entstehung nur den Zweck hatte, der Fertigkeit einzelner Virtuosen Gelegenheit zu anmuthigen Läufern und Trillern zu geben, so habe sie [163] später (Gluck, Spontini) die individuellen Sänger zwingen, nur noch die Kunst des Componisten zur Geltung bringen und dabei dem Sinne des Textes möglichst entsprechen, endlich den ganzen Text mit Handlung und Worten aus der Rücksicht auf die absolute Melodie erschaffen wollen, und da Letzte zu erreichen unmöglich sei, so habe der Text der Melodie und die Melodie dem Texte Concessionen machen müssen, worüber Beides zu Grunde gegangen sei. Das sei namentlich das tragische Schicksal Webers gewesen.“25 Wem doch als Operncomponisten ein so „tragisches“ Schicksal beschieden wäre wie Weber! Er wurde der Liebling des Volks durch seine reizenden Melodien. Das Volk hört und versteht von aller Musik Nichts als die Melodie; es nimmt Alles an, was Ihr ihm gebt, wenn es in dem Gewande schöner Melodie erscheint und es verschmäht alle und jede Musik ohne Melodie.
24 Hierbei handelt es sich um eine inhaltlich entstellende Verkürzung von Wagners Aussage, dass im zukünftigen Gesamtkunstwerk durchaus eine Trennung von Dichter und Komponist denkbar sei, allerdings nur, wenn sich diese nicht auf Kosten des anderen behindern und beschränken, sondern sich wechselseitig künstlerisch steigern. Siehe Wagner 1852 Oper und Drama, 3. Teil, VII, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 369 f.: „Der Dichter und der Musiker, den wir meinen, sind sehr gut als zwei Personen zu denken. Der Musiker könnte sogar, in seiner praktischen Vermittelung zwischen der dichterischen Absicht und ihrer endlichen leibhaftigen Verwirklichung durch die thatsächliche scenische Darstellung, vom Dichter nothwendig als besondere Person bedingt sein,[…] sobald dieser [der Komponist] die vom Älteren [Dichter] ihm mitgetheilte dichterische Absicht mit williger Begeisterung in sich aufnähme, die schöne edelste Liebe hervorblühen, die wir als die ermöglichende Kraft des Kunstwerkes erkannt haben.“ 25 Zusammenfassung von Aussagen Wagners, siehe Wagner 1852 Oper und Drama, 1. Teil, I, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 23 –122.
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In der einzig wahren ächten Oper der Zukunft „wird der Dichter mit der Erfindung der Melodie beauftragt, während dem Componisten nur die Aufgabe bleibt, die in dieser Melodie bereits enthaltenen Harmonien zu finden.“26 Wenn es dann viele Dichter giebt, die Melodien erfinden; an Componisten kann es nicht fehlen, denn wer lernte nicht eine Melodie zu harmonisiren? In der Zukunftsoper soll ferner vom Anfang bis zum Ende gesungen werden – was allerdings nichts [164] Neues ist –; die in einander gearbeiteten Duette, Terzette etc. sollen wegfallen. Das ist aber wiederum nichts Neues; denn so fing die Oper an, recitativisch, dann folgten Arienanfänge, dann ganze und größere Arien, weil man wohl fühlte, daß gewisse Empfindungen vollständig in der Musik ausgemalt werden müssen, wenn sie sich vollständig in den Hörer übertragen sollen. Die verschiedenen Personen sollen ferner öfterer [sic] dieselben Ahnungs- und Erinnerungsmotive bringen. Ganz wohl, aber auch nicht neu. Franzosen und Deutsche haben dies Mittel der Charakteristik längst gekannt und angewendet, wenn auch nicht in so ausgedehnter Weise, wie es Wagner verlangt. Alle diese angeblichen Neuerungen ausgeführt geben noch lange keine ganz und gar neue Oper. Wagner zeigt sich bei der Vertheidigung und Entwickelung seines Systems viel schwächer als bei der Composition seiner Opern selbst. Warum? Er ist Republikaner und zwar leidenschaftlicher in der Politik wie in der Kunst und darum in einer Einseitigkeit befangen wie selten Jemand.27 Bei seiner ganzen Auseinandersetzung fällt ihm nicht ein einziges Mal eine komische Oper ein! Was Hegel einmal sagt, paßt vollkommen auf ihn: „er hat eine Besonderheit zum System erweitert und sie als das Ganze dargestellt.“28 Er ist berauscht von einer Idee und sieht wie ein Berauschter in heiterer Stimmung Alles edeler und schö-[165]ner, in ärgerlicher dagegen Alles gemeiner und häßlicher vor sich. Welch ein Irrthum, alle vorangegangene Musik als absolut falsch und fehlerhaft zu bezeichnen! Kann aus diesem Irrthum über die Vergangenheit eine richtige Ansicht und Wahrheit über die Kunst überhaupt und über die Kunst der Zukunft insbesondere hervorgehen? Wird Jemand,
26 Verzerrende Verkürzung von den abschließenden Ausführungen Wagners zum Verhältnis von Dichter und Musiker im zukünftigen musikalischen Drama, siehe Wagner 1852 Oper und Drama, 3. Teil, VII, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 365 – 395. 27 Durch die Teilnahme Wagners an den revolutionären Aufständen in Dresden sowie seine daraufhin im Schweizer Exil entstandenen kunsttheoretischen Schriften (siehe Wagner 1849 Kunst und Revolution), wurde Wagners künstlerisches Wirken und Schaffen nach 1849 mit der gescheiterten Revolution in Deutschland assoziiert. Siehe etwa einen der frühesten Aufsätze über Wagner in den Grenzboten von August Ferdinand Riccius, wo gleich zu Beginn auf Wagners Verbindung zur Demokratie-Bewegung hingewiesen wird: „Bei der Stellung, welche Wagner gegenwärtig einnimmt, muß uns zunächst seine Verbindung mit der Demokratie ins Auge fallen. Er schreibt für demokratische Zeitschriften, bringt in seinen Aufsätzen über die Kunst politische Bemerkungen an und scheint das Schicksal, welches ihn persönlich betroffen hat, mit der Noth des Vaterlandes zu identificiren; das alles in Folge eines unüberlegten Schrittes, der ihm seine Stellung in Dresden kostete“ (Riccius 1851 Richard Wagner, S. 401). 28 Äußerung Georg Wilhelm Friedrich Hegels aus dem Vorwort des von ihm und Friedrich Wilhelm Joseph Schelling herausgegebenen Kritischen Journals der Philosophie vom Januar 1802, in: Hegel-Werke 2, S. 178.
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von dessen Augen das, was war und ist, falsch erscheint, geeignet sein, das Wahre und Rechte für die Zukunft zu erkennen? Fragen wir nun, sind denn Wagners Opern wirklich etwas so ganz Anderes und Neues, wie seine Schriften vermuthen lassen und verlangen? Keineswegs. Wir finden zwar in seinem „Lohengrin,“29 der ja besonders hervorgehoben, von Liszt gepriesen wird, die oben angeführten Neuerungen eingeführt, aber theils sind jene Neuerungen, wie schon erwähnt, nichts Neues, sondern aus der Kindheit der Oper entlehnt, theils beweisen sie nicht für, sondern gegen sein System. Das Verschmähen der „absoluten Melodie,“ wie er namentlich die durch- und ausgeführte, der Volksmelodie angenäherte Webersche nennt,30 hat ihn zur Melodielosigkeit und damit zur unpopulären Musik gebracht. Das Verschmähen der größern ausgeführten Formen der Arie, der Duette etc. bringt eine unendlich lange Reihe einzelner Momente hervor, welche den [166] Hörer nothwendig verwirren und ermüden müssen. Zu kurz und zu lang sind bekanntlich zwei Haupthindernisse der vollen Wirkung bei der Musik und beide finden sich in „Lohengrin“ vereinigt. Die Oper ist in ihren Einzelheiten zu kurz, im Ganzen zu lang. Die allgemeinen Fehler der neuern Componisten hat Wagner nicht nur nicht vermieden, sondern vielmehr gesteigert. Der Sänger als solcher gilt ihm gar Nichts und so beachtet er auch nicht im mindesten, daß derselbe Gelegenheit finde seine Kunst und den Reiz seiner Stimme zu entwickeln. So lange aber die Leute Opern hören wollen, werden sie auch den Reiz des Gesanges suchen. In der Instrumentation hat er viel Schönes, ja Herrliches, zum Theil selbst Neues gebracht, nur ist er auch in den Fehler verfallen, daß er für unsere kleinen deutschen Bühnen zu stark instrumentirt. Namentlich tritt seine Vorliebe für das Blech überall hervor und die unausbleibliche, sicherste Folge ist und bleibt – vollständige Ermattung des Hörers und der Uebergang des Genusses in Genußleiden. Sucht man einzelne Stellen aus seinem „Lohengrin“ heraus, so findet man höchst Bedeutendes, zuweilen selbst höchst Anmuthiges. Ist aber das Ganze zu Ende, so ist Jedem, als wäre ihm eine Last abgenommen. Man hat viel einzelnes Schöne gefunden, aber eine angenehme Stimmung nimmt man nicht mit hinweg. Ein Componist aber, dessen Werke ein solches Endresul-[167]tat hervorbringen und nothwendig hervorbringen müssen, kann unmöglich auf dem rechten Wege sein, wenn er auch hundert Bände schriebe, um sein „System“ als das rechte und wahre darzustellen. Wenn uns viele Trompeten fast jeden Augenblick in das Ohr schmettern, so müssen wir an Rochlitz erinnern, der in seinem „Für Freunde der Tonkunst“31 (II. 144) ganz richtig sagt: „Der unzweckmäßige Gebrauch der Kunstmittel macht gewiß auch das geistreichste Werk weit weniger wirksam als es sonst sein würde und der zweckwidrige Gebrauch derselben macht es zu einem Widerspruch in sich selbst, zu einer Thorheit eines
29 Wagner, Lohengrin (UA 1850). 30 Siehe Wagner 1852 Oper und Drama, 1. Teil, I, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 54 f. 31 Titel einer Sammlung musikalischer Aufsätze des Musikschriftstellers Johann Friedrich Rochlitz (1769 –1842), welche in vier Bänden zwischen 1824 und 1832 erschien.
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vielleicht geistreichen Menschen, die wohl Staunen erregen, aber auch Bedauern bereiten wird.“32 Ich habe das Irrthümliche bei Wagner scharf hervorgehoben und von dem vielen Schönen in seinen Werken nicht so ausführlich gesprochen, weil alle diese Schönheiten – nicht aus seinem Systeme fließen, sondern nach den Maximen anderer guten Meister gebildet sind, die ich Ihnen in dem vorliegenden Buche entwickelt habe33 und mein Endurtheil über ihn lautet: „Wagner ist ein Genie, wenigstens sicherlich ein außerordentliches Doppeltalent, als Componist und Dichter. Aber die Neuerungssucht, der Wunsch Ungewöhnliches zu leisten, das Vorherrschen der Phantasie, der Mangel an hellem, ungetrübtem, ruhigem Blick in die Wirklichkeit haben ihn leider auf Abwege geführt.“
Kommentar Der vorliegende Aufsatz des zu dieser Zeit unter dem Pseudonym „Der Wohlbekannte“ publizierenden Musiktheoretikers, Musikschriftstellers und Komponisten Johann Christian Lobe entstammt dem zweiten Band einer von ihm verfassten Aufsatzsammlung, welche 1852 in zwei Teilen unter dem Titel Musikalische Briefe. Wahrheit über Tonkunst und Tonkünstler in Leipzig erschien. Während der erste Teil, bestehend aus 25 fiktiven Briefen eines erfahrenen Kenners an einen angehenden Komponisten allgemeine Fragen der Musik behandelt, enthält der zweite Teil 16 biographische Aufsätze, in welchen Lobe eine historische Einordnung und Bewertung des Werkes einzelner Komponisten, chronologisch aufsteigend von Bach bis hin zu Wagner, vorlegt. In seinem Wagner gewidmeten Brief konzentriert sich Lobe vor allem auf dessen kurz zuvor erschienenes theoretisches Hauptwerk, Oper und Drama, welches einer ablehnendkritischen Besprechung unterzogen wird. Neben den metaphernreichen, oftmals auf biologische Bilder zurückgreifenden Formulierungen Wagners waren es vor allem die Äußerungen vom bevorstehenden Ende der traditionellen, als Irrtum dargestellten Oper, welche Lobe wie schon zuvor Julian Schmidt in dessen Rezension der Schrift in den Grenzboten eine dankbare Zielscheibe für ihre Angriffe boten.34 Bei einem Vergleich mit anderen frühen zeitgenössischen Reaktionen auf Oper und Drama fällt jedoch auf, dass mehrere hier vorgebrachte Kritikpunkte Lobes, wie etwa die hermetische Wortwahl Wagners oder die den
32 Rochlitz 1825 Für Freunde der Tonkunst, S. 144. Artikel. 34 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 13.
33 Siehe
den Kommentar zu vorliegendem
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Standpunkt der Allgemeingültigkeit in Anspruch nehmende, dabei aber stets nur auf das eigene Schaffen gerichtete Theorie selbst von Wagner näher stehenden Personen wie Eduard Devrient und August Röckel geteilt und artikuliert wurden.35 Ebenso wird deutlich, dass Lobe – wie zuvor Julius Schaeffer in einer im Mai 1852 erschienenen Besprechung des Lohengrin in der Neuen Berliner Musikzeitung36 – vor allem auf die scheinbare Diskrepanz von Wagners bis dahin komponierten Bühnenwerken und den in Oper und Drama entwickelten theoretischen Positionen abhob. Trotz Wagners zuvor erschienener Schrift Eine Mitteilung an meine Freunde37, in der dieser dezidiert die Distanz zwischen Lohengrin und seinen in Oper und Drama entwickelten Theorien betont hatte, verfestigte sich diese hier zu beobachtende Rezeptionshaltung im Lager der Wagner-Kritiker rasch zu einem auf Jahre vorherrschenden Topos, welcher sich noch 1857 in Eduard Hanslicks Besprechung der Wiener Erstaufführung von Wagners Tannhäuser findet.38 Noch folgenreicher für die Musikgeschichte erwies sich aber die in diesem Artikel erstmalige, auf Wagners Werk bezogene pejorative Verwendung der Termini „Zukunftsoper“ (S. 160), „Oper der Zukunft“ (S. 163), „Kunst der Zukunft“ (S. 165) durch Lobe, welche schon bald als generelle Bezeichnungen für die musikalische ‚Fortschrittspartei‘ etabliert waren.39 Während die wahre Identität Lobes den damaligen Eingeweihten offenbar von Anfang an bekannt war,40 vermutete der im Zürcher Exil lebende Wagner hinter dem Pseudonym den für die Grenzboten schreibenden August Ferdinand Riccius41 und plante zunächst in der NZfM eine eigene Reaktion.42 Diese überließ er jedoch – wie schon im Falle Julius Schaeffers43 – seinem Freund Theodor Uhlig. Dieser griff in einem Aufsatz vom 2. und 9. April Lobes Musikalische Briefe in scharfer Form an und verteidigte dabei Wagners schriftstellerische Tätigkeit mit einem bemerkenswerten Verweis auf Beethoven:
hierzu Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 499. 36 Siehe Schaeffer 1852 Über Richard Wagner’s Lohengrin, in: NdS 1 Nr. 31. 37 Siehe Wagner 1852 Drei Operndichtungen nebst einer Mittheilung an meine Freunde. 38 Siehe Hanslick 1857 Ein Vorwort zu R. Wagners „Tannhäuser“ sowie Hanslick 1857 „Tannhäuser“ von Richard Wagner. 39 Vgl. Jost 1995 Zukunftsmusik, S. 120 f. 40 So schrieb Hans von Bülow am 22. April 1852 an Theodor Uhlig hinsichtlich dessen Reaktion in der NZfM: „Den Wohlbekannten – Lobe, auf den man hier, wo man ihn genau kennt, sogleich richtig gerathen hat, haben Sie gut verarbeitet – höchstens ein wenig zu ernst, was er im Grunde nicht verdient“ (Bülow-Schriften 1, S. 435). 41 August Ferdinand Riccius (1819 –1886), Musikschriftsteller, Dirigent und Komponist, wirkte zu dieser Zeit als Dirigent in Leipzig und schrieb neben Artikeln für die Grenzboten als Musikreferent für die Hamburger Nachrichten. 1851 hatte Riccius zwei Wagner kritisch gegenüberstehende Aufsätze in den Grenzboten verfasst, die eine ausgedehntere Kontroverse zwischen den für Wagner in der NZfM Partei ergreifenden Brendel sowie Hans von Bülow auf der einen und Riccius auf der anderen Seite ausgelöst hatte (siehe Riccius 1851 Musikalischer Dilettantismus, in: NdS 1 Nr. 26; Riccius 1851 Richard Wagner; Bülow 1851 Entgegnung sowie Brendel 1851 Polemisches). 42 „Ich wollte einen offenen brief an Riccius für die Zeitschrift schreiben, in dem ich nur dem humor den zügel schießen lassen und ehrlich erklären wollte, daß ich R., den ich nun einmal verdreht gemacht hätte und unmöglich vernünftig machen könnte, nun vollends (à la Röckel) verrückt machen wollte, u. s. w.“ (Brief von Wagner an Theodor Uhlig vom 11. März 1852, in: Wagner-Briefe 4, S. 309). 43 Siehe Uhlig 1852 Ein kleiner Protest. 35 Siehe
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„Beethoven und Wagner aber gehören zu den idealen Künstlern, die nicht für das ‚Vergnügen der Leute‘ arbeiten, sondern nach innerer Nothwendigkeit schaffen, und Wagner würde bei Lebzeiten sicher ganz das Schicksal des allgemein für toll gehaltenen Beethoven theilen, wenn er wie dieser blos in Tönen sich ausspräche“.44 Seine Antwort schloss Uhlig mit folgenden Worten, welche den Auftakt zu jahrelangen Auseinandersetzungen zwischen der NZfM und Lobe bildeten: „Wenn wir über die ‚musikalischen Briefe des Wohlbekannten‘ viel mehr Worte verloren haben, als im Grunde sich der Mühe verlohnen, so ist dies nur geschehen, um das Widersinnige einer Kunstanschauung, die der unsrigen nicht nur entgegengesetzt ist, sondern derselben auch mit absichtlicher Feindseligkeit gegenüber tritt, in das hellste Licht zu stellen“.45 Die Musikalischen Briefe waren die ersten größeren musikjournalistischen Beiträge Lobes seit dem Ende der von ihm geleiteten AmZ im Jahre 1848 und stießen offenbar auf eine so große Resonanz, dass 1860 eine zweite Auflage erschien.46 Während es bei der Neuauflage in den meisten Briefen lediglich zu kleineren Verbesserungen und Aktualisierungen kam, wurde der hier abgedruckte Brief über Wagner durch einen anderen, ausführlicheren ersetzt, der in seiner Grundhaltung – eine grundsätzliche Anerkennung von Wagners Genie als Komponist sowie die gleichzeitige Ablehnung seines musikgeschichtlichen ‚Überbaus‘ – mit dem hier abgedruckten übereinstimmt, jedoch zum Schluss die zunehmende Verbreitung Wagners im damaligen Musikleben zugestehen musste: „Daß Wagner’s Opernmusik eine Menge Schönheiten erster Art enthält, brauche ich nicht besonders auszusprechen und zu beweisen. Die vollen Häuser, die sie in der Regel macht, reden besser dafür als alle Lobphrasen. Es muß also in seinen Werken viel des Gefallenden und Anziehenden liegen. Wir erkennen das mit Dank an und suchen uns durch immer nähere Bekanntschaft damit anzueignen, was unserer Natur genehm ist. Aber hüten wir uns, über dem neuen Künstler die alten zu vergessen, zu vernachlässigen oder gar zu verachten. Die Wagner’sche Musik ist in dem großen Garten der Kunst eine eigenthümliche Pflanze, aber nicht die einzige, die des Beschauens werth wäre. Es giebt noch viele andere. Behalten wir uns den empfänglichen Sinn für alle.“47 Insgesamt liegt die Bedeutung von Lobes Rezension weniger in ihren inhaltlichen Aussagen, als vielmehr in dem darin zu beobachtenden Vorgehen begründet, die umfangreiche und schwer lesbare Schrift Wagners einem größeren Leserkreis bekannt zu machen, zugleich aber auch vor dessen Theorien zu warnen, indem einige der darin vertretenen Positionen in verkürzter – und daher oftmals verzerrter – Form in als Zitat gekennzeichneten Zusammenfassungen präsentiert werden. Wie andere Besprechungen der kunsttheoretischen Schriften
1852 Ueber die musikalischen Briefe eines Wohlbekannten, S. 166 45 Ebd., S. 167. 46 Vgl. hierzu insgesamt Brandt 2002 Johann Christian Lobe, S. 96 f. 47 Lobe 1860 Musikalische Briefe, S. 282 f. 44 Uhlig
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Wagners in den Musikzeitschriften aus dieser Zeit belegen, war dies für die frühe WagnerRezeption der 1850er Jahre zeittypisch48 und beschränkte sich keineswegs auf den deutschen Sprachraum49. Dies verdeutlicht wiederum die einflussreiche Rolle der damaligen Musikjournalistik nicht nur innerhalb der – dergestalt fragmentierten – Wagner-Rezeption, sondern des musikbezogenen Diskurses der 1850er und 1860er Jahre insgesamt.50
48 So präsentierte Eduard Hanslick dem Wiener Publikum nach der ersten Aufführung einer Oper Wagners in der Donaumetropole Auszüge aus Oper und Drama, welche er mit dem aufgeführten Tannhäuser in Beziehung setzte (siehe Hanslick 1857 „Tannhäuser“ von Richard Wagner sowie Hanslick 1857 Ein Vorwort zu R. Wagners „Tannhäuser“). 49 Anlässlich von Wagners Aufenthalt in England als Gastdirigent der Londoner Philharmonic Society im Jahre 1855 ließ der Chefredakteur der in London erscheinenden Musical World, James William Davison, eine von ihm in Auftrag gegebene Übersetzung des gesamten ersten Teils von Oper und Drama abdrucken, um seine Leser so mit den von ihm abgelehnten Theorien Wagners im Vorfeld der von diesem geleiteten Konzerte, welche auch eigene Werke enthielten, bekannt zu machen (siehe Anonym 1855 Opera and Drama). 50 So äußerte etwa Ludwig Bischoff über die Schriften Wagners, dass „der Sieg der neuen Grundsätze […] einestheils aber auf der Voraussetzung [beruht], dass das Publicum die entgegengesetzten Ansichten und gewichtigen Stimmen […] gar nicht kennen [sic]. Dieses Letztere ist allerdings eine Thatsache, die sich erstens daraus erklärt, dass die grosse Menge die wissenschaftlichen Werke, in welchen jene Ansichten aus einander gesetzt werden, nicht lies’t, sondern sich mit den Zeitschriften und Tages-Feuilletons begnügt, ja, selbst unter diesen meist nach denen greift, die dem Bedürfnisse des Lesers, sich zu unterhalten, mehr entsprechen, als dem Triebe, sich zu belehren“ (Bischoff 1855 Stimmen der Kritik über Richard Wagner, S. 81).
Nr. 31 | Julius Schaeffer, „Über Richard Wagner’s Lohengrin, mit Bezug auf seine Schrift: ‚Oper und Drama‘“, in: Neue Berliner Musikzeitung 6 (1852), Nr. 20 (12. Mai), S. 153 –155; Nr. 21 (19. Mai), S. 161–163; Nr. 22 (26. Mai), S. 169 –171.
Über Richard Wagner’s Lohengrin, mit Bezug auf seine Schrift: „Oper und Drama“. Von Julius Schaeffer.
Wir befinden uns mitten im Kampfe der „Partheien“. Nicht blos Staat und Kirche, nicht blos die alte gesellschaftliche Ordnung erfahren durch diesen Kampf ihren Zersetzungs- und Reinigungsprozess, sondern auch die Kunst. Unmittelbar nach Beethoven – und dieser gab selbst den Anstoss dazu – begann unter den Musikern die Spaltung zwischen den begeisterten Anhängern der stürmenden und drängenden Romantik und den Vertretern einer verknöcherten Classizität; später – nachdem die letztere glücklich zu Boden geschlagen war und nur noch in einzelnen vermickerten Absenkern kümmerlich ihr Leben fristete – bildeten sich innerhalb der Romantik selber die Partheien Mendelssohn und Schumann aus, und jetzt – seit dem Hinscheiden Mendelssohn’s – hat sich das Verhältniss wiederum geändert, hat Richard Wagner eine neue Parthei in’s Leben gerufen, deren Anhänger theils unter der Ägide Franz Liszt’s in Weimar, theils unter dem Banner der „Neuen Zeitschrift für Musik“ in Leipzig (Franz Brendel und Th. Uhlig) schon seit einigen Jahren mit rühriger Begeisterung durch Schrift und That für ihren Meister Propaganda machen. Bewegte die früheren Partheien nur ein unbestimmter Drang, ein unklares Gähren, so zeichnet sich nun die neue Parthei vor Allem dadurch aus, dass sie ein bestimmtes Programm aufstellt. Die Grundsätze, welche Wagner in seinen drei Hauptwerken: „Das Kunstwerk der Zukunft“, „Kunst und Revolution“, „Oper und Drama“, ausgesprochen, bilden dieses Programm, und zwar wenden sich dessen Hauptsätze gegen das isolirte Fortbestehen der Einzelkünste und fordern das Aufgehen derselben in das einzig wahre Kunstwerk – „das Drama der Zukunft“1. – Mit dem 1. Januar d. J. hat die Redaction der Neuen Zeitschrift für Musik (welche – obwohl von Anfang ihres Entstehens an Organ der Schumann’schen Richtung – doch immer eine gewisse Unpartheilichkeit zu bewahren suchte) das Programm Rich. Wagner’s in Bausch und Bogen angenommen und ihren Lesern
1 Wagner verwendet den Ausdruck „Drama der Zukunft“ mehrfach in Das Kunstwerk der Zukunft (in: Wagner-Schriften 3, S. 122 und S. 160) und in Oper und Drama (2. Teil, I; 3. Teil, I und IV) sowie auch 1851 in Eine Mittheilung an meine Freunde (in: Wagner-Schriften 4, S. 314).
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verkündet, dass sie von nun an alle einzelnen Punkte desselben vertreten würde.2 Man mache sich also gefasst auf einen energischen Kampf (der theilweise schon begonnen hat) zwischen genannter Parthei einerseits, und der Dichtkunst und der Musik andrerseits, denn diese beiden Künste sind es vorzugsweise, welche in den Angriffen jener Parthei eine Gefährdung ihrer Existenz erblicken müssen. Wagner hat gerade ihnen ein besonderes Werk – „Oper und Drama“ – gewidmet, und in demselben sowohl ihr Verhältniss zu einander, als ihre einzig mögliche Stellung im „Drama der Zukunft“ angegeben. Dabei ist er jedoch nicht stehen geblieben, sondern hat zugleich in Originalschöpfungen – besonders im „Lohengrin“ und „Tannhäuser“ – die Verwirklichung seiner Principien angestrebt.3 Indem es Schreiber dieser Zeilen unternimmt, das Publikum mit Wagner’s neu ster Schöpfung bekannt zu machen, fühlt er sich zu der Bemerkung veranlasst, dass er keineswegs im Sinne hat, eine Recension dieser Oper im bisher üblichen Sinne zu schreiben. Es kommt ihm nicht darauf an zu beurtheilen, sondern zu berichten; er besitzt nicht die Arroganz, dem Publikum ein fertiges, massgebendes Urtheil aufbürden zu wollen, sondern hat das Bestreben, ihm so viel Material zu liefern, dass es sich selbstständig ein Urtheil zu bilden im Stande sei. Er ist überzeugt, dass durch enthusiastische Exclamationen Niemand zum Glauben an eine neue Richtung gezwungen wird, dass Jeder viel-[154]mehr in so weit ungläubiger Thomas ist, als er zuerst selbst sehen und dann glauben will.4 Man erwarte also in Folgendem weiter Nichts als ein Referat, welches mit dem Bestreben auftritt, möglichst objectiv und unpartheiisch zu sein. Dabei war es aber unerlässlich, dem eigentlichen Referate der Oper in möglichster Übersichtlichkeit und Gedrängtheit die Betrachtung der im Lohengrin angewendeten und in dem Werke „Oper und Drama“ entwickelten Kunstprincipien vorauszuschicken – denn, da Rich. Wagner im Lohengrin wesentlich als Reformator auftritt, so wäre ein Bericht über dieses Werk ohne Betrachtung der Principien durchaus unverständlich geblieben. Zur Sache! – Das Unwesen der Oper, d. h. das Unverhältniss der beiden Factoren derselben – Dichter und Musiker – ist bereits Gegenstand so allgemeiner Klagen, dass es kaum noch der Mühe werth scheint, besonders darauf hinzuweisen; jeder anständige, ehrliebende Künstler ist darüber längst im Klaren, und auch die Kritik hat bei keiner neuen Oper verfehlt, vor allen andern Bedenklichkeiten die Erbärmlichkeit des Textbuches zu constatiren. Damit war es aber auch immer abgethan – nach den Gründen jenes Unwesens zu forschen und den Weg zum Bessern anzugeben, fiel Niemandem bei. Wagner hat das Verdienst, der Erste gewesen zu sein, welcher dem, was bisher nur geahnt wurde, Worte verlieh. Er bezeichnet den bisherigen Verlauf
Brendel 1852 Zum neuen Jahr, in: NdS 1 Nr. 27. 3 Sowohl Wagners Tannhäuser (UA 1845) als auch der Lohengrin (UA 1850) wurden beide vor Erscheinen von Wagner 1852 Oper und Drama uraufgeführt. 4 Anspielung auf den zweifelnden Jünger Thomas, der nach biblischer Überlieferung (Joh 20, 19 – 29) die Wunden des auferstandenen Christus mit eigenen Augen sehen wollte, um diesem zu glauben. 2 Siehe
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der Oper nur als das immer deutlichere Offenbarwerden des Irrthums derselben: „Fast scheue ich mich“ – sagt er in der Einleitung zu seiner Schrift: Oper und Drama – „die kurze Formel der Aufdeckung des Irrthums mit erhobener Stimme auszusprechen, weil ich mich schämen möchte, etwas so Klares, Einfaches und in sich selbst Gewisses, dass meinem Bedünken nach alle Welt es längst und bestimmt gewusst haben muss, mit der Bedeutung einer wichtigen Neuigkeit kund zu thun. Wenn ich es dennoch thue, so geschieht dies keineswegs in dem eitlen Wahne, etwas Neues gefunden zu haben, sondern in der Absicht, den in dieser Formel aufgedeckten Irrthum handgreiflich deutlich hinzustellen, um so gegen die unselige Halbheit zu Felde zu ziehen, die sich jetzt in Kunst und Kritik bei uns ausgebreitet hat.“5 – Die erwähnte Formel lautet: „Der Irrthum in dem Kunstgenre der Oper bestand darin, dass ein Mittel des Ausdruckes (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdrucks (das Drama) aber zum Mittel gemacht war und dass sogar das wirkliche Drama auf der Basis der absoluten Musik zu Stande gebracht werden sollte.“6 Diesen Irrthum an der Geschichte der Oper selber nachzuweisen, ist die Aufgabe des ersten Bandes der Wagner’schen Schrift; sodann aber wird uns im zweiten Bande gezeigt, wie durch den geschichtlichen Verlauf der Dramendichtung ein ganz ähnlicher Irrthum offenbar geworden, indem die Dichtkunst zur Gestaltung ihrer Dramen einen Stoff wählte, welcher sich bei näherer Betrachtung zur Dramatisirung als ganz untauglich erwies. – Der Roman, der geschichtliche sowohl, wie der bürgerliche, ist bis jetzt der natürliche, unserer geschichtlichen Entwickelung eigenthümliche Stoff der Dramen gewesen. Shakespeare’s Dramen sind diesem Romane unmittelbar entsprungen, waren aber überhaupt möglich nur darum, weil in ihnen die Darstellung der scenischen Umgebung noch der Phantasie der Zuschauer überlassen blieb. Von da an, wo man auch die Scene getreu wiederzugeben versuchte, musste die Unmöglichkeit, den complicirten Stoff des Romans so zusammenzudrängen, so zu bewältigen, dass er der Gesammtheit der „Sinne“ des Zuschauers ohne Zuthun der Fantasie verständlich würde, offenkundig werden. Wir sehen deshalb die Dichter einestheils dem Romane gänzlich den Rücken kehren und, wie Racine7, nur noch die schon fertig daliegenden Stoffe der antiken Tragödie, mit Beibehaltung der antiken Dramenform reproduziren, anderntheils aber, wie Schiller und Göthe, zwischen Shakespeare und Racine unschlüssig einherschwanken und entweder gänzlich auf scenische
5 Wagner 1852 Oper und Drama, 1. Teil, Einleitung, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 18 f. 6 Ebd., S. 19 und S. 21. 7 Jean Racine (1639 –1699), französischer Dichter und einer der bedeutendsten Vertreter der französischen Klassik.
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Darstellung verzichten (wie Göthe im Faust8) oder sich dem Romane selber wieder zuwenden. „Die neuste dramatische Dichtkunst, welche als Kunst nur von den zu literarischen Denkmälern gewordenen Versuchen Göthe’s und Schiller’s lebt, hat das Schwanken zwischen den bezeichneten entgegengesetzten Richtungen bis zum Taumel fortgesetzt.“9 Aus diesem Taumel ruft nun Wagner zur Besinnung auf; er weist hin auf das einzig wahre Drama, welches die Menschheit besitze – auf das griechische; wie dieses aus dem griechischen Mythos entsprungen sei, so habe auch unsere Dichtkunst auf den Mythos zurückzugehen – dieser sei Anfang und Ende aller Poesie und habe eben das Eigenthümliche an sich, dass er zu jeder Zeit wahr sei, es käme nur darauf an, ihn jeder Zeit gemäss zu deuten; dabei biete er die Bequemlichkeit dar, dass sein Inhalt, schon von vorn herein in verdichtetster Form hingestellt, zur dramatischen Umgestaltung am geeignetsten sei. Da nun aber der Mythos seinen allgemeinen, für jede Zeit wahren Inhalt stets nur an einer einzelnen Persönlichkeit zur Erscheinung bringt, dies aber nur so ermöglicht, dass er seinen Helden mit einer aussergewöhnlichen, übermenschlichen, wunderbaren Begabung ausstattet, oft sogar in directe Beziehung mit dem Göttlichen stellt – so ist auch im Wagner’schen Drama das Wunder ganz unerlässlich. Dies Wunder im Drama unterscheidet sich aber von dem religiös-dogmatischen Wunder insofern, als es nicht, wie dieses, die Natur der Erscheinungen aufhebt, sondern dieselben vielmehr dem Gefühle verständlich macht; es ist nicht dazu da, dass man an dasselbe glaube, sondern dass man den innern Zusammenhang der Handlungen unmittelbar begreife, ohne dazu der Reflexion und Phantasie zu bedürfen; denn das ist ja nach Wagner die einzig richtige Aufgabe des Dichters, an „die Totalität der Sinne“, nicht aber an Verstand und Phantasie zu appelliren, – „durch das Gefühl sollen wir Wissende werden im Drama“10. – Dem „Lohengrin“ liegt der Mythos vom heiligen GralI zum Grunde. Die Natur des Grals und seiner Ritter wird uns am Schlusse der Oper selber von Lohengrin folgendermaassen enthüllt:
(im Altfranzösischen gréal oder graal) bezeichnet eine Schüssel, und der heilige Gral ist das Gefäss, das durch das letzte Abendmahl des Heilandes geweiht war; in demselben Gefässe fing Joseph von Arimathia das Blut auf, welches Christus am Kreuz vergoss. Die Gralssage ist in Verbindung mit der Sage von König Artus von der Tafelrunde gebracht und zwar dadurch, dass Artus und seine Ritter den Gral suchen, dessen Hüter die Templeisen sind. Die Hauptpersonen in der Gralssage sind Titurel, welcher dem Gral die köstliche Kapelle und das Schloss zu Monsalvatsch [sic] erbaut, ferner Parcival, der Hüter des heiligen Gral (beide Persönlichkeiten sind in den gleichnamigen Gedichten des Wolfram von Eschenbach behandelt11). Später wurde der Gral nach Indien entführt, um ihn gegen jede Unbill zu bewahren. (Biese, Deutsche National-Literatur 12.) I Gral
8 Schaeffer
spielt hier möglicherweise auf einen Brief Goethes an Karl Moritz Graf von Brühl vom 1. Mai 1815 an: „An Faust [der Tragödie erster Theil] wird schon seit einigen Jahren probiert, es hat aber noch nicht gelingen wollen. Er steht gar zu weit von theatralischer Vorstellung ab“ (in: Goethe-Werke 34, S. 432). 9 Wagner 1852 Oper und Drama, 2. Teil, I, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 157. 10 Alle Zitate des Satzes ebd., 2. Teil, IV, S. 216. 11 Wolfram von Eschenbach (12, Parzifal, EZ um 1300). 12 Franz Biese (1803 –1895), Handbuch der Geschichte der deutschen National-Literatur für Gymnasien und höhere Bildungsanstalten, 2 Bde., (ED 1846 –1848).
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Im fernen Land, unnahbar euren Schritten Liegt eine Burg, die Monsalvat genannt; Ein lichter Tempel stehet dort in Mitten, So kostbar, wie auf Erden nichts bekannt: Drin ein Gefäss von wunderthät’gem Segen Wird dort als höchstes Heiligthum bewacht, [155] Es ward, dass sein der Menschen reinste pflegen Herab von einer Engelschaar gebracht; Alljährlich naht vom Himmel eine Taube Um neu zu stärken seine Wunderkraft: Es heisst der Gral, und selig reinster Glaube Ertheilt durch ihn sich seiner Ritterschaft. Wer nun dem Gral zu dienen ist erkoren, Den rüstet er mit überird’scher Macht; An dem ist jedes Bösen Trug verloren, Wenn ihn er sieht, weicht dem des Todes Nacht. Selbst wer von ihm in ferne Land’ entsendet, Zum Streiter für der Tugend Recht ernannt, Dem wird nicht seine heil’ge Kraft entwendet, Bleibt als sein Ritter dort er unerkannt: So hehrer Art doch ist des Grales Segen, Enthüllt – muss er des Laien Auge fliehn; Des Ritters drum sollt Zweifel ihr nicht hegen, Erkennt ihr ihn, dann muss er von Euch zieh’n!13 – Ein solcher Ritter des heiligen Gral ist Lohengrin. Er wird vom Gral nach Brabant gesendet, wo Elsa, die Herzogin von Brabant, von ihrem Vormunde Friedrich von Telramund, welcher selbst nach der Krone trachtet, des Brudermordes und geheimer Buhlschaft unschuldig angeklagt ist. Lohengrin erscheint in einem Schifflein von einem Schwane gezogen gerade in dem Augenblicke, wo über Elsa das Gottesgericht abgehalten werden soll. Er streitet für sie und besiegt den Friedrich von Telramund. Zugleich entbrennt er in Liebe zu Elsa, welche ihn schon früher einmal im Traume gesehen, und vermählt sich mit ihr unter der Bedingung, dass sie nie nach seinem Namen, noch nach seiner Herkunft und Art fragen solle. Als sie dies dennoch, von Argwohn und Zweifel getrieben gerade in der Brautnacht thut, erscheint der Schwan mit dem Schifflein wieder und entführt Lohengrin, während die unglückliche Elsa ohnmächtig zusammensinkt. – Dies sind kurz die Hauptzüge der Sage von Lohengrin, wie sie uns in dem Gedichte gleichen NamensII erzählt wird. Die Umgestaltung II Fälschlich
ebenfalls dem Wolfram von Eschenbach zugeschrieben.14
Lohengrin, 3. Akt, 3. Szene. 14 Das Versepos Lohengrin ist möglicherweise vor 1289 in Bayern entstanden. Der unbekannte Autor stand vermutlich in Verbindungen zu Rudolf von Habsburg. Mit seinem Werk knüpft er an die Romane Wolfram von Eschenbachs an (besonders Parzival) und integrierte zudem den Stoffkreis der aus der gleichen Zeit stammenden Sammlung des Wartburgkriegs.
13 Wagner,
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dieses Stoffes zum musikalischen Drama, wird die spezielle Betrachtung der Oper ergeben. Zuvor haben wir noch zu berichten, welche Anforderungen Wagner sowohl an den Dichter, als an den Musiker stellt, und wie er sich das Verhältniss Beider zu einander denkt. – [161] Schon oben wurde berührt, dass Wagner die Hauptaufgabe des Dichters nur darin erblickt: den im Mythos überlieferten Stoff in dichtester Gedrängtheit und dabei in übersichtlichtster [sic] Klarheit so hinzustellen, dass er der Universalität der „Sinne“ ohne Weiteres verständlich sei. Danach besteht die Schwierigkeit für den Dichter darin, dass er einestheils, um übersichtlich zu erscheinen, die weniger wichtigen Momente der Handlung ausscheiden, dafür nur die wesentlichen liefern muss, anderntheils aber, um nicht unverständlich zu sein, die Motive der ausgeschiedenen Handlungen nicht auslassen darf, sondern dieselben zu den Motiven der Haupthandlung hinzuzuziehen, diese letzteren durch jene zu verstärken hat. Namentlich aber dürfen diese Motive wiederum keine Verstandesreflexionen sein, sondern müssen sich durch einen Gefühlsausdruck unmittelbar dem Gefühle kundgeben. Dies ist jedoch dem Dichter allein, welcher es nun einmal mit der Wort- und nicht mit der Gefühlssprache zu thun hat, nicht im ganzen Umfange möglich – und so erblickt denn Wagner hier den Punkt, wo der Dichter den Musiker mit Nothwendigkeit hinzuziehen muss. Wir werden daher erst weiter unten näher zu betrachten haben, auf welche Weise Wagner die Handlungen in seinem Drama dem Gefühle motivirt. Soll der Dichter selbst schon den Gefühlston anschlagen, so kann er dies weder durch künstlichen Versbau, noch durch den Endreim, welcher letztere ja manchmal auf ganz unwesentliche Satzglieder und Silben fällt – das wahrhaft Melodische im Verse kann der Dichter nur so erreichen, dass er seine Verse – wie auch unsere Vorfahren zu thun pflegten, als Gesang und Dichtkunst noch eng verbunden waren – nach Hebungen und Senkungen construirt, und das Verwandtschaftliche in den Hebungen (Accenten) durch den Stabreim (Alliteration) ausdrückt, wie z. B. in den Versen: Die Liebe bringt Lust und Leid, Doch in ihr Weh’ auch webt sie Wonnen.15 Aber auch hier ist der Dichter durch sein Organ – die Sprache – wesentlich beschränkt, und erst der Tonsprache kann es möglich sein, das in umfassendster Weise wiederzugeben, was die Wortsprache nur andeutete. Für die Dichtung des Lohengrin – welche, wie wohl nicht erst gesagt zu werden braucht, von Wagner selbst verfasst ist – muss übrigens bemerkt werden, dass stabreimende Verse sich wenig oder gar nicht in denselben vorfinden, sondern vielmehr, mit Ausnahme der eigentlich lyrischen Stellen, fünffüssige Jamben mit und ohne Endreim beliebt sind. Dies Verfahren erklärt sich daraus, dass Wagner die Verwirklichung seines Ideals erst in ferner Zukunft für möglich hält, weil, abgesehen von der gänzlichen Untauglichkeit der romanischen Sprachen, auch die am meisten geeignete deutsche erst noch eine Revolution erfahren müsse.
15 Wagner
1852 Oper und Drama, 3. Teil, III, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 306.
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Was aber Wagner erreicht hat, ist die vollständige Emanzipation des Dichters von der Zwingherrschaft des Musikers, unter welcher er bis jetzt schmachtete. Hatte bisher der Dichter dem Musiker für dessen bereits vorher fertige Formen – Recitativ, Arie, Ensemble, Chor, Ballet – nur das Material zurecht zu legen; trat bisher die Musik als alleinige Anordnerin des musikalischen Drama’s auf, – so hat der Dichter jetzt durch Wagner den unberechenbaren Vortheil gewonnen, dass er mit voller Freiheit an die [162] dramatische Gestaltung seines Stoffes, an die Verwirklichung seiner Absicht, diesen Stoff dem „Gefühle“ verständlich zu machen, gehen kann, und nur eben darum den Musiker noch mit Nothwendigkeit hinzuzieht, weil jene Verwirklichung nur durch das Zusammenwirken der Tonsprache und Wortsprache vollständig erreicht werden kann. Nach den unzähligen elenden Machwerken von Operntexten, welche man nur mit Ekel und Verachtung bei Seite werfen kann, ist es eine wahre Herzensstärkung, einmal einem Libretto zu begegnen, welches – wie der Lohengrin und der diesem voraufgegangene [sic] Tannhäuser – für die Lectüre schon den Eindruck eines lebendigen, organischen, einheitlichen Kunstganzen macht – wir sagen für die Lectüre, weil hier ja dem Autor noch der Appell an die Fantasie des Lesers freisteht, welcher sich mit Hülfe derselben leicht ersetzt, was nur das wirklich aufgeführte, musikalische Drama zu geben im Stande ist. – Fassen wir jetzt den Musiker im Wagner’schen Drama näher in’s Auge: Wir sahen, dass der Dichter in dem Bestreben, schon im Gedichte den Gefühlston anzuschlagen, eine natürliche Schranke in seinem Organe, der Wortsprache, fand – das einzige ihm zu Ermöglichende erblickte er in den Hebungen und Senkungen des Accents und in der Verbindung der verwandtschaftlichen Accente durch den Stabreim. Erst die Musik – als deren Wesen Wagner kurz die Melodie bezeichnet – ist im Stande, die vollständige Mittheilung der dichterischen Absicht aus dem Verstande an das Gefühl zu verwirklichen. Wagner nennt darum die Melodie „die Erlösung des unendlich bedingten dichterischen Gedankens zum tiefempfundenen Unbewusstsein höchster Gefühlsfreiheit.“16 Wagner hat überhaupt so seine eigenen Gedanken über das Wesen der Musik. Er spricht ihr von vornherein die Möglichkeit ab, aus sich heraus selbstständig zu gebären und bricht somit den Stab über alle Bestrebungen der absoluten (reinen Instrumental-)Musik, die er lediglich als „Vorübung im Gebären“17 betrachtet. Er nennt die Musik allerdings einen „lebendigen Organismus“, aber „einen weiblichen, der nur gebären, nicht auch zeugen könne – die zeugende Kraft liege vielmehr ausser ihm, und diese besitze nur der Dichter.“18 Im Wagner’schen Drama ist die Musik weiter Nichts, als „Kunst des Ausdrucks“19. Die zeugende Kraft des Dichters äussert sich nun vornehmlich in der Melodien bildung. Dies ist jedoch nicht so zu verstehen (wie es einige Kritiker Wagner’s wirklich
16 Ebd., S. 293 f. 17 Ebd., 1. Teil, VII, S. 116: „Wir bezeichneten Beethoven’s künstlerisches Verfahren in seinen wichtigsten Instrumentalsätzen als ‚Vorführung des Actes der Gebärung der Melodie‘.“ 18 Alle Zitate des Satzes ebd., S. 116. 19 Ebd., 1. Teil, I, S. 34.
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verstanden haben), als lieferte der Dichter dem Musiker zugleich mit dem Verse auch die fertigen Melodieen. Freilich sagt Wagner zu wiederholten Malen, dass mit dem Wortverse eigentlich die Melodie schon gegeben sei; allein er erklärt das am andern Orte so, dass der Dichter im Wortverse dem Musiker eben nur den befruchtenden Samen zu Theil werden lässt – die „Frucht reift und formt der Musiker nach seinem eigenen individuellen Vermögen“20. Die Hebungen und Senkungen der Melodie sind eben nur genau nach den Hebungen und Senkungen des Verses zu construiren; der musikalische Tact bestimmt sich nach dem vom Dichter beabsichtigten Ausdrucke; und die musikalische Modulation ermöglicht auf das Umfassendste die Darstellung des verwandtschaftlichen Bandes zwischen den einzelnen Gefühlstönen, welches der Dichter nur auf beschränkte Weise durch Alliteration anzudeuten wusste.III Wie nach Wagner’s Vorstellung für den Componisten der Gang der Modulation schon im Wortverse angegeben sei, zeigt er uns selbst an den schon oben zitirten stabreimenden Versen: „Die Liebe bringt Lust und Leid, Doch in ihr Weh’ auch weht sie Wonnen.“ Er meint: „in dem ersten Verse von gemischter Empfindung würde der Musiker auch aus der angeschlagenen, der ersten Empfindung entsprechenden Tonart, in eine andere, der zweiten Empfindung, nach ihrem Verhältnisse zu der in der ersten Tonart bestimmten, entsprechenden überzugehen sich veranlasst fühlen; der auf ‚Lust‘ gesungene Ton würde unwillkürlich zu dem bestimmenden Leittone werden, welcher mit Nothwendigkeit zu der andern Tonart, in der das ‚Leid‘ auszusprechen wäre, hindrängte. In dem zweiten Verse würde ‚webt‘ wieder zum Leitton in die erste Tonart werden, wie von hier ab die zweite Empfindung zur ersten, nun bereicherten, wieder zurückkehrt.“21 Werfen wir dagegen einen Blick auf die bei unsern besten Musikern bisher übliche Modulation, so sehen wir in derselben die Verwandtschaft von nur einzelnen Tonfamilien zum Ausdruck gebracht; – eine herrschende Familie (die Haupttonart) ziehe aber nur die nächstverwandten Vettern und Basen (die Nebentonarten) mit in ihren vertrauten Kreis; und wenn es sich auch ereignet, dass ein Glied dieser Familie zu einem Gliede einer ganz fremden Familie in Liebe entbrennt und durch eheliche Vereinigung mit demselben den Kreis der Vettern und Basen erweitert, so wird doch dadurch die Familie als solche in keiner Weise affizirt. Diese Art und Weise der Modulation, welche Wagner kurz als die patriarchalische bezeichnet, kann er natürlich für seine Absichten nicht gebrauchen – in ihr bieten sich vielmehr für den Musiker ganz dieselben Grenzen als dem Dichter, dem ja zur
III Als
eine solche unmittelbar aus dem Wortverse hervorgegangene Melodie ist z. B. diejenige in Beethoven’s neunter Symphonie anzusehen, welche zu den Worten: „Seid umschlungen Millionen“ u. ff. gesungen wird. Im Lohengrin sind alle Melodieen nach diesem Principe gebildet. 20 Ebd.,
3. Teil, IV, S. 309.
21 Ebd.,
3. Teil, III, S. 305.
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Darlegung der Verwandtschaft in den Gefühlstönen auch nur eben Konsonanten- und Vocal-Familien zu Gebote standen. Für den Musiker, welcher eben das dem Dichter Unerreichbare erreichen d. h. die Urverwandtschaft aller ausgesprochenen Gefühlstöne zum Ausdruck bringen soll, musste darum Wagner auch die Urverwandtschaft aller musikalischen Töne proklamiren. Als erster Artikel in den musikalischen Grundrechten steht bei Wagner obenan: „Alle Töne sind gleich, sind wesentlich mit einander verwandt. Die Privilegien der Tonfamilien sind abgeschafft.“22 Wagner verlangt ausdrücklich: „dass die Versmelodie sich als besonderes der Urverwandtschaft aller Töne dem Gefühle darstelle.“23 Nach diesen Bestimmungen begreift sich allein die von Wagner im Lohengrin angewendete Modulationsweise, die Jedem, der nicht mit den Principien, aus denen sie geflossen, vertraut ist, nothwendig als eine gänzlich unmotivirte, zuweilen vollkommen wahnsinnige erscheinen muss. Das Zugeständniss wird ihm aber Jeder machen, dass er, was er gewollt, erreicht hat; dass es ihm nämlich gelungen ist, alle Individualität der Tonarten aufzuheben – Fis-moll klingt wie G-moll, und G-moll wieder wie Cis-moll, er zwingt uns von D-dur nach G-dur den Weg über As-moll zu nehmen und führt uns von Es-dur zur Dominanten-Tonart B-dur über As-dur, E-moll, Des-dur und Ges-dur (in 8 Tacten); die Vermischung der Dreiklange [sic] von B-dur, Ges-Dur und A-dur ist bei ihm eine sehr gewöhnliche Modulation, und die unmittelbare Folge von As-dur, D-dur und F-dur eine Bagatelle – kurzum, Wagner hat es möglich gemacht, dass wir zuletzt wirklich nur die ganz monotone „Urverwandtschaft aller Töne“24 heraushören. Das Bestreben, die Fesseln unserer diatonischen Tonleiter und der durch diese bedingten Modulation los zu werden, charakterisirt überhaupt unsere Zeit, und schon vor Wagner haben sich mehrere unserer bedeutendsten Componisten (wir nennen hier nur Schubert, Chopin, Rob. Schumann und Rob. Franz) bemüht, durch Vermischung mehrerer [163] Tonarten eine neue reichere sich zu schaffenIV. Hat also Wagner hier auch keine neue Erfindung gemacht, so ist er doch wiederum der Erste, welcher die „Urverwandtschaft aller Töne“ zum Princip erhebt, und dies Princip auf das Consequenteste bethätigt. Dabei musste er nothwendig zu einem Accorde seine Zuflucht nehmen, welcher an und für sich die Brücke zu allen 24 Tönen bildet, nämlich zum – verminderten Septimen-Accord. Jeder der einmal mit der Harmonielehre sich beschäftigt hat, wird sich erinnern, dass von den drei (dem Klange nach) unterscheidbaren verminderten Septimen-Accorden jeder nicht nur in 8 verschiedenen Tonarten, sondern auch unmittelbar in einer der beiden andern, mithin vermittelst dieser zu allen 24 Tonarten fortschreiten kann – freilich wird es ebenso bekannt sein, dass bisher die Modulation durch den verminderten Septimen-Accord als eine billige und ziemlich verpönte galt. Daran konnte sich Wagner, der so manches Vorurtheil mit Füssen tritt, nicht kehren – wo es sich um
IV Die
speziellere Betrachtung dieser gegen das alte Modulations-Verfahren sich kehrenden Revolution lieferte gewiss ein recht interessantes Kapitel, muss jedoch hier unterbleiben und für eine passendere Gelegenheit aufgespart werden. 22 Hier
wird Wagner paraphrasiert. Vgl. ebd., S. 301.
23 Ebd.,
S. 299.
24 Ebd.,
S. 307.
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nichts Geringeres, als um „Urverwandtschaft aller Töne“ handelt, kann der verminderte Septimen-Accord nicht entbehrt werden. Er ist ja gerade dasjenige Element, in welchem sich die Gleichheit aller Töne darstellt, in welchem die Individualität der Tonfamilien untergegangen ist; und steht es nun ganz in des Musikers Belieben, mit seiner Hülfe alle, selbst auch die heterogensten Töne unmittelbar zu verbinden, – Von diesem verminderten Septimen-Accord ist denn auch im Lohengrin ein unbegrenzter Gebrauch gemacht worden, besonders im rezitirenden Gesange, wo er als bequemes Fortschritts- und Übergangsmittel verwandt wird; ja es giebt Stellen, wie z. B. die im Klavierauszuge 16 Seiten lange erste Scene des zweiten Actes, wo wir absolut nichts weiter hören, als den verminderten SeptimenAccord. In diesen ewig und unruhig fluthenden Wogen der Harmonieen würden wir uns zuletzt ganz bewusstlos verlieren, wenn nicht in den Hauptmotiven der Oper (wovon unten) einzelne Barken uns winkten, auf denen wir durch den unendlichen Wogenschwall glücklich hindurchsteuerten. [169] Die Harmonie war, wie wir oben sahen, in der vom Dichter erzeugten Melodie schon unmittelbar enthalten. Diese so vom Dichter gegebene Harmonie ist aber an sich ein blos Gedachtes, und es beginnt nun hier das eigentliche Geschäft des Musikers, die gedachte Harmonie „den Sinnen wahrnehmbar“ zu machen, d. h. sie zur wirklich miterklingenden zu gestalten. „Das unermesslich fähige Organ zur Wahrnehmbarmachung der Harmonie, das neben der Befriedigung dieses reinen Bedürfnisses zugleich in sich das Vermögen zu einer Charakterisirung der Melodie besitzt, ist das Orchester – der sicher tragende Bewältiger der unendlichen Fluthen der Harmonie.“25 Die bisherige Oper benutzte ausser dem Orchester zur Wahrnehmbarmachung der Harmonie auch symphonirende Vocalmassen – Ensemble und Chor. Im „Drama der Zukunft“ wird’s fortan keine Ensemble’s mehr geben – Wagner „gewahrt in ihm nirgends Raum zur Aufstellung von Individuen von so untergeordneter Beziehung zum Drama, dass sie zu dem Zwecke polyphoner Wahrnehmbarmachung der Harmonie durch nur musikalisch symphonirende Theilnahme an der Melodie der Hauptperson verwendet werden könnten.“26 Dergleichen Ensembles finden sich denn auch im Lohengrin gar nicht vor: und wenn auch zuweilen sämmtliche Hauptpersonen zu gleicher Zeit singen, so geschieht dies jedoch nur an Stellen, wo eine allgemeine Erregtheit in der ganzen Umgebung sich kundgiebt, wo sie mithin nicht mehr als Hauptpersonen erscheinen, sondern sich an jener Kundgebung der allgemeinen Erregtheit jeder in individueller Weise betheiligen – nur als integrirender Theil des Chores auftreten. Auch der Chor wird nach der Bedeutung, die ihm im günstigsten Falle in der bisherigen Oper beigelegt ward, im Wagner’schen Drama zu verschwinden haben: „auch er ist nur von lebendig überzeugender Wirkung im Drama, wenn ihm die blos massenhafte Kundgebung vollständig benommen wird.“27 Da, wo eine zahlreichere Umgebung nöthig ist, muss ihr auch der Charakter individueller Theilnahme an den Motiven und Handlungen des Dramas beigelegt werden.
25 Ebd.,
3. Teil, IV, S. 319.
26 Ebd.,
S. 316.
27 Ebd.,
S. 317.
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Im Lohengrin ist die Umgebung der Hauptpersonen äusserst zahlreich, und werden wir auf ihre Bestandtheile wenn wir zur speziellen Besprechung der Oper selbst schreiten, zurückzukommen haben. Das sei aber hier schon gesagt, dass der Chor im Lohengrin überall mit Nothwendigkeit auftritt und stets mit innerlicher Theilnahme unmittelbar in die Handlung eingreift. Unmotivirtes Parademachen desselben ist mit der grössten Strenge vermieden: nirgends macht er sich als „Masse“ breit, sondern erscheint überall als eine Vereinigung selbstthätiger Individuen. Diese Rücksicht hat Wagner ganz von selbst darauf geführt, die Chöre reicher, meist als Doppelchöre, mindestens aber sechsstimmig zu behandeln und jeder einzelnen Stimme derselben ein[e] individuelle, charakteristische Führung zu geben. Durch ganz neue Combinationen von Stimmen z. B. dadurch, dass erster Tenor im Falset mit dem Alte im Einklang singt, dass unter Anderm einmal ein Chor aus 4 Bässen auftritt, erzielt Wagner Klangfarben, wie sie bisher nur den raffinirtesten OrchesterComponisten möglich waren. – Bestand bisher das Geschäft des Musikers darin, das [170] vom Dichter wirklich Ausgesprochene zum Gefühlsausdrucke umzugestalten und dadurch dem „Gefühle“ des Zuschauers unmittelbar verständlich zu machen: so beginnt nun für ihn die viel reichere und nur ihm allein zu ermöglichende Aufgabe, nämlich auch das für den Dichter „Unaussprechliche“ zum Ausdruck zu bringen. Als dieses Unaussprechliche kann im Allgemeinen das bezeichnet werden, was im Innern der handelnden Personen vorgeht; und das Organ, „welches allein das Sprachvermögen zu vollkommenster Kundgebung des Unaussprechlichen besitzt“28, ist wiederum das Orchester u. zw. das moderne von Berlioz unendlich vervollkommnete Orchester. Diente es bisher nur zur Wahrnehmbarmachung der in der Versmelodie schon immanenten Harmonie, so tritt es nun aus dieser mehr untergeordneten Stellung heraus, um sich auf dem ihm heimischen Gebiete der reinen Instrumental-Musik zu bewegen – aber wohl gemerkt, nicht der absoluten, nur sich selbst genügenden Instrumentalmusik, sondern derjenigen, welche, hervorgegangen aus der dichterischen Absicht, diese mit verwirklichen hilft. Als erstes „Unaussprechliches“ nennt Wagner die Gebärde – unaussprechlich insofern, „als die Sprache sie nur zu schildern, zu deuten vermag, während eben nur diese oder jene Glieder oder Mienen die innere Empfindung wirklich ausdrücken.“29 „Diese Gebärde ist der Musiker im Stande vermittelst des Orchesters so an das Gehör mitzutheilen, wie sie sich selbst dem Auge kundgiebt.“30 Wagner meint hier aber nicht blos die „monologische“ Gebärde eines einzelnen Individuums, sondern auch „die aus der charakteristisch beziehungsvollen Begegnung vieler Individuen zur höchsten Mannigfaltigkeit sich steigernde – so zu sagen – vielstimmige Gebärde.“31 Also jede in der Gesammtheit der handelnden Personen sich kundgebende Regung, als z. B. feierliche Stimmung, allgemeine Rührung oder Begeisterung, Groll, Murren, Unruhe u. s. w. wird die Musik auszudrücken, ja in ihren Bereich auch die Schilderung der Physiognomie der ganzen Naturumgebung zu ziehen und somit recht 28 Ebd.,
3. Teil, V, S. 329.
29 Ebd.,
S. 331.
30 Ebd.,
S. 332.
31 Ebd.,
S. 335.
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eigentlich zur Tonmalerei sich zu gestalten haben, die – so lächerlich sie in reinen Instrumentalwerken erscheinen mag – hier im Drama gerade an ihrer rechten Stelle ist. Mit der Kundgebung des durch die Gebärde zur Darstellung gebrachten Gefühlsinhaltes begnügt sich aber das Orchester keinesweges; es verräth uns auch alle in den geheimsten Falten des Herzens der handelnden Personen verborgenen Gedanken, enthüllt uns die innersten Triebfedern eben der Handlungen selber. Somit wären wir jetzt zu dem Punkte gekommen, auf welchen wir oben einfach verweisen mussten, zu der Betrachtung nämlich, auf welche Weise sich Wagner die Motivirung der Handlungen vor dem Gefühle von dem Musiker ermöglicht denkt. Das Motiv einer Handlung ist zwar an und für sich ein Gedanke, eine IdeenAssoziation; aber im Momente der Handlung selbst ist der Gedanke vielmehr als Trieb, als innerlicher Anstoss, mithin als ein Gefühlsinhalt vorhanden (Wagner nennt diesen Gedanken „das Band zwischen einer ungegenwärtigen und einer gegenwärtig nach Kundgebung ringenden Empfindung“32). Dem Dichter fehlte, wie wir oben sahen, zur Kundgebung dieses Gefühls-Inhaltes das geeignete Organ, welches erst der Musiker in dem Sprachvermögen des Orchesters findet. Wie nun der Musiker bei der Motivirung der Handlungen zu verfahren hat, glaube ich am besten an einem Beispiele klar zu machen, welches gewiss Jedermann bekannt sein wird. Man erinnert sich nämlich aus der Wolfsschlucht in Weber’s „Freischütz“33, dass, nachdem Max lange hin und her geschwankt hat, ob er in den Zauberkreis hinabsteige oder nicht, plötzlich vom Orchester die Melodie des Spottchors aus dem ersten Acte intonirt wird, und dass bald darauf Max mit einem schnellen Entschlusse: „ob das Herz auch graust, Ich muss, ich trotze allen Schrecken“34 in den Zauberkreis hinabspringt. Dass eben in Max die Erinnerung an den Hohn und Spott, welchen er erfahren, auftaucht, und dass gerade diese Erinnerung das entscheidende Motiv ist zu dem verzweifelten Schritte, sich Freikugeln zu verschaffen: das ist hier durch das Orchester mit wenigen Noten auf das Überzeugendste gesagt, wo dem Dichter kaum eine Andeutung zu Gebote stand. Wagner wendet eine solche Art der Motivirung selbst da an, wo die Erinnerung an ein früheres Moment der Handlung in der handelnden Person nicht einmal bewusst vorliegt – rein im Interesse des Publikums, um demselben den innern Zusammenhang der einzelnen Handlungsmomente klar zu machen. Hiernach wird das, was Wagner über diesen Punkt selbst sagt, ohne Weiteres verstanden werden: „Eine Melodie, wie sie als Erguss einer Empfindung uns vom Darsteller mitgetheilt worden ist; verwirklicht uns, wenn sie vom Orchester ausdrucksvoll da vorgetragen wird, wo der Darsteller jene Empfindung nur noch in der Erinnerung hegt, den Gedanken dieses Darstellers; ja selbst da, wo der gegenwärtig sich Mittheilende jener Empfindung sich gar nicht mehr bewusst erscheint; vermag ihr charakteristisches Erklingen im Orchester in uns eine Empfindung anzuregen,
32 Ebd.,
S. 340.
33 Carl
Maria von Weber, Der Freischütz (UA 1821), 2. Akt, 6. Szene.
34 Ebd.
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die zur Ergänzung eines Zusammenhanges, zur höchsten Verständlichkeit einer Situation, durch Deutung von Motiven, die in dieser Situation wohl enthalten sind, in ihren darstellbaren Momenten aber nicht zum hellen Vorschein kommen können, uns zum Gedanken wird, an sich aber mehr als Gedanke, nämlich der vergegenwärtigte Gefühlsinhalt des Gedankens ist.“35 – Wie sehr es überhaupt Wagner darauf ankommt, dass das Publikum sich innerlich an der Handlung betheilige, dass es gleichsam zum Mitschöpfer des Dramas werde, beweist endlich der Umstand, dass er vom Dichter verlangt, beim Zuhörer die Spannung auf das Aussergewöhnliche, die Erwartung und Ahnung des Wunderbaren im Drama zu erwecken. Hierzu ist natürlich wiederum keine Sprache vermögender, als die der reinen Instrumental-Musik, des Orchesters. „Die Ahnungen hat das Orchester auszusprechen an den Stellen des Dramas, wo die Gebärde vollkommen ruht und die melodische Rede des Darstellers gänzlich schweigt – wo das Drama aus noch unausgesprochenen inneren Stimmungen heraus sich vorbereitet“36 – also vornehmlich in der Einleitung zur ganzen Oper (Ouverture), in den Vorspielen zu den einzelnen Acten und Scenen und vor besonders hervorragenden Erscheinungen. Natürlich werden die so angeregten unbestimmten Empfindungen immer mit einer wirklichen Erscheinung in Verbindung zu stehen haben, die sich wiederum an das Auge mittheilt – sei diese Erscheinung nun ein Moment der Naturumgebung (also etwa ein Sonnenaufgang) oder des menschlichen Mittelpunktes dieser Umgebung selbst – „die wirkliche Erscheinung tritt alsdann als gerechtfertigte Ahnung vor uns hin.“37 Indem so die Melodieen der Ahnungen und Erinnerungen an verschiedenen Stellen des Dramas als musikalische Motive wiederkehren, gewinnen wir an ihnen nicht blos Anhaltepunkte in dem ununterbrochenen Gange des Dramas – eben jene Barken, auf denen, wie wir oben sagten, wir durch die ewig fluthenden Wogen der Harmonie hindurchsteuern, sondern gestaltet sich auch in der musikalischen Form des Dramas eine innere organische Einheit, wie wir sie in den bisherigen Opern vergebens suchen. – Resumiren wir kurz die Elemente der musikalischen Ausdrucksmittel im Wagner’schen Drama, so haben wir: [171] die Versmelodie – deren Harmonisirung – die Kundgebung der Gebärde, der Erinnerung und der Ahnung. Auf diese Elemente werden wir denn auch bei der speziellen Betrachtung der Oper „Lohengrin“, zu der wir uns später wenden,38 ganz besonders Rücksicht zu nehmen haben.
1852 Oper und Drama, 3. Teil, V, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 342. S. 344. 37 Ebd., S. 348. 38 Siehe Schaeffer 1852 Über „Lohengrin“ von Richard Wagner.
35 Wagner 36 Ebd.,
Schaeffer 1852 Über Richard Wagner’s Lohengrin
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Kommentar In diesem Artikel aus der Neuen Berliner Musikzeitung referiert der Breslauer Musikdirektor, Komponist und Musikschriftsteller Julius Schaeffer die Thesen von Wagners kurz zuvor erschienener Schrift Oper und Drama (ED 1852), welche Schaeffer zusammen mit Wagners anderen Züricher Kunstschriften, Die Kunst und die Revolution (ED 1849) und Das Kunstwerk der Zukunft (ED 1850), als „Programm“ der „neuen Parthei“ ansah.39 Im Vergleich zu anderen Rezensionen40 beschränkt sich Schaeffer allerdings nicht auf die inhaltliche Zusammenfassung von Oper und Drama, sondern versucht die darin aufgestellten Kunstprinzipien anhand von Lohengrin auch analytisch aufzuzeigen. Auf diese Weise verknüpft er Wagners Thesen mit konkreten kompositorischen Momenten, etwa im Bereich der Harmonik und der Orchesterbehandlung. Darauf aufbauend, stellte Schaeffer in einem zweiten Artikel, der kurze Zeit später unter leicht abweichendem Titel folgte,41 außerdem die Handlung von Lohengrin in Verbindung mit den wichtigsten musikalischen Motiven vor. Genau gegen diese anachronistische Verkopplung von Oper und Drama mit Lohengrin – die Komposition der Oper war bereits im Jahre 1848 beendet, während die Schrift erst im Herbst 1851 gedruckt erschien – richtete sich der Widerspruch Theodor Uhligs, der bereits im Juni 1852 in der NZfM auf den ersten Artikel Schaeffers reagierte.42 Uhlig lobte darin zwar generell Schaeffers Abhandlung, erklärte jedoch mit dem Verweis auf Wagners Drei Operndichtungen nebst einer Mittheilung an meine Freunde43, dass die in Oper und Drama erörterten Grundsätze zwar teilweise durch Wagners bisherige musikdramatische Werke verdeutlicht werden könnten, aber man umgekehrt die Werke nicht mit Hilfe der Theorie aus Oper und Drama erklären könne, da sich diese auf die Zukunft richteten. Schaeffer habe Wagners Thesen somit am falschen Gegenstand dargestellt. Eine weitere kritische Reaktion auf den Artikel Schaeffers findet sich in den Fliegenden Blättern von Johann Christian Lobe.44 Darin offenbart letzterer seine eigene Haltung gegenüber Wagner, die durch eine unterschiedliche Bewertung der Kompositionen und Schriften gekennzeichnet ist: Während Lobe die Musik Wagners durchaus schätzte,45 bezeichnete er dessen theoretische Äußerungen als „irrig“ und „gefährlich“.46 Eine solch ambivalente Haltung gegenüber Wagner begegnet nicht nur bei Lobe, sondern beispielsweise auch bei Theodor Hagen47 und John S. Dwight48. Vor allem kritisiert Lobe in seiner Entgegnung auf Schaeffer jedoch die Anhänger Wagners und wirft ihnen Einseitigkeit vor, weil sie als einzige musikalische Gattung nur das „Gesamtkunstwerk“ nach Wagner’scher Vorstellung gelten ließen.
1852 Über Richard Wagner’s Lohengrin, S. 153, in: NdS 1 Nr. 31. 40 Siehe beispielsweise Anonym 1852 Das Verhältnis der Oper zum Drama; N. Z. t. 1852 Oper und Drama; Anonym 1852 Drama und Operndichtung. 41 Schaeffer 1852 Über Lohengrin von Richard Wagner. 42 Uhlig 1852 Ein kleiner Protest. 43 Wagner 1852 Eine Mittheilung an meine Freunde. 44 Lobe 1853 Ein Vertheidiger Richard Wagner’s. 45 Vgl. auch die Haltung Lobes in dessen später erschienenen „Briefen über Rich. Wagner“ (siehe Lobe 1854 Briefe über Rich. Wagner). 46 Ebd., S. 54. Vgl. insgesamt zu Lobe und dessen Verhältnis zu Wagner: Brandt 2002 Johann Christian Lobe. 47 Siehe Hagen 1852 Einige Worte über die Neunte Symphonie in: NdS 1 Nr. 35. 48 Siehe Anonym 1854 Our Wagnerism in: NdS 1 Nr. 59. 39 Schaeffer
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Schaeffer erwiderte Lobes unter dem Pseudonym „der Wohlbekannte“ erschienene Aussagen daraufhin mit einem stark polemischen Artikel in der NZfM49, der in einer regelrechten Kampfansage endet: „Darauf kann er [Lobe] wenigstens rechnen, daß wir ihn, so lange er uns nicht allzu unbequem wird, gern in der noblen Gesellschaft und hohen Protection seines ‚Weltgeistes‘ belassen werden; wir Anderen (worunter der Wohlbekannte die ‚Neue Zeitschrift für Musik‘ und meine Wenigkeit versteht) setzen unsern Ruhm darein, für das, was wir sagen, selbst einzustehen und dafür mit offenem Visir und ehrlichen Waffen zu kämpfen – sans phrase!“50 Das Vorgehen Schaeffers, die in ihrem Gehalt und ihrem Stil nach schwer verständlichen Aussagen Wagners in dessen kunsttheoretischen Schriften anhand seiner damals mehr und mehr in das Opernrepertoire deutscher Bühnen Einzug haltenden Opern einem breiteren Leserkreis zu veranschaulichen, lieferte den Wagner-kritischen Stimmen im damaligen Musikdiskurs eine willkommene Vorlage, konnten sie doch in zahlreichen Artikeln dieser Zeit wiederholt auf die scheinbare Diskrepanz der Aussagen und der musikalischen Konventionalität der bislang aufgeführten Opern Wagners verweisen.51 Somit illustrieren Schaeffers Artikel und die nachfolgenden Reaktionen52 beispielhaft, wie nicht nur die kunsttheoretischen Schriften Wagners, sondern auch die Missverständnisse innerhalb ihrer Rezeption in den Musikzeitschriften zu einer zunehmenden Verhärtung der Fronten im musikalischen Parteienstreit beitrugen.
49 Schaeffer 1853 Noch einmal der Wohlbekannte. 50 Ebd., S. 260. 51 Diese Haltung findet sich noch 1857 in der Besprechung des Tannhäuser anlässlich von dessen Wiener Erstaufführung (siehe Hanslick 1857 „Tannhäuser“ von Richard Wagner sowie Hanslick 1857 Ein Vorwort zu R. Wagners „Tannhäuser“). 52 Als eine weitere Reaktion ist etwa auch der Artikel von Gustav Engel zu nennen, der ein halbes Jahr später im Dezember 1852 ebenfalls in der Neuen Berliner Musikzeitung erschien und eine Kritik an Wagners Theorie darstellt (Engel 1852 Richard Wagner als Kunsttheoretiker und Operndichter).
Nr. 32 | Redaktion [Ludwig Bischoff], „An unsere Leser“, in: Rheinische Musik-Zeitung 2 (1851/1852), Nr. 53 (3. Juli 1852), S. 833 – 835 [= Rheinische Musik-Zeitung 3 (1852/1853), Nr. 1 (3. Juli 1852)].
An unsere Leser.
Als wir vor zwei Jahren das erste Blatt der rheinischen Musikzeitung in die Welt sandten, erlaubten wir uns, die Hoffnung auszusprechen, dass bei der Liebe des deutschen Volks zur Musik, ein Unternehmen, das diese Liebe immer mehr zu begründen und zu veredeln, die Kunst mit dem Leben, den Künstler mit der Gesammtheit der Gebildeten im Volke zu vermitteln strebe, als ein zeitgemässes erkannt werden und bei Kunstgenossen und Kunstfreunden eine wohlwollende Aufnahme finden würde.1 Obwohl die äussern Bedingungen, unter welchen eine Zeitschrift nur ins Leben treten kann, durch die Liberalität der kunstsinnigen Begründer so geordnet waren, dass dem neu gepflanzten Stamme selbst auf den Fall die natürliche Nahrung und Pflege gesichert war, wenn er auch erst in spätern Jahren Früchte getragen hätte; obwohl uns die Mitwirkung tüchtiger Kräfte zugesagt und wir unserseits uns eines redlichen Strebens, eines festen Willens und einer vollen, reinen Liebe zur Sache bewusst waren, so konnten wir doch unmöglich erwarten, dass jene bescheidene Hoffnung in kurzer Zeit zur Zuversicht werden und im Laufe von nur zwei Jahren so in Erfüllung gehen werde, dass wir heute den dritten Jahrgang der Rheinischen Musikzeitung mit derjenigen Befriedigung beginnen können, welche das Gelingen eines Unternehmens hervorruft, das auf der Theilnahme des grossen Publikums begründet ist. Je schwieriger ein solches Ergebniss bei geistigen Dingen überhaupt zu erreichen ist, um so weniger darf man sich verhehlen, dass Kunstblätter im besondern nicht leicht einen günstigen Boden finden, dass sie sich in der Regel nur langsam Bahn brechen und dass es ein seltener Fall ist, wenn sie auch in solche Kreise dringen, die nicht die zunftmässige Genossenschaft um sie schliesst, sondern die ein allgemein gebildeter Sinn für das Schöne, und dadurch für das Hohe und Edle im Menschen, überhaupt für die Poesie des Lebens ihnen öffnet. Desto mehr ist es uns eine angenehme Pflicht, unsern Dank denen auszusprechen, welche durch Rath und That, durch ausdauernde, von wahrer Liebe zur Kunst angeregte Mitwirkung die schwache Kraft unserer eigenen Thätigkeit unterstützt haben, und auf der andern Seite nicht minder allen denen, die eine so fördernde Theilnahme
1 Hiermit zitiert Bischoff den letzten Satz aus seinem damaligen Einleitungsartikel (Bischoff 1850 Was wir wollen, S. 5).
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an unserer jungen Zeitschrift sei’s durch wirksame Empfehlung und Verbreitung in weitern Kreisen bethätigt habenI. Dadurch ist dem Herrn Verleger in der Erwartung, die zu bringenden Opfer durch die stets wachsende Zahl der Freunde der Zeitschrift ersetzt zu sehen, der Entschluss möglich geworden, die neue Stempelsteuer2 selbst zu tragen und auch nicht einmal einen Theil derselben den geehrten Abonnenten aufzubürden, so dass die rheinische Musikzeitung wohl das einzige Zeitungsblatt in Preussen sein dürfte, das mit dem ersten Juli seinen Abonnementspreis nicht erhöht. Die Grundsätze, welche wir in dem Vorwort zu der ersten Nummer vom 6. Juli 1850 für Inhalt und Form dieser Zeitschrift aufstellten, glauben wir unwandelbar und gewissenhaft verfolgt zu haben:3 sie [834] haben unsere Mitarbeiter und uns selbst bei Allem, was wir geschrieben haben, geleitet – eine Reihe von mehr als 70 abhandelnden Aufsätzen und mehr als 60 ausführlichen Analysen und Beurtheilungen bedeutender musikalischer Werke, mehrere biographische Artikel und alle grössere[n] Correspondenzen aus Berlin, Paris und London liegen als thatsächliche Beweise in den beiden, mit der Nummer 104. vom 26. Juni d. J. abgeschlossenen, Jahrgängen vor, und der wohlwollende Leser wird darin wenigstens das Streben nicht verkennen, den Forderungen zu genügen, die wir in der Darlegung jener leitenden Grundsätze an uns selbst gestellt haben. Allein trotzdem, dass eine gewisse Einheit der Ansichten und selbst der Form der Darstellung dadurch erzielt worden ist, sind wir doch von einer solidarischen Verantwortlichkeit, von einer verpflichtenden Ordensregel für sämmtliche Mitarbeiter, von einem Schwur auf die Worte oder Töne irgend eines Meisters weit entfernt; das würde ganz und gar gegen den Geist unserer Zeitschrift streiten. Wir wollen für uns keinen Patron oder Kunstheiligen, so wenig wie wir irgend Einem unser Patronat aufdrängen wollen; wir sind zu stolz, um von Jemandes Winken abhängig zu werden, aber glücklicherweise nicht eitel genug, um uns der grossen Genossenschaft von Künstlern und Kunstfreunden gegen-
ganz besonderer Anerkennung müssen wir der Gunst gedenken, mit der die Stadt Köln, in welcher allein unser Blatt an hundert Abonnenten zählt, das Unternehmen gefördert hat. Verhältnissmässig am nächsten stehen ihr von den rheinischen Städten Bonn, Elberfeld und Düsseldorf. I Mit
2 Seit dem 1. September 1852 unterlagen Zeitungen und Anzeigenblätter in Preußen zusätzlich zum „Postzwang“, d. h. der Verpflichtung, diese – wie auch höhere Geldbeträge, größere Gepäckstücke sowie Briefe – ab einer Entfernung von fünf Meilen als Postsendung aufzugeben, zusätzlich noch einer sogenannten „Stempelsteuer“. 3 Im genannten Einleitungsartikel heißt es: „Es ist nicht die Absicht, ein neues kritisches Institut zu errichten, sondern ein Organ zu schaffen, welches die wahre Würdigung der musikalischen Kunst bei der Gesammtheit der Gebildeten fördern, und, der oberflächlichen Kunstliebhaberei entgegentretend, den Ernst der Kunstliebe in weitern Kreisen wecken und nähren will. Die Entwickelung der socialen Verhältnisse durch Vermittlung bisheriger Gegensätze, durch Hinwegräumung der Schranken zwischen jeglichem gelehrten Zunftwesen und dem Leben des Volkes, ist so dringend von der Gegenwart geboten, dass auch die Musik und ihre Wissenschaft nicht in der Abgeschlossenheit weniger Geweihten bleiben, sondern sich der Aufgabe unterziehen soll, auf eine mehr unmittelbar und allgemein anregende Weise auf die Bildung und Veredlung des Volkes zu wirken, und in ihren literarischen Organen sich nicht bloss mehr oder weniger ausschliesslich an die Männer vom Fach, sondern an das ganze gebildete Publikum zu wenden“ (Bischoff 1850 Was wir wollen, S. 2 f.).
Bischoff 1852 An unsere Leser
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über allein für diejenigen zu halten, die Manns genug wären, einen Herzog der Töne auf den Schild zu heben und – wohlgemerkt! ihn darauf zu erhalten.4 Aber Einen Mittelpunkt haben wir, auf welchen alle unsere Bestrebungen zusammenfliessen; wir wollen die wahre Lehre vom Schönen in der Tonkunst gegen die Irrlehren schützen und erhalten, welche durch eine unreife oder missverstandene Philosophie, eine ästhetisch geschminkte, und durch ihre Koketterie mit der Jugend gefährliche Kunsttheorie, die aller wirklichen musikalischen Kenntnisse nur allzuoft bloss und baar ist, in der Gegenwart von verschiedenen Seiten auftauchen und sich breit machen. Wir werden keineswegs das Schöne, wo es sich im Neuen zeigt, verkennen und glauben davon bereits hinreichende Beweise in den Besprechungen von Werken der Zeitgenossen in den beiden vorigen Jahrgängen gegeben zu haben. Allein den Theorien gegenüber, welche heutzutage Platz greifen wollen und unter dem Panier des sogenannten Fortschritts das eigentliche Wesen der Musik aufzulösen und ihre Natur zu verkehren drohen, nehmen wir allerdings den erhaltenden (conservativen) Standpunkt ein. Will man uns einen Cultus der Todten vorwerfen, so entgegnen wir, dass unser Cultus der Kunst, nicht ihren Trägern gilt, und dass uns die Erinnerung an Homer, Sophokles, Praxiteles5, Raphael, Shakespeare, Göthe, Beethoven wohl lehrt, die Bahn der Kunst mit der Sonnenbahn vom Aufgang zum Niedergang zu vergleichen, uns aber vor der Annahme warnt, als könnten bei dem Fortschritt des menschlichen Wissens auch die Phöbusrosse der Kunst mit der Zeit durch Dampf ersetzt werden.6 Uebrigens hätte selbst ein wirklicher Cultus der Todten durch die Pietät, die sich damit verknüpft, immer noch etwas würdiges, während die Abgötterei, die zuweilen mit den Lebenden getrieben wird, entweder kindisch oder widrig ist. Auch für uns hört die Geschichte der Musik keinesweges mit Beethoven auf; aber ihn nur als die Brücke zu einer Entwickelungs-Periode zu betrachten, in welcher die Tonkunst erst ihre vollendete Reife erlangen wird, das ist uns eben so unmöglich, als die bisherige Oper, Mozart mit eingeschlossen, für gänzlich unberechtigt zu erklären und die dramatische Musik erst von der Zukunft zu erwarten.7 Die Sucht, in der Kunst durch Verstand, durch Ergrübelung, durch Vorsatz und Willen schaffen zu wollen, ist eine Krankheit, welche, wenn sie überhand nimmt, die gesunde Natur der Musik nothwendig verderben muss. Die Sprache des Schönen lässt sich nicht lernen wie die Geschäftssprache, und die tiefste Philosophie ist nicht im Stande, auch nur ein Fünkchen künstlerischen Genies zu wecken oder zu ersetzen. Wenn wir lesen, dass „die Lebenskraft als schaffendes Princip in der Kunst nicht eine Gabe der Allmacht oder Willkür Gottes oder des Zufalls; sondern bei allen Menschen dieselbe sei und dass nur durch die Erziehung ihre Entwickelungsfähigkeit
4 Dies könnte eine Anspielung auf die NZfM sein, die sich zu diesem Zeitpunkt eindeutig für das kompositorische und schriftstellerische Werk Richard Wagners einsetzte. 5 Praxiteles (um 390 v. Chr. – um 320 v. Chr.), griechischer Bildhauer, der als einer der bedeutendsten Vertreter der Spätklassik gilt. 6 Phoibus, Beiname des Gottes Apollon, der in der griechisch-römischen Mythologie u. a. als Gott des Lichts sowie der Künste gilt, wurde häufig mit einem von mehreren Rossen gezogenen Wagen dargestellt. 7 Polemisch zugespitzte Anspielung, die Wagner in seinen Zürcher Kunstschriften vertrat.
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unterdrückt oder nach und nach zerstört werde“8, so gestehen wir offen, dass uns nichts mehr zuwider ist, als eine solche, aller gesunden Wissenschaft und Erfahrung Hohn sprechende Uebertragung communistischer Lehren auf die Kunst. Wie anders spricht Raphael über das Räthsel des künstlerischen Schaffens, wenn er sagt: „Ich halte mich an ein gewisses Bild im Geiste, welches in meine Seele kommt. Mein Werk ist wie in einem angenehmen Traum vollendet und ich habe während der Arbeit immer mehr an den Gegenstand gedacht, als daran, wie ich ihn vorstellen möchte“9. Begegnet man dann Behauptungen, wie folgende[r]: „Beethoven ist auf halbem Wege stehen geblieben, er hat reformirt, aber nicht revolutionirt – er ist Uebergangsperiode – hat uns eine Zwitter-[835]schaft geboren und ist Schuld daran, dass wir in der Musik eine freie Tochter erblicken, die aber die Zwangsjacke in der Hand trägt; er hätte müssen den ganzen Formen- und Regelkram über die Seite schieben, denn selbstständige Formen und feststehende Gesetze sind Unsinn in der Musik“10; – ferner bei einem andern Kunstphilosophen: „Der Fortschritt der Instrumentalmusik besteht darin, dass sie ihr Gebiet ausdehnt auf Gegenstände, dass sie ihrem Inhalt einen bestimmteren Ausdruck zu leihen sucht, d. h. die höchsten Ideen zu ihrem Inhalte zu machen und dem Ausdruck den Grad der Bestimmtheit zu geben, den sonst nur Poesie und bildende Kunst (!) ihrem Gegenstande leihen können“11 – wenn wir dann wieder die Musik der drei grossen Meister also charakterisirt finden: „Haydn war nie bis zur Sünde gekommen, Beethoven hatte sie von vornherein
8 Hier wird Wagners Mittheilung an meine Freunde (Wagner 1852 Drei Operndichtungen nebst einer Mittheilung an meine Freunde) paraphrasiert, in welcher es u. a. heißt: „In Zeiten, wo diese [produktive] Kraft, wie die Kraft des Individuums überhaupt, durch die staatliche Zucht oder die gänzliche Ausgelebtheit der anregenden äußeren Lebens- und Kunstform durchaus vernichtet worden ist, wie in China oder am Ende der römischen Weltherrschaft, sind auch die Erscheinungen, die wir Genie’s nennen, nie vorgekommen: ein deutlicher Beweis dafür, daß sie nicht durch die Willkür Gottes oder der Natur in das Leben geworfen werden. Dagegen kannte man diese Erscheinung ebensowenig in den Zeiten, wo jene beiden schaffenden Kräfte, die individualistische und die kommunistische, in fesselloser Natürlichkeit immer neu zeugend und gebärend sich gegenseitig durchdrangen: dieß sind die sogenannten vorgeschichtlichen Zeiten, in denen Sprache, Mythos und Kunst in Wahrheit geboren wurden; damals kannte man Das, was wir Genie nennen, ebenfalls nicht: Keiner war ein Genie, weil es Alle waren. Nur in Zeiten, wie den unserigen, kennt oder nennt man Genie’s, mit welchem Namen wir diejenige künstlerische Kraft bezeichnen zu müssen glauben, die der Zucht des Staates und des herrschenden Dogma’s, sowie der trägen Mitwirkung an der Aufrechthaltung zerfallender künstlerischer Formen sich entziehen, um neue Richtungen einzuschlagen und mit dem Inhalte ihres Wesens zu beleben“ (in: Wagner-Schriften 4, S. 248 f.). 9 In den Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (ED 1796) legte Wilhelm Heinrich Wackenroder Raffael diese Worte in den Mund, der seinem Schüler Antonio schrieb: „Die Welt sucht viel Besonderes in meinen Bildern; und wenn man mich auf dies und jenes Gute darin aufmerksam macht, so muß ich manchmal selber mein Werk mit Lächeln betrachten, daß es so wohl gelungen ist. Aber es ist wie in einem angenehmen Traum vollendet, und ich habe während der Arbeit immer mehr an den Gegenstand gedacht, als daran, wie ich ihn vorstellen möchte“ (Wackenroder-Werke 1, S. 68 f.). 10 Bischoff fasst hier verschiedene Aussagen eines kurz zuvor erschienenen Artikels G. F. Webers in der NZfM zusammen (siehe Weber 1851 Orthodoxie und Häresie in der Musik, S. 208). 11 Siehe Gumprecht 1852 Geist und Musik, S. 802.
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überwunden, Mozart sündigte und bereute“12 – soll da einem ehrlichen Musikanten nicht schier zu Muthe werden, als wäre er auf dem Blocksberg und müsste mit Göthe’s Capellmeister ausrufen: Frosch im Laub’ und Grill’ im Gras, Verfluchte Dilettanten!?13 Gegen solche Afterphilosophie der Kunst, welche die Musik aus dem Reiche des Unsichtbaren, Unbestimmbaren und Unnennbaren, mit Einem Worte aus dem Reiche des Gefühls, das sie mit der Religion und mit der Liebe theilt, zu dem Bestimmbaren, Greifbaren, Plastischen und Massiven herabzieht, welche das Genie für Gemeingut erklärt und nur die Erziehung verwünscht, die jeden derben Bauernjungen hindert, ein Künstler zu werden, dann wieder alle Regel und Form über Bord wirft, um ohne Kompas[s] auf wildem Meere zu schwimmen – gegen alle solche Ausgeburten einer kranken, fieberhaft erregten Zeit die wirklichen Kunstfreunde zu wahren, ihnen den Genuss an schönen musikalischen Werken nicht verkümmern zu lassen, ihren Geschmack für die Kunst, nicht für das Erkünstelte, zu nähren, das gesunde Urtheil in Sachen der Tonkunst, welches in Gefühl, Wahrheit, Einfachheit und Natur wurzelt, zu schützen und zu pflegen – das sei unsere Aufgabe, für welche wir mit freudiger Zuversicht gegen jede Zunftgenossenschaft in die Schranken treten und die Lanze brechen werden. Auch wissen wir, dass wir bei diesem Kampfe nicht allein stehen, dass eine grosse Zahl von tüchtigen Künstlern und Kennern offenkundig mit uns stimmt und eine noch grössere uns in stiller Befriedigung Beifall zuwinkt. Die Redaktion.
Kommentar Die hier abgedruckte Zwischenbilanz zur Rheinischen Musik-Zeitung aus der letzten Nummer des zweiten Jahrgangs stammt, wie nahezu alle nicht namentlich gekennzeichneten Artikel, von ihrem leitenden Redakteur Ludwig Bischoff.14 Die Haltung der Zeitung definiert Bischoff dabei quasi ex negativo und gibt auf diese Weise eine präzise Beschreibung der ‚Gegenpartei‘ und deren wesentlicher Überzeugungen, wie sie sich ihm Mitte des Jahres 1852 darstellten. Obwohl Bischoff im gesamten Text keinen einzigen Namen nennt, ist klar ersicht-
S. 803. 13 Nach Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, „Walpurgisnachtstraum“, dort heißt es: „Frosch im Laub’ und Grill’ im Gras’, / Das sind die Musikanten!“ (V. 4253 f.). 14 Vgl. Bischoff 1850 Rob. Schumann’s Genoveva, S. 50, Anm. 2.
12 Ebd.,
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lich, dass er sich damit vor allem gegen Ideen und Positionen wendet, wie sie zuvor wiederholt in den Schriften Wagners und der von Brendel geleiteten NZfM von verschiedenen Autoren vorgebracht worden waren. Die Tatsache, dass Bischoff dabei von der „Uebertragung communistischer Lehren auf die Kunst“15 spricht, veranschaulicht den Anteil der Politisierung des damaligen Geistesleben, der auch nach der gescheiterten Revolution 1848/49 fortbestand und die Lagerbildung der musikalischen Kontroverse nachhaltig prägte. Beginnt der Text zunächst noch relativ sachlich, so endet er mit einer regelrechten Kampfansage. Auf diese Weise ist der Artikel nicht nur ein Zeugnis für den sich allmählich verschärfenden Parteienstreit in den Musikzeitschriften, sondern auch dafür, wie sich Bischoff mit seiner Rheinischen Musik-Zeitung als führender Akteur der „[C]onservativen“16 etablierte und bestrebt war, dieser Richtung innerhalb seiner Zeitschrift ein der NZfM entgegengesetztes Sprachrohr zu installieren. Im Vergleich zum Vorwort in der ersten Nummer der Rheinischen Musik-Zeitung vom Juli 1850,17 das vor allem das gesellschaftspolitische Anliegen des Blattes herausstrich und einen eher neutralen Standpunkt einnahm, wird damit die Kursänderung der Rheinischen MusikZeitung manifest. Ein Jahr nach dieser Zwischenbilanz gründete Bischoff die ebenfalls in Köln erscheinende Niederrheinische Musik-Zeitung (Verlag DuMont-Schauberg), in welcher er ab Juli 1853 sein Wirken gegen die musikalische ‚Fortschrittspartei‘ fortführte, während sich die Rheinische Musik-Zeitung unter ihrem neuen Redakteur August Ferdinand Riccius zwar ihrer konservativen Ausrichtung treu blieb, jedoch nur noch gelegentlich mit bedeutenderen Beiträgen, meist Wiederabdrucken anderer Blätter, in Erscheinung trat.18 Dies belegt die überragende Bedeutung einzelner Akteure innerhalb der damaligen musikästhetischen Auseinandersetzungen, wie auch die auf die Niederrheinische Musik-Zeitung bezogene Feststellung im Mendel-Reißmann’schen Musiklexikon von 1877 feststellt, wonach das Journal „lediglich durch Bischoffs Thätigkeit zu Ruf und Einfluss gelangte und dieselben bis zu seinem Tode zu bewahren wusste“19. Bischoff kam ein Jahrzehnt später in der Niederrheinischen Musik-Zeitung noch einmal auf die hier abgedruckte Zwischenbilanz zurück, indem er 1863 in seinem „Rückblick“ dieselben Zitate anführte, aber nun resümierte: „Das belächelt man heute: und auch mit der ‚Allkunst‘ ist es vorbei.“20
1852 An unsere Leser, S. 834, in: NdS 1 Nr. 32, S. 332. 16 Vorliegender Artikel, S. 331 [834]. 17 Bischoff 1850 Was wir wollen. 18 Siehe etwa 14. 1855 Wagner’s Tannhäuser, in: NdS 2 Nr. 77; 11. 1853 Richard Wagner’s „Lohengrin“; Anonym 1853 Kunst und Kunststil, in: NdS 1 Nr. 47; Anonym 1855 Englische Urtheile über Richard Wagner; Anonym 1856b Ein ausländisches Urtheil; Anonym 1857a Entstehung der sogenannten Zukunftsmusik, in: NdS 2 Nr. 106. 19 Anonym 1877 Art. „Bischoff, Ludwig Friedrich Christian“, S. 19. 20 Bischoff 1863 Rückblick, S. 10. 15 Bischoff
Nr. 33 | V. B., „Das Musikfest in Ballenstädt, unter Leitung Dr. Franz Liszt’s, am 22. und 23. Juni“, in: Rheinische Musik-Zeitung 3 (1852/1853), Nr. 3 (17. Juli 1852), S. 851– 854.
Das Musikfest in Ballenstädt, unter Leitung Dr. Franz Liszt’s, am 22. und 23. JuniI
Die Wiederkehr von Musikfesten, wie wir deren in kurzen Zwischenräumen jetzt zwei aufeinander folgende, zu Ballenstädt und Braunschweig 2, gesehen haben, ist eine Errungenschaft, die wir nebst anderen der allgemeinen politischen Reaktion verdanken. Die vergangenen stürmischen Jahre brachten uns wohl mancher Orten wie früher die beliebten Sängerfeste; doch trat bei diesen die künstlerische Bedeutung meistentheils etwas in den Hintergrund, und die Musik begnügte sich hier öfters mit der untergeordneten Rolle, nur die Hauptwürze eines Festmahles oder einer Lustpartie abzugeben. Im Grunde liegt die Schuld daran wohl in dem ganzen Genre von Vocalmusik, das noch dazu in die engen Grenzen auf Massenwirkung berechneter Männerchöre eingeschränkt, auf solchen Sängerfesten vorgeführt zu werden pflegt. Bei Musikfesten dagegen, wo die Vereinigung von Instrumental- und Vocalkräften ein so weites Gebiet für die mannichfaltigsten künstlerischen Leistungen eröffnet, ist auch die Möglichkeit geboten, eine rein künstlerische Absicht zu verfolgen, in den Musikaufführungen selbst die eigentliche Festlichkeit zu verwirklichen, und durch Erreichung eines solchen Zweckes auch jenen erspriesslichen Einfluss auszuüben, der durch Musikfeste in diesem Sinne nicht blos auf die gesammte dabei betheiligte Künstlerschaft, sondern auf die ganze Kunstwelt in der That ausgeübt zu werden vermag. Ein Festtag ist eben ein Festtag und kein Werkeltag; ein Musikfest wird folglich auch nicht Musik à tout prix3, nicht die erste beste Musik bringen dürfen, nicht das überall Dagewesene, allgemein Bekannte und Anerkannte in sein Programm aufzu-[852]nehmen haben. Es sind daher nur zwei vernünftige Motive denkbar, welche die Veranstaltung eines Musikfestes rechtfertigen, wenn dasselbe sich eben nicht als ein Unternehmen rein geschäftlicher Natur qualificirt, das nebenbei
I Dem
speciellen Interesse für den Gegenstand wird eine binnen Kurzem bei Kuhnt in Eisleben erscheinende Broschüre von Fr. Kempe (Musikdirector in Bernburg) Rechnung tragen.1
1 Kempe 1852 Franz Liszt. 2 Vom 2. bis 4. Juli 1852 fand in Braunschweig ein Musikfest statt, auf dem u. a. Felix Mendelssohn Bartholdys Elias (UA 1846) und Ludwig van Beethovens 9. Symphonie d-Moll op. 125 (ED 1826) zur Aufführung gelangten (siehe hierzu etwa Sattler 1852 Das Musikfest zu Braunschweig). 3 (Frz.) um jeden Preis.
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vielleicht nur noch den im Uebrigen sehr verdienstlichen Zweck verfolgt, die Künstler der verschiedenartigsten Gegenden einander gesellig näher zu bringen und ihnen Gelegenheit zu verschaffen, in dem gemeinsamen Wirken für eine künstlerische Absicht mit Austilgung kleinlicher Lokaleifersucht sich als Mitglieder derselben Kirche ihres gemeinsamen Vaterlandes bewusst zu werden. Diese beiden Fälle sind: auf einem solchen Musikfeste entweder – Werke zur Aufführung zu bringen, welche zu ihrer entsprechenden Herstellung des Zusammenwirkens von Massen bedürfen, wie dieselben eben nur in ausserordentlichen Gelegenheiten aus einer Mehrzahl von künstlerischen Instituten herbeizuschaffen sind, oder – die festliche Veranlassung zur Propaganda von Tondichtungen zu benutzen, die aus was immer für Gründen eine ihrem Werthe und ihrer künstlerischen Bedeutung noch nicht entsprechende Verbreitung bei Künstlern und Publikum gefunden haben. In diese Kategorie werden ebensowohl seltene und aussergewöhnliche musikalische Kunstwerke der Vergangenheit fallen, als auch solche Tonschöpfungen der Gegenwart, welche einem wesentlichen Fortschritte auf neuen, noch umgewandelten, also im eigentlichen Sinne des Wortes noch nicht trivialen Bahnen der Kunst huldigen, und denen die Gunst, sich selbst zu präsentiren und ihre eigene Propaganda versuchen zu dürfen, durch den Widerstand des Herkömmlichen in dem Alltagskunstleben versagt war. In dem Gesagten liegt bereits unsere Ansicht ausgesprochen vor, dass wir das musikalische Programm eines solchen Musikfestes für das punctum saliens4, für die Hauptsache halten, gegen die alles Uebrige für uns nur den Werth von Accessorien hat, während die Grossartigkeit des „Wie“ solcher Aufführungen uns nie wird bestechen können, nachsichtiger gegen das „Was“ zu sein. Und von diesem Gesichtspunkte aus dürfen wir das neuliche Musikfest zu Ballenstädt als ein durchaus würdiges, echt künstlerisches Fest bezeichnen, die Resultate des Unternehmens als höchst erfreuliche und zu beglückwünschende begrüssen. Das Ballenstädter war unter den diesjährigen Musikfesten von diesem Gesichtspunkte aus nicht nur der Reihenfolge, sondern dem Range nach das erste, und was ihm etwa an äusserlichem Glanze und Schimmer gebrach – missliche Zufälligkeiten, eine etwas unpraktische Führung des Unternehmens in geschäftlicher Hinsicht, sowie auch die Kleinheit des Ortes, dessen Mittel zu Städten wie Braunschweig, Düsseldorf, Aachen u. s. w. natürlich in gar keinem Verhältnisse stehen[,] dies Alles war hindernd in den Weg getreten, – ersetzte es durch die volle, nachhaltige innere Befriedigung, welche auch der kritiksüchtige Berliner5 – Referent dieses nimmt sich selbst zum Beispiel – aus den erlebten künstlerischen Eindrücken empfing.
4 (Lat.)
springender Punkt. 5 Auf die Kritik an der organisatorischen Umsetzung des Festes reagierte etwa auch K. – l. in der Berliner Musik-Zeitung Echo: „Sind die Erfordernisse eines rechtschaffenden Musikfestes, so begreife wer will, wie man das Ballenstädter Musikfest, in dem alle diese Requisiten zu finden waren, als gescheitert betrachten kann. ‚Ja, aber der Stern’sche Gesangsverein und die Dessauer Kapelle, die Hauptstützen des Festes haben nicht mitgewirkt!‘ Entschuldigen Sie, Verehrtester, ich zweifle zwar nicht, daß der Stern’sche Verein in der unbegründeten Besorgniß ohne Obdach zu bleiben, und die Dessauer Kapelle, wie man sagt, aus kunst-sanitätspolizeilichen Rücksichten, um nicht vielleicht von bedenklichen Neuerungen infizirt zu werden –
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Doch – war dies denn überhaupt anders zu erwarten? Bot der illustre Name, der an der Spitze des künstlerischen Unternehmens stand, der Name Franz Liszt denn nicht allein schon die sicherste Garantie für das Gelingen, für einen, wenn auch quantitativ nicht so mächtigen als wünschenswerth gewesen, doch darum nicht minder imposanten Erfolg? Der Künstler, dessen vom reinsten und wahrsten künstlerischen Geiste beseelten Bestrebungen seit geraumer Zeit unablässig darauf gerichtet sind, allem Edeln und Grossen in der Kunst der Gegenwart nach Kräften Bahn zu brechen und die langsame Mitwelt ebenso liebenswürdig als eindringlich zu dessen Verständniss hinzuleiten, hat sich auf diesem Musikfeste natürlich auch nicht verleugnet. Das ganze Programm trug den unverkennbaren Stempel seines Geistes, es enthielt sein künstlerisches Glaubensbekenntniss und wir zweifeln nicht, dass gar mancher Convertit sich gefunden, der nachträglich dieses Glaubensbekenntniss zu dem seinigen gemacht hat. Neben dem Grössten der Vergangenheit, neben Gluck und Beethoven, war in entsprechender Weise Wagner und Berlioz aus der Neuzeit vertreten, der grösste dramatische Tondichter neben dem bedeutendsten Instrumentalisten der Gegenwart, beide noch wartend des verdienten Ruhmes. Sehr anerkennenswerth war auch der Epigone Mendelssohn berücksichtigt und ein an Aufschwung begriffenes sehr Bedeutendes versprechendes Talent: Joachim Raff. Der erste Tag brachte zur Aufführung: Ouvertüre zum „Tannhäuser“6 von Richard Wagner, Duett aus desselben Componisten „fliegendem Holländer“7, gesungen von Herrn und Frau von Milde8 aus Weimar; Oberon-Fantasie für die Harfe von Parish-Alvars9 – Fräulein Rosalie Spohr 10 aus Braunschweig; die Macht der Musik, Sopransolo mit Orchesterbegleitung,11 komponirt von Liszt – Frau von Milde; Beethoven’s Pianofortefantasie mit Chor und Orchester 12 (Op. 80) [–]
da sie also nicht gekommen sind, konnten sie auch nicht stützen, und zum Glück fand sich unter den wirklich Erschienenen noch manche Stütze vor, und die Hauptstütz: Einmüthigkeit, Frische und Ausdauer hatte man nicht nöthig, erst von Berlin oder Dessau zu holen.“ (K. – l. 1852 Das Ballenstädter Musikfest, S. 225). Über den musikalischen Erfolg des Musikfestes waren sich jedoch die Mehrzahl der Rezensenten einig (vgl. etwa auch: Anonym 1852 Das Ballenstedter Musikfest, Anonym 1852 Musikfest in Ballenstedt, G. N. 1852 Musikfest in Ballenstedt am Harze). 6 Wagner, Ouvertüre zu Tannhäuser (UA 1845). 7 Wagner, Der Fliegende Holländer (UA 1843), 2. Akt, „Wie aus der Ferne längst vergangner Zeiten“. 8 Feodor von Milde (1821–1899), Sänger, wirkte gemeinsam mit seiner Frau Rosa von Milde (1825 –1906), geb. Agthe, ab 1848 am Weimarer Hoftheater. Er sang als Bariton u. a. 1850 in der UA des Lohengrin die Rolle des Telramund sowie 1858 die Titelpartie in Cornelius’ Barbier von Bagdad (UA 1858) und blieb noch bis 1884 der Bühne treu. Seine Frau war als führende Sopranistin der Hofoper z. B. in den Rollen der Elisabeth, Elsa und Senta in den Ur- bzw. Erstaufführungen Wagner’scher Opern zu erleben, bevor sie sich ab 1867 verstärkt dem Unterrichten zuwandte. 9 Elias Parish Alvars (1808 –1849), englischer Harfenist und Komponist, Fantasie über Webers Oberon op. 59 (ED 1842). 10 Rosalie Spohr (1829 –1918), deutsche Harfenistin und Nichte des Komponisten Louis Spohr. 11 Liszt, Die Macht der Musik S 368b. Es handelt sich um die Orchesterfassung des ursprünglichen Klavierliedes S 302. 12 Beethoven, Chorfantasie c-Moll op. 80 (ED 1811).
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Hr. von Bülow (Schüler Liszt’s); Scene aus Or-[853]pheus von Gluck (mit Chor) – Frl. Schreck13 aus Erfurt; zum Beschluss Beethoven’s neunte Sinfonie mit Chören14. Am zweiten Tage sollten laut Programm zur Aufführung kommen: Ouverture militaire zur Oper „König Alfred“ von Joachim Raff 15; das Liebesmahl der Apostel, Cantate für Männerchor und Orchester von R. Wagner 16; Haroldsinfonie von Hektor Berlioz17 und Mendelssohn’s Walpurgisnacht18. Das Programm erfuhr insofern eine kleine Abänderung, als wegen Mangels an der gehörigen Probezeit leider nur die zwei mittleren Sätze der interessanten Berlioz’schen Sinfonie vorgeführt werden konnten; dagegen erhielt das schon am ersten Tage ziemlich stürmisch kundgegebene Verlangen nach Wiederholung der Tannhäuser-Ouvertüre, diesmal auf ’s Neue und durch den Ausfall der zwei Instrumentalsätze mit einer Art Berechtigung auftretend, am Schlusse Gewährung. Das grossartige in sich selbst so einige und abgeschlossene Tonwerk beschloss würdig die Feier wie es dieselbe begonnen hatte. Die Wirkung war eine so hinreissende, dass sich eben nur der, der sie erlebt, eine Vorstellung davon bilden kann. Der grösste Theil des Orchesters, der vorher noch nie eine Note von Wagner gespielt, wurde von der Begeisterung der Uebrigen gewaltsam erfasst und legte im Vortrag eine Präcision und ein Feuer zu Tage, die an ein Wunder glauben machen müssten, wenn nicht die begeisternde Persönlichkeit des Dirigenten, der nur bisweilen mit einer leichten Handbewegung die hin- und herfluthenden Wogen des Orchestermeeres als musikalischer Neptun dominirend lenkte, eine übernatürliche Erklärung der wahrhaft erhebenden Erscheinung unnö thig machte. Die unerwarteten Absagebriefe des Stern’schen Gesangvereines, sowie der Dessauer Kapelle (wir wollen dem Verhalten der letzteren ein schonungsvolles Stillschweigen zu Theil werden lassen)19, auf welche beide man sicher gezählt hatte, waren ein nicht unerhebliches Missgeschick, das jedoch, wenn es auch durch die hieraus leicht sich entspinnenden Zweifel an dem Zustandekommen der ganzen Unternehmung, der Frequenz des Festes von Fremden entschiedenen Nachtheil zugefügt, nicht im Stande sein konnte, dieses selbst zu vereiteln, oder die künstlerischen Erfolge nur zu beeinträchtigen. Die Gesammtzahl der Mitwirkenden belief sich noch immer auf circa 300 Personen, von denen ein Dritttheil dem Orchester zufällt. Dieses letztere bestand aus den vereinigten Kapellen von Weimar, Sondershausen, Ballenstädt und einzelnen, auf eigne Hand sich allmälig dazu gesellenden Künstlern und Kunstfreunden aus der Umgegend. Zu den Chören hatte ausser der Ballenstädter Concordia Bernburg, Cöthen, Dessau, Naumburg, Nordhausen u. a. Städte ihre Contingente gestellt. Die Haupt-
13 Franziska
Schreck (gest. 1897), Altistin, war vor allem als Oratoriensängerin bekannt und wirkte u. a. im Hoftheater in Rudolstadt, Dresden, später in Bonn, bevor sie nach Rudolstadt zurückkehrte, wo sie bis zu ihrem Tod als Gesangspädagogin wirkte. 14 Beethoven, Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125 (ED 1826). 15 Joachim Raff, Ouverture militaire zur Oper König Alfred (UA 1851). 16 Wagner, Das Liebesmahl der Apostel WWV 69 (UA 1843). 17 Berlioz, Harold en Italie op. 16 (EA 1834). 18 Mendelssohn Bartholdy, Die erste Walpurgisnacht op. 60 (ED 1844). 19 Der Stern’sche Gesangverein fürchtete aufgrund der schlechten Organisation keine Unterkunft zu finden, und die Dessauer Kapelle stieß sich an der tendenziösen Programmgestaltung der Konzerte (vgl. Weibel 2006 Die deutschen Musikfeste, S. 519 f.).
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stütze bildete der mit seinem tüchtigen Direktor, Organist Langen20 [sic], aus Leipzig herübergekommene Pauliner-Verein, sechszig [sic] Personen mit frischen, kräftigen Stimmen, sodann ist auch Herr Musik-Direktor Robert Franz21 zu erwähnen, der 30 Damen und Herren aus Halle um sich geschaart hatte. Der Pauliner Gesangverein zeichnete sich namentlich bei dem Wagnerschen „Liebesmahl der Apostel“ aus, ein Gesangwerk, das allerdings Massen erheischt, jedoch bei nur zugänglicher Besetzung schon die grossartigste Wirkung hervorbringt. Es ist ein Jammer, dass dieses Werk, das bereits seit 10 Jahren im Druck bei Breitkopf und Härtel (Partitur, Klavierauszug und Stimmen) erschienen, noch nirgends bei derartigen festlichen Gelegenheiten zur Aufführung gebracht wurde. Organist Langer dirigirte die Chöre im Liebesmahl wie auch sonst, und erwarb sich allgemein die ehrenvollste Anerkennung als geübter und umsichtiger Dirigent. Nächst ihm ist auch der rühmlichen Thätigkeit des Herrn Musikdirektor Kempe aus Bernburg für das Fest überhaupt hier mit einem Worte zu gedenken. – Das Ensemble in den Soli’s war ein überaus vortreffliches zu nennen; bewährte Künstler und Künstlerinnen wie Herr und Frau von Milde und Frl. Schreck ersetzten uns vollkommen die gefeierten Namen pretentiöserer Sänger. Die Tenorpartie in den Soli’s hatte Herr Musikdirektor Wolff aus Halberstadt übernommen; seine Leistung war eine musikalisch ganz untadelhafte. Noch ein kurzes Wort über die Einzel-Leistungen des ersten Tages. Das Duett des zweiten Aktes aus Wagner’s fliegendem Holländer liess nach dem Eindruck, welchen es im Concert übte, auf eine noch viel überwältigendere Wirkung für die Scene schliessen. Der Vortrag durch Hr. und Frau v. Milde liess nichts zu wünschen übrig. Beider Stimmen gaben in dem akustisch ziemlich günstigen Lokal (der herzoglichen Reitbahn, einem Gebäude von sehr beträchtlicher Längenausdehnung, dagegen einer nur geringen Höhe) viel Klangfülle aus. Auch der sonore Alt von Frl. Schreck (früher am Hoftheater zu Dresden engagirt) so wie ihre empfundene Auffassung der ewig frischen Gluck’schen Musik ge-[854]langten zu der wünschenswerthen Geltung. – Liszt’s geistvolle und sinnige Composition des Gedichtes der Herzogin von Orleans „die Macht der Musik“ von Frau v. Milde recht poetisch vorgetragen, war am besten geeignet, den alten, unbedachten Vorwurf, der Componist entbehre zu sehr melodischer Erfindungsgabe, als völlig unbegründet zurückzuweisen. Schreiber dieses bedauert unendlich, dass man bei der festlichen Gelegenheit nicht Anlass genommen, eines von Liszt’s grösseren Orchesterwerken, etwa seine Ouvertüre zu Tasso22 oder Prometheus23 dem grössern Publikum vorzuführen, und kann versichern, dass dieses Bedauern von sehr vielen Seiten lebhaft getheilt wurde. Dr. Liszt sollte in einer solchen Selbstverleugnung, wie er sie seit mehreren Jahren praktizirt, doch einiges Maass halten. Einen ganz besondern Dank hat sich der künstlerische Leiter des Festes durch die auf seine Anregung erfolgte Mitwirkung der trefflichen Harfenspielerin Frl. Rosalie
20 Hermann
Langer (1819 –1889), Organist, amtierte von 1843 bis 1887 als Universitätsmusikdirektor in Leipzig und leitete in dieser Funktion auch den universitären Gesangvereins „Paulus“. 21 Robert Franz (1815 –1892), deutscher Komponist und Dirigent, leitete von 1842 bis zu seiner Beurlaubung aufgrund eines Gehörleidens die Singakademie in Halle an der Saale. 22 Liszt, Symphonische Dichtung Nr. 2 Tasso S 96 (ED 1856). 23 Liszt, Symphonische Dichtung Nr. 5 Prometheus S 99 (ED 1856).
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Spohr verdient. Die geniale Künstlerin, die ihr schönes, so selten gepflegtes Instrument mit wunderbarer Meisterschaft behandelt, war zwar durch die ermüdende Reise von einer Unpässlichkeit befallen worden, welche sie verhinderte, die Harfenbegleitung zu der Scene aus Orpheus zu übernehmen – die daher durch das Klavier ersetzt werden musste – entzückte jedoch darum nicht minder die Versammlung durch eine dem Virtuosenthum, das sie an diesem Tage repräsentirte, zur höchsten Ehre gereichende Leistung. – Herrn von Bülow’s Vortrag der Pianofortefantasie von Beethoven war dem Geiste der Composition angemessen und des Schülers eines solchen Meisters würdig. Ueber Beethovens gigantische neunte Sinfonie (zu welcher die überaus treffende und diskret geistreiche Erläuterung Richard Wagner’s24 in das Textbuch aufgenommen war) und Mendelssohn’s jugendlich frische Walpurgisnacht hierorts Worte zu machen, wäre mehr als anachronistisch: die Ausführung beider Werke war eine höchst brillante. Fast allen Anwesenden (die Zuhörerschaft mag im Ganzen gegen 1200 Personen betragen haben, wodurch jedoch nur die Hälfte des vorhandenen Raumes ausgefüllt wurde) unbekannt mag wohl Joachim Raff’s Ouvertüre zu König Alfred, einer durch den überallhin wohlwollend thätigen Protektor Liszt in Weimar mit vielem Glücke aufgeführten Oper,25 gewesen sein. Es ist ein modernes Instrumentalstück ersten Ranges, voll glücklicher frappanter Ideen, geistreicher Verarbeitung derselben, vortrefflichem Schnitt und einer überaus sicher geführten, gewandten, wirkungsvollen Orchestration. – Das zartduftige Kolorit des Pilgermarsches und des Ständchens aus Berlioz’s Haroldsinfonie26 wird Vieler Vorurtheile überrascht haben, die sich den französischen Meister bisher nur als eine Art tollen Lärmmacher vorzustellen gewohnt waren. Möchten deutsche Kapellmeister es sich doch zur Ehrensache machen, dergleichen Vorurtheile nach Kräften mit zerstören zu helfen. Das Ballenstädter Musikfest hat das Seine gethan in dieser Richtung hin. Wir sind Zeuge gewesen von manchen rücklings geworfenen Antipathien, von manchen aufgegebenen Vorurtheilen, von mancher entschiedenen Bekehrung für die neue Richtung, die eben so sehr in Gluck und Beethoven als in Wagner und Berlioz durch Liszt vertreten war! – Man verlasse uns die Schilderung eines nicht sonderlich arrangirten Festmahles und aller übrigen Misslichkeiten, wie andrerseits der liebenswürdigen Gastlichkeit der Ballenstädter Einwohner. Dies gehört nicht in unser Gebiet. Nur soviel: der musikalische Theil des Festes war ein höchst würdiger; die künstlerische Weihe hat ihm nicht gemangelt; Mitwirkende wie Zuhörer waren gleich erquickt und erbaut von dem Akte künstlerischen Kultus, der ein Triumph war für Richard Wagner, für Franz Liszt, für die hohe herrliche Kunst überhaupt! V. B.
1846 Neunte Symphonie. 25 Liszt hatte das Werk am 9. März 1851 in Weimar uraufgeführt. 26 Gemeint sind hiermit der 2. Satz „Marche des pélerins“ und der 3. Satz „Sérénade“ aus Berlioz’ Harold en Italie op. 16 (EA 1834). 24 Wagner
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Kommentar Im Jahr 1852 hatte sich Liszt bereit erklärt, die musikalische Leitung des Anhalt-Bernburgschen Musikfestes zu übernehmen, das der Gastwirt Eduard Nehse im kleinen Ort Ballenstedt am nördlichen Rand des Ostharz veranstalten wollte. Nach einer Reihe von organisatorischen Schwierigkeiten im Vorfeld gelang es Liszt, wie im abgedruckten Artikel beschrieben, ein zweitägiges Musikfest mit über 80 Musikern und 200 Sängern zu realisieren.27 Das Konzertprogramm unterschied sich insofern von denjenigen anderer traditioneller deutscher Musikfeste, als alle Werke mit Ausnahme der Szene aus Christoph Willibald Glucks Orpheus aus dem 19. Jahrhundert stammten. Darunter befanden sich insbesondere auch Kompositionen von Liszt selbst sowie von Berlioz und Wagner, wobei letzterer mit vier Werken besonders stark vertreten war. Sämtliche zeitgenössischen Berichte über das Ballenstedter Musikfest in den Musikzeitschriften belegen, dass das „erste Zukunfts-Musikfest“, wie Liszt es angeblich bezeichnet haben soll,28 übereinstimmend als eine Proklamation der neuesten Musik gedeutet wurde und – nicht zuletzt aufgrund der intensiven überregionalen Berichterstattung – zusammen mit dem Karlsruher Musikfest einen wichtigen Meilenstein auf dem Weg zu den Musikfesten darstellt, wie sie ab 1861 regelmäßig im Rahmen der Tonkünstlerversammlungen des ADMV stattfanden. Bemerkenswerterweise wurde Kritik lediglich im Hinblick auf die Rahmenbedingungen geäußert. Neben dem euphorischen Bericht von Brendel in der NZfM29, der mit dem Ballenstedter Musikfest seine langjährige Forderung nach einer Reformation der Musikfeste umgesetzt sah, lobten etwa auch die Signale30, die Süddeutsche Musik-Zeitung31, die Neue Berli34 das ner Musikzeitung32, die Berliner Musik-Zeitung Echo33 sowie Dwight’s Journal progressive Programm und damit verbunden insbesondere die Leistung Liszts. Wie der abgedruckte Artikel zeigt, betrachtete sogar die ansonsten eher konservativ ausgerichtete Rheinische Musik-Zeitung das Ballenstedter Musikfest als einen Erfolg. Damit bewahrheitete sich nicht die Befürchtung eines Autors der Signale, „dass Viele in dem ganzen Unternehmen das einer Partei erkennen und verdammen werden“35. Dabei fassten nahezu alle Rezensenten, einschließlich demjenigen der Rheinischen Musik-Zeitung, die Veranstaltung durchaus als eine „Rechtfertigung neuerer musikalischer Richtungen“36 auf, doch dies führte nicht zu einer solchen Polemik, wie sie ein Jahr später das zweite von Liszt geleitete Musikfest in Karlsruhe auslöste.37 Ob hierfür die im Vorfeld des Karlsruher Festes gesteigerte propagandistische Publizistik seitens der ‚Zukunftsmusiker‘ verantwortlich gemacht werden muss, die in ihrer Polemik zu einer Vertiefung der musikästhetischen Gräben führte, kann lediglich vermutet werden.
hierzu insgesamt Weibel 2006 Die deutschen Musikfeste, S. 517 – 525. 28 Vgl. Trübe 1924 Das Hoftheater in Ballenstedt. 29 Brendel 1852 Das Musikfest zu Ballenstedt. 30 Anonym 1852 Das Ballenstedter Musikfest. 31 G. N. 1852 Musikfest in Ballenstedt am Harze. 32 Anonym 1852 Musikfest in Ballenstedt. 33 K. – l. 1852 Das Ballenstädter Musikfest. 34 A. Z. 1852 The Musical Festival at Ballenstedt. 35 Anonym 1852 Das Ballenstedter Musikfest, S. 267. 36 Ebd. 37 Siehe H. 1853 Das karlsruher Musikfest, in: NdS 1 Nr. 50 sowie Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51. 27 Vgl.
Nr. 34 | Anonym, „Das Musikfest zu Ballenstedt“, in: Die Grenzboten 11 (1852), 3. Quartal, [Nr. 29], S. 96 – 99.
Das Musikfest zu Ballenstedt.
Das Musikfest, über welches wir in unserm Feuilleton einige Notizen geben, hat zum ersten Mal die musikalische Schule von Weimar einem allgemeineren Publicum vorgeführt. Da diese Richtung sich bereits so fixiert hat, daß sie von der Kritik nicht füglich umgangen werden kann, so benutzen wir diese Gelegenheit, an die äußerliche Darstellung eines Princips, dessen Intentionen wir schon mehrfach berührt haben, einige Bemerkungen zu knüpfen. Unter allen Künstlern der neuesten Zeit – die Künstlerinnen natürlich ausgeschlossen – hat keiner einen so rauschenden und allgemeinen Enthusiasmus hervorgerufen, als Franz Liszt. Wenn diese Begeisterung sich auch zuweilen in etwas geschmacklosen Formen Luft machte, so war sie doch in ihrem Wesen eine gerechte, denn sie bezog sich nicht nur auf die wunderbare Virtuosität in der Technik, eine Virtuosität, die alle Nebenbuhler in weiter Ferne hinter sich zurückließ, sondern auf das warme Gefühl für echte Kunst, welches sich in diesen kühnen Leistungen aussprach, und der wir die Verbreitung manches sonst in Vergessenheit gerathenen Kunstwerks verdanken, so wie auf die geniale, fast dämonische Persönlichkeit des Künstlers. Als Franz Liszt die Oper in Weimar übernahm, durfte man den gerechtesten Hoffnungen Raum geben. Wenn auch seine Compositionen aus einer Richtung hervorgingen, die niemals die allgemeine werden konnte, so war man doch von seiner allgemeinen künstlerischen Empfänglichkeit so überzeugt, daß man keinen Zweifel hegte, diese Einseitigkeit seines Schaffens werde sich in der Universalität seines Wissens ausgleichen. Liszt beging gleich beim Antritt seiner neuen Wirksamkeit einen Fehler, der aus seiner bisherigen Weltstellung nur zu erklärlich ist. Er faßte die Verhältnisse zu sehr im Großen auf, und glaubte, eine bedeutende Persönlichkeit würde hinreichen, aus einer Bühne, deren Verhältnisse doch nothwendigerweise sehr enge sein mußten, ein deutsches Nationalinstitut zu machen. Die Reminiscenzen aus der Weimarer Kunstperiode wirkten mit, und so kam die Idee der Goethestiftung auf.1 Ganz Deutschland sollte dazu beitragen, an einem durch seine Natur auf enge Grenzen angewiesenen Ort ein Kunstinstitut hervorzurufen, das, wie die olympischen Spiele in Griechenland, zum Centralpunkt aller künstlerischen Bestrebungen bestimmt
1 Liszt
1851 De la Fondation-Goethe.
Anonym 1852 Musikfest in Ballenstedt
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war. Die Idee fand in vielen Journalen warme Vertreter.2 Wir gehörten nicht dazu. Einmal hielten wir die Wiederholung einer allen natürlichen Voraussetzungen widersprechenden Erscheinung, deren Vorbild nur durch ganz besondere zufällige Umstände hervorgerufen war, für unmöglich. Wir hielten sie aber ferner, die Möglichkeit zugegeben, für schädlich, ja für das Schädlichste, was der deutschen Kunst widerfahren konnte. In der Poesie kranken wir noch immer daran: so schön die kurze Blüthenzeit [sic] unserer Literatur war, so hat sie [97] uns doch in falsche Bahnen gelenkt, sie hat die nationalen Kräfte dem nationalen Leben entzogen, und eine unsichtbare Kirche des Schönen hervorgerufen, die zuletzt aus Mangel an allem natürlichen Fundament einstürzen mußte. Der Erfolg würde bei allen übrigen Künsten ein ähnlicher sein. Wir zweifeln gar nicht, daß auch in der Musik durch die Concentration aller Kräfte in einem bedeutenden Mittelpunkt, wo die Künstler zugleich das Publicum und den Gerichtshof bildeten, manches Geistreiche hätte hervorgerufen werden können, das unter anderen Umständen nicht zu Tage gekommen wäre; aber es wäre dadurch der schon übergroßen Neigung unserer Künstler, nur für sich selber zu schaffen, ein übermäßiger Spielraum gegeben. Das Sprichwort: die Kunst geht nach Brod3, ist gar nicht blos in ironischem Sinn zu verstehen; es ist vielmehr die reale Bestimmung der Kunst, den wirklichen Bedürfnissen des Volks entgegen zu kommen, ihnen zu dienen und sie dadurch zu idealisiren. Eine Kunst, die ein ideales, in der Luft schwebendes Publicum voraussetzt, kann es höchstens zu einer Treibhausblüthe bringen, sie bleibt unfruchtbar für die Entwickelung des allgemeinen Geistes. Der Künstler bedarf, wie der Ringer der alten Sage, eines festen Bodens, von dem seine Kräfte unaufhörlich neue Stärkung empfangen.4 Die gleiche Ansicht hat unerwarteter Weise später Richard Wagner in einem offnen Briefe an Liszt ausgesprochen.5 Er hat das ins Unermeßliche gehende Streben seines Freundes auf einen individuellen Zweck beschränkt. Er hat es ganz richtig nachgewiesen, daß von einer angemessenen Belohnung der Kunst erst in zweiter Reihe die Rede sein könne, daß für den Künstler die Hauptsache sei, überhaupt nur die Möglichkeit zu haben, ein klares und deutliches Bild seiner Intentionen dem öffentlichen Urtheil vorzuführen. Die bildende Kunst sei darin besser gestellt als die Musik, denn sie könne sich ihr Material leicht verschaffen, der Musiker dagegen, und namentlich derjenige, der in der dramatischen Kunst die höchste Stufe zu erreichen strebte, sei von der Gunst der bestehenden Kunstinstitute abhängig, und bei den ganz zufälligen Einflüssen, die sich in denselben geltend machen, sei es gar nicht unmöglich, daß er gar nicht in die Lage käme, auf ein Urtheil des Publicums recurriren zu können.
Rezensionen waren u. a. Anonym 1851 Franz Liszt über die Göthe-Stiftung; E. 1851 De la Fondation-Goethe; Uhlig 1851 De la Fondation-Goethe. Daneben stieß Liszts Plan einer GoetheStiftung aber durchaus auch auf Ablehnung (siehe Gutzkow 1851 Die Goethestiftung sowie Kugler 1851 De la fondation-Goethe); zur Rezeption insgesamt vgl. Liszt-Schriften 3, S. 257 – 271. 3 Vgl. Gotthold Ephraim Lessing, Emilia Galotti (UA 1772), 1. Aufzug, 2. Szene. 4 Anspielung auf Antaios, nach der griechischen Mythologie ein nahezu unbezwingbarer Riese und Sohn der Gaia (Erde). Bei einem Kampf mit Herakles erkannte dieser, dass Antaios seine Kraft aus der Erde erhielt, hob ihn daher in die Luft und konnte ihn so bezwingen. 5 Wagner 1852 Ein Brief an Franz Liszt. 2 Positive
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Nr. 34 (1852)
Das ist vollkommen richtig. Die kleinen Theater reichen mit ihren Mitteln gewöhnlich nicht aus, und bei den großen ist der Einfluß virtuoser Sänger maßgebend, die nicht gern in einer Rolle auftreten, welche nicht ihrem individuellen Talent Gelegenheit zur glänzendsten Entfaltung giebt. Es ist z. B. eine höchst auffallende Erscheinung, daß Schumann’s Genoveva nur in Leipzig und auch da nur kurze Zeit zur Aufführung gekommen ist.6 Wir glauben nicht, daß die Principien, welche den Componisten in dieser Oper geleitet haben, die richtigen sind, aber man hätte doch erwarten sollen, daß bei einem in der gesammten künstlerischen Welt so gefeierten Manne, wie es Robert Schumann jetzt ist, alle Welt darauf hätte begierig sein müssen, sich wenigstens eine Vorstellung von sei-[98]nem neuen Unternehmen zu machen. – Daß ein Institut von liberalem Zuschnitt, unabhängig von den Launen der Sänger wie des Publicums, sich der Aufgabe unterzog, die auf anderen Bühnen zurückgewiesenen Werke bedeutender Künstler zur Aufführung zu bringen, war also im höchsten Grade wünschenswerth. Niemand konnte geeigneter für ein solches Unternehmen sein, als Franz Liszt. Die Hauptschwierigkeit seiner Aufgabe bestand darin, den passiven Widerstand gegen jede neue und ungewöhnliche Erscheinung zu überwinden. Liszt’s Persönlichkeit hat einen fascinirenden Einfluß auf Alle, die mit ihm in Berührung kommen. Es ist ihm in kurzer Zeit gelungen, den Hof, das Publicum von Weimar und sein eignes Künstlerpersonal für seine Ideen zu electrisiren; ein großer und für die Kunst sehr dankenswerther Erfolg. Daß in der Ausführung seiner Absichten eine gewisse Einseitigkeit stattfand, war nicht schwer zu erklären und nicht schwer zu entschuldigen, denn wo es vor allen Dingen darauf ankam, den neuen Leistungen, die um die Anerkennung kämpften, einen Spielraum zu eröffnen, war es kein großer Schade, wenn dieses Neue fast ausschließlich den Platz behauptete.7 Eine gewisse Einseitigkeit kann überhaupt von einem musikalischen Institut, in dem das Walten einer bedeutenden Persönlichkeit sich fühlbar macht, nicht getrennt werden. Hat doch selbst das alte, festgegründete Institut der Leipziger Gewandhausconcerte sich durch die mächtige und liebenswürdige Persönlichkeit Mendelssohn’s noch lange nach seinem Tode bestimmen lassen. Es kommt überhaupt gar nicht darauf an, daß in jedem der einzelnen Kunstinstitute die Universalität der Kunst zur Erscheinung gelangt. Wenn nur in ihm ein frisches individuelles Leben waltet, so wird es seinen Theil zum Gedeihen der nationalen Kunst redlich beitragen. So weit geht unsre Anerkennung der Bestrebungen Franz Liszt’s. Die Bedenken, die wir dagegen aufstellen müssen, sind folgende: Erstens. Wir sagten oben, daß die Einseitigkeit der Richtung an sich Nichts schade, aber die Einseitigkeit, die in Weimar herrscht, ist eine gefährliche. Die Aufgabe der Musik ist doch überall, Stimmungen und Gefühle so klar und deutlich
6 Schumanns Oper Genoveva gelangte am 25. Juni 1850 am Leipziger Stadttheater zur Uraufführung und wurde nur noch zwei weitere Male in Leipzig gespielt. Danach folgten nur vereinzelte Aufführungen, wie z. B. am 9. und 21. April 1855 unter Liszts Leitung in Weimar. 7 Nachdem sich Liszt 1848 in Weimar niedergelassen hatte, gelang es ihm als „Hofkapellmeister im außerordentlichen Dienst“ innerhalb kürzester Zeit, gleich mehrere große Opernprojekte zu realisieren, darunter vor allem 1849 die Weimarer Erstaufführung des Tannhäuser, 1850 die Uraufführung des Lohengrin und 1852 die deutsche Erstaufführung von Berlioz’ Benvenuto Cellini.
Anonym 1852 Musikfest in Ballenstedt
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auszusprechen, wie das Wort sie nicht auszusprechen vermag, und diesen Stimmungen und Gefühlen trotz aller Disharmonie, die in ihnen zu walten scheint, einen schönen und harmonischen Ausdruck zu geben. Wie künstlich die Mittel sein mögen, die sie anwendet, kommt hierbei nicht in Betracht; das Resultat muß immer dasselbe sein. Ein einfaches Volkslied oder eine im höchsten Styl geschriebene Symphonie, beide müssen die Welt der Empfindung zu einer deutlichen und schönen Erscheinung bringen. Nun hat sich aber der deutschen Musik die Neigung bemächtigt, der Deutlichkeit des Ausdrucks durch Verwischung der Formen und der Deutlichkeit der Empfindung durch Raffinement des Empfindens entgegen zu arbeiten. Auch das ist eine Richtung, die ihre theilweise Berechtigung hat, denn auch für feine, mit [99] besonderer Empfänglichkeit begabte Geister giebt es eine eigene Poesie. Wer wollte wünschen, daß aus dem Schatz unserer nationalen Musik irgend eines von den Kleinoden fehlte, die Beethoven in der letzten Zeit seines Lebens unverkennbar in der oben charakterisirten Richtung geschaffen hat? Allein eine allgemeinere Verbreitung dieser Richtung wäre offenbar der Untergang aller Kunst, denn alle Künstler, die eine feinere Bildung haben oder sie zu besitzen glauben, werden unwillkürlich in diese Bahn mit fortgerissen, und eben dadurch wird als Gegensatz eine populaire Musik hervorgerufen, die aller Bildung entbehrt. Wenn die gebildeten Musiker sich in das einsame Labyrinth ihrer Capricen8 verlieren, so findet die Menge ihre Flotow’s9. Eben so machte die ehemalige Weimarer Kunstperiode Kotzebue und Iffland10 nothwendig, eben so verschulden es kritische Schriften, die in ihrer Form ans Mystische streifen, wie Liszt’s Werke über Lohengrin und Tannhäuser 11, die Popularität wohlbekannter Briefe12. – Und jene Richtung nach dem Anonymen und Capriciösen hat sich selbst in den kleinsten ihrer ganzen Bestimmung nach populairen Formen eingebürgert. Man denke an die Lieder von Robert Franz und an die neuesten Werke Schumann’s. Zweitens. Noch immer scheint bei Liszt die universale Tendenz über die individuelle hinauszugehen. Die Aufgaben, die man einer Bühne stellt, müssen doch in irgend welchem Verhältniß zu den Kräften dieser Bühne stehen, sonst führt man ein schnelles, aber schwindsüchtiges Leben herbei. Die Kräfte der Bühne von Weimar sind gut, aber sie sind doch immer nur die Kräfte einer Bühne zweiten Ranges und
8 „Caprice“
ist hier wahrscheinlich doppeldeutig im Sinne von (frz.) „Laune“ sowie in Anlehnung an die musikalische Gattungsbezeichnung „Capriccio“ für ein Stück virtuosen Charakters gemeint. 9 Friedrich von Flotow (1812 –1883), deutscher Opernkomponist, der vor allem durch seine Oper Martha (UA 1847) in breiten Bevölkerungskreisen Popularität genoss. 10 August von Kotzebue (1761–1819) und August Wilhelm Iffland (1759 –1814) beherrschten als Unterhaltungsdramatiker die Bühnen ihrer Zeit und werden hier wohl deshalb vom Autor als Beispiel für eine populäre Kunst im Gegensatz zur klassischen Literatur genannt. 11 Liszt 1849 Le Tannhaeuser und Liszt 1851 Richard Wagner’s Lohengrin. Beide Artikel erschienen zusammen auch als Broschüre, zunächst in französischer Sprache (Liszt 1851 Lohengrin et Tannhaüser) und ein Jahr später in deutscher Übersetzung (Liszt 1852 Richard Wagner’s Lohengrin und Tannhäuser). 12 Hiermit sind wahrscheinlich Johann Christian Lobes Musikalische Briefe. Wahrheit über Tonkunst und Tonkünstler. Von einem Wohlbekannten (ED 1852) gemeint. Aufgrund dieses Titels wurde Lobe in der NZfM häufig nur als „der Wohlbekannte“ bezeichnet (siehe beispielsweise Uhlig 1852 Ueber die musikalischen Briefe eines Wohlbekannten; Pohl 1853 Einige Bemerkungen; Schaeffer 1853 Noch einmal der Wohlbekannte).
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können der Natur der Dinge nach nie etwas mehr werden, denn sie sind nothwendigerweise abhängig von den Mitteln des Publicums. Was ist es nun für eine Idee, mit solchen Kräften sich an ein Werk zu machen wie Benvenuto Cellini13! – Wir berühren diesen Punkt hier nur obenhin, weil er uns ferner liegt. Drittens. Die Einseitigkeit der Richtung wird dadurch auf eine gehässige Weise verstärkt, daß sie sich zu einer vollständig organisirten Coterie14 abgerundet hat, gerade wie es die französischen Parteien sind. Dieses Parteiwesen ist der Sache, die Liszt vertritt, nicht nützlich. Wenn eine Clique, die in einer Sprache redet, wie man sie sonst nur von betrunkenen Eckenstehern gewohnt ist, sich geschäftig zeigt, für Liszt’s Ideen Propaganda zu machen, so wird die öffentliche Meinung nur zu geneigt sein, ihn mit zur Verantwortlichkeit zu ziehen. Liszt wird von dem französischen Parteiwesen her noch sehr gut wissen, daß man für Unverschämtheiten eines Parteiblattes, wenn sie sich wiederholen, nicht den namenlosen Schriftsteller, der den Namen hergiebt, sondern den Führer der Partei verantwortlich macht. Wenn solche Dinge öfters vorkommen, wie der bekannte Aufsatz über Henriette Sontag15, so würde sich Liszt die schöne Stellung, die er in Deutschland hat, allmählich verscherzen, und seine Wirksamkeit, die eine so segensreiche werden könnte, nach allen Seiten hin gelähmt werden.
Benvenuto Cellini (UA 1838). Die Oper war nach ihrer Uraufführung in Paris weitgehend in Vergessenheit geraten und wurde 1852 durch Liszts Aufführung am Weimarer Hoftheater wiederentdeckt. Dort erklang die Oper erstmals am 20. März 1852, gefolgt von weiteren Aufführungen am 24. März, 17. April und 15. Mai 1852 sowie innerhalb der Berlioz-Woche am 17. und 21. November 1852 (Quelle: Digitales Archiv des Thüringischen Hauptstaatsarchivs Weimar, 03.03.2019). 14 Klüngel des zeitgenössischen Cliquenwesen und der Parteiungen (zum weiteren Verständnis des Begriffs siehe Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67). 15 Gemeint ist hier Hans von Bülows Polemik „Henriette Sontag. (Ein Minoritätsgutachten)“, die mit „B w.“ gezeichnet, am 13. Februar 1852 in der NZfM erschienen war (Bülow 1852 Henriette Sontag) und breiten Widerspruch ausgelöst hatte (z. B. Bischoff 1852 Henriette Sontag, S. 715 f.). Hans von Bülow, zu dieser Zeit als Klavierschüler Liszts in Weimar, opponierte darin „gegen diese Luxuskunst, dieser Feindin aller wahren, aus der ‚Noth‘, wie Richard Wagner so treffen[d] sagt, entsprossenen Kunst, gegen dieses autoteleologische Virtuosenthum, gegen diesen Anachronismus bloßer Vocalisationsleistungen mit obligater Soubrettenkoketterie“ (Bülow 1852 Henriette Sontag, S. 72). Henriette Sontag (1806 –1854), die bereits mit 17 Jahren die Titelrolle in der Uraufführung von Carl Maria von Webers Euryanthe (UA 1823) verkörperte, feierte in den 1820er Jahren europaweit große Erfolge als Sängerin, zog sich dann fast vollständig von der Bühne zurück und erschien zwanzig Jahre später erneut erfolgreich in der Konzertöffentlichkeit. 13 Berlioz,
Anonym 1852 Musikfest in Ballenstedt
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Kommentar Anders als der Titel des Artikels vermuten lässt, berichtet der anonyme Autor darin keineswegs über das am 22. und 23. Juni 1852 in dem kleinen Harzort Ballenstedt unter der Leitung Liszts stattgefundene Musikfest16, sondern vielmehr über dessen Kapellmeistertätigkeit in Weimar. Damit zeigt der Text exemplarisch, wie stark dieses Musikfest von den Zeitgenossen als ein Forum der neuen Richtung in der Musik gesehen wurde. Der Autor würdigt durchaus Liszts Engagement, warnt aber vor einer gefährlichen Einseitigkeit der „musikalischen Schule von Weimar“17. In diesem Zusammenhang nennt er zentrale Punkte, die an den Kompositionen der ‚fortschrittlichen‘ Künstler im weiteren Verlauf der ästhetischen Diskussionen in den Musikzeitschriften immer wieder bemängelt wurden, wie etwa Formlosigkeit oder die Vernachlässigung des ‚Schönen‘ in ihrer Musik. Als Beispiele für diese „Richtung nach dem Anonymen und Capriciösen“18, die nicht zuletzt das Erscheinen einer populären „Gegenkunst“ provoziere, werden namentlich Robert Franz und Robert Schumann angeführt. Indem der Autor dieser Richtung auch die späten Werke Beethovens zurechnet, gesteht er den progressiven Komponisten quasi die künstlerische Nachfolge Beethovens zu – eine Nachfolge, die diese auch für sich selbst beanspruchten, aber die ihnen von gegnerischer Seite immer wieder streitig gemacht wurde. Des Weiteren wirft der Autor Liszt vor, die Weimarer Verhältnisse zu überschätzen und legt ihm nahe, sich vor „Parteiwesen“ bzw. „Coterie“ zu schützen, welche er insbesondere im publizistischen Wirken der NZfM sieht. Auch wenn in diesem letzten Punkt die Gegnerschaft zur Brendel’schen Zeitschrift durchscheint, weist der Artikel bemerkenswerterweise keineswegs die Schärfe auf, von welcher die Äußerungen der Grenzboten insbesondere auch im weiteren Verlauf der Kontroverse oft gekennzeichnet waren.19 Obwohl der anonyme Autor Liszts Kompositionen als tendenziell einseitig beurteilt, betont er nachdrücklich seinen universalen Geist und daher umso mehr die Gefahr vor einer parteipolitischen Vereinnahmung von Liszts edler Persönlichkeit durch den Weimarer Kreis.
Kommentar zu V. B. 1852 Das Musikfest in Ballenstädt, in: NdS 1 Nr. 33. 17 Vorliegender Artikel, S. 342 [96]. 18 Vgl. ebd., S. 345 [99]. 19 Siehe etwa Riccius 1851 Musikalischer Dilettantismus, in: NdS 1 Nr. 26; Anonym 1854 Neueste musikalische Literatur, in: NdS 1 Nr. 58. 16 Vgl.
Nr. 35 | Theodor Hagen, „Einige Worte über die Neunte Symphonie von Beethoven und Richard Wagner’s Lohengrin“, in: Süddeutsche Musik-Zeitung 1 (1852), Nr. 19 (9. August), S. 73 – 75.
Einige Worte über die Neunte Symphonie von Beethoven und Richard Wagner’s Lohengrin. Von Theodor Hagen1.
In einem Concerte der New-Philharmonic Society brachte Berlioz die 9. Symphonie von Beethoven zu Gehör.2 Das Werk machte auf mich denselben Eindruck, den es bereits mehrere Male gemacht hat. Ich finde immer wieder, dass Beethoven sich durch das Wort genirt fühlte und dass er ohne Worte eine viel bessere Ode an die Freude geschrieben haben würde, als mit denselben. Man sieht, sowie er Worte zu componiren hat, ist er schneller zu Ende, als er will, es fliesst nicht mehr und der Wiederholungen sind kein Ende. Ueberdies musste er entweder das Wort weglassen und nun versuchen, eine vierte Seite der Freude in einem vierten Theile zu schildern, oder er musste die Einleitung, die aus drei langen Sätzen besteht, entbehren können. Der Inhalt der Ode steht mit diesen Sätzen in keiner Verbindung. Was Alles in diesem Allegro, Scherzo und Adagio liegen soll, kann kein Mensch wissen, was darin liegen kann, können wir höchstens vermuthen. Soviel ist gewiss, die drei ersten Sätze sollen descriptive Musik sein und zwar ohne Worte, der letzte Satz mit denselben. Hier ist Mangel an sym[m]etrischer Schönheit. Man hat diesen letzten Satz als die nothwendige Folge der Ungenügsamkeit der blossen Musik hingestellt. Beethoven konnte nicht anders, er musste zum Worte greifen, hat man gesagt.3 In Bezug auf die Symphonie selbst ist dies falsch, er ist in der Schilderung der Freude in den ersten drei Sätzen viel glücklicher, als im letzten. Ich erkläre das Erscheinen
1 Theodor Hagen (1823 –1871) studierte Musik in seiner Geburtsstadt Hamburg sowie von 1841 bis 1843 in Paris. Von 1842 bis 1852 war er Mitarbeiter der NZfM, in welcher er während der Redaktion Robert Schumanns unter dem Pseudonym „Joachim Fels“ publizierte. Aufgrund seiner revolutionären Gesinnung musste Hagen Deutschland verlassen und emigrierte, nach Aufenthalten in Paris und London, 1854 nach New York. Dort wurde er Redakteur bei der New York Musical Review and Gazette bzw. 1862 ihr Herausgeber und Inhaber. 2 Während seines dritten Aufenthalts in London vom 4. März bis 20. Juni 1852 dirigierte Hector Berlioz insgesamt sechs Konzerte der New Philharmonic Society in der Exeter Hall. Ludwig van Beethovens 9. Symphonie erklang dabei im Konzert am 12. Mai sowie nochmals am 9. Juni 1852 (vgl. Ganz 1950 Berlioz in London). 3 Vgl. etwa Wagners Programm, welches er der von ihm geleiteten Aufführung der 9. Symphonie in Dresden beigab (Wagner 1846 Neunte Symphonie) sowie die Ausführungen Wagners in Oper und Drama (Wagner 1852 Oper und Drama, 3. Teil, III, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 302 f.).
Hagen 1852 Einige Worte über die Neunte Symphonie
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des Wortes an dieser Stelle viel einfacher: Beethoven hatte die Ode an die Freude gelesen und wollte sie in Musik setzen, erst in symphonischer Form, später zur Verdeutlichung in Verbindung mit den Worten. Um aber durch diese so wenig wie möglich gehindert zu sein, liess er sie erst am Schlusse der Composition eintreten, gleichsam als Resumé der letzteren, und lieferte somit den Beweis, dass die Musik immer dem Worte unterliegen muss, sowie dieses letztere einen wirklichen Gedanken umschliesst, ein Satz, den ich bereits vor mehreren Jahren in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ ausgesprochen habe, ohne ihm damals diejenigen Consequenzen zu geben, welche jetzt nothwendig gemacht werden.4 Noch einmal, der vierte Satz der neunten Symphonie ist das in Musik gesetzte Resumé des ganzen Werkes; Beethoven ruft, um es ganz deutlich zu machen, den Leuten zu: „Seht, das habe ich gewollt!“ Er greift zum Gedanken, und hat natürlich dann keine verhältnissmässige genügende Musik mehr. Wo das Reich des Gedankens anfängt, da muss die Musik aufhören. Denn der Prozess, dessen Resultat der Gedanke ist, ist ein musikalischer. Das Gefühl ist musikalisch. Des Kindes Lallen, das Summen der Kinder ist musikalisch, die erste Aeusserung des Schmerzes und der Freude sind immer eine Art Musik. Sowie diese Aeusserungen concret werden, ist der Gedanke da und mit ihm die Sprache. Der Gesang wird aufhören. Wird er aber fortfahren, so wird er nicht eine Folge des Inhalts des selbst durchgemachten Prozesses, sondern es wird ein bekannter, gelernter Gesang sein. Es wird also das Denken noch nicht eingetreten sein. Sobald dies geschehen, ist dem musikalischen Theile der menschlichen Natur Genüge gethan. Dass der Gedanke einer grossen Verschiedenartigkeit unterworfen ist, brauche ich wohl nicht erst zu erwähnen. Ist er schwach, so ist er noch musikalisch, so hat er sich noch nicht vollständig aus seiner Phase der Entwickelung entpuppt und diese Phase ist die der musikalischen Bearbeitung. Ist der Gedanke stark und sucht er noch obendrein wenig oder gar nicht die Gefühlsstimmungen im Menschen rege zu machen, so erscheint die hinzugethane Musik nur störend, unpassend, unverständlich und kann auf keinen Fall den Namen eines Kunstwerkes beanspruchen. Man wird mir hier alle Opern einwerfen. Ich muss offen gestehen, ich begreife das Drama, aber nicht die Oper. Ist der Text zu dieser an und für sich ein Drama, ein ganzer Bau, in dem Alles ganz hübsch geordnet ist, sich folgerichtig entwickelt, fortwährend getragen von dem poetischen Gedanken, so frage ich: Was soll die Musik? Ist der Text kein Drama, so wird ihn die Musik doch nicht dazu machen. Ist der Text ein dramatisches Gerippe, so kann die Musik unmöglich das Fleisch, d. h. den Gedanken dazu liefern, damit es ein Kunstwerk werde. Wenn man also von Opern spricht, die Dramen sein sollen, oder von Dramen, die Opern sein sollen, so ist dies etwas, was ich nicht verstehe. Aber die Musik soll nur dann hinzutreten, wenn das Gefühl dominirt, sie soll dem Gedanken helfend, erläuternd zur Seite
hatte 1847 in der NZfM eine entsprechende Äußerung angekündigt: „Ueber letztere [Beethovens 9. Symphonie], namentlich über den letzten Satz, werde ich Ihnen wohl später, wenn Sie es mir erlauben, meine ‚modernen‘ Ansichten mittheilen“ (Hagen 1847 Hamburger Briefe, S. 75). Der Artikel ist jedoch offenbar nicht erschienen, sondern Hagen trat, mit Ausnahme eines größeren Artikels (Hagen 1845 Die Civilisation in Beziehung zur Kunst), in der NZfM ausschließlich mit Korrespondenzen insbesondere aus Paris und Hamburg in Erscheinung. 4 Hagen
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stehen und sie soll zurücktreten, sobald der letztere sich selbst zu genügen vermag. Abgesehen davon, dass die Musik nie erläutern kann, abgesehen davon, dass dieses Zusammenmischen verschiedener Mittel zu einem Zwecke eine Einheit des Kunstwerkes, welches unbedingt auch Einheit der Mittel verlangt, zumal dort, wo sie so leicht zu erlangen ist, unmöglich macht, frage ich: Ist denn die Sprache des Dichters nicht reich genug, das Gefühl in allen seinen Phasen und Nüancen zu schildern? Man nehme die grossen Dichter der Nationen, lese ihre lyrischen Erzeugnisse und man wird eine reichere, mannichfaltigere Sammlung von Gefühlsschilderungen finden, als die Werke all’ unserer Componisten zusammengenommen aufweisen können. Wozu also denn die Musik? Ich kann mit dem besten Willen, selbst alle Gesichtspunkte berücksichtigend, einen vernünftigen Grund für die Musik im Drama nicht auffinden. Von dem Augenblick an, wo letzterer im Worte existirt, halte ich die Musik für überflüssig und störend, existirt er nicht, so hört der Begriff Drama auf und wir haben blos mehr oder minder nichtssagende Worte mit begleitender Musik. Und das sind unsere Opern – der Gedanke, der, noch ehe er geboren, in ein dramatisches Kleid gezwängt werden soll. Ich sage dies, nachdem ich den Lohengrin im Clavierauszuge5 durchgesehen habe. Das ist kein Drama; denn wer nicht von vorn herein weiss, dass die Natur des Weibes durchbrechen wird, dem kann überhaupt kein Urtheil zuerkannt werden. Das ist ein Stoff für die Novelle und noch dazu in sehr modernem Sinne. Was die Wag-[74]ner’sche Bearbeitung anbetrifft, so wird man unmöglich dieselbe als Etwas hinstellen wollen, das auch nur im Entferntesten ein besonderes Interesse einflössen könnte; denn von einem poetischen Werthe mit Ausnahme dessen, der in dem Stoff selbst und in den Situationen, die dieser mit sich bringt, liegt, kann nicht die Rede sein. Das Ganze tritt von vorn herein im Allgemeinen wie im Einzelnen als Text zu einer Oper auf, denn sonst würden sich Anlage und Ausführung der Verse in den meisten dramatischen Momenten nicht erklären lassen. Ein Dichter, der ein solches Gedicht veröffentlichen und nicht zugleich dabei bemerken würde, dass es nur Verse zu einer ebenfalls von ihm componirten Musik seien, wird höchstens in Dilettantenkreisen Beachtung finden. Also das Gedicht macht von vorn herein in Anlage und Ausführung auf keine Selbstständigkeit Anspruch, und nur zu deutlich verrathen die Ungelenkigkeit und Holprigkeit einzelner Strophen, dass sie wenn auch nicht nach einer schon vorhandenen Musik, doch mit Berücksichtigung dieser in eine Form gezwängt wurden. Dem Verfasser schwebte, während er schrieb, ganz gewiss sehr oft die musikalische Phrase vor und demzufolge konnten auch keine andern Verse entstehen, als solche, welche ich musikalische nenne. Der Text zu Lohengrin hat also an und für sich keinen hervorragenden Werth. Dass er kein Drama schon zufolge seines Stoffes sein kann, braucht wohl nicht weiter auseinander gesetzt zu werden. Dass nun ein Text, der kein Drama ist, durch die hinzugetretene Musik noch viel weniger dazu gemacht werden kann, als in jedem andern Falle, wo der dramatische Stoff vorhanden, aber an der Ausführung gescheitert ist, auch dies erfordert keine weitere Erwähnung. Aber man wird diese Trennung von Text und Musik nicht gelten lassen, man wird
5 Wagner, Lohengrin (UA 1850). Der von Theodor Uhlig angefertigte Klavierauszug erschien Ende 1851, die dreibändige Partitur 1852 zunächst lediglich in sehr geringer Auflage.
Hagen 1852 Einige Worte über die Neunte Symphonie
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mir sagen, nur beide vereint seien das Drama, das Kunstwerk. Dies könnte nur dann der Fall sein, wenn die letzte Instanz des Prozesses geistiger Thätigkeit im Menschen, der Gedanke, nicht alle vorangegangenen Instanzen absorbiren müsste, ehe sie sich geltend machen kann, wenn dieses Vorangegangene etwas Selbstständiges, für sich Bestehendes, Fertiges wäre. Aber so wenig man vom Kinde im Mutterleibe sagen kann, es ist ein ganzes Leben, ebenso wenig wird man einem Menschen, der über die Gefühlsanschauungen nicht hinausgeht, also noch nicht oder unvollkommen zur letzten Instanz seiner geistigen Thätigkeit, zum Gedanken, vorgerückt ist, die Attribute des Lebens, das Selbsterkennen, das Selbstwollen zuschreiben können. Nur der Gedanke gibt das Leben, er ist das Leben; denn nur weil ich mich denke, bin ich,6 wesshalb ich auch mit Recht sagen kann, dass Alles, was ist, nur durch mich ist. Wenn aber der Gedanke Leben ist, so haben wir auch nur durch ihn die Fähigkeit, das, was ihm vorangeht, das Gefühl, zu idealisiren, ihm eine Form zu geben, so sind wir auch nur durch den Gedanken Künstler. Die Stufe nun, welche dem Gedanken vorangeht, mit der des letzteren zu verbinden, unausgesetzt und noch dazu auf einem Felde, wo menschliche Conflikte mit tragischem Ausgange oder ohne denselben zu schildern sind, wo also die ganze Macht des Gedankens herausgefordert wird, eine solche Verbindung ist widersinnig und unmöglich, weil von dem Augenblick an, wo der Gedanke da ist, das Gefühl bereits in ihm aufgegangen sein muss. Wort und Ton lassen sich nur da verbinden, wo das Gefühl sich noch in der musikalischen Phase der Entwickelung befindet, wo es sich noch nicht zum Gedanken zusammengezogen hat, wo es die primitiven Laute der Freude, des Schmerzes, der Leidenschaft wiedergibt. Tritt die Verbindung in andern Fällen auf, so gehört sie zu denen, die nicht erst geschieden zu werden brauchen, die sich von selbst scheiden. Hält man mir die Compositionen bekannter Meister von Texten berühmter Dichter entgegen, so antworte ich, dass in allen Fällen, wo die obengenannten Abgränzungen überschritten sind, der künstlerisch gebildete Mensch das Gedicht in seiner ursprünglichen Gestalt vorziehen wird. Spricht man mir aber von den Opern und will diese als Einwand gegen meine Ansicht aufstellen, so antworte ich, dass diese Opern nichts weiter als musikalische Ergüsse sind, die in den meisten Fällen des Textes entbehren und unter keinen Umständen Dramen genannt werden können. Dort aber, wo der Text eine Rolle spielt, wo der Componist sogenannte charakteristische oder dramatische Musik geliefert hat, dort wird man weder ein Drama noch eine eigentliche Musik haben; denn je concreter (wenn ich dieses Wort gebrauchen darf) diese wird, je mehr sie sich zum Worte zu verdichten sucht, desto schwächer wird sie, desto mehr verliert sie ihren Charakter. Und dies muss so sein, weil sie dem Gedanken, dem nicht musikalischen Endpunkte des geistigen Entwickelungs-Prozesses näher gerückt ist. Und daher kommt es, dass der grösste aller Musiker, die reichste musikalische Natur, Beethoven, nur mit Widerstreben zum Worte gegriffen und dort, wo er es gethan, einen im Verhältnis zu seinem Genius schwachen, ja oft peinlichen Eindruck hinterlassen hat.
6 Vgl. die berühmte Aussage „Cogito ergo sum“ des französischen Philosophen René Descartes (1596 –1650) aus dessen Meditationes de prima philosophia (ED 1641), mit dem dieser die generelle Erkenntnisfähigkeit des Menschen begründet.
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Will man aber aus der Thatsache, dass seit Gluck die Musik zum Worte drängt, die mögliche Verbindung beider für die höchste Kunstform, das Drama, herleiten, so antworte ich: Die Gesellschaft hat Eile, aus dem Zustande der Gedankenlosigkeit herauszukommen, sie will sich von den Einflüssen einer Gefühlsschwärmerei, die zuerst in der Kirche, später auf der Bühne als Oper in’s Leben trat, und mit deren Ausartung bis zur widerlichsten Verzerrung und Entnervung mindestens die Oper immer tüchtig Schritt gehalten hat, emanzipiren; sie hat diese Emanzipation auf dem politischen Felde versucht und ist zurückgeschlagen worden, natürlich, dass sie die erste Pause benutzte, um den Kampf auf einem andern Felde wieder aufzunehmen, und wiederum natürlich, dass sie ihre besten Kinder voranschickte, die Emanzipation zu vollführen. Und da es eben Kinder der Zeit sind, so können die Streiter keine anderen sein, als solche, die noch selbst im Kampfe begriffen sind, die sich noch nicht aus den Banden des Gefühlslebens und einer Anschauung, welche jene hervorrufen müssen, vollständig befreit haben, die zwar erkennen, dass es nur eine Kunst gibt, die Dichtkunst, dass das natürlichste Mittel der Darstellung dieser letzteren der Gedanke ist, und dass der Gedanke nur durch das Wort zum sichern Verständniss gelangen kann, dass also der Inhalt des Lebens, sobald er sich dramatisch gestalten will, mithin das Drama nur durch das Leben selbst, den Gedanken zu Anschauung gebracht werden kann, die Alles dies erkennen und dennoch die Vollständigkeit des Kunstwerkes nur in einem Hand in Hand gehen, in einem Verschmelzen der verschiedenen „Künste“ erreichen zu können glauben. Zu diesen Kindern der Zeit gehört Richard Wagner. Er ist das bedeutendste jener Doppeltalente, die in RousseauI ihren Anfang genommen, sich immer wieder erneuert haben und in denen am besten der Inhalt des Kampfes unserer Zeit zur Erscheinung kommt. Könnte er über seine Zeit hinaus, so würde er ein wirkliches Drama hinstellen und keine „Operndichtungen, Operndramen, Opern“ oder wie seine Productionen sonst noch heissen mögen. Stände er über seiner Zeit, so hätte die Musik gar keinen Theil mehr an ihm. Ich will damit nicht sagen, dass es in der Zukunft keine Musik mehr geben wird, aber an dem Kunstwerke der Zukunft wird die Musik einen sehr geringen Theil haben, denn von dem Augenblicke an, wo der Gedanke zur alleinigen Herrschaft erhoben sein wird, ist die musikalische Phase der Menschheit beendigt. Was ist aber die Bedeutung Richard Wagner’s? Es ist die Bedeutung, die er mit allen hervorragenden Geistern unserer Zeit gemein hat, nämlich die, dem Bildner der Zukunft die Materialien zu seinen Werken zu liefern. Allerdings nicht Jeder kann gleich gutes, gleich nützliches Material hinterlassen und Wagner ist gewiss schon desshalb einer der Ersten, weil seine Fähigkeiten ihm gestatten, am unmittelbarsten
I Es
soll hier damit nur die Betheiligung Rousseau’s an der musikalischen Literatur7 ausgedeutet
sein. 7 Der
französische Schriftsteller, Dichter, Philosoph und Komponist Jean-Jaques Rousseau (1712 –1778) betreute und verfasste neben einzelnen, ausschließlich musiktheoretischen Fragen behandelnden Schriften, wie etwa Dissertation sur la musique moderne (ED 1743) und das zu einem Drittel von ihm selbst verfasste, einflussreiche Dictionnaire de Musique (ED 1768) die meisten der der Musik gewidmeten Artikel in der der 1746 von Diderot initiierten Encyclopédie.
Hagen 1852 Einige Worte über die Neunte Symphonie
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zum Publikum zu sprechen. Es ist gar keine Frage, dass Productionen, wie Lohengrin, sehr geeignet sind, edlere Stimmungen im Auditorium hervorzurufen, als die gewöhnlichen Schaustellungen, die diesem geboten werden. Solche Stimmungen erwecken Bedürfnisse nach geistiger Anregung und derartige Bedürfnisse, fortwährend genährt, sind vielleicht am besten im Stande, eine wirkliche Gedankenkost möglich zu machen. Wenn demnach alle Diejenigen in Deutschland, welche dafür Interesse haben, sich verbänden, solche Schöpfungen in das deutsche Theater-Repertoire einzureihen, was im Grunde nicht so schwer ist, so wäre damit ein grosser Schritt gewonnen. Aber auch nur der erste Schritt; denn man vergesse es nicht: Sagen, Idyllen, Spuckgeschichten [sic], in eine Art dramatische Form gegossen, können nur dann einen wohlthuenden Eindruck machen, wenn sie durchweg eine so reine Gesinnung athmen, wie z. B. Lohengrin, eine Gesinnung, die am Ende auch die Unwahrscheinlichkeiten und dramatischen Fehler, welche darin sind, übersehen lässt, aber ohne ein solches Attribut werden diese [75] Sagen und Idyllen geradezu schädlich und sehr geeignet, die herrschende Gedankenlosigkeit in eine gänzliche Unfreiheit aufzulösen. Dass Wagner solche Stoffe gewählt hat, wundert mich nicht, er weiss recht gut, dass eine Bethätigung seiner schöpferisch musikalischen Kraft auf keinem andern Gebiete so angebracht und eben desshalb so wirksam ist; aber im Interesse der Sache möchte er sowohl wie Alle, die sich berufen fühlen, gleichen Weg zu wandeln, aufzufordern sein, nicht allzusehr in dieser Sagenwelt zu verweilen. Wollt Ihr das Volk aufrütteln, so führt ihm Stoff aus dem wirklichen Leben vor, lasst es im Spiegel seine eigene Gestalt, sein eigenes Wesen sehen, verfahrt dabei mit künstlerischem Maass und Verständniss, bringt soviel Musik hinein, als ihr wollt, weil ohne diese das Volk Euch doch nicht anhören würde, und wenn es denn auch kein Drama ist, was Ihr bietet, was Eure sonstigen Productionen ja auch nicht sind, so können es doch solche Werke sein, welche im Stande sind, die Thatkraft in ihm zu wecken und es zu einem künstlerischen Leben vorzubereiten. Ich will hiermit keine Kritik der Wagner’schen Werke geliefert haben, wollte ich sie erschöpfend schreiben, so müssten mir Bögen statt Blätter zu Gebote stehen. Ich glaubte nur jetzt, wo man aus der Oper ein Drama machen will, auf die Unmöglichkeit einer solchen Prozedur hinweisen zu müssen. Natürlich habe ich dabei nur andeutend verfahren können, denn sowie der Beweis dessen, dass die Verbindung von Wort und Ton für das Drama nicht blos eine Möglichkeit, sondern auch eine Nothwendigkeit ist, bereits das Schreiben mehrerer Bände erfordert hat8, ebenso muss eine vollständige Entwickelung des Gegentheils mindestens einen grösseren Raum einnehmen, als diese Blätter gewähren können. – London im Juni 1852.
8 Eine
Anspielung auf die umfangreichen kunsttheoretischen Schriften Wagners, insbesondere Wagner 1850 Das Kunstwerk der Zukunft sowie Wagner 1852 Oper und Drama.
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Kommentar Der gebürtige Hamburger Theodor Hagen, der seit 1842 als dortiger Korrespondent in der NZfM publizierte, hielt sich vor seiner aufgrund der revolutionären Ereignisse 1848 erzwungenen Emigration in die USA einige Zeit in London auf. Dort erlebte er 1852 eine von Berlioz dirigierte Aufführung der 9. Symphonie Beethovens und nahm dies zum Anlass, im hier abgedruckten Artikel für die Süddeutsche Musik-Zeitung grundsätzlich Stellung zur Verbindung von Wort und Ton zu beziehen. Damit leistete Hagen einen Beitrag in der zu diesem Zeitpunkt intensiv geführten Debatte um Wagners Konzept des Musikdramas9, wobei er eine Position jenseits der überzeugten Befürworter bzw. Gegner einnahm, indem er Wagners Kompositionen ausdrücklich würdigte, dessen insbesondere auf Beethovens 9. Symphonie basierendes teleologisches Konzept vom Musikdrama, wie er es u. a. in Oper und Drama formuliert hatte,10 jedoch ablehnte. Er begründete Letzteres damit, dass Musik nur Gefühle, nicht aber Gedanken ausdrücken könne und folglich nicht zur Verbindung mit der dramatischen Dichtung tauge, welche Hagen ausschließlich als Gedankenkunst ansah. Eine ausführliche Reaktion auf diesen Artikel Hagens erfolgte in der NZfM durch Theodor Uhlig.11 Er widersprach Hagen insofern, als dieser „in Beethoven nur den schließlich auf einen Abweg gerathenen Künstler [sehe], während wir diesen Abweg für den ersten Schritt auf ein neues Gebiet halten, dem nur das Mittheilungsvermögen des Künstlers nicht gewachsen war“12. Uhligs zentrale Einschätzung von Hagen bestand dabei in dem dreifach geäußerten Ausspruch: „Die Anschauungen und Folgerungen des Hrn. H. sind keineswegs ‚künstlerischer‘, sondern ‚politischer‘ Natur in ganz dem Sinne, in welchem Rich. Wagner diesen Gegensatz faßt. (Vorwort zu den drei Operndichtungen, Seite 2913).“14 Hagen wolle ein „Gedankenkunstwerk“ und Musik gelte für ihn nur, wenn sie einen politischen Zweck oder „menschenbildende Absichten“ erfülle.15 Dem hielt Uhlig entgegen, dass der „Gedanke nur durch das Gefühl und mit dem Gefühle bestehen“16 könne. Tatsächlich hatte Hagen in
etwa auch Schaeffer 1852 Über Richard Wagner’s Lohengrin, in: NdS 1 Nr. 31. 10 Vgl. etwa Wagner 1852 Oper und Drama, 3. Teil, III, in: Kropfinger 2008, S. 113 –117 sowie 302 f. Dort hatte Wagner die Hinzuziehung der Schiller-Worte gleichsam als naturnotwendigen Schöpfungsakt dargestellt, um die sich immer weiter von ihren natürlichen Grundlagen entfernte Instrumentalmusik wieder näher an ihre ursprüngliche Herkunft in der Volksmusik zurückzuführen. 11 Uhlig 1852 Lesefrüchte, Bd. 37, S. 149 –151 und S. 177 f. 12 Ebd., S. 150. 13 Wagner 1852 Drei Operndichtungen nebst einer Mittheilung an meine Freunde, S. 29: „Den unkünstlerischen, politischen Charakter mag es auszeichnen, daß er von Jugend aus den äußeren Eindrücken einen Rückhalt entgegensetzt, der sich im Laufe der Entwickelung bis zur Berechnung des persönlichen Vortheiles, den ihm sein Widerstand gegen die Außenwelt bringt, bis zur Fähigkeit, diese Außenwelt rein nur auf sich, sich selbst aber nie auf sie zu beziehen, steigert. Den künstlerischen, unpolitischen Charakter bestimmt jedenfalls das Eine, daß er sich rückhaltslos den Eindrücken hingiebt, die sein Empfindungswesen sympathetisch berühren. Gerade aber die Macht dieser Eindrücke mißt sich wieder nach der Kraft des Empfängnisvermögens, das nur dann die Kraft des Mittheilungsdranges gewinnt, wenn es bis zu einem entzückenden Uebermaaße von den Eindrücken erfüllt ist. In der Fülle dieses Uebermaaßes liegt die künstlerische Kraft bedingt, denn sie ist nichts anderes, als das Bedürfnis, das überwuchernde Empfängnis in der Mittheilung wieder von sich zu geben.“ 14 Uhlig 1852 Lesefrüchte, Bd. 37, S. 150. 15 Siehe ebd., S. 177 f. 16 Ebd., S. 150, S. 151 und S. 178. 9 Vgl.
Hagen 1852 Einige Worte über die Neunte Symphonie
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früheren Schriften, etwa in Civilisation und Musik17, die Kunst als eine soziale Mission aufgefasst, worin sich im Grunde große Übereinstimmungen mit den Gedanken des jungen Liszt und Wagners ausmachen lassen.18 Drei Monate nach dem hier abgedruckten Aufsatz veröffentlichte Hagen in der Süddeutschen Musik-Zeitung einen weiteren Artikel zu diesem Thema, in welchem er unter dem Titel „Das Gefühlskunstwerk und seine Bewunderer“19 nochmals seine zuvor geäußerten Ansichten bestätigte. Vor allem aber ließ er sich darin in ironischer Weise über die unreflektierten Anhänger Wagners aus, die er als „Lieb Kind“ bezeichnet und denen er in Zukunft nicht mehr mit Argumenten, sondern nur noch mit Heiterkeit begegnen wolle.20 Insgesamt ist der Artikel nicht nur ein Beispiel für die sich um diese Zeit nach dem Erscheinen von Wagners kunsttheoretischen Schriften bildende Opposition, die sich, wie die Wortmeldung Hagens beweist, auch bereits zu dieser Zeit im europäischen Ausland formierte und durch Abdrucke in deutschsprachigen Musikjournalen auf den sich intensivierenden musikalischen Parteienstreit wirkte. Zugleich artikuliert sich hier eine kritische Position gegen Wagners Idee des Gesamtkunstwerks, die aus dramatisch-literarischer Perspektive eine Ergänzung zu den ansonsten meist aus dem musikalischen Lager stammenden Gegenstimmen darstellt und damit die Breite der damaligen Auseinandersetzungen dokumentiert.
17 Hagen 19 Hagen
1846 Civilisation und Musik. 18 Vgl. Valentin 1964 Ein Vergessener: Theodor Hagen. 1852 Das Gefühlskunstwerk. 20 Ebd., S. 137.
Nr. 36 | J. [Jean Friedrich] Schucht, „Ueber das tonkünstlerische Schaffen“, in: Rheinische Musik-Zeitung 3 (1852/1853), Nr. 12 (18. September 1852), S. 921– 923.
Ueber das tonkünstlerische Schaffen.
In neuester Zeit haben sich unter den Musikgelehrten vorzüglich zwei Parteien geltend gemacht. Die Eine fordert von den Tondichtern unmittelbares Schaffen nach innerm, schöpferischen Drange, wobei das denkende Bewusstsein sich nur regulirend verhält. Die andere verlangt, dass die Reflexion, das Denken die Kunstproducte erzeugen soll, und demzufolge behauptet sie auch, dass die Productionskraft durch Studium hervorgebracht werden könne, während auf der andern Seite behauptet wird, dass der schöpferische Geist geboren werden muss, und dass nicht jedem Menschen die schaffende Kraft verliehen wird, wohl aber das Vermögen, über das Geschaffene denken und reflectiren zu können. Dass diese Parteien ihre Anhänger auch unter den Tondichtern haben, ist leicht erklärlich, und der aufmerksame Leser wird sehr oft und vorzugsweise in diesen Blättern eine sehr scharfe Polemik gegen die sogenannten Reflexionscomponisten gefunden haben.1 Wir wollen das künstlerische Schaffen etwas ausführlicher besprechen, da es ja der wichtigste Gegenstand für die Kunst selbst ist. Wir sind daher genöthigt die Ansichten der Parteien zu prüfen; jedoch meiden wir jede Polemik gegen bestimmte Persönlichkeiten, und halten uns lediglich an die Sache selbst. Die eine Partei, angesteckt von der Philosophie der Gegenwart ohne sie doch klar aufgefasst und verstanden zu haben, fällt ihre Urtheile nach einem Grundsatze, den wir ohngefähr in folgenden Worten zusammenfassen und aussprechen können: dass das Produciren der Kunstwerke im ersten Momente mit vollem klar denkenden Bewusstsein geschehen soll und dass daher die schöpferische Kraft durch Erziehung, Studium und Kritik hervorgebracht und genährt werden kann. Sie statuirt daher auch den Kunstwerken der Gegenwart – versteht sich, von ihren Parteigenossen, – einen höhern Werth, als den Producten der Vergangenheit, wo die Tondichter noch mehr unbewusst nach göttlichem Instinkte ihre Werke geschaffen haben. Diese Partei ist es auch, welche die Forderung aufstellt, dass das musikalische Kunstwerk Gedanken aussprechen soll, Gedanken, klar und compakt wie sie die Dichtkunst auszusprechen vermag; die Musik soll also nicht blos die Stimmungen der Seele, nicht blos das Gefühls- und Empfindungsleben der Menschheit in Tönen aussprechen, sondern auch die Gedanken und Ideen, welche die Welt bewegen. Ein anderer Anhang dieser Partei fordert sogar, dass die Tonkunst in ihren neuesten Producten
etwa Bischoff 1850 Was wir wollen; Anonym 1851 Plastische Musik, in: NdS 1 Nr. 24 sowie Bischoff 1852 An unsere Leser, in: NdS 1 Nr. 32.
1 Siehe
Schucht 1852 Ueber das tonkünstlerische Schaffen
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plastisch2 werden solle; er verlangt Gestalten und Gegenstände und glaubt dadurch die Tonkunst zu einer höhern Potenz zu steigern. Ja sogar das politische Leben und Treiben soll in Tönen ausgesprochen werden und gewisse hochgelehrte und fein hörende Kritiker behaupten, aristokratische und demokratische Ideen aus den Kunstwerken der Vergangenheit und Gegenwart heraus hören zu können!3 Die andere Partei macht dagegen geltend, dass das Genie geboren werden muss, dass die schöpferische Kraft durch Erziehung und ausführliches Studium wohl geläutert und veredelt, nicht aber in jedem Menschen hervorgerufen werden kann; und dass das Produciren durch Reflexion nicht das eigentlich wahre poetische Schaffen sei, sondern ein abstractes Rechnen und mathematisches Spielen mit Tönen, welches kein Kunstwerk zu erzeugen ver-[922]mag, das sich Epoche machende Geltung erringen kann, mithin also auch nicht den Hochgenuss gewährt, wie das in höchster Begeisterung geschaffene Werk des gotterfüllten Künstlers. Ausser diesen zwei Hauptparteien, deren Repräsentanten wir nicht näher mit Namen bezeichnen wollen, gibt es auch noch viele halbgebildete Köpfe, die ohne tiefere wissenschaftliche Bildung gedankenlos in den Tag hinein kritisiren und recensiren, heute so und morgen anderes sprechen; von diesen kann natürlich hier nicht die Rede sein, wir haben es nur mit denen zu thun, die da behaupten, dass das bewusstlose Produciren einer niedrigern Stufe des geistigen Lebens angehöre, dagegen aber das Schaffen mit Bewusstsein und Reflexion als die erhöhte Potenz der künstlerischen Thätigkeit zu betrachten sei. Um hierüber klar zu werden, müssen wir einen kleinen Streifzug in das Gebiet der Metaphysik machen. Das geistige Leben ist ursprünglich reine Thätigkeit, ein Thätigsein ohne eigentlich nähere Bestimmung; diese Thätigkeit ist unbewusst[,] kann, aber durch den Willen als Denken ins Bewusstsein erhoben werden, und wird durch dieses regulirt und bestimmt. Diese ursprünglich unbewusste Thätigkeit des Geistes muss man als ein Produciren bezeichnen, denn sie producirt fortwährend nach ihren inwohnenden Naturgesetzen Gedanken und Vorstellungen, welche aber nach dem Acte des unbewussten Schaffens selbst durch den Willen ins Bewusstsein gehoben werden. Der Geist reflectirt nun auf seine so eben dunkel unbewusst hervorgebrachten Producte, – die Gedanken, – und bestimmt sie nur zu seinem mit Bewusstsein wollenden Zwecke. Hierdurch haben wir als zwei Hauptprozesse des geistigen Lebens vor uns,
2 Im Gegensatz zu Franz Brendel, der bereits 1848 einen deutlichen kompositorischen Vorzug in der „plastischen Kraft“ der musikalischen Gestaltung eines Werkes sah (Brendel 1848 Fragen der Zeit IV, S. 214, in: NdS 1 Nr. 17, S. 187), stellt ein 1851 anonym gezeichneter, wahrscheinlich von Ferdinand Hiller stammender Artikel die zeitgenössische „plastische Musik“ als diejenige, „die Elemente der Zeit in sich aufnehmen, die weltbewegenden Ideen der gegenwärtigen Menschheit in Tongestaltungen zur Darstellung bringen müsse“ auf satirische Weise infrage (Anonym 1851 Plastische Musik, S. 363, in: NdS 1 Nr. 24, S. 247). Als Beleg für dieses Komponieren enthält der Aufsatz das fingierte Programm zu einer Symphonie, die in höchst realistischem Maße Verlauf und Situationen der Revolution von 1848 zu schildern versucht. 3 Vgl. hierzu etwa Kretschmann 1848 Romantik in der Musik, in: NdS 1 Nr. 11; Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14 sowie demgegenüber in satirischer Absicht: Koßmaly 1848 Die musikalischen Errungenschaften. Vgl. hierzu insgesamt Ortuño-Stühring 2012 Democratische Musik.
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zuerst a) das unbewusste, aber nach den ewigen Naturgesetzen gehende Schaffen der Ideen, und b) das mit Bewusstsein regulirende und bestimmende Verwenden und Gestalten der unbewusst geschaffenen Ideen. Beide geistige Thätigkeiten sind nicht in jedem Menschen in einem hohen Grade vereinigt vorhanden, wie uns schon die tägliche Erfahrung lehrt, ohne tieferes Studium der Philosophie; denn der grösste Theil der Menschen erzeugt keine neuen Ideen, sondern gebraucht und verwendet nur die Ideen der eigentlich producirenden Köpfe; diesen Menschen ist die eigentlich wahre ursprüngliche schöpferische Thätigkeit schon im Keime versagt; ihre ganze geistige Thätigkeit concentrirt sich nur auf das Ge- und Verbrauchen der von andern erzeugten Gedanken. Hieraus folgt also, dass der wahre schöpferische Geist eine höher potenzirte Natur sei und zwar schon im embryonen Zustande. Dass also die schöpferische Thätigkeit angeboren sein muss, und nicht durch Reflexion hervorgebracht werden kann; ferner folgt hieraus noch, und zwar mit unwiderleglicher Evidenz, dass die sogenannten Reflexionscomponisten nicht auf einer höhern, sondern auf eine niedrigeren Stufe geistiger Thätigkeit stehen; denn da ihnen die ursprüngliche schöpferische Kraft versagt ist, so vereinigen sie durch den Act der Reflexion die Gedanken Anderer und suchen nun dadurch eigene Werke zu bilden, indem sie die genialen Ideen jener höher potenzirten Geister drehen und wenden, bis sie unkenntlich werden, und sie sie uns dann als ganz neue, originelle und dem Zeitgeiste entsprechende Ideen auftischen. Diese theoretischen Sätze werden durch die Erfahrung tausendfach bestätigt, man frage nur die Geschichte aller grossen Genie’s in allen Künsten. Sie fügten die Gedanken und Bilder nicht durch Reflexion zusammen, sondern sie entstanden in ihnen in jener erhöhten Seelenstimmung, die wir Begeisterung nennen, unbewusst; das kalte Denken verhielt sich hierbei nur ordnend und maassgebend. Man denke doch nur an die vielen naiven Aussprüche aller grossen Genie’s über ihr künstlerisches Schaffen. Mozart sagte: „Wenn ich so allein und guter Dinge bin, da kommen mir die Gedanken in Masse, ich weiss gar nicht wie? warum? und woher? kann auch nichts dafür; das ist dann ein Drängen und Treiben in mir, dass ich sie niederschreiben muss“4 – und Mozart hat uns bewiesen, dass er alle jene Ideen, die in ihm unbewusst entstanden, durch das später folgende regulirende Denken und die Anwendung des Bewusstseins wohlgeordnet mit der höchsten logischen Klarheit niederzuschreiben verstand. Aber, da höre ich schon von den Repräsentanten des Zeitgeistes der Gegenwart ausrufen: Messt uns nur nicht mit Mozart’schem Maassstabe, und verlangt nicht, dass wir componiren sollen, wie zu Mozarts Zeiten!
Worte gehen auf ein 1815 von Friedrich Rochlitz in der AmZ veröffentlichtes „Schreiben Mozarts an den Baron von…“ zurück. Dieses wurde als vermeintlicher Beleg für Mozarts der romantischen Inspirationsästhetik nahestehende, unbewusst-geniale Schaffensweise im 19. Jahrhundert häufig zitiert, stellte sich aber als Fälschung heraus (vgl. Konrad 1992 Mozarts Schaffensweise, S. 49 f.). Die von Schucht angeführte Stelle lautet bei Rochlitz: „Wenn ich recht für mich bin und guter Dinge, etwa auf Reisen im Wagen, oder nach guter Mahlzeit beym Spazieren, und in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann: da kommen mir die Gedanken stromweis und am besten. Woher und wie, das weiss ich nicht, kann auch nichts dazu“ (Anonym 1815 Schreiben Mozarts, Sp. 563). 4 Diese
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Allerdings verlangen wir nicht von euch Tondichtern der Gegenwart, dass ihr Mozarts Geist- und Empfindungsleben, wie er es uns in seinen Werken hinterlassen hat, uns wieder darstellen sollet; denn unserer Zeit ist im Allgemeinen jene Mozart’sche Weltanschauung entschwunden. Aber es gibt Dinge, welche so lange es Menschen gibt, mit geringen Modificationen durch Zeit und Nationalität, immer [993] dieselben bleiben, das sind die Empfindungen des menschlichen Herzens, seine Stimmungen, seine Gefühle, seine Leidenschaften. Diese sind der Inhalt der Mozart’schen Musik und diesen Inhalt verlangen wir auch von euch, und dabei vor allem Mozart’sche Logik und Klarheit in der Gedankenfolge und Mozart’sche Vollendung in der Form. Man verdrehe aber die ausgesprochene Ansicht nicht etwa dahin, als schlössen wir das denkende Bewusstsein beim Schaffen der Kunstproducte gänzlich aus; wir behaupten, dass der erste ursprüngliche Act der schöpferischen Thätigkeit ohne Reflexion geschieht, dass aber die Reflexion die schöpferische Thätigkeit regulirt, denn jede unbewusst entstandene Idee hebt den Geist in’s Bewusstsein, sobald er sie sich zum Objecte des Denkens macht. Derjenige Künstler also, der sich seinem innern Schöpfertriebe überlässt, und ihn nur denkend leitet und bestimmt, der also dem brausenden Strome seiner Fantasie gleichsam nur die Bahn vorzeichnet, nur der wird wahrhaft lebensfähige Produkte schaffen, während das, was der trockene Verstand zusammensetzt, missgestaltete Geschöpfe erzeugt, die nur mit einem galvanischen Scheinleben begabt sind. Dass wir heutzutage eine so grosse Anzahl Reflexionscomponisten haben, daran ist zunächst die unsinnige Lehre von der Gleichheit der natürlichen Anlagen aller Menschen schuld, nach welcher man denn gewissermaassen darauf studiren kann, ein Genie zu werden. Das verführt eine Menge von jungen Leuten, sich der Tonkunst zu widmen, ohne doch wahren Beruf dafür zu haben. Zweitens trägt die immer allgemeiner werdende Verbreitung der Musikwissenschaft die Schuld. Die meisten unserer Compositionslehrer und unsere Musikschulen nehmen Jeden, der ihren Unterricht honorirt, ohne nähere Prüfung, ob er auch Talent und Fantasie hat, in ihre Schülerzahl auf, da wird denn die musikalische Grammatik, der Mechanismus des Componirens allerdings gelernt, und kaum hat man den Unterricht verdaut, so schreibt man drauf los, um doch nicht umsonst seinen Cursus durchgemacht zu haben. Die früheren Lehrer, wie Albrechtsberger5 u. a. waren mit ihrem Unterrichte nicht so freigiebig gegen Jedermann, sondern sie prüften vorher erst sehr sorgfältig, ehe sie sich zur Annahme entschieden. So wird denn der musikalische Markt überschwemmt mit lauter gemachten Verstandesprodukten und die Kunst wird fast zum Handwerk, wenigstens zur Industrie. Die eigentlichen Musiker, diejenigen, welche Gott und die Natur dazu gestempelt hat, werden immer seltener, trotz dem, dass die Zahl der Musikmacher wie Sand am Meere ist, und jene allein wahren Kunstwerke, die in einer erhöhten Seelenstimmung,
5 Johann
Georg Albrechtsberger (1736 –1809), österreichischer Musiktheoretiker, Organist und Komponist, unterrichtete eine ganze Generation von Komponisten im Generalbass, darunter auch Beethoven, und galt an seinem Lebensende als einer der meistverehrten Musiker Europas.
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in künstlerischer Begeisterung geschaffen werden, suchen wir immer mehr umsonst unter den Erscheinungen der Zeit. J. Schucht
Kommentar Der vorliegende Artikel ist ein frühes Zeugnis einer zu dieser Zeit steigenden Anzahl von Aufsätzen in den Musikzeitschriften, welche die zunehmende Zuspitzung innerhalb des musikbezogenen Diskurses in zwei gegensätzliche Meinungslager auf eine je eigene Art herzuleiten versuchten, um damit die Unterschiedlichkeit und Unvereinbarkeit dieser Gruppierungen und ihrer Anschauungen zu untermauern. Jean Schucht6, der zunächst für die AmZ 7, dann vor allem für die Berliner Musik-Zeitung Echo und die Neue Berliner Musikzeitung schrieb und ab 1869 bis zu seinem Tod vorrangig für die NZfM publizierte, stellte seinem Vergleich beider Parteien im vorliegenden Artikel eine an Hegels Ästhetik angelehnte metaphysische Herleitung von wahrer Kunst und wahrer künstlerischer Produktion voran. Darin überprüft er, inwiefern die produktive Kraft des jeweiligen Lagers aus einem angeborenen schöpferischen Geist heraus entstehe oder deren Geist sich lediglich durch Verarbeitung fremder Ideen sowie aufgrund seiner Reflexionskraft betätige. Innerhalb dieser aus dem 18. Jahrhundert stammenden klassizistischen Vorstellungen einer auf ‚Natürlichkeit‘ basierenden Inspirationsästhetik, spricht Schucht den „Künstlern der Gegenwart“ ab, „nach innerm, schöpferischen Drange“8 zu komponieren, was zugleich die damaligen Forderungen nach einem reflektierten, auf geschichtsphilosophischen Prämissen beruhendem Komponieren, wie es nicht zuletzt Brendel in der NZfM wiederholt gefordert hatte9, als unkünstlerisch diskreditierte. Wenngleich Schuchts Äußerungen nicht explizit auf einzelne Komponisten bezogen waren, bietet der Text dennoch ein Beispiel dafür, wie die ästhetische Debatte um einen stärkeren Zeit- und Wirklichkeitsbezug der Musik nach 1849 bereits den argumentativen Boden für die spätere Kontroverse um die ‚Zukunftsmusik‘ bereitete und die darin wirkmächtige Dichotomie von „Genie“ und „Reflexion“ – dem „gotterfüllten Künstler“10 mit wahrem, poetisch-schöpferischem Instinkt auf der einen Seite im Gegensatz zum sogenannten epigonalen „Reflexionscomponisten“ auf der anderen, der nur bereits existierende
6 Jean
Friedrich Schucht (1822 –1894), auch als Johann und Johannes oder unter seinem Pseudonym „Julius Schucht“ bekannt, deutscher Musiklehrer, Musikschriftsteller und Komponist. 7 Siehe Schucht 1848a Der überwundene Standpunkt, in: NdS 1 Nr. 13 sowie Schucht 1848b Der überwundene Standpunkt. 8 Vorliegender Artikel, S. 356 [921]. 9 Siehe etwa Brendel 1848 Fragen der Zeit II, in: NdS 1 Nr. 8 sowie Brendel 1850 Zum Beginn. 10 Vorliegender Artikel, S. 357 [921 f.].
Schucht 1852 Ueber das tonkünstlerische Schaffen
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Gedanken durch Verstandeskraft und Bewusstsein neu kombiniere.11 Insofern ist Schuchts Artikel auch ein Vorläufer des ein Jahr später in den Grenzboten anonym publizierten Aufsatzes12 über Berlioz, in dem die hier von Schucht nur theoretisch und auf abstrakter Ebene angesprochenen Vorbehalte gegenüber „Reflexionscomponisten“ dort in konkrete kompositorische Vorwürfe übersetzt und gegen den französischen Komponisten gewendet werden. Mit ihrer philosophisch hergeleiteten Argumentation bilden beide hier genannten Aufsätze zugleich ein Seitenstück zu einem 1853 anonym veröffentlichten Artikel mit dem Titel „Musikalische Charakteristiken“13 in der Neuen Wiener Musik-Zeitung, in welchem das für die musikalische Gegenwart diagnostizierte Epigonentum mit dem Scheitern der deutschen Nationalbewegung in Verbindung gebracht wird. Insgesamt zeigen die Aussagen Schuchts die damalige Widersprüchlichkeit innerhalb des Verständnisses eines ‚reflektierten Komponierens‘. Während dieses einerseits wiederholt von Brendel und anderen Autoren für die Gegenwart gefordert wurde, um aus den Schranken eines epigonalen Reproduzierens auszubrechen,14 wurde es zugleich, einseitig negativ aufgefasst, im musikästhetischen Diskurs auf allen Seiten der Kontroverse für das eigene Schaffen meist mit dem Verweis auf die vorhandene ‚Organik‘ der jeweiligen Kompositionen vehement bestritten.15 Dies zeigt die Wirkmächtigkeit solcherart semantisch schwammiger Begriffe, welche in allen musikjournalistischen Lagern vor dem Hintergrund damaliger dichotomer Denkmuster als Schlagworte für jeweils völlig unterschiedliche Werke dienen konnten.
11 Zu
einem weiteren frühen Beispiel für das in diesem Zusammenhang stehende Gegenüberstellen von „Reflexion“ und „Genie“ siehe Anonym 1851 Plastische Musik, in: NdS 1 Nr. 24. 12 Jahn 1853 Hector Berlioz in Leipzig, in: NdS 1 Nr. 55. 13 H – L. 1853 Musikalische Charakteristiken, in: NdS 1 Nr. 52. 14 Siehe etwa Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14 sowie Brendel 1849 Das Bewußtsein der Neuzeit. 15 Siehe etwa Zellner 1856 Aus der neuern Musikliteratur, in: NdS 2 Nr. 91 sowie Draeseke 1857 Liszt’s neun symphonische Dichtungen, in: NdS 2 Nr. 107.
Nr. 37 | F. [Franz] Brendel, „Ein dritter Ausflug nach Weimar“, in: NZfM 19 (1852), Bd. 37, Nr. 22 (26. November), S. 225 – 227; Nr. 23 (3. Dezember), S. 237 – 240; Nr. 24 (10. Dezember), S. 251– 254.
Ein dritter Ausflug nach Weimar. Von F. Brendel.
Wende ich jetzt meine Blicke vorzugsweise nach Weimar, so geschieht es, weil Liszt’s Thätigkeit dort einen neuen geistigen Mittelpunkt für das musikalische Leben Deutschlands gegründet hat. Sehen wir anderwärts zur Zeit mehr oder weniger allein die im Ableben begriffene Epoche vertreten, so dämmert hier das Morgenroth der Zukunft. Wohl wird Weimar übertroffen durch viele Städte an Glanz der äu ßeren Mittel, was aber die Intelligenz betrifft, die dort Alles durchdringt, so giebt es jetzt keine zweite Stadt in Deutschland, welche sich mit ihm messen könnte. Liszt ist der Erste gewesen, welcher dort practisch verwirklichte, was von einer lebendig fortschreitenden Zeit gefordert wird. Ich aber fasse vorzugsweise dieses herrliche Streben in’s Auge, weil es die Realisirung dessen enthält, wonach ich selbst immer gerungen habe. Schon der 4te Bericht in diesem Jahre (mit Einschluß des Ballen stedter) ist es, welchen ich den Lesern dies. Bl. vorlegen kann.1 Es ist indeß nicht allein meine innere Theilnahme, meine persönliche Sympathie, welche diese Leistungen in mir erwecken, ich betrachte es zugleich als die wichtigste und schönste Aufgabe einer musikalischen Zeitung das Werdende zu fördern, ihm Bahn zu brechen. Schon bei ihrer Gründung haben diese Bl. sich diese Aufgabe gestellt,2 und – mit nur geringen Unterbrechungen – bis jetzt festzuhalten gesucht. Im Be wußtsein dieses Zieles kann es uns gleichgiltig sein, wenn wir gewahren müssen, wie von verschiedenen Seiten, in völliger Verkennung dessen, was wir wollen, gegen uns polemisirt wird. Es drängt gewisse Leute die Stelle der früheren Gegner Beet hoven’s, deren Verblendung man jetzt kaum begreift, zu übernehmen, es drängt sie, dem Gericht der Zukunft als spaßhafte Erscheinungen der Gegenwart sich zu über
ersten drei Artikel Brendels waren: Brendel 1852 Ein Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 28; Brendel 1852 Ein zweiter Ausflug nach Weimar sowie Brendel 1852 Das Musikfest zu Ballenstedt. 2 Vgl. Schumann 1835 Zur Eröffnung des Jahres 1835, S. 2: „Unsere Gesinnung war vorweg fest gestellt. Sie ist einfach, und diese: die alte Zeit und ihre Werke anzuerkennen, darauf aufmerksam zu machen, wie nur an so reinem Quelle neue Kunstschönheiten gekräftigt werden können – sodann, die letzte Vergangenheit als eine unkünstlerische zu bekämpfen, für die nur das Hochgestei gerte des Mechanischen einigen Ersatz gewährt habe – endlich eine junge, dichterische Zukunft vorzubereiten, beschleunigen zu helfen.“ 1 Die
Brendel 1852 Ein dritter Ausflug nach Weimar
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liefern. Abgesehen aber von der Beruhigung, die wir im Hinblick auf diese That sachen empfinden können, so ist auch der vollständige Erfolg für uns. Welche Kämpfe hat es gekostet, als wir R. Wagner’s Richtung zu der unsrigen machten, und schon beginnen die Werke desselben den Siegeszug durch Deutschland. Solche Erfahrungen entschädigen reichlich für widerwärtiges Gezänk, welches zu Zeiten unvermeidlich ist. So gestehe ich, daß ich die neulich in dies. Bl. gegebenen Mit theilungen aus Breslau und Dresden nicht ohne tiefe Rührung zu lesen im Stande war.3 Es hat mich Ueberwindung gekostet, als ich zu Anfang dieses Jahres die Be richte über Lohengrin und Tannhäuser aus Weimar schrieb,4 nicht mehr zu sagen, als ich that. Damals aber [226] mußte ich fürchten, zu enthusiastisch zu erscheinen, wenn ich dem vollem Herz ganz Luft gemacht hätte. Man würde kaum noch ge glaubt haben, was jetzt schon in dem Bewußtsein so Vieler lebt. Dies Mal liegt uns zur Berichterstattung eine Erscheinung vor, anders als jene, der bisher diese Mittheilungen galten, eine künstlerische Persönlichkeit ist zu beur theilen, anders in ihrem inneren Wesen und in ihrer Stellung zur Kunst, anders auch in den Schicksalen, die sie erfuhr, darin aber verwandt, daß auch sie den Kampf gegen Vorurtheile aller Art herausfordert, vielleicht sogar einen härteren. R. Wagner wurde durch seinen „Rienzi“5 schnell bekannt. Dieses Werk indeß vermochte dem anfänglichen Enthusiasmus nicht auf die Dauer zu entsprechen, nicht ihn festzuhal ten. Sein Schöpfer trat zurück, verlor alsbald wieder an Beliebtheit, da die späteren größeren Leistungen, welche im Stande gewesen wären, dieß zu bewirken, nicht bekannt wurden. Jetzt mit einem Male ist Wagner durchgedrungen, und seine Stel lung als neuer, großer, schaffender Mittelpunct für die deutsche Kunst, gleich wie Beethoven in der zurückgelegten Epoche, wird ihm nicht mehr streitig gemacht werden. Berlioz ist seit langen Jahren eine europäische Berühmtheit; man hat viele seiner größeren Werke, wenn auch nur ein Mal bei der Reise durch Deutschland6, gehört, aber man hat, mit Ausnahme Prag’s,7 regelmäßig und wiederholt nichts wieder von ihm zur Ausführung gebracht, nur hier und da zu Zeiten einen schüchternen Versuch gemacht; man hat ihn in dem öffentlichen Urtheile in eine wunderliche
3 Gemeint sind die beiden Berichte Heinrich Gottwalds (Gottwald 1852 Wagner’s Tannhäuser in Breslau) und Richard Pohls (Pohl 1852 Dresdner Musik III) in Nr. 20 und 21 der NZfM, welche Aufführungen des Tannhäusers in geradezu überschwänglicher Weise besprechen. So endet Gott walds Artikel mit den Worten: „Nur ein Mann mit dem höchsten Verstande, dem tieffühlendsten Herzen, und mit einer die ganze Menschheit umfassenden glühenden Liebe, nur ein Mann wie Richard Wagner, der zugleich die Kraft und den Muth in sich vereinigte, konnte das Erlösungswerk zu Stande bringen!“ (Gottwald 1852 Wagner’s Tannhäuser in Breslau, S. 210). 4 Brendel 1852 Ein Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 28 sowie Brendel 1852 Ein zweiter Ausflug nach Weimar. 5 Wagners Rienzi wurde am 20. Oktober 1842 erfolgreich in Dresden uraufgeführt und durch zahlreiche Kritiken in der Lokalpresse schnell bekannt. Aufgrund der Länge und der stimmlichen Anforderungen des Werkes wurde es jedoch zunächst nur in Dresden gespielt. Erst 1844 folgten Inszenierungen in Hamburg sowie 1847 in Berlin. 6 Hector Berlioz war erstmals 1842/1843 als Dirigent und Kom ponist im deutschsprachigen Raum in Erscheinung getreten. Stationen dieser ersten Reise waren u. a. Stuttgart, Mannheim, Weimar, Leipzig, Dresden, Braunschweig, Hamburg, Berlin, Hannover und Darmstadt. 1846 folgte die Reise nach Wien und Prag. 7 Vgl. hierzu insgesamt Lomnäs/ Strauss 1999 Der Prager Davidsbund.
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schiefe Stellung gedrängt, endlich ganz fallen lassen.8 Nicht etwas völlig Neues durchzusetzen gilt es daher hier, im Gegentheil etwas Versäumtes nachzuholen. Es kommt darauf an, eine voreilig gerichtete Erscheinung auf ’s Neue der öffentlichen Beurtheilung vorzuführen, jetzt erst zu wirklichem Verständniß vorzudringen, und dadurch ein richtigeres Urtheil zu begründen. Eine neue, entsprechendere Auffas sung eines äußerlich schon Bekannten geltend zu machen, muß uns daher hier als Ziel vor Augen schweben. Zuerst ist es R. Schumann gewesen, der in den ersten Bänden dieser Zeitschrift nachdrücklich auf Berlioz[’] große Erscheinung hingewiesen hat.9 Er hat auch nach her noch oft den Wunsch ausgesprochen, daß mehr, als bis jetzt der Fall war, Gele genheit gegeben werden möchte, die Werke desselben zu hören. Später indeß hat Schumann eine andere Richtung eingeschlagen,10 und die Folge war, daß das In teresse für Berlioz bei ihm in den Hintergrund trat. So haben diese Blätter in der That nicht genug für ihn gethan, nicht mit der ihnen eigenthümlichen Entschie denheit gewirkt, zur Zeit, als er in Deutschland reiste. Um dieselbe Zeit aber hat Berlioz zwei andere begeisterte Vertreter gefunden, welche bis jetzt der einmal ausgesprochenen Ansicht treu geblieben sind: W. R. Griepenkerl11 und J. C. Lobe12. Beide sind eifrig bemüht gewesen, ihre abweichende Ansicht zur Geltung zu brin gen, beide indeß nicht mit ausreichendem Erfolg. Griepenkerl’s geistreiche Bro schüre: Ritter Berlioz in Braunschweig13, hat die ersten Grundzüge für eine ent sprechendere Würdigung zu geben versucht, indem sie Berlioz in seiner geschichtlichen Genesis zu begreifen suchte. Sie hat sehr gut vorgearbeitet, ohne bis zum Kern der Sache vordringen zu können. Ich mache ihr daraus durchaus keinen Vorwurf, ich bemerke dies blos, um die Thatsache einer nicht ausreichenden Wür digung daraus zu erklären. Lobe hat an verschiedenen Orten, auch in diesen Bl., seine Sympathie für Berlioz ausgesprochen,14 indeß auch ohne genügenden Erfolg, weil seine Auffassung an zu großer Einseitigkeit litt, indem er eine sehr zweifelhafte
hierzu insgesamt Jacobshagen/Braam 2002 Berlioz in Deutschland. 9 Den dritten Band der NZfM eröffnete Schumann mit einer ausführlichen Rezension von Berlioz’ Symphonie fantastique op. 14 auf der Grundlage des von Liszt erstellten Klavierauszugs des Werks (Schumann 1835 Aus dem Leben eines Künstlers). 10 Vgl. Brendel 1845 Schumann und Mendelssohn, insbesondere S. 90 – 92 und S. 145 f. Darin unterteilt Brendel Schumanns Schaffen in zwei Phasen, von denen die erste durch Formen gekennzeichnet ist, die dem Ausdruck des jeweiligen Werks unterworfen seien, wohingegen sich dieses Verhältnis in der zweiten Phase eher umkehre. 11 Wolfgang Robert Griepenkerl (1810 –1868), Schriftsteller und Dramatiker, wirkte als Dozent in Braunschweig und verfasste mehrere Musiknovellen, in denen er sich u. a. für ein auf den letzten Werken Beethovens fußendes Komponieren aussprach (Griepenkerl 1838 Das Musikfest oder die Beethovener) sowie eine inhaltliche Neuorientierung der Oper an nationalen Stoffen forderte (Griepenkerl 1847 Die Oper der Gegenwart). 12 Johann Christian Lobe (1797 –1881), Komponist, Musiktheoretiker und Pu blizist, stand seit Berlioz’ Aufenthalt in Weimar, wo Lobe zu dieser Zeit wirkte, mit diesem in freundschaftlichem Kontakt und hatte sich in der Folge wiederholt in Aufsätzen für die Werke des französischen Komponisten eingesetzt (siehe vorliegender Artikel, Anm. 14). 13 Griepenkerl 1843 Ritter Berlioz. 14 Lobe war bereits 1837 mit einer enthusiastischen Rezension der Les Francs-Juges op. 3 (Die Vehmrichter, EZ 1826) in der NZfM für den damals in Deutschland noch vollkommen unbekannten Berlioz eingetreten (Lobe 1837 Sendschreiben) und lobte dasselbe Werk nochmals 1845 (Lobe 1845 Malende Instrumentalmusik, S. 175, in: NdS 1 Nr. 2, S. 34). 8 Vgl.
Brendel 1852 Ein dritter Ausflug nach Weimar
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Seite der Berlioz’schen Kunst, ich möchte sagen: einen Abweg, als die Hauptsache, als das Rechte und Wahre hinstellte.15 Es mußte für Berlioz ein ungünstiges Vorur theil erwecken, daß einer seiner Hauptvertreter gerade dieß als das Wesentliche hinstellte. – Nur nach einer Seite hin hat Berlioz vollständige Anerkennung gefun den: als Meister der Instrumentation; es ist dieß so oft ausgesprochen worden, daß es gar nicht wiederholt zu werden braucht.16 Wohl aber ist die Erwähnung dieses Umstandes von Wichtigkeit, weil auch er zur Erklärung jener Thatsache einer all gemeinen Vernachlässigung beiträgt. Indem man nämlich Berlioz nach dieser Seite hin gelten ließ, indem man ihn außerdem als große Capacität anerkannte,17 glaubte man sich mit ihm abgefunden zu haben, glaubte man ein Recht zu haben, ihn nach anderer Seite hin als einen Halbverrückten, mindestens als einen ausgemachten Sonderling, der z. B. nie anders als im Gefolge von so und so viel Dutzend Posaunen auftreten könne, bezeichnen zu dürfen. Was mich selbst betrifft, so habe ich, ganz im Schumann’schen Sinne, immer beklagt, daß keine Gelegenheit vorhanden war, durch Aufführung der Berlioz’schen Werke, zu entsprechendem Verständniß vorzudringen, und dieß oft in diesen Bl. ausgesprochen. Ich fand außerdem in einer solchen Vernachlässigung ein schreiendes Unrecht, was man an Berlioz beging. Kein Franzose noch hatte bisher in dem Grade der deutschen Kunst sich genähert. Und wie hatte man ihm dafür gelohnt? Mochte schließlich das Urtheil ausfallen, wie es wollte, so war doch so viel richtig, daß Berlioz, was sein Streben betrifft, als der ersten Einer in unserer Zeit dastand. Nur Wenige außer ihm hatten in diesem großem Sinne Beethoven [227] aufgefaßt und den Versuch gemacht, diese Bahn weiter zu verfolgen. Ich war der Ansicht, daß Berlioz auf diesem Wege zu falschen Consequenzen gekommen sei, aber ich glaubte, daß selbst sein Irrthum, als ein großartiger, Respect einflößen müsse.18 Die ganze Persönlichkeit stellte sich als eine höchst bedeutende dar, so daß in keiner Weise unsere Vernachlässigung gerechtfertigt werden konnte. Außerordentlich dankenswerth mußte es daher genannt werden, als Liszt es un ternahm, das Versäumte nachzuholen, und nur das Bedenken beunruhigte mich, daß die Leute meinen würden, es solle jetzt mit Berlioz dasselbe geschehen, wie mit Wagner, daß man die hier festzuhaltenden Unterschiede nicht berücksichtigen werde. Nach Allem, was ich ‚von Jenem wußte‘, konnte ich nicht an die Möglich keit, ihn zur Geltung zu bringen, glauben. Ich fürchtete darum nachtheilige Einflüsse für die Vertretung Wagner’s. Unternahm es Liszt, eine in dem allgemeinen Bewußt sein als unhaltbar erkannte Erscheinung zu halten, so mußten – dieß war meine
15 Lobe
hatte argumentiert, dass Berlioz eine „Bestimmtheit des Ausdrucks“ und „objective Dar stellung“ gelänge, indem er dieser alle musikalischen Elemente unterordne. 16 Siehe etwa Becker 1845 Hector Berlioz, Ouverture zu König Lear, S. 9, in: NdS 1 Nr. 3, S. 40: „Was Hector Berlioz musikalische Bedeutsamkeit giebt und dem Musiker ein besonderes Interesse abnöthigt, das ist zunächst seine höchst charakteristische und originelle Instrumentation, welche meist den Mangel ursprünglich musikalischer Gedanken überkleidet, und dann das durchgreifende Beherrschen einer nach großem, ungewöhnlichem Maßstabe zu messenden Form.“ 17 Berlioz’ Ruf als exzellenter Instrumentationskünstler war spätestens seit dem Erscheinen von dessen Grand Traité d’instrumentation (ED 1844) in Deutschland unumstritten (Berlioz 1844 Die Kunst der Instrumentation). 18 Vgl. Brendel 1850 Einige Worte über Malerei, in: NdS 1 Nr. 19.
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Ansicht – Zweifel auch an der Richtigkeit der Vertretung Wagner’s erwachen. Daß im schlimmsten Falle die Aufführung Berlioz’scher Werke nur als ein interessantes Experiment zu betrachten sei, würde man nicht haben gelten lassen; in der Meinung auch Berlioz solle als ein neuer Mittelpunkt für die deutsche Kunst hingestellt wer den, wie Wagner, würde der gegenwärtige Erfolg des Letzteren beeinträchtigt wor den sein. So kam ich nach Weimar, entschlossen vorurtheilsfrei zu prüfen, und in mir selbst entweder eine Bestätigung, oder eine Berichtigung meiner Ansicht zu finden. Es ist das Letztere der Fall gewesen, und ich unternehme es daher in dem Nachfolgenden, die Grundlinien zu einer Würdigung der Berlioz’schen Kunst unter bis jetzt noch nicht ausgesprochenen Gesichtspunkten zu entwerfen. Zunächst nur die Grundli nien: denn die flüchtige Bekanntschaft, welche ein einmaliges Hören gewähren konnte, muß Vieles noch unerledigt lassen. Hierzu kommt, daß, so wie man über haupt beim Anhören dieser Werke die Empfindung hat, einem Koloß gegenüber zu stehen, für Erledigung vieler Fragen die allgemeine Einsicht überhaupt noch nicht weit genug fortgeschritten ist. Ich werde diese zweifelhaften Punkte bezeichnen, habe aber zugleich das sichere Bewußtsein, wie das Wesentliche meiner Auffassung früher oder später als das Richtige anerkannt werden wird. [237] Indem ich zu einer specielleren Würdigung der Werke von Berlioz über gehe, ist es nothwendig, zuvor jener Ansicht noch etwas ausführlicher zu gedenken, welche bis dahin von Allen mehr oder weniger getheilt, als die richtige betrachtet wurde; es wird sich dadurch der Hauptpunct, auf den es ankommt, das Abweichende meiner neu gewonnenen Anschauung um so deutlicher herausstellen. Daß Berlioz von Beethoven seinen Ausgangspunct genommen, ergiebt sich schon bei einer flüchtigen Betrachtung seiner Werke. Bei Beethoven aber – es ist dieß jetzt schon so häufig ausgesprochen worden, daß man nur daran zu erinnern braucht – ringt sich im weiteren Fortgang seiner Entwicklung immer mehr die poetische Idee heraus, und tritt dem ausschließlich musikalischen Element gegenüber.19 Als eine nothwendige Folge dieser Wendung erscheint das Streben nach möglichster Be stimmtheit des Ausdrucks. Deutlich erkennbare Seelenzustände zu zeichnen, wird darum bei ihm später in immer höherem Grade die Aufgabe. – Berlioz nun hat diese Richtung aufgenommen, ist aber einen Schritt weiter gegangen. Wenn bei Beet hoven die poetische Idee, so zu sagen, immer noch gebunden erscheint von dem übergreifenden musikalischen Element, so tritt dieselbe bei Berlioz selbstständig hervor, an die Spitze des Werkes, und wird mit deutlich ausgesprochener Absicht als das die gesammte Gestalt bestimmende und bedingende erkannt. Wenn dort die bestimmte Charakterzeichnung häufig auch wieder in der Unbestimmtheit und Allgemeinheit des musikalischen Ausdrucks verschwimmt, so zeigt sich dieselbe hier bis zu einer Höhe gesteigert, daß wir mit Händen zu greifende Gestalten vor uns zu haben meinen, freilich eine kahle Wirklichkeit, ohne poetische Erregung, ohne das innere Leben und Weben der Stimmungen. Nach beiden Seiten ist Berlioz über Beethoven hinausgegangen, er hat nach Seite der poetischen Idee beinahe großarti gere Aufgaben sich gestellt, als Jener, er hat die Schärfe der Charakteristik gesteigert
19 Siehe
hierzu auch Brendel 1848 Haydn, Mozart, Beethoven.
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bis zu einer kaum zu überbietenden Höhe, aber er hat damit zugleich die Kunstform, die höhere Einheit derselben geopfert, er ist aus dem Reiche der musikalischen Stimmung herausgetreten in eine Sphäre, wo die Musik fast ganz aufhört, er ist fort gegangen bis zu völliger Verneinung des innersten Wesens der Instrumentalmusik. Von wesentlichem Einfluß ist hierbei zugleich sein französisches Naturell gewesen. Die Instrumentalmusik ist vorzugsweise deutsche Kunst; [das] deutsche Gemüthsle ben ist der Boden für dieselbe. Berlioz als Franzose hat [238] dieses innerste Wesen gänzlich verkannt, er hat nur das Aeußerliche davon in sich aufgenommen, die Erscheinung ohne den inneren belebenden Kern, ohne das, was bei uns jenen Aeu ßerlichkeiten erst die wahre Bedeutung verleiht. So ist sein gesammtes Kunstschaf fen ein Irrthum; er hat jene Bahn, welche Beethoven schon vollständig durchlaufen, bis zu einer Spitze geführt, auf der wir sogleich die Verirrung gewahren, er hat falsche Consequenzen gezogen, ja er hat unsere Kunst häufig zur Carricatur ver unstaltet. Mag er daher auch groß und bedeutend im Einzelnen erscheinen, er hat Unmögliches vollbringen wollen. Jemehr er seine Richtung cultivirte, um so mehr erscheint seine Musik aller Innerlichkeit baar. Das Kunstschaffen ist bei ihm Berech nung geworden, das Innerlichste zur nacktesten Aeußerlichkeit. Er hat in seiner schildernden, malenden Richtung der Instrumentalmusik ein Element aufdringen wollen, was der innersten Natur derselben zuwider ist. Er ist nur die Kehrseite von Beethoven. Wenn bei diesem das beschreibende, malende Element ebenfalls in den Vordergrund tritt, so ruht es bei ihm auf der Basis der Empfindung. Hier bei Berlioz ist diese Hauptseite gar nicht erkannt, nur das Aeußere ohne das nothwendig dazu gehörende Innere zur Darstellung gekommen.20 Auch wir sind nun zwar immer entschieden für Malerei in der Tonkunst, für Bestimmtheit des Ausdrucks gewesen, auch wir haben eine poetische Idee im Hin tergrunde verlangt und die Erläuterung derselben durch ein Programm gestattet, und hätten dem entsprechend jene Richtung zu der unsrigen machen müssen. Wo wir aber im verwandten Sinne uns ausgesprochen haben, geschah es stets mit dem Bewußtsein, daß die Grenzlinie eine sehr feingezogene, leicht zu überschreitende ist.21 Nicht die Bedeutung jeder einzelnen Note wünschen wir zu wissen, erkennen im Gegentheil nur die nackte Prosa in solchem Verfahren; wir finden einen Haupt reiz der Instrumentalmusik in dem Unbestimmten, und begnügen uns daher mit der Erfassung der Idee im Allgemeinen, während wir das Einzelne dem freien Spiel der Phantasie überlassen. Diese feine Grenzlinie schien bei Berlioz nicht innegehalten; es kam hinzu, daß Lobe gerade die Seite, die wir tadeln, als die wesentliche bezeich nete. Hat doch Lobe immer eine die äußerste Bestimmtheit anstrebende Instru mentalmusik als die wahre bezeichnet, und in diesem Sinne z. B. den als verfehlt zu bezeichnenden Versuch gemacht, die Ouvertüre zum Don Juan Tact für Tact zu erklären, auf diese Weise unsere moderne Instrumentalmusik mit jenen alten Bildern, denen Zettel aus dem Munde gehen, um zu erklären, was sie bedenken, auf gleiche
20 In
diesem Abschnitt referiert Brendel seine Ansichten zu Berlioz, welche sich in der kurz zuvor erschienen ersten Auflage seiner Musikgeschichte finden (Brendel 1852 Geschichte der Musik, S. 513 f.) und die er in der zweiten Auflage von 1855 erheblich erweiterte; siehe dazu vorliegender Artikel, Anm. 63 und 64. 21 Siehe etwa Brendel 1850 Einige Worte über Malerei, in: NdS 1 Nr. 19.
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Linie stellend.22 Eine solche Vertretung der Berlioz’schen Richtung mußte darum gerade das Entgegengesetzte bewirken, mußte uns Alle in der hier ausgesprochenen Ansicht bestärken, und es war daher kein Wunder, wenn man unter solchen Um ständen mit Berlioz fertig zu sein glaubte, wenn man ihn als eine interessante Ab sonderlichkeit an ihren Ort stellte, wenn man zwar Aufführungen wünschte, oft in der That aber nur, um weitere Bestätigungen des hier Ausgesprochenen zu erhalten. So kam auch ich mit dieser Ansicht nach Weimar, und hörte zuerst in der Probe die Faustmusik23, von der der erste und zweite Theil aufgeführt wurde. Ich hatte keinen Text, und überließ mich daher um so ungestörter dem Eindruck des Ganzen. Die Einleitung ging vorüber, ohne daß mich im Augenblick Etwas besonders ge fesselt hätte. Der Bauerntanz unter der Linde24 erschien als gefälliges Musikstück, wie man es Berlioz in der Regel nicht zutraut, der prächtige Rakoczymarsch25 in teressirte mich als Musikstück an und für sich. Ich fand feine, geistreiche Züge, aber auch Bestätigungen dessen, was ich so eben ausgesprochen habe in den brennenden Farben der Instrumentation, in manchen Schroffheiten und Bizarrerien. In dieser Weise ging die Sache fort bis zum Auftreten des Mephistopheles26, dessen bedeut same, eigenthümliche Zeichnung mich im höheren Grade interessirte. Das Floh-[,] das Rattenlied27 erschienen äußerst geistreich aufgefaßt. Jetzt wehte mehr und mehr mich eine so poetische, deutsche Atmosphäre an, daß meine Theilnahme außeror dentlich wuchs, endlich aber bei dem Chor der Sylphen und Gnomen28 einen jener schönsten, begeisterten Momente inneren Lebens für mich hervorrief, einen jener Momente, wo sich plötzlich die innerste Tiefe einer bedeutenden Persönlichkeit vor uns entschleiert, hier die Hauptsache, weil nun mit einem Male das Berlioz’sche Wesen vor meinem geistigen Auge stand, und ich damit den Ausgangspunkt für ein sicheres Verständniß gewonnen hatte. Jetzt erkannte ich, wie wir bisher nur die Theile in Händen gehabt hatten, denen das geistige Band noch fehlte. Jetzt erschien auf ein Mal, was bisher an Berlioz störte und den Eingang in seine Werke erschwerte, im rechten Licht. Ich erkannte in ihm eine poetisch schaffende Künstlernatur, begabt mit Größe und Energie der Leidenschaft, ausgezeichnet durch hohe Intelligenz, zugleich beseelt von einer wunderbaren Zartheit, Innigkeit und Schwärmerei; uns nahe verwandt, eine Persönlichkeit, nach dieser Seite hin Lamartine29 ähnlich, zugleich ein Deutscher, und zugleich auch Franzose, aber keines allein und ausschließlich. Diese Doppelnatur insbesondere war es, welche mir für das Verständniß als [239] das Wichtigste erschien. Innerlich überwiegend deutsch, ist Berlioz wieder zu sehr Franzose in seiner Ausdrucksweise, in der Art wie er seine Intentionen zur Er scheinung bringt, um vollständig als Einer der Unsrigen zu erscheinen. Ganz deutsch, was hohes, ernstes Kunststreben, poetische Auffassung, was das Schaffen
22 Siehe Lobe 1846 Das Gehaltvolle in der Musik. 23 Berlioz, La Damnation de Faust (Fausts Verdammnis)
op. 24 (UA 1846). 24 Ebd., 1. Teil, 2. Szene, „Ronde des paysans“. 25 Ebd., 1. Teil, 3. Szene, „Marche hongroise“. 26 Ebd., 2. Teil, 5. Szene. 27 Ebd., 2. Teil, 6. Szene, „Chanson de Brander“. 28 Ebd., 2. Teil, 7. Szene, „Chœur de gnomes et de sylphes“. 29 Alphonse de Lamartine (1790 –1869), Dichter, Schriftsteller und Politiker. Brendel bezieht sich hier in seinem Urteil über den Dichter wahrscheinlich vornehmlich auf dessen frühe religiös-schwärmerischen Gedichte wie die Méditations poétiques (ED 1820), die Nouvelles Méditations (ED 1823) sowie die Sammlung Harmonies poétiques et religieuses (ED 1830).
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von innen heraus betrifft, fehlt ihm anderseits das deutsche Gemüth in dem specifi schen Sinne, in welchem wir diesen Ausdruck gebrauchen. Ist bei uns die Seite der Empfindung die überwiegend hervortretende, so erscheint dieselbe bei Berlioz ver deckt, verschlossen in einer Schale, welche wir erst durchbrechen müssen. Bei dem Deutschen ist das Gemüth der Ausgangspunct, es ist die innere organische Einheit, welche alle anderen Thätigkeiten des Geistes verknüpft, es ist das vorwaltende Ver mögen. Bei dem Franzosen erscheint ein gleiches künstlerisches Schaffen zunächst nicht als Aeußerung des Gemüths; Geist, Verstand, eine abstracte, nicht dem Boden des Gefühls unmittelbar entwachsene Thätigkeit der Phantasie treten überwiegend hervor. Bei uns schwimmt die Empfindung, so zu sagen, stets oben auf, sie ist das, womit uns das deutsche Werk zunächst entgegentritt, sie ist zugleich das, was wir demselben vorzugsweise entgegen bringen, hier ruht dieselbe verdeckt im tiefsten Grunde, und ist daher zunächst und ohne tieferes Verständniß fast gar nicht wahr nehmbar. Erwägen wir jetzt, wie Berlioz vorzugsweise sich auf dem Gebiet der Instru mentalmusik bewegt, in einer Sphäre also, welche specifisch deutsch ist, bedenken wir, wie gerade hier unser innerstes Eigenthum einer fremden Nationalität ent sprechend umgestaltet erscheint, so erklärt sich das häufig im ersten Augenblick Abstoßende für uns; wir gewinnen jedoch unter diesem Gesichtspunkt den Ein gang, wir lernen das mit uns innerlichst Verwandte in abweichender äußerer Ge staltung, unter großen Verschiedenheiten das Gleichartige erfassen, wir begreifen jene Verschiedenheiten als nothwendige Ausdrucksweisen einer abweichenden Natur, wir gelangen zu der Einsicht, wie wir nicht, unserer Gewohnheit gemäß, unmittelbar mit dem Gefühl herantreten dürfen, nicht sogleich verlangen dürfen, nach dieser Seite hin uns angesprochen zu fühlen, wir gewinnen mit einem Worte den Schlüssel, uns das zu deuten, was auf den ersten Blick äußerlich berechnet, bizarr, seltsam erscheint, und wenn wir auch nicht immer unmittelbar zu sympathi siren vermögen, so sagt uns doch sofort der Verstand, daß hier ebenfalls eine Be rechtigung vorhanden ist. So steht Berlioz vor uns da[,] groß und gewaltig in seiner poetischen Conception, nach dieser Seite hin entschieden deutsch, der Ersten Einer, in der Art aber wie sich dieselbe innerlich in ihm gestaltet, in der Art, wie er sie äußerlich zur Erscheinung bringt, beengt von den Schranken seiner Nationalität, hier zum Theil im Widerstreit mit uns, hier auch zu Zeiten vielleicht auf einen Abweg gerathend. Es ist hier der Ort, jene Fragen aufzuwerfen, auf die schon im Eingange hingedeutet wurde, Fra gen, die ich zur Zeit indeß nur ausstellen will, da ich nach so kurzer Bekanntschaft eine Lösung derselben noch nicht unternehmen möchte, um so mehr, da für die selben die Grundprincipien überhaupt noch nicht ausreichend erfaßt erscheinen. Berlioz ist nicht blos die Kehrseite von Beethoven, es ist nicht Berechnung, was uns im ersten Augenblick als solche erscheint, die Erfindung geht nicht von den Instru menten aus, wie man immer gesagt hat, es stellt sich lediglich Alles äußerlicher dar, die Empfindung schwimmt nicht so oben auf, wie bei uns; diese etwas herbe, bizarre Weise, diese brennenden Farben der Instrumentation, diese scheinbare Richtung auf Effekt sind der nothwendige Ausdruck französischen Wesens. Ob nun aber dieses Wesen, dieses französische Naturell ausreicht, Kunstwerke im deutschen Sinne auf dem Gebiet der Instrumentalmusik zu schaffen, ich meine, das Höchste innerhalb
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dieser Sphäre zu erreichen, ob nicht der innersten Natur der Instrumentalmusik doch zu Zeiten zu nahe getreten wird, ob Berlioz auf seinem Wege sich nicht doch zuweilen bis zur Häßlichkeit verirrt – wenn auch nicht in den in Weimar aufgeführ ten Werken – dieß ist es, was ich im Augenblick zu entscheiden noch nicht wage. So viel ist richtig: die reiche Gefühlswelt wie bei Beethoven ist nicht in dem Grade bei ihm vorhanden. Bei uns ferner, bei Beethoven insbesondere, sind alle Gegensätze geeint durch das innere Band der Empfindung; hier treten sie, für den ersten Blick wenigstens, losgelöst, selbstständig, ohne Vermittlung einander gegenüber; bei Beet hoven ist alle Schilderung stets Ausdruck der Empfindung,30 hier erscheint dieselbe zuweilen so äußerlich, daß ich zweifelhaft gewesen bin, ob befremdliche Leere, wirkliche Inhaltslosigkeit, oder eine Objcetivität des Styls vorhanden war, so groß und hoch, daß sie für den Moment noch unfaßbar erschien. Bei Beethoven’s Werken endlich vermag sich die Empfindung einem ruhigen, ungestörten Genusse hinzuge ben, es ist das ungehemmte Ausströmen derselben, welches wir vor uns haben und die Instrumentation ist der blühende Farbenschmuck für dieselbe, hier werden wir aufgeschreckt, hier ist manches, wenigstens für das deutsche Gefühl Verletzende. Ich habe, wie schon gesagt, diese Fragen hier nur anregen, keineswegs entscheiden wollen. Ausdrücklich aber sei bemerkt, daß dieselben nur dann mit Grund zur Ent scheidung gebracht werden können, wenn man über die oben ausgesprochene Hauptbestimmung über [240] Berlioz im Reinen ist. Nur dann erst hat man ein Recht, über sie zu verhandeln, während man Berlioz entschieden Unrecht thun würde, wenn man sie beantworten wollte, ohne jene ächt künstlerische Seite in ihm anerkannt zu haben. Sei dem aber zur Zeit wie ihm wolle, unter allen Umständen würden wir eine ganz falsche Stellung, Berlioz gegenüber, einnehmen, wenn wir verlangen wollten, daß er vollständig uns angehören solle. Wir lassen die französi schen Werke der Poesie und Malerei in ihrer Eigenthümlichkeit gelten; warum deßhalb nicht auch die der Musik, insbesondere, wenn sie, wie im vorliegenden Falle, das bedeutendste sind, was Frankreich in der Neuzeit überhaupt auf musika lischem Gebiet geleistet hat. Nachdem ich jetzt die allgemeinen Gesichtspunkte festgestellt zu haben glaube, ist es möglich geworden, zur Besprechung des Einzelnen überzugehen. Zur Auf führung kamen im Concert am 20sten November die Symphonie „Romeo und Julie“31 und, wie schon erwähnt, der erste und zweite Theil der Faustlegende; am folgenden Abend die Oper „Benvenuto Cellini“32. Es war vortheilhaft für meine Bekanntschaft mit Berlioz’ Werken, daß ich zuerst die Faustmusik kennen lernte, und diese genauer, da sie in der Probe, welcher ich beiwohnte, gemacht wurde. Ich habe auch nachher dies Werk als das bedeutendste erkannt, ihm den Vorzug vor der Musik zu Romeo und Julie gegeben, während ich die Oper, so Großartiges sie auch enthält, diesen Schöpfungen gegenüber in die zweite Reihe stellen möchte. Berlioz hat die Musik zu Romeo und Julie mit dem Namen einer „dramatischen Vocal- und Instrumentalsymphonie“ bezeichnet, während die zu „Faust’s Höllenfahrt“ einfach
30 Anspielung
auf die berühmte handschriftliche Bemerkung Beethovens auf der ersten Partiturseite der Symphonie Nr. 6 A-Dur Pastorale op. 68 (ED 1809) „Mehr Ausdruck der Empfindung als Malerey“. 31 Berlioz, Roméo et Juliette op. 17 (EA 1839). 32 Berlioz, Benvenuto Cellini (UA 1838).
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den Titel einer „Legende“ führt. Entsteht nun für uns zunächst hier die Frage nach der Kunstform im Allgemeinen, so führt uns die Beantwortung derselben dahin, die geschichtliche Stellung des Tondichters bezeichnen zu können. Es hat seinen guten Grund, wenn bisher Berlioz mit seiner gesammten Thätigkeit als Problem vor uns stand, denn jetzt erst ist der Standpunkt gewonnen, von welchem aus rückwärts die Erklärung seiner Erscheinung möglich ist. Wie Beethoven sich vom Theater ab wandte, weil er mit unserer nichtswürdigen Opernwirthschaft nichts mehr zu thun haben wollte, so machte auch Berlioz ähnliche Erfahrungen. Seine erste Oper33 kam gar nicht zur Aufführung, Cellini aber wurde bald zurückgelegt,34 und dem Autor alle Hoffnung für Weiteres benommen. Das Gebiet der reinen Instrumentalmusik aber war in der Hauptsache erschöpft; schon Beethoven hatte in der neunten Sym phonie den Fingerzeig für die Wendung gegeben[,] welche jetzt eintreten mußte. Für Berlioz blieb daher nichts übrig, als zunächst in einer Zwittergattung Befriedigung zu suchen. Wie Händel über die Oper seiner Zeit hinaus getrieben wurde, unvermögend aber, das musikalische Drama zu erreichen, zum Oratorium gelangte, so wurde Berlioz, noch nicht vermögend, das Kunstwerk der Zukunft, den Wagner’schen Standpunkt zu erreichen, zu dieser seltsamen, in der Mitte liegenden Form gedrängt. Berlioz erscheint darum als einer der bedeutendsten Vermittler zwischen Beethoven und Wagner, und wenn es nicht zu gewagt erscheint, möchte ich darum die Aufeinanderfolge der Spitzen der neu esten Kunstentwicklung in folgender Reihe darstellen: Beethoven, Schumann, Berlioz, Wagner. Berlioz’ Schöpfungen bezeichnen den Drang, aus dem Bisherigen heraus zukommen, ohne daß das Ziel in ihnen wirklich ergriffen ist; sie gehören keiner der bisherigen Gattungen ausschließlich an, sie schweifen aus einer in die andere. Ro meo und Julie möchte ich am liebsten ein Phantasiestück über Shakespeare’s Dich tung nennen, während Faust in seiner Form schon geklärter erscheint, und dem wirklichen musikalischen Drama um Vieles näher steht. Aus der bezeichneten Stel lung erklärt sich auch das Formlose in Romeo und Julie, was die Harmonie der einzelnen Hauptbestandtheile, die Zusammenstellung derselben zu einem größeren Ganzen betrifft. Eine unverhältnißmäßig große Einleitung eröffnet das Ganze; ein untergeordnetes Moment, die Erzählung von der Königin Mab tritt, jenen Gesichts punkt der höheren Einheit festgehalten, störend hervor. Auch in der Faustlegende nimmt der Rakoczymarsch einen unverhältnißmäßig großen Raum ein, was um so mehr in die Wagschaale fällt, da er streng genommen eigentlich gar nicht dahin gehört. Die gewählte Form vermochte keine ausreichende Befriedigung zu gewäh ren, und überall sehen wir daher die Fesseln derselben zersprengt. [251] Dem Gesagten zufolge erhellt, wie man von der Forderung einer höheren künstlerischen Einheit, von einer harmonischen Gruppirung der Theile fast ganz absehen muß; es liegt in der Natur der Sache, in der Natur der gewählten Formen, daß eine solche nicht wohl erreicht werden konnte. So nehmen auch die Neben partien im Faust einen überwiegenden Raum ein, während die Hauptsache in den Hintergrund tritt. Man kann dieß unumwunden eingestehen, ohne Berlioz zu nahe zu treten, denn er hat so Vortreffliches im Einzelnen sowohl, als auch was Geist und
Les Francs-Juges (Die Vehmrichter, teilweise UA 1828). 34 Benvenuto Cellini war 1838 in Paris uraufgeführt worden und nach einigen wenigen Aufführungen in Vergessenheit geraten.
33 Berlioz,
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Charakter der Auffassung im Ganzen betrifft, geleistet, daß sein Verdienst immer noch ein Großes bleibt. Bedenkt man, welche Schwierigkeiten Berlioz als Franzosen entgegenstanden, indem er es unternahm, gerade die innerlichsten Stoffe sich an zueignen, und zu bearbeiten, so muß man bewundern, was er geleistet hat. In Romeo und Julie tritt uns eine Gluth, eine Schwärmerei entgegen, Shakespeares würdig; so in den hinreißend schönen Strophen mit Chor für Alt-Solo35, in der Einleitung, in den späteren Liebesscenen36. Tief ergreifend ist jenes kunstreiche Musikstück mit der Ueberschrift: Juliens Leichenbegängniß37, imposant der Schluß, obschon in der Gestalt, wie er hier vorgeführt wurde, zu gedehnt; irre ich indeß nicht, so war hier Etwas gestrichen, ein Umstand, der zur Erklärung des Monotonen dieses Schlusses dient. Das Instrumental-Scherzo endlich, welches den Namen „Kö nigin Mab“38 führt, ist diejenige von Berlioz’s Compositionen, welche überall, wo sie aufgeführt wurde, zuerst und am meisten gezündet hat. Ich bin des Eindrucks [252] derselben noch nicht ganz sicher, da ich sie nur ein Mal hörte; ich blieb zweifelhaft ob wir hier eine Virtuosenleistung, was Instrumentation betrifft, oder eine wirklich poetische Schöpfung vor uns haben. Es war dieser zweifelhafte Ein druck für mich auch aus dem Grunde nicht wohl anders möglich, da die zwar sehr gute Ausführung doch noch nicht jene zweifellose Sicherheit, jene Leichtigkeit der Darstellung, jenes glückliche Gelingen zeigte, welches nothwendig ist, um den Zu hörer ganz in die Region ungestörten Genusses zu erheben. Ich spreche damit durchaus keinen Tadel aus, denn um in der Darstellung bis zu diesem Punkte zu gelangen, ist eine jahrelange Vertrautheit nothwendig. Unsere Orchester müssen sich überhaupt erst, eben so wie es einst bei Beethoven der Fall war, an die Forderungen, die Berlioz an sie stellt[,] gewöhnen. Insbesondere ist es das rhythmische Element, welches Schwierigkeiten bereitet. Es fehlt unsern deutschen Orchestern bei aller Gewöhnung an Präcision doch noch das Exacte, welches dem Franzosen natürlicher ist. Der Deutsche hat immer eine gewisse Neigung zum Sichgehen lassen. – Muß ich nun schon in Romeo und Julie diese tiefinnerliche Seite hervorheben, so er scheint dieselbe fast noch gesteigert in der Faustmusik. Am meisten begegnen wir hier einem deutschen Sinne, ja einer deutschen Naturanschauung. Es fehlt auch hier nicht an Frappantem, an das man sich erst gewöhnen muß, wir erblicken auch hier das eigenthümlich Gestaltete französischer Auffassung, es ist jedoch hier zugleich eine uns verwandte Seite so entschieden ausgeprägt, daß man, insbesondere wenn man mit der bisherigen Vorstellung von Berlioz zu diesem Werke herantritt, den Tonsetzer kaum wieder erkennt. In dem Chor der Sylphen und Gnomen39 na mentlich hat derselbe Ausgezeichnetes geleistet; man hat hier unmittelbar das Be wußtsein poetischer Eingebung, mehr noch, als bei der „Königin Mab.“ Ueber die Oper „Benvenuto Cellini“ haben diese Blätter schon im vorigen Bande den Anfang eines ausführlichen Berichtes gebracht.40 Leider ist derselbe bis jetzt unvollständig geblieben, doch hat mir der Hr. Verfasser die Versicherung gegeben,
Roméo et Juliette, 1. Teil, „Strophes“. 36 Ebd., 3. Teil, „Scène d’amour“. 37 Ebd., 5. Teil „Convoi funèbre de Juliette“. 38 Ebd., 4. Teil „La Reine Mab, ou la Fée des Songes – Scherzo“. 39 Berlioz, La Damnation de Faust, 2. Teil, 7. Szene, „Chœur de gnomes et de sylphes – Songe de Faust“. 40 Siehe Bülow 1852 Aus Weimar. 35 Berlioz,
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baldigst den noch fehlenden Schluß liefern zu wollen.41 Ich kann mich darum hier um so mehr auf die Angabe einiger Hauptgesichtspunkte beschränken, als ein ein maliges Anhören, dem Reichthum dieser Musik gegenüber, überhaupt mir erst eine flüchtige Orientirung ermöglicht. Daß ich die Oper den im Concert gehörten Tonstücken gegenüber in zweite Linie stellen möchte, habe ich schon bemerkt. Jedenfalls sind die Letzteren, sicher wenigstens die Faustmusik, späteren Ursprungs, und auch dieß würde erklären, wenn mir diese reifer, abgeklärter erschienen, während die Oper noch zu sehr den Cha rakter eines früheren Werkes trägt, noch nicht diese freie Entfaltung der Kräfte zeigt. Trotz alle dem tritt uns in dieser Musik ein solcher Reichthum entgegen, daß man hier ganz eigentlich das Bewußtsein hat, einem Koloß gegenüber zu stehen. Sie ist für das erste Hören überwältigend, denn man weiß öfter gar nicht, was man zuerst darin erfassen soll. Ich sage dieß freilich nicht im ausschließlich lobenden, ich sage es zugleich im tadelnden Sinn. Wohl gewahren wir sogleich eine feste Charakter zeichnung, aber diese Festigkeit erscheint häufig zugleich als identisch mit einer gewissen Starrheit und Verbissenheit, welcher Leichtigkeit, Liebenswürdigkeit und Eingänglichkeit fern liegen. In der Instrumentation herrscht ein außerordentlich großes individuelles Leben; das blühende Colorit Wagner’s aber habe ich darin nicht gefunden. Mit dem Ungesangmäßigen in der Behandlung der Singstimmen, worü ber neuerdings viel Geschrei erhoben wurde, hat es in Etwas seine Richtigkeit, indeß doch kaum in einem höheren Grade, als z. B. im Fidelio42 der Fall ist. Was die Form betrifft, so ist sie im Ganzen noch die der alten Oper, und neuere Forderungen sind daher hier noch nicht anzulegen. Daß der Text großen Mängeln unterliegt, obschon der Stoff an sich gar nicht ungeeignet erscheint, ist in dies. Bl. schon ausgesprochen worden.43 Die früheren vier Acte sind jetzt in drei zusammengezogen, wodurch freilich wieder Uebelstände anderer Art entstanden sind.44 Wie die Sachen einmal stehen, ist dieß nicht mehr zu ändern, und man muß sich daher genügen lassen an dem, was jetzt noch zu verbessern thunlich erschien. Indem ich hier das Ergebniß meiner ersten, flüchtigen Bekanntschaft ausspreche, ist es möglich, daß ich von dem Concert schon für den Augenblick vollständig gesättigt, der Oper nicht mehr die selbe frische Empfänglichkeit entgegenbrachte. Ich ersuche deßhalb unseren Wei marischen Hrn. Berichterstatter, hier, wenn nöthig, zu berichtigen. Möge sich indeß auch ein genauer eingehendes Urtheil gestalten wie es wolle, ein großes Meisterstück enthält die Oper, was unter allen Umständen Anerkennung verdient, ja was allein schon die Aufführung derselben rechtfertigen würde. Es ist dieß das zweite Finale, der Carneval, durch seine kunstvolle Architektonik, durch die außerordentliche
41 Dazu
ist es nicht gekommen. Der Artikel bricht vor der musikalischen Analyse des Werks ab. Fidelio (UA 1814). 43 Siehe Bülow 1852 Aus Weimar, S. 206 f. 44 Hier irrt Bren del (ebenso wie der Weimarer Berichterstatter, der in Nr. 14 und 18 über die Weimarer Erstauf führung schrieb) insofern, als die erste Fassung der Oper, die 1838 in Paris uraufgeführt worden war, nur zwei Akte bzw. vier Bilder umfasste. Auf Liszts Anregung überarbeitete Berlioz die Oper für die Weimarer Erstaufführung am 20. März 1852 (Wiederholung am 24. März), behielt jedoch zunächst die Unterteilung in zwei Akte bei. Erst für die weiteren Aufführungen im Rahmen der „Berlioz-Woche“ im November 1852 akzeptierte Berlioz einige von Liszts Kürzungsvorschlägen und die Neueinteilung in drei Akte. 42 Beethoven,
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Klarheit bei der größten Mannichfaltigkeit. Dieß Finale wird in aller Opernmusik nur wenige seines Gleichen finden. Bezüglich der Ausführung, so muß ich zunächst des wohlthuenden Eindrucks gedenken, den das Weimarische Kunstleben im Allgemeinen auf den Fremden macht. Es waren große Anstrengungen erforderlich gewesen, um diese schwierigsten Werke in so kurzer Frist zur Aufführung zu bringen. Aber nirgends war [253] eine geistige Ermüdung sichtbar, im Gegentheil zeigte sich das Orchester frisch und von Begeisterung erfüllt. Mehrere Schüler Liszt’s, v. Bülow45, Pruckner46, Klindworth47 wirkten darin beim Triangel, den antiken Cymbeln, den Becken u. s. w. mit; ich erwähne dieß, weil auch darin ein Beleg für das einmüthige Zusammenwirken zu finden. Auch die Sänger betheiligen sich in der Mehrzahl mit lebhaftem Interesse, und insbesondere sind hier, wie immer, Herr und Frau v. Milde48 rühmlichst zu nennen. Die Aufnahme beim Publikum war in einem Grade eine enthusiastische, wie ich sie nicht entfernt erwartet hatte. Der Kenner solcher Dinge unterscheidet leicht einen gemachten Beifall von einem thatsächlichen, das ganze Haus erfüllen den. Ein solcher war insbesondere im Concert vorhanden, das überhaupt zahlreicher besucht war als die Oper, die in derselben Woche freilich schon zum zweiten Male gegeben wurde. Berlioz hat bisher in Deutschland noch keine solche Aufnahme gefunden. Er wurde an jedem Abend zwei Mal gerufen, der Rakoczymarsch und der Gnomenchor im Faust Dacapo verlangt. Daß es zur Zeit noch nicht ganz an gegnerischen Stimmen fehlt, liegt auf der Hand; die Majorität des Publikums indeß ist jedenfalls vollständig gewonnen. Welche Ausdauer, welcher Muth für Liszt dazu gehört hatten, diesen Erfolg zu erzielen, die Oper insbesondere dem deutschen Publikum zugänglich zu machen, dieß wurde mir bei der Beschaffenheit dieses Werkes und im Hinblick auf die Verhältnisse klar. Nur möglich war es, wenn man, des endlichen Erfolges sicher, unbekümmert um alles Geschrei, wie er es gethan,
45 Hans
von Bülow (1830 –1894), Pianist, Dirigent und Komponist, studierte seit 1852 bei Liszt in Weimar, bevor er 1853 auf Konzertreise ging und sich danach zunächst in Berlin niederließ. 46 Dionys Pruckner (1834 –1896), Pianist, lebte von 1851 bis 1855 als Schüler Liszts in der Alten burg in Weimar. In dieser Zeit begleitete er Liszt auch auf Konzertreisen (u. a. zu den Musikfesten 1852 in Ballenstedt und 1853 in Karlsruhe) und nahm im November 1852 an den Festlichkeiten der von Liszt veranstalteten Berlioz-Woche teil. Neben Auftritten als Pianist war Pruckner ab 1858 bis zu seinem Lebensende Lehrer der Meisterklasse an der Musikschule in Stuttgart. 47 Karl Klindworth (1830 –1916), Pianist, Dirigent und Musikpädagoge, war ab 1852 Schüler Liszts in Weimar. Ab 1854 lebte er als Pianist und Klavierlehrer in London, wo er 1855 Wagner kennen lernte. Ab 1868 unterrichtete Klindworth eine Klavierklasse am Moskauer Konservatorium, bevor er sich 1882 in Berlin niederließ und dort von 1884 bis 1886 im Wechsel mit Joseph Joachim und Franz Wüllner die Philharmonischen Konzerte sowie die des örtlichen Wagner-Vereins leitete. 1883 gründete Klindworth eine Musikschule, die 1893 zum sogenannten „Klindworth-Schar wenka-Konservatorium“ vereinigt wurde. 48 Feodor von Milde (1821–1899), Sänger, wirkte gemeinsam mit seiner Frau Rosa von Milde (1825 –1906), geb. Agthe, ab 1848 am Weimarer Hof theater. Er sang als Bariton u. a. 1850 in der UA des Lohengrin die Rolle des Telramund sowie 1858 die Titelpartie in Peter Cornelius’ Barbier von Bagdad und blieb noch bis 1884 der Bühne treu. Seine Frau war als führende Sopranistin der Hofoper z. B. in den Rollen der Elisabeth, Elsa und Senta in den Ur- bzw. Erstaufführungen Wagner’scher Opern zu erleben, bis sie sich ab 1867 verstärkt dem Unterrichten zuwandte.
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unverrückt das hochgesteckte Ziel im Auge hält. Sehr glücklich insbesondere er schien mir die Wahl der aufgeführten Werke. Für Berlioz’s reine Instrumentalsachen, wenigstens für Viele derselben, ist zunächst wohl kaum der Eingang in Deutschland zu hoffen; diese Gesangscompositionen liegen näher, und dürften vielleicht auch das Bedeutendste, zugleich dasjenige sein, worin die fremde Nationalität uns minder schroff entgegentritt. Ein heiteres, geistig belebtes Festmahl am 22sten November schloß die schöne künstlerische Feier. Marr49, Genast50, Griepenkerl, v. Bülow u. A. brachten Toaste aus; Liszt und Berlioz ebenfalls, die dargebrachte Begrüßung beantwortend. Grie penkerl’s Toast, der die auch von uns oben schon erwähnte Einmüthigkeit in dem Kunstleben Weimar’s, die Hingebung an die Sache, die dort überall bemerkbar, hervorhob, gab Liszt Gelegenheit, sich überhaupt über sein Wollen auszusprechen. Genast charakterisirte in Berlioz insbesondere die Richtung auf Wahrheit in seinem Streben, u. s. f. Auch an äußeren Zeichen der Anerkennung fehlte es nicht. Der Hof hatte Berlioz den Weimarischen Orden vom weißen Falken51 verliehen, die Kapelle überreichte ihm durch Coßmann52 beim Diner einen silbernen Tactirstab. Gleich zeitig war im Saale ein neugefertigtes Bildniß von Berlioz, ein Basrelief in Gyps, ausgeführt von Hrn. v. Hoyer53, aufgestellt. So ist, nach dem Berlioz lange Jahre mit unerschütterlicher Consequenz und Ausdauer an dem als wahr Erkannten festgehalten hat und lieber der ärgsten Ver kennung sich aussetzte, als daß er sich bequemte Concessionen zu machen, jetzt die Zeit gerechterer Würdigung für ihn gekommen. Er wird, so weit ich jetzt beur theilen kann, zwar nicht die Stellung eines selbstständigen Mittelpunkts in Deutsch land einnehmen, seine Werke werden nicht zu so fest stehenden Bestandtheilen des Repertoirs gemacht werden können, wie die unserer ersten Meister, aber er wird als ein höchst bedeutendes Glied in der Entwicklung unserer neuesten Musik aner kannt werden müssen, und unsere Concerte werden von jetzt an nicht länger sich gegen ihn absperren dürfen. Insbesondere erscheint seine Faustmusik zur Einführung
49 Heinrich
Marr (1797 –1871), Schauspieler und Regisseur. Nach Engagements in Lübeck, Kas sel, Hannover, Braunschweig, Wien und Leipzig wirkte Marr ab 1848 am Thalia-Theater in Hamburg. Von 1852 bis 1857 war Marr künstlerischer Theaterdirektor am Weimarer Hoftheater und geriet in dieser Funktion mit Liszt wegen Verteilung der finanziellen Mittel für Musik- und Sprechtheater in Konflikt. Anschließend kehrte Marr ans Thalia-Theater zurück. 50 Eduard Ge nast (1797 –1866), Sänger, Schauspieler, Komponist und Regisseur gehörte ab 1829 dem Ensemble des Weimarer Hoftheaters an und trat dort in den Jahren von 1833 bis 1851 auch als Opernregisseur in Erscheinung. Nach seiner Pensionierung 1860 wirkte Genast als Gesangslehrer am Leipziger Konservatorium. 51 Der „Hausorden vom Weißen Falken“ war als höchster Verdienstorden des Großherzogtums Sachsen-Weimar-Eisenach 1732 von Herzog Ernst August gestiftet worden. Träger waren neben Angehörigen der Herzogsfamilie und verdienten Beamten u. a. auch Johann Wolfgang von Goethe sowie der Konzertmeister des Gewandhauses, Ferdinand David. 52 Bern hard Cossmann (1822 –1910) war von 1850 bis 1860 Cellist in der Weimarer Hofkapelle und trat daneben als Solist und Kammermusiker u. a. im von Joseph Joachim geführten Streichquartett auf. In den Jahren 1866 bis 1870 hatte Cossmann eine Celloprofessur am Konservatorium Moskau und seit 1878 am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt am Main inne. 53 Wolf von Hoyer (1806 –1873), sächsischer Bildhauer, schuf u. a. die Marmorstatue der Flora im Park des Schlosses Weesenstein bei Dresden.
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geeignet, und es ist deßhalb zu wünschen, daß dieselbe bald im Druck erscheinen möge.54 Man versuche es, und vorausgesetzt, daß man mit der nöthigen Vor- und Umsicht verfährt, so wird der Erfolg nicht ausbleiben. Zu wünschen ist dieß selbst im eigenen Interesse unserer Concertdirectoren, denn wie die Sachen jetzt stehen, gelten von ihnen jene Worte des Mephistopheles in Göthe’s Faust, wo er einen „Kerl der speculirt mit einem Thier auf dürrer Haide,“ vergleicht, „von einem bösen Geist im Kreis herumgeführt, und rings herum ist schöne, fette Weide.“55 So beschränken sich unsere Concertdircetoren auf das magerste Repertoir, auf an sich zwar zum Theil ausgezeichnete[,] aber für den Moment zum Ueberdruß gehörte Werke, wäh rend sie eine große Menge des Trefflichen, was die neueste Zeit hervorgebracht, ganz unbeachtet lassen. – Ein den anwesenden Fremden versprochenes Streichquartett kam in Folge großer Ermüdung einiger der betheiligten Herren nicht zu Stande. Dafür hörten wir von Hrn. Winterberger56 auf der Orgel in der Stadtkirche recht gut vorgetragen Liszt’s Prophetenphantasie57. Hr. v. Bülow erfreute privatim durch einige Pianofortevor träge, u. A. die Tannhäuser-Ouvertüre nach dem Arrangement von Liszt58, eines der gewaltigsten Stücke für Pianoforte, das er meisterhaft spielte. – Zum Schluß sei es mir gestattet, bei gegebener Veranlassung noch einmal auf eine Bemerkung, die ich im Eingange dieses Artikels machte, zurückzukommen. Ich bezeichnete dort als eine der wichtigsten [254] Aufgaben einer musikalischen Zei tung die Förderung des Neuen, überhaupt Dessen, was noch nicht zur Anerkennung gelangt ist. Es ist natürlich, daß bei einer solchen Tendenz ausreichend besprochenes Aelteres momentan in den Hintergrund tritt, natürlich auch, wenn jenes nicht aus schließlich festgehalten werden kann, im Gegentheil in der raschen Folge der Er scheinungen das schon Festgestellte sich modificirt, wenn das Aeltere durch das Neue ergänzt wird. Man würde uns indeß sehr ungerecht beurtheilen, wenn man meinen wollte, daß wir, sobald eine neue Erscheinung auftritt, uns von der älteren abzuwen den gewohnt wären, wenn man meinen wollte, daß wir einer einmal ausgesproche nen Ueberzeugung untreu würden. Ich habe hier insbesondere R. Schumann, die Stellung, welche diese Bl. früher ihm gegenüber einnahmen, im Sinne. Man weiß, daß wir früher lange Zeit hindurch unter den damals erst emporstrebenden Künst lern in Schumann die bedeutendste musikalische Erscheinung der Gegenwart er kannten, man weiß auch, daß neuerdings unsere Wege etwas auseinander gegangen
Werk erschien 1854 in Paris im Druck. 55 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, „Studier zimmer“, V. 1830 –1833: „Ich sag’ es dir: ein Kerl der speculirt, / Ist wie ein Thier, auf dürrer Heide / Von einem bösen Geist im Kreis herum geführt, / Und rings umher liegt schöne grüne Weide.“ 56 Alexander Winterberger (1834 –1914), Organist und Komponist, war Schüler Liszts in Weimar. 57 Franz Liszt, Fantasie und Fuge über den Choral „Ad nos, ad salutarem undam“ S 259 (ED 1852). 58 Liszt, Ouvertüre zu Tannhäuser S 442 (ED 1849). 54 Das
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sind,59 und einzelne Mitarbeiter dieser Bl. Veranlassung genommen haben, hin und wieder gegen ihn zu polemisiren.60 Es hat sich Dieser und Jener über diese Wendung gewundert, ja man hat gesagt, daß wir selbst unserer früheren Ueberzeugung auf solche Weise entgegengetreten sind, daß wir niederreißen, was wir früher gebaut hatten.61 Ich benutze diese Gelegenheit, zu erklären, daß an alle Dem kein wahres Wort ist. So viel ist richtig, daß mehrere der neuesten Werke Schumann’s nicht mehr die frühere Sympathie in uns erweckten, und daß diese Bl. Veranlassung genommen haben, dies auszusprechen. Ist aber jetzt unsere Stellung eine einigermaßen pole mische, so hat diese doch stets das Bewußtsein des Großen und Schönen, was Schumann geleistet hat, zur Voraussetzung. Wir halten durchaus fest an Dem, was wir früher gesagt haben, und nur in dem Urtheil des Augenblicks ist eine Veränderung eingetre ten. Man hat bisher, offen sei es ausgesprochen, von einer freien und unabhängigen Kritik auf musikalischem Gebiet, von einer Kritik, die sich nicht scheut, auch dem Freunde wehe zu thun, wenn es die Sache, wenn es die Ueberzeugung fordert, die im schlimmsten Fall, wenn auch mit Schmerz, ein schönes persönliches Verhältniß zum Opfer bringt, noch keine rechte Erfahrung gehabt. Unsere Kritik ist thatsäch lich, so oft sie auch einen Anlauf zu fester Haltung und unabhängiger Stellung nahm, immer wieder irgend welchen Einflüssen unterlegen, und darin untergegangen. Das ist insbesondere das Unglück gewesen, daß man stets, statt die Person der Sache unterzuordnen, das Umgekehrte gethan hat, daß man, statt im weiteren Fortgang genau den Moment zu erkennen, wo beide Interessen sich scheiden, immer bestrebt gewesen ist, dieselben, auch wenn sie sich widerstrebten, vereinigt zu erhalten. Die Treue für die Person ist sehr häufig eine Untreue an der Sache geworden, während doch das Persönliche der Oeffentlichkeit gegenüber ein unwichtigeres Moment ist. Jenes Cliquenwesen, welches unsere musikalischen Zustände untergräbt, hat darin seine Entstehung gefunden, und wird leider von Vielen noch immer unterstützt. Solchen Zuständen gegenüber habe ich immer als Ziel meines Strebens vor Augen gehabt, unbekümmert um mein subjectives Wohlbefinden und die Vortheile oder Nachtheile, welche mir daraus erwuchsen, allein der Sache zu leben. Ich habe die Aufgabe einer unabhängigen und unparteiischen Kritik darin gefunden, mit den Erscheinungen fortzugehen, nicht aber darin, bei veränderten Zuständen, welche das früher Gesagte einer neuesten Wendung gegenüber nicht mehr in dem Grade gelten lassen, hartnäckig daran festzuhalten. Ich vermag nur in einem solchen Ver halten geistige Regsamkeit und Lebendigkeit zu erblicken, und was auf diese Weise leicht als Untreue gegen die Person, als Untreue gegen die eigene frühere Ueber zeugung erscheint, ist im Gegentheil das härteste Opfer, welches der Sache darge bracht wird. Aehnliches gilt auch von einem Verfahren, welches, so lange eine Er scheinung neu und unerkannt oder nur zum Theil erkannt dasteht, diese vorzugsweise accentuirt. Ist Das, was auf diese Weise hervorgehoben wird, später Gemeingut
spielt hier wahrscheinlich auf seine negative Rezension von Schumanns Oper Genoveva im Jahre 1850 an (siehe Brendel 1850 Genoveva). 60 Allen voran Theodor Uhlig hatte Schumanns jüngst erschienene Werke in der NZfM kurz zuvor hart kritisiert (siehe Uhlig 1852 Robert Schumann sowie Uhlig 1852 Schumann, Op. 97. Dritte Symphonie). 61 Siehe etwa Schaeffer 1852 Über Richard Wagner’s Lohengrin, in: NdS 1 Nr. 31. 59 Brendel
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geworden, wie dies z. B. gegenwärtig in Bezug auf Schumann der Fall, so hört von selbst die Nothwendigkeit auf, insbesondere darauf Gewicht zu legen. Eine solche Erscheinung tritt mit anderen schon anerkannten in gleiche Linie, während Neue res dann wieder eine ausschließlichere Bevorzugung fordert. Die ältere Erscheinung kann noch immer Gegenstand lebhaften Meinungsaustausches sein; das früher Fest gestellte aber wird dadurch in seinen Hauptpunkten nicht im mindesten erschüttert.
Kommentar Anlässlich der ersten von Liszt veranstalteten Berlioz-Woche im November 1852 in Weimar widmete Brendel Berlioz die vorliegende Besprechung, in welcher er nicht nur ausführlich auf die in diesem Rahmen aufgeführten Werke – die Oper Benvenuto Cellini, Roméo et Juliette und Teile aus La Damnation de Faust – einging, sondern erstmals auch generell Stellung zu dem französischen Komponisten bezog. Dem Artikel kommt insofern eine herausragende Stellung zu, als er einer der Wegbereiter für die Identitätskonstruktion Weimars als Zentrum der musikalischen Avantgarde werden sollte. Obwohl Brendel die musikhistorische Rolle Berlioz’ als die eines „Vermittlers“ zwischen Ludwig van Beethoven und Wagner interpretiert und entsprechend die „Aufeinanderfolge der Spitzen der neuesten Kunstentwicklung“ mit „Beethoven, Schumann, Berlioz, Wagner“62 benennt, ist der Text doch durch eine eher ambivalente und zuweilen unentschiedene Haltung Brendels gegenüber dem französischen Komponisten geprägt, indem er etwa konstatiert, dass bei diesem „die reiche Gefühlswelt wie bei Beethoven“63 fehle. Den Hintergrund hierfür bildet Brendels in Herders ‚Volksgeisthypothese‘ wurzelnde Vorstellung, Berlioz sei aufgrund seiner französischen Herkunft nicht in der Lage, ‚innerliche‘ deutsche Instrumentalmusik zu schaffen – eine Ansicht, die Brendel 1852 auch in der ersten Auflage seiner Musikgeschichte vertreten hatte.64 Für deren zweite Auflage von 1855 erweiterte Brendel
Artikel, S. 371 [240]. 63 Ebd., S. 370 [239]. 64 Brendel 1852 Geschichte der Musik, S. 512 – 515. Dort heißt es: „Berlioz, über den das Urtheil zur Zeit immer noch schwankt, ist, so weit wir ihn kennen, nicht zur Vollendung gekommen. Schon sein für Instrumentalmusik nicht günstig organisirter Nationalcharakter bereitet ihm Hindernisse und es liegt hierin zugleich der Grund, wesshalb er bei uns weniger festen Fuss fassen konnte. […] Wir sehen hier das was Beethoven wollte noch weiter fortgeführt, höchste Bestimmtheit des Ausdrucks. Darum haben wir bei ihm als den hervorstechendsten Zug ein ausserordentliches Talent für Charakteristik; er hat darin so Schlagendes, als nur möglich geleistet. Hierin liegt aber auch zugleich sein Fehler. Er hat diese Bestimmtheit bis zum Extrem geführt, er giebt überwiegend Einzelheiten, aber weniger ein Ganzes, die einzelnen Momente sind übermächtig, das Ganze besteht aus diesen einzelnen Schil derungen, und es fehlt an jener Alles bewältigenden Einheit, jener Gesammtstimmung, welche das Ganze in Fluss bringt, das Einzelne zum verschwindenden Moment macht. […] Hierzu kommt 62 Vorliegender
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den Abschnitt über Berlioz beträchtlich und übernahm dazu weite Teile aus dem vorliegenden Artikel, wobei er aufgrund der Kenntnis weiterer Werke seine Aussagen zugunsten Berlioz’ bereits etwas relativierte,65 nicht ohne jedoch an der bereits 1850 geäußerte Einschätzung bezüglich des ‚äußerlichen‘ Charakters der Werke des Künstlers,66 die sich auch noch 1857 findet,67 festzuhalten. Umso bemerkenswerter ist daher die Tatsache, dass im Jahr 1859 in Brendels Rede „Zur Anbahnung einer Verständigung“ für ihn schließlich das ideelle Anknüpfen von Berlioz an Beethoven offenbar so sehr überwog, dass er den Franzosen gar als „deutschen Künstler“ bezeichnete und von nun an zum Triumvirat der just proklamierten „neudeutschen Schule“ zählte.68 Bedeutung kommt dem Artikel darüber hinaus durch den Nachsatz zu, in welchem Brendel sein publizistisches Eintreten für Berlioz erstmals mit einer expliziten Stellungnahme zu seinem sich geänderten Verhältnis zu Robert Schumann, dem Gründer der NZfM, verknüpfte und auf sich mehrende Stimmen in anderen Zeitschriften reagierte, welche dies als
sein französisches Naturell, der Mangel deutscher Innerlichkeit, dass überwiegend Aeusserliche seiner Richtung, dass z. B. die Instrumentation nicht Ausdruck des Innern ist, sondern wie bei den Virtuosen, der Gedanke durch die Instrumente bestimmt wird. […] Es fehlt das deutsche Gemüth, diese innerliche Einheit, die Instrumentalmusik aber vermag nur auf diesem Boden sich zu bewe gen und geräth ausserdem leicht in Widerspruch mit ihrem Wesen.“ 65 Brendel 1855 Geschichte der Musik, S. 254: „Nachdem ich das eben Mitgetheilte vorausgeschickt, bleibt mir nur übrig, in Kürze Ihnen anzudeuten, in welcher Weise sich mein Urtheil neuerdings festgestellt hat. Hier muss ich nun vor allen Dingen bemerken, dass Berlioz bei fortgesetzter Bekanntschaft mit seinen Werken mir immer bedeutender und grösser erschienen ist. Ich habe später einen Geistesreichthum, eine Vielseitigkeit bei ihm wahrgenommen, die ich […] ihm noch nicht zutraute. Ein zweites, späteres Concert in Weimar, in welchem die geistliche Trilogie ‚Die Kindheit des Herrn‘, die ‚Sinfonie fantastique‘ und die neugedichtete und componirte Fortsetzung dieser Symphonie ‚Rückkehr in’s Leben‘, Monodrama mit Orchester, Soli und Chören, Text und Musik von Berlioz, aufgeführt wurden, zeigte mir einen solchen Reichthum der mannichfaltigsten Stimmungen, eine solche Gewalt der schöpferischen Kraft, ein so tiefes, poetisches Innere, dass ich Berlioz nach dieser Seite hin unbedingt als der Ersten Einen in der Gegenwart betrachte. Anderseits jedoch hat sich auch in mir die Ueberzeugung noch mehr befestigt, dass man bei Berlioz von Einheit und Geschlossenheit der Form im Grossen in den meisten Fällen ganz absehen muss. Abgeschlossene Kunstwerke, or ganische Gebilde im deutschen Sinne hat er nur seltener gegeben. Das scheint mir überhaupt weniger die Sache des Franzosen, und man muss hierüber von vorn herein klar sein, um nicht von ihm zu verlangen, was er nicht gewährt, um nicht mit falschen Forderungen heranzutreten.“ 66 Siehe Brendel 1850 Einige Worte über Malerei, in: NdS 1 Nr. 19. 67 Brendel 1857 F. Liszt’s neueste Werke, S. 154 f., in: NdS 2 Nr. 108, S. 1383. 68 Brendel 1859 Zur Anbahnung einer Verständigung, S. 271 f., in: NdS 3 Nr. 126, S. 1567: „Zwar ist auch in Bezug auf sie [Liszt und Berlioz] bereits anerkannt, daß dieselben ihren Ausgangspunct von Beethoven genommen haben, und also in ihrer Wurzel deutsch sind. Aber ebenso unläugbar zeigen beide auch fremde Elemente, die zunächst die Richtigkeit meiner Bezeichnung in Frage stellen könnten; der Eine jene ver standesmäßige französische Seite, der Andere die südliche Gluth, das Emporflammen der Leiden schaft, den Glanz und die Gluth des Südens, im Gegensatz zu der schmucklosen Innerlichkeit und zähen compacten Kraft des Deutschen. So entsteht die Frage, ob mit solchen beispielsweise ange deuteten Eigenschaften behaftet, beide Meister als deutsche Künstler zu betrachten sind, die Frage, was in diesem Falle das Entscheidende ist.“
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parteipolitisches Kalkül kritisiert hatten.69 Dass in der Tat seit der Genoveva-Rezension Brendels belastete Verhältnis zu Schumann war spätestens seit den Kritiken Theodor Uhligs70 in der Zeitschrift für zwei Jahre unterbrochen71 und gipfelte schließlich in der Veröffentlichung des „Neue Bahnen“-Aufsatzes Schumanns,72 in welchem der von Brendel seit 1852 propagierten Musik Wagners und Berlioz’ indirekt eine Absage erteilt wird. Insgesamt fand die „Berlioz-Woche“ außer in der NZfM auch in anderen Musikzeitschriften ihren publizistischen Niederschlag, in denen ein durchaus ähnlicher Tenor wie bei Brendel vorherrschte. So würdigte beispielsweise ein anonymer Autor in der Berliner MusikZeitung Echo73 Liszts Weimarer Tätigkeit und titulierte Berlioz als „Bruder Beethovens“, während eine andere Kritik in der Neuen Berliner Musikzeitung74 der Oper Benvenuto Cellini eher zurückhaltend gegenüberstand, aber Liszts Engagement dafür umso höher wertete.
beispielsweise Schaeffer 1852 Über Richard Wagner’s Lohengrin, in: NdS 1 Nr. 31. 70 Siehe Uhlig 1851 Robert Schumann, Op. 98; Uhlig 1852 Robert Schumann sowie Uhlig 1852 Schumann, Op. 97. Dritte Symphonie. 71 Vgl. den Briefwechsel zwischen Brendel und Schumann (in: Schumann-Briefe II, 5). 72 Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49. 73 Anonym 1852 Weimar. 74 Schindelmeisser 1852 Aus Weimar. Der Artikel erschien in englischer Übersetzung auch im Dwight’s Journal (Anonym 1852 Berlioz’ Opera Benvenuto Cellini). 69 Siehe
Nr. 38 | Johann Christian Lobe, „Liszt und Berlioz in Weimar“, in: Fliegende Blätter für Musik 1 (1853/1854), Nr. 1 (1853), S. 61 f.
Liszt und Berlioz in Weimar.
Da es immer belehrend und interessant ist, das Urtheil eines sachverständigen Ausländers über Erscheinungen der Kunst im Vaterlande zu vernehmen, so theile ich hier einige Stellen aus einem (von Croly1 herrührenden?) Berichte des Londoner Athenaeum über Liszt und Berlioz2 um so lieber mit, als ich selbst im nächsten Hefte der „Fliegenden Blätter für Musik“ eine Charakteristik des Komponisten Berlioz geben werde.3 „Es kann jetzt“, heißt es am angeführten Orte4, „kaum etwas Interessanteres geben als einen Besuch dieses Hauptplatzes der deutschen romantischen Schule5 in der Musik, da Einfluß von ihr ausgeht, was [62] man auch von ihrer Tendenz denken mag, um so mehr als sie eine unvermeidliche Erläuterung der Zeit ist, in welcher wir leben. Es giebt Grade und Unterschiede unter den Vorarbeitern, Emanzipatoren und Zerstörern, – nenne man sie wie man will. Einer ist der Wahnsinnige, von dem die Bibel spricht und der Feuer um sich wirft; der Andere, welcher seine Taschen nicht füllen, sich keinen Ruf sichern kann, so lange die Welt gesund und wohl ist, rechnet auf Unwetter, Erdbeben und Pestilenz, die ihm Ehre und Gewinn bringen sollen; ein Dritter ist der wirkliche Apostel der Revolution, fanatisch im Glauben, edel im Thun, bereit, was es auch kosten möge, seine Ueberzeugungen der Menschheit aufzuzwingen, nicht zu seinem, sondern zu ihrem Wohle. Es kann Anmaßung in einem solchen Charakter liegen, er besitzt aber auch hohen Adel. – Unterschiede, wie die erwähnten, darf man nie aus den Augen verlieren, wenn man die musikalische ‚Bewegung‘ betrachtet, zu welcher Liszt den ersten Anstoß gab und deren Mittelpunkt Weimar ist. Da nun einmal die Kunst in Deutschland
1 Gemeint
ist der Musikkritiker Henry Fothergill Chorley (1808 –1872), der seit 1830 für das Athenæum schrieb und sich im Herbst 1852 in Weimar aufhielt, wo er u. a. einer Aufführung von Hector Berlioz’ Benvenuto Cellini (UA 1838) beiwohnte (vgl. Chorley 1862 Thirty years, S. 200). Berlioz bezog sich wahrscheinlich auf das englische Original des vorliegenden Artikels, als er am 10. Juli 1853 an Liszt schrieb: „Chorley a fait un article singulier dans l’Athenæum, il est très bienveillant, mais il ne comprend guère“ (in: Berlioz-Briefe 4, S. 344) [Chorley hat einen einzigartigen Artikel im Athenæum verfasst, er ist sehr wohlmeinend, aber er versteht kaum etwas]. 2 Chorley 1852a Notes on Music in Germany. 3 Lobe 1853 Hektor Berlioz, in: NdS 1 Nr. 43. 4 Die Übersetzung gibt relativ wortgetreu das erste Viertel des Artikels aus dem Athenæum wieder (Chorley 1852a Notes on Music in Germany, S. 1335). Abweichungen sind im Folgenden angemerkt. 5 Im englischen Original heißt es: „a visit of this high place of German musical romanticism“ (ebd., S. 1335).
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ihre ‚Sturm- und Drangperiode‘, ihre Bilderstürmerei und Jacquerie6 haben zu müssen scheint, so liegt es in eines Jeden Interesse, daß der Kampf nicht blos halb ausgefochten werde und daß der Führer ein hervorragender Mann sei. Und wenn wir die Schule von Komponisten betrachten, welche zu Werke zu gehen scheinen, als ob Wahrheit nur im Uebertreiben gesagt, Fortschritt nur im Zerstören entwickelt werden könnte, so muß Berlioz als Einer der Ersten unter den modernen Romantikern oder Republikanern7 genannt werden. Was er für den Wohlklang des Orchesters gethan, hat die Farb-Hülfsmittel des Musikers bedeutend erweitert, und, seine Werke mögen mehr oder minder populär sein, kein Unparteiischer kann daran zweifeln, daß man in Zukunft Entdeckungen in denselben finden wird, die sich verwenden und ausdehnen lassen, wie bei keinem andern frühern Komponisten. Aus diesem Grunde muß das Hervorsuchen der Oper ‚Benvenuto Cellini‘ von Berlioz von Interesse sein, wenn auch die kühnste Phantasie kaum diese DorfHauptstadt zum Schauplatz der Rehabilitation eines Werkes wählen dürfte, das in Paris bereits (wenn auch vielleicht falsch) gerichtet worden.8 Aber Weimar besitzt einen kunstliebenden Hof und einen Kapellmeister, der seine Vorsätze durchzuführen versteht9. So wurde alles gethan, was sich mit Ausdauer und trefflichen, wenn auch beschränkten, Mitteln thun lässt, um ‚Benvenuto Cellini‘ in ein gutes Licht zu stellen. Die Oper wurde auch verständig gekürzt10 und so machte die Wiederaufführung wirkliche Sensation, bei der nichts Falsches und nichts Gemachtes war. Mag man gegen die Schule, welcher Berlioz angehört, noch so streng sein, Jedermann muß mit Vergnügen die herzliche Theilnahme bemerkt haben, welche den franzö-
6 Bezeichnung
für einen Bauernaufstand in Frankreich im 14. Jahrhundert, der diesen Namen aufgrund des den Bauern von den Adligen verliehenen Spottnamen „Jacques Bonhomme“ trägt. 7 Ein wesentliches Element der deutschen Diskussion ist, dass die fortschrittlich gesinnten Künstler mit der republikanischen Politik gleichgesetzt werden. 8 Benvenuto Cellini war 1838 in Paris uraufgeführt worden und nach einigen wenigen Aufführungen zunächst wieder in Vergessenheit geraten. An dieser Stelle ist das englische Original etwas gekürzt wiedergegeben, in welchem es heißt: „which opera having failed in Paris some thirteen years ago, and having little succeeded here in the spring [gemeint sind die Weimarer Aufführungen am 20. und 24. März 1852], was, thanks to the command of the Grand Duchess, and to the instance and persistence of Dr. Liszt, again represented at Weimar on the 17th, in the presence of its composer, who came from Paris to be present; and, also to direct a concert of his own music. Scenically considered, never were work and framework more oddly assorted. This village capital – along the white and irregular pavement of whose highways there seems to move so little save the pale passing November sunshine – would hardly be selected by the boldest fancy as the scene for the rehabilitation of a work which had been already judged (or misjudged) in Paris“ (Chorley 1852a Notes on Music in Germany, S. 1335). 9 Im Original heißt es: „[A] kapellmeister who will not be a kapellmeister ‚of straw‘, but who will carry through his purposes, and follow out his convictions, – and who shows himself in no egotistic hurry to thrust his own productions on his own public.“ (Anonym 1852a Notes on Music in Germany, S. 1335). 10 Im Original heißt es: „The opera, too, has benefited by discreet curtailment of the last two acts since it was last given at Weimar“ (Chorley 1852a Notes on Music in Germany, S. 1335). Auf Liszts Anregung hin hatte Berlioz die Oper für die Weimarer Erstaufführung am 20. März 1852 (Wiederholung am 24. März) umgearbeitet, wobei er zunächst an der Einteilung in zwei Akte festhielt. Für die weiteren Aufführungen im November 1852 griff Berlioz ferner einige von Liszts Kürzungsvorschlägen auf und nahm die Neueinteilung in drei Akte vor (zum Aufführungsmaterial vgl. Schröter 2010 Der historische Notenbestand, S. 41 f.).
Lobe 1853 Liszt und Berlioz in Weimar
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sischen Komponisten in der Stadt Goethes begrüßte. Solche Aeußerungen haben einen gar hohen Werth für alle die, welche der Meinung sind, Musik (und Poesie) sei der Welt gegeben worden, um edeln gegenseitigen Verkehr der Völker zu fördern, nicht aber um als Stichwort für nationale Eifersüchteleien zu dienen.“ Der Verfasser geht darauf zur Beurtheilung der Oper im Ganzen und Einzelnen über, wohin ich ihm nicht folge, nur nachstehende Bemerkung finde hier noch einen Platz: „nach den abscheulichen, matten und schmu[t]zigen Tonmixturen, welche ich in der letzten Zeit in der Gestalt neugeschriebener deutscher Musik in mich hatte aufnehmen müssen, fand mein Ohr wahrhafte Ueberraschung und Wonne in einer so leuchtend glänzenden, so feinen, so stattlichen Instrumentation wie die des ‚Benvenuto‘ ist.“11
Kommentar Kurz bevor Johann Christian Lobe selbst einen ausführlichen Artikel über Hector Berlioz in seinen Fliegenden Blättern veröffentlichte12, gab er in Auszügen diesen Bericht aus dem Londoner Athenæum wieder. Es handelt sich dabei um ein weiteres Zeugnis der frühen intensiven Rezeption der damaligen musikalischen Entwicklungen in Deutschland in der englischsprachigen Presse und der Rezeption dieser Berichterstattung in den deutschen Musikzeitschriften. Der englische Autor, bei dem es sich offenbar um den Musikkritiker Henry Fothergill Chorley13 handelt, hatte Weimar anlässlich der Berlioz-Woche im November 1852 besucht und besprach in seinem Artikel vor allem die Oper Benvenuto Cellini, deren Aufführung er am 17. November beigewohnt hatte. Ihr gegenüber findet sich im – von Lobe nicht abgedruckten – zweiten Teil des Berichtes eine Betrachtung von Christoph Willibald Glucks 1767 uraufgeführter Alceste, die der Rezensent auf derselben Reise in Berlin hörte. Er bezeichnete die beiden Werke als „contrast betwixt the ancient discoverers and the modern disturbers“14 und wünschte sich beide auf der Opernbühne aufgeführt. Die Wahl des Ausschnitts zeigt jedoch, dass es Lobe vor allem um die Außensicht auf Liszt sowie Berlioz als den beiden Hauptvertretern „of the musical ‚movement‘ of which Dr. Liszt has been the prime mover, and of which Weimar is the centre“15 zu gehen schien, wobei das Schaffen Berlioz’ bemerkenswerterweise als Korrelat deutscher Musik rubriziert wurde. Zur Charakterisierung des zweimal dezidiert auch als „Schule“ bezeichneten Kreises um Liszt und Berlioz dient der Begriff der „Romantik“, wenn von „German musical romanticism“ und
1852a Notes on Music in Germany, S. 1335. 12 Lobe 1853 Hektor Berlioz, in: NdS 1 vorliegender Artikel, Anm. 1. 14 Chorley 1852a Notes on Music in Germany, 15 Ebd., S. 1335.
11 Chorley
Nr. 43. S. 1336.
13 Siehe
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„modern romanticists“16 gesprochen wird. Diese Nomenklatur geschah wohl in Anlehnung an den damaligen Ausdruck „Neuromantiker“, der zu dieser Zeit in den Musikzeitschriften als Bezeichnung für Liszt, Berlioz und Wagner aufkam.17 Die im abgedruckten Artikel vertretene Ansicht gegenüber Berlioz ähnelt durchaus derjenigen, die Lobe in seinen eigenen Texten äußerte.18 Insgesamt beansprucht Lobe in der gesamten Kontroverse um diesen Weimarer Kreis insofern eine Sonderstellung, als er immer wieder dezidiert gegen jegliches Parteiendenken Stellung bezog,19 dem Wirken der Komponisten selbst jedoch bestrebt war, trotz seiner eigenen klassizistischen Musiksozialisation20, Gerechtigkeit widerfahren zu lassen.21 Manifest wird dies nicht zuletzt in der Tatsache, dass er zu dieser Zeit in keiner der führenden Musikzeitschriften publizierte, sondern seine eigene Zeitschrift herausgab.22 Damit wurde er zu einer Art ‚Grenzgänger‘ innerhalb des Parteienstreites, was bei seinen Zeitgenossen nicht selten für Irritationen sorgte.23
16 Ebd. 17 Siehe etwa B. P. 1852 Pariser Briefe, S. 1003; Fatal 1853 Aus London, S. 105; Bülow 1853 Die Opposition in Süddeutschland, S. 240, S. 243, S. 278, in: NdS 1 Nr. 54, S. 751 f. u. S. 590; R. K. 1855 Zeitgemäße Betrachtungen, S. 182, in: NdS 2 Nr. 78. Vgl. hierzu insgesamt Dahlhaus 1973 Art. „Neuromantik“. 18 Siehe etwa Lobe 1853 Hektor Berlioz, in: NdS 1 Nr. 43. 19 Siehe etwa Lobe 1853 Ein Vertheidiger Richard Wagner’s, S. 412: „Partei nehmen heißt einseitig sein“ sowie Lobe 1856 Ein neuer Prophet, in: NdS 2 Nr. 93. Zur Vereinnahmung von Lobe siehe etwa Anonym 1854 Neueste musikalische Literatur, in: NdS 1 Nr. 58 und Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik, in: NdS 1 Nr. 62. 20 Vgl. hierzu insgesamt Brandt 2002 Johann Christian Lobe, S. 200 – 296. 21 Siehe etwa Lobe 1854 Briefe über Rich. Wagner sowie Lobe 1856 Briefe über Liszt’s Symphonische Dichtungen, in: NdS 2 Nr. 99. 22 Lobes Fliegende Blätter für Musik. Wahrheit über Tonkunst und Tonkünstler erschienen in drei Bänden 1853/1854, 1855 –1857 und 1857. 23 Siehe etwa die kritischen Rezensionen von Lobe 1852 Musikalische Briefe in der NZfM (Uhlig 1852 Ueber die musikalischen Briefe eines Wohlbekannten) und in den Grenzboten (Anonym 1852 Musikalische Briefe. Von einem Wohlbekannten) sowie die negative Reaktion auf die Fliegenden Blätter in der NZfM (Pohl 1853 Einige Bemerkungen).
Nr. 39 | J. E., „R. Wagner als Dichter und Musiker. Erste Aufführung des ‚Tannhäuser‘ in Frankfurt a. M.“, in: Süddeutsche Musik-Zeitung 2 (1853), Nr. 4. (24. Januar), S. 13 –15.
R. Wagner als Dichter und Musiker. Erste Aufführung des „Tannhäuser“1 in Frankfurt a. M.
Endlich am 15. dieses [Monats] ist der so lang erwartete „Tannhäusser“ [sic] auch hier in Scene gegangen, nachdem die schon 8 Tage vorher angekündigte erste Vorstellung wegen Heiserkeit des Herrn Beck2 verschoben werden musste. Wir können wohl sagen, dass diese Aufführung ein Ereigniss war. Der hitzige Federkampf zwischen den Freunden Wagners und seinen Gegnern hatte auch hier die Gemüther erregt und Alles war gespannt, das Wunder zu sehen, welches das gutmüthige Völkchen der Musiker so in Eifer zu bringen und so grelle Disharmonien unter ihnen hervorzurufen vermochte. Von allen Seiten waren die Nachbarn Frankfurts herbeigeeilt und das Haus von oben bis unten gefüllt. An lebhaften Beifallsbegrüssungen und Hervorruf der Hauptpersonen fehlte es nicht, und dennoch müssen wir, um der Wahrheit die Ehre zu geben, erklären, dass die Meisten unbefriedigt und kopfschüttelnd nach Hause gingen, kurz, dass der Erfolg des „Tannhäuser“ den gehegten Erwartungen nicht entsprochen hat. Noch am folgenden Tage hatten wir Gelegenheit, die verschiedenartigsten Urtheile zu hören, aber alle liefen darauf hinaus, dass das Werk neben einzelnen interessanten Stellen entsetzliche Längen habe, melodiearm sei, dass trotz Aufbietung aller Mittel der Instrumentation der Mangel an wahrer Musik nicht verdeckt werde, dass das Meiste gesucht, das Uebrige gewöhnlich erscheine u. s. w. u. s. w., kurz wir hörten Alles, was den Werken Wagners von seinen Gegnern bis jetzt vorgeworfen worden ist, neben einander und auf den einzigen Tannhäuser gehäuft. Vergleichen wir hiermit die enthusiastischen Berichte, welche von andern Orten über dieselbe Oper erschienen sind3 – nicht blos die der Neuen Zeitschrift für Musik –, so scheint es fast unmöglich, ein gerechtes Urtheil zu fällen,
Wagner, Tannhäuser (UA 1845). 2 Johann Nepomuk Beck (1827 –1904), ungarischer Sänger, von 1851 bis 1853 in Frankfurt am Main tätig, wirkte von 1853 bis 1885 als bedeutender Bariton an der Kaiserlichen Hofoper Wien. 3 Positive Berichte über Aufführungen des Tannhäuser finden sich außer in der der NZfM am 27. Oktober 1852 (Pohl 1852 Dresdner Musik III) und am 12. November 1852 (Gottwald 1852 Wagner’s Tannhäuser in Breslau) beispielsweise auch in der Rheinischen Musik-Zeitung am 6. November (Bischoff 1852 Richard Wagners Ouvertüre zum Tannhäuser) und am 27. November 1852 (Bischoff 1852 Tannhäuser), in der Berliner Musik-Zeitung Echo am 14. November 1852 (Anonym 1852 Breslau) sowie in der Süddeutschen Musik-Zeitung am 29. November 1852 (F. Br. 1852 Aus Wiesbaden). 1 Richard
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einen Faden zu finden, der aus diesem Chaos widersprechender und widerstrebender Meinungen herausführen könnte. Versuchen wir es dennoch. Es handelt sich vor Allem darum, die Beurtheilenden selbst in’s Auge zu fassen und den Standpunkt kennen zu lernen, von welchem aus sie urtheilen. Da stossen wir freilich gleich auf betrübende, wenn auch unter dem gewöhnlichen Opernpublikum sich fast von selbst verstehende Ansichten. Dieser verlangt in einer Oper vor Allem „Melodie“, er will „etwas mit nach Haus nehmen“, d. h. er hört gern muntere Arien und Liedchen à la Martha4, die er sofort nachpfeifen kann. Der Andere möchte im Theater immer etwas „Lustiges“ hören, etwas, was ihn aufheitert und in die rechte Stimmung versetzt, um nach der Oper noch einer munteren Gesellschaft beiwohnen zu können. Der Dritte ist ein Liebhaber der Gesangskunst, er ist für grosse Arien begeistert und verachtet jede Oper, in der die Prima Donna keine Gelegenheit findet, einen endlosen Triller, eine 8taktige Cadenz oder dergleichen Kunststückchen los zu lassen. Dass Wagner bei seinem erklärten Hass aller zwecklosen, d. h. nicht durch die Situation nothwendig herbeigeführte[n] und ihrem Charakter angemessenen Melodien, Arien u. s. w. von diesen unbedingt verurtheilt wird, darf uns nicht Wunder nehmen. Auf Gültigkeit darf deren Ausspruch aber erst dann Anspruch machen, wenn das Theater, resp. die Opernmusik, als blosses Mittel zur Unterhaltung betrachtet wird. So weit sind wir aber hoffentlich noch nicht. Anders stellt sich die Sache bei der zweiten Classe: den Musikern, den gebildeten Musikfreunden oder kunstverständigen Dilettanten. Auch diese tadeln den Mangel an Melodie, aber weil sie in der Melodie das wesentlichste Element der Musik erkennen; auch sie tadeln die Verwerfung des bisherigen Opernzuschnitts, die Emancipation von den Formen der Arie, des Duetts, des Terzetts, des Quartetts u. s. w., das Vorherrschen des Recitativ-Gesanges, aber desshalb, weil sie in jenen Formen die Grundformen der Oper erkennen, weil sie die durch sie geschaffene Mannichfaltigkeit und Abwechselung für wesentlich halten, weil sie in den Einschnitten zwischen den einzelnen Nummern dem Ohre des Hörers nothwendige Ruhepunkte erblicken und die Monotonie des Recitativ-Gesanges selbst durch die üppigste und brillanteste Instrumentation zu verdecken für unmöglich halten. Im Tannhäuser speziell verurtheilen sie die zahlreichen Abweichungen von den harmonischen Gesetzen, welche sich Wagner erlaubt, die Härten, welche hierdurch verursacht werden, die überhäufte Anwendung der Septimen-Akkorde, durch welche das Ohr stets gespannt, stets in Unruhe gehalten wird, ohne durch einen Schluss erlöst zu werden. Ausserdem vermissen sie im Ganzen schöne, edle und charakteristische Motive. Sie erklären die meisten für eine Frucht kalter Berechnung, nicht für unwillkürliche Schöpfungen des Genius, die übrigen finden sie gewöhnlich und ohne Werth. Diese Gegner – und sie sind sehr zahlreich – verurtheilen und verwerfen, wie wir sehen, nicht nach blos sinnlichen Antrieben, wie die grosse Masse, sondern sie stehen, wenn wir so sagen dürfen, theils auf dem Boden des historischen Rechts – so weit der Streit dem äusseren Zuschnitt der Oper gilt –, theils auf der unerschütterlichen Basis der Grundgesetze der Harmonie, wie sie bis jetzt anerkannt wurden. Aber auch sie würdigen die Wagner’schen Werke und sein ganzes Bestreben einseitig,
4 Gemeint
ist hier Friedrich von Flotows Oper Martha (UA 1847).
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sie sehen nur mit dem Auge des Musikers und vergessen, dass in der Oper die Dichtung mit der Musik, wenn nicht gleiche Rechte, doch Rechte besitzt, die von der anderen Seite respektirt werden müssen. Fehlen sie hierin, so wird von der dritten Classe, den unbedingten Bewunderern der Wagner’schen Schöpfungen, diese Einseitigkeit durch noch grössere Einseitigkeit vollkommen wett gemacht. Wir dürfen diese Partei wohl die „literarische“ nennen, wenn auch manche Musiker zu ihnen zählen. Sie schwärmt für eine radicale Reform der heutigen Oper vom dramatischen Standpunkt aus, d. h. sie erklärt das Buch, den Text, die Handlung für das Wesentliche, die Musik für das Secundäre, das Helfende, das Untergeordnete; nach ihnen ist die Musik nur da, um die Dichtung zu begleiten, den durch diese ausgesprochenen Empfindungen und Gefühlen stärkeren Ausdruck zu verleihen, im Uebrigen sich zu bescheiden. Trotz dieser verschiedenen Stellung der beiden Künste zu einander, in welcher die Musik, bisher das herrschende Element in der Oper, plötzlich zum dienen-[14]den herabgedrückt werden soll, träumen sie von einer Vermählung beider zu einem „zukünftigen“ Kunstwerk5, dem musikalischen Drama, von einer Auflösung beider Gegensätze in einer höheren Einheit. Diese Partei, durch Wagner’s unläugbar bedeutende Schöpfungen, durch seine geistvollen Schriften eigentlich bezaubert, durch ihn erst gebildet, behauptet ebenso hartnäckig den gewonnenen „dramatischen“ Standpunkt, wie die Musiker den ihrigen, und lässt sich eben so wenig zu Concessionen herab, wie diese. Den theoretischen Streit über die Berechtigung der beiden Factoren in der Oper entscheidet sie durch Argumente, die sich nicht leicht widerlegen lassen, zu ihren Gunsten, die Frage über die musikalischen Formen folgt von selbst dieser Entscheidung, denn ist der Text, ist die Handlung, mit anderen Worten das Drama die Hauptsache, wozu dann lange Arien, Duette, Terzette, u. s. w., die das Verständniss des Textes erschweren? Die Einwürfe der Musiker, die Unregelmässigkeiten in der Wagner’schen Harmonieführung etc. betreffend, weisen sie mit dem Namen Beethoven zurück, dem noch ganz andere Titel von den Musikern seiner Zeit gegeben worden seien, und so bleibt eben jeder Theil bei seiner Ansicht, ohne dass das Verständniss der Wagner’schen Opern gefördert wäre. Und doch liegt für den Unbefangenen die Wahrheit offen da, ja sie tritt grade aus dem schroffen Gegensatz dieser Meinungen um so deutlicher hervor! Von ihrem Standpunkt aus hat jede Partei Recht, aber eben das Einnehmen dieses Standpunktes bei einem so principlosen heterogenen Dinge, wie unsere Oper es ist, wird zum Unrecht. Nicht als ob wir die so beliebte Juste-milieu-Stellung6 einnehmen wollten, wir hassen diese „rechte Mitte“, die zu feig ist, die Consequenzen eines Satzes anzuerkennen; aber bei einem Dinge, welches schon bei seinem Ursprung ein Bastard war, erzeugt aus Hellenismus und Neu-Romanismus, einem Dinge,
auf Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks, welches er in Das Kunstwerk der Zukunft (Wagner 1850 Kunstwerk der Zukunft) entworfen hatte. 6 (Frz.) „richtige Mitte“, politisches Schlagwort, welches in der Folge der französischen Julirevolution von 1830 zur Charakterisierung des politischen Ideals der dominierenden bürgerlichen Gesellschaftsschicht verwendet wurde und insbesondere vom sogenannten „Jungen Deutschland“ als pejorative Bezeichnung für den in ihren Augen unentschiedenen Liberalkonservatismus im Vormärz diente. 5 Anspielung
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weder Fisch noch Fleisch, welches noch dazu im Laufe der Jahrhunderte und mit der Entwickelung der Tonkunst eine Menge anderer Elemente in sich aufnehmen musste, wird jedes Aufstellen eines Princips und eines principiellen Standpunktes zur Verurtheilung seiner Existenz. Von der Oper gilt dasselbe, was der Jesuiten-General Aquaviva auf einen Antrag, betreffend die Reform des Ordens, antwortete: „Sint ut sint aut not [sic] sint“: Sie bleiben wie sie sind, oder sind nicht mehr!7 Wer die Oper reformiren will und zwar principiell, der wird unwillkürlich dazu getrieben, sie ganz zu verneinen. Will er das nicht, so muss er sie so lassen, wie sie ist, und es dem Zufall anheimgeben, ob einzelne begabte Geister, wie ein Mozart, Weber, Cherubini, die Schätze ihres Innern in die alten Schläuche füllen und sie dadurch wieder auf einige Zeit auffrischen. Rich. Wagner hat dies schon selbst erfahren. Von dem Versuche einer Opernreform, wie sie sein Tannhäuser aufweist, ist er zum vollständigen Aufgeben der Opernreform und zum Versuch eines „musikalischen Drama’s“ getrieben worden, wobei folgerichtig der Musik immer weniger Antheil an dem eigentlichen Wesen der poetischen Schöpfungen zugestanden wird. Sein Lohengrin8 ist die Uebergangsstufe und die angekündigte Trilogie über den Mythus von Siegfried wird auch denen, die aus Wagner’s „Wort an meine Freunde“9 diese innere Nothwendigkeit seiner Entwickelung und des endlichen Resultates seiner geistigen und künstlerischen Wehen noch nicht erkannt haben, beweisen, dass auf diesem Wege nur das reine Drama übrig bleibt;10 bei einer so seltenen Doppelnatur wie Wagner – vielleicht in einer Verbindung mit der Musik in der Weise der Melodramen zur Verstärkung einzelner Momente, in denen Massen-Wirkungen erreicht werden sollten, aber sonst ohne Bedeutung für die Musikfreunde und die Tonkunst überhaupt. Wie konnte aber ein Musiker, wie konnte Wagner sich von der Musik nach und nach so vollständig losreissen? Dies erklärt sich ganz natürlich daraus, dass er zuerst Dichter und nur in zweiter Linie Musiker ist. Dieses Doppelverhältniss, welches alle seine Schöpfungen charakterisirt, hat ihn in seine Bahn geworfen und muss bei der Beurtheilung Wagner’s und seines Tannhäuser’s besonders ins Auge gefasst werden. Nur so kann er richtig gewürdigt, nur so verstanden werden. Der Tannhäuser ist eine herrliche poetische Conception, die sich zu anderen Operntexten wie ein Diamant zum Kiesel verhält. Wie entstand er? Wagner hatte den italienischen Opernklingklang, den oft widerlichen, meist abgeschmackten Inhalt von Formen, die nur das Herkommen, kein vernünftiger Grund geheiligt hatte, und
7 Das
Zitat lautet korrekt „Sint ut sunt aut non sint“ und geht nicht auf Claudio Aquaviva (1543 –1615) zurück, sondern wird wahlweise sowohl dem späteren Jesuiten-General Lorenzo Ricci (1703 –1775) als auch Papst Clemens XIII. (1693 –1769, Pontifikat ab 1758, weltlich: Carlo della Torre di Rezzonico) zugeschrieben. 8 Wagner, Lohengrin (UA 1850). 9 Wagner 1852 Drei Operndichtungen nebst einer Mittheilung an meine Freunde. 10 In seiner 1852 erschienenen Schrift Drei Operndichtungen nebst einer Mittheilung an meine Freunde kündigte Wagner am Ende nicht nur seine Festspielidee, sondern auch die Komposition des Ring des Nibelungen (UA 1876) an, der zum damaligen Zeitpunkt mit Siegfrieds Tod abgeschlossen werden sollte. Darüber hinaus nutzte Wagner das Buch, welches auch eine detaillierte künstlerische Autobiographie darstellt, um seine Kompositionen der Öffentlichkeit gegenüber als Teil eines teleologischen Lebensentwurfs darzustellen, welches mit innerer Notwendigkeit auf das Gesamtkunstwerk zulaufe.
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Anderes, was nicht viel besser war, durch Studium und amtliche Thätigkeit kennen gelernt, sein poetisches Gefühl empörte sich dagegen, er wollte diesem Besseres, Edleres, Reineres entgegensetzen. Als Musiker war er erzogen und ausgebildet worden. Der musikalische Mensch in ihm übernahm also die Ausführung eines Gedankens, der von dem dichterischen gefasst worden war. Er entschloss sich Opern zu schreiben, aber Opern, zu denen er einen seinem Ideal von dem poetischen Inhalt derselben gemässen Text, in Ermangelung passender, selbst dichtete. So entstand der fliegende Holländer11, so Tannhäuser, so Lohengrin. Bei jeder neuen Schöpfung aber trat der Zwiespalt deutlicher hervor zwischen dem Dichter, der sich aus Rücksicht für den executiven Menschen, den Musiker, auf eine bestimmte Sphäre beschränkt sah, und dem Musiker, der Conceptionen, die ursprünglich der ethischen Entrüstung ihren Ursprung verdankten, nach musikalischen Regeln ausführen sollte. Mit jedem neuen Versuch sah der Musiker ein, dass er sich einen Schritt weiter von den gebahnten musikalischen Wegen, dem gewohnten Gleise, entfernen müsse, um dem Dichter, der in ihm schon die Oberhand gewonnen, gerecht zu werden; mit jedem neuen Versuch aber sah sich auch der Dichter genöthigt, in der Wahl und Behandlung seiner Stoffe wählerisch zu werden, um dem Musiker nicht Unausführbares zuzumuthen. Dichter und Musiker arbeiteten füreinander, was sonst so selten der Fall ist, nur dass sich hier der Musiker vor dem Dichter beugte, während bisher da, wo einmal ein ähnliches Verhältniss stattfand, das Gegentheil der Fall war. Die Forderung Wagners, die Musik müsse der Dichtung dienen12, ist nichts anders, als das Verhältniss der beiden Funktionen, wie es sich in ihm selbst gestaltete, zum kategorischen Imperativ für die Oper selbst erhoben! So kam Wagner, der Musiker, aus Rücksicht für Wagner, den Dichter, zur Verwerfung der bisherigen Musik-Formen in der Oper, zum Recitativ als vorherrschende Gesangsform, so zu seinen grellen Uebergängen und sonstigen Härten; aber so kam auch Wagner, der Dichter, aus Rücksicht für Wagner, den Musiker, von dem er sich nicht trennen konnte, zur Mythe, als dem einzig möglichen Stoffe für das „musikalische Drama“. Wäre es Wagner möglich, den Musiker ganz abzuschütteln, so könnte er, dies ist unsere feste Ueberzeugung, der erste dramatische Dichter der Gegenwart werden; leider hindert ihn das Verhängniss, welches ihn dem Anschein nach so reich begabte, daran, wie es auf der andern Seite die ungestörte Entwickelung seiner musikalischen Fähigkeiten unmöglich machte. Im „Tannhäuser“ erkennt man recht klar, wie das von uns angedeutete Verhältniss Wagner’s schönste Kräfte niederdrückt, sie auf keiner Seite zur Entfaltung kommen lässt. – Was darin schön, ergreifend, spannend ist, gehört dem Dichter. Wo sich der Musiker geltend macht, geschieht dies entweder in reinen Instrumentalsätzen, so in der Ouvertüre, so in einigen unabhängigen Orchestersätzen, oder gar auf Kosten des „musikalischen Drama’s[“], wie es dem theoretischen Geiste vorschwebt, so in einigen
Der Fliegende Holländer (UA 1843). 12 Hier hat der Autor Wagner wohl missverstanden, da er in Oper und Drama mehrfach darauf hinweist, dass die Dichtung für das Musikdrama die Voraussetzung, Musik deren Konsequenz sei: „Bloß um der Wirksamkeit der Musik Anhalt zu irgendwie gerechtfertigter Ausbreitung zu verschaffen, wird die Absicht des Dramas herbeigezogen – natürlich aber nicht, um die Absicht der Musik zu verdrängen, sondern vielmehr ihr nur als Mittel zu dienen“ (Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 21). 11 Wagner,
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ausdrucksvollen und leidenschaftlichen Phrasen der Venus, so selbst in dem herrlichen Lied an den Abendstern13. Im Ganzen muss Wagner arm an Melodien, selbst arm an schönen charakteristischen Motiven genannt werden. Es quillt nicht in ihm empor, darin haben seine musikalischen Gegner vollkommen Recht. Dass trotzdem manche seiner Instrumental-Compositionen einen grossartigen, gewaltigen Eindruck machen, beweist, dass er ein bedeutendes musikalisches Talent ist, aber ein Talent, welches geschickter zur thematischen Bearbeitung einzelner Motife [sic], als zur Schilderung dramatischen Lebens, ein Talent also, welches die reine Instrumental-Musik cultiviren müsste, nicht aber die dramatische Musik. So werden die schönen Kräfte Wagner’s durch einander selbst paralisirt, indem sie einander in verkehrte Bahnen ziehen. Was eine herrliche Gabe zu sein scheint, sein Doppeltalent, ist in Wahrheit ein Unglück für ihn! Es bleibt nun noch übrig, unser Urtheil über Tannhäuser, wie er vorliegt, zu geben. Es lautet einfach: Die Oper entbehrt des melodischen Reizes, der so vielen als das Höchste gilt; dafür besitzt sie etwas, was den meisten, wenn nicht allen Opern abgeht: eine wahrhaft poetische Grundlage, eine dramatische Entwickelung, welche durch ihre ergreifende Wahrheit den Mangel an Melodie vergessen macht, und vor Allem ein geistiges Element, welches das Herz des Zuschauers erhebt und veredelt. Dies stellt Tannhäuser trotz seiner Mängel in musikalischer Beziehung höher, als viele andere Produkte. Dies ist aber auch die [15] Ursache, wesshalb er die Gunst des Opern-Publikums, welches jede geistige Erregung meidet, nie gewinnen wird. Die Aufführung selbst war im Ganzen befriedigend. Wolfram v. Eschenbach wurde durch unsern Beck14, Elisabeth durch Frau Anschütz15 trefflich vertreten. Hr. Caspary 16 als Tannhäuser besitzt leider weder ausreichende Stimmmittel noch Darstellungsgabe. Dies war wohl ein Hauptgrund von dem geringen Eindruck, den die Oper auf Viele gemacht hat. Frau Behrends-Brand17 als Venus wusste ihre Partie ebenfalls nicht zur Geltung zu bringen. J. E.
Tannhäuser, 3. Aufzug, 2. Szene. 14 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 2. 15 Elise Capitain, geschiedene Anschütz (1820 –1895), deutsche Sängerin, betrat 1837 als Pamina zum ersten Mal die Bühne und war bis 1858 erste Sopranistin am Stadttheater in Frankfurt am Main. 16 Friedrich Caspari (1817 –1861), deutscher Sänger, sang u. a. später den Nureddin bei der Uraufführung von Peter Cornelius’ Der Barbier von Bagdad (UA 1858) unter Liszts Leitung in Weimar. 17 Magdalena Behrendt-Brandt (1828 –1895), österreichische Sängerin, in Frankfurt am Main von 1850 bis 1854 engagiert, danach im Ensemble der Münchner Hofoper. 13 Wagner,
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Kommentar Die vorliegende Rezension der Frankfurter Erstaufführung von Wagners Tannhäuser am 15. Januar 1853 ist ein relativ frühes Beispiel für den Versuch einer Darstellung der unterschiedlichen „Standpunkte“, die zu dieser Zeit gegenüber Tannhäuser sowie dem Künstler Wagner eingenommen wurden. Die Kernaussage des Autors „J. E.“ besteht in der Auffassung, dass sich die dichterische und kompositorische Begabung Wagners gegenseitig behinderten, weil Wagner ein besserer Dichter als Musiker sei. Das Urteil des Autors über Tannhäuser ist entsprechend zwiespältig: Die musikalische Gestaltung sei zwar unzulänglich, aber das zugrundeliegende Textbuch so hervorragend, dass die Oper insgesamt dennoch mehr Qualität zeige als die meisten anderen zeitgenössischen Werke. Dieser Artikel passt damit insofern in das Profil der seit April 1852 in Mainz erscheinenden Süddeutschen Musik-Zeitung, als sich das Blatt innerhalb der Parteienlandschaft dezidiert neutral gab.18 Es handelt sich bereits um die zweite Rezension des Tannhäuser in dieser Zeitschrift, denn einen Monat zuvor hatte ein anonymer Autor über die Wiesbadener Erstaufführung am 13. November 1852 berichtet.19 Auch er besprach die Oper relativ sachlich, kam aber insgesamt ebenso zu einem negativen Urteil, da in einer Oper die Musik nicht dem Text untergeordnet werden und ihre Schönheit verlieren dürfe: „Wagner hätte, wir wiederholen es, der Reformator der Oper werden können, vielleicht wird er es noch. Wir bezweifeln auch keinen Augenblick, dass ein innigerer, geistigerer Zusammenhang der Musik und der Poesie das erste Erforderniss dieser Reform ist, aber fragen möchten wir, ob dazu ein so complicirtes, massenhaft arbeitendes Orchester gehört, wie das Wagner’sche? ob einfache, melodische, je nach dem Charakter des Gedichtes, und seiner inneren Entwicklung wechselnde und nuancirte Musik in verständlichen Perioden keine Stelle darin finden dürfe?“20 Frankfurt am Main war erst die sechste Stadt im deutschsprachigen Raum, in der Tannhäuser auf die Bühne gelangte. Nach ihrer Uraufführung 1845 in Dresden war die Oper zunächst nur dort gespielt worden, bevor der Erfolg der Weimarer Aufführungen ab 1849 unter Franz Liszts Leitung Inszenierungen an mehreren Orten nach sich zog. So folgten 1852 die Bühnen in Schwerin, Breslau und Wiesbaden sowie im Jahr darauf neben Frankfurt noch 17 weitere Städte.21 Entsprechend groß war die Anzahl an Besprechungen der Oper, die zeitgleich in den verschiedenen Musikzeitschriften erschienen.22
18 Vgl. etwa Redaktion 1852 Einige Worte über musikalische Journalistik, S. 2: „Hat die musikalische Journalistik bis jetzt manchmal gestrauchelt, hat sie hier secundären Interessen, dort Parteiungen und Cliquen gedient, so ist dies zu tadeln und zu beklagen; das Ganze aber für die Fehler einiger seiner Glieder verantwortlich machen wollen, heisst das Kind mit dem Bade ausschütten. Ob es uns gelingen wird, nach beiden Seiten hin gerecht zu werden, der wahren Kunst zu nützen, und die von uns angedeutete Aufgabe der musikalischen Journalistik so weit es in unsern Kräften steht, zu lösen, muss die Zeit lehren.“ 19 Anonym 1852b Tannhäuser. 20 Ebd., S. 142. 21 Vgl. Kirchmeyer 1993 Robert Schumanns Düsseldorfer Brahms-Aufsatz, S. 86 – 88. 22 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 2 sowie später beispielsweise Anonym 1853 Theater; Anonym 1853 Leipziger Briefe; Tyszkiewicz 1853 Wagner’s Tannhäuser in Posen.
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Mit der Würdigung von Wagners dichterischer Leistung, mit der jedoch eine Kritik an seiner Komposition einhergeht, ist der Artikel insgesamt eines der selteneren Beispiele aus dem zu dieser Zeit als vorwiegend ästhetisch konservativ geltenden Süddeutschland23, welcher den neuartigen Bestrebungen der schon bald als ‚Zukunftsmusiker‘ betitelten Komponisten und ihrer neuartigen Vereinigung der Künste auf der Grundlage eines geschichtsphilosophischen Denkens mit einer durchaus eigenständigen Position begegnet – wurde doch ansonsten vorwiegend Kritik an Wagners Operntexten laut, die Musik in einzelnen Momenten aber durchaus gelobt.24
23 Siehe etwa Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51 insbesondere Anm. 15; Bülow 1853 Die Opposition in Süddeutschland, in: NdS 1 Nr. 54 sowie J. B. 1854 Die Opposition Süddeutschlands, in: NdS 1 Nr. 60. 24 Siehe etwa H – l. 1854 Musikalische Charakteristiken VIII sowie Hahn 1856 Der Tannhäuser in Berlin.
Nr. 40 | H. [Henry] F. [Fothergill] Chorley, „Schumann and Wagner“, in: Dwight’s Journal 1 (1852/1853), Bd. 2, Nr. 16 (22. Januar 1853), S. 121 f.
Schumann and Wagner.
(H. F. Chorley1 writes as follows to the London Athenæum of the impressions he has recently received in Leipsic, from the music of these two new lights of “young Germany.”2 We copy it as representing one side of a question which now so divides the world of music abroad. The writer, even if his opinions smack of strong prejudice, is earnest, independent, genuine in the entertainment and expression of them. It will be seen, some of his strictures bear upon the symphony performed last Saturday in Boston.3) Young Germany is in a fever which, should it last, will superinduce an epilepsy fatal to the life of music. As yet, however, the most vehement upholders of the new school are not altogether comfortable in their faith. They meet, protest with all manner of evasions – they fly to the ancient resorts of weakness – they set up the most threadbare screens of incompleteness. It is wonderful, for instance, to remark how long a persevering seeker may wait; how far he may wander before he is admitted to be capable of judging of the compositions of Dr. Schumann. He has always been hearing the wrong work. Should he find quartets (though led by Herr Ernst4) dull, monotonous, in idea stale and trifling, he will be referred to piano-
1 Henry
Fothergill Chorley (1808 –1872) wirkte in den Jahren 1830 bis 1868 als leitender Musikkritiker des Londoner Athenæum und stand, ebenso wie sein einflussreicher Kritikerkollege James William Davison, insbesondere der Musik Wagners und Schumanns ablehnend gegenüber. Vgl. hierzu insgesamt Bledsoe 1998 Henry Fothergill Chorley. 2 Der Begriff „Young Germany“ erscheint bereits 1850 in einem ebenfalls Chorley zugeschriebenen Artikel im Londoner Athenæum (Chorley 1850 Music at Weimar, in: NdS 1 Nr. 23) und wurde von diesem als Bezeichnung für den Musikerkreis um Franz Liszt verwendet. Inwieweit Chorley den Ausdruck in Anlehnung an das literarische „Junge Deutschland“ (englisch ebenfalls „Young Germany“) wählte, ist nicht bekannt. 3 Die Bostoner Erstaufführung von Schumanns Symphonie Nr. 1 Frühlingssymphonie B-Dur op. 38 (UA 1841) mit der Musical Fund Society unter der Leitung von Frederick Suck datiert auf den 15. Januar 1853. Der in derselben Ausgabe wie der Wiederabdruck von Chorleys Kritik erschienene Bericht in Dwight’s Journal über die Bostoner Premiere des Werkes negiert nicht die Schwierigkeit der Zuhörer, das Stück angesichts seiner Neuartigkeit und der mangelhaften Ausführung durch das zu dieser Zeit im Umbruch befindliche Laienorchester zu genießen, fordert aber eine wiederholte Aufführung, um sich mit dem Werk näher bekannt zu machen (siehe Anonym 1853 Fourth Musical Fund Concert). 4 Heinrich Wilhelm Ernst (1814 –1865), Violinvirtuose und Komponist, wurde u. a. von Joseph Joachim, Hector Berlioz, Robert Schumann und Franz Liszt als größter Geiger seiner Zeit gerühmt (vgl. Rowe 2008 Heinrich Wilhelm Ernst).
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Nr. 40 (1853)
forte music. Should this appear to him so licentious in its discords and suspensions that half a dozen false notes on the part of the player would be of small consequence, he will be requested to believe in some unheard lied, more “objective,” as the jargon of the day runs. Should he meekly suggest that the best of good lieder could hardly establish the reputation claimed for the new master, the upholders of Dr. Schumann will take a last refuge in symphonies; especially in a Symphony in B flat5, described by them to be a master-work. This I heard at Leipsic, with less than little satisfaction. In all such cases of disappointment there is an answer ready stereotyped, and thought to be decisive. The listener who cannot be charmed is sure to be reminded how the great works of Beethoven were misjudged at the outset of his career. But the examples are not parallel: Beethoven’s works were for a while misunderstood, I venture to reply, because Beethoven was novel. The works of Dr. Schumann will by certain hearers be forever disliked, because they tell us nothing that we have not known before, though we might not have thought it worth listening to. To change the metaphor – as well, it seems to me, might the pentimenti6 and chips of marble hewn off the block and flung to the ground by a Buonarotti’s7 chisel, if picked up and awkwardly cemented by some aspiring stone-patcher, pass for an original figure, because the amorphous idol was cracked, flawed and stained – had the nose of a Silenus8 above the lip of a Hebe9, and arms like Rob Roy’s10, long enough to reach its knees – as such centos11 of common phrases and rejected chords be accepted for creations of genius because they are presented with a courageous eccentricity and pretension. This Symphony in B flat, by Dr. Schumann, for instance, however difficult it may be to admire, is not difficult to follow. The leading ideas, though neither large nor fresh, are sufficiently distinct. The principle allegro starts with a bold phrase, and its second subject is simple, but neither are of special interest; and though the listener may recognize occasional ingenuity of treatment, he must screw up his courage to abide the frequent wrench of modulations and discords which are little short of surgical. The second movement, a larghetto in E flat, triple time, has a flowing but insipid subject, on repetition varied by rich figurative accompaniments, after the pattern set by Beethoven in his grand orchestral adagios. But whereas he adorned, Dr. Schumann oppresses his theme. The effect is that of dullness laid upon dullness. The larghetto passes off into a scherzo in G minor. Here the composer reveals his
Schumann, Symphonie Nr. 1 Frühlingssymphonie B-Dur op. 38 (UA 1841). 6 Untermalungen oder Korrekturen auf Gemälden oder Zeichnungen, die an der Oberfläche erkennbar sind oder später durch Alterung der Farbschichten wieder sichtbar werden. 7 Michelangelo (eigentlich Michelangelo Buonarroti, 1475 –1564), italienischer Maler, Bildhauer, Architekt und Dichter. 8 Silenos, in der griechischen Mythologie der Erzieher und Begleiter des Weingottes Dionysos, wurde von Dichtern und Bildhauern oft betrunken und stumpfnasig dargestellt. 9 Hebe, die griechische Göttin der Jugend, ist Mundschenk im Olymp. 10 Robert Roy MacGregor (1671– 1734), auch bekannt unter dem Namen Rob Roy, war ein schottischer Volksheld, der u. a. Sir Walter Scott zu seinem 1817 veröffentlichten Roman Rob Roy inspirierte. Mit dem Hinweis auf die Arme von Rob Roy spielt Chorley hier auf dessen Bekanntheit als Freibeuter und Rinderdieb an. 11 (Lat.) hunderte. 5 Robert
Chorley 1853 Schumann and Wagner
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individuality more clearly than in the former movements, by introducing varieties of rhythm. To succeed in satisfying by such abrupt alternations, requires a combination of sound taste with lively imagination, not here displayed. Whereas Beethoven in his model-works always observed proportion, harmony, and inter-dependence of parts, even when his fancy soared the freest, and when his ideas were most prodigally lavished. Dr. Schumann seems habitually to find any change, whatsoever, admissible, provided it be but a change. Another instance of this oddity may be cited in the rondo to his Piano-forte Concerto in A minor12; where the monotonous limping of the second subject, in place of piquing the car, harasses it by producing an effect of lameness which retards the animation of the movement. In the Symphony, after a number of changes having been gone through, the scherzo comes to a drawling pause, which is a surprise, not a suspense, since there is no warning or preparation for the cessation of the movement in favor of any other, nor any reason why several more trios should not have been added, so curiously is coherence outraged where contrast is intended, and climax missed in search of strange excitement. Lastly comes the finale, which has a busy theme; too small in its intricacy for symphonic treatment, – and in its manner not more winning than its predecessors. Less pleasurable music, in short, I have rarely made acquaintance with. Were Dr. Schumann’s fancies of the freshest – were his construction felicitous – were his harmonies really new, – they would be heard under heavy disadvantage owing to the ungraciousness of his instrumentation; since, though he must be said to treat his orchestra cleverly, the general effect is heaviness without pomp and harshness without brilliancy. Yet, not to leave a single means untried, our composer does not scruple to introduce the triangle to set off a meagre phrase in his first allegro, and condescends to bring back the theme of his rondo by a flute cadenza, fit enough to prepare the public for its favourite dancer in her most obtusely-angular attitude, but at variance with the spirit of music in which, for the sake of professed depth of thought and sincerity of purpose, we are rudely required to dispense with everything like beauty. This, however, is only according to the use and custom. The mystagogue who has no real mysteries to promulgate would presently lose his public, did he not keep curiosity entertained by exhibiting some of the charlatan’s familiar tricks. Such are a few of the considerations which have occurred to me on making further acquaintance with the writings of the composer put forth by Young Germany as superior to Mendelssohn; nay, as having taken up composition where Beethoven left it, and having done what Beethoven did not – because he could not – do. But Dr. Schumann is as clear as truth and as charming as grace themselves, if he be measured against the opera composer who has been set up by Young Germany, at the composer’s own instigation, as the coming man of the stage: – I mean, of course, Herr Wagner. Concerning this gentleman’s arrogant self-praise, and the love borne him by his congregation, the Athenæum has already spoken;13 and I need only say,
12 Schumann,
in Germany.
Klavierkonzert a-Moll op. 54 (ED 1846).
13 Siehe
Chorley 1852b Notes on Music
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without qualification or preface, that a hearing of his “Tannhaüser,” at Dresden,14 confirmed to the utmost every impression made by “Lohengrin.” Such pleasure as that opera can excite is not musical, but belongs to the choice and treatment of the legend. This is attractive and haunting, because of its fantastic romance, in spite of some defects [122] in stage arrangement. The tale of Dame Venus, the pagan demon goddess, who held her court in the bowels of the Thuringian hills, with whom a Minnesinger sojourned for awhile, and the fatal consequences of such sojourn had already served as bases for one of Tieck’s most charming Märchen15; and Herr Wagner has not unskilfully interwoven it with one of those idyllic contests for the palm of song which also belong to the knightly old times. There is a thought, too, of great beauty in the last scene; in which, having returned to the Wartburg, where his temptress dwells, and narrowly escaped from her fatal fascinations, the Tannhaüser is recalled to earthly consciousness by the death-song chanted over the bier of the mortal maiden whose heart had broken for his sake. I cannot but think that it must be sympathy with the spirit of this story which can enable even the German public most soaked in transcendental mysticism to endure the manner in which it has been set to music by its inventor. Herr Wagner hardly practises what he preaches. Resolute on destroying all stage conventions, he is nevertheless determined on making his musical dramas please by every stage accessory and trick. The German managers speak with dismay of a peremptory pamphlet circulated by him, reproving the Dresden theatre for its inefficient and parsimonious execution of the “Tannhaüser,” and protesting against the performance of his opera, unless it be dressed out with every conceivable luxury for the eye.16 Being his own librettist, this novel philosopher in search of truth has no scruple against writing his opera book in rhymed verse, though he will have neither airs nor duets, and only the smallest number of concerted pieces possible. Though he does not hesitate to reduce his singers to mimes whenever it pleases him, Herr Wagner caters his best for the orchestra. Now, what truth is there in the perpetual noise of a band, if literal presentation be the object in view? Why should not the orchestra be silent throughout a whole scene – supposing the terror or pity of the situation to require it? In one respect, however, Herr Wagner is consistent. His aversion to melody is equalled by his poverty in the article. Small matter whether he hides from motivi or whether motivi hide from him, there are only two subjects meriting such a name in the “Tannhaüser,” these being the themes wrought into the overture. For, though a tolerably brilliant March, in the second act17, sounds a marvel of beauty in the midst of such wearisome chaos of spasmodic sounds, it is rhythmical rather than melodious. Yet, if ever there was a tale claiming an entirely opposite mode of treatment, it is this. The magic Bower of Venus, with its nymphs, bacchanals, and syrens demanding something more voluptuously sweet than such a grotesque mixture of flute and cymbal as would fitly serve for table-music to the
14 Nach
dem Scheitern der revolutionären Erhebungen war die Oper in Dresden erstmals am 26. Oktober 1852 wieder zur Aufführung gelangt. Chorley orientiert sich hier offenbar an Liszts Schreibweise „Tannhaüser“, die dieser im Hinblick auf die französische Leserschaft seiner Schrift über Lohengrin und Tannhäuser gewählt hatte. 15 Tieck 1799 Der getreue Eckart und der Tannenhäuser. 16 Wagner 1852 Ueber die Aufführung des Tannhäuser. 17 Wagner, Tannhäuser, 2. Aufzug, 4. Szene „Einzug der Gäste auf der Wartburg“.
Chorley 1853 Schumann and Wagner
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wicked and deformed old fairy Carabossa18, when she sits down to dine in her cookery sauced with poisons. The herdboy’s song on the rock in the morning-scene19 trails along vapidly, independent of the pilgrim’s hymn with which it was meant to be combined. The contest of minstrels20 resembles nothing so much as a series of dreary sermons delivered by several men, in neither recitative nor aria, to a harp accompaniment. Alas! out of their stupifying preachment there is not to be extracted even as little as “that sweet word Mesopotamia,”21 on the gain of which the old woman went home satisfied that she had not lost her time at church. The final stretto after their tiresome prosing was as welcome as is a glimpse of daylight to men waking from a night-mare, merely because it contains a few bars of climax for the voices which are successively introduced, and subsequently grouped according to the commonest Italian receipt. How low must the opera goer be brought when he can think of Verdi with complacency and longing! – in the last act, monologue frantic succeeds to monologue whining; and how either can be learnt by the singers is a mystery. – But conceding that “Tannhaüser” is to be considered merely as a recitative opera written after the leading fashion of Lulli, with an orchestra tenfold stronger than Mlle. de Montpensier’s marmiton22 ever dreamed of, it is a failure, if tried by its own rules. The recitative is bad and untrue; because it possesses none of those cadences ministering repose to the ear which are indispensable to the recitation of verse, and which habitually belong to the parlance of every civilized human being. Perpetual strain, perpetual emphasis, perpetual awkwardness of interval, – these are Herr Wagner’s materials for that true declamation which is to carry out with improvements the famous canons of Gluck, and to make of music that utterly unmusical thing in which all the dilettanti delight. Yet more, in the use of that huge conventionalism, the orchestra – to which every other conventionalism is to be sacrificed – Herr Wagner does not seem to me felicitous in “Tannhaüser.” The overture pleased me more when I heard it given by Dr. Liszt’s two marvellous hands on the piano23 than when it was rendered by Herr Reisiger’s24 [sic] capital and sensitive band. There is a want of proportion and of richness in the filling up, owing to which, certain of the effects meant by the composer to be among his strongest come forth but feebly. This is to be felt in his
18 Karabossa
bzw. Carabosse ist der Name einer bösen Fee in französischen und englischen Märchen des 17. und 18. Jahrhunderts. 19 Wagner, Tannhäuser, 1. Aufzug, 3. Szene. 20 Ebd., 2. Aufzug, 4. Szene, 1. Teil. 21 Der englische Schauspieler David Garrick (1717 –1779) soll behauptet haben, er könne allein mit dem Wort „Mesopotamien“ das Publikum zu Tränen rühren (vgl. Shipley 1984 The Origins of English Word, S. 236). 22 Hier ist Jean-Baptiste Lully (1632 –1687) gemeint, der mit 13 Jahren als Küchenjunge (frz. marmiton) in den Haushalt der Anne Marie Louise d’Orléans, Duchesse de Montpensier, genannt „La Grande Mademoiselle“, kam. 23 Chorley lobt hiermit Liszts Tannhäuser-Bearbeitung für Klavier (Ouvertüre zu Tannhäuser S 442), die dieser wahrscheinlich bei einem Aufenthalt anlässlich der sogenannten „Herder-Feier“ im August 1850 gehört hat (siehe Chorley 1850 Music at Weimar, in: NdS 1 Nr. 23). 24 Karl Gottlieb Reißiger (1798 –1859), deutscher Dirigent und Komponist, fungierte ab 1828 als Nachfolger Carl Maria von Webers als Hofkapellmeister in Dresden. In den Jahren 1843 bis 1849 stand ihm dabei Richard Wagner als zweiter Kapellmeister zur Seite. Reißiger brachte 1842 Wagners Rienzi zur Uraufführung und dirigierte regelmäßig auch die späteren Opern Wagners, so z. B. 1852 den Tannhäuser, welchem Chorley offensichtlich beigewohnt hatte.
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treatment of the introduction, and yet more strongly in the coda, where a whirling and busy figure for the violins (owing to ill calculated sonority) is overborne by the harsh and blatant brass instruments, in place of being wrought up together with them into a rich and well-balanced fortissimo. Not only are the singers throughout the opera tormented as concerns their intrinsic occupation, but the acutest tones of the violin, or the group of sourest flute notes, are employed high above the male voices, without the latter being indulged with due support from beneath. After the sarcastic and arrogant depreciation of MM. Meyerbeer and Berlioz published by Herr Wagner25, the world had a right to expect from him something far more rich, brilliant, and peculiar in his instrumentation than they have received. But the discoveries and innovations made by his betters he employs in the uncouth fashion of a school-boy; writing audaciously in proportion as his real knowledge is limited. Such without exaggeration are my impressions of “Tannhaüser.” – a work not to be endured to the end without melancholy wonder at the pains it has cost, and yet more painful amazement at its being found admirable by recipients from whom a truer taste might have been expected. There is comfort, however, in thinking that beyond Herr Wagner in his peculiar manner it is hardly possible to go. The saturnal of licentious discord must have here reached its climax. It is true, the “conventionalisms” of the orchestra have still to be destroyed; – only, were this done, since all pretext of music would cease, the thing produced would no longer be within the domain of Art, but would rather come under the care of a society for the suppression of nuisances.
wird wahrscheinlich auf Wagners 1852 erschienene Schrift Oper und Drama angespielt, in welcher er insbesondere Meyerbeer stark abwertet: „Meyerbeer wollte dagegen ein ungeheuer buntscheckiges, historisch-romantisches, teuflisch-religiöses, bigott-wollüstiges, frivol-heiliges, geheimnisvoll-freches, sentimental-gaunerisches, dramatisches Allerlei haben, um an ihm erst Stoff zum Auffinden einer ungeheuer kuriosen Musik zu gewinnen, – was ihm wegen des unbesieglichen Leders seines eigentlichen musikalischen Naturelles wiederum nie wirklich recht gelingen wollte. Er fühlte, daß aus all dem aufgespeicherten Vorrate musikalischer Effektmittel etwas noch gar nicht Dagewesenes zu Stande zu bringen war, wenn er aus allen Winkeln zusammengekehrt, auf einen Haufen in krauser Verwirrung geschichtet, mit theatralischem Pulver und Kolophonium versetzt, und nun mit ungeheurem Knall in die Luft gesprengt würde“ (siehe 1. Teil, VI, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 100). Über Berlioz schreibt Wagner u. a. im Zusammenhang mit dessen Instrumentation: „Berlioz aber erfreute sich an der krausen Verwirrung, zu der er jene Stücke immer bunter durcheinanderschüttelte, und die ungeheuer komplizierte Maschine, den Kaleidoskop, worin er die bunten Steine nach Belieben durcheinanderrüttelte, reichte er dem modernen Opernkomponisten im Orchester dar.“ (1. Teil, V, in: ebd., S. 83). 25 Hier
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Kommentar In der in Boston erschienenen Musikzeitschrift Dwight’s Journal findet sich dieser Wiederabdruck eines Artikels aus dem Londoner Athenæum,26 in welchem der englische Musikkritiker Henry Fothergill Chorley vernichtende Kritik an Werken zweier Komponisten übt, die für ihn seit spätestens 1850 das musikalische „Jungdeutschland“ repräsentierten27: Schumanns 1. Symphonie und Wagners Tannhäuser. Begründet wird dies in beiden Fällen insbesondere mit ihrer angeblichen Formlosigkeit, musikalischen Unlogik sowie vor allem Melodienlosigkeit. Für die Leserschaft des erst kurz zuvor gegründeten Dwight’s Journal waren Wiederabdrucke solcher Korrespondenzberichte aus Deutschland insofern relevant, als zwar die Symphonie Schumanns bereits in mehreren Konzerten in Boston erklungen war,28 aber eine Aufführung des Tannhäusers zu diesem Zeitpunkt noch ausstand, die erst 1859 unter der Leitung Carl Bergmanns verwirklicht werden konnte.29 Dennoch mag die Wiedergabe des Artikels zunächst erstaunen, da sich das Dwight’s Journal im Allgemeinen betont offen gegenüber der damaligen musikalischen Avantgarde, zu der sowohl Wagner als auch Schumann gezählt wurden, aussprach.30 Doch bereits die vorangestellten Worte der Redaktion zeigen eine ironische Distanz, sodass der Herausgeber John Sullivan Dwight seinen Lesern die extreme Haltung Chorleys auch als ein Beispiel für die konservativ-vorurteilsbeladene britische Sichtweise auf die deutsche musikalische Avantgarde und damit zugleich indirekt als Beleg für die eigene, ansonsten vorherrschende Unvoreingenommenheit des eigenen Blattes präsentierte. Diese hier noch indirekte Parteinahme für das musikalische „Young Germany“31 entwickelte sich in den Folgejahren zu einer offenen Auseinandersetzung zwischen dem Dwight’s Journal und dem Athenæum sowie der ebenfalls in der britischen Hauptstadt erscheinenden Musical World, etwa anlässlich der Londoner Erstaufführung von Robert Schumanns Das Paradies und die Peri im Jahre 1856.32 Auf diese Weise wurde in der amerikanischen Zeitschrift nicht nur über den deutschsprachigen musikalischen Parteienstreit dieser Jahre berichtet, sondern er wurde gleichsam auf einem ‚Nebenschauplatz‘ – wenngleich oftmals ohne direkte Kenntnis der jeweils besprochenen Werke33 – aktiv mit ausgefochten. Dies belegt den zur Eigendynamik neigenden Transformationsprozess der Kontroverse auf mehreren Ebenen, der in der Auseinandersetzung neben den musikästhetischen Auseinandersetzungen noch um historisch bedingte Ressentiments zwischen ‚neuer‘ und ‚alter‘ Welt angereichert war.
1852 Notes on Music in Germany. Der originale Artikel aus dem Athenæum vom 18. Dezember 1852 ist in diesem Wiederabdruck lediglich um einige einleitende Sätze sowie um einen Absatz am Ende gekürzt. Ein weiterer Abdruck des Artikels aus dem Athenæum findet sich außerdem in der Londoner Musical World vom 25. Dezember 1852, wo er um den Untertitel „The two new (rush) lights to lighten the darkness of the musical Jesuits at Leipsic“ ergänzt ist (Chorley 1852 Schumann and Wagner). 27 Siehe hierzu auch vorliegender Artikel, Anm. 2. 28 Vgl. Anonym 1853 Works of Great Composers, S. 31. 29 Vgl. Anonym 1853 First ‚Germania‘ Concert. 30 Siehe Dwight 1854 Our Wagnerism, in: NdS 1 Nr. 59, Anm. 2. 31 Siehe Chorley 1850 Music at Weimar, in: NdS 1 Nr. 23. 32 Siehe Dwight 1856 Musical Party Warfare, in: NdS 2 Nr. 95. Vgl. hierzu insgesamt Ortuño-Stühring 2014 „Lost in Translation“. 33 Die erste nachweisbare Gesamtaufführung des so kontrovers diskutierten Paradies und die Peri von Schumann in Boston, wenngleich wiederum nur mit Klavierbegleitung, fand unter Leitung von James Cutler Dunn Parker am 25. April 1863 statt (siehe Dwight 1863 Paradise and the Peri). 26 Chorley
Nr. 41 | Joachim Raff, „An die Redaction der Neuen Zeitschrift für Musik“, in: NZfM 20 (1853), Bd. 38, Nr. 7 (11. Februar), S. 65 – 69.
An die Redactionder Neuen Zeitschrift für Musik.I Von Joachim Raff.
I Anmerkung der Redaction. Es war Anfangs unsere Absicht, obiger Mittheilung eine längere Nachschrift folgen zu lassen. Bei näherer Ueberlegung zogen wir indeß vor, Das, was wir zu sagen haben, in einem eigenen, selbstständigen Artikel in nächster Nummer zu geben.1 Hier sei deshalb nur bemerkt, daß wir nicht überall mit den oben ausgesprochenen Ansichten übereinstimmen können, die Differenzpunkte aber nicht für so wesentlicher Art hielten, um nicht mit dem Hrn. Verf. zusammen gehen zu können, insbesondere in der Kritik, da bei derselben jene Verschiedenheit der Auffassung weit weniger in Frage kommen wird. – Bezüglich der Zulassung einer etwas abweichenden Ansicht in dies. Bl. überhaupt, so liegt die Erklärung in Dem, was wir in der neulich gegebenen Einleitung (Nr. 1 von diesem Jahr)2 bemerkten. Für uns ist es jetzt an der Zeit, daß wir weiter gehen, daß wir in bestimmterer Weise die neuen Aufgaben fassen. Dazu aber scheint uns nichts geeigneter, als ein von verwandtem Standpunkt aus erhobener Widerspruch. So wird uns die oben ausgesprochene Ansicht über das Verhältniß der specifischen Musik zum Gesammtkunstwerk schon in nächster Nummer Gelegenheit geben, uns über den zunächst wichtigsten Punkt, das Verhältniß der Einzelkunst zur Gesammtkunst, auszusprechen. – Was den Kampf mit jenen Mißverständnissen gröblichster Art, wie sie bisher vorkamen, betrifft, so darf dieser in der Hauptsache als beendet angesehen werden. Damit ist keineswegs gesagt, daß wir nicht öfter noch dazu genöthigt sein werden, nicht gesagt, daß alle Gegner verschwunden sind. Es ist indeß dieser Gegnerschaft kein so großes Gewicht mehr beizulegen. Wie es noch jetzt Leute giebt, welche Göthe nicht anerkennen wollen, und seinen unendlich großen Einfluß auf die deutsche Bildung leugnen, welche ihm sogar das Prädicat eines Dichters streitig machen, so kann man bald auch dem geistig bedeutungslosen Widerstreben der hier gemeinten Gegner der neuen Kunst ruhig zusehen, denn das Gerede derselben verhallt machtlos.
1853 Die bisherige Sonderkunst, in: NdS 1 Nr. 42. 2 Brendel 1853 Zum neuen Jahr. Darin heißt es: „Indem wir nicht blos ein fernes Ziel vor Augen haben, indem wir in die vorhandenen Zustände eingreifen, das Neue nicht blos hinstellen, sondern demselben Eingang verschaffen wollen, sind wir genöthigt auch wirklich auf das Vorhandene einzugehen, und den Punkt festzuhalten, von wo aus wir uns verständigen können. Mögen daher die Freunde des entschiedendsten Fortschritts uns nicht tadeln, wenn wir eine gewisse Schonung walten lassen, wenn wir nicht verlangen, daß plötzlich und mit einem Male sich Alles ändere, wenn wir im Gegentheil manches, von dem wir sehr wohl wissen, daß es nicht mehr berechtigt, noch mit fortführen, und einigermaßen den Moment abwarten, wo das Ueberlebte desselben mit größerer Leichtigkeit erkannt werden wird. Wollen wir wirklich nützen, so müssen wir hier und da noch Concessionen machen, und dürfen nicht überall mit schroffster Consequenz verfahren. Es erklärt sich hieraus u. A. der Umstand, daß wir noch immer der Kritik einen großen Raum gewähren“ (ebd., S. 3 f.). 1 Brendel
Raff 1853a An die Redaction
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Indem Sie mich in bestimmtester Form zur Mitarbeiterschaft an Ihrem Blatte und zur thätigsten und umfassendsten Theilnahme an der Bewältigung der Aufgaben, welche Sie demselben gestellt haben, beriefen, setzten Sie mich der Nothwendigkeit aus, die innere und äußere Möglichkeit, die meinerseits für solches Beginnen vorhanden wäre, und die Folgen, die mir aus demselben erstehen könnten, zu erwägen. Ich finde es unnütz, Sie mit den Folgerungen zu behelligen, welche ich daraus für mich zog. Welcher Art auch immer die Bedenken sein mußten, die sich mir aufdrängten (und unter diesen war die Frage nach dem Verhältnisse, welches sich für den Producenten zum Kritiker herausstellen möchte, nicht das geringste) – ein Moment drängte sich dabei vor meinen Augen stets in den Vordergrund, das der moralischen Verpflichtung, die ich der Körperschaft der [66] jüngeren fortschreitenden Künstler schulde, an deren Kampfe für die reinste Ueberzeugung, und das dem unbescholtensten weil instinctiven Drange entsprossene Bedürfniß nach Umgestaltung der Zustände im engern wie weiteren Kunstbereiche nicht blos in positiver und passiver, sondern wenn es einmal nöthig, auch in negativer und aggressiver Weise theilzunehmen. – Für Sie besteht das Resultat meiner Erwägungen darin, daß ich Ihrem Rufe hiermit bestimmt Folge leiste; und wenn Sie am Grabe eines durch Integrität des Charakters, wie durch Reinheit seiner Ueberzeugung und den Feuereifer, womit er für dieselbe einstand, ausgezeichneten Freundes, den der Tod zu früh aus der Reihe der Vorkämpfer Ihres Programmes hinwegriß,3 einen Blick der Zuversicht nach Weimar hinüber richteten, so sei Ihnen hiermit gesagt, daß Ihr Vertrauen gerechtfertigt werden soll, so weit es von mir abhängt. Ich würde nicht anstehen, meine Thätigkeit heute schon mit Behandlung irgend eines Vorwurfes aus dem Gebiete engerer Praxis zu beginnen, wenn nicht ein Blick auf die Verhältnisse, in denen wir uns befinden, und auf den besonderen Standpunkt, den ich inmitten derselben zu fassen mir nun schon einmal erlaube, mich veranlaßte, im Voraus einige Ansichten auszusprechen, welche besser kurz und auf einmal dargelegt seien, als daß sie da und dort gelegentlich hingestreut werden, was bei der Art, wie Zeitschriften erscheinen und gelesen werden, gewöhnlich nur einen unbestimmten Eindruck zuwege bringt, unter dessen Zweideutigkeit allemal die Urheber am meisten zu leiden ha[ben]. – Die gegenwärtige Bewegung im Bereiche derjenigen Elemente, welche die „musikalische Welt“ ausmachen wollen, ergeht sich zwischen zwei extremen Punkten, deren jemaliges Zusammengelangen zu wenig Aussicht hat, als daß man nicht den Wunsch in sich fühlen könnte, einen Mittelpunkt zu suchen und zu finden, in welchem sich weniger die Interessen der Parteien als der Kunstmomente selbst, die ihr Kampfgeschrei bilden, ausglichen. – Dem Kampfschauplatze hinlänglich nahe gerückt um kein wichtiges Ereigniß außer Sicht zu lassen, und hinwieder auf eine productive Thätigkeit angewiesen, die ihre Stütze mit nichten an der beiderseitigen Negation finden kann, habe ich dringender als manche Kunstgenossen vielleicht das
3 Hiermit ist Theodor Uhlig (1822 –1853) gemeint, der einen Monat zuvor, am 3. Januar 1853, verstorben war und sich seit 1850 insbesondere in der NZfM publizistisch für das Werk Richard Wagners eingesetzt hatte.
402
Nr. 41 (1853)
Bedürfniß empfunden die terra firma4 eines neutralen Terrains zu gewinnen, welche mir aus den einzigen festen Bestandtheilen des allumher aufgelockerten Bodens gebildet zu sein schien, die eine Grundlage für den Ueberbau des unabweisbaren Fortschrittes abgeben konnten. – Jene beiden extremen Parteien möchte ich begriffen sehen einmal unter der nachbeethoven’schen Reaction, welche sich durch Opposition gegen die Erzeugnisse aus der letzten Periode dieses Meisters selbst, so wie dessen beide bedeutendste Ausläufer nach der idealen und formalen Seite hin, Schumann und Berlioz kennbar macht, und mit aller negativen Anstrengung in jenen Zustand der specifischen Musik zurückdrängt, welche das Interregnum von Mozart bis Beethoven ausmachte; – dann in jener exclusiven Anhängerschaft Richard Wagners, welche aus Mißverstand dieses Reformator’s des Drama’s, die Berechtigung der specifischen Musik läugnend mit unarticulirter Vehemenz auf ihr „Kunstwerk der Zukunft“ hinweist, dessen Vorhandensein mit seiner Möglichkeit stets im Bereiche des Problem’s ringen wird, – einer Anhängerschaft, für die alle Welt eher verantwortlich zu machen sein dürfte als Richard Wagner selbst. – Die Heftigkeit der letzteren und die impertinente Trägheit der ersteren Partei glauben sich mit einer Art von „Recht“ umgeben zu sehen, welches jedoch meines Erachtens, wenn von demselben in der Entwickelungsgeschichte des Schönen überhaupt die Rede sein kann, nicht vorhanden ist. – Sehe man vor Allem, was Wagner will! Er postulirt ein Kunstwerk, welches sich von Hause aus außer Concurrenz aller übrigen stellt. Ich sage es unverholen: Wagner kämpft mit Windmühlen, wenn er gegen den bisherigen Zustand der Oper ernstlich polemisirt. Was geht ihn diese Oper an? Er will sie nicht mehr hören und nicht mehr schreiben. Er verlangt ein Kunstwerk, welches von der Oper so verschieden ist als die Form seines Zukunftdrama’s, der Stoff und die Darstellung desselben von allem bisher Dagewesenen nur immer sein können. Er verlangt zu diesem Behufe weiter nichts als einen neuen Kunststyl (wie das für ein neues Kunstwerk nöthig) und eine Generation, die in Folge ihrer gesellschaftlichen Einrichtungen, Erziehung und Bedürfnisse für diesen Kunststyl empfänglich sei (wozu das Kunstwerk in erster Linie natürlich selbst etwas beitragen muß, da die von Wagner zurückersehnte erste Natur der Menschheit einstweilen nur durch Gewinn (Adoptirung) der zweiten – der Gewohnheit – wird ersetzt werden können). – Wie kann nun der specifische Musiker5 mit diesem Kunstwerke collidiren? Gar nicht; und es sähe übel um Wagner und seine That aus, wenn dies der Fall wäre. Es ist mir noch unbegreiflich woher die Erbitterung der specifischen Musiker gegen Wagner rühren könnte, wenn nicht aus dem Irrwahne, Wagner
4 (Lat.)
Festland. 5 Der Ausdruck „specifischer Musiker“ wurde seit Anfang der 1850er Jahre u. a. von Theodor Uhlig und Franz Brendel verwendet. Er bezeichnet einen Musiker, der sich ausschließlich auf das Gebiet der Musik zurückzieht, und somit den Gegenpol zu einem umfassend gebildeten Musiker darstellt, der sich etwa auch mit Literatur und bildender Kunst auseinandersetzt. Für Brendel bildete letzterer jedoch eine notwendige Voraussetzung für den Fortschritt in der Musik: „Mit Künstlern, welche nur eine solide musikalische Bildung besitzen, sonst nichts, ist der Gegenwart nicht mehr gedient. […] Der zweite Punct des Fortschritts für die Musiker besteht dem Gesagten zufolge in der Gewinnung dieses höheren Bewusstseins, in der Entfernung jenes specifischen Musikerthums, welches die Ursache der Verkommenheit, der Inhaltslosigkeit in unserer Kunst ist“ (Brendel 1852 Geschichte der Musik, S. 540).
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sei gesonnen, die Sonderkunst6 als solche aufzuheben, d. h. im Kunstwerke der Zukunft aufgehen zu lassen. Allerdings bildet die Musik in ihrer weitesten gegenwärtigen Aus-[67]bildung eine Ingredienz des Wagner’schen Kunststyles, aber sie ist darin nicht viel mehr als eine wichtige Farbe auf der Palette des Malers. Wagner hat das Verhältniß der Musik zum Kunstwerke der Zukunft nicht schärfer und aufrichtiger bezeichnen können, als es in „Oper und Drama“7 geschehen ist, und jedem Unbefangenen ist klar, daß er der heutigen Musik in seinem Kunstwerke keine andere Stellung hat anweisen wollen, als er der griechischen im griechischen Drama angewiesen hätte, wenn er sich in der Lage des Aristoteles befand.8 – Wagner ist ferner im vollkommensten Rechte, wenn er meint die objective Ausdrucksfähigkeit der Musik in einer Weise erweitert zu haben, von der bei ihr als absolut und in Verbindung mit der noch gebräuchlichen Art von Opernbüchern nicht die Rede sein konnte. Indem er sie als Darstellungsmittel für ein Erzeugniß der auf die ganze ideal und real gesetzte Sinnlichkeit gestellten Phantasie mi[ss]braucht, so öffnet er ihr natürlich einen größern objectiven Wirkungskreis, als wenn er sie zur Vermittlung eines Productes der blos empfindenden auf das Gehör organisirten Phantasie verwendete. Kann es aber dabei seine Absicht sein, die große subjective Wirkungssphäre, die in dem Kunstwerke letzterer Gattung der Musik angewiesen ist, zu schmälern? – Gewiß nicht, weil er sonst geradezu die sinnliche Ausschließlichkeit des Materials, welche in engstem Wechselbezuge zur Organisation des einzelnen Wahrnehmungsvermögens und der auf dasselbe gestellten Phantasie steht, und daher den ersten und wesentlichsten Theilungsgrund der Künste abgiebt, läugnen, d. h. das Unmögliche behaupten würde. – Indem ich nun Wagner’s Theorem im Ganzen und Großen annehme, verpflichte ich mich nicht zur unbedingten Anerkennung seiner Verwirklichung ab [sic] Seite der Wagner’schen Künstler-Individualität, und zwar schon darum, weil dieselbe sich in ganz nächster Zukunft bereits in die Sackgasse eines fast localen Deutschthumes zu verrennen droht, welche dem Durchdringen der hohen und lebensfähigen Idee, die sie verwirklichen soll, in diejenigen halbgermanischen und romanischen Stämme, die bis anhin mit uns – etwas mehr oder minder – auf derselben Stufe der Kunstentwickelung geblieben sind, durch Ausschließlichkeit des Stoffes und der Form entschieden hinderlich ist, und so die Erreichung des letzten ethischen, socialen Zweckes der Kunst, um die es doch Wagner selbst offenbar am meisten zu thun ist, von vornherein gefährdet. –
Bezeichnung „Sonderkunst“ findet sich bereits bei Richard Wagner (Wagner 1850 Das Judenthum, in: Fischer 2000 Richard Wagners Das Judentum, S. 156 und 171; Wagner 1852 Ein Brief an den Redacteur, S. 61, in: NdS 1 Nr. 29, S. 297) und bezeichnet sämtliche Musik, die nicht Teil des von ihm angestrebten Gesamtkunstwerks ist. 7 Wagner 1852 Oper und Drama. 8 In seiner Poetik wies Aristoteles der Musik eine untergeordnete Rolle zu, da das entscheidende Moment der Katharsis nicht durch äußerliche Effekte wie solche der Inszenierung oder durch die Musik, sondern einzig durch das Sprechen der Schauspieler bewirkt werden soll. In Oper und Drama ist zu Aristoteles Folgendes zu finden: „Die neue Vereinigung konnte nur eine künstliche sein. Wie die Dichtkunst nach den Regeln, die Aristoteles von den Tragikern abstrahirt hatte, konstruirt wurde, so mußte die Musik nach wissenschaftlichen Annahmen und Normen hergerichtet werden“ (Wagner 1852 Oper und Drama, 1. Teil, VII, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 112). 6 Die
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Indem ich das höchste einheitlich combinirte Kunstwerk den übrigen mit der Musik zusammengesetzten Kunstwerken und demjenigen der Einzelkunst selbst gegenüber stelle, glaube ich des geschichtlichen Nachweises für die Berechtigung der letztern (der mir übrigens zur Hand ist) hier um so eher enthoben werden zu können, als ich die Begründung derselben so weit sie aus der Organisation der menschlichen Natur erholt zu werden brauchte, oben bereits aufgenommen habe. Es kommt mir nunmehr darauf an, zu untersuchen, wie es mit dem Gebahren des Sonderkünstlers aussehe, den ich unter der ersten der zu beleuchtenden Parteien begriffen habe. – Die Verwendung des Kunstmaterials ist im Laufe der Zeit durch eine Anzahl von Gesetzparagraphen geregelt worden, welche aus der stillschweigenden Convenienz9 der Practikanten hervorgingen, die sich das Ansehen von Lehrern bei irgend einem der abendländischen Völker erworben hatten, welche in dem ausschließlichen Besitze der Musik als Kunst waren und gewissermaßen noch sind. Diese Gesetze sind zum Theil auf das bloße Belieben ihrer Autoritäten begründet gewesen, waren aber gleichwohl von großem Einfluß auf das was man Styl zu nennen für gut fand. Ihnen verdankte man die seltsame Eintheilung in strengen oder gebundenen, und freien oder ungebundenen, in Kammer-, Kirchen- und Opern- (Theater-) styl, – ihnen auch die ganze gründliche Verhunzung der Grammatik und Syntax, wodurch man in Stand gesetzt ward, alles musikalisch ausdrücken zu können, aber nur nie so, wie man es fühlte. Zum Glücke ist man über diese herrliche Theorie ziemlich hinweg; sie ist nur noch Lehrgegenstand einiger wenigen Conservatoriumsprofessoren, die von jedem praktischen Einflusse auf das Publikum abgesperrt sind. – Was nun jenem Stylunwesen hauptsächlich ein Ende machte, war das Entstehen der Instrumentalsymphonie. – In jeder Sonderkunst ist dasjenige Kunstwerk das vollkommenste, welches sie ohne Beihülfe einer andern Kunst hervorbringt. Da nun die Musik, sofern sie nicht mit der Orchestik oder der Poesie vereint zu einem combinirten Kunstwerke zusammenwirkt, sich durch die blose Vermittlung instrumentaler Körper an das auf sie organisirte Wahrnehmungsvermögen wendet, so mußte dasjenige Kunstwerk in welchem der möglichst höchste, erreichbare Zweck der Sonderkunst – (die erschöpfendste Darlegung der Art und Weise, in welcher das innerste Selbst seiner Subjectivität und ideellen Seele nach in sich bewegt ist, an das Gemüth) – durch den perfectesten und ausdrucksfähigsten Instrumentalkörper, das Orchester[,] verwirklicht werden konnte, auch das vollkommenste Kunstwerk der Sonderkunst sein. – Für dieses Kunstwerk nun paßte aber keiner der hergebrachten [68] Style, und in ihm fand endlich das durch eine eiserne, stupide Theorie gefesselte Material der Sonderkunst seine Befreiung. – Es ist in der Geschichte keiner andern Sonderkunst erhört, daß ihr genuines Kunstwerk der Zeit nach das letzte gewesen wäre, welches sie erzeugt hätte; eine Thatsache für welche man im vorliegenden Falle den Grund freilich auch mit in dem Umstande suchen muß, daß die abendländischen Völker nicht anders als die hellenischen und orientalischen die Musik vorzugsweise in Combination mit Poesie oder Orchestik kannten, und dann auch in dem eigenthümlichen töchterlichen Verhältnisse, in welchem dieselbe zur Cultur der römischen Kirche stand. – Indeß die Symphonie ist endlich doch da, und Beethoven nichts weniger als ein Mythus. – Habe ich aber das Wesen des esoterischen Gehaltes der Symphonie
9 (Aus
dem Frz.) Anständigkeit.
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angegeben, so kann ich ihren exoterischen Darstellungskreis als diejenige Lyrik und Epik (beschreibende Poesie inbegriffen) angeben, deren Objecte in gewissem Sinne zu concret, um der Poesie, oder zu abstract sind, um der bildenden Kunst anheimzufallen. Wenn nun dieser Gehalt bei Beethoven in geheimnißvoller Synthese sich verdichtete, und als einheitliches Product in bestimmtester individueller Form zur Erscheinung gelangte, so geschah es auf unfreiwilligem analytischem Wege, daß sich bei seinen beiden Nachfolgern oder besser Ausläufern der Gehalt sonderte, und mit ihm auch, die Darstellungsweise. – So sehe ich in Schumann die Lyrik und die Repression der Darstellungsmittel durch die Idee, bei Berlioz die Epik und die Neigung zur Verwendung der malenden mithin realeren Darstellungsmittel vorherrschen. In ihrer directen Abstammung von Beethoven liegt die hohe Berechtigung der genannten beiden Kunstfactoren der Gegenwart; in der beziehungsweisen Ausschließlichkeit des Stoffes und der Behandlung die Einseitigkeit derselben. Zur Zeit ist erfahrungsweise erwiesen, daß Schumann und Berlioz (im Großen und Ganzen genommen – natürlich) so ziemlich das einzige Schulemachende in der absoluten Musik sein können; denn was nicht auf diesen beiden Wegen wandelte, gerieth größtentheils auf ’s Trivium der Unbedeutendheit. – Ich könnte hier abbrechen, indem ich zur Genüge angedeutet habe, welches mein Standpunkt gegenüber der Partei sein muß, die ich als meine erste Gegnerschaft vermerkte, wenn diese Partei nicht gewohnt wäre auf einen Künstler hinzuweisen, den sie (gar nicht einmal mit Recht) so gerne als Aushängeschild für ihre bequeme Acquiescenz10 braucht, – ich meine Mendelssohn-Bartholdy. Heute wo die Debatte über das Wesen dieser anomalen Kunsterscheinung füglichst abgeschlossen werden kann, glaube ich dasselbe nicht unrichtig zu bezeichnen, wenn ich es als den durch geistreich-eklektische Benützung alles vorhandenen Kunstmaterials poussirten äußersten formalen Fortschritt der vorbeethoven’schen Periode bezeichne, welcher, haftbar an der Persönlichkeit seines Urhebers, mit diesem stehen und fallen mußte. Ich premire das Wort „formalen“ weil es scharf genug den Standpunkt andeutet, von welchem aus sich Beethoven gegenüber jene ehrenhafte Reaction machen ließ, von der übrigens die Großzahl der Mendelssohnianer schlechterdings keine Ahnung mehr zu haben scheint. Noch übrigt mir, Ihnen zwei Momente flüchtig zu berühren, über welche ich im Laufe meiner Thätigkeit mich genauer auszulassen Gelegenheit finden werde. Sie stehen an den äußersten Extremitäten des Kunstkörpers und fallen mir wohl darum eben noch in die Augen. Das Eine ist die Theorie, das andere die instrumentale und vocale Virtuosität. – Es ist mir im Hinblicke auf die Bedürfnisse der Gegenwart blos jene Theorie zulässig, welche nach einheitlichem Principe das Gesammtgebiet der Productionsweise behellt; ich kann daher den alten Bildungsgang, wornach [sic] man sich begnügte, Harmonie und wenn’s hoch kam, Contrapunkt à part11 zu studiren, nicht im mindesten billigen. Die Gesetze der Harmonie (im weiteren Sinne der Modulation) und des Rhythmus (im weiteren Sinne des Periodenbaues) sind für mich nichts weiter als die Normen für die Bewegung einer oder mehrer [sic] Melodien in Raum und Zeit des Klanges. Sie sind der kleinste Theil der heutigen Compositionslehre; wie einfacher daher und weniger zahlreich ihre Regeln, desto besser. Ungleich
10 (Aus
dem Lat.) Beruhigung, Verbleiben.
11 (Frz.)
abseits, extra, gesondert.
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wichtiger sind die Lehren von den Formen (weniger Theorie blos der historisch entwickelten Kunstformen, als der Formbildung selbst), und von der Darstellung für die unmittelbare Wirkung ab Seite der Klangkörper, beziehungsweise die Lehre vom Instrumentiren und Effectuiren, endlich Geschichte und Lehre des Kunststyls. (Man wird hieraus entnehmen können, das[s] mir von sämmtlichen Handbüchern der Compositionslehre das von B. Marx12 noch am meisten genügen konnte.) Was endlich sonst noch in die Propädeutik des studirenden Tondichters gehört ist eine Polymathie13, deren Wesen und Bedürfniß jener Künstler am meisten empfindet, welcher von Haus aus nicht blos fühlt, sondern auch weiß, warum er componiren will. – – Was das Virtuosenthum anlangt, so hat es bei der alten, wie bei der modernen Musik von jeher bestanden, in Folge gewisser äußerer Ursachen sogar bestehen müssen. Es selbst und seine Berechtigung zu negiren ist die bequeme Maßregel von Leuten, welche zu faul sind, sich eine Sache näher anzusehen, bis sie dergestalt davon urgirt14 werden, daß sie nichts mehr zu thun wis-[69]sen, als darüber zu schimpfen. Das hier gemeinte Virtuosenthum an sich ist nichts als der Cultus des materiellen Kunstmittels, also zur vollkommenen Erreichung des Kunstzweckes so förderlich als es je die Perfection des Mediums sein kann, durch welches die Idee vermittelt werden soll. Das Virtuosen thum ist aber von Zeit zu Zeit aus der Grenze dieser Bestimmung herausgetreten, und hat sich nicht einmal damit begnügt, sich als Selbstzweck anzusehen, sondern auch den idealen Kunstzweck sich so weit untergeordnet, als es ihm möglich und genehm war. Schon in früherer Zeit hat dieser Umstand sehr wesentliche Folgen gehabt; in unserer Zeit ist dies abermals der Fall gewesen. Es wird sich nur darum handeln zu untersuchen, ob das Virtuosenthum allein an seinen gegenwärtigen Mißverhältnissen zwischen Zweck und Mitteln die Schuld trägt, oder ob nicht ein großes, ich sage jetzt schon mit aller Bestimmtheit, das größere Theil dieser Schuld anderswo zu suchen ist; – jedenfalls werde ich stets dabei bleiben, daß in der Kunst wie in der Natur nichts ohne Bestimmung besteht, und daß wenn gewisse Componisten fortfahren die Bestimmung des technischen Fortschrittes zu verkennen, dieser letztere genöthigt ist, sich seine Bestimmung da zu suchen, wo er sie eigentlich nicht suchen sollte. Ich bin nicht bemüßigt, Ihnen Eingangs [sic] meiner Thätigkeit weitläufiger zu werden, als es hiermit geschehen ist, und ich habe alle Ursache, mich zu entschuldigen, daß ich es nicht „kürzer machte.“ Allein es waren in Vorstehendem eine Anzahl von Sätzen niederzulegen, auf die ich so oft zurückkommen muß, daß ihre zusammenhängende Aufführung umgehen eben so viel geheißen hätte, als der richtigen Würdigung dessen, was ich bei vorkommender Gelegenheit zu sagen habe, geflissentlich einen ordentlichen Hemmschuh in den Weg legen. Ich schließe somit meinen Brief mit der wiederholten Versicherung meines aufrichtig guten Vorsatzes zu Ihrer Verfügung zu sein als Ihr bereitwilliger Joachim Raff. Weimar im Januar 1853.
Bernhard Marx’ Die Lehre von der musikalischen Komposition, praktisch theoretisch erschien in vier Bänden von 1837 bis 1847. 13 (Griech.) vielseitiges Wissen. 14 Urgieren (aus dem Lat.): drängen, nachdrücklich betreiben. 12 Adolf
Raff 1853a An die Redaction
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Kommentar Joachim Raff verfasste diesen Text während seiner Zeit bei Liszt in Weimar, dem Raff in den Jahren 1850 bis 1856 als Sekretär zur Seite stand. Es handelt sich dabei um den ersten Artikel, den Raff in der NZfM veröffentlichte, bevor im März bis Juni desselben Jahres seine „Vertrauliche[n] Briefe an den Verfasser des Aufsatzes ‚Tannhäuser von Richard Wagner‘ in den ‚Grenzboten‘“15 sowie im November ein zweiter Artikel mit dem Titel „An die Redaction der Neuen Zeitschrift für Musik“16 folgten. Gemeinsam ist allen drei Publikationen Raffs die Auseinandersetzung mit Wagners Konzept des „Kunstwerk[s] der Zukunft“. Der vorliegende Artikel thematisiert insbesondere das Verhältnis der sogenannten „Sonderkunst“ zum „Kunstwerk der Zukunft“, wobei Raff durchaus eine abweichende Meinung zu derjenigen Brendels vertritt, wie es bereits aus der Anmerkung der Redaktion in der Fußnote ersichtlich wird. Laut Raff werde die „Sonderkunst“ nicht durch das Wagner’sche „Kunstwerk der Zukunft“ aufgehoben, sondern sei ein Bestandteil desselben. So sehr Raff auch als Befürworter des „einheitlich combinirte[n] Kunstwerk[es]“17 auftritt, distanziert er sich in manchen Punkten von Wagner, indem er u. a. zwischen dessen Theorie und deren letztlicher Verwirklichung differenziert. Daneben fallen die Charakterisierungen auf, die Raff von Schumann, Berlioz und Mendelssohn Bartholdy vornimmt. Originär ist etwa, dass er Schumann und Berlioz zusammenfasst und für „so ziemlich das einzige Schulemachende in der absoluten Musik“18 erklärt. Mendelssohn Bartholdys Orchesterwerke, welche von den Verfechtern einer traditionellen Symphonik häufig als Aushängeschild verwendet werden, bezeichnet Raff hingegen als „anomale Kunsterscheinung[en]“19. Eine direkte Reaktion Brendels auf Raffs Äußerungen erfolgte bereits eine Woche später in der NZfM mit dem Artikel „Die bisherige Sonderkunst und das Kunstwerk der Zukunft“20, in welchem der Versuch erkennbar wird, zwischen den auseinandergehenden Ansichten Wagners und Raffs zu vermitteln. Außerdem geht Brendel im Folgejahr in seinem Buch Die Musik der Gegenwart und die Gesammtkunst der Zukunft nochmals auf Raffs Artikel ein: „Näher betrachtet jedoch dürften wohl Verschiedenheiten von weit durchgreifenderer Art zum Grunde liegen. Es ist das Abweichende der Weltanschauung im Grossen und Ganzen; Raff stimmt, so scheint mir, mit den Voraussetzungen nicht überein. Er nimmt die künstlerische Theorie auf, und lässt die Basis derselben dahin gestellt, ich lege auf die Letztere das Hauptgewicht, indem ich die Aneignung der Ersteren ohne diese schlechthin als etwas Unzulässiges betrachte. Die Ueberwindung jedweder egoistischen Sonderung ist die Grundbedingung des Kunstwerks der Zukunft. Ich anerkenne diess vollständig, und sah mich zu einer Abweichung nur desshalb veranlasst, weil W.[agner] das gegenüberstehende ‚communistische‘ Princip zu einseitig hervorhebt, nur den Gegensatz des jetzt Bestehenden accentuirt, ohne das Berechtigte darin, die Nothwendigkeit einer Durchdringung beider
1853 Vertrauliche Briefe, in: NdS 1 Nr. 45. 16 Raff 1853b An die Redaction. 17 Vorliegender Artikel, S. 404 [67]. 18 Ebd., S. 405 [68]. 19 Ebd. 20 Brendel 1853 Die bisherige Sonderkunst, in: NdS 1 Nr. 42. 15 Raff
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Seiten, eine Aufnahme des Alten in das Neue, einer Ergänzung und Erweiterung des Ersteren durch das Letztere anzuerkennen.“21 Der vorliegende Artikel zeigt somit exemplarisch, wie die Standpunkte im Hinblick auf Wagner auch innerhalb des Kreises der Leipzig-Weimarer Publizistik um Brendel und Liszt durchaus differierten und somit die Vorstellung einer homogenen Gruppierung sowie eindeutige Zuordnung einzelner Protagonisten zu ‚Parteien‘ eine unzulässige Verkürzung darstellt. Die hier bereits deutliche Distanz des Komponisten Raff zum von Wagner prophezeiten Ende der ‚Sonderkünste‘ sollte schon bald zum offenen Bruch mit Liszt und Wagner führen, der sowohl in ästhetischer Hinsicht als auch nicht zuletzt durch die Publikation der 1854 erschienenen Schrift Die Wagnerfrage22, in welcher Raff Wagners Lohengrin in mehrfacher Hinsicht kritisiert und dem Komponisten musikalischen Dilettantismus vorwirft, in historischer Rückschau geradezu als zwangsläufig erscheint.
21 Brendel
1854 Die Musik der Gegenwart, S. 217 f.
22 Raff
1854 Die Wagnerfrage.
Nr. 42 | F. [Franz] Brendel, „Die bisherige Sonderkunst und das Kunstwerk der Zukunft“, in: NZfM 20 (1853), Bd. 38, Nr. 8 (18. Februar), S. 77 – 79; Nr. 9 (25. Februar), S. 89 – 92; Nr. 10 (4. März), S. 101–104; Nr. 11 (11. März), S. 109 –113; Nr. 12 (18. März), S. 121–126; Nr. 13 (25. März), S. 133 –136.
Die bisherige Sonderkunstund das Kunstwerk der Zukunft. Von F. Brendel.
Als der größte und folgenreichste Gedanke Wagner’s, als der Mittelpunkt seiner ge sammten Anschauung erscheint die Idee des Kunstwerkes der Zukunft.1 So Folgen schweres ist darin enthalten, daß eine neue Welt sich vor uns aufthut, eine Wendung ist damit bezeichnet, welche dem gesammten Kunstschaffen weiterhin eine durchaus veränderte Gestalt verleihen wird. Es darf nicht auffallen, daß ein Gedanke, welcher bestimmt ist die künstlerischen Fragen der Gegenwart und Zukunft zu lösen, anfangs mit Befremden, ja mit dem heftigsten Widerstreben aufgenommen wurde. Die Bedeutung desselben war dem allgemeinen Bewußtsein noch so wenig aufgegangen, daß der erste Eindruck nur der eines gewaltigen Erstaunens sein konnte. Allen in den bisherigen Vorstellungen Festgebannten erschien die Idee einer Vereinigung der Künste als ein unausführ bares Hirngespinnst. Die wunderlichsten Vorstellungen wurden ausgesprochen, die seltsamsten Mißverständnisse darüber durch die Presse verbreitet. Die Vertreter der Sonderkunst2 aber, tiefer blickend, wehrten sich, in dem richtigen Bewußtsein, daß das Kunstwerk der Zukunft die bisherige Isolirung, jenes Streben einer jeden Kunst, sich auf Kosten der anderen zu erheben, vernichtet. Schon ist indeß eine Wendung eingetreten, schon hat der ununterbrochene fort geführte Kampf einen sehr bemerkbaren Umschwung herbeigeführt. Auch jetzt zwar ist man noch weit entfernt von einem sicheren Verständniß, und die ver schiedensten, widersprechendsten Auffassungen werden kund gegeben. Selbst bei denen, welche von der Wahrheit des Grundgedankens überzeugt sind, selbst bei den
1 Wagner hatte seine Idee vom „Kunstwerk der Zukunft“ erstmals in der gleichnamigen Schrift aus dem Jahr 1850 dargelegt. Brendel war auf diese bereits mehrfach eingegangen, beispielsweise in Brendel 1851 Einige Worte über Wagner, S. 265, in: NdS 1 Nr. 25, S. 253 und Brendel 1852 Ein dritter Ausflug nach Weimar, S. 240, in: NdS 1 Nr. 37, S. 371. 2 Der Begriff „Sonderkunst“ findet sich bereits bei Richard Wagner (Wagner 1850 Das Judenthum, S. 105 und S. 111, in: Fischer 2000 Richard Wagners Das Judentum, S. 156 und 171 sowie Wagner 1852 Ein Brief an den Redacteur, S. 61, in: NdS 1 Nr. 29, S. 297) und bezeichnet jede Musik, die nicht Teil des von ihm angestrebten Gesamtkunstwerks ist.
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inniger Vertrauten finden sich noch sehr viele Differenzen, und es ist kaum zu viel gesagt, wenn man annimmt, daß bezüglich des Specielleren überhaupt noch keine Einheit der Ansicht vorhanden ist. Insbesondere ist es eine abweichende Meinung, welche allgemein ausgesprochen, unsere besondere Aufmerksamkeit in Anspruch nimmt. Den Meisten erscheint in dem Kunstwerk der Zukunft die Vereinigung der Künste zu sehr bevorzugt, die besondere Existenz derselben aber, die sie zu wahren wünschen, ganz vernichtet. Sie anerkennen den Fortschritt, der in der Vereinigung enthalten ist, glauben aber daneben ein isolirtes Bestehen der einzelnen Künste fest halten zu müssen. Man ist empfänglicher geworden für die Idee einer Hingabe an das Ganze, kann sich aber mit einem völligen Aufgeben des Einzelnen an dasselbe nicht befreunden. Auch in dem [78] Aufsatz, welcher zu den gegenwärtigen Erörterungen den äußeren Anstoß gegeben hat, in der Mitteilung J. Raffs in der vorigen Nr. dieser Bl.3, wird etwas Aehnliches ausgesprochen, auch hier begegnen wir einer Wahrung der angeblichen Rechte der Sonderkunst! – Auch jetzt demnach ist man noch weit entfernt von einer Einigung der An sichten! Das aber ist gewonnen, daß das anfängliche Befremden überwunden ist. Das Terrain wurde erobert, die Grundlage für das neue Gebäude errungen. Die Ueber zeugung von der Größe und Tragweite des Gedankens ist allmälig der Ahnung auf gegangen. Man fühlt daß eine reiche Welt der Erkenntniß, und des künstlerischen Schaffens entdeckt ist, man ist willig den näheren Berichten über dieselbe die Auf merksamkeit zuzuwenden. Insbesondere haben wir Ursache mit den Musikern zu frieden zu sein, da die Begabteren derselben, nachdem die ersten Kämpfe vorüber, in ihrer Mehrzahl schon um das neue Panier sich zu schaaren beginnen, während die Schriftsteller in der Regel noch mit weit größerer Starrheit an den bisherigen Vorstellungen festhalten. Was Musik und speciell die Oper betrifft, sind freilich auch die Erfahrungen besonders schlagend. Das Schicksal aller neueren deutschen Opern, der regelmäßige Fall derselben, wenn sie überhaupt irgendwo zur Aufführung ka men, und im Gegensatz hierzu die Begeisterung für Wagner’s Werke an allen den Orten, wo man durch entsprechende Darstellung zu näherer Vertrautheit gelangte, müssen dem Befangensten die Augen öffnen, und die Ueberzeugung erwecken, daß wir auf dem bisherigen Wege nicht mehr weiter gelangen können. Es kommt daher jetzt darauf an, die genauer eingehende Erörterung zu beginnen; es ist jetzt der geeignete Moment, den Kernfragen näher zu treten, es ist die Aufgabe, die divergirenden Meinungen durch die richtige Auffassung der Sache zu einen. Dabei bin ich weit entfernt, schon jetzt etwa die hierher gehörigen Untersuchungen abschließen zu wollen; es ist im Gegentheil der Zweck dieses Aufsatzes, die Debatte anzuregen. Zunächst und hauptsächlich liegt die Ursache der zur Zeit noch so sehr auseinan dergehenden Auffassungen in dem Umstand, daß die Frage nach dem Verhältniß der Einzelkunst zum Gesammtkunstwerk überhaupt noch nicht zur Erörterung gekommen ist. Anderseits trägt vielleicht auch die Darstellung Wagner’s einige Schuld, eine Schuld jedoch, für die er durchaus nicht verantwortlich zu machen ist. Auch meiner Ansicht nach hat Wagner das Gesammtkunstwerk etwas zu sehr
3 Raff
1853a An die Redaction, in: NdS 1 Nr. 41.
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accentuirt und ist – jedoch nur scheinbar, wie sich später zeigen wird – den einzel nen Künsten etwas zu nahe getreten. Ich finde dies indeß so natürlich, daß ich mich wundern würde, wenn es anders wäre. Wagner spricht als Entdecker und muß darum allen Nachdruck auf seine Idee legen, schon aus dem subjektiven Grunde, weil diese ihn am meisten erfüllt, abgesehen von dem anderweiten Umstand, daß solche Schroffheit nothwendig ist, wenn einem Neuen überhaupt Folge gegeben, wenn dasselbe in seiner Bedeutung hervortreten soll. Hierzu kommt, daß das Kunstwerk der Zukunft der abgeschlossenen Entwicklung der Einzelkünste gegenüber jetzt das unendlich Wichtigere ist. Die besondere Existenz derselben muß dagegen so unter geordnet erscheinen, daß diese Seite in einer ersten Darstellung der Sache nothwen diger Weise zurücktreten muß. Vergegenwärtigen wir uns zuerst den Grundgedanken des Kunstwerkes zu[r] Zukunft. Das getrennte Bestehen der einzelnen Künste war bisher berechtigt, die geschichtliche Entwicklung hatte dasselbe mit Nothwendigkeit herbeigeführt. Es ist Großes und Herrliches innerhalb dieser Isolirung erreicht worden, die einzelnen Künste haben ihre höchste Wirkungsfähigkeit entfaltet. Dem ohngeachtet ist diese Entwicklung nur ein umfassender Durchgangsmoment gewesen, bestimmt eben, die einzelnen Künste bis zu dem höchsten Grad ihrer Leistungsfähigkeit zu steigern. Das Ziel ist eine Wiedervereinigung, schon gegeben in Griechenland und jetzt wieder zu erreichen auf höherer Stufe und mit unendlich reicheren Mitteln. Der weitere Fortgang kann jetzt deshalb nur darin bestehen, daß die Einzelkünste, wie sie bisher um den Vorrang stritten und auseinander strebten, jetzt in gegenseitiger Liebe und Bescheidenheit sich nähern, sich je nach Bedürfniß einander unterordnen, zu einem Ganzen sich einen. Das Gesammtkunstwerk erscheint demnach als das alle bisher getrennten Elemente in sich befassende und einende, die darin ihren Untergang, aber zugleich ihre Auferstehung und Verklärung finden. Das Gesammtkunstwerk, das Drama, ist die Kuppel, welche sich über dem Ganzen wölbt, es ist das Größte und Mächtigste, und wenn bisher die Sonderkunst die gewaltigsten Wirkungen her vorbrachte, so verschwinden diese vor dem allumfassenden Eindruck, den die To talität der Künste hervorzurufen im Stande ist. Mit den Schriften Wagner’s Vertraute kennen seinen Ausgangspunkt, den er vom griechischen Drama nimmt, wissen, wie derselbe durch die Betrachtung der weite ren geschichtlichen Entwicklung der Künste die Nothwendigkeit des Kunstwerks der Zukunft deducirt.4 Der griechischen Welt trat die christliche als Gegensatz gegenüber, in ihrer frü hesten Gestalt einseitig wie jene, bestimmt das andere Extrem zur Geltung [79] zu bringen. Erblicken wir dort die Herrschaft des Natürlichen, so hier einen ausschließ lichen Spiritualismus; dort ist die sinnliche, reale Welt die Basis, hier ein Reich des Geistes, nicht von dieser Welt, das zunächst eine negative Stellung gegen die frühere Stufe einnimmt. Seit einer Reihe von Jahrhunderten schon ist deshalb das Bestreben mehr und mehr hervorgetreten, diese beiden einseitigen Weltgestalten in einer hö heren, dritten aufgehen zu lassen. Wir sehen, wie die neuere christliche Welt darauf
vor allem Wagners diesbezügliche Ausführungen in Wagner 1849 Die Kunst und die Revolution, insbesondere S. 23 – 30 sowie in Wagner 1850 Das Kunstwerk der Zukunft. 4 Vgl.
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hinarbeitet, die frühere Einseitigkeit zu ergänzen, den griechischen Standpunkt wieder in sich aufzunehmen, die errungene innere Unendlichkeit durch den Reich thum die Wirklichkeit zu erfüllen. Es darf, um sogleich eine nähere Vorstellung von diesem durch die neuere Geschichte hindurchgehenden Auge zu erwecken, nur an Göthe’s Beispiel, an dessen innere Entwicklung, an die griechische Epoche desselben erinnert werden. Auch bei Wagner haben wir eine ähnliche Wendung, einen ähnlichen Anschluß an Griechenland, mit dem Unterschied jedoch, daß in Folge einer fortgeschrittenen Zeit hier die Aufnahme des Antiken mit entschiedenerer Consequenz und in hö herer Weise vollbracht uns entgegentritt, daß dort die Gegensätze immer nur bis auf einen gewissen Grad versöhnt sind, sich zum Theil noch einander ausschließen, während hier das Fremde mit Nothwendigkeit aus unserer eigenen Entwicklung hervorgeht, so daß es aufgehört hat ein Fremdes zu sein. Die Idee einer Vereinigung der verschiedenen Künste wie sie im griechischen Drama, der getrennten Entfaltung in der christlichen Zeit gegenüber, vorhanden war, ist deshalb ein nothwendiges Ergebniß der geschichtlichen Entwicklung. Es ist indeß hier nicht meine Absicht, auf den angedeuteten Zusammenhang, die durch die immer tiefere Einigung mit Griechenland begründete Nothwendigkeit des Kunstwerks der Zukunft, auf eine von dem Gegenwärtigen weiter abliegende Betrachtung näher einzugehen; nur an die bezeichnete Consequenz sollte erinnert werden, um im Eingange sogleich auf das auch nach dieser Seite hin Berechtigte, geschichtlich Wohlbegründete, der Wagner’schen Idee hinzudeuten. Ich beschäftige mich jetzt mit dem, was für den Künstler zunächst in Frage kommt, und hier handelt es sich vor allen Dingen um die Einsicht, daß die Ein drucksfähigkeit des Gesammtkunstwerkes gegenüber den höchsten Wirkungen der Sonderkünste eine unendlich gesteigerte ist, daß vor ihm diese, wenn auch noch so mächtigen, doch stets einseitigen Wirkungen verschwinden müssen. [89] Bei einer Betrachtung der bisherigen Sonderkunst dem Gesammtkunstwerk gegenüber ist die hier angeregte Frage – die Wirkungsfähigkeit der ersteren auch in ihren gesteigertsten Momenten im Vergleich mit dem, was das Letztere zu bieten vermag, – das zuerst zu Erledigende; es entspringt hieraus der nächste, unmittelbarste Beweis für die höhere, umfassendere Berechtigung der Gesammtkunst. Das Werk der Gesammtkunst übertrifft die einzelnen Künste in seiner Wirkungs fähigkeit durch das universelle [sic] derselben; es allein nimmt den ganzen Menschen nach allen seinen Fähigkeiten in Anspruch, ist ein Abbild der menschlichen Natur in ihrer Totalität, während die einzelnen Künste in ihrer Trennung stets nur an eine beschränkte Fähigkeit derselben sich wenden, immer eine Seite auf Kosten aller übrigen bevorzugen. So groß und mächtig die Wirkungen der Sonderkunst, so intensiv dieselben sein können, immer wird man sagen müssen, daß nur eine be stimmte Seite der Menschennatur darin ihren Ausdruck finden kann. Glücklicher Weise sind wir in den Stand gesetzt, die Wahrheit dieses Satzes nicht blos durch theoretische Nachweisungen zu erhärten, wir vermögen aus lebendiger Erfahrung den Beweis zu führen. Aus diesem Grunde sei es mir gestattet, hier zu nächst von dem Eindruck, welchen ich beim Anhören und Anschauen Wagner’scher Werke, im Vergleich mit den bedeutendsten Schöpfungen der verflossenen Zeit, empfangen, zu berichten.
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Identificire ich hier scheinbar Wagner’s Werke mit dem Kunstwerk der Zukunft, so muß ich erwähnen, daß dieß für den gegenwärtigen Zweck zulässig erscheint, während ich zugleich jenes immer noch verbreitete Mißverständniß von der Hand weisen muß, als ob die Wagner’schen Schöpfungen – und nicht blos Lohengrin, sogar auch Tannhäuser, wie man meint – schon das Kunstwerk der Zukunft wären.5 Wag ner selbst ist am weitesten entfernt von einer solchen Ansicht, und hat seinen Protest vielfach ausgesprochen.6 Es konnte aber nicht fehlen, daß bei den so zahlreichen Aufführungen des Tannhäuser gegenwärtig,7 bei der Theilnahme des großen Publi kums dafür, gerade dies Werk jetzt mit den Wagner’schen Ideen in Verbindung ge bracht, als entsprechender Ausdruck derselben betrachtet wurde. Deshalb sei hier, bei gegebener Veranlassung, bemerkt, daß Tannhäuser ohngefähr die Stufe in der Wag ner’schen Entwicklung einnimmt, wie die Oper Orpheus8 in der [90] Gluck’s. Tann häuser ist das Werk des Uebergangs, er ist Oper, nach der einen Seite von dem Unsinn der Neuzeit befreite, auf höherem Standpunkt und mit reicheren Mitteln wiedergebo rene Gluck’sche Oper, nach der anderen Seite allerdings schon in sehr Vielem die Elemente des weiteren Fortschritts enthaltend. – Hier kann ich mich auf diese Werke als auf Beispiele für das Kunstwerk der Zukunft berufen, weil im Tannhäuser der Weg betreten ist, Lohengrin aber der Verwirklichung des Ideals schon um Vieles näher steht. Ein günstiger Zufall wollte, daß ich zu derselben Zeit, als ich die Wagnerischen Werke in Weimar kennen lernte9, Gelegenheit hatte, durch die Darstellung mehre rer der bedeutendsten früheren Opern alte Eindrücke neu zu beleben. Ich hatte um diese Zeit in Dresden einer – so weit man es gegenwärtig nur verlangen kann – sehr gelungenen Aufführung des Don Juan beigewohnt.10 Das Werk wurde mit den Recitativen gegeben, war in dieser Gestalt in seiner Bühnenwirkung für mich neu, und ich brauche wohl kaum zu sagen, wie unendlich dasselbe, gegenüber der bisher
beispielsweise Schaeffer 1852 Über Richard Wagner’s Lohengrin, in: NdS 1 Nr. 31. Die ver späteten Erstaufführungen von Wagners Tannhäuser (UA 1845) und Lohengrin (UA 1850) an vielen Bühnen führten bei vielen Kritikern zu der Ansicht, die in Oper und Drama (Wagner 1852 Oper und Drama) publizierten Ansichten Wagners seien in diesen Jahre zuvor entstandenen Werken bereits verwirklicht (siehe etwa noch die Rezension Hanslicks zur Wiener Erstaufführung des Tannhäuser: Hanslick 1857 „Tannhäuser“ von Richard Wagner sowie Hanslick 1857 Ein Vorwort zu R. Wagners „Tannhäuser“). 6 Etwa in Wagner 1852 Drei Operndichtungen nebst einer Mittheilung an meine Freunde. 7 Der Tannhäuser wurde nach seiner Weimarer Erstaufführung im Jahre 1849 u. a. 1852 in Breslau, Schwerin, Wiesbaden und Dresden, 1853 in Riga, Leipzig, Posen, Frankfurt a. M. und Düsseldorf erstaufgeführt. 8 Christoph Willibald Gluck, Orfeo ed Euridice (UA 1762). 9 Am Weimarer Hoftheater wohnte Brendel am 11. Januar 1852 einer Aufführung des Lohengrin (siehe Brendel 1852 Ein Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 28) sowie am 29. Februar 1852 einer Wei marer Aufführung des Tannhäuser bei (siehe Brendel 1852 Ein zweiter Ausflug nach Weimar). 10 Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni (UA 1787). Brendel hatte diese Aufführung auch schon ein Jahr zuvor in seinem Neujahrsartikel gelobt (Brendel 1852 Zum neuen Jahr, S. 3, in: NdS 1 Nr. 27, S. 280). 5 Siehe
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üblichen erbärmlichen Verhunzung durch den Dialog gewinnt.I Bald darauf gast irten Tichatschek11 und Johanna Wagner12 auf dem Leipziger Theater in Cortez13 und Fidelio. Auch die gewöhnliche Flickoper, Freischütz, wurde gegeben, und der Zufall führte auch da mich hinein. So bot sich mir im Laufe weniger Wochen Gelegenheit, die Spitzen der alten Richtung in neu belebter Farbenfrische vor mir zu haben, Gelegenheit, Vergleichungen anzustellen. Der Eindruck insbesondere des Lohengrin in Weimar auf mich war der mächtigste gewesen, den ich jemals von einem Werke der dramatischen Kunst empfangen habe und schon da mußte mir der Abstand zwischen dem Bisherigen und dem hier Erreichten klar werden. Wie sehr erstaunte ich aber, als ich bei der Aufführung der genannten Opern inne ward, daß sie – ich spreche es offen und unumwunden aus, – geradezu gegen Wagner’s Werke abfallen. Ich machte diese Erfahrung, indem sich mir die Menge der verschiedenen Eindrücke zu einem Gesammtresultat abschloß, zu meiner eigenen nicht geringen Verwunderung, ich war frappirt von diesem so mächtigen Unterschied, der die alte Kunstepoche geradehin als schon vollständig beseitigt erscheinen läßt, ich hätte es früher nicht geglaubt, wenn man mir gesagt hätte, daß wir so vollständig und in einem solchen Grade über jene Zeit hinaus sind. Mit überzeugendster Gewalt indeß drängte sich mir die Thatsache auf, so daß kein Zweifel übrig bleiben konnte. Jetzt, nach der Aufführung des Tannhäuser in Leipzig,14 haben schon Manche gegen mich ausgesprochen, denselben Eindruck empfangen zu haben. Leute, welche von unse ren Kunststreitigkeiten gar nicht berührt sind, haben alles Ernstes die Frage aufge worfen, wie es für die alten Werke möglich sein werde, sich dieser neuer Richtung gegenüber noch länger zu halten. Man mißverstehe mich nicht. Don Juan trat mir wieder entgegen in der ewigen Frische und Unvergänglichkeit, die das ganze Werk, mit nur wenigen geringfügigen Ausnahmen, belebt. Aber ich hatte, Wagner’scher Universalität gegenüber, den Eindruck der Sonderkunst, specifischer Musik auf einem ihrer Culminationspunkte, nothwendiger Weise also die Empfindung einer nur einseitigen Befriedigung. Cortez ist eine der Hauptschöpfungen alter Zeit auf dem Gebiet der großen Oper. So imposant aber auch das Werk erscheint, fühlt man
I Noch
immer fahren sehr viele Theater in dieser Verhunzung fort. Hat man Unrecht, wenn man beklagt, wie sehr durch solche Darstellungen jeder gebildete Sinn gröblichst verletzt wird, wenn man zu dem Resultat kommt, daß die Forderungen höheren Geschmacks auf der Bühne gar nicht mehr gelten, wenn man endlich solchem unwürdigen Treiben rücksichtslos entgegen tritt?
11 Joseph
Tichatschek (1807 –1886), böhmischer Sänger, erlangte insbesondere als Wagnertenor Berühmtheit. Seit 1838 wirkte Tichatschek an der Dresdner Hofoper, wo er u. a. die Titelrollen in den Uraufführungen von Rienzi (1842) und Tannhäuser (1845) sang. 12 Johanna Wagner (1826 –1894), Sängerin und Schauspielerin, war die Nichte von Richard Wagner. In den Jahren 1844 bis 1849 wirkte sie an der Dresdner Hofoper und trat dort u. a. 1845 als Elisabeth in der Ur aufführung von Tannhäuser in Erscheinung. 1851 wechselte sie an die Berliner Hofoper und gab daneben Gastspiele an verschiedenen großen Bühnen Deutschlands. 13 Gaspare Spontini, Fernand Cortez (UA 1809). 14 Wagners Tannhäuser wurde am 31. Januar 1853 in Leipzig erstaufgeführt und anschließend in dichter Folge allein im Jahr 1853 weitere 21 Mal gespielt (vgl. Kirchmeyer 1993 Robert Schumanns Düsseldorfer Brahms-Aufsatz, S. 87). Hierüber berichten beispielsweise: Ano nym 1853 Tannhäuser von Wagner; Anonym 1853 Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg; Jahn 1853 Tannhäuser, Oper von Richard Wagner; Anonym 1853 Leipziger Briefe.
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doch das Hohle, den theatralischen Pomp, die theatralische Lüge bald heraus. Man hat auch hier den Eindruck des alten Opernspiels, man hat Marionetten vor sich, während bei Wagner uns wirkliche Menschen entgegentreten. Fidelio ist, wenn wir aufrichtig sein wollen und die Wirkung desselben auf das Publikum unbefangen beobachten, zur Zeit noch die einzige alte Oper, welche mit zündender, tief ein greifender Gewalt die Massen zu packen vermag. Es ist die Gewalt der Leidenschaft, es ist dieselbe Wahrheit, derselbe Ernst, den wir in den Wagner’schen Werken vor uns haben. Wie sehr aber mit dieser Größe des Inhaltes das fast Kindische der Form, das dramatische Ungeschick, wie sehr überhaupt damit der alte Opernstandpunkt in Widerspruch steht, wurde von Th. Uhlig erst noch vor kurzen, in dies. Bl. aus gesprochen.15 Freischütz ist mir, aus individuellen Gründen, ein besonders liebes Werk. Unbeschadet aber der Trefflichkeit desselben, des melodischen Reichthums u. s. f. mußte ich mir gestehen, daß wir auf dem Standpunkt, auf dem sich diese Oper bewegt, wie auf die Träume und Spiele der Kindheit zurückblicken müssen. Es liegt in der bis jetzt nicht geahnten Einheit aller Künste, in dieser den ganzen Menschen erfassenden Wirkungsfähigkeit, es liegt in der dichterischen Conception dieser Werke, die aber zugleich alle Künste zu ihrem Dienst verwendet, in dieser völlig neuen Einheit von Poesie und Musik, es liegt in dem Umstand, daß zugleich alle Situationen sich malerisch gruppiren, daß wir überall die schönsten Gemälde vor uns haben, [91] es liegt in der Neuheit des Inhalts, in dem Umstand, daß wir hier zugleich in dem Künstler eine Persönlichkeit der Zukunft erblicken, eine Per sönlichkeit die in einer neuen Weltanschauung wurzelt, wenn wir jetzt zu Ergeb nissen, wie die eben ausgesprochenen, gelangen, wenn wir behaupten müssen, daß die einzelnen Künste nicht gegen das Gesammtkunstwerk auskommen können. Handelte es sich in den bisher gewählten Beispielen um die Stellung des specifisch musikalischen Werkes zu dem der Gesammtkunst, so bin ich in den Stand gesetzt, jetzt auch eine Erfahrung, was das Verhältniß der specifischen Poesie zu der Letzte ren betrifft, anzuführen. Beim Anhören der Berlioz’schen Faustmusik in Weimar16 bot sich mir Gelegenheit hierzu. Es war natürlich, wenn bei der vielfachen Benut zung der Göthe’schen Worte in dem Werke von Berlioz meine Blicke überhaupt aus Göthe’s Dichtung hingelenkt wurden. Hier kam mir nun auf einmal ganz ungesucht und ohne daß mich die Erinnerung an die Wagner’sche Idee dazu verleitet hatte, unmittelbar aus der Empfindung erwachsend, die Vorstellung, wie außerordentlich Göthe’s Faust durch Musik – wenn auch nicht durch diese zu wenig ursprünglich deutsche, in der Auffassung zu fremdartige, so doch durch eine gleich groß gedachte, geistvolle – gewinnen würde. Indem ich mir die Bühnenwirkung des Gedichts vor stellte, entstand das lebendigste Verlangen nach Musik in mir und zwar nicht nach einer blos unterstützenden, ausfüllenden, im Gegentheil nach einer wesentlich mit dem Ganzen Verbundenen; die Menge der Momente, welche Musik nothwendig
15 Hiermit meint Brendel vermutlich Theodor Uhligs Darstellung der Hauptthesen aus Wagners Oper und Drama, die Anfang 1852 in der NZfM erschienen war (Uhlig 1852 Wagner’s Schriften V). 16 Hector Berlioz, La Damnation de Faust (Fausts Verdammnis) op. 24 (UA 1846). Brendel hatte das Werk in mehreren Proben und in einem Konzert am 20. November 1852 in Weimar gehört und ausführlich in der NZfM darüber berichtet (Brendel 1852 Ein dritter Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 37).
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erheischen, stellte sich mir dar, während die Worte allein in ihrer Wirkung mir auf einmal dürftig und nüchtern erschienen.17 Es geschah dieß nicht vom specifisch musikalischen Standpunkt aus, wie ich zur richtigen Würdigung meiner Empfindung hinzufügen muß, nicht in Folge einer Verkennung der urkräftigen Gewalt dieser Poesie; – Göthe’s Faust war mir jahrelang ein Mittelpunkt inneren Lebens und ich habe mich, wie Schelling in seiner Schrift über die Methode des akademischen Studiums18 verlangt, an der Herrlichkeit desselben innerlich genährt; – es geschah, weil ich durch den Einfluß der Wagner’schen Werke einen anderen Standpunkt der Kunstanschauung betreten hatte. Ich habe mir erlaubt, an diese individuellen Erlebnisse zu erinnern, weil durch sie eindringlicher, als durch blos theoretische Räsonnements das was dargethan werden soll, erhärtet wird. Zugleich aber haben wir auf diese Weise den Gesichts punkt, der für das Verhältniß der Einzelkunst zur Allkunst der entscheidende ist, gewonnen. Allerdings ist jede einzelne Kunst in dem Gesammtkunstwerk nicht mit dem ganzen Reichthum, den sie durch ihre gesonderte Ausbildung erlangt hat, vertreten, sie ist genöthigt Etwas von ihrer specifischen Eigenthümlichkeit aufzuopfern, ge nöthigt, von der Höhe, die sie durch ihre Isolirung erreicht hatte, herabzusteigen, sie gelangt in ihrer Vereinigung nicht zu einer so ausgedehnten Geltung, und offen bart deßhalb isolirt eine größere Wirkungsfähigkeit, als sie als einzelne im Verein, hier nur ein Element des Ganzen, zu erreichen vermag. Dafür aber übertrifft das Gesammtkunstwerk jede einzelne Kunst durch seinen universellen Charakter, da durch, daß es die Hauptwirkungen aller in sich vereinigt. Wagner’s Stellung durch die Anbahnung des Gesammtkunstwerkes ist dem ent sprechend eine ganz ähnliche, wie die Mozart’s, nur mit dem Unterschied, daß Mozart allein auf dem Gebiet der Musik gethan, was Wagner universeller in Bezug auf alle Künste vollbracht hat. Auch Mozart einte die ihm vorausgegangenen musi kalischen Richtungen, die bis dahin getrennt existirt hatten, zu einem großen Gan zen, verwandte die getrennt aufgerichteten Säulen zu seinem gewaltigen Kunst tempel, in den er alle Nationen versammelte.19 So hat Wagner jetzt, in dieser Beziehung ein neuer Mozart, aus den isolirt für sich bestehenden Künsten ein größeres Gesammtkunstwerk geschaffen. Darum ist auch die Stellung Beider zu ihren Vorgängern ganz dieselbe. Mozart wird übertroffen durch die ihm vorausge gangenen Größen ersten Ranges, Palestrina, Händel, Bach, Gluck, in ihrer Einseitig keit, er aber übertrifft sie Alle durch den von ihm geschaffenen universellen Styl, in welchem sie untergingen und zugleich ihre Auferstehung und Verklärung fanden; so wird Wagner übertroffen durch die ihm vorausgegangenen dichterischen, musika lischen, künstlerischen Größen in ihrer specifischen Bedeutung, er aber übertrifft sie durch seine universelle Kunst. Es zeigt daher die gründlichste Unkenntniß, gegen Wagner zu Felde ziehen zu wollen mit Einwürfen, die von der Sonderentwicklung hergenommen sind, und ihn z. B. wie es geschieht, als specifischen Dichter oder
17 Vgl. hierzu Altenburg 2003 Goethes „Faust“ und seine Musikszenen. 18 Friedrich Wilhelm Joseph Schelling (1775 –1854), Vorlesungen über die Methode des academischen Studium (ED 1803). 19 Zu Brendels Mozart-Bild siehe Brendel 1848 Haydn, Mozart, Beethoven.
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Musiker zu betrachten, Einwendungen zu bringen, die von dem Standpunkt des specifischen Musikers20 oder Dichters hergenommen sind; es ist um kein Haar klü ger, als ob man Mozart bekämpfen wollte, weil in seinem universellen Styl nicht die besonderen nationellen Weisen ebenso und in gleichem Grade, wie in ihrer Sonde rung, vorhanden sein können. Nur als Totalität aller Künste sind die Wagner’schen Werke, ist das Kunstwerk der Zukunft zu fassen; geschieht dieß nicht, reißt man die Theile aus ihrem Zusammenhange, so hat man eben die Theile in seiner [92] Hand, wie Mephistopheles sagt, „fehlt leider nur das geistige Band!“21 Haben wir sonach hier eine vollkommen neue Wendung vor uns, so besteht anderseits Wagner’s That nicht darin, etwas Unerhörtes ausgeheckt zu haben, wofür die Bedingungen und Anknüpfungspunkte in dem Gegebenen gar nicht vorhanden waren. Ich würde einer so kindlich naiven Auffassung gar nicht gedenken, wenn dieselbe nicht durch ein musikalisches Journal in der That ausgesprochen worden wäre. Dieses Journal wunderte sich bei Gelegenheit der Aufführung des LohengrinFinales in Leipzig22, daß die verschiedenen Ausdrücke der Liebe, des Hasses u. s. w. schließlich keine andere Verdolmetschung als durch Töne gefunden, und schloß daraus, daß wir am Ende doch nur das Alte vor uns hätten.23 In diesem Sinne ist zu sagen, daß Wagner seine Vorgänger ganz so benutzte, wie es Mozart gethan hat. Schon lange, bevor Wagner’s Name genannt wurde, finden wir das Bewußtsein ausgesprochen, daß eine Erneuung von Grund aus, daß ein neuer Mozart nothwen dig sei. Jetzt ist der neue Mozart da; weil es aber der neue nicht machen kann wie der alte, weil er, um ein solcher zu sein, als umgestaltender Genius auftreten muß, weil ihm die Geschichte ganz andere Aufgaben überweist, erscheint noch gar Man cher von der aufgehenden Sonne geblendet. Aus dem ausgesprochenen Gesichtspunkt erhellt auch, warum jetzt die Noth wendigkeit vorhanden ist, sämmtliche Künste in die Betrachtung hereinzuziehen, jenem Ziele, welches Wagner in dem Schreiben an die Red. dies. Bl. aussprach,24 einen Schritt näher zu treten; ich beabsichtige in dem Weiterfolgenden sogleich damit einen Anfang zu machen. Zuvor sei noch eines anderen Mißverständnisses gedacht, das am passendsten hier seine Erledigung findet, weil es mit dem schon oben berichtigten zusammen hängt. Dies Mißverständniß besteht darin, den Accent einseitig auf Wagner’s Kunst
20 Der Ausdruck „specifischer Musiker“ wurde Anfang der 1850er Jahre, ausgehend von Wagners Schrift Das Kunstwerk der Zukunft (Wagner 1850 Das Kunstwerk der Zukunft) insbesondere durch Theodor Uhlig geprägt (Uhlig 1850 Drei Tage in Weimar, S. 137, in: NdS 1 Nr. 21, S. 227). 21 Jo hann Wolfgang von Goethe, Faust I, „Studierzimmer“, V. 1939. 22 Im Leipziger Gewandhaus erklangen in Konzerten am 17. und 20. Januar 1853 das Vorspiel und die 3. Szene des 1. Aktes aus Lohengrin (vgl. Anonym 1853 Wagner’s Lohengrin in Leipzig). 23 Anonym 1853 Concert zum Besten des Orchester-Pensionsfonds, S. 35: „Die Situation im vorliegenden Finale ist interessant und die Musik hat sich ihr nach besten Kräften angeschmiegt; die verschiedenen Ausdrücke der Liebe, des Hasses u. s. w. haben auch keine andere Verdolmetschung gefunden, als durch Töne, und wir kommen schließlich immer wieder auf die ‚absolute Musik‘ zurück, d. h. wir untersuchen, in wie fern die Verbindung von Tönen zu einem künstlerischen Gefühlsausdruck im Stande ist, unser Gemüth zu bewegen, und die Oper bleibt uns die beste, die mit der Schönheit auch die dramatische Angemessenheit der Musik bietet.“ 24 Wagner 1852 Ein Brief an den Redacteur, in: NdS 1 Nr. 29.
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schöpfungen zu legen und die getrennt für sich bestehende Theorie von der An erkennung jener abhängig zu machen, den Beweis also für die Wahrheit der Theorie in jenen Werken zu suchen. Glücklicher Weise sind Wagner’s künstlerische Leistungen die herrlichsten Belege für seine Theorie, nur – wie erwähnt – noch nicht in dem Sinn, daß sich beide schon jetzt vollständig decken – die Theorie ist zur Zeit der Praxis noch voraus; – Wagner könnte aber eben so sehr der erbärm lichste Künstler sein, und es würde dies nicht das Geringste für die Sache, es würde blos beweisen, daß er ein besserer Theoretiker als Praktiker sei. Grundfalsch muß es daher genannt werden, wenn Mancher seinen Mangel an Zustimmung, seine Nichtanerkennung der neuen Richtung mit der Unmöglichkeit entschuldigt, diese Werke durch lebendige Darstellung kennen zu lernen. Wen nicht die Wahrheit der Theorie allein schon überzeugen kann, wer für diese Ideen keine Empfänglichkeit mitbringt, der ist, zunächst wenigstens, auch für das Verständniß der Kunstschöp fungen verdorben. Aus der Berichtigung dieses Mißverständnisses ergiebt sich schließlich, wie es an der Zeit ist, jetzt wo wir das Nächste schon erreicht haben, nicht mehr immer nur allein von Wagner’s Kunstschöpfungen zu sprechen, im Gegentheil die Betrachtung nun überwiegend den Ideen zuzuwenden. [101] Eine zweite, nach der ersten Feststellung des Verhältnisses der Einzel- zur Gesammtkunst wichtigste Frage, deren Beantwortung versucht werden muß, ist die nach der gegenwärtigen Lebensfähigkeit oder Ausgestorbenheit der einzelnen Künste oder einzelner ihrer Gattungen in ihrer bisherigen Sonderung. Man darf vor einer solchen Frage, vor einer zum Nachtheil der heutigen Kunst ausfallenden Be antwortung derselben nicht erschrecken. Ich erwähne dies, weil ich öfter die Er fahrung gemacht habe, wie die Musiker z. B. vor dem Gedanken eines Aufhörens ihrer Kunst sich in der That entsetzten. Die Kunst an sich ist ewig; nur die besondere Ausdrucksweise, die Form und Gestalt der Offenbarung des künstlerischen Geistes wechselt, während dieser derselbe bleibt. Noch einmal sei hier, bevor ich weiter gehe, auf das aufmerksam gemacht, was ich schon im Eingange bemerkt habe, daß es durchaus nicht meine Absicht ist, in der gegenwärtigen Erörterung abschließen zu wollen. Ich gebe diese Sätze, um die Debatte anzuregen; es sind, wenn man will, Angriffspunkte oder Thesen für weitere Besprechung. Auch das darf nicht unerwähnt bleiben, daß mein Gedankengang in dem bis jetzt Gegebenen sowohl, wie in dem unmittelbar Folgenden noch keines wegs vollständig zu übersehen ist. Nur beim Abschluß der ganzen Betrachtung kann dies der Fall sein. Der Grundgedanke, um den es sich in der nachfolgenden Betrachtung handelt, ist der, daß die meisten Künste sich zur Zeit völlig ausgelebt, bis jetzt in Wahrheit nur noch eine Scheinexistenz geführt haben. Es muß gesagt werden, daß nur noch in einzelnen Gattungen einiger derselben eine gewisse Lebenskraft sich vorfindet, eine Lebenskraft jedoch, die auch schon mehr und mehr dahin zu schwinden scheint. Vergegenwärtigen wir uns, um zu näherer Erfassung dieses Grundgedankens zu gelangen, die Leistungsfähigkeit der einzelnen Künste auf der Stufe der Entwicklung, die sie gegenwärtig einnehmen. Was die Baukunst betrifft, so ist schon längst allgemein anerkannt, daß seit der Blüthe des gothischen Styls auf diesem Gebiet etwas wesentlich Neues, Ursprüng
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liches, Schöpferisches nicht mehr erschienen ist. Es sind vielfache Versuche gemacht worden, bis jetzt indeß immer vergeblich, und nur zu Umgestaltungen der vor handenen Formen hat man es gebracht. Die Baukunst culminirt in den beiden Hauptrichtungen der griechischen und gothischen oder deutschen, wie man diese auch genannt hat. Alle anderen Richtungen sind [102] theils Entwicklungsstufen, welche zu diesen Spitzen hingeführt haben, theils Verschmelzungen eigenthümlicher Art. Fragen wir nach der Ursache dieser Erscheinung, so liegt die Antwort darin, daß das einzige künstlerische Object dieser Kunst bis jetzt die Tempel, die Kirchen gewesen sind; als bürgerliche Baukunst hängt dieselbe mit dem gemeinen Leben zusammen, und dient praktischen Zwecken. Seit dem Untergange des Mittelalters hat es ihr deshalb gänzlich an einem Gegenstand gefehlt, denn der Protestantismus war nicht fähig, hier etwas Neues und Eigenthümliches zu schaffen, und die prosa ischen, protestantischen Kirchen sind weit entfernt, Kunstwerke zu sein. Im letzten Jahrhundert aber hat sich bei dem Sinken des kirchlichen Bewußtseins überhaupt noch weniger Veranlassung gefunden, aus tief-innerstem Drange Kirchen zu er bauen. – Unser Resultat ist deshalb ein nur äußerliches Fortbestehen der Baukunst ohne belebende, schöpferische Kraft.25 Die Skulptur hatte bei den Griechen ihre höchste Vollendung erreicht. Es ist dort so Großes geleistet worden, daß jene Werke zu den herrlichsten Besitzthümern des Menschengeschlechts gehören, und wenn Steffens z. B. von den Götterstatuen Grie chenlands aussagt, daß sie mit göttlicher Hoheit erfüllen, daß man anbetend vor ihnen niederfallen möchte,26 so ist damit nur das Wahre, keine Uebertreibung, ausgespro chen. Seit dem Untergange Griechenlands aber ist auch die Skulptur untergegangen, und hat, meiner Ansicht nach, in der gesammten christlichen Zeit nur eine Schein existenz geführt. – Die griechische Skulptur hat vorzugsweise den nackten, mensch lichen Körper zum Gegenstand; sie stellt den Geist dar, so weit er im Körper zur Erscheinung zu kommen, so weit er darin aufzugehen vermag. Es ist die unmittelbare Einheit von Seele und Leib, welche wir vor uns haben. Die griechischen Statuen haben keine Seele in unserem Sinne, d. h. keine unabhängig für sich bestehende; die Seele ist im Körper aufgegangen, und die Totalität desselben ist der höchste, auf dieser Stufe entsprechendste Ausdruck des Inneren. Mit dem Eintritt des Christenthums war deshalb die Zeit für diese Kunst vorüber. Jene christliche Vorstellung, welche den Körper nur als die Hülle der Seele betrachtet, mußte dieselbe vernichten, denn die christliche Skulptur vermag nicht über den Widerspruch hinauszukommen, das Leib liche nach seiner vollen Ausdehnung, demnach als die entsprechende Erscheinung
25 Brendel referiert in diesem Abschnitt Hegels Ausführungen zur Baukunst in seinen Vorlesungen über die Ästhetik, in welchem die Gotik, vor allem die gotische Kathedrale, als „romantische Ar chitektur“ und als letzter Höhepunkt dieser Kunstform, beschrieben ist (vgl. Hegel-Werke 13, Kap. 3, „Die romantische Architektur“). 26 Henrik Steffens (1773 –1845), norwegischer Natur forscher, Dichter, Philosoph und Schüler von Schelling in Jena. In seinen Vorlesungen „Ueber die Einwirkung des Christentums auf die nordische Mythologie“ schrieb er 1842: „In Griechenland nahm die Gestalt, die Persönlichkeit selber den Charakter der Allgemeinheit an und erstarrte in der Plastik als unvergängliche Schönheit; das sittliche Fatum verwandelte sich in die abstrakte All gemeinheit einer Reflexion, der gegenüber die Götter erblaßten.“ (Steffens 1846 Nachgelassene Schriften, S. 153 f.).
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darstellen, und doch zugleich eingestehen zu müssen, daß dies für ihren Standpunkt nur ein Untergeordnetes, Verschwindendes, daß es nur die Hülle der Seele ist. Das Ausdrucksmittel ist nicht das entsprechende für Das, was man ausdrücken will, das Interesse auf diesem Standpunkt nur ein geistiges und die körperliche Erscheinung deshalb gleichgültig. Aus demselben Grunde ist das Nackte nicht mehr zulässig, wäh rend anderseits eine bekleidete Statue den Widerspruch in sich enthält, das Wichtigste, den Körper, zu verbergen, und in Dem, worauf sie hinzeigt, im Ausdruck des Gesichts bei dem Mangel des beseelten Blickes nicht genügen zu können. Der christliche Dualismus von Geist und Sinnlichkeit hat die erneute Blüthe dieser Kunst unmöglich gemacht. So talentvoll daher auch neuere Werke genannt werden müssen, so kann ich in denselben, so weit ich sie kenne, nicht mehr als nur das Streben erkennen, diese Kunst äußerlich zu erhalten, und muß, streng genommen, den Beruf des bildenden Künstlers in der christlichen Zeit als einen verfehlten bedauern. Diese neueren Werke sind entweder Nachahmungen der Antike, oder verfallen, wo sie selbstständig auf treten wollen, dem bezeichneten Widerspruch. Daß die Skulptur in jüngster Zeit durch den Wunsch, den großen Männern der Nation Denkmale zu errichten, eine äußerliche Anregung fand, dies kann eine wirkliche Kunstblüthe keineswegs genannt werden. Für die christliche Trennung von Seele und Leib war zunächst die Malerei die entsprechende Kunst; untergeordnet in Griechenland, sehen wir aus diesen Grunde die höchste Blüthe derselben in den christlichen Jahrhunderten. In dem Gemälde vermag die Seele als innerer für sich bestehender Mittelpunkt durch die Hülle hin durch zu scheinen. Das Leibliche, obschon die Darstellung desselben noch beibe halten werden muß, erscheint verflüchtigt, ist zu einem untergeordneten Moment herabgesetzt, und consequent muß deßhalb auch die Nacktheit der Bekleidung weichen. Aber auch in jenen Darstellungen, wo der Körper das Wichtigste ist, in den Venusgemälden der italienischen Meister z. B. ist jener Dualismus vorherrschend. Es ist nicht die antike Einheit von Seele und Leib, die wir in diesen üppigen Ge stalten vor uns haben, es gelangt die andere, die sinnliche Seite allein zur Darstellung, während die geistige zurücktritt. Die sinnliche Schönheit des Körpers kommt ge trennt für sich in edler und schöner Weise zur Darstellung, der hohe Adel der Antike aber fehlt. – Auch die Blüthe der Malerei ist indeß schon vorüber, und in den letzten Jahrhunderten nichts wesentlich Neues mehr geschaffen worden. Wie den vorhergenannten Künsten, fehlt es auch ihr an einem bestimmten Object. Neuer dings hat zwar in Deutschland die Münchner und die Düsseldorfer Schule27 die
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dem Begriff „Münchner Schule“ wird in der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert eine Rich tung in der Malerei bezeichnet, die vor allem durch ihre Historiengemälde Bedeutung erlangte und im Umfeld der Akademie der Bildenden Künste München angesiedelt war. Als ihre Haupt vertreter gelten Peter von Cornelius (1783 –1867), der von 1825 bis 1841 als Leiter der Akademie wirkte, sowie Wilhelm von Kaulbach (1805 –1874), der in den Jahren von 1849 bis zu seinem Tod als Direktor der Akademie starken Einfluss ausübte. Als „Düsseldorfer Schule“ wird eine Gruppe von Malern um den ab 1826 amtierenden Düsseldorfer Akademiedirektor Friedrich Wilhelm von Schadow (1788 –1862) aufgefasst, die, wie etwa Johann Wilhelm Schirmer (1807 –1863) vor allem für ihre idealisierte Landschaftsmalerei berühmt waren.
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Aufmerksamkeit in hohem Grade auf sich gezogen, eine neue Blüthe schien bevor stehend. Was jedoch die Erstere betrifft, so scheint mir – ich muß hinzufügen: so weit ich darüber sprechen kann, ohne die in Mün-[103]chen befindlichen Haupt werke aus eigner Anschauung zu kennenII – die Geistesrichtung dieser großen Ta lente und zwar die allgemein menschliche ebenso wie die speciell künstlerische, durchaus in schon überwundenen Zuständen zu wurzeln, mindestens nicht die für die Kunst der Gegenwart und Zukunft nothwendige Freiheit des Kopfes und Her zens bei diesen Künstlern vorhanden zu sein. Die Düsseldorfer Schule aber löst die Malerei in Poesie und Musik auf, es werden Stimmungen gemalt, und der Mangel an Objekten ist in noch empfindlicherer Weise bemerkbar. Lebendigkeit im höhe ren Sinne scheint mir jetzt allein nur noch die Landschaftsmalerei zu besitzen. Auf diesem Gebiet, glaube ich, können Lessing’s31 Leistungen neben die von Ruisdael32 und Claude Lorrain33 gestellt werden, während seine historischen Bilder, so weit ich sie kenne, mir nicht diese ganz hervorstechende Bedeutung zu besitzen scheinen. Die Musik ist die jüngste der Künste. Ihr Aufschwung zu klassischer Höhe fällt in die Jahrhunderte der Neuzeit, und die höchste Blüthe derselben reicht in die Gegenwart herein. Aber auch die Entwicklung dieser Kunst liegt fast schon in völ liger Abgeschlossenheit vor uns. Daß die Kirchenmusik so wie das Oratorium schon seit einem Jahrhundert von der Spitze der Entwicklung zurückgetreten sind, das Letztere in seiner ursprünglichen Bedeutung und Gestalt für immer, die Erstere wenigstens für so lange, als nicht aus den religiösen Kämpfen ein festbegründetes neues Bewußtsein hervorgegangen ist, habe ich bei anderer Gelegenheit schon aus
II Aus
diesem Grunde bleibt die in vor. Nr. dies. Bl.28 und öfter schon von Hoplit29 berührte Ver wand[t]schaft Kaulbach’s30 mit Wagner hier ganz dahin gestellt, bleibt eine offene Frage, deren Beantwortung Hrn. Hoplit überlassen ist. 28 Anspielung auf die von Richard Pohl unter seinem Pseudonym „Hoplit“ publizierte Rezension von Wilhelm Heinrich Riehls 1852 erschienenen Musikalischen Charakterköpfen (Pohl 1853 Riehl, als Musik-Historiker). In der Rezension findet sich ein Rückverweis auf einen Bericht Pohls über die Dresdner Wiederaufnahme von Wagners Tannhäuser vom Oktober 1852 (Pohl 1852 Dresdner Musik III). In diesem Bericht wird Max Maria von Weber mit den Worten zitiert: „Wagner ist das für die Kunst, was Kaulbach für die Malerei ist – die Spitze der Zeit, der Wegweiser der Zukunft, die verkörperte philosophische Kunst“ (ebd., S. 212). 29 Pseudonym von Richard Pohl. 30 Wil helm von Kaulbach (1805 –1874), Maler, studierte ab 1822 als Schüler von Peter von Cornelius (1783 –1867) an der Düsseldorfer Akademie und folgte diesem 1826 nach München. Berühmt wurde Kaulbach durch seine großformatigen Historiengemälde wie etwa Die Hunnenschlacht (EZ 1834 –1837). Als Hofmaler von König Ludwig I. von Bayern wurde Kaulbach 1849 zum Direktor der Münchner Kunstakademie ernannt und arbeitete außerdem in den Jahren 1845 bis 1865 im Auftrag König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen an Wandbildern für das Treppenhaus des Neuen Museums in Berlin. 31 Karl Friedrich Lessing (1808 –1880), Maler und Vertreter der „Düssel dorfer Malerschule“, malte zunächst Landschaftsbilder in der Nachfolge Caspar David Friedrichs, bevor er sich in den 1830er Jahren verstärkt der Historienmalerei zuwandte. 32 Jacob van Ruisdael (um 1625 –1682), niederländischer Landschaftsmaler. 33 Claude Lorrain (1600 –1682), französi scher Maler, Zeichner und Radierer, wurde mit seinen Landschaftsbildern zum Vorbild für Maler der Romantik und des frühen Impressionismus.
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führlich nachgewiesen,34 und es hat diese Ansicht, anfangs noch mit Widerstreben aufgenommen, neuerdings mehr und mehr Zustimmung gefunden. Ueber den er bärmlichen Zustand der neuesten Oper aber noch ein Wort zu verlieren, scheint fast überflüssig. Die Thatsachen sprechen laut, und die Betrübniß erweckenden Versuche talentvoller Tonsetzer, unsern Opernleichnam wieder zu erwecken, haben nur die Unmöglichkeit eines solchen Beginnens dargethan. Allein die Instrumentalmusik, diese neueste Blüthe der jüngsten Kunst, scheint eine Ausnahme zu machen, sie scheint erhöhte Lebenskraft noch zu besitzen, und wir begegnen deßhalb hier auch zur Zeit noch dem heftigsten Widerstreben gegen Ansichten, wie die bisher von mir fast über die gesammte Kunst ausgesprochenen[.] Es ist hier, wo ich nur die Hauptpunkte für spätere Untersuchungen bezeichne, nicht der Ort zu einem aus führlichen Eingehen; nur so viel sei deßhalb bemerkt, daß ich mit Wagner voll kommen übereinstimme, wenn er sagt, daß mit Beethoven’s 9ter Symphonie das letzte Werk dieser Art geschrieben sei.35 Es ist dieß für mich keineswegs lediglich eine Folge der Wagner’schen Anschauungsweise. Schon lange bevor Wagner dieß ausgesprochen hatte, bin ich zu demselben Resultat, bin ich zu der Einsicht ge kommen, daß wir in der 9ten Symphonie die Selbstauflösung der Instrumental musik vor uns haben.36 Damit ist keineswegs – ich bemerke dieß um leicht mögli chen Mißverständnissen zu begegnen – die schöne Nachblüthe, welche wir in den letzten zwanzig Jahren hatten, von der Hand gewiesen, im Gegentheil bin ich bei jeder Gelegenheit jener geistigen Trägheit gegenüber getreten, welche mit Beet hoven in Folge blinden Autoritätsglaubens die Entwicklung gänzlich abgeschlossen meint. Es ist eben so wenig damit gesagt, daß wir nicht auch jetzt noch in Folge hervorragender specifischer Begabung tüchtige Leistungen auf diesem Gebiet, wie überhaupt auf dem der Instrumentalmusik haben können. Wohl aber ist damit aus gesprochen, daß diese Sphäre nicht mehr, wie bisher der höchste entsprechendste Ausdruck des fortschreitenden Geistes auf musikalischem Gebiet ist, es wird be hauptet, daß im Princip nicht mehr darüber hinausgegangen werden kann, ich bin der Ansicht, daß im weitern Kunstschaffen die Instrumentalmusik nur noch als Bestandtheil eines größeren Ganzen, nicht mehr in isolirter Selbstständigkeit auf treten kann. Die Instrumentalmusik ist zu einer Erscheinung zweiten Ranges herab gesetzt, seit Wagner durch seinen unsterblichen Gedanken des Kunstwerks der Zu kunft für den Geist der Neuzeit das neue Organ gefunden hat. Wirkliches Leben
1852 Geschichte der Musik, „Siebzehnte Vorlesung“, S. 409 – 414. 35 Wagner 1850 Kunstwerk der Zukunft, in: Wagner-Schriften 3, S. 96: „Die letzte Symphonie Beethoven’s ist die Erlösung der Musik aus ihrem eigensten Elemente heraus zur allgemeinsamen Kunst. Sie ist das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft. Auf sie ist kein Fortschritt möglich, denn auf sie unmittelbar kann nur das vollendete Kunstwerk der Zukunft, das allgemeinsame Drama, folgen, zu dem Beethoven uns den künstlerischen Schlüssel geschmiedet hat.“ 36 Brendel 1845 Schumann und Mendelssohn, S. 82: „[W]ir sehen daher in der That , wie sich bei Beethoven das Wort endlich aus der reinen Instrumentalmusik herausringt, wie alles Instrumentale ihm nicht mehr genügt, wie er das Wort, wie er Gedichte zu Hülfe ruft und mit der Instrumentalmusik verbindet, um so einen ganz bestimmten Eindruck hervorzubringen, um in der Instrumentalmusik durch das Wort die letzte noch mangelnde Bestimmtheit zu erreichen. Seine Phantasieen für Pianoforte, Orchester und Chor, seine 9te Symphonie sind Beweise dafür.“ 34 Brendel
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erblicke ich gegenwärtig – die zuletzt erwähnten Einschränkungen in Bezug auf Instrumentalmusik, diese Ausnahmen zugestanden, – vorzugsweise in einer Sphäre, in der des Liedes, welches durch R. Franz seinen Culminationspunkt erreicht hat, so wie überhaupt, dieß beiläufig erwähnt, die gesammte weltliche Gesangsmusik unter später zu erwähnenden Bedingungen wohl eine Zukunft in sich trägt. Betrachte ich schließlich die Poesie, so ist zunächst zu sagen, daß bis vor kurzem, in der eben verflossenen Epoche, die Tonkunst an Größe und Bedeutung ihrer Leis tungen, an Lebenskraft überhaupt dieser wohl sich überlegen zeigte, während jetzt eher das umgekehrte Verhältniß gelten kann, indem die Poesie ein größeres Zu kunftsstreben entwickelte, eine größere Zahl frischer Talente besitzt, – Wagner natürlich ausgenommen. Auch auf dem Gebiet der Poesie haben wir zunächst der Tonkunst verwandte Erscheinungen. Als schon längst gänzlich abgestorben ist das Epos zu betrachten. Dasselbe gilt von der religiösen Poesie, [104] wenn man dieser überhaupt gedenken will, da sie niemals eine gleich große Bedeutung, wie die kirchliche Kunst erlangt hat. Es ist ferner kein Wort zu verlieren über jene schlech ten Theaterstücke der Gegenwart, welche der modernen Pfiffigkeitsoper entspre chen. Im Roman und der Novelle haben wir für das Lesebedürfniß des Publikums Sudeleien in Menge, aber auch des Ausgezeichneten viel. Roman und Novelle verdanken ihre gegenwärtige breite Ausdehnung dem Mangel an Oeffentlichkeit. Der tiefere deutsche Geist flüchtete sich bisher, scheint mir, in diese Form. Unter veränderten Umständen, wenn die Privatexistenz nicht mehr in einem so großen Mißverhältniß zum öffentlichen Leben steht, wenn die Erstere im großen Ganzen mehr aufzugehen beginnt, werden Roman und Novelle von selbst an Boden ver lieren. – Mehr berechtigt, auch für die Zukunft, tritt uns die lyrische Poesie ent gegen. – Der größte Aufschwung aber zeigt sich unverkennbar im Drama, in den Werken Heydrich’s37, Ludwig’s38, Hebbel’s39, Gottschall’s40 u. A. Die jüngeren dra matischen Dichter sind über die Verirrungen insbesondere der romantischen Schule hinaus, Dramen für die Lectüre schreiben zu wollen. Man ist alles [sic] Ernstes an die Aufgabe gegangen, die Bühne wieder zu erobern. Vergegenwärtigen wir uns das Resultat der vorstehenden Darlegung, so haben wir die Bestätigung des im Eingange ausgesprochenen Grundgedankens. Baukunst und Skulptur haben keinen Boden, die erstere in der modernen, die zweite in der gesammten christlichen Zeit. Malerei, Musik und Poesie dagegen hatten die größte Entwicklung. Was die ersteren Beiden betrifft, so liegt diese indeß auch schon ziemlich abgeschlossen vor uns, denn nur auf einzelnen Gebieten zeigt sich Lebendigkeit. Allein die Poesie, die überhaupt am wenigsten an eine bestimmte Zeit epoche gebunden ist, die die Entwicklung des Menschengeschlechts begleitet, und von der jeder Zeit die höchste Belebung auszugehen pflegt, nur die Poesie, so sehr auch sie jetzt unter der allgemeinen Sonderstellung der Künste zu leiden hatte, zeigt das Streben sich emporzuraffen. Wir haben sonach eine Bestätigung des früheren Resultats, der gegenwärtigen Machtlosigkeit der einzelnen Künste in ihrer isolirten
37 Gustav
Moritz Heydrich (1820 –1885), Dramatiker und Dramaturg. 38 Otto Ludwig –1863), Dichter. 40 Rudolf Gottschall (1813 –1865), Dichter. 39 Friedrich Hebbel (1813 (1823 –1909), Dichter, Literarhistoriker und Kritiker.
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Stellung. Dort ergab sich, daß dieselben auch in ihren größten Erscheinungen mit einer universelleren Kunst nicht in die Schranken treten können, hier zeigt sich, daß sie durch ihre eigene Lebensunfähigkeit einen Umschwung nothwendig machen. Jetzt ist deßhalb die andere Seite der aufgestellten Frage, die Rückwirkung der Gesammtkunst auf die Sonderkunst, in’s Auge zu fassen, es ist zu untersuchen, welche Aufgabe die Letztere durch die Anregung der Ersteren erhalten wird. [109] Betrachten wir, nach Wagner’s Vorgang, den Einfluß des Gesammtkunst werkes auf die einzelnen Künste, die Rückwirkung des Ersteren auf diese, so stellt sich eine Fülle neuer Verwendungen, eine Fülle von Anregungen für die letzteren unseren Blicken dar. Fehlte es der Baukunst bis jetzt gänzlich an einem Object, so erhält sie durch das Theater der Zukunft einen Vorwurf, mindestens eben so groß, als der alte war. Man bemerke die Tragweite dieses Gedankens, zugleich die Consequenz, mit der er aus der gesammten Anschauung Wagner’s hervorgeht. Tritt die Kunst in Zukunft über haupt mehr in den Vordergrund, ist sie bestimmt, wie in Griechenland, den Mittel punkt des Bewußtseins zu bilden, demnach zugleich eine religiöse Stellung einzu nehmen, so ist das Theater für den Baukünstler dasselbe, was früher die Kirche war. Mit einem Male vermag diese Kunst zum Leben zu erwachen; sie erhält Aufgaben, welche jetzt erst der Ahnung zugänglich sind. Skulptur und Malerei werden befreit aus ihrer bisherigen Absonderung, und treten, indem sie im Drama aufgehen, in eine lebendige Beziehung zum Ganzen. Zunächst ist es die Landschaft, welche die Bestimmung erhält, den Hintergrund zu bilden. „Was der Landschaftsmaler bisher im Drange nach Mitteilung in den engen Rahmen des Bildstückes einzwängte, – was er an der einsamen Zimmerwand des Egoisten aufhängte, oder zu beziehungsloser, unzusammenhängender und entstellender Uebereinanderschichtung in einem Bilderspeicher dahin gab, – damit wird er nun den weiten Raum der tragischen Bühne erfüllen, den ganzen Raum der Scene zum Zeugniß seiner naturschöpferischen Kraft gestaltend.“41 In gleicher Weise wird die Fähigkeit des Bildhauers und Historienmalers verwendet. „Was Bildhauer und His torienmaler in Stein und auf Leinwand zu bilden sich mühten, das bilden sie nun an sich, an ihrer Gestalt, den Gliedern ihres Leibes, den Zügen ihres Antlitzes, zu be wußtem, künstlerischen Leben. Derselbe Sinn, der den Bildhauer leitet im Be greifen und Wiedergeben der menschlichen Gestalt, leitet den Darsteller nun im Behandeln und Gebahren seines wirklichen Körpers. Dasselbe Auge, das den His torienmaler in Zeichnung und Farbe, bei Anordnung der Gewänder und Aufstellung der Gruppen, das Schöne, Anmuthige und Charakteristische finden ließ, [110] ordnet nun die Fülle wirklicher menschlicher Erscheinung.“42 Jedenfalls erblicken wir auch hier sogleich einen großen Reichthum an Aufgaben, und es muß zugestanden werden, daß diese Künste einen Spielraum für ihre Thätigkeit gewinnen, der bisher nicht für sie vorhanden war. Anderseits freilich bleibt – gehen dieselben ausschließ lich in einer solchen Bestimmung auf – zur Zeit eine Frage offen! Meiner Ansicht nach kann kein Zweifel darüber obwalten, daß die besondere Existenz, insbesondere das bisherige Handwerk derselben, ganz vernichtet ist. Wagner’s Gedanke ist die
41 Wagner
1850 Kunstwerk der Zukunft, in: Wagner-Schriften 3, S. 191.
42 Ebd.,
S. 194 f.
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Fähigkeit, welche bis jetzt in dieser Weise zur Erscheinung kam, zu erhalten, und in neuer Weise zu verwenden, – wie sehr dieß der Fall, dafür liefern seine eigenen Werke den glänzendsten Beweis – diese Künste selbst aber als Zunft gehen unter; ob dieselben jedoch, und nicht allein von ihrem bisherigen egoistischen Standpunkt aus, sondern bei voller Hingebung an das Ganze, zufrieden sein, ob sie nicht, trotz der Erweiterungen in anderer Beziehung, eine gewisse Zurücksetzung empfinden werden, wenn ihnen das Kunstwerk der Zukunft ihre gegenwärtigen Ausdrucks mittel ganz entzieht, das bedarf einer weiteren Untersuchung, die hier noch nicht am Ort, für die sich indeß weiter unten die Gelegenheit finden wird. So viel ist richtig, daß auch auf dem Gebiet der Skulptur und Malerei ein Streben erwacht ist, dem Leben sich zu nähern, daß diesen Künsten die Existenz in Stein und auf Lein wand nicht mehr genügt, und dieß spricht außerordentlich für Wagner’s Gedanken. Oder deute ich falsch, wenn ich die Beliebtheit der lebenden Bilder43 und ver wandter Darstellungen auf diese Weise erkläre, wenn ich darin die tiefere Bedeutung dieser Mode finde? Daß man sich die Darstellung, insbesondere des nackten mensch lichen Körpers in der Kunst bis jetzt wohl gefallen ließ, vor der Schaustellung des lebendigen Menschen aber erschrack, war eine Inconsequenz. Es wurde dadurch auch der Kunst jeder Boden entzogen, und die Nachbildung durch dieselbe mußte geradehin als Unsinn erscheinen. Schon das ist ein großer Schritt zu nennen, wenn man sich jetzt, bestimmt durch jene Mode, allmälig daran gewöhnt. Die Musik erscheint durch das Gesammtkunstwerk befähigt, in ein neues, bis jetzt nicht geahntes Verhältnis zur Poesie zu treten. Die bisherige Gesangsmusik, d. h. die Art der Behandlung der Singstimme, die Verbindung des Wortverses mit der Melo die hat sich, mit wenigen Ausnahmen, überlebt. Schon früher, schon vor Wagner, habe ich auf die gegenwärtig herrschende Bewußtlosigkeit aufmerksam gemacht, diese grenzenlose Confusion in der Behandlung der Singstimme, ich habe angedeu tet, daß hier ein Gebiet vorliegt, so groß und reich, als die ganze bisherige Theorie der Musik, ein Gebiet aber, zu dessen Bearbeitung auch noch nicht einmal der erste Versuch gemacht worden ist.44 Ich hatte dabei die willkührliche, aller inneren Noth wendigkeit baare, ganz äußerliche Verbindung des Verses mit der Melodie, die Ver mengung der verschiedenen Style in der Gesangscomposition im Auge, und stützte darauf die Behauptung, daß die gegenwärtige Bildung des Musikers, ganz abgesehen von den Aufgaben, welche Wagner stellt, selbst auf dem Gebiet der specifischen Musik, nicht mehr genüge, ich begründete damit die Forderung, daß die Bildung des Musikers eine ganz andere werden müsse, eine Forderung, deren Nothwendig keit jetzt zwar schon tiefer empfunden, keineswegs aber noch in ihrer ganzen Aus dehnung erkannt wird, indem man sich sonst beeilen müßte, energischere Schritte zur Abhülfe zu thun. Jetzt, in Folge der Anregung Wagner’s, erscheint die Sache in einem neuen Lichte. Es handelt sich nicht mehr um eine bessere Verbindung beider Elemente in der bisherigen Weise, jetzt ist die Aufgabe, eine viel innigere Durch
43 Als
lebende Bilder (frz. Tableau vivant) bezeichnet man eine Darstellung von Werken der Ma lerei und Plastik durch lebende Personen; eine Darstellungsform, die gegen Ende des 18. Jahr hunderts aufkam und im 19. Jahrhundert ihren Höhepunkt erlebte. 44 Brendel 1846 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper III. Zukunft, in: NdS 1 Nr. 4.
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dringung des Wortverses und der Melodie zu erreichen, eine Durchdringung, wel che beide aus einer Wurzel als ein ursprüngliches Ganze[s] hervorwachsen läßt, in einem Grade, daß ihr gegenüber die bisherige Vereinigung als eine ganz äußerliche Zusammenfügung erscheint. Es wiederholt sich einigermaßen – um den Musiker sogleich an ein bekanntes Beispiel zu erinnern, – was Gluck der italienischen Oper seiner Zeit gegenüber empfand, aber in neuer, von Wagner zuerst erkannter Weise. Wenn daher ein musikalisches Journal bei Gelegenheit der Aufführung des Tann häuser in Leipzig bemerkte, Wagner „ersetze den Mangel abgeschlossener Melodie durch sinnreiche und entsprechende Steigerung der Effekte,“45 so geht daraus her vor, daß es von der Erkenntniß, auf die Alles ankommt, die den innersten Kern der neuen Bestrebungen bildet, auch noch nicht die entfernteste Ahnung besitzt. Was hier gemeint ist, wird namentlich auch durch den Hinblick auf die neueste Wendung der Instrumentalmusik klar. Die Instrumentalmusik ist am Schlusse der Beetho ven’schen Entwicklung in die Poesie auf- und übergegangen. Jetzt erwächst aus dieser Wendung der Stellung der Musik zur Poesie ein neues Verhältniß. Indem die reine Instrumentalmusik aus sich selbst heraus das Wort erzeugte, von der entgegen gesetzten Seite also eine Verbindung beider Elemente anstrebte, ist die Bahn für die tiefere, hier gemeinte Durchdringung gebrochen. Wir stehen mit dieser Einsicht unmittelbar auf dem Punkt, den Wagner zum Ausgang genommen hat. – Hier, wo ich die weiteren Untersuchungen nur erst in Umrissen [111] bezeichne, kommt es allein darauf an, zunächst mit wenigen Worten Fragen anzuregen, denen wir in Zukunft die ausführlichsten Untersuchungen werden zu widmen haben. So viel aber erhellt schon jetzt, daß sich der Tonkunst bei der weiteren Verfolgung dieses Weges, neue Aufgaben in Fülle eröffnen. Bisher verbanden sich die Künste nur in einer Weise, die das möglichst geringste Aufgeben des eigenthümlichen Wesens einer jeden an die andere geschehen ließ. Jetzt tritt die Musik aus ihrer specifischen Abge schlossenheit heraus, giebt ihren Formalismus auf, und wird erst auf diese Weise zur allgemein verständlichen Kunst. So zeigt sich der Zug zum Ganzen hin, dieses Ringen nach Befreiung in demselben, auf dem Gebiet der Musik noch deutlicher, als in Skulptur und Malerei. Er zeigt sich in der angedeuteten Wendung der Instru mentalmusik, er zeigt sich vor Allem in dem Umstand, daß der erste Anstoß, die erste Anregung überhaupt durch Wagner, von musikalischer Seite, ausgegangen ist. Was endlich die Poesie betrifft, so beginnt gegenwärtig in der Schriftstellerwelt eine gewisse Teilnahme für die neuen Bestrebungen sich zu regen. Schriftsteller und Dichter freilich haben – mit Ausnahme Einzelner – viel nachzuholen, eine natür liche Folge der Absperrung auf das Gebiet specifischer Poesie, des Mangels an Theilnahme an dem, was im Bereich der Musik erstrebt wurde, und wir sehen deßhalb, wie ein Theil derselben erst jetzt dahin gelangt, wo wir schon vor Jahren waren. In dem gegenwärtigen Aufschwung des Drama aber glaube ich – jenen Dichtern bewußt oder unbewußt – eine Annäherung an das Gesammtkunstwerk zu erkennen. Die romantische Dichterschule unterlag der großen Einseitigkeit[,] die Bühne ganz zu ignoriren. Ihr gegenüber haben die neuesten dramatischen Dichter das große Verdienst, dieselbe wieder erobert zu haben. Sie begegnen auf
45 Anonym
1853 Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg, S. 50.
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diese Weise den Bestrebungen Wagner’s, und es ist dann nur nothwendig, gemein schaftlich Besitz zu ergreifen, gemeinschaftlich fortzuarbeiten. Es ist weniger ein selbstständiger poetischer Aufschwung, den wir vor uns haben; es ist eine verwandte Bewegung auf dem Gebiet der Poesie, hinstrebend zu demselben Ziele. Auch noch in anderer, weit bestimmterer Weise geschehen Schritte zur Annäherung. Man hat sehr richtig erkannt, daß das Drama an äußerer Wirkungsfähigkeit mit der Oper sich nicht messen kann, und darum den Versuch gemacht, Opernwirkungen in dasselbe aufzunehmen. Es ist der Gedanke ausgesprochen worden, gesungenen Chören im Drama Zutritt zu gestatten. Mit Unrecht, wenn dabei als einem Letzten stehen geblieben werden sollte, weil wir dann nur dieselben unvereinbaren Ele mente vor uns haben würden, die sich in der bisherigen Oper mit Dialog breit machten, dasselbe widerspruchsvolle Ganze; mit Recht, wenn damit das Bewußt sein der Nothwendigkelt einer Verbindung von Poesie und Musik ausgesprochen ist. Auch die Poesie hat jetzt die Bestimmung, aus ihrer Einseitigkeit herauszutreten, und sich durch Musik zu ergänzen. Auch sie muß Verzicht leisten auf das verkehrte Beginnen, allein und durch eigene Mittel musikalische Wirkungen erreichen zu wollen, auch sie muß die Schwester zur Unterstützung herbeirufen, und dem ge fühlsarmen Wort entsagen. Daß dieß Letztere nothwendig, wird zur Zeit wohl noch am wenigsten erkannt. Der Schriftsteller, der Dichter sagt, das gesprochene Wort genüge allein, und bedürfe keiner Unterstützung durch den Ton. So lange freilich eine derartige Ansicht ausgesprochen werden kann, zeigt man, daß der wahre Sinn jener Verbindung nicht erkannt worden ist. Ich suchte, worauf es ankommt, oben durch das Beispiel des Göthe’schen Faust deutlich zu machen. Ich empfand bei dieser Gelegenheit zum ersten Male in dieser Klarheit das Ungenügende des bloßen Worts, ich erkannte, wie Göthe’s Faust, jedoch ohne bestimmte Absicht, zugleich musikalisch gedacht ist,46 während diese Intentionen, in Folge der damaligen Son derung der Künste, dem Dichter nicht zum Bewußtsein kamen, und folglich auch keine Verwirklichung finden konnten. Selbst die Tanzkunst wird durch Wagner in den Verein der Künste aufgenommen, und erhält neue Belebung. Was diese Kunst zu leisten im Stande ist, können wir zur Zeit nur noch bei den Nationaltänzen bemerken, während in der gegenwärtigen Erscheinung derselben auf der Bühne nur der Zustand tiefster Entartung wahrge nommen wird. Sehr treffend hat Wagner in seiner Schrift „das Kunstwerk der Zu kunft“ diese scheußliche Verirrung der modernen Tanzkunst charakterisirt.47 Alle Künste werden durch das Gesammtkunstwerk auf ihr wahres Maaß zurück geführt. Jede einzelne derselben entsagt dem egoistischen Gelüst, immer auf Kosten aller Anderen sich geltend zu machen, entsagt dem falschen Streben, die ihr ge steckten Schranken zu überschreiten und die Wirkungen Aller in sich zu vereinigen, jenem vergeblichen Beginnen, das Unmögliche möglich machen zu wollen. Indem die einzelnen Künste leisten, was sie wirklich vermögen, finden sie darin eine bis jetzt nicht vorhandene Entschädigung. Durch die lebendige Beziehung zum Ganzen endlich wird die schöpferische Kraft auf neue Bahnen gelenkt. Jene nur äußerliche
46 Siehe
vorliegender Artikel, Anm. 17. S. 76 – 80.
47 Wagner
1850 Kunstwerk der Zukunft, in: Wagner-Schriften 3,
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Verbindung der Künste verschwindet. Das Gesammtkunstwerk ist ein aus einer Wurzel hervorgegangenes organisches Ganze[s]. [112] Entsteht schließlich hier die Frage nach der augenblicklichen Bedeutung der Sonderkunst, so beantwortet sich dieselbe leicht auf folgende Weise. Augenblicklich besitzen, wie wir gesehen haben, einzelne Künste in einzelnen ihrer Gattungen noch eine gewisse Lebenskraft. Es würde nun sehr voreilig genannt werden müssen, dieses Leben zu Gunsten des Kunstwerkes der Zukunft – wenn so Etwas überhaupt möglich wäre – gewaltsam unterdrücken zu wollen. Diese noch vorhandene Produktivität muß geschont wer den, sie hat ihre relative Wahrheit, aus dem einfachen Grunde, weil wir das Ge sammtkunstwerk noch nicht besitzen. Mit dem Erscheinen des Letzteren wird die bisherige Sonderkunst von selbst aufhören. Das Resultat meiner bisherigen Betrachtung ist das siegreiche Hervortreten des Kunstwerkes der Zukunft, die höhere Wahrheit desselben gegenüber jeder Verein zelung. Das Kunstwerk der Zukunft tritt als Ziel der ganzen bisherigen Entwick lung auf. Es war der Zweck des bis jetzt Gegebenen dafür den Beweis zu liefern. Ich habe deßhalb nach den wichtigsten Seiten hin die Hauptgesichtspunkte bezeichnet, ich habe zuerst das historisch Wohlbegründete des Gedankens angedeutet, ich habe auf den unmittelbaren Eindruck der beispielsweise angeführten Wagner’schen Werke der bisherigen Kunst gegenüber, die größere Macht derselben hingewiesen, ich habe die Ausgestorbenheit der einzelnen Künste auf der gegenwärtigen Stufe ihrer Ent wicklung, so wie den Zug derselben nach dem Ganzen hin dargethan, endlich aber auf die Fülle der Anregungen, welche der Sonderkunst durch das Aufgehen im Ganzen erwachsen, aufmerksam gemacht. Hiermit ist der erste Theil meiner Untersuchung beendet, es ist vorausgeschickt, was nothwendig war, um ausreichend orientirt der Hauptuntersuchung näher treten zu können, jener Bestimmung, welche nach allen Seiten hin ein Stein des Anstoßes ist, jener Frage, welche zur Zeit von Jedem, auch den unserer Richtung näher Stehenden verschieden beantwortet wird. Wir sind auf dem entscheidenden Wende punkt angekommen, und haben dem entsprechend zu erörtern, ob das Kunstwerk der Zukunft schlechthin und ohne Weiteres an die Stelle der einzelnen Künste zu treten bestimmt, ob damit alle besondere Kunstthätigkeit wirklich erschöpft ist, oder ob trotz der bezeichneten siegreichen Stellung desselben neben ihm der Einzelkunst doch noch eine Berechtigung zugestanden werden muß. Es ist hier zugleich der Ort, den von J. Raff ausgesprochenen Bedenken48 näher zu treten. Zuvor sei indeß noch eine Frage zur Erledigung gebracht, die aus der voraus geschickten Betrachtung resultirt, die Frage: Wer ist der Künstler der Zukunft? Wagner giebt hierauf bekanntlich die Antwort: die Genossenschaft der Künstler.49 Man hat jedoch mit dieser Antwort zur Zeit sehr wenig anzufangen gewußt, man
48 Siehe Raff 1853a An die Redaction, in: NdS 1 Nr. 41. in: Wagner-Schriften 3, S. 161.
49 Wagner
1850 Kunstwerk der Zukunft,
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hat sie ignorirt oder falsch verstanden. Selbst unser Freund L. Köhler50 in Königsberg sagte vor kurzem in der Königsberger Zeitung: „Um ein einiges Kunstwerk zu schaffen, ist auch eine einzige Seele (nicht deren zwei) nothwendig, und daß Wag ner die Thätigkeit Zweier dabei wohl statthaft findet, erscheint mir als eine unbe greifliche Inconsequenz,“51 das von mir schon öfter citirte musikalische Journal aber meinte bei Gelegenheit der Aufführung des Tannhäuser in Leipzig ganz gemüthlich, „die Art und Weise des nothwendigen Libretto setze ein Einverständniß zwischen beiden Faktoren der Oper voraus, das nur ausnahmsweise in einer Person herzu stellen sei,“52 und wünschte deßhalb auch „beide Formen in schwesterlicher Ein tracht“ d. h. Oper und Zukunftsdrama, – ein vollkommener Widerspruch – während „Wagner’s Pfad nicht als die Richtschnur künftiger Kunstgebilde betrachtet werden dürfe.“53 Die Sache ist diese: Es war nothwendig, daß der erste Anstoß von Einem ausging, und zwar von Einem, der alle Künste umfaßt. Wie nun der Geist der Geschichte sogleich schafft, wo ein wahrhaftes Bedürfniß sich zeigt, so erblicken wir Wagner’s Erscheinung plötzlich in Mitten einer scheinbar ganz anders gestalteten Welt. Ein großes Miß verständnis, aber wäre es, wenn man meinen wollte, daß auch in Zukunft Einer Alles machen sollte, es wäre das dem Wagner’schen Sinne in der That etwas direkt Entgegengesetztes. Wagner sehnt sich nach Genossenschaft, er verlangt, daß die Künstler zusammen arbeiten sollen. Der Grundirrthum besteht demnach darin, daß man immer die gegenwärtigen Zustände als Voraussetzung mitbringt, während das was Wagner will, nur unter einer der gegenwärtigen Weltanschauung fast entgegen gesetzten erreicht werden kann. Daß ein solches Zusammenwirken unter den der malen bestehenden künstlerischen Verhältnissen nicht möglich, darin hat man voll kommen Recht; in dieser babylonischen Sprachverwirrung wollte Jeder nur Sich, und ist darum unfähig, in einem größeren Ganzen aufgehen zu können. Auf dem neuen Standpunkte ergiebt sich dieß jedoch ganz von selbst als nothwendige Con sequenz, die Vereinigung ist das Normale, das, was sich von selbst versteht, und darum auch viel leichter zu vollbringen, als gegenwärtig, wo man stets nur die vergeblichen Versuche machte, disparate Elemente zusammen zu leimen. Nur über die Art, wie diese gemeinschaftliche Thätigkeit näher vorzustellen ist, können viel leicht [113] mit Recht noch einige Zweifel obwalten. Wagner bemerkt ausdrücklich, daß die Anregung von allen Künstlern gleichmäßig ausgehen, daß ein Jeder die Genossen für eine von ihm erfaßte Idee gewinnen dürfe, während zunächst doch wohl Dichter und Darsteller in diesem Verein etwas bevorzugt erscheinen. Unter den angenommenen Voraussetzungen ist die Sache, wie aus dem Gesagten erhellt,
50 Louis
Köhler (1820 –1886), Pianist, Komponist und Musikschriftsteller, war ab 1844 Mitarbeiter der Signale sowie ab 1849 der Hartungschen Zeitung in Königsberg und schrieb daneben ab 1852 u. a. regelmäßig in der NZfM sowie der Neuen Berliner Musikzeitung. Neben Kritiken verfasste Köhler größere Abhandlungen, etwa Die Melodie der Sprache in ihrer Anwendung besonders auf das Lied und die Oper (ED 1853), in denen der Versuch unternommen wird, die durch Oper und Drama angeregte deklamatorische Sprachbehandlung in der Vokalmusik lehrbuchartig zu systematisieren. 51 Der Artikel konnte nicht nachgewiesen werden. 52 Anonym 1853 Tannhäuser und der Sängerkrieg auf der Wartburg, S. 50. 53 Ebd.
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ohne Weiteres ausführbar; zweifelt man aber, ob jemals diese Voraussetzungen vor handen sein werden, so lassen sich solche Bedenken mit zweifelloser Sicherheit beseitigen. Jede neue Weltgestalt erscheint den ihr vorangehenden Menschen als ein fernes, unmögliches Ideal, als ein frommer, nie zu realisirender Wunsch. Dasselbe gilt indeß auch von allen den Weltgestalten, die im Laufe der Geschichte schon zerfallen sind. Auch sie mußten vorausgegangenen Geschlechtern als Utopien er scheinen, bis die Zeit gekommen war, wo sie zur Verwirklichung gelangen konnten. Man versetze sich zurück, und betrachte z. B. das was gegenwärtig stürzt von jenem Standpunkte aus, wo es noch nicht existirte. Man wird finden, daß es von diesem aus als eben so unausführbar uns entgegen tritt. Oder glaubt man, um ein be stimmtes Beispiel anzuführen, den Römern sei das Christenthum auf der Stufe ihres Bewußtseins als berechtigte künftige Weltgestalt erschienen? Als hirnverbrannte Schwärmerei mußten sie es betrachten. So wird an die Stelle des gegenwärtigen Egoismus die Liebe, die Hingebung treten, wenn die Zeit erfüllt ist. [121] Die Untersuchung ist bis zu dem Punkt vorgeschritten, wo die Hauptfrage, ob die einzelnen Künste in Zukunft ihre Existenz allein in dem Gesammtkunstwerk haben werden, oder ob ihnen ein gesondertes Bestehen auch dann noch gesichert bleibt, genauer in Betracht gezogen werden kann. Wenn ich bei der Beantwortung dieser Frage in Einigem von Wagner abweiche, so glaube ich doch, daß die Differenz mehr nur in der Fassung, in der ersten Dar stellung, welche er der Sache gegeben hat, nicht oder weniger im Gedanken selbst beruht, und bin der Meinung eine Ansicht aufzustellen, welche die Möglichkeit in sich trägt, die verschiedenen jetzt noch auseinandergehenden Auffassungen – we nigstens in so weit, als dieselben in der Hauptsache unserer Richtung angehören – in sich zu einigen. Möge sich indeß das Endergebniß gestalten, wie es wolle; mein Zweck ist er reicht, sobald es mir gelingt, wie schon wiederholt bemerkt, die Debatte anzuregen, wenn ich zu näherem Ideenaustausch die Veranlassung gebe. Ein solcher Ideenaus tausch ist jetzt nothwendig, er ist die Bedingung des Weiterschreitens. Wir müssen ehrlich und offen mit der Sprache herausgehen, wir müssen uns entgegen kommen, und wenn nöthig unsere Irrthümer willig eingestehen, und Belehrung wechselseitig annehmen. Wir brauchen, indem wir die Idee des Kunstwerks der Zukunft näher zu erfassen bemüht sind, eine Gesinnung, ähnlich der, welche dieß selbst zu seiner Verwirklichung voraussetzt. Auf diese Weise wird zugleich die wahre und zur Zeit noch berechtigte Opposition von uns anerkannt und aufgenommen. Ein solcher freier Austausch der Ansicht ist überhaupt das, was ich von meinem Standpunkt aus für das Ersprießlichste halte; dieselbe Freiheit des Verhaltens charakterisirt meine Stellung, Wagner gegenüber. Wie sehr ich von der Bedeutung desselben durch drungen bin, wissen die Leser dies. Bl.; in Folge dieses Umstandes allein aber würde ich keinen einzigen seiner Sätze unterschreiben. Am sklavischen Aufnehmen kann in Zukunft nichts mehr gelegen sein, unser Princip fordert selbstständige Ueberzeu gung. So sind wir Alle weit entfernt, zu fordern, daß Jemand Alles auf Treu und Glauben annehme, das aber können wir verlangen, daß man sich möglichst unter richte, daß man nicht die unreifsten Einfälle bei mangelhaftester Ein-[122]sicht in die Welt hinausschreibe, und damit glaube, Etwas gegen uns bewiesen zu haben. Gegen solches Verfahren ist, wie bisher, Partei zu ergreifen. Gegen Mißverstand, der
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sich nicht die Mühe nimmt, sich zu unterrichten, und doch redet, der nur Schiefes, Halbwahres oder Trivialitäten vorbringt, und damit etwas gesagt zu haben glaubt, wie es z. B. der Wohlbekannte54, Fr. WieckIII, 55, der Musikreferent der Grenzboten56, u. A. thun, gegen Böswilligkeit, die von Coteriewesen spricht, wo Niemand daran denkt, wie es dem Concertreferent der Signale beliebt hat,57 ist zu kämpfen, und so lange dieß dauert, ist Polemik ein nothwendiges Uebel. Dieß beiläufig. Ich beantworte die an die Spitze gestellte Frage mit Ja, ich glaube, daß den ein zelnen Künsten ein getrenntes Bestehen bewahrt werden muß. Eine relative Selbstständigkeit der Theile liegt schon in dem Begriff des Kunst werks der Zukunft, in dem Begriff der Einheit des Unterschiedenen überhaupt. Ohne eine solche relative Trennung der Momente würden wir in jedem reich ge gliederten organischen Ganzen nur die abstrakte, unterschiedslose Gleichheit, nicht eine concrete Einheit vor uns haben, nicht die Vereinigung einer Vielheit zu einem Ganzen. Ohne eine relative Selbstständigkeit der einzelnen Künste müßten diese demnach verschwinden, würden im Ganzen untergehen, eine selbstständige Geltung nicht bewahren können. Die Vereinigung der Künste in dem Gesammtkunstwerk ist eine freie, auf freier Hingebung beruhende, und es muß ihnen darum, so zu sagen, die Möglichkeit des Rücktritts, die Möglichkeit der Sonderung, offen stehen. Dieß kann indeß nur der Fall sein, wenn ihnen eine getrennte, wenn auch untergeordnete Sphäre erhalten bleibt, und so ist schon aus diesem Grunde, die Bewahrung ge sonderter Eigenthümlichkeit nothwendig. Indem ich dieß ausspreche, trete ich in Widerspruch mit allem Vorausgegange nen. Unser bisheriges Resultat war das siegreiche Hervortreten des Gesammtkunst werkes, war die Einsicht, daß die einzelnen Künste in ihrer Sonderung zum Theil
III Fr.
Wieck hat das voraus, daß er ehrlich seinen Namen nennt, während so viele Andere aus dem Versteck ihrer Anonymität heraus kämpfen. 54 Unter
diesem Pseudonym schrieb der in Leipzig wirkende Johann Christian Lobe (1797 –1881). Hier sind vermutlich speziell Lobes Musikalische Briefe von 1852 gemeint, insbesondere der Text über Richard Wagner (Lobe 1852 Musikalische Briefe, Bd. 2, S. 155 –167). 55 Friedrich Wieck (1785 –1873), Klavierpädagoge und Vater von Clara Schumann, bezog im 5. Kapitel („Opernwirth schaft“) seiner Schrift Clavier und Gesang. Didaktisches und Polemisches (ED 1853) u. a. auch Stellung zu Wagner (ebd., S. 24 – 29). 56 In dieser Zeit wirkte August Ferdinand Riccius als Musikredak teur in der Zeitschrift und verfasste mehrere gegen Wagner gerichtete Aufsätze (siehe etwa Riccius 1851 Richard Wagner), die allerdings stets anonym publiziert wurden. Darüber hinaus erschienen in den Grenzboten allein 1852 drei weitere Artikel, in denen gegen Wagner polemisiert wurde, die zum Teil dem Chefredakteur der Grenzboten, Julian Schmidt, zugeordnet (Schmidt 1852 Das Verhältnis der Oper zum Drama), zum Teil jedoch in ihrer Autorschaft nicht eindeutig identifiziert werden können (Anonym 1852a Tannhäuser: Anonym 1852 Drei Operndichtungen). 57 Anonym 1853 Concert zum Besten des Orchester-Pensionsfonds, S. 35: „Wie man nun dazu kommt, mit allem Vorhandenen tabula rasa zu machen und zu verkennen, daß Wagner ja auch keine anderen Be strebungen verfolgt, als Manche vor ihm, die keine bloßen Concert-Opern geschrieben haben und die es überhaupt mit der Sache redlich meinen – das gehört in die Mysterien des Coterienwesens, die wir nicht ergründen wollen und können.“
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schon untergegangen sind, zum Theil, mit wenig Ausnahmen, nahe am Untergange stehen. Jetzt behaupte ich das Entgegengesetzte. Dieß ist aber gerade das, was wir brauchen, um zu der wichtigsten Einsicht zu gelangen, die Lösung dieses Widerspruchs führt unmittelbar zu der, meiner Ansicht nach, entscheidenden Bestimmung. Bisher standen sich die Künste feindlich gegenüber, jede wollte das Ganze sein, jede strebte nach absoluter Geltung. Der Satz nun, daß sie in dieser Stellung dem Untergange verfallen sind, bleibt auch jetzt unerschüttert, und unser bisheriges Resultat behält seine Geltung. Es ist die unzweifelhafte Bestimmung dieser Künste, im Ganzen aufzugehen. Dieses Aufgehen aber kann nicht eine völlige Vernichtung der Existenz zur Folge haben, kann nicht gleichbedeutend mit einem völligen Ver schwinden sein. Vernichtung droht allein der gegenwärtigen egoistischen Sonde rung, dieser feindlichen Isolirung. Eine besondere Existenz dagegen unter steter, lebendiger Beziehung zum Ganzen, so daß dieß immer als Ziel und Bestimmung alles Einzelnen hervortritt, erscheint nicht blos zulässig, erscheint sogar geboten. Das Gesammtkunstwerk ist die Hauptsache, die Vereinigung das zunächst gesteckte Ziel. Nur nach vollbrachter Einigung kann von einem weiteren Bestehen der Künste die Rede sein, nicht vorher, nicht bei ihrer gegenwärtigen Beschaffenheit. Dann aber ergiebt sich auch die relative Selbstständigkeit mit Nothwendigkeit. Nach ihrer Hingebung und in Folge derselben werden die Künste ein erneutes Leben für sich zurückerhalten, werden dieselben in ihrer Einzelexistenz frisch und gehoben durch neue Aufgaben hervortreten. Nur dann aber kann, wie gesagt, auch erst von einem, getrennten Bestehen die Rede sein; ohne die jetzt gebotene Hingebung an das Ganze sind die getrennten Künste nichts. Die spätere Einzelexistenz ist deßhalb auch nicht mit der gegenwärtigen zu vergleichen; sie ist nur in steter, lebendiger Beziehung zum Ganzen zu denken, sie ist etwas Unterge ordnetes dem Alles überstrahlenden Gesammtkunstwerk gegenüber, und dem ent sprechend muß auch die bisherige breite Ausdehnung der einzelnen Künste ver schwinden. – Um den hier bezeichneten Unterschied festzustellen, gebrauche ich folgende Bezeichnungen: die in unzulässiger Weise bisher getrennte Kunst nenne ich Sonderkunst, jene dagegen, welche in dem Ganzen wurzelt, und nur eine relative Selbstständigkeit behauptet, die Kunst der Zukunft, bezeichne ich mit dem Aus druck Einzelkunst. Wir haben hier die aus dem Begriff der Sache sich ergebenden Folgerungen. Aber noch andere Gründe sprechen für die bezeichnete Einzelexistenz. Die Künste erhalten neue Belebung durch das Gesammtkunstwerk, sie erhalten neue Aufgaben, sie erfahren Steigerungen, welche ihnen bisher unbekannt waren; um aber neue Erfindungen in ihrer besonderen Sphäre machen zu können, speci fische Erweiterungen, [123] die dann ebenfalls den Zwecken des Gesammtkunst werkes zu Gute kommen, muß der Künstler sich zugleich auf sein Privatgebiet ab schließen können. Auch die innere Energie, die Fähigkeit entsprechendsten Ausdrucks in dem besonderen Material würde leiden, wenn der Künstler nicht in selbstständiger Weise zur Darstellung besonderer Aufgaben von den Mitteln seiner Kunst Gebrauch machen könnte. Ich fürchte ferner, daß die schon erworbene Tech nik ohne eine solche Einzelexistenz leiden, ich bin der Ansicht, daß die errungene Virtuosität bald verloren gehen würde, wenn z. B. der Bildhauer aufhören müßte in
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Stein nachzubilden, oder der Maler den menschlichen Körper in der bisherigen Weise zu studiren, was für die Zwecke einer theatralischen Verwendung seiner Kunst an lebendigen Menschen kaum nöthig sein dürfte. Nur der Starke ist der wahren Hingebung fähig und Selbstständigkeit die Voraussetzung einer solchen; diese Letz tere aber scheint mir ohne die Einzelexistenz der Künste nicht genug gewahrt. Endlich und hauptsächlich spricht auch der Umstand für eine Trennung, daß nicht alle Aufgaben der Einzelkunst im Gesammtkunstwerk ihre erschöpfende Dar stellung finden können, daß auch später noch gesonderte Aufgaben übrig bleiben. Betrachten wir, um dieß uns zum Bewußtsein zu bringen, die Thätigkeit der einzelnen Künste nach geschehener Vereinigung. Die Baukunst kommt am wenigsten in Frage. Sie hat als Dienerin des Ganzen im Theater der Zukunft zugleich eine volle, selbstständige Existenz wie bisher. Hier erscheint daher ohne Weiteres das Problem gelöst. Skulptur und Malerei zeigten sich, meiner Darstellung zufolge und unbeschadet der hohen und herrlichen Verwendung, die ihnen bevorsteht, im Kunstwerk der Zukunft am meisten zurückgesetzt, in ihrer Technik eigentlich vernichtet, und eine Einzelexistenz mit besonderen Aufgaben muß deßhalb für sie vorzugsweise wün schenswerth erscheinen. Entsprechend dieser Bestimmung erblicke ich auch weiter hin für die Landschaftsmalerei die Möglichkeit einer eben so regen Thätigkeit wie bisher. Vieles dürfte der Bühne nicht zugänglich oder nicht brauchbar für dieselbe sein, was doch die trefflichste künstlerische Aufgabe genannt werden müßte. Ander seits könnte der Reichthum des landschaftlichen Hintergrundes, den das Theater zur Darstellung bringen wird, Veranlassung zu besonderer Fixirung im Bilde geben. Die Historienmalerei aber, wie überhaupt die gesammte bildende Kunst hat Auf gaben, welche auf der Bühne und am lebendigen menschlichen Körper gar nicht zur Verwirklichung kommen können. Es ist dieß das in der Erscheinung nicht vor handene Ideal, welches die Skulptur in der gesammten Beschaffenheit des Körpers, die Malerei im Ausdruck des Gesichts und des Auges darstellt. Die griechischen Götter sind keine Menschen, ebenso wie die Madonnen- und Christusbilder weit über das Menschliche hinausgehen. Ganz in derselben Weise, wie bisher, bietet sich daher für die Malerei neben ihrer Existenz im Gesammtkunstwerk das Ideal des Menschen der Zukunft als besonderes Object. Eine im tiefsten Grunde verschiedene Weltanschauung muß natürlich auch einen ganz anderen Gesichtsausdruck zur Folge haben, und sie wird deßhalb dieses Ideal in seiner sinnlichen Erscheinung zur Dar stellung zu bringen haben. Freilich muß die Malerei – so wie dieß überhaupt von allen Künsten gilt – erst vollständig in die neue Bewegung eingetreten sein. Wenn diese Kunst gegenwärtig noch mit Gegenständen des kirchlichen Glaubens sich beschäftigt und dieß insbesondere unter dem Einfluß der Tradition, wenn sie sich z. B. mit Christusbildern nach dem Muster früherer Auffassung abquält, so halte ich das für ein durchaus überflüssiges und erfolgloses Thun. Vom alten Standpunkt aus ist das Größte schon geleistet, die Weltanschauung der Zukunft aber ist noch nicht so fertig, so eingedrungen, um die Grundlage für ein allgemeines Kunstschaffen sein zu können. Auch Christus, um dieß beiläufig zu erwähnen, wird ein erneuter Ge genstand für die Malerei sein, sobald man ihn als Repräsentant reinen Menschen thums, als weltbeherrschende[n] Genius erkannt hat. Anfänge für eine solche Auf fassung sind vorhanden in dem Christuskind der sixtinischen Madonna, in diesen
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die Fülle des objektiven Geistes, in diesen den Weltgeist selbst ausstrahlenden Augen; wie weit es aber Raphael gelungen ist, Christus, den Mann, entsprechend darzustel len, können wir, die wir das in Rom befindliche Original der „Verklärung“58 nicht kennen, nicht sagen, abgesehen auch von dem Umstande, daß in diesen Bildern immer noch das Göttliche zu sehr als solches, nicht vermählt mit dem Menschlichen, nicht als identisch mit demselben, also als rein Menschliches auftritt. – Noch in anderer Beziehung können, meiner Ansicht nach, der Malerei neue Aufgaben er wachsen. Sie kann unmittelbar ihre Objecte aus dem Kunstwerk der Zukunft ent nehmen, und für sich fixiren, wie dieß vorhin schon bezüglich der Landschaft an gedeutet wurde. Welche Fülle der trefflichsten Bilder z. B., eine wahre Fundgrube für den Maler, bietet allein dieser einzige Tannhäuser! – Minder bin ich gegen wärtig im Stande, das Gebiet der Skulptur zu bezeichnen. Ich sehe, abgesehen von ihrer Verwendung für die Architektur, welche Wagner andeutet, zur Zeit nur die abstrakte Möglichkeit einer neuen Belebung, hervorgehend aus [124] der Aufhebung des christlichen Dualismus von Leib und Seele. Tritt die bisher unterdrückte, oder einseitig bevorzugte sinnliche Seite wieder mehr ins Gleichgewicht mit der gegen überstehenden, so scheint es, als ob auch hier eine neue Basis für diese Kunst ge wonnen werden könnte. Bestimmteres jedoch hierüber anzugeben, vermag ich, wie gesagt, im Augenblick nicht. Was die Tonkunst betrifft, so bezeichnete ich schon früher die gesammte weltliche Gesangsmusik unter gewissen Bedingungen als das Gebiet, welches vorzugsweise eine Zukunft haben werde. Diese Bedingungen beruhen insbesondere auf der, spä ter auch schon angedeuteten, neuen Verbindung des Verses und der Melodie. Daß dieselbe nothwendig, ergiebt sich schon aus dem dort Gesagten, das Nähere aber ist Gegenstand späterer Untersuchung. Betreten wir jetzt das Gebiet der Poesie, so sprach ich ebenfalls schon aus, daß die bisherige breite Ausdehnung des Romans und der Novelle sich beschränken würde. Die relative Berechtigung derselben behandle ich zur Zeit als offene Frage, und er laube mir deßhalb keine Bestimmung, keine vorläufige Antwort. Von der lyrischen Poesie bemerkte ich, daß ihr auch für die Zukunft höhere Berechtigung inwohnen werde; jetzt füge ich hinzu, daß dieß, meiner Ansicht nach, insbesondere von dem gesungenen Lied gelten dürfte. Der dramatische Dichter endlich hat die hohe Be stimmung, vorzugsweise der anregende zu sein. Derjenige, von dem die wichtigsten Impulse ausgehen. So sehr auch die anderen Künstler Aufgaben stellen und die Ge nossen anregen können, so scheint mir doch, daß er namentlich zum Führer des künstlerischen Reigens bestimmt ist. Seine Stellung ändert sich jetzt nur in so weit, als derselbe, befreit aus seiner bisherigen ärmlichen Abgeschlossenheit, und sich hin gebend an das Ganze, zugleich alle Künste zu seinem Dienst verwenden darf. Indeß auch hier bin ich der Meinung, daß dem dramatischen Dichter eine besondere Sphäre gewahrt werden muß. Es ist dieß das vorzugsweise dem Reiche des Gedankens an gehörende Drama. Zwar bemerkt Wagner sehr richtig, daß alle Aufgaben, alle Stoffe, bei denen die Musik als störend erscheine, dem Geiste der Zukunft als nicht ent sprechend zu betrachten seien, er verbannt z. B. jene Intriguenstücke, in denen keine Spur von Empfindung, überhaupt Alles das, was in der Lüge und Heuchelei der 58 Raffael,
La Transfigurazione (Verklärung Christi, EZ 1518 –1520).
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Gesellschaft wurzelt, er stellt die Forderung: eure Rede sei Ja, Ja, Nein, Nein.59 Trotz alle dem aber bleibt die bezeichnete Sphäre als ein gesondertes Gebiet übrig. Es kommt hier überhaupt die Stellung des Gedankens, die Stellung der Wissenschaft zur Kunst in Frage. Irre ich nicht, so betrachtet Wagner die Kunst in Zukunft als Mittel punkt des gesammten geistigen Daseins, und dem zu Folge auch die Wissenschaft als untergeordnet. Einer solchen Ansicht würde nun zwar für die nächste Epoche in so weit die vollste Berechtigung zuzugestehen sein, als in Wahrheit die Wissenschaft momentan zurücktritt, die bisherige große philosophische Schöpferkraft z. B. zur Zeit nicht mehr in dem früheren Grade vorhanden ist. Ganz von selbst versteht sich ferner, daß die Kunst der Zukunft eine ganz andere, würdigere Stellung besitzen muß, als die moderne Zeit der gegenwärtigen einräumt. Dem ohngeachtet aber stehen wir, was Erkenntniß betrifft, nur erst am Anfange der Entwicklung. So Gewaltiges bisher geleistet worden ist, immer resultiren daraus neue und größere Aufgaben, so daß das Ringen des Erkennens überhaupt nur mit dem Menschengeschlecht selbst aufhören wird. In der Wagner’schen Ansicht scheint mir die Kunst deßhalb doch zu sehr als das Alleinige hingestellt. Ich habe ferner noch ein mit dem Gesagten im Zusammen hange stehendes Bedenken, welches mir bei den Mittheilungen des Vorworts zu den drei Operndichtungen entstand. Wagner fand, als er sich mit Friedrich dem Rothbart als Stoff zu einem Trauerspiel beschäftigte, die Verwendung der Musik dazu als un geeignet, erkannte aber sogleich die Nothwendigkeit derselben, als er auf den Mythos zurückging.60 Die Musik – dieß ergab sich hieraus als Resultat – paßt vortrefflich für rein menschliche Aeußerungen, nicht aber für Situationen, in denen der Mensch umstrickt von den Verhältnissen auftritt. Es ist aber die Bestimmung des Menschen, aus jenem Urzustand heraus- und in die Entwicklung einzutreten, es läßt sich jenes reine Menschenthum im Fortgang der Geschichte nicht behaupten; nur als ein auf höherer und bewußter Stufe wieder zu erreichendes Ziel steht es jetzt vor unseren Augen. Eine große Zahl von Stoffen muß daher nothwendig der Zeit der Entwick lung angehören, und hier ist demnach ebenfalls eine Sphäre, wo dem specifischen Drama seine besondere Berechtigung verbleibt. Einem rein menschlichen Boden entsprungene Stoffe würden vorzugsweise die für das Kunstwerk der Zukunft geeig neten sein, während das, was zwischen dem Anfang und dem Ziel der Entwicklung liegt, das Einseitigere, auch eine einseitigere Behandlung nothwendig machen müßte. Fassen wir das Gesagte zusammen, so ergiebt sich als endliche Lösung demnach die relative Berechtigung und Selbstständigkeit der Einzelkunst gegenüber dem Ge sammtkunstwerk. Das Verhältniß der Ersteren zu dem Letzteren gestaltet sich dem gesammten Leben der Zukunft entsprechend. Bis jetzt hat das Princip des Egoismus die Welt beherrscht, und wir sehen demzufolge Sonderung, Vereinzelung, Spaltung. Es
1850 Kunstwerk der Zukunft, in: Wagner-Schriften 3, S. 160: „Der Mensch, der im Drama der Zukunft sich darstellen wird, hat mit dem prosaisch intriguanten, staatsmödegesetzlichen Wirr warr, den unsre modernen Dichter in einem Schauspiele auf das Umständlichste zu wirren und zu entwirren haben, durchaus nichts mehr zu thun: sein naturgesetzliches Handeln und Reden ist: Ja, ja! und Nein, nein! wogegen alles Weitere von Uebel, d. h. modern, überflüssig ist.“ Hiermit zitiert Wagner das Bibelwort „Eure Rede aber sei: Ja, ja; nein, nein. Was darüber ist, das ist vom Übel“ (Jak 5, 12). 60 Vgl. Wagner 1852 Drei Operndichtungen nebst einer Mittheilung an meine Freunde, in: Wagner-Schriften 4, S. 311– 316. 59 Wagner
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ist nun die unzweifelhafte Aufgabe der nächsten [125] Weltepoche, dieser Trennung und Vereinzelung gegenüber, das Aufgehen im Ganzen zur Herrschaft zu bringen. Falsch und ebenso einseitig aber müßte ich diese Wendung nennen, wenn das Be richtigte, welches den bisherigen Weltzuständen inwohnte, dabei verloren gehen sollte. Nicht ein einseitiges Umschlagen in das andere Extrem, wie einige moderne Theorien lehren, ist das, was wir brauchen, im Gegentheil kann es nur die Aufgabe sein, auf dem Grunde des bisher Errungenen das Neue zu gestalten, die individuelle Berechtigung nicht gänzlich im Allgemeinen verschwinden zu lassen, sondern eine Durchdringung beider Seiten anzustreben. Ich habe jetzt den meiner Ansicht nach wichtigsten Gegenstand, dessen Erfassung die Grundbedingung jedes weiteren Fortschritts ist, zur Sprache gebracht, ich habe eine vorläufige Beantwortung der Frage versucht. Ob meine Bestimmungen haltbar sind, oder nicht, muß die Erörterung ergeben. Zur Zeit glaube ich, daß das Erstere, wenigstens in der Hauptsache, der Fall, ich glaube nicht unwichtige Beiträge gege ben, und eine Vereinigung der divergirenden Ansichten ermöglicht zu haben. Blicken wir schließlich noch einmal auf die schon oben angedeutete Verwandt schaft Wagner’s mit Mozart, was die geschichtliche Stellung Beider betrifft, zurück. Wie in Mozart die einzelnen nationalen Richtungen sich verschmolzen haben, so, bemerkte ich, vereinigen sich in Wagner die einzelnen Künste. In derselben Weise nun, wie nach Mozart die verschiedenen Richtungen wieder auseinander gingen, sich erneut verselbstständigten, so aber daß der Durchgang durch den Einigungspunkt sichtbar blieb, werden auch später, ist die Einigung erst zu ihrem Culminationspunkt gelangt, die einzelnen Künste wieder auseinander treten, mit derselben Bestimmung, daß der Durchgang durch den Einigungspunkt sichtbar bleibt. Ich kann mir zur Zeit das Kunstwerk der Zukunft und die Berührung desselben mit der Einzelkunst nur in steter Bewegung, nur in stetem Auf- und Abwogen vorstellen, in Schwankungen, so daß wir bald ein entschiedeneres Auseinandergehen, bald wieder eine energischere Concentration auf den Mittelpunkt, das Gesammtkunstwerk, haben. So große Le bendigkeit in dem Letzteren selbst durch das abwechselnde Hervor- und Zurück treten der einzelnen Künstler besteht, so scheint dasselbe mir doch, so lange es ohne diese Beziehung zur Einzelkunst gedacht wird, nur eine einseitigere Entwicklung zu nehmen. Auch hier würde demnach Mozart und die an ihn sich schließenden Folgen ein Analogon bilden. Trete ich aber damit scheinbar dem Gesammtkunstwerk zu nahe, scheint diese Analogie ein schlechtes Prognostikon für die gegenwärtige Wen dung zu sein, weil wir bald nach Mozart erneute, schlechte Einseitigkeit, endlich gänzlichen Verfall erblicken, so erwiedere ich: die gegenwärtige Wendung ist schon unter diesem Gesichtspunkt zu begreifen. Wagner’s That ist schon eine solche erneute Concentration des Auseinanderstrebenden, sie ist, im gegenwärtigen Sinne, die er neute Mozart’s, aber auf höherer Stufe, sie ist der zunächst nothwendige große kunst geschichtliche Wendepunkt. Wir haben schon hier und in der Zeit bis auf Mozart zurück ein solches Beispiel des Auf- und Abwogens, wie ich so eben mich aus drückte. Zweitens aber – und dies ist die Hauptsache – ist das Gesammtkunstwerk vor einem so egoistischen Zerfallen seiner Elemente, wie wir das nach Mozart sehen, schon dadurch geschützt, daß es überhaupt die Vernichtung des Egoismus zu seiner Voraussetzung hat. Wir können unter dieser Voraussetzung ein solches Zerfallen, wie wir es nach Mozart sehen, gar nicht mehr haben.
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Es ist jetzt an der Zeit auf die Ansicht J. Raff’s61 näher einzugehen. Es ergiebt sich, daß ich ihm beipflichten muß, wenn er sogleich auf die Stellung der Einzelkunst zum Gesammtkunstwerk als auf die Hauptsache losgeht, wenn er hier sogleich die Frage aufgreift, in der alle Verschiedenheit der Ansicht gegenwärtig ihren Grund hat, wenn er in der bezeichneten Stellung einen nicht aufgehellten Punkt fand. Ich stimme ferner überein, wenn er die Selbstständigkeit der einzelnen Künste, hier speciell der Musik, nicht völlig aufgeben will. Der Unterschied aber ist, daß er die bisherige Sonderung festhalten zu müssen glaubt, ohne die Notwendigkeit eines vor herigen Aufgehens im Ganzen anzuerkennen, daß er das Gesammtkunstwerk als Etwas hinstellt, was mit der specifischen Kunst gar nichts zu thun hat, daß er sonach das Zusammengehörige in bisheriger Weise einseitig sondert und fixirt. Vergleicht er weiter die Stellung der Musik, so weit sie in unserem Gesammtkunstwerk aufzugehen bestimmt ist, mit dem Verhältniß, welches sie im griechischen Drama hatte, so ist auch das im Allgemeinen jedenfalls der Wagner’schen Ansicht entsprechend, denn wir sollen Das wieder erhalten, was die Griechen in ihrem Drama besaßen, aber es paßt speciell für Musik nicht, weil diese Kunst, dort die untergeordnetste, jetzt die mäch tigste ist, es paßt nicht, weil dort das plastische, bei uns das musikalische Element überwiegt. Die Musik wird im Kunstwerk der Zukunft eine unendlich größere Be deutung erhalten, als sie im Drama der Griechen besaß. Sagt er endlich im Hinblick auf seine so eben ausgesprochene Ansicht, Wagner würde gethan haben, was Aristo teles that, wenn er sich in [126] der Lage desselben befunden hätte62, so finde ich das ebenfalls richtig, aber ich fahre fort: da Wagner sich indeß nicht in der Lage des Aristoteles befindet, so muß er es aus diesem Grunde eben anders machen. Im Gefühl sind wir wohl Alle einig; es handelt sich nur darum, diesem Gefühl die entsprechende, erschöpfende, (nicht einseitige) theoretische Fassung zu verleihen, und da gehen unsere Wege zur Zeit noch etwas auseinander. [133] Zum Schluß jetzt noch eine kurze Betrachtung über den von J. Raff wei ter angeregten Einwand, daß sich Wagner „in der Sackgasse eines fast localen Deutschthumes zu verrennen drohe.“63 Ich nehme diese Erörterung auf, weil durch Raff’s Bedenken eine äußere Ver anlassung gegeben ist, muß jedoch gleich beim Beginn derselben bemerken, daß sie streng genommen ziemlich weit abliegt von dem, was uns gegenwärtig beschäftigt. Wir haben noch so viel mit der Erkenntniß des von Wagner Aufgestellten zu thun, wir stehen noch so sehr am Anfange des in Folge davon eingetretenen Umschwun ges, daß die Frage nach einer möglichen Einseitigkeit mir eine sehr verfrühte zu sein scheint. Das was zunächst erstrebt werden mußte, war die Anerkennung des neuen Princips im Allgemeinen, das Zweite ist die Erlangung eines ausgedehnteren, tieferen Verständnisses des Gegebenen durch die näher eingehende Debatte, zu der wir uns jetzt wenden, und erst in viel weiterer Zukunft dürfte eine erschöpfende Behandlung
1853a An die Redaction, in: NdS 1 Nr. 41. 62 In seiner ca. 335 v. Chr. entstandenen Poetik, welche eine Apologie des Dramas darstellt, weist Aristoteles (384 – 322 v. Chr.) der Musik eine untergeordnete Rolle zu, da das entscheidende Moment der Katharsis nicht durch äußerliche Ef fekte wie die Inszenierung oder durch die Musik, sondern einzig durch das Sprechen der Schau spieler bewirkt werden soll. 63 Raff 1853a An die Redaction, S. 67, in: NdS 1 Nr. 41, S. 403. 61 Raff
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von Fragen, wie die oben angeregte am Ort sein. Weil indeß Veranlassung gegeben ist, so sei diese Betrachtung aufgenommen, obschon, wie gesagt, eine Erledigung nicht drängt. Ich hoffe auch hier Anregung für eine umfassendere Orientirung geben zu können. Betrachten wir die Entwicklung Deutschlands, so sehen wir, wie dieselbe im Laufe seiner ganzen Geschichte von den tiefsten Spaltungen, den schroffsten Gegen sätzen durchschnitten ist. Selbst das Christenthum trat als eine fremde Macht dem ursprünglich deutschen Wesen gegenüber, und fort und fort ist der Widerstreit beider Seiten zu Tage gekommen. So haben ferner auf deutschem Boden alle ande ren Volksgeister Raum gefunden, sowohl die schon vom geschichtlichen Schauplatz abgetretenen, als auch die unmittelbar noch lebendiger Wirklichkeit angehörigen, und diesen universellen Bestrebungen gegenüber, diesen Versuchen das Fremde mit dem Eigenen zu verschmelzen ist dann wieder eine energischere Concentration auf das eigenthümliche, nationale Wesen gegenüber getreten. Bei der gegenwärtigen Erörterung ist es zunächst der Gegensatz des Nationalen und Antiken, welcher uns interessirt, und ich komme damit auf das gleich im Eingange dieses Aufsatzes er wähnte Thema zurück. Seit dem Wiedererwachen der Wissenschaften beim Beginn der modernen Zeitepoche bis herab auf die neueste Zeit erblicken wir den Kampf dieser wider-[134]streitenden Richtungen, der auf künstlerischem Gebiet seinen Culminationspunkt in neuerer Zeit in der romantischen Dichterschule einerseits, in Schiller, bei weitem mehr noch in Göthe anderseits erreichte. Von Haus aus und in seiner ganzen ersten Epoche huldigte Göthe einer deutsch nationalen Richtung; in ihm gerade erwachte dieselbe mit erneuter Kraft und Fri sche. Später aber, seit seinem Aufenthalt in Italien, ist das antike, das objektive, plastische Element mehr und mehr bei ihm in den Vordergrund getreten. Er hat zwar auch dann noch im tiefsten Grunde seine deutsche Individualität bewahrt, aber er ist doch aus seiner bisherigen Welt herausgegangen, zur Hälfte auf die alte, grie chische sich stützend. Er hat auf diese Weise eine Verschmelzung beider Seiten er reicht, der zu Folge jede Etwas von ihrem eigenthümlichen Wesen aufgeben mußte, er hat nicht das Deutsch-Nationale erfüllt durch das Antike, so daß dieß völlig auf gezehrt, in unser Wesen aufgenommen, in Fleisch und Blut verwandelt uns er schiene, daß es aufgehört hätte ein Fremdes zu sein, und aus unserer Entwicklung selbstständig erzeugt uns entgegenträte, er hat beide Seiten als gleich berechtigt nur erst verschmolzen, und das Deutsche eben so sehr mit nach Griechenland hinüber genommen. Dieser Wendung gegenüber bewegte sich die romantische Schule aus schließlich auf deutschem Boden, sie vertrat das Nationale im engeren Sinne, und dieß nicht blos im unmittelbaren Kunstschaffen, sondern auch theoretisch. Es ist namentlich L. Tieck gewesen, welcher in den vortrefflichen Einleitungen zu seinen Ausgaben der Dichter der Sturm- und Drang-Periode und der romantischen Schule64 den Gegensatz scharf und treffend hervorgehoben, welcher geradezu ausgesprochen hat, daß Göthe’s antike Richtung eine verfehlte gewesen sei.65 Die
64 Ludwig
Tieck (1773 –1853) edierte etwa die Schriften von Novalis, Heinrich von Kleist, Fried rich Müller (Pseudonym „Maler Müller“) und Jakob Michael Reinhold Lenz. 65 Tieck 1828 Goethe und seine Zeit.
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romantische Dichterschule zählt die begabtesten, reichsten Dichtertalente Deutsch lands – Göthe hier natürlich ausgenommen – zu ihren Anhängern, aber sie hat es nicht über ein sehr beschränktes, einseitig aufgefaßtes Deutschthum hinausgebracht, sie hat dasselbe nicht auf der Höhe eines nationalen Standpunktes gefunden, im Gegentheil in einem particularistischen Abschließen. Sie besaß zugleich mehr nur eine literarisch vermittelte, künstliche Existenz, ohne bis zum Kern der Nation vor dringen zu können. Diese Stellung hatte eine gewisse Krankhaftigkeit zur Folge, es fehlte zum Theil an wirklich substantiellem Inhalt, an Ernst und Charakter. Phan tasterei und Willkühr, Caprice und Laune waren die Mächte, denen man huldigte, die Wirklichkeit wurde übersprungen, und so vermochten diese Dichter auch zu keinem wahrhaften Verhältniß zum Theater zu kommen. Wir erblicken dem zu Folge auf dem Gebiet der modernen Poesie zur Zeit zwei wesentlich berechtigte Gegensätze, die sich wechselseitig ausschließen, ohne eine Versöhnung erreichen zu können. Es hat bis jetzt bei diesen Gegensätzen sein Be wenden gehabt, und die Frage ist als eine schwebende in die neueste Zeit mit he rüber genommen worden. Bis auf die Gegenwart herab sind Zweifel geblieben, ob die Göthe’sche Wendung die einzig berechtigte, auch in Zukunft zu verfolgende war, oder ob von der weiteren Ausbildung der romantischen Richtung das fernere Gedeihen abhängen werde. Nur die Tonkunst vermag bei dieser Ungewißheit uns eine befriedigende Ant wort zu geben, und es ist das Gebiet derselben zu betreten, wenn wir zu wirklicher Erkenntniß unserer Entwicklung gelangen wollen. Möge dieß zugleich – beiläufig erwähnt – ein erneuter Beweis sein, wie nur aus einer viel innigeren Durchdringung der bisher getrennten Seiten, aus zusammenfassender Betrachtung, ein tieferes Ver ständniß hervorgehen kann. Die Musik war es, welche in höherer Weise erreicht hat, was in der romantischen Schule nur angestrebt wurde. Beethoven ist dieser durchaus deutsche Künstler, der frei von krankhafter Phantasterei, durchdrungen von dem tiefsten Ernst, das deutsche Wesen allseitig und in seinem ganzen Reich thum zur Darstellung bringt. Aber die Lösung des Gegensatzes war hier, bei aller Größe, doch nur eine einseitige, wie dieß ja der Musik nicht anders möglich, eine einseitige nämlich in dem Sinne, daß nur das Nationale, wenn auch in höchster Potenz, zur Erscheinung gekommen ist, nicht zugleich die andere von der antiken Welt beeinflußte Seite. Das romantische Princip allein fand hier seinen Culminations punkt. Jetzt indeß hat die Tonkunst auch die gegenüberstehende Richtung in sich aufgenommen, und die allseitige Lösung erreicht. Was ihr allein unmöglich war, was auf dem Gebiet der Poesie nur erst in Gegensätzen zur Erscheinung kam, ist durch das Kunstwerk der Zukunft zum Abschluß gelangt, ist durch Wagner’s Schöpfungen angebahnt. Es ist hier wieder das Deutsch-Nationale, wie bei den Romantikern und in höherer Weise bei Beethoven, es ist der Ernst, die Macht der Gesinnung, wie bei dem Letzteren, zugleich aber ist in dem Kunstwerk der Zukunft die antike Welt zur vollsten Geltung, zu wahrhaft dem modernen Geiste entsprechender Wiedergeburt gelangt. Es ist nicht blos der Anschluß an Griechenland überhaupt, der Umstand, daß Wagner von demselben seinen Ausgang nimmt, es ist zugleich der Drang nach voller Wirklichkeit, der sich in seiner ganzen Richtung ausspricht, es ist die Vernei nung einer nur im Gedanken existirenden Kunst, es ist die Verneinung einer blos literarischen Existenz derselben, es ist die [135] Bevorzugung des Dramatischen,
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überhaupt die gesammte Weltanschauung, welche dieß bestätigt. So ist zur Einheit gelangt, was für unsere Dichter nur getrennt existirte, es ist zugleich Beethoven auf genommen, und eine Durchdringung des Nationalen mit dem Antiken erreicht, welche auf dem Göthe’schen Standpunkt noch eine Unmöglichkeit war. Hier ist das Fremde nicht mehr als Fremdes vorhanden, es ist innerlichst angeeignet[,] es ist ein durch den antiken Geist gehobenes, durch ihn wahrhaft erfülltes, und gesättigtes Deutschthum, es ist die Lösung des Göthe-Tieck’schen Streites66 gegeben, der einzig richtige Weg für die weitere Kunstentwicklung betreten. Deßhalb ist Wagner auch in dieser Beziehung für die Poesie der Gegenwart von größter Bedeutung, er ist auch für diese die epochemachende, bahnbrechende Erscheinung. Der jetzt betretene ist der einer künftigen Entwicklung überhaupt vorgezeichnete Weg, denn auch das Leben der Zukunft hat die Aufgabe, sich mit dem antiken Geist mehr zu durchdringen und zu sättigen, als bisher der Fall war, so aber daß das Fremde nicht mehr als Fremdes, als blos Angeeignetes, wieder Aufgenommenes erscheint, im Gegentheil als selbstständig Erzeugtes. Ich erachte deshalb den oben angedeuteten Einwand eines einseitigen Deutsch thums nach dieser Seite hin für erledigt. Wohl haben wir eine Verklärung, eine wahrhafte Auferstehung des deutschen Wesens vor uns, nicht aber in einem tadelns werthen, beschränkten Sinne, im Gegentheil, in der umfassendsten, höchsten Weise, die es bis jetzt gegeben hat. Es ist jedoch durch das jetzt Gesagte der ausgesprochene Tadel noch nicht all seitig entkräftet. Eine zweite Frage ist für unsere Betrachtung noch übrig; die Stel lung der Wagner’schen Kunst zu den übrigen europäischen Nationen, die mit uns zum Theil Hand in Hand gegangen sind. Erst wenn es uns gelingt, auch nach dieser Seite alle Bedenken zu entfernen, kann unser Ziel als erreicht betrachtet werden. Mag es sein, wird der Gegner sagen, daß die Wagner’schen Kunstwerke in Bezug auf die Stellung zum Alterthum alle Probleme gelöst haben; gegen die anderen Nationen verhalten sich dieselben exklusiv. Schon die Wahl der Stoffe beweist dieß unwiderleglich. Hierauf antworte ich: Es ist die nächste Aufgabe des deutschen Volkes, endlich sich als Nation zu er fassen, nach Jahrhunderte langem Hin- und Herschwanken bis zu dem innersten Mittelpunkt des nationalen Bewußtseins vorzudringen. Diese Aufgabe hat sich in neuester Zeit in allen Bestrebungen geltend gemacht, auch in den politischen Be wegungen der verflossenen Jahre. Wir gelangen spät erst auf einen Standpunkt, welchen die übrigen europäischen Nationen von Haus aus und ununterbrochen eingenommen haben. Es ist jedoch die weltgeschichtliche Bestimmung Deutschlands gewesen, den verschiedensten geistigen Bestrebungen in seiner Entwicklung Raum zu gewähren, und aus diesem Grunde ist diese beim ersten Blick nahe liegende Auf
66 Hiermit
dürfte Goethes Ablehnung der romantischen Kunstbestrebungen gemeint sein, mit denen er insbesondere 1817 in dem mit Johann Heinrich Meyer (1760 –1832) vorbereiteten Aufsatz „Neudeutsche religiös-patriotische Kunst“ im zweiten Heft der Zeitschrift Über Kunst und Altertum abrechnete. Darin werden u. a. die von Ludwig Tieck herausgegebenen Herzensergießungen eines kunstliebenden Klosterbruders (ED 1796) von Wilhelm Heinrich Wackenroder als ein Werk bezeich net, das der Verehrung der alten Meister und dem Dilettantismus entscheidend Vorschub geleistet habe (vgl. Fröschle 2002 Goethes Verhältnis zur Romantik, S. 227 f.).
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gabe immer zurückgehalten worden. Jetzt steht dieselbe im Vordergrund, und es ist nicht eher weiter zu gelangen, als bis sie gelöst ist. Wenn daher Wagner gerade diese altdeutschen Stoffe für seine Kunstwerke wählte, so beweist er damit, daß er die Aufgabe der Zeit, mehr wie jeder Andere, ergriffen hat. Es ist eines seiner größten Verdienste, diesen Weg betreten, Das erreicht zu haben, was schon seit Jahren als die nächst nothwendige That von Vielen erkannt worden ist; – ich erinnere beispiels weise an die Erörterungen über „die Nibelungen als Oper“ in dies. Bl.67 – Was in den ältesten Zeiten unseres Volkes instinctartig hervortrat, ist jetzt mit Bewußtsein zu erfassen, und wieder zu geben. Der Kreislauf der Entwicklung schließt sich auf diese Weise, und wir kehren zurück zu unserem Ausgangspunkt, um jetzt, vor allem weiteren Vordringen, diesen als sicheres Fundament bewahren zu können. Erscheint nun hierdurch die Wahl der Wagner[’]schen Stoffe gerechtfertigt, so ist damit der Vorwurf der Exklusivität immer noch nicht beseitigt. Wir sind einen Schritt vorwärts gekommen, die entscheidende Antwort aber fehlt. Diese ist folgende: Es ist keineswegs die Aufgabe, auf diesen [sic] Standpunkt nationeller Ausschließ lichkeit fest zu beharren, hartnäckig jetzt daran fest zu halten. Die Bestimmung der Zukunft ist eine Verschmelzung der Völker, wie dies jetzt schon aller Orten in un zweifelhaften Erscheinungen erkennbar wird. Die nationelle Einseitigkeit verliert deshalb ihre hervorstechende Bedeutung, und vermag künftig nur noch als indivi duelle Färbung sich geltend zu machen. Deutschlands Aufgabe ferner besteht nicht blos darin, die antike Welt sich innerlichst anzueignen, es ist zugleich seine Mission, auch die modernen Volksgeister in sich aufzunehmen, sich durch sie zu ergänzen. Der eben bezeichnete nationelle Standpunkt ist daher auch jetzt nur ein Durch gangspunkt. Früher bewegte sich die Entwicklung in den extremsten Schwankun gen, mit völliger Verleugnung häufig aller Nationalität. Jetzt ist diese der Grund und Boden, auf dem sich ein neues Weltreich, eine höhere Universalität erhebt. Was daher die Wagner’schen Kunstwerke betrifft, so ist zu unterscheiden zwi schen diesen Stoffen und der Behandlungsweise derselben. Diese Stoffe gehören [136] der gegenwärtigen Entwicklungsstufe, dieser nationellen Wendung an. Wagner hat darin das zunächst Nothwendige gegeben, das gegenwärtige Ideal ergriffen. In der Behandlungsweise aber hat er einen viel größeren Spielraum eröffnet, und zwar in einem weit universelleren Sinne. Das Kunstwerk der Zukunft ist ja durchaus nicht an derartige Stoffe ausschließlich gebunden, eben so wenig als die Wagner’sche In
67 Otto 1845 Die Nibelungen als Oper. In diesem Artikel ging die Dichterin und Frauenrechtlerin Louise Otto (1819 –1895) auf den Vorschlag ein, die Nibelungen-Sage als Oper zu bearbeiten, welchen der Philosoph und Dichter Friedrich Theodor Vischer (1807 –1887) in seinen Kritischen Gängen (ED 1844) geäußert hatte. Otto forderte, dass die Komponisten, ähnlich wie sich etwa die Literaten um ein Nationaldrama bemühten, nach einer Nationaloper streben müssten. Die Be stimmung der Künste sei es, das Nationale zu stärken, denn ein Volk könne nur politische Größe erreichen, wenn es national ist. Der erste Schritt dazu sei, den Stoff der Nibelungen „als unsere urdeutsche und großartigste Nationaldichtung“ (S. 51) zu einer Oper zu bearbeiten. Das helfe auch, die Oper „aus ihrer jetzigen Gesunkenheit wieder auf ihren Höhepunct zu bringen“ (ebd.), um so die gewachsene Kluft zwischen Musik und Leben zu überwinden (vgl. hierzu auch Ludwig 2007 Das Nibelungenlibretto von Louise Otto-Peters).
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dividualität allein für dasselbe Maaß gebend ist. Das Kunstwerk der Zukunft trägt in sich die Fähigkeit, den verschiedensten Individualitäten und Nationalitäten zum Ausdruck zu dienen, und diese erste Erscheinungsform in den Wagner’schen Werken ist darum nicht als die einzige zu betrachten, nicht zu verwechseln mit Dem, was die Zukunft selbstständig und abweichend schaffen wird. So hat Wagner im Allgemeinen theoretisch Bahn gebrochen, indem er durch das Kunstwerk der Zukunft aller künstlerischen Produktivität einen Schauplatz uner schöpflicher reichster Thätigkeit eröffnet hat. Praktisch, im unmittelbaren Kunst schaffen, hat er den ersten Schritt zur Verwirklichung hin gethan. Er ist der Mann der Zeit, was seine Stoffe betrifft, aber es werden weiterhin Epochen kommen, wo andere Stoffe diese verdrängen. Bezüglich der künstlerischen Behandlung dieser Stoffe aber, so hat Wagner den Weg gezeigt und betreten, auf dem fortan weiter zu schreiten ist. Damit ist jedoch keineswegs gesagt, daß diese Behandlungsweise eine feste Norm sei, von der nicht abgewichen werden dürfe. Andere Stoffe werden auch, obschon immer unter Anerkennung der wesentlichen Voraussetzungen, eine ver änderte Behandlungsweise erleiden. Somit erledigt sich, wie ich glaube, Raff’s Ein wand zu allseitiger Zufriedenheit. Es ist richtig, – auch Uhlig hat dies ausgespro chen,68 – daß Tannhäuser und Lohengrin z. B. in Paris kein Glück machen würden, und in so weit ist Raff’s Einwand treffend. Dies kann jedoch zunächst auch gar nicht die Absicht sein. Erst müssen wir mit uns selbst fertig werden, bevor wir an Weiteres denken können. Das wahre Weltbürgerthum besteht nicht in charakterlosem Hinund Herschwanken, wie es die deutsche Geschichte bis jetzt so oft gezeigt hat, es erhebt sich allein auf der Grundlage des nationalen Bewußtseins. Dies ist, was im tiefsten Grunde fest und sicher vorhanden sein muß, ehe die wahrhafte Universali tät erreicht werden kann. So ist Wagner’s Kunst jetzt eine nationale, dem Kunstwerk der Zukunft aber, was durch jene vorbereitet wird, wohnt eine Universalität bei, die gerade es, meiner Ansicht nach, vorzugsweise in den Stand setzt, alle Nationen um sich zu versammeln, eine Weltkunst hervorzurufen. Das Nächste war, daß das Verhältniß der Sonderkunst zum Gesammtkunstwerk zur Sprache gebracht werde. Es ist dies Verhältniß zur Zeit so sehr der Gegenstand abweichender Ansichten und Zweifel, daß man kaum mit Jemand über die neue Richtung sprechen kann, ohne daß Widerspruch nicht auch sogleich hervorträte. Erst nach erfolgter Feststellung dieses Verhältnisses ist es möglich das Nähere über die Art und Weise der Vereinigung zur Sprache zu bringen. Deshalb fordere ich zunächst zum Austausch der Ansichten über diesen Gegenstand auf. Habe ich, indem ich darlegte, wie ich die Sache zur Zeit verstehe, auch nur erreicht, Andere zu weiterer Erörterung angeregt zu haben, so glaube ich, daß damit schon ein Schritt vorwärts gethan ist.
Uhlig 1851 Die Ouvertüre zu Tannhäuser. Darin berichtete Uhlig, wie bei einer Aufführung der Tannhäuser-Ouvertüre in Paris gelacht wurde (S. 153) und erklärte dies mit dem dortigen Unverständnis des Publikums, das aufgrund der konzertanten Aufführung des Stückes weder den Inhalt der Oper noch die Tonsprache Wagners verstanden hätte, was bei besserer Kenntnis von Wagners Schriften und seiner Musik hätte vermieden werden können. 68 Siehe
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Kommentar Bereits eine Woche, nachdem Joachim Raffs kritischer Artikel69 über Wagners Konzept eines „Kunstwerks der Zukunft“ in der NZfM erschienen war, reagierte Brendel mit diesem umfangreichen Artikel. Im Mittelpunkt steht dabei die von Raff aufgeworfene Frage, inwiefern die von Wagner postulierte Vereinigung der Künste im „Kunstwerk der Zukunft“ das Ende der verschiedenen Kunstformen als „Einzelkünste“ bedeute – eine Frage, die damit offenbar selbst innerhalb der Reihen der sich als musikalische Avantgarde verstehenden Komponisten und Schriftsteller für kontroverse Ansichten sorgte. Seinem eigenen Selbstverständnis als Musikkritiker70 gemäß, stellt Brendels Aufsatz einerseits eine Popularisierung der Wagner’schen Gedanken, andererseits aber auch einen Vermittlungsversuch zwischen den divergierenden Positionen dar. So spricht sich Brendel im Gegensatz zu Wagner eindeutig für das Fortbestehen der „Einzelkünste“ aus, die jedoch „unter steter, lebendiger Beziehung zum Ganzen“71, d. h. dem von Wagner geforderten „Gesamtkunstwerk“ existieren müssten, um so nicht zuletzt gleichsam die ‚Leistungsfähigkeit‘ dieser Kunstformen auch im Hinblick auf deren Anteil am „Kunstwerk der Zukunft“ zu erhalten. Wenn dies ausbleibe, sei laut Brendel von „Sonderkunst“ zu sprechen. Weiterhin beharrt Brendel im Gegensatz zu Wagner darauf, dass dem „dramatischen Dichter“ eine „besondere Sphäre gewahrt werden“ müsse,72 damit dieser Stoffe behandeln könne, welche zur Vertonung im Gesamtkunstwerk ungeeignet seien. Im Unterschied zu Raff sieht Brendel entsprechend seinem dialektisch geschulten Denken im Fortbestehen einer Symphonik parallel zu Wagners Musikdramen die „Notwendigkeit eines vorherigen Aufgehens im Ganzen“73, bevor die „Einzelkünste“ danach, befruchtet von den neuen Themen und Anregungen des Gesamtkunstwerks, wieder in ihre ‚Sonderstellung‘ zurückkehren dürften. Dieser Versuch einer vermittelnden Haltung könnte u. a. dazu geführt haben, dass Wagner dem Herausgeber der NZfM immer wieder Zaghaftigkeit und Inkonsequenz vorwarf und die Zeitschrift selbst nicht als Organ seiner „Partei“ akzeptierte.74 Bemerkenswert sind auch die Ausführungen Brendels am Ende seines Artikels, in denen er Raffs Vorwurf eines „localen Deutschthumes“75 bei Wagner widerspricht. Wie in der sechs Jahre späteren „Anbahnungs“-Rede76 Brendels auf der Tonkünstlerversammlung in Leipzig 1859 wird auch hier deutlich, dass dessen Nationen-Vorstellung bzw. die einer deutschen Kunst keinesfalls einseitig chauvinistisch, sondern im Kontext der noch immer nicht erfüllten staatlichen Einheit in Deutschland zu sehen ist, die nicht auf äußerliche Abgrenzung abzielt, sondern – als notwendiges Durchgangsmoment – in eine Verschmelzung der Völker münden müsse.77 Die für diese Argumentation in Anspruch genommene Konstruktion einer historischen Entwicklungslinie von Mozart, Goethe über Beethoven bis Wagner, der damit als Erbe gleich mehrerer großer Kunstepochen dargestellt wird, macht auch verständlich, weshalb es für Brendel wenig problematisch erschien, Komponisten verschiedener Nationalitäten
69 Raff 1853a An die Redaction, in: NdS 1 Nr. 41. 70 Vgl. Brendel 1845 Zur Einleitung, in: NdS 1 Nr. 1. 71 Vorliegender Artikel, S. 432 [122]. 72 Ebd., S. 434 [124]. 73 Ebd. S. 437 [132]. 74 Vgl. Deaville 1986 Franz Brendel, S. 38 f. 75 Vorliegender Artikel, S. 437 [133]. 76 Siehe Brendel 1859 Zur Anbahnung einer Verständigung, in: NdS 3 Nr. 126. 77 Vgl. hierzu auch Steinbeck 2006 Die Neudeutschen, Franz Brendel und die nationale Idee.
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später zum Konstrukt einer „neudeutschen Schule“ zusammenzufassen. Grundlage war hierfür die Überzeugung, das gemeinsame Moment dieser ‚Schule‘ beruhe nicht in der Herkunft oder Sprache, sondern in dem Bezugspunkt Beethoven und dessen 9. Symphonie, der Brendel in deren Schlusschor die ideelle Klammer für das Werk solch verschiedener Komponisten wie Liszt, Berlioz und Wagner bot. Vor dem Hintergrund des vorliegenden Artikels erscheint seine spätere Proklamation der „neudeutsche Schule“ damit zugleich als Antizipation eines in der Kunst vereinten Europas – wenngleich unter Beethoven’scher und damit deutscher Federführung.
Nr. 43 | Anonym [Johann Christian Lobe], „Hektor Berlioz“, in: Fliegende Blätter für Musik 1 (1853/1854), Nr. 2 (1853), S. 86 –105.
Hektor Berlioz.
„Tous les genres sont bons hors l’ennuyeux.“ 1 Voltaire. „Berlioz ist in Deutschland durch seine Werke und seine Schriften berühmt genug, und seinen großartigen, ächt künstlerischen Bestrebungen wird Niemand Verehrung verweigern, das Wohlgefallen an seinen Schöpfungen mag je nach Geschmack und Erziehung auch noch so sehr verschieden sein.“ Fd. Hiller.2 Im Süden Frankreichs zu Côte Saint-Andrée, einem kleinen Städtchen des IsèreDepartements, wurde den 11. December 1803 Hektor Berlioz geboren. Sein Vater, ein ausgezeichneter Arzt, verwandte viel Sorgfalt auf die Erziehung des Knaben, und ließ ihm zur Vervollständigung derselben nebenbei auch Unterricht in der Musik ertheilen. Darin machte er schnelle Fortschritte, gegen die Medicin aber, zu der ihn der Vater bestimmte, empfand er großen Widerwillen. Doch fügte er sich nach einigem Kampfe, und trieb das ihm widerwärtige Studium zwei Jahre unter des Vaters Leitung. Aber was so Viele in ähnlicher Lage gethan, that auch der junge Berlioz, er verschaffte sich insgeheim Bücher über die Musik und studirte sie die Nächte [87] hindurch, ohne viel daraus zu lernen, was bei der damaligen Einrichtung solcher Werke nicht anders zu erwarten war. Indessen machte er seinem unwiderstehlichen Schaffenstriebe Luft durch verschiedene Kompositionsversuche, die natürlich ein sehr seltsames Ansehen bekamen. Da lernte er ein Quartett von Haydn kennen. Der Eindruck, den dieses Werk auf ihn machte, war ein entscheidender. Mit Eifer studirte er dasselbe, und er lernte
1 (Frz.) Alle Kunstgattungen sind gut, mit Ausnahme der langweiligen. Voltaire, L’Enfant prodigue, Vorrede (UA 1736). 2 Dieser Ausspruch Ferdinand Hillers stammt aus einem offenen Brief aus Paris vom 26. Februar 1853 in der Kölner Zeitung (Wiederabdruck in: Hiller 1868 Aus dem Tonleben unserer Zeit, S. 182), den etwa auch die Süddeutsche Musik-Zeitung vom 14. März 1853 zitiert (Anonym 1853 Paris, S. 44).
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daraus, was ihm die Bücher nicht hatten sagen können. Ein Quintett3, das er hierauf komponirte, hatte schon eine andere Gestalt als seine früheren Versuche; es gefiel; dies steigerte seine Lust und seinen Muth, beunruhigte aber eben deshalb seinen Vater. Dieser schickte ihn später zur Vollendung seiner medicinischen Studien nach Paris. Auch dort trieb der junge Berlioz eifrig Musik fort, und nach einem Jahre innern Kampfes meldete er seiner Familie den festen Entschluß, die Medicin für immer zu verabschieden und sich ganz der musikalischen Laufbahn zu widmen. Die Folge davon war, daß ihm sein Vater alle Unterstützung entzog. Frei war Berlioz nun, und er konnte mit voller Muße für seine Kunst – leiden! Das war die nächste Aussicht, die sich dem ganz unbekannten, aller Subsistenzmittel beraubten jungen Manne in Paris eröffnete. Aber er hatte von der Natur eine Eigenschaft empfangen, die ihn alles Ungemach verachten lehrte – eiserne Willenskraft. Um sich zu erhalten, wurde der Student der Medicin Chorist an dem Theater des Nouveautés, und drei Monate hindurch sang er allabendlich in den Vaudevilles mit, bis er einige junge Leute fand, die Gesangunterricht bei ihm nahmen. Das Honorar genügte ihm für seine geringen Bedürfnisse; er verließ die Bühne, zog sich in die Einsamkeit zurück und komponirte eine Oper „Die Vehmrichter“4, von der nur die Ouverture bekannt worden. Später unterstützte ihn auch sein besänftigter Vater wieder, wodurch er in Stand gesetzt wurde, seine Studien im Konservatorium unter Reicha5 und Lesueur 6 zu beendigen. Als Schüler des Konservatoriums erhielt Berlioz den Preis für die Komposition einer Kantate „Sardanapal“7 und wurde zu seiner weitern Ausbildung, wie gebräuchlich, einige Jahre nach Italien geschickt.8 Diese Kantate war es, an welcher er gerade in den heißen Julitagen 1830 arbeitete, als der Kampf durch die Straßen von Paris wüthete und Ströme von Blut die drei Ordonanzen9 nebst ihren Urhebern aus Frankreich wegschwemmten. Nach Italien nahm Berlioz eine glühende Leidenschaft zu einer jungen englischen Schauspielerin mit, und er suchte die Leiden und fieberischen Träume, welche sie ihm erregte, in seiner ersten Sinfonie „Episode aus dem Leben eines Künstlers“10
3 Im 4. Kapitel seiner Memoiren erwähnt Berlioz ein später von ihm selbst vernichtetes Quintett für Flöte, zwei Violinen, Viola und Kontrabass, das in den Jahren 1817 bis 1819 entstand und dem kurz darauf ein zweites Quintett folgte (vgl. Berlioz 1870 Mémoires, S. 14). 4 Die Oper Les Francs-Juges (Die Vehmrichter) entstand vermutlich in den Jahren 1825/1826. In Teilen wurde sie am 26. Mai 1828 im Pariser Conservatoire uraufgeführt. Einen Großteil der Partitur hat Berlioz vernichtet, sodass nur die Ouvertüre und kleinere Fragmente erhalten sind. 5 Bei Anton Reicha (1770 –1836) besuchte Berlioz ab dem 2. Oktober 1826 am Pariser Conservatoire Kontrapunktkurse. 6 Berlioz war ab dem 26. August 1826 Schüler in der Kompositionsklasse von Jean-François Lesueur (1760 –1837) am Pariser Conservatoire. 7 Für die nur in Fragmenten überlieferte weltliche Kantate Sardanapale (UA 1830) nach Texten von Jean-François Gail erhielt Berlioz 1830 den Prix de Rome. 8 Berlioz machte sich am 31. Dezember 1830 auf die Reise nach Rom, wo er sich mit Unterbrechungen von März 1831 bis Mai 1832 aufhielt. 9 Die Ordonnanzen, mit denen der französische König Karl X. die Pressefreiheit aufhob, das Wahlgesetz verschlechterte und die letzten oppositionellen Wahlen für ungültig erklärte, waren der unmittelbare Auslöser für die Julirevolution von 1830. 10 Berlioz, Symphonie fantastique op. 14 (UA 1830).
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zu schildern. Als er nach mehrjähriger Abwesenheit zurückkehrte, gelang es seiner zähen Beharrlichkeit, die spröde Schöne zu rühren und sie wurde seine Gattin.11 [88] 1832 brachte er seine Sinfonie im Konservatorium zur Aufführung.12 Nach Beendigung des Koncerts drängte sich ein feiner Mann durch die Berlioz umstehenden Künstler, drückte ihn an sein Herz und rief ihm mit leuchtenden Augen zu: „Sie fangen an, wo der Andere aufgehört!“ – Dieser Mann war Paganini. Es flossen nun nach und nach eine Menge Werke aus Berlioz Feder, die Sinfonien Harold13, Romeo und Julie14, Trauersinfonie für die gefallenen Julihelden15, Faust’s Höllenfahrt16; die Ouverturen zu Waverley17, König Lear 18, Rob-Roy19, Carneval von Venedig20; eine Messe21, ein Requiem22; die Oper „Benvenuto Cellini“23. Außerdem instrumentirte er Weber’s Aufforderung zum Tanze24, versah dessen Freischütz 25 mit Recitativen26, und gab noch viele kleinere Kompositionen für Gesang, theils mit Klavier-, theils mit Orchesterbegleitung u. s. w. heraus. In Deutschland kam zuerst in Weimar etwas von Berlioz zu Gehör. Der damalige Musikdirektor Götze27 führte die Ouverture zu den Vehmrichtern auf, und die Wirkung auf Orchester und Publikum war eine elektrische.28 Später machte Berlioz zu verschiedenen Malen Reisen nach Deutschland, England, Rußland, und gab in den größern Städten Koncerte, in denen er einige seiner Kompositionen selbst dirigirte. Mancherlei Ehrenbezeugungen, Geschenke, Orden, Mitgliedschaft musikalischer Akademien u. s. w. wurden ihm dabei zu Theil. Es hat ihm, wie aus dieser kleinen Skizze ersichtlich, nicht an Erfolgen gefehlt, wo er selbst mit seinen Werken erschien. Doch haben letztere, außer in Paris, überall noch keine bleibende Stätte finden können. Auch sind die Meinungen über ihn bis heute noch sehr verschieden, und stehen sich oft diametral entgegen. So schrieb Richard Wagner z. B. noch vor Kurzem über ihn: „Berlioz hat allerdings Beethoven fortgeführt, aber nach einer Richtung hin, die dieser selbst mit
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heiratete am 3. Oktober 1833 die englische Schauspielerin Harriet Smithson (1800 –1854). 12 Die Symphonie fantastique war bereits vor Berlioz’ Abreise nach Rom im Dezember 1830 unter der Leitung von François-Antoine Habeneck (1781–1849) am Conservatoire uraufgeführt worden. Am 9. Dezember 1832 wurde sie dort erneut unter Habenecks Leitung gespielt, nun aber mit der in Rom komponierten Fortsetzung, dem Monodram Lélio, ou Le Retour à la vie op. 14b (UA 1832). 13 Berlioz, Harold en Italie op. 16 (UA 1834). 14 Berlioz, Roméo et Juliette op. 17 (UA 1839). 15 Berlioz, Grande Symphonie funèbre et triomphale op. 15 (UA 1. Fassung 1840). 16 Berlioz, La Damnation de Faust (Fausts Verdammnis) op. 24 (UA 1846). 17 Berlioz, Grande Ouverture de Waverley op. 1 (UA 1828). 18 Berlioz, Grande Ouverture du Roi Lear op. 4 (UA 1833). 19 Berlioz, Intrata di Rob-Roy MacGregor H 54 (UA 1833). 20 Berlioz, Le Carnaval romain (Der römische Karneval) op. 9 (UA 1844). 21 Berlioz, Messe solennelle (UA 1825). 22 Berlioz, Grande Messe des morts op. 5 (UA 1837). 23 Berlioz, Benvenuto Cellini (UA 1838). 24 Berlioz, L’Invitation à la valse op. 65 (UA 1842). 25 Carl Maria von Weber, Der Freischütz (UA 1821). 26 Berlioz, Rezitative zu Der Freischütz H 89 (UA 1841). 27 Der Geiger und Komponist Johann Nikolaus Conrad Götze (1791–1861) wirkte in den Jahren von 1826 bis 1848 als Musikdirektor und Korrepetitor am Weimarer Hoftheater. In dieser Funktion leitete er gemeinsam mit Carl Eberwein (1786 –1868) nach dem Tod Johann Nepomuk Hummels (1778 –1837) von Oktober 1837 bis Juli 1840 die Weimarer Hofkapelle. 28 Die Ouvertüre zur Oper Les Francs-Juges war in einem Konzert am 19. März 1837 in Weimar aufgeführt worden und hatte u. a. einen enthusiastischen offenen Brief an Berlioz von Johann Christian Lobe in der NZfM zur Folge (Lobe 1837 Sendschreiben).
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Recht aufgegeben. Die oft flüchtig hingeworfenen kecken und grellen Federstriche, in denen Beethoven seine Versuche zum Auffinden neuen Ausdrucksvermögens schnell und ohne prüfende Wahl aufzeichnete, fielen als fast einzige Erbschaft des großen Künstlers in des begierigen Schülers Hände. … Gewiß ist, daß Berlioz künstlerische Begeisterung aus dem verliebten Hinstarren auf jene sonderbar grausen Federstriche sich erzeugte. Entsetzen und Entzücken faßten ihn beim Anblick dieser räthselhaften Zauberzeichen, in die der Meister Entzücken und Entsetzen zugleich gebannt hatte, um durch sie das Geheimniß kund zu thun, das er nie in der Musik aussprechen konnte, und einzig doch nur in der Musik aussprechen zu können wähnte. Künstliche Aufregung und fieberhafter Schwindel war aber Berlioz Begeisterung; erwachte er aus ihm, so gewahrte er mit der Abspannung eines durch Opium Betäubten eine frostige Leere um sich her, die zu beleben er sich mühte, indem er die Erhitzung seines Traumes sich künstlich zurückrief, was ihm nur durch peinlich mühsame Abrichtung und Verwendung seines musikalischen Haus-[89]rathes gelingen wollte. In dem Streben, die Bilder seiner grausam erhitzten Phantasie aufzuzeichnen und der ungläubigen Welt seiner pariser Umgebung genau und handgreiflich mitzutheilen, trieb Berlioz seine enorme musikalische Intelligenz zu einem bis dahin ungeahnten technischen Vermögen. Das was er den Leuten zu sagen hatte, war so wunderlich, so ungewohnt, so gänzlich unnatürlich, daß er dies nicht so gerade heraus mit schlichten einfachen Worten sagen konnte, er bedurfte dazu eines ungeheuern Apparats der complicirtesten Maschine, um mit Hilfe einer unendlich fein gegliederten und auf das Mannichfaltigste zugerichteten Mechanik das kund zu thun, was ein einfach menschliches Organ unmöglich aussprechen konnte, eben weil es etwas ganz Unmenschliches war … Er hat es den Musikern möglich gemacht, den allerunkünstlerischesten und nichtigsten Inhalt des Musikmachens durch unerhört mannichfaltige Verwendung bloßer mechanischer Mittel zur verwunderlichsten Wirkung zu bringen.“29 Folgenden Brief schrieb dagegen nach der Aufführung von „Romeo und Julie“ Paganini an Berlioz: Mio caro amico, Beethoven estinto non c’era che Berlioz che potesse farlo rivivere, ed io che ho gustato le vostre divine compositioni degne di un genio qual siete, credo mi dovere di pregarvi a volere accettare in segno del mio omaggio, ventimila franchi i quali vi saranno rimessi dal Sig. Baron de Rothschild dopo gli avrete presentato l’acclusa.
29 Nach Wagner 1852 Oper und Drama, 1. Teil, V, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 79 f.
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Credete mi sempre il vostro aff° amico, Nicolo Paganini. Parigi il 18. Decembre 1838.I, 30 Was ist nun Berlioz? Ist er nach Paganini’s Meinung wirklich ein musikalisches Genie, oder nach Wagner’s Ansicht ein Mann, der ohne alle Phantasie nur mit Tönen rechnet? Ueberschreitet er die absoluten Grenzen der Tonkunst oder nur die Grenzen des bisher Gewohnten? Dies wird eine unbefangene Prüfung seiner Werke beantworten. In diesen zeigt Berlioz zunächst Originalität der Erfindung. Kein einziger entlehnter Gedanke ist ihm nachzuweisen. Dies wäre an sich wenig, denn es ist leicht originell zu sein, wenn man Gesetz und Schönheit nicht beachtet, und Manche sagen ihm das nach! [90] So macht man ihm den Vorwurf: er habe keine Melodie. Die Melodie aber, heißt es, ist die Seele der Musik, und wo die Seele fehlt, da fehlt die wahre Musik. Hiermit bin ich ganz einverstanden. Es kommt nur darauf an, welche Begriffe man mit dem Worte „Melodie“ verbindet. Beethoven, Ouverture zu Coriolan31.
Das sind keine Melodien wie sie in den Strauß’schen etc. Tänzen vorkommen; aber es sind musikalische Gedanken, die durch ihre plastische Zeichnung, durch ihren instrumentalen Wohlklang und durch ihren bestimmten Gefühlsausdruck das Herz erregen und das Ohr vergnügen, und denen kein sinniger Hörer das Wesen ächter Musik absprechen wird. Dieser Art von Gedanken gestehe ich den Namen Melodie auch, in etwas weiterem, aber gewiß nicht ungerechtfertigtem Sinne zu.
I Mein lieber Freund! // Nachdem Beethoven entschlafen, konnte nur Berlioz ihn wieder aufleben lassen, und ich glaube nach dem Genuß Ihrer göttlichen Kompositionen, die eines Genius wie des Ihrigen würdig sind, Sie bitten zu müssen, als ein Zeichen meiner Huldigung 20,000 Franken anzunehmen, die Sie nach Vorzeigung des Beigeschlossenen von Herrn Baron v. Rothschild ausgezahlt erhalten werden. 30 Die
in diesem Brief angekündigten 20 000 Francs, die Nicolò Paganini (1782 –1840) Berlioz im Dezember 1838 schenkte, ermöglichten es Berlioz, sich für ein Jahr von seiner Tätigkeit als Musikkritiker zurückzuziehen und sich der Komposition der ‚dramatischen Symphonie‘ Roméo et Juliette zuzuwenden, die er Paganini widmete und am 24. November 1839 am Pariser Conservatoire uraufführte. Der Brief entstand somit nicht, wie hier von Lobe angegeben, nach der Aufführung von Roméo et Juliette, sondern nach einer Aufführung von Harold en Italie am 16. Dezember 1838. 31 Ludwig van Beethoven, Coriolan op. 62 (ED 1808).
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Die Mehrzahl der Berlioz’schen Gedanken sind in diesem Sinne melodische, so gut wie die Mehrzahl der Haydn’schen, Mozart’schen, Beethoven’schen u. s. w. es sind. Allerdings läuft zuweilen ein Gedanke mit unter, dem die obigen Eigenschaften mehr oder weniger fehlen, entweder der anmuthende Wohlklang, oder die einheitliche Konstruktion, oder die scharf bestimmte periodische Abscheidung. Aber sie sind bei ihm selten und – bei allen großen Tonmeistern ebenfalls zu finden. Ich erinnere z. B. nur an die fugirte Stelle im Trio der C-moll-Sinfonie von Beethoven32, welche die Bässe anheben, und an den Anfang des Allegro der Ouverture „Meeresstille und glückliche Fahrt“33 von Mendelssohn. Außer der obigen Art von ächt musikalischen Gedanken giebt es die populär-melodischen. Sie zeigen sich in ihrer allgemein und gleich ansprechenden Weise in Tänzen, Märschen, Volks- und anderen einfachen Liedern durchgängig oder bei weitem vorherrschend, sie zeigen sich namentlich in älteren Opern [91] sehr häufig, sie kommen auch, obwohl viel seltener, in den Instrumentalwerken unserer großen Meister, in ihren Sinfonien, Ouverturen, Quartetten u. s. w. vor. Die Coriolan-Ouverture hat eine einzige solche Melodie.
Der erste Satz der C-moll-Sinfonie ebenfalls nur eine einzige.
Auch Berlioz hat solche populär-melodische Lichtstellen in seinen Kompositionen; in der Vehmrichterouverture z. B.34
Obwohl jeder Sachverständige Berlioz eine außerordentliche Instrumentationskunst zugesteht, wirft man ihm doch Verschwendung, Ueberfülle, namentlich zu häufigen Gebrauch der Blechinstrumente vor.
32 Beethoven,
Symphonie Nr. 5 c-Moll op. 67 (EA 1808). 33 Felix Mendelssohn Bartholdy, Ouvertüre Meeresstille und glückliche Fahrt D-Dur op. 27 (ED 1835). 34 Berlioz, Grande Ouverture des Francs-Juges op. 3, Allegro assai, T. 119 –126, Vl. Lobe zitiert das Original hier eine Oktave tiefer transponiert.
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Viele seiner Stücke haben gar keine Blechinstrumente, und manche Nummer ist in der zartesten, duftigsten Weise instrumentirt. Wo der Vorwurf gegründet scheint, und das ist an manchen Orten in Deutschland, wo seine Kompositionen einmal gehört worden sind, allerdings der Fall, da vergleiche man das Orchester, das man vor sich hat, mit dem Orchester, das er in seinen Partituren verlangt, und für welches er seine Effekte berechnet. Da heißt es für das Streichquartett: Erste Violinen, wenigstens funfzehn; zweite Violinen, wenigstens funfzehn; Violen, wenigstens zehn; Violoncelles, wenigstens zwölf; Kontrabässe, wenigstens neun. Mit vier, oder sechs, oder höchstens acht ersten, acht zweiten Violinen, zwei oder drei mageren Violen, eben so viel Cellis und Bässen das Orchester nur besetzt, kommen freilich Effekte zum Vorschein, an die er nicht gedacht hat, nach welchen man ihn aber beurtheilt! Es ist dasselbe, als wenn man eine Beethoven’sche Sinfonie mit zwei oder drei ersten Violinen und im Verhältniß so fort mit den anderen Streichinstrumenten besetzen wollte. Da würde allerdings auch die Hälfte der Gedanken der Streichinstrumente unter den Hörnern, Trompeten und Pauken vollständig verschwinden. [92] Man könnte fragen: warum berechnet er seine Effekte für ein so stark besetztes Streichquartett? und hinzufügen: darin eben liegt die Verschwendung der Mittel. Wer macht aber Gluck einen Vorwurf darüber, daß er ein stärkeres Orchester als Lully und Rameau gebraucht und die Klarinetten und Posaunen darin eingeführt, – wer Beethoven, daß er im letzten Satz der C-moll-Sinfonie den Kontrafagott, wer Mendelssohn, daß er in der Ouverture zum Sommernachtstraum die Ophikleide angebracht hat? Diese Meister benutzen die neuen Mittel zu neuen und ächt künstlerischen Effekten, und anders nicht verwendet sie Berlioz. Wenn er die Blechinstrumente zu der Schilderung zärtlicher Regungen, sanfter Gefühle ertönen ließe, wäre der Vorwurf gegründet, nach solchem Widersinn wird man aber vergebens in seinen Partituren suchen. Ueberall, wo mächtige Klänge bei ihm erscheinen, da sind es mächtige Empfindungen, die er dadurch ausdrückt. Viele neuere Komponisten trifft der Vorwurf überladener Instrumentirung mit Recht, weil sie das in neuerer Zeit entstandene Mißverhältniß zwischen Streichquartett und Blechmusik nicht beachten, Berlioz mit Unrecht, denn sein feiner Sinn und seine große Erfahrung in der Instrumentation haben dies Mißverhältniß erkannt, und durch sein Orchester, durch Verstärkung der Streichinstrumente, wird es eben beseitigt. Seine Formen sind großartig, kühn, schwunghaft, mannichfaltig, hier kurz, dort breit, aber geistig immer dem Objekt angemessen, und technisch so regelrecht und in sich einheitlich, wie Beethoven sie nur immer konstruirt haben mag. Ja Berlioz ist oft klarer in seinem Periodenbau als mancher neuere Komponist, der nach Beethoven gekommen. Selbst der im Ganzen formenklare Mendelssohn hat zuweilen Gedanken, die dem Wirren und Unfaßbaren näher kommen, als irgend einer unseres Meisters. Ich erinnere nur an den Anfang des Allegro zu „Meeresstille und glückliche Fahrt“. Nicht alle Berlioz’schen Perioden sind Muster in dieser Beziehung, aber die meisten brauchen den Vergleich mit den besten der besten Meister nicht zu scheuen. Ein Hauptvorzug seiner Musik besteht in der höchst originellen thematischen Verarbeitung der Hauptgedanken. Da sie aber eben ihrer Neuheit wegen nicht überall als solche sogleich zu erkennen sind, und deßhalb oftmals für einen neuen
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Gedanken gehalten wird, was nur ein thematischer ist, so ist dadurch die Meinung entstanden, es reihe sich Gedanke an Gedanke ohne innern Bezug aneinander, und es mangele seinen Kompositionen der Fluß und organische Zusammenhang. Es geht ihm in dieser Beziehung, wie es Beethoven erging, dem man auch einige Zeit dieselben Vorwürfe machte, bis der mehrfach genannte Hoffmann durch seine Analysen in der allgem. musikal. Zeitung35 die Augen der Recensenten klar machte. Hier nur ein Beispiel. [93] In dem zweiten Theile des Allegro der Vehmrichter-Ouverture36 kommt folgende Stelle in den Cellis vor, wie sie bei b zu sehen.37
Sie mag eine derjenigen sein, die dem flüchtigen Blick oder dem Ohr bei der ersten Aufführung als ein neuer Gedanke erscheint. Nun transponire man aber einmal die Melodie aus As-dur, welche oben steht, nach F-dur und merke auf die tonische Biegung derselben, wie sie in den Hauptaccenten sich zeigt, und wie ich sie bei a der Deutlichkeit wegen darüber gesetzt, und es wird sich sogleich ergeben, daß die Cellis hier nichts Anderes bringen, als was schon mehrmals früher dagewesen, die obige Melodie nämlich, nur an andere Instrumente übertragen, in eine andere Tonart versetzt, anders akkompagnirt und dazu variirt, alles thematische Mittel, welche zugleich verwendet, bei allen guten Meistern zu finden sind. Die Bildungsmaxime, welche hinter diesem Gedanken liegt, ist eine längst bekannte, die Berlioz’sche Gestaltung nur freilich ist mit eigenem, nicht mit anderm Material und auf sehr originelle Weise ausgeprägt worden. Man will in seinen Kompositionen ferner oft überkühne harte Modulationen finden. Es gab eine Zeit, in der ununterbrochene Quarten- oder Quintenfolgen zweier Stimmen von den Zuhörern mit großer Befriedigung vernommen wurden. Das
35 Gemeint ist E. T. A. Hoffmanns Rezension von Beethovens 5. Symphonie (siehe Hoffmann 1810 Beethoven 5. Symphonie). 36 Berlioz, Grande Ouverture des Francs-Juges op. 3, Allegro assai, T. 60 – 646. 37 Ebd., T. 484 – 492. Das von Lobe angegebene Notenbeispiel weicht mit dem ersten f auf der ersten Zählzeit sowie der Vortragsanweisung von der von Berlioz autorisierten, 1836 bei Richault in Paris erschienenen Fassung, ab. Möglicherweise erklärt sich dies damit, dass Lobe eine zuvor bei Hofmeister in Leipzig veröffentlichte Klaviereinrichtung des Werkes vorlag, wie sie auch Schumann in seiner Besprechung verwendet hatte, die jedoch in vielen Einzelheiten von der endgültigen Fassung bei Berlioz abwich.
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heutige Ohr wird durch sie zur Verzweiflung gebracht. Als der erste Septakkord gewagt wurde, hielt man seinen Erfinder reif für das Tollhaus. Und so ging es fort und so geht es fort bis heute. Mit keiner musikalischen Disciplin steht es zur Zeit noch so erbärmlich als mit der Theorie der Harmonie. Diese kriecht der Musik schneckenlangsam nach und ist weit hinter ihr zurückgeblieben! Jede Haydn’sche Sinfonie schon lacht die neueste, freisinnigste Harmonielehre aus! Jedes genialen Komponisten erste Schritte sind zumeist scheinbare Uebertretungen harmonischer Gesetze, scheinbare, selten wirkliche. „Die Theorie verbietet das“, sagte einst ein Kritiker zu Beethoven; „Und ich erlaube es“, antwortete dieser.38 Ich kann die Stellen nicht hersetzen, die man Berlioz als harmonische Härten etwa aufbürden möchte, gewiß ist aber, daß die allermeisten seiner Kühnheiten in diesem Punkte nicht weiter gehen als relativ genommen die anderer [94] Meister in früheren Zeiten. Er hat nicht wirkliche Uebertretungen begangen, nur neue Wege entdeckt und gezeigt, welche wunderbare Wirkungen der Harmonie inwohnen, von denen freilich unsere kindlichen Harmonielehren nichts wissen. Unter allen Vorwürfen, die man Berlioz macht, ist mir keiner so unbegreiflich erschienen als der: es mangele ihm das Gefühl! Seine Seele sei kalt und er rechne seine Tonbilder nur mit dem Verstande heraus! Das ist als ob man einem heißen Sommertage nachsagte, er sei ein kalter Wintertag! Berlioz will die Affekte, Gefühle und Leidenschaften schildern, welche in dem Menschen in bestimmten Situationen entstehen. Weil aber das Letztere die Kräfte der reinen Instrumentalmusik übersteigt, so fügt er das erklärende Wort hinzu. Die Aesthetiker freilich behaupten, die Programmmusik sei eine Ueberschreitung der Instrumentalbefugnisse – die meisten Komponisten der Neuzeit aber komponiren Programmmusik. Wem sollen wir glauben, jenen oder diesen? Einer verneinenden Dissertation über Programmmusik oder dem Gefühl und dem Genuß, welchen wir bei der Sinfonie pastorale39, bei der Sommernachtstraum-Ouverture40 und vielen ähnlichen Werken haben? Es sei lächerlich, muß man oft hören, äußere Naturerscheinungen mit Tönen malen zu wollen. – „Meeresstille“ ist eine äußere Naturerscheinung und „glückliche Fahrt“ ist ein äußeres Ereigniß. Die Erstere hat Mendelssohn offenbar gemalt, mit gemalt. Aber muß man irgend einem Vernünftigen sagen, daß dies nicht die Hauptabsicht Mendelssohns gewesen, sondern daß er die Gefühle, die in Folge eines
Wegeler/Ries 1838 Biographische Notizen über Beethoven, S. 87: „Zum Beweise des eben Angeführten mag Folgendes dienen: Auf einem Spaziergange sprach ich ihm einmal von zwei reinen Quinten, die auffallend und schön in einem seiner ersten Violin-Quartette in C moll klingen. Beethoven wußte sie nicht und behauptete, es sei unrichtig, daß es Quinten wären. Da er die Gewohnheit hatte, immer Notenpapier bei sich zu tragen, so verlangte ich es und schrieb ihm die Stelle mit allen vier Stimmen auf. Als er nun sah, daß ich Recht hatte, sagte er: ‚Nun! und wer hat sie denn verboten?‘ – Da ich nicht wußte, wie ich die Frage nehmen sollte, wiederholte er sie einigemal, bis ich endlich voll Erstaunen antwortete: ‚es sind ja doch die ersten Grundregeln.‘ Die Frage wurde noch einmal wiederholt und darauf sagte ich: ‚Marpurg, Kirnberger, Fuchs etc. etc., alle Theoretiker!‘ – ‚Und so erlaube ich sie!‘ war seine Antwort.“ 39 Beethoven, Symphonie Nr. 6 Pastorale F-Dur op. 68 (ED 1809). 40 Mendelssohn Bartholdy, Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum op. 21 (ED 1832). 38 Vgl.
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solchen Anblicks und einer solchen Situation in dem Menschen entstehen, hat schildern wollen? Und was Beethoven, Mendelssohn, Spohr u. a. m. gewollt, das und nicht mehr will Berlioz. Seine Absicht ist demnach wenigstens für diejenigen, welche der Programmmusik im obigen Sinne ihre Berechtigung zugestehen, keine unkünstlerische. Daß seine Mittel eben so wenig unkünstlerische sind, habe ich vor der Hand zwar nur behauptet, werde den Beweis dafür aber nicht schuldig bleiben. Es hat jeder bedeutende Künstler seine eigene Art zu schaffen, seine Neigungen für besondere Objekte, seine eigene Weise sie zu behandeln, zu bilden, auszudrücken. Mannichfaltig sind und sollen sein in jeder Kunst diese Arten. Aber es kann nicht fehlen, daß manche darunter ihrer Natur nach für einen größern, manche nur für einen geringern Menschenkreis Anziehungskraft in sich tragen. Schiller hat ein größeres Publikum als Goethe. Ein nicht geringeres, vielleicht in seiner Blütezeit größeres, hatte Kotzebue. Je höher die Kunstart, je kleiner wird verhältnißmäßig die Zahl derjenigen, die alle mitklingenden Saiten und die volle Bildung dafür in sich vereinigen. Das Gleiche wird ja nur von dem Gleichen vollkommen erkannt, heißt es mit Recht. Berlioz liebt es, die [95] tragischen Höhen und Tiefen der menschlichen Situationen und Leidenschaften zu Gegenständen seiner Schilderungen auszuwählen. Er verschmäht aber auch nicht das skurrile, komische, humoristische Element, und hat auch dafür die Ader und Ausdrucksfähigkeit in sich. Dabei strebt er überall nach dem kräftigsten, auffallendsten, schlagendsten, zuweilen allerdings auf die Spitze getriebenen Ausdruck. Man könnte Berlioz wohl den Shakespeare der Musik nennen. Ich möchte nicht, daß Berlioz[’] Art die einzig gangbare würde, so wenig ich wünschen kann, daß Wagner’s Zukunftsoper die einzige Opernart werde, so wenig ich wünsche unter einer ewigen Nacht oder unter einem ewig heitern Himmel zu wohnen. Aber in der mannichfaltigen Reihe der Musikerscheinungen will ich ihr begegnen wie jeder andern ächten Kunstart, und sie nicht der Zukunft zuweisen. Ich traue einem Kunstwerk, das in der Gegenwart nicht anspricht, auch keine Zukunft zu, denn so total verändern sich die Menschen nicht, daß eine spätere ganze Generation mit Genuß aufnehmen könnte, was die ganze gegenwärtige mit Mißmuth abgewiesen hätte. Und wo wäre denn in der ganzen Musikgeschichte nur ein einziges Beispiel zu finden von einem Komponisten, der seiner Zeit nichts, der Zukunft alles gegolten? Man führt Mozart als ein solches Beispiel an! Was versteht man aber dann unter Zukunft?! Mozart starb im 36. Jahre, anerkannt bereits von dem größten Theile der Nation. Beethoven? – Ich denke, er konnte mit den Huldigungen, die ihm die Besten seiner Zeit spendeten, zufrieden sein. Vielleicht J. S. Bach? – Er ist ja doch erst in unserer Zeit, also hundert Jahre später, als ein großer Genius erkannt worden? Allerdings, in Büchern und Zeitschriften. Daß er dem Ohr und Gemüth unserer Zeit in Wahrheit mehr Genuß bereite als er seinen Zeitgenossen bereitet hat, habe ich bestritten41 und bestreite ich. Auch er wurde von seiner Zeit als großer Orgelspieler und Komponist anerkannt. Ist Wagner ein Zukunftsmann? In seinen Schriften, worin er sich und andere täuscht, nicht in seinen Opern, die ja ihr Publikum auch schon gefunden haben. Und eben so sind
41 Siehe
Lobe 1852 Die Bachmanie.
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die Berlioz’schen Werke der Gegenwart angehörig, wo man sie öfter und gut aufführt. Schreibt doch ein Engländer, der Berlioz Oper und andere Werke von ihm vor Kurzem in Weimar gehört: „The revival (der Oper) has made a real sensation, in which there has been nothing factious or managed. Let the critics be ever so critical on the school to which M. Berlioz belongs, every generous person must have found pleasure in witnessing the cordial manifestation of sympathy that greeted the French composer in Goethes town.“42 Berlioz Werke gefallen also auch in der Gegenwart. Er bedarf der Zukunft nicht, um anerkannt zu werden, er braucht nur den guten Willen der gegenwartlichen Direktionen und Orchester. Mit den vermehrten Instrumenten und der größern Kunstfertigkeit der Or-[96] chester sind auch die Ansprüche der Komponisten gestiegen. Was Mozart von den Orchestern seiner Zeit verlangte, fanden diese sehr schwer, hätte ein Orchester funfzig Jahre vor ihm für unausführbar erklärt, Kinderspiel ist es für die jetzigen. Vor Beethoven’s neunter Sinfonie schaudern jetzt noch viele Orchester zurück. Größere Ansprüche vielleicht noch machen Berlioz Werke, aber keine unausführbaren. Weimar hat’s gezeigt, Braunschweig hat’s gezeigt.43 Aber glaubt man, daß seine Werke bis jetzt irgendwo ihre vollkommene Ausführung gefunden? Man muß als Komponist eigene Werke aufgeführt haben, um zu wissen, wie weit erste Orchesteraufführungen hinter der Ausführung zurückbleiben, die der Komponist in seinem Kopfe hört. Wie ist es einige Jahre hindurch Beethoven’s Sinfonien ergangen? Was die ungenügende Aufführung verschuldete, schrieb und schreibt man dem Werke zu, und an diesem Unrecht muß Berlioz bis heute noch leiden. Manches erscheint bis jetzt noch barock. „Barock“! heißt der Vorwurf, den man von jeher allen originellen Geistern gemacht hat und noch macht. Mozart war barock, Beethoven war barock (man kann diesen Ausdruck in vielen früheren Jahrgängen der Leipz. musikal. Zeitung lesen), und so ist Berlioz barock. Untersuchen wir denn endlich einmal ein Stück von ihm gründlich, technisch und ästhetisch, um zu sehen, ob die Art von Ansichten und Urtheilen über ihn, als deren Vertreter sich Rich. Wagner neuerlich noch aufgeworfen, Stich hält vor dem Faktum selbst. Ich wähle dazu das Adagio zu der Vehmrichter-Ouverture.44 Sie ist zu einer Oper geschrieben und gehört also zur Programmmusik. Sie führt die Hauptmomente der Dichtung vorüber und diese Momente sind zwar ohne Kenntniß derselben noch nicht als Vorstellungen von Situationen der Personen und deren Gefühlen in der Einbildungskraft, aber der Komponist hat sie so gesehen, gefühlt und geschildert, und so muß man sie mit Hilfe des Titels „die Vehmrichter“ aus der Musik
42 Chorley 1852a Notes on Music in Germany, S. 1335. Diesen Artikel Henry Fothergill Chorleys aus dem Londoner Athenæum hatte Lobe in deutscher Übersetzung auszugsweise bereits im ersten Heft seiner Fliegenden Blätter wiedergegeben (Lobe 1853 Liszt und Berlioz in Weimar, in: NdS 1 Nr. 38). 43 In Weimar wurden insbesondere in den Jahren von 1852 bis 1856 auf Initiative Liszts zahlreiche Werke von Berlioz, teilweise auch durch den Komponisten selbst, erfolgreich aufgeführt, sodass sich Weimar zu einem Zentrum der deutschen Berlioz-Rezeption entwickelte. Nach Braunschweig reiste Berlioz in den Jahren 1843, 1846, 1853 sowie 1854 und gab dort insgesamt fünf Konzerte, die eine außerordentlich positive Aufnahme durch Musiker und Publikum erfuhren (vgl. hierzu insgesamt Jacobshagen/Braam 2002 Berlioz in Deutschland). 44 Berlioz, Grande Ouverture des Francs-Juges op. 3, Adagio sostenuto, T. 1– 59.
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herauszuhören suchen, was bei der plastischen Gestaltungskraft unseres Komponisten gar keinen Schwierigkeiten unterliegt. Ein Angeklagter wird mit verbundenen Augen vor die Vehme geführt, die an unheimlichem Orte um Mitternacht ihre furchtbaren Richtersprüche ertheilt, und im Fall befundener Schuld sogleich vollstreckt. In peinvoller Beklemmung steht er da und wagt kaum zu athmen. Erste Periode. Sechstaktig.45
[97] Von der technischen Seite betrachtet, besteht die Periode aus zwei dreitaktigen, also verengerten Sätzen. Der zweite wiederholt den ersten auf anderen Tonstufen, eine Kunstruktionsweise der einfachsten, klarsten, faßlichsten Art. Sind etwa harte Harmoniefolgen, widerwärtige Modulationen darin? Nichts dergleichen. Zweite Periode. Dreizehntaktig.46
45 Ebd.,
T. 1– 6.
46 Ebd.,
T. 7 –13.
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Die Binde wird dem Vorgeführten abgenommen, und Grauen ergreift ihn bei dem furchtbaren Anblick, (Bässe) er zittert, (Violinen) er hält sich für verloren (siebenter bis dreizehnter Takt). Das Ende dieser Periode geht in weiches Mitleid für sich selbst, über seine unverschuldete Lage über, ein psychologischer Zug, dessen Wahrheit Keiner verkennen wird, der Angeklagte vor Gericht beobachtet hat, oder sich in eine solche Lage hineinzudenken vermag. In technischer Hinsicht sind die ersten sechs Takte dieser Periode aus dem ersten Motiv der ersten Periode herausgesponnen. Dort liegt es in der Ober-[98]stimme, hier im Baß. Es ist rhythmisch ganz gleich, nur tonisch in seinen Intervallenschritten etwas verändert (verengert und am Ende anders gebogen). Dies erkannt, sieht man es bis in den sechsten Takt fortfließen. Der siebente Takt bringt ein neues Motiv, welches in die Hälfte des nächsten, achten Taktes fortschreitet und an welches sich dann ein anderes Motivglied schließt, das im neunten, zehnten und elften Takt nachahmend fortgeführt wird. Im elften Takte hängt sich an das erste Motivglied wieder ein neues, welches bis ans Ende der Periode geht. Es erscheinen in dieser Periode demnach thematische Motive, aus der ersten Periode genommene, und später einige neue dazu, eine von anderen Meistern oft angewendete Konstruktionsweise. Und wie man solche Arten von längeren Perioden wohl auf mehrere Weisen abtheilen kann, so wäre auch die vorstehende in zwei kleinere abzuscheiden, nämlich in eine siebentaktige (vom ersten bis siebenten Takte, wo ein Schluß nach F-moll stattfindet), und in eine sechstaktige, vom achten bis dreizehnten Takte gehende. Die beiden bis jetzt vorgeführten Perioden bilden zusammen die erste Gruppe des Gemäldes. Sie gehören ihrem geistigen Inhalte nach zu einander, indem die Einbildungskraft mit der Lage des Angeschuldigten und das Gemüth mit den daraus entspringenden Gefühlen allein beschäftigt werden. Nun tritt ein anderer Moment hervor. Die furchtbare Anklage der Richter im mächtigen Chor, dazwischen die einzelnen Bitt- und Gnadenrufe des Gefangenen, stets unterbrochen durch das donnernde „Nein!“ des Chors, bis jener zuletzt von den fruchtlosen Versuchen erschöpft und abgeschreckt furchtsam resignirend in sich zusammenbricht. Dies sind die Momente des Adagio, wie sie aus der Andeutung des Titels natürlich auf einander folgen und gar nicht anders sein können. Oder wäre etwa die erste Periode Anklage, die zweite Freude über den Anblick einer geliebten Braut, die dritte das Bild ahnungsvoller Spannung u. s. w.? Sie sind es nicht, sie sind etwas Anderes, wird jeder Hörer sagen. Warum sollen sie denn nicht das sein, was der Absicht des Komponisten und dem Gegenstande vollkommen entspricht? Hier ist die zweite Gruppe, man prüfe selbst.
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Zweite Gruppe. Dritte Periode.47
[99] Vierte Periode.48
47 Ebd.,
T. 20 – 27.
48 Ebd.,
T. 28 – 35.
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Fünfte Periode.49
[100] Sechste Periode.50
49 Ebd.,
T. 37 – 44.
50 Ebd.,
T. 45 – 51.
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Siebente Periode.51
Die dritte Periode, eine achttaktige, bedarf kaum eines Kommentars. Sie ist aus drei verschiedenen Motiven gebaut, die im ersten, dritten und vierten Takte zu sehen. Der zweite Satz ist die Wiederholung des ersten in anderer [101] Tonart. Es ist nicht möglich, eine einfachere, klarere Melodie zu konstruiren, eben so einfach ist die Modulation und eben so einfach, aber von außerordentlicher Wirkung die Instrumentation, ein mächtiges Unisono der Blechinstrumente. Die vierte Periode ist eine derjenigen, worin die wiederholten Motive schwerer zu erkennen sind. Die von einander verschiedenen liegen im ersten, vierten, sechsten, achten und neunten Takte. Das erste ist wiederholt im zweiten Takte, aber in der Gegenbewegung und durch das Legato etwas unkenntlich gemacht. Das Motiv im dritten Takte ist durch Fortführung des zweiten Motivgliedes des vorigen Taktes entstanden. Das Motiv im fünften Takte ist die Wiederholung des vierten Taktes mit Ausnahme des letzten Viertels. Das siebente Motiv ist rhythmisch gleich mit dem ersten, aber tonisch freier behandelt. Es gehört ein sehr geübter Blick, und ein noch geübteres Ohr dazu, um die Bezüge dieser verschiedenen Motive zu einander gleich zu erfassen, und man kann diese Periode, isolirt betrachtet, zu den freier organisirten und darum schwerer zu fassenden zählen. Allein die Sache wird vollständig gut gemacht durch die folgende fünfte Periode. Man sieht sogleich, daß diese die ganze vorige wiederholt. Und solche unmittelbar auf einander folgende Wiederholungen ganzer Perioden, namentlich, wenn das Modell eine etwas verwickeltere Konstruktion hat, bringen alle Meister in allen ihren Werken, weil sie diese Gestaltungsweise für ein vorzügliches, ja schlechterdings unerläßliches Mittel halten, Melodie und musikalische Gedanken prägnant zu machen. Unsere fünfte Periode erhält aber einen neuen Reiz durch hinzutretendes anderes Akkompagnement, durch die nachahmende
51 Ebd.,
T. 52 – 59.
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Achtelfigur in den verschiedenen Stimmen, welche Achtelfigur aus dem sechsten Motive der vorhergehenden Periode durch Zergliederung
gewonnen worden.52 Die sechste Periode ist aus dem neunten Takte der vierten Periode durchaus gesponnen. Denn auch die etwas verstecktere Aehnlichkeit im sechsten und siebenten Takte ist nicht zu verkennen, wenn man auf den vorhergehenden fünften Takt blickt, wo der Orchesterschlag das zweite Motivglied schärfer abtheilt. In der siebenten Periode endlich erscheinen, mit Ausnahme des sechsten Taktes, schon früher dagewesene Motive und Motivglieder. Das erste Motivglied im ersten Takte ist die Wiederholung des zweiten Motivgliedes, welches zum erstenmal im neunten Takte der vierten Periode ertönte. Das zweite Motivglied ist rhythmisch gleich, nur tonisch verändert. Der zweite Takt führt dieses fort. Im dritten, vierten und fünften Takte taucht das erste Motiv der ersten Periode wieder auf, der siebente Takt zeigt das zweite Motiv der ersten Periode, ohne das erste Viertel und in der Gegenbewegung. Die erste Bemerkung, welche sich dem Leser nun anmelden wird, ist wahr-[102] scheinlich die, daß in diesem kleinen Adagio, welches nur sieben Perioden enthält, mehr Motivmaterial verbraucht ist, als dem ganzen Haydn’schen Finale von sechsunddreißig Perioden53 urstofflich zu Grunde liegt? Während diese große Form, streng genommen, nur aus sechs verschiedenen Motiven gesponnen ist, kommen in dem Berlioz’schen kleinen Adagio wenigstens zwölf neue, von einander verschiedene vor, und während in jenem Finale durchaus alle Perioden aus den zwei ersten (Themaperioden) herausgewebt sind, erscheinen in diesem Adagio drei Perioden, welche ganz neues Motivmaterial bringen. Diese Bemerkung ist richtig. Allein ich habe in meinem zweiten Briefe54 gesagt, daß das Haydn’sche Finale ein Beispiel der allerstrengsten thematischen Arbeit sei, und daß die späteren Meister (und Haydn in vielen seiner Werke schon selbst) freiere Behandlungsweisen angenommen hätten. Da ich darüber in meinen späteren Briefen über den technischen Organismus reden muß, so darf ich mich hier einstweilen auf die Versicherung beschränken, daß es Einleitungen zu Ouverturen und Sinfonien von guten Meistern giebt, die noch freier behandelt sind, als die vorliegende, ohne ihnen deßhalb den technisch guten Organismus absprechen zu dürfen. Ich habe hier leider nur eine Art Auszug geben und die herrliche Instrumentirung der Gedanken nicht mit vorlegen können, aber das vorgezeigte Faktum wird hoffentlich die folgenden Worte nicht Lügen strafen.
die Linie findet sich beispielsweise in den Violinen in T. 37 f. 53 Vgl. Lobe 1853 Technische Konstruktion der Instrumentalwerke, hier S. 8 –10. Im zweiten der insgesamt sechs „Briefe“, die sich über die ersten drei Nummern der Fliegenden Blätter erstrecken, hatte Lobe darzustellen versucht, wie sich der 4. Satz von Joseph Haydns Symphonie Nr. 104 D-Dur Hob I:104 (EZ 1795) aus nur vier „Tongedankenkeimen“ entwickelt. 54 Vgl. Lobe 1853 Technische Konstruktion der Instrumentalwerke, ebd. 52 Ebd.,
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Dieses Adagio nämlich verletzt nicht nur kein einziges technisch-organisches Gesetz, weder in melodischer, noch periodischer, noch modulatorischer, noch instrumentaler Hinsicht, sondern es ist im Gegentheil ein durchaus regelrechtes und klar konstruirtes. Innerhalb dieser gesetzlichen Schranken aber sind alle Gedanken neu, und in Ansehung ihres objektiven Ausdrucks von einer Wahrheit und plastischen Kraft, wie sie in den besten Werken der größten Meister nicht klarer und wirkungsvoller, und überhaupt nur selten gefunden werden. An diesem Faktum, an diesem Adagio also wenigstens bewährt sich Wagner’s Urtheil über unsern Künstler, bewährt sich der Ausspruch z. B. „künstliche Aufregung und fieberhafter Schwindel war Berlioz Begeisterung“ oder „Gewiß ist (!), daß Berlioz künstlerische Begeisterung aus dem verliebten Hinstarren auf jene grausen Federstriche“ (in Beethoven’s Skizzenbuche) „sich erzeugte!“ – ganz und gar nicht.55 Berlioz zeigt sich vielmehr in diesem seinem ersten kleinen Tonbilde nicht blos als ein mit großer Erfindungs- und plastischer Gestaltungskraft begabter Künstler, sondern auch als einer, der die wahren, wesentlichen Gesetze seiner Kunst wohl kennt, sie vollkommen in seiner Gewalt hat, sie befolgt, mithin als ein genialer, denkender, kurz, wahrhaft großer Tondichter. Wäre es möglich in dem hier vorgezeichneten Raum das Allegro der Ouverture, so wie alle anderen Werke von ihm eben so genau zu analysiren, es würde sich erweisen, [103] daß er überall nichts Anderes gethan, als was er in dem aufgezeigten Adagio gethan. Woher nun kommen denn die zur Zeit noch so zahlreichen Gegner dieses Komponisten, und die beharrliche Ignorirung seiner Werke in den deutschen Konzertsälen? Ein Grund ist: Wenige forschen, Viele beten nur nach. Unter Hunderten, die über Berlioz keck aburtheilen, haben 99 kein Werk von ihm gehört, noch weniger eine Partitur von ihm gelesen; aber Journaläußerungen über ihn sind ihnen bekannt, und die nehmen sie ungeprüft für wahr hin und verbreiten sie weiter. Ein zweiter Grund ist folgender. Man giebt zwar zu, daß Berlioz Beethoven fortsetze, allein nicht in der rechten, sondern in zu übertriebener Weise. Beethoven habe Mozart auch fortgesetzt, doch wie ganz anders! Es ist etwas Wahres in dieser Bemerkung, aber auch etwas Ungerechtes für Berlioz. Beethoven setzte im Anfange Mozart nicht fort, sondern ahmte diesen sehr treu nach. Er erschien in seiner ersten Periode in Mozart’s gewohnter anmuthigen Gestalt, zuerst mit Trios u. s. w., dann mit seiner ersten und zweiten Sinfonie, die als legitime Abkömmlinge seines großen Musters nicht zu verkennen und willkommen waren. Außergewöhnlich originell, fortschrittlich, waren jene ersten Werke gar nicht. Berlioz dagegen trat als so erkennbar legitimer Nachfolger Beethoven’s im Anfange nicht auf. Obwohl seine gewählten Objekte ernst, düster, leidenschaftlich sind, ähnlich der neunten Sinfonie in ihren rein instrumentalen Theilen, so überbot er doch gleich in der Instrumentation namentlich seinen Vorgänger, brachte er ganz neue, ungewohnte, ja ungeahnte Klangbilder (während Beethoven’s Instrumentirungsweise der Mozart’schen wie ein Ei dem andern glich) und erschien gleich abweichender von Beethoven, als dieser
55 Alle Zitate dieses Satzes: Wagner 1852 Oper und Drama, 1. Teil, V, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 79.
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von Mozart. Wäre Beethoven zuerst mit seiner Sinfonia eroica56 vor das Publikum getreten, so ließe sich sein Verhältniß zu Mozart mit Berlioz Verhältnis zu Beethoven vergleichen, dann wäre es letzterem aber ergangen wie Berlioz, ja wohl noch schlimmer, denn als er damit kam, als er selbständiger in seinem eigenthümlichen Wesen hervortrat, wie erhob sich da die Opposition, wie zürnte ihm die Kritik, wie sträubten sich die Orchester, wie stutzte das Publikum! Berlioz sind ferner entgegen die Dirigenten, welche seine Partituren nicht studiren wollen, und die Orchester, welche sich vor mehreren und anhaltenden Proben scheuen, die gute Ausführungen seiner Werke verlangen. Ein weiteres Hinderniß, das ihm entgegensteht, ist die Ansicht mancher Kritiker, die Analyse der Tonwerke beeinträchtige den Genuß, und namentlich sei eine genaue Angabe des Einzelnen unzweckmäßig, weil das Einzelne nichts sage, und nur das Ganze etwas sei! Diese Art von Analyse aber ist die, welche das Verständniß tieferer Tonwerke dem Publikum allein wirklich vermit-[104]telt, wodurch es eine bessere Meinung von denselben gewinnen kann. Durch diese Art von Analyse wird nach und nach der Fortschritt in der Deutlichkeit der Tonsprache erzielt, dadurch nämlich, daß die Kunstjünger angetrieben werden, überall wirklich etwas zu sagen, und nicht blos, wie es leider noch zu oft geschieht, in’s Blaue hinein blos Noten hin zu schreiben. Es muß endlich jedem schaffenden Talente zur unumstößlichen Erkenntniß kommen, daß, wenn ein Ganzes Sinn haben soll, das Einzelne darin nicht ohne Sinn sein kann und darf. Diesen Satz zu verfechten und durch ähnliche Behandlung bedeutender Werke immer eindringlicher zu machen, werde ich mich durch keine Gegenredereien irre machen lassen, und ich bin der festen Ueberzeugung, daß dieser Fortschritt in der Kritik sich allmählig Bahn brechen und alle jene Aesthetiker beseitigen wird, die nur in allgemeinen Floskeln reden, weil sie den Faktas nicht auf den Leib rücken können. Was man auch jetzt noch von Berlioz halten mag, daß er eine mächtig in unsere Musikwelt hereinragende Erscheinung ist, kann nicht bestritten werden. In derselben Zeit, in welcher die französischen Komponisten alle mehr oder weniger sich der neuitalienischen flachsinnlichen Richtung hingeben, tritt Berlioz als alleinige unerwartete Ausnahme dem deutschen Geiste huldigend hervor, und hält an seinem Prinzipe mit unerschütterlicher Konsequenz fest, so viel feindliche Mächte sich ihm auch entgegenwerfen mögen. Sollten dem Künstler, der die deutschen Meister glühend verehrt, der von ihrem Werthe aufs Tiefste durchdrungen ist und in seinen geistreichen Schriften auf ihre Werke stets als auf die höchsten und schönsten Muster ächter edler Musik hinweist, sollten einem solchen Künstler die deutschen Konzertsäle für immer verschlossen, und das kleine Weimar die einzige deutsche Stadt bleiben, wo man seine genialen Schöpfungen aufführt und zu würdigen weiß?
56 Beethoven,
Symphonie Nr. 3 Eroica Es-Dur op. 55 (ED 1806).
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In Frankreich wurde Berlioz Oper „Benvenuto Cellini“ mit Hohn bei Seite gelegt.57 Das war natürlich. Dem dort herrschenden Geschmack, der die Mehrzahl mit dem sinnlichen Ohrenkitzel befriedigt, konnte eine Musik nicht zusagen, die es ernst nimmt mit dem Ausdrucke, in welcher die Trauer im Trauerkleide, nicht im Ballstaate erscheint. Liszt, der das Bedeutende überall anerkennt, wo es sich hervorthut, hat auch diese Oper in Weimar zur Aufführung gebracht, ohne besondern Erfolg das erste Mal. Aber Liszt ist nicht der Mann, der sich durch einen nicht gelungenen Versuch abschrecken läßt. Er veranlaßte Berlioz nach Weimar zu kommen und einige Abkürzungen an der Oper vorzunehmen.58 So wurde sie wiederholt, und welche Wirkung sie dann hervorgebracht, ist aus der oben mitgetheilten Stelle des Engländers, der den Vorstellungen beigewohnt, zu entnehmen. Eine noch größere, wahrhaft enthusiastische Aufnahme haben „Romeo und Julie“ und die Bruchstücke aus „Fausts Höllenfahrt“ von dem Publikum erfahren.59 [105] Was Liszt in dem kleinen Weimar thut und erreicht, sollte das eine unlösbare Aufgabe sein für die Menge großer deutscher Städte und Residenzen, denen reichlichere Mittel zu Gebote stehen und die sich eines hohen Sinnes und edlen Geschmacks für Musik rühmen? Und zeichnete sich Berlioz durch nichts aus als durch seine vor ihm von den größten Meistern nicht geahnten, nach ihm von Keinem noch erreichten wunderbaren Instrumentalkombinationen, es wäre allein darum schon die Pflicht aller Deutschen, die so eifrig nach Fortschritt verlangen, den Geist nicht zu vernachlässigen, der in der Instrumentalmusik diesem deutschen Verlangen am eifrigsten zu genügen strebte und unzweifelhaft am meisten in der Neuzeit genügt hat.
Kommentar In diesem umfangreichen Artikel aus dem ersten Band der Fliegenden Blätter für Musik ist der unter seinem Pseudonym „Der Wohlbekannte“ schreibende Johann Christian Lobe bestrebt, systematisch die zu dieser Zeit gegen Berlioz wiederholt vorgebrachten (Vor-)Urteile wie etwa Melodielosigkeit, übermäßige Verwendung von Blechblasinstrumenten, unklare Formen, mangelhafte thematische Verarbeitung, regellose Harmonik und ein genereller Mangel an Gefühl
57 Das Werk war 1838 in Paris uraufgeführt und nach wenigen Aufführungen wieder vom Spielplan genommen worden. 58 Auf Liszts Anregung hatte Berlioz die Oper für die Weimarer Erstaufführung am 20. März 1852 (Wiederholung am 24. März) umgearbeitet, wobei er zunächst an der Einteilung in zwei Akte festhielt. Für die weiteren Aufführungen im November 1852 griff Berlioz einige von Liszts Kürzungsvorschlägen auf und nahm die Neueinteilung in drei Akte vor. 59 Berlioz hatte Roméo et Juliette und La Damnation de Faust am 20. November 1852 im Rahmen der Berlioz-Woche in Weimar dirigiert.
Lobe 1853 Hektor Berlioz
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zu widerlegen. Dabei geht Lobe historisch vor, indem er seine Argumente mittels Analysen, insbesondere von Berlioz’ Ouvertüre zur Oper Les Francs-Juges,60 sowie anhand von Vergleichen mit Werken anderer Komponisten wie Beethoven, Mozart, Haydn oder Mendelssohn Bartholdy belegt. Damit setzt sich Lobe in seinem argumentativen Vorgehen von der überwiegenden Mehrzahl damaliger Musikschriftsteller ab, die meist auf musikalische Analysen verzichteten, wie etwa bereits im Vergleich mit einer im selben Jahr in der NZfM erschienenen, ähnlich positiven und ausführlichen Besprechung von Berlioz’ Schaffen durch Richard Pohl61 deutlich wird. Auch Pohls mehrteiliger Artikel verteidigt Berlioz gegen die diesem entgegengebrachten musikästhetischen Vorwürfe, verzichtet dabei aber auf analytische Nachweise. Charakteristisch für das Vorgehen Lobes ist das generelle Bestreben, die Musik Berlioz’ als organisch und evolutionär aus dem ‚Klassischen‘ entwickelnd darzustellen, so dass immer wieder auf motivisch-thematische Zusammenhänge und die periodische Syntax der Ouvertüre abgehoben wird – ein Vorgehen, welches später auch in Lobes ausführlicher Analyse von Liszts Symphonischer Dichtung Tasso62 deutlich hervortritt und auf diesem Weg die Vorwürfe der Regel- und Formlosigkeit zu entkräften sucht. Ein Aspekt, der sowohl bei Lobe als auch bei dem bereits erwähnten Artikel Pohls eine wichtige Rolle spielt, ist die historische Einordnung Berlioz’ als ideeller Nachfolger Beethovens, wie sie sich etwa schon bei Robert Schumann63 und Wolfgang Robert Griepenkerl64 findet. Deutlich weicht Lobe dabei jedoch von Pohls Auffassung ab, Berlioz fungiere musikgeschichtlich als Bindeglied zwischen Beethoven und Wagner65, da Lobe insgesamt ein größeres Gewicht auf die künstlerische Originalität des Franzosen legt und sich zudem gegen Wagners 1852 in Oper und Drama geäußerte Berlioz-Kritik66 wendet, die im vorliegenden Artikel ausführlich zitiert wird.
60 Lobe
hatte Berlioz 1837 nach der deutschen Erstaufführung des Werkes einen enthusiastischen Brief gesendet, den Schumann, trotz einiger inhaltlicher Vorbehalte, in der NZfM abdruckte (Lobe 1837 Sendschreiben). Bei dem Artikel handelt es sich damit um einen der ersten, ausschließlich dem Werk Berlioz’ gewidmeten Aufsätze in deutscher Sprache (vgl. Brandt 2002 Johann Christian Lobe, S. 88). 61 Pohl 1853 Hector Berlioz. 62 Lobe 1856 Briefe über Liszt’s Symphonische Dichtungen, in: NdS 2 Nr. 99; Lobe 1856 Das Gespenst der Zukunft, in: NdS 2 Nr. 98; Lobe 1856 Ein neuer Prophet, in: NdS 2 Nr. 93; Lobe 1856 Woher ist das Reden; Lobe 1857 Revue der Zeitphrasen sowie Lobe 1857 Ueber R. Wagner’s „Tannhäuser“. 63 Siehe etwa Schumann 1835 „Aus dem Leben eines Künstlers“; Schumann 1835 „Hector Berlioz“; Schumann 1836 Hector Berlioz sowie Schumann 1839 Concertouverturen für Orchester. 64 Griepenkerl 1843 Ritter Berlioz, S. 21. Vgl. hierzu insgesamt Hennemann 2003 Ritter Berlioz und Prophet Mendelssohn. 65 Pohl 1853 Hector Berlioz, S. 262. 66 Neben der im Artikel bereits zitierten Passage heißt es bei Wagner über Berlioz an anderer Stelle von Oper und Drama: „In dem Bestreben, die seltsamen Bilder seiner grausam erhitzten Phantasie aufzuzeichnen […], trieb Berlioz seine enorme musikalische Intelligenz bis zu einem dahin ungeahnten technischen Vermögen. Das, was er den Leuten zu sagen hatte, war so wunderlich, so ungewohnt, so gänzlich unnatürlich, daß er dies nicht so geradeheraus mit schlichten, einfachen Worten sagen konnte: er bedurfte dazu eines ungeheuren Apparates der kompliziertesten Maschinen, um mit Hülfe einer unendlich fein gegliederten und auf das mannigfaltigste zugerichteten Mechanik das kundzutun, was ein einfach menschliches Organ unmöglich aussprechen konnte: eben weil es etwas ganz Unmenschliches war“ (Wagner 1852 Oper und Drama, 1. Teil, V, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 80). An anderer Stelle des Werkes nennt Wagner Berlioz eine „tief bedauernswürdige Erscheinung“, die von „wahrhaft künstlerischem Sehnen verzehrt“ werde, jedoch „bereits rettungslos unter dem Wuste“ ihrer „Maschinen begraben“ liege (ebd., S. 81).
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Wie in den meisten seiner Schriften nimmt Lobe auch in diesem Artikel wieder die Position des über den musikalischen ‚Parteien‘ stehenden Beobachters für sich in Anspruch,67 indem er etwa die Musik Berlioz’ und Wagners zwar ausdrücklich würdigt, diese aber nicht als die „einzig gangbare“ Art zu komponieren verstanden wissen will.68 Kritik in Richtung der musikalischen ‚Fortschrittspartei‘ findet sich ebenso in seinem Ausspruch, er „traue einem Kunstwerk, das in der Gegenwart nicht anspricht, auch keine Zukunft zu“.69 Wenn Lobe am Ende seines Textes schließlich von den „Fortschrittlichen“ fordert, sie sollten Berlioz, „der in der Instrumentalmusik diesem deutschen Verlangen am eifrigsten zu genügen strebte“ stärker wahrnehmen, könnte dies u. a. an Brendel adressiert sein, der schon in der ersten Auflage seiner Musikgeschichte von 1852 deutliche Vorbehalte gegenüber Berlioz geäußert hatte.70 In Lobes 1853 bis 1857 erschienenen und nahezu ausschließlich von ihm selbst verfassten Fliegenden Blättern ist dies bereits der zweite Artikel, der sich Berlioz widmet, da Lobe eine Nummer zuvor einen Bericht des englischen Kritikers Henry F. Chorley über Berlioz’ Benvenuto Cellini in deutscher Übersetzung veröffentlicht hatte.71 Generell lässt sich zu dieser Zeit ein wachsendes Interesse an diesem Komponisten innerhalb der deutschsprachigen Musikzeitschriften beobachten, welches nicht zuletzt im Zusammenhang mit Liszts Aufführungen Berlioz’scher Werke seit 1852 in Weimar sowie den ausgedehnten Konzertreisen des Komponisten durch Deutschland ab Herbst 1853 steht. So finden sich in diesem Jahr etwa allein vier Artikel zu Berlioz in der Rheinischen Musik-Zeitung72 sowie drei, allerdings recht kritische, in den Grenzboten73. Insgesamt belegt die deutschsprachige Berichterstattung über Berlioz in den Musikzeitschriften dieser Jahre74 jedoch die Unsicherheit, welches die Werke des Komponisten in ihrer ausdrucksästhetischen Radikalität, ihrem bewussten Ignorieren traditioneller Gattungsgrenzen sowie der neuartigen Ansprüche an die Orchesterbesetzung, Musiker und Hörer erzeugten. Diese Unsicherheit in der Beurteilung insbesondere der symphonischen Werke Berlioz’ findet sich – abgesehen von Liszts „Harold“-Aufsatz75 aus dem Jahre 1855 – selbst in der NZfM. Dies belegen etwa die ambivalenten Aussagen August Wilhelm Ambros’ über die Werke Berlioz’76 in dessen 1856 erschienener Ästhetik oder die wenigen, ausschließlich Berlioz gewidmeten Aufsätze Franz Brendels bis 1858.77 Aus letzteren spricht stets Bewunderung wie auch Skepsis gegenüber der Tonmalerei und den beigefügten Programmen der Werke, welche die ein Jahr später von Brendel verkündete Zugehörigkeit Berlioz’ zur „neudeutschen Schule“ in dessen „Anbahnungs“-Rede78 alles andere als folgerichtig erscheinen lässt.
auch Kommentar zu Lobe 1853 Liszt und Berlioz in Weimar, in: NdS 1 Nr. 38. Artikel, S. 454 [95]. 69 Ebd. 70 Brendel 1852 Geschichte der Musik, S. 512 – 514. 71 Siehe Lobe 1853 Liszt und Berlioz in Weimar, in: NdS 1 Nr. 38. 72 Anonym 1853 Les Soirées d’Orchestre; Anonym 1853 Hannover; 12. 1853 Hannover, in: NdS 1 Nr. 53; 30. 1853 Leipziger Briefe. 73 Jahn 1853 Die Verdammniß des Faust; Anonym 1853b Musik; Jahn 1853 Hector Berlioz in Leipzig. 74 Siehe etwa auch Pohl 1856 Hector Berlioz, in: NdS 2 Nr. 90. 75 Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, in: NdS 2 Nr. 76. 76 Ambros 1856 Die Gränzen der Musik und Poesie, S. 156 –179. 77 Brendel 1857 F. Liszt’s neueste Werke, in: NdS 2 Nr. 108. 78 Brendel 1859 Zur Anbahnung einer Verständigung, in: NdS 2 Nr. 126. 67 Siehe
68 Vorliegender
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Zugleich unterstreicht der hier kommentierte Artikel, dass jegliche Versuche79 einer eindeutigen parteipolitischen Etikettierung der Person Lobes als ‚Konservativer‘ eine unzulässige Verkürzung darstellt, die der Komplexität seiner ästhetischen Positionen und seiner Stellung im damaligen Musikdiskurs nicht gerecht würde.80
79 Schon
zu Lebzeiten wurde Lobe aufgrund seiner differenzierten Haltung, gegenüber Komponisten selbst um Gerechtigkeit bemüht zu sein (siehe Lobe 1854 Briefe über Rich. Wagner; Lobe 1856 Briefe über Liszt’s Symphonische Dichtungen, in: NdS 2 Nr. 99), in der NZfM als ‚Konservativer‘ (siehe Pohl 1853 Einige Bemerkungen), in anderen Journalen hingegen als Verfechter Liszts und Wagners dargestellt, wogegen Lobe sich mehrfach zu Wort meldete (siehe Lobe 1853 Ein Vertheidiger Richard Wagner’s; Lobe 1855 Für den Fortschritt). Die von Lobe als ‚Parteipolitik‘ aufgefasste Propaganda von dritter Seite für entsprechende Komponisten stand er jedoch vehement ablehnend gegenüber (siehe etwa Lobe 1852 Musicalische Coterien und Parteien; Lobe 1856 Das Gespenst der Zukunft, in: NdS 2 Nr. 98). 80 Vgl. zu Lobe insgesamt Brandt 2002 Johann Christian Lobe.
Nr. 44 | Hoplit [Richard Pohl], „Die Rheinische Musikzeitung in der Schulprüfung“, in: NZfM 20 (1853), Bd. 38, Nr. 20 (13. Mai), S. 222 – 224.
Die Rheinische Musikzeitung in der Schulprüfung.I Eine catechetische Uebung von Hoplit.
Es giebt eine gewissen Klasse von Individuen, die von Zeit zu Zeit ihre Abstrafung erhalten müssen, wenn es ihnen nicht zu wohl werden soll. Zu diesen Individuen gehört unzweifelhaft die „Rheinische Musikzeitung“, deren Humor auf eine, vernünftige Staatsbürger beunruhigende Weise überhand zu nehmen droht. Nicht genug, daß sie sich untersteht, R. Wagner hofmeistern zu wollen; daß sie anfängt, witzig zu werden, und einen Stoppelverein2 zu gründen, um mit fremden Gedanken die hungrigen Spalten zu füllen und mit geborgtem Zeug die trostlosen Blösen zu
I Anmerkung der Redaction: Zur richtigen Würdigung der obigen Polemik und zu unserer Rechtfertigung müssen wir bemerken, daß die „Rheinische Musikzeitung“ fortfährt, uns in unpassender Weise anzugreifen, ohne daß wir uns irgend mit ihr zu schaffen machen. Mehr als einmal haben wir die Feindseligkeiten eingestellt, so als wir unseren ihr gewidmeten Kladderadatsch im vorigen Jahre aufhören ließen,1 und wenn die Rh. Mskztg. journalistischen Tact besessen hätte, wenn es ihr um würdigere Haltung zu thun gewesen wäre, würde sie diesen Wink verstanden und eine Art und Weise beseitigt haben, die, wie die Dinge gegenwärtig stehen, in den Journalen momentan wohl noch vorzukommen pflegt, auf die Dauer festgehalten aber von Jedem, der literarischen Anstand liebt, verabscheut werden muß. Unter diesen Umständen lesen wir die Rh. Mskztg. schon längst nicht mehr, und bekümmern uns nicht um Das, was sie sagt; nur durch zufällige Mittheiligungen Befreundeter erfahren wir von ihr. – Die Erwiderung unseres sehr geschätzten Mitarbeiters, der, wie er selbst sagt, sich niemals um die Rh. Mskztg. gekümmert hat, dürfen wir die Aufnahme nicht versagen. Die Letztere empfängt gegenwärtig nur, was sie selbst durch ihre steten Angriffe hervorgerufen hat.
satirische Rubrik „Musikalischer Kladderadatsch“ erschien in der NZfM in der ersten Hälfte des Jahres 1852 insgesamt sechs Mal und nahm darin u. a. die Rheinische Musik-Zeitung und deren Herausgeber Ludwig Bischoff ins Visier (Siehe Anonym 1852 Musikalischer Kladderadatsch, insbesondere S. 250, 263 f. und 280). 2 Der fiktive „Stoppelverein“ zeichnete 1853 insgesamt für fünf Artikel in der Rheinischen Musik-Zeitung verantwortlich (Stoppelverein 1853 Ein Schreiben an die Redaction; Stoppelverein 1853 Erste Lese des Stoppelvereins; Stoppelverein 1853 Kern der Lehre von dem Universalkunstwerk; Stoppelverein 1853a Stoppellese; Stoppelverein 1853b Stoppellese). Zu den Zielen des Vereins heißt es im ersten Artikel: „Wir vermissen nämlich in Ihrer Zeitschrift eine Rubrik, welche Ihre Leser durch Mittheilung einer Blumenlese aus den Treibhäusern der neuesten musikalischen Kunstphilosophie erheitere“ (Stoppelverein 1853 Ein Schreiben an die Redaction, S. 1126). Die Polemiken richten sich vor allem gegen Artikel Franz Brendels über Richard Wagner in der NZfM (Stoppelverein 1853 Erste Lese des Stoppelvereins; Stoppelverein 1853 Kern der Lehre von dem Universalkunstwerk; Stoppelverein 1853a Stoppellese). 1 Die
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decken: es fällt ihr sogar ein, aus dem Stegreif ehrliche Leute anzufallen, die sich niemals um sie gekümmert haben. – Der Schlüssel zu diesen seltsamen Gelüsten, – die uns zu der Vermuthung führen könnten, daß die „Rheinische“ mit einem vernünftigen Gedanken in guter Hoffnung sei – liegt in der traurigen Thatsache, daß unsern Theodor Uhlig der Tag zu früh ereilt hat,3 wo Niemand wirken kann; Uhlig war, getreu seiner kernhaften und ehrenfesten Natur unermüdlich, die Rheinische in ihre Schranken zu weisen oder lächerlich zu machen, wie es eben paßte.4 Er besaß göttliche Grobheit und deutsche Ausdauer genug, um die Sisyphus-Arbeit in dem modernen Journalisten-Tartarus durchzuführen. Nun aber Uhlig von dieser Erdenqual gnädig erlöst ist, glauben die kleinen Mäuse, freies Spiel zu haben. Es wird ihnen zu wohl, weil ihr Herr und Meister leider von hinnen ging. Diesmal sind sie aber an den Unrechten gekommen! Sie sind auf ’s Glatteis gerathen, auf welchem wir sie denn zur Probe wollen tanzen lassen. Die Rheinische Musikzeitung enthält in Nr. 142 einen Bericht aus Cöln, in welchem der Correspondent in folgende Expectorationen5 ausbrach: „Wenn man die fünfte Symphonie von Beethoven hört und kurz vorher von Hrn. Hoplit – (also einem Pentakosiomedimner6, d. h. einem, der jährlich 500 Scheffel an musikalischer Weisheit einnimmt, – siehe ‚Böckh’s Staatshaushalt der Athener)‘ – in der Neuen Leipziger Zeitschrift für Musik belehrt worden ist, ‚daß die organisch gegliederte musikalische Entwicklung sich in Beethoven, Schumann, Berlioz und Wagner ausspricht‘: so wird Einem wirklich bei dieser Steigerung von Oben nach Unten für den Organismus der modernen Kritik bange. Denn, wenn Kauz und Eule so von ihrem Instinkt verlassen werden, daß sie sich an den Adler wagen, der sie mit einem gelinden Flügelschlag seiner gehobenen Schwingen todt schlägt, so hat sich offenbar die Natur verkehrt.“7 – – – – – – Es gehört keine geringe Ueberwindung dazu, mit der „Rheinischen“ handgemein zu werden und sich dadurch, wenn auch nur scheinbar, auf gleiche Stufe mit ihr zu stellen. Auch ist es sonst nicht unsere Sache mit den kleinen Geistern uns abzugeben. Wir haben mit großen Geistern, die Nichts genirt, mit Riehl8, dem Wohlbekannten9, 3 Theodor
Uhlig war am 3. Januar 1853 im Alter von 31 Jahren an Tuberkulose gestorben. 4 Siehe etwa Uhlig 1852 Lesefrüchte, hier insbesondere S. 291– 294 sowie Uhlig 1852 Spaß muß auch sein. 5 Das Sichaussprechen, Erklärung von Gefühlen; (Medizin) Auswurf. 6 Pentakosiomedimnoi (griech. πεντακοσιο-μέδιμνος, pentakosio-médimnos: wer 500 Medimnen erntet) bezeichnete nach ihrem jährlichen Einkommen von 500 Medimnen, einem Getreidemaß, die reichste Klasse der Bürger im antiken Athen. 7 Anonym 1853 Achtes Gesellschaftskonzert, S. 1134. Der zwei Spalten umfassende Artikel bespricht ein Abonnementkonzert in Köln, das am 15. März 1853 unter der Leitung von Ferdinand Hiller stattfand und neben der 5. Symphonie von Ludwig van Beethoven Werke von Carl Reinecke, Giuseppe Verdi, Felix Mendelssohn Bartholdy sowie Hiller selbst umfasste. Bis auf den zitierten Absatz handelt es sich dabei um eine sachlich nüchterne Konzertrezension, die vor allem auf die Leistung der Interpreten eingeht. Im Originaltext heißt es an dieser Stelle nicht „der modernen Kritik“, sondern „der modernen Kritiker“. 8 Wilhelm Heinrich Riehl (1823 –1897), Kulturhistoriker, Soziologe und Novellist, verfasste u. a. die Schrift Musikalische Charakterköpfe. Ein kunstgeschichtliches Skizzenbuch, welche bereits zu Riehls Lebzeiten in sieben Auflagen erschien (ED 1853, 2. Aufl. 1857, ab der 3. Aufl. 1861 in zwei Bänden). 9 Hinter dem „Wohlbekannten“ verbirgt sich Johann Christian Lobe, der sich in seinen Musikalischen Briefen. Wahrheit über Tonkunst und Tonkünstler. Von einem Wohlbekannten (ED 1852) selbst so bezeichnete.
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Krebs10, u. s. w. schon genug zu thun, als daß wir Zeit und Lust fänden, mit der „Rheinischen“ wieder Schulstudien zu machen. Ignorirt zu werden kann sie aber nicht vertragen, und darum macht sie sich auf alle Weise so lange bemerkbar, bis man, ihrer Kläfferei überdrüssig, ihr einen Seitenhieb versetzt. Sei es drum. Wenn es aber nicht sanft dabei hergeht, so denke sie nur: „Karnickel hat angefangen.“11 – Wir wollen zur Ergötzlichkeit unserer Leser den kleinen Schulknaben aus Cöln, der in Nr. 142 der Rheinischen uns mit Schneebällen geworfen hat, einmal in’s Gebet nehmen und da sich doch einmal nicht anders mit ihm reden läßt, ihn katechisiren, um zu prüfen, ob er überhaupt nur mitreden darf und ob er zu Ostern in die höhere Klasse der „Rheinischen“, unter die Leit-Artikler, eintreten darf. Hoplit. Ein Wort mit diesem kundigen Thebaner12: Was ist Dein Studium? Kölner. Ich habe Nichts gelernt und Nichts vergessen. Hoplit. So scheint es allerdings. Doch ist das jetzt Mode geworden. Aber sage mir lieber Junge, weißt Du vielleicht zufällig was Hoplit heißt? Kölner. Hoplitēs, auf Griechisch ὁπλίτης, ist ein Fluß bei Haliartus. Siehe Plutarch Lys. 2913. Hoplit. Es ist erstaunlich, was die Kinder jetzt Alles lernen! Aber ich habe Dich in starkem Verdacht, daß Du das aus Kraft’s Real-Schullexicon14 abgeschrieben hast. Kölner. (Heult). Hoplit. Beruhige Dich, es paßt nicht. Um Deinen gelehrten Apparat zu vervollständigen, nimm Petri’s Fremdwörterbuch15 zur Hand, da findest Du, daß Hoplit oder Hoplitēs ein geharnischter Fußkämpfer ist, und Hopletik (nicht zu verwechseln mit Homiletik16) nach Krug in Leipzig17 „die Waffen- oder Bewaffungslehre“ bedeutet. Nun schlage noch [223] Schellers lateinisches Lexikon18 auf, da findest Du,
10 Karl
August Krebs (1804 –1880), eigentl. Karl August Miedcke, Komponist und Dirigent, wirkte 1827 bis 1850 als Theaterkapellmeister in Hamburg und von 1850 bis 1872 in Nachfolge Wagners als Hofkapellmeister in Dresden. Krebs verfasste Opern, Lieder und Klavierkompositionen, die u. a. durch eingängige Melodik gekennzeichnet waren und sich an den Geschmack eines breiten Publikums richteten. 11 Sprichwörtliche Redensart, wenn die Ursache eines Streites einem unschuldigen Schwächeren zugeschrieben wird. 12 Das geflügelte Wort vom „kundigen Thebaner“ geht auf William Shakespeares The Tragedy of King Lear (UA 1605), 3. Aufzug, 4. Szene, zurück. Die Bewohner der griechischen Stadt Theben in Böotien galten in der Antike als plump und geistig zurückgeblieben. 13 Plutarch, Vitae parallelae, „Lysandros“, V. 29. 14 Friedrich Karl Kraft und Cornelius Müller, Real-Schul-Lexicon für die studirende Jugend, Altona 1846 –1848 (auch: Real-Schul-Lexikon. Ein Hilfsmittel zum Verständnis der alten Classiker, für die studirende Jugend, Hamburg 1853). Darin findet sich unter dem Stichwort „Hoplītes“ exakt die Definition des „Kölners“. 15 Friedrich Erdmann Petri, Handwörterbuch für Deutsche, Dresden 1812; ab der 4. Aufl. (Dresden 1823) bis zur 10. Aufl. (Leipzig 1852) als Gedrängtes Handbuch der Fremdwörter in deutscher Schrift- und Umgangs-Sprache: zum Verstehen und Vermeiden jener, mehr oder weniger, entbehrlichen Einmischungen. 16 Geschichte und Theorie der Predigt. 17 Der Verweis auf Krug findet sich unter dem Stichwort „Hoplétik“ in Petris Fremdwörterbuch. Gemeint ist damit vermutlich Wilhelm Traugott Krugs System der Kriegswissenschaften und ihrer Literatur, Leipzig 1815. 18 Immanuel Johann Gerhard Scheller, Ausführliches und möglichst vollständiges lateinisch-deutsches und deutsch-lateinisches Lexicon oder Wörterbuch. Zum Behufe d. Erklärung d. Alten u. Übung in d. lat. Sprache, Leipzig 1783 –1784.
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daß Hoplitites nach Plinius (Historia naturalis)19 ein Schwerbewaffneter heißt. – Wie kommst Du aber auf die Pentakosiomedimner?20 Kölner. Siehe Böckh’s Staatshaushalt der Athener.21 Hoplit. Höre, lieber Junge, ich habe Dich wieder in Verdacht, daß Du das Buch niemals in der Hand gehabt, sondern das Zitat aus Deinem „Pape“22 abgeschrieben hast. Es ist sehr schlimm, wenn die Eltern ihren Kindern so theure Lexika kaufen, womit sie nachher groß thun. – Uebrigens lerne erst citiren. Wenn man ein so dickes Werk wie das von Böckh anführt, so giebt man wenigstens den Band an, in welchem das Citat steht, nämlich Band II, Seite 29 und 30. Weil Du das nicht gethan, hast du dich verrathen. Zur Strafe sollst Du eine Stunde nachbleiben und Nr. 142 der „Rheinischen“ auswendig lernen. Kölner. (Heult wieder) Hoplit. Du hast als echter Kölner sehr nahe an’s Wasser gebaut. Aber es kann Nichts helfen. Strafe muß sein. Unterdessen will ich Dich belehren, daß Du auch in Wachsmuth’s Hellenischer Alterthumskunde23, I, 479, und in Hermann’s Griechischen Staatsalterthümern24 I § 108 das Weitere über Pentakosiomedimner nachlesen kannst. Kölner. Das brauche ich nicht erst zu lernen; ich weiß, daß ein Pentakosiomedimner jährlich 500 Scheffel an musikalischer Weisheit einnimmt. Hoplit. Wenn er sie einnimmt, muß er wohl darnach im Verhältnis ausgesät haben. Denn, hast Du im Pape recht gelesen, so wirst Du gefunden haben, daß ein πενгαxoσiο-μέδιμνος fünfhundert Medimnen jährlicher Ernte an Getreide und andern Früchten vom eigenen Lande gewinnen mußte. Vom Rheinischen Stoppelfelde25 konnte er freilich Nichts einernten, denn dort sind weder Früchte, noch, wie Du zu sagen beliebst, musikalische Weisheit zu holen. Uebrigens scheinst Du gar nicht zu wissen, welche Schmeichelei Du mir gesagt hast. Nach Solons Classeneintheilung der athenischen Bürger – o, kundiger Thebaner!26 – gehörten die Pentokosiomedimner zur ersten attischen Schätzungsclasse und sie steuerten dem Staate jährlich ein Talent.27 – Dir würde es allerdings unmöglich sein, dem Staate ein Talent zu steuern, so wenig, als man Dich unter den attischen Salzhändlern suchen wird! Ich getraue mir zwar nicht, 500 Scheffel Weisheit zu
d. Ä., Naturalis historia (EZ um 77). 20 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 6. 21 August Böckh, Die Staatshaushaltung der Athener, Berlin 1817. 22 Wilhelm Pape, Handwörterbuch der griechischen Sprache, Braunschweig 1842 –1845. 23 Wilhelm Wachsmuth, Hellenische Alterthumskunde aus dem Gesichtspunkte des Staates, Halle a. d. Saale 1826 –1830. 24 Karl Friedrich Hermann, Lehrbuch der griechischen Staatsalterthümer, Heidelberg 1831. 25 Anspielung auf den „Stoppelverein“, siehe vorliegender Artikel, Anm. 2 und darüber hinaus wohl auch für die vermeintliche musikalisch fortschrittliche Einöde am Rhein. 26 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 12. 27 Böckh, Die Staatshaushaltung der Athener, Berlin 1817, S. 30: „Die Pentakosiomedimnen, sagt Pollux, verwandten auf das gemeine Wesen […] ein Talent“. Ein „Talent“ ist eine altgriechische Gewichtsund Münzeinheit, die etwa 26 kg entspricht. 19 Plinius
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verbauen, wohl aber, 500 Stück Kritiker von Deinem Kaliber alljährlich ohne Beschwerde zu verarbeiten. Das macht soviel als fünf Hekatomben28, à 100 Stück. Dieses Opfer sei Apollon geweiht und Du machst heute den Anfang, weil Du mir gerade zuerst unter die Hände kommst! – Hast Du die „Rheinische“ jetzt auswendig gelernt? – Kölner. Ja. Ich will sie einmal hersagen. Hoplit. Um Gotteswillen nicht! Ich glaube Dir auf ’s Wort, denn Du scheinst mir ein ehrlicher Kerl zu sein. – Wir können jetzt in unserm Examen fortfahren. Weißt Du, was organisch gegliedert heißt? Kölner. Nein. Hoplit. Wenn Dir Dein Kopf oder Dein Gehirn abhanden gekommen ist – glaubst Du dann noch organisch gegliedert zu sein? Kölner. Ich weiß nicht. Hoplit. Man kann das allerdings so genau nicht wissen, denn die gütige Natur kann Dich auch ohne Gehirn erschaffen haben. – Aber sage mir, wer war eher da, Du oder Dein Vater? Kölner. Ich glaube mein Vater. Hoplit. Und hat Dein Vater auch einen Vater gehabt? Kölner. Wahrscheinlich. Hoplit. Wenn nun Dein Vater auch klüger und geschickter als Du gewesen sein mag – was ich hoffe – und wenn Deine Kinder auch gescheiter als Du auf die Welt kommen – was ich wünsche – bist Du nicht trotzdem das Mittelglied zwischen Beiden? Kölner. Ja. Hoplit. Siehst Du, mein Sohn, insofern bist Du auch historisch berechtigt. Kölner. (Freut sich). Hoplit. Ich kann Dir zu Deiner Genugtuung sogar versichern, daß Du zur organischen Gliederung Deines Stammbaumes ein nothwendiger, integrirender Theil bist, und daß sich mithin in Deinem Großvater, Deinem Vater, Dir und Deinem Sprößling eine organisch gegliederte und historisch berechtigte Entwicklung ausspricht – was für eine Entwicklung, das mag freilich der Himmel wissen! – Aber nun kommt die Moral. Wer hat eher gelebt, Beethoven oder Schumann. Kölner. In Conversationslexiken steht, daß Beethoven früher gelebt hat und auch schon wieder gestorben ist. Hoplit. Aber Berlioz und Wagner? Kölner. Die leben noch, sowie auch Schumann. Hoplit. Wer hat sich eher entwickelt, Berlioz, Wagner oder Schumann, und wer ist weiter gegangen? Kölner. Das weiß ich nicht. Hoplit. Das kannst Du auch nicht wissen, denn sonst wärst Du nicht Mitarbeiter an der „Rheinischen“. Glaubst Du aber, daß Schumann und Berlioz gekommen wären, wenn Beethoven nicht war? Kölner. (Schweigt).
28 (Griech.)
έκατόμβη (hekatómbê), kultisches Opfer von 100 Stieren.
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Hoplit. Oder glaubst Du, daß Wagner das geworden wäre, was er ist, wenn Beethoven und Berlioz nicht vorangegangen wären? Kölner. Die „Rheinische“ hat aber gesagt, das wäre „eine Steigerung von Oben nach Unten“29. Hoplit. Davon ist gar nicht die Rede gewesen, ob Schumann und Berlioz größer seien oder höher stehen, als Beethoven, sondern nur davon, wer sich aus dem Andern noth-[224]wendig entwickelt hat. Wenn Dein Sohn auch dümmer ist, als Du, und wenn Du wieder dümmer bist, als Dein Vater, wirst Du dennoch nicht läugnen können, daß ihr Beide Euch durch den Vater entwickeln habt. Kölner. Aber ich bin gar nicht dümmer als mein Vater! – Hoplit. Ich bitte Dich, keine Familienangelegenheiten. Eine Steigerung scheint in Eurer Familie überhaupt viel Gefährliches zu haben. Was übrigens das „Oben und Unten“ betrifft, so empfehle ich Dir die Theorie des praktischen Psychologen Bossard in Berlin, in welcher ungefähr derselbe tiefe Sinn liegt, als in Deinen Behauptungen. Der Bossard’sche „haarsträubende“ Satz lautet: – – – Kölner. (Recitirt) „der Mensch ist Oben – Streben; Unten – Leben; Vorn – Wollen; Hinten – Können“30. Hoplit. Bravo! Man sieht, das leuchtet Dir ein. Ich überlasse es Dir, ob Du Oben oder Unten, Vorn oder Hinten – vorziehen willst. Wäre der Bossard’sche Satz übrigens richtig, so wäre von Oben nach Unten allerdings eine Steigerung, da Leben jedenfalls ein gesteigertes und erhöhtes Streben ist! Kölner. Das verstehe ich nicht. Hoplit. Dann mache Du einen Artikel für die „Rheinischen“ daraus, mein Sohn; denn das ist der „Humor davon“! Wie kommst Du aber darauf, mich mit „Kauz und Eule“ zu vergleichen.31 Kölner. Weil das Nachtvögel sind, die Instinkt haben. – Hoplit. Du scheinst leider keinen Instinkt zu besitzen, kannst ihn also auch nicht verlieren. – Die Eule war bekanntlich der Pallas Athene besonders geheiligt, und die hohe jungfräuliche Göttin ward auch Glaucōpis, das heißt die Eulenäugige genannt, mit Beziehung auf den Lichtblick der Eule in der Dämmerung und in Betracht, daß Minerva, als weise und besonnene Kriegsgöttin, eine hell- und scharfblickende war. Ich, als Hoplitēs, diene eben der Pallas Athene und freue mich, daß Du mich als Eule ihr sogar heiligst. Du siehst, mein Junge, daß Deine Schimpfwörter für mich lauter Schmeicheleien sind. Wie schon Schiller sagt: „Was kein Verstand der Verständigen sieht Das findet in Einfalt ein Kölner Gemüth“32. 1853 Achtes Gesellschaftskonzert, S. 1134 (siehe auch vorliegender Artikel, Anm. 6). Bossard (1816 –1871), der sich in seiner Schrift Erkenntnisse und Lebensgesetze der Wahrheit und Liebe (ED 1852) als „praktischer Psychologe“ bezeichnete, hielt offenbar im März 1853 im Berliner Hôtel de Russie einen Vortrag, in welchem der zitierte Satz eine zentrale Stellung einnahm. Berichte darüber finden sich etwa in der Beilage zur Nr. 81 der Allgemeinen Zeitung München vom 22. März 1853 (S. 1290) sowie in der Beilage zur Augsburger Postzeitung vom 29. März 1853 (S. 284). Auch der Kladderadatsch vom 20. März 1853 (S. 51) reagierte mit einem fiktiven Brief an Bossard, in welchem der Satz zitiert wird. 31 Siehe die zitierte Passage in vorliegendem Artikel, S. 469 [222], Anm. 7. 32 Nach Friedrich von Schiller, Die Worte des Glaubens (ED 1797): „Und was kein Verstand der Verständigen sieht, / Das übet in Einfalt ein kindlich Gemüth.“ 29 Anonym 30 Heinrich
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Was den Kauz betrifft, so weißt Du wohl, daß dieses Thier nach dem Volksglauben der Todtenvogel ist, der, wenn er will, auch die Mitarbeiter der „Rheinischen“ zu Grabe singen kann. Das paßt also auch. – Kurz, Du bist ein prächtiger Junge und sollst eine Zuckertüte haben. Du darfst in die höhere Classe der „LeitArtikler“ in der „Rheinischen“ eintreten und ich will Deinem Vater sagen, daß Du Dir mit Deinem ritterlichen Angriff die ersten – Hosen verdient hast! – Jetzt kannst Du aber nach Hause gehen. Aber sei hübsch artig und – wirf die Leute nicht wieder mit Schneebällen!
Kommentar Die vorliegende Satire von Hoplit, alias Richard Pohl, gegen die Rheinische Musik-Zeitung in der Person des im Text examinierten „Kölners“ bildet einen ersten Höhepunkt im Schlagabtausch der beiden Zeitschriften. Die Rheinische Musik-Zeitung verstand sich spätestens ab Mitte 1852 als konservativer Gegenpol zur NZfM,33 verlor jedoch im Juli 1853 mit dem Wechsel Bischoffs zur ebenfalls von ihm geleiteten Niederrheinische Musik-Zeitung ihre Bedeutung im damaligen Musikdiskurs. Auslöser für den Artikel Pohls scheint vor allem der darin erwähnte Konzertbericht aus der Rheinischen Musik-Zeitung vom 19. März 1853 gewesen zu sein34, in welchem sich der anonyme Kölner Rezensent im Zusammenhang mit der 5. Symphonie Beethovens direkt gegen Pohl gewendet hatte. Darüber hinaus handelt es sich vermutlich auch um eine Reaktion auf die Artikelfolge des imaginären „Stoppelvereins“, welche die Rheinische MusikZeitung zeitgleich von März bis Juni 1853 veröffentlichte und die u. a. scharf gegen die Texte Franz Brendels in der NZfM polemisierte.35 Im fiktiven Dialog zwischen „Hoplit“ und dem „Kölner“ werden – bei allem Satirischen der Schulprüfungsszenerie – verschiedene Kernfragen des damaligen musikalischen Parteienstreits aufgegriffen, indem etwa die Deutungshoheit über damalige Schlüsselbegriffe wie das „Organische“36 in der Kunstentwicklung ausgefochten oder die historische Verortung von Komponisten wie Berlioz und vor allem Wagner als einzig legitime Nachfolger Beethovens
33 Siehe Bischoff 1852 An unsere Leser, in: NdS 1 Nr. 32. 34 Anonym 1853 Achtes Gesellschaftskonzert
(siehe auch vorliegender Artikel, Anm. 6). 35 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 2. dazu vgl. Noeske 2012 Musik als Organismus.
36 Allgemein
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thematisiert werden.37 In seiner zur Überheblichkeit neigenden Selbstsicherheit im historisierenden Urteil über Gegenwartskomponisten waren es wohl nicht zuletzt Texte wie der vorliegende des 27-jährigen Richard Pohl, welche zur Formierung einer der ‚Zukunftsmusik‘ ablehnend gegenüberstehenden musikjournalistischen Gegenbewegung und zugleich zur Polemisierung und zunehmenden Verunsachlichung im damaligen Musikdiskurs führten.
37 Zu Berlioz als Nachfolger Beethovens siehe auch Lobe 1853 Hektor Berlioz, in: NdS 1 Nr. 43. Über das Verhältnis von Wagner zu Beethoven schrieb beispielsweise Uhlig: „Es muß an dieser Stelle genügen, wenn auch nur ein Beweis mehr beigebracht worden ist für die Behauptung, daß die Erlösung der musikalischen Kunstart im Drama, wie sie Wagner vollbracht hat, ihre historische Begründung in Beethoven findet, und daß daher, nach solcher Vollendung des Beethoven’schen Kunstprincips in Wagner, sämmtliche musikalische Halbheiten, die zwischen Beehoven’s letzter Symphonie und Wagner’s erstem musikalischen Drama liegen“ (Uhlig 1852 Ueber den dichterischen Gehalt Beethoven’scher Tonwerke, S. 199).
Nr. 45 | Joachim Raff, „Vertrauliche Briefe an den Verfasser des Aufsatzes ‚Tannhäuser, Oper von Richard Wagner‘ in den ‚Grenzboten‘ Nr. 9“, in: NZfM 20 (1853), Bd. 38, Nr. 11 (11. März), S. 113 f.; Nr. 13 (25. März), S. 136 –140; Nr. 14 (1. April), S. 148 –150; Nr. 15 (8. April), S. 159 –161; Nr. 16 (15. April), S. 172 –175; Nr. 17 (22. April), S. 180 –182; Nr. 18 (29. April), S. 192 –196; Nr. 23 (3. Juni), S. 247 – 250. Hier abgedruckt: Nr. 23 (3. Juni), S. 247 – 250.
Vertrauliche Briefe an den Verfasser des Aufsatzes „Tannhäuser, Oper von Richard Wagner“ in den „Grenzboten“ Nr. 9. von Joachim Raff.
Fünfter und letzter Brief. Mein Herr! Ich gelange nunmehr an denjenigen Theil Ihres Aufsatzes, welcher sich in Erörterung einiger nicht uninteressanter Detailfragen ergehen sollte, wobei Sie aber, weitentfernt irgend etwas Stichhaltiges vorzubringen, sich einzig und allein darin gefallen, den gesunden Menschenverstand so oft wie möglich mit Keulen ins Gesicht zu schlagen. Ich will meinen Lesern nicht zumuthen Ihren Aufstellungen von Wort zu Wort zu folgen, sondern begnüge mich ihnen eine kleine Blumenlese aus denjenigen Sätzen zusammenzustellen, auf welche Sie einen besonderen Nachdruck legen. „Wagner ist ein Dilettant!“1 sagen Sie; und wie gewöhnlich ersparen Sie sich wieder den Beleg für diese Behauptung. Sie thun zuerst so als ob einmal irgendwer irgendwo gesagt hätte, an den „Künstler der Zukunft sei das Postulat einer Universalität genialer Schöpfungskraft zu stellen“2, und eifern alsdann gegen dieses popanzartige Postulat, welches nur in Ihrer verbrannten Einbildungskraft existirt. Sie führen dann aus, daß die Kunsttechnik zu einem außerordentlichen Grade von Ausbildung
1853 Tannhäuser, Oper von Wagner, S. 332: „Wagner mit seinem vielseitigen Talent für Poesie, Musik, bildende Kunst, soweit sie bei dem scenischen Arrangement in Betracht kommt, und dialektisirende Kritik ist ein Repräsentant des auf unserer heutigen Bildung ruhenden Dilettantismus, wenn man diesen Ausdruck in dem oben angedeuteten allgemeineren Sinne nimmt.“ 2 Ebd.: „Es nützt nichts, an den Künstler der Zukunft das Postulat einer Universalität genialer Schöpfungskraft zu stellen, welche die Beschränktheit der menschlichen Natur überhaupt nicht zuläßt.“ 1 Jahn
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gelangt und „Eigenthum der gebildeten Welt“3 geworden sei. Daran also könnte es nun Wagnern wohl nicht fehlen, dächte ich, wenn es Ihnen vielleicht nicht gar noch einfallen sollte, ihn nicht zur „gebildeten Welt“ zu rechnen. Aber Kunstwerke „gehen nur aus dem schöpferischen Genie hervor.“4 „Nur“ das ist neu; wahr ist es freilich nicht. Wenn Sie nun bewiesen, daß Wagner kein „schöpferisches Genie“ sei, so könnte man sich allenfalls darauf einlassen, Ihnen so viel Unterricht in der Aesthetik zu ertheilen, als Sie nöthig hätten, um etwas Vernünftigeres zu sagen als „Wagner ist ein Dilettant“; aber da Sie nichts beweisen, so kann man sich wohl auch eines Gegenbeweises entbunden erachten. „Wagner stellt an die Opernmusik die erste Forderung, daß sie dramatisch, d. h. in jedem Momente charakteristisch sei.“5 Sie würden mich verbinden, wenn Sie mir sagen wollten, wo Wagner diese Forderung in obiger Fassung stellt, die einen solchen Mangel an Begriffsbildung verräth, daß sich nicht nur ein Kunstphilosoph wie Wagner, sondern auch jeder andere gebildete Mensch derselben schämen müßte. Ich begnüge mich das Citat als Wagner’sches zu desavouiren und die Ehre seiner Urheberschaft Ihnen, wahrheitsliebender „Kritiker“, zu vindiciren. – Sie eifern alsdann gegen die Consequenzen jener Wagner unterschobenen „Forderung“, brechen aber wie ein recht ungeschickter Journalbackfisch Ihrer kleinen Diatribe6 die Spitze ab, indem Sie zugeben, daß diese Consequenzen im Tannhäuser noch nicht so weit getrieben seien, daß Sie die „Principienfrage“7 (Sie und „Principien“!!) nicht auf sich beruhen lassen könnten. Sie finden dann, daß Wagner „überraschende, [248] treffende Einfälle habe“8, daß er verstehe „zu spannen, vorzubereiten“, daß er „ein aufgeregtes, bis zur Fieberhaftigkeit exaltirtes Wesen“ bekunde, welches den Zuhörer „irritire“; aber Sie meinen
3 Ebd.:
„Auch die Musik ist durch die Leistungen der großen Musiker, welche sie mit staunenswerther Energie und Fülle nach allen Seiten geistig und technisch ausgebildet haben, in einem Grade Eigenthum der gebildeten Welt geworden, daß die Fähigkeit, seiner Empfindung einen musikalischen Ausdruck zu geben und technische Effecte hervorzubringen, nicht viel weniger verbreitet ist als die Neigung, Musik zu hören und zu kritisiren.“ 4 Ebd.: „Dieser Dilettantismus, das Product der Bildung, ist in seinem Grund und Wesen von der Kunst verschieden, die nur aus dem schöpferischen Genie hervorgeht, und wie beachtenswerth auch die quantitativen Unterschiede dilettantischer Werke unter sich sein mögen, die wesentliche Verschiedenheit vom wahren Kunstwerk bleibt unverrückt.“ 5 Ebd. 6 (Griech.) gelehrte Streitschrift, weitläufige kritische Abhandlung. 7 Jahn 1853 Tannhäuser, Oper von Wagner, S. 333: „Indessen da wir uns hier an den Tannhäuser halten, in dem die Consequenzen dieser Forderung noch nicht vollständig bis ins Absurde getrieben sind, so wollen wir die Principienfrage auf sich beruhen lassen.“ 8 Bei Jahn heißt es im Kontext: „Allein es zeigt sich in ihnen [den Musikstücken des Tannhäusers], daß es Wagner an wahrer Erfindungskraft fehlt, weil ihm die tiefe, ursprünglich musikalische Empfindung mangelt; seine musikalische Auffassung ist nicht die primitive, sondern durch etwas Anderes vermittelt, und zwar ist dies nicht nur die poetische Anregung, vielmehr häufiger noch eine von außen eindringende Reflexion. Daher schafft er nur im Einzelnen; hier hat er überraschende, treffende Einfälle, allein wo ein Gedanke erfordert wird, tief und bedeutend genug, um aus ihm ein Ganzes zu gestalten, da fehlt es. Er versteht, wie die meisten heutigen Componisten, vorzubereiten, zu spannen, weil dies durch formale Geschicklichkeit zu erreichen ist, allein anstatt die erregten Erwartungen in der That durch große Ideen zu befriedigen, müssen musikalische Redensarten
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gleichwohl, daß es Wagner an „Erfindungskraft“ mangle. In der „äußern Form längerer Sätze, im Zuschnitt der Melodie“ finden Sie den Einfluß Meyerbeer’s (?!) unverkennbar. Es war Ihnen vorbehalten zu erfinden, daß Wagner versificirt wie Scribe9, und seine Verse musikalisch behandelt wie Meyerbeer. O Sie Schäker, Sie! – Aber nun drehen Sie sich im Kreise, wie ein gerückter Tisch und sagen wieder: „Indessen den Hauptwerth legt Wagner auf die specifisch-dramatische Musik, die mit ihrer Charakteristik den Dialog Wort für Wort und die Handlung Schritt für Schritt begleitet.“10 Wie schon bemerkt[,] hat Wagner nie daran gedacht dergleichen zu sagen. Aber Sie wollten Wagnern eine kleine Standrede halten und da er Ihnen den Anlaß nicht hergab, so mussten Sie ihm einen octroyiren. Wenn man nun den Beweis von Ihnen verlangte, daß jene Art der „Charakteristik“ „specifisch dramatisch“ sei, so würden Sie dastehen wie ein Schulknabe; denn man würde Ihnen bündigst nachweisen, daß dieselbe im Oratorium, in der Programm-Instrumentalmusik, in der Ballade, ja sogar im Liede vorhanden ist und sein muß, man würde Ihnen zeigen, daß diese Charakteristik vorhanden war, ehe es überhaupt eine Oper gab, und daß mithin der Begriff des „specifisch-dramatischen“ hier ganz sinnlos von Ihnen angewandt worden. Sie meinen, daß Weber zu dieser Charakteristik den Impuls gegeben.11 Warum gehen Sie nicht ins Conservatorium, und studiren Geschichte der Musik und des Kunststyles? Sie haben’s sehr – sehr nöthig. – Aber Sie mussten einen groben historischen Schnitzer zum Besten geben, damit Sie von Weber sprechen, und sagen konnten: Weber besaß „wahre Begeisterung und frische Erfindung, Wagner besitzt sie nicht.“12 Wenn Sie doch einmal beweisen wollten, warum Jedermanns Begeisterung wahr ist, nur die Wagner’s nicht, wenn Sie doch einmal zeigen wollten, was an Wagner’s Erfindung so als und abgestanden ist, daß alle andere dagegen frisch erscheint! Nichts über Ihr Wohlwollen und Ihre Redlichkeit!! – Im Folgenden geben Sie nun einen Bombast ästhetischer Ungereimtheiten von sich, mit dessen Beleuchtung ich meinen Lesern nicht beschwerlich fallen will. Sie declamiren alsdann mit „wahrer Begeisterung“ gegen die Instrumentaleffecte; aber diese „wahre Begeisterung“ geht mit Ihrem Verstande durch und plötzlich rufen Sie aus: „Es wäre ein wahres Glück, wenn jetzt ein Musiker käme, der nicht instrumentiren könnte, aber Musik machte.“13 Die Instrumentirung ist nun nichts anderes als die Kunst der Tonfarbengebung. Was würde man von einem Kritikus denken,
herhalten, die freilich einem ungebildeten Publicum gerade wie in der Poesie oft noch besser als Gedanken gefallen. Nicht einmal das Element der Leidenschaft drückt er mit nachhaltiger Kraft und Energie aus, weil es ihm auch an Tiefe fehlt; statt Feuer und Wärme macht sich vielmehr ein aufgeregtes, bis zur Fieberhaftigkeit exaltirtes Wesen geltend, das in entsprechender Weise wirkt: seine Musik irritirt, aber sie ergreift nicht“ (ebd.). 9 Eugène Scribe (1791–1861), französischer Dramatiker und Librettist, war der erfolgreichste und meistvertonte Librettist der Grande opéra und arbeitete u. a. eng mit Giacomo Meyerbeer zusammen. 10 Jahn 1853 Tannhäuser, Oper von Wagner, S. 333. 11 Ebd., S. 333 f.: „Den Impuls gab hier wol Weber, der in seiner Euryanthe das Beispiel dieser überladenen Detailmalerei gab.“ 12 Ebd., S. 334: „Den großen Vorzug Weber’s, der in glücklichen Momenten durch wahre Begeisterung und frische Erfindung hinzureißen vermochte, vermissen wir bei Wagner, aber seine Fehler sind sorgfältig cultivirt.“ 13 Ebd., S. 335.
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welcher schriebe: Wenn doch einmal ein Maler käme, welcher keine Farben brauchte, aber malte! Man würde ihn in’s Narrenhaus schicken, oder die Grenzboten würden ihn als Referenten anstellen. Kaum haben Sie einen Unsinn von sich gegeben, so tischen Sie zur Abwechslung eine Unwahrheit auf. Sie ziehen gegen Wagner den Harmoniker los und appliciren ihn das salve dictum14 eines „Jemand“, der sich „treffend geäußert“ haben soll, daß „bei Wagner immer nur zwei, selten auch nur drei Accorde zusammenhängen.“15 Ob Sie die Wahrheit sagen oder nicht, darauf kommt Ihnen Nichts an: calumniare audacter, semper aliquid haeret.16 Alsdann tadeln Sie die musikalische „Charakteristik“ der Venus17, welche Wagner Ihrem Wunsche gemäß als einen kalten „Teufel, dem es nur ums Holen zu thun ist“18, hätte zeichnen sollen. Sie finden auch die „Charakteristik“ der Theilnehmer am Sängerkampfe ungenügend. Ich habe in einem früheren Briefe bemerkt, daß ich Veranlassung haben würde später über diesen Einwurf zu sprechen.19 „Die Sänger“ sagen Sie, „sind trocken und monoton dargestellt, und wenn dies etwa geschehen ist um das Interesse auf Tannhäuser zu concentriren, so verräth das eben eine Schwäche des Productionsvermögens.“20 Ich zweifle nicht, daß eine große Anzahl Opernmacher die Gelegenheit des Sängerkampfes ergriffen hätte, um jeden der einzelnen Sänger mit einem langen und „charakteristischen“ horsd’oeuvre auftreten zu lassen. Wagner hat dieser Versuchung glücklich widerstanden und nicht als Zweck behandelt, was blos Mittel ist. Die Pointe des Sängerkampfes besteht in dem Momente wo der Tannhäuser das Geheimniß seines Aufenthaltes im Venusberge verräth; um dieses Momentes willen ist der Sängerkampf eingeführt, nicht aber der Charakteristik der einzelnen Sänger wegen, welche für das Drama kein Interesse als Individuen haben, sondern blos in ihrer Gesammtheit als Gegensätzliches zum Tannhäuser, als welches Sie auch von Elisabeth stets behandelt werden, welche ihrer nie einzeln und namentlich, sondern nur im Ganzen und zusammenhaft als der „Sänger“ gedenkt. –
14 (Lat.) Sei gegrüßt-Ausspruch. 15 Jahn 1853 Tannhäuser, Oper von Wagner, S. 335: „Der Mangel an Zusammenhang bei der Aufeinanderfolge von Accorden, die nicht zu einander passen, wird ungleich härter auch von einem weniger gebildeten Ohr vernommen, und gar Vielen wird es beim Anhören Wagner’scher Musik peinlich gewesen sein, daß, wie Jemand sich treffend äußerte, immer nur zwei, selten auch nur drei Accorde zusammenhängen.“ 16 (Lat.) kühn verleumden, es bleibt immer etwas hängen. 17 Jahn 1853 Tannhäuser, Oper von Wagner, S. 335: „Die Charakteristik im Großen hat natürlich unter dieser Einzelmalerei gelitten, und eine durchgeführte Charakterzeichnung der einzelnen Individuen ist darüber nicht zu Stande gekommen. Als Beispiel mag Frau Venus dienen.“ 18 Ebd., S. 331: „Daß sie für Tannhäuser eine persönliche Liebe empfindet, daß diese auf seine Dichtergaben gegründet ist, daß sie aus Zorn und Trauer über sein Weggehen dem Menschengeschlecht Haß schwört, das Alles ist gegen das Wesen der Frau Venus, welche die ewig gleiche, stets reizende und bezaubernde ist, die nur verführt, um zu verführen, – wie es auch dem Teufel nur ums Holen zu thun ist, ohne daß er für das Individuum ein besonderes Interesse hätte.“ 19 Raff 1853 Vertrauliche Briefe, S. 182. 20 Jahn 1853 Tannhäuser, Oper von Wagner, S. 336.
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Sie begehen nunmehr einen Act liebenswürdiger Bescheidenheit indem Sie sagen, „daß der Tannhäuser nicht bestehe, wenn man an ihn den Maßstab anlege, an dem man große Künstler und wahre Kunstwerke messen, und welchen Wagner selbst angelegt wissen wolle.“21 Ich weiß nicht, wo Wagner von diesem Maßstabe spricht. Sie wissen es auch nicht. Was ist [249] nun dies für ein Maßstab? Sie hätten es sagen sollen. Sie schweigen aber davon. – Sie sagen weiter, daß Wagner kein Urtheil über seine Bestrebungen habe, und geben nicht undeutlich zu verstehen, daß Sie so ziemlich die einzig wahre Autorität seien, in Sachen zu entscheiden. – Alsdann sprechen Sie von der Ouvertüre in der Absicht zu behaupten, daß Wagner kein Instrumentalcomponist sei. Dies letztere weiß ich nicht, das aber weiß ich, daß wirkungsvolleres und wohlgeformteres an Ouvertüren in neuerer Zeit wenig geboten worden ist, als die Tannhäuserouvertüre, und da dies Werk in Deutschland demnächst den bei weitem größten Theil der öffentlichen Meinung für sich hat22, so kann man über Ihre Behauptung um so eher hinwegsehen, als Sie eben nicht gerade im Falle sind aus dem durch und durch sterilen Boden Ihrer „Principien“ den Keim für bessere Schöpfungen ersprießen zu machen. Sie ziehen gegen den Contrapunkt Wagner’s zu Felde. „Wagner ist ein schlechter Contrapunktist“23 meinen Sie. Es ließe sich ziemlich viel über diesen Gegenstand sagen. Ich selbst bin nicht erbaut von der contrapunktischen Technik in den Wagner’schen Werken, wenn auch aus ganz andern Gründen als Sie, dem ein paar ganz untergeordnete Details Anlaß zum Tadel geben konnten, über welche ich mich gar nicht aufhalten möchte in Betracht, daß sich leicht eine schwerere Beschuldigung gegen Wagner erheben ließe, wenn man schon einmal verlangte, daß im Tannhäuser eine vollendete Application historisch-contrapunktistischer Schreibart hätte gemacht werden sollen. Dies letztere ist nicht zu verlangen und wenn man auch beklagen muß einen Theil der musikalischen Technik fortwährend vernachlässigt zu sehen, welcher eine Menge der reinsten und schönsten Effectmittel bietet, so ist es doch unbillig Wagnern schärfer zu tadeln, als man dies bei Rossini oder Weber thun würden, welche jedenfalls und erweislich schwächere Contrapunktisten waren als Wagner. Sie verbreiten sich nunmehr über das Einzelne des Werkes mit Bezugnahme auf seine Erscheinung auf der Leipziger Bühne.24 Sie machen bei dieser Gelegenheit einige desperate Versuche witzig zu sein, was Ihnen aber nicht gelingt, weil zum Witze eine Art der Geistesthätigkeit gehört, deren Sie nicht fähig zu sein scheinen. Sie üben das, was nach Ihren Begriffen Witz sein soll, an dem Umstande, daß Wagner beim Erscheinen des Hirtenknaben25 fernes Kuhglockengeläute erklingen
21 Ebd.: „Wenn man an den Tannhäuser, wie im Obigen geschehen ist, den Maßstab anlegt, den Wagner selbst gebraucht wissen will, mit dem man große Künstler und wahre Kunstwerke mißt, so kann derselbe, wie wir sahen, nicht bestehen.“ 22 Ausführliche positive Besprechungen der Tannhäuser-Ouvertüre finden sich etwa bei Uhlig 1851 Die Ouvertüre zu Tannhäuser; Bischoff 1852 Wagner’s Ouvertüre zum Tannhäuser. 23 Jahn 1853 Tannhäuser, Oper von Wagner, S. 337: „Daß Wagner in der Handhabung der musikalischen Technik, namentlich der contrapunktischen, sich nicht gewandt zeigt, sieht jeder Musiker leicht ein.“ 24 Wagners Tannhäuser wurde in Leipzig erstmals am 31. Januar 1853 aufgeführt, gefolgt von 21 weiteren Vorstellungen im selben Jahr (vgl. Kirchmeyer 1993 Robert Schumanns Düsseldorfer Brahms-Aufsatz, S. 87). 25 Wagner, Tannhäuser 1. Aufzug, 3. Szene.
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läßt.26 Kann man aus Ihrer Darstellung eine Spur von Wahrheit abnehmen, so darf Ihr Tadel weniger der Vorschrift Wagners als ihrer Ausführung gelten. Aber dadurch daß Sie Ihr Papier aus großer Vorliebe für das liebe Vieh mit Kuhglocken-Reminis cenzen anfüllten, verloren Sie den nöthigen Raum, den Sie zur mindestens flüchtigen Erwähnung hinlänglich auffälliger, wesentlicher Schönheiten des Werkes hätten verwenden können. (Uebrigens liegt darin für Operncomponisten, welche das Wohlwollen unseres Neunergrenzboten ambitioniren, ein nicht zu mißkennender Wink, welche Eindrücke auf das sensorium commune27 dieses „Kritikers“ die stärksten, nachhaltigsten und mithin dankbarsten sind.) Unter andern Pröbchen seinen [sic] Urtheils gewahrt man auch, daß Ihnen das Duett im zweiten Acte28 „trivial“29, – das Liebeslied des Tannhäuser30 als „ächter Meyerbeer“31, – das Lied an den Abendstern32 „Proch’sch“33, die Scene zwischen Tannhäuser, Wolfram und Venus34 analog dem Schlusse von „Robert der Teufel“ vorkommen.35 Sie finden es mährchenhaft, daß Wolfram im Freien die Harfe bei sich hat, während es heutzutage noch manchenorts üblich ist eine Cither, Laute, Mandoline, Guitarre od. dgl. mitzunehmen. Sie reiben sich an der Erscheinung des Abendsterns am Bühnenhimmel,36 für welche Wagner gar nicht verantwortlich sein kann, da in seinem Buche gar nichts darüber angedeutet ist. Sie schließen endlich mit einer Parallele zwischen Meyerbeer
1853 Tannhäuser, Oper von Wagner, S. 338 f.: „Noch nicht zufrieden damit, läßt Wagner, um die Natur noch natürlicher zu machen, zu diesem Lied fortwährend hinter der Scene mit Kuh glocken klingeln. Das ist ein Einfall, um den ihn Meyerbeer beneiden wird: Sopransolo mit Kuhglocken! Was ist Bratsche oder Bassetthorn gegen Kuhglocken! Man erwartet nun, daß die Kühe, nachdem sie sich so lange hinter der Scene bemerkbar gemacht haben, auch wirklich auf der Bühne erscheinen, statt dessen aber kündigt ferner Gesang die herannahenden Pilger an.“ 27 (Lat.) gemeinsames Empfindungsorgan, Seele. 28 Wagner, Tannhäuser, 2. Aufzug, 2. Szene, „Gepriesen sei die Stunde“. 29 Jahn 1853 Tannhäuser, Oper von Wagner, S. 340: „Das Duett mit Tannhäuser ist ganz ohne Inhalt und der Form nach mit seinen banalen Terzenfiguren und den kümmerlichen Imitationsansätzen so trivial, daß man sich doch wundern muß, wie Wagner dies Musikstück seine eigene Kritik hat passiren lassen können.“ 30 Wagner, Tannhäuser, 2. Aufzug, 4. Szene, „Dir, Göttin der Liebe, soll mein Lied ertönen!“ 31 Jahn 1853 Tannhäuser, Oper von Wagner, S. 338: „Tannhäuser’s Lied in drei Strophen ist in Anlage und Behandlung echter Meyerbeer“. 32 Wagner, Tannhäuser, 3. Aufzug, 2. Szene, „O du, mein holder Abendstern“. 33 Jahn 1853 Tannhäuser, Oper von Wagner, S. 341: „[D]as Gedicht ist schwach und die Composition mit obligatem Violoncell so trivial sentimental, daß man sie ohne Bedenken Proch zuschreiben könnte.“ Heinrich Proch (1809 –1878) war ein österreichischer Violinist und Komponist, der vor allem Lieder und Kammermusik schrieb und von 1840 bis 1870 als erster Kapellmeister am Kärntnertortheater wirkte. 34 Wagner, Tannhäuser, 3. Aufzug, 3. Szene, „Willkommen, ungetreuer Mann!“ 35 Jahn 1853 Tannhäuser, Oper von Wagner, S. 341: „Endlich ruft er [Tannhäuser] Frau Venus, sie erscheint, aber nur nebelhaft hinter einem Flor, und indem sie ihn zu sich ruft, Wolfram ihn warnend zurückhält, bildet sich eine dem Schluß von Robert dem Teufel analoge Scene, die allerdings musikalisch sehr verschieden, aber nicht sehr wirksam behandelt ist.“ 36 Ebd.: „Daß aber zu diesem Liede an den Abendstern der obligate Abendstern, natürlich solo, am Theaterhimmel erscheinen muß, das ist eine Plattitude, die man dem Geschmack Wagner’s nicht zutrauen sollte.“ 26 Jahn
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und Wagner, welche allerdings zu Gunsten des Letztern ausfällt,37 und sprechen dann ein großes Wort gelassen aus, nämlich daß aus den Elementen welche Sie für diejenigen des Wagner’schen Kunstschaffens ausgeben möchten, [„]kein Kunstwerk zu gestalten sei, was den Anforderungen auch nur der Gegenwart genüge.“38 Ich glaub’ es Ihnen, denn aus diesen Elementen kann man nicht einmal Stoff zu einem mittelmäßigen Artikel für die Grenzboten zusammen bekommen. – Daß ich den in meinem Gegenwärtigen beregten Theil Ihres Aufsatzes ernsthaft nehme, kann Niemand verlangen; es ist anzunehmen, daß Sie selbst bei besserer Erkenntniß den bei weitem größten Theil dieses Artikels desavouiren. – Ich schließe hiermit meine Briefe an Sie ab. Ihnen selbst habe ich nur Weniges noch zu sagen. Sie haben sich unterstanden in einem bekannten Blatte über einen Künstler und ein Kunstwerk nach flüchtigster Kenntnißnahme von beiden in einer apodictischen und leidenschaftlichen Weise abzuurtheilen: schon dies verdiente Entgegnung. Aber Sie haben mehr gethan. Sie haben über Dinge gesprochen und sehr unbescheiden gesprochen, in welchen Sie die gröbste Unwissenheit bekunden; das verdiente Zurechtweisung; Sie haben ihren Lesern wissentlich oder unwissentlich eine beträchtliche Anzahl Unwahrheiten aufbinden wollen: dies verdiente Züchtigung. – Als Sie ihren Aufsatz der Redaction zum Abdruck übergaben, waren Sie ohne Zweifel Ihrer Incompetenz nicht minder bewußt, [250] als Ihrer guten (–) Absicht und kannten die volle Verantwortlichkeit, welche Sie durch ein Attentat auf die Kunstkritik, wie das corpus delicti in Nr. 9 der Grenzboten ausweist, auf sich und die Re daction luden, beruhigten sich aber wohl mit der Hoffnung, man würde selbes ungerügt vor sich gehen lassen. Diese Tollkühnheit ist in einer Zeit übel angebracht, wo die Künstler, einer miserablen Afterkritik von ungewaschenen Händen müde, selbst ihr ehrliches, offenes Wort zu ihrem guten Rechte in die Wagschale legen. Es ist eine noch allzuwohl erinnerliche Thatsache, wie dem Genius Beethovens durch eine „Kritik“ nicht viel besserer Art als die Ihrige der Hemmschutz, der sein Vorschreiten in die Erkenntniß und Anerkennung des Jahrhunderts hindern sollte, systematisch geschmiedet wurde. Die Anforderungen an die jüngere Künstlerschaft steigen täglich. Jede bedeutende Persönlichkeit und Leistung hat von Haus aus Decennien lang für ihre öffentliche Existenz zu kämpfen. Bringt eine solide, positive Kritik das Publikum in seiner Erkenntniß und den Künstler selbst in seinem Schaffen vorwärts, so wirkt dagegen die rein negative Kritik nach allen Seiten lähmend, Misstrauen erweckend, ertödtend. Zur letztern Art gehört Ihr Artikel, und seine Wirkung wäre eine schädliche gewesen, wenn Ihr Können Ihrem guten Willen gleich käme. – Diese Art von Kritik sorgfältig zu controliren ist die Schuldigkeit der jüngeren Künstlerschaft. Sie
37 Ebd., S. 342: „Ohne alle Frage hat Wagner mehr Sinn für das Poetische und mehr Feinheit des Geschmacks als Meyerbeer, er wählt daher seine Stoffe besser und die einzelnen Effecte, die bei jenem wie aufgenagelt auf eine gleichgiltige Unterlage erscheinen, weiß er geschickter aus seinem Stoffe herzuleiten; auch in der Instrumentation ist er ihm dadurch überlegen, daß er kühner und freier in’s Volle greift und nicht so gar ängstlich wie Meyerbeer mosaicirt.“ 38 Ebd.: „Aber alles dieses, und was man hier noch Verwandtes hervorheben möchte, sind doch nur Verschiedenheiten dem Grade nach, und geben wir bereitwillig zu, daß im Einzelnen in drastischer Charakteristik Vieles gewagt und Einiges gelungen sei, so ist aus diesen Elementen nimmermehr ein Kunstwerk zu gestalten, das den Anforderungen auch nur der Gegenwart genüge.“
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ehrt dadurch gleichmäßig die öffentliche Meinung, von der sie unwürdige und falsche Ansichten lernt, wie die Kunst, die ihr mehr am Herzen liegt, als daß Ihr Tempel jedem müßigen soi-disant39 Schöngeist als Arena für seine rohen Gladiatoren-Exercizien preisgeben werden dürfte. – Ich hätte noch Einiges über Ihre derzeitige Anonymität zu sagen, will es mir aber auf eine andere Gelegenheit ersparen. Somit zeichne ich denn ohne Weiteres mit etc. Weimar, Anfangs März 1853. Joachim Raff.
Kommentar Nach seinem „Brief an die Redaction“40 war dies der zweite Artikel, mit dem Raff in der NZfM publizistisch in Erscheinung trat. Darin entgegnet er in polemischer Weise einem Verriss von Wagners Tannhäuser, den der Musikhistoriker Otto Jahn anlässlich der ersten drei Leipziger Aufführungen im Januar und Februar 1853 anonym in den sonst vornehmlich Politik und Literatur gewidmeten, wöchentlich erscheinenden Grenzboten veröffentlicht hatte.41 Insgesamt handelt es sich um eine Artikelserie von fünf Briefen, die sich von März bis Juni 1853 über acht Nummern der NZfM erstreckten. Nur der letzte, hier abgedruckte Brief geht auf die Musik des Tannhäusers ein, während die ersten vier sich allgemein mit der Problematik des Dichter-Komponisten Wagner42 und mit der Schlüssigkeit der Handlung des Werkes43 auseinandersetzen. So führt Raff darin u. a. aus, dass Wagner mit seinem Kunstwerk genau das proklamiere, was bereits den großen deutschen Dichtern vorgeschwebt habe. So habe bereits Lessing geschrieben, dass die Trennung von Poesie und Musik unnatürlich sei,44 Goethe die griechischen Sagen für einen besonders geeigneten Stoff erklärt45 sowie Schiller „die symbolische Verdichtung, beziehungsweise Vereinfachung und Verstärkung der Handlungsmomente“ gefordert.46 Des Weiteren geht Raff auf konkrete Einwände von Jahn im Hinblick auf das Libretto des Tannhäusers ein, etwa inwieweit bestimmte Verhaltensweisen der Protagonisten nachvollziehbar seien. Stellenweise hinterfragt Raff dabei jedes Wort des Grenzboten-Rezensenten und wirft ihm mehrfach vor, Wagner bewusst misszuverstehen.
39 (Frz.) sogenannt, angeblich. 40 Raff 1853a An die Redaction, in: NdS 1 Nr. 41. 41 Jahn 1853 Tannhäuser, Oper von Wagner. Der Artikel wurde von Jahn später zusammen mit seinem Aufsatz zu Wagners Lohengrin aus dem Jahre 1854 (Jahn 1854 Lohengrin, Oper von Richard Wagner) in seine 1866 erschienenen Gesammelten Aufsätze über Musik übernommen, wodurch auch die Frage der Autorschaft der Aufsätze eindeutig beantwortet werden kann. 42 Raff 1853 Vertrauliche Briefe, S. 113 f., S. 136 –140, S. 148 –150, S. 192 –195. 43 Ebd., S. 159 –161, S. 172 –175, S. 180 –182. 44 Ebd., S. 136. 45 Ebd., S. 138. 46 Ebd., S. 138 f.
484
Nr. 45 (1853)
Die Grenzboten reagierten ihrerseits bereits während des Erscheinens der Artikelserie von Raff mit einer Entgegnung.47 Neben einigen Zitaten, die den polemischen Tonfall Raffs anprangern, heißt es darin: „Die Pöbelhaftigkeit eines solchen Ton’s ist in der N. Z. f. Musik nichts Neues; neu ist aber, daß der Verfasser seinen Namen unterzeichnet.“48 Auf diese Vorwürfe ging Raff wiederum in einer Nachschrift zu seinem vierten Brief ein.49 Allerdings positionierten sich die Grenzboten keineswegs generell gegen den Tannhäuser. In zeitlicher Nähe zur Kritik Jahns findet sich etwa auch eine sehr positive Rezension50 einer Leipziger Tannhäuser-Aufführung, die mit den Worten beginnt: „Dieses musikalische Drama hat, wie überall, wo es nach den Intentionen des Autors einstudirt und in Scene gesetzt wurde, auch in Leipzig großen Erfolg gehabt. Und in der That enthält dieses Bühnenwerk eine Reihenfolge von poetisch empfundenen und geistvoll für die Bühne arrangirten Situationen, wie sie kaum wirksamer gedacht werden können.“51 Insgesamt markiert der Grad an Polemik, mit der Raff in dem hier kommentierten Artikel gegen die Aussagen Jahns musikpublizistisch ins Feld zieht, nicht nur die Intensität der zu dieser Zeit um die Werke und Schriften Wagners entbrannte Kontroverse, die den engen ßKreis der Musikzeitschriften mehr und mehr hinter sich ließ; zugleich ist der Aufsatz auch ein Beispiel für das damalige Selbstverständnis Raffs als Publizist und Komponist innerhalb des Kreises der Weimarer Musikliteraten um Franz Liszt. So hatte dieser in einem Brief an Theodor Kullak,52 der offenbar Kritik am polemischen Stil Raffs geäußert hatte, bereits am 15. Mai 1853 geschrieben: „Lieber Freund! Dass die derbe, schwäbische Manier womit ich – gewißen Federlaßens nachgerade müde – gegen alles Laxe, Laue, Unbestimmte, Philiströse, Bequeme, Hartnäckige, Böswillige usw. in die Schranken trete, sehr vielen Leuten unangenehm seyn muß und wird, bezweifle ich keinen Augenblick. Ich habe mich lang genug gesträubt einen Weg zu betreten, den zu gehen für mich selbst mehr als eine Unannehmlichkeit mit sich bringt, vor dem ich mich aber nicht mehr scheue, seitdem ich eingesehen habe, daß die Gebrechen unserer Zeit durch Nichts anderes mehr zu heilen sind, als durch Schnitt und Brand. Sie selbst, lieber Freund, gehören zu den Leuten, die sich eine gute, reine Gesinnung bewahrt haben, aber Sie lieben den Frieden vielleicht so sehr, daß Sie sich scheuen würden den Krieg zu wählen, so lange Sie die Ruhe durch Duldung dieses oder jenes Unrechts, namentlich wenn Sie es blos für Sich zu acceptiren haben sollten, erkaufen möchten. Ich bin in anderem Falle; und könnte ich mich auch noch zu einer Nachsicht in der Gegenwart entschließen, so muß ich täglich an die Zukunft denken, der ich stehlen würde, was ich der Gegenwart schenkte. Ich muß es schon bei meiner Weise bewenden laßen: d. h. ich will das Gute und Wahre suchen mit allen Kräften u. ausdauerndem Willen, und trachten so viel zu leisten, daß man mir nicht wohl an den Leib kommen kann; dagegen aber will ich jeder Misere mit
1853 Polemik der Neuen Zeitschrift für Musik. 48 Ebd., S. 160. 49 Raff 1853 Vertrauliche Briefe, S. 195 f. 50 Anonym 1853 Theater. 51 Ebd., S. 277. 52 Theodor Kullak (1818 –1882), deutscher Pianist, Klavierlehrer und Komponist, der 1850 zusammen mit Adolf Bernhard Marx und Julius Stern in Berlin das „Sternsche Konservatorium“ gegründet hatte und als bedeutendster Klavierpädagoge der Stadt galt. 47 Anonym
Raff 1853 Vertrauliche Briefe
485
verdientem Todtschlag entgegenkommen. Laßen Sie mich einmal im Vereine mit einigen Kameraden 10 Jahre lang auf diese Weise probiren. Wir werden ja sehen.“53 Dass es Raff bei seiner Erwiderung auf den Grenzboten-Artikel aber keineswegs nur um eine Verteidigung Wagners, sondern auch um seine eigene Zukunft als Komponist deutscher Opern ging, belegt ein weiterer Brief vom 5. Februar 1852. Darin heißt es: „Die Zukunft des deutschen Drama’s gehört zu jenen ‚brennenden‘ Fragen, deren Erörterung demnächst soweit in den Vordergrund getreten seyn wird, daß ich es für am Platze halte, mich thätig dabey zu betheiligen. Wenn ich mich deßen nach lange enthalte, zieht es sich doch spätestens bis zum Drucke des ‚Samson‘54 hin, wo ich dann nicht mehr würde schweigen können wenn ich auch wollte“55. Die mit seinen Aufsätzen verbundene Hoffnung Raffs, die Grenzboten würden nun „keine größeren Aufsätze über Musik mehr drucken, sondern […] sich darauf ein[schränken], von Zeit zu Zeit einen hämischen Seitenhieb auf uns zu führen“.56 erfüllte sich jedoch nicht, wie ein ebenso umfangreicher und in gleicher Stoßrichtung zielender Aufsatz Jahns aus dem Jahre 1854 über Wagners Lohengrin belegt.57 Dass in diesem Fall eine Reaktion Raffs ausblieb, dürfte auch mit der Veröffentlichung seiner Wagnerfrage58 im gleichen Jahr zusammenhängen. Die darin enthaltene Kritik Raffs an der in seinen Augen mangelhaften Kontrapunktik Wagners, findet sich schon in dem hier kommentierten Aufsatz und beweist zusammen mit den zuvor geäußerten Einwänden gegen das Konzept des „Gesamtkunstwerks“ die bei aller wiederholt demonstrierten Einheit vorhandene Pluralität und Differenzen in künstlerischen Fragen innerhalb des Lagers der ‚Zukunftsmusiker‘, welche spätestens nach 1861, im Falle Raffs bereits ab 1854, zu einem Auseinanderdriften der Protagonisten führen sollten.59 Im Kontext der hier dargestellten Kontroverse innerhalb der Musikzeitschriften ist die von 1851 bis 1854 in scharfem Ton geführte Auseinandersetzung der NZfM und den Grenz-
53 Joachim
Raff an Theodor Kullak, Weimar, den 15. Mai 1853, (Quelle: Autograph, Bayerische Staats- und Landesbibliothek, Handschriftensammlung. Raffiana II, bislang nicht katalogisierte Briefe, unpaginiert, 3 S., hier: S. 1 f.). In einem späteren Brief an Doris Genast heißt es bei Raff zu seinem polemischen Stil: „Man erwartet von mir daß ich direct und ruhig dem Gegner entgegengehe, mich ihm am hellen Tage vis à vis stelle und ihm mit einer Bleikeule den Schädel einschlage.“ Joachim Raff, Brief vom 19. bis 23. November 1853 an Doris Genast (Quelle: Autograph, Bayerische Staats- und Landesbibliothek. Handschriftensammlung. Raffiana II, bislang nicht katalogisierte Briefe, unpaginiert, 2 S., hier: S. 2). 54 Joachim Raff, Samson WoO 21 (EZ 1853 –1857). Raff, der das Libretto seiner „heroischen Oper in fünf Akten“ selbst in den Jahren 1851 und 1852 verfasst hatte, unterzog das Werk in den Jahren 1865 einer Revision, die jedoch wie die erste Fassung ebenfalls nicht zur Aufführung gelangte. 55 Quelle: Autograph, Bayerische Staats- und Landesbibliothek. Handschriftensammlung. Raffiana II, bislang nicht katalogisierte Briefe, unpaginiert, 10 S., hier: S. 8. 56 Joachim Raff, Brief an Doris Genast, Weimar vom 12. bis 16. Juli 1853 (Quelle: Autograph, Bayerische Staatsbibliothek, Handschriftenabteilung. Raffiana II, bislang nicht katalogisierte Briefe, unpaginiert, 12 S., hier: S. 2). 57 Jahn 1854 Lohengrin, Oper von Richard Wagner. 58 Die Veröffentlichung der 1854 erschienenen Wagnerfrage Raffs führte zum Bruch mit Wagner und zu einer deutlichen Abkühlung im Verhältnis zu Liszt, da Raff darin Wagners Lohengrin in mehrfacher Hinsicht kritisiert und dem Komponisten aufgrund vor allem der Stimmführung in den Chören sowie rhythmischer Monotonie musikalischen Dilettantismus vorgeworfen hatte. Siehe hierzu auch Koßmaly 1855 Die Wagnerfrage von Joachim Raff. 59 Vgl. hierzu Ortuño-Stühring 2014 Liszt’s „Heirs“.
Nr. 45 (1853)
486
boten auch ein Beispiel für die paradoxe Haltung Brendels und seiner Mitstreiter, welche zwar einerseits wiederholt für eine Ausweitung der Debatte um eine ‚fortschrittliche‘ Musik plädierten und dies mit der Gründung der Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft im Jahre 1856 auch nochmals unterstrichen, andererseits aber Wortmeldungen in Tageszeitungen oder nicht-musikalischen Journalen als dilettantisch abqualifizierten60 – wohl, um auf diesem Wege nicht die Deutungshoheit innerhalb des Diskurses über die von ihnen propagierte Musik einzubüßen.
Übersicht über die Kontroverse zwischen der NZfM und den Grenzboten in den Jahren 1851 bis 1854 Autor
Titel
Datum
Zeitschrift
Anonym [August
„Richard Wagner“
2. Quartal 1851
Die Grenzboten 10
Ferdinand Riccius]
(1851), [Nr. 24], S. 401–420. (10. und 17. Oktober)
NZfM 18 (1851),
B w.
„Entgegnung auf die in
[Hans von Bülow]
Nr. 24 der Grenzboten
Bd. 35, Nr. 15,
erschienene Beurtheilung
S. 153–155; Nr. 16,
Richard Wagner’s“
S. 165–168.
Anonym [August
„Musikalischer Dilettantis-
Ferdinand Riccius]
mus“
4. Quartal 1851
Die Grenzboten 10 (1851), [Nr. 47], S. 298–303.
Franz Brendel
„Polemisches. Erwiderung
12. Dezember 1851
NZfM 18 (1851),
auf einen Artikel in Nr. 47
Bd. 35, Nr. 24,
(Jahrgang 1851) der
S. 253–258.
‚Grenzboten‘“ Anonym
„Das Verhältnis der Oper
[Julian Schmidt?]:
zum Drama“
1. Quartal 1852
Die Grenzboten 11 (1852), [Nr. 3], S. 81–94.
1. Quartal 1852
Die Grenzboten 11
Anonym
„Drei Operndichtungen
[Julian Schmidt?]
nebst einer Mittheilung an
(1852), [Nr. 6],
seine Freunde, von Richard
S. 236–239.
Wagner“
etwa Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik, in: NdS 1 Nr. 62; D. v. K. 1857 Ueber musikalische Tageskritik. 60 Siehe
Raff 1853 Vertrauliche Briefe
487
Autor
Titel
Datum
Zeitschrift
Anonym
„Theater“
1. Quartal 1853
Die Grenzboten 12 (1853), [Nr. 7], S. 277–279.
Anonym
„Tannhäuser von Wagner“
1. Quartal 1853
[Otto Jahn]
Die Grenzboten 12 (1853), [Nr. 9], S. 327–342.
Joachim Raff
„Vertrauliche Briefe an den
11. und
NZfM 20 (1853),
Verfasser des Aufsatzes
25. März, 1., 8., 15.,
Bd. 38, Nr. 11, S. 113 f.;
‚Tannhäuser von Richard
22. und 29. April,
Nr. 13, S. 136–140;
Wagner‘ in den ‚Grenz-
3. Juni 1853
Nr. 14, S 148–150;
boten‘. Nr. 9, Jahrgang
Nr. 15, S. 159–161;
1853“
Nr. 16, S. 172–175; Nr. 17, S. 180–182; Nr. 18, S. 192–196; Nr. 23, S. 247–250.
Anonym
„Polemik der Neuen
2. Quartal 1853
Zeitschrift für Musik“ Anonym
„Neueste musikalische
Die Grenzboten 12 (1853), [Nr. 17], S. 160.
1. Quartal 1854
Literatur“
Die Grenzboten 13 (1854), [Nr. 2], S. 60–63.
Anonym
„Lohengrin, Oper von
[Otto Jahn]
Richard Wagner“
1. Quartal 1854
Die Grenzboten 13 (1854), [Nr. 3], S. 81–100; [Nr. 4], S. 121–139.
Anonym61
„Die Grenzboten als
24. Februar 1854
Neueste Zeitschrift für
NZfM 21 (1854), Bd. 40, Nr. 9, S. 85–92.
Musik. Eine psychologische Studie“ Anonym
„Noch einmal Wagner“
1. Quartal 1854
Die Grenzboten 13 (1854), [Nr. 9], S. 334–341.
61 Peter
Jost vermutet Hans von Bülow und Joachim Raff als Autoren dieses Artikels (vgl. Jost 2002 Karl Ritter, S. 190, Anm. 32).
Nr. 46 | Hoplit [Richard Pohl], „Ein Blick nach dem ‚fernen Westen‘. Offenes Sendschreiben an Mr. J. S. Dwight, Herausgeber und Eigenthümer des ‚Journal of Music, a Paper of Art and Literature‘ in Boston“, in: NZfM 20 (1853), Bd. 38, Nr. 25 (17. Juni), S. 269 – 273.
Ein Blick nach dem „fernen Westen“. Offenes Sendschreiben an Mr. J. S. Dwight, Herausgeber und Eigenthümer des „Journal of Music, a Paper of Art and Literature“ in Boston.
Durch den Redacteur1 der „Neuen Zeitschrift für Musik“, die Ihnen, geehrter Herr, sehr wohl bekannt ist, wurden dem Unterzeichneten vor Kurzem die ersten Nummern (April und Mai d. J.) des Vol. III. Ihres „Journal of Music“2 mit der Aufforderung zugesandt, dieselben ausführlich in der „Neuen Zeitschrift“ zu besprechen, und überhaupt Ihrem „Journal“, welches unser allseitiges Interesse erregt hat, fortdauernd besondere Aufmerksamkeit zu widmen. Ich habe diesen Auftrag mit lebhafter Freude begrüßt und werde mich dieser Arbeit mit Eifer widmen. Da ich bis jetzt noch keine Gelegenheit gefunden hatte, Ihr im vorigen Jahre gegründetes „Journal“3 näher kennen zu lernen, so war ich auf das Angenehmste überrascht, in Ihnen, geehrter Herr, dem Gründer dieses Unternehmens, einen Mann kennen zu lernen, welcher seine allgemeine Aufgabe nicht nur mit Ernst erfaßt hat und mit Umsicht und Kenntniß durchführt, sondern auch die entschiedene Stellung, welche ein „Journal of Art“ in der Gegenwart einnehmen muß – um mit Schärfe und überzeugender Kraft den reactionären Bestrebungen der Stillstandspartei entgegen treten zu können, vollkommen erkennt und mit Consequenz behauptet. Die Vereinigten Staaten, und vor Allem Boston, haben schon Manchen unserer musikalischen Freunde auf eine Weise empfangen und ausgezeichnet, welche diesem Lande nicht minder, als den Künstlern zum Ruhme gereicht, denen diese Ehre zu Theil ward. Wenn wir auch von den glänzenden Erfolgen Einzelner (wir erinnern
Brendel. 2 Dwight’s Journal 2 (1853/1854), Bd. 3, Nr. 1– 8. 3 Dwight’s Journal of Music erschien ab April 1852 wöchentlich in Boston. Herausgeber war der amerikanische Musikschriftsteller und Verleger John Sullivan Dwight (1813 –1893). Das bis 1881 erscheinende und bis zuletzt von Dwight geleitete Blatt war das einflussreichste Musikjournal der USA im 19. Jahrhundert. 1 Franz
Pohl 1853 Ein Blick nach dem „fernen Westen“
489
hier beispielsweise an Otto Goldschmidt4, A. Jaell5 und O. Dresel6) bereits früher unterrichtet wurden, so waren wir doch über die Ursachen dieser Erfolge nicht immer im Klaren. Wir gestehen Ihnen offen, daß man in Deutschland von der musikalischen Bildung der Nord-Amerikaner im Allgemeinen keinen sehr hohen Begriff hat, und daß über die Motive, welche in den Vereinigten Staaten einen künstlerischen Erfolg sichern, noch sehr schwankende Urtheile herrschen. Daran mag theilweise die zweifelhafte Haltung Schuld sein, welche namentlich New-York bescheidenen deutschen Künstlern ohne großen Ruf gegenüber behauptete; ferner das Benehmen Barnum’s7 und ähnlicher Speculanten; endlich [270] der „Humbug“ welcher unläugbar in NordAmerika mit höchst zweideutigen Talenten, wie Lola Montez8, etc. getrieben wird. Wir sind daher Ihnen, geehrter Herr, sehr verpflichtet, daß Sie uns durch Ihr „Journal“ eines Besseren überzeugt haben, indem Sie durch dasselbe uns einen richtigeren Einblick in die nord-amerikanischen Musikzustände gestatteten und unsere Ansicht über den Kern der dortigen künstlerischen Bestrebungen wesentlich läuterten. Wir sehen mit Freude die Entwickelung eines regen musikalischen Lebens auf bester Grundlage und das Verfolgen einer ernsten künstlerischen Richtung, deren Concentration und Ausgangspunkt wir in Boston finden, welchem hierin vor New-York, der Allerweltsstadt, entschieden der Vorrang gebührt. Wir verhehlen Ihnen nicht, daß diesem Gefühle allgemeiner Anerkennung sich das Gefühl vaterländischen Stolzes beimischt, im „fernen Westen“ einen bedeutenden Centralpunkt für heimathliche, uns heilige Klänge, für deutschen Sinn und deutsche Kunst gefunden zu haben! – Ich werde, sobald ich vermag, meine ausführlicheren Gedanken darüber in einem Artikel niederlegen, welcher speciell auf Ihr geehrtes Blatt Rücksicht nehmen, und daran anknüpfend, sich über die Stellung verbreiten soll, welche die Vereinigten Staaten in musikalischer Beziehung Deutschland gegenüber jetzt einnehmen und in Zukunft einnehmen werden.9
4 Otto
Goldschmidt (1829 –1907), Dirigent und Komponist, war Kompositionsschüler von Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig und siedelte 1848 nach Paris über. Mit seiner späteren Frau, der Sängerin Jenny Lind (1820 –1887), unternahm er 1851 eine Konzertreise durch die Vereinigten Staaten. 5 Alfred Jaëll (1832 –1882), Pianist, studierte bei Carl Czerny und reiste als Virtuose durch ganz Europa sowie 1851 in die USA, bevor er 1856 Königlicher Hofpianist in Hannover wurde. 6 Otto Dresel (1826 –1890), Pianist und Komponist, studierte bei Mendelssohn Bartholdy und Moritz Hauptmann in Leipzig und emigrierte 1848 in die USA, wo er sich 1852 in Boston niederließ. 7 Phineas Taylor Barnum (1810 –1891), amerikanischer Schausteller, organisierte neben seiner Tätigkeit als Zirkusunternehmer und Leiter des American Museum in New York 1851/1852 eine USA-Tournee der Sängerin Jenny Lind, die nicht zuletzt dank seiner Werbekampagnen innerhalb weniger Wochen zu einem nationalen Ereignis wurde. Vgl. hierzu Ware/Lockard 1980 Barnum presents Jenny Lind. 8 Maria Dolores Gilbert (1818 –1861), auch bekannt als Lola Montez oder Gräfin von Landsfeld, war eine irische Tänzerin. Ihr Verhältnis mit dem bayerischen König Ludwig I. trug zur Abdankung des Königs in der Märzrevolution 1848 bei. Ab 1852 reiste sie durch Nordamerika und spielte u. a. in eigens dafür verfassten Stücken ihre Erlebnisse in Bayern nach, in welchen sie sich als vom Volk gefeierte Befreierin des Landes darstellte, vgl. Seymour 1996 Lola Montez. A Life, S. 283 – 309. 9 Ein Artikel Pohls hierzu findet sich erst im Jahre 1859 (siehe Pohl 1859 Der musikalische Fortschritt jenseit des Oceans, in: NdS 3 Nr. 125).
490
Nr. 46 (1853)
Es drängt mich aber schon jetzt, – nach vollendeter Lecture der mir übersandten Nummern Ihres „Journal’s“ – hervorzuheben, daß die lebendige Thatkraft, welche sich in der „neuen Welt“ allenthalben kund giebt, auch die musikalischen Bestrebungen dieses Landes bereits beseelt und zu heben beginnt, so daß in Angelegenheiten der Kunst, wie in so vielem Anderen, das bei uns vielfach noch unterschätzte Amerika dem noch immer überschätzten Old-England mit seinen starren Formen nicht nur den Rang streitig macht, sondern das Mutterland sogar theilweise überholt hat. Dies gilt allerdings bis jetzt mehr in Bezug auf die künstlerischen Intentionen und kritischen Urtheile so unabhängiger und freidenkender Blätter, wie das Ihrige – als in Hinblick auf die praktische Ausführung dieser höheren Intentionen. Doch, wenn man ein erhabenes Ziel einmal fest in’s Auge gefaßt hat und consequent verfolgt, zwingt man zuletzt auch die widerstrebenden Verhältnisse, uns zu dienen. Die Mittel zur Erreichung eines guten Zweckes bieten sich endlich von selbst dar, weil die vorgefaßten Meinungen und vorgefundenen Umstände auf die Dauer nicht maßgebend sein können, sondern umgekehrt die einseitigen Zwecke sich dem höheren Zwecke beugen und anschließen müssen, um nicht durch die zwingende Macht der Idee vernichtet zu werden. Die überraschende Entwickelung des musikalischen Lebens in Boston bietet hierfür den besten Beweis. Ihre Revue vom 30sten April d. J., über die „Werke bedeutender Componisten, welche in Boston während des letztverflossenen Winters zur Aufführung gelangten“10 giebt wahrhaft erstaunenswerthe Resultate. In dieser Rundschau glänzen oben an sämmtliche Symphonien Beethoven’s, von denen jede, mit Ausnahme der ersten (und schwächsten) zwei oder drei Mal zur Aufführung gelangte. Boston darf sich rühmen, Beethoven’s 9te Symphonie in einem Winter zwei Mal aufgeführt zu haben!11 Schon durch diese eine Thatsache erhebt sich Boston zu einem musikalischen Range, den ihm weder Old-England, noch viele deutsche, hochgerühmte Kapellen streitig machen werden. Fügen wir ferner hinzu, daß Mendelssohn durch sämmtliche vier Symphonien und sechs Ouvertüren; Franz Schubert durch seine C-Dur Symphonie; Gade durch die C-Moll-Symphonie12; Schumann durch die B-Dur-Symphonie13 u. s. f. in einer Saison vertreten waren; daß die Kammermusik fünfzehn Compositionen Beethoven’s; zehn Compositionen Mendelssohn’s; das Clarinett-Quintett14 C. M. v. Weber’s;
1853 Works of Great Composers. In der Auflistung finden sich die Komponisten Ludwig van Beethoven, Wolfgang Amadeus Mozart, Joseph Haydn, Georg Friedrich Händel, Johann Sebastian Bach, Louis Spohr, Johann Nepomuk Hummel, Felix Mendelssohn Bartholdy, Carl Maria von Weber, Luigi Cherubini, Christoph Willibald Gluck, Ignaz Moscheles, Franz Schubert, Niels Wilhelm Gade, Robert Schumann, Robert Franz, Frédéric Chopin, Henry Litolff, William Sterndale Bennett und George Onslow. Ausführende Ensembles waren insbesondere „The Germanians“, „Musical Fund“ sowie „Mendelssohn Club“ (siehe Anm. 20, 21 und 25). 11 Das Werk wurde in Boston erstmals am 5. Februar 1853 sowie am 2. April durch die dortige Handel and Haydn Society zusammen mit der Germania Musical Society aufgeführt. 12 Niels Wilhelm Gade, Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 5 (ED 1843). 13 Robert Schumann, Symphonie Nr. 1 Frühlingssymphonie B-Dur op. 38 (UA 1841). 14 Carl Maria von Weber, Klarinettenquintett B-Dur op. 34 (ED 1816). 10 Anonym
Pohl 1853 Ein Blick nach dem „fernen Westen“
491
das Es-Dur-Trio15 Franz Schubert’s; Schumann’s Quintett16 und Variationen17 für zwei Pianoforte u. s. f. zu Gehör brachte; daß endlich in Boston sogar Lieder von Schumann und Robert Franz wiederholt erklangen, ganz abgesehen von den Oratorien, Symphonien, Ouvertüren, etc. eines Bach, Gluck, Cherubini, Händel, Haydn, Mozart, Spohr, u. s. f. – so wird man unsere Hochachtung vor einer solchen Stadt und unsere Freude und Theilnahme an so gediegenen Kunstbestrebungen vollkommen gerechtfertigt finden. Es würde unmöglich sein, die angeführten Werke, sowie Bach’s Triple-Concert18 und Fugen, Chopin’s E-Moll-Concert19 und Aehnliches zur wiederholten Aufführung, d. h. zur Geltung zu bringen, wenn nicht ein gleich reger Sinn für den Ernst der altklassischen Musik, wie für den Phantasie-Reichthum der neuromantischen Schule20 mit ihren Consequenzen – die auf eine bedeutende Zukunft hinweisen, indem sie darauf vorbereiten – in Boston bereits vorhanden wäre, so daß die Kräfte nur zu wecken waren, denen bis dahin lediglich der Raum zu ihrer Entfaltung mangelte. So allein ist es erklärlich, wie in Boston in kurzer Zeit so bedeutende musikalische Vereinigungen und Gesellschaften entstehen konnten, wie: der „Mendelssohn Club“21 (für Kammermusik), die „Musical Fund Society“22 und die „Serenade Band“23 (für Orchester-Werke), die „Handel and Haydn Society“24 und die „Musical Education Society“25 (für Oratorien älterer und neuerer [271] Schule) und die Germanians26 (welche u. A. die Beethoven’sche 9te Symphonie zuerst nach
15 Franz
Schubert, Klaviertrio Es-Dur D 929 (ED 1828). 16 Schumann, Klavierquintett Es-Dur op. 44 (ED 1843). 17 Schumann, Andante und Variationen B-Dur op. 46 für 2 Klaviere (ED 1844). 18 Johann Sebastian Bach, Konzert für Traversflöte, Violine und Cembalo („Tripelkonzert“) a-Moll BWV 1044. 19 Frédéric Chopin, Klavierkonzert Nr. 1 e-Moll op. 11 (ED 1833). 20 Zu diesem Terminus vgl. Dahlhaus 1973 Art. „Neuromantik“. 21 Der Bostoner Mendelssohn Quintette Club bestand von 1849 bis ca. 1895 und war zu dieser Zeit ein in den USA weithin bekanntes Kammermusikensemble. 22 Hiermit könnte sowohl die Musical Fund Society of Philadelphia als auch die Boston Musical Fund Society gemeint. sein. Die 1820 gegründete Musical Fund Society of Philadelphia ist die älteste bis heute fortbestehende Musikgesellschaft in den USA. Die Gesellschaft baute 1824 eine Konzerthalle in Philadelphia, in der u. a. Konzerte des Chors und Orchesters der Gesellschaft veranstaltet wurden. Die Boston Musical Fund Society existierte lediglich von 1839 bis 1847. Vgl. hierzu Spitzer 2012 Nineteenth-Century American Orchestras. 23 Die Germania Serenade Band stand unter der Trägerschaft der Musical Fund Society of Philadelphia und ging aus Musikern des Orchesters der Gesellschaft hervor. Dwight’s Journal berichtete anlässlich der ersten Konzerte der Germania Serenade Band 1852, dass das Orchester sich aus 26 vor allem deutschen Instrumentalisten zusammensetze (Anonym 1852 Musical Intelligence; Anonym 1852 Summer afternoon concerts). 24 Die 1815 als Oratorien-Gesellschaft gegründete und bis heute bestehende Handel and Haydn Society umfasste sowohl einen Chor als auch ein Orchester. 25 Die Boston Musical Education Society, ein Ensemble für Vokalmusik, wurde 1837 ins Leben gerufen und zählte im Jahr 1849 mehr als 80 Mitglieder. 26 Die Germania Musical Society existierte von 1848 bis 1854 und unterhielt ein Orchester mit ca. 23 deutschen Musikern, die in die USA emigriert waren und vor allem Tourneen durch den Osten des Landes unternahmen, vgl. hierzu Newman 2010 The Germania Musical Society in Nineteenth-Century America.
492
Nr. 46 (1853)
Amerika verpflanzten)27 – Vereine, von denen man behaupten muß, daß ihr Entstehen, aber noch viel mehr ihr Fortbestehen, kein zufälliges oder durch Speculation hervorgerufenes sein kann, sondern daß das Bedürfnis sie erweckte. Die Probe für alle derartige Vereine ist eine dreifache: ihre quantitative, ihre qualitative Thätigkeit und der Erfolg, welcher in der Theilnahme des Publikums begründet ist und die Dauer solcher Unternehmungen in letzter Instanz zu bestimmen pflegt. Nach allen diesen Seiten hin hat sich die Bostoner musikalische Thätigkeit schon so vollkommen erprobt, daß wir ungescheut aussprechen können, daß manche deutsche Residenz (exempla sunt odiosa28) welche auf ihre Musik sehr stolz ist, sich die Bostoner systematischen Kunstbestrebungen zum Muster nehmen sollte, anstatt in dem einseitigen Vorurtheil noch immer befangen zu bleiben: „daß Amerika in künstlerischer Beziehung weder Ernst noch Streben beurkunde, sondern das Land des musikalischen Charlatanismus und Humbug sei und bleibe!“29 – Wir haben bei unserer fragmentarischen Revue der Bostoner Concertprogramme absichtlich den Nachdruck auf die moderne Kunst von Beethoven bis Schumann gelegt, obgleich die älteren Kunstrichtungen von Bach und Händel bis Spohr und Weber nicht minder reich vertreten sind. Wir haben das einestheils gethan, um zu zeigen, daß Boston mit der Zeit weiter fortgeschritten ist, als selbst deutsche Symphonie-Soiréen vom neuesten Datum! Wir haben es anderntheils gethan, um hieran den Unterschied zu zeigen, der zwischen Old-England und der neuen Welt sich schlagend herausstellt. England, mit einziger Ausnahme der New-Philharmonic-Society30 in London, sucht eine Ehre darin, nicht vorwärts zu gehen. Es blickt mit Indignation auf Alles, was nach Beethoven erschienen ist und nicht Mendelssohn heißt; es verfolgt namentlich Schumann und Wagner mit Spott, wo es nur immer kann.31 Dagegen ist es dort Modesache, alljährlich sämmtliche Händel’sche Oratorien abzusingen, für
27 Die
Aussage Pohls bezieht sich wohl auf Boston (siehe Anm. 11). Tatsächlich fand die amerikanische Erstaufführung der 9. Symphonie Beethovens in New York am 20. Mai 1846 mit der Philharmonic Society unter der Leitung von Ureli Corelli Hill statt. Dwight war eigens für dieses Ereignis nach New York gereist, um dort im Vorfeld der Aufführung durch musikgeschichtliche Vorträge das Verständnis des Publikums für das Werk zu vertiefen (vgl. hierzu Frishberg Saloman 1995 Beethoven’s Symphonies and J. S. Dwight, S. 140 –171). 28 (Lat.) Beispiele sind verhasst. 29 Dieses Zitat ist offensichtlich als Paraphrase einer allgemein verbreiteten Ansicht von Pohl frei erdacht. Mit „Humbug“ verweist Pohl sicherlich erneut auf den amerikanischen Schausteller Phineas Taylor Barnum (siehe Anm. 7), der sich selbst als „Prince of Humbugs“ bezeichnete (vgl. etwa den Titel seiner 1855 veröffentlichten Autobiographie Barnum, the Yankee Showman, and the Prince of Humbugs). Die Formulierung „Streben beurkunde[n]“ könnte ferner eine Anspielung auf die amerikanische Unabhängigkeitserklärung von 1776 sein, in der das „Streben nach Glück“ („pursuit of Happiness“) beurkundet wurde. 30 Die Royal Philharmonic Society wurde 1813 mit dem Ziel gegründet, regelmäßig öffentliche Konzerte in London zu veranstalten. Die 1852 erfolgte Gründung der sogenannten New Philharmonic Society diente dem Ziel, sich von den meist auf das klassisch-romantische Repertoire beschränkten Konzertprogrammen der alsbald mit dem Beinamen „Old“ versehenen Schwestergesellschaft abzuheben. 31 Siehe etwa Chorley 1852b Notes on Music in Germany; Anonym 1853 A Specimen of London Criticism; Chorley 1853 Schumann and Wagner, in: NdS 1 Nr. 40. Vgl. hierzu Sessa 1979 Wagner and the English sowie Ortuño-Stühring 2014 „Lost in translation“.
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Bach’sche Fugen zu schwärmen, Haydn und Mozart als Gipfelpunkt der Orchestermusik zu betrachten und Beethoven, Mendelssohn und Spohr nur darum gelten zu lassen, weil man sie eben nicht ignoriren kann, und seine Natur zwingen muß, auch solche Kompositionen als „very fine pieces“ zu erklären. Altklassische Werke zu cultiviren ist ganz achtungswerth, wenn das bei den Engländern nicht einestheils nur Modesache anstatt Ueberzeugung wäre; wenn anderntheils nicht äußerst wenig Verstand dazu gehörte, das „beautiful“ zu finden, was die ganze Welt dafür längst erklärt hat; und wenn es den sehr ehrenwerthen „Gentlemen“ nicht gar zu oft passirte, daß sie sich in ihren Urtheilen kolossal verschnappten, und z. B. Czerny, Auber und Halevy in gleiche Kategorie mit Beethoven, Mendelssohn und Spohr stellten, und dergl. mehr. Je vorzüglicher die Kräfte sind, welche aus der ganzen civilisirten Welt in London zur „Season“ zusammenströmen, um – Geld zu machen, je bedeutender die Concentration musikalischer Massen in London ist, desto unverantwortlicher ist die Stabilität (um nicht zu sagen Stupidität), welche England hartnäckig den modernen Fortschritten Deutschlands, d. h. des Landes gegenüber behauptet, dem England fast seine ganze musikalische Bildung und Anregung, seine besten Kräfte, seine schönsten Kunstgenüsse und Concert-Programme, fast ausschließlich zu verdanken hat. Die englische Kritik namentlich benimmt sich den Kunstbewegungen Deutschlands gegenüber in einer solchen Weise (die Sie, geehrter Herr, in einer scharfen Entgegnung auf das unsinnige Urtheil der „Musical World“, über „Young Germany“,32 höchst nachsichtig nur ein „demolishing criticism“ nennen33), daß wir daraus unmittelbar erkennen, von welcher bedauernswürdigen, einseitigen und schließlich geschmackverderbenden Art die Zukunft der englischen Musik sein wird, welche ihren Stolz darein setzt, auf dem Rückschritt zu basiren.34 Ist es aber bereits so weit gekommen, daß Ihr Bostoner „Journal“ gegen die englische Kritik in „Musical World“, „Illustrated News“35, etc. für Schumann und Wagner in die Schranken tritt, und mit einer Ueberzeugung für diese Geister kämpft, welche uns die höchste Achtung für Sie einflößt – so bedarf es kaum mehr der Erwähnung,
32 Siehe Chorley 1852 Schumann and Wagner. Chorley hatte dort Liszt, Wagner und Schumann in abfälliger Weise unter diesem Begriff zusammengefasst. Der Terminus „Young Germany“ erscheint bei Chorley jedoch bereits 1850 in einem Aufsatz im Athenæum (Chorley 1850 Music at Weimar, in: NdS 1 Nr. 23) und bezeichnet dort den Weimarer Musikerkreis um Franz Liszt. 33 Anonym 1853 A Specimen of London Criticism. Der Artikel beginnt mit den Worten: „The editorials in the leading musical Journal in England, called the Musical World, are often delightfully original; but we have seen nothing in its columns lately that came quite up to the following demolishing criticism upon Schumann and ‚Young Germany‘“ (ebd., S. 14). 34 Zu dieser Zeit dominierten zwei Akteure die englische Musikkritik: Henry Fothergill Chorley (1808 –1872), der in den Jahren 1830 bis 1868 als leitender Musikkritiker des Londoner Athenæum wirkte, und James William Davison (1813 –1885), der sowohl von 1846 bis 1878 als Musikkritiker der zu dieser Zeit meistgelesenen Londoner Tageszeitung The Times als auch in den Jahren 1844 bis 1885 als Herausgeber und Chefredakteur der Musical World fungierte. Beide standen insbesondere der Musik Wagners und Schumanns ablehnend gegenüber. Vgl. hierzu insgesamt Ortuño-Stühring 2014 „Lost in Translation“. 35 The Illustrated London News war ein seit 1842 wöchentlich erscheinendes Magazin, welches aufgrund seiner Illustrationen eine der meistgelesenen Zeitungen war und Mitte der 1850er Jahre eine Auflage von ca. 200 000 Exemplaren aufwies.
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daß die Verehrung, welche in Boston den Heroen einer vergangenen Zeit geweiht ist, keine Nachbeterei des englischen „Cultus“, sondern eine aus eigener Ueberzeugung hervorgegangene ist und durch die Aufmerksamkeit, welche man der neuesten deutschen Kunstperiode widmet, bereits so balancirt wird, daß eine gleichzeitige Durchbildung nach allen Kunstrichtungen hin erstrebt und erreicht werden muß. Wo man solche Früchte sieht, da muß man ein fröhliches und treugemeintes „Glückauf!“ der lebensfrischen neuen Welt zurufen und mit Freuden einen Mann im Geiste begrüßen, welcher der geographischen Lage nach unser Antipode, dem Streben nach aber unser Bundesgenosse ist. Die Sympathien der Kunstverwandten stehen höher als die der Stammverwandten, denn sie sind geistigerer Art. Und der wahre Kosmopolitismus herrscht im Reiche des Idealen! [272] Sie werden meine Freude, – welche der gleich kommt, die ein Reisender haben mag, wenn er „im fernen Westen“ ein neues fruchtbares Land oder eine reiche Goldgrube entdeckt – erst begreifen, wenn ich Ihnen die Consequenzen meiner Entdeckung verrathe, die, wie mir dünkt, weder unlogisch noch phantastisch zu nennen sind. Sie verfolgen bereits die Werke unseres Robert Schumann mit lebhaftem Interesse, Sie vertheidigen dieselben sogar mit Wärme und Ueberzeugung, seitdem Sie Gelegenheit hatten, Einzelne seiner Meisterwerke aus eigener Anschauung kennen zu lernen.36 Dieses Interesse muß sich steigern, und kann nicht mehr verschwinden, sobald Sie erst Schumann’s übrige Kunstwerke: seine 2te und 3te Symphonie, seine Ouvertüren zu Genoveva37 und Manfred38, sein herrliches Pianoforte-Quartett39 und erstes Trio40, seine Streichquartette und seine ewig junge Peri41 kennen gelernt haben. Auf der anderen Seite widmen Sie Berlioz eine fortwährende Aufmerksamkeit in Ihrem Blatte. Sie bringen größere Artikel über ihn, geben Uebersetzungen aus seinen Werken, etc.42 Endlich haben Sie Beethoven’s Symphonie mit Chören, jene wirkungsreiche Vermittlerin zwischen Sonst und Jetzt, zwischen Diesseits und Jenseits der einseitigen Kunst, wiederholt mit Freude begrüßt und bereits in sich verarbeitet. Alle die Elemente, welche gerade dazu berufen sind, auf die Wagner’sche Kunst vorzubereiten und diese mit der Gegenwart zu vermitteln, haben Sie mithin schon mehr oder weniger in sich aufgenommen, und darum sehe ich im Geiste schon die Brücke über den Ocean geschlagen, welche, wenn auch erst nach Jahrzehnten, die Wagner’schen Kunstwerke in das Land der Freiheit führen wird! – England, Italien, und wohl auch Frankreich wird erst spät oder nie der Boden sein, auf welchen Wagner’s Werke heimisch werden und Früchte tragen. Italien hat
36 Bis
zu diesem Zeitpunkt waren in Boston Schumanns Symphonie Nr. 1 B-Dur op. 38 Frühlingssymphonie (15. Januar 1853), das Klavierquintett Es-Dur op. 44 (7. Januar 1853) sowie u. a. Andante und Variationen B-Dur op. 46 für 2 Klaviere (28. März 1853) erstaufgeführt worden. 37 Schumann, Ouvertüre zu Genoveva (UA 1850). 38 Schumann, Ouvertüre zu Manfred op. 115 (UA 1852). 39 Schumann, Klavierquartett Es-Dur op. 47 (ED 1845). 40 Schumann, Klaviertrio Nr. 1 d-Moll op. 63 (ED 1848). 41 Schumann, Das Paradies und die Peri op. 50 (UA 1843). 42 Siehe etwa Anonym 1852 Berlioz’s Opera: „Benvenuto Cellini“; Anonym 1853a Hector Berlioz; Anonym 1853b Hector Berlioz.
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für immer ausgelebt, es liegt zu tief darnieder, um sich je wieder erheben zu können; es theilt das Schicksal des edlen Griechenland. England war nie die rechte Heimath der Musik, und die wenigen Ausnahmen, die man aufzählen könnte, blieben ohne Früchte im eigenen Lande. Frankreich ist zu frivol geworden und wird von politischen Stürmen zu sehr zerrissen, um sich in der Idee einer höheren Kunst concentriren zu können. Dagegen gewinne ich mehr und mehr die Ueberzeugung, daß Wagner, der Mann der freien Kunst und der Mann der Zukunft, in dem Lande der Freiheit und Zukunft einst neu erstehen und eine bleibende Stätte finden wird, trotz aller Anfeindungen, die ihm jenseit des Oceans so wenig fehlen werden, als sie auf unserem Continent noch immer an der Tages-Ordnung sind und dem reichbegabten Schöpfergeist sein eigenes Vaterland leider auf immer verleiteten. Diese Ansicht mußte sich befestigen, seitdem Ihr „Journal“ mir zur Evidenz bewies, welche wirksamen Elemente in Nord-Amerika bereits gähren, sich durch allen „Humbug“, durch alle Speculationswuth und absichtliche Irreführung des Geschmackes hindurch arbeiten und fest zu gestalten suchen. Aber noch ein höherer Gesichtspunkt führt zu gleichem Schluß. – Seitdem wir eine Geschichte haben, zieht der Entwickelungsgang der Menschheit von Osten nach Westen, vom Aufgang zum Niedergang. Das ferne Asien war die Wiege der Menschheit, wie die der Kunst; das ferne Amerika ist das Ziel der neuesten Völkerwanderung, wie Europa das Ziel der früheren Völker-Stürme. Wenn auch das alte Europa bis jetzt seine Idealität für sich behielt und die neue Welt nur als Ziel der Realität, in Handel, Gewerbe und Politik, betrachtete, so verpflanzt sich doch Kunst und Wissenschaft, in oft unscheinbaren, aber lebensfrischen Keimen, zuerst unmerklich, aber immer weiter und weiter. In der Wissenschaft nimmt bereits Amerika eine ehrenvolle Stellung ein, und die Kunst wird und muß nachfolgen. Europa hat eine Kunstgeschichte von mehr Jahrhunderten, als Amerika eine selbstständige Existenz von eben so viel Jahrzehnten zählt. Und doch entwickelt sich Amerika so staunenerregend schnell, weil die vollendete Civilisation den Opfern und dem Ausschuß der Uebercivilisation auf dem Fuße nachfolgt. Auch in der Kunst, wie in der Politik, machten die Proletarier, die Virtuosen der Arme und Beine, den ersten Ausflug nach Amerika und ließen den Kopf da, wo sie ihn verloren hatten, in Europa, welches, der Ueberzahl müde, seine Kunstproletarier als erste Colonisten in alle Winde verstreute. Noch sind es erst wenige Jahre, daß Deutschland des Virtuosenthum’s vom leeren Klingklang satt wurde, und jener Schmarotzerpflanzen sich entledigte, die sich auf einem Boden auszubreiten wagten, den ein Gluck, Mozart und Beethoven für immer erobert zu haben glaubten. Kaum, daß diese alten Sünden (erst theilweise) abgeschüttelt sind, sollten sie auch schon vergessen sein? Das alte bethörte Europa wollte dem jungen unerfahrenen Amerika vorwerfen, daß es die Geister des Nichts, die es an seiner Brust erst großgezogen hatte, ebenso aufnimmt, als das Mutterland; zum Theil durch einen falschen Glanz verführt, der ihnen von Europa voranging? Das wäre eine Inconsequenz und Selbstüberhebung, deren sich wohl gedankenlose Nachbeter, aber keine selbstdenkenden Menschen schuldig machen dürfen! [273] Amerika bedarf kaum ein Jahrzehent zu einer Umwandlung, zu welcher im abgelebten Europa ein Menschenalter gehört. Wir werden uns vielleicht in
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kürzerer Zeit, als wir selbst glauben, „dort drüben“ wieder begegnen, um bei der ersten Aufführung von Wagner’s Tannhäuser in Boston mit neu befestigter Ueberzeugung dem Lande der Zukunft zuzurufen: Westwärts zieht die Kunstgeschichte! Dresden, 1ster Juni 1853. Hoplit.
Kommentar Bei diesem Artikel des unter seinem Pseudonym Hoplit schreibenden Richard Pohl handelt es sich um eine erste Würdigung des musikalischen Lebens in Nordamerika durch die NZfM, welches dort bis zu diesem Zeitpunkt vornehmlich in Rubriken wie „Kleine Zeitung“ oder „Tagesgeschichte“, etwa anlässlich der Konzerte von deutschen Künstlern wie Henriette Sontag,43 Erwähnung fand. Im Mittelpunkt des Artikels stehen die Rezeption der „neuesten deutschen Kunstperiode“44 in der Musik am Beispiel Bostons sowie die Bemühungen um diese in der dort ansässigen Musikzeitschrift Dwight’s Journal of Music, die durch die Ausführungen Pohls als ‚Schwesterorgan‘ der NZfM vereinnahmt wird. Gleichzeitig spiegelt der Text die Eigensicht der ‚Fortschrittspartei‘ um 1853 wider, wenn Pohl etwa erfreut konstatiert, dass in Boston neben Beethovens 9. Symphonie die Werke Schumanns und Berlioz’ gespielt werden, wodurch letztlich der Musik Wagners der Weg bereitet werde. Hieraus lässt sich der Anspruch auf eine internationale Bedeutung Wagners ersehen, den der Kreis um Brendel erhob. An Nordamerika knüpfte Pohl dabei offensichtlich besondere Hoffnungen, wenn er etwa äußerte, dass Dwight’s Journal helfe, „den reactionären Bestrebungen der Stillstandspartei“ in „Old-England“ „entgegen [zu] treten“.45 Den historischen Hintergrund dieser mehrfach im Text anzutreffenden Gegenüberstellung Englands und den USA bildete einerseits die ultrakonservative britische Musikkritik, welche insbesondere Schumann, Liszt und Wagner geradezu feindlich gegenüberstand; andererseits aber das damalige Amerika-Bild, welches die noch junge Nation – vor allem in den Augen der durch die Ereignisse der Restaurationszeit nach 1849 enttäuschten Liberalen und Demokraten, zu denen auch Pohl zählte46 – zum regelrechten Fortschritts- und Freiheits- Utopia stilisierte.47
beispielsweise Anonym 1852 Tagesgeschichte, S. 112. 44 Vorliegender Artikel, S. 494 [271]. 45 Ebd., S. 488 [269]. Pohl hatte zu dieser Zeit auf die reaktionäre englische Musikkritik aufmerksam gemacht und Ausschnitte aus dortigen Kritiken in deutscher Übersetzung in der NZfM abgedruckt (siehe etwa Pohl 1853 Klindworth und die englische Kritik). 46 Pohl war aufgrund seiner aktiven Beteiligung an der Revolution während seiner Karlsruher Studienzeit im Jahre 1852 eine Professur in Graz verweigert worden, vgl. hierzu Hartlaub-Pohl 1967 Richard Pohl. 47 Vgl. hierzu Betz 2007 Schumann in Amerika. 43 Siehe
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Diese Vorstellung eines nahezu unbestellten Bodens verband sich zu dieser Zeit vermehrt mit einer ‚jungdeutschen‘ Zivilisationskritik, wie sie etwa auch in Wagners Kunstwerk der Zukunft begegnet, und führte zu der wiederholt vorgebrachten Argumentation, die Kanonisierung der Wiener Klassiker Haydn, Mozart und Beethoven verstelle in Europa zurzeit noch den offenen Blick für die nicht-klassizistischen musikalischen Werke der Gegenwart.48 Dementsprechend konnte Pohl das in den Artikeln des Dwight’s Journal zu findende Eintreten für die Werke Berlioz’, Schumanns und Wagners einerseits als Beleg für die Lebensfähigkeit und Internationalität der von ihr propagierten ‚Zukunftsmusik‘ dienen sowie andererseits die These erhärten, dass es tatsächlich die ‚Geschichtslosigkeit‘ der USA und ihres Kulturlebens sei, die eine vermeintlich vorbehaltlose Rezeption einer ‚neuen‘ Musik erst ermögliche; jene Voraussetzung also, die deren Einzug in das Repertoire zu dieser Zeit in Deutschland und vor allem Großbritannien noch behindere. Der Artikel Pohls wurde in englischer Übersetzung sechs Wochen später auch in Dwight’s Journal abgedruckt.49 In der dort vorangestellten Einleitung bedankte sich der Herausgeber John Sullivan Dwight für die große Anerkennung, die den Bestrebungen seiner Zeitschrift durch den offenen Brief Pohls zuteilwurde, da von amerikanischer Warte aus das musikalische Leben jenseits des Ozeans vom ‚alten Europa‘ bislang kaum wahrgenommen worden sei. Während in diesem Antwortbrief noch ein großer Enthusiasmus gegenüber den Ausführungen Pohls erkennbar ist, wie etwa in dem regelrechten Kampfspruch „O for long life on this earth, or in conscious communication with it, that we may hear and hail the Music of the Future!“50, zeigt sich bereits wenig später eine distanziertere Haltung gegenüber dieser Vereinnahmung vonseiten der NZfM. So sprach sich Dwight am 21. Januar 1854 für eine sachlichere Auseinandersetzung mit der deutschen „New School“ in den USA aus, deren Werke erst unvoreingenommen geprüft werden sollten, ohne einseitig Partei für diese zu ergreifen51 – eine Haltung, die sich auch sechs Jahre später in einem weiteren offenen Briefwechsel zwischen Pohl und Dwight findet.52
48 Dieses
Argument findet sich etwa in einem anonymen Bericht über die Münchener Erstaufführung des Tannhäuser im August 1855: „Auch hier bestätigte sich die anderwärts gemachte Erfahrung, daß die von den ‚Musikern‘ als ‚Laien‘ bezeichneten es sind, denen die große Wahrheit und innere Berechtigung der Wagner’schen Principien zuerst zugänglich werden, und daß gerade sie so glücklich sind die unendlichen Schönheiten dieser Musik zu verstehen, während die Orthodoxen sich verdrossen in den dunkeln Wald ihrer Erinnerungen zurückziehen […]“ (Anonym 1855 Münchner Briefe. II., S. 104). 49 Redaktion 1853 A Greeting from Germany. Ermöglicht wurde diese rasche internationale wechselseitige Wahrnehmung zwischen den USA und Deutschland vor allem durch das Wirken solch ambitionierter Verleger wie Julius Schuberth, der seit 1850 eine New Yorker Filiale seines Leipziger Unternehmens unterhielt, welche die schnelle Verbreitung sowohl deutscher Musikzeitschriften als auch von Partituren überhaupt erst ermöglichte. 50 Redaktion 1853 A Greeting from Germany, S. 133. In seiner Einleitung des Artikels liefert Dwight zudem eine sehr prägnante Beschreibung der ‚Fortschrittspartei‘: „This ‘New Journal for Music’ is the paper founded several years ago by Robert Schumann; and, although it is strongly identified with the new movements in the musical world of to-day, – with what certain English critics sneeringly call ‘Young Germany,’ being a zealous exponent and defender of the artistic principles and efforts of Schumann, Wagner, Liszt at Weimar, Berlioz, &c., dating a new era of creative musical life from the ninth symphony of Beethoven“ (ebd., S. 132). 51 Siehe Dwight 1854 Our Wagnerism, in: NdS 1 Nr. 59. 52 Siehe Pohl 1859 Der musikalische Fortschritt jenseit des Oceans, in: NdS 3 Nr. 125 sowie Dwight 1859 What the Leipzig Journal thinks.
Nr. 47 | Anonym, „Kunst und Kunststil“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 1 (1853), Nr. 9 (27. August), S. 65 – 68; Nr. 10 (3. September), S. 73 – 75.
Kunst und Kunststil.
Wenn man sich in einem dunkelen Walde durch dichtes Gestrüpp und wirre Schlingpflanzen mühsam hindurch gearbeitet hat und endlich auf eine klare, lichte Stelle hinaustritt, wo duftender Rasen zur Ruhe einladet und das Blau des Himmels hereinleuchtet, so athmet man auf in einem Gefühle von Genügen und Befriedigung, das um so tiefer empfunden wird, je mehr es uns überrascht. So erging es uns, als wir nach mancher trostlosen Wanderung durch die verwilderten oder krankhaften Producte der heutigen Kunst-Philosophie auf ein kleines Büchlein stiessen, aus welchem überall Gesundheit, Ordnung, Licht und Leben uns anspricht. Wir meinen die Schrift: Kunst und Kunststil. Mit einem Sendschreiben an W. von Kaulbach. Von Adolph Helfferich1. Berlin, T. C. F. Enslin, 1853. XX u. 117 S. in 8. Das Sendschreiben an Kaulbach2, das eine scharfe Kritik der Richtung dieses Künstlers und seines Stils, oder vielmehr seiner Stillosigkeit, in einer kurzen Besprechung seiner letzten grossen Gemälde: „Thurmbau zu Babel“3, „Zerstörung Jerusalems“4 und „Die Blüthe Griechenlands“5, enthält, geht uns zwar als Musiker nichts an; dennoch müssen wir auch hier schon so Manches auszeichnen, was für die musicalischen Kaulbachs der neueren Zeit seine Anwendung findet, wie z. B.
1 Adolf Helfferich (1813 –1894), Philosoph, war u. a. Professor an der Universität Berlin. Weitere Schriften von ihm sind etwa Spinoza und Leibniz (ED 1846), Engländer und Franzosen (ED 1852) und Der Organismus der Wissenschaft und die Philosophie der Geschichte (ED 1856). 2 Wilhelm von Kaulbach (1805 –1874), Illustrator und Maler, bayerischer Hofmaler zur Zeit Ludwigs I., zudem stand er der Akademie der Bildenden Künste München von 1849 bis zu seinem Tod als Direktor vor. 3 Der Turmbau zu Babel (auch: Die Zerstörung des Babylonischen Thurmbaus) ist das erste Hauptbild des kulturhistorischen Zyklus im Treppenhaus des Neuen Museums Berlin, wozu Kaulbach 1844 den ersten Entwurf einreichte; in den Jahren 1847 und 1848 wurde es auf die Mauer übertragen; zu den Gemälden wurde ein Programm gedruckt. 4 Die Zerstörung Jerusalems (auch: Die Zerstörung Jerusalems durch Titus) wurde 1841 von Ludwig I. in Auftrag gegeben; schon 1837 wurde ein Karton dazu begonnen, ein Jahr später eine Farbskizze angefertigt; die Ausführung des Monumentalgemäldes dauerte von 1842 bis 1854. Kaulbach ließ Erläuterungen zu den von ihm benutzten Bibelstellen drucken (vgl. Kiener 1999 Art. „Kaulbach, Wilhelm von“, S. 25). Die Darstellung wurde auch für das dritte der sechs Hauptbilder des kulturhistorischen Zyklus im Treppenhaus des Neuen Museums Berlin gewählt, wo es in der Zeit von 1847 bis 1865 auf die Wand übertragen wurde. 5 Die Blüte Griechenlands (auch: Homer und die Griechen) ist das zweite Hauptbild für das Berliner Treppenhaus; der erste Entwurf stammt aus dem Jahr 1849, der Karton ist vom Frühjahr 1852, in diesem bis zum folgenden Jahr wurde das Gemälde auf die Wand übertragen.
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den Satz, welcher der Kritik der Kaulbach’schen Zerfahrenheit zum Grunde liegt: „Die Motive als solche machen noch lange keine bedeutende Composition, sondern allein die Verwendung derselben in ihrem Verhältniss zu der darzustellenden GrundIdee.“6 Wiewohl Helfferich dies in Bezug auf die Compositionen der Malerei gedacht und geschrieben, so passt es doch eben so trefflich auf die Compositionen der Tonkunst. Der Hauptgedanke der Schrift ist der, dass dasjenige, was in einem Kunstwerke den Eindruck des Schönen in der Seele hervorbringt, der Stil sei. Ehe der Verfasser jedoch an die nähere Erörterung dessen, was Stil ist, herangeht, bespricht er auf eine treffliche Weise den Unterschied zwischen dem Urtheil in Sachen der Kunst und der Erkenntniss in Sachen der Wissenschaft, und weis’t nach, wie die Wissenschaft in dieser Beziehung in weit begünstigterer Lage ist, als die Kunst. „Die Lösung einer wissenschaftlichen Aufgabe, mag dieselbe auch auf verschiedene Weise in Angriff genommen werden, kann in ihrem Endergebniss nur Eine und dieselbe sein, wogegen ein künstlerischer Vorwurf, darin der Peripherie des Kreises ähnlich, vom Mittelpunkte aus in allen möglichen Richtungen mit demselben Anspruch auf Geltung sich ausführen lässt. Behaupten zu wollen, es gebe auf dem Gebiete der Kunst in letzter Instanz gleichfalls nur eine einzige absolute Lösung, hiesse das Grundwesen des artistischen Bildungstriebes nicht kennen und auf den Kopf stellen.“7 Freilich! das ist eine Wahrheit, die den Thoren, welche von der einzig möglichen Lösung der Aufgabe der gesammten Kunst durch das musicalische Drama der Zukunft sprechen, nicht laut genug gesagt werden kann, und wenn das nicht hilft, so muss man sie ihnen an den Kopf schleudern, damit eine Erschütterung desselben sie entweder ganz und gar verrückt mache oder heile. Hiernach schreitet der Verfasser bestimmter auf der Bahn zu seinem Ziele vorwärts. „Der Eindruck, den eine anerkannt schöne Erscheinung auf uns hervorbringt, ist nichts Anderes als ein gefördertes oder gesteigertes Lebensgefühl.“8 Schon Herder nannte gegen Kant das Schöne „einen Typus der lebendigen Bildungen in der Natur“9, – und Schiller sprach es geradezu aus: „Nicht die Gestalt als solche, sondern die lebendige Gestalt ist das Schöne.“10 Wie wahr sagt der Verfasser: „Es ist, als ob unsere gesammte Natur sich zu einer freieren Lebensentwicklung emporgehoben fühlte, als ob der Druck und die Beschränkung des gewöhnlichen Daseins von uns genommen wäre, wenn der Genuss eines gelungenen Kunstwerkes uns gestattet ist.“11 Natürlich ist
6 Hier paraphrasiert der Autor vermutlich folgende Passage Helfferichs: „Die Alten, in den besten Zeiten ihrer Kunstentwickelung, waren gewohnt, gerade nur so viele Motive für die Einheit des künstlerischen Gedankens in Anwendung zu bringen, als erforderlich waren, demselben ächtes Leben einzuhauchen. Wir Neueren dagegen huldigen dem Irrthum, durch Häufung der Motive könne man das Leben ersetzen, es genüge schon, vielerlei darzustellen, um ästhetisch richtig oder stylistisch darzustellen.“ (Helfferich 1853 Kunst und Kunststyl, S. 23). 7 Ebd., S. 6 f. 8 Ebd., S. 16 f. 9 Johann Gottfried Herder, Kalligone (ED 1800), 1. Teil, 6. Kapitel „Von einer Regel des Schönen“. 10 Friedrich von Schiller, Über die ästhetische Erziehung des Menschen in einer Reihe von Briefen, 15. Brief (ED 1795), in: Schiller-Werke 20, S. 355 – 360. 11 Helfferich 1853 Kunst und Kunststyl, S. 17.
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die gehobene geistige Lebens-Einheit gemeint, [66] für deren ideale Lebens-Functionen die Sinne nur die Vermittler sind. Ein gesteigertes Lebensgefühl kann aber nur die Wirkung der äusserlich dargestellten Lebens-Idee sein. Somit ist die erste und allgemeinste Definition des Stils gewonnen: „Der Kunststil ist dargestelltes Leben.“12 So steht denn der Künstler inmitten einer Unendlichkeit von Aufgaben; denn alles, was lebensfähig ist, kann von der Kunst dargestellt werden, und es kommt nicht auf das Was, sondern auf das Wie an. Die Kunstgeschichte beginnt erst da, wo der Künstler die Idee des Lebens in seine Gewalt bekommt. Aber eben so unterliegt es keinem Zweifel, dass der Verfall in der Kunst jedes Mal da seinen Anfang nimmt, wo das wirkliche Leben in ein gemachtes übergeht. Das Kunstwerk soll aber eine bestimmte Lebens-Idee darstellen; der einheitliche Gedanke desselben ist sein seelisches Princip. Der Stil bestimmt sich desshalb noch näher als „diejenige Kunst, welche das Leben aus seinem eigenen Grunde heraus schafft, oder, was dasselbe ist, als das seelenhafte Kunstwerk.“13 – „Stillos mag dagegen alles heissen, was durch den Aufwand äusserer Mittel den Mangel an innerem Lebensgrund zu verstecken sucht. In der Kunst ist der Reichste, wer mit den wenigsten Mitteln das Meiste, der Aermste, wer mit den meisten Mitteln das Wenigste leistet. – Es wird dem reinen Sinn ganz ängstlich zu Muthe, wenn er beim Ansehen eines Gemäldes oder beim Anhören eines Musikstückes bemerken muss, wie sauer es sich der Künstler werden liess, etwas Wirksames zu Stande zu bringen, wie er aus allen Quellen schöpfte, nur nicht aus dem Born ungetrübter Begeisterung, die sich selbst genügt, sich selbst Maass und Regel ist.“14 So spricht der Verfasser das aus, was auch wir seit Jahren in diesen Blättern unseren Lesern zum Bewusstsein über das Wesen der Kunst zu bringen streben. Eben so aus der Seele geschrieben ist das, was er über den Maass- und Formbegriff sagt. Ueber jenen enthält der Satz (sich anschliessend an Mozart’s Brief über sein Componiren15): „Die Motive fliegen dem echten Künstler von allen Seiten zu, aber mit sicherem Instinct weis’t er alle die zurück, die zu dem Ganzen nicht passen, die von dem ordnenden Maassbegriff nicht mit innerer Nothwendigkeit in den Organismus des Kunstwerks eingefügt werden können“16 – und in Bezug auf den letzteren (den Formzwang): „Nicht die abstracte Regel ist es, die im Lebendigen waltet, sondern die organische Form, welche in der Unterordnung des Theiles unter das Ganze die Zweckmässigkeit frei gewähren lässt“17 – diese Sätze, sagen wir, enthalten goldene Regeln für jeden Künstler und namentlich für den Componisten. Eben so ihre Anwendung im Folgenden auf Harmonie und Melodie, bei welcher mit Recht die kunstgerechte Regelmässigkeit der harmonischen
12 Ebd.,
S. 18. 13 Ebd., S. 23. 14 Ebd., S. 23 f. 15 Gemeint ist das 1815 von Friedrich Rochlitz in der AmZ veröffentlichte „Schreiben Mozarts an den Baron von…“, das sich als eine Fälschung herausgestellt hat (vgl. Konrad 1992 Mozarts Schaffensweise, S. 49 f.). Es ist im 19. Jahrhundert mehrfach wiederabgedruckt worden. Darin heißt es: „Wenn ich recht für mich bin und guter Dinge, etwa auf Reisen, im Wagen, oder nach guter Mahlzeit, beim Spazieren und in der Nacht, wenn ich nicht schlafen kann, da kommen mir die Gedanken stromweise und am besten. Woher und wie? das weiß ich nicht, und kann auch nichts dazu.“ (Anonym 1815 Schreiben Mozarts, Sp. 563). 16 Helfferich 1853 Kunst und Kunststyl, S. 26. 17 Ebd., S. 27.
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Ausarbeitung an und für sich und unabhängig von der Melodie als keinen rein ästhetischen Werth habend, als etwas nur Generalisirendes, die Melodie hingegen als dasjenige Element, welches das Individuelle und darum Lebendige in der Kunst vertritt, hingestellt wird. Wenn nun aber die einzige Aufgabe der Kunst ist, Leben darzustellen, so darf der Begriff dieses Wortes nicht auf dasjenige beschränkt werden, was nur in der Natur oder in der Geschichte wirklich existiren kann. Der menschliche Geist und das Gemüth sind unendlich vieler Lebensregungen fähig, und was in diesem Sinne wirkt, muss auch ein Anrecht auf künstlerische Behandlung haben, sei es in Ton oder Farbe, sei es durch die Gestalt oder im Worte. Ja, die Kunstdarstellung ist da erst recht an ihrem Platze, wo sie die lebendigen Beziehungen des Sinnlichen zum Uebersinnlichen, die Geheimnisse der menschlichen Brust zu offenbaren und so die eigentliche Krone der Lebensidee auszudrücken hat. Allein die idealen Gestalten des Künstlers müssen, um vom wahren Hauch des Lebens beseelt zu sein, aus der begeisterten Ueberzeugung, aus dem Glauben daran hervorgehen. Dies findet seine Anwendung im Besonderen auf die Darstellungen aus der Mythologie und der christlichen Religion, im Allgemeinen auf die Erzeugnisse der Tonkunst und der Poesie. Somit tritt zu den Erfordernissen des Stils noch dies: „dass das dargestellte Leben ein wahres und selbstempfundenes Leben sei.“18 Hierauf kommt der Verfasser noch einmal auf die Nothwendigkeit der Rücksichtnahme auf das jedem Lebendigen inwohnende Einheits-Princip zurück und tadelt so scharf, wie sie es verdient, die heut zu Tage beliebte und leider auch vielbewunderte Manier, „in buntester Allerleiheit reale und ideale, historische und allegorische Stoffe zusammen zu kneten. Man geht dabei von der Voraussetzung aus, die quantitative Summe einzelner Wirkungen bestimme den Gehalt der Totalwirkung, und es komme nur darauf an, eine möglichst runde Summe gelös’ter Aufgaben neben einander vorzuführen. Nichts verkehrter als das!“19 Wenn diese Stelle auch wieder besonders auf die Kaulbach’sche Compositionsweise gemünzt ist, so gilt sie [67] doch auch eben so gut jener Manier neuerer und berühmter Musiker, welche theils Objectives mit Subjectivem, Gegenständliches und Aeusserliches mit Empfundenem und Innerlichem zusammenwerfen, theils ein Spiel mit einer Menge von kurzen Motiven treiben und uns eine Reihe von Combinationen vorführen, welche einen Total-Eindruck unmöglich machen. Und wenn Helfferich, wiederum zunächst in Bezug auf die Malerei, sagt: „Wer mir zumuthet, bei jeder einzelnen Gruppe erst den besonderen Intentionen nachzuspüren, die der Künstler dabei gehabt, der schwächt und verkümmert nicht bloss den Kunstgenuss, den er hervorbringen wollte, er macht ihn geradezu unmöglich, weil er einseitig den Verstand beschäftigt und an diesen Forderungen stellt, die mit der Kunst gar nichts gemein haben“20 –, so brauchen wir auch dazu in den musicalischen Producten eines Berlioz, Wagner u. s. w. nicht lange nach Analogieen zu suchen. Eben so schlagend trifft seine Aeusserung: „Es ist eitel Spielwerk und eine todte Fratze, wenn das Leben in der Kunst unter der Masse des Stofflichen erdrückt wird“21, alle diejenige
18 Ebd.,
S. 32.
19 Ebd.,
S. 33.
20 Ebd.,
S. 34.
21 Ebd.
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Musik, in welcher das eigentliche Leben der Tonkunst, die Melodie, von der Masse der Materie erstickt oder ganz und gar verdrängt wird. Im dritten Abschnitt weis’t der Verfasser nach, wie der sinnliche Stoff die Kunst bedingt und wie die Vielheit der Künste der Vielheit der Zustände, in welchen der Stoff erscheint, entspricht. Er eifert gegen die speculativen Aesthetiker, welche das Wesen der Kunst und auch die Vielheit der Künste rein begrifflich feststellen wollen. „Die Kunst hat es einmal nicht mit abgezogenen Begriffen zu thun, sondern mit einem unmittelbar Erscheinenden, so dass es einen inneren Widerspruch enthält, die verschiedenen Künste aus einem einheitlichen Begriffe ableiten zu wollen, worin der speculative Heisshunger unserer Zeit sich kund gibt, der Alles begrifflich verschlingen zu können wähnt. – Der ideale Gehalt ist bei allen Künsten Einer und derselbe – Leben; wodurch sich aber die einzelnen Künste wesentlich von einander unterscheiden, das ist das Stoffliche, in welchem das Lebendige und Beseelte zur Erscheinung kommt.“22 Dass solche Wahrheiten noch gesagt werden müssen, kann man sich nur dann erklären, wenn man an die Verwirrung der Begriffe denkt, welche die WagnerBrendel’sche Theorie von dem Aufgehen der „Sonderkünste“ in die „Gesammtkunst“ und in das „Kunstwerk der Zukunft“ erzeugt haben.23 Helfferich scheint diese utopischen Tonkünstler-Speculationen nicht zu kennen; trotzdem schlägt er sie alle Augenblicke darnieder. Hören wir z. B. folgenden Satz: „Das stets auf ein Materielles sich richtende Kunstvermögen hat genau zu erwägen, innerhalb welcher Gränzen die bestimmte Eigenthümlichkeit der Materie, mit welcher die besondere Kunst es zu thun hat, sich bewegt, um nicht ungebührlich in ein fremdes Gebiet einzubrechen und den Schwerpunkt seiner eigenen Kraft zu verlieren“24 – so fragen wir, ob irgendwo der Grund des nothwendigen Misslingens der Wagner’schen Theorie in der Ausführung deutlicher angegeben werden kann; nämlich die Verkennung des eigenthümlichen Wesens der Dichtkunst und der Tonkunst, welches auf der nie zu vertilgenden Verschiedenheit ihres Stoffes, des Wortes und des Tones beruht. Darum, weil er die bestimmte Eigenthümlichkeit der Materie, mit der es die Musik zu thun hat, verkennt und das Wort als Schöpfer des Tones betrachtet, verliert Wagner’s musicalisches Kunstvermögen den Schwerpunkt seiner eigenen Kraft, und eine geniale musicalische Schöpfung wird ihm ein Ding der Unmöglichkeit. Wir müssen es denjenigen, die sich für die Kunst im Allgemeinen interessiren, überlassen, die Rechtfertigung der Eintheilung der Künste überhaupt in räumliche und zeitliche,25 und denjenigen, denen im Besonderen die bildenden (räumlichen) Künste am Herzen liegen, die trefflichen Ansichten über Baukunst, Bildhauerei und
22 Ebd., S. 36 f. 23 Siehe etwa Brendel 1853 Die bisherige Sonderkunst, in: NdS 1 Nr. 42. In diesem Artikel, der im Februar und März 1853 in der NZfM erschien, setzte sich Franz Brendel mit der Frage auseinander, inwiefern die von Wagner angestrebte Vereinigung der Künste im „Kunstwerk der Zukunft“ die Einzelkünste auslöschen würde, und versuchte dabei die divergierenden Ansichten von Wagner und Joachim Raff zu versöhnen. 24 Helfferich 1853 Kunst und Kunststyl, S. 37. 25 Eine solche Einteilung wurde insbesondere durch Gotthold Ephraim Lessings Aufsatz über die Laokoon-Gruppe vorgenommen (Lessing 1766 Laokoon). Vgl. auch den Kommentar zu Zimmermann 1855 Ambros, Ueber die Gränzen der Musik, in: NdS 2 Nr. 83.
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Malerei in dem Büchlein selbst nachzulesen – und wenden uns zu dem vierten Abschnitt, welcher die Tonkunst (die zeitliche Kunst) vorzugsweise berücksichtigt. Nachdem er die Hypothese der neuesten Naturkunde über die Identität von Farbe und Ton26 verworfen, erkennt der Verfasser nur so viel davon an, dass Malerei und Tonkunst unmittelbar an einander gränzen. Der Ton schlechthin lässt sich zwar nach Schwingungs-Verhältnissen in Bezug auf Höhe und Tiefe bemessen, aber sein wirkliches Wesen wissenschaftlich, mathematisch und physisch, zu erklären, ist bis jetzt nicht möglich gewesen. Wie der Ton sich offenbart und zu unserem Bewusstsein gelangt, weiss die Physik anzugeben; aber die ureigenste Natur des Stofflichen, das im Tone sich aufschliesst, jene Bewegung oder Lebensregung, die das gesammte individuelle Wesen eines Körpers durchzittert, vermag sie nicht zu erklären. Ist doch, was der Verfasser vom Gesange sagt: „es können tausend Menschenstimmen vermittels derselben Schwingungsknoten in ihren Kehlen ein und denselben Ton singen, der Klang einer jeden dieser tausend Stimmen ist nichts desto weniger ein anderer, von den neunhundertneunund-[68]neunzig übrigen wesentlich verschiedener“27 – schon bei dem gewöhnlichen Sprachton der Menschen wahrnehmbar. Das Eigenthümlichste des Stoffes, aus welchem der Ton besteht, ist der Einfluss des Individuellen auf ihn: der Ton offenbart recht eigentlich die Seele der Materie, und man kann daher mit Bezug auf die oben von unserem Verfasser geforderte Eigenschaft des Seelenhaften im Kunststil behaupten, dass die Musik die idealste Kunst sei, indem schon ihr Stoff das Seelenhafte in sich selbst trägt, das bei den anderen Künsten erst durch den Menschen hineingelegt werden muss. Die Musik ist eine zeitliche Kunst. Die Materie ertönt in der Zeit; die Tonkunst hat die zeitliche Aufeinanderfolge der Töne zum Gegenstande, und ist in so fern der Gegensatz der bildenden Kunst. Sie vermag daher auch die Lebens-Idee, welche von jeder Kunst gefordert wird, nur in einer von der bildenden Kunst durchaus abweichenden Weise darzustellen. Die musicalischen Tonreihen können nur ideelle Lebensregungen hervorrufen. „Das Leben“ – fährt der Verfasser fort –, „das einen musicalischen Ausdruck gewinnt, beschäftigt nicht die Vorstellung und das Denken; es wirkt ausschliesslich auf das Pathetische im Menschen, auf jene verschleierte Gemüthswelt, die in tiefen Gefühlen und aufschäumenden Leidenschaften sich bethä tigt. Andere Zustände vermag die Musik nicht darzustellen, weil sie nur von dieser Seite Zugang zu der Menschenbrust hat.“28 Wiederum eine Wahrheit, deren wiederholter Ausspruch, so klar sie auch ist, dennoch noth thut – und diesmal kommt dieser Ausspruch von einem Nicht-Musiker, während die Musiker von plastischer Musik29 faseln! Auf eine sehr sinnige Weise sucht Helfferich dann aus dem Zeitlichen, als dem Haupt-Elemente der Musik, und aus dem Charakter der Vergänglichkeit alles Zeit-
26 Zwei Aufsätze, welche diese These grundsätzlich vertreten, erschienen 1852 in der Zeitschrift Annalen der Physik und Chemie (Helmholtz 1852 Theorie der zusammengesetzten Farben sowie Unger 1852 Theorie der Farbenharmonie). 27 Ebd., S. 58. 28 Ebd., S. 61. 29 Siehe etwa Brendel 1848 Fragen der Zeit IV, in: NdS 1 Nr. 17. Darin beschrieb Brendel die „plastische Kraft“ der musikalischen Gestaltung eines Werkes als eine kompositorische Qualität, die der Musik einen möglichst bestimmten Ausdruck verleihen soll. Eine satirische Reaktion findet sich mit dem Artikel Anonym 1851 Plastische Musik, in: NdS 1 Nr. 24.
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lichen, die, in die Gemüthsstimmung übersetzt, Wehmuth heisst, den elegischen Zug zu erklären, welcher der echten Musik immer eigen sei, und nennt das Elegische „die ungeschiedene Einheit von Freude und Schmerz, von Liebe und Hass, von Hoffnung und Furcht“30. Die Tonkunst zieht den Augenblick, in welchem der Ton sich offenbart, in eine gränzenlose Zeitfolge aus einander. Wenn es nun weiter heisst: „Die Tonkunst strebt über sich hinaus nach dem Unendlichen; Sehnsucht ist ihr Grundzug; sie will erreichen, was ihr ewig unerreichbar ist, möchte einen Gegenstand erfassen, den sie nur in weiten Kreisen umschweben kann, etwas aussprechen, wofür sie nur Anklänge und Andeutungen hat“31 – so ist das eben so schön als richtig gesagt. Fährt der Verfasser aber folgender Maassen fort: „Der Eindruck, den ein edles Tonwerk auf uns macht, ist desshalb nie frei von wehmüthiger Beimischung; die heitersten Melodieen, der frohlockendste Tonjubel lassen in der Brust ein ungestilltes Verlangen zurück, entsprechend der elegischen Falte, die über das heitere und klare Antlitz der Natur sich zieht, wenn der Blick überall Spuren der Vergänglichkeit begegnet – – wie denn die Zeit überhaupt fortwährend die schmerzliche Sehnsucht nach dem Vergangenen und das melancholische Verlangen nach dem Zukünftigen weckt“32 – so ist das nur halb wahr, wenngleich es allerdings den Charakter der Tonkunst im Ganzen richtig schildert. Allein der Verfasser betont das Wehmüthige, das Melancholische zu sehr. Im Allgemeinen wird dieses freilich dem Unbefriedigten und unbestimmt Verlangenden, das sich bei dem Eindrucke der Musik in unserer Brust regt, hauptsächlich zum Grunde liegen – aber bei dem Eindrucke, namentlich von heiterer Musik, von „frohlockendem Tonjubel“, spielt doch die individuelle und momentane Stimmung des Hörenden eine grosse Rolle, und derselbe Strauss’sche Walzer, der mich zur Wehmuth stimmt, wenn ich ihn einsam im Garten anhöre und an vergangene Zeiten denke, wird mich entzücken, wenn im Saal die Gegenwart mich glücklicher macht, als es die Vergangenheit gethan. Eben so wenig können wir in dem Eindruck eines zum Kampf begeisternden Marsches oder z. B. des Finale’s der C-moll-Sinfonie von Beethoven33, der C-dur-Sinfonie von Mozart34 und ähnlicher Stücke den wehmüthigen Zug zugeben, es müsste denn das Verlangen des Dreinschlagens, des Ueberwindens und Triumphirens etwas Melancholisches sein. Unzweifelhaft richtig ist es aber, dass die Seele in der Leidenschaft sich immer in dem Maasse gefördert und gehoben findet, in welchem sie den Druck und die Beklemmung von sich genommen fühlt. Und daher die grosse Macht der Musik auf das Gemüth. So haben denn, auf die Lebens-Idee bezogen, welche die Kunst überhaupt anstreben muss, Architektur, Plastik und Malerei das sich entäussernde, die Musik aber das sich verinnerlichende Leben zum Gegenstande. [73] Die Urtheile Helfferich’s über die drei Heroen der Tonkunst sind richtig und fein aufgefasst. Von Beethoven sagt er: „er rage als eine wahre Riesengestalt hervor, weil er die Gefühlsgegensätze, welche die Gemüthswelt bald aufregen, bald
1853 Kunst und Kunststyl, S. 61. 31 Ebd., S. 60. Die Hervorhebungen stammen vom Autor der Rezension. 32 Ebd. Der Autor zitiert hier teilweise nicht wörtlich. 33 Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr. 5 c-Moll op. 67 (ED 1809). 34 Wahrscheinlich ist hier die Symphonie Nr. 41 Jupiter-Symphonie C-Dur KV5 51 (EZ 1788) von Wolfgang Amadeus Mozart gemeint. 30 Helfferich
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sänftigen, wie kein Anderer zu behandeln weiss, das Pathos als solches, den Sturm der in ihren tiefsten Tiefen aufgeregten Leidenschaft in den hinreissendsten und bewältigendsten Jubel- und Schmerzenstönen kund werden lasse.“35 Zur Unterstützung dieses Satzes führt er freilich sehr unpassend Gumprecht’s verkehrte Bemerkungen über die A-dur-Sinfonie aus dem Deutschen Museum an;36 es scheint, dass ihm andere, richtigere Analysen Beethoven’scher Sinfonieen nicht bekannt geworden sind. Gern unterschreiben wir aber die folgenden Sätze: „Wird man aber darum sagen wollen, Beethoven sei der grösste Musiker? Gewiss ist er es in seiner Art, d. h. in der Behandlung des Affects nach der Seite seines Gegensatzes und darum seines ursprünglichsten Wesens. Es ist die ungebrochene, oft wilde Naturkraft des Gemüthes, die unmittelbar, ohne Zaudern und Zagen an das Leben und seine Erscheinungen herangeht und sie als treues Echo wieder hinausklingen lässt in die zwischen Freud’ und Leid getheilte Gotteswelt. Naturwüchsig, wie sie ist, widerstreitet der Beethoven’schen Musik nichts so sehr, als der Charakter der Zierpflanze: sie duftet wie die Waldblume und braus’t wie der Sturmwind durch die Savannen. Bei Joseph Haydn ist gleichfalls Alles ungekünstelter Naturlaut; aber das Pathetische erscheint noch gar nicht in seine Gegensätze getrennt, vielmehr als substantielle Ungeschiedenheit, kindliche Innigkeit, in dem Urgrund aller Einheit, in Gott, ruhende Genügsamkeit. Von Mozart hinwiederum muss man sagen, dass er, der grösste Dialektiker in der Musik, die Gegensätze nicht zu bewusstloser, sondern zu bewusster Einheit zusammen schliesst, aus dem kindlichen Frieden des Gemüthes heraus durch die Gegensätze des erregten Pathos hindurchschreitet und sie in reine Harmonie auflös’t. Besteht darin das grösste aller Geheimnisse, das Geheimniss der Liebe, so mag man immerhin das charakteristische Merkmal der Mozart’schen Musik Liebe nennen. Die wahre Liebe ist ja auch die höchste Harmonie. Der Kampf hört nicht auf – aber schon aus der Ferne winkt der Palmzweig der Versöhnung. Mozart könnte darum der Rembrandt der Musik heissen.37 Wie bei diesem die erscheinende Welt völlig in der Farbe aufgeht, die Linien der Zeichnung sich zu Farbentönen verklären, so offenbart bei Mozart jede Schwingung des Affects sich in den ungetrübten Elementen des Tones, dessen Verständniss bis jetzt noch Niemand in demselben Grade besessen hat. Ein echter Maler sieht ganz andere Farbentöne als das gewöhnliche Auge: Mozart hörte und verstand den Ton so bis in sein innerstes, verschlossenstes Wesen hinein, dass er jede, auch die zarteste Seelenregung als ein reines Tonverhältniss auszudrücken vermochte.“38 Ueber Melodie und Harmonie finden wir ebenfalls treffliche Andeutungen von Ansichten, die zwar nicht neu sind, aber deren Wahrheit vergessen zu werden droht und deren Verbreitung von Neuem und gerade durch Aesthetiker noth thut, weil gegen die Aesthetiker.
1853 Kunst und Kunststyl, S. 63. 36 Helfferich paraphrasiert auf S. 63 f. die Beschreibung von Beethovens Symphonie Nr. 7 A-Dur op. 92 (UA 1813), die Otto Gumprecht 1852 in seinem Artikel „Geist und Musik“ im Deutschen Museum vornahm (Gumprecht 1852 Geist und Musik, hier: S. 808 – 810). 37 Rembrandt van Rijn (1606 –1669), niederländischer Maler, gilt als einer der bedeutendsten Meister des Barockzeitalters, der insbesondere für seine Hell-DunkelEffekte (Chiaroscuro) und seine eindrucksvolle Farbgebung des Lichts bekannt ist. 38 Helfferich 1853 Kunst und Kunststyl, S. 64 – 66. 35 Helfferich
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Ein Ton kann an sich schön sein, es kann sich in ihm etwas Inneres offenbaren – Schmerz, Freude in einzelnen Lauten. Allein von künstlerischer Wirkung kann nur bei der Aufeinanderfolge von Tönen die Rede sein. Diese ist die Hauptsache, das Wesentliche bei der Musik. „Hier ist nun zu bemerken, dass das elementare Naturgesetz, wonach eine sinnliche Verwandtschaft besteht zwischen der sinnlichen Materie und dem Gehörsnerv, eine Fülle von Gestaltungen hervorbringt, die zum Geist in keinerlei Beziehung stehen. Die Töne ziehen sich wechselseitig an und stossen sich ab; andere gehen Verbindungen ein, leiten zu anderen über, einige stehen im schärfsten Gegensatz, kurz, es geht durch die Tonwelt dieselbe Ordnung, derselbe organische Trieb, wie durch das ganze Reich der Natur. Die Musik, welche, ohne einen höheren Gehalt zu bieten, mit diesem Naturgesetz in Uebereinstimmung bleibt, wird stets, [74] wie alle reine Natur, einen angenehmen Eindruck auf uns machen. Eine Composition, die keinen anderen Vorzug hat als diese sinnliche Schönheit, hat desshalb immer noch einen gewissen Werth, in so fern sie eine sinnlich lebendige Erregung, ein sinnlich Pathetisches im Hörer hervorbringt. Von dieser Seite ist auch der ungebildete Naturmensch den Einwirkungen der Musik zugänglich. Eine wahrhaft künstlerische Behandlung des Tones jedoch, eine solche, die den Anforderungen eines reich entwickelten Gemüthes genügt, lässt diese bloss natürliche Schönheit immer mehr in den Hintergrund treten, ähnlich wie bei der bildenden Kunst, wo das sinnliche Wohlgefallen von einer geistigen Lebens-Idee verdrängt wird. Die höhere Musik wirkt auf das innere Gefühl, auf das geistige Pathos. Dazu eignet sich aber immer nur eine solche Succession von Tönen, die wir Melodie nennen und definiren können als den organisch gegliederten Tongedanken. Je reiner und vollständiger die Melodie einen in sich abgegränzten Inhalt unseres Gefühl[s]lebens ausdrückt, desto gelungener, stilistisch richtiger ist sie, und man wird schwerlich fehlgreifen, wenn man die Melodie und den Inhalt der Musik als Eines und dasselbe betrachtet. Es widerstreitet daher auch aller gesunden Auffassung, die Harmonie das Frühere in der Musik zu nennen, und heisst ungefähr eben so viel, als wenn man in der Plastik den paradoxen Satz aufstellen wollte, der so genannte archäische [sic] oder alterthümliche Stil, der die Gestalt scharf und zum Theil hart, nur in ihren wesentlichen Formen darstellte, müsse in der Entwicklung der griechischen Kunst später sein als der classische Stil in dem Zeitalter des Praxiteles und Skopas39. Wir besitzen bis zu dieser Stunde Melodieen, die uns tief ergreifen und denen eine begleitende Harmonie nicht beigefügt werden darf, wenn nicht die reine Wirkung getrübt werden soll (F. Hand, Aesthetik der Tonkunst, 1837).“40 Die Bemerkungen über Rhythmik und Tonart ermangeln dagegen der Begründung durch genügende musicalische Kenntnisse; namentlich ist alles, was über die Tonart gesagt ist, nur dann wahr, wenn es nicht auf die Einzelverschiedenheit der zwölf Tonarten, sondern nur auf den Haupt-Unterschied von Dur und Moll bezogen wird, und auch dann noch nicht ganz und gar.
39 Praxiteles
(um 395 – um 320 v. Chr.) und Skopas (4. Jh. v. Chr.), die bekanntesten Marmorbildhauer der griechischen Spätklassik. 40 Helfferich 1853 Kunst und Kunststyl, S. 66 – 68. Helfferich verweist hier auf Hand 1837 Aesthetik der Tonkunst.
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Dagegen können wir wieder im Ganzen mit dem übereinstimmen, was über die Bedeutung der Harmonie in der Musik gesagt wird. Die Tonkunst, deren wesentlichstes Element das Zeitliche, die Aufeinanderfolge der Töne, d. h. die Melodie, ist, „gelangt erst zu ihrer vollen Entfaltung durch den Gebrauch von Mitteln, welche dem an sich Successiven den Charakter des Räumlichen verleihen. Zu der Melodie tritt die Harmonie, die Ordnung und Zusammenstimmung gleichzeitiger Töne, ein Simultanes in dem Einklang eines Mannigfaltigen von Tönen“41. – – Das ist wahr; jedoch ist dem Verfasser entgangen, dass das räumliche Element auch in der Harmonie nur ein untergeordnetes ist, und dass die Harmonie hauptsächlich auch nur wieder durch die Aufeinanderfolge wirkt, nur mit dem Unterschiede, dass bei ihr die Folge von Zusammenstimmungen, von Accorden, nicht bloss von einzelnen Tönen in Anwendung kommt. Ohne das Zeitliche in der Harmonie würde keine Modulation existiren. Geistreich und wahr ist der Vergleich der Perspective mit der Harmonie. „Nur Rousseau konnte in seiner paradoxen Einseitigkeit die Harmonie eine barbarische, gothische Erfindung nennen und ihren Ursprung in dem Mangel des Sinnes für natürliche Musik nachweisen.42 Es erinnert dies an die Chinesen, die in der Malerei von der Perspective nichts wissen wollen. Erst im Zusammenklang verschiedener Töne offenbart der Ton seine ganze Gewalt. Gewiss, man kann Gefallen finden schon an naiven Abbildungen, auf denen alle Figuren unmittelbar nach einander und in blosser Linien-Perspective erscheinen; wer wird darum aber läugnen wollen, dass die Malerei ihren höchsten Anforderungen erst dann entsprach, als sie ihre Gestalten zu modelliren und zu gruppiren lernte? Nicht anders verhält es sich mit der Harmonie. Die Harmonie verleiht der Melodie eine feste Haltung, Abgränzung und Rundung, überhaupt die Merkmale eines zu plastischer Existenz gelangten Lebens; denn die Tonmassen in ihrem gleichzeitigen Fortschreiten geben dem Tonbilde erst seine Schattirung und Fülle. – Wie die Perspective rein wissenschaftlich erlernt werden kann, so auch die Harmonie-Lehre; bei Beiden lassen sich unwandelbare und mathematisch gewisse Gesetze aufstellen und beweisen. Die Correctheit, die durch die wissenschaftliche Kenntniss der Perspective und des Contrapunctes erreicht wird, darf nicht gering angeschlagen werden. Allein die bloss gelehrte Musik, einem Bilde vergleichbar, worauf die Perspective nach den strengsten Regeln der Kunst beobachtet und das Andere nur nebenher behandelt ist, beschäftigt lediglich den Verstand und vermag bloss dieser formalen Tadellosigkeit wegen einen tieferen Eindruck auf das Gemüth nicht hervorzubringen. Es fehlt ihr das Stoffliche, der Inhalt und dessen freie, dem Gemüthe zusagende Behandlung. Für die Harmonie in diesem Sinne, d. h. sofern sie dem melodischen Inhalt einen mannigfaltigeren, reicheren und zugleich tieferen Ausdruck zu verleihen hat, hört das mathematische [75] Gesetz auf, wie der Maler, um der eigenthümlichen Natur der Farbe Genüge zu thun, wohl gar genöthigt sein kann, gegen die mathematischen Regeln der Fernsicht zu verstossen. Die tiefere Vermittlung ist nicht Sache der Wissenschaft, sondern der künstlerischen Begabung, und eine richtige Harmonie ist darum noch keine gute Musik. Es lassen sich einer und derselben Melodie verschiedene harmonische Behandlungen geben, was dem Tonbilde ein verschiedenes
41 Helfferich
1853 Kunst und Kunststyl, S. 71.
42 Siehe
Rousseau 1768 „Harmonie“.
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Colorit verleiht. Eigentlich aber ist es die Aufgabe der Harmonie, den melodischen Keim zu der ganzen Pracht und Herrlichkeit eines organischen Gebildes zu entfalten, und in diesem Sinne wird man sagen können, dass, gleichwie es für ein vortreffliches Lied nur eine einzige ebenbürtige Melodie gibt, so auch nur eine Harmonie für eine gelungene Melodie.“43 Wir schliessen diesen Artikel mit den trefflichen Schlussbemerkungen Helfferich’s über den Gegensatz der bildenden Künste und der Musik: „Reine Anschaulichkeit und darum Selbstentäusserung der Lebens-Idee gehört desshalb zum Wesen der bildenden Künste, weil das an sich Räumliche immer und überall nur an der Oberfläche sichtbar wird. Ein Innerliches, Verborgenes und Verschlossenes, ein erst zu Errathendes, Mystisches und Geheimnissvolles gibt es in der bildenden Kunst nicht; ihr Geheimniss ist vielmehr, dass sie kein Geheimniss hat, Alles offenbart, das Innerlichste selbst zur äusseren Erscheinung bringt. So will es die vermittels des Lichtes zu äusserem Bewusstsein gelangende Materie. Umgekehrt wendet die Musik sich schlechterdings vom Anschaulichen ab. Mit dem Tone, diesem inneren, seelischen Erklingen der Materie, zieht sich das Leben von der Oberfläche in sich selbst zurück, die Offenbarung faltet sich zum Mysterium zusammen, und die als Gedanken-Inhalt nicht näher zu bestimmenden Erregungen des Gefühls gehen bloss in die Tiefe, nicht in die Breite, wecken daher stets Wehmuth und Sehnsucht. Dieser vorherrschenden Innerlichkeit kann sich die Musik so wenig entschlagen, dass es vielmehr gerade ihre Aufgabe ist, eben nur pathologisch, d. h. in der Richtung nach dem in sich form- und gestaltlosen Gemüthe zu wirken, und alle die Gedankenkeime, die sich zum äusseren Dasein drängen, stets wieder in den verschlossenen Urgrund innerlicher Gefühls-Erregungen zurückzunehmen. Die Zeit ist nie und nirgends: sie ist nur im Werden, oder als verschwindend; so soll auch der musicalische Gedanke sich nur im Verschwinden offenbaren.“44 Was ferner in dem besprochenen Büchlein über Mimik und Tanz, über dramatische Action und endlich über Poesie, wenn auch nur kurz andeutend, gesagt wird, verdient ebenfalls nachgelesen zu werden. Schlagend ist darin unter Anderem die Bemerkung: „Das sprachliche Wort muss in der Kunst der Rede wirklich gesprochen und nicht gedruckt gedacht werden. Ein nicht laut vorgetragenes Gedicht ist keine Poesie.“45 – Was lässt sich daran nicht alles knüpfen! Der fünfte und sechste Abschnitt enthalten Ansichten über den Weg, den die Kunst einschlug, um sich stilistisch zu entfalten, über den geschichtlichen Fortgang ihrer Entwicklung bis auf die Hellenen. Von der Musik kann dabei natürlich nicht viel die Rede sein.
1853 Kunst und Kunststyl, S. 71 f. 44 Ebd., S. 73 f. 45 Hiermit könnte folgende Stelle bei Helfferich gemeint sein: „Nur die Abstraktion ist todt, gleichwie das gelesene Gedicht, nach Abzug seines Lautelements, kein Gedicht mehr, sondern eine Hieroglyphe ist“ (ebd., S. 79). 43 Helfferich
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Kommentar Die Rezension von Adolf Helfferichs Buch Kunst und Kunststyl über Wilhelm von Kaulbach ist ein Zeugnis für das ästhetische Bewusstsein im 19. Jahrhundert, das – anders als eine Edition von Texten aus Musikzeitschriften nahelegt – selten auf eine einzige Kunstdisziplin beschränkt war. Das Beispiel, das Helfferich an Kaulbach für die Musik statuiert, ist hierfür kein Einzelfall. So ist der Vergleich Wagners mit Kaulbach schon früher im Zusammenhang der Tannhäuser-Rezeption zu finden. So zitierte Richard Pohl 1852 den Schriftsteller Max Maria von Weber mit den Worten: „Wagner ist das für die Kunst, was Kaulbach für die Malerei ist – die Spitze der Zeit, der Wegweiser zur Zukunft, die verkörperte philosophische Kunst.“46 Ebenso kann der in Rede stehende Maler keinesfalls als beliebig gewählter Vertreter seines Faches gelten: Kaulbach, zu dieser Zeit königlicher Hofmaler von Ludwig I. und Direktor der Akademie der Bildenden Künste München, erhielt 1842 den Auftrag von Friedrich Wilhelm IV. für sechs große Fresken47 zur Ausmalung des Vestibüls im Treppenhaus des Neuen Museums Berlin, wo ein monumentaler Gemälde-Zyklus die kulturgeschichtliche Entwicklung des Menschen darstellen sollte, was diesen in seiner Ausführung von 1847 bis 1865 zum teuersten, monumentalsten und durch die Anwendung einer neuen Maltechnik, der Stereochromie, auch zum aufwendigsten Bilderschmuck eines Museums im 19. Jahrhundert machte.48 Die sich über Jahre hinziehende Ausführung war inhaltlich immer wieder Veränderungen ausgesetzt, welche nicht zuletzt in der Berliner Tagespresse thematisiert wurden – auch da Kaulbach zum Nachvollzug und Verständnis der riesigen Kompositionen erklärende Programme drucken ließ. Von Kant über Goethe bis Schiller zieht der Autor im vorliegenden Artikel den roten Faden der ästhetischen Gestalt, welche er durch Kaulbach ebenso wie durch die zeitgenössischen Komponisten aufgelöst sieht. Demnach sei heutige Kunst ‚gemacht‘, es fehle die große Form, es sei ein Aneinanderreihen von Einzeleffekten, was ein Überfrachten der Werke mit denselben bewirke. Das Vermögen des einheitsschaffenden Moments der Schönheit ist es, das der Rezensent als Stil bezeichnet. Den neueren Bestrebungen wirft er entsprechend Stillosigkeit vor, da die Art und Weise dieser Kunstproduktion gegen das klassizistische Prinzip des gewachsenen Organismus verstoße. An die aktuellen Debatten um Kaulbachs Zyklus anknüpfend, nutzt der anonyme Rezensent Helfferichs Abhandlung, die sich in ihrer tendenziell konservativen Argumentation auf das Lessings’sche Laokoon-Theorem der Scheidung von Raum- und Zeitkünsten stützt, um daran aufzuzeigen, dass die „Wagner-Brendel’sche Theorie“49 lebensfern und ihrem Wesen nach unkünstlerisch sei. Nach Helfferich vermag die bildende Kunst ausschließlich das Leben äußerlich darzustellen, während die Musik dazu den Gegensatz bilde. Sie könne nur Innerliches ausdrücken und müsse folglich bei jedem Einbezug einer programmatischen Idee
1852 Dresdner Musik III, S. 212. 47 Die Bestellung der sechs Gemälde stand zunächst nicht in direktem Zusammenhang mit dem Neubau des Museums (siehe Menke-Schwinghammer 1994 Weltgeschichte als ‚Nationalepos‘, S. 16). 48 Vgl. dazu insgesamt die Monographie von MenkeSchwinghammer 1994 Weltgeschichte als ‚Nationalepos‘. 49 Vorliegender Artikel, S. 502 [67]. 46 Pohl
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scheitern, wobei der anonyme Autor aktuelle Debatten einflicht, in der die „Musiker von plastischer Musik faseln!“50 Die Kritik an Kaulbachs Malerei als ‚Ideenkunst‘ wird hier für die frühe Diskussion um die begrifflich noch nicht gefestigte Programmmusik nutzbar gemacht. Bemerkenswerterweise wird Kaulbachs monumentaler Zyklus – dessen geschichtsphilosophisch fundiertes Ideenkonzept, ähnlich wie dasjenige Brendels und auch Liszts, Anleihen bei Hegel macht – noch über ein halbes Jahrzehnt später auf beiden Seiten der musikalischen Kontroverse erneut zur Stützung ihrer jeweiligen Positionen herangezogen.51
50 Vorliegender
Artikel, S. 503 [68]; siehe auch die entsprechende Anm. 29. 51 Siehe Schloenbach 1858 Revue über Kunst und Literatur; N. Z. 1859 Allcompositionsskizze, in: NdS 3 Nr. 130; sowie Brendel 1859 Ein Blick auf die bildende Kunst.
Nr. 48 | Anonym, „Franz Liszt“, in: Rheinische Musik-Zeitung 4 (1853/1854), Nr. 173 (27. August 1853), S. 1317 f.
Franz Liszt.
Die in London erscheinende „Musical World“ bringt bei Gelegenheit einer Kritik über zwei neue Compositionen von Liszt einen Aufsatz über diesen Virtuosen, den wir den Lesern der Rheinischen Musikzeitung nicht vorenthalten zu dürfen glauben und ihn desshalb lediglich als ein Curiosum hier folgen lassen:1 „Was auch immer von Liszt kommen mag, trotz aller seiner Excentricität und seines Schumann-Wagnerismus, ist der Beachtung werth, und umso mehr, als er sich aus dem Wirbel des öffentlichen Lebens zurückgezogen und, gleich einem bärtigen Eremiten in den ruhigen Wildnissen von Weimar niedergelassen hat. Was Liszt auch thun mag, er bleibt immer Liszt; desshalb ist es die Pflicht des Rundschauers dem Leser die Worte des Geistes zuzurufen – „Horch, horch! O horch!“I Es ist in der That lohnend, Liszt zuzuhorchen, denn er ist eine Art Prophet und weissagt – nun umso mehr, als er sich von dem Wirbel des öffentlichen Lebens zurückgezogen und gleich einem bärtigen Eremiten in Weimars ruhigen Wildnissen niedergelassen hat.2
I Ein im Deutschen unübersetzbares Wortspiel mit dem Namen Liszt’s, da der englische Text lautet: „List, list! Oh list!“3
englische Originalartikel (Anonym 1853 News from Liszt), der sehr wahrscheinlich von James William Davison stammt, bezieht sich auf Liszts Deux Mélodies russes (Arabesques) S 250 (ED 1842): 1. Le Rossignol, Romance de Alexandr Alexandrovitch Alabieff, 2. Chanson bohémienne de Piotr Petrovitch Boulakhov. Der einleitende Satz, der diesen Hinweis enthält, ist in der Übersetzung ausgelassen. In der englischen Version beginnt der Artikel wie folgt: „‚Deux Arabesques Pour le Piano.‘ – No. 1, Le Rossignol; No. 2, Chanson Bohemienne. By Franz Liszt. Ewer & Co. The above will be shortly – if we are not mistaken – on the desk of every pianist in London; since […]“ (ebd., S. 491). Erst an dieser Stelle setzt die vorliegende Übersetzung ein, die sich weitestgehend an der englischen Vorlage orientiert. 2 Diese wörtliche Wiederholung aus dem ersten Absatz ist bereits im englischen Original enthalten. 3 „Horch, horch! o horch!“ Zitat aus: William Shakespeare, Hamlet (ED 1603), 1. Akt, 5. Szene. 1 Der
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Es war zur Zeit der Rosen, als Jeder sich entweder für die „Weisse“ oder „Rothe“ erklären musste,4 wenn er nicht gerade ein Warrwick5 sein konnte. Dieser Warrwick machte Könige und setzte sie ab. Wir wollen nun keineswegs einen Vergleich zwischen dem berühmten Königsmacher, wie ihn die Geschichtsschreiber nennen, und Liszt ziehen, finden aber, dass, wie Warrwick seiner Zeit Könige machte und entthronte, der ästhetische Kapellmeister zu Weimar heutzutage Componisten an- und absetzt. So zog er eines Tages einen gewissen Schumann aus der Dunkelheit hervor und stiess zu seinen Gunsten in die Posaune. „Schaut auf,“ sagte Liszt zu den Völkern, „ein neuer Mann!“ „Seht diesen Componisten!“ „Niemand widerspreche ihm, er ist ein Wunder!“ „Horcht, horcht! O horcht!“ So entdeckte Liszt Schumann und machte ihn. Er brachte den Mann nach Leipzig und half ihm auf,6 Angesichts [sic] der Verehrer Mendelssohn’s, als den wahren Gott, den man anbeten, dem man Schafe opfern und Weihrauch darbringen müsse. Die Völker horchten und waren erbaut. „Hört ihn,“ sagten sie, „hört Liszt, Liszt hat gesprochen!“ „Seine Worte sind wahr, Schumann ist der Mann!“ „Horcht, horcht! O horcht!“ Und die Völker wurden Schumanniten. Man opferte vor dem Altare des neuen Gottes; Knaben schwangen das Rauchfass, Kerzen wurden verbrannt, Schafe geschlachtet. Liszt war zufrieden, er hatte Schumann gemacht. Wie ihn aber wieder absetzen? Liszt erwog im Stillen; er schüttelte geheimnissvoll sein Haupt, wenn Neophiten7 und Catechumenen8 in Weimar erschienen, um ihn Schumann predigen zu hören. Er schüttelte das Haupt, lächelte tief und ironisch und grübelte weiter.9
4 Hiermit sind die von 1455 bis 1485 geführten Kämpfe der Adelshäuser York und Lancaster um die englische Thronherrschaft, die sogenannten „Rosenkriege“, gemeint. Die Bezeichnung geht auf die Rosendarstellung in den Wappen der beiden Familien zurück: eine rote Rose für Lancaster und eine weiße Rose für York. 5 Richard Neville, 16. Earl of Warwick (1428 –1471), englischer Adliger, war unter seinen Zeitgenossen auch als „Warwick der Königsmacher“ bekannt. Aufgrund seines Reichtums und seiner Macht gelang es ihm, den aus dem Haus Lancaster stammenden König Heinrich VI. ab- und den zum Haus York gehörenden Eduard IV. einzusetzen, um später, nach einem Zerwürfnis mit König Eduard, erneut Heinrich VI. auf den Thron zu bringen. 6 Worauf der Autor hier anspielt, bleibt unklar. Da Schumann jedoch bereits seit 1830 in Leipzig wohnte, kann von einer aufgrund Liszt’scher Intervention geschuldeten Übersiedelung Schumanns in die Pleiße-Metropole keine Rede sein. 7 Neophyt bezeichnet im Allgemeinen einen in der alten Kirche durch die Taufe in die christliche Gemeinschaft oder davon abgeleitet auch andernorts – besonders in kultischen Bünden wie den Freimaurern – neu Aufgenommenen. 8 Katechumene ist in christlichen Kirchen die Bezeichnung für einen Taufbewerber mit dem Ziel der Aufnahme in die Kirche. 9 Im englischen Original folgt an dieser Stelle noch: „To speak in the language of the poet, Smith – Alexander, not Albert – he ‚gecked‘ at them. There was, in his eye sinister – ‚Something like a glike.‘ – (Brendallah.)“ Brendallah ist der Titel einer Verserzählung von Thomas Eagles (Lebensdaten unbekannt, nachweisbar zwischen 1835 und 1840) aus dem Jahr 1838. Möglicherweise handelt es sich bei der Nennung des Werkes auch um eine Anspielung auf Franz Brendel und dessen publizistisches Eintreten für Liszt und Wagner in diesen Jahren.
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Liszt grübelte nicht umsonst. Er hatte einen neuen Mann gefunden, dessen Name war Wagner. Er zog diesen Wagner aus der Dunkelheit hervor und stiess in die Posaune zu seinen Gunsten. „Schaut auf“ sagte Liszt zu den Völkern, „ein neuer Mann!“ „Seht diesen Componisten!“ „Keiner widerspreche ihm, er ist ein Wunder![“] „Horcht, horcht! O horcht![“] So entdeckte Liszt Richard Wagner, und machte ihn. Was Schumann betraf, so setzte er ihn wieder ab. [1318] Die Völker aber liehen zu jener Zeit dem Propheten nur ein halbes Ohr, so seinen Worten, als seiner Posaune. Sie hörten nicht auf den rhetorischen Wortschwall und waren so taub wie die Nattern, so stumm wie die Mäuse. „Schau!“ murrten sie, „erst war es Robert, jetzt ist es Richard; der Prophet hat gelogen! Er ist ein falscher Prophet! Wem sollen wir glauben?“ Da gürtete Liszt seine Lenden, warf sich in Feiertagskleider und ging auf Reisen. Und er kam zu Richard, und redete ihn an, wie folgt: „Hör’! die Völker wollen nicht glauben.“ Und Richard antwortete: „Sie müssen überzeugt werden! Ueberzeuge sie, gehe hin und schreibe Bücher!“ Und Liszt sagte: „Wohl will ich gehen!“ „Halt!“ sagte Richard; „erst gib mir deinen Schatten, er liegt dir nur im Wege und hindert dich die volle Glorie der Sonne zu sehen, die da heisst Richard.“10 Und er ging zu einem Schranke und holte Bücher hervor, vier an der Zahl, das Buch des holländischen Schiffskapitains, das Buch des römischen Demokraten,11 das des Tannhäuser und das des Lohengrin. „Verkaufe mir deinen Schatten für diese fünf Bücher;“ sagte Richard, „denn es sind die Bücher des Lebens, meine Bücher.“12 Und Liszt nahm die Bücher, und Richard nahm den Schatten. Der Schatten war leicht, die Bücher aber waren schwer. Und Liszt ging fort ohne seinen Schatten und nahm die Bücher mit nach Weimar. In Weimar angekommen, griff er zu Feder und Dinte, und setzte sich hin, und wollte Niemanden sehen, denn er wagte nicht in die Sonne zu treten, damit sein Herr, der Grossherzog nicht nach dem Schatten fragen sollte. Und Liszt schrieb ein Buch, ein Buch über Richard, und des Buchs Titel war: „Richard Wagners Lohengrin und Tannhäuser, von Franz Liszt mit Musik-Beilagen.“ Er schrieb es in französischer Sprache, und es wurde aus dem Französischen übersetzt ins Deutsche durch Dr. Ernst Weyden, und gedruckt in der heiligen Stadt Cöln, im
eine Anlehnung an die Märchenerzählung Peter Schlemihl’s wundersame Geschichte (ED 1814) von Adelbert von Chamisso, in welcher Schlemihl seinen Schatten dem Teufel verkauft und dann feststellen muss, dass die Schattenlosigkeit den Ausschluss aus der menschlichen Gesellschaft nach sich zieht. 11 Gemeint sind Wagners Opern Der fliegende Holländer (UA 1843) und Rienzi (UA 1842). 12 An dieser Stelle ist im englischen Text noch der Satz eingefügt: „Thou shalt, moreover, have the fifth, which is yet unfinished.“ 10 Wahrscheinlich
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Jahre zwei und fünfzig des Herrn, durch Franz Carl Eisen, und gierig verschlungen von den Völkern.13 – Und Manche der Völker wurden überzeugt und sagten: „Schaut, der Prophet hat seine Worte wahr gemacht; Richard ist der Mann und nicht Robert!“ Andere aber, erbaut, nur noch nicht vollständig bekehrt, meinten, Robert könne es eben so gut sein als Richard. Der Rest wurde böse, wollte von Beiden nichts mehr wissen, kehrte zur alten Religion zurück und verehrte wieder Mendelssohn. Und Liszt ergrimmte darob, und ging über Nacht weg, und kam zu Richard und forderte seinen Schatten zurück. Richard aber wollte nichts davon wissen, denn, sagte er, du hast die Völker noch nicht über Lohengrin hinlänglich belehrt. Da hätte Liszt den Richard gerne wieder abgesetzt, aber es ging nicht, worüber seine Seele sehr betrübt war, so dass er nach Weimar zurück ging und dort sein Buch über Chopin14 verbrannte, wie alle seine Bände für Escudier15. Dann ging er zu seinem Bücherbrett und nahm von da ein Werk, welches lange vom Staub bedeckt gelegen hatte, den Propheten von Meyerbeer, und umschrieb die Eis-Scene fürs Clavier16, und schickte sie nach Brüssel an Madame Pleyel17, die berühmte Pianistin, welche die Pièce so oft und mit so grossem Erfolg spielte, dass es endlich zu den Ohren Richards gelangte. Richard aber dachte, dass alle Zeit und Mühe, die nicht auf Lohengrin und Tannhäuser verwandt würden, verloren seien. Er remonstrirte desshalb. Worauf Liszt hinging und neue Etüden18 schrieb und sie wieder der Madame Pleyel nach Brüssel schickte. Das war seine Antwort. Richard remonstrirte von Neuem, denn, sagte er, du hast die Völker noch nicht wegen Lohengrin überzeugt. Liszt aber schrieb statt aller Antwort neue Transcriptionen19 und schickte selbe abermals nach Brüssel. Und als Richard abermals remonstrirte und fand, dass alle seine Proteste vergebens seien, da drohte er Liszt, er würde ihm seinen Schatten zurückschicken. Liszt aber dachte bei sich – endlich werde ich meinen Schatten zurückbekommen. Und er ging schnurstracks hin, und setzte Hector Berlioz an und brachte
Schrift war zunächst 1851 in Leipzig auf Französisch unter dem Titel Lohengrin et Tannhaüser de Richard Wagner, ein Jahr später in deutscher Übersetzung als Richard Wagner’s Lohengrin und Tannhäuser erschienen. 14 Liszt 1852 F. Chopin. 15 Hiermit ist wahrscheinlich die Zeitschrift der Pariser Verleger Léon und Marie Escudier La France musicale gemeint, in der Liszts Schrift über Chopin 1851 zunächst als Artikelserie erschienen war. 16 Franz Liszt, Illustrations du Prophète S 414 (ED 1850): 1. Prière, Hymne triomphale, Marche du sacre, 2. Les Patineurs. Scherzo, 3. Chœur pastoral, Appel aux armes. Hier ist speziell der 2. Teil gemeint, der sich auf das 2. Bild des 3. Aktes von Meyerbeers Le Prophète (UA 1849) bezieht: Bäuerinnen und Bauern gelangen über einen vereisten See in das Winterlager der Wiedertäufer, um sie mit Lebensmitteln zu versorgen. 17 Marie Pleyel, geb. Moke (1811–1875), war eine französische Pianistin und Ehefrau des Klavierbauers Camille Pleyel, von dem sie jedoch 1835 geschieden wurde. François-Joseph Fétis berief sie 1848 als Professorin ans Brüsseler Konservatorium, wo sie bis 1872 lehrte. Liszt schätzte sie als bedeutende Pianistin und widmete ihr die Tarantelle di bravura d’après la Tarantelle de „La muette de Portici“ S 386 (ED 1847). 18 Möglicherweise ist hier gemeint: Franz Liszt, Études d’exécution transcendante S 139 (ED 1851, ausgenommen Nr. 4). 19 Gemeint sein könnten Liszts Zwei Stücke aus R. Wagner’s Tannhäuser und Lohengrin S 445 (ED 1853), die frühesten seiner freien Bearbeitungen von Stücken aus Opern Wagners, insbesondere die Nr. 2, „Elsa’s Brautgang zum Münster“, die sich auf die 4. Szene des 2. Aktes von Lohengrin bezieht. 13 Die
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dessen Oper, genannt Benvenuto Cellini, auf die Bühne zu Weimar, und liess sie daselbst aufführen mit grossem Pomp und vielen Ceremonien.20 Und die Völker hörten die Musik, und glaubten, und riefen aus: „Hector ist der Mann, nicht Richard noch Robert!“ Richard aber schäumte vor Wuth und sein Zorn war schrecklich. So ist heute der Stand der Sachen. Wenn Liszt seinen Schatten nicht wieder erhält, so ist es seine Schuld, nicht unsere; wir rufen ihm nur noch zu: „List, list! O Liszt!“21
Kommentar Die in der Rheinischen Musik-Zeitung abgedruckte Übersetzung eines sehr wahrscheinlich vom Kritiker James William Davison22 stammenden Artikels, der am 6. August 1853 in der Londoner Musical World unter dem Titel „News from Liszt“23 erschienen war, ist nicht nur ein frühes Beispiel für die wechselseitige englisch-deutsche Wahrnehmung in den Musikzeitschriften, sondern auch ein eindrucksvoller Beweis für die literarische Vielfalt der zeitgenössischen Berichterstattung über das künstlerisch-literarische Eintreten Franz Liszts für die damalige musikalische Avantgarde. Aufschlussreich ist vor allem, wie das Verhältnis der angeblichen Avantgarde untereinander beschrieben wird: Liszt als Königsmacher, der zunächst Schumann, dann Wagner und schließlich Berlioz protegiert, Wagner als eine Art Teufel, der Liszt für sich zu instrumentali-
20 Liszt führte Berlioz’ Benvenuto Cellini (UA 1838) am 20. März 1852 erstmals in Weimar auf. Es folgten im selben Jahr noch vier weitere Aufführungen, u. a. zweimal während der Berlioz-Woche im November 1852 in Anwesenheit des Komponisten. 21 Im englischen Original schließt sich noch folgender Abschnitt an: „Your ‚Deux Arabesques‘ will go forth to all the peoples. Cranz, and Brandus, and Ewer, will sell them in thousands. We like them much – especially the Chanson Bohemienne (the nightingale is somewhat flighty), which you ought to have dedicated to Wilhelmina Clauss. But – ‚List, list, oh! Liszt!‘ Take your pen, and scratch out all the Wagnerisms that deface them; and, when cleaned and purified, send them forth again. Not to multiply instances, we refer you to the last page of the Bohemienne – the 13th page. If you would not that one of your pages die within a year, take the matter in your own hands, and cut out the 13th incontinent. It is mere e cophony, and much hearing of it will make a man deaf – or at least engender a cachexy. The whole of lines 2-3-4 is stark nonsense. Lop them off lightly, and we promise to aid you in getting back your shadow, and to pray that it may never be less. Slice away; it is but fungus you remove – proud flesh, in which you should have no pride. Cut, we beseech you!“ 22 James William Davison (1813 –1885) gab The Musical World in den Jahren von 1844 bis 1885 heraus und verfasste auch nahezu sämtliche Artikel für sie, die in den meisten Fällen jedoch anonym oder unter verschiedensten Pseudonymen veröffentlicht wurden (vgl. Kitson 2006 Musical World). 23 Anonym 1853 News from Liszt.
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sieren versucht, und schließlich Felix Mendelssohn Bartholdy als Gegenpol zu allen anderen Genannten. Damit findet sich schon hier die später häufig anzutreffende Auffassung, Liszts Bedeutung innerhalb der Musikgeschichte liege primär in seinem selbstlosen Eintreten für die Werke anderer in kompositorischer Form, sowohl durch Transskriptionen und Paraphrasen, als Dirigent fremder Werke sowie als Schriftsteller. Bemerkenswert ist dabei die Verwendung eines biblischen Duktus und religiöser Termini, welche die auch in späterer Zeit immer wieder insbesondere in den englischen Musikzeitschriften betonte quasi-geheimbündlerische Tätigkeit Liszts und Wagners mit Hilfe ihrer ‚Jünger‘ sowohl in Aufsätzen als auch durch Aufführungen ihrer Werke untermauern sollte.24 Der Wiederabdruck dieser aufgrund der zahlreichen Wortspiele und Anspielungen schwer zu übersetzenden Satire in der Rheinischen Musik-Zeitung belegt zudem, wie die seit 1836 etablierte britische Musikzeitschrift nicht zuletzt mit dem Ziel zitiert wurde, die mehr und mehr ablehnende Haltung der in Bonn erscheinenden Rheinischen Musik-Zeitung gegenüber Liszts Wirken durch das Heranziehen gleichsam neutraler, ausländischer Autoritäten zu untermauern.
24 Vgl.
etwa Davison 1855 Richard Wagner, in: NdS 2 Nr. 75.
Neue Protagonisten und die Zuspitzung der Kontroverse Die Jahre 1853 bis 1854
„Schließt […] den Kreis fester, daß die Wahrheit der Kunst immer klarer leuchte.“1 Der Herbst 1853 brachte drei Ereignisse, die entscheidende Auswirkungen auf die Gestaltung und Wahrnehmung des deutschen Musiklebens hatten. Diese führten wesentlich sowohl zur Vertiefung bereits bestehender als auch zur Entstehung gänzlich neuer Qualitäten der Auseinandersetzung mit den musikästhetischen, kompositorischen, musikpraktischen und kulturpolitischen Anschauungen. Nicht zuletzt trugen sie zur erheblichen Verschärfung der polemisch geführten, musikästhetischen Kontroverse bei, bis hin zu einer Konsolidierung der beiden musikalischen Parteien.
„Die neueste Musikrichtung“2 in Süddeutschland Das erste und folgenreichste Ereignis war sicherlich das Karlsruher Musikfest am 3. und 5. Oktober 1853. Unter Franz Liszts Dirigat sowie seiner alleinigen Programmgestaltung der Konzerte war beabsichtigt, neben Werken von Johann Sebastian Bach, Wolfgang Amadeus Mozart, Felix Mendelssohn Bartholdy und Ludwig van Beethoven „die neuesten Produkte der modernen musikalischen Schule“3 ins Zentrum des Programms zu stellen, namentlich Werke Richard Wagners, Franz Liszts, Robert Schumanns, Hector Berlioz’ und Giacomo Meyerbeers.4 Es waren diese Programmzusammenstellung Liszts sowie die hinter den einzelnen Werken stehenden neuen ästhetischen Vorstellungen und deren kompositorische Umsetzungen, die zu einer beispiellosen Welle von Rezensionen, enthusiastischen Berichten und analytischen Auseinandersetzungen bis hin zu polemischen Verrissen führten;5 gleichzeitig rückte nun auch Liszt durch die Aufführung seiner Festkantate An die Künstler als Kom-
1853 Neue Bahnen, S. 186, in: NdS 1 Nr. 49, S. 529. 2 A. Z. 1853 Das Musikfest in Karlsruhe, S. 339. 3 Anonym 1853 Auf Anregung Sr. k. Hoheit, S. 109. 4 Wie schon 1852 während des Musikfestes in Ballenstedt wurden Wagners Ouvertüre zu Tannhäuser als programmatischer Rahmen der Konzerte gleich zweimal gegeben und auch Teile aus seinem Lohengrin vorgetragen. Außerdem wurden Berlioz’ dramatische Symphonie Roméo et Juliette, erstmals eine Szene aus Meyerbeers Oper Le Prophète und seine Ouvertüre zur Bühnenmusik Struensee, Liszts Phantasie über Motive aus Beethovens Die Ruinen von Athen sowie sein Festgesang An die Künstler, Joseph Joachims von ihm selbst vorgetragenes 3. Violinkonzert und Schumanns Manfred-Ouvertüre aufgeführt. 5 Siehe die Kommentare zu H. 1853 Das karlsruher Musikfest, in: NdS 1 Nr. 50; Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51. 1 Schumann
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Einleitung
ponist ins Blickfeld der Musikkritik. Überdies geriet sein als neumodisch und extravagant aufgefasster Dirigierstil ins Visier einer speziell durch Ferdinand Hiller angeregten Auseinandersetzung.6 Im Gegensatz zum ersten von Liszt geleiteten Musikfest im Vorjahr, das unweit der mit Liszt und Brendel verbundenen Orte Weimar und Leipzig in Ballenstedt stattgefunden hatte und von der Tages- und Fachpresse weitgehend positiv aufgenommen worden war,7 so musste das zweite der zeitgenössischen Festivals im musikalisch konservativ geprägten Karlsruhe geradezu als Provokation verstanden werden. Als eben solche beabsichtigt, hatte Liszt diese Konzerte, wie es die Berliner Musik-Zeitung Echo pointierte, sowohl dazu konzipiert, „der neuesten Musikrichtung Bahn in Süddeutschland zu brechen“8 als auch einen modernen Kontrapunkt zu den weit verbreiteten, „traditionellen Musikfesten mit ihren überaus konservativen Konzertprogrammen“ zu setzen, die „sich während Jahrzehnten sehr erfolgreich allen Forderungen, progressive, zeitgenössische Musik aufzuführen“9, widersetzt hatten. Dies veranlasste die Kritik umso mehr, das gesamte Ereignis der Karlsruher Zusammenkunft als eine unter Liszts Prägung stehende Propaganda-Veranstaltung für die sogenannte Zukunftsmusik zu begreifen, die später in den ab 1861 jährlich veranstalteten Musikfesten des ADMV eine auch institutionelle Festigung erhalten sollten. Die auf allen Ebenen entbrannten Auseinandersetzungen führten zu Angriffen, die immer häufiger gebündelt gegen die ‚Zukunftsmusiker‘ als Gruppierung vorgebracht wurden und ihnen etwa „traurig-öde Melodielosigkeit, geflissentliches Vermeiden aller Form, ein ewiges Hin- und Herzerren kleiner Motive. Gespreiztheit, Effecthascherei“10 vorwarfen. Im Übergang zu parteiähnlichen Lagerbildungen entwickelte sich eine neue Qualität der Konfrontation, die sich auf zwei Ebenen abspielte: Zum einen ist ein vehementer Konflikt zwischen einzelnen Zeitschriften wahrzunehmen, die in ihrer Parteinahme für oder gegen die modernen Bestrebungen in direkter Konfrontation gegeneinander standen. Zum anderen erreichte die durch das Karlsruher Musikfest sich zuspitzende Kontroverse, dass der Disput um das früher in den Musikzeitschriften als „Wagner-Schule“ oder auch „WagnerPartei“ apostrophierte Lager sich allmählich von einer nur auf Wagner konzentrierten Debatte löste. Das Gruppieren mehrerer fortschrittlich gesinnter Künstler und ein Abgrenzen und Polemisieren gegen ganze Lager war auf beiden Seiten die Folge und mündete in einer regelrechten Gegenüberstellung zweier „Parteien“11. Deren Akteure bzw. ihre Zusammensetzung wurde jedoch von den Autoren und Zeitschriften nicht einheitlich betrachtet, sondern variierten vielmehr, abhängig vom jeweils diskutierten Gegenstand der Artikel.
beispielsweise H. 1853 Das karlsruher Musikfest, in: NdS 1 Nr. 50. 7 Siehe zum Ballenstedter Musikfest und dessen Besprechung in der Presse die Einleitung „Die Jahre 1852 bis 1853“, in: NdS 1, S. 273 f. sowie Anonym 1852 Das Musikfest zu Ballenstedt, in: NdS 1 Nr. 34; V. B. 1852 Das Musikfest in Ballenstädt, in: NdS 1 Nr. 33. 8 A. Z. 1853 Das Musikfest in Karlsruhe, S. 339. 9 Beide Zitate des Satzes Weibel 2006 Die deutschen Musikfeste, S. 517. 10 J. S. 1879 Ein Musikfest in Wiesbaden, S. 297. 11 Erstmals kürte Brendel 1852 die NZfM zum Organ einer „Partei“ des Fortschritts, siehe Brendel 1852 Zum neuen Jahr, in: NdS 1 Nr. 27. 6 Siehe
Neue Protagonisten und die Zuspitzung der Kontroverse
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„Geheimes Bündniß verwandter Geister“12 oder „fortschrittliche Bahnen“? Ein zweites einschneidendes Ereignis des Herbstes 1853, das seine Wirkung erst im Verlauf des Folgejahrs entfalten sollte, war der kurze, jedoch folgenreiche Artikel Robert Schumanns über Johannes Brahms.13 Der noch gänzlich unbekannte junge Hamburger Komponist war erst einige Male mit kleineren Klavierwerken aufgetreten. Folglich bespricht Schumann in diesem berühmt gewordenen Artikel nahezu unbekannte Werke Brahms’ und stilisiert ihn, ohne die sonst als fortschrittlich bezeichneten Komponisten auch nur zu erwähnen, zum „Vorboten“ einer neuen Musik. Dass Schumann diesen Artikel nicht ganz uneigennützig verfasste, sondern zum einen damit auch „seine musikalische Richtung“ protegierte und sich zum anderen damit von Brendel und der „neuen Schule“ provokativ zu distanzieren versuchte, wurde bereits von den Zeitgenossen vermutet.14 Die weitere Entwicklung der Kontroverse um den Fortschritt in der Musik zeigte jedoch eine ganz andere Wirkung, insbesondere die Instrumentalisierung von Schumanns Artikel. So sollte die Tatsache, dass Schumann seine Stellungnahme über Brahms in der NZfM als ‚offiziellem‘ Organ des Fortschritts veröffentlichte15 zu einer zeitweiligen Identifizierung des jungen Komponisten mit dem Kreis um Brendel führen. Der Umstand, dass kurz darauf zwei Rezensionen der NZfM vom Dezember 185316 und Januar 185417 Schumanns Urteil als vollkommen gerechtfertigt stützten und zusätzlich Brahms in direkten Zusammenhang mit Berlioz, Schumann und Wagner setzten, bekräftigte dies zusätzlich. Charakteristisch für die damaligen Auseinandersetzungen war, dass Brahms ganz unvermittelt zu einem der Akteure innerhalb der Parteistreitigkeiten erklärt wurde. Anders hingegen als bei Wagner, Liszt, Berlioz und auch Schumann führten weder neuartige Werke noch kompositorische Eigenheiten oder ästhetische Positionen zu seiner Zuordnung zur Fortschrittspartei.
„[…] von der überwältigenden Macht des Berlioz’schen Genies“18 Berlioz-Euphorie in Deutschland Ein dritter Auslöser, der die Qualität in der Diskussion um eine fortschrittliche Musik weiter modifizierte, waren die Berlioz gewidmeten und auch von ihm geleiteten Konzerte im Jahre 1853 in Deutschland. Einen neuen Auftrieb hatte die Rezeption des
12 Schumann 1853 Neue Bahnen, S. 186, in: NdS 1 Nr. 49, S. 529. 13 Ebd. 14 Anonym 1854 Musik, S. 38. 15 Schon kurz nach der Übernahme der NZfM bat Brendel Schumann darum, wieder einmal für die Zeitschrift zu schreiben: „Wenn Sie eine halbe Spalte schreiben, ist es ausreichend. Damit würden Sie mir einen Gefallen erweisen. Die passendste Gelegenheit würde ein neu auftretendes Talent bieten; aber es ist eben keines da“ (Brief von Brendel an Schumann vom 25. April 1845, in: Schumann-Briefe II, 5, S. 240 f.) 16 Schloenbach 1853 Ein offener Brief an Franz Brendel. 17 Gleich 1854 Leipzig. 18 12. 1853 Hannover, S. 1417, in: NdS 1 Nr. 53, S. 563.
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Einleitung
französischen Komponisten bereits 1852 durch die von Liszt dirigierten Aufführungen von Benvenuto Cellini, durch die ebenfalls von ihm initiierten Weimarer BerliozWochen im November sowie durch die vom Komponisten dort selbst aufgeführten Werke Roméo et Juliette und La Damnation de Faust gegeben. Berlioz gastierte im August 1853 und erneut von Oktober bis Dezember mit großem Erfolg in mehreren deutschen Städten. Im Anschluss an seine im April 1854 absolvierten Aufführungen bemerkte Hans von Bülow, die vier Dresdener Konzerte seien „zu einem der leuchtendsten Triumphe [geworden], die Berlioz je in Deutschland gefeiert hat“.19 Seine Auftritte 1853 und 1854 fanden in der Presse vielfältige Resonanz. Doch provozierte neben vielen positiven Berichten20, in denen Berlioz’ Kompositionen beispielsweise mit Blick auf die „Sicherheit der Wirkung“ und „Klarheit und Durchsichtigkeit der Instrumentation“21 als dialektische Überhöhung Beethovens angepriesen wurden, diese allgemeine Euphorie auch etliche Gegenstimmen.22 Programmmusik und Tonmalerei23 wurden durch die programmatischen Werke des französischen Komponisten wieder stärker zum Gegenstand der Debatten um den Fortschritt in der Musik. Mit den ersten Aufführungen von Liszts Symphonischen Dichtungen im April und November 1854 erhielt die Diskussion darüber hinaus eine gänzlich neue Grundlage.
Neue Qualitäten der Kontroverse: Die Duelle zwischen den Zeitschriften Die ersten Monate nach dem Karlsruher Musikfest waren bestimmt von den zunehmend schärfer gewordenen Streitigkeiten, die parallel dazu durch Berlioz’ intensive und enthusiastisch aufgenommene Konzerttätigkeit in Deutschland zusätzlichen Zündstoff erhielten. So kam es, durch polemische Meinungsführer angespornt, immer mehr zu einer Frontenbildung für und wider die in Karlsruhe als fortschrittliche Künstler gefeierten Komponisten samt deren Protegés. Waren die Berichte bis zum Jahresende 1853 insbesondere durch exponierte Konzertereignisse angeregt worden, wie die in Karlsruhe24, Berlioz’ Dirigate in Hannover25 und Leipzig26 sowie durch erste Aufführungen von Wagners Werken im musikalisch konservativ geprägten München und Stuttgart27, so zeigten sich die mit dem neuen Jahr 1854 er-
19 „La soirée d’hier a été un des plus éclatants triomphes que Berlioz ait célébrés en Allemagne.“ Brief Hans von Bülows an Liszt, Dresden, 30. April 1854, zit. nach: Liszt-Briefe (Bülow), S. 76. 20 So beispielweise Lobe 1853 Liszt und Berlioz in Weimar, in: NdS 1 Nr. 38; Lobe 1853 Hektor Berlioz, in: NdS 1 Nr. 43; Anonym 1853 Les Soirées d’Orchestre; Anonym 1853 Hannover; 12. 1853 Hannover, in: NdS 1 Nr. 53; 30. 1853 Leipziger Briefe; Pohl 1853 Hector Berlioz; Cornelius 1854 Eine Kunstfahrt nach Leipzig, in: NdS 1 Nr. 56. 21 Beide Zitate 12. 1853 Hannover, S. 1417, in: NdS 1 Nr. 53, S. 563. 22 Siehe beispielsweise Jahn 1853 Die Verdammniß des Faust; Anonym 1853b Musik; Jahn 1853 Hector Berlioz in Leipzig, in: NdS 1 Nr. 55. 23 So u. a. 12. 1853 Hannover, in: NdS 1 Nr. 53; Jahn 1853 Hector Berlioz in Leipzig, in: NdS 1 Nr. 55. 24 H. 1853 Das karlsruher Musikfest, in: NdS 1 Nr. 50; Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51. 25 12. 1853 Hannover, in: NdS 1 Nr. 53. 26 Jahn 1853 Hector Berlioz in Leipzig, in: NdS 1 Nr. 55. 27 Bülow 1853 Die Opposition in Süddeutschland, in: NdS 1 Nr. 54.
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scheinenden Artikel zunehmend als Reaktionen auf die Berichterstattung der jeweils gegnerischen Seite. Da es in den Stellungnahmen zu den Angriffen der gegnerischen Seite um einen Streit um Grundsatzfragen, um das Alte und Neue sowie das Richtige und Falsche in der Musik bzw. um die Verteidigung der eigenen Position ging, gerieten auch die Zeitschriften immer mehr in die Lage, ihre eigene Meinung als Standpunkt einer geschlossenen Institution nach außen hin verteidigen zu müssen. Dies führte zu hitzigen Streitigkeiten zwischen den einzelnen Zeitschriften selbst. So nimmt etwa eine frühe Stellungnahme der Grenzboten28 des Jahres 1854 unterschiedliche Artikel29 zum Anlass, den angeblich zu den Fortschrittskünstlern konvertierten Johann Christian Lobe sowie deren gesamte Gruppierung der Willkür zu bezichtigen. Die als Meinungsführer und Verteidiger der fortschrittlichen Bestrebungen agierende NZfM reagierte daraufhin mit einem höchst polemischen Angriff gegen die ganze Institution der Grenzboten30 und konterte zudem mit einer formellen Konstituierung einer musikalischen Fortschrittspartei. Die Auseinandersetzungen zwischen der NZfM und den Grenzboten hatten sich bereits seit den Streitigkeiten 1851 zwischen Brendel31, Bülow32 und dem Musikreferenten der Grenzboten, August Ferdinand Riccius, manifestiert, die durch Wagners pseudonym publizierten Aufsatz über das „Judenthum in der Musik“33 ausgelöst worden waren.34 Den Grenzboten ähnlich reagierte auch die konservative Niederrheinische Musik-Zeitung mit einem Direktangriff 35 gegen Bülows Verriss der beiden konservativeren süddeutschen Dirigenten Franz Lachner und Peter Joseph von Lindpaintner in der NZfM36. In dieser Replik der Niederrheinischen zeigt sich die erst im Juli 1853 ebenfalls durch Ludwig Bischoff gegründete Zeitschrift deutlich als ein mit der Rheinischen Musik-Zeitung verschwistertes Blatt, das bereits im Mai 1853 einen Höhepunkt im Schlagabtausch mit der NZfM erreicht hatte.37 Diese Rolle im Streit zwischen den Zeitschriften war vor allem an Bischoff geknüpft, der diese durch die Gründung der Niederrheinischen auch auf das neue Organ übertrug. Die Rheinische Musik-Zeitung zog sich daraufhin unter ihrem neuen Redakteur Riccius immer mehr aus den Kontroversen zurück. In der Niederrheinischen Musik-Zeitung ergriff Bischoff hingegen weiterhin Partei für die ‚traditionellen‘ Dirigenten Lachner und Lindpaintner – gegen Bülow und die sogenannten Zukunftsmusiker. Zwar hatte er Mitte 1853 zur Gründung seiner neuen Zeitschrift noch die Überparteilichkeit des Blattes angekündigt,38 doch den in der Rheinischen begonnenen Kampf mit der Fortschrittspartei bereits fortgeführt und sich dann in seinen Neujahrsworten 1854 ganz offiziell gegen die „neueste Schule“ gestellt.39 Zudem positionierte er sich und seine Zeitschrift in Anlehnung an Raff deutlich gegen einige derjenigen charakteristischen
1854 Neueste musikalische Literatur, in: NdS 1 Nr. 58. 29 Darunter Pohl 1853 Das Karlsruher Musikfest; Lobe 1854 Ästhetische Briefe II. 30 Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik, in: NdS 1 Nr. 62. 31 Siehe Brendel 1851 Zur Beurtheilung der Schriften und Brendel 1851 Polemisches. 32 Bülow 1851 Entgegnung. 33 Wagner 1850 Das Judenthum. 34 Vgl. Einleitung „Die Jahre 1850 bis 1851“, in: NdS 1, S. 199 – 206. 35 J. B. 1854 Die Opposition Süddeutschlands, in: NdS 1 Nr. 60. 36 Bülow 1853 Die Opposition in Süddeutschland, in: NdS 1 Nr. 54. 37 Pohl 1853 Die Rheinische Musikzeitung in der Schulprüfung, in: NdS 1 Nr. 44. 38 Bischoff 1853 Noch einmal: Was wir wollen. 39 Bischoff 1854 Nichts Neues, in: NdS 1 Nr. 57. 28 Anonym
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Einleitung
Eigenschaften, die späterhin als „neudeutsch“ propagiert wurden,40 zuvor jedoch seit 183541 durch Liszt und auch von Brendel und der NZfM42 gefordert und breit diskutiert worden waren: eine gewandelte, stärker inhaltsästhetische Werkwahrnehmung sowie ein neuartiges Künstlerverständnis, das auf die Vereinigung des komponierenden und schreibend reflektierenden Künstlers in einer Person zielte.43 Die Konfrontation zwischen den beiden Zeitschriften wurde durch den neuen Mitarbeiter Eduard Krüger, der nach langer Tätigkeit für die NZfM zu Beginn des Jahres 1854 zu Bischoffs Niederrheinischer Musik-Zeitung gewechselt war, noch um ein Vielfaches verschärft: Krügers langjährige Freundschaft mit Schumann wurde zunehmend durch seine kritische Haltung gegenüber Schumanns Kompositionen erschwert und führte 1851, als er dessen Genoveva als „Geburt des verschlagenen Weltschmerzes“ und als „Sturz in den Abgrund“44 verriss, zur Aufkündigung des freundschaftlichen Verhältnisses durch Schumann. Als Krüger deswegen auch bei Theodor Uhlig zunehmend in Ungnade fiel,45 verließ er zu Beginn des Jahres 1854 offiziell die NZfM. Seine persönlichen Animositäten gegenüber dem bereits Anfang 1853 sehr jung verstorbenen Wagner-Verehrer Uhlig46, gegenüber Schumann sowie der gesamten NZfM waren wohl größtenteils ausschlaggebend sowohl für die Anonymität seiner ersten in der Niederrheinischen Musik-Zeitung erschienenen Stellungnahmen47 als auch für das dann folgende Verwenden des programmatischen Pseudonyms „DIXI.“48 Es scheint ebenso vielsagend im Hinblik auf die Fülle seiner Texte sowie seine während der Jahre 1854/55 hoch polemische und insbesondere der NZfM gegenüber vernichtend kritische Haltung. Neben dem Disput mit der Niederrheinischen stand die NZfM längere Zeit auch in Konfrontation zur Rheinischen Musik-Zeitung, die Bischoff zu ihrer Gründung 1850 eigentlich als „ein Organ des Musiklebens am Rheine und überhaupt im Westen“49 propagiert und deren Funktion auf eine „vornehmlich lokale“50 eingeschränkt hatte. Das Blatt ließ jedoch beispielweise die nach außen hin als Ankündigung eines neuen Mitglieds der ‚Zukunftsmusik‘ wahrgenommene Stellungnahme Schumanns zu Brahms keineswegs unkommentiert. Durch den Abdruck eines Artikels von Lobe51 richtete sie sich gegen die von der NZfM angekündigten „Neuen Bahnen“, unter gezielter Instrumentalisierung des bereits verstorbenen Mendelssohn Bartholdy, den Lobe – als musikalische Autorität – in ein fiktives Gespräch einband.52 Genau hier wird jedoch die Ambivalenz der zunehmenden Parteibildung deutlich. Denn die konservative Rheinische Musik-Zeitung bediente sich im genannten Artikel
Brendel 1859 Zur Anbahnung einer Verständigung, in: NdS 3 Nr. 126. 41 Siehe Liszt 1835 De la situation des artistes. 42 Siehe Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik, in: NdS 1 Nr. 62. 43 J. B. 1854 Die Opposition Süddeutschlands, in: NdS 1 Nr. 60. 44 Beide Zitate Krüger 1851 Robert Schumann, S. 130 f. 45 Die Schärfe der Auseinandersetzung zwischen Krüger und Uhlig zeigen insbesondere die Artikel Krüger 1851 Zeitsinniges und Uhlig 1851 Bekenntnisse. 46 Geboren 1822, verstarb Uhlig bereits am 3. Januar 1853 in Dresden. 47 Anonym 1854 Richard Wagner, in: NdS 1 Nr. 63. 48 Siehe einige unter „DIXI.“ veröffentlichte Artikel: Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, in: NdS 1 Nr. 66; Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67; Krüger 1855 Liszt „An die Künstler“, in: NdS 2 Nr. 84. 49 Bischoff 1850 Was wir wollen, S. 5. 50 Fellinger 1968 Verzeichnis der Musikzeitschriften des 19. Jahrhunderts, S. 20. 51 Lobe 1854 Gespräche mit Felix Mendelssohn. 52 Anonym 1854 Neue Bahnen. 40 Siehe
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gegen die „Neuen Bahnen“ Schumanns und so auch gegen die NZfM der hilfreichen Stimme Lobes durch seine gerade von traditioneller musikästhetischer Auffassung gestützte Musikgeschichtsvorstellung, obwohl Lobe erst vier Wochen zuvor von den Grenzboten zum Anhänger der „Zukunftskünstler“ stilisiert worden war.53
Die Ambivalenz der Parteien und neue Protagonisten Die über ein Jahrzehnt gewachsene, kontrovers geführte Diskussion um die ästhetische und kulturpolitische Funktion der Musik erreichte 1854 nach dem Karlsruher Musikfest eine Zuspitzung. Damit ging auch der erste Höhepunkt der Lagerbildung von Künstlern und Verteidigern zeitgenössischer, avantgardistischer Kunst einher. Dies hatte bereits mit der allmählichen Loslösung von der bis 1852 ausschließlich um Wagner geführten Debatte begonnen: Die sogenannte Wagner-Partei hatte durch die zunehmend differenzierte Wahrnehmung von Schriften und Werken des Komponisten und durch Liszts Einsatz auch für andere moderne Künstler sowie durch das 1853 erneut gefeierte Auftreten Berlioz’ in Deutschland bald auch in anderen Komponisten ein ähnlich fortschrittliches Potential gesehen. Dies hatte eine Erweiterung des Kreises über die reine Wagner-Anhängerschaft hinaus zur Folge. Auch wenn nach außen hin zunächst ein vermeintlich scharf abgegrenztes Bild der beiden entgegengesetzten Lager bestand, so war es für die Kontroverse für oder wider die ‚Zukunftsmusik‘ zugleich charakteristisch, dass keine einheitliche Ansicht darüber existierte, wer tatsächlich zu den vermeintlich zwei Richtungen, den „Cliquen“, „Lagern“, „Schulen“ oder „Parteien“ zu zählen war.54 So vertrat beinahe jeder Autor oder jede Zeitschrift eigene Vorstellungen von den hinter diesen Gruppierungen stehenden Künstlern, die sich immer aus genau denjenigen Personen zusammensetzten, für oder gegen die der Schreibende eine besondere Sympathie oder Antipathie hegte. Die Ausnahme hierbei bildeten lediglich Brendel und Wagner, die stets als fester Kern einer Fortschrittspartei betrachtet wurden. Signifikant für diese Ambivalenz ist die Wahrnehmung Schumanns: Dieser hatte 1834 bei der Gründung der NZfM als Organ der romantischen Musikauffassung seine ästhetische Position, „die alte Zeit und ihre Werke anzuerkennen, die letzt vergangenen als eine unkünstlerische zu bekämpfen und eine neue, poetischere zu beschleunigen“55 zur leitenden Maxime seiner Zeitschrift erklärt. Nach seinem Ausscheiden aus der Zeitschrift, deren unabhängige Haltung es ihm von Anfang an erlaubt hatte, „bei ihrer Herausgabe nach rein künstlerischen Gesichtspunkten zu verfahren“,56 publizierte er in der unter Brendels Redaktion zu einem Blatt des Fortschritts57 avancierenden NZfM nur noch ganz vereinzelt kleinere Kritiken. Obwohl Schumann 1853 sowohl sich selbst als auch Brahms mit seinem „Neue Bahnen“-Aufsatz auf ästhetischer und musikkritischer Ebene von Brendel und der
1854 Neueste musikalische Literatur. 54 Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik, S. 92, in: NdS 1 Nr. 62, S. 665. 55 Schumann 1835 Zur Eröffnung des Jahrganges 1835, S. 3. 56 Fellinger 1998 Art. „Zeitschriften“, Sp. 2260. 57 Vgl. Weibel 2006 Die deutschen Musikfeste, S. 525. 53 Anonym
Einleitung
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neuen Schule öffentlich distanzierte, wurden beide Komponisten von Seiten der NZfM zur Stützung ihrer musikalischen Partei für den Fortschritt herangezogen; eine Haltung, die auch das in den Vereinigten Staaten von Amerika erscheinende Dwight’s Journal bereits Anfang des Jahres 1854 übernahm; ebenso aus Rheinischer und Niederrheinischer, wenn auch abschätziger Perspektive wurden Schumann und Brahms in Verbindung mit Wagner, Berlioz und Meyerbeer genannt. Die im Parteienstreit eher konservativ eingestellten Grenzboten scheinen die möglichen Intentionen Schumanns aufzugreifen: In einem auf die „Neuen Bahnen“ Schumanns folgenden Artikel – einer der frühen Erwähnungen Brahms58 – führten die Grenzboten in ihrer Diskussion von Berlioz’ Werken die traditionelle Kompositionsästhetik von Schumann und Brahms an, um sie als positives Gegenstück zu Berlioz’ Idee der Programmmusik sowie seiner als unangenehm empfundenen Instrumentation hervorzuheben. Neben den ambivalenten Rollen Schumanns, Brahms’ und Lobes gibt auch die Betrachtung der Position Berlioz’ Aufschluss darüber, welch unterschiedliches Verständnis der zeitgenössischen Werke zu dieser Zeit kursierte. Seit seiner Konzertreise im Herbst 1853 durch Deutschland berichteten zunächst sowohl die NZfM als auch die konservative Rheinische Musik-Zeitung geradezu enthusiastisch über ihn; dagegen ließ die mit der Rheinischen verschwisterte Niederrheinische Musik-Zeitung seit dem Auftreten Krügers kein gutes Haar an Berlioz. Im Gegensatz zur recht undifferenzierten Kritik Krügers wiesen die Grenzboten wiederum speziell Berlioz’ kompositorische und programmmusikalische Neuheiten zurück.
„Befriedigung in der symphonischen Lyrik“?59 Berlioz zu Liszt Die durch Berlioz’ intensive Konzerttätigkeit in Deutschland wieder entfachte Auseinandersetzung zwischen den Vertretern von inhaltsästhetischen und formalästhetischen Vorstellungen sowie die Diskussion um die Zulässigkeit von Tonmalerei, programmatischen Kompositionen und die Beschaffenheit von außermusikalischen Programmen erlangte durch die ersten Aufführungen von Liszts Ouvertüren und späteren Symphonischen Dichtungen eine neue Qualität. Im Zusammenhang mit der Würdigung von Liszts Wirken als Weimarer Hofkapellmeister veröffentlichte Joachim Raff, der 1850 als persönlicher Assistent und Mitarbeiter Liszts nach Weimar gezogen war und später in dessen Auftrag Instrumentationen und Abschriften von mehreren symphonischen Werken Liszts erstellte, Anfang März 1854 in der NZfM eine umfassende Besprechung von Liszts ersten symphonischen Kompositionen. Bis zu diesem Zeitpunkt waren seine Ouvertüren
1853 Hector Berlioz in Leipzig, in: NdS 1 Nr. 55. NdS 1 Nr. 64, S. 684. 58 Jahn
59 Anonym
1854 Aus Weimar, S. 114, in:
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Tasso60, Ce qu’on entend sur la montagne61 und Prometheus62 ur- und danach noch mehrfach wiederaufgeführt worden. Raffs Bericht direkt voraus gingen die Aufführungen der Einleitungs- und Schlussmusik Orpheus63 sowie der Ouvertüre Les Préludes64. Kurze Zeit nach Raffs Einführung in Liszts erste Orchesterwerke veröffentlichte Liszt anlässlich der Weimarer Aufführung von Carl Maria von Webers Euryanthe65 in klarer Abgrenzung zu Wagners Idee eines „Originaltheaters“ seine eigenen Reformpläne für das Weimarer Theater, nach denen in der Thüringer Provinzstadt die einstige Bühne Schillers und Goethes zum Zentrum einer neuen Ära des Theaters werden sollte. Damit knüpfte er an den 1854 allmählich verblassten, doch seit 1848 bestehenden, langen Prozess seiner Vision eines ‚Neuen Weimar‘ als dem ideellen Kunst-Zentrum aller deutschen Staaten an.66 Auch Brendel hatte bereits seit 185167 Wagners Konzept des Musikdramas als Vorbild für eine Erneuerung des Musiktheaters im Sinn gehabt, seit 1852 öffentlich eingefordert68 und seine konkreten Pläne einer Umsetzung speziell in Weimar ab 1856 publiziert69. Bis Liszts Orchesterwerken erstmals eine umfassende Wahrnehmung zuteil wurde, sollten Tasso70 und Mazeppa71 im April 1854 als erste Symphonische Dichtungen, sowie neben der Ouvertüre Festklänge72 im November, auch noch Orpheus73 uraufgeführt werden. Erst danach lösten seine „Poëmes symphoniques“ eine neue Ausrichtung der Debatte aus, in der Liszt als kompositorisches Haupt der sogenannten Fortschrittspartei abermals zu einer neuen Qualität der Kontroverse führte.
von Liszts Ouvertüre Tasso am 28. August 1849 zur Feier der 100-jährigen Geburtstags Goethes in Weimar unter Liszt. 61 Uraufführung von Liszts Ouvertüre Ce qu’on entend sur la montagne (1. Fassung) im Februar 1850 unter Liszt in Weimar. 62 Uraufführung von Liszts Ouvertüre Prometheus am 25. August 1850 unter Liszt in Weimar. 63 Uraufführung von Liszts Einleitungs- und Schlussmusik Orpheus zu Glucks Oper Orpheus am 16. Februar 1854 zur Geburtstagsfeier von Maria Pawlowna unter Liszt in Weimar. 64 Uraufführung von Liszts Ouvertüre Les Préludes am 23. Februar 1854 unter Liszt in Weimar. 65 Am 19. März 1854 im Weimarer Hoftheater aufgeführt. 66 Vgl. Liszt 1854 Weber’s Euryanthe, in: NdS 1 Nr. 65. 67 Brendel 1851 Einige Worte über Wagner, in: NdS 1 Nr. 25; Brendel 1851 Zur Beurtheilung der Schriften. 68 Brendel 1852 Ein Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 28. 69 Siehe Brendels Ideen zur Theaterreform: Brendel 1856 Thesen über Concertreform; Brendel 1857 Thesen zur Theaterreform. 70 Uraufführung von Liszts erster Symphonischer Dichtung Tasso am 19. April 1854 unter Liszt in Weimar. 71 Uraufführung von Liszts Symphonischer Dichtung Mazeppa am 19. April 1854 unter Liszt in Weimar. 72 Uraufführung von Liszts Ouvertüre Festklänge als Einleitung zu Schillers Huldigung an die Künste am 9. November 1854 unter Liszt in Weimar. 73 Uraufführung von Liszts Symphonischer Dichtung Orpheus am 10. November 1853 unter Liszt in Weimar. 60 Uraufführung
Nr. 49 | R. [Robert] S. [Schumann], „Neue Bahnen“, in: NZfM 20 (1853), Bd. 39, Nr. 18 (28. Oktober), S. 185 f.
Neue Bahnen.
Es sind Jahre verflossen, – beinahe eben so viele, als ich der früheren Redaktion dieser Blätter widmete, nämlich zehn –, daß ich mich auf diesem an Erinnerungen so reichen Terrain einmal hätte vernehmen lassen.1 Oft, trotz angestrengter productiver Thätigkeit, fühlte ich mich angeregt; manche neue, bedeutende Talente erschienen, eine neue Kraft der Musik schien sich anzukündigen, wie dies viele der hochaufstrebenden Künstler der jüngsten Zeit bezeugen, wenn auch deren Productionen mehr einem engeren Kreise bekannt sindI. Ich dachte, die Bahnen dieser
I Ich
habe hier im Sinn: Joseph Joachim, Ernst Naumann2, Ludwig Norman3, Woldemar Bargiel4, Theodor Kirchner5, Julius Schäffer6, Albert Dietrich7, den tiefsinnigen, großer Kunst beflissenen geistlichen Tonsetzers C. F. Wilsing 8 nicht zu vergessen. Als rüstig schreitende Vorboten wären hier auch Niels W. Gade, C. F. Mangold9, Robert Franz und St. Heller10 zu nennen. 1 Robert
Schumann hatte sich am 1. Juli 1844 endgültig von der Redaktionsleitung der von ihm 1834 gegründeten NZfM (die erste Nummer war am 3. April erschienen) verabschiedet. Entgegen Schumanns eigener Aussage hatte er jedoch zwischenzeitlich durchaus Beiträge für die NZfM geliefert (siehe etwa Schumann 1848 Curiosum). 2 Ernst Karl Naumann (1832 –1910), Organist, Musikdirektor und Komponist. Studium in Leipzig bei Moritz Hauptmann und Ernst Friedrich Richter. Im Jahre 1860 erhielt Naumann seine Lebensstellung in Jena als Universitätsdirektor und Stadtorganist (ab 1877 dort zum Professor ernannt). Von ihm erschienen Kammermusikwerke, Chöre und Bearbeitungen anderer Werke für Klavier. Naumann wirkte auch als Herausgeber, wie etwa die sechs von ihm redigierten Bände der Bach-Gesamtausgabe belegen. 3 Ludvig Norman (1831–1885), Pianist und Komponist. Der in Stockholm gebürtige Norman studierte von 1848 bis 1852 am Leipziger Konservatorium. Nach seiner Rückkehr in die schwedische Hauptstadt prägte er als Musikpublizist, Kompositionslehrer am dortigen Konservatorium (ab 1858), als königlicher Hofkapellmeister (1861–1878) sowie als Dirigent entscheidend das dortige Musikleben. Die Kompositionen Normans stehen stilistisch den Werken Mendelssohn Bartholdys, Schumanns und Gades nahe. 4 Woldemar Bargiel (1828 –1897), Komponist und Dirigent, Schwager von Robert Schumann. Bargiel war zunächst in Berlin Schüler von Siegfried Dehn, auf Anraten Schumanns wechselte er jedoch 1846 an das Leipziger Konservatorium, wo er u. a. bei Niels Wilhelm Gade und Julius Rietz studierte. 1859 als Lehrer an das Kölner Konservatorium und später in Berlin als Kompositionsprofessor (ab 1876) an der königlichen Hochschule für Musik sowie als Mitglied der Akademie der Künste (ab 1877) berufen, fungierte Bargiel als einer der Hauptvertreter des musikalischen Akademismus, wie auch der Stil seiner zahlreichen Kompositionen belegt. 5 Theodor Kirchner (1823 –1903), Komponist, Dirigent, Pianist und Organist. Zunächst Orgelschüler von Carl Ferdinand Becker in Leipzig (1838 –1842) und Gottlob Schneider in Dresden (1842/43),
Schumann 1853 Neue Bahnen
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Auserwählten mit der größten Theilnahme verfolgend, es würde und müsse nach solchem Vorgang einmal plötzlich Einer erscheinen, der den höchsten Ausdruck der Zeit in idealer Weise auszusprechen berufen wäre, einer, der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung brächte, sondern, wie Minerva, gleich vollkommen gepanzert aus dem Haupte des Kronion spränge.11 Und er ist gekommen, ein junges Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten. Er heißt Johannes Brahms, kam von Hamburg, dort in dunkler Stille schaffend,12 aber von einem trefflichen
wechselte Kirchner auf Anraten Mendelssohn Bartholdys als erster Schüler an das neu gegründete Leipziger Konservatorium. 1843 erhielt er auf Empfehlung Mendelssohn Bartholdys und Schumanns eine Organistenstelle in Winterthur (bis 1862). Später wirkte Kirchner als Klavier- und Partiturspiellehrer u. a. in Zürich (1862 –1873), Würzburg (1873 –1876), Dresden (1883 –1890) sowie Hamburg (1890 –1903). Kirchners rund tausend (Klavier-)Kompositionen umfassendes Œuvre, weist zunächst eine deutlich Orientierung an den von ihm zeitlebens tief verehrten Schumann, später an Brahms auf, den Kirchner 1865 in Baden-Baden kennenlernte. 6 Julius Schaeffer (auch Schäffer, 1823 –1902), Dirigent, Komponist und Musikschriftsteller, studierte zunächst in den Jahren 1844 bis 1847 in Leipzig und wirkte von 1855 bis 1860 in Schwerin als Musikdirektor, ab 1860 als Universitätsmusikdirektor und Dirigent der Singakademie in Breslau, die er bis zu seinem Tode leitete. Daneben verfasste Schaeffer in den 1850er Jahren mehrere umfangreiche Artikel in der NZfM sowie der Neuen Berliner Musikzeitung. 7 Siehe Anm. 8. 8 Eigentlich: Friedrich Eduard Wilsing (1809 –1893), Komponist, Organist und Pädagoge. Wilsing ließ sich 1834 in Berlin als Musiklehrer nieder und komponierte dort zahlreiche Lieder, Kammermusik und Chöre, später auch Oratorien. Berühmtheit hatte Wilsing zu dieser Zeit vor allem für sein 1853 Wilhelm IV. (Preußen) gewidmetes und von diesem ausgezeichnete Chorwerk De Profundis erlangt. Stilistisch sind die Kompositionen Wilsings an Mendelssohn Bartholdy und Friedrich Schneider angelehnt. 9 Eigentlich: Carl Amand Mangold (1813 –1889), Dirigent und Komponist, wirkte 1834 bis 1836 als Violinist in der von seinem Vater geleiteten Darmstädter Hofkapelle, bevor er 1836 bis 1839 in Paris am Pariser Conservatoire seine Studienjahre absolvierte. Nach seiner Rückkehr nach Darmstadt im Jahre 1839 war er im Musikleben der Stadt aktiv und wurde 1848 zum Hofmusikdirektor ernannt. Schumann schätzte Mangolds Kompositionen, die sich stilistisch an ihn und Mendelssohn Bartholdy anschließen. 10 Stephen Heller (1813 –1888), Pianist und Komponist. Der aus Pest stammende Heller erhielt zunächst Unterricht beim dortigen Kapellmeister Ferenc Bräuer, dann u. a. bei Carl Czerny und Anton Halm in Wien. In den Jahren 1829/30 zunächst als herumreisender Virtuose tätig, ließ sich Heller 1830 in Augsburg nieder und berichtete von dort als Korrespondent für die NZfM, für die ihn Robert Schumann gewinnen konnte. Der intensive und in herzlichem Tonfall gehaltene Briefwechsel zwischen Schumann und Heller belegt das freundschaftliche Verhältnis der beiden. Auf Einladung Kalkbrenners siedelte Heller 1838 nach Paris über, wo er bis zu seinem Lebensende wirkte. Heller, der in Paris rasch mit Berlioz in freundschaftlichem Verhältnis stand, schrieb zunächst Artikel für die Revue et gazette musicale. Seine zahlreichen Klavierwerke (Bearbeitungen, Paraphrasen, Tänze, Sonaten, Etüden u. a.), die sich vor allem in den 1850er Jahren großer Beliebtheit und allgemeiner Anerkennung erfreuten, verraten (je nach Gattung) deutlich ihre kompositorischen Paten Beethoven, Weber, Schubert, Chopin und Schumann. 11 Schumann vermischt hier die Namen der griechischen und römischen Mythologie: Athene (ihr entspricht in der röm. Mythologie Minerva), Tochter des Zeus (Beiname: Kronion) und der Metis, entsprang dem nachhesiodischen Mythos zufolge bei der Geburt dem Kopf ihres Vaters bereits in voller Rüstung. 12 Brahms hatte seine frühen, in Hamburg entstandenen Werke häufig unter Pseudonymen wie „G. W. Marks“ oder „Karl Würth“ veröffentlicht und sie mit höheren Opuszahlen versehen.
Nr. 49 (1853)
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und begeistert zutragenden Lehrer II gebildet in den schwierigsten Satzungen der Kunst, mir kurz vorher von einem verehrten bekannten Meister empfohlen.14 Er trug, auch im Aeußeren, alle Anzeichen an sich, die uns ankündigen: das ist ein Berufener. Am Clavier sitzend, fing er an wunderbare Regionen zu enthüllen. Wir wurden in immer zauberischere Kreise hineingezogen. Dazu kam ein ganz geniales Spiel, das aus dem Clavier ein Orchester von wehklagenden und lautjubelnden Stimmen machte. Es waren Sonaten, mehr verschleierte Symphonien,15 – Lieder, deren Poesie man, ohne die Worte zu kennen, verstehen würde, obwohl eine tiefe Gesangsmelodie sich durch alle hindurchzieht,16 – einzelne Clavierstücke, theilweise dämonischer Natur von der anmuthigsten Form,17 – dann Sonaten für Violine und Clavier,18 – Quartette für Saiteninstrumente,19 – und jedes so abweichend vom andern, daß sie jedes verschiedenen Quellen zu entströmen schienen. Und dann schien es, als [186] vereinigte er, als Strom dahinbrausend, alle wie zu einem Wasserfall, über die hinunterstürzenden Wogen den friedlichen Regenbogen tragend und am Ufer von Schmetterlingen umspielt und von Nachtigallenstimmen begleitet. Wenn er seinen Zauberstab dahin senken wird, wo ihm die Mächte der Massen, im Chor und Orchester, ihre Kräfte leihen, so stehen uns noch wunderbarere Blicke in die Geheimnisse der Geisterwelt bevor. Möchte ihn der höchste Genius dazu stärken, wozu die Voraussicht da ist, da ihm auch ein anderer Genius, der der Bescheidenheit, innewohnt. Seine Mitgenossen begrüßen ihn bei seinem ersten Gang durch die Welt, wo seiner vielleicht Wunden warten werden, aber auch Lorbeeren und Palmen; wir heißen ihn willkommen als starken Streiter.
II Eduard 13 Eduard
Marxsen13 in Hamburg.
Marxsen (1806 –1887), Komponist und Klavierlehrer, der selbst u. a. ein Schüler Simon Sechters in Wien und dann in Hamburg der Lehrer von Brahms war. Brahms widmete später seinem ehemaligen Lehrer das 2. Klavierkonzert B-Dur op. 83. 14 Hierbei handelt es sich sehr wahrscheinlich um den Violinisten Joseph Joachim (1831–1907), den Schumann trotz seines jungen Alters außerordentlich schätzte. 15 Am 2. Oktober 1853 wurde die Klaviersonate fis-Moll op. 2 aufgeführt. Zur Übersicht der damals aufgeführten Werke vgl. Synofzik 2009 Brahms und Schumann, S. 65. 16 Laut Albert Dietrichs Erinnerungen an Johannes Brahms (ED 1898) habe es sich hierbei um Liebestreu op. 3 Nr. 1 sowie Nachwirkung op. 6 Nr. 3 gehandelt (siehe Dietrich 1898 Erinnerungen an Johannes Brahms, S. 4). 17 Dass es sich hierbei um das 1851 entstandene und später als op. 4 erschienene Scherzo in es-Moll gehandelt haben dürfte, geht aus Aufzeichnungen Schumanns in seinem Haushalts- und Tagebuch dieser Zeit hervor. Weiterhin wurden laut Dietrich die Variation über „Verstohlen geht der Mond auf“ aus der Klaviersonate C-Dur op. 1 Nr. 3 aufgeführt (siehe Dietrich 1898 Erinnerungen an Johannes Brahms, S. 4). 18 Laut Schumanns Haushaltsbuch handelte es sich bei den Werken um eine heute als verschollen geltende Violinsonate in a-Moll sowie um ein Scherzo aus einer Violinsonate über die Tonfolge FAE aus einem Gemeinschaftswerk von Schumann und Albert Dietrich (1829 –1908), einem Komponisten und Kapellmeister, der nach seinem Studium in Leipzig bereits 1851 zu Schumann gekommen war und 1855 als Musikdirektor in Bonn, später in Oldenburg, wirkte. 19 Ein später von Brahms vernichtetes Streichquartett in h-Moll wurde laut Eintragung im Haushaltsbuch am 7. Oktober im Hause der Schumanns aufgeführt.
Schumann 1853 Neue Bahnen
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Es waltet in jeder Zeit ein geheimes Bündniß verwandter Geister. Schließt, die Ihr zusammengehört, den Kreis fester, daß die Wahrheit der Kunst immer klarer leuchte, überall Freude und Segen verbreitend. R. S.
Kommentar Am 30. September 1853 besuchte Johannes Brahms Robert Schumann in Düsseldorf, um ihm aus seinen Werken vorzuspielen. Wenige Tage darauf begann Schumann, den vorliegenden, Brahms gewidmeten Artikel zu verfassen, den er Franz Brendel nebst einem verschollenen Brief vom 16. Oktober 1853 zusandte. Trotz der offensichtlichen Provokation, die Schumanns „Neue Bahnen“-Aufsatz insbesondere für Brendel und die von ihm propagierten ‚Zukunftsmusiker‘ bedeuten musste – als „Vorboten“ einer neuen Musik werden vor allem weniger bekannte Komponisten genannt, die allesamt stilistisch Schumann und Mendelssohn Bartholdy nahe stehen, während sich die Namen Liszt, Wagner und Berlioz nicht finden –, konnte der Herausgeber der NZfM seinem Amtsvorgänger Schumann den Veröffentlichungswunsch offenbar nicht verwehren, und dies umso mehr, als Brendel selbst einige Jahre zuvor Schumann zu Beiträgen für die NZfM aufgefordert hatte, um damit dessen weitere Beteiligung an dem Unternehmen anzuzeigen, und dafür explizit als die „passendste Gelegenheit“ die Einführung eines „neu auftretende[n] Talent[s]“ vorgeschlagen hatte.20 Die Wortwahl des Aufsatzes mit seiner romantisch-emphatischen Bildsprache von „Nachtigallen“ und „Schmetterlingen“ beschwört eine zu diesem Zeitpunkt bereits vergangene Epoche einer romantischen Musikkritik und bedeutet damit zugleich eine deutliche Distanzierung von der an Hegels Geschichtsphilosophie und Ästhetik angelehnten Terminologie der musikkritischen Schriften Brendels und seiner damaligen Mitarbeiter. Dazu gehören auch etwa die Verweise auf die Minerva, den „dahinbrausenden Strom“, womit Schumann zugleich auf Jahrzehnte alte romantische Kunst- und Künstlervorstellungen rekurriert, nach welcher ein naturgegebenes Genie die Voraussetzung für alles wahrhaft Schöpferische sei. Aufgrund der generellen Unbekanntheit der so enthusiastisch besprochenen Werke des jungen Hamburger Komponisten war es weniger der Inhalt des Aufsatzes als vielmehr die hinter seiner Veröffentlichung vermuteten Intentionen Schumanns und die zeitgenössischen Reaktionen, die diesem Artikel seine Bedeutung innerhalb der musikästhetischen Kontroverse zukommen ließen. So wurde schon unmittelbar nach seiner Veröffentlichung in den Musikzeitschriften ausführlich über die Gründe Schumanns spekuliert, in derart panegyrischem Tonfall sein jahrelanges Schweigen in der NZfM für einen nahezu unbekannten
20 Brief
Brendels Schumann vom 25. April 1845, in: Schumann-Briefe II, 5, S. 241.
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Nr. 49 (1853)
Komponisten zu brechen. In den Grenzboten spekulierte der anonyme Autor: „Vielleicht fühlte Schumann sich zu dem jungen Manne so lebhaft hingezogen, weil er in ihm eine Reproduction seiner selbst erblickte. Dies wird um so wahrscheinlicher, weil er in demselben Blatte unter den Vorboten dieses glänzenden Talents nur Namen aufzählte, die sich seiner musikalischen Richtung entweder ganz oder doch theilweise anschlossen.“21 Nicht zuletzt dürfte auch die Enttäuschung Schumanns über die Wandlung der NZfM unter der Leitung Brendels zu einem ‚Parteiorgan‘ Wagners22 eine Rolle bei der Veröffentlichung gespielt haben. So war Schumann, der die NZfM im Zeitraum vom Beginn des Jahres 1851 bis August 1853 nicht zu Gesicht bekommen hatte, dann aber die Ausgaben in gesammelter Form zugesandt bekam,23 in dieser Zeit mehrfach Zielscheibe heftiger Kritik durch die Brendel’sche Zeitung geworden. Neben seiner Oper Genoveva24 sahen sich auch seine späten Werke insgesamt breiter Ablehnung ausgesetzt. So kritisierte etwa Theodor Uhlig in der NZfM die späte Kammermusik Schumanns als ein Verharren in überlebten Formen,25 während auf der anderen Seite Ludwig Bischoff, einer der Wortführer des konservativen Lagers, in der Niederrheinischen Musik-Zeitung den Kompositionen Schumanns insgesamt Formlosigkeit attestierte.26 Dies alles verdeutlicht, dass Schumann Anfang der 1850er Jahre innerhalb der sich mehr und mehr polarisierenden deutschen Musikkritik ins Visier beider ästhetischer Lager geraten war, womit ihm – wenngleich zumeist negativ – eine Sonderstellung zukam. Zwar beriefen sich die NZfM und ihr Chefredakteur noch immer und wiederholt explizit auf Schumann als Komponisten und Kritiker,27 doch wurden seine Werke, vor allem die der mittleren und späten Periode, weitgehend ignoriert, sodass im Jahre 1853 in der NZfM bis zur Veröffentlichung des „Neue Bahnen“-Artikels noch kein einziges seiner neueren gedruckten Werke besprochen worden war, worüber sich Schumann in dem den „Neue Bahnen“-Artikel begleitenden Brief an Brendel offenbar beschwert hatte.28 Dass wiederum Brahms’ Kompositionen Ende 1853 nur ungedruckt vorlagen, tat der durch den Artikel ausgelösten Auseinandersetzung innerhalb der Musikzeitschriften keinen Abbruch: Wie so häufig in dieser Zeit stand weniger die jeweilige Beschaffenheit der Kompositionen als vielmehr die Frage, wer sich über wen in welcher Art zu Wort meldete, im Mittelpunkt der publizistischen Kontroverse. Eine der ersten Reaktionen auf den vorliegenden Artikel Schumanns erfolgte durch Johann Christian Lobe vermutlich Anfang 1854. Dieser veröffentlichte unter dem Pseudonym
1854 Musik, S. 38. Helmut Kirchmeyer vermutet, dass Schumann sich von Brahms „die Wiederbelebung dessen“ erwartete, „an das er geglaubt hatte und noch immer glauben“ wollte, „fernab der durch Wagner ausgelösten Kunstreform“ (Kirchmeyer 1993 Robert Schumanns Düsseldorfer Brahms-Aufsatz, S. 77). 22 Siehe Brendel 1852 Zum neuen Jahr, in: NdS 1 Nr. 27. 23 Vgl. Brief Schumanns an Brendel vom 11. Juni 1853, in: Schumann-Briefe II, 5, S. 316 f. 24 Siehe Brendel 1850 Genoveva. 25 Siehe Uhlig 1852 Robert Schumann. 26 Siehe Bischoff 1853 Noch einmal: Was wir wollen. 27 So etwa innerhalb des Programms des Karlsruher Musikfestes, wo Schumann als Vertreter der „Neuen Richtung“ in der Musik gespielt wurde (siehe Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51 sowie H. 1853 Das karlsruher Musikfest, in: NdS 1 Nr. 50). Auch auf dem Programm des Ballenstedter Musikfestes sollten ursprünglich Werke Schumanns erklingen, was jedoch aufgrund angeblicher logistischer Problemen ausbleiben musste (siehe V. B. 1852 Das Musikfest in Ballenstädt, in: NdS 1 Nr. 33). 28 Vgl. den Brief Brendels an Schumann vom 22. Oktober 1853, in: Schumann-Briefe II, 5, S. 322 – 326. 21 Anonym
Schumann 1853 Neue Bahnen
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„Der Wohlbekannte“ in seinen Fliegenden Blättern ein Gespräch mit Mendelssohn Bartholdy,29 welches die Rheinische Musik-Zeitung in Auszügen kurze Zeit später wiederabdruckte.30 Darin dient Mendelssohn Bartholdy als Autorität gegen die offenbar als Provokation verstandene Veröffentlichung des Brahms-Artikels vonseiten Schumanns und der NZfM, um Lobes Ansicht einer generellen (musik-)historischen Unmöglichkeit gänzlich „neuer Bahnen“ innerhalb der Kunst zu stützen.31 Brahms mit den ästhetischen Positionen der NZfM zu identifizieren, beruhte nicht nur auf der Tatsache, dass Schumann den „Neue Bahnen“-Artikel bei Brendel veröffentlicht hatte. Durch weitere Beiträge geriet Brahms immer mehr in den Strudel des damals bereits sehr polemisch geführten musikalischen Parteienstreits. So wurde er beispielsweise durch Arnold Schloenbach, der Schumanns Urteil als vollkommen gerechtfertigt stützte, in einem Bericht über eine private Soiree am 2. Dezember 1853 bei Brendel in Leipzig in die Nähe von Berlioz, Schumann und Wagner gerückt.32 Auch eine nur drei Wochen nach Schumanns Aufsatz erschienene Rezension Ferdinand Gleichs von Werken des jungen Komponisten aus dieser Zeit verrät in ihrer enthusiastischen Haltung durchaus die Absicht, Brahms für das Lager der ‚Zukunftsmusiker‘ reklamieren zu wollen.33 Auf konservativer Seite hieß es beispielsweise in einer aus dem Frühjahr 1854 stammenden Rezensionen in der Niederrheinischen Musik-Zeitung über Brahms’ erste Werke, wie etwa seiner Klaviersonate op. 1: „Niemals ist einem jugendlichen Componisten sein Eintritt in die musicalische Welt so schwer gemacht worden, wie Johannes Brahms, gegen den sich von einer Seite entweder ein Vorurtheil geltend machte in Folge jenes beregte[n] Artikels, dessen Verfasser selber noch so unzählig viele Widersacher hat, von dem aber auf der anderen Seite von den Verehrern Schumanns zu viel erwartet wurde.“34 Ein ähnliches Urteil enthält eine Rezension verschiedener Brahms-Werke eines anonymen Kritikers von Anfang 1854 in den Grenzboten: „Schumanns Lob war zu enthusiastisch und wird nur dazu dienen, dem jungen Manne den Eintritt in die künstlerische Welt zu erschweren. Ebenso werden auch die an ihm sich versündigen, welche mit leeren Schmeichelworten ihm einen Werth und eine Bedeutung beilegen wollen, auf die er schon nach den Gesetzen der Natur keinen Anspruch machen durfte. […] Wohin werden wir kommen? Die einen beten Wagner an, die zweiten Berlioz, die dritten – suchen einen Helden wie er auch sei“35. Dies belegt auch die generelle Schwierigkeit, als junges Talent innerhalb des gespaltenen und polarisierten deutschen Musiklebens an die Öffentlichkeit zu treten, ohne nicht zugleich der Zugehörigkeit zu einer der musikalischen Parteien – nicht notwendig immer derselben – bezichtigt zu werden. Zugleich verdeutlicht dieses Presseecho aber auch die enorme Werbewirkung durch den rasch angestiegenen Bekanntheitsgrad der ‚Marke Brahms‘ im damaligen Musikdiskurs, der sich keineswegs auf den deutschen Sprachraum beschränkte. So erfolgte durch Korrespondentenberichte in den englischsprachigen Musikzeitschriften schon bereits nach kurzer Zeit die Zuordnung Brahms’ als Mitglied der in der NZfM beheimateten „mutual adoration society“36, während noch 1855 der Versuch Richard Pohls zu
1854 Gespräche mit Felix Mendelssohn. 30 Siehe Lobe 1854 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 61. hierzu auch Meurs 1996 Neue Bahnen?, S. 11 f. 32 Siehe Schloenbach 1853 Ein offener Brief an Franz Brendel. 33 Gleich 1854 Leipzig. 34 Anonym 1854 Johannes Brahms, S. 65. Siehe auch Anonym 1854 Neue Bahnen. 35 Anonym 1854 Musik, S. 38 – 40. 36 Dwight 1854 Our Wagnerism, S. 125, in: NdS 1 Nr. 59, S. 638. 29 Lobe 31 Vgl.
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beobachten ist, innerhalb eines Brahms gewidmeten Artikels37 in der NZfM um dessen ‚Bekenntnis‘ zur ‚Fortschrittspartei‘ zu werben. Dies beweist, dass die heute verbreitete Vorstellung von Brahms als dezidiertem Gegenspieler der sogenannten ‚Neudeutschen‘ sowie die Etablierung des musikgeschichtlichen Topos einer beinahe genealogischen Nachfolgerschaft Schumanns erst einige Jahre später durch Brahms’ ebenso unfreiwillig öffentliche – und zu einiger Berühmtheit gelangter – Erklärung38 gegen die „neudeutsche Schule“ in der Berliner Musik-Zeitung Echo von 1860 erfolgen sollte.
37 Pohl
1855 Johannes Brahms, in: NdS 2 Nr. 81.
38 Brahms
1860 Erklärung, in: NdS 3 Nr. 138.
Nr. 50 | H. [Ferdinand Hiller], „Das karlsruher Musikfest am 3. bis 5. October“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 1 (1853), Nr. 18 (29. Oktober), S. 139 –142.
Das karlsruher Musikfestam 3. bis 5. October.
Werthester Herr Professor! Entschuldigen Sie die Verspätung dieser Zeilen: ich habe mich erst von dem Schrecken erholen müssen. Erwarten Sie übrigens keinen eigentlichen Bericht über das karlsruher Musik- und Volksfest, wenigstens keinen ausführlichen, da ich und mit mir, wie ich beiläufig bemerken will, viele Kunstsinnige und Kunstverständige unmittelbar nach dem ersten Concerte die festlich geschmückte Residenz verliessen, um nicht der Gefahr oder Versuchung ausgesetzt zu sein, auch noch das zweite hören zu müssen. Ich will Ihnen nur in der Kürze von einigen Vorkommnissen Mittheilung machen, die am ersten noch in eine Musik-Zeitung, wenn nicht zu solchen Dingen gehören, über welche, nach Göthe, „selbst die vertrautesten Freunde nicht reden sollten“. – Herr des Himmels und der Erde! Was war dies für ein Concert! Ich sass in meiner Loge wie auf dem Isolirschemel in einem physicalischen Cabinette; mir standen fortwährend die Haare zu Berge! Die Entstehung des Festes kennen Sie wohl: Se. Königliche Hoheit der PrinzRegent von Baden1 sprach gelegentlich eines Besuches am weimar’schen Hofe den Wunsch aus, Herrn Hof-Capellmeister Liszt auch einmal in Karlsruhe zu sehen. Diese Einladung benutzt Liszt als eine sehr erwünschte Gelegenheit, seinen Helden der Zukunft und deren Werken auch in Süddeutschland Bahn zu brechen; er arrangirt als unumschränkter Bevollmächtigter ein Musikfest, mit welchem ein bei den Haaren herbeigezogenes Volksfest in Verbindung gebracht wurde, um die Hoffnung R. Wagner’s auf die deutschen olympischen Spiele der Zukunft2, wann einst die Staaten nicht mehr sein werden, vorläufig durch die Unterstützung und [140] die Geldmittel einer fürstlichen Casse zu nähren. Sie werden mir erlassen, Ihnen das Eingreifen der Volksbelustigungen, als da sind: Wursthauen, Käseessen u. s. w., in die musicalischen Genüsse zu erläutern.
1 Friedrich I.
von Baden (1826 –1907), von 1852 bis 1856 Prinzregent, ab 1856 bis zu seinem Tod Großherzog, gilt als Förderer der Künste. Dies dokumentiert sich auch in der 1854 auf sein Betreiben hin gegründeten Großherzoglich-Badischen Kunstschule. 2 Vgl. Wagner 1849 Kunst und Revolution; Wagner 1850 Kunstwerk der Zukunft. Als Ideal beschreibt Wagner darin, wie im antiken Griechenland die Menschen im Theater zusammenkamen, um die Tragödie im Rahmen der großen Dionysien zu zelebrieren: „Dem Griechen war die Aufführung einer Tragödie eine religiöse Feier, auf ihrer Bühne bewegten sich Götter und spendeten den Menschen ihre Weisheit: unser schlechtes Gewissen stellt
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Man kam Liszt von hoher und höchster Seite mit der grössten Bereitwilligkeit entgegen; es entstanden durch die Gunst der Verhältnisse Mittel seltener Art zu Gebote, indem sofort zu seinen Zwecken die Orchester und Opern-Chöre der drei Theater von Karlsruhe, Mannheim und Darmstadt combinirt und vorzügliche Solisten und Solistinnen gewonnen wurden. Hierauf entwirft Liszt das Programm und überlässt dem Herrn Hof-Capellmeister Strauss3 nicht etwa die Direction, nein! – die Besorgung der Musicalien an die betreffenden Orchester. Lassen Sie mich zunächst einen flüchtigen Blick auf das Programm werfen. Da findet es sich (wie Ihnen durch die früheren Anzeigen schon bekannt sein wird), dass ausser der neunten Sinfonie von Beethoven kein einziges grösseres Werk, am allerwenigsten ein Oratorium, zur Aufführung gebracht wurde. Dessfallsige Wünsche und Vorschläge sollen mit Liszt umgangen worden sein. Und warum auch nicht? Gehört doch solches zu den Dingen des längst „überwundenen Standpunktes“4. Ihr armen Rheinländer! die ihr Euch bemüht, bei Euren historisch berühmt gewordenen Musikfesten5 Euren grössten Ruhm in grossartigen Aufführungen grosser Oratorien zu suchen und zu finden! Verlasst doch diesen Standpunkt, diesen kleinlichen, auf den die Zukunfts-Musik-Generation der Gegenwart mit Lächeln, wie auf „Träume und Spiele der Kindheit“6, zurückblickt. Lernet von Weimar, auf welche Weise man so
unser Theater selbst so tief in der öffentlichen Achtung, daß es die Angelegenheit der Polizei sein darf, dem Theater alles Befassen mit religiösen Gegenständen zu verbieten, was gleich charakteristisch ist für unsere Religion wie für unsere Kunst. In den weiten Räumen des griechischen Amphitheaters wohnte das ganze Volk den Vorstellungen bei; in unseren vornehmen Theatern faulenzt nur der vermögende Theil desselben. Seine Kunstwerkzeuge zog der Grieche aus den Ergebnissen höchster gemeinschaftlicher Bildung; wir aus denen tiefster sozialer Barbarei.“ Siehe Wagner 1849 Kunst und Revolution, in: Wagner-Schriften 3, S. 23 f. 3 Joseph Strauß (1793 –1866), deutscher Komponist und Dirigent, war von 1824 bis 1863 Hofkapellmeister des Großherzoglichen Hoforchesters im Karlsruher Hoftheater, wo er u. a. auch Aufführungen von Tannhäuser (28. Januar 1855) und Lohengrin (26. Dezember 1856) leitete. 4 Der oft zitierte Ausdruck vom „überwundenen Standpunkt“ findet sich bereits seit 1838 im Umfeld der sogenannten Junghegelianer und wurde insbesondere in den Schriften Franz Brendels verwendet, um damit den „nicht mehr herrschende[n] [Standpunkt], in dem die Gegenwart ihren höchsten Ausdruck findet“ zu bezeichnen, ohne jedoch „[s] eine Berechtigung, seine ewige Geltung als Stufe der Entwicklung oder als einstiger Höhepunkt“ einzubüßen (Brendel 1848 Fragen der Zeit III, S. 103, in: NdS 1 Nr. 14, S. 171). Von konservativer Seite wurde der Begriff wiederholt als Beleg für die angebliche Geringschätzung der ‚Klassiker‘ durch die ‚Zukunftsmusiker‘ angeführt (siehe etwa H – L. 1857 Der Zopf als Schreckbild, in: NdS 2 Nr. 103). 5 Die von 1818 bis 1858 meist jährlich an wechselnden Orten stattgefundenen „Niederrheinischen Musikfeste“ zählten im 19. Jahrhundert zu den bedeutendsten deutschen Musikfesten. Ihre mehrtätigen Programme sahen als Höhepunkte die Wiedergabe einer Symphonie Beethovens sowie abschließend die Massenaufführung eines meist von Händel oder Haydn komponierten Oratoriums vor. Vgl. hierzu insgesamt Weibel 2006 Die deutschen Musikfeste. 6 Vgl. Brendel 1853 Die bisherige Sonderkunst, S. 90, in: NdS 1 Nr. 42, S. 415: „Freischütz ist mir, aus individuellen Gründen, ein besonders liebes Werk. Unbeschadet aber der Trefflichkeit desselben, des melodischen Reichthums u. s. f. mußte ich mir gestehen, daß wir auf den Standpunkt, auf dem sich diese Oper bewegt, wie auf die Träume und Spiele der Kindheit zurückblicken müssen.“
H. 1853 Das karlsruher Musikfest
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ausgezeichnete Kräfte, wie die oben genannte Verbindung darbot, im Interesse der Kunst verwendet. Man bot dem zahlreich versammelten und durch die Antecedentien in seinen Erwartungen hoch gespannten Publicum lediglich Fragmente der weltbeglückenden Zukunfts-Musik Wagner’s, Berlioz’s, Schumann’s und Liszt’s. Ja, Fragmente! denn selbst die Romeo-Sinfonie Berlioz’s7, die für das zweite Concert bestimmt war, kam aus Mangel an Zeit zu Ensemble-Proben (obgleich die Orchester etc. fünf Tage beisammen waren und mehr denn drei Monate Zeit zu Vorproben verwendet werden konnten) nicht ganz zur Aufführung. Statt deren wurde „auf vielfaches Verlangen“ die Tannhäuser-Ouverture8 wiederholt. Mit offenbarer Ostentation waren in dieses „Festprogramm“ Arien, Chöre etc. von Mozart, Beethoven, Mendelssohn gestreut. Man sah sich zu dieser Concession den Altgläubigen gegenüber noch zur Zeit aus verschiedenen Gründen genöthigt. Dies die Art und Weise, auf welche man in Süddeutschland den Sinn für das Evangelium der einzig wahren Musik zu erwecken gedachte! Sie werden sagen: Warum wollen wir mit Liszt, wenn er nun einmal die Ueber zeugung hat, dass seine Freunde Berlioz und Wagner die grössten Musiker der Welt sind, darüber rechten, dass er mit beiden Händen zugreift, wo ihm eine Gelegenheit geboten wird, diese Ueberzeugung wo möglich auch dem deutschen Volke, dass an seinen alten Göttern hängt, beizubringen, ja, aufzudringen? Ist es nicht die Ansicht aller Enthusiasten, dass sie die Menschen zwingen müssten, ihr Glück zu erkennen? – Nun, dagegen liesse sich denn doch wohl Vieles sagen, wie gegen alle Experimente, welche einem Einzelnen zu Liebe mit Massen gemacht werden. Allein gesetzt, wir wollten es Liszt nicht verargen, durch Benutzung einer musicalischen Revolution sich zum Protector des neuen Musikstaates aufzuwerfen, so darf doch gewiss auf der anderen Seite die Kritik, die Wächterin auf der Zinne des Schönen, das Recht und die Pflicht geltend machen, den Zweck jener Bestrebungen, den Kern derselben und die Treibhaus-Anstalten, die man errichtet, um ihn empor zu treiben, gehörig zu würdigen, einen Damm gegen die Bündler und Apostel einer fieberhaft kranken Kunstrichtung zu bauen, die Ausartung der Musik bis zum Fratzenhaften nachzuweisen, die Anwendung von Coterie-Mitteln9 zu rügen und der Demoralisation der Kritik entgegenzutreten. Wir haben es bei einem solchen Kampfe nicht mit Liszt, dem genialen Pianisten, dem hochgebildeten Menschen, dem edeln und feurigen Charakter, zu thun, sondern mit Liszt, dem Apostel der Zukunfts-Musik, dem Dirigenten, dem Componisten in dem gleichen Genre. Ja wohl, mit Liszt, dem Dirigenten. Nach dem karlsruher Feste ist nur Eine Stimme darüber, dass er nicht den Stab zu führen, am allerwenigsten grössere Massen
Roméo et Juliette op. 17 (EA 1839). 8 Wagner, Ouvertüre zu Tannhäuser (UA 1845). „Coterie“ wurde ein Klüngel des zeitgenössischen Cliquenwesen und der Parteiungen bezeichnet (zum weitern Verständnis des Begriffs siehe Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67). 7 Berlioz, 9 Als
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zu leiten, geeignet ist.10 Nicht allein, dass er überhaupt nicht den Tact (im einfachsten Sinne des Wortes und in der einmal hergebrachten Weise, der sich bis jetzt die grössten Meister gefügt) schlägt – er bringt durch seine barocke Lebhaftigkeit das Orchester in stete und oft sehr gefährliche Schwankungen. Er thut nichts auf seinem Directions-Pulte, als den Directions-Stab abwechselnd in die rechte und linke Hand nehmen, zuweilen ganz niederlegen, dann abwechselnd mit der einen oder der anderen Hand, oder auch mit beiden zugleich, in der Luft Signale geben, nachdem er vorher die Mitwirkenden ersucht, „sich nicht [141] allzu streng an seinen Tact zu halten“ (Liszt’s eigene Worte in einer der Proben). Ist es da ein Wunder, wenn kein einziges Stück ordentlich und eigentlich präcis ging? Sind da nicht die Mitwirkenden im höchsten Grade zu bedauern, sich der Gefahr ausgesetzt zu sehen, ihren guten Ruf als Künstler von Fach und tüchtige Orchesterglieder einzubüssen? Ist es da zu verwundern, wenn (die gänzliche Farblosigkeit in Beziehung auf Vortrag gar nicht zu erwähnen) Fehler vorkommen so grober Art, wie in dem Finale der neunten Sinfonie, wo Liszt, in der gegründetsten Besorgniss vor gänzlichem Umsturz, das Zeichen zum Aufhören geben musste, um den betreffenden Satz aufs Neue zu beginnen? Dabei liess er, gegen seine sonstige Gewohnheit, die drei ersten Sätze der neunten Sinfonie förmlich hinschleppen, wobei einzelne Stellen, wie z. B. die Forte-Stelle im zweiten Theile des ersten Satzes, so wie das ganze Scherzo ihre Wirkung verloren. Wenn man gewahrte, wie das Orchester, der Chor und die Solosänger (Frau Howitz11 und Frau Hauser12, Herr Eberius13 und Herr Oberhoffer 14) alle sich selbst überlassen waren, in sich selbst den einzigen Halt suchen mussten, irgend eines Winkes bei den oft so schwierigen Eintritten vergebens gewärtig waren – so muss man vor der Tüchtigkeit der versammelten Kräfte alle Achtung haben; denn ich wiederhole, dass das Tactiren nicht bloss schwankend und unsicher, ja zuweilen geradezu unrichtig war, sondern dass es auch oft ganz und gar aufhörte. Trotz alledem wurde Liszt am Schlusse mit einem Tusch von Trompeten und Pauken begrüsst. Erlassen Sie mir, auf die Ausführung der einzelnen Nummern des Programms speciel [sic] einzugehen; es genüge Ihnen, zu wissen, dass Alles, Alles in diesem ersten Concerte schlecht ging. Ja, schlecht! Halten Sie diesen Ausdruck nicht für zu
10 Selbst
in Kritiken, die das Musikfest ansonsten positiv bewerten, wird Liszts Dirigat als unzulänglich beschrieben: „Um so mehr war es daher zu bedauern, dass die Leitung dieser trefflichen Kräfte nicht einer sicherern und kundigern Hand übertragen worden war, denn dass Hofkapellmeister Liszt der ihm zugekommenen Aufgabe als Dirigent nicht gewachsen war, stellte sich ausser allen Zweifel.“ (Anonym 1853 Das grosse Musikfest in Carlsruhe, S. 169). Liszt reagierte auf die vielfach geäußerte Kritik an seinem Dirigierstil mit einem öffentlichen Brief in der NZfM, in welchem er seine weniger auf das reine Organisieren als auf den musikalischen Ausdruck gerichtete Art des Dirigierens verteidigte (Liszt 1853 Ein Brief von Franz Liszt). Siehe hierzu auch Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51. 11 Clementine Howitz-Steinau, geb. Steinau (1821–1914), sang zunächst in Königsberg, Hamburg, Stuttgart und Dresden, bevor sie von 1853 bis 1864 als Sopranistin am Hoftheater in Karlsruhe wirkte. 12 Maria Magdalena Hauser (1829 –1871), wirkte in den Jahren 1853 bis 1870 als Altistin am Karlsruher Hoftheater. 13 Heinrich Eberius (1817 –1886), wirkte als erster Tenor u. a. an den Theatern Rostock, Bremen, Wiesbaden und bis 1867 in Karlsruhe. 14 Karl Oberhoffer (1811–1885), der in Wien geborene Bariton war zunächst Ensemblemitglied am Deutschen Theater in Pest, bevor er von 1841 bis 1876 als gefeierter Opernund Oratoriensänger an der Hofoper in Karlsruhe wirkte.
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stark; ich gebrauche ihn, weil ich keinen Grund habe, diese Thatsache zu beschönigen. Schlecht war die Ausführung im Verhältniss zu dem Orte und den herrlichen Kräften; schlecht, weil es nicht genügt, bei solchen Gelegenheiten eine nur etwa leidliche Production zu Stande zu bringen, sondern weil man mit allem Recht verlangen kann, bei deutschen Musikfesten Ausgezeichnetes, ja, Ausserordentliches zu hören. Letzteres war nun freilich in Karlsruhe der Fall, aber in welcher Weise! Mittelmässige Musik wird heut zu Tage allenthalben gemacht, dazu bedarf es keiner Manifestation, die, wie in Karlsruhe, nahezu an die 30,000 Fl. [Florin] kostet. Bei Musikfesten ist es nicht mit dem blossen Willen, oder der Tendenz, oder dem Enthusiasmus, oder dem berühmten Namen gethan: da handelt es sich um Einsicht, klares Bewusstsein, Würde und wirkliche Energie des Dirigenten. Soll ich von dem Eindruck der Aufführungen auf das Publicum etwas sagen, so kann es nichts Anderes sein, als dass ausser der Lorelei15 von Mendelssohn eigentlich Alles kalt liess, Wagner’s Tannhäuser- und Schumann’s Manfred-Ouverture16 am allerwenigsten ausgenommen. Wer in der letzteren einen leitenden Gedanken zu entdecken vermag, erit mihi magnus Apollo!17 Eines darf ich nicht unberührt lassen: das Violin-Concert18 des Herrn Concertmeisters Joachim aus Hannover. Dieser Künstler steht als Virtuose auf einer solchen Höhe, dass es unmöglich ist, über ihn und sein Spiel noch irgend etwas zu sagen, was nicht aller Orten, wo derselbe aufgetreten, schon gesagt oder, eigentlich besser, gefühlt worden wäre. Aber Joachim als Componist? Nein, mein lieber Herr Concertmeister! dies war kein Violin-Concert, bei dem es einem warm ums Herz werden konnte, warm, so wie etwa bei dem von Ihnen so meisterhaft gespielten D-Concert Beethoven’s19; das war ein Zukunfts-Musikstück. In Stücke mit demselben, wenn Sie Ihren Vortheil wahren wollen! Verlassen Sie als Componist die eingeschlagene Bahn und versuchen Sie sich nicht weiter in einer solchen „weltschmerzlichen“ Richtung; denn: „’s ist nicht wahr“, was Sie da mit Ihrer Geige dem lieben Publicum vorsagen, „nicht wahr ist’s“. Dies der Eindruck, den ein Nebelgewirr macht, in dem man selbst die himmlische Erscheinung und die Vox angelica20 Ihres Spiels nur umflort wahrnehmen kann. Sie spielten wie immer so vorzüglich, dass es zu bedauern war, Sie Sich durch Sich selbst so sehr im Lichte stehen zu sehen. Wenn Sie componiren wollen, so suchen Sie Ihre Empfindungen in eine Form zu bringen, die es dem Hörer möglich macht, jene mitzuempfinden, und das lernen Sie besser bei Beethoven (wenn es sein muss, gelernt zu werden), als bei Wagner, Berlioz und Schumann. Ich brauche Sie wohl nicht an die Wirkung Ihres Spiels des Concertes von Beethoven in Düsseldorf zu erinnern.21
Mendelssohn Bartholdy, Loreley op. 98 (EZ 1847, ED 1852). 16 Robert Schumann, Ouvertüre zu Manfred op. 115 (UA 1852). 17 (Lat.) er wird für mich der große Apollo sein. Modifiziertes Zitat nach Vergil, Eclogae, Nr. 3; im Original heißt es: eris mihi magnus Apollo. 18 Joseph Joachim, Violinkonzert Nr. 1 g-Moll op. 3. Das Konzert entstand ca. 1851 in Weimar und ist Franz Liszt gewidmet. 19 Beethoven, Violinkonzert D-Dur op. 61 (UA 1806, ED 1809). 20 (Lat.) Engelstimme. Auf der Orgel bezeichnet „Vox angelica“ ein helles, in 4-Fuß-Tonlage klingendes Register. 21 Gemeint ist das Niederrheinische Musikfest im Mai 1853 in Düsseldorf, bei dem Joseph Joachim auf Bitte Schumanns das Violinkonzert D-Dur op. 61 von Beethoven interpretierte. 15 Felix
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Zum Schlusse nur noch ein paar Worte von der Festhymne aus Schiller’s „An die Künstler“, componirt von Liszt22. – „Nicht zu glauben, ohne es gehört zu haben!“ Diese Hymne (die mittlere Nummer der zweiten Abtheilung des ersten Fest-Concertes) ist für Männerchor und Solo mit Orgel- und Blas-Instrumenten-Begleitung geschrieben. [142] Ja wohl, geschrieben; denn componirt kann man hier nicht sagen, höchstens combinirt: combinirt auf eine so entsetzliche Weise, dass einem Hören und Sehen dabei vergeht: das Hören an den qualvollen Accorden und Harmonieen – denn von einer Melodie, oder auch nur von Motiven, ist kaum eine Andeutung zu finden –, das Sehen an den verzweifelten Anstrengungen, welche die Sänger machen mussten, so etwas Niedagewesenes zu singen. Ich fühle mich keineswegs berechtigt, Herrn Liszt in der Theorie der Musik zu examiniren, aber fragen möchte ich ihn doch, ob er wohl bei dieser seiner Composition an den eigenthümlichen Charakter und die Behandlung der durchgehenden, der Wechsel- und harmonischen Nebentöne gedacht hat; ob er sich Rechenschaft dabei gegeben über die natürlichen Tonlagen der Horn- und Trompeten-Bögen. Derlei Fragen liessen sich noch viele aufwerfen; allein die Theorie der Kunstwerke der Zukunft würde sie für pedantisch und zopfartig erklären. So viel ist gewiss, dass das Aergste, was bisher in greller Aufeinanderfolge von Harmoniestellungen gewagt worden ist, nur ein schüchternes Tasten nach den grossen Räthseln war, welche unsere Zeit der Zukunft zur Lösung aufgibt. Vor dem Aufbau dieser Accorde stutzte auch der Laie und duckte sich vor ihrem stets drohenden Einsturz, während ein kalter Schauer dem Musiker über die Haut rieselte. Gar mancher Zuhörer, in dem Mendelssohn’s „An die Künstler“23 noch wiederklang, seufzte nach der Judenmusik (laut R. Wagner)24, als dem einzigen Rettungsmittel vor der Musik der Heiden und Türken. Sie haben, bester Herr Professor, neulich dem Herrn L. Köhler mit seiner Melodieknetung aus dem declamirten Worte so köstlich heimgeleuchtet25: warum mussten Sie fern sein und nicht hören, wie Liszt das Gerippe des Wortes in Tönen drapirte? Der alleinige chromatische
An die Künstler S 70 (EZ 1853, 2. Fassung: 1856). 23 Mendelssohn Bartholdy, Festgesang „An die Künstler“ nach Schillers Gedicht op. 68 (UA 1846). 24 Vgl. Wagners Angriffe gegen Mendelssohn Bartholdy und Meyerbeer in seinem 1850 in der NZfM veröffentlichten Das Judenthum in der Musik (Wagner 1850 Das Judenthum). Der Begriff „Judenmusik“ findet sich kurz davor auch schon bei Uhlig, der in der NZfM schrieb: „In der Musik vieler jüdischen Componisten giebt es Stellen, die fast alle nichtjüdischen Musiker im gewöhnlichen Leben und mit Bezugnahme auf die allbekannte jüdische Sprechweise als Judenmusik, als ein Gemauschele oder als ein Dergl. bezeichnen. Je nachdem in dieser Musik hier der Character des Edlen, dort der des Gemeinen überwiegt, treten diese Stellen, deren Eigentümlichkeit theils in der metrischen Gestaltung, theils in einzelnen melodischen Tonfällen der musikalischen Phrase liegt, hier nur wenig, dort ganz auffallend hervor, so z. B. bei Mendelssohn Bartholdy sehr gelind, bei Meyerbeer dagegen in höchster Schärfe“ (Uhlig 1850 Zeitgemäße Betrachtungen, Bd. 33, S. 30). Zum Verlauf dieser Debatte siehe insbesondere den Kommentar zu Bischoff 1850 TU hoc intrivisti, in: NdS 1 Nr. 20. 25 Hiermit ist Ludwig Bischoffs Rezension von Louis Köhlers 1853 erschienener Schrift Die Melodie der Sprache in ihrer Anwendung besonders auf das Lied und die Oper gemeint (Bischoff 1853 Die Melodie der Sprache). In seinem Buch hatte Köhler versucht, eine auf den Aussagen Wagners in Oper und Drama (Wagner 1852 Oper und Drama) basierende, am Sprachfluss und der ‚natürlichen‘ Sprachmelodie orientierte Kompositionslehre vorzulegen. Später hatte sich auch Brendel gegenüber dem Buch kritisch-distanziert geäußert (Brendel 1856 Melodie der Sprache). 22 Liszt,
H. 1853 Das karlsruher Musikfest
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Posaunen-Niedergang auf die Worte: „sie sinkt mit euch“26, würde Ihnen bewiesen haben, dass zwar nicht die „Würde der Menschheit“, aber wohl die Würde der Kunst in den Abgrund, d. h. zum Teufel geht, wenn so etwas Geltung erhält. Es war mir und vielen anderen Kunstgenossen zu Muthe, als hätte Liszt eine Ironie gegen Schiller beabsichtigt – denn ist es nicht schon auffallend, dass ein Text von dem veralteten Schiller und nicht von einem Neuesten, z. B. von Hebbel gewählt worden war? Ein Freund von uns beiden parodirte die Worte des Mittelsatzes also: Furchtbarer in des Neuen Hülle Ersteht die Kunst in dem Gesange, Und rächt sich mit der Zukunft Klange An des Verfolgers feigem Ohr.27 Uebrigens trat nach dem Schlusse des noch obendrein entsetzlich langen, formlosen Stückes eine lautlose Stille ein – le silence des peuples est la leçon des rois!28 In Bezug auf das zweite Concert kann ich, wie schon bemerkt, nichts referiren; es soll besser gewesen sein. Das ist noch immer sehr relativ. Zwischen schlecht und gut wenigstens ist eine solche Kluft, die unter den vorhandenen Verhältnissen in Karlsruhe nicht binnen vierundzwanzig Stunden ausgefüllt werden konnte. Von Berlioz’s Sinfonie „Romeo und Julie“ konnte nur der zweite Satz gegeben werden, weil in der sechsstündigen Di[e]nstags-Probe die anderen Sätze nicht mehr durchgenommen werden konnten. Leben Sie wohl und nehmen Sie noch den karlsruher Volkswitz hin, mit welchem die Freunde uns entliessen: „Wir können nichts dafür,“ sagte[n] sie, „wir sind überlisztet worden“. Ihr H.
Kommentar Vom 3. bis 5. Oktober 1853 fand das von Friedrich I. von Baden angeregte und ausgerichtete Musikfest in Karlsruhe statt. Die Programmgestaltung lag vollkommen in Liszts Hand, und so erklangen unter seinem Dirigat sein An die Künstler und Wagners Ouvertüre zu Tannhäuser
26 Liszt, An die Künstler, T. 27 – 29 und 33 – 35. 27 Der originale Text aus Schillers Gedicht Die Künstler (ED 1789) lautet: „Furchtbarer in des Reizes Hülle, / Erstehe sie in dem Gesange / Und räche sich mit Siegesklange / An des Verfolgers feigem Ohr“. 28 (Frz.) Das Schweigen des Volkes ist eine Lehre für die Könige. Ursprünglich aus der 1774 von Jean Baptiste de Beauvais (1731–1790) gehaltenen Oraison funèbre (Leichenrede) auf Ludwig XV. abgeleitet.
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sowie Ausschnitte aus dessen Lohengrin und Berlioz’ Roméo et Juliette neben Werken von Beethoven, Mendelssohn Bartholdy, Meyerbeer, Mozart, Bach, Schumann und Joseph Joachim. Orchester und Chor setzten sich aus den Darmstädter, Mannheimer und Karlsruher Hofkapellen und Opernchören zusammen, als Solisten wirkten u. a. namhafte Künstler wie Hans von Bülow und Joachim mit.29 In den Musikzeitschriften erfuhr das Karlsruher Musikfest eine extrem große Aufmerksamkeit, wobei das Urteil im Vergleich zum ebenfalls unter Liszts Leitung abgehaltene Ballenstedter Musikfest im Vorjahr nun nicht mehr einhellig positiv ausfiel,30 sondern die Reaktionen das gesamte Spektrum vom euphorischen Bericht31 bis zum vollkommenen Verriss umfassten. Die hier abgedruckte, sehr wahrscheinlich von Ferdinand Hiller verfasste Rezension32 aus der Niederrheinischen Musik-Zeitung stellt wohl die polemischste über das Musikfest dar. Exemplarisch lassen sich darin sämtliche Vorwürfe insbesondere gegen Liszt als Leiter und Dirigenten des Musikfestes ablesen, wie sie in anderer Form später wiederum in Hillers Bericht über das 1857 unter Liszts Leitung stattgefundene Aachener Musikfest begegnen33. Deutlich ist dabei ein Wandel in der Wahrnehmung Liszts zu bemerken, der hier als Pianist nach wie vor anerkannt, aber als Komponist und Dirigent nun scharf kritisiert wird – eine Tendenz, die sich auch in anderen Besprechungen des Musikfestes beobachten lässt.34 Auffallend ist ferner, wie oft der Begriff „Zukunft“ im pejorativen Sinne verwendet wird, etwa in Zusammensetzungen wie „Helden der Zukunft“, „Zukunfts-Musik-Generation“, „Zukunfts-Musik“ oder „Zukunfts-Musikstück“. Der damit fast inflationäre Gebrauch des Begriffs scheint hier Stilmittel zu sein und zeigt, wie sich die gegnerische Seite vor allem an dem alleinigen Anspruch auf die musikalische Zukunft störte, den der Kreis um Liszt erhob. Damit ist der Artikel auch ein negativer Beleg für die erfolgreiche Selbstinszenierung als ‚Fortschrittspartei‘, die unzweifelhaft mit dem Karlsruher Musikfest verbunden war und welche durch eine intensive Berichterstattung auf beiden Seiten unterstrichen und sichergestellt wurde.35 Vielleicht mehr noch als durch die konkreten Aufführungen trug das Karlsruher Fest so zur „Stärkung des inneren Zusammenhalts und zur Bildung eines überindividuellen Selbstverständnisses bei“36, welches fortan vor allem mit den Namen Liszt, Berlioz und Wagner verbunden war.
Weibel 2006 Die deutschen Musikfeste, S. 525 – 544. 30 Siehe etwa V. B. 1852 Das Musikfest in Ballenstädt, in: NdS 1 Nr. 33. 31 Siehe etwa Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51. 32 Vgl. Garratt 2010 Music, Culture and Social Reform, der „H.“ an dieser Stelle ebenfalls Ferdinand Hiller zuschreibt (ebd., S. 258, Anm. 180). 33 Siehe Hiller 1857 Das Musikfest in Aachen. 34 Siehe etwa Anonym 1853 Das grosse Musikfest in Carlsruhe; Anonym 1853 Das Musikfest in Carlsruhe. 35 Vgl. vor allem Pohl 1853 Das Karlsruher Musikfest. 36 Weibel 2006 Die deutschen Musikfeste, S. 545. 29 Vgl.
Nr. 51 | Hoplit [Richard Pohl], „Briefe aus Carlsruhe“, in: NZfM 20 (1853), Bd. 39, Nr. 15 (7. Oktober), S. 160 –162; Nr. 16 (14. Oktober), S. 166 –171; Nr. 17 (21. Oktober), S. 178 –180; Nr. 18 (28. Oktober), S. 187 –190; Nr. 20 (11. November), S. 211– 214. Auszug: Nr. 20 (11. November), S. 211– 214.
Briefe aus Carlsruhe. IV. Rückblicke und Seitenblicke. O, güldne Zeit, in der der Pöbel auf den Straßen Ein eckler [sic] Ohr besitzt, als Kenner sonst besaßen! Erst drängt er durch die Wach’ sich toll in’s Opernhaus, Urtheilt erbärmlich dann, und strömt in Tadel aus! Die Wendung war zu alt, die kam zu oftmals wieder; Hier stieg er allzuhoch, hier fiel er plötzlich nieder; Der Einfall war dem Ohr zu unerwartet da, Und jener taugte Nichts, weil man zuvor ihn sah; Bald wird das Traurige zum Heulen wüster Töne, Bald ist die Sprach’ des Leid’s zu ungekünstelt schöne: Dem ist das Fröhliche zu schäckernd possenhaft, Und Jenem eben das ein Grablied ohne Kraft; Das ist zu schwer gesetzt, und das für alle Kehlen, Und Manchem scheint es gar ein Fehler, nie zu fehlen. Wo kommt die Frechheit her, so unbestimmt zu richten? Wer lehrt den gröbsten Geist die Fehler sehn und dichten? Ist nicht, uneins mit sich, ein Thor des andern Feind? Und fühlt der Künstler nur sie all auf sich vereint? Ist nicht der Grund, weil sie erschlichne Regeln wissen, Und, auf gut Glück, darnach vom Stock zum Winkel schließen? Er ist’s. – Nun tadle mich, daß ich die Regeln schmäh’, Und mehr auf das Gefühl, als ihr Geschwätze seh’ Der Schwätzer hat den Ruhm, dem Meister bleibt die Müh’. Das ist der Regeln Schuld, und darum tadl’ ich sie.1 Ephraim Lessing, An den Herrn Marpurg, über die Regeln der Wissenschaften zum Vergnügen; besonders der Poesie und Tonkunst (ED 1753). 1 Gotthold
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Sollte Einer oder der Andere sich hier getroffen fühlen und etwa meinen, dieses Gedicht sei von mir verfaßt, – ein kleiner Irrthum, welcher der „klassisch gebildeten“ Kritik unserer Tage sehr leicht passiren könnte – so sei hier nur bemerkt, daß diese Verse, mit noch vielen anderen in gleichem Sinne, im „Kritischen Musikus an der Spree“ vom Jahre 1749 enthalten, an Hrn. Marpurg2, den Herausgeber, gerichtet sind, und nur zufällig so lauten, als ob sie nicht vor 100 Jahren, sondern heute geschrieben wären, weil ein gewisser Gotthold Ephraim Lessing ihr Verfasser ist, der keiner von den schlechtesten Kritikern gewesen sein soll. – Lessing hätte die Frage: „Woher die Frechheit kommt, so unbestimmt zu richten?“ mit obiger Antwort in unseren Tagen noch nicht erschöpft. Man könnte jetzt auch so schließen: „Das ist des Standpunkt’s Schuld, darum verwerf ’ ich ihn!“ Jenes bekannte Bonmot, welchem ein „edler Volksvertreter“ lediglich seinen Ruf verdankt: „Ich kenne die Gründe meiner Gegner zwar nicht, aber ich [212] mißbillige sie“3 – scheint das Feldgeschrei der heutigen Literaten-Kritik zu sein. Wenn aber Menschenverstand wirklich noch vorhanden ist, so wird mindestens nur nach „Standpunkten“ „gewürdigt“. Man möchte deshalb Jeden erst nach seinem „Glaubensbekenntniß“ fragen, d. h. nach jenem Literaten-passe-partout, der gewöhnlich eine Hinterthüre offen läßt, um dem „Gegner“ bequem ein Bein zu stellen, oder „einen Esel zu bohren“, wie Shakespeare sagt.4 Dieser neuesten Standpunktstheorie gegenüber erscheint die Lessing’sche Kritik des „richtigen Gefühls“, die der gesunden fünf Sinne, – oder, wie Wagner sich in gleichem Sinne ausdrückt: „die Kritik der gesunden Vernunft, nämlich des Verstandes, der mit Bewußtsein keinen Augenblick als seinen fortgesetzten Ernährer das gesunde Gefühl aufgiebt“5, – nur als verpönter Naturalismus, welcher durch die „Würdiger“ dermaßen discreditirt scheint, daß man schließlich seine eigenen gesunden Ohren nur mit höchstem Mißtrauen, ja mit gewisser Verachtung betrachten 2 Friedrich
Wilhelm Marpurg (1718 –1795) zählte durch seine Aktivitäten als Musikpublizist und seinen Einsatz für Positionen der französischen Aufklärung zu den wichtigsten Vertretern der deutschsprachigen Diskussion über Musik in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Seine musiktheoretischen Schriften, Klavierschulen wie auch Fugen- und Satzlehren bilden insgesamt eine der umfassendsten Musiklehren des 18. Jahrhunderts. In den Jahren 1749/50 gab er die wöchentlich erscheinende Zeitschrift Der Critische Musicus an der Spree heraus. 3 Ausspruch des Abgeordneten Julius Kell am 12. Februar 1849 in der Sitzung der Zweiten Kammer des sächsischen Landtags: „Das halte ich eben für ein Unheil, daß die Staatsregierung solche Erklärungen allein abgibt, und vielleicht eben weil sie keinen Hinterhalt an der Volksvertretung hat, sich nicht entschließen kann, bindende und definitive Erklärungen abzugeben. Die Gründe kenne ich nicht, aber ich muß sie mißbilligen“ (vgl. Büchmann 1972 Geflügelte Worte, S. 720). 4 William Shakespeare, Romeo and Juliet (ED 1597), 1. Akt, 1. Szene. Im englischen Original spricht Sampson, ein Diener im Haus Capulet: „I will bite my thumb at them […]“. 5 Wagner 1852 Ein Brief an den Redacteur, S. 58, in: NdS 1 Nr. 29, S. 292.
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möchte. So lange man sich auf den „Zinnen der Partei“6 noch so blind und toll herumschlägt, ist allerdings für die Sicherung der „höheren Warte“7 einer gesunden Gefühlskritik noch wenig Aussicht! – Wie das hierher gehört? fragen Sie? – derartige Monologe liegen sehr nahe, wenn man in den Fall kommt, einen Bericht zu verfassen über musikalische Erscheinungen, die bereits von Anderen total anders beleuchtet, oder richtiger verdunkelt wurden. Man möchte ganz demüthig erst um Entschuldigung bitten, daß man so frei ist, seinen eigenen Ohren noch zu trauen, seinem eigenen Gefühl noch Rechnung zu tragen und sein eigenes Urtheil, ohne zu „standpunkten“, abzugeben. Man muß dazu freilich die Resignation der Minoritäten und zugleich den Muth besitzen, ein Seperatvotum geben zu können. So möge man meine Karlsruher Berichte betrachten, welche keinen anderen Standpunkt beanspruchen, als den der Billigkeit und Gerechtigkeit – gegenüber den Berichten der „Augsburger Allgemeinen“8, des „Schwäbischen Merkur“9, der „Didaskalia“10 und anderer „Kunstjournale“, welche als Fundgruben willkommener Seitenhiebe von den Feuilletonsammlern bis auf die Hefen ausgelöffelt worden sind. Derartige Gelegenheiten zum „Eselbohren“ lassen sich die Literaten niemals entgehen, und wäre es auch nur, weil das pikant ist. Aber hier war es mehr als das. – Die „Didaskalia“ – es ist wohl das erste Mal, daß sie als Quelle angezogen wird – war so plumb, in ihren Berichten gleich oben an sich in die Karte sehen zu lassen, und so ihr ganzes Spiel zu verrathen. Sie sagte sehr naiv: „Warum habt ihr Liszt berufen, und nicht unsern verdienstvollen Lachner11 oder Schindelmeisser12! Dahinter steckt sehr Viel, und wir drohen mit Enthüllungen!“13 –
6 Wohl eine Anspielung auf Ferdinand Freiligraths Gedicht Aus Spanien (ED 1841), worin es heißt: „Der Dichter steht auf einer höhern Warte, / Als auf den Zinnen der Partei.“ 7 Ebd. 8 Anonym 1853 Karlsruhe. Die u. a. in Augsburg und München bei Cotta erscheinende Allgemeine Zeitung war mit einer Auflage von ca. 8000 Exemplaren in den 1850er Jahren nicht nur eine der vor allem im süddeutschen und österreichischen Raum verbreitetsten Tageszeitungen, sondern auch ein für seinen zurückhaltend-objektiven Berichtstil anerkanntes Blatt (vgl. Breil 1996 Die Augsburger „Allgemeine Zeitung“, S. 46 f. sowie S. 58). 9 Anonym [Ω] 1853 Das Karlsruher Musikfest. Der Schwäbische Merkur erschien von 1785 bis 1941 und war die führende Tageszeitung in Württemberg. 10 Anonym 1853 Das Karlsruher Musik- und Volksfest. Die Didaskalia ist von 1831 bis 1930 nachweisbar und diente als Unterhaltungsblatt des renommierten Frankfurter Journals. 11 Franz Lachner (1803 –1890), Komponist und Dirigent, wirkte zunächst in Wien und Mannheim, bevor er ab 1836 für dreißig Jahre den Posten als musikalischer Leiter der Münchner Hofoper innehatte. Lachner vertrat eine eher konservative Haltung und war daher immer wieder Zielscheibe für Kritiken und Polemiken in der NZfM. 12 Louis Schindelmeisser (1811–1864), Komponist und Dirigent, war ein Jugendfreund Richard Wagners und nach verschiedenen Kapellmeisterposten ab 1853 als Hofkapellmeister in Darmstadt tätig. 13 Anonym 1853 Das Karlsruher Musik- und Volksfest, S. 238: „Warum, so fragt man sich hier allgemein, wurde bei der Direktorwahl der hiesige allgemein verehrte Kapellmeister Strauß übergangen? Oder warum vertraute man, wenn man Hrn. Strauß nicht wollte, diesen wichtigen Posten nicht Hrn. Lachner aus Mannheim oder einem anderen Direktor an, dessen Direktionstalent bekannt ist und genügende Garantie für das Gelingen des Festes gab? Man sagt sich über diesen Punkt hier mancherlei höchst merkwürdige Dinge in die Ohren, worüber ich Ihnen vielleicht ausführlichere Mittheilungen mache; denn bei der Bedeutung, welche man von gewisser Seite diesem Feste gibt, ist diese Frage von dem höchsten künstlerischen Interesse.“
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Der „Schwäbische Merkur“ dagegen malte einen „Propaganda-Popanz“14 an die Wand, und machte damit den guten Schwaben so bange, daß sie vor lauter „KoterieFurcht“ nicht zu Verstande kamen, und eine „Grenzsperre gegen Ansteckung“ mit Patriotismus um ihren häuslichen Heerd errichteten.15 Die „Allgemeine“16 endlich, oder eigentlich der große Riehl17 (entweder im Original oder in beglaubigter Abschrift), nahm die Sache mehr im humoristischen Styl, und hatte dabei wenigstens den Vortheil, witzig zu unterhalten, ohne dem Verstand viel zuzumuthen. „Nur Lumpe sind bescheiden!“18 So verschieden auch diese drei „Standpunkte“ sein mögen – darin waren sie Alle einig, daß ihr Urtheil schon fertig war, bevor Liszt seinen Fuß nach Karlsruhe gesetzt hatte. Wenn Rellstab19 Berichte über Concerte gemacht haben soll, die gar nicht stattgefunden haben, so ist es doch um Vieles weniger riskirt, sich von seinem „Standpunkt“ während eines Concertes unbekümmert leiten zu lassen, wobei man die Bequemlichkeit hat, auf die Musik gar nicht eingehen zu müssen. Liszt war folglich von ihnen „besorgt und aufgehoben“ ehe das Musikfest anfing. – Warum hieß er Liszt und nicht Lachner; warum kam er aus Weimar und nicht aus Schwaben; und warum führte er Lohengrin auf und nicht ein Händel’sches Oratorium! Das waren Kapitalverbrechen. Und weil man der „Zukunfts-Musik“, sowohl der Auswahl, als der Aufführung, nicht empfindlich genug beikommen konnte, so strengte
14 Anonym [Ω] 1853 Das Karlsruher Musikfest, S. 1682: „Die Idee, auch in Süddeutschland durch Vereinigung der Kräfte benachbarter Städte ein großartiges Musikfest zu halten, könnte als eine sehr glückliche und zeitgemäße bezeichnet werden, wenn dieselbe nicht fast ausschließlich zu einer Propaganda für die Berlioz-Wagnersche Kunsttendenz benützt worden wäre.“ 15 Ebd., S. 1682 f.: „Daß Franz Liszt, selbst ein unstetes, formloses Kompositionsgenie, ein Bewunderer und Vertheidiger seines Freundes Richard Wagner ist und ihn mit der Autorität seines Namens durch Wort und That emporzubringen sucht, kann ihm gewiß Niemand verargen, aber ebensowenig kann man es einer unparteiischen Kritik verargen, wenn sie sich bestrebt, eine Gränzsperre gegen die ansteckende Verbreitung einer musikalischen Koterie zu errichten, die uns auf die lockendste Weise überreden möchte, daß wir Deutsche in unseligem Irrthum und Wahne befangen sind, wenn wir bisher Händel und Bach, Haydn und Mozart, Beethoven und Weber, Spohr und Mendelssohn und so manche andere Lieblinge, als die dem deutschen Gemüthe und Geiste entsprechendsten Tondichter so innig genossen und verehrt haben, und daß eine Zukunft kommen wird, in welcher Tannhäuser und Lohengrin den Don Juan und die Zauberflöte vergessen machen werden, oder in welcher unsere deutschen Liederkränze statt des Mendelssohnschen Gesanges: An die Künstler! die Komposition Franz Liszt’s singen werden! Gerade weil eine auf bloßen Sinnenkitzel berechnete Musik das größere Publikum so leicht berauscht und bereits im Norden Deutschlands die Tannhäuser Manie überhand nimmt, so hätten wir Süddeutsche, die wir die Musik mit weniger Reflexion, sondern mehr aus innerem Drange lieben, ein so einflußreiches Musikfest benützen sollen, um der wachsenden Gefahr den Schild der wahren deutschen Musik entgegen zu halten.“ 16 Anonym 1853 Karlsruhe. 17 Wilhelm Heinrich Riehl (1823 –1897), Kulturhistoriker, Soziologe und Novellist, war von 1851 bis 1853 als Redakteur der Allgemeinen Zeitung in Augsburg tätig und verfasste u. a. die einflussreiche Schrift Musikalische Charakterköpfe. Ein kunstgeschichtliches Skizzenbuch (ED 1853). 18 Johann Wolfgang von Goethe, Rechenschaft (ED 1810): „Nur die Lumpe sind bescheiden, / Brave freuen sich der Tat.“ 19 Ludwig Rellstab (1799 –1860), deutscher Dichter, Journalist und einer der einflussreichsten Musikkritiker des ersten Drittels des 19. Jahrhunderts, der vor allem in der von ihm 1830 gegründeten und bis 1841 von ihm allein verfassten Iris sowie in der in Berlin verlegten Vossischen Zeitung von 1826 bis zu seinem Tod publizierte.
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man seinen Witz an, um Liszt zu verdächtigen und zu verkleinern, oder über seine Compositionen herzufallen, wie es sich eben machte. „Der Schwätzer hat den Ruhm, dem Meister bleibt die Müh“20 – Und darum wurde frisch in die Welt hinaus getadelt und gelogen. Ja, gelogen, und zwar mit Virtuosität! „Die Concerte haben den Erwartungen in keiner Weise entsprochen“ – war das Geringste, was man behauptete, und wozu ein Schein des Rechtes darin gefunden werden kann, daß die Concerte den Erwartungen jener Berichterstatter allerdings nicht entsprachen, weil diese gehofft hatten, noch viel wohlfeilere Gelegenheit zum „Herunterreißen“ zu finden, als gerechter Weise sich darbot. Die vortreffliche Aufnahme und der vorzügliche Gehalt der meisten vorgeführten Werke waren so schlagend, daß man sich genöthigt sah, zu dergleichen Phrasen seine Zuflucht zu nehmen, deren Sinn sich nach Belieben kneten läßt. [213] Wozu wurde aber der Menschheit die Phantasie verliehen, wenn man sie nicht anwenden wollte, sich die Thatsachen so zurecht zu schneiden, wie z. B. viele historische Novellisten die Geschichte zurichten? – Wir lasen im „Dresdener Journal“ (Nr. 238)21 eine historische Novellenskizze über das Karlsruher Musikfest, die von außerordentlicher Erfindungskraft zeugt. Die Quelle anzugeben hat Hr. Banck22, nicht für nöthig befunden – wir konnten dieselbe bisher noch nirgends entdecken, folglich muß er sich gefallen lassen, daß die Ehre der Erfindung ihm bis auf Weiteres verbleibt. Die Fabel lautet: „Die Tannhäuser-Ouvertüre mußte nach den ersten zwanzig Tacten wegen allgemeiner Tonverwirrung wieder von vorn angefangen werden. Im Finale der 9ten Symphonie begann ein Jeder seinen eigenen Weg zu wandeln. Von Berlioz Musik zu Romeo und Julie konnte nur der zweite Theil aufgeführt werden, da die Proben nicht zureichten, auch den ersten herzustellen.“23
An den Herrn Marpurg (ED 1753). 21 Anonym 1853a Musik. Pohl nimmt als Autor des Artikels wohl zu Recht den Dresdner Komponisten und Kritiker Carl Banck an (siehe Anm. 22). 22 Carl Banck (1809 –1889), Musiker und Musikschriftsteller, schrieb 1834 bis 1836 für die NZfM und wirkte ab 1840 vor allem als Komponist und Gesangslehrer in Dresden, wo er u. a. mit dem Bildhauer Ernst Rietschel, dem Maler Eduard Bendemann und den Literaten Karl Gutzkow und Gustav Freytag verkehrte. Ab 1846 schrieb Banck zudem regelmäßig Kritiken für das Dresdner Journal und veröffentlichte ebenfalls in den Signalen (etwa Banck 1847 Die deutsche Bühne; Banck 1847 Betrachtung der musikalischen Kunstzustände) sowie in der Rheinischen (Banck 1854 Aus Dresden) und Süddeutschen Musik-Zeitung (Banck 1857 Aufführung von Liszts Werken, in: NdS 2 Nr. 112). 23 Anonym 1853a Musik (Hervorhebungen von Pohl). Pohl verschweigt in diesem Zitat die Bemerkung zu Liszts Festgesang An die Künstler S 70 sowie das Lob der anderen Werke. Die vollständige Notiz im Feuilleton des Dresdner Journals lautet: „Das von Liszt geleitete große Musik- und Volksfest in Karlsruhe ist zwar in Betreff der Kletterbäume, des Bolzenschießens, des Sackhüpfens, Wursthauens und Eimerstechens, kurz seinem volksvergnüglichen Theile vortrefflich ausgefallen, weniger aber hinsichtlich der musikalischen Leistungen. Liszt’s Direction scheint nicht geeignet, ein bestimmtes und künstlerisch sicheres Ensemble herzustellen und die Zugabe der Volksbelustigungen scheint für den Ernst einer Kunstproduction und für den Besuch der Proben nicht günstig gewirkt zu haben. So musste die Tannhäuser-Ouverture nach den ersten zwanzig 20 Lessing,
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Das sind drei Unwahrheiten in acht Zeilen, mehr kann das Publikum nicht verlangen. So trefflich wird man heutzutage bedient von seinen Berichterstattern. Wie kann man dem Publikum folglich verargen, daß es einen solchen Dégout24 vor aller Kunstkritik erhält, und ein solches Mißtrauen in alle Berichte setzt, daß es entweder keinem mehr glaubt, und die Recensenten nur noch in „bezahlte“ und „partheiische“ eintheilt, oder sich aus angeborener Freude am Scandal daran ergötzt, daß Alle recht toll durcheinander schreien und sich gegenseitig nach Kräften herabsetzen. Eine angenehme Mission, in diese Wespennester zu stechen! Liszt trat ungescheut dem Allen entgegen – und die Kritik versäumte nicht, in bekannter Weise zu verfahren. Daß „die Tannhäuser-Ouvertüre nach den ersten zwanzig Tacten wegen allgemeiner Tonverwirrung wieder von vorn angefangen werden mußte,“ ist denn doch so stark, daß man über die Erfindungskraft des Urhebers, er sei wer er wolle, erstaunen muß. Die Tannhäuser-Ouvertüre war nämlich gerade das am tadellosesten ausgeführte Instrumentalwerk. – Will man daher nicht annehmen, daß diese Lüge absichtlich erfunden sei, so bleibt nur übrig, daß der Hr. Berichterstatter entweder nur in der ersten Probe (wo allerdings der Anfang der Ouvertüre wiederholt wurde), aber nicht in der Aufführung war, oder daß er mit seinen feinen Ohren die erste Repetition des Pilgergesanges für ein Wiederbeginnen der Ouvertüre hielt! Welche Lesart ist wohl vorzuziehen? – Wie absichtlich die entstellende Uebertreibung in der Behauptung sei, „daß im Finale der neunten Symphonie Jeder seinen eigenen Weg zu wandeln begann“ – liegt auf der Hand. An welcher Stelle und unter welchen Umständen das viel besprochene Versehen stattfand, ward bereits im zweiten Briefe erörtert.25 Die Unterbrechung
Tacten wegen allgemeiner Tonverwirrung von vorn angefangen werden, im Finale der neunten Sinfonie begann ein Jeder seinen eigenen Weg zu wandeln und Liszt’s Festgesang erlitt ein vollständiges Fiasko. Von Berlioz’ Musik zu ‚Romeo und Julia‘ konnte nur der zweite Theil aufgeführt werden, da die Proben nicht zureichten, auch den ersten herzustellen. Herr v. Bülow spielte mit Bravour eine etwas formlose Phantasie Liszt’s über Motive aus Beethoven’s ‚Ruinen von Athen‘. Als gut ausgeführt wird Meyerbeer’s Ouverture zum ‚Struensee‘ genannt und einige Sätze aus Wagner’s ‚Lohengrin‘, die bedeutend wirkten. Reichen Beifall ernteten Fräulein Kathinka Heinefetter durch Arienvorträge und der Violinvirtuos Joachim (jetzt in Weimar), dessen Leistung als ganz meisterhaft gerühmt wird.“ 24 (Frz.) Ekel, Widerwille, Abneigung. 25 Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe II, S. 170: „Daß nach der Fermate in F-Dur bei dem Allegro assai vivace alla marcia (6/8 B-Dur) sich das Fagott verzählt hatte und mit dem Niederschlag (statt mit dem Aufschlag im vierten Achtel) einfiel, wodurch die große Trommel irre gemacht wurde, so daß die sechs ersten Noten wiederholt werden mußten, – war ein Unglück, wofür kein Dirigent einstehen kann, da leider beide Instrumente überhaupt sehr zaghaft auftraten und hier das Unglück hatten, ganz Solo eintreten zu müssen. Bei jeder anderen Stelle wäre das Versehen spurlos vorüber gegangen, doch haben diverse Böswillige und Einsichtslose, die niemals einen Directionsstab nur in der Hand gehabt, vielweniger ein solches Riesenwerk mit zwei Proben einstudirt haben, ein Geschrei darüber erhoben, weil sie froh waren, etwas in ihre Ohren Fallendes gefunden zu haben, was sie getrost tadeln konnten, ohne einmal Gefahr zu laufen, sich zu blamiren!“
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geschah nicht mitten in einem Satz, sondern beim Beginn eines neuen, wo ein ähnlicher Unfall sicher am Mindesten störend einwirken konnte. Die Unzuverlässigkeit des Carlsruher Fagottisten war ein Unglück, aber kein Fehler des Dirigenten. Es scheint, daß von den Berichterstattern allerdings fast Jeder „seinen eigenen Weg gewandelt ist“ – vom Orchester ist uns dergleichen Nichts bekannt. Wahrhaft komisch ist endlich die Behauptung, daß von „Romeo und Julie“ nur der zweite Theil aufgeführt werden konnte, „weil die Proben zum ersten Theil nicht zugereicht hätten“. – Der erste Theil stand nämlich gar nicht auf dem Programm!26 Ein Seitenstück zu dem bekannten Ausruf eines Schultyrannen: „Ich sehe schon wieder Einige, die nicht da sind!“27 – Im dritten Brief ward bereits erwähnt, daß die Auslassung der zwei Berlioz’schen Nummern durch das Begehren (von Seiten des Hofes, des Publikums und der Künstler) hervorgerufen wurde, die Tannhäuser-Ouvertüre noch einmal zu hören.28 Nicht Alle waren in dem Fall, beide Concerte besuchen zu können. Um Wagner’s Musik zu hören, kamen Viele erst zum zweiten Concert, und schon aus Rücksicht gegen diese war die Programmänderung motivirt. Derartige Abänderungen sind bei Concerten so überaus häufig, daß es unbegreiflich wäre, wie man diese als Folge einer ungenügenden Leitung der Proben darstellen konnte – wenn nicht allenthalben, also auch hier, das Bestreben der Berichterstatter dahin gezielt hätte, nur möglichst viele Ausstellungen machen zu können, gleichviel welche. Was diese Herren Widersacher aufgebracht hat, war sicher nicht die Unterlassung des Scherzo der „Fee Mab“29 – welches sie, von ihrem „Standpunkt“ aus, gewiß mit Vergnügen opferten – sondern einfach der herrliche Effect, den das „Fest bei Capulet“ durch seine gute Aufführung hervorbrachte, ein Erfolg, der ihren verbrauchten Phrasen über die „Ungenießbarkeit“ und „Unsinnigkeit“ der Berlioz’schen Musik sehr störend sein mußte. Wer dergleichen Kunstgriffe der Handwerks-Literaten noch nicht kennt, mag dadurch sich düpiren lassen, doch gehört dazu eine für unsere Zeit erstaunliche Portion von Unschuld. Die „Augsburger Allgemeine“ verschmähte derartige Manöver, sie griff die [214] Sache feiner an. Wer die Lacher auf seiner Seite hat, der gewinnt das Publikum – ergo: „man mache Alles lächerlich“. Diese[s] Recept versprach bessere und anständigere Wirkung. Man stellte Betrachtungen an über den
26 Geplant war eine Aufführung der Sätze 2 bis 4 aus Berlioz’ Roméo et Juliette (vgl. Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe I, S. 161). Im Konzert am 5. Oktober 1853 erklang jedoch nur der 2. Satz „Roméo seul – Tristesse – Bruit lointain de bal et de concert – Grande Fête chez Capulet“. 27 Sprichwörtlich nach Johann Nestroys Burleske Die schlimmen Buben in der Schule (UA 1847). 28 Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe III, S. 188: „Vor Beginn des Concertes war uns, zur freudigsten Ueberraschung, ein Zettel mit folgender ‚Benachrichtigung‘ zugekommen: ‚Auf vielfaches Begehren wird die Ouvertüre zum Tannhäuser zum Beschluß des Concertes wiederholt werden.‘ – Also so unmittelbar und schlagend hatte diese Ouvertüre nach einmaligem Hören, trotz aller Gegendemonstrationen der auswärtigen Kritik gewirkt! Das war doch ein Sieg, der sich konnte sehen lassen! – Freilich verloren wir dadurch auf anderer Seite. Zwei Nummern von Berlioz mußten ausfallen, um für die Ouvertüre Raum und Zeit zu schaffen. Man hatte von mehreren Seiten das erste Concert, (von 11 bis ½3 Uhr) etwas zu lang gefunden und gewünscht, daß das zweite Concert auf das Maaß von 3 Stunden zurückgeführt würde. Darum mußte Berlioz Wagner Platz machen.“ 29 Berlioz Roméo et Juliette op. 17 (EA 1839), 4. Satz „La Reine Mab, ou la Fée des Songes. Scherzo“.
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moralischen Gehalt der Instrumentalmusik und gewann auf diesem allerneuesten „Standpunkt“ ganz erstaunliche Resultate, wodurch Mendelssohn zu einem „Zukunftsmusiker“ gestempelt30 und Meyerbeer wegen seiner Zurückhaltung gelobt wird31. – Dadurch hat aber der Referent nur sich lächerlich gemacht. – Dieser Augsburger Musikkenner ist ein echter Deutscher, der in der Vergangenheit sich zwar orientirte, aber über dem Studium auf „breitester historischer Grundlage“ sich seine Zeit so über den Kopf wachsen ließ, daß er in der Gegenwart sich natürlich nicht zurecht finden kann, aber uns einreden will: „das sei ihm der Mühe gar nicht werth!“ – Das kann zwar Jeder halten, wie er will; doch lasse er dann uns ungeschoren, die wir in und mit der Zeit leben und nicht im Entzücken über „entrollte würdige Pergamente“32, wie der Famulus des Faust, die Gegenwart „kaum durch ein Fernglas sehen“33! – Sitzt Ihr nur immer! Leimt zusammen, Braut ein Ragout von Andrer Schmaus, Und blast die kümmerlichen Flammen Aus Eurem Aschenhäufchen ’raus!34 Vor der Hand, und nach den neuesten Erfahrungen in Carlsruhe, hat die „moderne Schule“ durchaus keine Ursache, sich einschüchtern zu lassen und durch das kritische Geheul einiger Herren – deren Achillesferse sich sehr weit über ihre Personen ausbreitet, ohne dass sie sonst etwa Viel mit Achilles gemein haben – sich für beurtheilt oder gar für verurtheilt zu halten. Nichts kann aber erwünschter und mehr im Sinne der Schöpfer des Festes sein, als das Verlangen, welches sich unmittelbar nach dem Feste allenthalben kund gab, daß man das Musikfest alljährlich wiederholen möge. Mag dann dirigiren, wer will und kann, das Feld ist zuerst durch Liszt gewonnen worden. Dies bleibt eine unbezweifelte Thatsache. Das Behaupten eines so erworbenen Terrains ist ungleich leichter, als die ersten Schritte auf fremden Boden. In welchem Sinne und Geschmack, mit welchem Geschick und Erfolg auch das Begonnene fortgesetzt werden mag, so
30 Anonym 1853 Karlsruhe, S. 4484: „Für das Finale aus Mendelssohns Loreley, welches den ersten Theil des Concerts schloß, konnte es keine günstigere Folie geben als die Tannhäuser-Ouverture. Ich bin, wie Sie wissen, kein unbedingter Bewunderer Mendelssohns, und sehe insbesondere in der Loreley, wie in der Athalia, bereits die ersten Vorboten der Zukunftsoper; denn beide Werke verlassen schon die frühere Form und Gliederung dramatischer Musik, um sich in einem ungebundenen Flusse fortzubewegen, die die Hörer theils drängt, theils ermüdet.“ 31 Ebd., S. 4483 f.: „Wenn eine ‚Frau Venus‘ sich zum Mittelpunkt eines solchen Treibens [eines bis zum wahnsinnigen Rausche gesteigerten Tobens einer Orgie an Orten, welche zu nennen der Anstand verbietet, Anm. d. Verf.] hergibt, so ist sie eine Venus vulgivaga der abgefeimtesten Sorte; und ein Tannhäuser, den nicht schon der bloße Ekel aus ihren Armen fern hält, wäre wohl nicht werth daß man seinethalben eine große Oper schreibt. Die Frage ob man überhaupt die nackte Sinnlichkeit, wenn auch in verfeinerter Form, musikalisch schildern dürfe, soll hier gar nicht berührt werden. Meyerbeer hat eine solche Schilderung wenigstens mit mehr Zurückhaltung versucht.“ 32 Goethe, Faust I (ED 1808), „Vor dem Thor“, V. 1108 f. 33 Ebd., 1. Szene „Nacht“, V. 530 – 532. 34 Eb d.,V. 538 – 541.
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viel ist gewiß, daß die moderne Kunst, und vor Allem Wagner, durch eigenen Werth „trotz alledem“ ein neues Feld der Wirksamkeit, neue Freunde und neue Kräfte sich gewann. Und darauf kam es lediglich hier an. Alles Uebrige steht erst in zweiter Linie, worüber man zwar streiten und spötteln, aber dadurch die Haupterfolge niemals annuliren kann. Sapienti sat.35 – Hoplit.
Kommentar Vom 3. bis 5. Oktober 1853 erlebte Karlsruhe auf Initiative Friedrichs I. von Baden ein Kunstfest, welches sich mit der von Liszt verantworteten Programmgestaltung dezidiert von derjenigen damals üblicher Musikfeste abhob, die in der Regel als Höhepunkt die Aufführung einer Beethoven-Symphonie sowie entweder die eines Händel- oder Haydn-Oratoriums vorsahen. So gelangten unter Liszts Leitung dessen An die Künstler und Wagners Ouvertüre zu Tannhäuser sowie Ausschnitte aus Lohengrin und Berlioz’ Roméo et Juliette neben Werken von Beethoven, Mendelssohn Bartholdy, Meyerbeer, Mozart, Bach, Schumann und Joseph Joachim zu Gehör. Die Ausführenden setzten sich aus den Darmstädter, Mannheimer und Karlsruher Hofkapellen und Opernchören zusammen, als Solisten wirkten u. a. der ehemalige Liszt-Schüler Hans von Bülow sowie der vormalige Weimarer Konzertmeister Joseph Joachim mit.36 Die NZfM würdigte das Karlsruher Ereignis in Gestalt einer vom 7. Oktober bis 11. November erschienenen vierteiligen Artikelserie,37 von der hier der letzte Teil wiedergegeben ist. In diesen Aufsätzen, die in weiten Teilen in eine kurz darauf erschienene 128-seitige Broschüre mit dem Titel Das Karlsruher Musikfest im October 185338 Aufnahme fanden, schildert der unter seinem Pseudonym „Hoplit“ schreibende Richard Pohl zunächst die musikalische Situation in Süddeutschland sowie den gesamten Kontext des Musikfestes. Im zweiten und dritten Teil widmet sich Pohl jeweils detailliert den beiden Konzerten und den darin aufgeführten Werken, bevor er im hier abgedruckten vierten Teil schließlich seine Ablehnung gegenüber einer rein auf geschichtsphilosophischer Basis beruhenden „Standpunkt“-Kritik hervorbringt, wie sie wiederholt von Brendel für die NZfM reklamiert worden war,39 bevor er den Versuch unternimmt, die negativen Beurteilungen des Musikfestes in
35 (Lat.)
Dem Klugen ist es genug. Sprichwörtlich nach dem antiken Komödiendichter Terenz, Phormio (UA 161 v. Chr.) im Sinne von: Es wurde alles Nötige gesagt. 36 Vgl. hierzu insgesamt Weibel 2006 Die deutschen Musikfeste, S. 525 – 544. 37 Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe. 38 Erschienen in Leipzig 1853 bei Bruno Hinze. 39 So bereits programmatisch und am ausführlichsten in seinem Antrittsartikel als Chefredakteur der Zeitschrift (Brendel 1845 Zur Einleitung, in: NdS 1 Nr. 1).
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anderen Zeitschriften als unbegründet zu widerlegen.40 Tatsächlich hatte die Karlsruher Zusammenkunft – im Gegensatz zum durchweg positiven Echo auf das erste von Liszt veranstaltete Musikfest 1852 in Ballenstedt41 – auch deutliche Kritik in der Presse hervorgerufen, wobei neben der Programmgestaltung vor allem das Dirigat Liszts einen Hauptangriffspunkt bildete. Wohlwollende Rezensionen finden sich außer in der NZfM lediglich in der Rheinischen Musik-Zeitung42, in der Süddeutschen Musik-Zeitung43 sowie in der Berliner Musik-Zeitung Echo44, die ansonsten den auf dem Musikfest hauptsächlich vertretenen Komponisten wie Liszt und Wagner vorwiegend kritisch gegenüberstanden. Ein zentrales Anliegen Pohls scheint neben der Dokumentation des Musikfestes vor allem eine Apologie Liszts zu sein, indem Pohl dessen innovative, nicht mehr auf das reine Taktschlagen beschränkte Art des Dirigierens erläutert, dessen große Verdienste in der Programmzusammenstellung hervorhebt und ausführlich die organisatorischen und musikalischen Schwierigkeiten beschreibt, mit denen Liszt in Karlsruhe zu kämpfen hatte. Diese Intention geht auch aus der bereits erwähnten Broschüre Pohls hervor, die neben einer erweiterten Form seiner Karlsruher Korrespondenzen aus der NZfM noch Wiederabdrucke von Liszts Brief über das Dirigieren45 sowie als Anhang Wagners Programme zur Tannhäuser-Ouvertüre,46 zur 9. Symphonie Beethovens47 und zu Lohengrin48 enthält, die ebenfalls zuvor in der Zeitschrift erschienen waren. Bemerkenswert ist vor allem, dass die in den Zeitungsberichten zu beobachtende Selbststilisierung als musikalische Avantgarde, welche sich einer übelwollenden konservativen Berichterstattung gegenübersieht, in der Broschüre noch um kritische Bemerkungen gegenüber den neuesten Kompositionen Schumanns ergänzt wurde, die in der NZfM möglicherweise dem redaktionellen Eingriff Brendels zum Opfer fielen, für das Verhältnis Schumanns zur ‚Zukunftsmusik‘ aber von Bedeutung sind. So warf Pohl dem Komponisten und Gründer der NZfM u. a. mangelnde Liebe,49 fehlende Objektivität, Subjektivismus sowie unzureichende Empathiefähigkeit50 vor. Wie sehr Pohl die Broschüre auch nutzte, um seine enttäuschten
bezieht sich insbesondere auf die negativen Rezensionen in der Augsburger Allgemeinen Zeitung (Anonym 1853 Karlsruhe), in der Schwäbischen Kronik (Anonym 1853 Das Karlsruher Musikfest) und in der Didaskalia (Anonym 1853 Das Karlsruher Musik- und Volksfest). Den extrem polemischen Bericht aus der Niederrheinischen Musik-Zeitung (H. 1853 Das karlsruher Musikfest, in: NdS 1 Nr. 50) greift Pohl hier erstaunlicherweise nicht auf. 41 Siehe hierzu Anonym 1852 Das Musikfest zu Ballenstedt, in: NdS 1 Nr. 33. 42 Anonym 1853 Das Musikfest in Carlsruhe. 43 Anonym 1853 Das grosse Musikfest in Carlsruhe. 44 A. Z. 1853 Das Musikfest in Karlsruhe. 45 Liszt 1853 Ein Brief von Franz Liszt. 46 Wagner 1853 Ueber Inhalt und Vortrag der Ouvertüre zu Wagner’s Tannhäuser. 47 Wagner 1846 Neunte Symphonie. 48 Wagner 1853 Die Instrumental- Einleitung zu Lohengrin. 49 „Schumann war […] viel zu subjectiver Natur, um durch ein reflektirtes Schaffen erfolgreich wirken zu können. Da, wo er absichtlich reformatorisch eingreifen wollte, ging er offenbar über die Sphäre hinaus, die ihm beschieden war, es fehlte ihm hierzu das objective Aufgehen im Gegenstand, und eine Liebe, die durch keine Reflexion zu ersetzen ist“ (Pohl, Das Karlsruher Musikfest, S. 53). 50 „Es gelingt ihm nicht, das Kunstobject in seiner reinen, ungetrübten Individualität darzustellen. Anstatt sich ganz in den Gegenstand zu versenken, und über der innern Nothwendigkeit desselben die Gesetze seiner speciellen musikalischen Empfindungen zu vergessen, verfährt Schumann vielmehr umgekehrt: er versenkt den Gegenstand in sich und vergisst über den gewohnten Gesetzen seines eigenen musikalischen Fühlens die innere Nothwendigkeit des Gegenstandes“ (ebd.). 40 Pohl
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Hoffnungen in Schumann zum Ausdruck zu bringen und zugleich Wagner gegen diesen auszuspielen, verdeutlichen vor allem die Bemerkungen zur Genoveva. Diese wird darin nicht nur als misslungener Versuch bezeichnet, „die Oper zu reformieren“, sondern diente Pohl auch zum Anlass, die musikdramatische Bedeutung Wagners zu betonen, welcher „der dramatischen Tondichtung mit ausschliesslicher Hingebung und mit so überwältigendem Genie bemächtigt“ sei, „dass er alle Bestrebungen neben sich siegreich zu Boden schlagen musste.“51 Dementsprechend war das freundschaftliche Verhältnis beider – Pohl hatte für Schumann als Librettist gewirkt und zusammen mit diesem ein Luther-Oratorium geplant52 – schwer belastet, als Pohl die Broschüre über das Karlsruher Musikfest Schumann als Beilage zu seinem Brief vom 27. Januar 1854 zukommen ließ. Die Antwort Schumanns auf diese Angriffe des damals 27-jährigen Pohls findet sich in einem Brief vom 6. Februar 1854, worin es heißt: „Daß Sie der Hoplit waren, das wußt’ ich gar nicht. Denn ich harmonier nicht sonderlich mit seinem und seiner Parthey Liszt=Wagner’schen Enthusiasmus. Was Sie für Zukunftsmusiker halten, das halt’ ich für Gegenwartmusiker, und was Sie für Vergangenheitsmusiker (Bach, Händel, Beethoven), das scheinen mir die besten Zukunftsmusiker. Geistige Schönheit in schönster Form kann ich nie für ‚einen überwundenen Standpunkt‘ halten. Hat diese etwa R. Wagner? Und wo für denn die genialen Leistungen Liszt’s – wo stecken sie? Vielleicht in seinem Pulte? Will er vielleicht die Zukunft erwecken, weil er fürchtet, man versteh’ ihn jetzt nicht? Nein – ich kann nicht mit diesem Hoplitschen Enthusiasmus harmoniren. […] Sie sprechen von einem Fehlen von Liebe, die keine Reflexion ersetzen könne. Haben Sie sich wohl überlegt, was Sie da geschrieben haben? Sie sprechen von Mangel an Objectivität – haben Sie sich auch das überlegt? Allein vier Symphonien, sind sie eine wie die andere? oder meine Trios? oder meine Lieder? Ueberhaupt giebt es zweierlei [Arten] Schaffen? Ein ob- und subjectives? War Beethoven ein objectiver? Ich will Ihnen sagen: das sind Geheimnisse, denen man nicht mit so elenden Worten beikommen kann.“53 Auch wenn diese persönliche Auseinandersetzung sich nicht an der zuvor erschienenen Berichterstattung in der NZfM entzündet hatte, so belegt und erklärt sie doch das zunehmend distanzierte Verhältnis Schumanns gegenüber der sogenannten Zukunftsmusik und ihrer publizistischen Vertreter – eine Distanzierung, welche auch im zu einiger Berühmtheit gelangten „Neue Bahnen“-Artikel54 zum Ausdruck kommt, der am 28. Oktober – beinahe symbolträchtig – gemeinsam mit dem dritten Teil der „Briefe aus Carlsruhe“ in der NZfM erschien. Somit markiert das Karlsruher Musikfest und die diesbezügliche Berichterstattung in mehrfacher Hinsicht einen Wendepunkt innerhalb der sich zunehmend verschärfenden
S. 54. 52 Vgl. hierzu Schröter 2014 Richard Pohl und Robert Schumann. 53 Brief Schumanns an Pohl vom 6. Februar 1854, US-NYpm: MFC S 3925. P 748, fol. 1v – fol. 2r. 54 Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49. 51 Ebd.,
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musikalischen Kontroverse, da – im Gegensatz zum Ballenstedter Musikfest – nun erstmals nicht nur die öffentliche Selbstdarstellung als ‚Fortschrittspartei‘, sondern auch das durch die Programmgestaltung intendierte Provokationspotenzial dieses Musikfestes erkannt und rezipiert wurde und damit die fortschreitende Lagerbildung im damaligen Musikdiskurs wesentlich vorangetrieben wurde.
Nr. 52 | H – l., „Musikalische Charakteristiken. V. Moderne Kunstbestrebungen“, in: Neue Wiener Musik-Zeitung 2 (1853), Nr. 46 (17. November), S. 189 f.
Musikalische Charakteristiken V. Moderne Kunstbestrebungen. Wenn die ersten Erscheinungen einer Kunstentwicklung, die stets innig mit den gegebenen Zuständen eines Volks, seinem Glauben, seinem gesellschaftlichen Leben, seiner Gesinnung und Stimmung zusammenhängen, wie von selbst verstandene Zeitregungen freudig begrüßt in das Mark und Blut, aus dem sie hervorgegangen, wieder aufgenommen und so ein Gemeingut der Nation werden, so gibt sich dann, wenn eine Kunst ihrer Sonnenhöhe zusteuert, zuerst ein allgemeines Erstaunen, ein Schwanken des Urtheils, dann eine zujauchzende Begeisterung, eine abgöttische Verehrung der Kunstheroen von Seite des Volkes, dem sie angehören, kund. Bald aber macht sich die Parthei-Vorliebe geltend, der Trieb der Kritik erwacht, der stolze, schaffensunfähige und daher zum Verneinen geneigte Verstand drängt sich grübelnd und meisternd vor, Schulen entstehen und stellen sich einander feindlich gegenüber, und bald sehen wir Werke, welche die Nation als Meisterwerke verehrt und genießt, von den Chorführern der Schulen gegenseitig verkleinert, herabgesetzt – ja selbst mit Koth beworfen. Bei jenen Völkern, wo ein mächtiges Vaterlandsgefühl vorwaltet, die in ihren geistigen Größen ihren höchsten Stolz erkennen, wird dies weniger der Fall sein, indem die Tadelsucht des Einzelnen vor der eifersüchtigen Nationalstimme scheu zurückweicht. Der Deutsche aber, der wohl von einem großen Vaterlande singt, aber keines hat, der stets in einer kosmopolitischen Geschmacksrichtung sich gefiel, der stets dem Fremdländischen den Vorrang vor dem Einheimischen zu geben liebte, hat hievon ein schlagendes, wenig erbauliches Beispiel gegeben, als die romantische Dichterschule1 ihr Haupt erhob, den Liebling der Nation, Schiller, aus den Reihen der
1 Gemeint sind hier wahrscheinlich vor allem Autoren um und im Gefolge Ludwig Tiecks sowie August Wilhelm und Friedrich Schlegel.
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eigentlichen Dichter strich, und ein Monopol für ihre einseitige poetische Richtung in Anspruch nahm.2 Tritt endlich das Epigonen-Zeitalter einer Kunst ein, erlahmt die Schöpferkraft, haben die Kunstformen, worin das geistige Leben der Nation sich kristallisirte, ihre Fügsamkeit gleichsam erschöpft, dann nimmt die Literar-Geschichte erst vollen und ernsten Besitz von den Kunsterscheinungen, welche die kulturhistorische Bedeutung des Zeitalters darlegen, sie stellt die großen Dichter und Künstler in ihre Ruhmeshalle ein und weist jedem mit ruhiger Partheilosigkeit den Platz an, den die Weltstimme ihm gegeben hat. Aber auch die Kritik nimmt gegenüber diesen abgeschlossenen Kunstgrößen einen andern Charakter an, sie hat es nicht mehr mit den einzelnen Werken zu thun, sie überschaut nun das gesammte Denken und Dichten dieser Meister, die Bedeutung und Richtung des Gesammtinhaltes ihrer Werke. Nun erstehen Männer, die von einem Zuge geistiger Verwandtschaft zu einer und der anderen dieser Kunstgrößen geleitet, sich in seine Werke vertiefen und aus dem ganzen Leben, Denken und Bilden desselben, seine Weltanschauung, seine Kunst-Stellung entwickeln. Der Geist, der von den großen Dichtern und Künstlern ausgegangen ist, waltet über der ganzen Literatur, über dem ganzen Empfinden und Denken der Nation fort, und wenn die eigentliche Kritik nun nichts mehr mit Werken zu thun hat, worüber die Akten geschlossen sind, so mischt sich dagegen in jede geistige Regung, die von nun an in die Oeffentlichkeit tritt, mehr oder minder der Einfluß jener Genien und es schließt sich an die Anschauung und Ideen, die von den Spitzen des goldenen Zeitalters der Kunst herableuchten, ein unermeßlicher Kreis von Betrachtungen, Urtheilen und Vergleichungen. Aber auch der Trieb zu dichten und zu schaffen regt sich bald wieder in einzelnen begabten Geistern; denn unablässig fort schreitet die Wissenschaft, dehnt sich das Reich des Gedankens aus, steigen aus den Tiefen des Gemüthes Ahnungen und Offenbarungen der Geheimnisse des Daseins, und auch jene Ideen und Bilder, welche aus der schöpferischen Kunstperiode weltbefruchtend zurückgeblieben sind, reizen unaufhörlich zu Versuchen, neue Schöpfungen daraus zu entwickeln. Allein der Trieb ringt ohnmächtig mit der Kraft und die Frucht dieses Kampfes ist eine
2 Bei
Brendel findet sich eine vergleichbare Bemerkung: „Seit dem Wiedererwachen der Wissenschaften beim Beginn der modernen Zeitepoche bis herab auf die neueste Zeit erblicken wir den Kampf dieser widerstreitenden Richtungen, der auf künstlerischem Gebiet seinen Culminationspunkt in neuerer Zeit in der romantischen Dichterschule einerseits, in Schiller, bei weitem mehr noch in Göthe anderseits erreichte“ (Brendel 1853 Die bisherige Sonderkunst, S. 134 f., in: NdS 1 Nr. 42, S. 438). Da der Autor im Folgenden weiterhin auf die Literaturgeschichte eingeht und den Epigonen-Begriff in diesem Zusammenhang einführt, könnte dies als Anspielung auf die durch Goethes Roman Wilhelm Meisters Lehrjahre (ED 1795/96) einsetzende, ‚nachahmende‘ Romanproduktion verstanden werden. Neben Werken von Novalis, J. F. W. Pustkuchen, Ludwig Tieck, Friedrich Schlegel, Friedrich Hölderlin und Jean Paul Richter, die allesamt Reaktionen in Romanform auf die Lehrjahre verfassten, ist Karl Immermanns Roman Die Epigonen (ED 1836), der ebenfalls in dieser Tradition steht, insbesondere aufgrund seines programmatischen Titels anzumerken.
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marklose Tendenzpoesie, Tendenzkunst3. Die Kunst wird zur Dienerin des Gedankens, nicht mehr zu seiner organischen Trägerin, [190] nicht mehr aus dem Innersten des Kunstwerks selbst, aus seiner Persönlichkeit, möchte ich sagen, geht seine Bedeutung hervor, es spricht nicht mehr für und durch sich selbst sein geistiges Leben aus, sondern mühsam wird eine Form kombinirt, um irgend einem geistigen Probleme Zeugniß zu geben. Je ohnmächtiger die Schaffensgabe ist, desto barocker4 werden die Aufgaben, an die unwillig ringende Geister sich wagen. Um neu zu sein, verrenken sie die Menschenseele, so wie die Menschengestalt zu Zerrbildern, und anstatt jener naturwüchsigen Kunstformen, die ihre Berechtigung durch eine innere Nothwendigkeit in sich selbst tragen, suchen sie auf mathematischen oder fantastischen Wegen neue Kombinationen, die keine Lebensfähigkeit haben. Daß die Verfallsperiode der Musik schon seit längerer Zeit eingetreten ist, wird wohl Niemand läugnen, und so erleben wir denn auch immer neue Erscheinungen der oben bemerkten Art in den musikalischen Zeitbestrebungen, in der Richtung des musikalischen Geschmacks und Urtheils. Einerseits sehen wir einen Ankampf gegen die anerkannten Meister- und Musterwerke entbrennen, anderseits ein ohnmächtiges Ringen nach neuen Formen, neuen Wegen des Ausdrucks oder der Behandlung, mit anmaßender Selbstüberschätzung in die Schranken treten. Der einfach klare, an echt musikalischen Ideen überreiche mit dem feinsten Sinne für das Tonverhältniß begabte, kunstvollendete Josef Haydn wird von den Fortschrittmännern kaum noch als ein Uebergang zum Höheren geschätzt und in Geltung belassen; die Kindlichkeit und Ruhe der Erfindung in seinen Werken, sein strenges Verweilen in den Gränzen des echt musikalischen Ausdrucks, das seinen Schöpfungen eben den unvergänglichen Reiz für jeden unverdorbenen musikalischen Sinn gibt, mundet den überreizten Geschmacksnerven der Fortschrittsmänner nicht mehr – sie wollen eine Gedanken-, eine Tendenzmusik, eine Musik der Leidenschaft, der Auflehnung der irdischen Gewalten gegen das göttliche Gesetz, eine Musik des Fanatismus, des Titanenkampfs gegen den Olymp. Mozart wagen sie noch nicht ganz zu verläugnen, es steht noch Don Juan5 mit seiner wundervollen Größe, mit den zwei Weltgerichten seines Finales, imponirend da, die klare Hoheit in seiner Jupiter-Symphonie6 und die wundervolle Poesie in seiner g moll Symphonie7 entwaffnet die kühnste
3 Als
„Tendenzpoesie“ oder „Tendenzkunst“ wird eine ‚gemachte‘ Kunst bezeichnet, die sich beispielsweise als im Sinn einer Partei agierend zu erkennen gibt. Unter „Tendenzen“ wurden im 19. Jahrhundert auch propagandistische Absichten verstanden, die eine nachdrücklich vertretene politische oder weltanschauliche Richtung, Ideologie oder Moral erkennen ließen. Der Begriff in positivem Verständnis geht zurück auf die Zeit des Jungen Deutschland und des Vormärz und erhielt erst im Umfeld der „Tendenzliteratur“ eine vornehmlich abwertende Konnotation. 4 Als „barock“ wurde im 19. Jahrhunderts oft alles Unnatürliche und Gekünstelte bezeichnet, wie Lobe beispielsweise eindrücklich formuliert: „Manches erscheint bis jetzt noch barock. ‚Barock‘! heißt der Vorwurf, den man von jeher allen originellen Geistern gemacht hat und noch macht. Mozart war barock, Beethoven war barock […], und so ist Berlioz barock“ (Lobe 1853 Hektor Berlioz, S. 96, in: NdS 1 Nr. 43, S. 455). 5 Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni (UA 1787). 6 Mozart, Symphonie Nr. 41 Jupiter-Symphonie C-Dur KV 551 (EZ 1788). 7 Mozart, Symphonie Nr. 40 g-Moll KV 550 (EZ 1788).
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Tadelsucht, die Zauberflöte8 und Figaro9 sind musikalische Schöpfungen, über die selbst die Anmaßung eines Fortschrittsmannes nicht so leicht hinüber kann – und dann das Requiem10 und sein Ruhm! Allein schon wagen sich einzelne Stimmen der Oeffentlichkeit selbst an diesen strahlenden Kunstgenius, und ein Berlioz entblödet sich nicht, irgendwo zu sagen, daß wenn er Mozart hört, ihn der kleine Alp, wenn er Haydn hört, der große Alp drücke.11 Kann die Verrücktheit eines theoretisirenden Kunstreformers weiter gehen!12 Glücklicher Weise überhört die gebildete, kunstsinnige Welt solche Urtheile und von den praktischen Ausführungen der neuen Kunstprobleme will sie nichts wissen. Werden sie ihr aber aufgedrungen, so spricht die Aufnahme das Urtheil deutlich aus, und Niemand läßt sich von den Verzückungen einiger Freunde oder Gleichgesinnten, die sich in der Regel selbst um ihr besseres Gefühl betrügen, irreführen. Einer jedoch aus der Mitte der wahrhaft großen und genialen Tonsetzer wird in den Kreisen der Fortschrittsmänner unbedingt bewundert und an die Spitze des musikalischen Kunsthimmels gestellt – Beethoven nähmlich. Allerdings ist Beethoven ein großer, ein mächtiger Genius und der Umstand, daß er aus der Zeitstimmung gleichsam herausgewachsen ist, daß er sich nicht über sie erhebt, sondern ihr treuester Ab- und Ausdruck ist, das eben ist es, was ihm eine unwiderstehliche Gewalt über alle jene gibt, die in dieser Zeitstimmung selbst ganz befangen sind. Diese finden sich durch den vollendeten, mit der ganzen Gewalt des musikalischen Ausdrucks ausgestatteten Widerklang ihres eig’nen Innern in seinen Werken vollkommen befriedigt, indem sie keineswegs das Bedürfniß nach einer Erlösung durch das Verschmelzen der Konflikte in einer höheren Harmonie in ihrer Brust tragen, sondern nur in einem solchen Genius und seiner wundervollen Kraft des Ausdrucks sich und jene Welt von Ideen und Gefühlen, jenen Kampf wiederfinden wollen, aus dem das große unermeßliche Pathos der Gegenwart herausklingt. Wie sehr jede höhere ästhetische Anforderung vor diesem Drange zurückweicht, entnehmen wir vorzugsweise daraus, daß in neuester Zeit bei den musikalischen Fortschrittsmännern die letzten Werke Beethovens, namentlich die neunte Symphonie
Die Zauberflöte (UA 1791). 9 Mozart, Le nozze di Figaro (Die Hochzeit des Figaro, UA 1786). 10 Mozart, Requiem KV 626 (EZ 1791). 11 Das Zitat wird Berlioz erstmals in der Niederrheinischen Musik-Zeitung zugeschrieben: „Berlioz, der in langer Diatribe (Journ. d. Débats 1841) sagen konnte: ‚Höre ich Musik von Mozart, so drückt mich immer ein kleiner Alp (Cauchemar), höre ich aber Musik von Haydn, so drückt mich ein großer Alp‘“ (Anonym 1853 H. Berlioz in Frankfurt, S. 75). Otto Jahn bedient sich ebenfalls dieses Zitats (Jahn 1853 Hector Berlioz in Leipzig, S. 481, in: NdS 1 Nr. 55, S. 596), bei Berlioz konnte es jedoch nicht nachgewiesen werden. 12 Berlioz verfasste knapp eintausend (musik-)feuilletonistische Artikel und publizierte u. a. regelmäßig im Journal des Débats. Durch Liszts Aufführungen von Berlioz’ Werken, wie etwa bei der sogenannten „Berlioz-Woche“ in Weimar 1852, wurde dem Komponisten in Deutschland – insbesondere in Verbindung mit dem Weimarer Kreis – immer mehr Aufmerksamkeit zuteil. 8 Mozart,
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und die Quartetten dieser Periode13, für das Höchste gelten.14 Man sieht hier deutlich, daß es immer nur die Gedanken- und Gefühlsrichtung ist, welche diese Verehrer Beethoven’s in seinen Werken verfolgen, daß sie hier von dem eigentlich musikalischen Werthe, von der melodischen und harmonischen Schönheit ganz absehen, ja daß ihnen die ihrer und der Zeitstimmung entsprechenden Richtungen und Anregungen in seinen Werken, wenn auch der bereits gehörlose und geistig verworrene Tondichter sie nicht mehr rythmisch [sic] und harmonisch zu gestalten vermochte, mehr gelten, als alle musikalischen Wunder seiner lichten, glanzvollen Kunstperiode. Freilich wirkt bei Vielen auch eine absichtliche Selbsttäuschung mit, sie biethen alle Kräfte auf, um in die endlos ausgesponnenen und nie zu einer Ruhe gelangenden Phrasen der meisten dieser Werke, die sich in allen erdenklichen disharmonischen Wendungen abquälen, wundervolle neue Offenbarungen der Gemüthswelt hineinzulegen, und beglückwünschen sich, unter die Eingeweihten zu gehören, die solche Musik vollkommen verstehen und genießen. Was soll man aber von Bestrebungen sagen, die wie jene Richard Wagner’s und seines Adjutanten Liszt die ganze bisherige Oper mit ihren riesenhaften Erfolgen, mit ihrer bereits geschichtlichen Macht und Größe über den Haufen werfen,15 und in bändereichen theoretischen Auseinandersetzungen eine Oper der Zukunft vorbereiten wollen,16 welche künftige Genie’s, ganz gegen die bisherige Ordnung der Dinge, wornach das Genie sich die Bahn selbst brach, die Form selbst schuf, nach den Anleitungen unserer
13 Folgende Streichquartette sind nach Fertigstellung der Symphonie Nr. 9, das heißt seit 1826, entstanden: Ludwig van Beethoven, Streichquartette Nr. 12 Es-Dur op. 127 (ED 1826); Nr. 13 B-Dur op. 130 (ED 1827); Nr. 14 cis-Moll op. 131 (ED 1827); Nr. 15 a-Moll op. 132 (ED 1827); „Große Fuge für Streichquartett“ B-Dur op. 133 (ED 1827); Nr. 16 F-Dur op. 135 (ED 1827). 14 Siehe etwa Uhlig 1850 Beethoven’s Symphonien sowie Brendel 1848 Mozart, Haydn und Beethoven. Darin heißt es: „Es ist in Beethoven’s neunter Symphonie das Höchste und Herrlichste niedergelegt, wozu ein Mensch sich aufgeschwungen; es ist nicht die Liebebedürftigkeit des einzelnen Menschen; das Subjective ist nur die nächste Seite; Beethoven hat objectiv ein Evangelium der Menschheit ausgesprochen, jenes Evangelium, welches vor achtzehn Jahrhunderten der brachte, der zuerst berufen war, die Weltaufgabe zu lösen. Keiner ist jener ersten That an Hoheit so nahe gekommen. Keiner hat diese weltumfassende Liebe selbstschöpferisch aufs Neue so auszusprechen vermocht. Es ist in tiefster Weltlichkeit in dieser Musik zugleich die höchste Religiosität, die freilich nur erst von Wenigen verstandene Religion der Zukunft, die nicht erst von der Ueberlieferung einen Himmel zu erbetteln braucht, die diesen Himmel in eigener Brust hegt und trägt. […] Hier ist das Ziel Beethoven’s, das ist der höchste Aufschwung, den er genommen hat“ (ebd., S. 52). 15 Wagner erklärte die bisherige Oper als Irrtum: „[…] der Irrthum in dem Kunstgenre der Oper bestand darin, daß ein Mittel des Ausdruckes (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdruckes (das Drama) aber zum Mittel gemacht war“ (Wagner 1852 Oper und Drama, 1. Teil, Einleitung, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 19). 16 Bis zum Druck des vorliegenden Artikels waren erschienen: Wagner 1849 Kunst und Revolution, Wagner 1850 Kunstwerk der Zukunft, Wagner 1852 Oper und Drama; von Franz Liszt erschien in diesem Zusammenhang: Liszt 1849 Tannhaeuser, Liszt 1851 Lohengrin et Tannhaüser, Liszt 1851 Richard Wagner’s Lohengrin.
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modernen Theoretiker auszuführen hätten, während die praktischen Versuche Wagner’s selbst sich noch nirgends eine wahre Geltung zu verschaffen wußten.17 Was soll man zu Behauptungen sagen, wie jene des bekannten Staatsmannes und Schriftstellers J. v. Radowitz in der Berliner Musikzeitung „Echo“ unter der Aufschrift „Die Leidenschaften in der Musik,“ daß die Hochzeit des Figaro von Mozart eine wahrhaft „liederliche Musik“ sei.18 Hat der Text Elemente des Liederlichen, so könnte man Mozart höchstens den Vorwurf machen, daß er diesen Text gewählt; seine Musik deßhalb eine liederliche nennen, ist doch gar zu arg. Nehmen wir den Text weg und lassen wir die Musik allein erklingen, so wird sie alle Süßigkeiten, den ganzen Frühlingszauber und die ganze Sommerglut der Liebe, die Reize des sinnlichen und Gemüthslebens in ihr, mit gleicher Macht in die Seele des Hörers flößen, wie jetzt mit ihrem treuen Anschmiegen an den Text; und dieses auch dann, wenn wir einen andern, auf edlere, sittlichere Verhältnisse gebauten Liebestext unterlegen, denn nur die Verhältnisse geben dem Texte den Stempel des Liederlichen. Und vergessen wir denn nicht wirklich auf diesen Text, wenn wir in Mozart’s Musik schwelgen, mit diesem zarten Poesienhauche über jeder Note, ob sie aus dem Jugendparadiese des Pagen-Herzens oder aus der tief gekränkten Seele der gefühlsreichen Gräfin oder aus der Brust der lebensheiteren, listigen Susanne kommt!19 Aber auch Radowitz verwirft die ganze moderne Oper, namentlich jene Mozart’s, und macht es der Musik überhaupt zum Vorwurfe, daß sie den Ausdruck der Leidenschaften sich zur Aufgabe gemacht hat.20 Lassen wir diese Verirrungen einer einseitigen Kunst-Auffassung bei Seite, und sehen wir uns um, welche Erscheinungen im Gebiete der Musik neben den oben bemerkten Bestrebungen, die ohnedies keinen Eingang bei dem Publikum finden, sich in der neuesten Zeit des Verfalls dieser Kunst Bahn in die Oeffentlichkeit gebrochen und die Gunst des musikalischen Publikums errungen haben. Meyerbeer und Auber, letzterer mit seinem französischen Anhange, heißen die Lieblinge des Tages, nebst Verdi bei den Italienern. Alle diese musikalischen Notabilitäten der Gegenwart sind sichere Gewährsmänner des Epigonenthuns der Musik.
17 Die
ersten Aufführungen von Wagners Werken bis 1848 blieben ohne größeren publizistischen Widerhall. Neben Wagners eigenen kunsttheoretischen Schriften und den Aufsätzen Theodor Uhligs in der NZfM rückte seine Musik erst durch Liszts Wagner-Aufführungen ab 1850 am Weimarer Hoftheater ins größere öffentliche Bewusstsein. Siehe Einleitung „Die Jahre 1850 bis 1851“, insbesondere: „‚Lohengrin et Tannhaüser‘. Liszts Weimarer Programmpolitik“, in: NdS 1, S. 203 – 206. Die erste Aufführung einer Wagner-Oper in Wien fand mit Tannhäuser am 28. August 1857 im Thaliatheater statt. 18 Anspielung auf einen Satz von Joseph Maria von Radowitz (1797 –1853), preußischer Außenminister, General und Diplomat: „Was würde aber der ehrliche Mann gesagt haben, wenn er Figaro’s Hochzeit gehört hätte, die im eigentlichen Sinne des Wortes eine liederliche Musik ist“ (Radowitz 1853 Leidenschaften, S. 257). Der vierte Teil der Reihe „Musikalische Charakteristiken“ trägt den Untertitel „J. v. Radowitz über Kirchenmusik“ (H. C. 1853 Musikalische Charakteristiken IV). 19 Allesamt Figuren aus Mozarts Le nozze di Figaro. 20 Radowitz 1853 Leidenschaften, S. 257: „Die alte Musik zeigt gegen die neue den merkwürdigsten Gegensatz, daß sie den Menschen zu sich heraufzieht, während die neue sich zu ihm hinunterläßt. Dieses Letzte hat eigentlich mit Mozart seinen Culminationspunct gefunden; […] Alle niedern und irdischen Elemente hat die Musik seitdem in sich aufgenommen; Zorn, Rache, Verzweiflung, List, Witz, ja Liederlichkeit.“
H – l. 1853 Musikalische Charakteristiken V
559
Der erfindungsreiche Geist, der alle Hilfen kennt und zu benützen versteht, ist noch der beste Ersatz für das fehlende Genie, und darum hat der geistreiche, mit musikalischem Talent begabte Franzose hier in der Regel den Vorzug, er weiß sich noch am besten zu behelfen und geltend zu machen; der Italiener, der den Zauber sinnlich melodischer Gemeinplätze nahe zu erschöpft sieht, nimmt die materielle Hilfe der modernen Instrumentirung in Anspruch und sucht durch Lärm-Effekte das Feld zu behaupten, und wenn Meyerbeer, mit außerordentlichem Talent begabt, über allen diesen steht, und durch Geist eben so sehr als durch sinnlichen Reiz, durch Instrumental-Effekte eben so sehr als durch echt charakteristische Ausdruckskunst zu wirken versteht, so fehlt ihm doch der Styl, und seine Werke haben mehr oder minder ein eklektisches Ansehen. Auf dem Gebiete der geistlichen Musik steht es noch schlimmer als auf jenem der weltlichen, und seit Mendelssohn dahingeschieden,21 ist kein Werk von irgend einer Bedeutung in dieser Sphäre erschienen. Das Lied, nachdem es durch Schubert eine ganz neue Behandlung erfahren hatte, und die instrumentale Mitwirkung zur Verstärkung und Charakterisirung des Ausdrucks von ihm mit bewunderungswürdiger Kunst bis zur äußersten Gränze geführt worden ist, schleppt sich auch nur noch mühsam durch Gemeinplätze der Erfindung, ohne individuelles Leben des Ausdrucks dahin, oder vertieft sich in erkünstelte Gedanken-Effekte. Gleiche Armuthszeugnisse musikalischer Zeugungskraft sind die neueren Symphonien, und das Quartett liegt beinahe ganz brach, während das Klavier nur noch da zu sein scheint, um dem Salon und seinen kleinen Bedürfnissen mit musikalischen Tändeleien zu dienen. H – l.
Kommentar Der vorliegende Artikel ist Teil einer thematisch gemischten Reihe unter dem gemeinsamen Titel „Musikalische Charakteristiken“, welche in den Jahren 1853 bis 1854 in der Neuen Wiener Musik-Zeitung erschien und, von wenigen Ausnahmen abgesehen, unter dem Kürzel „H – l.“ publiziert wurden. So beliebig die einzelnen Themen zunächst gewählt scheinen, gibt sich doch ein Grundtenor zu erkennen, der sich als konservativ-klassizistischer Standpunkt der Musikanschauung benennen lässt und sich durch eine generelle Skepsis gegenüber jeglicher zeitgenössischer Kunstproduktion auszeichnet. Dieser Grundhaltung entsprechend geht der vorliegende Artikel auf die aktuellsten Bestrebungen in der Musik ein, deren Vertreter vom Autor rigoros und nahezu pauschal als
21 Mendelssohn
Bartholdy verstarb am 4. November 1847.
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Nr. 52 (1853)
Epigonen subsumiert werden. In einem früheren Artikel aus der oben genannten Reihe zum Thema „Felix Mendelssohn-Bartholdy und seine Stellung in der Musik“ hatte „H – l.“ die rhetorische Frage gestellt, ob „Mendelssohn noch auf die Seite der genial schöpferischen Musikperiode [gehört], wo Seb. Bach, Händel, Jos. Haydn, Mozart und Beethoven stehen, oder [ob] er nur als eine mächtige Säule an der Grenzscheide des Epigonen-Zeitalters der Musik empor[ragt]“, womit eine klare Verortung zentraler Komponisten vorgenommen und zudem eine eindeutig zeitliche sowie personale Grenze gezogen wird. Für das „goldene Zeitalter“22 paradigmatisch werden Haydn und Mozart, Goethe und Schiller an die Seite gestellt; der sich diesen anschließende Verfall der Kunst, so der Autor, habe seinen Anfang durch die sogenannte romantische Schule genommen, seit der nicht nur bloße Nachahmung Gegenstand der Kunst geworden sei.23 Es sei das künstlerische Epigonentum in Verbindung der instabilen politischen Lage in Deutschland, das eine zuweilen unsachgemäße Kunstkritik und folglich eine Parteibildung notwendig hervorbringe und befördere. Die zeitpolitischen Implikationen zur unsicheren Lage und deren Teilhabe beziehungsweise indirekte Einflussnahme auf das kulturelle Leben sind von besonderem Interesse, wurden sie einerseits doch aus Wiener Sicht vorgebracht und zeigen andererseits auch die Ersatzfunktion auf, welche die Kunst anstelle der gescheiterten Revolution einnahm. Ebenfalls von Bedeutung, gerade aufgrund der örtlichen Distanz, ist die Tatsache, dass das Karlsruher Musikfest,24 das gut einen Monat zuvor stattgefunden hatte, im vorliegenden Artikel keine Erwähnung findet, obgleich es ein dankbarer Gegenstand gewesen wäre, hierzu Opposition zu beziehen. Daran zeigt sich wiederum das Phänomen der Kontroverse als eines, das sich primär auf theoretischer, hier musikschriftstellerischer Ebene abspielt. Die Musik der im Artikel diskreditierten Komponisten wird nicht konkret besprochen oder nur in Form von begrifflichen Gemeinplätzen wie der Verwendung „moderne[r] Instrumentirung“ oder dem Hervorbringen von „Lärm-Effekte[n]“25. Liszt, dessen symphonische Hauptwerke zu dieser Zeit noch nicht im Druck erschienen waren, spielt dabei kaum eine Rolle und wird vom Autor lediglich als Wagners „Adjutant“26 bezeichnet. Wagner selbst verurteilt der Autor aufgrund dessen Anmaßung, nicht nur die bisherige Oper zu verwerfen, sondern in Form eines theoretischen Konzepts das Neue ‚produzieren‘ zu wollen. Ein Vorgehen, das der klassischen Vorstellung des organisch gewachsenen Kunstwerks diametral widerspricht.27 An einer späteren Einschätzung des Autors von Daniel-François-Esprit Auber und Giacomo Meyerbeer zeigt sich wiederholt die von Nationalstereotypen geprägte Beurteilung des Autors, die auch von moralischen Vorbehalten zeugt: „Auber und Meyerbeer sind die bedeutenderen Tagsgestirne am dramatischen Himmel der Gegenwart, in unserer Zeit des offenbaren Verfalls der Musik. – Beide sind ganz dazu geschaffen, dem blasirten Geschlechte mit künstlichen Reizmitteln beizukommen; Auber durch Geist, pikante Laune, leichte zerstreuende Eindrücke und mehr an- als aufregende Sinnlichkeit – Meyerbeer durch geschickte Vermischung dieser Vorzüge der Franzosen und der üppigen Sinnlichkeit der Italiener mit
22 Vorliegender Artikel, S. 554 [189]. 23 Vgl. hierzu die Kritik an der musikalischen Romantik, welche auch von ‚fortschrittlicher‘ Seite geäußert wurde, so etwa bei Carl Kretschmann (Kretschmann 1848 Romantik in der Musik, in: NdS 1 Nr. 11). 24 Zum Karlsruher Musikfest und den kritischen Reaktionen siehe u. a. Einleitung „Die Jahre 1853 bis 1854“, in: NdS 1, S. 517 f.; Hiller 1853 Das karlsruher Musikfest, in: NdS 1 Nr. 50 sowie Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51. 25 Vorliegender Artikel, S. 559 [190]. 26 Ebd. 27 Vgl. hierzu Noeske 2012 Musik als Organismus.
H – l. 1853 Musikalische Charakteristiken V
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den Elementen des Dämonischen und Fanatischen […]. Ueber die neuesten Bestrebungen Richard Wagner’s, von denen wir in Wien bis zur Stunde noch keine Probe gesehen haben, wird erst die Zukunft vollständig entscheiden.“28 Wenngleich die Musik der besprochenen Komponisten ebenfalls bloß epigonales Stückwerk sei, vermag es der jeweils italienische beziehungsweise französische Einfluss, den Erfolg beim – vor allem weiblichen – Publikum zu sichern. Des Autors Meinung von den modernen Kunstbestrebungen scheint folglich sowohl von politischem Verdruss, sittlichem Verfall als auch von reaktionärem Festhalten am klassischen Ideal motiviert. Mit seiner Echauffiertheit gegenüber einer präliminarischen Theoretisierung des Kunstwerks leistete er dem von ihm zuvor verurteilten parteimachenden Schreiben über Musik jedoch entscheidenden Vorschub.
28 H – l.
1854 Musikalische Charakteristiken VIII, S. 56.
Nr. 53 | 12., „Hannover, 16. November“, in: Rheinische Musik-Zeitung 4 (1853/1854), Nr. 198 (23. November 1853), S. 1417 f.
Hannover, 16. November.
Hector Berlioz gab gestern sein zweites und letztes Concert hier.1 Wenn es nach meinem persönlichen Wunsche ginge, so käme Berlioz alle 8 Tage und gäbe ein allerletztes, unwiderruflich letztes Concert und so fort in infinitum. Allein meine Wünsche zu erfahren, daran wird Ihnen wenig liegen. Welchen Eindruck hat Berlioz hier hinterlassen? Im Allgemeinen – schwer zu sagen. Geht man danach, dass das zweite Concert nicht so besucht war, als das erste, so möchte man schliessen, dass der grosse Haufe – aus allen Ständen zusammengesucht – Berlioz nicht eben goutirt habe. Allein dem tritt entgegen, dass das zweite Concert grösstentheils dasselbe bot, wie das erste, und dass die im ersten Concert anwesende Menge, ebenso wie die im zweiten Concert Treugebliebenen, deren Zahl indessen auch ihrerseits nicht grade eine unbedeutende war, – sich oft zu dem lebhaftesten Beifall ja sogar zu Da capoRuf hingerissen fühlte. – Unser König2 hat das tiefste Interesse an Berlioz gezeigt. – Aber die einzelnen Unterabtheilungen des Publikums? Man kann einfach sagen: es ist so, wie es immer gewesen ist, wenn etwas neues Gutes auftrat. Die ganze Stufenleiter der Urtheile, von dem der Inhaber weniger feinen als starken Ohren bis zu dem der wirklich Feinfühligen, Neid- und Vorurtheilslosen zeigt sich auch hier. Die sogenannten Musikkenner – Sie wissen, wie weit dieser Begriff ist, – wollen sich theilweise die Finger nicht verbrennen, sie verschanzen sich für alle Fälle mit einem: [„]In Wahrheit höchst interessant, Instrumentation vortrefflich u. s. w.“ aber vor dem Kern des Urtheils hüten sie sich, wie die Katze vor dem heissen Brei. So beträgt sich
1 Nach
einem ersten Aufenthalt in Hannover im Jahr 1843 hielt sich Berlioz zwischen dem 28. Oktober und 18. November 1853 erneut dort auf und dirigierte am 8. November ein Konzert mit eigenen Werken im Königlichen Theater, das aufgrund des Erfolges am 15. November wiederholt wurde. Die Rheinische Musik-Zeitung notierte dazu eine Woche vor dem hier abgedruckten Artikel: „Hector Berlioz hat am 8. d. M. im Theater ein sehr besuchtes Concert gegeben; zur Aufführung kam [die] Ouvertüre zum römischen Carneval, die Ruhe der heil. Familie, Fragment, der 1. und 2. Akt und Fragment des 4. Akts aus Faust’s Verdammniss und Instrumental-Fragment aus Romeo und Julie. Da diese Compositionen mit Ausnahme der Auffassung von Faust beim Publikum grossen Anklang fanden, so dass Mehreres da capo gegeben werden musste, so wird Berlioz noch ein Concert am 15. d. M. geben“ (Anonym 1853 Hannover, S. 1411). 2 Georg V. (1819 –1878) herrschte als letzter König des 1814 gegründeten Königreiches Hannover in den Jahren 1851 bis 1866. Politisch konservativ, war Georg, der selbst zahlreiche Werke komponierte, in musikalischen Fragen jedoch Neuem gegenüber aufgeschlossen und förderte das Schaffen von Brahms, Wagner, Schumann und Berlioz.
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namentlich auch gegenwärtig die hiesige Tageskritik. Ehrlichere Leute sagen: „Es steckt doch jedenfalls etwas Bedeutendes dahinter, man ahnt es, aber der Mann muss sich nicht haben vollkommen deutlich aussprechen können, sonst – müssten wir es doch auch verstehen. Denn wir verstehen doch auch Beethoven u. s. w.“ Es ist darauf nur zu sagen, dass Beethoven zu seiner Zeit grade von dieser Klasse von Urtheilern am meisten missverstanden wurde. Jetzt haben sie Beethoven so und so oft gehört und verstehen ihn vollkommen (hm!), Berlioz haben sie einmal oder zweimal gehört, und er soll sich nicht vollkommen deutlich ausgedrückt haben. Als ich gestern aus dem Theater ging, hörte ich einen jungen einfachen Mann zu seinen Begleitern mit einfacher inniger Wärme sagen: „Nun wenn der Mann keinen Geist in seinem Kopfe hat, so hat Niemand welchen“. Ein solches Wort erquickt die Seele desjenigen, der wie meine geringe Wenigkeit, von der überwältigenden Macht des Berlioz’schen Genies durchdrungen, auf ’s tiefste überzeugt ist. Das kann ja am Ende gar nicht mehr in Frage kommen, dass Berlioz in Theorie und Praxis der grösste Instrumentist der Gegenwart ist, ja noch mehr, dass er es in der Instrumentation gradezu noch viel weiter gebracht hat, als der bisherige grösste Instrumentist: Beethoven. Man hat dabei gewöhnlich nur die Auffindung neuer Effekte – im besseren Sinne genommen – neuer Gruppirungen oder Isolirungen der Instrumente, die Abgewinnung neuer, zum Ausdruck zu benutzende, Seiten derselben im Auge. Der Unterschied zwischen Beethoven und Berlioz ist aber meines Erachtens noch ein ganz anderer und wesentlicherer; er besteht in der grossen Sicherheit der Wirkung, in der grösseren, für unsere Zeit einmal wieder vollkommen zu nennenden, Klarheit und Durchsichtigkeit der Instrumentation. Wie oft begegnet es uns nicht bei Beethoven, dass wi[r] bei der wirklichen Ausführung vergeblich auf das Erscheinen herrlicher Gedanken lauschen, die uns bei Betrachtung der Partitur oder auch nur eines grösseren Klavierauszuges überrascht und entzückt haben. In der Ausführung wird, wo wir uns an der Combination des Entgegengesetzten erst recht ergötzen möchten, häufig nur – Verwirrung zum Vorschein kommen, das Eine erdrückt das Andere und geht mit ihm in dem grossen Ocean unter. Bei Berlioz dagegen tritt auch das Entgegengesetzteste immer klar und deutlich gegen und neben einander, wie es vorher in der Idee gedacht ist. Es zeigt sich darin eine Kunst, die wir vorläufig nur anstaunen können, der wir aber verehrend gleichfalls zustreben müssen, soll anders nicht unser Musikleben im blossen Conservatismus verstocken. Festhaltend an dem was wir Gutes haben, ohne Unterlass das Bessere erstreben – das ist der wahre Standpunkt in aller menschlichen Bethätigung. Trennt man jene Zweieinigkeit, so entsteht Partei und Coterie3 auf beiden Seiten. Berlioz hat – ausserhalb der Instrumentation – früh erkannt, dass für das von der Neuzeit in der hohen Instrumentalmusik zu erstrebende Bessere in dem Ringen [1418] des späteren Beethoven bereits ein Fingerzeig gegeben sei, die neunte Sinfonie vorzugsweise bildet den Uebergang von dem ältern Beethoven, – damit schliessen wir Haydn und Mozart ein, – zu Berlioz. Für die blosse Instrumentalmusik geht das Streben dahin: Stimmung und Anschauung möglichst zugleich, in innerster Verschmelzung zu geben,
3 Klüngel des zeitgenössischen Cliquenwesens und der Parteiungen (zum weiteren Verständnis des Begriffs siehe Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67).
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und für den Hinzutritt des Gesangs: auch die Singstimme als ein nur die rein musikalische allgemeine Idee förderndes, dazu mithelfendes Instrument einzuflechten, so dass die Worte, oder besser das Wort, nur gleichsam als miterklärend erscheint. Stimmung und Anschauung zugleich! Stimmungen auszudrücken und dadurch entsprechende Stimmungen zu erwecken, hat man von jeher vorzugsweise als Zweck der Musik hingestellt, – auf der andern Seite die ewig angefochtene Malerei in der Musik, ich möchte sagen von den rohesten Anfängen an, geübt und nie zu üben aufgehört. Wir sind nicht Willens, irgend einem, wenn auch mehr oder weniger einseitigem Genre sein Recht zu bestreiten. Aber wenn Berlioz gegenwärtig Stimmung und Anschauung zugleich auf ’s Innigste zu verknüpfen strebt, so erfüllt er das, wonach vorzugsweise unsre Seele lechzt. Ferner: die Singstimme ein mithelfendes Instrument, das Wort bloss miterklärend! Wir bekennen uns in diesem Punkte in offenem Widerspruch mit Richard Wagner! Wir glauben nicht, dass aus der Einführung des Wortes in die neunte Sinfonie auf das musikalische Drama hingeleitet wurde,4 das hatte Beethoven für seine Person längst aufgegeben. Beethoven wollte das Wort nicht als siegend über die Instrumente hinstellen, sondern aufgehend zunächst in den Gesang, – denn bloss auf den Vokal „a“ oder „u“ u. s. w. zu singen, möchte sonderbar erschienen sein, – und den Gesang stellte er wieder hin als blosse Singstimme, als Instrument neben den übrigen Instrumenten, als aufgehend in dem grossen Verein von Instrumenten, so dass ein neues Orchester erschien, gemischt aus Vocal- und Instrumental-Instrumenten. Den musikalischen Böotiern5 überlassen wir es, bei solcher Musik von den „begleitenden“ Instrumenten zu reden. Berlioz hat jene Idee Beethoven’s in kräftigster Weise aufgefasst, jedoch nicht immer vollkommen durchgeführt. In Faust6 sind allerdings einige Stellen, die zu sehr an die Opernmanier erinnern. Auch Mendelssohn hat bekanntlich jene Ideen verfolgt, und in seiner kleineren Weise Vollkommnes gegeben. Die Erfüllung ist bei ihm grösser, während das Ziel und Ringen bei Berlioz grösser ist, und an vielen, den meisten Punkten auch Erfüllung findet. Mendelssohn ist in seiner Art ein so grosses Talent, dass man versucht sein möchte, ihn genial zu nennen, Berlioz aber ist unzweifelhaft genial, ausgenommen für die, die ein noch nicht gestorbenes Genie für vollkommen genial nicht halten können. – Nachdem wir die Berlioz’sche Musik gegenwärtig haben noch näher kennen lernen, ist es uns unbegreiflich, dass man nicht in jedem grössern Concerte von ihm wenigstens einen Satz macht. Durch diese ausgedehnten grossen Concerte kann man nicht hoffen, diese herrlichen Meisterwerke eingebürgert zu sehen. – In beiden Concerten, welche der Meister gab, wurde aus Faust (in dem man hier lächerlicherweise die Göthe’sche Auffassung, aber natürlich vergeblich, sucht), der erste, zweite Akt und Fragment des 4. Akts gegeben. Wie weit zurück hier noch theilweise gebildete Leute sind, mögen Sie daraus ersehen, dass man den Chor und Tanz der (ungarischen) Landleute im ersten Akte7, sodann die
Wagner 1852 Oper und Drama, 3. Teil, III, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 302 f. sowie Wagner 1850 Das Kunstwerk der Zukunft. 5 In der Antike wurde der Begriff „böotisch“ in der Bedeutung von grob, ländlich, faul und ungebildet verwendet in Anspielung auf den griechischen Volksstamm der Böotier, der sich in einer an Rinderweiden reichen Landschaft niedergelassen hatte. 6 Hector Berlioz, La Damnation de Faust op. 24 (Fausts Verdammnis, UA 1846). 7 Ebd., 1. Teil, 2. Szene „Ronde des paysans“ und 3. Szene „Marche hongroise“. 4 Vgl.
12. 1853 Hannover
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Chöre der Studenten und Soldaten8 nicht natürlich findet. Als ob Alles der rohen Wirklichkeit nachgeschrieben werden müsste! und zufällig – sind diese Chöre wirklichen vorhandener Weise aus Vergangenheit und Gegenwart sehr treu nachgebildet. Von der Scene in Auerbach’s Keller9 behauptet ein hiesiger Mann in der „Zeitung für Norddeutschland“10, dem insofern wenigstens eine harmonische Ausbildung zuzukommen scheint, als er von der Musik und Kunst gleicherweise wenig wie von sonstigen Disciplinen versteht, die flache Sinnlichkeit lasse sich doch einmal nicht durch Musik darstellen. O sancta simplicitas!11 Spohr, ein musikalischer Verrückter! Beethoven, ein Mensch, der nicht wusste, was sich durch Musik darstellen lässt! Und die meisten Studenten-Zoten und Knoten beide schöne, erhaben-menschliche Sinnlichkeit darstellend! Was die Fuge nach den voraufgegangenen Worten von der Bestialität bedeuten soll, davon hat ein solcher Kritiker natürlich keinen Begriff. Und weil Gretchen in der Musik gewöhnlich als ein excentrisch leidenschaftliches italienisches Blut aufgefasst wird, was sie grade gar nicht ist, desswegen soll Berlioz mit seiner richtigen Auffassung Gretchens, als eines, in sich versenkten, aber innerlich in tiefster und doch ruhiger Liebesglut brennenden deutschen Mädchens, Unrecht haben! – In beiden Concerten wurde ferner gegeben die „Ruhe der heiligen Familie“12, mit welchem durchaus vollkommenen Vocalinstrumental-Musikstück, das man jeden Tag hören möchte zur Beruhigung und Läuterung seines innern Selbsts, denjenigen auf ’s wirksamste den Mund gestopft wird, die da behaupten, Berlioz thäte es nicht unter 4 Pauken, 6 Posaunen, 8 Ophikleiden u. s. w. Wer Ohren hat zu hören, wird bald inne werden, dass Berlioz jegliches Instrument nur da anwendet, wohin es passt. – In beiden Concerten ferner: Melancholie, Ball und Concertmusik, Fest aus Romeo und Julie13. – Im ersten Concert ausserdem: Ouvertüre zum römischen Carneval14 und Beschwörung und Ballet der Irrlichter aus Faust 15, im zweiten Concert: Ouvertüre zum König Lear16 und die wundervollen beiden Nummern aus Romeo und Julie: Scène d’amour und die Königin Mab17. Der Beifall bei diesen Nummern war ein begeisterter, er wollte nicht enden. Zu einer solchen bestimmten Charakteristik bei vollkommen freier Schönheit, zu einer solchen wechselnden Mannigfaltigkeit bei durchweg herrschenden Grundideen hat es unser Mendelssohn in seiner Feenmusik doch nie gebracht. 12.
8 Ebd.,
2. Teil, 8. Szene „Final. Chœur d’étudiants et de soldats marchant vers la ville“. 9 Ebd., 6. Szene „La cave d’Auerbach à Leipzig“. 10 Artikel konnte bisher nicht nachgewiesen werden. 11 (Lat.) O heilige Einfalt! Angeblicher Ausspruch des Reformators Jan Hus (um 1370 –1415) auf dem Scheiterhaufen, als ein Bauer Holz herbeitrug. 12 Berlioz’ Le Repos de la Sainte Famille (Die Rast der Heiligen Familie) wurde später zur Nr. 9 im 2. Teil „La fuite en Égypte“ des Oratoriums L’Enfance du Christ op. 25 (Des Heilands Kindheit, UA 1854). 13 Berlioz, Roméo et Juliette op. 17, 2. Satz (EA 1839). 14 Berlioz, Le Carnaval romain op. 9 (Der römische Karneval, UA 1844). 15 Berlioz, La Damnation de Faust, 3. Teil, 12. Szene. 16 Berlioz, Grande Ouverture du Roi Lear op. 4 (EA 1833). 17 Berlioz, Roméo et Juliette, 3. und 4. Teil.
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Kommentar Der hier abgedruckte Artikel ist ein Zeugnis für die zweite Phase der Berlioz-Rezeption in Deutschland, welche wesentlich durch den persönlichen und künstlerischen Einsatz von Liszt für das Werk Berlioz’ beeinflusst wurde. Hierzu zählen etwa die von Liszt geleitete Aufführung von Berlioz’ Oper Benvenuto Cellini im März 1852 in Weimar sowie die erste „Berlioz-Woche“18 unter Anwesenheit des Komponisten im November desselben Jahres ebendort. Kurz darauf, zwischen August 1853 und Mai 1854, unternahm Berlioz eine ausgedehnte Konzertreise, bei der er nicht nur die hier besprochenen Konzerte in Hannover dirigierte, sondern auch in Baden-Baden, Frankfurt am Main, Braunschweig, Bremen, Leipzig und Dresden künstlerisch in Erscheinung trat. Entsprechend finden sich insbesondere ab 1853 in den deutschsprachigen Musikzeitschriften zahlreiche Rezensionen seiner Werke. Wie auch der hier abgedruckte Artikel dokumentiert, nahm die Rheinische Musik-Zeitung zunächst eine durchaus positive Stellung zur Musik Berlioz’ ein.19 Eine Ausnahme davon bildete lediglich der negative Bericht eines französischen Korrespondenten anlässlich einer Aufführung von Berlioz’ Requiem.20 Mitte der 1850er Jahre lässt sich jedoch beobachten, wie sich die Bewertung, etwa mit dem regelrechten Verriss von Berlioz’ La Damnation de Faust durch den Dresdner Musikkritiker Carl Banck21 allmählich ins Gegenteil verkehrte. Der Vergleich der Werke Berlioz’ mit denen Beethovens in vorliegender Rezension entspricht einer damals unter Fürsprechern des Franzosen verbreiteten Argumentationsstrategie. So bezeichnete beispielsweise bereits der Braunschweiger Berlioz-Enthusiast Wolfgang Robert Griepenkerl den Komponisten mehrfach als den „Bruder Beethovens“22, und auch Richard Pohl und Johann Christian Lobe gehen in ihren umfangreichen Aufsätzen über Berlioz auf diesen Aspekt ein.23 Die Parallelen zwischen Beethoven und Berlioz werden dabei vor allem in der souveränen Beherrschung der Instrumentation gesehen sowie darin, dass auch die späten Werke Beethovens zunächst auf großes Unverständnis gestoßen waren. Bemerkenswert ist nicht zuletzt, wie im vorliegenden Artikel Berlioz und vor allem dessen Konzept einer tradierte musikalische Gattungen überwindenden Einbindung der menschlichen Stimme in den Orchestersatz als ästhetischer Gegenpol zu Wagner gedeutet wird – eine zu dieser Zeit auch bei Brendel in dessen 1852 erschienener Musikgeschichte24 und in den oben erwähnten Artikeln Richard Pohls25 zu beobachtende Position, die die spätere Konstruktion Brendels einer Trias Berlioz – Liszt – Wagner noch nicht erahnen lässt. Zugleich wird an der Tatsache, dass Berlioz in der konservativen Rheinischen Musik-Zeitung so vorbehaltlos gewürdigt wird, während Brendel zu diesem Zeitpunkt Berlioz’ „gesammtes Kunstschaffen“ als einen „Irrthum“ kritisierte,26 deutlich, wie das Urteil über Berlioz’ Werke 1853 noch keineswegs durch eine ‚Parteizugehörigkeit‘ bestimmt wurde und vielmehr im damaligen Musik bezogenen Diskurs eine durchaus verbreitete Unsicherheit in Bezug auf die Werke des Komponisten vorherrschte, welche immer auch unter nationalen Vorbehalten betrachtet wurden.
Brendel 1852 Ein dritter Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 28. 19 Vgl. auch Anonym 1852b Aus Weimar; 30. 1853 Leipziger Briefe; Anonym 1854 Hector Berlioz. 20 B. P. 1852 Pariser Briefe. 21 Banck 1854 Aus Dresden. 22 Griepenkerl 1843 Ritter Berlioz, S. 25; Anonym 1852b Aus Weimar, S. 1014. 23 Pohl 1853 Hector Berlioz, S. 261 f.; Lobe 1853 Hektor Berlioz, S. 103, in: NdS 1 Nr. 43, S. 462 f. 24 Brendel 1852 Geschichte der Musik. 25 Pohl 1853 Hector Berlioz. 26 Siehe Brendel 1852 Ein dritter Ausflug nach Weimar, S. 238, in: NdS 1 Nr. 37, S. 367. 18 Vgl.
Nr. 54 | Peltast [Hans von Bülow], „Die Opposition in Süddeutschland“, in: NZfM 20 (1853), Bd. 39, Nr. 22 (25. November), S. 229 f.; Nr. 23 (2. Dezember), S. 240 – 243; Nr. 24 (9. Dezember), S. 252 – 255; Nr. 25 (16. Dezember), S. 265 f.; Nr. 26 (23. Dezember), S. 276 – 279.
Die Opposition in Süddeutschland. I. Es ist nicht zu verkennen, daß wir Gesammtdeutsche vor Allem an einem localen und nationalen Dualismus laboriren, dessen scharfe Ausgeprägtheit uns in zwei Kategorien von Sonderdeutschen zerfallen läßt. Gleich dem politischen, literären [sic] u. s. w. bildet auch das musikalische Deutschland zwei Hälften, deren greller Contrast in den tiefeingewurzelten, wie es scheint, untilgbaren Unterschieden von Anschauungs-, Denk- und Fühlweisen ihrer Bewohner eine Sprödigkeit besitzt, welche allen bisherigen Kitt- und Leimbestrebungen, die von den Quacksalbern „der deutschen Einheit“ versucht worden sind, hartnäckigen Widerstand entgegengesetzt hat. Trösten wir uns, wenn wir des Trostes darüber bedürfen, bei diesem fait accompli1: das Nord- und Süddeutschland nun einmal so wenig zusammenkommen vermögen, wie Süd- und Nordpol, – mit der Hoffnung, daß vielleicht durch die glättenden, aplanirenden2 Eisenbahnen u. s. w. das allzuschroffe, allzuunvernünftig Grelle dieser Differenzen einigermaßen mit Hülfe der Zeit sich mildern, wenn auch nicht ausgleichen lassen werde. Sprechen wir es aber zugleich offen aus: eine derartige Ausgleichung (wir haben natürlich jetzt nur das musikalische Gebiet im Sinne) ist nur möglich durch ein belehrendes Entgegenkommen der Norddeutschen, welchem eine Annäherung der Süddeutschen mit Documentirung des guten Willens, sich belehren lassen, Belehrung aufzunehmen, vorauszugehen hat. Um Mißverständnisse zu sparen, stellen wir gleich unseren Begriff von Süddeutschland im engeren Sinne fest. Wir meinen, wenn wir hier von Süddeutschland reden, ganz speciell die Schwaben (die Baiern und Würtemberger [sic]), die, indem sie allerdings mit geographischem Rechte sich den Namen „Süddeutsche“ vindiciren, dabei doch eine offenbare Anwendung des „lucus a non lucendo“3 sich gestatten. Man kann nicht weniger südlich sein in der euphemistischen Fassung, welche wir Norddeutsche, unserer zu Fehlern hinauf übertriebenen Tugenden eingedenk, dem Süden stets willig zuzuerkennen pflegen, wenn wir vom Süden im Gegensatze zu uns sprechen – man kann nicht weniger südlich sein als die guten Schwaben. Und wenn sie zehnmal prahlen, daß sie einen Schiller und Uhland, einen Hegel und Schelling erzeugt
1 (Frz.)
vollendete Tatsache. 2 (Aus dem Franz.) ebnen, ausgleichen. 3 (Lat.) [das Wort] Hain kommt vom nicht Leuchten. Redewendung nach Quintilian (De institutione oratoria I, 6, V. 34), um eine sinnlose Etymologie zu bezeichnen.
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haben – sie sind, bei Gott! daran so unschuldig wie Bethlehem und Joseph, der Zimmerer, am Messias – heut zu Tage geriren sie sich nun einmal nicht anders, denn als Vertreter träger Starrheit im Festhalten an blöden Gewohnheiten und Vorur theilen gegenüber dem rüstig rastlosen Fortschreiten der norddeutschen Intelligenz. Auch bei uns Norddeutschen wuchert und gedeiht [230] wahrhaftig in Kunst und Wissenschaft der Conservativismus üppiger und störender als es nöthig wäre; gegen die Virtuosität der Schwaben aber im langsamen Fortrauchen wegwerfungswürdiger Cigarrenstummel sind wir armselige Dilettanten, gegen ihre Virtus im Verschmähen frischen Krautes, Sünder von einer wahrhaft südlichen Verführbarkeit. So hart und scharf das klingt, so muß es dennoch gesagt sein, weil es die Wahrheit ist. Schlimm genug, daß es die Wahrheit ist, daß der Gegensatz zwischen Nord- und Süddeutschland resumirt werden kann mit den beiden Worten: Intelligenz (des Verstandes und Gefühls) und Stumpfheit (des Verstandes und Gefühls). So schlimm es aber ist, daß es so ist, so ist doch damit nicht gesagt, daß es so sein und bleiben müsse, daß es nicht anders werden könne. Wir glauben sehr stark an die Perfectibilität der musikalischen Zustände in Süddeutschland, wir glauben so sehr daran, daß wir die schwäbische, in jedem Sinne „schwäbische“ Opposition, welche sich plötzlich gegen die große musikalische Bewegung im Norden erhoben hat, als ein Lebenszeichen, eine Lebensregung quand mème4, nach langem starren, blöden Winterschlafe begrüßen. Bisher waren die Süddeutschen in ihren musikalischen Zuständen unserer Beachtung völlig unwerth; mit ihrer offensiven Opposition der jüngsten Tage5 haben sie sich das Recht erworben, unsere Aufmerksamkeit in Anspruch nehmen zu dürfen. Wir werden diese Opposition, ihre Träger und deren Beweggründe und Absichten näher beleuchten. Es handelt sich dabei zunächst um einen flüchtigen Blick auf die beiden musikalischen Hauptstädte der Schwaben, München und Stuttgart. Hier ist der Heerd der Opposition zu suchen, hier thront die von Süddeutschen eigne Stumpfheit in voller Maienblüthe und bietet, sich mit gelegentlichem „Nordlicht“ begnügend, Trutz der Intelligenz des musikalischen Norddeutschlands. Wir wiederholen es nochmals daß wir den Begriff „Süddeutschland“ im vorliegenden Falle auf Schwaben beschränken. Das südliche, nicht süddeutsche Wien, dessen Kunstzustände sich allerdings bis in die officiellen Kunstinstitute hinauf, in einer Versunkenheit befinden, gegen die der relative Glanz des musikalischen München als ideal erscheinen muß, besitzt dennoch einen weit günstigeren, trotz seiner Ungepflügtheit fruchtbaren Boden zur Herstellung eines wirklichen, den Anforderungen einer Gegenwart werdenden Zukunft entsprechenden, Kunstlebens als z. B. das süddeutsche, nicht südliche München. Wien hätte in seinem Volke, oder seinem Publikum jenen unentbehrlichen Factor zur Verwirklichung einer schönen und edlen künstlerischen Gegenwart, der München (eben wegen seiner Schwaben) abgeht. Die neue musikalische Bewegung würde vor Wien nicht jene unaufhebbare Grenzsperre vorfinden, welche München und seine musikalische „Dependenz“, denn das ist es, Stuttgart,
4 (Frz.)
trotzdem. 5 Hiermit spielt Bülow auf die negativen Reaktionen in süddeutschen Zeitungen auf das Karlsruher Musikfest von 1853 an. Vgl. hierzu Weibel 2006 Die deutschen Musikfeste, S. 525 – 545.
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derselben entgegenstellen, um, wie mein Freund Hoplit6, kürzlich sagte, „ihre Bangigkeit vor Propaganda-Popanz und Ansteckung patriotisch zu beschwichtigen“7. Welche Rührigkeit und Heftigkeit, welcher jesuitische Mittelaufwand für heiligen Zweck auf einmal von den braven, trägen Schwaben ins Werk gesetzt wird, die sich sonst so still und todt verhielten, uns nicht einmal zu benachrichtigen geruhten, wenn sie glücklich ihr achtes Lustrum überschritten hatten!8 Vielleicht ist dieses wichtige Lebensereigniß, das doch jedenfalls nur symbolisch zu nehmen ist, noch gar nicht bei dem Collectivschwaben eingetreten! Es sieht beinahe so aus. Vielleicht haben wir aber auch ihre „ausschlagende“ Opposition, die sich jetzt so mannichfaltig manifestirt, als den ersten Schritt zur Besserung, als die erste ungeschickte Lebensregung eines seiner Trägheit endlich müden lebensfähigen Körpers. Die Zukunft wird[’]s lehren.
II. [240] Werfen wir zuvörderst einen Blick auf München. Wir finden dort die vortrefflichsten Kräfte brach liegend; eine Hof-Kapelle, die mit Ausnahme der Dresdener nicht ihres Gleichen aufzuweisen hat und gegen die sich die Wiener und Berliner verstecken müssen. Dieses glanzvolle Orchester wird lediglich dazu benutzt, alle Winter die bekannten Symphonien von Haydn, Mozart, Beethoven (mit Ausnahme der 9ten) abzuspielen (erst einige Jahre nach Mendelssohn’s Tode wurden auch Werke von diesem Componisten in das Repertoir der Odeonconcerte9 hinein „geneuert“) und zuweilen die Theatervorstellungen einiger klassischer Opern (Mozart, Méhul, Cherubini) zu begleiten. Schumann und Gade – Berlioz und Wagner existiren nicht für München,10 wahrscheinlich, weil der musikalische Chef des Kunstinstitutes findet, daß sie nur zu sehr existiren, nämlich ihm (dativus incommodi11). Dieser musikalische Chef heißt, wie bekannt, Lachner und war bis vor Kurzem in zwei Exemplaren vorhanden und „thätig“. Jetzt hat sich, man weiß
6 (Griech.)
Schwerbewaffneter Fußsoldat. Unter diesem Pseudonym veröffentlichte Richard Pohl (1826 –1896) zahlreiche Artikel in der NZfM. 7 Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, S. 212, in: NdS 1 Nr. 51, S. 544. 8 Lustrum (lat.): Jahrfünft. Möglicherweise eine Anspielung auf das vierzigjährige Jubiläum der Gründung des Königreich Württembergs am 1. Januar 1846. 9 Unter diesem Namen wurden die Abonnement-Konzerte der Königlichen Hofkapelle München veranstaltet, welche erstmals 1811 auf Initiative Joseph Moralts, ab 1828 dann im neuerbauten Konzerthaus „Odeon“ stattfanden, das namensgebend für die Konzertreihe wurde. 10 Die erste Aufführung einer Wagner-Oper in München datiert auf den 12. August 1855, als auf Initiative des Theaterintendanten Franz von Dingelstedt und unter der musikalischen Leitung Franz Lachners Tannhäuser gegeben wurde (siehe hierzu 14. 1855 Wagner’s Tannhäuser, in: NdS 2 Nr. 77). Drei Jahre zuvor, am 1. November 1852, war es ebenfalls unter der Leitung Lachners in der bayerischen Residenz bereits zur Aufführung der Ouvertüre gekommen – als erstes Werk Wagners in München überhaupt. Vgl. hierzu insgesamt Borchmeyer 2012 „Barrikadenmann und Zukunftsmusikus“. 11 Form des Dativs, die bezeichnet, zu wessen Nachteil etwas geschieht.
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nicht warum, das par nobile fratrum12 getrennt. Ignaz Lachner, der Jodlercomponist,13 büßt für seine etwaigen Sünden früherer Tage heute in der Hölle Hamburg, wo er wahrscheinlich gegenwärtig mit seinem Tactirstock an der Partitur des „Tannhäuser“ seinen Zorn über dieses Müssen ausläßt. Franz Lachner14 ist in München geblieben, wo er Generalmusikdirector genannt wird15 und Spontini, wenn der noch lebte, durch diese Gleichheit des Titels16 vielleicht ärgern würde. Er hat einmal Halevy17 den Dienst erwiesen, eines der schwächeren Werke des französischen Dramatikers („Katharina Cornaro“) durch Composition des nämlichen Textes verhältnißmäßig glänzen zu machen und bei den Kennern beider Werke vergleichsweise zu accreditiren. Ohne Zweifel mußte das schöne Bewußtsein, eine solche That aufopfernder Uneigennützigkeit verrichtet zu haben, sehr beseligend und kräftigend auf ihn einwirken, denn er gab später eine Wiederholung davon, indem er, um den Freunden von Berlioz’s „Benvenuto Cellini“18 eine Freude zu bereiten, durch die Confectionnirung einer Oper desselben Stoffes und derselben Worte19 die Ansprüche Berlioz’s auf seine Anerkennung als deutscher Componist in ihrer ganzen Berechtigung darzustellen, sich mit Glück bemühte.– Von seinen Symphonien vermag das Leipziger Gewandhaus aus dem vorigen Winter eine Geschichte zu erzählen.20 Dies erweckt in uns die Erinnerung an einen großartigen Zug verständiger Ironie, den das Fatum oder die Vorsehung bei dem eben erwähnten
ein edles Brüderpaar (ironisch). Zitat aus Horaz’ Satirarum II, 3, V. 243. 13 Ignaz Lachner (1807 –1895), Komponist und Kapellmeister. Der Bruder von Franz Lachner war ab 1826 zweiter Kapellmeister an der Hofoper in Wien und ab 1831 Hofmusikdirektor in Stuttgart, bevor er ab 1842 die Stellung des zweiten Kapellmeisters der Münchner Hofoper übernahm. 1853 wechselte er als erster Kapellmeister an das Stadttheater Hamburg und 1858 als Hofkapellmeister an das Königliche Theater in Stockholm. 1861 kehrte er nach Deutschland zurück und wirkte bis zu seiner Pensionierung 1875 als leitender Dirigent in Frankfurt am Main. Lachner erlangte nicht zuletzt durch seine volkstümlichen Kompositionen wie Das letzte Fensterln (EZ 1844) Bekanntheit. 14 Franz Lachner (1803 –1890), Komponist und Dirigent, wirkte zunächst in Wien und Mannheim, bevor er ab 1836 für dreißig Jahre den Posten als musikalischer Leiter der Münchner Hofoper innehatte. Lachner vertrat eine eher konservative Haltung und war daher immer wieder Zielscheibe für Kritiken und Polemiken von ‚fortschrittlicher‘ Seite. Als Wagner 1865 von Ludwig II. nach München berufen wurde, trat Lachner in den Ruhestand. 15 Der Titel eines „Bayrischen Generalmusikdirektors“ war 1852 eigens für Lachner geschaffen worden, um lukrative Angebote von außerhalb, um ihn abzuwerben, zu mindern. 16 1820 war Gaspare Spontini (1774 –1851), bis dahin französischer Hofkomponist, einem Ruf König Friedrich Wilhelms III. nach Berlin gefolgt, wo dieser ihm das Amt eines Generalmusikdirektors und 1. Kapellmeisters an der Königlichen Oper verlieh – eine Stellung, welche Spontini zwar bis zu seinem Tode innehatte, von deren damit verbundenen Pflichten er jedoch bereits 1841 aus Altersgründen entbunden worden war. 17 Fromental Halévy (1799 –1862), Komponist und Musikpädagoge, hatte mit La Reine de Chypre (UA 1841) eine Oper über das Leben der letzten Königin von Zypern, Caterina Cornaro, geschrieben. Zum selben Libretto von Jules-Henri Vernoy de Saint-Georges (1799 –1875) komponierte Franz Lachner seine Oper Catarina Cornaro (UA 1841). 18 Hector Berlioz, Benvenuto Cellini (UA 1838). 19 Franz Lachner, Benvenuto Cellini (UA 1849). 20 Am 20. Januar 1853 hatte Lachner im 13. Abonnement-Konzert, in welchem auch das Finale des ersten Aufzugs aus Lohengrin erklang, seine Symphonie Nr. 8 g-Moll op. 100 zu Gehör gebracht. 12 (Lat.)
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Falle in Leipzig geäußert hat und in welchem der Hr. General Franz Lachner21 als handelnder wie als leidender Held, kurz als Träger der tragischen Idee erscheint. Man gestatte uns diese Einschaltung, die sehr wesentlich mit unserem Gegenstande und seiner Darlegung in Verbindung steht. Es war im Herbste des vergangenen Jahres als Franz Lachner auf den Einfall gerieth, den Neuromantikern22 einen Gnadenbrocken vorzuwerfen, und in einem der ersten Odeonconcerte dem Münchner Publikum die Ouvertüre zum Tannhäuser vorzuführen.23 Noch vor der Ausführung dieses Vorhabens [241] ließ man dasselbe sehr ostentiös24 weit und breit vorher verkünden, unter dem heuchlerischen stolzen Vorgehen, hierdurch die von den „Zukunftsmusikern“ ungerechter Weise gemachten Vorwürfe, als wolle man grundsätzlich in starrem, stationären Festhalten am Alten, jede künstlerische Erscheinung der Gegenwart ignoriren und von sich abwehren, durch ein eclatantes Dementi in einem einzelnen Falle einmal zu entkräften. Im Gegentheil, man fühle sich sehr geneigt, das Neue mit offenen Armen bei sich zu empfangen und einzuführen; nur müsse gestattet sein, es wenigstens vor dem zu prüfen und durch das Publikum prüfen zu lassen, das man zum Schiedsrichter ernenne, sich bei der öffentlichen Aufführung dafür oder dawider zu erklären.25 Schreiber dieser Zeilen kann versichern, daß schon diese Präambulien ihm damals ein unheimliches Grausen erregten. Wir mußten unwillkührlich an die mittelalter-
21 Wohl eine Anspielung auf die stringente, auf Disziplin der Musiker basierender Proben- und Dirigiertätigkeit Lachners, der als einer der ersten Dirigenten überhaupt nicht mehr vom Klavier oder der Geige, sondern stets entweder mit einer Notenrolle oder einem Taktstock das Orchester führte. 22 Während der Ausdruck „Neuromantiker“ seit Julius Beckers Roman Der Neuromantiker (ED 1840) vornehmlich für die Komponisten Mendelssohn Bartholdy, Schumann, Chopin und Berlioz verwendet wurde, wandelte sich die Begriffsbedeutung um 1850 zunehmend und bezeichnete nun Liszt, Berlioz und Wagner (siehe etwa B. P. 1852 Pariser Briefe, S. 1003; Fatal 1853 Aus London, S. 105; R. K. 1855 Zeitgemäße Betrachtungen, S. 182, in: NdS 2 Nr. 78, S. 943). Zur Begriffsgeschichte insgesamt vgl. auch Dahlhaus 1973 Neuromantik. 23 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 10. 24 Prahlerisch. 25 So hatte es in einem anonymen Artikel in der Allgemeinen Zeitung am 28. Oktober geheißen: „Denn nur gar zu selten sind uns bisher bedeutende moderne Tonwerke vors Ohr geführt worden […]. Doch das erste dießjährige Concert versucht auch schon den ersten Schritt zu einer Besserung in dieser Beziehung: es wird uns, neben altclassischen Meisterwerken, auch die Ouvertüre zu Richard Wagners Tannhäuser bringen. Ob aber die Wahl dieses Stückes glücklich getroffen, um damit Richard Wagner, von dem hierorts noch kein Ton gehört worden, bei unserm Publicum einzuführen, das müssen wir stark bezweifeln. Wagner hat die Bahn der alten Meister überschritten; ob mit Recht, ist hier nicht zu entscheiden. Für ihn gibt es keine absolute Instrumentalmusik mehr; mit dem letzten Ton der letzten Symphonie Beethovens hat ihm die Entwickelung der Symphonie überhaupt ihre Endschaft erreicht. Er weiß den Beweis für diese paradoxe Behauptung von seinem Standpunkt aus ziemlich geistreich zu führen“ (Anonym 1852 Musikalisches aus München, S. 4828). Im Anschluss an die Aufführung berichtete die Allgemeine Zeitung am 5. November 1852 über die Tannhäuser-Ouvertüre: „Sie wurde sehr schön gegeben, allein mit sehr getheiltem Beifall aufgenommen. Dieses Tonwerk macht im ganzen nicht den Eindruck der Schönheit, obgleich alle Motive desselben schön können genannt werden. Es ist ein Auszug aus der Oper selber, wobei aber die Gedanken nur aneinandergereiht sich folgen, oder auch parallel laufen, und nicht organisch verbunden sind. Der Componist versteigt sich zuweilen zur Wiedergabe elementarischer Kraftäußerungen, die jedoch in der Kunst unschön sind, wenn sie auch in der Natur so etwa vorkommen mögen“ (Anonym 1852 München, 3. Nov., S. 4946).
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lichen Gottesgerichte und Ordalien26 denken, an welches stets nur der durch probate Ränke siegsgewisse Theil zuerst zu appelliren pflegte – wir mußten ferner an jene in der Geschichte der Tyrannen häufigen Bankette denken, in welchen man dem eingeladenen unbefangenen Gegner beim Dessert die Ueberraschung eines Attentates von unzweifelhaftem Erfolge bereitete – kurz wir ahnten nichts Gutes. Es erging der Tannhäuserouvertüre bei ihrer Aufführung im Odeonconcert auch in der That so, wie es vorauszusehen war. Sie wurde ausgezischt. Für diesen Scandal giebt es aber nur eine einzige mögliche Erklärung. Eine Reihenfolge von Beispielen hat gezeigt, wie dieses Werk selbst unter ziemlich schwachen Orchesterkräften, bei nur einigem guten Willen und Verständnisse des Dirigenten seine Sieg[e]sgewalt selbst an den verknöchertsten Philistern bewähren konnte, die Mittel, welche die Münchner Kapelle darbot, mußten in Qualität und Quantität der Instrumentalisten als vollendet, als unübertreffbar wenn nicht unerreichbar erscheinen. Ein einziger, aber vielleicht der wesentlichste, Factor noch dazu, ein Dirigent, voll mittheilsamer Wärme und Begeisterung – und Niemand konnte an dem Triumphe zweifeln.27 Die beispiellos absolutistische Autorität, welcher Generalmusikdirector Lachner als Musiker und Dirigent beim Münchner Publikum ausübt, waren ganz geeignet, auch die Widerstrebendsten zur Ruhe zu bringen, wenn nicht zur Wandlung ihrer grundlosen Antipathie in begründete Sympathie. – Die Tannhäuserouvertüre wurde aber ausgezischt. Wer anders war also hier dieses Scandals anzuklagen, wer dafür verantwortlich und zur Rechenschaft zu ziehen, als der musikalische Chef? Seine Abneigung gegen, seine feindlichen Urtheilsäußerungen über „die Neuromantiker“ sind auch außerhalb München bekannt geworden. Wie wäre von ihm ein herzvolles, künstlerisches Verständniß des besagten Werkes zu erwarten gewesen, wie von ihm die Erfüllung der ihm obliegenden Pflicht, sich zu Gunsten desselben all seines Einflusses bei der Kapelle und dem Publikum gewissenhaft zu bedienen? Hätte Hr. Lachner in wirklich ehrlicher Absicht, ohne Rückgedanken, die Tannhäuserouvertüre unter seiner Leitung dem Publikum darbieten wollen, so hätte er das Werk auch wirklich mit seinem persönlichen Gewichte vertreten, er hätte sich durch das Fiasko oder vielmehr durch die Ungezogenheit und Rohheit des Publikums – als solidarisch mit dem von ihm dirigirten und bona fide dirigirten Werke – schwer in seinem Künstlerbewußtsein verletzt fühlen und für diese Beleidigung nach einer Revanche streben müssen. Eine derartige Velleität28 von Point d’honneur29 überkam aber Hrn. Lachner nicht; er war sehr befriedigt über den (vielleicht vermutheten) Ausgang der 26 Ordal:
Gottesurteil. 27 In einem Brief an Theodor Uhlig vom 27. November 1852 berichtet Wagner von der Aufführung der Tannhäuser-Ouvertüre in München. So sei dem Werk anstelle der eigentlich dafür vorgesehenen Broschüre Wagners (Wagner 1852b Ueber die Aufführung des Tannhäuser) ein offenbar für diesen einmaligen Anlass angefertigtes ‚neutrales‘ Programm beigefügt worden: „Ich hatte Lachner das programm geschickt, und erhielt keine antwort: nachdem ich von der aufführung gelesen, mahnte ich ihn. Da wird mir geantwortet: das Programm habe man – – sich nicht bekannt zu machen getraut, doch habe man dem Conzert-programm eine Notiz folgenden Inhaltes beigefügt: ‚Heilig heitre stimmung des Geistes. – Einbrechen der Nacht. – Erwachen der leidenschaften. Kampf des Geistes wider dieselben. – Anbrechen des tages. – Endlicher Sieg über die Materie. – Andacht. Jubelgesang.‘ – Demzufolge – heißt es nun – könne man mir versichern, sei meine komposition vollkommen ‚verstanden‘ worden. (ist das nicht hübsch?) –“ (in: Wagner-Briefe 5, S. 122 f.). 28 (Aus dem Frz.) Neigung. 29 (Frz.) Ehrenpunkt.
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Sache. Aus Schonung wollen wir die vorige Par[e]nthese undetaillirt lassen. So hatte denn also das Publikum gesprochen, sein Verwerfungsurtheil, ohne daß eine Appellation möglich, orakelt und die „Zukunftsmusik“ die „neue romantische Schule“ war für München ein für alle Mal abgethan. Hr. Lachner (unter dessen Leitung auch ein Schumann’sches Instrumentalwerk das Schicksal der Tannhäuserouvertüre theilte30) schien seelenvergnügt, mit so leichter Mühe sein officielles Gewissen beschwichtigt zu haben und des drückenden Alpes der „neuen Musik“ ledig zu sein. Mit der Gemüthlichkeit heimischen Phlegma’s erwiderte er Jedem, der ihm von Schumann, Berlioz, Wagner und der schandvollen Nichtbeachtung ihrer Werke in München zu reden anfing: „Wir haben’s ja probirt. Es geht halt nicht. Man findet hier kein Gefallen daran. Unsere Münchner lieben halt nur die gute klassische Musik.“ Ein Ausspruch, dem allerdings eine partielle negative Wahrheit innewohnt, wenn man bedenkt, wie oft die Münchner trotz aller Ueberschätzung ihres Lachner die Ungenießbarkeit seiner Compositionen factisch ausgesprochen haben. Wir haben die tragische Schuld sehr weitläufig erzählt, können uns aber bei der Buße um so kürzer fassen. Diesem selben Franz Lachner, der im Herbst 1852 Wagner’s Tannhäuserouvertüre unter seiner Leitung in München durchfallen ließ, wurde im Frühjahre des laufenden Jahres die ehrende Erlaubniß gegeben, seine neue Symphonie im Leipziger Gewandhaus dirigiren zu dürfen.31 Lachner kam, dirigirte und – brachte sein Werk dem Meister auch keine Ehre – [242] so rettete doch der Meister sein Werk durch seine Anwesenheit vor allzuschnöder Aufnahme seitens einer entrüsteten Zuhörerschaft. Das Leipziger Publikum erinnert sich jenes denkwürdigen Abendes gewiß eben so sehr, als Lachner diesen düstren Schatten seines Ruhmes zu vergessen gesucht haben wird. Die gesammte Kritik sprach sich mit einstimmiger Schonungslosigkeit über die Münchner Schnaderhüpferl-Symphonie, so genannt von dem Trio im Scherzo, wo drei Flöten einen allerdings, wenn man will, „klassischen“ Jodler beginnen.32 Denkwürdig aber war der Abend nicht sowohl durch das Fiasko einer Symphonie – als durch den Triumph ohne Gleichen, den die „Romantik“ in der Person „Richard Wagner’s“ (Einleitung und dritte Scene des erstes Actes vom Lohengrin) zum ersten Male auf einem Boden feierte,33 wo die „Classicität“ jedenfalls in glanzvollerer und frischerer Blüthe von jeher gestanden hatte, als die in dem Münchner Treibhause aufgezogene sich rühmen konnte. Franz Lachner’s tragische Sühne mußte sich noch erhöhen, als er bei seinem Falle und dem gleichzeitigen Triumphe Wagner’s in Leipzig sich erinnern konnte, daß ebendaselbst früher gleichfalls – doch wir wollen kein Bourbonengedächtniß an den Tag legen.34 Schumanns Ouvertüre zu dessen Oper Genoveva hatte Franz Lachner in einem Konzert am 24. März 1852 im Münchner Odeon aufgeführt. 31 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 20. 32 Laut eines Konzertberichts in den Signalen habe das Werk nur eine „sehr laue Aufnahme beim Publikum“ gefunden (Anonym 1853 Dreizehntes Abonnementconcert, S. 45). Siehe auch Anonym 1853 Leipzig., S. 51. 33 Siehe Anonym 1853 Wagner’s Lohengrin in Leipzig. 34 Bülow spielt hier wohl auf die Aufführung von Lachners 6. Symphonie am 17. Januar 1839 im Leipziger Gewandhaus an, welche laut einer anonymen Rezension in der AmZ trotz der „sorgsamsten und bestimmtesten Direkzion“ sowie der „beste[n] Aufmerksamkeit des geübten Orchesters“ bei der Aufführung des Werkes lediglich einen „getheilten und bedingten Beifall erringen“ konnte (Anonym 1839 Leipzig., Sp. 72). 30 Robert
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Man wird uns vielleicht ungerechter Härte zeihen, daß wir alle unsere Empörung über die künstlerische Verknöcherung München’s in den Vorwürfen concentriren, welche wir einem einzigen schuldigen Haupte entgegenschleudern. Wir geben aber nur dies Eine zu bedenken: Generalmusikdirector Franz Lachner ist eben musikalischer Autokrat von Süddeutschland, seine Macht und seine Autorität sind auf eine Weise befestigt, daß er unendlich viel Vortreffliches mit den gegebenen Mitteln zu leisten vermöchte, wenn er nur wollte. Er will aber eben nicht; warum, ist unschwer zu errathen. Er will den vorhandenen, stationären Zustand aufrecht erhalten und setzt allem Neuen eine chinesische Widerstandszähigkeit entgegen. Ist es da zu verwundern, wenn bei einem ohnedies durch seinen sinnlichen Materialismus unsinnlicher Kunst abholden Volke die musikalische Verstumpfung eine unsondirbare Tiefe erreicht hat? Von Berlioz und Wagner zu geschweigen – aber selbst Schumann und Gade sind kaum dem Namen nach bei den Meisten gekannt – in den Musikalienhandlungen sucht man vergebens nach ihren Werken. – Das kleine Städtchen Winterthur in der Schweiz, wo der geistvolle Theodor Kirchner35 und der begabte Carl Eschmann36 ein von reichstem Erfolge begleitetes künstlerisches Wirken entfalten, kann sich eines so ächten und innerlichen musikalischen Lebens rühmen, als München, wenn es auf seinem Wege, oder vielmehr auf seinem Stuhle beharrt, nie erreichen wird. Winterthur ist um mehrere Decennien München voraus und ein musikalisches Aranjuez37 gegen dieses todte Madrid. Wir übertreiben nicht. Der galvanisirte Musikleichnam München’s wird von den Zungen der Presse natürlich! als die inkarnirte Schönheit gepriesen. Die Thätigkeit des Augsburgers Riehl38 ist bekannt, auch seine Beliebtheit und Autorität. Er ist ein Tausendkünstler, ein Allerweltsmann. Er weiß es zu vereinigen, wie man die unmusikalischen Gebildeten zu gleicher Zeit mit den ungebildeten musikalischen Handwerkern befriedigt. An die musikalischen Intelligenten allein denkt er nicht. Vielleicht schreibt er eben blos für Baiern. Selten läßt er eine Gelegenheit vorübergehen, wo er das Recht des Marsyas, den Apoll schinden zu dürfen, nicht vertheidigte und nicht ein Zetergeschrei erhebt, wenn Apollo des Marsyas müde, diesem einmal Eins abzugeben sich zur Nothwehr
35 Theodor
Kirchner (1823 –1903), deutscher Komponist, wurde 1843 als Organist nach Winterthur berufen, wo er zwei Jahrzehnte lang auch als Pianist und Musiklehrer tätig war. 36 Johann Carl Eschmann (1826 –1882), Schweizer Komponist, Pianist und Pädagoge, wurde in Winterthur geboren und studierte ab 1845 am neuen Konservatorium in Leipzig bei Felix Mendelssohn Bartholdy und Ignaz Moscheles. 1847 kehrte er in die Schweiz zurück, wo er in Zürich und zwischenzeitlich auch in Winterthur Klavier und Komposition unterrichtete. Als Richard Wagner 1849 auf seiner Flucht aus Deutschland in Zürich Exil suchte, fühlte sich Eschmann zusammen mit einer Gruppe gleichgesinnter Komponisten und Künstler zu Wagners Kreis hingezogen. 37 Spanische Stadt südlich von Madrid und seit dem 16. Jahrhundert Sommerresidenz des spanischen Hofes. Hierauf bezieht sich das französische Sprichwort „Ils sont passés les jours d’Aranjuez“ (Die Tage von Aranjuez [d. h. die angenehme Zeit] sind vorüber), auf welches wiederum Friedrich von Schiller zu Beginn seines Don Karlos anspielt. 38 Wilhelm Heinrich Riehl (1823 –1897), Kulturhistoriker, Soziologe und Novellist, war von 1851 bis 1853 als Redakteur der weitverbreiteten und angesehenen Allgemeinen Zeitung in Augsburg tätig und verfasste u. a. die Schrift Musikalische Charakterköpfe. Ein kunstgeschichtliches Skizzenbuch (ED 1853).
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gestattet.39 In keinem Punkte ist die „Allgemeine Augsburger Zeitung“40 patriotischer, blauweißer, als in der musikalischen Chronik Münchens. Da wird den Abonenten [sic] in allen Weltgegenden weiß gemacht, daß München nicht blos Skulptursondern auch Musik-Isarathen ist. Und Hr. Riehl mit seiner gewandten Feder und seiner zu besseren Zwecken verwendbaren intelligenten Raschheit, giebt heute den Prediger ab, morgen den Clown (wir erinnern an das Karlsruher Musikfest).41 Sein steter Refrain „que tout est pour le mieux dans le meilleur des Munic’s possibles“42 beirrt uns aber nicht mehr. In der kürzlich in München stattgefundenen Aufführung der Beethoven’schen Missa solennis (D-Dur),43 einem sehr dankenswerthen musikalischen Ereignisse, erblicken wir eine erste positive Frucht jener „süddeutschen Opposition“ die wir, allem Pessimismus feind, bereits in der Einleitung als ein erfreuliches Lebenszeichen quand mème der erstarrten Körper schwäbischen Musiktreibens signalisiren zu können glaubten, und zwar eine recht genießbare Frucht. Daß es aber hauptsächlich die „Opposition“ gegen die Zukunftsmusiker ist, welche sie erzeugt hat, erhellt aus dem naiven Referate der „Augsburger Allgemeinen“, auf das wir hiermit verweisen.44 Liszt führt bei seinen Musikfesten stets die 9te Symphonie von Beethoven auf;45 (deren Ignorirung man sich denn doch vielleicht in München gelegentlich schämt) man verwirft die neunte Symphonie und giebt ihr einen Gegenpabst [sic] in der Messe, zu deren Aufführung Liszt allerdings noch keine Gelegenheit hatte.46 Wie
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griechisch-römischen Sage zufolge forderte der eigentlich wenig musikalische Satyr Marsyas Apollo zu einem künstlerischen Wettkampf heraus. Zwar sprachen die anwesenden Musen zunächst dem Aulos spielenden Marsyas den Sieg zu, mussten jedoch letztlich Apollo den Vortritt lassen, nachdem dieser seinem Kithara-Spiel noch Gesang hinzugefügt hatte. Verärgert über die Anmaßung des Marsyas, einen Gott zum Wettstreit herausgefordert zu haben, ließ Apollo seinen Widersacher anschließend bei lebendigem Leib schinden, d. h. wie bei einem Tier die Haut abziehen. 40 Die in Augsburg, München, Stuttgart und anderen Orten beim Verlag Cotta erscheinende Allgemeine Zeitung war mit einer Auflage von ca. 8000 Exemplaren in den 1850er Jahren nicht nur eine der vor allem im süddeutschen und österreichischen Raum verbreitetsten Tageszeitungen, sondern auch ein für seinen zurückhaltend-objektiven Berichtstil anerkanntes Blatt. Vgl. Breil 1996 Die Augsburger „Allgemeine Zeitung“, S. 46 f. sowie S. 58. 41 Bülow folgt hier einer Annahme Pohls, der zuvor bereits Riehl als Autor der anonymen Berichte in der Allgemeinen Zeitung (siehe Anonym 1853 Karlsruhe) vom Karlsruher Geschehen ausgemacht zu haben glaubte (siehe Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, S. 212, in: NdS 1 Nr. 51, S. 544). 42 (Frz.) auf dass alles zum Besten gelangt im besten aller möglichen München. In Anlehnung an Gottfried Wilhelm Leibniz’ Kernaussage in dessen Schrift Theodizee (ED 1710), in der er die real existierende Welt als die ‚besten aller möglichen Welten‘ charakterisiert. 43 Das Werk war unter der Leitung Lachners erstmals in München am 1. November 1853 mit großem Erfolg zur Aufführung gelangt. 44 Anonym 1853 München (Missa solemnis). Bülow spielt wahrscheinlich auf folgende Passage innerhalb des Berichts an: „Es ist dieser Satz [das Gloria], der ein äußerst charakteristisch katholisches Gepräge trägt […] ein wahrer Triumph der contrapunctischen Schreibart, und wir empfehlen ihn mit seiner ungeheueren Wirkung allen jenen Zukunftsmusikern die den Fugensatz für antiquirt halten, weil sie selber nicht genug gelernt haben um eine ordentliche Fuge schreiben zu können“ (ebd., S. 4933). 45 Vgl. hierzu insgesamt Schröter 1999 „Der Name Beethoven ist heilig in der Kunst“. 46 Tatsächlich sollte Liszt das Werk nie selbst dirigieren, obwohl er im Oktober 1870 auf einem Beethovenfest in Wien dazu eingeladen worden war (vgl. hierzu Drabkin 2003 Beethoven, Liszt, and the „Missa solemnis“, S. 238).
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kindlich, zwei sich so verwandte und ebenbürtige Kunstwerke tendenziös einander entgegen zustellen! Immerhin. Wenn die „süddeutsche Opposition“ in diesem, [243] unserem Sinne weiterhin thätig sein wird, so werden wir uns bald nicht mehr gegnerisch zu einander verhalten. Wir zweifeln aber daran. Dieses Fortschreiten wäre Selbstvernichtung, die will man nicht und es würde eben ein Wieder-Aufleben der dortigen Kunstzustände im Sinne der neuen Zeit, oder der „Zukunft“ oder der „Neuromantik“, wie unsere Gegner sagen, nur durch diese Selbstvernichtung ermöglicht werden können. Franz Lachner wird sich nicht zum Sardanapal47 montiren; die endliche Entfernung des musikalischen Chefs von seinem Posten ist aber die hauptsächliche conditio sine qua non, wenn dieser Posten für uns kein verlorener bleiben soll. Zum zweiten Kapellmeister, um die erledigte Stelle Ignaz Lachner’s zu besetzen, wird man, dessen sind wir sicher, nur einen geborenen Krüppel oder Einen, der sich freiwillig Hände und Füße binden läßt, erwählen. Für den Augenblick können wir also nur hoffnungslos von München scheiden, trotz der neulichen Aufführung von Beethoven’s Missa solennis und gehen weiter, uns einmal im Mikrokosmus, in Stuttgart umzuschauen.
III. [252] In der Einleitung zu unserem Thema haben wir bereits vorbemerkt, daß Stuttgart, der zweite Centralpunkt süddeutscher Opposition, gewissermaßen als eine Dependenz, als eine wohlfeilere Miniaturausgabe des musikalischen München betrachtet werden könne. Nicht als ob Stuttgart die guten und brauchbaren Seiten der Münchner Musikzustände wiederspiegelte [sic], – an Tüchtigkeit des vorhandenen Materials, namentlich in Ansehung der Instrumentalkräfte, steht es ziemlich weit hinter München zurück, was durch die ungleiche locale Bedeutsamkeit beider Städte sehr erklärbar ist – aber die Münchner Musikwirthschaft ist ganz ersichtlich das Ideal, welches man in Stuttgart verwirklichen möchte. Vor München allein in der gesammten Musikwelt legt man einen gewissen Respekt zu Tage; in München allein verehrt man eine Autorität, deren man bedarf, einestheils, weil man aus einem gewissen Anfluge von Ehrlichkeit die allzukolossale Unverschämtheit scheut, sich selbst dafür auszugeben, andererseits um uns Norddeutschen gegenüber die eigene Indolenz und Verkrüppelung, mit dem Hinweis auf die fremde, durch glänzendere, großartigere Verhältnisse auch imponirendere, gewissermaßen zu entschuldigen. Mit Einem Worte, sagen wir es ohne schonende Umschweife frei heraus, es herrscht in den Stuttgarter Musikzuständen dieselbe Erbärmlichkeit als in den München’s, wenigstens eine analoge, daß Stuttgart hierin als eine Copie, als ein Filialsumpf von München sich bezeichnen ließe. Von dem, was in diesem Sumpfe vor sich geht, oder, da eben nichts vor sich geht, von dem, was dort stagnirt, erfährt nun die norddeutsche Musikwelt bei der Selbst47 Sardanapal,
einer griechischen Sage zufolge der letzte König des assyrischen Reiches, hatte im Angesicht der Eroberung seiner Hauptstadt durch den Feind in seinem Palast einen riesigen Scheiterhaufen errichten lassen, um auf diesem sich mitsamt seinen Dienern, Gefolgsleuten und Reichtümern den Flammen zu übergeben.
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isolirung und Abschließung der würtembergischen Schwaben so äußerst selten nur das Geringste, daß wir mit möglichster Kürze dem Leser die Hauptzüge dieses Bildes vorführen wollen. Auch hier sind es eben die officiellen Kunstinstitute, die wir ins Auge zu fassen und durch welche wir den Specialcharakter des dortigen Musiktreibens repräsentirt anzunehmen haben. Die mehr oder minder regen Bestrebungen von Dilettanten oder privaten Künstlern werden überall stets an Einfluß und Bedeutung gegen die der ersteren untergeordnet bleiben. Das Hoftheater in Stuttgart ist bezüglich seines Gesangspersonals im Grunde genommen nicht schlechter und besser als irgend ein anderes; mit dem Münchner mag es ziemlich parallel stehen. Was jedoch die Verwendung der Opernkräfte anlangt, so läßt die Verwaltung dieselben nur dem schlechten Zwecke der neueren und neusten italienischen und französischen Oper dienen. Eine wirklich classische Oper ist schon eine Seltenheit. Neben dem bei allen Bühnen gäng und gäben [sic] unvermeidlichen Moderepertoir giebt man zuweilen mit schlechter Besetzung und in abschreckend langweiliger Weise eine jener gediegenen und den Ausgabe-Etat nicht erhöhenden älteren Opern, mit welchen das Guttapercha48-Gewissen des Vorstandes einer solchen Kunstanstalt temporär künstlerische Scrupellaunen beschwichtigend abzuspeisen pflegt, so z. B. Méhul’s Joseph49, Cherubini’s Wasserträger50, Cimarosa’s Heimliche Ehe.51 Die Wiederaufnahme des letztgenannten Werkes in Stuttgart,52 mit der man vor einiger Zeit daselbst in auswärtigen Blätter zu renommiren wünschte, hatte ihren Grund in der Eitelkeit des Hofkapellmeisters Lindpaintner53, der seinem durch künstlerische Altersschwäche und Impotenz gehemmten Ehrgeize in der Wichtigthuerei Nahrung zu bieten versuchte, mit welcher er dieser Partitur ein Bündel der ordinärsten Recitative eigner Feder hintanheftete. Der wirkliche Lorbeer, den sich Wagner durch seine meisterhafte, ebenso geniale, wie pietätsvolle Restauration der Gluck’schen „Iphigenia in Aulis“54 erworben, wird diesen Missgriff mittelbar verschuldet haben; doch wer möchte der Sonne einen Vorwurf daraus machen, daß sie auch Krokodileier ausbrütet?55 womit wir jedoch durchaus nicht den Neckar zum Nil, noch jene ehrliche deutsche Finsterniß (dick genug, um Stiefelwichse daraus zu fabriciren, wie Alexander Dumas sagt), welche die schwäbischen Hirne erfüllt, zu einer ägyptischen erheben wollen.
48 Kautschukähnliches
Produkt aus dem Milchsaft einiger Bäume Südostasiens, das vor allem als Isoliermittel und zur Herstellung von wasserdichten Verbänden verwendet wird. 49 ÉtienneNicolas Méhul, Joseph (Joseph in Ägypten, UA 1807). 50 Luigi Cherubini, Les Deux Journées (Der Wasserträger, UA 1800). 51 Domenico Cimarosa, Il matrimonio segreto (Die heimliche Ehe, UA 1792). 52 Das Werk, welches am 5. Dezember 1810 in Stuttgart zur Erstaufführung gelangt war, wurde am 10. Juni 1853 nach über 13-jähriger Pause wieder in den Spielplan genommen. 53 Peter Joseph von Lindpaintner (1791–1856), deutscher Komponist und Dirigent. Nach einer ersten Anstellung als Musikdirektor am Isartor-Theater in München wirkte Lindpaintner ab 1820 bis zu seinem Tod als Nachfolger Johann Nepomuk Hummels als Hofkapellmeister in Stuttgart. 54 Wagner, C. W. Gluck: Iphigénie en Aulide (Bearbeitung von Christoph Willibald Glucks 1774 uraufgeführter Tragédie opéra in drei Akten, UA 1847). 55 Anspielung auf Heinrich Heines Reisebilder (ED 1830), in denen es im dritten Teil heißt: „Dieselbe Sonne, die im Nilthal Egyptens Krokodilleneyer ausbrütet, kann zugleich zu Potsdam an der Havel die Liebessaat in einem jungen Herzen zur Vollreife bringen – dann giebt es Thränen in Egypten und Potsdam“ (ebd., S. 288).
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Wir glauben eben erwähnt zu haben, daß der erste Hofcapellmeister in Stuttgart Lindpaintner heißt. In neuerer Zeit hat man ihn mit einem Collegen erfreut, mit dem Liedercomponisten Kücken56, den er wie einen Bruder lieben soll. Hr. Kücken ist noch zu kurze Zeit angestellt und hat bis jetzt wohl kaum die Zeit finden können, einen persönlichen Einfluß auf das Institut, an dessen Spitze er mitberufen wurde, in der [253] in der Weise zur Geltung zu bringen, daß sein Wirken daselbst uns schon zum Gegenstande der Censur anheimfallen könnte. Bei unserer Darstellung der Geringfügigkeit des officiellen Musiktreibens in Stuttgart sind wir daher weit entfernt, ihm gegenwärtig eine Mitschuld an derselben zuzuschieben: im Gegentheil neigen wir uns dahin, Gutes von seiner Leitung zu hoffen und werden seinen desfallsigen Bestrebungen unsere Anerkennung nicht versagen. Kücken hat eben das vor seinem künftigen Vorgänger voraus, daß er ein Norddeutscher, in jeder Art jünger und frischer als dieser ist, nicht blos Dünkel sondern auch einen gewissen musikalischen Geschmack besitzt und demnach moralisch nicht in jenem schnupftabakbestreuten deutschen Kapellmeister-Schlafrocke, sondern in verhältnißmäßigem Frack erscheint. Durch seinen wenn auch flüchtigen Besuch des Karlsruher Musikfestes57 hat er bewiesen, daß es ihm nicht an Interesse mangelt, wo es sich zu orien tiren, d. h. sich im musikalischen Oriente umzusehen gilt. Das ist erst verdammt wenig, aber immerhin etwas, zumal seinem Collegen gegenüber. Nun wir werden weiter sehen. Hr. v. Lindpaintner dagegen ist seit einer langen Reihe von Jahren in der Stuttgarter Musikwirthschaft der einzig verantwortliche Wirth, und wir dürfen deshalb rücksichtslos gegen ihn einschreiten. Doch werden wir auch bei ihm nicht die Gerechtigkeit verläugnen, indem wir ihm das allein zur Last aufbürdeten, woran er selbst nur theilweise schuld ist. Denn allerdings öffnen sich aus gewissen hier nicht näher zu bezeichnenden Ursachen die Thorflügel des Opernhauses in Stuttgart nur jedem beliebigen Opernschund, verschließen sich aber mit geringen Ausnahmen jedem Werke, dessen künstlerischer Werth und Bedeutung dem Institute gerade die Verpflichtung auferlegen sollten, es durch möglichst vollkommene Aufführung in’s Leben treten zu lassen. Die Unzufriedenheit, welche Kapellmeister Lindpaintner mit diesem status quo als vermeintlicher Vertreter des klassischen Princips vielleicht affektirt, sticht übrigens seltsam gegen die Indolenz ab, in welcher er seit geraumer, fast undenklicher Zeit jede künstlerische Anstrengung gemieden, jeden ernstlichen Versuch zu einer Besserung gescheut, so wie gegen die Leichtigkeit und Behaglichkeit, mit welcher er kampflos sich den gegebenen Zuständen untergeordnet und accomodirt hat, Zuständen, durch welche das Stuttgarter Hoftheater factisch auf den Rang und Namen einer Tonkunstanstalt Verzicht leistet. Wie thätig hat sich dagegen der ehrwürdige, greise Spohr in Cassel gezeigt, und dort galt es härteren Kampf gegen unleidlichere Verhältnisse! Freilich Lindpaintner ist weder als Dirigent noch
56 Friedrich
Wilhelm Kücken (1810 –1882), in Bleckede bei Lüneburg geborener Komponist, wurde 1851 am Hoftheater in Stuttgart gleichgestellter 2. Kapellmeister, wo er neben Lindpaintner wirkte und nach dessen Tode im Jahre 1856 in dessen Stellung eintrat. Die zahlreichen Lieder Kückens wurden vielfach übersetzt und erfuhren zu Lebzeiten eine relativ große internationale Verbreitung. 57 Vgl. Pohl 1853 Das Karlsruher Musikfest, S. 23.
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als Componist mit Spohr an Einem Tage zu nennen. Die Unehre, welche wir dem letzteren hier anthun, indem wir ihn einem Lindpaintner gegenüberstellen, hat ihren Anlaß in der speciellen Nichtachtung, welche von diesem und seinen blöden Verehrern in Stuttgart demjenigen Manne thatsächlich angethan wird, der doch unfraglich als der genialste und historisch bedeutsamste Vertreter einer musikalischen Richtung erscheint, die in ihm zugleich ihren eigentlichen Stifter oder Wiederhersteller besitzt, und die sich nach der Periode, in welche sie fällt und auch mit anderweitiger, tieferer Analogie, recht wohl als die der musikalischen Restauration, bezeichnen läßt. Die großartige Ungebührlichkeit der Prätensionen, mit welchen nun Kapellmeister Lindpaintner sich als Altmeister dieser vergangenen Epoche gerirt, vergessend, daß Spohr allein diese Ehre gebühren kann, fordert auf, zu untersuchen, worauf sich diese Prätentionen denn gründen oder stützen. Und da finden wir bei dem Componisten Lindpaintner wahrhaftig keine plausible Begründung. Wir wissen wohl, daß das eben nicht musterhafte, übrigens gar nicht musterhaft sein sollende Repertoir fast der sämmtlichen deutschen Gartenorchester die beiden Ouvertüren zum „Vampyr“ und „Faust“,58 Tonstücke, die übrigens ebenso gut von einem Präger59 oder Fränzel60 herrühren dürften, aufgenommen und bis jetzt conservirt hat; ferner sollen die antimusikalischen Engländer davon erzählen können, mit wie viel Glück sich Lindpaintner neuerdings in den höheren Gassenhauern versucht, von denen ihnen alljährlich der reisende Liedersänger Pischek61 einige zu importiren pflegt (Fahnenwacht62, Rolandslied63 u. s. w.);64 endlich lesen wir in den Zeitungen, daß eine neue Oper „die Korsen“65 am 20ten November in Stuttgart die Bretter beschritten hat, eine Oper, deren Text wir in Händen haben, und der uns nur zu der kurzen Kritik veranlaßte, daß eine ganz einzige künstlerische Verwahrlostheit dazu gehören muß, das schäbigste, unanständigst langweilige Libretto zu componiren, das die Theaterwelt bis jetzt aufzuweisen hat: – – dieses Alles vermag uns aber noch nicht zu überzeugen, daß Lindpaintner ein großer Componist sei, würdig, wenn
Der Vampyr (UA 1828) und Ouvertüre zu Goethes Faust op. 80 (ED 1834). 59 Vermutlich Heinrich Aloys Praeger (1783 –1854), Geiger, Gitarrist und Komponist. Praeger erlangte vor allem als Virtuose Ruhm, wohingegen seine Opern und Singspiele kaum beachtet wurden. 60 Ferdinand Fränzl (1767 –1833), Geiger und Komponist. Während Fränzls Kompositionen für Violine einige Anerkennung fanden, wurden seine Singspiele, Schauspielmusiken und Opern weniger geschätzt. 61 Johann Baptist Pischek (1814 –1873), böhmischer Sänger, wurde 1840 als erster Bariton ans Stadttheater in Frankfurt am Main berufen und wechselte 1844 zu einer Anstellung auf Lebenszeit als Königlicher Kammersänger an das Hoftheater in Stuttgart. 62 Lindpaintner, Die Fahnenwacht op. 114 (ED 1844). Der Komponist bearbeitete das Lied für Orchester und ließ es mit den Verzierungen Pischeks drucken. 63 Lindpaintner, Roland (EZ 1844?). Das Lied, welches meist als Seitenstück zur Fahnenwacht aufgeführt wurde, erschien nicht separat im Druck und trägt im eigenhändigen Werkverzeichnis Lindpaintners die Nr. 379. 64 1853 lud die ein Jahr zuvor gegründete New Philharmonic Society auf Betreiben ihres Managers Henry Wylde die beiden deutschen Kapellmeister Louis Spohr und Peter Joseph von Lindpaintner als Gastdirigenten ein, um in London mehrere Konzerte, zum Teil mit eigenen Werken, zu dirigieren. Höhepunkt für Lindpaintner, der im Gegensatz zu Spohr zuvor nie England besucht hatte, war das vierte und letzte von ihm dirigierte Konzert am 1. Juni, bei welchem vor allem die von Pischek vorgetragene Ballade Der Fahnenträger dem Komponisten zu großem Erfolg verhalf (siehe Anonym 1853 New Philhamornic Society, S. 350). 65 Lindpaintner, Giulia, oder die Korsen (UA 1853). 58 Lindpaintner,
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auch nicht mit einem Spohr zu rivalisiren, doch demselben bildlich die Schuhriemen aufzulösen. Vielleicht ist aber Hr. Lindpaintner ein guter Dirigent. Gelegenheit, sich als solcher zu zeigen, giebt es in Stuttgart hinlänglich. Außer der Oper, wo, ungeachtet des herrschenden Ungeschmackes, es eine nicht unkünstlerische Aufgabe bleiben würde, das Schlechte in möglichster technischer Vollendung vorzuführen und so in Ermangelung eines Zweckes doch die Mittel glänzen zu machen, besteht in Stuttgart die sehr rühmliche Einrichtung von zwölf jährlichen Abonnementconcerten, die sich, da der Abonnement-[254]preis ein beispiellos, aber nachahmenswürdig wohlfeiler ist (24 kr.[euzer] rhein.[isch] für jedes Concert) eines höchst zahlreichen Besuches erfreuen und die Eingebornen mit großem Stolze erfüllen. Daß dieser Stolz bis zur lächerlichsten Ueberschätzung ausartet, namentlich von Seite der dabei be theiligten Künstler, brauchen wir wohl nicht anzudeuten; es ist dies eine Krähwinkelei66, die auch größere Städte theilen. Diese Concerte sind hauptsächlich zum Opferdienste für den Moloch eines musikalischen Klassicismus bestimmt, den sich die Stuttgarter gleich den Münchnern zum Steckenpferde erwählt haben, jedoch mehr blos in der Idee, d. h. auf weniger reale Weise reiten. Die Factoren der Abonnementconcerte bilden die königliche Kapelle und das Gesangspersonal des Hoftheaters. Daß die erstere quantitativ und qualitativ weit unter der Münchner steht, glauben wir schon erwähnt zu haben. Es mangelt ihr verhältnismäßig einmal an hervorragenden Einzelkünstlern, namhaften Virtuosen auf ihrem Instrumente, und dann vorzüglich an einem abgerundeten schönen Ensemblespiel. In Bezug auf den ersten Punkt genügt es eben noch nicht, einzelne tüchtige Musiker im Streichorchester (die vorzüglichsten unter den Mitgliedern der Stuttgarter Kapelle sind übrigens meist geborne Baiern), ein leidliches Hornquartett und ein paar Namen wie die beiden Krüger67 (Flöte und Harfe), Beerhalter68 (Clarinette und Bassethorn), Neukirchner 69 (Fagott), Bohrer70 (Violoncell) zu besitzen; was das Ensemble anlangt, so ist die Hauptschuld der traurigen Vernachlässigung desselben dem Chef der Kapelle und seinem schlechten Dirigiren zuzuschreiben. Lindpaintner, obwohl zu derselben Schule, der der „Tact-Stockmeister“ ex professo oder besser ex profosso gehörig, steht selbst als Dirigent weit unter einem Franz Lachner in München!
66 Spießiges Verhalten. Seit Jean Pauls Erzählung Heimliches Klaglied der jetzigen Männer (ED 1800) ein in der Literatur beliebter Topos, der u. a. von August von Kotzebue in Die deutschen Kleinstädter (ED 1802), von Ernst August Friedrich Klingemann in Schill oder das Declamatorium in Krähwinkel (ED 1812), in Heinrich Heines Gedicht Erinnerung aus Krähwinkels Schreckenstagen (EZ 1834) oder Johann Nestroys Freiheit in Krähwinkel (ED 1849) aufgegriffen wurde. 67 Karl Krüger (1831–1906), hatte zunächst bei seinem Vater Gottlieb (1790 –1868) studiert, der seinerseits seit 1810 Mitglied der Stuttgarter Hofkapelle (ab 1818 mit dem Titel des Kammervirtuosen) fungierte, bevor er von 1850 bis 1898 ebenda zum Soloflötisten des Orchesters zum Nachfolger seines Vaters ernannt wurde. 68 Alois Beerhalter (1798 –1859), von 1828 bis zu seinem Tode erster Klarinettist im Stuttgarter Hoforchester. Er galt als einer der größten Bassetthorn-Virtuosen seiner Zeit. 69 Wenzel Neukirchner (1805 –1889), hatte nach seiner Ausbildung in Prag in den Jahren 1819 bis 1825 und von 1829 bis zu seinem Tod die Stelle als erster Fagottist in der Stuttgarter Hofkapelle inne. Neukirchner erwarb sich nicht zuletzt auch durch bauliche Verbesserungen des Fagotts historische Verdienste. 70 Max Bohrer (1793 –1867), aus einer Musikerfamilie stammend, hatte er zunächst von 1818 bis 1824 eine Anstellung als Solocellist in der Hofkapelle Berlin inne, bis er über ein zwischenzeitliches Engagement in München seit 1832 als Cellist in der Hofkapelle Stuttgart tätig war.
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Wir theilen einige der ärgsten – Unglaublichkeiten mit, von denen zufälliger Weise unser Ohr die Marter der Zeugenschaft zu erdulden hatte. Eigene schlimme Erfahrung läßt uns hier die Mahnung ertheilen, daß jeder gebildete Musiker bei seinem Eintritt zu einer Opernaufführung oder einem Concert unter Leitung des Kapellmeister Lindpaintner seine Ansprüche auf eine sachverständige, räumliche Disposition des Orchesters eben sehr wohl als auf eine reine Orchesterstimmung draußen in der Garderobe ablegen, und sich zur Versicherung gegen Verlust derselben eine Contremarke einhändigen lassen möge. Da der Chef nichts darauf zu halten scheint, so wird diese erste Bedingung eines künstlerischen Ensemble’s fast stets auf das Gröbste verabsäumt. Selbst die Saiteninstrumente harmoniren nicht mit einander und das plötzliche A einer Hoboe würde sich zur Posaune des Gerichts über diesen Charivari71 wandeln. Von Weihe und Schwung darf man selbst bei der Aufführung classischer Werke, welche das unmusikalische Publikum mit lauten Conversationen im schwäbischesten Idiom zu begleiten pflegt, natürlich da, wo bisweilen die einfachste Präcision und Correctheit mangelt, nichts erwarten. Von den Concerten wollen wir später ein Wort reden; aus der Oper nehmen wir aufs Gerathewohl zwei Beispiele heraus, an denen sich die Unzulänglichkeit (um milde zu sprechen) von Hrn. Lindpaintner’s Direction uns ziemlich stark manifestirte. Es war in der Balletscene des dritten Actes von Robert der Teufel72, wo wir ein in ächzendem Hämorrhoidarialton vorgetragenes Violoncellsolo hörten, das wir genau nachstenographirt haben:
Wer das Solo gespielt hat, wissen wir nicht, auch nicht mit welchem Rechte man Violoncell-Solo mit Solo-Violoncellist identificirt hatte, aber wir bewunderten, mit welcher Gewissensruhe der Kapellmeister im Viervierteltacte dazu fortdirigirte, ohne Gefühl für die empörende Verstümmelung der Melodie, dergleichen wir eben sehr häufig unter seiner Leitung gehört haben. In dem vierten Finale derselben Oper, bei einer schwierigeren, obgleich immerhin ziemlich einfachen Zusammenwirkung von Chor und Orchester, wo den Hrn. Tacthackern der alten Schule gerade Gelegenheit gegeben wird, durch festes und sicheres Markiren den Arm zum Wohle der Kunst müde zu handwerken, gestaltete sich die Stelle, wo Männer- und Frauenchor mit einander alterniren,
71 Katzenmusik.
72 Giacomo
Meyerbeer, Robert le diable (UA 1831).
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zu folgendem reizvollen Zusammenklange:
Die zuhörenden Schwaben erfreuten sich ehen eines guten Felles. Wir schaudern noch in dieser [255] Erinnerung. Und doch war es nicht die einzige der Gattung von diesem Abend her. [265] Halten wir uns nicht weiter auf bei ähnlichen kleinen Theater-Horreurs, sondern sehen wir uns das Concertinstitut ein wenig näher an. Da werden denn allwinterlich, wenn kein anderes Oratorium dazwischen kömmt, als z. B. Mozart’s Requiem und – Lindpaintner’s vorsündfluthlicher Abraham73, so ein zehn Symphonien [sic] ohne vorhergegangene Probe heruntergeraspelt: C-Dur und G-Moll von Mozart, D-Dur und B-Dur von Haydn, eine Anzahl derer von Beethoven, wobei man selten über Nr. 5 hinauskommt, nie, wie sich versteht, bis zur neunten dringt, die erstlich die verwerflichste Verirrung eines tauben und verwirrten Hauptes,74 zweitens ohne Probe und also auch ohne Missglücken nicht von Blatt gespielt werden kann. Was dann noch fehlt, das füllen Namen wie Kalliwoda75 und Täglichsbeck76 aus. Schumann wird aus den nämlichen Gründen zum Theil wie Beethoven’s letzte Symphonie gänzlich ignorirt. Ob der Vorzug, den die Stuttgarter vor den Münchner Concerten darin voraus haben, daß der Dirigent derselben nicht genug gelernt hat, um selbst (natürlich) eine „Preissymhonie“77 anzufertigen, diesem als besonderes Verdienst anzurechnen sei, lassen wir dahingestellt sein. Die erste Gade’sche Symphonie78 (C-Moll) ist das einzige Produkt der neueren, nach Mendelssohn’schen Instrumentalmusik, das Hr. Lindpaintner sich vor einigen Jahren bewogen fand, seinen Concertabonnenten vorzusetzen.79 Er ließ das Werk
Abraham (UA 1848). 74 Möglicherweise eine Anspielung auf einen zuvor erschienenen Artikel in der Allgemeinen Zeitung, in welchem der anonyme Autor, hinter dem sich möglicherweise Wilhelm Heinrich Riehl verbirgt, sich gegen die Verwendung von Vokalstimmen im Finale der 9. Symphonie gerichtet und diese mit der zunehmenden geistigen Verwirrung Beethovens erklärt hatte (Anonym 1853 Musikalische Briefe von einem beschränkten Kopfe). 75 Johann Wenzel Kalliwoda (1801–1866), Geiger und Komponist, war in den Jahren 1822 bis 1848 sowie erneut ab 1859 als Kapellmeister in Donaueschingen tätig. Aufgrund der vorübergehenden Auflösung der Kapelle hielt sich Kalliwoda in der Zwischenzeit in Karlsruhe auf. 76 Thomas Täglichsbeck (1799 –1867), Geiger und Komponist, wirkte nach seiner Ausbildung und ersten Anstellungen als Violinist und Kapellmeister am Münchner Isartor-Theater, ab 1827 als Kapellmeister beim Fürsten Konstantin von Hohenzollern-Hechingen. Aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen in der Programmgestaltung wurde Täglichsbeck 1857 vorzeitig pensioniert und durch Max Seyfriz (1827 –1885) ersetzt. 77 1835 hatte Lachners Symphonie Nr. 5 Passionata c-Moll op. 52 den ersten Preis beim Wiener Kompositionswettbewerb errungen und durfte fortan nach damaligem Brauch den Beinamen „Preissymphonie“ führen. 78 Niels Wilhelm Gade, Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 5 (ED 1843). 79 Laut den Aufführungsverzeichnissen der Hofkapelle Stuttgart datiert die dortige Erstaufführung des Werkes auf den 29. Februar 1848. Quelle: [10.12.2017]. 73 Lindpaintner,
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natürlich durchfallen, indem er es schlecht aufführte. Merkwürdig, welche Raffinerie des Witzes diese Herren bei ähnlichen Manövres an den Tag legen! Sie besitzen dafür ein wirksames geheimnißvolles Recept, das man ihnen ablauschen sollte, wenn man es an ihnen zur Anwendung zu bringen nöthig hätte. In neuerer Zeit hat man die nämliche Symphonie wiederum zur Aufführung gebracht. Daß sie auch diesmal nicht in Stuttgart laufen lernen konnte, wird man aus dem Umstande begreifen, daß man derselben das vierte Bein unterbunden hatte. Man hatte nämlich das reizende, originelle Scherzo ganz herausgestrichen!80 Weiter beschäftigen sich die Stuttgarter Abonnementconcerte mit der alljährlichen, ohne vorangegangene Erfrischung durch den Luxus einer Probe statthabenden Wiederkäuung der bekanntesten Opernouvertüren von Mozart, Weber, Cherubini und vorzüglich Lindpaintner81. Neuerdings, d. h. nach Mendelssohn’s Tode, sind die in diese Gattung einschlagenden Instrumentalstücke dieses Meisters ebenfalls, wiewohl mit Widerwillen acceptirt worden; man merkt das an der Unreinheit der Ausführung, der Unverständlichkeit der Direction. Von Beethoven giebt man höchstens Prometheus, Egmont und Coriolan82, letztere mit drei Bratschen und drei Celli’s! Kücken hatte letzthin versucht, der Berlioz’schen Ouvertüre „zum römischen Carneval“83 Bahn zu brechen; die Lindpaintnerianer zischten.84 Zu der Ausfüllung des Zeitraumes zwischen Ouvertüre und Symphonie dienen erstens Lindpaintner’sche Gassenhauer mit Orchesterverstärkung durch den Löwen Pischek, oder Einzeln- und Ensemble-Gesangsstücke aus den gerade auf dem Repertoir stehenden Opern, durch die übrigen Mitglieder des Hoftheaters vorgetragen, die natürlich eben so sehr als ihr [266] Chef, die Anstrengung einer Probe möglichst zu vermeiden suchen. Sodann produciren sich in jedem Concerte stets zwei bis drei – nicht immer die hervorragenderen – Künstler der Hofcapelle auf ihren respectiven Instrumenten mit einer unendlich langen und langweiligen Rococo-Virtuosenphantasie von eigner oder Lindpaintner’scher Zusammensetzung. Unser Held sucht nämlich seine Unsterblichkeit oder Popularität möglichst nach der Dimension der Breite hin auszudehnen, da ihm diese Ausdehnung versagt ist nach der Dimension der Tiefe. – Und nun, als Krone von allem dem genannten Inhalte eines Stuttgarter Abonnementconcertes noch die haarsträubende Anordnung in der Reihenfolge der einzelnen Stücke! So folgte, um eines einzelnen Falles zu erwähnen, in einem kürzlich stattgefundenen85 Concerte in Stuttgart unmittelbar auf den Vortrag
80 Die
hier von Bülow kritisierte Aufführung fand wahrscheinlich am 9. November 1852 statt. Laut Aufführungsverzeichnis wurden von einer ungenannten Gade-Symphonie an diesem Abend sogar lediglich das Andante und das Finale gegeben. Quelle: ebd. 81 Zu Lindpaintners umfangreichem Œuvre zählen u. a. 21 Opern. 82 Beethoven, Ouvertüren zu Die Geschöpfe des Prometheus op. 43 (ED 1801), Egmont op. 84 (ED 1810/1812) und Coriolan op. 62 (ED 1808). 83 Berlioz, Le Carnaval romain (Der römische Karneval) op. 9 (ED 1844). 84 Das Konzert fand am 9. November 1852 statt. Quelle: [10.12.2017]. 85 Das hier erwähnte Konzert fand am 30. Oktober 1853 statt. Quelle: ebd.
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des Schuhmann’schen Clavierconcertes mit Orchester durch den Pianist Krüger86, der sich hierbei das Verdienst erworben hat, zum ersten Male die Veranlassung zur öffentlichen Aufführung eines Instrumentalstückes dieses bisher beharrlich von Schwaben ignorirten Meisters gegeben zu haben, unmittelbar auf den Genuß eines wirklichen Kunstwerkes, die nun doppelt schmerzliche Ohrfeige des ordinärsten Bänkelsängerliedes „das Mailüfterl“87 von Kreipl, gesungen von Frau v. Marra88. Mit der Versicherung, daß dergleichen Tactlosigkeiten nicht vereinzelt vorkommen, schließen wir unsere trotz aller Unglaublichkeit des Dargestellten ganz wahrheitsgetreue und gewissenhafte Schilderung des traurigen Zustandes, in welchem sich das einzige als solches betrachtenswerthe musikalische Kunstinstitut Stuttgarts befindet. Wir wiederholen es, wir haben hiervon die alleinzige Schuld dem bis jetzt einzig verantwortlichen Chef und Dirigenten der Kapelle beizumessen. So begränzt und gehemmt sein Wirken bei der Oper sein mag, so freie Hand besitzt Hr. Lindpaintner in den Concerten. Daß er hier seine Autorität und Macht so gar nicht in künstlerischer Weise gebraucht, vielmehr in dem entgegengesetzten Sinne missbraucht, ließe erwarten, daß er in der Oper, wäre ihm dort die Möglichkeit geboten, ebenso leicht und ungehindert seinen Willen durchsetzen, gerade so verfahren, ganz ebenso unverantwortlich hausen würde. Es ist begreiflich, welche Demoralisation, welche Lockerung aller Orchesterdisciplin, welche Vernichtung jedes übrigen Funkens von künstlerischem Geiste dieses böse Beispiel von oben her anrichten muß. Kaum wird es nöthig sein, noch hinzuzufügen, daß Hr. Lindpaintner allem neuen, Großen und Schönen in der Kunst fanatischen Haß geschworen hat. Er verabscheut aufs Gründlichste die Namen Schumann, Berlioz, Wagner, Liszt, natürlich ohne ihre Werke zu kennen und zu verstehen, und spricht diesen Abscheu unverholen und ungemildert durch jene Heuchelei, die doch immer einer der Tugend vom Laster dargebrachte indirekte Huldigung ist, aus. Was in seiner Macht steht, Alles wird er aufbieten, um die Aufführung jedes Werkes von einem „Romantiker“ oder „Zukunftsmusiker“ zu hintertreiben; kein Mittel scheuen, die „öffentliche Meinung“ gegen die Heroen der musikalischen Neuzeit aufzuhetzen. Neid und Furcht, nach Fürst Pückler „die ignobelsten Feinde des Menschengeschlechts“89, also wohl des Künstlers insbeson-
86 Wilhelm
Krüger (1820 –1883), Komponist und Württembergischer Hofpianist. 87 Joseph Kreipl (1805 –1866), „Wenn’s Mailüfterl weht“ (EZ 1853), Text: Anton Freiherr von Klesheim (vor 1846). Die Aufführungsverzeichnisse der Stuttgarter Hofkapelle für den 30. Oktober 1853 berichten jedoch nichts von der Wiedergabe des im 19. Jahrhundert sehr beliebten Kreipel’schen Liedes. 88 Marie von Marra-Vollmer, geb. von Hack (1822 –1878), deutsche Sopranistin. Nach ihrem Debüt 1843 am Hoftheater Sondershausen wirkte sie ab 1846 u. a. in Wien, Königsberg, Danzig, bevor sie ab 1849 ohne längere feste Engagements an allen bedeutenden deutschen Opernhäusern sang. Laut den Aufführungsverzeichnissen der Stuttgarter Hofkapelle war sie in der Saison 1853/1854 an das dortige Haus verpflichtet worden. 89 Im ersten Band von Hermann Fürst von Pückler-Muskaus Südöstlichem Bildersaal heißt es: „Ein englischer Doctor, der ein diätetisches Buch für die elegante Welt geschrieben hat, räth, um sich wohl zu befinden, vor allem ein gutes Gewissen an. Der Rath ist heilsam, aber ein wenig oberflächlich. Weit tiefer werden wir, glaub’ ich, die Sache fassen, wenn wir sagen: Man suche im Allgemeinen für seine Seele Zuversicht durch Liebe, und entferne, so viel man kann, die zwei ignobelsten Feinde des Menschengeschlechts: Neid und Furcht.“ (Pückler-Muskau 1840 Südöstlicher Bildersaal, S. 19).
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dere, sind beide die Mächte, welche in dem Musikleben Stuttgarts herrschen und das künstlerische Wirken bestimmen. Deshalb und vorzüglich in Ansehung der gründlichen Unverbesserlichkeit Lindpaintner’s, möge man uns auch für Stuttgart ein Catonisches „caeterum censeo“90 auszurufen erlauben. Lindpaintner ist der Haupthemmschuh für jeden höheren künstlerischen Aufschwung in der musikalischen Oeffentlichkeit Stuttgarts. Die endliche Entfernung seiner Person ist die erste Bedingung für eine Aenderung zum Guten. Möge er nach Neapel reisen und den bekannten Spruch besser erfüllen, als es z. B. Theodor Döhler91 gethan. Unsere nächste und letzte Aufgabe wird nun sein, die activ feindselige Opposition in der schwäbischen Presse zu examiniren. Die künstlerische Versunkenheit in den bestehenden Verhältnissen, die wir geschildert, indem wir namentlich den Sitz des Uebels signalisirt, ist, wenn auch sehr bezeichnenswerth als Opposition, doch mehr passiv feindseligen Charakters.
IV. [276] Am Schlusse des vorigen Artikels versprachen wir eine Schilderung des Verhaltens der schwäbischen Presse gegenüber der neuen musikalischen Bewegung und deren Koryphäen. Wollten wir uns hierbei in Einzelheiten verirren und einer gründlichen Charakteristik der papiernen süddeutschen Opposition Raum geben, deren diese gleich unwürdig und unfähig ist, so würden wir aufs Neue Gefahr laufen, mit allerlei Variationen das anfangs angeschlagene Thema von der „Intelligenz der Norddeutschen und dem Bildungsmangel der Süddeutschen“ wiederholen zu müssen. Nun wünschen wir aber nichts weniger, als daß man diesen unseren Ausspruch, den wir allerdings festhalten, dahin in mißwollendem Mißverstehen ausdehnen möge, daß wir damit den Süddeutschen ein für allemal die Fähigkeit des Genusses und der Theilnahme an den Kunstwerken der Tonmeister der neuen Zeit absprächen. Im Gegentheil, wir fänden es sehr traurig, wenn man auf die künstlerische Empfänglichkeit der Süddeutschen für Erscheinungen, denen die ewigen Eigenschaften des allgemeinen gültigen und genießbaren Kunstschönen inne wohnen, von vorn herein verzichten müßte, und sind sicher, daß es nur der Hinwegräumung gewisser unduldsamer und daher auch unduldbarer Hemmnisse bedarf, um hier freien Raum zu gewinnen zum Aufbau des Besseren und Edleren. Diese Haupthemmnisse nun resumirten und personificirten sich uns für die Orte München und Stuttgart in den Vertretern des officiellen Musiktreibens, in den HH. Hofkapellmeistern Franz Lachner
90 Im Ganzen lautet der dem römischen Staatsmann Marcus Porcius Cato Censorius (234 v. Chr.– 149 v. Chr.) zugeschriebene Ausspruch „Ceterum censeo Carthaginem esse delendam“ (lat.): Im Übrigen bin ich der Meinung, dass Karthago zerstört werden muss. Hiermit soll Cato am Ende jeder seiner Reden in den Senatssitzungen, unabhängig vom eigentlichen Gegenstand, die Zerstörung Karthagos gefordert haben, was letztlich im dritten Punischen Krieg auch geschah. 91 Theodor Döhler (1814 –1856), Komponist und Pianist, wurde als Kind deutscher Eltern in Neapel geboren und starb nach europaweiten Virtuosenreisen in Florenz. Die Redensweise, auf die Bülow hier anspielt, ist vermutlich: „Neapel sehen und sterben“.
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und Peter v. Lindpaintner. Wir haben das Unverantwortliche in der langjährigen Wirksamkeit der genannten Herren an ihren Plätzen weitläufig dargethan und die Nothwendigkeit, ja Dringlichkeit des Wunsches motivirt, die schlechten Priester der Kunst recht bald, sei es durch was immer für einen Machtspruch, außer Activität gesetzt zu sehen (um uns höflich auszudrücken). Es bleibt uns, nachdem wir die lebendige Opposition in Süddeutschland abgethan, noch übrig die papierne Opposition in Augenschein zu nehmen, die Presse. Von Riehl haben wir bei der Gelegenheit von München gesprochen; in Stuttgart dürfen wir unsere Ansprüche bei weitem nicht so hoch erheben. Die kritische Presse steht da noch im ersten Kindheitsalter. Einen namenhaften Kritiker gibt es da nicht. Die Leute, welche im Stande wären, eine Feder so zu füh-[277]ren, daß sie nicht mit jedem Federzuge ihrer allgemein menschlichen und künstlerischen Bildung ein Armuthszeugniß in bester Form ausstellen, sind zu träge oder verschmähen es eine Bürde auf sich zu nehmen, die in diesen Gegenden allerdings mit dem Ehrenamte eines ehrlichen und intelligenten Localkritikers verknüpft sein würde. So z. B. Dr. Gustav Pressel92, der den Lesern dieser Blätter durch seine sachverständigen und gediegenen Aufsätze über ungarische Musik in einem früheren Jahrgange der „Neuen Zeitschrift“ noch erinnerlich sein wird.93 Kein Wunder, daß die jämmerlichsten Scribler und literarischen Taugenichtse sich in die Kritik mit von der Tarantel der Eitelkeit gestochnen Dilettanten theilen, die, wenn auch ganz unbescholtene Staatsbürger, ehrliche Besitzer und Verwalter irgendwelcher concessionirten Functionen, bei ihrem äußerst laienhaften Kunst- und Feder-Verhältnisse einen polizeiwidrigen Mis[s]brauch von ihrer Existenz machen durch den wesentlichen Beitrag, den sie zur allgemeinen Geschmacksverseichtung und Verstandesverkrüppelung liefern. Es kann nicht unsere Sache sein, Zustände zu detailiren, die für Norddeutschland so völlig alles anderen Interesses, als dessen der Kuriosität baar sind. Wir werden uns damit begnügen, eines der bemerkenswerthesten Actenstücke theilweise an das Licht zu ziehen und auch nur deshalb, weil diese Frucht der schwäbischen Opposition, obwohl von einem literarisch anonym gebornen Autor herrührend, an einem der bekanntesten und sich des bedeutsamsten localen Einflusses erfreuenden Blatte vorfindet. Das „Centralorgan der deutschen Bühnen“94, officieller Theil von Baron v. Gall95,
92 Gustav
Pressel (1827 –1890), Komponist und Musikschriftsteller, studierte ab 1850 Musik in Wien und reiste 1852 zu Liszt nach Weimar, wo er u. a. Hans von Bülow, Jospeh Joachim und Joachim Raff kennenlernte und mit dem Weserlied auf einen Text von Franz von Dingelstedt sein bekanntestes Lied komponierte. Nach Stationen 1852 in Hannover und 1852/1853 in Leipzig unternahm Pressel eine mehrjährige Studienreise durch Italien. Anschließend hatte er eine Stelle als Musikdirektor im französischen Montbéliard inne und lebte schließlich ab 1868 als Klavierlehrer in Berlin. 93 Pressel 1852 Die Musik der Ungarn. 94 Das Blatt erschien von 1852 bis 1854 in Stuttgart. 95 Ferdinand Freiherr von Gall (1807 –1872), Jurist, war von 1842 bis 1846 Intendant der Hoftheater zu Oldenburg und Stuttgart (1846 bis 1869). Die 1846 erfolgte Gründung des Deutschen Bühnenvereins geht wesentlich auf die Initiative von Galls zurück, der zugleich auch von 1853 bis 1858 als Geschäftsführer des Vereins fungierte.
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Theaterintendant, dramaturgischer Theil von Dr. Edmund Zoller96 redigirt (Stuttgart, bei Hallberger) ist zwar unseres Wissens in Norddeutschland kaum anderswo, als etwa bei den resp. Theatercorporationen gelesen, genießt jedoch in Süddeutschland überhaupt eine zahlreichere Verbreitung und gilt am Orte des Erscheinens recht eigentlich als officieller Moniteur des Hoftheaters. Besagtes Organ des deutschen Bühnen-Centrum’s hat schon zu verschiedenen Malen seine Leser benachrichtigt, wie auffällig es dem Doppeldichter 97 gesinnt sei, der es wagte, den famosen Musikmaschinisten, den amor et deliciae generis98 – des genus der Hoftheaterintendanten, in seinem privilegirten Gewerbe zu stören und durch seine bloße Erscheinung schon den Anfang zu jener Säuberung des Kunsttempels zu machen, deren Ende nicht mehr so sehr lange zu erwarten sein wird. Die früheren Gefühlsäußerungen der Mitarbeiter an dieser Zeitschrift waren bisher nicht geeignet, eine Beachtung, noch weniger eine Polemik in Anspruch zu nehmen. Niemand dieser Leute hatte sich bisher zu der Mühe entschwäbelt, sich aus einer gründlichen Kenntnißnahme einen Begriff von den Gegenständen ihrer Invectiven zu bilden. Die allgemeine Tannhäuserepidemie99, welche auf einmal sämmtliche deutsche Theater ergriffen, hat nun plötzlich Quantität und Qualität ihres Oppositionseifers vervielfältigt. Um des Himmelswillen nur den eignen Theaterheerd vor der Ansteckung bewahren, – war das Losungswort. Die von allen Seiten her gleich thätige Agitation gegen die mögliche Aufführung einer Wagner’schen Oper auf der Stuttgarter, oder einer der benachbarten Hofbühnen, packte natürlich auch die disponible Presse als Präservativ-Mittel gegen die gefürchtete Grenzüberschreitung der Propaganda. Ein während der Monate Juli und August dieses Jahres durch mehrere Nummern des erwähnten Blattes sich hindurchwindender größerer Aufsatz „Epistel an die Tann- und Tollhäusler“100 von Fr. Hamma ist die aus gefrornem Oppositionswasser zusammengeballte Vertheidigungslawine, welche man uns vom schwäbischen Gebirge her auf die Köpfe zu rollen versucht. Dieses relativ beachtenswertheste Produkt der süddeutschen Oppositionspresse, zugleich charakteristisch für das neueste Stadium resp. Delirium derselben, soll in dem genannten Hrn. Hamma einen ebenso harm- als namenlosen Gesanglehrer Stuttgarts zum Verfasser haben. Wir bezeichneten es als das beachtenswertheste und zwar darum, weil wir uns von seiner Wirkung auf die schwäbischen Leser genugsam überzeugt haben, deren Hirne es mit den unsinnigsten und verkehrtesten Vorstellungen von den „Kunstwerken der
96 Edmund
von Zoller (1822 –1902), deutscher Publizist und Bibliothekar. Nach seinem Philosophiestudium, welches er 1846 beendete, wirkte Zoller in Stuttgart als Journalist und gründete dort 1852 das Central-Organ für die deutschen Bühnen. In den Jahren von 1859 bis 1867 sowie von 1881 bis 1885 leitete er die ebenfalls von ihm mitgegründete Zeitschrift Über Land und Meer, bevor er von 1885 bis 1899 als Leiter der königlichen Hofbibliothek in Stuttgart tätig war. 97 Hiermit ist Richard Wagner gemeint. 98 (Lat.) Liebe und Wonne des Geschlechtes; im Sinne von: der geliebte Gegenstand, der Liebling. Eigentlich: „Amor et deliciae generis humani“ (Sueton, Vita divi Titi I, 1). 99 Nach dem Erfolg der Tannhäuser-Aufführungen in Weimar gelangte die Oper 1852 zunächst in Schwerin, Breslau und Wiesbaden sowie im darauffolgenden Jahr in zahlreichen weiteren deutschen Städten auf die Bühne (vgl. Kirchmeyer 1993 Robert Schumanns Düsseldorfer Brahms-Aufsatz, S. 86 – 88 sowie die Auflistung in: Wagner-Briefe 5, S. 42 – 44). 100 Hamma 1853 Epistel an die Tann- und Tollhäusler.
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Zukunft“ erfüllt und das erwachende Heranreifen eines energischen Verlangens nach endlicher Vorführung dieser musikalischen Dramen von dem Vorstande des officiellen Institutes im Keime erstickt hat. Eine Polemik dagegen ist aus den einleuchtendsten, in dem Folgenden sich von selbst ergebenden Motiven vollkommen überflüssig und nicht einmal ausführbar. Nur die Donquixote-Natur eines deutschen Professors wäre im Stande, mit wirklichem Ernste und bona fide eine Akademie von Kretin’s101 belehren zu wollen, wie sehr sie Unrecht hätten, Kretin’s zu sein und ihnen die Bahn vorzuschreiben, auf welcher sie zur Vermenschlichung gelangen könnten. Wir müssen uns damit begnügen, unseren „Freund“, denn unser Gegner ist er wahrlich nicht, sich selbst schildern zu lassen. Somit geben wir auf das Geradewohl seinem Aufsatze entnommene Auszüge in Bruchstücken. Die dramatische Dichtung des „Tannhäuser“ wird den Lesern des Centralorgans folgendermaßen erzählt: [278] „Tannhäuser kann die rosige Beleuchtung des Hörselberges nicht mehr ertragen und die Küsse der Frau Venus – ihr Mann ist wahrscheinlich unterdessen auf der Leipziger Messe – sind ihm zuwider, er hat das Lumpenleben satt, und möchte weiter ziehen.“ „Frau Venus ist darob sehr betrübt und kann nicht begreifen, daß der Geliebte par tout fort will, da er doch so gut unterhalten ist; sie muntert ihn auf ‚mit angsterfülltem Herzen‘ (mit welchen Instrumente wird wohl dies ausgedrückt?) seinem bisherigen Glücke treu zu bleiben. Tannhäuser findet zwar, daß es bei Frau Venus, wo er Kost und Logis gratis hat, ganz angenehm zu leben ist, allein er möchte auch wieder einmal zu den Menschenkindern, um so mehr, weil er Frau Venus doch nicht heirathen kann.“102 – „Ein Hirtenknabe wird von dem Dichter an den Haaren auf die Bühne gezogen, er singt und bläst aus Langeweile, weil er sonst nichts zu thun hat. Pilger treten auf – sie wallfahren nach Rom um sich Absolution zu holen. Zu bemerken ist noch, daß der ungezogene Hirtenjunge die Frechheit hat, den Pilgern in ihren Gesang nicht gerade zu pfeifen, aber zu blasen, und daß man keine Ochsen auf der Bühne sieht, welche Wagner hinter die Coulissen placirt. – Tannhäuser, welcher ein sehr weiches Herz hat, auch musikalischer scheint als der Hirtenbub, wird durch den Gesang der Pilger so gerührt wie ein Brei – er weint.“103 –
dem Frz.) unfähiger Dummkopf, Idiot. 102 Hamma 1853 Epistel an die Tann- und Tollhäusler, S. 243. Außer von Bülow korrigierter Kommasetzung und gelegentlichen Hervorhebung Hammas, wortgetreu zitiert. 103 Ebd. Die beiden folgenden Stellen sind ausgelassen: „[…] sich Absolution zu holen. – Sie singen, und damit ist der Beweis geliefert, daß es schon zu Tannhäusers Zeiten musikalische Sünder gab, welche Absolution sehr nöthig hatten. Zu bemerken ist noch […]; Tannhäuser, welcher ein weiches Herz und viel Gefühl hat, auch musikalischer […]“. 101 (Aus
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„Elisabeth tritt auf und singt in der reich geschmückten Sängerhalle, woraus man gleich hört, daß sie verliebter Natur, aber fromm ist.“104 – „Nun singen Beide zusammen, aber natürlich kein Duett sondern einen Zwiegesang. (Die Tannhäuserischen zählen wie es scheint so: iens, zwie, drie). Darauf kommt ein Sängerfest – wie es da zugeht, weiß Jedermann; nachdem die Vorbereitungen in Um-, Ab-, Auf-, Her- und Hinzügen vorbei sind, ist Wettsingen, wobei es, wie man gleich Anfangs merken kann, auf Spektakel abgesehen ist. Am Schlusse desselben ist Tannhäuser so takt- und charakterlos, in Gegenwart seiner kaum angesungenen Elisabeth, die genossenen Freuden des Hörselberges zu preisen und damit zu prahlen, daß er einige Zeit Gast bei Ihro diabolischen Hoheit gewesen ist.“105 – „Nachdem sich der Herr von Tannhausen gründlich blamirt hat, wird es ihm fast übel – er legt sich auf den Boden und schämt sich? o! nein! er declamirt bald wieder ganz wie gewöhnlich, will aber doch wieder Buße thun.“106 – „Als Intermezzo läßt uns Hr. Wagner auch noch einen Abendstern sehen, welches eigentlich unnöthig ist, da die Prophetensonne107 noch am Himmel steht, mit welchem Himmelskörper ich für meinen Theil auf lange genug gehabt hätte.“108 – „Die heilige Elisabeth muß nun sterben, damit man auch noch einen Trauerzug zu sehen bekommt.“109 – „Interessanter würde es sein, wenn nach dem Trauerzuge, oder auch zu größeren Spannung vor demselben, Herr Venus käme, um den Tannhäuser aus Eifersucht zum Zweikampf zu fordern!“110 – „Der Schluß des Ganzen ist übrigens dennoch pikant. Tannhäuser sinkt an der Leiche seiner Geliebten Nr. 2, welche aus Gram über seine Liederlichkeit gestorben ist, nieder und hat die Ehre, welche wohl vor und nach ihm Keinem widerfahren ist, derselben nachzurufen: Heilige Elisabeth, bitt’ für mich! – Erlauben Sie, Hr. Wagner, Sie haben von einer Heiligen kuriose Begriffe – so giebts noch viele unglückliche fromme Lieberhaberinnen, wenn die alle heilig gesprochen würden, da kämen wir zuletzt auf jeden Tag drei Dutzend, und wir Beide hätten auch noch Hoffnung in den Kalender zu kommen.“111 –
104 Ebd 105 Ebd., S. 243 f. 106 Ebd., S. 244. 107 Anspielung auf Meyerbeers Oper Le Prophète (UA 1849). 108 Hamma 1853 Epistel an die Tann- und Tollhäusler, S. 244. 109 Ebd. 110 Ebd. 111 Ebd., S. 244 f.
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Dieses Proben von dem „Verständniß“ und der „Würdigung“, die Wagner’s Dichtungen im Schwabenlande widerfährt. Es sind nicht die stärksten, doch charakteristisch genug, um uns Norddeutschen einen bleichen, aber hinreichenden Begriff von der Empfänglichkeit für Poesie zu geben, die gegenwärtig im Vaterlande der Schiller, Uhland, Schwab112, Pfitzer113, Kerner114, u. s. w. zu finden ist. Wir würden übrigens, bei einer einzelnen Erscheinung von „Würdiger“ nicht so lange verweilen, wenn dieselbe nicht generelle Bedeutung hätte. Ganz die nämliche Auffassungs- und Darstellungsweise herrscht jedoch in allen übrigen Expectorationen der schwäbischen Presse, zu denen sich diese „den Neuromantikern“ und „Zukunftsmusikern“ gegenüber gedrängt fühlt. Wir haben uns persönlich davon überzeugt und können versichern, daß die Bruch-[279]stücke, die wir hier mitgetheilt haben, im Verhältniß zu anderen Producten der „süddeutschen Opposition“ sich durch scharfsinnigen und geistvollen Gedankengang, sowie durch Correctheit und Eleganz der Schreibweise vortheilhaft auszeichnen. Dieser Umstand, der unsere in der Einleitung ausgesprochene, in ihrer Rücksichtslosigkeit manchem Leser vielleicht zu schroff erschienene Behauptung (von der traurigen Verwahrlostheit allgemein künstlerischer Bildung in Schwaben) leider nur in allzuhohem Grade rechtfertigt, ist es namentlich, der uns Veranlassung bietet, dem Auge des Lesers ein so detailirtes Autodaguerreotyp115 der Intelligenz eines „süddeutschen Opponenten“ vorzuführen, das wir weiter dadurch vervollständigen wollen, daß wir auch einige Proben seiner specifisch musikalischen Kritik (Tannhäuser) vorlegen, wo der Autor sich, als zur Kunst gehörig, noch urtheilsfähiger, noch ungenirter bewegen zu können glaubt. Wie man sehen wird, hält sich die musikalische mit der vorangegangenen dramaturgischen Kritik auf gleicher Höhe der Anschauung, in gleichem Adel der Empfindung und des Ausdrucks. – „Man mag übrigens die Sache beurtheilen wie man will, so wird man zugeben müssen, daß der Stoff des Drama’s aus der Vergangenheit genommen ist. Es wäre daher wünschenswerth gewesen, wenn auch die Musik schon um des ‚inneren innigen Zusammenhangs willen‘ das Gepräge der Vergangenheit an sich trüge, man hätte dann an ihr etwas Positives, Haltbares, d. h. Verständliches, so aber ist Alles nebelgrau und verworren wie die Zukunft.“116 –
112 Gustav
Benjamin Schwab (1792 –1850), deutscher Pfarrer, Gymnasialprofessor und Schriftsteller, der zur Schwäbischen Dichterschule gerechnet wird und vor allem durch Die schönsten Sagen des klassischen Alterthums. Nach seinen Dichtern und Erzählern (ED 1838 –1840) große Verbreitung fand. 113 Gustav Pfizer (1807 –1890), deutscher Autor und Übersetzer, vor allem für seine Übertragungen der Werke Lord Byrons bekannt. 114 Justinus Kerner (1786 –1862), deutscher Dichter, Arzt und medizinischer Schriftsteller. 115 Im übertragenen Sinne: Selbstbildnis. Eine Daguerreotypie ist eine unter Verwendung einer Metallplatte hergestellte Fotografie. 116 Hamma 1853 Epistel an die Tann- und Tollhäusler, S. 259.
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„Die nach Rom wallfahrenden Pilger singen einen puritanischen Choral, was ein Verstoß, ein Anachronismus ist, der selbst einem Wenzel Müller117 nicht verziehen werden dürfte.“118 – „Eine auffallende widernatürliche Ungeschicklichkeit ist es jedenfalls, daß der Decorationshirtenknabe gerade die Zwischenspiele des Chorals bläst.“119 – „Die Venusbergmelodie, welche hübsche Motive zu einem Cavalleriemarsch enthält, ist weder über- noch unterirdisch. Eine Galoppade von Labitzki120 spricht mehr sinnliche Leidenschaft, ungestüme Begehrlichkeit und frivole Lust aus, als diese Kaffeemühlen- und Theekannenmusik.“121 – „Kurz[,] von den beiden sich begegnenden Principien der sinnlichen und der keuschen reinen Liebe, ist in der Musik zum Tannhäuser nichts zu finden.“122 – „Wagner verlangt vom Orchester sehr Vieles, vom Darsteller ebenfalls, – den Gesang aber, den seine Frauen brauchen, können sie in der Nähschule lernen.“123 Hierbei möge es sein Bewenden haben. Es giebt eine Grenze, wo das Scurrile aufhört, ergötzlich zu sein; wir fürchten in dem Mitgetheilten diese Grenze, die des ästhetischen Ekels, bereits überschritten zu haben und brechen daher ab. Die Mit theilung dieser rhapsodischen Fragmente selbst aber schien uns nothwendig, und wird die Absicht, unsere schroffen und schonungslosen Aussprüche über das Oppositionswesen Süddeutschlands zu rechtfertigen, erschöpfender zum Ziele führen, als es jedes Nachwort hinterdrein zu thun vermöchte. Nun hatten wir allerdings neben dem, gewissermaßen culturgeschichtlichen, Zwecke, noch einen zweiten, ziemlich wesentlichen Nebenzweck im Auge, den wir heute nur andeuten können, obgleich er sehr einfach ist. Es handelt sich darum, eine Anzahl Namen die wir noch nicht ganz beisammen haben, dem Gericht der Oeffentlichkeit zu übergeben. Der unsterbliche Verfasser der vielerwähnten Artikel (in welchem zum Schlusse eine lange Merkuriale124 in dem höheren „groben Briefstyle“
117 Wenzel
Müller (1767 –1835), Komponist und Kapellmeister, hat vor allem volkstümliche Bühnenwerke und Singspiele geschaffen, darunter zahlreiche Vertreter der sogenannten Wiener Kasperl- und Zauberoper. 118 Hamma 1853 Epistel an die Tann- und Tollhäusler, S. 259. 119 Ebd. 120 Josef Labitzky (1802 –1881), Dirigent und Komponist, wurde aufgrund seiner über 300 Tanzkompositionen von der zeitgenössische Kritik als „böhmischer Walzerkönig“ an die Seite von Joseph Lanner und Johann Strauß (Vater) gestellt. 121 Hamma 1853 Epistel an die Tann- und Tollhäusler, S. 259. 122 Ebd. 123 Ebd., S. 265. 124 Merkuriale war ursprünglich eine Rede im Pariser Parlament, in der Missbräuche gerügt wurden, und meint daher im übertragenen Sinn einen Verweis oder eine Maßregelung (vgl. Schweizer 1811 „Merkuriale“).
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an die HH. Julius Schäffer125 in Berlin und Louis Köhler126 in Königsberg ergehen, worauf wir die geehrten Betroffenen, da sie es sonst kaum erfahren dürften, aufmerksam machen) rühmt sich im Stuttgarter Centralorgan sehr laut der zahlreichen Anerkennungs- und Danksagungsschreiben, welche ihm von Seiten der namhaftesten deutschen Intendanten und Kapellmeister für die durch seine Artikel „gegen“ Wagner und seine Apostel und Freunde erworbenen Verdienste zu Theil geworden sind. Wir werden, wenn wir nichts Besseres einmal zu thun haben, sobald unser Katalog fertig ist, die Namen dieser edlen Herren veröffentlichen, da dieselben durch ihre beifallklatschende Freude an solchen unwürdigen Angriffen hinlänglich gezeigt, daß sie keine Rücksicht verdienen. Oder hätten wir gar mit einigen der vornehmlichsten Persönlichkeiten bereits hier den Anfang gemacht? Wie dem auch sei, für heute nehmen wir Abschied von unseren Schützlingen, jedoch unter Vorbehalt eines ihnen unvermeidlichen Wiedersehns. Peltast.
Kommentar Anders als der positiv aufgenommene Erstversuch in Ballenstedt 1852127 war das Karlsruher Musikfest im Oktober 1853 durch die örtlichen Gegebenheiten geprägt. Karlsruhe war nicht nur eine ungleich größere Stadt als das am Harzrand gelegene Örtchen Ballenstedt, sondern verfügte u. a. durch die qualitativ hochkarätige Hofkappelle auch über ein traditionsreiches Musikleben, dessen Prägung mit bekannten Persönlichkeiten in Verbindung stand. Es sind
125 Julius Schaeffer (1823 –1902), Komponist und Musikschriftsteller, wirkte von 1855 bis 1860 als Musikdirektor in Schwerin, ab 1860 bis zu seinem Tod als Universitätsmusikdirektor in Breslau. Er verfasste zahlreiche Aufsätze u. a. in der Neuen Berliner Musikzeitung (siehe Schaeffer 1852 Über Richard Wagner’s Lohengrin, in: NdS 1 Nr. 31 sowie Schaeffer 1852 Über „Lohengrin“ von Richard Wagner) sowie in der NZfM (siehe etwa Schaeffer 1849 Romantik in der Musik. I.; Schaeffer 1850 Romantik in der Musik. II. Das historische Auftreten der Musik sowie Schaeffer 1850 Romantik in der Musik. III. Die musikalische Kritik). 126 Louis Köhler (1820 –1886), Pianist, Komponist und Musikschriftsteller, war ab 1844 Mitarbeiter der Signale sowie ab 1849 der Hartungschen Zeitung in Königsberg und schrieb daneben ab 1852 u. a. regelmäßig in der NZfM sowie der Neuen Berliner Musikzeitung. Neben Kritiken verfasste Köhler größere Abhandlungen, etwa seine durch Wagners Ausführungen in Oper und Drama angeregte Schrift Die Melodie der Sprache in ihrer Anwendung besonders auf das Lied und die Oper (ED 1853), die ihn als Vertreter der ‚Zukunftsmusik‘ auswiesen. Nicht zuletzt auf seine Anregung geht die Gründung des ADMV im Jahr 1861 zurück. 127 Siehe dazu Brendel 1852 Das Musikfest zu Ballenstedt; Anonym 1852 Das Musikfest zu Ballenstedt, in: NdS 1 Nr. 34; G. N. 1852 Musikfest in Ballenstedt am Harze; Anonym 1852 Musikfest in Ballenstedt; K. – l. 1852 Das Ballenstädter Musikfest; A. Z. 1852 The Musical Festival at Ballenstedt.
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diese Gegebenheiten, auf die Hans von Bülow im vorliegenden Artikel – wenngleich indirekt – auf infame Weise rekurriert. Ohne einen expliziten Bezug zum Karlsruher Ereignis aufzuweisen, ist der vorliegende Artikel dennoch als Nacharbeit zu verstehen, den nicht erreichten Zielen des Musikfests durch eine polemische Schuldzuweisung Aus- und insbesondere Nachdruck zu verleihen. Überraschend ist die von Bülow hier akzentuierte politische Perspektive: Die eingangs thematisierten tiefgreifenden Differenzen über die Kunst der Gegenwart werden von ihm als ein Teilphänomen der ungelösten deutschen Frage interpretiert. Das Musikfest in Karlsruhe darf als bewusst inszenierte Aktion verstanden werden, sowohl „der neuesten Musikrichtung Bahn in Süddeutschland zu brechen“128 als auch einen modernen Kontrapunkt zu den weit verbreiteten, „traditionellen Musikfesten mit ihren überaus konservativen Konzertprogrammen“ zu setzen, die „sich während Jahrzehnten sehr erfolgreich allen Forderungen, progressive, zeitgenössische Musik aufzuführen“129, widersetzt hatten. Neben organisatorischen Schwierigkeiten war der allgemeine Erfolg in Karlsruhe mit den Erwartungen, die an dieses missionarische Musikfest gelegt worden waren, nicht deckungsgleich, insbesondere hinsichtlich der musikalischen Leitung Liszts.130 Auf das Fiasko des Karlsruher Musikfests hat u. a. Ludwig Bischoff noch Jahre später wiederholt hingewiesen: „[…] man schritt hier und da zur That und machte mit großem Aufgebot von litterarischen [sic] Hebelkräften und bündlerischem Triebwerk den Versuch zu einem funkelnagelneuen Musikfeste, das der zeit- und schaumgeborenen Göttin des Fortschrittes Bahn brechen sollte. Allein, das Publicum, dieser oft sehr unbequeme und schwer zu erziehende Gesammtmensch, rieb sich die Augen und sah, daß es nichts damit war.“131 Wenngleich Bülow umfangreiche Passagen eines Wagner-kritischen Artikels aus dem in Stuttgart erschienenen Central-Organ für die deutschen Bühnen zitiert, um eine süddeutsche Opposition als real bestehend zu stilisieren, kann man von einer einheitlich institutionalisierten publizistischen Opposition kaum sprechen. Dennoch blieb das Karlsruher Musikfest nicht ohne negativen Widerhall, der sich beispielsweise in kritischen Berichten über die Programmauswahl und nicht zuletzt das Dirigat Liszts zeigte.132 Aufsätze süddeutscher Provenienz, die Richard Pohl als offizieller Berichterstatter für die NZfM minutiös zu entschärfen bemüht war,133 entstammen u. a. der Augsburger Allgemeinen Zeitung134, dem Schwäbischen Merkur135 oder der in Mainz erschienenen Didaskalia136. Dergleichen Berichte wie auch der Umstand, dass vor allem die Werke Liszts und Wagners bis dahin in Süddeutschland kaum
1853 Das Musikfest in Karlsruhe, S. 339. 129 Beide Zitate des Satzes Weibel 2006 Die deutschen Musikfeste, S. 517. 130 Liszt musste sowohl die Tannhäuser-Ouvertüre als auch das Finale der 9. Symphonie nach wenigen Takten abbrechen und von neuem beginnen. Siehe dazu Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, S. 213, in: NdS 1 Nr. 51, S. 545; Pohl gibt einem Fagottisten die Schuld, der sich verzählt habe: „Die Unzuverlässigkeit des Carlsruher Fagottisten war ein Unglück, aber kein Fehler des Dirigenten“ (ebd.). 131 Bischoff, L. [Ludwig]: „Das dreiundreißigste niederrheinische Musikfest“, in: Kölnische Zeitung (1855), Nr. 152, [S. 1], zit. nach Weibel 2006 Die deutschen Musikfeste, S. 544. 132 Etwa H. 1853 Das karlsruher Musikfest, in: NdS 1 Nr. 50; Anonym 1853 Das Karlsruher Musikfest; Anonym 1853a Musik; Anonym 1853 Karlsruhe den 8. Oktober. 133 Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, S. 212, in: NdS 1 Nr. 51, S. 544. 134 Anonym 1853 Karlsruhe. 135 Anonym [Ω] 1853 Das Karlsruher Musikfest, S. 1682 f. 136 Anonym 1853 Das Karlsruher Musik- und Volksfest. Die Didaskalia ist von 1831 bis 1930 nachweisbar und diente als Unterhaltungsblatt des renommierten Frankfurter Journals. 128 A. Z.
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gespielt worden waren, beförderten sicherlich Bülows Affront gegen eine generelle Opposition Süddeutschlands, was gleichbedeutend mit Gegnern der ‚Zukunftsmusik‘ sei. Sogar in der Neuen Wiener Musik-Zeitung wurde eine Stimme laut, die sich dafür starkmachte, dass „ein so einflußreiches Musikfest“ eigentlich dazu dienen sollte, der im Norden Deutschlands grassierenden „Tannhäuser-Manie“ durch die Aufführung „wahrer deutsche[r] Musik“ Einhalt zu gebieten. So sei aber die Chance, „eine Gränzsperre gegen die ansteckende Verbreitung einer musikalischen Koterie zu errichten“, vertan worden.137 Es ist auffallend, dass Bülow hier Schumann in einen kompositorischen Zusammenhang mit Berlioz, Wagner und Liszt stellt,138 obwohl beispielsweise Brendel Schumann bereits seit 1850 in seine Überlegungen zu einer neuen Musikästhetik nicht mehr mit einbezogen hatte.139 Dies könnte eine Folge von Schumanns Brahms-Aufsatz sein, der fünf Wochen zuvor in der NZfM veröffentlicht worden war140 und den Bülow – entgegen der Intention des Autors – möglicherweise als ein Bekenntnis Schumanns zu Brendel und seinem Kreis aufgefasst hatte. Eine andere Erklärung für die Eingliederung Schumanns in die Reihe fortschrittlicher Komponisten wäre, dass Bülow in seinem Text nicht nur die Perspektive Liszts, sondern auch die seiner Gegner wiedergibt, die Schumann relativ lange zur progressiven Seite zählten.141 Die Schärfe der Polemik, mit der Bülow die Kapellmeister Franz Lachner und Peter Joseph von Lindpaintner vorführt, spiegelt sich bereits in seinem kriegerischen Pseudonym „Peltast“ wider – die Bezeichnung einer bewaffneten Fußtruppe im antiken Griechenland –, wodurch er sich den mit „Hoplit“ gezeichneten „Briefen aus Carlsruhe“142 von Richard Pohl in Ton und Gesinnung angliedert. Die missionarische und kämpferische Stoßrichtung Bülows ist bereits in einem Brief an Pohl vom September 1853 bezeugt: „Man muß den Karlsruhern ein wenig aufs Fell rücken, d. h. auf eine insinuante i.e. Pohlische Weise. Die hiesigen Sonderkünstler, specifischen Musiker erfreuen sich noch einer so paradiesischen Simplicität, einer so keuschen Unberührtheit von neunter Symphonie, Tannhäuser u. s. w., daß es ihnen sehr Noth thut, von den nicht specifischen Musikern über diese specifische Musik belehrt zu werden.“143 Entsprechend polemisch konterte kurz darauf die Niederrheinische MusikZeitung auf den vorliegenden Angriff Bülows.144 Nicht zuletzt meldete Liszt selbst sich zu Wort, in Form eines Briefs, der im Anschluss des vorletzten Teils des vorliegenden Artikels in der NZfM und zwei Wochen später im Berliner Echo abgedruckt wurde und mit folgenden Worten in für Liszt ungewöhnlich kämpferischem Ton schließt: „Nehmen wir also den FehdeHandschuh, welcher uns in Gestalt von Schlafmützen hingeworfen wurde, ohne Unruhe und Sorge auf, und beharren wir im Bewußtsein unseres guten Rechtes – und unserer Zukunft. – –“145
1853 Karlsruhe den 8. Oktober, S. 176. 138 Siehe etwa vorliegender Artikel, S. 584 [266]. 139 Siehe Brendel 1850 Genoveva. 140 Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49. 141 Siehe beispielsweise Chorley 1853 Schumann and Wagner, in: NdS 1 Nr. 40; Anonym 1853 Franz Liszt, in: NdS 1 Nr. 48. 142 Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe. Dazu siehe auch den Kommentar zu Cornelius 1854 Eine Kunstfahrt nach Leipzig, in: NdS 1 Nr. 56. 143 In: Bülow-Briefe 2, S. 87 f. 144 J. B. 1854 Die Opposition Süddeutschlands, in: NdS 1 Nr. 60. Vgl. auch Weibel 2006 Die deutschen Musikfeste, S. 542 – 544. 145 Liszt 1853 Ein Brief von Franz Liszt, S. 268 sowie Liszt 1853 Das Karlsruher Musikfest, S. 403. Dieser Brief Liszts fand ebenfalls Aufnahme in die Broschüre Pohl 1853 Das Karlsruher Musikfest. 137 Anonym
Bülow 1853 Die Opposition in Süddeutschland
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Auch die persönliche Situation Bülows als Pianist kann Aufschluss über die Heftigkeit des Artikels geben. So hatte er Liszt seine aktive Teilnahme am Karlsruher Musikfest zugesagt, obwohl nur kurz zuvor, am 16. September 1853, sein Vater Eduard von Bülow verstorben war. Bülow spielte Liszts Fantasie über Motive aus Beethovens „Die Ruinen von Athen“ für Klavier und Orchester am 5. Oktober unter dem Dirigat von Liszt. Die Karlsruher Festlichkeiten bedeuteten für Bülow außerdem eine Wiedervereinigung mit seinen früheren Weimarer Freunden, Cornelius, Joachim und Pruckner. Während das Fest für Liszt eher gemischte Folgen hatte,146 sah Bülow durch den Erfolg seiner Wiedergabe der Liszt-Fantasie in Karlsruhe den Beginn seines Ruhms in Deutschland.147 Es ist möglicherweis diese Diskrepanz, die den Liszt-Verehrer und ‚partei-gläubigen‘ Bülow zu einem derartigen Frontalangriff bewegt haben mag. Durch den Karlsruher Misserfolg gibt sich einerseits die maßlose Selbstüberzeugung wie auch der grenzenlose Idealismus für die gemeinsame Sache des Weimarer Kreises zu erkennen, andererseits macht der vorliegende Artikel ebenso sichtbar, dass Bülow – trotz seines persönlichen Erfolgs – nahezu jedes Mittel publizistischer Kriegsführung nutzte, um als Herold seines Meisters zu dienen. Eine Eigenschaft Bülows, die wiederum in Form persönlicher Angriffe gegenüber Lachner schließlich 1864 wesentlich dazu beitragen sollte, Lachner dessen Posten als Münchner Generalmusikdirektor zugunsten Wagners streitig zu machen.
146 Die Leistung Liszts beim Karlsruher Musikfest wurde nicht nur von dessen Gegnern moniert. In einem Brief Joachim Raffs heißt es: „Ich bin in Desparation über die ganze Geschichte. Das Resultat davon ist, daß die Richtung die Liszt so liederlich vertreten hat, nun allgemein angefeindet und zurückgedrängt wird. […] Denn wie kann man vom Publicum das plötzliche Verständniß einer wildfremden Richtung verlangen, wenn man das Orchester noch nicht einmal zu diesem Verständniß gebracht hat? – Man kann ein Jahr arbeiten zum mindesten, bis man den üblen Eindruck der jetzt gemacht ist, einigermaßen wieder verwischt hat. Das wurmt mir […]. Jedenfalls will ich indeß meiner billigen Entrüstung Luft machen, sobald ich Liszt sehe“ (Brief von Joachim Raff an Doris Genast, Weimar, den 5. bis 9. Oktober 1853 [unpaginiert, 14 S.] Quelle: Autograph, Bayerische Staatsbibliothek. Handschriftenabteilung – Raffiana II. Bislang nicht katalogisierte Briefe, hier: S. 12). 147 So schrieb Bülow in einem Brief an seine Mutter vom 12. Oktober 1853: „Mein Erfolg war bedeutend; überhaupt bin ich fast erstaunt, jetzt so viel von mir geschrieben zu lesen und Prädikate wie ‚genial‘ in den Zeitungen, wie die ‚Illustrirte‘, an mich verschwendet zu sehen“ (in: Bülow-Briefe 2, S. 100); siehe dazu auch Walker 2010 Hans von Bülow, S. 71.
Nr. 55 | Anonym [Otto Jahn], „Hector Berlioz in Leipzig“, in: Die Grenzboten 12 (1853), 4. Quartal, [Nr. 52], S. 481– 492.
Hector Berlioz in Leipzig.
„Wenn ich Musik von Mozart höre“, sagt H. Berlioz im Journal des Débats, „so drückt mich immer ein kleiner Alp, wenn ich aber Musik von Haydn höre, so drückt mich immer ein großer Alp.“1 Das Uebelbefinden, welches den Zuhörer der Musik von Berlioz befällt, hat noch keinen Namen erhalten, ausbleiben wird es sicherlich nicht. In der That, da das, was in der Musik jener Meister uns gewöhnliche Menschen entzückt, – Schönheit, Wohllaut, Klarheit, welche auf der inneren Harmonie dessen was sie gewollt, und der Mittel, durch die sie es erreicht haben, beruhen, – Berlioz so unangenehm berührt, so kann es kaum anders sein, als daß das unausgesetzte Zerwürfnis zwischen Wollen und Können in seiner Musik, die beständige Verschwendung eines prätentiösen Apparats äußerer Mittel bei innerlicher Dürftigkeit, im Zuhörer eine Verstimmung erregen, die je nach Umständen und Temperament mehr in Unwillen oder in Heiterkeit sich auflösen kann, aber jedenfalls einen starken Beisatz der langen Weile haben wird, welche Berlioz höflich genug nur medicinisch benennt. Fragen wir etwas genauer nach, worauf beruht denn die Größe jener Meister? Vor allem und wesentlich darauf, daß sie nicht blos künstlerische, sondern musikalisch-künstlerische Naturen sind, und wie der Dichter poetisch, der Maler malerisch empfindet, ebenso unmittelbar musikalisch empfinden und aus dieser ursprünglich musikalischen Anregung erfinden und schaffen. Sodann ist ihnen diese Anlage künstlerisch entwickelt und ausgebildet, so daß die in der Natur und dem Wesen ihrer Kunst begründeten Gesetze für sie nicht lästige Schranken sind, die man um jeden Preis durchbrechen und überspringen müsse, sondern die nothwendigen Bedingungen künstlerischer Gestaltung; und diese auf der Durchdringung künstlerischer Begabung und Bildung beruhende Freiheit des künstlerischen Schaffens ist wesentlich verschieden von der Geschicklichkeit, hergebrachte Formen zu handhaben, welche nur am Handwerker oder am Schüler zu loben ist, und die manche Kritiker wohlwollend genug sind, jenen Meistern noch zuzugestehen. Indessen den geschickten Handwerker muss man achten und aus dem Schüler kann ein Meister
Zitat erscheint erstmals in der Niederrheinischen: „Berlioz, der in langer Diatribe (Journ. d. Débats 1841) sagen konnte: ‚Höre ich Musik von Mozart, so drückt mich immer ein kleiner Alp (Cauchemar), höre ich aber Musik von Haydn, so drückt mich ein großer Alp‘“(Anonym 1853 H. Berlioz in Frankfurt, S. 75). Vor Jahn wird es auch in der Neuen Wiener Musik-Zeitung aufgegriffen (H – l. 1853 Musikalische Charakteristiken). Dieses Zitat ist mutmaßlich fingiert, denn in seinen Artikeln für das Journal des Débats äußerte sich Berlioz nicht in dieser Art. 1 Das
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werden, [482] allein wenn jemand mit der Prätension eines vollendeten Künstlers auftritt, dem es am Ersten und Besten fehlt, so ist es Pflicht, ihm die volle Wahrheit ohne Rückhalt zu sagen. Berlioz ist aber wirklich der vollständige Gegensatz jener Meister die ihn langweilen, und vor Allem durch seinen Mangel übersprünglich musikalischer Productionskraft. Er ist ein geistreicher, ein gebildeter Mann, das weiß jeder, der nur eins seiner Feuilletons gelesen hat, so gut als er selbst es weiß, er hat auch über Musik treffende Gedanken und Einfälle, aber von da ist es noch weit zum musikalischen Schaffen. Dieses ist bei ihm nicht ursprünglich und unmittelbar, sondern stets secundär. Er hat die bewusste Absicht, seiner Musik einen bestimmten gedankenmäßigen Inhalt zu geben, erst wenn er diesen durch Reflexion vollständig präparirt hat, sucht er den musikalischen Ausdruck dafür; seine Intentionen sind vollkommen selbstständig ausgebildet, ehe sie eine musikalische Gestalt bekommen; er schafft also nicht Musik als solche, aus einer inneren Nothwendigkeit, sondern er setzt seine Gedanken und Einfälle, anstatt sie zu einer Novelle oder einem Feuilletonartikel zu verarbeiten, nachträglich in Musik. Die Aufgabe des Zuhörers wird es dann, nicht Musik zu genießen und auf sich wirken zu lassen, sondern fortwährend zu errathen, was der Componist sich bei der Musik gedacht haben möge. In dem richtigen Gefühl daß das rein Gedankenmäßige darzustellen doch nicht eigentliche Sache der Musik sei, sucht Berlioz den Zuhörer durch Prologe und Programme auf die richtige Fährte zu bringen, und mancher, der sich sonst bei Musik nichts zu denken weiß und doch anstandshalber ins Concert geht, vergnügt sich an diesem jeu d’esprit2 und ist froh, wenn er durch einen kräftigen Beckenschlag, ein knarrendes Fagott oder sonst eine instrumentale Absonderlichkeit erinnert wird, daß er hier auch etwas Absonderliches zu denken habe. Das nennt man dann gern geistreiche Musik, da doch ein gutes Theil dieses Lobes auf den Zuhörer zurückfällt, und meist umso lieber, je weniger der Lober auf eigene Hand und ohne Musikbegleitung geistreich zu sein pflegt. Das fällt freilich den Meisten, die mit diesem Lob so freigiebig sind, nicht ein, daß wenn der Componist auch wirklich vor und neben seiner Komposition geistreiche Gedanken hat, diese Musik das Prädicat noch nicht verdient, sondern nur dann, wenn er in der Behandlung des rein Musikalischen, in Erfindung und Technik, sich als geistreichen Künstler zeigt, was nicht so leicht zu beurtheilen sein dürfte. Um die Nebengedanken aber, so weit sie etwas werth sind, ist es nur Schade, wenn sie in Musik gesetzt sind, denn das fortdauernde Geräusch lässt doch kein rechtes Nachdenken aufkommen. Es liegt in der Natur der Sache, daß Ideen, die nicht ursprünglich und naturgemäß erzeugt sind, auch nicht wie durch ein natürliches Wachsthum organisch entwickelt und ausgebildet werden können, der selbe Zwang muss sich auch in der Formgebung zeigen. Wenn Berlioz eine Abneigung gegen die fugirte und imitatorische Schreibart hat, so wird man sich freilich wundern, daß ein den-[483]kender Künstler in der Strenge dieser Form das Beschränkende wahrnimmt und nicht erkennt, daß die moderne Musik, so weit sie organisch gestaltet ist, auch in ihrer freiesten Entwicklung, auf jenem Princip beruht, daß man nicht verwerfen kann ohne auch seine Consequencen zu verwerfen – allein da es nicht die einzig noth-
2 (Frz.)
Denkspiel, Denksportaufgabe.
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wendige Form musikalischer Production ist, mit der sie behandelt werden. Es ist eine schlimme Sache mit den Dingen, die gründlich erlernt und geübt sein wollen; wenn dies versäumt ist, können weder Geist noch Genie sie für den Augenblick erzwingen. Ich rede jetzt nicht von dem unglücklichen Einfall, die Fuge als Mittel der Ironie und Satire zu gebrauchen, wie im Faust3; die Einleitung zur Flucht nach Aegypten4 prätendirt fugierten Stil. Man darf bei dem künstlerischen Rigorismus, welchen Berlioz proclammirt, nicht voraussetzen, und das dies eine Concession gegen die im Publicum herrschende Vorstellung von Kirchenmusik sei, ebensowenig kann hier von einer historischen oder localen Färbung die Rede sein, da die Scene im Palästina im Jahre Eins nach Christi Geburt ist; sondern Berlioz muss einen fugirten Instrumentalsatz für den angemessensten Ausdruck der einfachen religiösen Stimmung gehalten haben, welche sich in den darauf folgenden Textesworten bestimmter ausspricht. Wir hören auch ein Thema, dem man nichts anhört als die Bestimmung fugirt zu werden, dann die üblichen Eintritte, zu unserer Verwunderung schließt die Periode sogar mit dem ehemals üblichen Triller, den man schon als altmodisch zu betrachten gewohnt war. Wer nun nach dieser formellen Ankündigung eine Durchführung erwartet, in welcher sich nicht nur der gründliche, sondern auch der geistreiche Musiker bewähren kann, der wird getäuscht. Zunächst wird derselbe Satz von den Blasinstrumenten wiederholt, dann wird ein neuer Ansatz mit dem Thema gemacht, der zu nichts führt, noch einer, der sich im Sande verläuft – die Ouvertüre ist aus. Mir fiel dabei die Geschichte von dem Lehrer ein, der seinen Schülern einen logischen Satz klar machen wollte. „Denkt euch ein großes Haus und daneben einen großen Baum – nein, so geht es nicht! – denkt euch ein kleines Haus und daneben einen kleinen Baum – nein, so geht es auch nicht! – denkt euch eine Hütte und daneben einen Busch – nein, es geht gar nicht!“5 So ist es auch mit der Fuge: es geht gar nicht. Und es muß wohl seinen Grund haben, daß so oft die als geistreich gepriesenen Componisten, wenn sie sich zum fugirten Stil herablassen, so gar trivial und zeitlos werden. Berlioz ist aber, wenn auch kein Freund des fugirten Stils, doch dem contrapunktischen entschieden zugethan. Das Wesen der contrapunktischen Schreibart besteht, um es kurz anzugeben, bekanntlich darin, daß verschiedene Melodien zugleich selbstständig fortgeführt und zu einem harmonischen Ganzen vereinigt wer[484]den, was in den verschiedenen Formen geschehen kann und bei strengster Gesetzmäßigkeit die größte Freiheit zuläßt. Von diesen wesentlichen Erfordernissen hält Berlioz fast nur das eine fest, daß von den verschiedenen Stimmen, welche er
3 Berlioz, La Damnation de Faust (Fausts Verdammnis) op. 24 (UA 1846), 2. Teil, 6. Szene „Fugue sur le thème de la chanson de Brander“, T. 184 – 215. 4 Ausgehend von La fuite en Égypte (Die Flucht aus Ägypten) hatte Berlioz ab 1850 sukzessive sein Oratorium L’Enfance du Christ (Des Heilands Kindheit) op. 25 komponiert, dessen Uraufführung 1854 in Paris stattfand. Die schaffenschronologisch erste Komposition La fuite en Égypte wurde das Mittelstück des dreiteiligen Werks. 5 Vermutlich eine Anspielung auf Hegels Phänomenologie des Geistes, in der es heißt: „Das Jetzt ist Tag, weil Ich ihn sehe: das Hier ein Baum, eben darum. Die sinnliche Gewißheit erklärt aber in diesem Verhältnisse dieselbe Dialektik an ihr, als in dem vorigen. Ich, Dieser sehe den Baum, und behaupte den Baum als das Hier; ein anderer Ich sieht aber das Haus, und behauptet, das Hier sey nicht ein Baum, sondern vielmehr ein Haus“ (Hegel-Schriften 3, S. 77 f.).
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zusammenbringt, jede selbstständig ihren Weg gehe, wie sie sich miteinander vertragen, das kümmert ihn ungleich weniger. Es ist, als ob er eine Anzahl von – wie sage ich nur? Melodie, Thema, Motiv, Idee im gewöhnlichen Sinn paßt in der Regel nicht – von Notencomplexen mit vollen Händen übers Orchester verstreue: jeder sucht seinen Theil zu erwischen, einige halten beharrlich das Stück fest, das sie einmal erfaßt haben und wiederholen es unverdrossen, als fürchteten sie, es könnte abhanden kommen; andere haschen leichtfertig bald nach diesem, bald nach dem, versuchen sich hier und da, bis ein allgemeines bellum omnium contra omnes6 entbrennt, in dem jeder sich wehrt, so gut er kann. Mit einem Mal schweigen alle still, als fürchteten sie sich vor ihrem Spektakel, oder werden wie beschämt und verlegen ganz leise, aber bald liegen sie sich wieder in den Haaren, und wo jeder thut, was er will, hat der einzelne auch gar keinen Grund, sich zu geniren: alles tobt sich aus nach Herzenslust, wie die Tertianer, wenn der Lehrer nicht da ist. „Besen, Besen seis gewesen!“7 seufzt der unglückliche Zuhörer, über dessen Ohren es hergeht, einmal über das andere Mal, vergebens – unerbittlich schwingt in weiten Kreisen der Meister seinen Zauberstab vom Dirigentenpult, dessen hohltöniger Fußboden, mit Voß8 zu reden, oft Neulingen zum Schreck unter zornigen Getrampel donnert, und jagt seine Orchesterphalanx durch alle Kontraste der ffx und ppx, fort gehts im Sturmschritt, jeder denkt nur an sich, niemand an seinen Nachbar und den armen Zuhörer. Und was entschuldigt man nicht bei allgemeinem Aufruf und Kampf! Aber gar zu curios klingt es, wenn man verhältnismäßig ruhigen und friedlichen Stellen irgend eine mißvergnügte Mittelstimme plötzlich versucht, was sie auf eigene Hand riskiren kann, und ihrer Verdießlichkeit Luft macht, oder ein paar einzelne Instrumente mit boshafter Verstocktheit die Geduld des Hörers auf die Probe stellen, wie z. B. in der Haroldsymphonie9 Flöte und Horn sich mit einem Eigensinn um den letzten Ton zanken, der um so unbegreiflicher ist, da das Horn von vornherein so entschieden im Unrecht ist. Es gehört die Engelsgeduld einer Flöte dazu, um das auszuhalten, und ein Publicum, das den Wahlspruch res severa est verum gaudium10 schon lange beherzigt, um nicht am Ende in eine unhöfliche Heiterkeit zu gerathen. Diese eigenthümliche Verhandlungweise geht in ihrem letzten Grunde wieder darauf zurück, daß es nicht die Absicht des Componisten ist, ein rein musikalisches Kunstwerk zu gestalten, sondern daß die Kräfte, welche er in Bewegung setzt, etwas Anderes ausdrücken sollen, als was in ihrem Wesen liegt, und nur die Träger außermusikalischer Gedanken sind, daher es denn nicht zu verwundern ist, wenn sie ganz anderen Gesetzen als den musikalischen unterworfen werden, um sich zu [485]
Kampf aller gegen alle. Diese Formulierung, die auf Thomes Hobbes’ Schrift Elementorum philosophiae sectio tertia de cive (1642, Praefatio, 14. Sektion) zurückgeht, wurde vor allem als Hauptprämisse seines staatsphilosophischen Hauptwerks Leviathan (1651, 1. Teil, 13. Kapitel) populär. 7 Johann Wolfgang von Goethe, Der Zauberlehrling (ED 1798), letzte Strophe: „In die Ecke, / Besen, Besen! / Seids gewesen. / Denn als Geister / ruft euch nur zu diesem Zwecke, / erst hervor der alte Meister.“ 8 Voß 1826 Antisymbolik, S. 207: „Dem Raume zwischen den beiden Abtheilungen thronte der Magister auf seinem hinter dem Katheder der Redeübungen emporragenden Lehrkatheder, dessen hohltöniger Fußboden oft, Neulingen zum Schreck, unter zornigem Getrampel donnerte.“ 9 Berlioz, Harold en Italie op. 16 (EA 1834). 10 (Lat.) Wahre Freude ist eine ernste Sache. Lucius Annaeus Seneca, Ad Lucilium epistulae morales, 3. Buch, 23. Brief. 6 (Lat.)
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einem Ganzen zu gestalten. Noch ungleich mehr Einfluß aber haben die Intentionen des Componisten natürlich die Formation seiner Kunstwerke im Großen. Das schlagenste Beispiel, zu welchen Monstrositäten auch ein denkender Mann gelangen kann, wenn er von einer Kunst erzwingen will, was ihrer Natur zuwider ist, und der sicherste Beweis, daß ihr Wesen ihm verschlossen blieb, ist die dramatische Symphonie Romeo und Julie. Der Versuch, den Eindruck eines Dramas musikalisch wiederzugeben, ist nicht neu, auch keineswegs schlechthin verwerflich, wenn die Musik sich innerhalb ihrer Grenzen hält und sich begnügt, die allgemeine poetische Stimmung auszudrücken, zu welcher das Werk des Dichters die Anregung bot. Indessen hat es nicht an Componisten gefehlt, welche, der eigenen Kraft mißtrauend, den poetischen Inhalt für ihre Instrumentalmusik gradezu vom Dichter glaubten borgen zu können, indem sie ihn Schritt für Schritt begleiteten. In ähnlicher Weise hat Berlioz Shakespeares Romeo und Julie so in Musik umgesetzt, daß er an den Stellen der Handlung, welche für eine musikalische Darstellung Veranlassung zu bieten schienen, Halt macht für einen symphonischen Satz. Daß bei einer solchen Anlage kein Tonstück entstehen kann, welches die Summe des poetischen Inhalts jenes Dramas musikalisch reproducirt, leuchtet ein, denn Hauptmomente der dramatischen Gestaltung sind musikalisch theils absolut nicht wiederzugeben, theils werden sie durch das Festhalten in der ausgeführten musikalischen Behandlung ihrer wahren Bedeutung entkleidet, während dagegen Nebendinge durch den zufälligen Umstand, daß sie für Musik qualificirt sind, zu Hauptdarstellungen erhoben werden, wie z. B. gleich anfangs die Ballszene11 blos der Tanzmusik zu Liebe eine Ausführlichkeit erhalten hat, welche ihr im Zusammenhange des Ganzen nicht zukommt. Ebenso ist die Darstellung der Fee Mab in einem langen Scherzo12, die an sich nicht zu mißbilligen wäre, als integrirender Theil von Romeo und Julie so ungebührlich ausgweitet, daß sie gar nicht mehr in den Rahmen paßt. Das Ganze bildet eine Reihe von musikalisch ausgeführten Situationen der Tragödie, aber nicht mit innerer Nothwendigkeit aus dem Keim derselben heraus gegliedert, sondern nach unwesentlichen Merkmalen herausgegriffen, verschoben und verrenkt, wie wenn ein Declamator in einem Satze, den er nicht versteht, die Wörter falsch verbindet und betont. Noch nicht zufrieden mit all dieser Musik und besorgt um Deutlichkeit und Verständniß, hat Berlioz den Instrumentalsätzen auch noch Gesangspartieen hinzugefügt, in denen nun zum Theil wenigstens das gefunden wird, was man ohne Worte gar nicht verstehen könnte. Ein klarer Zusammenhang und eine fortschreitende Entwicklung ist durch diese Vermischung heterogener Elemente, von denen keines an seinem Platze ist, natürlich doch nicht erreicht; auch tritt hier wiederum derselbe Uebelstand hervor, daß auch die Gesangspartieen meistens nicht der poetischen Bedeutung der Situation, sondern der Zufall eines musikalisch darstellbaren Motivs ihre Stelle verdanken und das Mißverhältnis der einzelnen Theile [486] zum Ganzen noch zu steigern. Um aber, wenn auch nicht den Zusammenhang, wenigstens doch den Inhalt begreiflich zu machen, wird die Symphonie durch einen Prolog eröffnet, der einen kurzen Abriß der Handlung vorträgt, untermischt mit Reflexionen,
11 Berlioz, Roméo et Juliette (EA 1839), 2. Teil „Roméo seul – Tristesse – Concert et bal – Grande fête chez Capulet“, ab T. 129. 12 Ebd., 4. Teil „La reine Mab ou la fée des songes – Scherzo“.
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wie: „Bist du nicht selbst vielleicht dem armen Erdensohn jene Poesie, o Liebe, die dem Shakespeare alleine verlieh die Weihe, und mit ihm zurück gen Himmel floh?“13 Das fehlte noch, daß die Musik zu allen übrigen Magddiensten auch noch ästhetische Kritik verrichten muß! Und sogar die Fee Mab wird uns hier schon in einem Vocal-Scherzino14 ausführlich geschildert, damit es jeder merken könne, wie arm die musikalische Phantasie ist, die selbst einen heiteren Scherz nicht erfinden kann, wenn ihr das Muster nicht vorgezeichnet ist. Ich zweifle nicht, daß Berlioz ein Bewunderer Shakespeares ist und für die Schönheiten seiner Tragödie schwärmt, aber indem er sie auf dem Prokrustesbett15 seiner Symphonie verstümmelte, hat er den Beweis geführt, daß er weder musikalisch empfindet, noch von dem Wesen eines Kunstwerkes einen Begriff hat. Zum Ueberfluß hat er dieses Monstrum eine dramatische Symphonie benannt, an der – dabei soll der doch sicher höchstens epische Prolog nicht einmal zählen – nichts Dramatisches ist, als daß ein Drama zum Grunde liegt, dem bei dem Umgießen in die musikalische Form alles genommen ist, was ein Drama ausmacht. Durch welche Vorzüge im einzelnen müßte dieses Werk sich auszeichnen um so kolossale Mißgriffe, wenn auch nicht vergessen, doch für den Augenblick zurücktreten zu machen! Dies ist aber nicht der Fall; es ist reich an Bizarrerien, an seltsamen Effecten, aber arm an Schönheiten. Natürlich, denn der Mangel an ursprünglich musikalischer Empfindung und Erfindung, an Sinn für Maß und Klarheit, macht sich am unmittelbarsten bei den einzelnen Motiven und Melodien geltend. Diese sind mit sehr seltenen Ausnahmen dürftig und trocken, entweder mühsam zusammengesetzt und in eine auffallende Form gerenkt, oder gradezu trivial, wobei denn freilich Berlioz den Vortheil hat, daß unter so vielen Ungenießbaren und Absurden das Triviale einen Anspruch auf Verdienst beim Publicum gewinnt, das sich dabei zurechtfindet und, da es ihm mit einem solchen Aufwande äußerer Mittel ins Ohr gebracht wird, sich gern überreden läßt, es müsse doch wol etwas werth sein, wofür man sich so in Unkosten setzt. Ein noch schlimmeres Zeichen ist es, daß da, wo in der Natur der Aufgabe ein gewisser sinnliche Reiz liegt, der absolut keine abstrusen Gedanken zuläßt, ein grober Materialismus zu Tage kommt, der Meyerbeerscher Gemeinheit nichts nachgibt. Wer kann bei dem Chor der nach Hause taumelnden Capulets16, bei dem wüsten Tanzgelage17, das in einen wahren Meßbudenskandal ausartet, sich noch vorstellen, daß er, ich sage nicht in vornehmer, daß er in guter Gesellschaft sei? Auch in Auerbachs Keller18, wo Göthe uns zu einer Zeche lustiger Gesellen führt, bringt uns Berlioz in eine gemeine Kneipe. Anderes ist dann wieder durch die äußerste Dürre widerwärtig, wie z. B. der Prolog19. Weiß [487] der Himmel
13 Ebd.,
1. Teil „Introduction, Strophes“, T. 132 –146 „Ou ne seriez-vous point, dans notre exil mortel, / Cette poésie elle-même, / Dont Shakespeare lui seul eut le secret suprême / Et qu’il remporta dans le ciel!“ 14 Ebd., „Introduction, Scherzetto“. 15 (Bildspr.) Schema, in das etwas gewaltsam gezwängt wird. 16 Berlioz, Roméo et Juliette, 3. Teil „Scène d’amour, Nuit sereine – Le Jardin de Capulet, silencieux et désert. Les jeunes Capulets, sortant de la fête, passent et chantent des réminiscences de la musique du bal“, T. 45 –123. 17 Ebd., 2. Teil „Roméo seul – Tristesse – Concert et bal – Grande fête chez Capulet“, ab T. 129. 18 Berlioz, La Damnation de Faust, 2. Teil, 6. Szene „La cave d’Auerbach à Leipzig“. 19 Berlioz, Roméo et Juliette, 1. Teil „Introduction, Prologue“.
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was für eine Bardenreminiscenz dieses eintönige, bald ein- bald mehrstimmige Recitiren des Chores mit sparsamer Harfenbegleitung darstellen soll, aber es ist so langweilig als der Geschichtsabriß, den er vorträgt. Auf diesem grauen Grunde soll das Bild der Königin Mab nun um so schärfer sich heben; aber wie sehr das Geplapper der vielen, kurzen, raschausgesprochenen Silben auch gegen das triste Psalmodiren absticht, humoristisch und phantastisch wird die Darstellung doch nicht. Und diesen Eindruck macht auch das vielgepriesene Instrumentalscherzo20 nicht, das weder in Anlage noch Erfindung neu ist. Es ist durchaus der von Mendelssohn angeschlagene Elfenton, der hier nachgeahmt und nicht qualitativ ausgebildet, sondern nur qualitativ verändert wird, nicht zu seinem Vortheil. Denn mit soviel curiosen und absonderlichen Einfällen dies Scherzo auch gespickt ist, so verdanken diese nicht einer reichströmenden Erfindungskraft, nicht einmal einem übersprudelnden Witz ihren Ursprung, sondern nüchterner Berechnung und erzwungener Spaßmacherei. Theils gewahrt man auch hier nur ein musikalisches Illuminiren der vom Dichter gelieferten Zeichnungen, und begreift nun wenn man die große Trommel hört, warum der Prolog von „Trommelschall, Büchsenknall“21 erzählt hat, damit man wisse was man sich zu denken habe; theils sind es einzelne Instrumentaleffecte, sie sowol durch künstlich berechnete Combination als forcirte Contraste eine lediglich materielle Wirkung hervorbringen. Daß dieses alles eigentlich poetische Auffassung und schöpferische Phantasie nicht bedinge, sieht jeder von vornherein ein und wer die Fee Mab gehört hat, weiß es aus Erfahrung. Man kann auch, wenn man das Publicum der Musik von Berlioz gegenüber beobachtet, leicht wahrnehmen, was davon und in welcher Weise es wirkt. Man gewahrt nicht die stille gespannte Aufmerksamkeit, mit der man den fein gegliederten Organismus eines Kunstwerkes zu verfolgen und in sich aufzunehmen sucht, nicht die innere Erregtheit, welche eine geniale Production unmittelbar und unwillkürlich hervorruft, nicht einmal die augenblickliche Freude über einen zündenden Moment, sondern eine Art von Verwunderung, die sich selbst nicht recht trauet, wenn es gar so wunderlich und ungewohnt im Orchester klingt, wo man dann auf den überraschten Gesichtern die stille Frage liest: Wie macht er das wol? Dieser Erfolg, für einen Taschenspieler der erwünschte, sollte er auch für einen Künstler der rechte sein? Niemand kann Berlioz das Verdienst absprechen die Instrumente gründlich studirt und neue und überraschende, zum Theil auch schöne Effecte ihnen abgewonnen zu haben. Allein nicht nachdrücklich genug kann man gegen das jetzt herrschende Mißverständniß protestiren, welches einer abstracten Kunst der Instrumentation ein selbstständiges Verdienst an sich zuerkennen will. In der Malerei wird ein bloßer Colorist mit Recht nicht sehr hoch gestellt, und doch kann man keineswegs Colorit und Instrumentation schlechthin miteinander vergleichen, da jenes Form und Zeichnung nothwendig voraussetzt. Einen Maler, [488] der bloß eine schöne oder gar nur frappante Zusammenstellung von Farben auf die Leinwand bringen und dazu in einem Programm auseinandersetzen wollte, was er sich dabei gedacht habe, würde alle Welt auslachen. Wenn ein Componist eine Reihe von
20 Ebd., 4. Teil „La reine Mab ou la fée des songes – Scherzo“. 21 Ebd., 1. Teil „Introduction, Scherzetto“, T. 267 – 273 „Il rêve canonnades / Et vives estocades, / Le tambour, la trompette“.
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Klangeffecten combinirt, diesen nicht die Gesetze der musikalischen Organisation, sondern außermusikalische Gedanken zu Grunde legt, so glaubt man sagen zu dürfen, daß der ein geistreicher Componist ist, der prächtig instrumentirt. Daß die Instrumentation nur den Zweck haben könne, musikalischen Ideen den angemessenen Ausdruck zu geben, daß daher vor allem musikalische Ideen vorhanden sein müssen, ehe man von Instrumentation reden kann, das ist so einfach, daß man es vielleicht nur deshalb nicht beachtet. Ebenso einleuchtend ist es auch, daß einzelne aneinander gehängte Effecte nie ein organisches Kunstwerk bilden, und daß man, jemehr es an den Bedingungen für ein solches fehlt, umsomehr das Einzelne auf Kosten des Ganzen zu übertreiben geneigt wird, was dann bei der Instrumentation zuletzt auf die rein mechanische Klangwirkung hinausläuft. Das ist auch bei Berlioz in der That der Fall, ja es ist sogar das noch tiefer stehende Bestreben bestimmte Klangeffecte nachzuahmen, was allzu häufig bei ihm hervortritt. An solchen Zügen ist besonders das Scherzo der Fee Mab reich; die komischste Wirkung aber macht es, wenn mit einem außerordentlichen Aufwand und der feinsten Berechnung der Mittel das Kochen eines Theekessels dargestellt wird.22 Es ist wahr, man hört es, wie das Wasser anfängt sich zu regen, Blasen wirft, sauset, zischt und zuletzt zu singen anfängt – aber soviel Lärm, nicht einmal um eine Omelette? Und ist es denn besser, wenn Schalmei, Dudelsack, Piffero23 mit täuschender Wahrheit nachgebildet werden, damit wer nicht in Italien gewesen ist, doch weiß wie die Pifferari blasen, von denen er soviel gelesen hat, wenn dies nur die äußere Decoration bleibt? Kein irgend gebildeter Beschauer läßt sich bei einem Bilde durch das wohlausgeführte Costüm über den Mangel an poetischer Auffassung und malerischer Composition täuschen; es liegt nicht im Wesen der Kunst, wenn das musikalische Publicum weniger strenge Ansprüche zu machen scheint. Wir haben Berlioz hier in zwei Concerten gehört. Die Direction der Gewandhausconcerte hatte dem Virtuosen des Orchesters den zweiten Theil des Concerts am 1. December für seine Compositionen zu freier Verfügung gestellt. Es war eine feine Aufmerksamkeit gegen Berlioz und das Publicum, daß für den ersten Theil Beethovens achte Symphonie in F gewählt war, einmal weil sie die kürzeste ist, und dann weil sie als die Symphonie, in welcher Beethovens Humor am freisten und unbeschränktesten sich ausspricht, geeignet war, das Moment zu charakterisiren, welches Berlioz als den Ausgangspunkt seiner musikalischen Richtung anzusehen liebt, und so dem Publicum einen Inhalt zu bieten, um sich zu orientiren, wie weit es im Weitergehen auch einen Fortschritt anerkennen möge.
22 Ebd.,
4. Teil „La reine Mab ou la fée des songes – Scherzo“, Triller der Violinen T. 360 – 413. 23 Piffero oder Piffaro ist eine italienische Schalmei. Sie wird von den Hirten (Pifferari) gespielt, die im Advent nach Rom kommen, um vor den Madonnenbildern zu musizieren.
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Berlioz bot uns darauf bei diesem Concert:
[489] Die Flucht nach Egypten, biblische Legende für Tenorsolo, Chor und Orchester.24 Harold in Italien, Symphonie mit obligater Bratsche: 1. Harold im Gebirge, Scenen des Trübsinns und der Freude; 2. Marsch der Pilger, das Abendgebet singend; 3. Serenade eines Bergbewohners in den Abruzzen. Der junge Bretagner Schäfer, Romanze für Tenor.25 Die Fee Mab, Scherzo aus der Symphonie Romeo und Julie. Scenen aus Faust, Recitativ, Arie des Mephistopheles, Chor und Tanz der Sylphen.26 Ouverture zum römischen Carneval.
Fürwahr, die gewöhnlichen Concertprogramme nach der Schablone pflegen durch Ueberhäufung mit disparaten Musikstücken unserer ästhetischen Bildung kein günstiges Zeugnis auszustellen, aber wie unschuldig sind sie gegen dieses Allerlei! Es ist unbegreiflich, wie ein Mann von Geschmack diese verschiedenartigen Compositionen, zum Theil nur Bruchstücke, absichtlich in Contrast zueinander gesetzt, dem Publicum vorlegen mochte, wie ein Tabuletkrämer 27 seine bunten Proben auslegt, um doch von jedem ein Stückchen zu zeigen; unbegreiflich, wie er dem Publicum zumuthen konnte, von dieser starkgewürzten Waare soviel auf einmal und durcheinander zu sich zu nehmen, und erwarten, daß es für den Genuß empfänglich und zum Urtheil fähig bleiben könne. Die Flucht nach Aegypten war allerdings wohl gewählt, um das Publicum zu überraschen, das in jeder Beziehung das Extravaganteste erwartete und das Allergewöhnlichste zu hören bekam. Die Enttäuschung wirkte günstig auf die Stimmung; was man bei einem Anfänger höchstens mit Geduld aufgenommen und vielleicht langweilig gefunden hätte, entsprach der Vorstellung, die man sich von Berlioz’s Musik gemacht hatte, so gar nicht, daß es dadurch den Reiz von etwas Außerordentlichem bekam, den es an sich nicht hatte. Es macht keinen Lärm und ist einfach, aber diese Einfachheit ist keine natürliche, sondern eine reflectirte; wäre sie aus einer innerlich einfachen Stimmung hervorgegangen, hätte der harte Uebergang, der am Ende jedes Verses ganz unmotivirt sich hineindrängt, wol ebensowenig Platz gefunden als das kokette Spielen mit den Schalmeien, das durch seine Absichtlichkeit die Stimmung stört, ohne eine charakteristische Färbung hervorzubringen. Von der Ouverture28 ist schon gesprochen, der Chor besteht aus einem Lied von drei Versen, die nur in der Begleitung verschieden gehalten sind. Diese Behandlung ist hier ganz angemessen, allein bemerkenswerth ist, daß Berlioz in seinen Gesangscompositionen, soweit sie eine geschlossene Form haben, über die einfachste und
24 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 4. 25 Berlioz, Le Jeune Pâtre breton (Der junge bretonische Schäfer) op. 13/4. 26 Berlioz, La Damnation de Faust, 2. Teil, 6. Szene „Chanson de Méphistophélès“ und 7. Szene „Chœur de gnomes et de sylphes“. 27 Umherwandernder Krämer, der seine Waren in einem tragbaren Kastengestell (Tabulet) anbietet. 28 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 4.
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kleinste des Liedes nicht hinauskommt; wenn er diese verläßt, erscheinen nur Rhapsodien lose aneinander gereiheter Einzelheiten, die sowenig [490] eine künstlerische Form in der Musik darstellen können, als etwa die Streckverse in der Poesie. So verhält es sich gleich mit dem Tenorsolo der Flucht29; der Text ist episch beschreibend und die Musik geht mit ihm fort, beide stören einander nicht und den Zuhörer auch nicht, was dieser Berlioz gegenüber für Befriedigung ansteht. Und doch hätte ein ungeschickter Theatercoup am Schluß beinahe die Theilnahme des Publicums verwirkt. Nach dem Schluß der Beschreibung: „des Himmels Englein knieten rund umher, anbetend leis den Jesuknaben“30, fällt der Chor mit Hallelujah31 ein. Berlioz begeht die unbegreifliche Plattitude, diese wenigen Accorde außerhalb des Saales singen zu lassen. Was im Theater am Platz sein kann, ist es doch im Concertsaale nicht, und hier war es nicht einmal durch den Text irgend indicirt. Dagegen wird die Intonation der Singstimmen dadurch unsicher und der Klang derselben nicht blos, wie bei Instrumenten, denen man Dämpfer aufsetzt, verändert, sondern verschlechtert; und alle diese wesentlichen Bedenken sind dem Effect einer kindlichen Ueberraschung geopfert. Diesem Musikstück steht am nächsten die Romanze32. Sie ist einfach, meist wohlklingend, aber herzlich unbedeutend, und manches, wie die Hornbegleitung, sogar sehr trivial. Wie fatal die Erinnerung an Prochsche33 Fadaisen34 auf uns wirkt, kann Berlioz freilich nicht wissen, aber es bleibt immer schlimm, daß man daran erinnert wird. Uebrigens wird sich Berlioz schmerzlich sehr geschmeichelt fühlen, daß grade diese Sachen den meisten und ungetheilten Beifall fanden; wenigstens charakterisirte er früher Mendelssohns Stellung zu ihm ironisch durch die Worte: Mendelssohn a toujours eu une grande estime pour mes – chansonettes.35 Das Publicum scheint hier noch immer Mendelssohns Meinung zu sein, ich kann sie nicht ganz theilen – in Beziehung auf die chansonettes. Die drei Sätze der Harold-Symphonie – das Räuber-Bacchanale des letzten Satzes ward uns geschenkt – waren ganz geeignet, die Vorstellungen vom zahmen Berlioz zu rectificiren36. Die Symphonie ist in der Anlage nicht so monstros [sic] wie Romeo und Julie, sie hält sich innerhalb der Grenzen der gewohnten Form, die sie nur insofern erweitert, als sie obligate Bratsche und Harfe mit anwendet. Ob die Bratsche etwa das dramatische Element repräsentiren und die Individualität Harolds der Natur Italiens und seiner Bewohner gegenüber zur Geltung bringen solle, wage ich nicht zu bestimmen, gewiß ist aber, daß das Soloinstrument in einer Weise virtuosenhaft hervortritt, welche zeitweise ganz und gar ins concertmäßige übergeht und zwar in der allgewöhnlichen Manier, z. B. in endlosen Harpeggien-Etuden, wodurch die Geduld des Zuhörers um so empfindlicher geprüft wird, da es der Anlage und
L’Enfance du Christ, 2. Teil „La Fuite en Égypte“, Nr. 9 „Le repos de la sainte famille“. T. 139 –147 „Et les anges du ciel, à genoux autour d’eux, / Le divin enfant adorèrent.“ 31 Ebd., T. 148 –157. 32 Berlioz, Le Jeune Pâtre breton (Der junge bretonische Schäfer) op. 13/4. 33 Heinrich Proch (1809 –1878), österreichischer Komponist, der insbesondere für seine über zweihundert Lieder bekannt war. 34 (Frz.) Albernheit, Geschmacklosigkeit. 35 (Frz.) Mendelssohn empfand immer große Achtung für meine – Liedchen. Der Wortlaut in Berlioz’ Mémoires (Berlioz 1870 Mémoires, S. 263) ist wie folgt: „Mendelssohn a toujours eu une certaine estime pour mes … chansonnettes.“ 36 (Veraltet) richtigstellen, berichtigen. 29 Berlioz, 30 Ebd.,
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Färbung der Symphonie, durchaus nicht entspricht. Denn den eigentlichen Stempel erhalten diese in Musik gesetzten impressions de voyage37 durch die Reminiscenzen italienischer Volksmusik, mit welchen die aufgeputzt sind. Allerdings sind charakteristische Züge derselben fein beobachtet und geschickt nachgeahmt, aber es sind auch hier nur [491] Einzelheiten wiedergegeben, und zwar solche, die in irgend einer Weise als barock auffallen, aus denen nur eine Caricatur entstehen kann. Eine freie künstlerische Darstellung des italienischen Volkes in seinem musikalischen Leben müßte tiefer gehen als auf äußerliche Eigenheiten, und doch würde auch das immer wesentlich nur Reproduction bleiben, eine Art von Genredarstellung, die in der Musik ungleich untergeordneter ist als die Malerei. Einen ähnlichen Anspruch, macht die Ouverture zum römischen Carneval. Was den römischen Carneval so unwiderstehlich reizend macht, ist die unmittelbare Frische, die unversiegbare Kraft der unverfälschten Menschennatur, die sich in ausgelassenster Heiterkeit und Luftigkeit frei gehen läßt, ohne je ihres Adels, ihrer Würde und ihre Grazie zu vergessen; und was den römischen Carneval unausstehlich macht, das sind die Fremden, welche meinen, sie müßten auch parforce38 ausgelassen sein und lustige Einfälle haben und witzig werden, und die abgeschmacktesten Uebertreibungen die allgemeine Freude stören, daß die Römer den Kopf schütteln über die forestieri39, die immer Barbaren bleiben und gar nicht zu ertragen wären, wenn sie nicht Geld hätten. Das trat mir wieder recht lebhaft vor die Seele, als ich die Ouverture von Berlioz hörte. Das zahlreich versammelte Publicum eines Gewandhausconcertes verhielt sich der ungewohnten Erscheinung gegenüber mit einer durch eine anständige Zurückhaltung gedämpften Neugierde, die sich auch zu einer lebhaften Theilnahme nicht steigerte. Der Beifall ging von einer kleinen entschlossenen Phalanx neben der Tür aus, die sich auch von einer theilweise vernehmbar werdenden Opposition nicht beirren ließ, einzelne Bravorufe verhallten im Vorsaal. Das zweite Concert40 brachte die drei ersten Sätze der Symphonie Romeo und Julie, dann „auf vielfaches Verlangen“ die Flucht nach Aegypten, und endlich die Abtheilungen des Faust, welche bereits in den Grenzboten besprochen worden sind.41 Daß man die den zweiten Theil einleitende Instrumentalfuge42 zum größten Theil gestrichen hatte, war eine unerwartete Wohlthat, daß man die einen deutschen Sinn beleidigende Uebersetzung gedruckt dem Publicum verkaufte, dafür kann man Berlioz nicht verantwortlich machen, da er kein Deutsch versteht, das Publicum kaufte sie, und las sie geduldig. Zahlreich war es nicht versammelt, aber aus begreiflichen Gründen waren es vornämlich günstig gestimmte, welche sich eingefunden hatten, die sich mit Erfolg bemüheten, durch intensive Stärke des Beifalls zu ersetzen, was ihm extensiv abging.
37 (Frz.) Reiseeindrücke. 38 (Frz., eigentlich: par force) unbedingt, mit aller Gewalt, unter allen Umständen. 39 (Ital.) Ausländer, Fremde. 40 Es fand am 10. Dezember 1853 statt. 41 Es handelt sich um eine ausführliche negative Rezension der ersten beiden Teile aus La Damnation de Faust, die auf Otto Jahn, den Autor des vorliegenden Artikels, zurückgeht (Anonym 1853 Die Verdammniß des Faust). Darin heißt es beispielsweise am Ende (ebd., S. 126): „Wir Deutsche haben nicht nur das Recht, sondern die Pflicht, gegen eine solche schmachvolle Verstümmelung und fratzenhafte Entstellung eines Werkes, das der Nation theuer und werth ist, zu protestiren.“ 42 Berlioz, La Damnation de Faust, 2. Teil, 4. Szene.
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Uebrigens wird Berlioz mit Leipzig zufriedener gewesen sein als vor zehn Jahren; die Harfe mußte zwar auch diesmal aus Dresden verschrieben werden, aber mit dem günstigsten Erfolg, ein englisches Horn war auch vorhanden und die Ophicleide wird seinem Ideal wenigstens etwas mehr entsprochen haben.43 Auch wird er jetzt schwerlich in Verlegenheit sein, auf die Fragen Hellers, welche er damals nicht beantworten mochte,44 offene Antwort zu geben, die für ihn vielleicht [492] befriedigender sein dürfte als für uns, wenn gleich das musikalische Glaubensbekenntnis in Leipzig noch lautet: Es gibt keinen andern Gott als Berlioz, und Liszt ist sein Prophet!45
43 Berlioz
hatte erstmals im Februar 1843 zwei Konzerte mit eigenen Werken im Leipziger Gewandhaus dirigiert, bei denen aus Mangel an Instrumenten und Spielern Englischhorn, Ophikleide und Harfe nicht besetzt werden konnten (vgl. Berlioz 1870 Mémoires, S. 265 f.). 44 Stephen Heller (1813 –1888), ungarischer Pianist und Komponist, lebte ab 1838 in Paris, wo er in engem Kontakt mit Berlioz stand. Berlioz gibt in seinen Mémoires einen Brief an Heller wieder, an dessen Ende er auf mehrere Fragen Hellers lediglich kurze nichtssagende Antworten gibt (Berlioz 1870 Mémoires, S. 269): „Vous me demandez si la grande pianiste Mme Clara Schumann a quelque rivale en Allemagne qu’on puisse décemment lui opposer? / Je ne crois pas. / Vous me priez de vous dire si le sentiment musical des grosses têtes de Leipzig est bon, ou tout au moins porté vers ce que vous et moi nous appelons le beau? / Je ne veux pas. / S’il est vrai que l’acte de foi de tout ce qui prétend aimer l’art élevé et sérieux soit celui-ci: ‚Il n’y a pas d’autre Dieu que Bach, et Mendelssohn est son prophète?‘ / Je ne dois pas. /Si le théâtre est bien composé et si le public a grand tort de s’amuser aux petits opéras de Lortzing qu’on y représente souvent? / Je ne puis pas. / Si j’ai lu ou entendu quelques-unes de ces anciennes messes à cinq voix, avec basse continue, qu’on prise si fort à Leipzig? / Je ne sais pas.“ („Sie fragen mich, ob die große Pianistin Clara Schumann in Deutschland irgendeine Konkurrentin habe, die man ihr mit Fug und Recht gegenüberstellen könne? / Ich glaube nicht. / Sie bitten mich, Ihnen zu sagen, ob Leipzigs Bildungsbürger viel von Musik verstünden oder doch zumindest dem zugeneigt seien, was Sie und ich das Schöne nennen? / Ich will nicht. / Ob es wahr sei, dass das Glaubensbekenntnis aller, die behaupten die hohe und ernste Kunst zu lieben, laute: ‚Es gibt keinen anderen Gott als Bach, und Mendelssohn ist sein Prophet?‘ / Ich darf nicht. / Ob das Theater gut sei und ob das Publikum sehr sträflich handele, wenn es sich an den kleinen Opern von Lortzing ergötzt, die man dort so oft spielt? / Ich kann nicht. / Ob ich welche von jenen alten fünfstimmigen Messen mit Generalbass gehört oder gelesen hätte, die man in Leipzig so überaus schätzt? / Ich weiß nicht.“) 45 Dieser Ausspruch spielt wiederum auf die oben zitierte Stelle aus dem Brief an Heller an (Berlioz 1870 Mémoires, S. 269).
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Kommentar Diese hier kommentierte ausführliche Rezension zweier Konzerte, die Berlioz im Dezember 1853 in Leipzig gab, stellt ein repräsentatives Beispiel für die Kritik an Berlioz’ Kompositionstechnik und gleichzeitig eine allgemeine Ablehnung der Idee einer programmatischen Musik dar. Während andere deutschsprachige Zeitschriften – abgesehen von der NZfM beispielsweise auch die Rheinische Musik-Zeitung46 – sehr positiv über Berlioz’ Konzerte des Jahres 1853 berichteten, traten die Grenzboten von Anfang an ausschließlich mit negativen Besprechungen in Erscheinung.47 Der vorliegende, anonym veröffentlichte Artikel geht auf den Philologen und Musikgelehrten Otto Jahn zurück und ist nochmals in dessen Gesammelten Aufsätzen über Musik48 abgedruckt. Jahn verfasste in den Jahren 1853 und 1854 insgesamt vier Artikel für die Grenzboten, in denen er sich kritisch mit der Musik Berlioz’ und Wagners auseinandersetzte.49 Seine Ablehnung der beiden Komponisten ist dabei vor dem Hintergrund zu sehen, dass Jahn nicht nur bekennender Mozart-Anhänger war,50 sondern auch in engem Kontakt zu Felix Mendelssohn Bartholdy stand. An dieser Rezension ist zum einen hervorzuheben, dass die Kritik konkrete Passagen aus Berlioz’ Werken analytisch exemplifiziert, und zum anderen die weniger polemische als vielmehr argumentierende Herangehensweise Jahns. Dabei bedient er sich Begriffsdichotomien, die sich zu dieser Zeit immer wieder finden und charakteristisch für die Auseinandersetzungen sind, etwa das „Organische“ versus das „Reflektierte“51 bzw. „Gemachte“ sowie „Idealismus“ versus „Materialismus“.52 Bemerkenswert ist nicht zuletzt Jahns dezidierte Ablehnung einer Emanzipation der Instrumentation zu einem eigenständigen musikalischen Parameter und damit eines Moments, das von Seiten der ‚Fortschrittspartei‘ lobend an Berlioz’ Werken hervorgehoben wurde.
46 Siehe etwa 12. 1853 Hannover, in: NdS 1 Nr. 53 sowie 30. 1853 Leipziger Briefe. 47 Siehe auch Anonym 1853b Musik. 48 Leipzig 1846. 49 Des Weiteren noch: Jahn 1853 Tannhäuser, Oper von Richard Wagner; Jahn 1853 Die Verdammniß des Faust; Jahn 1854 Lohengrin, Oper von Richard Wagner. 50 Von 1856 bis 1859 erschien in Leipzig Jahns vierbändige Mozartbiographie. 51 Siehe hierzu etwa die Überlegungen von Jean Friedrich Schucht zu „Genie“ und „Reflektion“ in Bezug auf die moderne Musik (Schucht 1852 Ueber das tonkünstlerische Schaffen, in: NdS 1 Nr. 36). 52 Vgl. hierzu etwa Noeske 2012 Musik als Organismus.
Nr. 56 | Peter Cornelius, „Eine Kunstfahrt nach Leipzig“, in: Berliner Musik-Zeitung Echo 4 (1854), Nr. 1 (8. Januar), S. 1– 5.1
Eine Kunstfahrt nach Leipzig von Peter Cornelius.
Um mir für den musikalischen Theil meines Referats den kleinstmöglichen Raum zu lassen, damit ich nicht in Gefahr komme zu viel über Kunst zu sprechen, will ich mich gleich Anfangs lieber über einen Künstler hermachen, der sich für etwaigen Tadel nicht rächen kann, der ohne dies den größten Theil des Publikums gegen sich hat, weil er es nicht allein kalt läßt, sondern macht, dessen historische Berechtigung als Künstler aber keinem Zweifel unterliegt, indem er mit unverkennbarer Formengewand[t]heit den ewig quellenden Strom zwingt, festen Körper und Gestalt anzunehmen, den warmen Hauch der Liebe zu wunderlichen Blumen krystallisirt und zwar so, daß man Geldmünzen darin abprägen kann. Ich spreche vom Winter, nicht von Peter von2, sondern ganz einfach vom December von Winter. Derselbe begrüßte uns des Nachts um 3 Uhr, als wir uns von der Musenstadt Weimar entfernten und beim Einsteigen in die Waggon’s das bekannte Göthe Schiller Herder-Kreuz schlugen, mit einem Opus 1, welches wir einem so jungen Künstler nicht zugetraut hätten.3 Wir dachten, wenn dieser Jüngling erst zu Opus 25 gelangt, wie Berlioz4, so wird vermuthlich Weihnachten sein sollen, wir werden dann in Gefahr kommen, Wei[h]nacht-Freiheitsbäume5 aufzustecken, viele Lichter anzuzünden und uns wie Kinder davor zu stellen, zu jauchzen und in die Hände zu klatschen, und dann ganz
ediert in: Cornelius-Schriften, S. 239 – 245. 2 Peter von Winter (1754 –1825), deutscher Komponist und Dirigent, seit 1766 Violinist an der Mannheimer Hofkapelle, ab 1798 Hofkapellmeister in München, erlangte aufgrund seines umfangreichen Opernschaffens (u. a. Das unterbrochene Opferfest, UA 1796) nicht nur große Beliebtheit beim Publikum und internationales Ansehen, sondern wurde zudem durch die Auszeichnung mit dem königlichen Verdienstorden des bayerischen Königs Max Joseph 1814 in den persönlichen Adelsstand erhoben. 3 Anspielung auf den 1. Dezember 1853, an dem die Reise nach Leipzig stattfand. 4 Hector Berlioz, L’Enfance du Christ op. 25 (Des Heilands Kindheit, UA 1854). 5 Die Tradition des Freiheitsbaums als Symbol der Freiheit des Volkes geht auf eine Bostoner Ulme Mitte des 17. Jahrhunderts zurück, die bereits in der Zeit vor dem Amerikanischen Unabhängigkeitskrieg als Versammlungsort der gegen die Kolonialmächte protestierenden Bürger fungiert hatte. Als Zeichen des Widerstands gegen Unterdrückung errichteten in der Folge viele Städte ihren eigenen Freiheitsbaum. Von der Obrigkeit immer wieder verboten, diente er auch während der Französischen Revolution sowie in Deutschland als Symbol eines revolutionären Bekenntnisses. 1 Kritisch
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andere Weihnachtswanderungen in einer ganz anderen Zeitung als in der Vossischen6 zu lesen. Wir konnten deswegen nicht umhin, im Stillen gegen diese augenscheinliche Verwirrung, gegen diese [2] erklärte Willkürlichkeit, die sich der Temperatur der Gegenwart immer mehr bemächtigt, welche alle Grundelemente unsrer klimatischen Verhältnisse schon angetastet hat unter dem falschen Schein eines leidenschaftlichen oder geistreichen Nordlichts7, wenigstens zu protestiren. Dem drohenden Erfrieren und obligatem Zähneklappern trotz Halle’schen Kaffee gegenüber, schien es uns daher an der Zeit einige der wärmsten Frühlingsboten welche Raff seinem Franz dedicirte8, auch für uns in Anspruch zu nehmen. Den Schatz von drückender Hitze (Haydn)9, Landparthieen (Beethoven)10, Badepromenaden (Meyerbeer)11, Sommernächten (Berlioz)12, Sommernachtsträumen (Mendelssohn)13, gefunden bei Leuten, welche unsre Ehrfurcht verdienen, besonders weil sie nicht mehr leben, wie Mai, Juni, Juli, August etc. keck zu verschleudern, dreist mit Schnee und Reif zu überziehen, mit einer Kälte von 13 Grad pietätslos hineinzuwirthschaften, jede Erinnerung an ihn trotz Pelzhandschuhen zu verwischen, das heißt die Gegenwart mit einem Schnupfen zu demoralisiren, das heißt Sterne vor Kälte glänzen machen, das heißt Beresina14, das heißt Eisbär, das heißt endlich ganz einfach Nordpol. – Mit solchen Gefühlen drängten sich die 8 Musensöhne15 von Weimar auf dem Halle’schen Bahnhof um den offnen glühenden Rachen des schwarzen Professors16, lauschten begierig seinem Funkensprühen, und Couplets wie folgendes auf die bekannte Arie aus der Zauberflöte17 waren dabei gar nichts:
6 Ludwig Rellstabs „Weihnachtsreiseferien“ aus dem Jahr 1836, die er als Mitarbeiter der ältesten und angesehensten Zeitung Berlins, der Vossischen Zeitung, publizierte, berichten – gespickt mit kulturellen Geschenkvorschlägen – aus der Sicht eines vergnüglich auf den Weihnachtsmärkten durch den Berliner Winter Bummelnden von den vielen Eindrücke des Lebens in der Vorweihnachtszeit (Rellstab 1836 Weihnachtsreiseferien). 7 Wohl eine Anspielung auf Giacomo Meyerbeers komische Oper L’Étoile du Nord (Der Nordstern, UA 16. Februar 1854). 8 Joachim Raff widmete Franz Liszt seine Frühlingsboten op. 55, eine Sammlung von zwölf Klavierstücken, deren Komposition er 1852 beendet hatte. 9 Anspielung auf Joseph Haydns Oratorium Die Jahreszeiten (UA 1801), 2. Teil „Der Sommer“. 10 Anspielung auf Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 6 Pastorale F-Dur op. 68 (UA 1808). 11 Anspielung auf Meyerbeers Schauspielmusik zum Trauerspiel Struensee (UA 1846). 12 Anspielung auf Berlioz’ sechs Gesänge Les Nuits d’été op. 7 (Sommernächte, ED 1841 Klavierfassung; ED 1856 Orchesterfassung, übersetzt von Cornelius). 13 Anspielung auf Felix Mendelsohn Bartholdys Ouvertüre op. 21 (UA 1827) und Schauspielmusik op. 61 (UA 1843) zu Shakespeares Ein Sommernachtstraum. 14 Der große weißrussische Fluß Bjaresina (russisch: Beresina), ein Nebenfluss des Dnepr, erlangte historische Bedeutung durch die Schlacht an der Beresina 1812, bei der die napoleonischen Truppen durch die Armee Zar Alexanders I. niedergeschlagen wurden (trotz Namensgleichheit nicht zu verwechseln mit seinem erheblich kürzeren russischen Nachbarfluss Beresina). 15 Liszt war ebenfalls unter den Reisenden (vgl. Schneider 2006 Cornelius als Berlioz-Übersetzer, S. 84). Vermutlich gehörten zu den Reisenden u. a. Joachim Raff, Hans von Bülow, Karl Klindworth und Dionys Pruckner. 16 Allegorie auf die Lokomotive. 17 Wofgang Amadeus Mozart, Die Zauberflöte, 2. Akt, 11. Szene, Nr. 15 Arie Sarastros „In diesen heil’gen Hallen“.
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Hier in dem heil’gen Halle Sitzt streng man zu Gericht, Man läßt sich viel gefalle, Nur Raff und Bülow nicht. In Leipzig ziemlich erstarrt angekommen, hatten wir den guten Einfall, uns aus dem Waggon in mehrere Droschken zu begeben und so nach dem Hotel de Bavière zu fahren, wo auch Hector Berlioz einstweilen abgestiegen war, da er in der Pariser Akademie keinen Platz finden konnte.18 – Ja! keinen Platz finden konnte! Dies leichtsinnig hingesprochene Witzwort hat schwermüthigen Ernst genug in sich, und dieser Ernst ist ersichtlich genug in den von bittern Erfahrungen gefurchten Zügen des Meister Berlioz ausgedrückt. Mag augenblickliches Unwohlsein immerhin zu seiner Verstimmung beigetragen haben, ich schiebe dieselbe rücksichtslos und mit dem herzlichsten Aerger auf die ewige alte Komödie, in welcher ein verkanntes Genie die Hauptrolle spielt und ein Haufen feiler Recensenten den Chor bilden. Wird man diese Künstlertragödie auch in Deutschland, auch bei dem dritten Versuch19 des französischen Tonkünstlers, seine wohlerworbenen Heimathsrechte bei uns geltend zu machen, ohne Weiteres bis zum letzten Akt durchführen, um später, wenn der Vorhang gefallen ist, den Helden hervorzurufen? Lassen wir doch der Pariser Akademie ihren Reber20, dem ich ja seinen wohlverdienten Platz von Herzen gönne, aber nehmen wir doch dagegen Berlioz in die große unsichtbare Loge unsrer unsterblichen Meister auf, wie er es verdient. Möge doch endlich auch Berlin Weimar und Braunschweig21 nachfolgen, möge dem Franzosen Hektor auch ein deutscher Habeneck22 erstehen, 18 Berlioz
hatte sich erstmals 1842 nach dem Tod Luigi Cherubinis auf dessen Stelle an der Pariser Académie des Beaux-Arts, Institut de France, beworben. Nach der ersten Ablehnung bewarb er sich 1851 erneut auf die Stelle des verstorbenen Gaspare Spontini, wurde jedoch sowohl zu diesem Zeitpunkt – zu Gunsten von Ambroise Thomas – zurückgewiesen als auch bei seinem dritten Versuch im August 1854 bei der Suche eines Nachfolgers des versetzten Jacques François Halévy. Erst 1856, bei seinem vierten Anlauf, wurde Berlioz – nun als Nachfolger Adolphe Adams – in die Akademie aufgenommen. 19 Nach seinen Konzertaufenthalten 1842/1843 und 1852 zur Berlioz-Woche in Weimar war diese Tournee von August bzw. Oktober bis Dezember 1853 sein dritter großer Gastauftritt in Deutschland. 20 Napoléon-Henri Reber (1807 –1880), französischer Komponist, seit 1851 Professor am Pariser Konservatorium, wurde 1853, als Berlioz sich bereits zum dritten Mal um die Aufnahme ins Institut de France bewarb, in die Akademie gewählt und erfreute sich im Frankreich dieser Zeit weitaus größerer Wertschätzung als Berlioz. 21 In Weimar und Braunschweig hatte Berlioz bis zu diesem Zeitpunkt seine meisten Auftritte absolviert und seine größten deutschen Erfolge erzielt (zum Weimarer Konzert siehe beispielsweise Anonym 1852 Weimar; Schindelmeisser 1852 Aus Weimar, in englischer Übersetzung in Dwight’s Journal: Anonym 1852 Berlioz’ Opera Benvenuto Cellini; Brendel 1852 Ein dritter Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 37; Lobe 1853 Hektor Berlioz, in: NdS 1 Nr. 43; Lobe 1853 Liszt und Berlioz in Weimar, in: NdS 1 Nr. 38. Zum Braunschweiger Konzert siehe u. a. Corvin 1855 Orphée et Prométhée, in: NdS 2 Nr. 85). 22 François-Antoine Habeneck (1781–1849), französischer Violinist, Dirigent und Komponist, gründete, u. a. zusammen mit Luigi Cherubini, die Pariser Société des Concerts du Conservatoire, der er unter eigenem mehrjährigen Dirigat der Konservatoriumskonzerte zu weltweiter Berühmtheit verhalf. Zudem sorgte er für die Verbreitung der Symphonien Beethovens in Frankreich, brachte aber auch einige Werke Berlioz’ zur Uraufführung und setzte sich zudem persönlich für Mendelssohn Bartholdy, Liszt, Frédéric Chopin und Richard Wagner während ihrer Aufenthalte in Paris ein.
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der ungeachtet des Gelächters unwissender Musiker seinen Beethoven durchsetzte. Ihr Berliner Sinfonie-Dirigent Taubert23 sollte sich eine Ehre daraus machen, statt aus alte[m] Partiturenkram Werke, wie den Beherrscher der Geister von Weber24, oder Lodoiska von Cherubini25 hervorzusuchen, sich mit Fleiß und Aufopferung in Berlioz’sche Partituren hineinstudiren, um sie dann nicht etwa mit zwei Proben, sondern mit so vielen als nöthig sind, um auch den fähigsten Orchesterspieler in das richtige Verständniß derselben einzuweihen, vor das Publikum zu bringen. Sprecht mir nicht vom Geschmack des Publikums, wenn irgendwo, so wird Berlioz in Berlin verstanden werden, und der Dirigent, welcher dort Berlioz siegreich zur Geltung bringt, wird eine entschiedene Majorität für sich [3] haben. Wo Bach u. Beethoven oben auf sind, wird auch das dritte große B am ersten Anerkennung finden. Sputet euch deshalb, Ihr Berliner Kapellmeister, heraus mit Berlioz! Stellt ihn mit Fleiß und Beharrlichkeit auf das glänzende Piedestal der Berliner Kapelle und er wird kühn und ebenbürtig neben euren Herren stehen! Sputet Euch, wenn Ihr nicht wollt, sind Andre da. Ich kenne dort den Preis-Ulrich, der mit Monstre-Partituren umzugehen versteht,26 wenn der den Taktstock einmal schwingt, wird’s an Berlioz’schen Werken nicht fehlen. Heraus mit Berlioz also, nicht erst warten bis die Leute todt sind! Munter, Kinder! Munter! Morgen, morgen nur nicht heute, sagen alle faulen Leute! Also frisch drauf los! B – B – B! Halten Sie mir diesen ermunternden Zuspruch an ihren SinfonieDirigenten zu gut und folgen Sie mir durch circa 12 Grad Kälte in die Räume des Gewandhauses, wo Berlioz nach zehn Jahren zuerst wieder vor das Leipziger Publikum trat.27 Vater Beethoven nahm ihn mit seiner heitersten jovialsten Miene an der Hand (man spielte die achte Sinfonie zu Anfang) und sagte: Sieh, liebes Leipzig, dies ist mein Sohn Berlioz. Wie man denn auch, wenn man eine alte Tante besucht, nicht gleich durch’s Zimmer springt und muthwillig an die Fenster trommelt, so nahm Berlioz auch ganz bescheiden Platz, und fing ein Gespräch an, wie es für gesetzte Leute paßt. Er begann die Reihe seiner Compositionen nämlich mit der Flucht nach
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Taubert (1811–1891), deutscher Pianist und Komponist, war von 1831 bis 1883 Hofkapellmeister in Berlin und übernahm dort 1842 die Leitung der sogenannten Symphonie-Soireen. Dem Geschmack des konservativen Berliner Publikums geschuldet, setzte sich das Programm dieser Konzerte eher aus klassischen Werken zusammen, dennoch sind immer wieder Gäste wie Liszt, Niccolò Paganini, Berlioz und Wagner aufgetreten. 24 Carl Maria von Weber, Ouvertüre zum Beherrscher der Geister op. 27 WeV M.5 (ED 1813), 1811 umgearbeitete Ouvertüre und einzig erhaltenes Stück der unvollendeten Oper Rübezahl WeV C.4 (EZ 1804/1805). 25 Luigi Cherubini, Lodoïska (UA 1791). 26 Hugo Ulrich (1827 –1872), Komponist und Lehrer für Komposition am Stern’schen Conservatorium in Berlin, schrieb neben einigen symphonischen Werken auch Chöre und Klavierstücke. Nachdem bereits seine erste Symphonie durch Aufführungen in den großen deutschen Konzertinstituten schnell Bekanntheit erlangt hatte, wurde Ulrichs Symphonie triomphale op. 9, die er zur Hochzeit Leopolds II., des späteren Königs von Belgien, und der österreichischen Erzherzogin Marie Henriette komponierte, 1853 mit dem Preis der Königlichen Belgischen Akademie ausgezeichnet. 27 Seine erste und sehr erfolgreiche Deutschlandreise von November 1842 bis Mai 1843 (siehe dazu Berlioz 1844 Voyage musicale en Allemagne) brachte Berlioz im Februar und März 1843 auch nach Leipzig, welches er bei seiner zweiten großen Tournee durch Deutschland erst wieder im Dezember 1853 ansteuerte.
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Egypten, deren Entstehung ich als Ihnen bekannt voraussetze.28 Der Componist Berlioz wetteifert hier mit dem Kritiker und Feuilletonisten desselben Namens, der hohen Kritik ein Schnippchen zu schlagen und den Verehrern der guten alten Zeit eine geniale Nothlüge als Wahrheit anzubinden. Er schreibt diese modernste Composition, welche in jedem Ton die naivste Frömmigkeit athmet, einem fingirten französischen Componisten zu, der vor fast 200 Jahren gelebt habe und führt damit die Pariser auf die liebenswürdigste Weise hinter’s Licht.29 Nennen Sie mir ein Mitglied der Pariser Akademie, welches versteht, einen ähnlichen frommen Witz zu machen, zu lügen, indem man die lauterste Wahrheit sagt, und ich will mich nicht länger ärgern, daß man einem Berlioz den Ehrenplatz in diesem Institut versagt. Man wird dies Werk noch in späten Zeiten im Familienkreise zur Weihnachtszeit singen, und sich wundern über die Frömmigkeit des verschrieenen 19. Jahrhunderts. Das Orchester besteht aus einem Quartett von Streichinstrumenten, aus Flöten, Oboen, Clarinetten und englisch Horn. Der Text wird von einem gemischten Chor und einem Solo Tenor vorgetragen, welcher erstere in Leipzig durch Dilettanten und Thomasschüler befriedigend, letzterer aber von Hrn. Schneider30 ganz vortrefflich und in der edelsten Weise ausgeführt ward. – Tante Leipzig hörte ganz andächtig zu und
28 Das beim Leipziger Konzert am 1. Dezember uraufgeführte Werk La Fuite en Egypte (Die Flucht aus Ägypten) ist der spätere zweite Teil von Berlioz’ Trilogie sacrée L’Enfance du Christ (Des Heilands Kindheit) op. 25. Berlioz begann die Komposition von La Fuite en Egypte im Herbst 1850 mit einem vierstimmigen Andantino für Orgel von „ländlich-naiven mystischen Wesen“, welches er dann mit Text unterlegt zu einem Hirtenchor umarbeitete (L’Adieu des bergers à la Sainte Famille) und ihn unter Hinzufügung des auf den Hirtenchor folgenden Stücks Le Repos de la Sainte Famille in die Handlung der in Bethlehem rastenden, heiligen Familie einbettete. Mit der Komposition einer Ouvertüre beschloss Berlioz diese „mystère“ getaufte Miniatur-Kantate, La Fuite en Egypt. Die beiden weiteren Sätze – in Form der Fortsetzung L’Arrivée à Sais (Die Ankunft in Sais) sowie der Vorgeschichte Le Songe d’Hérode (Der Traum des Herodes) – komponierte Berlioz 1854 aufgrund des durchschlagenden Erfolgs sowohl von Le Repos als auch der gesamten mystischen Kantate La Fuite en Egypt. Die vollständige Uraufführung der Trilogie L’Enfance du Christ fand im Dezember 1854 in Paris statt. 29 Berlioz führte am 12. November 1850 in Paris seinen Hirtenchor L’Adieu des bergers à la Sainte Famille als ein aus dem Jahre 1679 stammendes, durch ihn wiederentdecktes Fragment von Pierre Ducré, eines ehemaligen Kapellmeisters der Pariser Sainte-Chapelle, auf. Der fiktive Komponistenname geht auf den befreundeten Architekten Louis-Joseph Duc (1802 –1879) zurück, der im Herbst 1850 Berlioz den Anstoß zur Komposition des Andantino gegeben hatte. Diese Informationen sind einem Brief Berlioz’ an John Ella vom 15. Mai 1852 (Berlioz-Briefe 4, S. 156 –159) zu entnehmen, welcher von Berlioz selbst mit Blick auf die Veröffentlichung verfasst zu sein scheint, einen detaillierten Bericht über den Kompositionsverlauf von La Fuite en Egypt gibt und auch bereits wenige Tage später im Programm des Musical-Union-Konzerts, dann in der britischen Musical World und schließlich im französischen Le Ménestrel publiziert wurde. Aufgrund der großen Begeisterung von Ausführenden und Kritikern in Bezug auf das Chorwerk, die „den ‚reinen und schlichten‘ Stil“ (Berlioz-Werke 11, S. XVIII) lobten, scheint es noch zu einer weiteren Aufführung von L’Adieu des bergers unter dem Namen Ducré 1853 in der Société Philharmonique gekommen zu sein, bevor die wirkliche Autorschaft Berlioz’ durch Duc selbst aufgedeckt wurde und Berlioz im gleichen Jahr die gesamte Kantate unter seinem Namen publizieren ließ. 30 Karl Schneider (1822 –1882), war sowohl als lyrischer Tenor wie auch als Opernsänger an den Bühnen in Leipzig, Frankfurt am Main, Wiesbaden und Rotterdam sehr beliebt und erlangte vor allem durch seine jahrelang ausgeführte Partie des Evangelisten in Bachs Matthäus-Passion Berühmtheit.
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freute sich in dem jungen Hektor, von dem es nur wilde Streiche vermuthet hatte, einen so gesitteten Mann kennen zu lernen, der mit wenig Mitteln trefflich Haus zu halten wußte. Sparsamkeit ist bei haushälterischen Leuten, die gegen pietätsloses Wirthschaften mit theuren Ersparnissen empört protestiren, immer eine gute Empfehlung. Nun aber folgten die 3 ersten Sätze der Harold-Sinfonie31. Berlioz knüpft hier unmittelbar an Beethoven an, wo er in der Pastoral-Sinfonie eine Reihe von Bildern vor die Augen der Seele stellt, in welchen er das empfindende Herz über dem Gegenstand schweben läßt und es mit seeligem Jubel durch die von Menschen und Creaturen belebte Natur leitet. Berlioz aber stellt auf den gluthfarbigen Hintergrund italischer Landschaft ein sehnsüchtig aufblickendes Menschenbild. Fühle ich es recht heraus, so ist es der polyphone specifische Musiker, welcher den Poeten Berlioz zwingt, für die Fülle seines vielstimmigen Ausdrucks eine dramatische Gestalt innerhalb der Sinfonie zu schaffen, damit das Weben der Natur und der über ihr waltende Geist nicht mehr allein sei, sondern daß die fühlende Menschenseele dazutrete, um im [4] Ringen nach dem Verständniß beider, beide ergänzend zu verstehen und zu genießen. Diesem Drange verdankt die Solo-Bratsche dieser Sinfonie ihr Dasein. Es ist nun nicht mehr eine Reihe von Naturbildern, wie sie in ihrer Wirkung auf das Gemüth in der Pastoral-Sinfonie dargestellt sind, sondern das Gemüth selbst ist hier der Held und die Beziehungen dieses besonderen Gemüthes zu den wechselnden Scenen der Natur sind der Gegenstand der Berlioz’schen Tondichtung. Haben wir also wirklich neben dem specifischen Musiker einen Dichter vor uns, so erhöhen sich plötzlich die Ansprüche, die wir nun an beide zu machen haben. Wir verlangen von dem Dichter einen logischen Zusammenhang, die Begründung einer innern Nothwendigkeit in der Folge der einzelnen Theile seines Gedichts. Wir wünschen, Zeugen einer handelnden Innerlichkeit zu sein, sie fortschreitend sich entwickeln, untergehen oder sich verklären zu sehen. Hier aber, wo wir diese erhöhten Anforderungen an Berlioz stellen, die sein eignes Beginnen in uns steigernd hervorrief, befriedigt uns Berlioz nicht, oder nur halb. Doch müssen wir bedenken, daß Berlioz, welcher den Impuls zu musikalische[m] Schaffen meist durch poetische Größen, wie Shakespeare, Göthe, erhält, hier durch Byron32 angeregt ist. Auch Byron’s Harold ist kein handelnder, sondern nur ein wandelnder Held, dessen erhabene Trauer über die Vergänglichkeit alles Großen und Irdischen contrastirt durch die Schilderung der unvergänglich schönen Natur, auch in diesem Gedicht zu keiner Spitze sich emporringt, sondern in Wellenwindungen sich fortbewegend, im selben Niveau bleiben[d]. – Ich fühle, daß ich zu weitschweifig werde, und möchte es doch gern bei weitem mehr sein. Doch daher erzähle ich Ihnen sogleich, daß Herr David33 in jenem Concert das Bratschen-Solo mit tief eingehendem Verständnisse spielte, so wie auch diesem Künstler Anerkennung für das ächt künstlerische Entgegenkommen gebührt, welches er Berlioz gegenüber außerhalb des Concertsaals einhält. Tante Leipzig aber rückte verlegen an ihrer Gewandhaushaube, als der Andächtige so modern schwärmte. Harold en Italie op. 16 (EA 1834). 32 Als Inspirationsquelle für die Harold-Symphonie diente Berlioz Lord Byrons Versepos Childe Harold’s Pilgrimage (Childe Harolds Pilgerfahrt, EZ 1812 –1818). 33 Ferdinand David (1810 –1873), deutscher Violinist, war seit 1836 Konzertmeister des Leipziger Gewandhausorchesters und brachte dort u. a. auch Mendelssohn Bartholdys Violinkonzert e-Moll op. 64 zur Uraufführung. 31 Berlioz,
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Nun aber kam die Fee Mab34. Als nach dem Vorüberrollen dieser NußschalenFeenwagens voll Quintessenz Shakespeareschen Humors, eine kleine aber sachverständige Parthei zu applaudiren wagte – machte sich der Aerger darüber in Zischen Luft, welchem dann aber die kleine, aber sachverständige Parthei ein durch manche andre Stimme verstärktes, sonores, leidenschaftliches Bravo entgegenstellte, worauf der zu neuem Zischen zusammengepreßte Luftvorrath sich bestürzt zurückzog und anderweitige Auswege suchte, auf welchen wir ihm nicht folgen wollen. – Dem zarten Vortrag des Tenoristen, Hrn. Schneider, gelang es mit dem „Schäfer aus der Bretagne“35 wieder etwas Oel auf die von den vollen Backen des humoristischen Aeolus36 zu stürmischen [sic] Widerstreit aufgeregten Wogen zu gießen. Sie legten sich dann auch, denn hier konnte man sich Gott sei Dank wieder einmal sagen: Wie einfach! – Es folgte nun die Scene aus Faust, in welcher Mephisto ihn „einsingen“ läßt.37 So einzig auch in dieser Composition das magisch Einschläfernde, dieser wunderbare Sandmann, geschildert sind[,] die schwer niedersinkenden Augenlider, die vom Schauen des Schönsten ermüdet sich schließen, um noch viel Herrlicheres im Traume zu schauen, so sehr das Werk von Schönheiten träuft, war es dennoch für heute fast zu viel, wenn man bedenkt, daß dem Publikum Alles neu, und außerdem die 8. Sinfonie von Beethoven vorangegangen war. War die Tante also vielleicht unter den magnetisch sie bestreichenden Blicken des dunkeläugigen Hektor sanft eingenickt, so konnte sie nun doch seinen lustigen Geschichten vom „römischen Carneval“38 ein Lächeln nicht versagen und der letzte Applaus nach dieser Ouvertüre klang etwa wie ein gnädiges: „Sprich einmal wieder vor, wenn du vorbeikommst.“ Mir aber gönnen Sie zum Schluß für meinen modernen Lieblingsmeister, für den stolzen und kühnen Helden Hektor, für den vielstimmigen Componisten [5] und vielseitigen Schriftsteller Berlioz39, für den großen Humoristen des 19. Jahrhunderts, eine kleine Lärmfanfare anzustimmen. Wie sein großer Liebeskanon in der Carneval-Ouvertüre,40 diese eines Corregio würdige Umarmung zweier Liebenden41
Roméo et Juliette op. 17 (EA 1839), 4. Szene, Scherzo „La Reine Mab, ou la Fée des Songes“. 35 Berlioz’ Lied Le Jeune Pâtre breton (Der junge bretonische Schäfer, UA der Klavier- und Orchesterfassung 1833 und 1834; ED 1839 revidierte Fassung) für Tenor und Orchester oder Klavier erschien in einer neuen Klavierbearbeitung 1850 als viertes Stück der Liedersammlung Fleurs des landes (Moorblumen) op. 13. 36 Aiolos, griechischer Gott der Winde. 37 Berlioz, Huit Scènes de Faust op. 1 (EZ 1828/1829), Nr. 8 „Sérénade de Méphistophélès“, später übernommen in La Damnation de Faust (Fausts Verdammnis) op. 24 (UA 1846), 3. Teil, 12. Szene „Une rue devant la maison de Marguerite“. 38 Berlioz, Le Carnaval romain (Der römische Karneval) op. 9 (EZ 1844). 39 Berlioz hatte bis zu diesem Zeitpunkt große ästhetische, musiktheoretische und auch schriftstellerische Abhandlungen verfasst wie etwa Berlioz 1838 Symphonies de Beethoven; Berlioz 1844 Grande Traité d’instrumentation sowie Berlioz 1844 Voyage musicale en Allemagne. 40 Berlioz, Le Carnaval romain (Der römische Karneval) op. 9 (ED 1844), ab T. 19 (Andante sostenuto), Duett von Flöte und Englischhorn. 41 Antonio Allegri da Correggio (1489/94 –1534), italienischer Renaissance-Maler, übte sowohl mit dem charakteristischen Einsatz von Helldunkelwirkungen (Chiaroscuro) nach Art Leonardo da Vincis wie auch durch seinen eigenen, den hingebungsvollen Ausdruck mit beinahe lebhaft wirkenden Bewegungen verbindenden Stil nachhaltigen Einfluss auf die Barock-Malerei aus. Von großer Bekanntheit sind seine liebenden Paare, meist Götter darstellenden Gemälde, wie beispielsweise Jupiter und Io (EZ um 1530), welches die Flussnymphe Io und den in Gestalt des Nebels sich nähernden Jupiter im Moment einer liebenden Umarmung zeigt. 34 Berlioz,
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von dem Gewühle und Lärm des Carnevals verschlungen wird, um die Getrennten durch hunderterlei Hindernisse und Masken-Mißverständnisse sich durchwinden und wiederfinden zu lassen, so umarmt der liebevolle Ton-Genius Berlioz die Muse und sieht lächelnd auf das wogende Treiben, versunken in trunkene Umarmung. Da werden Stimmen laut, „Seht da,“ ruft ein Polichinell42 auf die Liebenden deutend: Amor und Psyche!43 Und der große Haufen bildet ehrfurchtsvoll Spalier vor der Gruppe, in welcher er die Statüen44 seiner großen Meister in blühendes Leben verwandelt, erkennt und bewundert.
Kommentar Peter Cornelius’ vorliegende merklich romantisch gefärbte „Lärmfanfare“45 für seinen „modernen Lieblingsmeister“46 Berlioz erschien im Umfeld einer ganzen Reihe von Rezensionen und Stellungnahmen zu Berlioz’ Konzerten in Deutschland. Beginnend mit Liszts Wiederaufführung des Benvenuto Cellini im März 1852 in Weimar, führte die ebenfalls durch Liszt initiierte Berlioz-Woche im November in Anwesenheit des französischen Komponisten sowie dessen eigene Konzerttournee im August und von Oktober bis Dezember 1853 mit Dirigaten in Baden-Baden, Frankfurt am Main, Karlsruhe, Braunschweig, Hannover, Bremen und zuletzt Leipzig zu einer steigenden Präsenz seiner Kompositionen in Deutschland. Diese Aufführungen waren sowohl in Tageszeitungen, insbesondere aber in musikalischen Fachzeitschriften der Auslöser einer intensiven Auseinandersetzung mit dessen Kompositionen, speziell mit seinen programmatischen Orchesterwerken. Etlichen positiven Reaktionen aus den Fliegenden Blättern Johann Christian Lobes, der Rheinischen Musikzeitung und der NZfM47 standen die weniger zahlreichen, doch polemischen
42 Französische
Bezeichnung für Pulcinella, Figur eines listigen, komischen und auch tölpelhaften Dieners bäuerlicher Herkunft der Commedia dell’arte. 43 Wahrscheinlich eine Anspielung auf die seinerzeit sehr bekannte, vom Bildhauer Antonio Canova 1793 geschaffene marmorne Darstellung der mythischen Liebesbeziehung zwischen Amor und der sterblichen Königstochter Psyche. 44 Häufig gleichbedeutend mit dem Begriff Statue verwendet. 45 Vorliegender Artikel, S. 615 [5]. 46 Ebd., S. 615 [4]. 47 Positive Reaktion auf die Berlioz-Woche 1852 waren beispielsweise Lobe 1853 Liszt und Berlioz in Weimar, in: NdS 1 Nr. 38; Lobe 1853 Hektor Berlioz, in: NdS 1 Nr. 43 sowie Anonym 1853 Les Soirées d’Orchestre aus der Rheinischen Musikzeitung, die sich ebenfalls befürwortend zum Hannoveraner Konzert vom 16. November äußerte (Anonym 1853 Hannover; 12. 1853 Hannover, in: NdS 1 Nr. 53). Das in Rede stehende Konzert in Leipzig wurde von ihr durch eine mit „30.“ gezeichnete Rezension unter dem Titel Leipziger Briefe und von der NZfM mit einem über vier Nummern fortlaufenden Artikel Richard Pohls (Pohl 1853 Hector Berlioz) sehr wohlwollend bedacht.
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Kritiken in den Grenzboten gegenüber.48 So wandte sich u. a. Otto Jahn Ende Dezember mit einer dem Aufsatz von Cornelius’ direkt vorausgehenden Rezension bezüglich der Leipziger Konzerte49 offen und hart gegen Berlioz’ programmmusikalisches Konzept, gegen seine materialistische und tonmalerische kompositorische Umsetzung sowie gegen die sich seiner Meinung nach zu stark emanzipierende Instrumentation.50 Auch wenn der vorliegende Artikel im Berliner Echo erschien und den zumeist angriffslustigen Ton vermissen lässt, ist er freilich dem Wirken und Werben des Weimarer Kreises zuzuschreiben. Cornelius’ verstärkt praktische Auseinandersetzung mit Berlioz’ Werken könnte einem Rehabilitierungsversuch geschuldet sein, da dem Franzosen eine umfassende Anerkennung in Frankreich u. a. aufgrund der Ablehnung durch die Pariser Akademie verwehrt worden war.51 Cornelius’ charakteristischer Stil, der einen Hang zu in romantischer Tradition stehender Suche nach Poesie und Schönheit offenbart, zeigt dennoch, dass seine vorliegenden Argumente für die Kompositionsweise und Ästhetik Berlioz’ eng mit den Ideen der Fürsprecher Wagners und Liszts verwandt sind. Bevor Cornelius in den 1860er Jahren auf Wagner traf und daraufhin in ihm den größten und in der Nachfolge Beethovens bedeutendsten lebenden Komponisten erblickte, schrieb er diese Position in den 1850er Jahren noch Berlioz zu.52 So gründete er die auch im vorliegenden Artikel herangezogene Trias Bach-BeethovenBerlioz gerade auf die vom deutschen poetischen, ernsthaften Geist durchdrungenen, organischen Ideen Berlioz’ und verortete in ihnen nicht nur die Weiterführung der poetischen
48 Die Grenzboten publizierten in dieser Zeit mehrere negative Aufsätze über Berlioz (u. a. Jahn 1853 Die Verdammniß des Faust) und zum Leipziger Konzert (Anonym 1853b Musik sowie Jahn 1853 Hector Berlioz in Leipzig). Siehe im Kommentar zu Jahn 1853 Hector Berlioz in Leipzig, in: NdS 1 Nr. 55. 49 Neben dem Gewandhaus-Konzert vom 1. Dezember gab Berlioz anlässlich seines 50. Geburtstages am 11. Dezember noch ein weiteres Konzert in Leipzig, zu dem die Weimarer Anhängerschaft erneut anreiste. In einer anschließenden Ehrenfeier überreichte Cornelius im Auftrag von Liszt und der Fürstin Carolyne von Sayn-Wittgenstein Berlioz einen Lorbeerkranz mit einem von ihm selbst verfassten und vorgetragenen Huldigungsgedicht (Cornelius-Werke 4, S. 273 f.). 50 Siehe beispielsweise Jahn 1853 Hector Berlioz in Leipzig, S. 486 f., in: NdS 1 Nr. 55, S. 600 – 602. 51 In einer umfassenden und äußerst positiven französischen Rezension zu Berlioz’ La Damnation de Faust in der Pariser Revue et Gazette musicale bestätigte Leon Kreutzer noch Ende des Jahres 1854 die geringe Berücksichtigung der Werke Berlioz’ in Frankreich und warf sogar die Frage auf, warum dieser in Deutschland bereits mehr geschätzt werde als in seinem Heimatland: „Ces réflexions viennent donc se placer tout naturellement en tête de mon travail sur la partition de Faust de M. Berlioz, cette partition célèbre en Allemagne et si peu connue en France. Moimême, puis-je dire que je l’ai entendue? Interpretée dans son entier en 1846, elle ne fut exécutée depuis que deux fois à la Société philharmonique“ (Kreutzer 1854 Le Faust de Hector Berlioz, S. 392). 52 Cornelius’ Enthusiasmus für Berlioz, den er am Tag nach dem Konzert in Leipzig persönlich kennenlernte, sowie insbesondere für seine dramatischen Kompositionen schlug sich neben seinem Engagement für den Komponisten auch in der durch Liszt vermittelten Anfertigung deutscher Textfassungen einiger der Werke nieder. Nachdem er bereits 1852 die deutsche Fassung für Benvenuto Cellini verfasst hatte (ED des Libretto 1856), übergab ihm Berlioz bei ihrem Treffen in Leipzig gleich sein Werk La Fuite en Egypte (Die Flucht nach Ägypten, ED 1854) zur Übersetzung. An weiteren Übertragungen Berlioz’scher Werke folgten u. a. L’Enfance du Christ (Des Heilands Kindheit, ED 1855), La Captive (Die Gefangene, ED 1855), Lélio ou Le Retour à la vie (Lelio oder Die Rückkehr ins Leben, ED 1855) und Les Nuits d’été (Die Sommernächte, ED 1856); vgl. dazu Schneider 2006 Cornelius als Berlioz-Übersetzer, S. 84 –106.
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Vorstellungen Beethovens, sondern deren Überschreitung. Cornelius’ hier geäußerte Argumentationskette, dass er seinem in romantischen Vorstellungen wurzelnden Bild des DichterKomponisten treu bleibt und charakteristischerweise mehr in ein „emotionales Schwelgen“53 verfällt, als konkrete analytische Aussagen über Musik zu treffen, unterscheidet sich von anderen Berlioz-Fürsprechern, die seine Werke zwar ebenfalls als dialektische Überhöhung Beethovens anpriesen, sie jedoch beispielsweise mit der „Sicherheit der Wirkung“ und „Klarheit und Durchsichtigkeit der Instrumentation“54 Berlioz’scher Werke begründeten. Besonders auffällig erscheint, dass Cornelius in seinem Aufzeigen der poetischen Fähigkeiten, mit denen Berlioz den außermusikalischen Stoff behandele, wiederum dem programmmusikalischen Konzept Liszts sehr nahe steht. Liszt hatte sich dazu in seinem in französischer Sprache verfassten und von Cornelius ins Deutsche übertragenen Aufsatz über Berlioz’ Harold-Symphonie55 geäußert, der 1855 publiziert wurde. Wie auch Liszt sieht Cornelius in Berlioz’ Harold-Symphonie ein direktes Anknüpfen an Beethovens Pastorale und speziell an die darin der „empfindende[n]“56 Seele vor Augen gestellte Reihe von Bildern. Cornelius hebt genau diejenige sich in Berlioz vereinende notwendige Verbindung eines „polyphone[n] specifische[n] Musiker[s]“57 mit dem Dichter heraus, welche Liszt als Voraussetzung für den einzig wahren Komponisten zulassen will.58 Einigkeit zwischen Cornelius und Liszt herrscht ebenfalls darin, in Berlioz’ Komposition nicht nur eine Darstellung der Wirkung von Bildern auf das „Gemüth“59, sondern gerade der mit den Bildern in Beziehung tretenden Seele des Protagonisten zu sehen.60 Die Kritik Cornelius’ an Berlioz, in der HaroldSymphonie die Aufgabe des wahren Dichters, nämlich die dramatische Logik des Gedichts auch musikalisch umzusetzen, nicht zu erfüllen, ist insofern eine besondere, als auch Liszt genau diese Vorgabe in seinem Konzept des „malende[n] Symphonist[en]“61 verlangt. Die dramatische Fähigkeit des Poeten liegt daher laut Cornelius darin, die „innere Nothwendigkeit in der Folge der einzelnen Theile seines Gedichts“62 aus sich selbst heraus zu motivieren, die Liszt als „eine Folge von Seelenzuständen“63 beschreibt. Dafür bedürfe das Programm jedoch nicht eines in nur seinen Taten dargestellten Helden64, sondern eines aus inneren Beweggründen heraus Handelnden. Bedeutsam hervorzuheben ist hierbei, dass Cornelius die Schwachstelle der Berlioz’schen Kompositionen ursächlich genau dort – nämlich in dessen
2004 Peter Cornelius als Kritiker und Essayist, S. 27. 54 Beide Zitate 12. 1853 Hannover, S. 1417, in: NdS 1 Nr. 53, S. 563. 55 Siehe Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, in: NdS 2 Nr. 76. 56 Vorliegender Artikel, S. 614 [3]. 57 Ebd. 58 Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, S. 51, in: NdS 2 Nr. 76, S. 903: „Nur dem Tondichter ist es gegeben, die Grenzen der Kunst zu erweitern, indem er die Fesseln zerbricht, die den freien Aufschwung seines Gedankens hemmen. […] Der specifisch musikalische Componist, der gerade nur auf das Verbrauchen des Stoffes Werth legt, ist nicht fähig, ihm neue Formeln abzugewinnen, neue Kräfte einzuhauchen, weil ihn keine geistige Nothwendigkeit zum Auffinden neuer Hülfsmittel treibt.“ Und weiter: „Der malende Symphonist, der sich die Aufgabe stellt, ein in seinem Geist deutlich vorhandenes Bild eben so klar wiederzugeben, eine Folge von Seelenzuständen zu entwickelt, die ihm unzweideutig, bestimmt im Bewußtsein liegen, wie sollte er nicht vermittelst eines Programms nach vollem Verständnis streben?“ (ebd., S. 904 [52]). 59 Vorliegender Artikel, S. 614 [4]. 60 Was Cornelius als musikalische Umsetzung der „fühlende[n] Menschenseele“ (ebd., S. 614 [3].) bezeichnet, beschreibt Liszt nahezu wortgetreu als „das Ideal von Seelenstimmungen“ (Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, S. 54, in: NdS 2 Nr. 76, S. 907). 61 Ebd., S. 52, in: NdS 2 Nr. 76, S. 907. 62 Vorliegender Artikel, S. 614 [4]. 63 Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, S. 52, in: NdS 2 Nr. 76, S. 904. 64 Vorliegender Artikel, S. 614 [4]. 53 Deaville
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Vorlage von Lord Byron – sieht, wo Liszt geradezu die Schlüsselstelle seines programmmusikalischen Konzepts erkennt.65 Diese Differenz sollte die große Nähe zu den programmmusikalischen Ideen Liszts keinesfalls überdecken. Vielmehr sollte es augenscheinlich sowohl der Erhöhung von Cornelius’ Ansehen in der Musikszene sowie bei Liszt selbst dienen. Bevor Cornelius 1852 von Berlin gezielt nach Weimar in Liszts Dunstkreis umsiedelte, hatte er diesen bereits – neben mehreren Rezensionen für das Berliner Echo66 – mit einer überaus positiven Rezension67 des von Liszt verfassten Aufsatzes über Frédéric Chopin68 auf sich aufmerksam gemacht. Dass er daraufhin seinen ersten Auftrag von Liszt für eine Berichterstattung über das Karlsruher Musikfest 1853 erhielt,69 kam seinen für die moderne Kunst engagierten schriftstellerischen Ambitionen sicherlich entgegen.70 Dementsprechend gestand er auch nach Fertigstellung des vorliegenden Artikels seine Hoffnung, sich mit diesem „Bericht über das Konzert von Berlioz in Leipzig […] auf verschiedenen Wegen und auf ehrenhafte Weise […] in den Mund der Leute zu bringen“71. 1854 begann Cornelius schließlich eine Reihe von Rezensionen für die NZfM zu verfassen.72 Wenn Cornelius in vorliegendem Werbungsschreiben für Berlioz auch wesentliche ästhe tische und musikalische Anschauungen des progressiven Zirkels um Liszt und Wagner vertrat, unterschied er sich mit seinem fern jeglicher Polemik stehenden, vielmehr durch Humor kritisierenden Stil, durch „Fairneß und Unabhängigkeit“73 und durch den Verzicht auf „parteiische Vorurteile“74 erheblich von anderen Mitstreitern des Weimarer Kreises.75 So stellt
65 „Niemand
bestreitet es mehr in der Literatur, daß Göthe und Byron berechtigt waren, die philosophische Epopöe zu erfinden oder einzuführen, als eine Erzählung innerlicher Vorgänge, deren Keim in dieser oder jener Nation und Epoche vorzugsweise vorhanden ist und in den Herzen gährt, und durch Uebertragen solcher exclusiver Seelenzustände auf ein Einzelwesen dieses zu einer Bethätigung hinzudrängen“ (Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, S. 54, in: NdS 2 Nr. 76, S. 907). 66 Das auch in seinen Augen erste literarische Werk war der 1851 publizierte Artikel zu Meyerbeers Propheten (Cornelius 1851 Ueber den „Propheten“ von Meyerbeer). 67 Cornelius 1852 Friedrich Chopin von Franz Liszt. 68 Liszt 1851 Friedrich Chopin. 69 Der von Liszt angeforderte Bericht Cornelius’ über das Karlsruher Musikfest von 1853 blieb jedoch wegen Cornelius’ Abneigung vor zu großer Propaganda und der daraus resultierenden stilistischen Meinungsverschiedenheit fragmentarisch. Für den Liszt vorschwebenden, das Fest publizistisch bewerbenden Stil schien Richard Pohl geeigneter, der schließlich mit seiner Broschüre die offizielle Stellungnahme zum Musikfest übernahm (Pohl 1853 Das Karlsruher Musikfest bzw. den Bericht für die NZfM Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51). 70 Seine Begeisterung für die Anschauungen und Projekte des Zirkels um Liszt zeigte sich auch in seinem schriftstellerischen Engagement für die Laterne, „dem handschriftlichen Witzblatt der Weimarer Liszt-Freunde“ (Deaville 2004 Peter Cornelius als Kritiker und Essayist, S. 21), genannt „Neu-Weimar-Verein“, das er 1855 auch einige Monate redigierte. 71 Brief Cornelius’ vom 12. Dezember 1853 an seine Verwandten in Bernhardshütten (in: Cornelius-Werke 1, S. 151). 72 Siehe beispielsweise seinen ersten Beitrag, die Rezension von Henry Litolffs Ouvertüre op. 80 (Cornelius 1854 Concertmusik. Ouvertüren) sowie seine aussagekräftige Besprechung der Preis-Symphonie op. 21 in F-Dur von Richard Wüerst (Cornelius 1854 Concertmusik. Claviersauszüge zu vier Händen, in: NdS 2 Nr. 69). 73 Deaville 2004 Peter Cornelius als Kritiker und Essayist, S. 20 f. 74 Ebd., S. 21. 75 Zu Cornelius’ parteipolitisch zurückhaltendem Stil bemerkte Richard Pohl in seinem Nachruf 1874: „Cornelius […] betheiligte sich an der damals entbrannten Polemik nur ausnahmsweise und vorzog es meist, in ästhetischen Aufsätzen die künstlerische Berechtigung, den poetischen Werth der von ihm hochverehrten Werke nachzuweisen, – auch er, der Friedfertigste und Mildeste von Allen“ (Pohl 1874 Peter Cornelius, S. 527).
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sich der vorliegende Beitrag auch als Zeugnis von Differenzen innerhalb des Lagers um Liszt dar, die Cornelius jedoch nicht davon abbrachten, sich weiterhin für Liszt und Berlioz zu engagieren.76 Ob durch die Anhängerschaft zu Liszt oder schlicht durch seine starke Persönlichkeit bedingt, zeigt der nahezu bedingungslose Einsatz für den französischen Komponisten Cornelius als einen der wenigen, der – anders als Brendel77 – weitestgehend vorbehaltlos über die starren Barrieren einstiger Nationalstereotypen hinwegschreibt. Zudem sind die höchst allegorischen Darstellungen geradezu exemplarisch für Cornelius’ novellistischen, humorvollen, sorgfältig ausgearbeiteten Musikjournalismus, sodass James Deaville ihn sogar „als einen ‚spätgeborenen Romantiker‘“78 bezeichnete.79 Nicht zuletzt erscheint der vorliegende Artikel als Zeugnis dafür, dass Berlioz speziell als poetischer Komponist und auch unabhängig von seiner französischen Herkunft ebenfalls als vom ‚deutschen Geiste‘ ausreichend geprägter Nachfolger Beethovens durch den Weimarer Kreis programmatisch unterstützt und von ihm anerkannt wurde. So zeigen sich in der Darstellung des Leipziger Konzertereignisses und dem dortigen geschlossenen Auftreten der Weimarer Anhänger insgesamt nicht nur die zu dieser Zeit bereits fortgeschrittene Gruppenbildung, sondern in der beschriebenen Konfrontation des Publikums ebenfalls die herrschenden Meinungs extreme wie auch die Bereitschaft zur Identifikation und öffentlicher Stellungnahme auf beiden Seiten.
76 Siehe u. a. Cornelius 1855 Berlioz à Weimar. Concert au théâtre; Cornelius 1856 Im Loh; Cornelius 1857 Franz Liszt in Leipzig sowie Cornelius 1857 Weimar. 77 Dazu siehe Brendel 1855 Weimar. Brendel ‚bekennt‘ darin erstmals seine Hinwendung zu seiner zunehmenden Begeisterung für das Werk Berlioz’. 78 Deaville 2004 Peter Cornelius als Kritiker und Essayist, S. 26. 79 Die Aufsätze Cornelius’ fürs Berliner Echo stießen auf so viel Gefallen, „daß Cornelius später meinte, Kossak imitiere sogar seinen humoristischen Stil“ (vgl. unveröffentlichter Brief Cornelius’ an seinen Bruder Carl Adolf vom 30. August 1851, Quelle: PCA, III 52, S. 10, zit. nach Cornelius-Schriften, S. 20).
Nr. 57 | L. [Ludwig] Bischoff, „Nichts Neues“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 2 (1854), Nr. 1 (7. Januar), S. 1– 3.
Nichts Neues.
„Wie! zum neuen Jahre nichts Neues? Kein neues Programm, kein neues Licht, keine neue Welt? und das in einer musicalischen Zeitschrift, während wir in allen möglichen Blättern lesen, dass die Tonkunst nicht etwa nur sich verjünge, sondern überhaupt erst entstehe und durch und durch neu sei, weil endlich so weit gekommen, dass sie einen Inhalt habe? Fürchten Sie nicht den Fluch Sarastro’s: Wen solche Lehren nicht erfreu’n, Verdienet nicht ein Mensch zu sein1 – d. h. ein Schriftsteller, der seine Federkiele aus den Flügeln der Zeit rupft, ein Kritiker, der sich selbst vergöttert, ein Componist, der nach einem System tondichtet? Wollen Sie gegen den Strom schwimmen? wollen Sie die Unruhe an der Uhr des Geistes fest stellen, welcher stets verneint, um neu zu sein? mit menschlichem Arm in die Speichen des Rades der Propaganda fallen, dessen bewegendes Princip eine göttliche Selbstgenügsamkeit ist? Und wenn es auch an der steilen Höhe der gesunden Natur ein Hinderniss findet oder wie eine von den Schienen gesprungene Locomotive sich in den Sand wühlt: sehen Sie nicht, wie dann Mercurius, der Gott des ehrlichen Erwerbs, und Hercules, der Gott der Fuhrleute, ihm beispringen und ihre gute Freundin, Frau Fama, zu Hülfe rufen, damit sie noch ärger krähe als Frau Venus im Hörselberg, und der Welt weis mache, das Rad laufe unaufhaltsam weiter? Was wollen Sie dagegen machen? Haben Sie Raff’s Briefe an seine Recensenten2, haben Sie Hoplit’s ‚Karlsruher Musikfest‘3 nicht gelesen? Bekehren Sie Sich! Kommen Sie zu uns, zu den Umwälzern, zu den Erfindern; sehen Sie endlich ein, dass man sich weit besser stellt, wenn man unter die Marktrufer geht und den Götzendienst mit Cymbeln und Posaunen feiert, als wenn man daheim hockt und vor dem ewigen Genius seine Hausandacht hält! Wollen Sie den alten abgestandenen musicalischen Plunder Ihren Lesern noch immer als Prachtgewand vorhalten? Wie lange kann es dauern, wenn unsere Wort- und Ton-Helden so fortfahren, bis wir auch von dem Einen, der uns allerdings ahnte, mit Schiller’s Philipp II. sprechen:
Amadeus Mozart, Die Zauberflöte (UA 1791), 2. Aufzug, 12. Auftritt, Nr. 15 „In diesen heil’gen Hallen kennt man die Rache nicht!“. 2 Raff 1853a An die Redaction, in: NdS 1 Nr. 41; Raff 1853b An die Redaction. 3 Pohl 1853 Das Karlsruher Musikfest. 1 Wolfgang
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– – Beethoven? Was will der hier? – Die neunte Sinfonie Ist längst verwirkt. Ich werf ihn zu den Todten.4 Es ist freilich wahr, er ist uns ‚ein Ausgangspunkt‘5 gewesen, man kann seinen Geist etwa wie den Dampf des kochenden Wassers ansehen, der einst den Deckel vom Theekessel empor schleuderte und dadurch eine neue weltbewegende Kraft ins Leben rief. Aber hat er je eine Idee von dem ‚nervös verfeinerten Anschliessen der Form an den Inhalt gehabt, welches zu fein pointirt ist, um sogleich allenthalben klar zu erscheinen‘?I, 6 Oder hat er ‚die Zartheit der poetischen Auffassung‘ gekannt, die unserem Protoplasten der Gesammtkunst ‚die reichsten und dankbarsten Materialien zur tonlichen Symbolisirung gibt‘?II, 7 Hat er sich je zu der kühnen Anschauung emporgeschwungen, dass ‚die Harmonie nichts weiter ist, als der tonische Raum, in welchem sich die Stimmen, einander co- oder subordinirt, nach gewissen gemeinschaftlichen Abschlüssen hinbewegen‘?III, 8 Hat er je an eine ‚künstlerische Nachahmung des Nationalen‘ gedacht, an eine ‚Assimilirung des pathetischen Ausdrucks dem nachgebildeten nationalen, welche ein Absehen von jeder harmonischen oder imitativ contrapunktischen Behandlung verlangt‘?IV, 9 Hat er endlich je das Publicum so weit gebracht, dass ‚ganz fremde Menschen auf den Corridors ihren begeisterten Gefühlen Luft machten und ihren Enthusiasmus jedem entgegen riefen, der ihnen Rede stehen wollte‘?V, 10 Und gesetzt,
I Hoplit
a. oben a. O. S. 41.
II Dito
S. 71.
III Joach.
Raff.
IV Joach.
Raff.
V Hoplit
a. a. O. S. 73.
von Schiller, Don Karlos, 3. Akt, 5. Auftritt, eigentlich: „Was will der hier? – Der Sieg bei Saint Quentin / war längst verwirkt. Ich werf ’ ihn zu den Todten.“ 5 Pohl 1853 Das Karlsruher Musikfest, S. 45: „Die moderne Schule findet in der neunten Symphonie [Beethovens] ihren Ausgangspunkt, betrachtet sie als ersten Schritt auf ein neues Gebiet, und basirt auf dieser ihre Eroberung der erweiterten Kunstformen.“ 6 Ebd., S. 41: „Liszt’s Werk bietet die Erscheinung eines, bis zum Höchsten gesteigerten musikalischen Ausdruckes, und eines fast nervös verfeinerten Anschliessens der Form an den Inhalt dar, welches zu fein pointirt ist, um sogleich allenthalben klar zu erscheinen, so dass mitunter die Grenzlinien des Schönen auf Kosten des Wohlklanges allerdings überschritten werden, aber nicht, weil sie vom Componisten vornehm vernachlässigt würden, sondern weil der Genius hier mit den beengenden Fesseln ringt, welche das Endliche der Erscheinung dem Unendlichen im Künstler so oft anlegt.“ 7 Ebd., S. 71: „Was der innere Sinn erschaut, in dem ganzen Aufschwung idealischer, das Sinnliche verklärender Erregung, das ist das Object dieser Tonmalerei, die auch deshalb höheren Styls sein muss (als bei Berlioz), weil in die Welt der inneren gegenständlichen Anschauung unmerklich die ideale Stimmung hinübergleitet. Auf diese erhabene Höhe hat sich Wagner gestellt, und die Zartheit seiner poetischen Auffassung giebt ihm die reichsten und dankbarsten Materialien zur tonlichen Symbolisirung.“ 8 Hier wird vermutlich folgende Aussage paraphrasiert: „Die Gesetze der Harmonie (im weiteren Sinne der Modulation) und des Rhythmus (im weiteren Sinne des Periodenbaues) sind für mich nichts weiter als die Normen für die Bewegung einer oder mehrer[er] Melodien in Raum und Zeit des Klanges.“ (Raff 1853a An die Redaction, S. 68, in: NdS 1 Nr. 41, S. 405). 9 Diese angeblich auf Raff zurückgehenden Zitate sind nicht nachweisbar. 10 Pohl 1853 Das Karlsruher Musikfest, S. 73: „Und so gelangte das Musikfest denn auf das Herrlichste zum Schluss. So war der Eindruck im Hörer, der Erfolg der Bestrebungen Liszt’s, ein erhebender, nachhaltiger und wirkungsreicher. Ganz fremde Menschen sprachen sich nach Beendigung des Concertes auf den Corridors darüber gegenseitig aus, um ihren begeisterten Gefühlen Luft zu machen, und riefen ihren Enthusiasmus Jedem entgegen, der ihnen Rede stehen wollte!“ 4 Friedrich
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es hätte ihnen Niemand Rede stehen wollen, waren sie desshalb weniger begeistert? Ha-[2]ben sie etwa desshalb in den Wind gesprochen? Das werden Sie nicht behaupten wollen; denn wir haben das alles drucken lassen. Und was können Sie gegen unsere Lehre vom Wahren vorbringen? Muss ich Sie, den Kenner der Griechen und Römer, noch an die Weinbeeren des grossen Malers erinnern, nach denen die Spatzen flogen, um daran zu picken?11 Vergleichen Sie damit den eben geschilderten Enthusiasmus ‚ganz fremder Menschen‘, beweis’t das nicht….“ Dass jene Liebhaber eben Spatzen waren? Allerdings. Damit unterbrach ich endlich den feurigen Redner, den die blosse Ueberschrift „Nichts Neues“ so in Harnisch gebracht hatte, und dankte Gott, dass er mir darauf verblüfft den Rücken drehte und mir Zeit gönnte, mich an die Leser der Niederrheinischen Musik-Zeitung zu wenden. Es ist so. Der Verein von tüchtigen Männern, die sich mit mir verbunden haben, um diese Zeitschrift zu einem Organe der Verbreitung echten Kunstsinnes zu machen, um dem wahrhaft künstlerischen Streben der Zeitgenossen Anerkennung zu verschaffen, dagegen die Mittelmässigkeit zu kennzeichnen, und vor Allem die Anmaassung zu bekämpfen, welche der Kunst das Ungeheuerliche aufdrängen will – wir alle können und wollen kein neues Programm für dieselbe aufstellen. Wir können und wollen nur an dem alten Bekenntnisse festhalten, dass wir nun und nimmermehr das Neue mit dem Schönen gleichstellen werden, aber überall, wo das Neue Schönes bringt, es mit Freuden aufnehmen. Den Canon aber für das Schöne lassen wir uns nicht durch kunstphilosophische Systemmacherei aufdrängen; wir entwickeln ihn, wie jede wahre Kunst-Theorie es thut, aus den Kunstwerken selbst, und dabei leiten uns die Werke der unsterblichen Meister, also allerdings das von der neuesten Schule verfehmte Monumentale, nicht aber abstracte Theorieen und Grübeleien, welche, in gänzlicher Verkennung des Wesens der Kunst und des künstlerischen Bildungstriebes, für die Aufgabe der Kunst eine absolute Lösung suchen, welche doch nur bei der Wissenschaft möglich ist. Jene Schule spricht viel von den neuen Eroberungen auf dem Gebiete der Tonkunst. Aber die Kunst kann keine Eroberungen machen durch Worte: ihre Waffen und Heere sind Werke. Am wenigsten wird die Musik, deren Reich nicht von der Welt des Verstandes ist, durch Philosopheme und Abstractionen gefördert werden, zumal wenn Ihr sie nicht rein von fremdartigen Einflüssen, nicht als selbstständige Kunst festhaltet; denn von je her ist, wie Göthe sehr richtig sagt, eines der vorzüglichsten Kennzeichen des Verfalles der Kunst die Vermischung der verschiedenen Arten derselben gewesen,12 und dies gilt nicht nur für die Instrumental-, sondern
11 Der
griechische Maler Zeuxis von Herakleia (5. Jahrhundert v. Chr.) hat angeblich Weintrauben so naturgetreu gemalt, dass Vögel an ihnen zu picken versuchten. 12 Johann Wolfgang von Goethe, Propyläen, Einleitung (ED 1798), in: Goethe-Werke 18, S. 468: „Eines der vorzüglichsten Kennzeichen des Verfalles der Kunst ist die Vermischung der verschiedenen Arten derselben.“
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auch für die Vocal-Musik, wenn, wie in neuerer Zeit geschehen, das eigenthümliche Wesen der Dichtkunst und der Tonkunst, das auf der nie zu vertilgenden Verschiedenheit ihres Stoffes, des Wortes und des Tones, beruht, ganz und gar verkannt wird. Eine beliebte Behauptung ist auch die, dass die Tonkunst in unserer Zeit einen grossen Fortschritt gemacht, weil die Instrumental-Musik erst jetzt einen Inhalt bekommen habe. Einen Inhalt – ei, was Sie sagen! Wir sind bisher so glücklich gewesen, in dem, was Haydn, Mozart, Cherubini, Beethoven, Spohr, Weber u. s. w. gemacht haben, bereits einen Inhalt, und zwar einen sehr schönen, gefunden zu haben; allein wir sind wahrscheinlich Kinder oder ungebildete Naturmenschen, für welche die musicalische Symbolik ein Buch mit sieben Siegeln ist; jedenfalls haben wir nicht die geringsten Ansprüche auf den Ehrentitel: denkende Künstler. Ein denkender Künstler! Glauben Sie etwa, verehrte Leser, dass man heut zu Tage darunter einen Componisten verstehe, der Musik denkt, der, wenn ihm die melodischen Thema’s aus der Seele gequollen, über die Mittel nachdenkt, welche ihm seine Kunst und sein Wissen in derselben an die Hand geben, jene musicalischen Gedanken durch ganze Sätze hindurch, durch alle Stimmen hindurch folgerichtig zu entwickeln und zu schöner Form zu gestalten und abzurunden? der den Verstand nur gebraucht, um den Rossen der Phantasie die Zügel zu halten, um durch die Begeisterung nicht trunken zu werden, um neben das Genie die Besonnenheit zu stellen, welche die Ideen des Genie’s zu wirklich künstlerischen Gebilden, zu wahren Kunstwerken in vollendeter Form, ohne die kein solches denkbar ist, auszuarbeiten und sie in diesen zur sinnlichen Erscheinung zu bringen strebt? Irrthum, dicker Irrthum! Ein denkender Tonkünstler ist derjenige, welcher sich zu bestimmten Stunden des Tages, die er dem Studium der Philosophie abdingt, hinsetzt und den Vorsatz fasst, zu componiren. Hierauf sucht er – etwa eine Melodie, ein Thema? Ei bewahre! dann würde er ja, wenn diese phantastischen Geschöpfe, welche ihren eigenen Kopf haben, ihm auch nicht von selbst zufliegen, doch wenigstens in der Sphäre der Musik bleiben. Also was sucht er? Einen Gegenstand. Und dieser Gegenstand muss ausserhalb der Musik liegen, er muss ein Aeusseres sein, damit er dieser ein Inneres ver-[3]leihe, auf dass diese vage, ziellose Kunst endlich einen Inhalt bekomme, den sie noch nie gehabt. Hat der denkende Künstler nun diesen Gegenstand gefunden, etwa den Einsturz der Mauern von Jericho, oder eine Wüste, oder einen römischen Carneval, oder einen Romeo oder Columbus, oder einen heiligen Gral, oder eine Alpen-Wirthschaft am Giessbach, oder was sonst, so denkt er weiter darüber nach, wie er ihn tonisch symbolisire oder symbolisch betone. Leitender Grundsatz dabei ist nicht die Kunst der Harmonie, der contrapunktischen Stimmführung, der thematischen Arbeit nach Art der bewährten Meister, sondern das Neue, das Unerhörte. Melodie ist zu subjectiv, wird also verworfen; statt ihrer treten kleine, fingerlange Motivlein auf, die hier und da wie Irrlichter in einer wahren Höllenangst zwischen den unaufhörlich auf einander prallenden Nonen- und Undecimen-Accorden aufflackern, und die ganze Arbeit wird nur dann das echte Gepräge der modernen Tonkunst tragen, wenn sie, unbekümmert um die Gränzlinien des Schönen, ja, diese „auf Kosten des Wohlklangs mitunter überschreitend“, dem Zuhörer das Götter-Schauspiel darbietet, wie „der Genius mit den beengenden Fesseln ringt, welche das Endliche der Erscheinung dem Unendlichen im Künstler
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anlegt“ VI, 13 – ecce par dignum Deo, vir fortis cum mala fortuna compositus! 14 (Seneca Philosophus de Providentia, cap. 2.) – Kann dann auch eine solche Composition „eine absolute Reinheit und Sicherheit des Vortrags bei der Wiedergabe nicht erzielt sehen“VII, 15, was thut’s? „Dadurch geschieht es, dass sie zu einer weit geistvolleren als klangvollen wird und desto mehr Ueberraschendes und Frappirendes bietet“VIII, 16. O Ihr Ueberverständigen und unverständlich Transscendentalen! Wollt Ihr wissen, was der wahre Inhalt der Musik ist? Die Melodie ist es, der musicalische Gedanke ist es, nichts Anderes auf der Welt. Je mehr sie auf das innere Gefühl, auf das geistige Pathos wirkt, desto mehr ist sie das eigentliche Leben der Tonkunst; je reiner und vollständiger sie einen in sich begränzten Inhalt unseres Gefühlslebens, eine Empfindung unseres Inneren ausdrückt, je weniger sie vom Aeusseren bunte Flitter borgt, um damit ihre ärmliche Blösse an Wahrheit und Tiefe zu verhängen, desto gelungener, desto kunstwürdiger ist sie. Je mehr Ihr die Melodie unter der Masse des Materiellen erdrückt, desto mehr wird die Musik Fratze; je mehr Ihr an den Verstand Forderungen stellt, um Eure Intentionen aufzuspüren, desto weiter entfernt Ihr Euch von der Kunst; statt der geistigen Schwingen, die der Genius regt, zimmert Ihr Euch Flug-Maschinen, und je mehr es Euch durch rasselndes Arbeiten mit Händen und Füssen und gedungene Tagelöhner an den Flaschenzügen von aussen gelingt, Euch einen Augenblick zu erheben, desto eher werdet Ihr den Schwerpunkt Eurer eigenen Kraft verlieren, desto unsanfter werdet Ihr niederplumpen und begraben und vergessen unter den Trümmern Eures Apparates liegen bleiben. Du aber, o Muse der Tonkunst, verschleiere Dich nicht für Deine wahren Jünger in Schmerz und Verdruss über die, so Dich verkennen und Deine königliche Stirn in den Staub ziehen! Verachte ihre Deuteleien und Alfanzereien, und nimm von allen, die Dir treu bleiben, auch in diesem neuen Jahre und allen folgenden die Huldigung auf, welche aus der freudigen Ehrfurcht vor dem Unaussprechlichen Deines Wesens entspringt! L. Bischoff.
VI Hoplit
a. a. O. S. 41.
VII Dito
S. 40.
VIII Dito
S. 40.
13 Ausführliches Zitat siehe vorliegendert Artikel, Anm. 6. 14 (Lat.) „sieh nur: ein Paar, des Gottes würdig: ein tapferer Mann, im Kampf mit einem schlimmen Schicksal“, in: Lucius Annaeus Seneca, De Providentia, 2. Kapitel. 15 Pohl 1853 Das Karlsruher Musikfest, S. 40: „Der einzig gerechte Vorwurf, den man der Cantate [Liszts An die Künstler S 70] machen kann ist, dass sie nicht rein gesangsmässig, sondern mehr in[s]trumental gedacht sei. Liszt muthet der Biegsamkeit und Sicherheit der Stimme in Bezug auf Vorhalte, Ausweichungen, enharmonische Verwechselungen etc. zu viel zu, und kann deshalb bei der Wiedergabe seines Werkes jene absolute Reinheit und Sicherheit des Vortrages nicht erzielt sehen, welche unzweifelhaft erforderlich ist, um diesem Werk in seinem verschlungenen, kunstvoll und geistreich angelegten Bau folgen zu können. Dadurch geschieht es, dass die Composition zu einer weit geistvolleren als klangvolleren geworden ist, obgleich sie dem musikalisch vollkommen gebildeten Sänger nichts Unmögliches, und dem musikalisch feinen Ohr nichts Unerhörtes, wenn auch sehr Ueberraschendes und Frappirendes bietet.“ 16 Ausführliches Zitat siehe vorliegender Artikel, Anm. 15.
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Kommentar Mit diesem Artikel eröffnete Ludwig Bischoff den zweiten Jahrgang der von ihm herausgegebenen Niederrheinischen Musik-Zeitung, wobei das Titelblatt der ersten Nummer fälschlicherweise noch mit 1853 datiert ist. Bischoff hatte die Zeitschrift ein halbes Jahr zuvor gegründet, nachdem er die Redaktion der Rheinischen Musik-Zeitung verlassen hatte. Obwohl in der ersten Ausgabe offiziell Überparteilichkeit angekündigt worden war,17 entwickelte sich das Blatt mehr als zu einem klassizistisch konservativen Organ, zu einem publizistischen Kontrahenten der NZfM. Und diesem Kurs offensichtlich folgend, adressiert Bischoff seine Worte kaum an seine Leser, sondern direkt an all jene, die seiner Meinung nach in ihrem Schaffen dem ‚eigentlichen‘ Wesen der Musik zuwiderhandeln. Auf satirische Weise bündelt der Artikel nahezu sämtliche Kritikpunkte an der „neuesten Schule“18, die sich immer wieder in den verschiedenen gegnerischen Schriften finden lassen. Sie beziehen sich nicht nur auf die Musik selbst, sondern auch auf den Anspruch des Kreises um Brendel, insbesondere Wagner und Liszt, sich und ihre Kunst schreibend zu reflektieren und in einem allgemeinen historischen Kontext zu verorten. Einer der Vorwürfe besteht etwa darin, dass bei ihnen „abstracte Theorieen und Grübeleien“19 die Grundlage für eine Weiterentwicklung der Musik bildeten und das „Schöne“ in der Musik missachtet werde. Ein zentraler Streitpunkt ist außerdem die Idee der Programmmusik; zudem werden auf musikalischer Ebene vor allem Formlosigkeit, eigenwillige Harmonik sowie Vernachlässigung der Melodik angeprangert. Als Belege für seine Kritik bedient sich Bischoff originaler Zitate von Joachim Raff und Richard Pohl. Mit ihren Texten wird gleichzeitig ein Bezug zu zwei für den Parteienstreit bedeutsamen Ereignissen des Jahres 1853 hergestellt: einerseits zu Raffs öffentlicher Distanzierung von Wagner und Brendel in Hinblick auf die Theorie des „Gesamtkunstwerks“20 und andererseits zum Karlsruher Musikfest im Oktober 185321. So wenig der vorliegende Artikel seinem Titel entsprechend nichts Neues bringt und sich vermeintlich mit Vergangenem begnügt, ist dieser Beitrag umso mehr als Kampfansage, als pure Provokation zu verstehen, für die Bischoff in der Tat auch inhaltlich den Boden bereitet,
17 Bischoff 1853 Noch einmal: Was wir wollen, S. 3: „Nein, diese Zeitung soll kein Parteiblatt sein. Sie verzichtet auf die sehr zweideutige Ehre, die Kunst zu besitzen, Einem zum Ruf zu verhelfen und alle Uebrigen über die Achsel anzusehen“. Dennoch bezieht Bischoff am Ende des Artikels eindeutig Stellung gegen „diese Richtung, deren Koryphäen Robert Schumann (besonders in seinen letzten Werken), Hektor Berlioz und Richard Wagner sind“ (ebd., S. 11) und wirft den „Chorführern des Fortschritts“ Formlosigkeit vor: „Aber diese Freiheit suchten sie, in merkwürdiger Uebereinstimmung mit den Auswüchsen der neueren Staats- und Gesellschaftslehre, im Verneinen, im Zerreissen aller Bande, die Gesetz und Herkommen und Sitte geheiligt haben. Die Formen, welche die Bestrebungen der grössten Geister für die Kunst geschaffen, und welche das Genie der erhabensten Meister erweitert und verschönert hatte, schalten sie zwingende Fesseln; mit dem Abschütteln derselben wähnten sie den Geist zu befreien, und vergassen, dass der wahre künstlerische Geist sich nur in der vollendeten Form offenbart, dass das wahre Kunstwerk nur in der Einheit der Idee mit der Form der Erscheinung bestehen kann“ (ebd., S. 18). 18 Vorliegender Artikel, S. 623 [2]. 19 Ebd. 20 Vgl. Raff 1853a An die Redaction, in: NdS 1 Nr. 41. 21 Vgl. H. 1853 Das karlsruher Musikfest, in: NdS 1 Nr. 50; Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51.
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indem er die Form-Inhalt-Frage ins Zentrum seiner Anklage stellt. Im Kontext des musikalischen Parteienstreits bildet dieser Artikel ein überaus charakteristisches Beispiel für die oftmals bloß als reagierende Kraft betrachtete klassizistisch konservative Seite, die hier eine Auseinandersetzung eindeutig sucht und auch anzufachen sucht.
Nr. 58 | Anonym, „Neueste musikalische Literatur“, in: Die Grenzboten 13 (1854), 1. Quartal, [Nr. 2], S. 60 – 63.
Neueste musikalische Literatur.
Es liegen uns gleichzeitig zwei Broschüren vor, die zwei entgegengesetzten Richtungen angehören, nämlich das 5. Heft der „Fliegenden Blätter für Musik“ von dem „Wohlbekannten“1 (Leipzig, Baumgärtner) und das „Karlsruher Musikfest“ von Hoplit2 (Leipzig, Hinze). Das Princip, von welchem der Wohlbekannte ausgeht, beruht darin, überall nachzufragen, was dem Publicum gefällt, die Gründe dieses Gefallens zu entwickeln und aus denselben Regeln für die Kunst zu abstrahiren. Daß in diesem Princip etwas Richtiges liegt, und daß es namentlich in Deutschland, wo die Componisten sehr geneigt sind, sich in Stilübungen zu bewegen, die für sie allein ein Interesse haben können, ganz am Ort ist, auf diese materielle Seite der Kunst hinzuweisen, wird niemand bezweifeln. Selbst dagegen wollen wir nichts einwenden, daß er seine Regeln zum Theil von Componisten abstrahirt, die bei unsern ernsten Musikern in keinem besondern Ansehen stehen, z. B. von Flotow3, Bellini4, Lortzing5 u. s. w.: denn wenn an sich nur die Regel richtig ist, so kommt es nicht darauf an, ob der Künstler, von dem sie hergenommen ist, in allen übrigen Beziehungen Beifall verdient. Aber der Wohlbekannte vergißt, den Begriff des Publicums, über dessen Urtheil er Beobachtungen anstellt, genauer zu definiren. Das Publicum, welches er im Sinne hat, liebt leichte, einfache Melodien, einen sehr deutlich ausgesprochenen rhythmischen Gang, eine einfache Harmoniebewegung und eine gewisse Munterkeit in der ganzen Art und Weise zu componiren. Ein solches Publicum gibt es in der That, nur ist es nicht so ausgedehnt, als der Wohlbekannte glaubt; er könnte sich darüber am einfachsten belehren, wenn er irgend eins von
1854 Ästhetische Briefe II. Dieser Anfang Januar publizierte Brief ist der zweite von insgesamt fünf Ästhetischen Briefen Johann Christian Lobes, deren erster Ende 1853 erschien und deren weitere Nummern im Verlaufe des Jahres 1854 ebenfalls im 1. Band der Fliegenden Blätter folgten. 2 Die 128-seitige Broschüre Das Karlsruher Musikfest im October 1853 von Richard Pohl (Pohl 1853 Das Karlsruher Musikfest) übernahm nahezu wortgetreu weite Teile seines im selben Jahr bereits in der NZfM veröffentlichten Berichts über das Musikfest (Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51) und enthält darüber hinaus den Brief Liszts über das Dirigieren (Liszt 1853 Ein Brief von Franz Liszt) sowie Wagners Programme zur Tannhäuser-Ouvertüre, zur 9. Symphonie Beethovens und zu Lohengrin als Anhang. 3 Friedrich von Flotow (1812 –1883), deutscher Komponist. 4 Vincenzo Bellini (1801–1835), italienischer Komponist. 5 Albert Lortzing (1801–1851), deutscher Komponist, Schauspieler, Sänger und Dirigent. 1 Lobe
Anonym 1854 Neueste musikalische Literatur
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den [61] zahlreichen Gartenconcerten6 besuchte, in welcher dieser Souverän des Geschmacks doch auch vorhanden ist. Vor diesem Publicum wird etwa eine Symphonie von Haydn keinen großen Beifall finden, auch selbst Walzer und Galoppe werden den Ansprüchen nicht ganz genügen, wenn nicht eine hochtragische Einleitung hinzugefügt wird. Dagegen wird sich ein allgemeines Entzücken erheben, wenn ein Potpourri aus verschiedenen Opern gespielt wird, wo bekannte und sehr ins Ohr fallende Melodien sich gegenseitig abwechseln, in der Regel nur zur Hälfte durchgeführt und durch recht kräftige Paukenschläge von einander geschieden. Das Publicum wird um so mehr davon erbaut sein, je stärker die Contraste und je sinnloser die Uebergänge sind: denn es scheut in der Regel nichts so sehr, als die Aufmerksamkeit auf einen fortgehenden Gang des musikalischen Gedankens. Am allerhöchsten aber wird der Jubel steigen, wenn zum Schluß des Concerts ein sogenanntes Tongemälde aufgeführt wird, z. B. das Bild einer Schlacht, wo sämmtliche Instrumente auf das wahnsinnigste gegeneinander schreien, wo es mit den beständigen Trommeln, Pauken und Becken noch nicht abgethan ist, sondern wo unter kräftigem Knall fortwährend Raketen in die Luft steigen, diesen Lärm von Zeit zu Zeit durch einen Walzer und auch durch eine sentimentale Melodie in der Manier von Krebs7 unterbrochen, zum Schluß ein „Heil dir im Siegerkranz“8 oder eine ähnliche Nationalhymne. Aus diesem Wohlgefallen des Publicums könnte der Wohlbekannte sich auch Regeln ableiten, und er würde zu ganz überraschenden Resultaten kommen. Ja, wir zweifeln daran, ob er im Lauf seiner Entwickelung diese Resultate ganz zurückweisen wird. In seinen „musikalischen Briefen“9, die zur Zeit ihres Erscheinens ein nicht geringes Aufsehen machten, weil ein großer Theil des Publicums darin ausgesprochen fand, was er schon lange gedacht hatte, polemisirte der Wohlbekannte ziemlich lebhaft gegen Richard Wagner und zwar, wie wir damals
Otto empörte sich bereits 1846 in der NZfM über die Unmöglichkeit für viele Kunstinteressierte, niveauvollen musikalischen Werkaufführungen aufgrund der hohen Konzertpreise beiwohnen zu können und darüber, dass man stattdessen inzwischen „Beethoven’sche Symphonien in Gartenconcerten vor einem Publicum aufführe, das dabei ißt, trinkt und schwatzt […]. Ist es nicht eine Profanation, das Größte was die größten Meister geschaffen haben, einem Publicum vorzuführen, dessen größere Hälfte dabei gemächlich sein Bier trinkt und seinen Kuchen ißt – mit den Nachbarn Stadtgeschichten und Geschäftssachen bespricht – mit Tassen und Gläsern klirrt, und den auch nicht leise auftretenden Kellnern laute Aufträge ertheilt? […] Wahrlich, der Vortrag einer erhabenen Symphonie vor solch einem Publicum ist ein Vandalismus ohne Gleichen“ (Otto 1846 Polemische Blätter II. Garten-Concerte, S. 46 f.). 7 Gemeint ist wohl Karl August Krebs (1804 –1880), deutscher Dirigent und Komponist, der Wagners Nachfolger als Hofkapellmeister in Dresden wurde und zahlreiche damals populäre Lieder verfasste. 8 Das zur damaligen Zeit sehr populäre Lied geht auf den dänischen Priester und Schriftsteller Heinrich Harries (1762 –1802) zurück, der es 1790 zu Ehren des Geburtstags des dänischen Königs veröffentlichte und das nach weiteren Umdichtungen als Berliner Volksgesang und Preußische Volkshymne bekannt wurde sowie immer mehr staatsoffiziellen Charakter erhielt. Im deutschen Kaiserreich von 1871 bis 1918 wurde es zu einem von mehreren zu Staatsanlässen und offiziellen Feiern gesungenen Repräsentationsliedern, die ihrem Status nach mit der heutigen Nationalhymne vergleichbar sind. 9 Lobe 1852 Musikalische Briefe. 6 Louise
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nachzuweisen suchten,10 ohne ihn zu kennen. Er setzte voraus, daß Wagner einer von den Virtuosen der gelehrten Musik sei, einer Musik, deren contrapunktischen Wendungen das Publicum niemals würde folgen können. Seit der Zeit hat er wol Gelegenheit gehabt, diese Musik kennen zu lernen und sich ein ganz anderes Urtheil über sie zu bilden; sie ist gar nicht gelehrt, gar nicht contrapunktisch, und sie ist im höchsten Grade populär, so populär, daß jenes Publicum, dessen souveränes Urtheil der Wohlbekannte zu zergliedern sucht, noch weit mehr davon erbaut wird, als von Flotow oder Bellini; und wenn der Wohlbekannte nach dem Grund dieses Beifalls fragen wollte, so würden wir ihn auf jene Gartenconcerte verweisen. Allerdings finden wir bei Wagner wenig leichte einfache Melodien, gar keinen deutlich ausgesprochenen rhythmischen Gang und am wenigsten eine einfache Harmoniebewegung; dagegen wird wie in jenen Schlachtgemälden sehr kräftig auf die Nerven des Publicums gewirkt und die Bässe, die Posaunen, die Trompeten jeder Art lassen ihm keinen Zweifel darüber, was sie eigentlich meinen.11 Aller-[62]dings werden diese Erfolge nicht in der naturwüchsigen Unbefangenheit hervorgerufen, wie man es in jenen Schlachtgemälden gewöhnt ist, im Gegentheil hat der Künstler sehr viel und gründlich reflectirt, aber der Grund der Wirkung ist der nämliche. Es zeigt sich daher in den letzten Heften des Wohlbekannten auch bereits eine bedenkliche Neigung, an der Wagnerschen Musik Interesse zu finden,12 und was ihn allein zu hindern scheint, sich in dieser Beziehung freier auszusprechen, ist wol die Scheu vor der Inconsequenz, abgerechnet einige andere specifisch musikalische Rücksichten, die der technisch gebildete Musiker doch nur mit einigem Bedenken aufgibt.
10 1852 erschien im ersten Quartal der Grenzboten eine negative Rezension von Lobes Schrift, die sich insbesondere über dessen Abschnitte zu den Parteien und zu Wagner ausließ (Anonym 1852 Musikalische Briefe. Von einem Wohlbekannten). Im April desselben Jahres ließ auch Theodor Uhlig seinen Verriss von Lobes Musikalischen Briefe mit Schwerpunkt auf dessen Wagner-Kapitel in der NZfM veröffentlichen. In diesem prangert Uhlig die vermeintlich das gesamte Buch durchziehenden Widersprüchlichkeiten in Lobes Parteinahme gegen Wagner an: „Wenn wir über die ‚musikalischen Briefe des Wohlbekannten‘ viel mehr Worte verloren haben, als im Grunde sich der Mühe verlohnen, so ist dies nur geschehen, um das Widersinnige einer Kunstanschauung, die der unsrigen nicht nur entgegengesetzt ist, sondern derselben auch mit absichtlicher Feindseligkeit gegenüber tritt, in das hellste Licht zu stellen, und ihren Trägern und deren Anhängern den Vorwand zu nehmen, wenn sie uns etwa der Oberflächlichkeit in Beurtheilungen der Leistungen Anderer zu beschuldigen Miene machen sollten. ‚Opposition‘ – wie man von einer Seite erwartet – machen wir nicht gegen den Inhalte eines Buches, das wahrhaftig gerade genug gegen sich selber ‚opponirt‘“ (Uhlig 1852 Ueber die musikalischen Briefe eines Wohlbekannten, S. 167). 11 Siehe hierzu den Grenzboten-Artikel des Jahres 1851, in dem August Ferdinand Riccius Wagner aufgrund ganz ähnlicher Charakteristika einen „demokratischen“ Komponisten nennt (Riccius 1851 Richard Wagner). 12 Obwohl sich Lobe auch zuvor niemals strikt ablehnend gegenüber der Musik Wagners geäußert, sondern seine Vorbehalte vor allem gegen die Theorien und Schriften Wagners gerichtete hatte, wird hier möglicherweise Bezug genommen auf einen Artikel aus dem ersten Heft der Fliegenden Blätter von 1853, in welchem Lobe zwar direkt und negativ auf die ein halbes Jahr zuvor in der Neuen Berliner Musikzeitung erschienene positive Abhandlung von Julius Schaeffer zu Richard Wagners Lohengrin sowie dessen Schrift Oper und Drama reagierte. Doch offenbart sich in diesem Zusammenhang wiederum Lobes eigene und der Musik Wagners gegenüber durchaus positive Haltung, wenn er auch dessen theoretische Äußerungen als „irrig“ und „gefährlich“ bezeichnet (Lobe 1853 Ein Vertheidiger Richard Wagner’s, S. 54; Lobe 1853 Ästhetische Briefe I).
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Auf der andern Seite sehen wir in der jungen Künstlerschule mit dem wachsenden Erfolg gleichfalls eine gewisse Neigung zu Concessionen. Richard Wagner war in seinen theoretischen Schriften13 als Idealist im strengsten Sinne des Worts aufgetreten, er hatte gar nicht Ausdrücke gefunden, die stark genug waren, um seine Verachtung gegen die Effecthascherei gleichzeitiger Künstler auszusprechen;14 am tiefsten hatte er seine Verachtung gegen Meyerbeer an den Tag gelegt,15 aber er hat auch nicht im geringsten verhehlt, was er über Berlioz dachte16. Wir selber haben seiner Zeit sein Urtheil über diesen Künstler mitgetheilt.17 – Die Schule schwört zwar noch immer auf die Worte des Meisters, was das Princip betrifft, aber in der Anwendung desselben erlaubt sie sich doch einige Freiheit. Berlioz ist vollständig in den Kreis der Künstler der Zukunft aufgenommen18 und schon zeigen sich einige Spuren, daß man auch Meyerbeer allmälig ein Plätzchen in diesem Olymp anweisen will.19 Wir können mit einer solchen Erweiterung des Horizonts nur zufrieden sein, denn es findet sich darin zusammen, was sich eigentlich nie hätte trennen sollen. Ja,
13 Folgende kunsttheoretische Schriften Wagners, die er allesamt im Schweizer Exil verfasst hatte, waren bis zu diesem Zeitpunkt erschienen: Die Revolution (1849), Der Mensch und die bestehende Gesellschaft (1849), Die Kunst und die Revolution (1849), Das Kunstwerk der Zukunft (1850), Kunst und Klima (1850), Das Judenthum in der Musik (1850), Oper und Drama (1852), Eine Mitteilung an meine Freunde (1852). 14 Siehe beispielsweise Wagner 1852 Oper und Drama, 1. Teil, VI, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 101: „Das Geheimnis der Meyerbeerschen Opernmusik ist – der Effekt. […] Wollen wir daher genauer das bezeichnen, was wir unter diesem Worte verstehen, so dürfen wir ‚Effekt‘ übersetzen durch ‚Wirkung ohne Ursache‘.“ 15 Siehe u. a. ebd., S. 17: „So tappt er [der Kritiker] nun endlich in vollster Finsternis umher, und da, wo sich der Irrtum in nacktester Widerwärtigkeit und prostituiertester Blöße für den Handgriff erkenntlich hinstellt, wie in der Meyerbeer’schen Oper, da glaubt der vollständig Geblendete plötzlich den hellen Ausweg zu erkennen: er stolpert und strauchelt jeden Augenblick über Stock und Stein, bei jedem Tasten fühlt er sich ekelhaft berührt, sein Atem versagt ihm bei stickend unnatürlicher Luft, die er einsaugen muß, – und doch glaubt er sich auf dem richtigen, gefunden Wege zum Heile“. 16 Siehe etwa Wagner 1842 Extrablatt aus Paris, S. 64: „Betrachten Sie um des Himmels Willen B. [Berlioz]: Dieser Mensch ist durch Frankreich oder vielmehr Paris so ruinirt, daß man nicht einmal mehr erkennen kann, was er vermöge seines Talentes in Deutschland geworden wäre. Ich liebte ihn, weil er tausend Dinge besitzt, die ihn zum Künstler stempeln, wäre er doch ein ganzer Hanswurst geworden, in seiner Halbheit ist er unausstehlich – und was das Entsetzlichste ist – grenzenlos langweilig.“ 17 Anonym 1852 Das Verhältnis der Oper zum Drama, siehe insbesondere S. 86 – 89. 18 Mit Liszts öffentlichem Eintreten für Berlioz durch die Aufführung seiner Werke und u. a. auch aufgrund von Liszts Durchführung der Berlioz-Wochen in Weimar 1852 wurde dem Komponisten in Verbindung mit dem Weimarer Kreise immer mehr Aufmerksamkeit zuteil. Siehe dazu Brendel 1852 Ein zweiter Ausflug nach Weimar; Bülow 1852 Aus Weimar; Schindelmeisser 1852 Aus Weimar; Anonym 1852 Berlioz’ Opera Benvenuto Cellini; Anonym 1852 Weimar; Brendel 1852 Ein dritter Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 37; Anonym 1852 Hektor Berlioz in Weimar; Lobe 1853 Liszt und Berlioz in Weimar, in: NdS 1 Nr. 38; Lobe 1853 Hektor Berlioz, in: NdS 1 Nr. 43, siehe auch den dortigen Kommentar. 19 Außer einigen positiven Rezensionen aus der Rheinischen Musik-Zeitung kam es neben vielen negativen Stimmen gegen Meyerbeer, die nicht zuletzt seit den Aufführungen von Le Prophète in Deutschland ab 1850 aufgekommen waren und auch von Seiten Wagners rege Unterstützung gefunden hatten, ab 1853 vereinzelt auch zu Verteidigungen (siehe Lobe 1852 Musikalische Briefe. Von einem Unbekannten, insbesondere Brief Nr. 36) sowie auch dazu, dass Meyerbeer in eine Reihe mit Wagner und Berlioz gestellt wurde (Anonym 1853 Einige Bemerkungen über die Gewandhausconcerte).
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wir werden auch gar nicht in Verwunderung gerathen, wenn zuletzt die Naturalisten und die Idealisten, die Künstler der Routine und die Künstler der Romantik sich brüderlich entgegenkommen, sobald sie nur beide ihre Anschauung des Publicums erweitert haben werden. Von diesen Romantikern wollen wir noch ein Wort sagen. Wir haben in der deutschen Literatur schon öfters den Moment erlebt, wo eine neue Richtung mit einer gewissen Prätension den bisherigen Ueberlieferungen entgegentrat und sich sehr bald der gemeinsamen Gegner wegen zu einer Coterie abrundete, in welche alles aufgenommen wurde, was nach irgend einer Seite hin excentrisch war, ohne daß es auf Uebereinstimmung in den Principien ankam. Dasselbe geschieht auch hier wieder und wir erfahren zu unserer großen Befriedigung aus dem Moniteur20 dieser Schule, daß nicht blos Wagner, Berlioz und Liszt mit ihrem Gefolge kleinerer Genien, nicht blos Gripenkerl [sic]21, der Kunsttheoretiker, der das Theater unter den Car thaunen22 der Wirklichkeit erdröhnen lassen will, sich dieser Kunst der Zukunft annehmen, sondern auch die dichterische Gesellschaft, die in Gutzkow 23 wipfelt. Einer dieser Dichter hat in die „neuere Zeitschrift für Musik“ ein gewissermaßen officielles Verzeichniß von den Angehörigen der Schule [63] in poetischer Ausschmückung geliefert24; nicht blos die Mitarbeiter jener Zeitschrift, den Redacteur an der Spitze, werden nach ihrer Physiognomie und Haltung beschrieben und gefeiert, sondern auch die schwarzlockigen und gazellenäugigen Damen aus den Familien. Es herrscht eine schöne Begeisterung in dieser Darstellung, und diese weht uns auch wohlthuend aus der angeführten Beschreibung des Carlsruher Musikfestes entgegen; ja, Begeisterung ist eigentlich noch ein sehr schwacher Ausdruck, wir würden es lieber ersterbende Devotion nennen, nicht blos vor den künstlerischen Notabilitäten, sondern auch vor den weltlichen Größen, die der aufstrebenden Schule ihre gnädige
20 Hier ist sicherlich die NZfM als Parteiorgan der „Schule“ in Anlehnung an die französische Zeitung Le Moniteur Universel gemeint, die von 1789 bis 1901 existierte und insbesondere während der Französischen Revolution, aber auch einen Großteil des 19. Jahrhunderts als offizielle Zeitschrift der französischen Regierung und als deren Propagandamittel fungierte. 21 Wolfgang Robert Griepenkerl (1810 –1868) galt in den 1850er Jahren als herausragender Dramatiker. In seinen Aufsätzen 1843 „Ritter Berlioz in Braunschweig“ und 1847 über „Die Oper der Gegenwart“ trat er für eine Neugestaltung der Tonkunst durch den Einbezug von gegenwartsbezogenen Sujets in die Oper wie auch für die Opern Meyerbeers, insbesondere für Les Huguenots als „Oper der Gegenwart“ ein. 22 Schweres Kanonen-Geschütz des 15. bis 17. Jahrhunderts. 23 Karl Gutzkow (1811–1878), deutscher Schriftsteller, Dramatiker, Journalist sowie einer der Hauptvertreter des literarischen Jungen Deutschlands, der für eine politisch antireaktionär engagierte Literatur eintrat, stand im sogenannten „Grenzbotenstreit“ um 1852 in stärkster, öffentlich ausgetragener Auseinandersetzung mit Julian Schmidt und Gustav Freytag. Mehr zum „Grenzbotenstreit“ siehe Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik, in: NdS 1 Nr. 62, Anm. 6. 24 Möglicherweise wird hier Bezug genommen auf eine Artikelreihe Pohls zum Karlsruher Musikfest (Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe I – IV, Brief IV in: NdS 1 Nr. 51), in deren Verlaufe er, neben der Dokumentation des Musikfestes, vor allem den Einsatz Liszts, die Komponisten sämtlicher aufgeführter Werke, alle weiteren Beteiligten sowie das gesellige Zusammensein würdigt und mehrere Verse anführt, wie beispielsweise auch ein längeres Zitat von Gotthold Ephraim Lessing als Angriff auf die negativen Stimmen zum Musikfest.
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Protection verleihen.25 Die Redeweise in diesen Huldigungen ist wahrhaft asiatisch und bildet einen schönen Contrast gegen den heitern, spielenden Humor und gegen die sittliche Entrüstung, mit welcher die Widerstrebenden abgefertigt werden. In beiden hat die neue Zeitschrift für Musik nur einen Rivalen in der gesammten deutschen Literatur, nämlich den Zuschauer der Kreuzzeitung26. Aber ein mehr dichterisches Vorbild könnten wir ihr in dem allerliebsten Stück von Scribe „La camaraderie“27 anweisen; dort findet sie alle die Phrasen, mit denen sie operirt, schon vollkommen zubereitet vor, nur mit dem Unterschied, daß ein satyrischer Dichter auch durch die unerhörtesten Anstrengungen etwas recht Abgeschmacktes zu erfinden, sich nie bis zu der Höhe erheben wird, in welcher die Wirklichkeit ihn überholt.
Kommentar Der anonym gezeichnete, höchstwahrscheinlich von August Ferdinand Riccius oder einem der beiden Grenzboten-Redakteure Gustav Freytag oder Julian Schmidt stammende Artikel nimmt eine im Tonfall ruhige und doch höchst satirische Haltung auf dem Schauplatz der Parteienstreitigkeiten um die zeitgenössische Musik ein und ist wohl nicht zuletzt eine Reaktion auf die immer polemischeren, prinzipienverhafteten und direkten Konfrontationen zwischen den beteiligten Autoren und Zeitschriften.28 Der Autor ist bestrebt, beiden Lagern der Debatte um Wagners Schriften und Werke, die er durch die damaligen Meinungsführer Johann Christian Lobe als Redakteur der Fliegenden Blätter sowie des NZfM-Mitarbeiters Richard Pohl vertreten sieht, eine gewisse Relativierung ihres früher eingenommenen Standpunktes innerhalb der Diskussion nachzuweisen. Dahinter verbirgt sich eine grundsätzliche Kritik an der angeblichen ästhetischen Inkonsistenz, Wankelmütigkeit, Publikumsabhängigkeit und nicht zuletzt Unglaubwürdigkeit der durch Lobe und Pohl vertretenen Gruppierung und deren völlig divergenten, nur durch das gemein-
25 Friedrich I.
von Baden (1826 –1907) hatte das Karlsruher Musikfest protegiert und finanziell großzügig unterstützt. 26 Der Berliner Zuschauer war das Lokalfeuilleton der unter dem volkstümlichen Namen Kreuzzeitung bekannten Neuen Preußischen Zeitung, ein zunächst christlich-konservatives, später reaktionär-antisemitisches Organ, das von 1848 bis 1939 bestand. Der Berliner Zuschauer wurde von Herrmann Goedsche (1815 –1878) redigiert, einem unter dem Pseudonym Sir John Retcliffe seinerzeit sehr erfolgreichen Kolportageschriftsteller. 27 Eugène Scribe (1791– 1861), erfolgreichster französischer Lustspieldichter seiner Zeit und als Librettist u. a. für DanielFrançois-Esprit Auber, Meyerbeer, Gioachino Rossini, Jacques François Halévy und Giuseppe Verdi tätig, führte in seinem 1837 entstandenen Theaterstück La Camaraderie auf satirische Weise die politischen Zustände während der Julimonarchie vor. 28 Siehe dazu ebenfalls J. B. 1854 Die Opposition Süddeutschlands, in: NdS 1 Nr. 54; Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik, in: NdS 1 Nr. 62; Anonym 1854 Richard Wagner, in: NdS 1 Nr. 63; Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67.
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same Prinzip ihrer Anti-Haltung zur ‚Coterie‘ verbundenen Komponisten und Ästheten. Auf der einen Seite werden Lobes jüngste, den vorliegenden Artikel wohl auslösende Zugeständnisse gegenüber der Musik Wagners29 kritisiert, da sie konträr zu seiner harten Zurückweisung der Schriften Wagners in seinen erst zwei Jahre zuvor veröffentlichten Musikalischen Briefen30 stünden; auf der anderen Seite gerät die von Pohl vertretene Wagner-Partei ins kritische Visier, die, ganz im Gegensatz zu Wagners früheren, von vielen geteilte Berlioz- und Meyerbeer-Ablehnung, den Franzosen nun als Zukunftsmusiker völlig akzeptiere. Die Kritik der Grenzboten an den zerstreuten Interessen und ambivalenten Anhängerschaften der „enthusiasmirte[n] Partei“ erscheint noch vehementer, nimmt man die Äußerungen hinzu, die sie im Zusammenhang mit dem laut Grenzboten viel zu positiv ausgefallenen BrahmsAufsatz von Robert Schumann31 und anlässlich eines Konzertes mit Werken von Brahms erst kurz zuvor verlauten ließen: „Eine enthusiasmirte Partei hatte sich auch diesen Abend als Claque constituirt, wenn auch vielleicht hier grade andere Hände thätig waren, als neulich in dem Concerte von Berlioz. […] Wohin werden wir kommen? Die einen beten Wagner an, die zweiten Berlioz, die dritten – – suchen einen Helden wie er auch sei“32. Zudem ist der vorliegende Artikel in seiner Handhabung einer Position wie der Lobes ein Zeugnis für die seinerzeit verbreitete Tendenz, den musikästhetischen Diskurs um die Jahrhundertmitte lediglich als Streit zweier Parteien mit definiertem Personenkreis wahrzunehmen. Dadurch, dass man den Künstlern und Ästheten einfach eine bestimmte Parteizugehörigkeit zuschrieb, wurden ihre bezüglich verschiedener Diskussionsthemen und Ansichten variierenden Haltungen zuweilen nivelliert. Lobe wandte sich in seinen differenzierten Anschauungen beispielsweise nie gegen eine (vermeintliche) Gruppe von Komponisten, sondern immer speziell einzelnen ästhetischen Aspekten und Fragestellungen kritisch zu. Seine programmatische Ankündigung in der AmZ 1848, den „Fortschritt“ als „das Wichtigste was es gibt“ zu betrachten und ihn zum „Marschbefehl Gottes für die ganze Menschheit“33 zu erklären, führte ihn gerade nicht dazu, alles unter der Fahne des Fortschritts Geschaffene zu billigen oder zu unterstützen. Er war zwar sowohl ein Verfechter der Werke Berlioz’34, insofern er auch die programmatischen Vorstellungen der Werkästhetik Liszts nicht ablehnte, doch stand Lobe Wagners Schriften sehr kritisch gegenüber.35 Dessen Opern wiederum und davon insbesondere die Ouvertüren bezeichnete er als „vollendete“, wenn auch nicht „neue Bahnen“ beschreitende Kompositionen.36 Dies führte dazu, dass Lobe immer wieder zum ‚Schul-Anhänger‘ erklärt
29 Lobe 1854 Ästhetische Briefe II. 30 Lobe 1852 Musikalische Briefe. 31 Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49. 32 Anonym 1854 Musik, S. 39 f. 33 D. R. 1848 An den geneigten Leser, Sp. 1. 34 Lobe 1853 Liszt und Berlioz in Weimar, in: NdS 1 Nr. 38; Lobe 1853 Zwei Programme; Lobe 1853 Hektor Berlioz, in: NdS 1 Nr. 43. 35 Lobe 1852 Musikalische Briefe; Lobe 1853 Ein Vertheidiger Richard Wagner’s. 36 Lobe 1854 Briefe über Rich. Wagner.
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wurde.37 Seine Verärgerung über diese parteiliche Vereinnahmung tat er selbst 1857 in den Fliegenden Blättern kund.38 Die Tendenz zur politischen Polarisierung steht im vorliegenden Fall vielleicht mit der Person August Ferdinand Riccius in Verbindung, der u. a. für die Grenzboten schrieb und möglicherweise für den vorliegenden Artikel verantwortlich zeichnet. Er leitete während der Zeit von 1849 bis 1855 die sogenannten Euterpe-Konzerte in Leipzig und hatte seit der Neugründung der Niederrheinischen Musik-Zeitung durch Ludwig Bischoff 1853 die Redaktion der Rheinischen Musik-Zeitung übernommen. Schon 1851 spielten die Grenzboten – und insbesondere Riccius – eine entscheidende Rolle zu Beginn des musikalischen Parteienstreits, indem sie zur Diskussion über das Jüdische in der Musik nicht nur kritisch Stellung nahmen und Giacomo Meyerbeer und Wagner derselben Richtung zuschrieben, sondern letzteren auch als den Autor der pseudonym erschienenen Schrift „Das Judenthum in der Musik“ aufdeckten.39 Nicht zuletzt ist der Artikel damit auch Zeugnis der von den Grenzboten für sich selbst immer wieder beanspruchten, doch von der NZfM in gleichem Maße bestrittenen40 Neutralität sowie deren impliziter Vorwurf, sich als politische Zeitschrift in den ‚Hoheitsbereich‘ der Musik einzumischen.
auch Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik, in: NdS 1 Nr. 62. 38 Nachdem Lobe 1856 in seinen Fliegenden Blättern eine lobende Rezension über Liszts Symphonische Dichtung Nr. 2 Tasso S 96 veröffentlicht hatte, erhielt er brieflich die Anschuldigung, „den Uebergang in das Lager der Zukunftspartei“ und die Abwendung von „seiner“ Partei vollzogen zu haben, was den Adressaten zutiefst erschüttert habe. Daraufhin verfasste Lobe eine „Erklärung“, in der er sich entschieden gegen die Vereinnahmung als „Parteimann der Zukunft“ oder „der Gegenwart“ wehrte und verkündete, er habe „nie einer Partei angehört“ (Lobe 1857 Erklärung, S. 449). Zudem hatte er, wie schon des Öfteren, bereits zuvor in einem Artikel mitgeteilt: „Der, wer sich und andere vor beiden Abwegen [der Trägheit des Hergebrachten und des blinden Fortschritttreibens] zu bewahren sucht, wandelt gewiß auf dem allein richtigen Wege, und auf diesem suche ich mich und meine Leser mit aller Anstrengung zu erhalten“ (Lobe 1855 Für den Fortschritt, S. 162 f.). Dezidiert gegen die „Zukunftsmusiker“ wandte sich Lobe schließlich aufgrund der überschwänglich positiven Behandlung von Liszts Symphonischen Dichtungen sowie der sich zunehmend als ‚Schule‘ propagierenden Gruppierung (Lobe 1857 Ein neuer Prophet, in: NdS 2 Nr. 93, Lobe 1856 Woher ist das Reden und Lobe 1856 Das Gespenst der Zukunft, in: NdS 2 Nr. 98. 39 Wagner 1850 Das Judenthum; Riccius 1851 Richard Wagner. Dazu siehe auch den Kommentar zu Bischoff 1850 TU hoc intrivisti, in: NdS 1 Nr. 20. 40 Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik, in: NdS 1 Nr. 62. 37 Siehe
Nr. 59 | Anonym, „Our Wagnerism“, in: Dwight’s Journal 2 (1853/1854), Bd. 4, Nr. 16 (21. Januar 1854), S. 125 f.
“Our Wagnerism.”
We publish with pleasure the following letter from our esteemed friend and townsman in Leipsic, whose word is always welcome, even when it calls our own ideas in question. For if we differ, it is the same earnest search for truth in Art, that leads us for the time being into diverging paths, and which we are bound to suppose, if each is faithful, will in due time also lead us round to the same goal. But whether we do so greatly differ in the matter here discussed, we shall submit to the reader after he has read the letter. Leipsic, Nov. 11, 1853. My Dear Sir: – You have of late shown yourself in the Journal so devoted a lover of modern German music, and so zealous an exponent of the sounding phrases of Mr. Liszt, and the Neue Zeitschrift (concerning Wagner in particular),1 that courtesy might perhaps prescribe silence to one, who in this part of your musical creed is of so opposite a way of thinking. I can, however, well understand that the performance of certain works such as the Tannhäuser overture2, which is unquestionably novel and brilliant, should produce a great effect in a concert room, and lead the hearers to a belief in the genius of its composer; but were you to reside a twelvemonth in Germany, where not only the overture but the whole opera is frequently to be heard3 by those who like it, where the dullest and darkest and most confused works of the Dwight’s Journal in den vergangenen beiden Jahren über die Aktivitäten Franz Liszts, Hector Berlioz’ und Richard Wagners berichtete, sind dies in der Regel positive Darstellungen sowie unkommentierte Übersetzungen ihrer Schriften gewesen (siehe etwa Anonym 1852 Berlioz’ Opera Benvenuto Cellini; A. Z. 1852 The Musical Festival at Ballenstedt; Anonym 1852 Richard Wagner; Wagner 1853 Richard Wagner’s Programme to the Ninth Symphony; Franz 1853 A Letter about Richard Wagner; Wagner 1853 The Modern Opera; Wagner 1853 The Melodies of Rossini and of Weber; Anonym 1853a Hector Berlioz; Anonym 1853b Hector Berlioz; Wagner 1853 Richard Wagner’s Programme to his Overture to Tannhäuser; Anonym 1853 Tannhäuser; Liszt 1853 Wagner’s ‚Tannhäuser‘). Eine Ausnahme bilden lediglich der Abdruck eines Artikels von Henry Fothergill Chorley (Chorley 1853 Schumann and Wagner, in: NdS 1 Nr. 40) sowie zwei negative Rezensionen von Berlioz’ Oper Benvenuto Cellini (Anonym 1853 Benvenuto Cellini in London; Anonym 1853 Berlioz’s Opera Again). 2 Wagner, Ouvertüre zu Tannhäuser (UA 1845). 3 Erstaufführungen des Tannhäuser nach seiner Uraufführung 1845 in Dresden erfolgten 1850 in Weimar, 1852 in Breslau, Schwerin, Wiesbaden und Dresden sowie 1853 in Riga, Leipzig, Posen, Frankfurt a. M. und Düsseldorf. 1 Wenn
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three4, (who, as Mr. Chorley5 remarks, labor in the “cause of musical dislocation,”6) are not to be so escaped, I am sure you would at least modify your opinions. Having been in Germany now more than a year, and having found that my own feelings in regard to Wagner in particular, from ardent curiosity, have passed, through aversion, to a firm conviction of the falseness of his theories in dramatic music – and believing also that if this music does succeed in forcing itself into admiration, true Art would at least for a season die and disappear, I was tempted by an article in the Gazette Musicale, due to the pen of M. Fétis7 (being the 2d letter addressed to dramatic composers8,) which seemed to me singularly just and true, to explain as far as lay in my power why I have this settled conviction that music in Germany is travelling fast on towards the regions of chaos. M. Fétis argues that Wagner’s theories concerning operatic music are utterly false. M. Fétis poses as an axiom that beauty is the primary object of any musical production – Wagner, that to truth all things are to be sacrificed.9
4 Es
ist anzunehmen, dass hiermit Wagner, Schumann und Berlioz gemeint sind, die Chorley mehrfach zu einer Gruppe zusammenfasste (siehe z. B. Chorley 1850 Music at Weimar, S. 981, in: NdS 1 Nr. 23, S. 243). 5 Henry Fothergill Chorley (1808 –1872), hauptsächlich für das Londoner Athenæum tätiger Musikkritiker, der fast ausschließlich anonym veröffentlichte und der Musik Wagners, Schumanns und Liszts ablehnend gegenüberstand. 6 Am 17. Dezember 1853 hieß es im Athenæum: „The cause of musical dislocation calling itself romantic progress does not appear in Germany to thrive so fast as its promoters could desire. Correspondents from Frankfort assure us that the Concerts given by M. Berlioz lately in the North, and at the Free Town, were only sparingly attended, – though the composer was received with true German warmth by the adherents. We learn, moreover, that Dr. Schumann’s musical directorship at Düsseldorf has been attended by such a falling-off on the part of the general public of musical amateurs, as distinguished from his especial and admiring congregation, – that he has given up the bâton there, and is about to remove to his former residence, the town of Leipsic“ (Chorley 1853 „Musical and Dramatic Gossip“, S. 1522). 7 François-Joseph Fétis (1784 –1871), belgischer Komponist, Musiktheoretiker und Musikbiograph wirkte u. a. ab 1833 als Direktor des Brüsseler Konservatoriums. Daneben war er von 1827 bis 1833 Leiter und Hauptredakteur der Pariser Revue musicale, die 1835 mit der Gazette musicale zur Revue et Gazette musicale verschmolz, für welche er ebenfalls zahlreiche Aufsätze verfasste. Musikhistorische Bedeutung erlangte vor allem Fétis’ achtbändige, von 1837 bis 1844 erschienene Biographie universelle de musiciens et bibliographie générale de la musique, welche 1860 bis 1865 in erweiterter Form neu erschien. 8 Fétis 1853 Deuxième lettre. 9 Ebd., S. 429: „Le système de M. Wagner est, comme je l’ai déjà dit, que l’objet de l’art est le vrai. Je crois avoir suffisamment démontré qu’un tel système repose sur une idée fausse; je ne reviendrai donc pas sur ce sujet. Gluck aussi croyait que la musique dramatique doit être vraie dans ses accents, mais il conservait à son art une suprématie sans laquelle cet art s’anéantirait. Ce n’est pas ainsi que l’entend M. Wagner; pour lui, il n’y a ni musique, ni versification, ni scène, ni acteurs; il y a un drame, une action, rapprochée autant que possible de l’illusion, et dont toutes ces choses ne sont que des parties intégrantes; en sorte que le but du système dont il s’agit est l’amoindrissement de tous les arts qui concourent à la réalisation de l’œuvre, et en même temps la formation artificielle d’un tout monstrueux qui ne répond à aucun des besoins du sentiment et de l’intelligence.“ [Das System von Hr. Wagner ist, wie ich bereits gesagt habe, nur Gegenstand der wahren Kunst. Ich glaube bereits ausreichend gezeigt zu haben, dass so ein System auf einer falschen Idee fußt; ich komme deswegen also nicht noch einmal auf dieses Thema zu sprechen. Auch Gluck glaubte, dass die dramatische Musik in ihren Akzenten wahr sein musste, aber er bewahrte seiner Kunst eine Überlegenheit, ohne die diese Kunst sich selbst vernichten würde. So hörte Hr. Wagner diese nicht; für ihn gibt es keine Musik, keine Dichtung, keine Bühne,
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Now in an opera, absolute truth is an impossibility. Wagner’s rhythmical recitative is just as false as the Cavatina and Aria that he wishes to put down.10 Men and women in daily intercourse speak, and do not sing or recite verses or rhythmical phrases. We accept the thing called Opera, which to the sober eye of reason is an absurdity, because the beauty of musical idea makes us forget its falsity. The necessary qualities of a good libretto are varied versification, and striking points for effect, which excite the composer’s genius and arrest the attention of the public. M. Wagner thinks that by destroying Melody he approximates more nearly to Truth;11 and admitting that his operas are little more like real life, no one can thank him for taking away that which charmed us into forgetfulness of the primary absurdity of the opera, and leaving us a strange, anomalous thing, which is neither opera nor drama; which is equally wide of the Truth to which he aspires, and deprived of the charm that made us accept its falsity. The modern school of music in Germany, which includes the music of Wagner, much of Schumann and Berlioz (who, although a Frenchman, belongs to the same movement), Brahms, and Liszt, who is the preacher and setter forth of the wonders of the genius possessed by these gentlemen, is supported, firstly, by themselves, they having formed a league offensive and defensive; secondly, by the Neue Zeitschrift, which but lately informed us that Mendelssohn was a man of talent, while the above mentioned exponents of the modern school were men of genius;12 thirdly, by the young musicians, who are brought up to believe that their first compositions must be modelled upon the Ninth Symphony and that the First is a puerility. But the real opinion of the men who still make German Art estimable and admirable, those whose counsels are best worthy of seeking, is utterly adverse to this Mutual Adoration Society13.
keine Schauspieler; es gibt ein Drama, eine Aktion, soweit wie möglich an die Illusion angenähert, und von denen all diese Dinge nur integrale Partien sind; sodass das Ziel des Systems, um das es geht, eine Minderung aller Künste, die miteinander bei der Realisation des Werkes konkurrieren, und gleichsam eine künstliche Bildung eines monströsen Ganzen ist, welches nicht auf irgendein Bedürfnis des Gefühls oder der Intelligenz Rücksicht nimmt.] 10 Siehe etwa Wagners Äußerungen zur angeblichen Künstlichkeit der Arie (Wagner 1852 Oper und Drama, 1. Teil, II, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 41 f.). 11 Siehe etwa Wagner 1852 Oper und Drama, 3. Teil, I, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 259 – 264. 12 Pohl 1853 Hector Berlioz, S. 251: „So giebt es kaum etwas Lächerlicheres, als die Klage über Mangel an Productivität in unserer Zeit. Seit Weber’s, Schubert’s und Beethoven’s Tode entwickelten sich Talente wie Marschner, Meyerbeer und Mendelssohn, entstanden Genie’s wie Chopin, Liszt, Schumann, Berlioz und Wagner fast gleichzeitig, dicht nebeneinander!“ 13 Etwa: gegenseitige Anbetungsgesellschaft. Wie passend diese Bezeichnung sei, kommentierte 1855 die Musical World (Davison 1855 Richard Wagner, S. 414, in: NdS 2 Nr. 75, S. 867): „We merely refer to it [the letter of Mr. Charles C. Perkins in Dwight’s Journal] at present, in order to acquaint our readers with a felicitous title with which Mr. Perkins has dubbed the little knot of musical Jesuits, who, while swinging incense before the altars of each other’s vanities, are endeavouring to thrust out music from its place among the arts, that it may be a humble minister to their mythic doggrel. He calls them ‚The Mutual Adoration Society.‘ No fitter name could be found to describe the coterie.“
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Moscheles14, Hauptmann15, Gade16, Richter17, and out of Germany the best musical critics of France and England are unable to perceive the glories of the new lights – and show by their actions and speech that they consider all this as injurious to the cause of true music and high Art. Success is no test of excellence either, in Schools of Art. There was a time in Italy, when Bernini18 and his scholars filled the Italian cities with statues robed in frittered draperies, whose attitudes were twisted out of all nature, and admired for their very oppositeness to all which the Grecian masters had laid down as admirable. So far was this mania carried, that young men went to seat themselves upon the Ponte St. Angelo at Rome, to study and draw the statues placed upon the bridge. Statues which now are looked upon as beneath contempt. Things were in this false state, when Canova19 came and led the people back into the true path, by showing them what the great master of antiquity had done, and how their theories in art were founded upon a careful study of nature, and a healthy simple inspiration. So that until a musical Canoon [sic] come, who has the genius which enforces authority, and whose mind is simple as was that of Haydn, lovely as that of Mozart, and strong as that of Beethoven, I fear we shall have to grope farther yet into the realms of musical darkness. Perhaps you have not heard of Mr. Brahms, a young man of Hamburg, whom Dr. Schumann sent to Leipsic with a letter which was published, and in which he stated his opinion that Brahms was a youth of astounding genius.20 The letter [126] was filled with expletives such as were never used in regard to Beethoven, injudicious, to say the least, when used to so young a person. Now-a-days the masters in art do not say to juvenile aspirants of undoubted gifts, as Haydn said to Beethoven when he heard him perform the three Sonatas afterwards dedicated to him, “Young
14 Ignaz
Moscheles (1794 –1870), Komponist, Pianist und Dirigent, leitete nach seinem Aufenthalt in London (1825 –1846) die Klavierklasse am Leipziger Konservatorium. Moscheles stand in enger Freundschaft zu Felix Mendelssohn Bartholdy und setzte sich sehr für die Musik Ludwig van Beethovens ein. 15 Moritz Hauptmann (1792 –1868), Komponist und Musiktheoretiker, war ab 1842 Thomaskantor in Leipzig und übernahm 1843 für ein Jahr die Redaktion der Leipziger AmZ. Ebenfalls 1843 wurde er Lehrer für Musiktheorie und Komposition am Leipziger Konservatorium. 16 Niels Wilhelm Gade (1817 –1890), dänischer Komponist, Dirigent, Organist und Pädagoge, wurde 1844 neben Mendelssohn Bartholdy Gewandhauskapellmeister in Leipzig. 1848 kehrte er nach Kopenhagen zurück, wo er die Konzerte des Kopenhagener Musikvereins leitete, eine Anstellung als Organist innehatte sowie ab 1866 als Direktor und Lehrer des Konservatoriums wirkte. 17 Ernst Friedrich Richter (1808 –1879), Musiktheoretiker und Komponist, lehrte ab 1843 am Leipziger Konservatorium Kontrapunkt und Harmonielehre und wurde 1868 als Nachfolger von Moritz Hauptmann Thomaskantor. 18 Giovanni Lorenzo Bernini (1598 –1680), italienischer Baumeister, Bildhauer und Maler, hat das barocke Rom maßgeblich mitgestaltet. Im 19. Jahrhundert wurde Bernini jedoch eher kritisch gesehen, wie es ein Eintrag in Herders Konversationslexikon belegt: „In der Baukunst ist er geziert und überladen, als Bildhauer und Maler ist er Gründer der sog. akadem. Schule, mit üppigen aber kraftlosen Gestalten“ (Anonym 1854 Art. „Bernini“, S. 504). 19 Antonio Canova (1757 –1822), italienischer Bildhauer und Hauptvertreter der klassizistischen Skulptur. 20 Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49.
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man you have talent, but you have need to instruct yourself still further in your art.”21 Herr Brahms has talent, perhaps of a very high quality, and although his Sonata for Piano22 which he performed at the Gewandhaus last week, is very obscure in many parts, some of the ideas are striking, and of a high quality. I shall never forget though, the effect of Mozart’s quintet in G minor23, which followed this sample of the modern school. So clear, so pure, of such childlike simplicity and beauty of idea – the very acme of art – because art, which seemed like a simple and natural outpouring of the soul. David24 played the 1st violin part, in the very most admirable style, it was perfection, and will ever be remembered by one of his hearers at least, with gratitude and delight. But my letter is already too long, and I have no space to tell you of many great musical pleasures which have been mine this winter. Another time I will speak of Gluck’s masterpiece, Armida25, heard at Berlin, and the “Vestal”26 of Spontini, at Dresden, and of the promised pleasures of hearing Mrs. Goldschmidt27, Joachim28 and the 9th Symphony at the Gewandhaus very shortly. Wishing you much success, I remain Yours very truly,
Charles C. Perkins29.
21 Diese
Anekdote findet sich auch in der Beethoven-Monographie von Wilhelm von Lenz: „Haydn selbst, dem Beethoven sein op. 2 gewidmet und vorgespielt hatte (siehe oben Ries), meinte, der junge Mann (26 Jahre alt) habe gewiß Talent, müsse aber noch viel lernen“ (Lenz 1855 Beethoven, S. 27). Der Verweis auf die Beethoven-Biographie von Ferdinand Ries (Ries 1838 Biographische Notizen über Ludwig van Beethoven) ist jedoch fingiert, da Ries darin das angeblich bröckelnde Verhältnis Haydns zu Beethoven nur anhand des Trios op. 1 ausführt, und selbst diese Schilderung von Ries wird mittlerweile stark in Frage gestellt (vgl. Webster 1984 The falling-out between Haydn and Beethoven). 22 Johannes Brahms war erst am 17. Dezember 1853 in einem Konzert im Gewandhaus mit seiner Sonate Nr. 1 C-Dur op. 1 und seinem Scherzo es-Moll op. 4 als Komponist und Pianist in Erscheinung getreten. Dies widerspricht somit dem Datum des hier abgedruckten Briefes vom 11. November 1853, was auf einen Fehler dieser Datierung hindeuten könnte. Auch die Hausmusiken, in denen Brahms zuvor u. a. bei Franz Brendel spielte, hatten erst Anfang Dezember 1853 stattgefunden. 23 Wolfgang Amadeus Mozart, Streichquintett Nr. 4 g-Moll KV 516. 24 Ferdinand David (1810 –1873), Violinist, Komponist und Pädagoge, war ab 1836 Konzertmeister des Theater-, Kirchen- und Gewandhaus-Orchesters Leipzig sowie ab 1843 Violinlehrer am neugegründeten Leipziger Konservatorium. 25 Christoph Willibald Gluck, Armide (UA 1777). 26 Gaspare Spontini, La Vestale (UA 1807). 27 Jenny Lind (1820 –1887), schwedische Sängerin, heiratete 1852 den Pianisten, Dirigenten und Komponisten Otto Goldschmidt (1829 –1907) und trat mit ihm als Begleiter in zahlreichen europäischen Städten auf, bevor sie sich 1858 gemeinsam bei London niederließen. 28 Joseph Joachim (1831–1907), gilt als einer der bedeutendsten Violinvirtuose des 19. Jahrhunderts. 29 Charles Callahan Perkins (1823 –1886), amerikanischer Autor, Kritiker und Organisator, reiste nach seinem Abschluss am Harvard College 1843 zu weiteren Studien nach Europa, wo er u. a. in Rom, Paris und Leipzig Station machte, bevor er sich Mitte der 1850er Jahre in seiner Geburtsstadt Boston niederließ.
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We have heard the overture to Tannhäuser, and have admired it, and have said it.30 It is the only real, bona fide specimen of Wagner’s music, that we have heard. Of course it would be childish haste and folly for us to give in our adhesion to Wagner altogether as a composer, and especially in the character claimed for him as the inaugurator of a new era, a new school in Art; still more especially in his character as a dramatic composer, we having never heard one, nor even a fragment of one of his operas, save in a mere orchestral arrangement without voices; and understanding at the same time that the central principle of his whole operatic theory is the inseparable union of the music and the poetry. The orchestral excerpts from Rienzi31, which the Germanians have played to us,32 gave us little pleasure, and we expressed but little. But we thought it only fair to remind ourselves and our readers, that Rienzi was an early work, written before his Wagnerism proper was developed. Some of the movements (orchestrally arranged) from Lohengrin33, his latest opera, did seem to us to possess a beauty and expressiveness quite imaginative and fine. We therefore have not been in a condition to find or to declare ourselves either pro or anti-Wagner. The same with regard to the German “New School” generally. We know it not enough to condemn it or espouse it as a school. A few hearings of one symphony and one quintet of Schumann have given us great pleasure and led us to hope much from him;34 to his songs we have become quite partial, and to his little piano “Album” pieces in their way. We are but beginning to know him, and by no means are prepared to settle his precise rank in the long line of composers. Of Berlioz (whom our friend classes with Young Germany,) we have heard nothing but the overture to “Lear,”35 of which we spoke soon after Jullien’s36 “Shakespeare night,”37 and nothing to attract us. Is it not rather early therefore to reproach us with “devotion” to the “modern German music?” Besides, we need not assure any constant reader of our journal that we are among the staunchest and devoutest lovers of Mozart, Beethoven and Mendelssohn, to say nothing of Handel, Bach, and other venerable names. Should we become enamored, therefore, of the new tone-prophets, it could not be by their converting us from our old lovers. So far as we find aught to advocate in
30 Die Ouvertüre zu Tannhäuser war in Boston erstmals am 22. Oktober 1853 in einem Konzert der Germania Musical Society erklungen. In der Rezension desselben in Dwight’s Journal heißt es dazu: „This overture is full of power and beauty. The ideas are both original and pregnant, and they are developed and sustained with wonderful strength and skill, leaving the conviction in the hearer’s mind of an abundance of reserved power. There is a masterly progress in its dramatic interest; it is one of the most exciting overtures we ever listened to, in that respect resembling the Leonore of Beethoven, though wholly different in the character and working up of its ideas“ (Anonym 1853 First ‚Germania‘ Concert, S. 28). 31 Wagner, Rienzi (UA 1842). 32 Vgl. vorliegender Artikel, Anm. 30. 33 Wagner, Lohengrin (UA 1850). 34 Bei den erwähnten Werken handelt es sich um Schumanns Symphonie Nr. 1 Frühlingssymphonie B-Dur op. 38 (UA 1841), deren Bostoner Erstaufführung auf den 15. Januar 1853 datiert, sowie um das Klavierquintett Es-Dur op. 44 (ED 1843), welches in Boston erstmals am 7. Januar 1853 erklang. 35 Berlioz, Grande Ouverture du Roi Lear op. 4 (EA 1833). 36 Louis Antoine Jullien (1812 –1860), französischer Dirigent und Komponist, der zu dieser Zeit mit seinem Orchester in den USA wirkte. Vgl. dazu Preston 2012 The 1853 – 54 American Tour by Jullien’s Extraordinary Orchestra. 37 Siehe Anonym 1854 Jullien’s ‚Shakspeare Night‘.
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Schumann or in Wagner, it is not against, but with, their noble predecessors. For catholic in Art we do wish and intend to be, and must accept that which affects us with a sense of the divine and beautiful, whether it be new or old, whether it be like or unlike, one or many. In one sense we have “devoted” our columns to Wagner. That is, we have printed much concerning him.38 His was a new fame in the world musical. Sounds of the great controversy concerning him had come across the ocean. New topics naturally claim more space than old ones in a journal that would give a reflex of the world’s musical events and progress. We accordingly digested accounts of the life and works and theories of Wagner from the German and French papers, from his friends and foes, and from his own writings, that it might be seen or conjectured what he amounted to. We did this impartially, pointing out evidences of rare power and originality, with many things in detail true, but not accepting his main theory of opera and drama, or rather of the connection between Poetry and Music. Sometimes we described his peculiarities in the language of his admirers; but what we copy we no more endorse, than does the daily newspaper the things it publishes under the head of telegraphic despatches. We have translated parts of Liszt’s glowing analysis of Tannhäuser39, remarking on the singularly complete and beautiful plan of an opera, which is disclosed, but mainly because Liszt’s chivalric endorsement of Wagner is one of the interesting musical facts of the day, and because Liszt writes so finely and appreciatingly of musical Art in its nobler and more spiritual aspects. We have alluded to the bitterness and harshness of certain English criticisms, because they seemed to us to bear the marks of prejudice upon their face, and to be not so modest as it becomes one to be towards any new manifestation of power in Art, when it has really made a deep impression on minds among the most capable of judging. Taking into account all we have read, for and against, with his own writings, with the report of repeated successes of his operas in German cities, and with what little of his music we have heard in our benighted region of the great world musical, we have sometimes ventured the conjecture that Wagner, while in our view wrong in his main musical theory and right in many of his special criticisms on existing Opera, must yet be a man of extraordinary talent, nay, creative talent, perhaps genius; and that such indications of power demand of the world that it should wait until it fairly knows, before it utterly condemns. We thank our friend for telling us what the majority of old professors think in Germany, and for the frank report of his own ears and feelings, after a year’s exposure to the Wagner music. It shall all help us in getting at the truth. Yet it is not impossible that even in Leipsic he may be more under the influence of prejudice and party in the matter, than we here, who coolly look on from distance. So much for Wagnerism. From our friend’s doctrine of the inherent absurdity of Opera, we shall have to express our dissent, but have not room this week.
38 Siehe
vorliegender Artikel, Anm. 1.
39 Liszt
1853 Wagner’s ‚Tannhäuser‘.
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Kommentar In diesem Artikel nutzt der anonyme Autor, hinter dem der Herausgeber des Dwight’s Journal, John Sullivan Dwight, vermutet werden darf, den Abdruck eines Briefes von Charles Callahan Perkins aus Leipzig, um daran anschließend seine eigene Position zu Schriften und Kompositionen Wagners darzulegen. Anhand der von Dwight abgelehnten Aspekte lässt sich ablesen, welches Bild zu diesem Zeitpunkt in Boston von der „modern German music“ bzw. der „German ‚New School‘“ vorherrschte. So betont Dwight beispielsweise ausdrücklich, dass er weiterhin die alten Meister wie Mozart, Beethoven und Mendelssohn Bartholdy schätze, was er offenbar als Widerspruch zu dem in der NZfM postulierten Fortschrittsgedanken empfindet. Des Weiteren gesteht Dwight Wagner zwar eine wichtige Rolle zu, aber nimmt diesem gegenüber insgesamt eine ambivalente Haltung ein: Während er die zu dieser Zeit bekannten musikalischen Werke Wagners lobt, lehnt er dessen Theorien in großen Teilen ab. Hierin lassen sich Parallelen etwa zur Haltung von Johann Christian Lobe40 oder Theodor Hagen41 erkennen.42 Personell werden sowohl in den Beschreibungen des Leipziger Korrespondenten als auch in denen von Dwight selbst Wagner, Schumann, Berlioz, Liszt sowie auch Brahms als Mitglieder der „Bewegung“ aufgezählt, worin sich erste Auswirkungen von Schumanns Brahms-Aufsatz im Oktober 1853 in der NZfM43 in den nordamerikanischen Musikzeitschriften erkennen lassen. Die Darstellung Liszts ist hier auf die Rolle des ‚Verkünders‘ der Werke anderer Komponisten reduziert, wie sich zu dieser Zeit vor allem auch in den Londoner Musikjournalen findet.44 Die genannten Komponisten seien ein Bündnis eingegangen und würden durch die NZfM sowie durch jüngere Anhänger protegiert. Die Sichtweise einer konkreten „Partei“ ist typisch für die Zeit nach dem Karlsruher Musikfest 1853 und löste zunehmend den zuvor eher diffusen und um Einzelpersonen geführten musikästhetischen Disput ab. Dass Dwight sich überrascht über die Vereinnahmung von Berlioz äußert – „whom our friend classes with Young Germany“45 –, belegt, dass diese Verbindung zu jener Zeit noch keineswegs allgemein etabliert war ebenso wie dass nationalstereotype Vorbehalte auch in der Neuen Welt fortbestanden. Die Gegenüberstellung des Briefes eines in Leipzig lebenden Bostoners und der Antwort aus der Neuen Welt zeigt nicht zuletzt, wie sich die Parteibildung auf die englischsprachige Musikwelt übertrug, auch wenn das Dwight’s Journal sich selbst als neutralen, außenstehenden Beobachter begriff. Umso mehr lässt sich – über die kaum vorhandenen Möglichkeiten, die Werke je gehört zu haben hinaus – das Parteimachen in den USA als dezidiert journalistisches Zeitschriftenphänomen ausmachen.
40 Siehe Lobe 1853 Ein Vertheidiger Richard Wagner’s. 41 Siehe Hagen 1852 Einige Worte über die Neunte Symphonie, in: NdS 1 Nr. 35. 42 Sie auch J. E. 1853 Wagner als Dichter und Musiker. 43 Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49. 44 Siehe etwa Anonym 1853 News from Liszt. 45 Vorliegender Artikel, S. 641 [126].
Nr. 60 | J. B., „Die Opposition Süddeutschlands“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 2 (1854), Nr. 4 (28. Januar), S. 29 f.
Die Opposition Süddeutschlands
muss den Vertretern der Zukunfts-Musik ein gewaltiger Dorn im Auge sein, da sie sich so ganz absonderlich darüber geberden. Dieser Dorn, wie tief muss er sitzen, wie sehr muss er schmerzen, da er sie zu wahrhaft verzweiflungsvollem Toben bringt! Gar absonderlich stürmt Einer dieser Unglücklichen auf uns arme Süddeutsche ein; sein Wüthen, es könnte fürchterlich erscheinen, wenn es nicht gar zu lächerlich wäre.1 Der arme Herr Peltast! Wie gross muss sein Aerger gewesen sein! wie muss ihm derselbe das Blut zu Kopfe getrieben und seine Augen verdunkelt haben, bis er in ohnmächtigem Grimm seine papierne Keule schwang und damit loshieb wie weiland Don Quixote, ohne zu sehen, wohin seine hohlen Streiche eigentlich fielen! Woher kommt wohl diese ungemessene Wuth auf uns Süddeutsche? von wo aus datirt sich dieser ungeheure Zorn, der sich mit Einem Male in einem Strome von Schmähungen auf uns ergiesst? Das karlsruher Musikfest2 – das ist der böse, böse Dorn, der im Auge steckt, und, ach, so tief, so schmerzlich! Inniges Bedauern ergreift uns Süddeutsche, mögen wir sonst auch noch so sehr in „Stumpfheit des Gefühls“3 versunken sein, sehen wir sie leiden, die „intelligenten“ Vertreter norddeutscher Zukunfts-Musik; sehen wir, wie nur tiefer und tiefer sich dieser böse Dorn ins Auge gräbt, je mehr sie sich bestreben, ihn zu entfernen – ihn, den Bringer so vieler Schmerzen, ihn, den Vernichter so glorreicher Erwartungen. Das karlsruher Musikfest – wie schön war das eingeleitet, wie herrlich Alles vorbereitet, wie planmässig Alles geordnet, um mit Einem Schlage uns Süddeutsche zu gewinnen für das Kunstwerk der Zukunft! So sicher war man des glücklichen Gelingens, dass Alles auf diesen Einen Wurf gesetzt wurde. Nun, da er misslungen, gerathen die Väter des Kunstwerkes der Zukunft in ein Wüthen, das gar ergötzlich mit anzusehen ist. Ganze Meere von Dinte wurden vergossen, um das Schifflein der Zukunfts-Musik wieder flott zu bringen, das der Steuermann selbst aus Unkenntniss des Fahrwassers stranden machte.4 Doch, ach! das Schifflein hatte einen Leck bekommen,
1 Hiermit
spricht der Autor direkt den Artikel Bülows an, den jener unter seinem Pseudonym „Peltast“ veröffentlicht hatte (Bülow 1853 Die Opposition in Süddeutschland, in: NdS 1 Nr. 54). 2 Zum Karlsruher Musikfest 1853 siehe Kommentar sowie auch H. 1853 Das karlsruher Musikfest, in: NdS 1 Nr. 50; Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51. 3 Bülow 1853 Die Opposition in Süddeutschland, S. 230, in: NdS 1 Nr. 54, S. 568. 4 Anspielung auf Franz Liszt und insbesondere dessen Dirigat.
J. B. 1854 Die Opposition Süddeutschlands
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der es ganz und gar untauglich machte zu einer Weiterfahrt auf offenem Meere, [30] es musste zurückgebracht werden in den schützenden Hafen Weimars, um auf den Werften Leipzigs nach Kräften wieder ausgebessert zu werden. Bei dieser mühevollen Beschäftigung wird nun gar übel mitgenommen das trügerisch falsche Meer, der Schauplatz dieses so ganz unerwarteten Unfalls. In den blühendsten Metaphern eines kunstphilosophischen Galimathias5 schreiben sie Broschüren über Broschüren, des Schiffleins Leck damit zu stopfen.6 Selbst der Steuermann sucht sich zu rechtfertigen und beweis’t, dass ein Dirigent kein Ruderknecht sein dürfe.7 Wäre uns „stumpfsinnigen Süddeutschen“8 solch hoher Intelligenz gegenüber eine Bemerkung erlaubt, so würden wir hinzufügen, ein Dirigent dürfe auch nicht bald eine Salzsäule, bald eine Windmühle sein. Doch wollen wir uns auch hierin gern bescheiden und erst „ein belehrendes Entgegenkommen der Norddeutschen“ abwarten; „im Voraus documentiren“ wir den „besten Willen, uns belehren zu lassen, Belehrung aufzunehmen“, nur bitten wir um Nachsicht, falls uns diese Belehrungen durch ihren zu hohen Flug unbegreiflich erscheinen sollten. Wir „Collectiv-Schwaben“, bei denen das „wichtige Ereigniss einer glücklichen Ueberschreitung des achten Lustrums“ noch nicht „eingetreten“ ist, müssen leider verzichten auf Verstandes- und GefühlsIntelligenz der NorddeutschenI; aber nicht wollen wir verzichten auf eigene Anschauungs- und Gefühlsweise, um gleich ihnen nur nachzubeten und in tiefster Unterwürfigkeit hinzunehmen, was von den Propheten des grossen Baal9 geboten wird. Baal mag ein grosser Götze sein, würdig eines fortwährenden Beräucherns – allein erst thue er Wunder, wie unsere alten Götter sie gethan, und wir glauben dann gern an ihn. Bis jetzt aber hat Baal noch kein Wunder gethan, so sehr seine Propheten auch weissagten von Zeichen und Wundern, die Baal bei seinem grossen Feste in Karlsruhe thun würde; und desshalb halten wir Schwaben treu unsere alten Götter in Ehren und wollen ihren geheiligten Tempel nicht entweihen durch Errichtung eines Opfer-Altars für den Götzen Baal, das Kunstwerk der Zukunft genannt. J. B.
I So
oft wir hier von Norddeutschen sprechen, meinen wir ganz speciel die Propheten der Zukunfts-Musik in Weimar und Leipzig sammt ihrem jugendlichen Anhange. 5 (Aus
dem Frz.) verworrenes Gerede, Kauderwelsch. 6 Dies könnte sich etwa auf die 128-seitige Broschüre über das Karlsruher Musikfest von Richard Pohl (Pohl 1853 Das Karlsruher Musikfest) beziehen, die dieser zusätzlich zu seinem umfangreichen Artikel in der NZfM veröffentlicht hatte (Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51). 7 Liszt hatte in seinem offenen Brief, mit dem er sich am 16. Dezember 1853 in der NZfM gegen die Kritik an seinem Dirigierstil wehrte, die Aufgabe eines Kapellmeisters mit dem Satz „Wir sind Steuermänner und keine Ruderknechte“ zusammengefasst (Liszt 1853 Ein Brief von Franz Liszt, S. 268). 8 Dieses und die folgenden Zitate stammen aus Bülow 1853 Die Opposition in Süddeutschland 229 f., in: NdS 1 Nr. 54, S. 567 – 569. 9 Wetter- und Himmelsgott semitischer Völker des Altertums.
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Nr. 60 (1854)
Kommentar Mit seiner hochironischen Polemik reagiert der anonyme Autor direkt auf den fünfteiligen Artikel Hans von Bülows, der unter fast gleichem Titel im November und Dezember 1853 in der NZfM erschienen war.10 Den Ausgangspunkt der Kontroverse bildete dabei das von Liszt geleitete Karlsruher Musikfest im Oktober 1853, das in Bülows Artikel zwar keinerlei Erwähnung findet, aber fraglos den Anlass für seinen heftigen Frontalangriff gegen Süddeutschland und insbesondere gegen die Kapellmeister Franz Lachner und Peter Joseph von Lindpaintner war. Das Karlsruher Musikfest im Oktober 1853 wurde sowohl von Befürwortern als auch von den Gegnern als Propagandaveranstaltung für die „Zukunfts-Musik“ in Süddeutschland verstanden und mit einem missionarischen Eifer vorbereitet und durchgeführt11 bzw. von ‚süddeutscher‘ Seite mit entsprechender Skepsis betrachtet. Die Konzerttätigkeit des Weimarer Kreises hatte sich bis dahin auf den mitteldeutschen Raum beschränkt, doch die explizite Absicht, „den Karlsruhern ein wenig aufs Fell [zu] rücken“12, die Bülow gegenüber Richard Pohl im Vorfeld der Veranstaltung brieflich mitgeteilt hatte, schien sich nicht erfüllt zu haben. So berichtete Joachim Raff im Anschluss an Karlsruhe in einem Brief an Doris Genast: „Ich bin in Desparation über die ganze Geschichte. Das Resultat davon ist, daß die Richtung die Liszt so liederlich vertreten hat, nun allgemein angefeindet und zurückgedrängt wird. […] Denn wie kann man vom Publicum das plötzliche Verständniß einer wildfremden Richtung verlangen, wenn man das Orchester noch nicht einmal zu diesem Verständniß gebracht hat? – Man kann ein Jahr arbeiten zum mindesten, bis man den üblen Eindruck der jetzt gemacht ist, einigermaßen wieder verwischt hat. Das wurmt mir […]. Jedenfalls will ich indeß meiner billigen Entrüstung Luft machen, sobald ich Liszt sehe.“13 Ist die ‚Opposition‘ zumeist durch Rheinische und Niederrheinische Musik-Zeitung – und damit im Westen – präsent, so ist es interessant, dass sich die im vorliegenden Artikel als süddeutsch erklärende Stimme ebenfalls der Niederrheinischen als Publikationsorgan bedient. Darüber hinaus ist die offenbar selbstverständliche Gegebenheit der Verbindung des Weimarer Zirkels und der NZfM in Leipzig bemerkenswert, was zumindest im vorliegenden Fall für eine aktive Wahrnehmung der Geschehnisse außerhalb des süddeutschen Raums spricht. Die offenbar intendierte Absicht Bülows, auch im Süden eine publizistische Opposition herauszufordern, wie sie sich zeitgleich in zunehmend verschärfter Weise in den Grenzboten und der Niederrheinischen Musik-Zeitung zeigt,14 konnte jedoch keinen Erfolg verzeichnen.
1853 Die Opposition in Süddeutschland, in: NdS 1 Nr. 54. 11 Vgl. etwa Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, S. 214, in: NdS 1 Nr. 51, S. 548 f. 12 Bülow-Briefe 2, S. 87 f. 13 Brief von Joachim Raff an Doris Genast, Weimar, den 5. bis 9. Oktober 1853 [unpaginiert, 14 S.] Quelle: Autograph, Bayerische Staatsbibliothek. Handschriftenabteilung – Raffiana II. Bislang nicht katalogisierte Briefe, hier: S. 12. 14 Siehe u. a. Anonym 1854 Richard Wagner, in: NdS 1 Nr. 63 sowie Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik, in: NdS 1 Nr. 62. 10 Bülow
Nr. 61 | Anonym [Johann Christian Lobe], „Neue Bahnen“, in: Rheinische Musik-Zeitung 4 (1854), Nr. 5 (4. Februar), S. 33 f.
Neue Bahnen.
Die fliegenden Blätter für Musik pag. 286 und ff. enthalten Aeusserungen Felix Mendelssohns über den Begriff „Neue Bahnen“,1 welche wir den Lesern der Rheinischen Musik-Zeitung um so weniger nicht vorenthalten zu dürfen glauben, als dieses Thema durch Robert Schumann in Bezug auf Johannes Brahms2 neuerdings an Bedeutung gewonnen hat. „Was sagt denn diese Phrase eigentlich? Einen Weg betreten, den vorher noch Keiner betreten?3 Zuerst müsste dieser neue Weg doch in unbedingt schönere, reizendere Kunstgegenden führen? Denn nur eine neue Bahn öffnen kann Jeder, der eine Schaufel zu führen und die Beine zu bewegen versteht? In jenem höhern Sinn aber leugne ich geradezu, dass es neue Bahnen gebe, weil es keine neuen Kunstgebiete mehr gibt. Da sind alle längst entdeckt. Neue Bahnen! vertrakter Dämon für jeden Künstler, der sich ihm ergibt! Niemals hat irgend ein Künstler in der That eine neue Bahn betreten. Im besten Falle machte er’s ein unmerkliches besser als seine nächsten Vorgänger. Wer sollte die neuen Bahnen einschlagen können? Doch wohl nur die höchsten Genies? Nun, hat Beethoven etwa eine neue, von der Mozart’schen durchaus verschiedene Bahn eröffnet? Wandeln Beethoven’s Sinfonien auf ganz neuen Pfaden? Nein, sage ich. Ich finde zwischen der ersten Sinfonie Beethoven’s und der letzten Mozart’s durchaus keinen übergewöhnlichen Kunstwerth und keine übergewöhnliche Wirkung. Die eine gefällt mir und die andere gefällt mir. Wenn ich heute die in D-dur von Beethoven4 höre, so bin ich glücklich, und wenn ich morgen die in C-dur mit der Schlussfuge von Mozart5 höre, so bin ich’s auch. An einen neuen Weg bei Beethoven denke ich nicht und werde nicht daran erinnert. Was ist der „Fidelio“ für eine Oper! Ich sage nicht, dass mich jeder Gedanke darin vollkommen anspräche, aber ich möchte doch die Oper nennen hören, die eine tiefere Wirkung, einen entzückendern Kunstgenuss zu bereiten vermöchte. Finden Sie ein einziges Stück darin, mit welchem Beethoven eine neue Bahn gebrochen? Ich nicht. Ich sehe in der Partitur und höre bei der Aufführung überall Cherubini’s
1 Der
vorliegende Artikel ist ein nahezu wörtlicher Auszug eines Beitrages von Johann Christian Lobe, der kurz zuvor in dessen Fliegenden Blättern für Musik veröffentlicht worden war (siehe Lobe 1854 Gespräche mit Felix Mendelssohn, S. 286 – 288). 2 Siehe Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49. 3 Im hier zitierten Artikel von Lobe heißt es: „Einen Weg eröffnen, den vor Ihnen noch Keiner betreten?“ (Lobe 1854 Gespräche mit Felix Mendelssohn, S. 286). 4 Offenbar eine Verwechslung mit Ludwig van Beethovens Symphonie Nr. 2 D-Dur op. 36 (UA 1803). 5 Wolfgang Amadeus Mozart, Symphonie Nr. 41 Jupiter-Symphonie C-Dur KV 551.
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dramatische Musikweise. Freilich äffte Beethoven sie nicht nach, aber als liebstes Muster hat sie ihm vorgeschwebt.“ Und Beethoven’s letzte Periode? – fragte ich. Seine letzten Quartette, seine neunte Sinfonie? – Seine Messe6? – Hier ist doch von einer Gleichheit mit Mozart, noch mit einem andern Künstler vor und neben ihm die Rede? „Mag sein, in gewissem Sinne, fuhr M. lebhaft fort. Seine Formen sind weiter und breiter, der Styl ist polyphoner, künstlerischer,7 die Gedanken sind vorherrschend düstrer, melancholischer, selbst wo sie heiter sein wollen, die Instrumentation ist voller, er ist auf der vorhandenen Bahn etwas weiter gegangen, aber er hat keine neue gegraben. Und, seien wir offen, wohin hat er uns geführt? – In wahrhaft schönere Regionen? Empfinden wir als Künstler, in der That einen absolut höhern Genuss bei der neunten, als bei den meisten seiner andern Sinfonien? Was mich betrifft, so sage ich offen: nein! Höre ich sie, ich feiere eine glückliche Stunde; aber ein eben solches Fest bereitet mir die C-moll Sinfonie8, und bei jener vielleicht doch nicht ganz ein so ungetrübtes, reines, als bei dieser.“ Bei einer späteren Gelegenheit brachte ich das Gespräch wieder auf die „neuen Bahnen“. Ich habe, begann ich, Ihre Ouvertüre zum Sommernachtstraum9 vor Kurzem zum ersten Mal gehört. Sie scheint [34] mir alle Ihre frühern Arbeiten an Originalität zu übertreffen, auch kann ich sie mit keiner andern vergleichen, sie hat keine Schwester, keine Familienähnlichkeit. Man dürfte also wohl sagen, dass Sie damit eine neue Bahn eingeschlagen haben? „Keineswegs – erwiederte M. – Sie haben vergessen, was ich unter neuen Bahnen verstehe: Schöpfungen nach neu entdeckten und zugleich höhern Kunstgesetzen. Ich habe in meiner Ouvertüre keine einzige neue Maxime ausgeprägt. Sie finden z. B. dieselben Maximen, denen ich gefolgt, in der grossen Ouvertüre zu Beethoven’s Fidelio10. Meine Gedanken sind anders, sind Mendelssohn’sche, nicht Beethoven’sche, aber die Maximen, nach denen ich componirt, sind auch die Maximen Beethoven’s gewesen. Es wäre schlimm, wenn man auf demselben Wege wandelnd, nach denselben Grundsätzen schaffend, nicht neue Gedanken und Bilder bringen könnte. Was hat Beethoven in seiner Ouvertüre gethan? Er hat den Inhalt seines Stückes in Tonbildern gemalt. Dasselbe habe ich versucht. Er hat es in einer breiteren Ouvertüreform [sic] gethan, breitere Perioden gebaut, ich auch. Aber unsere Perioden sind im Wesentlichen ganz nach den Gesetzen geformt, unter welchen der Begriff „Periode“ sich dem Menschengeiste überhaupt darstellt.11 Und so prüfen Sie alle musikalischen Elemente durch, Sie werden nirgends in meiner Ouvertüre irgend etwas finden, das nicht Beethoven auch gehabt und ausgeübt hätte, Sie müssten mir denn –
Missa solemnis D-Dur op. 123 (EA 1807). 7 Bei Lobe: „künstlicher“ (siehe Lobe 1854 Gespräche mit Felix Mendelssohn, S. 286). 8 Beethoven, Symphonie Nr. 5 c-Moll op. 67 (EA 1808). 9 Felix Mendelssohn Bartholdy, Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum E-Dur op. 21 (UA 1827). 10 Beethoven, Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 C-Dur op. 72 (EA 1806). 11 Unter Periode versteht Lobe eine entweder achttaktige („kleine“) oder aber auch weit umfangreichere musikalische Einheit, die wiederum selbst aus zwei „Sätzen“ besteht, die ihrerseits aus „Motiven“ gebildet werden (vgl. Lobe 1850 Lehrbuch von der musikalischen Komposition I, S. 21– 24). 6 Beethoven,
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er lächelte schalkhaft – als neue Bahn anrechnen, das[s] ich die Ophikleide12 angewendet.“ Sie schreiben also die Originalität der Erfindung dem bestimmten Gegenstande zu, den Sie bei der Composition Ihrer Ouvertüre sich vorgestellt? fragte ich. „Gewiss“ – antwortete er. Dann, fuhr ich fort, müsste es jetzt von originellen Werken wimmeln; denn an Titeln, welche einen gegenständlichen Inhalt angeben, fehlt es nicht, die Musik aber, die dahinter steckt, ist oft recht grundgewöhnlich! Ihrer Theorie nach hätten Herr A. und Herr B. und so die Herren durch das ganze Alphabet hindurch, Ihre Sommernachtstraum-Ouvertüre geschrieben, wenn Sie sich nur vorgenommen, den Inhalt des Stücks in Tönen nachzumalen? „Wenn Sie es mit demselben Ernste angegriffen – fuhr er fort – sich mit demselben Eifer in das Stück versetzt hätten, würden sie alle höhere, bedeutendere Werke hervorgebracht haben, als ohne dieses Verfahren zu bringen sind. Wenn einer Talent hat, und dennoch Gewöhnliches fabrizirt, so ist es allemal seine Schuld. Er verwendet sein Zeug nicht so, wie er es könnte, wenn er wollte. Die gewöhnlichste Ursache des Gewöhnlichen ist Mangel an Selbstkritik und an Verbesserungstrieb. Hätte ich alles drucken lassen, ohne zu ändern, es würde wenig Eigenthümliches an mir zu bemerken sein. Wenn man mir Eigenthümlichkeit zugestehen will, so bin ich mir bewusst, dass ich sie zumeist meiner strengen Selbstkritik und meinem Aenderungs- und Verbesserungstrieb zu verdanken habe. Ich habe die Gedanken gedreht und gewendet; – wie oft und wie vielmal denselben! – um ihre ursprünglich gewöhnliche Physiognomie in ursprünglichere, bedeut- und wirksamere umzugestalten. Wie es wohl kommen kann, dass eine oder einige tonisch oder rhythmisch anders geführten Noten einem einzelnen Gedanken ein ganz anderes Ansehen und einen ganz andern Ausdruck geben können, so kann in grösseren Dimensionen bald eine ganze eingeschobene, bald eine ganze weggestrichene Periode aus dem Gewöhnlichen und Wirkungslosen ein Ungewöhnliches und Wirkungsvolles machen. Mein Gott, sehen Sie Beethoven’s Skizzenbücher an, sehen Sie nur seine Skizze zu Adelaide13 an. Warum denn hätte er die Aenderung gleich am Anfang vorgenommen? Weil die erste Leseart matt und gewöhnlich, die zweite lebendig, ausdrucksvoller und melodisch angenehmer ist.14 Geben Sie mir einen Gedanken der allergewöhnlichsten Art, was gilt die Wette, ich drehe und wende ihn nach Zeichnung, Akkompagnement, Harmonie und Instrumentation so lange, bis er in einen tüchtigen verwandelt ist. Und wie einen einzelnen Gedanken, getraue ich mir ein ganzes gewöhnliches Stück durch Aenderungen und Verbesserungen zu einem interessanten umzuarbeiten.“
12 Blechblasinstrument
in Basslage, das aufgrund seiner Intonationsprobleme nach der Entwicklung der Tuba 1835 mehr und mehr an Bedeutung verlor. Mendelssohn Bartholdy verwendete das Instrument neben der Musik zu Ein Sommernachtstraum op. 61 (UA 1843) auch in der zweiten Fassung der Musik zu Athalia op. 74 (UA 1845) sowie in seinem Oratorium Elias op. 70 (UA 1846). 13 Beethoven, Skizzenblatt zu Adelaide op. 46, Autograph (Beethoven-Haus Bonn, Sammlung H. C. Bodmer, HCB Mh 62). 14 Im 1. Band seiner Kompositionslehre geht Lobe näher auf die aus den Skizzen ersichtlichen Änderungen Beethovens an der Melodik und Deklamation des Liedanfangs ein, siehe Lobe 1850 Lehrbuch der musikalischen Komposition I, S. 449 f.
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Kommentar Wie die kurze, dem zitierten Artikelteil vorangestellte Einleitung verdeutlicht, erfolgte der auszugsweise Wiederabdruck dieses zuvor in den Fliegenden Blättern für Musik veröffentlichten Gesprächs zwischen Felix Mendelssohn Bartholdy und Johann Christian Lobe aus der Mitte der 1840er Jahre15 als Reaktion der Rheinischen Musik-Zeitung auf die wenige Wochen zuvor erfolgte Publikation des Johannes Brahms gewidmeten „Neue Bahnen“-Artikels von Robert Schumann in der NZfM.16 Der Text wiederholt, gestützt durch die Autorität des 1847 verstorbenen Leipziger Komponisten und Kapellmeisters, ästhetische Grundüberzeugungen Lobes, welche er bereits Jahre zuvor etwa in der Reihe seiner „Fortschritt“-Artikel17 in der AmZ vertreten hatte. Im Zentrum steht dabei die Überzeugung Lobes, die Entwicklung innerhalb der Musikgeschichte verlaufe stets evolutionär, durch die Inspiration des Künstlers, handwerkliche Beherrschung der Mittel und das Studium ‚klassischer Meisterwerke‘ – mithin also niemals in gänzlich „neuen Bahnen“. Wie bereits an der im zitierten Artikel beispielhaft genannten Sommernachtstraum-Ouvertüre deutlich wird, vertritt der Verfasser der Fliegenden Blätter im Gegensatz zu konservativeren Kritikern insbesondere eine inhaltsästhetische Position, sodass eine eindeutige Identifizierung Lobes mit formalästhetischen Vorstellungen, wie sie tendenziell Ludwig Bischoff in der Niederrheinischen Musikzeitung vertrat oder später Eduard Hanslick zugeschrieben wurde, fehlgehen musste. Dieser Umstand führte wiederholt zu öffentlichen Auseinanderzungen um Lobes ‚Parteizugehörigkeit‘ innerhalb der damaligen musikästhetischen Lagerbildung.18 Gravierendere Auswirkungen sollte die von Schumann angestoßene Debatte um „neue Bahnen“ in der Musik jedoch vor allem für den Widmungsträger des gleichnamigen Artikels, für Johannes Brahms selbst zeitigen, der dadurch noch vor der Veröffentlichung seiner ersten Werke unfreiwillig in den Strudel der musikästhetischen Auseinandersetzungen hinein gezogen wurde.19
1854 Gespräche mit Felix Mendelssohn; vgl. dazu Brandt 2002 Johann Christian Lobe, S. 93. Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49. 17 Siehe Lobe 1848 Fortschritt, in: NdS 1 Nr. 7. 18 Siehe hierzu etwa die Behauptung der Grenzboten, Lobe sei ein Vorkämpfer Richard Wagners (Anonym 1854 Neueste musikalische Literatur, in: NdS 1 Nr. 58) sowie als Reaktion darauf der Beitrag in der NZfM (Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik, in: NdS 1 Nr. 62). 19 Vgl. hierzu auch den Kommentar zu Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49. 15 Lobe
16 Siehe
Nr. 62 | Anonym, „Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik. Eine psychologische Studie“, in: NZfM 21 (1854), Bd. 40, Nr. 9 (24. Februar), S. 85 – 92.
Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik. Eine psychologische Studie.
Lange kann man mit Marken, mit Rechenpfennigen zahlen; Endlich, es hilft nichts, ihr Herrn, muß man den Beutel doch zieh’n. Xenien.1 In letzter Zeit erlebten wir wiederholt das Schauspiel, daß die „souveräne Kritik“, die bisher in sorgloser Sicherheit und Selbstgefälligkeit die ästhetischen Fluren durchwandelte, und sich damit unterhielt, nach harmlosen Sängern mit dem Blasrohr zu schießen – urplötzlich aus der Rolle fällt, ihre Grandezza vergißt und mit komischer Wuth blind um sich schlägt, das unschuldige Blasrohr für eine Herkuleskeule haltend. Die schnellen Fortschritte, welche die, einst als verworren und haltlos ausposaunte, neue musikalische Richtung macht; das neue Terrain, welches sie fortwährend bei den Musikern, im Publikum, bei der Kritik gewinnt; die immer frischen Kräfte, die sich ihr mit Begeisterung zuwenden: dies Alles macht, daß Einer nach dem Andern von jenen Herrn Doctrinären den Kopf verliert. Sie senden, wie der Kaiser von China, ein Bulletin nach dem andern in die Welt, worin den Gläubigen verkündet wird, daß die Rebellen total vernichtet seien, und ihren verdienten Lohn empfangen haben, – während seine himmlische Majestät doch genöthigt sind, Ihre Residenz „bis auf Weiteres“ in den Hintergrund zu verlegen, sintemalen dero Zopf bereits in der höchsten Gefahr schwebt, von der Anti-Zopf-Partei pietätlos amputirt zu werden.2 Je ängstlicher man den Rückzug betreibt, desto häufiger und drohender werden die Ansprachen an das Volk, desto eifriger giebt man sich den beruhigenden Anschein, als habe das Alles gar Nichts zu bedeuten. Der Despotismus des Reiches der Mitte mag durch solches Blendwerk sich den Schein der Sicherheit und Macht zu erhalten glauben. Und wenn die musikalische
1 Friedrich von Schiller, Xenien, in: Schiller-Werke 1, S. 316. 2 Die Übertragung des Ausdrucks „Zopf“ auf den Bereich der Musik war bereits vor 1850 anzutreffen, kam aber vor allem ab den 1850er Jahren durch die polemisierte Diskussion zwischen ‚alt‘ und ‚neu‘ zunehmend zum Einsatz. Weiteres zum Begriff „Zopf“ siehe: Lobe 1848 Fortschritt, in: NdS 1 Nr. 7, Anm. 2. Zur intensiven Verwendung und Polemisierung des Begriffs „Zopf“ innerhalb der Debatte um die zeitgenössische Musik vgl. Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67.
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Zopfpartei sich mit ihren Sympathien erst bis hinter die chinesische Mauer zurückgezogen haben wird, mag sie die friedliche Ruhe in ihrem Kunstvaterlande auch ungestört genießen. Vorläufig gereicht uns ihr blinder Eifer zum ganz besonderen Vergnügen, und könnte uns sogar eine gewisse Genug-[86]thuung sein, wenn wir uns damit begnügen wollten, ein rathloses Gebahren, welches in bitterer Selbsttäuschung nach Strohhalmen greift, sobald das Wasser an der Kehle steht, für eine Genugthuung gelten zu lassen. Ein solches beklagenswerthes Schauspiel geben uns jetzt die „Grenzboten“, eine „Zeitschrift für Politik und Literatur“, wie ihre Firma besagt.3 Sie geben es mit der verzweifelnden Ausdauer einer Kunstreitergesellschaft, die ihre Schlußproduction „zum letzten Male“, „zum allerletzten Male“ und „unwiderruflich zum allerletzten Male“ ankündigt, und, um die Neugierde des blasirten Publikums doch einigermaßen lebendig zu erhalten, täglich ein neues Schulpferd vorzureiten verspricht. In der Nähe untersucht[,] ist es freilich immer derselbe alte Schimmel, der mit verschiedenem Aufputz behangen, einmal als „Politik“, das andere Mal als „Literatur“ und das dritte Mal als „Musik“ unter Trompetengeschmetter die hohe Schule durchreiten muß. Es ist immer dasselbe lahme Princip-Pferd, auf welchem die Zwillings-Redacteure4 nun schon manches Jahr herum voltigiren, einen Kreis umschreiben, so groß ihn der Circus ihrer Capacität gestattet, und unermüdlich durch den papiernen Reifen springen, welchen der Verleger allwöchentlich mit einer neuen Nummer beklebt. Wenn mit der Zeit die Kunst und Wissenschaft vorwärts geschritten ist, und ihre Vertreter neue Bahnen verfolgen, ohne die kritischen Auguren ferner um Rath zu fragen, machen die falschen Propheten ihre letzten, vergeblichen Anstrengungen, den alten Glauben zu erhalten. Sie beginnen zu drohen und zu weissagen von Rückschritt, Verfall und Verderbniß, bis sie sich endlich überzeugen müssen, daß alle Hoffnung auf gläubiges Gehör bei der ungläubigen Menschheit vergeblich sei. Dann schnüren sie ihr kritisches Handwerkszeug zusammen, und suchen ein Gebiet, wo es noch gläubige Seelen giebt, die sich zu fürchten machen lassen. Seine Meinung sagt er von seinem Jahrhundert; er sagt sie; Nochmals sagt er sie laut, hat sie gesagt – und geht ab!5 So haben es die „Grenzboten“ nach jahrelanger Bemühung glücklich dahin gebracht, sich erst in der Politik, und dann in der Literatur, durch ihre eigene Doctrin gründlich zu discreditiren. Sie gaben ihre nüchterne Schulweisheit, mit der sie niemals andere als negative Resultate erzielten, so lange für den wahren Urquell aller Productivität aus, als es eben gehen wollte. Sie maßten sich an, der gesammten Literatur, sowie früher der ganzen europäischen Politik, selbsterfundene Gesetze vorzuschreiben, welche den einzigen Fehler hatten – daß sie nicht zu brauchen waren, weil sie 1844 führten die Grenzboten den programmatischen Untertitel Zeitschrift für Literatur und Politik und änderten damit ihre vorherigen Beinamen Blätter für Deutschland und Belgien und Eine deutsche Revue. 4 Gustav Freytag (1816 –1895), deutscher Schriftsteller, und Julian Schmidt (1818 –1886), deutscher Literaturhistoriker, redigierten die Grenzboten gemeinsam von 1848 bis 1861 im halbjährlichen Wechsel. Freytag übernahm die Leitung des Blattes noch einmal von 1867 bis 1870. Schmidt wechselte 1861 zur Berliner Allgemeinen Zeitung. 5 Schiller, Xenien, in: Schiller-Werke 1, S. 332. 3 Ab
Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik
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in den Thatsachen des frischen, productiven Lebens stets ihre naturgemäße Widerlegung und Vernichtung fanden. Dies war die ganz natürliche Folge einer Methode, deren Charakteristik Gutzkow in schlagender Weise folgendermaßen gegeben hat.6 Die „Grenzboten“ sind blasirte Epikuräer, die den Genuß über jeden Ernst des Lebens setzen, die mit ästhetischer Gourmandise7 nur an den Aeußerlichkeiten der Dinge haften, für die es nichts Reelles giebt, als die Apathie, den Comfort, die Bagatelle. Sie wollen nicht, daß es irgend Großes, Bedeutendes, Ursprüngliches, Persönliches in der Welt giebt. Jedem, der sich regt und bewegt, schlagen sie dialektisch ein Bein, und wenn sie ihn nicht mehr von der Seite des Talents treffen können, geben sie ihm einen Knick in seinem Charakter. Das ist das Klägliche dieser Revue des deux Hommes8, daß sie Hunderte von Bogen vollgeschrieben, und nicht eine einzige positive Thatsache in Deutschland gefördert, vertreten, muthig durchgeführt hat! Die Grenzboten generalisiren Alles, treten Alles breit, lösen jede prägnante Erscheinung in etwas Rauch und Asche auf, schneiden jedem Schaffenden, wie dem Polypen, die Bauchlänge auf, drehen ihn um und sagen: da ist wieder Nichts, und immer Nichts, und ewig Nichts! Eine Gunst noch, wenn sie solche todte Cadaver der Dichter, Philosophen, Staatsmänner dann würdigen, sie mit etwas von dem philosophischen Stroh auszubälgen, das sie, unter ihren Händen welkend, von den blühenden Feldern Hegel’s, Gervinus’9, Dahlmann’s10, Feuerbach’s11 geplündert haben! – – –
6 Karl
Gutzkow (1811–1878), deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Journalist. Der folgende Abschnitt ist eine beinahe lückenlose Zusammenstellung von wörtlichen Zitaten eines Artikels von Gutzkow aus der Brockhausschen Tageszeitung [Leipziger] Deutsche Allgemeine Zeitung (Gutzkow 1852 Noch einmal die Grenzboten, S. 413); der darauffolgende Abschnitt zitiert und paraphrasiert diesen Artikel Gutzkows ebenfalls. Darin wehrt sich Gutzkow offensiv gegen die scharfen Angriffe des Grenzboten-Redakteurs Freytag auf seinen Roman Die Ritter vom Geiste (ED 1850/1851). Der zitierte Artikel stellt nur eine von vielen Stationen des vor allem 1852 öffentlich und heftig ausgetragenen sogenannten Grenzbotenstreits dar, der um poetologischen Differenzen und persönliche Animositäten zwischen Gutzkow als dem aus den sogenannten Jungdeutschen hervorgetretenen Dramatiker und den beiden Redakteuren Schmidt und Freytag mit ihrem ‚Programmatischen Realismus‘ der Grenzboten geführt wurde. Die Kontroverse gipfelte darin, dass Julian Schmidt 1852 in den Grenzboten seinen Verriss von Gutzkows Roman Wally, die Zweiflerin (ED 1835), nun unter dem Titel Vergangene Tage neu verlegt, publizierte und seine Angriffe auch gegen Gutzkow selbst richtete, der daraufhin die Grenzboten verklagte und auf eine Gegendarstellung bestand. Noch 1855 waren die Nachwehen der Auseinandersetzung in Gutzkows Kritik des Kaufmannromans Soll und Haben (ED 1855) von Freytag zu spüren, in der Gutzkow auch seine abweichenden romanpoetologischen Anschauungen formulierte. 7 (Aus dem Frz.) Feinschmeckerei. 8 (Frz.) Bericht von zwei Männern. Zitat: Gutzkow 1852 Noch einmal die Grenzboten, S. 413. Wohl auch Anspielung auf die französische Revue de deux mondes, eine seit 1821 erscheinende internationale Zeitschrift, die für Austausch zwischen den kulturellen und politischen Welten Frankreichs und der Vereinigten Staaten sorgte. 9 Georg Gottfried Gervinus (1805 –1871), deutscher Literaturhistoriker und nationalliberaler Politiker, war einer der Professoren der „Göttinger Sieben“ in der Auflehnung gegen die Hannoveraner Verfassung. 10 Friedrich Christoph Dahlmann (1785 –1860), deutscher Historiker und Staatsmann, war ebenfalls aktiv als einer der „Göttinger Sieben“ und machte sich vor allem als Mitverfasser der Paulskirchenverfassung von 1848 einen Namen. 11 Ludwig Feuerbach (1804 –1872), deutscher Philosoph und Religionskritiker, übte großen Einfluss auf die Bewegung des Vormärz aus. 1848 kandidierte Feuerbach für das Frankfurter Paulskirchenparlament, unterlag jedoch bei der Kandidaten-Auswahl und nahm als Beobachter der linksdemokratischen Seite teil.
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Durch diese „Methode“ – eine gedankenlose Anwendung der Elementar-Analyse der Chemiker auf die lebensvollen Organismen der Kunst – erreichten allerdings die Grenzboten, daß sie sich bei einigen jungen Schriftstellern, die eine beneidenswerthe Empfindlichkeit gegen die Wunden derartiger „Secir- und Tranchirmesser“ bewahrt hatten, in einem gewissen scheuen Respect zu erhalten wußten. Es galt früher einmal unter der jungen Literatur für eine Art von Auszeichnung, von den Grenzboten die polizeiliche Erlaubniß erhalten zu haben, sich einige Zeit „versuchsweise“ in der Literatur aufhalten zu dürfen, ohne eine andere Belästigung als die, die väterliche Bevormundung der Grenzboten vorläufig erdulden zu müssen. An gläubigen und hoffenden Gemüthern fehlte es nicht, welche diese kritische Aufenthaltskarte wenigstens für den Vorboten des unsterblichen Lorbeer hielten, und in Erwartung eines Ruhmes, der allerdings von den Grenzboten niemals ausgehen konnte, ihr Dasein bescheiden fristeten, so lange sie sich willig auf jenes Maß des „unendlich Kleinen“ [87] zurückführen ließen, auf welches die Grenzboten nun einmal Alles zurückführen, damit sie sagen können: „Es giebt nichts Bedeutendes in der Welt!“12 Was dieses blasirte Treiben eine Zeit lang unterstützte, und somit die Grenzboten in ihrer pathologisch-anatomischen Methode nur bestärken mußte, war das Schweigen, welches die gebildete Welt ihm gegenüber beobachtete. Da die Grenzboten, um mit Gutzkow zu sprechen, über ihre Wirksamkeit in ewiger Nacht leben, und da Niemand ihre Fehdehandschuhe aufnahm. Niemand mit ihnen auf Erörterungen einging, hielten sie in ihrer maßlosen Eitelkeit das Schweigen der Literatur für Zustimmung, einige Lobeserhebungen guter Freunde für Bewunderung, einige Bettelbriefe von jungen Lyrikern und Dramatikern, ausgedienten Politikern und hoffnungslosen Stegreifrittern von der Feder – die gelobt, beschäftigt, oder wenigstens „geschont“ zu werden wünschten – für „Einfluß!“ – – – Die Grenzboten täuschten sich, und versuchten, auch die Welt zu täuschen, indem sie ihre werthlosen, selbstgestempelten Assignaten13 so lange für baare Münze ausgaben, als man sie eben dafür gelten ließ. Der Staats-Bankerott der Grenzboten brach aber unaufhaltsam aus, sobald ihr, nur auf den Schein berechnetes[,] System das Vertrauen im Publikum einmal verloren hatte. Dies geschah als nach einigen kläglichen Niederlagen in der Politik, endlich auch das Maß der Geduld erschöpft war, welches die Literatur diesem sogenannten objectiven, aber in der That objectlosen Verfahren gegenüber bewahrt hatte. Der Autoritätsglaube an die Unfehlbarkeit der souveränen Kritik ward zerstört, die regungslose Maske der sogenannten Unparteilichkeit ward ihnen abgerissen, dem erheuchelten Schein wurden die Thatsachen der Wirklichkeit gegenübergestellt, und damit waren den Grenzboten alle die Stützen entrissen, auf denen sie ihr dogmatisches Gebäude künstlich aufgeschichtet hatten. Um den Sturz in der öffentlichen Meinung, wenn sie ihn auch nicht dauernd verhindern konnten, doch eine Zeit lang wenigstens aufzuhalten, mußten sie nach neuen Stützen suchen, und den Schein ihrer Stabilität wenigstens augenblicklich zu retten trachten.
12 Alle
kenntlich gemachten Zitate des Absatzes: Gutzkow 1852 Noch einmal die Grenzboten, S. 413. waren das während der Französischen Revolution verwendete Papiergeld.
13 Assignaten
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In Geschichte zu „machen“, wenn man in der Politik sich blamirt hat, ist immer ein sehr zweideutiges Unternehmen, an dem schon andere Leute, wie die Grenzboten, sich den Hals gebrochen haben. Dazu gehört überdies der Muth einer Meinung, der Muth eines, auf Thatsachen sich stützenden, consequenten Bahnbrechens, welchen die Grenzboten nie besessen haben. Sie haben sich immer begnügt, mit ihrem kritischen Besen die Ueberreste von Anderer Tafeln zusammenzukehren; wie Marodeur’s hinter dem Schlachtfeld sich aufzuhalten, die Entwickelung abzuwarten, und dann den Todten die Köpfe abzuschneiden, an deren Zahl sie sodann den Gläubigen demonstrirten, daß es so und nicht anders kommen konnte, wie es eben gekommen ist! – Vor den Naturwissenschaften, selbst so weit, als sie in das Gebiet der Literatur gehören, hatten die Grenzboten immer eine heilige Scheu. Denn deren Resultate sind ein höchst gefährliches Spielzeug in der Hand der Doctrinäre. Man kann mit den Thatsachen der Naturwissenschaft nicht manipuliren, wie mit Meinungen; man kann sie nicht verdrehen, nicht verkleinern, ohne in Gefahr zu kommen, durch neue Thatsachen sich gründlich desavouirt zu sehen. Die Naturwissenschaften widerstreben überhaupt jeder dialectischen und sophistischen Behandlung so sehr, daß ein richtiger Instinkt die Grenzboten abhielt, sich in Dinge zu mischen, die sie vollends zu Grunde richten mußten. Als nun die Grenzboten eifrig sondirten, wo dann allenfalls noch der „jungfräuliche Boden“ eines gläubigen Publikums zu finden sei, erwischten sie unglücklicherweise die Musik. In der Musik giebt es noch kein so sicher begründetes System, daß man es nicht angreifen könnte; in der Musik haben wir es nicht allein mit Thatsachen, sondern eben so viel mit Meinungen, Ansichten und Geschmacksrichtungen zu thun, die man im Nothfall wohl dialectisch zusammenkneten, und daraus einen sophistischen Teig bilden kann, welcher Urtheilslosen als genießbar erscheint. In der Musik scheint auch jetzt ein förmliches Schisma sich vorzubereiten, und in solchen Zeiten eines Interregnum hat es nie an Freibeutern gefehlt, die unter der Fahne eines beliebigen Dogma auf eigne Hand Geschäfte zu machen versuchten. Das ist aber das wahre Element der Grenzboten – die Gefangenen und Nachzügler aller Parteien zu plündern, und dadurch den Anschein zu gewinnen, als stände man über den Parteien, während man doch thatsächlich nur hinter ihnen steht! Auch gab es in der Musik noch viele Unentschlossene, Unzufriedene, Wankelmüthige, und vor Allem noch Furchtsame. Und diese bilden das wahre Publikum, welches die Grenzboten suchen. Da gab es noch im Trüben zu fischen, da konnte man noch durch Sophistik irre führen, durch Machtsprüche imponiren – und so nahm man denn die unglücklichen Abonnenten in’s Schlepptau, und proclamirte sich als musikalische Pythia! Die „Zeitschrift für Politik und Literatur“ erweiterte sich, ohne jedoch diesen Systemwechsel auf dem Titel zu annonciren, zu einer „neuesten Zeitschrift für Musik“ – und – „das ist der Humor davon!“14 –
14 William Shakespeare, Henry V, 2. Akt, 1. Szene; bzw. The Merry Wives of Windsor (Die lustigen Weiber von Windsor), 2. Aufzug, 1. Auftritt. Die Polemik richtet sich hier, in Anlehnung an den Zeitschriftentitel Neue Zeitschrift für Musik, gegen die seit den 1852 vermehrt in den Grenzboten
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Die Musik nach der, von uns dargelegten[,] Me-[88]thode der „Grenzboten“ zu behandeln, sie nach dem kleinlichen Krämermaße dieser eingebildeten Kunstrichter zuschneiden zu wollen, war ein Unternehmen, welches ungefähr eben so viel Wahrscheinlichkeit für sich hatte, als das Auffinden der Quadratur des Cirkels! Denn bekanntlich verträgt es keine Kunst weniger, als gerade die Musik, daß man mit den allezeit fertigen Doctrinen einer zusammengerafften abstracten Aesthetik an sie heran geht, und nach sogenannten Definitionen ihre Werke erklären, oder gar beurtheilen will. Alles was daher die Grenzboten auf diesem neu erwählten Terrain erzielen konnten, war denn auch natürlich wieder rein negativ – Sie negirten frischweg Alles, das Genie der Erfindung, das Talent in der Ausführung, die Erweiterung der Technik, wie die der Form; sie läugneten jeden Fortschritt, jede Erweiterung, jeden Erfolg, jede Zukunft. Alles nur auflösend, Nichts bildend, Alles nur verzerrend, und verrenkend – kamen sie dann wieder glücklich zu dem erbaulichen Schluß ihrer Blasirtheit: „Es giebt nichts Bedeutendes in der Welt!“15 Daß bei einem solchen Treiben auch nichts Anderes heraus kommen kann, liegt auf der Hand. Ist denn die Wahrheit eine Zwiebel, von der man die Häute nur abschält? Was ihr hinein nicht gelegt, ziehet ihr nimmer heraus!16 Und so mußte denn der „analytische“ Versuch, den die Grenzboten machten, ihre geistige Impotenz auch in musikalischen Dingen, wie früher in der Politik und Literatur zu zeigen, ihnen auf das Vollständigste gelingen, und zwar in überraschend kurzer Zeit. Wollten wir den Beweis im Einzelnen durchführen, so müßten wir mindestens ebensoviel Bogen zur Disposition haben, als die Grenzboten in den letzten Wochen über die moderne Musik vollgeschrieben haben. Es liegen uns 7 Nummern aus den letzten 2 Monaten vor, aus denen man die ganze Methode der Grenzboten zur Genüge deduciren könnte, wenn die Kenntniß derselben nur vom geringsten Interesse wäre. Diese 7 Nummern enthalten nicht weniger als 64 Seiten – nach dem, bei den Grenzboten üblichen Format, 8 volle Druckbogen, – über die moderne Musik! – – – Dies ist ein, bei der Tendenz dieser Blätter merkwürdiges und beachtenswerthes Zeichen. Es beweist am schlagendsten, wie unheimlich ihnen zu Muthe wird, und wie sehr sie ihre eigene Schwäche fühlen. Denn die Grenzboten lieben es, eine ganze Reihe von Erscheinungen womöglich auf einmal abzuthun; in der Literatur und Kunst fabrikmäßig aufzuräumen, und
erschienenen Artikeln in einem der Zeitschrift eher fernen Gebiet der Musik. Die Grenzboten führten bis 1852 keine eigene Abteilung zu musikalischen Themen und berichteten auch äußerst selten aus diesem Bereich. In den Jahren von 1853 bis 1855 erschienen jedoch vermehrt längere Berichte aus der Musikwelt und im „Wochenbericht“ bzw. dem lediglich im Jahr 1855 existierenden Abschnitt „Kunst und Kultur“ immer wieder auch kleinere Meldungen aus selbständigen Rubriken wie eben „Musik“ oder auch „Bildende Kunst“ und „Theater“. 15 Gutzkow 1852 Noch einmal die Grenzboten, S. 413. 16 Schiller, Xenien, in: Schiller-Werke 1, S. 316.
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unter einem beliebigen Sammeltitel, welcher die Firma einer neuerfundenen Doc trin vorstellt, mit fremden Gedanken und Werken hausiren zu gehen. Deshalb ist die plötzlich auftauchende, ängstliche Sorgfalt, mit welcher die Grenzboten jede musikalisch bedeutende Erscheinung der Neuzeit stückweise verspeisen, die sicherste Probe, wie sie die Bedeutung dieser Bewegung recht wohl erkannt haben, und mit Schrecken sehen, daß sie ihnen bereits über den Kopf gewachsen ist – und zwar: trotz allem vergeblichen Wüthen und Toben. Es packt sie jetzt jener Verzweiflungskrampf, den wir im Eingang erwähnten. Sie möchten ihren kritischen Spatzierstock [sic], mit dem sie sonst wohl der Musik einige freundschaftliche Seitenhiebe austheilten, nun plötzlich in eine Herkuleskeule verwandeln, um Berlioz und Liszt, Schumann und Brahms, den Wohlbekannten17, wie die Neue Zeitschrift, und natürlich Richard Wagner vor Allen, womöglich mit einem Schlage zu vernichten. Natürlich werden sie damit nie fertig, und wissen kaum, wo sie zuerst beginnen sollen. Denn einmal gilt es im Concertsaal, dann wieder in der musikalischen Literatur, einmal in Büchern, das andere Mal in Journalen, einmal auf der Bühne, dann wieder in den Partituren und Textbüchern eine Bewegung nieder zu halten, die plötzlich allenthalben zugleich sich geltend macht, und gar nicht mehr anders gedämpft werden könnte, als etwa durch Ausrottung mit Feuer und Schwert. Diese Mittel stehen aber den Grenzboten leider, weder materiell, noch im figürlichen Sinne, zu Gebote. Die Bekämpfung dieser „Lernäischen Schlange“18 der modernen Musik könnte nur einem Herkules gelingen! Diesmal ist es den Grenzboten furchtbarer, blutiger Ernst. Sie machen zwar Späße, und stellen sich humoristisch, aber es ist ihnen dabei zu Muthe, wie Einem, der am Rande eines Bankerottes steht, und sich den unbefangenen Anschein geben muß, als sei Alles in der besten Ordnung. Die Grenzboten mußten durch Quantität ersetzen, was ihnen an Qualität, wie immer[,] abging, um nur überhaupt beachtet zu werden. Sie ließen denn auch in den letzten Wochen Bombe auf Bombe platzen, die sie mit ihrem selbsterfundenen Pulver gefüllt hatten. 6 Nummern nach einander brachten 6 große musikalische Artikel. Berlioz wurden nicht weniger als 3 Artikel19, Brahms und der „Neuen Richtung in der Musik“ je einer 20, Wagner’s Lohengrin bereits wieder 2 Artikel21 als Opfer dargebrachtI, und wer [89] kann wissen, auf Wen die Grenzjäger der Literatur nunmehr Jagd machen werden! – Bei diesem Parforcejagen in den kritischen Wäldern hetzen sie aber Niemand zu Tode, als sich selbst. Wir
I Siehe
Nr. 43, 51 und 52 des vorigen Jahrganges, und Nr. 1, 2, 3, 4 des neuen Jahrganges der Grenzboten. 17 Johann
Christian Lobe tritt mit diesem Pseudonym als Herausgeber und Autor der Zeitschrift Fliegende Blätter für Musik. Wahrheit über Tonkunst und Tonkünstler (1855 –1857) und durch seine frühere Veröffentlichung (Lobe 1852 Musikalische Briefe. Von einem Wohlbekannten) in Erscheinung. 18 Die neunhäuptige, unsterbliche Lernäische Wasserschlange aus der griechischen Mythologie, die Hydra, wurde von Herkules in einer seiner zwölf sühnenden Aufgaben und in langem Kampfe erlegt. 19 Jahn 1853 Die Verdammniß des Faust; Anonym 1853b Musik; Jahn 1853 Hector Berlioz in Leipzig, in: NdS 1 Nr. 55. 20 Anonym 1854 Musik; Anonym 1854 Neueste musikalische Literatur, in: NdS 1 Nr. 58. 21 Jahn 1854 Lohengrin, Oper von Richard Wagner; Anonym 1854 Noch einmal Wagner.
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sehen mit großem Wohlbehagen diesem athemlosen Treiben zu, welches weiter Nichts verlangt, als eine gesunde Lunge, und die nöthige Portion von Selbstvertrauen und Selbstvergötterung, die den Grenzboten bis jetzt noch niemals gemangelt hat. In dem öden, traurigen Gefühl, keines Menschen Freund zu sein, durch Nichts erwärmt, gehoben und begeistert zu werden, Nichts vermittelt, Nichts gefördert, mit einem Wort Nichts geleistet zu haben, hüllen sie sich in das Bewußtsein ihrer hohlen Blasirtheit, und spielen einmal den Propheten, einmal den Possenreißer, wie es eben trifft. Einmal rufen sie im Tone des Jeremias: „Wohin werden wir kommen? die einen beten Wagner an, die zweiten Berlioz, die dritten suchen einen Helden, wie er auch sei!“22 und – uns betet doch Niemand an, als wir selbst – setzen sie in Parenthese hinzu! Das andere Mal aber spielen sie Puppenkomödie mit kindlicher Naivität, vergleichen „Lohengrin“ mit „Kasperle“23 und forciren ihren gemachten Humor zu wahrhaft ekelerregenden Uebertreibungen, die so platt am Tage liegen, daß es sich gar nicht der Mühe verlohnt, diese Plattheiten erst nachzuweisen. Wir wollen ihnen die Probe nicht schuldig bleiben. Wir wollen unseren Lesern folgende Sätze aus der „Kritik“ der Grenzboten über Berlioz und Wagner als Blumenlese vorlegen, und es ihrer Wahl überlassen, welchen Satz sie für den abgeschmacktesten, hohlsten und forcirtesten halten. Berlioz’s erkünstelter Humor stellt sich vor den Spiegel und schneidet Gesichter. – Er macht wie ein Hanswurst Sprünge und schneidet Fratzen. – Die Composition von Brander’s Lied von der Ratte24 ist nicht die Darstellung der plattesten Gemeinheit, sie ist es selbst. – Berlioz’ Bestreben, im Gegensatz gegen frühere Compositionen Klares und Faßliches zu schreiben, hat im „Faust“ nur dahin geführt, daß dem Absurden, Verworrenen, Ungenießbaren, jetzt das Gewöhnliche und Triviale unmittelbar beigemischt ist, welches gar in eine so banale Phrasenmacherei ausartet, daß man sich darüber bei Berlioz wundern muß. – Für uns Deutsche ist und bleibt Berlioz’ „Faust“ ein Wechselbalg, den uns keine Wichtelmännchen in’s Haus tragen sollen. – (Aus Nr. 43).25 – Wo in der Natur der Aufgabe ein gewisser sinnlicher Reiz liegt, der absolut keine abstrusen Gedanken zuläßt, kommt bei Berlioz ein grober Materialismus zu Tage, der
Zitat stammt aus einer auf Schumanns Neue Bahnen-Artikel (1853) reagierenden Rezension verschiedener Brahms-Werke eines anonymen Kritikers von Anfang 1854 in den Grenzboten (Anonym 1854 Musik, S. 38 – 40). Im darauf folgenden Heft der Grenzboten begegnet man ganz ähnlichen Tönen, die den „Künstlern der Zukunft“ in zynisch verdeckter Art vorwerfen, sowohl Wagner zu verehren als nun auch mit dem von Wagner und längere Zeit auch von ihnen selbst abgelehnten Hector Berlioz und gar mit Giacomo Meyerbeer zu sympathisieren (Anonym 1854 Neueste musikalische Literatur, in: NdS 1 Nr. 58). 23 Bezieht sich auf den zweiten der im Folgenden zitierten Abschnitte: Jahn 1854 Lohengrin, Oper von Richard Wagner, S. 89. 24 Hector Berlioz, La Damnation de Faust (Fausts Verdammnis) op. 24 (UA 1846), 2. Teil, 6. Szene „Chanson de Brander“. 25 Der zitierte Absatz besteht aus einer Kompilation von zum Teil leicht veränderten Sätzen des Artikels Jahn 1853 Die Verdammniß des Faust, S. 124 –126. 22 Das
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Meyerbeer’scher Gemeinheit nichts nachgiebt. Wer kann bei dem Chor der nach Hause taumelnden Capulets26, bei dem wüsten Tanzgelage27, das in einen wahren Meßbudenscandal28 ausartet, sich noch vorstellen, daß er, ich sage nicht in vornehmer, daß er in guter Gesellschaft sei? Auch in Auerbachs Keller29, wo Göthe uns zu einer Zeche lustiger Gesellen führt, bringt uns Berlioz in eine gemeine Kneipe. – Von den wesentlichen Erfordernissen des Contrapunktes hält Berlioz fast nur das eine fest, daß von den verschiedenen Stimmen, welche er zusammenbringt, jede selbstständig ihren Weg gehe; wie sie sich mit einander vertragen, das kümmert ihn ungleich weniger. Es ist, als ob er eine Anzahl von – wie sage ich nur? Melodie, Thema, Motiv, Idee im gewöhnlichen Sinne paßt in der Regel nicht – von Notencomplexen mit vollen Händen über’s Orchester verstreue: jeder sucht seinen Theil zu erwischen, einige halten beharrlich das Stück fest, das sie einmal erfaßt haben, und wiederholen es unverdrossen, als fürchteten sie, es könnte abhanden kommen; andere haschen leichtfertig bald nach diesem, bald nach dem, versuchen sich hier und da, bis ein allgemeines bellum omnium contra omnes30 entbrennt, in dem jeder sich wehrt, so gut er kann. Mit einem Mal schweigen alle still, als fürchteten sie sich vor ihrem eigenen Spectakel, oder werden wie beschämt und verlegen ganz leise, aber bald liegen sie sich wieder in den Haaren, und wo jeder thut, was er will, hat der einzelne auch gar keinen Grund, sich zu geniren: alles tobt sich aus nach Herzenslust, wie die Tertianer, wenn der Lehrer nicht da ist. „Besen, Besen sei’s gewesen!“31 seufzt der unglückliche Zuhörer, über dessen Ohr es hergeht, einmal über das andere Mal etc. – (Aus Nr. 52).32 – Es giebt Individuen, die bei mäßigen Verstandeskräften in eine sittliche Confusion gerathen, aber für solche interessirt man sich nicht, wenn sie einem im Leben begegnen, und noch viel weniger, wenn sie für dramatische Helden gelten sollen. Es wundert uns daher auch nicht sehr, wenn wir unter Ortrud’s Leitung „den Preis aller Tugend und Ehre“33 (Telramund) die dummsten und miserabelsten Streiche unternehmen sehen, aber es wandelt uns nicht einmal nur Mitleid mehr mit ihm an. – Lohengrin hebt ergriffen und entzückt Elsa an seine Brust und ruft: „Elsa ich
Roméo et Juliette, 3. Teil „Scène d’amour, Nuit sereine – Le Jardin de Capulet, silencieux et désert. Les jeunes Capulets, sortant de la fête, passent et chantent des réminiscences de la musique du bal“, T. 45 –123. 27 Ebd., 2. Teil „Roméo seul – Tristesse – Concert et bal – Grande fête chez Capulet“, ab T. 129. 28 Anspielung auf Berlioz, La Damnation de Faust, 1. Teil, 2. Szene „Ronde de paysans“ und 3. Szene „Une autre partie de la plaine. Marche hongroise“. 29 Ebd., 2. Teil, 6. Szene „La cave d’Auerbach à Leipzig“. 30 (Lat.) Kampf aller gegen alle. Diese Formulierung, die auf Thomes Hobbes’ Schrift Elementorum philosophiae sectio tertia de cive (ED 1642, Praefatio, 14. Sektion) zurückgeht, wurde vor allem als Hauptprämisse seines staatsphilosophischen Hauptwerks Leviathan (ED 1651, 1. Teil, 13. Kapitel) populär. 31 Johann Wolfgang von Goethe, Der Zauberlehrling (ED 1798). 32 Der Absatz zitiert Passagen aus Jahn 1853 Hector Berlioz in Leipzig, S. 484 und S. 486, in NdS 1 Nr. 55, S. 599 und S. 601. 33 Anspielung auf einen Ausspruch des Königs Heinrichs aus Wagners Lohengrin, 1. Aufzug, 1. Szene: „[…] drum frag’ ich dich, Friedrich von Telramund: ich kenne dich als aller Tugend Preis, jetzt rede, daß der Drangsal Grund ich weiß“. 26 Berlioz,
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liebe Dich!“34 wobei man unwillkührlich an die naive Prinzessin Pumfia35 im Marionettenspiel erinnert wird! – Während die Männer Lohengrin ihre Treue versichern, und Elsa noch mit sich kämpft, naht ihr Friedrich heimlich; er wolle ihr Gewißheit verschaffen, das Geheimniß werde schwinden, wie er Lohengrin nur das kleinste Glied entreißen könnte. „Ich bin Dir nah’ zur Nacht. Rufst Du, ohn’ Schaden ist es schnell vollbracht.“36 Diese befremdenste Zumuthung, die wohl je an eine Braut am Hochzeitstag gemacht worden ist, bringt Elsa zu sich, u. s. f. – Von Lohengrin läßt sich nicht viel sagen. Ein Zweikampf auf der Bühne hat nicht viel zu bedeuten, und das ist das Einzige, was er thut, sonst sehen wir ihn immer nur, wie er Elsa verbietet ihn zu fragen. – Das ist nicht Poesie, auch nicht poetisch schöne Sprache, son-[90]dern die gemeinste hausbackne Prosa, mit Kummer und Noth elend gereimt, welche Nichts vor dem Voltaire’schen Wort schützen kann: Ce qui serait trop sot, pour être dit, on le chante.37 – (Aus Nr. 3.)38 – Das Modell für das Duett zwischen Ortrud und Telramund39, wie für die ganze Scene, ist so sichtbar Weber’s „Euryanthe“40, daß ohne bestimmt nachweisbaren Anklang (sic!) man doch fortwährend an dieselbe erinnert wird. Aber was sind Weber’s Würzen gegen Wagner’s Assafoetida41. – Der Männerchor hat etwas von der französirenden Weise, wie wir sie bei Meyerbeer finden, welche dem Liedertafelcharakter etwas feinen Parfüm giebt. – Das Gebet42 ist merkwürdiger Weise ganz Mendelssohnisch, in der Führung der Melodie, in den harmonischen Wendungen und Uebergängen. – Das Hauptmotiv Elsa’s ist unsangbar, schwülstig, aus einzelnen Phrasen zusammengesetzt, und trotzdem, daß es mit ungewöhnlichen Harmonienfolgen herausgeputzt ist, gewöhnlich, und sogar gemein: es erinnert an Marschner43 in seinen schwächsten Stunden. – Bei Lohengrin’s: „Athmest Du nicht mit mir die
Lohengrin, 1. Aufzug, 3. Szene, T. 810 – 812. 35 Pumphia ist die Titelfigur des seinerzeit sehr populären Bühnenwerks Eine neue Tragödie, betitelt: Bernardon, Die getreue Prinzessin Pumphia, und Hanswurst der tyrannische Tartur-Kuliann. Ein Parodie in lächerlichen Versen des Wiener Komikers und Hanswurstiaden-Librettisten Josef Felix von Kurz aus dem Jahr 1756. 36 Wagner, Lohengrin, 2. Aufzug, 5. Szene, T. 2013 – 2015. 37 (Frz.) Das, was zu dumm ist, ausgesprochen zu werden, wird gesungen. Dieses Zitat geht nicht auf Voltaire zurück, sondern lehnt sich an Pierre de Beaumarchais’ Le Barbier de Séville (UA 1775) an: „Aujourd’hui, ce qui ne vaut pas la peine d’être dit, on le chante“ (1. Akt, 2. Szene). 38 Der Absatz zitiert einzelne Phrasen aus Jahn 1854 Lohengrin, Oper von Richard Wagner, S. 87, S. 89, S. 94, S. 97 und S. 100. 39 Wagner, Lohengrin, 2. Aufzug, 1. Szene. 40 Carl Maria von Weber, Euryanthe (UA 1823), 2. Akt, 2. Szene, Nr. 11. 41 Ferula assa-foetida ist das arabisch-russische Steckenkraut Asant, bekannt als unangenehm riechendes Gewürz mit bitterem Geschmack und daher auch als Stinkasant oder Teufelsdreck bezeichnet. 42 Wagner, Lohengrin, 1. Aufzug, 2. Szene, ab T. 575. 43 Heinrich August Marschner (1795 –1861), deutscher Komponist und Kapellmeister in Dresden und Leipzig, war ab 1831 Königlicher Hofkapellmeister in Hannover. Mit seinen in Leipzig uraufgeführten Opern Der Vampyr (UA 1828) und Der Templer und die Jüdin (UA 1829) gelang Marschner der kompositorische Durchbruch. Auch auf Grund des dramatisch geführten Sprechgesangs seiner Opern wurde er von Komponisten wie Felix Mendelssohn Bartholdy, Robert Schumann und Wagner wertgeschätzt. 34 Wagner,
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süßen Düfte“44, wird man durch einen süßlichen Schwulst haarsträubender Harmonien hindurchgepeinigt, so widerlich und unwahr, als die romantische Rhetorik des Textes. – Das Tremoliren der Saiteninstrumente ist so prädominirend, daß, wenn auch die Blasinstrumente in diese zitternde Bewegung fallen, man denkt, das ganze Orchester bekomme das delirium tremens45. – Wenn Jemand, der in guter Gesellschaft zu sein glaubt, plötzlich von seinem Nachbar eine Ohrfeige erhält, so wird das ohne Zweifel einen überraschenden Effect auf ihn machen, und solche harmonische, oder vielmehr unharmonische Ohrfeigen erhält man im Lohengrin jeden Augenblick, mitunter hagelt es ordentlich Püffe! – (Aus Nr. 4).46 – Wir müssen leider abbrechen, obgleich wir mit dieser ästhetischen Blumenlese noch ganze Bogen füllen könnten. Denn die angeführten Sätze sind nicht etwa mit Sorgfalt herausgesucht, sondern auf geradewohl aus den Grenzboten heraus genommen, weil jeder Satz mit dem anderen wetteifert um die Ehre, am meisten „Grenzbotenartig“ zu sein. – Wir fragen: Ist das Kritik? Ist das anständige Kritik? Kann man sich mit solchen Herren auf Erörterungen einlassen, ohne sich in jeder Hinsicht herabzusetzen? Glaubt man, um mit den Grenzboten zu reden, „in guter Gesellschaft zu sein“, wenn man diese, Wuth oder Gemeinheit (wir haben dieses Wort von den „Grenzboten“)47 oder Unsinn sprudelnden Redensarten hört? – Und nun vergegenwärtige man sich, wie die Grenzboten verfahren, wenn sie irgendwo auf energischen Widerstand stoßen, und wie sie auch mit gegenwärtigem Artikel verfahren werden, sofern sie ihn überhaupt berücksichtigen, woran wir jedoch aus diversen Gründen noch zweifeln. Die Grenzboten begehen alsdann die Abgeschmacktheit, statt aller Entgegnung einen beliebigen kleinen Satz, der ihnen, so wie ungefähr der gegenwärtige, ungeschminkt die Wahrheit sagt, abdrucken zu lassen, und darunter zu bemerken: Mit einem solchen Gegner48 verhandeln wir nicht, wir bemitleiden ihn, sein Styl ist „zu pöbelhaft“.II – Die Grenzboten sprechen von „pöbelhaft“49, während
II Man vergleiche die Grenzboten Nr. 17 vom Jahre 185350, wo man die angeführten Worte als Antwort auf fünf ausgezeichnete, wenn auch natürlich nicht höfliche und schonende, aber sich streng an die Sache haltende Artikel von J. Raff, die gegen die Grenzboten gerichtet sind, finden kann.51
Lohengrin, 3. Aufzug, 1. Szene, ab T. 427. 45 (Lat.) zitternder Irrsinn, oder veraltet: Säuferwahnsinn. 46 Der Absatz zitiert und paraphrasiert einzelne Phrasen aus Jahn 1854 Lohengrin, Oper von Richard Wagner, S. 123, S. 125 f., S. 130, S. 134. 47 Jahn 1853 Die Verdammniß des Faust, S. 124. 48 Mit „Gegner“ ist hier Joachim Raff angesprochen, siehe vorliegender Artikel, Anm. 51. 49 Siehe ebenfalls vorliegeder Artikel, Anm. 51. 50 Anonym 1853 Polemik der Neuen Zeitschrift für Musik. 51 Raff 1853 Vertrauliche Briefe, in: NdS 1 Nr. 45, siehe auch den dortigen Kommentar. In dieser Serie von fünf Briefen reagiert Raff auf eine Tannhäuser-Kritik der Grenzboten (Anonym 1853 Tannhäuser von Wagner) und verteidigt Wagners Libretto zu Tannhäuser und dessen musikalischen Stil. Nach seinem dritten Brief erschien eine Erwiderung der Grenzboten (Anonym 1853 Polemik der Neuen Zeitschrift für Musik) auf Raffs Stellungnahme zur GrenzbotenWagnerkritik: „Die Pöbelhaftigkeit eines solchen Ton’s ist in der N. Z. f. Musik nichts Neues; neu ist aber, daß der Verfasser seinen Namen unterzeichnet. Die Person, die einen solchen Styl schreibt, heißt Joachim Raff“ (ebd., S. 160). Raff reagiert auf die Vorwürfe im vierten seiner fünf Briefe und zitiert dort die Anschuldigungen.
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sie Berlioz der „plattesten Gemeinheit“, Wagner der „hausbackenen Gemeinheit“ beschuldigen; während sie Berlioz mit einen, „Fratzen schneidenden Hanswurst“, Wagner’s Lohengrin mit einem „Marionettenspiel“ vergleichen!52 Und die Grenzboten wollen ein „anständiges“ Blatt sein, sie maßen sich das Monopol der Kritik an! Arm in Arm mit jenem „anonym gebornen“ Stuttgarter, welcher den Schwabenstreich beging, im „Centralorgan der deutschen Bühnen“ Tannhäuser analysiren zu wollen53 (siehe Bd. 39, Nr. 26 d. Bl.54), und unter einer Flagge, welche sogar der „Niederrheinischen Zeitung“ nicht einmal ebenbürtig wäre, ziehen die Grenzboten triumphirend einher und fordern ihr Jahrhundert in die Schranken! – – – Wir könnten hier abbrechen, und die Grenzboten ihrem Schicksale getrost überlassen, wenn wir nicht die Gelegenheit ergreifen wollten, auf ein Symptom aufmerksam zu machen, das wir nicht an den Grenzboten allein, sondern auch bei verwandten Geistern beobachtet haben – einen hypokratischen Zug55, der unser Mitleid rege gemacht hat, und den wir nicht länger ignoriren wollen. Wenn man nämlich Alles erschöpft hat, was an Gegengründen vorzubringen ist, und mit seinen Verstandeskräften in den letzten Zügen liegt, aber dennoch mit Schrecken gewahrt, daß das, was man verdammt und verfolgt hat, allenthalben die wärmsten Sympathien und glänzendsten Erfolge erringt, phantasirt man regelmäßig von „Clique“56 und „Claque“57. Dies ist eine so entsetzlich platte und wohlfeile Art, sich schließlich aus der Affaire zu ziehen, daß wir die Grenzboten wegen dieses zunehmenden Mangels an Erfindungsgeist in der That bemitleiden müssen. Daß Berlioz in Leipzig gefiel, war das Werk einer Claque58, – daß Brahms die allgemeinste Theilnahme fand, war wieder Clique, aber natürlich „eine ganz andere“59, – daß „Lohengrin“ zur Auf-[91]führung kam, war abermals das Werk einer „Clique“, sein Beifall war „Claque“. – Es ist wahrhaft erstaunlich, was die, früher von den Grenzboten immer als klein, unbedeutend, machtlos und ephemer bezeichnete[,] „Clique“ doch Alles kann! Wären diese Erfolge in der That das Werk reiner „Cameraderie“ – so könnte diese „Clique“ sich Viel darauf einbilden, daß sie in so kurzer Zeit, allein in dem einst so exclusiv Mendelssohn’schen Leipzig, eine so
Zitate und Paraphrasierungen des Satzes gehen zurück auf Anonym 1853 Polemik der Neuen Zeitschrift für Musik, S. 160; Jahn 1853 Die Verdammniß des Faust, S. 124; Jahn 1854 Lohengrin, Oper von Richard Wagner, S. 100; Jahn 1853 Die Verdammniß des Faust, ebd.; Jahn 1854 Lohengrin, Oper von Richard Wagner, S. 89. 53 Siehe hierzu die Tannhäuser-Rezension von Hamma 1853 Epistel an die Tann- und Tollhäusler. 54 Bülow 1853 Die Opposition in Süddeutschland, in: NdS 1 Nr. 54. In diesem Artikel greift Bülow die Kapellmeister Franz Lachner in München und Peter Joseph von Lindpaintner in Stuttgart aufs Schärfste an. 55 Wohl bezogen auf „facies hippocratica“ (lat.) der Gesichtsausdruck Schwerkranker oder Sterbender. 56 (Aus dem Frz., cliquer) klatschen. Wurde im 19. Jahrhundert gleichbedeutend mit einer zusammenhaltenden, hinterlistigen Bande, Spießgesellschaft oder Sippschaft verwendet. 57 (Aus dem Frz., claquer) klatschen. Ein Claqueur ist ein in Aufführungen für sein Klatschen bezahlter Zuschauer. Die Gesamtheit der Claqueure einer Darbietung wurde als Claque bezeichnet. 58 Zum Berlioz-Konzert in Leipzig im Dezember 1853 siehe beispielsweise 30. 1853 Leipziger Briefe oder 12. 1853 Hannover, in: NdS 1 Nr. 53. 59 Siehe dazu den über ein Leipziger Konzert berichtenden Artikel Schloenbach 1853 Ein offener Brief an Franz Brendel. 52 Die
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merkwürdig rasche und erfolgreiche Revolution hervorgerufen habe – wohl verstanden: trotz der Opposition der Grenzboten! Man betrachte z. B. folgenden Satz dieses Blattes (aus Nr. 3). „Mit der Aufführung des Lohengrin verbinden wir den Wunsch, daß mit gleichem Eifer auch die Werke ernst strebender Kunstjünger auf die Bühne gebracht werden mögen, welche nicht die Protection einer einflußreichen Clique und wohlorganisirten Claque, nicht den Heiligenschein des Märtyrerthums, nicht die Prätention einer ausschweifenden Verschwendung äußerer Mittel in die Wagschale zu legen haben!“60 – – Die Grenzboten würden uns ganz besonderes Vergnügen machen, wenn sie uns die Werke jener „ernst strebenden Kunstjünger“ nennen wollten, welche, in unserer Zeit schaffend, nicht der von uns vertretenen Richtung angehören, und dennoch Aussicht auf Lebensfähigkeit haben könnten! Man nenne uns die Opern und dramatischen Componisten, welche auf der Bühne durch ihren eigenen künstlerischen Werth sich halten könnten, und wir werden selbst von den Grenzboten diese Belehrung mit Dank annehmen! Daß die Grenzboten bereits so weit reducirt sind, unserer ehemals so kleinen „Clique“ die Prädicate „wohlorganisirt“ und „einflußreich“ zuzugestehen, ein anderes Mal von „wachsendem Erfolg“, ja sogar von bereits erfolgter „Popularität“ der Wagnerschen Richtung sprechen zu müssen, das ist für jenes Blatt allerdings beklagenswerth. Daß aber das zum Ueberdruß todtgehetzte Stichwort „Clique“ und „Claque“ nicht auf uns passen kann, brauchen wir kaum zu beweisen, da die Grenzboten selbst recht gut wissen, daß kein wahres Wort daran ist. Oder will man die Uebereinstimmung in der Richtung einer Anzahl Journale, von ganz verschiedener Tendenz, denen sich fortwährend neue anschließen, will man die merkwürdige Uebereinstimmung im Urtheil des Publikums von circa ¼ Hundert gebildeten Städten Deutschlands, in welchen Wagner’s Opern bereits dauernden Fuß gefaßt haben, will man die, mit Nothwendigkeit eingetretene, organisch entwickelte, Schritt für Schritt nachweisbare, lebenskräftige und siegreiche Kunstbewegung, wie sie jetzt bereits vor uns liegt – will man das Alles eine „Clique“ nennen? – Nun, dann ist freilich Alles „Clique“, dann ist die Reformation auch Nichts als das Werk einer „Clique“ gewesen, und wir sehen nicht ein, warum wir einen wohlorganisirten Staat nicht auch eine „Clique“ nennen sollen! Leider verhält sich die Sache ganz anders. Die kleine sogenannte „Clique“ der „Neuen Zeitschrift“ hatte Nichts gethan, als mit richtigem Blick und natürlicher Sympathie eine Bewegung in ihren Keimen erkannt und hervorgehoben, welche der Weisheit und dem Scharfblick europäischer Berühmtheiten, wie die Grenzboten sind, leider gänzlich entgangen war, weil diesen hierzu jeder Instinkt, wie viel mehr jede Einsicht fehlte. Nur das Lebensfähige kann dauernd gehalten und erfolgreich gefördert werden; nur das organisch Kräftige kann im Zeitbewußtsein Wurzel fassen, treibt Blüthen, fördert Früchte, und hat überhaupt eine naturgemäße Entwickelung. Deshalb, und nur deshalb greift die Wagner’sche Bewegung, mit ihren Voraussetzungen und Consequenzen, mit Riesenschritten um sich; eine Bewegung, welche unter den ungüns-
60 Zitiert
leicht abgeändert Jahn 1854 Lohengrin, Oper von Richard Wagner, S. 81 f.
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tigsten Verhältnissen von der Welt in’s Leben der Gegenwart eintrat, und sicher erstickt wäre unter der Wucht des Unsinns, den man auf die ersten Keime wälzte, – wenn sie überhaupt zu vernichten gewesen wäre. Aus gleichem Grunde können aber die Grenzboten – diese absoluten Antipoden nicht nur Wagner’s, sondern jeder eigenthümlichen und epochemachenden Erscheinung – nirgends Wurzel fassen und niemals Früchte tragen. Der „Geist, der stets verneint“, der „Alles was entsteht“ nur für werth hält „daß es zu Grunde geht“, dieser Geist des „Nichts“ mit seinen „würd’gen Pflichten“, muß an sich selbst zu Grunde gehen, weil er nie und nirgends Sympathien findet, weder im Publikum, noch bei der Kunst, noch bei der Wissenschaft und Kritik.61 Ein kleiner Complex von 3 bis 4 gleichartigen Naturen, stehen die Grenzboten vollkommen isolirt in der Zeit, und geben sich dabei zu allem Ueberfluß noch der Selbsttäuschung hin, daß sie keine „Clique“ seien! Sie wollen mit der Gegenwart auf ihre Hand so verfahren, wie sie mit sich selbst experimentiren – sie ersetzen die Seele durch eine galvanische Batterie und versuchen, dem Leichnam ihrer Kritik den Schein des Lebens künstlich zu verleihen. Aber Convulsionen und Verzerrungen sind keine lebenskräftigen Bewegungen! Daß jede vorwärts strebende, und reformatorisch wirkende Partei ihre Organe besitzt, durch welche sie ihre Principien veröffentlicht, vertheidigt und consequent verfolgt – daß ist geradezu eine Nothwendigkeit, solange entgegenwirkende Blätter von der Sorte [92] der Grenzboten existiren. Sollten vielleicht nur wir ruhig zusehen, und die Presse als Monopol in solchen, Alles zertretenden, und verrenkenden Händen lassen – blos um selbst den Schein zu meiden, und um der banalen Phrase gerecht zu werden: Ist das, was ihr vertretet, haltbar, so wird es sich auch halten, ohne daß irgend etwas dafür geschieht – eine Phrase auf die wir umgekehrt den Grenzboten erwidern: Ist das, was ihr vernichten wollt, an sich nicht haltbar, so wird es auch zu Grunde gehen, ohne daß Ihr euch darum bemüht! – Bei dieser Gelegenheit wollen wir den Herren von der Grenze ein Wort von Schlosser62 in Erinnerung bringen, welches er in seiner Geschichte des 18ten und 19ten Jahrhunderts bei Behandlung der Lessing’schen Bestrebungen ausspricht. „Da in Deutschland von dem Urtheil der Recensenten das Schicksal aller Schriften abhing, so mußten sich die Männer, welche die Mängel der bisherigen Literatur lebhaft empfanden, wenn sie durchdringen wollten, einer kritischen Anstalt bemächtigen, eine Partei machen, und sich zum dreisten Organ derselben aufwerfen. Diesen Weg haben hernach alle Reformatoren der deutschen Literatur eingeschlagen.“63 – – – So ist die Reform der deutschen Literatur entstanden, dieselbe Reform, von welcher die Grenzboten jetzt noch ihr Leben fristen, indem sie noch immer daran herum nagen, was jene „Cliquen“ – unter denen Lessing, Herder, Wieland, Schiller und Göthe sehr thätig waren – vorbereiteten oder vollbrachten. Auf diese Weise konnte allein, und mußte auch die Reform herbeigeführt werden, welche in der
Zitate des Satzes aus Goethe, Faust I, „Studierstube“. 62 Friedrich Christoph Schlosser (1776 –1861), deutscher Historiker und evangelischer Theologe. 63 Schlosser, Geschichte des achtzehnten Jahrhunderts und des neunzehnten bis zum Sturz des französischen Kaiserreichs. Mit besonderer Rücksicht auf den Gang der Literatur, 1836, Bd. 1, 2. Abschnitt, 2. Kapitel, Paragraph 6, S. 669. 61 Alle
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Musik jetzt nur Denen plötzlich, unvorbereitet und ephemer erscheint, die in vormärzlicher Sorglosigkeit und Sicherheit es nicht der Mühe werth gefunden hatten, sich um die Bestrebungen einiger begabter und entschiedener Geister zu kümmern – bis sich daraus eine Partei, eine Bewegung, eine Reform entwickelt hatte, welche die Existenz gewisser Dogmen auf immer gefährden, die Autorität gewisser traditioneller Gedankenlosigkeiten auf immer vernichten mußte. Man hat bei der Beurtheilung dieser Bewegung bisher immer eine Kleinigkeit übersehen, oder vielmehr wohlweislich verschwiegen, eine wahre Kleinigkeit, auf die wir hier gelegentlich noch hinweisen wollen. Man scheint nämlich übersehen zu haben, daß die kritische Thätigkeit unserer Partei stets mit der Production Hand in Hand ging. Unsere Partei hat niemals blos einseitig gefordert, ohne zugleich Etwas zu leisten; sie hat nicht lediglich einreißend, sondern zugleich aufbauend, nicht nur analytisch, sondern auch synthetisch gewirkt. Sie hat in Schumann, Berlioz, Liszt und Wagner nicht nur kritisch negirende, sondern auch positiv schaffende Repräsentanten – und dies ist der kleine Unterschied, welcher unsere Richtung von der der Grenzboten, und aller ähnlichen Blätter, himmelweit unterscheidet und trennt. Diese erstgenannten, und andere, sich ihnen anschließende, weil mit ihnen sympathisirende Männer, waren meistentheils Componisten, Dirigenten, Kritiker und Schriftsteller zugleich. Und dies ist stets das Kennzeichen einer Schule, aber niemals das einer Clique gewesen! Es ist dieselbe Differenz, welche z. B. Lessing’s Dramaturgie vor der Dramaturgie der „Grenzboten“ auszeichnet,64 sofern man einen weiteren Unterschied zwischen Lessing und Julian Schmidt etwa nicht entdecken sollte! – – Mit dieser vorläufigen Zurechtweisung und wohlmeinenden Belehrung wollen wir die Grenzboten für diesmal entlassen. – – –
Kommentar Die Grenzboten waren eine seit 1841 meist wöchentlich erscheinende Leipziger Literaturzeitschrift, die während der Redaktionszeit von Gustav Freytag und Julian Schmidt in den Jahren 1848 bis 1861 zum einflussreichsten Sprachrohr des national-liberalen Bürgertums und zum zentralen Organ des programmatischen Realismus avancierte. Der vorliegende anonyme Artikel ist eine offizielle, auf Angriff und Abgrenzung angelegte Reaktion der NZfM auf eine Reihe von mindestens sieben seit Ende 1853 in den Grenzboten veröffentlichten
64 Anspielung auf Lessings Hamburgische Dramaturgie, zugleich Kritik an Schmidts antiidealistischer und antiemanzipatorischer Realismus-Theorie, deren Pole das „Preußenthum, Bürgerthum, der Staat und der Stand der Pflicht und der Arbeit“ waren (Rößler 1890 Art. „Julian Schmidt“, S. 754). Siehe auch vorliegender Artikel, Anm. 6.
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Aufsätzen zur zeitgenössischen Musik, welche insbesondere gegen die Werke und Schriften Wagners, Berlioz’ und die neusten musikalischen Bestrebungen gerichtet waren.65 Die seit 1844 den programmatischen Untertitel Zeitschrift für Literatur und Politik führenden Grenzboten nahmen ab 1848 die dominierende Rolle innerhalb des deutschen lite raturkritischen Diskurses ein und positionierten sich öffentlich ab 1852 mit einigen größeren, kritischen Artikeln zu Wagners und Johann Christian Lobes Schriften, zum Ballenstedter Musikfest66 und auch zu Berlioz’ Werken auf dem der Zeitung eher fernen, musikalischen Terrain.67 In dieser Hinsicht machte die Zeitschrift bereits 1851 mit August Ferdinand Riccius’ Enthüllung von Wagners Autorschaft von dessen pseudonym erschienenen Schrift „Das Judenthum in der Musik“ auf sich aufmerksam.68 Konkreter Anlass der vorliegenden Polemik ist in einem ungefähr sechs Wochen zuvor veröffentlichten, provozierenden GrenzbotenArtikel69 zu vermuten. Dieser hatte die Willkür und die divergierenden ästhetischen wie kompositorischen Vorstellungen der „jungen Künstlerschule“70 angeprangert und sowohl Lobe als auch Joachim Raff und die Anhänger Wagners als wankelmütige, prinzipienlose Gruppierung verurteilt,71 die entgegen ihrer vergangenen Anschauungen nun sogar Berlioz und wohl bald auch Giacomo Meyerbeer verehren würden. Auf solche Anschuldigungen reagiert der vorliegende Artikel mit einer Art Parteiaufstellung in Form einer klaren Abgrenzung von den gegen sie publizierenden Grenzboten, einer Auflistung von zur ‚Wagner’schen Bewegung‘ gehörenden Personen sowie der erforderlichen Fähigkeiten, die ein Parteimitglied insbesondere als Teil einer ‚Schule‘ aufweisen sollte. Anders noch als 1853, als die Grenzboten wegen einer Tannhäuser-Kritik in direkte Auseinandersetzung mit Joachim Raff und der NZfM geraten waren72 und im Gegensatz zu anderen Artikeln, die vor allem auf einzelne Komponisten und einzelne gegnerische Artikel Bezug genommen hatten, richtet sich die vorliegende Polemik gegen eine Zeitschrift und deren Position im Ganzen und vollzieht stärker als je zuvor eine Abgrenzung gegen ein an eine Institution gebundenes Lager. Die zunehmend parteipolarisierende Debatte wurde zu dieser Zeit immer häufiger zwischen zwei konträren, sich direkt gegeneinander positionierenden Zeitschriften ausgetragen. Dies unterstreichen u. a. die polemisch gegen die NZfM gewandten Stellungnahmen der Niederrheinischen Musik-Zeitung, gegen das Karlsruher Musikfest73 oder ein sich gegen das angebliche „Klüngelwesen“ der NZfM richtender Angriff, der am Folgetag des vorliegenden Artikels erschien.74 Bemerkenswert ist, dass der Autor aus seiner polemischen Verteidigung gegen die von den Grenzboten angedrohte Vernichtung „jede[r] musikalische[n] bedeutende[n] Erscheinung der Neuzeit“75 und deren Verurteilung als „Clique“ heraus eine nahezu definitorische
65 Jahn 1853 Die Verdammniß des Faust; Anonym 1853b Musik; Jahn 1853 Hector Berlioz in Leipzig, in: NdS 1 Nr. 55; Jahn 1854 Musik; Anonym 1854 Neueste musikalische Literatur, in: NdS 1 Nr. 58; Jahn 1854 Lohengrin, Oper von Richard Wagner; Anonym 1854 Noch einmal Wagner. 66 Siehe Einleitung „Die Jahre 1852 bis 1853“, in: NdS 1, S. 267 – 275. 67 Anonym 1852 Das Verhältnis der Oper zum Drama; Anonym 1852 Drei Operndichtungen; Anonym 1852 Musikalische Briefe. Von einem Wohlbekannten; Anonym 1852 Das Musikfest zu Ballenstedt, in: NdS 1 Nr. 34. 68 Wagner 1850 Das Judenthum; Riccius 1851 Richard Wagner. 69 Anonym 1854 Neueste musikalische Literatur, in: NdS 1 Nr. 58. 70 Ebd., S. 62, in: NdS 1 Nr. 58, S. 631. 71 Vgl. ebd. 72 Siehe dazu vorliegender Artikel, Anm. 51. 73 J. B. 1854 Die Opposition Süddeutschlands, in: NdS 1 Nr. 60. 74 Anonym 1854 Richard Wagner, in: NdS 1 Nr. 63; siehe ebenfalls Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, in: NdS 1 Nr. 66. 75 Vorliegender Artikel, S. 657 [88].
Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik
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Abgrenzung der Begriffe „Clique“, „Bewegung“, „Partei“ und „Schule“ vornimmt. Mit seiner Beurteilung, dass „unsere Bewegung“ breitenwirksam „im Concertsaal“, „in der musikalischen Literatur“, „in Büchern“, „in Journalen“, „auf der Bühne“ und in „Partituren und Text büchern“ zu Tage trete, teilte der Autor die später von ‚fortschrittlicher‘ Seite immer wieder geäußerte Forderung nach zugleich schriftstellerischen und kompositorischen Fähigkeiten eines Künstlers. Dementsprechend fasste er auch Schumann, Berlioz, Liszt und Wagner zu einer Gruppierung zusammen, die ebenso kritisch wie produktiv in Wort und Komposition tätig sei. Indem der Autor aus diesen Künstler- und Partei-Vorstellungen den Schulbegriff ableitete, formulierte er einen bereits auf die Äußerungen Brendels von 185976 vorausweisende Vorstellung von einer zukunftsorientierten, kritisch wie künstlerisch produzierenden Schule. Interessant erscheinen zudem die hier propagierten ‚Zweiergruppierungen‘ „Berlioz und Liszt“ sowie „Schumann und Brahms“ – letztere sicherlich durch Schumanns befürwortenden Brahms-Aufsatz77 des Vorjahres motiviert. Neben Wagner als führendem Kopf und der NZfM als Parteiorgan wird nun auch Lobe trotz seiner durchaus ambivalenten Haltung von der ‚Partei‘ vereinnahmt. Noch 1852 und 1853 hatten Theodor Uhlig78 und Richard Pohl79 als Autoren der NZfM Lobe aufs Schärfste als „Erbfeind der musikalischen Kritik“80 verurteilt, da er sich gegen die Schriften Wagners ausgesprochen hatte81, obwohl er die Opern Wagners – speziell die Ouvertüren – schon immer als wertvolle82, später sogar als „vollendete“83, wenn auch nicht „neue“ Kompositionen begutachtet hatte. Diese sich dazu nun im Gegensatz verhaltende Vereinnahmung scheint in direktem Zusammenhang mit dem die vorliegende Stellungnahme auslösenden Grenzboten-Artikel zu stehen, der Lobe aufgrund seiner neuesten Äußerungen Anfang 1854 in den „Ästhetischen Briefen“ seiner Fliegenden Blätter84 als Verteidiger der ‚Zukunftskünstler‘ präsentiert. Und doch druckte wiederum die konservative Rheinische Musik-Zeitung vier Wochen später einen Artikel des zum ‚Zukunftsmusiker‘ gestempelten Lobe mit überaus zustimmender Haltung ab, da dieser darin ein eher traditionelles Geschichtsverständnis darlegte.85 Umso mehr erscheint der Umgang mit einer Position wie der Lobes, dessen vermeintliche ‚Parteizugehörigkeit‘ immer wieder Gegenstand von Debatten werden sollte, beispielhaft für eines der Grundmuster der Auseinandersetzungen, Protagonisten der Kontroverse pauschal einer der Gruppierungen beizuordnen.86 In gleicher Weise instrumentalisierte der Autor auch den zitierten Literaten Karl Gutzkow für seine Argumentation und Gegnerschaft
Brendel 1859 Zur Anbahnung einer Verständigung, in: NdS 3 Nr. 126. 77 Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49. 78 Uhlig 1852 Ueber die musikalischen Briefe eines Wohlbekannten, S. 167: „Wenn wir über die ‚musikalischen Briefe des Wohlbekannten‘ viel mehr Worte verloren haben, als im Grunde sich der Mühe verlohnen, so ist dies nur geschehen, um das Widersinnige einer Kunstanschauung, die der unsrigen nicht nur entgegengesetzt ist, sondern derselben auch mit absichtlicher Feindseligkeit gegenüber tritt, in das hellste Licht zu stellen, und ihren Trägern und deren Anhängern den Vorwand zu nehmen, wenn sie uns etwa der Oberflächlichkeit in Beurtheilungen der Leistungen Anderer zu beschuldigen Miene machen sollten. ‚Opposition‘ – wie man von einer Seite erwartet – machen wir nicht gegen den Inhalte eines Buches, das wahrhaftig gerade genug gegen sich selber ‚opponirt‘.“ 79 Pohl 1853 Einige Bemerkungen. 80 Ebd., S. 79. 81 Lobe 1852 Musikalische Briefe. 82 Siehe Lobe 1853 Ein Vertheidiger Richard Wagner’s. 83 Siehe Lobe 1854 Briefe über Rich. Wagner. 84 Lobe 1854 Ästhetische Briefe II. 85 Lobe 1854 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 61. 86 Siehe dazu den Kommentar zu Anonym 1854 Neueste musikalische Literatur, in: NdS 1 Nr. 58. 76 Siehe
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gegen die Grenzboten, der im einige Jahre zuvor ausgetragenen sogenannten Grenzbotenstreit87 eine ähnlich ablehnende Position gegenüber den beiden Redakteuren Schmidt und Freytag eingenommen hatte. Der vorliegende Artikel ist vor allem ein Zeugnis für die immer stärkere Institutionalisierung der Streitigkeiten. Die Kontroverse, die sich aus den Lagern der ‚Wagner‘- und ‚AntiWagner-Partei‘ bzw. ‚Wagner-Schule‘ zu Beginn der 1850er Jahre entwickelt hatte, ging mit der Debatte über das Karlsruher Musikfest seit Ende 1853 über in Auseinandersetzungen zwischen gegensätzlich gesinnten Lagern im Ganzen, geführt insbesondere in Zeitschriften, die durch das Gruppieren bekannter Persönlichkeiten, trotz vielfacher künstlerischer und ästhetischer Divergenzen, immer mehr Geschlossenheit zu suggerieren suchten.
87 Siehe
vorliegender Artikel, Anm. 6.
Nr. 63 | Anonym [Eduard Krüger?], „Richard Wagner“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 2 (1854), Nr. 8 (25. Februar), S. 57 – 61.
Richard Wagner I.
Der Erfinder des „Kunstwerkes der Zukunft“1 hat seit etwa zehn Jahren durch theoretische Abhandlungen, durch eigen ersonnene Kunstwerke, wie durch Persönlichkeit und Schicksal sich einen Namen erworben. Weil er es liebt, den Philistern an die Perrücke zu greifen und zugleich alle Gegensinner Philister zu schelten, so hat die zeitsinnige Bettelmanns-Kritik aus Furcht vor übler Nachrede ihn flugs zum Propheten2 geadelt. Und weil es sich vordem ereignet haben soll, dass mancher grosse Mann von den Zeitgenossen misskannt und von den Gelehrten „der Gegenwart“ missachtet ist . . . . man behauptet, dergleichen sei einem gewissen Sebastian Bach und L. v. Beethoven auch geschehen . . . ., so hat eine Clique3 von geistreichen Speculanten, aus Furcht, zu spät zu kommen oder gar sich zu blamiren, eiligst in dasselbige Horn mitgeblasen, welches die allerneueste Kunstweisheit erhoben hat, um das philiströse Jericho der „Vergangenheit“ niederzuposaunen. Die Grossen lernen dankbar aus der Geschichte, die Kleinen entrinnen ihr furchtsam; und das nennen sie den Fortschritt zur Freiheit. – Der demokratische Vorsteher einer neuzeitlichen Musik-Zeitung4 hat sich seit Jahren gütlich gethan in jener Phrase: „Mit der Vergangenheit brechen“– wie denn er und die Seinigen von Erbrechungs-Phrasen ihr täglich Brod ziehen –. „Die Kunst der Zukunft“ – es ist zwar
I Dieser
Aufsatz ist uns von dem Verfasser, einem der ehrenwerthesten und tüchtigsten Veteranen der musicalischen Kritik, zur Benutzung mitgetheilt; mit Dank für die Zusendung räumen wir ihm mit Vergnügen sofort den ihm in einem Kunstblatte gebührenden Platz ein. (D. Red.) 1 Anspielung auf Richard Wagners Schrift Das Kunstwerk der Zukunft (ED 1850). 2 Zur Verwendung des Begriffs „Prophet“ oder „Prophet der Zukunft“ in Bezug auf Wagner und die „Zukunftsmusiker“ siehe etwa Lobe 1848 Fortschritt, S. 67 f., in: NdS 1 Nr. 7, S. 82 f.: „Ich habe zu viele Propheten der Zukunft sich schon blamiren sehen, um nicht einiges Misstrauen in die Wahrsagekunst zu setzen. Ich habe von früheren Kritikern, die auf der Höhe ihrer Zeit standen oder zu stehen glaubten, gelesen: aus diesem oder jenem Componisten kann nichts werden, in unserer heutigen Sprache, er hat keine Zukunft; oder: die Kunst geht bereits mit weiten Schritten abwärts, während die also bewahrsagten Künstler und die also bewahrsagte Kunst rüstig vorwärts schritten, – ich habe, sage ich, solche Zukünftler zu allen Zeiten in der Geschichte gefunden und bin in das Alter getreten, wo man an seiner Unfehlbarkeit sehr zu zweifeln pflegt“. Siehe ebenfalls Klitzsch 1848 Beziehungen zwischen Kunst und Politik, S. 46, in: NdS 1 Nr. 12, S. 161. 3 (Frz.) Rotte, Haufen, Spießgesellschaft. 4 Gemeint ist Franz Brendel als Redakteur der NZfM.
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eine undeutsche Uebertragung eines französischen Modewortes5, es lautet aber nun einmal hübscher, meint der leipziger Geschmack, wie denn auch diese Brüder Leipziger6 anstatt: „Heut ist schön Wetter,“ weit lieber im Klopstock’schen Stile sagen: „Das Wetter der Gegenwart ist absolut untadelig.“ Was sind sie, diese Künstler der Gegenwart, denen nichts als Vergangenheit fehlt? Was deutet ihre Zukunft, denen alle Vergangenheit moderig und alle Gegenwart niederträchtig ist? Was sind und was wollen sie? Richard Wagner will belehren über eine neue, höhere Art der Kunst, will die bisherige in ihrer Unzulänglichkeit erweisen und zugleich durch eigenes Wirken schaffend und leitend die besseren Kunstwerke in die Welt bringen. Alle diese Tendenzen7 – denn Tendenzen sind es bisher nur gewesen –, sie mögen an sich löblich sein, aber sie machen keinen Künstler. Die Künstler nach altem Schlage (die Perrückenstöcke der Vergangenheit) verfuhren bekanntlich so, dass sie erst lernten, dann schufen; dabei hielten sie insgemein den Gang inne, den alte Zucht und fromme Sitte der Jugend auflegt: sie waren bescheiden und fürchteten den Lehrer, und kein falsches Mitleid hüpfte über JugendThorheiten hinweg, statt sie zu strafen. Solche spartanische Zucht wirkte, dass Sebastian Bach, wie Mozart und Beethoven eine arbeitssame Jugend durchlebten. Und alle diese Heroen der „Vergangenheit“ traten auf mit keuscher Bescheidenheit, nicht lästernd oder preisend, was ausser ihnen war, sondern einfältiger Hingebung voll und still einsam arbeitend, ob es doch gelinge, dass das Werk den Meister lobe. Alle aber begannen damit, die Vergangenheit zu ehren, nicht aber ihrer Väter Zopf 8 anzuspucken. Sebastian Bach, der denn doch mindestens so viel Originalität besass, wie Richard Wagner und alle seine Schildknappen zusammen – Sebastian war bis zu den Mannesjahren ein treuer Knecht seiner Schule, ein Nachahmer der Vorzeit; erst als Mann hat er Gegenwart und Zukunft ergriffen – mit stärkerem Arme gewiss, als unsere Prophètes de l’avenir. Unsere Herren der „Gegenwart und Zukunft“ beginnen dagegen mit Kritik und enden mit Verzweiflung. Kritisches Rasaunen über die elend verkommene Welt, didaktische Altklugheit und magistrale Katechisationen über das, was die Welt sein und nicht sein soll, Aechtung und Bannung über das feindselig neidische Geschmeisse,
5 L’art
de l’avenir. Zur Herleitung dieser Bezeichnung als zunächst geschichtsphilosophische Konstruktion aus dem Frankreich der 1820er und 1830er Jahre und als ein Modell der „Kunstform (oder des Kunstwerks) der Zukunft“ siehe Brzoska 1995 Die Idee des Gesamtkunstwerks, S. 162 –170. 6 Mit den „Brüdern Leipziger“ sind insbesondere die ‚fortschrittlich‘ gesinnten Kritiker aus den Reihen der NZfM gemeint, siehe die gleiche Formulierung in Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, S. 206, in: NdS 1 Nr. 67, S. 710. 7 Unter „Tendenzen“ wurden im 19. Jahrhundert auch propagandistische Absichten verstanden, die nachdrücklich vertretene politische oder weltanschauliche Richtung, Ideologie oder Moral erkennen ließen. Der Begriff geht zurück auf die Zeit des Jungen Deutschland und des Vormärz und erhielt im Umfeld der „Tendenzliteratur“ eine vornehmlich abwertende Konnotation. 8 Die Übertragung des Ausdrucks „Zopf“ auf den Bereich der Musik war bereits vor 1850 anzutreffen, kam aber vor allem ab den 1850er Jahren durch die polemisierte Diskussion zwischen ‚alt‘ und ‚neu‘ zunehmend zum Einsatz. Weiteres zum Begriff „Zopf“ siehe den Artikel Lobe 1848 Fortschritt, in: NdS 1 Nr. 7, Anm. 2. Zur intensiven Verwendung und Polemisierung des Begriffs „Zopf“ innerhalb der Debatte um die zeitgenössische Musik vgl. Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67.
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das ihre Katechisationen nicht hören mag! – Und was ist es, was sie ächten und bannen, auf dass die Musik „eine Wahr-[58]heit werde“9?! Zuerst sei gebannt die „monumentale Kunst“10, mit R. Wagner zu reden; das will sagen: die bisherige Tonübung war befangen in bestimmten plastischen Formen, die sich monumental, gleichwie rundfeste Bildsäulen, einprägen und, in Partituren aufbewahrt, auf die Nachwelt vererben konnten. Das Kunstwerk der Zukunft verschmäht diese papiernen Repositorien des Geistes; es will seine charakteristische Kunst der Bewegung, jene starren Monumente sollen in Fluss gerathen, die althergebrachten melodischen Formen mit ihrer langweiligen rhythmischen Architektur müssen fallen; das Quinten-Verbot ist ohnehin ein Zopf, die Harmonie ist nichts für sich, sie darf nichts sein als ein Gewand für die (d. h. Richard Wagner’s) Idee – die Sonderkunst muss untergehen, die Allkunst soll entstehen. Das wäre nun alles recht schön, wenn’s nur schön wäre. Darum, dass es todte Formalisten gegeben hat, alle Form wegwerfen? Weil es, mit Wagner zu reden, eine abstracte, leere Musik, ein so genanntes „leeres Musikerthum“11 leider gibt – die Musik selber todt machen? Ist das die Meinung? Vielleicht nicht. Hat doch R. Wagner selbst reine Instrumentalien geschrieben, Violin-Quartette, Ouverturen u. s. w., und, um das leere Musikerthum voll zu machen, diese abgerissenen Instrumentalien ohne darauf folgende Oper, also ohne jene Allkunst der Zukunft, in Karlsruhe und Ballenstädt aufführen lassen!12 Sind doch in Karlsruhe einzelne Stücklein aus allerlei Componisten nach einander in höchst
9 Auf
diesen Ausspruch, den Krüger als „leipziger Terminus“ bezeichnete und ihn damit der Brendel’schen NZfM zuschrieb, bezog sich 1852 bereits auch Johann Theodor Mosewius als Leitlinie der modernen Bestrebungen: „Wir hören häufig von Aesthetikern der neuesten Schule den Grundsatz aussprechen: die Musik müsse eine Wahrheit werden. […] ist denn dies nicht Wahrheit, was uns Bach zunächst in der vor liegenden Scene [Matthäus-Passion BWV 244, „Jesu Verurteilung“], gegeben hat?“ (Mosewius 1852 Bachs Matthäus-Passion, S. 25 f.). Die im vorliegenden Artikel zitierten Worte setzte Krüger seit seiner 1853 verfassten Besprechung der genannten Mosewius- Rezension („[…] ehe unsere Zeit die überraschende Entdeckung machte, die Musik müsse ‚eine Wahrheit werden‘“, Krüger 1853 Mosewius, S. 184) in weiteren seiner Artikel immer wieder zur Untermauerung seines Vorbehalts gegen die moderne Ästhetik des Hässlichen ein (siehe beispielsweise Krüger 1855 Sonderliche Gedanken, S. 106, in: NdS 2 Nr. 74, S. 850; Krüger 1855 Liszt „An die Künstler“, S. 410, in: NdS 2 Nr. 84, S. 1036). 10 Vgl. beispielsweise Wagner 1852 Drei Operndichtungen nebst einer Mittheilung an meine Freunde, in: Wagner-Schriften 4, S. 238 f.; Wagner 1849 Das Genie der Gemeinsamkeit, in: Wagner-Schriften 12, S. 289. 11 Hier ist wohl Wagners Verständnis von abstrakter, leerer Musik auch im Sinne der späteren Vorstellung Liszts des „specifischen Symphonikers“ in der Abgrenzung zum „malenden“ gemeint (Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, S. 52, in: NdS 2 Nr. 76, S. 904) gemeint. Vgl. hierzu aber auch Wagners Polemik gegen den Kontrapunkt und den „mechanische[n] Rhythmus der egoistischen Harmonie“ (Wagner 1850 Kunstwerk der Zukunft, in: Wagner-Schriften 3, S. 88). 12 Die Polemik bezieht sich hier auf die unter Liszts Leitung veranstalteten Musikfeste in Ballenstedt und Karlsruhe, bei denen mehrere Stücke Wagners, so ein Duett aus dem Fliegenden Holländer 1852 in Ballenstedt, Ausschnitte aus Lohengrin 1853 in Karlsruhe und die Ouvertüre zum Tannhäuser bei beiden Festen gespielt wurden. Das Aufführen der aus dem Gesamtzusammenhang der Werke gerissenen Stücke führte in der Tat die Integrität des Wagner’schen Werkes und Werkverständnisses ad absurdum (zur Bedeutung der beiden Musikfeste siehe V. B. 1852 Das Musikfest in Ballenstädt, in: NdS 1 Nr. 33; Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51).
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unkünstlerischer Folge vorgebracht – also auch hier – leeres Musikerthum?! – Dazu verlangen alle seine Werke für jede Partie tüchtige Virtuosen, eingeschulte Musicanten – wiederum das verhasste Musikerthum?! – Auch im Theoretischen eben so. Wer Beethoven’s Coriolan mit einem Commentar erläutert, wie kürzlich R. Wagner gethan13, treibt der Allkunst oder Sonderkunst? Sehen wir die beiden Begriffe näher an nach dem Sinne der Schule14. Die Sonderkunst, als z. B. die für sich wirkende sonderlich schöne Malerei, Bildkunst, Tonkunst etc., soll aufhören, dem neuen Begriffe der neuen Welt entspreche dieses Sonderliche nicht mehr; alles Sondere muss dem Allgemeinen sich ergeben, aufgelös’t im All, sind alle Sonderheiten dienende zu sein bestimmt, während sie bisher in der zöpfischen Kunst der Vergangenheit herrschende waren.15 Was heisst nun jene Phrase? Im besten Sinne genommen, kann sie nur bedeuten: das leere Handwerkerthum, die todte Technik ist zu bekämpfen. Richtig. Und das haben die wahren Künstler aller Zeiten immer gewollt, nur freilich unvollkommen erreicht, wie das in allen menschlichen Dingen so geht. Damit es z. B. kein leeres Handwerkerthum gebe, sondern in jedem grösseren Kunstwerke lauter bewusst wirkende Seelen, dazu wird eben nur erfordert, dass alle Mitwirkenden wahre Künstler seien! Schaffet diese, wenn ihr könnt, und schimpfet nicht auf Andere, wenn ihr nicht könnt! Damit die Kunst „eine Wahrheit werde“, wie der leipziger Terminus16 lautet, ist’s freilich auch nothwendig, dass nur Verliebte die Liebesrollen spielen, nur wahre Helden im Heldenharnisch stolzieren, nur Jünglinge, nicht Weiber, in TenorArien auftreten!! – – weiterhin: damit die Kunst eine Wahrheit werde, muss das verlogene Coteriewesen17 aufhören, muss das Klatschen, Bravorufen, Freibillettisiren u. dgl. Unkunst policeilich verboten werden; – endlich: damit die Kunst eine Wahrheit werde, strebe Alles nach Schönheit, nicht nach Mode, Beifall und Geschwätz.
Wagner 1852 Beethoven’s Ouvertüre zu ‚Koriolan‘. 14 Der Begriff der Schule bezieht sich vor allem auf Wagners Anhängerschaft. 15 Vgl. beispielsweise Wagner 1850 Kunstwerk der Zukunft, in: Wagner-Schriften 3, S. 168: „So geräth die Bildhauerkunst unter dem Bestehen derselben Bedingungen, die sie am künstlichen Leben erhalten, in den unseligen, unfruchtbaren oder Unschönes zeugenden Zustand, aus dem sie sich nothwendig nach Erlösung sehnen muß: die Lebensbedingungen, in die sie sich erlöst wünscht, sind jedoch genau genommen die Bedingungen desjenigen Lebens, dem gegenüber die Bildhauerkunst als selbstständige Kunst geradeswegs aufhören muß. Um schöpferisch werden zu können, sehnt sie sich nach der Herrschaft der Schönheit im wirklichen Leben, aus dem sie einzig lebendigen Stoff zur Erfindung zu gewinnen verhofft: diese Sehnsucht müßte aber, sobald sie erfüllt ist, die ihm innwohnende egoistische Täuschung in so weit offenbaren, als die Bedingungen zum nothwendigen Schaffen der Bildhauerkunst im wirklich leiblich schönen Leben jedenfalls aufgehoben sein würden.“ Ebd., S. 203 f.: „Diese Absicht, die des Drama’s, ist aber zugleich die einzige wahrhaft künstlerische Absicht, die überhaupt auch nur verwirklicht werden kann; was von ihr abliegt, muß sich nothwendig in das Meer des Unbestimmten, Unverständlichen, Unfreien, verlieren. Diese Absicht erreicht aber nicht eine Kunstart für sich allein, sondern nur alle gemeinsam, und daher ist das allgemeinste Kunstwerk zugleich das Einzig wirkliche, freie, d. h. das allgemein verständliche Kunstwerk.“ 16 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 9. 17 Als Coterie wurde ein Klüngel des zeitgenössischen Cliquenwesens und der Parteiungen bezeichnet (zum weiteren Verständnis des Begriffs siehe Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67). 13 Siehe
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Demnach ist auch das heutige Ballet zu vertilgen, diese Sammlung verrückter Affensprünge und Kräuselschwünge und Bein-Verrenkungen! Die ältere Oper enthält manches Unverständige, weil in ihr, wie in aller Kunst, nicht der lineale, rechtwinkelige Verstand, sondern die ideal schwebende Schönheit das Princip ist. In diesem Streben ist das Entzücken begründet, das Hörer und Schauer ergreift, wo der Philister nichts sieht, als Zopf und Tactstock. Ganz wie in der Oper, so wird auch in anderen Künsten der leere Verstand überschritten um der Schönheit willen; so das doppelt Licht in der Ruysdael’schen Landschaft, deren Schönheit Göthe so tief ergriffen;18 so die antiken Reiterstückchen auf Gemmen und Cameen19, wo der Zügel fehlt, welcher in der prosaischen Wirklichkeit Reiter und Pferd verbindet, im Kunstwerke aber unausführbar, daher unschön und lästig sein würde. – Schon Schiller in der Vorrede zu seiner Braut von Messina20 warnt vor dem Uebergewichte des prosaischen Illusions-Princips, als dem Tode aller wahren Kunstschönheit. Uebrigens ist das Streben, im Kunstwerke die möglichste Einheit sowohl zwischen Stoff und Form, als zwischen Wirkenden und Geniessenden herzustellen, an sich ein wohlberechtigtes; ja, es ist offenbar das verschwiegene höchste Ziel, dem alle Begeisterten nachzuringen, sich anzunähern streben, freilich mit dem stillen Geständnisse, dass die volle Einheit hier so wenig wie sonst auf Erden erschiene. Irgendwo ist der Versuch gemacht mit Seb. [59] Bach’s Matthäus-Passion21, diese als Allkunstwerk erscheinen zu lassen, indem man zu den Chorälen, wie zum Cantus firmus im Anfangs-Chor die Gemeinde mit eintreten liess. Das ist vielleicht einmal gelungen bei einer lange vorbereiteten, in sich bereits künstlerischen Gemeinde. Soll dergleichen aber zur Regel werden, so muss man zuvor auch sorgen, dass alle Wirkenden vom obersten Director bis zum niedersten Querpfeifer wahre Christen sind, die sowohl das Evangelium glauben, als Sebastian Bach verstehen. – Dieses in unserer Zeit zu erringen, ist ein hohes Ziel, dessen Verwirklichung aber andere Kräfte fordert als kritische. Das griechische Heidenthum war hier leichter dran, und darum leichter zufrieden. In der Darstellung Sophokleischer Dramen wirkte, so weit wir wissen, Alles in einander; die Tonkunst, die Bild-, Bau-, Maler- und Decorationskunst griffen dergestalt ein, dass sie alle dem Hauptzwecke der poetischen Darstellung tragischer Ideen dienten. Aber da ward auch nirgend der rohen Illusion nachgestrebt; die perspectivische Malerei (die bei R. Wagner’s Tannhäuser eine sehr grosse Rolle spielt) war unvollkommen, kaum im Entstehen; die Tonkunst ein unschuldiges Kind, ohne Quinten, Terzen und Septimen, am allerwenigsten mit solchem Bombast von Posaunen und Virtuosen und Nonen-Accorden aufgefüttert,
beeindruckt vom Gemälde Der Judenfriedhof (1655) des niederländischen Malers Jacob van Ruisdael (um 1628 –1682) verfasste Johann Wolfgang von Goethe 1816 seinen Aufsatz „Ruysdael als Dichter“ (in: Goethe-Werke 19, S. 632 – 636). Um „der Schönheit willen“ ist hier der doppelte Lichteinfall zur künstlerischen Überhöhung des Bildgegenstandes eingesetzt, zur Darstellung der idealen Landschaft. 19 Mit „Gemmen“ bezeichnet man Edelsteine, in die Gestalten oder Schriftzüge eingraviert sind. „Cameen“ sind als Gegenstück dazu Schmucksteine, auf denen die Figuren halb erhaben herausgearbeitet sind. 20 Friedrich von Schiller, „Über den Gebrauch des Chors in der Tragödie“, Vorwort zu seinem Drama Die Braut von Messina (ED und UA 1803). 21 Johann Sebastian Bach, Matthäus-Passion BWV 244 (UA 1736). 18 Tief
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wie [sic] zum Tannhäuser unentbehrlich sind; die Dichtung selbst einfach, arm an äusserlichen Thatsachen, freilich reich genug an innerem dramatischem Drange – Beides umgekehrt bei dem dramatischen „Allkünstler der Jetztzeit“. Welche Kräfte sind nöthig, um das Kunstwerk der Zukunft ins Leben zu rufen, das sich obendrein rühmt, ein echt volksthümliches werden zu wollen!22 Volksthümlich, und doch nur bei ungeheuren Mitteln, auf reich dotirten Residenz-Bühnen ausführbar?! Ich denke, der alte Mozart mit seinen sehr bescheidenen Mitteln ist auch ein wenig volksthümlich geworden, da seine Melodieen, obwohl durch keine Kritik des Autors und seiner Coterieen belobräuchert, sich unvermerkt in den Mund des Volkes gestohlen und heute noch nicht ausgerissen sind, trotz aller Bemühungen der wüthenden wilden Jagd von Leipzig. Vielleicht jedoch sind die positiven Leistungen R. Wagner’s besser, als seine kritischen? Ist sein Tannhäuser die Wahrheit des Kunstwerkes, wie er und die Seinigen wollen? Wir geben zu, dass die theatralische Wirkung eine schlagende ist; die in sich wunderliche und nicht sehr reiche Handlung ist in gehöriges Licht gestellt, sie wirkt, weil ihre Entwicklung poetisch richtig durchgeführt, die Sprache im Ganzen rein und tadellos ist. Sie würde klarer wirken ohne Musik, vielleicht objectiver, vielleicht ärmer. – Die beigegebenen Töne verwirren das an sich klare Bild – und hier ist der unzweifelhaft wunde Fleck, welchen das Gericht der Zeiten finden wird, wie ihn schon jetzt alle Unbefangenen wohl erkennen. Darum, dass gewisse Regeln des Generalbasses, einseitig angewandt, zur Philisterei führen, sollen nun alle über den Haufen geworfen werden? Das wäre, als wenn man um Heise’s verkehrte Regeln23 die deutsche Grammatik aufheben wollte. – Das volksthümliche Gehör wird eben sowohl verletzt, wo es immerfort herumgehetzt wird zwischen unaufgelös’ten Septimen-Accorden, wo das tiefbegründete Quinten-Verbot in frechem Spotte zertrümmert, wo die wundervolle Architektonik des geraden – (bei Mozart und Beethoven kerngesunden) – Rhythmus zerbröckelt und vernichtet wird; dieses alles, sage ich, fühlt das unschuldige, unvergiftete Volk so gut, wie die Gelehrten. Wenn nun freilich die „Gelehrten der Vergangenheit“ vor R. Wagner’s Zorne keineswegs sicher sind, so mögen wir darauf nur erwidern, dass wir recht gut wissen, wie es zu allen Zeiten verkehrte Gelehrte gegeben hat, und dass in R. Wagner’s Schriften Beweise genug davon vorliegen. Verkehrt ist die Gelehrsamkeit, die sich besser achtet als das Volk! Muss man das dem Demokraten erst sagen? Solche Gelehrte, die nur auf das blöde Volk schimpfen und sich aller Orten besser dünken – – sind zu allen Zeiten den Vernünftigen verdächtig gewesen. Wie alle echte Weisheit mit der Demuth beginnt,
22 Zu
Wagners Vorstellung des „Volksthümlichen“ im antiken wie auch seinem Theater siehe etwa Wagner 1852 Oper und Drama, 1. Teil, III, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 93. 23 Johann Christian August Heyse (1764 –1829), deutscher Pädagoge, Grammatiker und Lexikograph, veröffentlichte Anfang des 19. Jahrhunderts mehrere Wörterbücher und Grammatiken zu Erhalt und Verbreitung der ‚richtigen‘ deutschen Sprache, die in vielen weiteren Auflagen erschienen. Siehe u. a. sein Allgemeines Wörterbuch zur Verdeutschung der in unserer Sprache gebräuchlichen fremden Wörter und Redensarten (ED 1804); Theoretisch-praktische deutsche Grammatik. Oder Lehrbuch zum reinen und richtigen Sprechen, Lesen und Schreiben der deutschen Sprache. Zunächst zum Gebrauch für Lehrer und zum Selbstunterricht (ED 1813).
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das ist bei den Zeitweisen eine verschollene Wahrheit geworden, der „Vergangenheit“ Erbtheil. Dass brillante Einzelheiten vorkommen mag zugestanden werden. Die Tannhäuser-Ouverture hat ein viertactiges Thema zu Anfang, das melodisches Leben in sich trägt. Dieses Thema wird jedoch in unendlicher Länge dergestalt variirt, dass begabte Hörer überdrüssig werden, mindestens sehnsüchtig nach „wahrhaft Neuem“ – was denn leider nicht erscheint; denn jene viertactige Melodie, die in allem infernalischen Blechgeflimmer durch die ganze Oper wandelt, ist das einzige plastische oder „monumentale“ Stück des Ganzen. Nirgend später ein Anhaltspunkt des Gedächtnisses, ein Ausruhen des Gemüthes in lebender Schönheit. Aber dies ist’s ja, was R. Wagner’s Theorie bekämpft. „Nicht fürs Gedächtniss, sondern fürs Schauen will ich arbeiten!“24 heisst es wiederholt. Vollkommen zeitgemäss, wie ein gut Theil unzufriedener Schulmeister ebenfalls raison-[60]nirt; „Wozu der todte Gedächtnisskram? Anschauung, Bewusstsein ist die Losung der Zeit!“ – Den Armen ist die älteste Wahrheit verloren gegangen, die das altdeutsche Wort Minna so lieblich in Einem darstellt; denn Minne heisst zugleich Liebe, Sinn, Erinnerung (ver-innern!), Gedächtniss; wie auch das altgriechische Wort μναομαι eine ähnliche Fülle des Inhalts bietet. Wolltet ihr doch die wahre Tiefe des Wortes erkennen, ihr würdet in Liebe und Glauben das verlorene Leben wiederfinden und all euer Spott vergehen in Thränen der Wonne und Sehnsucht! Dennoch ist auch fürs Gedächtniss gesorgt, aber freilich nicht auf künstlerische Weise, sondern nur gröblicher Illusion zu Liebe wird z. B. im Fliegenden Holländer, der ersten Knospe des neuen Welt-Genius, jederzeit die auftretende Person des Dämons angekündigt mit einer erschrecklichen Posaunen-Figur; sobald die grosse Tute erschallt, weiss Jedermann: „Nun wird’s was geben!“ – Diese Kunst der Charakteristik, die Wagner’s Coterie als seine Erfindung wohlgefällig preis’t, ist nicht neu, nur bei Mozart anders, nämlich innerlich gebraucht. Niemand, fürchte ich, wird jemals den Don Juan mit einem Nachtwächter verwechseln, obwohl ihm nirgend ein besonderes Tutenhorn gewidmet ist. Seine ehernen, überkräftigen Gesänge sind an sehr deutlich gezeichneten Melodie-Anfängen und Schlüssen so schön gezeichnet, dass man den Helden hört, auch ohne ihn zu sehen, und sogar ohne Decoration und Blechgeschnatter seiner Heldengestalt gewiss wird. – Feiner noch ist die Charakterisik – (die doch den feinen Kritikern der Jetztzeit (Neuzeit, Gegenwart) nicht entgangen sein wird?) – die Charakteristik, durch welche Mozart, ebenfalls innerlich,
etwa Wagner 1850 Kunstwerk der Zukunft, in: Wagner-Schriften 3, S. 151 f.: „So versetzt er durch Schauen und Hören sich gänzlich auf die Bühne; der Darsteller ist Künstler nur durch volles Aufgehen in das Publikum. Alles, was auf der Bühne athmet und sich bewegt, athmet und bewegt sich durch ausdrucksvolles Verlangen nach Mittheilung, nach Angeschaut-Angehörtwerden in jenem Raume, der, bei immer nur verhältnißmäßigem Umfange, vom scenischen Standpunkte aus dem Darsteller doch die gesammte Menschheit zu enthalten dünkt; aus dem Zuschauerraume aber verschwindet das Publikum, dieser Repräsentant des öffentlichen Lebens, sich selbst; es lebt und athmet nur noch in dem Kunstwerke, das ihm das Leben selbst, und auf der Scene, die ihm der Weltraum dünkt.“ 24 Vgl.
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die Seelen-Verwandtschaft Don Juan’s mit Donna Anna malt, worauf E. T. A. Hoffmann seine tiefsinnige Entdeckung der wahren Idee jener Oper25 gegründet hat. Aber was hilft’s! Wir Anderen, die wir zweifeln, sind nun einmal nicht urtheilsfähig; so docirt die leipziger Neue Musicalische, social-demokratisch geleitet durch die Coterie der letzten aus den versprengten Hegel’schen Husaren – deren dialektische Argumentation denn auch in alt-hegel’schem Tone darauf hinausgeht, jeden Widersprecher zu dämpfen mit dem Worte: „Ihr versteht uns nicht!“26 wie noch kürzlich von dorther gesagt ist: „Wer den Tannhäuser einmal gehört und danach urtheilt, ist ein Böotier27; – wer ihn aber gar nach der Partitur studirt, ist ein Ochse, mindestens ein Philister.“28 – Solchen Argumenten gegenüber bekennen wir uns gern als unverständig. An derselben Quelle vernimmt man allwöchentlich das abgeleierte Sprüchlein: „Alles Grosse tritt in die Welt mit Kampf und muss Verfolgung dulden!“ Schaamlos genug berufen sie sich auf Jesus Christus. Also: weil ein Held gekreuziget ist, darum sind alle Gekreuzigten Helden? Ein hübsches Argument das! Einst war es der Trost eines sehr bekannten Agitators, der, weil Alexander der Grosse zuweilen betrunken
veröffentlichte E. T. A. Hoffmann seine musikalische Phantasie Don Juan in der AmZ (Hoffmann 1813 Don Juan), die er nach dem Besuch einer Aufführung von Mozarts Don Giovanni im Jahr 1810 verfasst hatte. Auf poetische Art und Weise beschreibt Hoffmann darin seine idealistischromantische Interpretation von der Art Mozarts, den Don-Juan-Stoff in einer Oper musikalisch zu realisieren. 26 Krüger nimmt in den meisten seiner Artikel Anstoß an der von Brendel immer wieder geäußerten Anschuldigung, die Ursache der Ungunst gegenüber der modernen und fortschrittlichen Musik läge allein darin, dass diese Kunst noch immer missverstanden werde (siehe beispielsweise Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14). So betont Krüger 1855 die häufige „[…] Wiederholung des denkwürdigen Satzes in Brendel’s neulich beurtheilten Büchlein [Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart]: ‚weil nur der zum Tadel ein Recht besitzt, der zuvor durch Anerkennung des Positiven den Beweis geliefert, dass er zu innigerem Verständnisse gelangt ist‘; Das heisst: Lobst du mich, so ist’s gut; verwirfst du mich, so bist du unzurechnungsfähig“ (Krüger 1855 Liszt „An die Künstler“, S. 410, in: NdS 2 Nr. 84, S. 1035). Siehe ebenfalls Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, S. 122, in: NdS 1 Nr. 66, S. 701; Krüger 1855 Sonderliche Gedanken, S. 105, in: NdS 2 Nr. 74, S. 848. 27 In der Antike wurde das Wort „böotisch“ in der Bedeutung von grob, ländlich, faul und ungebildet verwendet in Anspielung auf den griechischen Volksstamm der Böotier, der sich in einer an Rinderweiden reichen Landschaft niedergelassen hatte. 28 Der angeprangerte Vorwurf, dass Tannhäuser nur aufgrund seiner Partitur bewertet werde, ist beispielsweise bei Theodor Uhlig zu finden, auf den hier wahrscheinlich Bezug genommen wird: „Aber kennt denn Hr. H. [Theodor Hagen] den Lohengrin? wird man endlich streitesmüde fragen. Er hat diese Oper ‚im Clavierauszug durchgesehen‘, wie er bekennt. Hier hören wir das Hohngelächter aller Derjenigen, welche die Opern Wagner’s aus der Aufführung und damit den ungeheueren Unterschied zwischen der Wirkung dieser Aufführung und der ‚Durchsicht eines Clavierauszuges‘ kennen gelernt haben. Da haben nun also eine gute Anzahl sachverständiger und glaubwürdiger Männer in Journalberichten und anderen Schriften sich abgemüht, der deutschen Leserwelt von der ganz ungewöhnlichen und absonderlichen Wirkung einer Aufführung des Tannhäuser oder des Lohengrin zu erzählen; […] und alle diese Schreibereien haben noch nicht hingereicht, um in einem gewissen Hrn. H. den so naheliegenden Gedanken zu erwecken, daß es denn doch eine ganz besondere Bewandniß mit der ‚Aufführung‘ so einer Wagner’schen Oper haben müsse, – eine Bewandtniß, über die man bei dem ‚Durchsehen ihres Clavierauszuges‘ keineswegs sich klar werden möchte“ (Uhlig 1852 Lesefrüchte, S. 178). 25 1813
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gewesen, sich häufig betrank, ohne freilich ein Alexander zu werden. – Wir setzen einen tiefsinnigen Spruch des Kirchenvaters Augustinus entgegen, den wohl heute manche Verständige nicht mehr verstehen: „Non poena, sed causa facit martyrem.“29 Beethoven, Mozart und Bach sind trotz aller Coterieen und literarischen Verdummungs-Institute dennoch berühmte Leute geworden, und zwar durch die Liebe des Volkes. Widersinnig waren Anfangs die Coterieen, die kranke Gelehrsamkeit; desselbigen Gleichen ist auch Göthe durch seinen Götz von Berlichingen bekannt geworden, ehe die Kritik von ihm wusste. Bei R. Wagner ist’s bloss umgekehrt; kranke, blasirte Gelehrten-Coterieen haben ihn gepriesen, ins Volk ist er nicht gedrungen; das sagen alle Zeugnisse, ausser den durch Liszt und Brendel gehänselten30 Zeitschriften. Wir bleiben bei unserem Satze, den die Erfahrung der Geschichte bestätigt: sittlich ringende Zeiten, wie die unsere ist, sind nicht künstlerisch gestaltende. Was hilft Läugnen? Alle Journal-Scribenten von Leipzig bis Paris werden uns nicht überzeugen, dass Meyer Beer und Wagner und Berlioz wahrhaft Neues geschaffen und dass ihre Schöpfungen wahrhaft wahrhaft ins Volk gedrungen sind. Macht den Versuch! Lasst R. Wagner in einer ungelehrten Provincialstadt auftreten mit allem, was er hat, und lasst ihn seine sämmtlichen Werke zu Gehör bringen mit allem, was er fordert – aber wohlgemerkt, lasst während dieser Kunst-Periode allen „Gelehrten der Neuzeit“ das Maul verbinden, die Claque31 und Frei-Billette schwinden und auf vier Wochen die Journale so stillschweigen, wie sie es zu Mozart’s und Bach’s Zeiten thaten; ihr sollt sehen, ob das Volk objectiv urtheilt oder die Gelehrten. Auf das Urtheil der Nachwelt berufen wir uns nicht. Dieses nimmt Jeder für sich in Anspruch. Zudem ist’s trüglich, wie alle Schulmeister-Phrasen. Haben wir uns nicht seit der Jugend vorsagen lassen: „Gebet Acht, kein Tyrann entrinnt dem Urtheile der Nachwelt!“ Und doch hat niemals, dass wir wissen, ein Tyrann sich sonderlich um die Nachwelt gekümmert; – auch hat zuweilen die alte Tante Nachwelt sich gröblich geirrt, wie z. B. über Cromwell [61] verschiedentliche nachweltliche Tanten verschiedentlich fraubasert32 haben, bis ihnen durch Macaulay heimgeleuchtet ist.33 Zugeben müssen wir, dass in R. Wagner eine gewisse persönliche Kraft liegt, die viele Schwache natürlich elektrisirt; – „und hat er Glück, so hat er auch Vasallen“34. Damit ist nur bewiesen, dass er Persönlichkeit besitzt, nicht Schöpferkraft.
29 (Lat.) Nicht die Pein macht den Märtyrer, sondern die Sache. Das Zitat lautet bei Augustinus von Hippo (354 – 430), auch Aurelius Augustinus: „Christi martyrem non facit poena sed causa“ (Augustinus, Contra cresconium, 4. Buch, 3. Kapitel). 30 „Hänseln“ eher im Sinne eines Initiationsritus, abgeleitet von Hanse als einer geschlossenen Vereinigung, Genossenschaft, in die jemand feierlich aufgenommen wird. 31 (Von frz. claquer) klatschen. Ein Claqueur ein in Aufführungen für sein Klatschen bezahlter Zuschauer. Die Gesamtheit der Claqueure einer Darbietung wurde als Claque bezeichnet. 32 Plaudern, tratschen. 33 Der englische Schriftsteller, Historiker und Politiker Thomas Babington Macaulay (1800 –1859) versuchte Mitte des 19. Jahrhunderts in seiner History of England mit den herrschenden Gerüchten und Halbwahrheiten über Oliver Cromwell (1599 –1658), dem Gründer der englischen Republik, als umstrittene Persönlichkeit zwischen Freiheitsheldentum, Königsmorden und Diktaturen aufzuräumen (siehe Macaulay 1849 The History of England, Bd. 1, S. 90 – 95). 34 Goethe, Faust II, 4. Akt „Hochgebirg“, V. 10296.
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Einstweilen gehe er seinen Gang; je rascher, desto eher ist’s zu Ende, wie mit dem Tischrücken. Uns aber, die wir zweifeln an dem neuen Propheten, weil wir ihn – verstehen, uns rufe man nicht entgegen: „Wer will gegen den Strom schwimmen und das Feuer ausblasen, den wird’s ersäufen und verbrennen!“ Denn ob wir gleich wohl wissen, dass es bequemer ist für schwache Leute, mit dem Strome zu schwimmen, und die Furcht vor radicalen Scheiterhaufen35 dieser Tage nicht ganz ungegründet sein mag: lass rauschen und glühen, was des Lebens werth ist! rufen wir entgegen, und am Ende der Tage, Wenn der Funke sprüht, Wenn die Asche glüht, Eilen wir den alten Göttern zu.36
Kommentar Hinter der anonymen Autorschaft des vorliegenden Artikels verbirgt sich Eduard Krüger, dessen Beiträge in der Niederrheinischen Musik-Zeitung sowohl das immer gleiche Arsenal von polemisch zugespitzten Schlagworten (u. a. „Coterie“, „Tendenz“, „Zopf“, „Phrasen“, „Schulmeister“) aufweisen als auch wiederholt die gleichen charakteristischen Zitate eingeflochten sind. Die fehlende Autorisierung dieses Artikels ist mit dem Umstand zu erklären, dass Krüger noch bis Ende des Vorjahres als fester Mitarbeiter bei der NZfM tätig und dort wohl auch aufgrund einer länger währenden Streitigkeit mit Theodor Uhlig37 Anfang 1854 als Autor ausgeschieden war. Inklusive dieses ersten großen Artikels widmen sich die Leitartikel aller vier Februarausgaben38 der ein Jahr zuvor von Ludwig Bischoff gegründeten Niederrheinische Musik-Zeitung erstmals der Musik und Ästhetik Wagners, womit nun auch diese Zeitschrift in die durch Wagner ausgelöste Diskussion einstieg. Zu seiner Polemik wurde Krüger wohl durch die einseitig enthusiastischen Wagner-Artikel der Brendel’schen NZfM motiviert, die allein im Vorjahr mindestens 15 umfassende Stellungnahmen und Rezensionen zu Werken und Schriften des im Schweizerischen Exil lebenden Komponisten veröffentlicht hatte.39
35 Gemeint
sind hier wohl die 1848 in den Berliner Straßen errichteten Barrikaden der deutschen Märzrevolution. 36 Hier handelt es sich um die letzten drei Verse aus Goethe, Die Braut von Corinth (ED 1798). 37 Siehe dazu etwa Krüger 1851 Zeitsinniges und Uhlig 1851 Bekenntnisse sowie insbesondere Krüger 1852 Magna polemica. 38 Siehe ebenfalls Bischoff 1854 Lohengrin. 39 Siehe beispielsweise: Raff 1853a An die Redaction, in: NdS 1 Nr. 41; Raff 1853 Vertrauliche Briefe, in: NdS 1 Nr. 45; Pohl 1853 Ein Blick nach dem „fernen Westen“, in: NdS 1 Nr. 46; Bülow 1853 Die Opposition in Süddeutschland, in: NdS 1 Nr. 54.
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Seinen Hauptangriff führte Krüger hier zunächst nicht gegen Wagner selbst, sondern gegen das zeitgenössische musikalische Zeitungswesen, das Wagner zu Unrecht zu solcher Größe verhelfe und zum Künstler der Zukunft erkläre. Bemerkenswert ist die Tatsache, dass Krüger seine Anschuldigungen gegen die für Wagner und Berlioz parteiergreifende Musikpublizistik40 auch auf Giacomo Meyerbeer überträgt.41 Während Wagner beiden Komponisten kritisch gegenüberstand, schätzte Liszt diese sehr. Krügers fundamentale Kritik am Einfluss der „Leipziger bis Pariser“ Presse wird zur Grundlage für seine in späteren Artikeln noch gesteigerte Ablehnung und Polemik gegen das „Coterie- und Camaradenwesen“, das sich für ihn durch „Klatschen, Bravorufen, Freibillettisiren u. dgl. Unkunst“, durch das Streben nach „Mode, Beifall und Geschwätz“42 und nicht zuletzt durch das gegnerische journalistische Werbe- und parteiliche Pressewesen äußere.43 Hervorzuheben sind ferner Krügers Andeutungen einer Kritik an der „rohen Illusion“44 der Musik Wagners, d. h. an den realistischen Zügen45 der Opern Wagners, wenn etwa der Charakter des Sängers mit dem seiner Rolle übereinzustimmen habe. Diese relativ frühe anti-realistische Haltung wird sich in Krügers folgenden Artikeln immer stärker und zu einem seiner Hauptkritikpunkte an Wagner, Berlioz und Meyerbeer ausprägen.46 Dass Krüger immer wieder auf die politische, durch die ‚Coterie der Hegel’schen Anhänger‘ „social-demokratisch geleitet[e]“47 Haltung Brendels zu sprechen kommt, ist ein Beispiel für das weiterhin politisch gefärbte Vokabular der vordergründig im Bereich der Musik und Ästhetik bestrittenen Debatte. Auch Wagner wird zunehmend in die Politisierung mit einbegriffen, wenn Krüger etwa auf die Inkonsistenz von Wagners Anspruch einer „democratischen“ Musik seiner durch übermäßige Aufführungsmittel jedoch volksfernen Kunst verweist.
40 Allein seit 1853 waren u. a. folgende positive Besprechungen zu Berlioz erschienen: Lobe 1853 Hektor Berlioz, in: NdS 1 Nr. 43; Anonym 1853 Les Soirées d’Orchestre; Smith 1853 Les Soirées de l’orchestre; Anonym 1853a Hector Berlioz; Anonym 1853b Hector Berlioz; Baudillon 1853 Hector Berlioz; Anonym 1853 Hannover; 12. 1853 Hannover, in: NdS 1 Nr. 53; Pohl 1853 Hector Berlioz; 30. 1853 Leipziger Briefe; Anonym 1854 Hector Berlioz. 41 Vgl. vorliegender Artikel, S. 677 [60]. Krüger stand weder mit der ablehnenden Haltung gegenüber Meyerbeer noch mit seinem Vergleich mit Wagner allein, da insbesondere letzterer Anfang der 1850er Jahre heftig gegen Meyerbeer polemisierte, was u. a. für Riccius ebenfalls Anlass bot, Ähnlichkeiten in der Musik Wagners und Meyerbeers nachzuweisen (Riccius 1851 Richard Wagner). 42 Vorliegender Artikel, S. 672 [58]. 43 Zu Krügers „Coterie“-Betrachtung siehe insbesondere Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67; aber auch Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, in: NdS 1 Nr. 66; Krüger 1855 Sonderliche Gedanken, in: NdS 2 Nr. 74. 44 Vorliegender Artikel, S. 673 [59]. 45 Vgl. ebd., S. 671 [58]. 46 Siehe insbesondere Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, in: NdS 1 Nr. 66; Krüger 1855 Sonderliche Gedanken, in: NdS 2 Nr. 74; aber auch Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67. 47 Vorliegender Artikel, S. 676 [61].
Nr. 64 | Anonym [Joachim Raff?], „Aus Weimar“, in: NZfM 21 (1854), Bd. 40, Nr. 11 (10. März), S. 112 –115.
Aus Weimar.
Wenn in diesen Blättern ein Bericht mit vorstehender oder ähnlicher Ueberschrift über musikalische Ereignisse erschien, so konnte man stets gewärtigen den Namen Franz Liszts als Motors aller bedeutsamen Vorgänge hierselbst erwähnt zu finden. Er ist als die mittelbare Ursache der Bewegung anzusehen, welche in der musikalischen Welt beider Hemisphären entstand, und deren endliche Abklärung noch in weiter Ferne zu liegen scheint. Wie immer auch über diese Bewegung geurtheilt werden möge, so ist Eines unläugbar: die bewegenden Elemente selbst sind positiver Natur, und ihre bisherigen Träger: Schumann, Berlioz, Wagner sind Producenten, deren Werke als Objecte der Bewegung wohl angegriffen, aber nicht negirt werden können. Die Opposition – resp. Reaction hingegen muß sich mit sterilen pseudotheoretischen Unterstellungen behelfen und wartet noch und soll allem Anschein nach ewig warten auf ein schaffendes Talent, welches sie in der Gegenwart oder nächsten Zukunft als Schildhalter ihrer destructiven Propaganda proclamiren könnte. Natürlich! diese Opposition behauptet stets, daß die Gegenwart nicht bestehe, nicht bestehen dürfe: sie verhält sich rein negativ; aber aus Nichts wird Nichts.... Umgekehrt sind die positiven Bestrebungen der Bewegungspartei (wenn der Name Partei hier überhaupt in genuiner Bedeutung am Platze ist) im erfreulichsten Wachsthum begriffen, und in kürzester Frist wird sich zu den altbewährten Namen, welche im goldenen Buche ihrer Geschichte strahlen, wohl noch mehr als ein neuer gesellen. Ich irre nicht, wenn ich an die Spitze der letzteren denjenigen Franz Liszt’s in ganz anderem Sinne stelle, als man bisanhin anzunehmen gewohnt und geneigt war. – Als die Herrschaft der technischen Richtung, welche durch Spohr und Hummel vertreten war, durch die Erscheinung Paganini’s und Liszt’s erschüttert wurde, entstand eine schwer zu beschreibende Confusion der Meinungen über Zulassungsfähigkeit solcher Neuerer. Man betrachtete sie als Fragezeichen unter den Interpunctionen des großen und unvertilgbaren Fortschrittstheoremes, auf welche die bequemste Antwort keine wäre. Duldsame Kritiker gaben jene Erscheinungen für Meteore aus, deren Glanz man einen Augenblick begafft, die aber bald spurlos verschwinden. Kläglicher Irrthum! Spohr’s Protest gegen einen wesentlichen Theil der Paganini’schen Technik1 konnte nicht verhindern, daß dieselbe sich im Ganzen und
1 Obwohl
Louis Spohr (1784 –1859) die Virtuosität Nicolò Paganinis (1782 –1840) durchaus anerkannte, warnte er in seiner Violinschule (ED 1833) beispielsweise vor Paganinis Flageolettspiel (S. 108).
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Großen verallgemeinerte, und nunmehr in ihren Grundzügen Eigenthum jedes Kapellisten vom ersten Pulte ist. Die Bedenken gegen Liszt beantwortete die Zeit mit einem einzigen großen Schlußpunkte und Gedankenstriche, welche sie hinter den Bericht von dem, was man heutzutage noch die Hummel’sche Periode2 nennt, setzte. Kritisirende Schwachköpfe gefielen sich stets darin vorzugeben, daß die Liszt’schen Claviercompositionen für jeden Spieler, den Autor selbst ausgenommen, unausführbar wären. Wenn zugegeben werden kann, daß der Geist eines Werkes von seinem Urheber immer am besten und gewöhnlich besser als von einem andern Ausführenden wiedergegeben werde, so läßt sich dies auf die Materie nicht anwenden. Ein großer Theil Liszt’scher Clavierstücke ist sorgfältig und methodisch consequent befingersatzt. Der Fingersatz ist ein Materiell-Technisches, was von jedem Individuum, welche mit gesunden und geraden Gliedern ausgestattet ist, durch Fleiß und Uebung erlangt werden kann. Daß alle Liszt’schen Werke ohne Ausnahme in größter Vollkommenheit wiederzugeben sind, hat sich am besten bewahrheitet, seitdem Liszt sich die Mühe ge-[113]nommen, die Studien strebsamer Kunstjünger persönlich zu leiten: Hans v. Bülow, welcher bereits die bedeutendsten Plätze Deutschlands besucht hat, und der eben von Weimar abgehende Carl Klindworth3 liefern die schlagendsten Beweise dafür. Was indessen von der Zuhörerschaft wie der Kritik, welche sich mit den allenthalben noch im frischesten und nachhaltigsten Andenken stehenden persönlichen Vorträgen Liszt’s beschäftigen, zunächst aufgefaßt wurde, war lediglich ein Aeußeres und Besonderes, nämlich die Außenseite der technischen Execution, welche wegen ihrer über alles Dagewesene hinausragenden Vollendung zuerst frappirte. Ein zwar auch noch Aeußeres aber Allgemeines, den Styl der Execution mag man sich instructiv zur beiläufigen Wahrnehmung gebracht haben, allein man findet in der zeitgenössischen Presse nirgends ein bewußtes Eingehen darauf. – Daß ein Künstler, welcher technisch das Clavierrepertoir aller Zeiten und Style beherrschte und die Summe aller in denselben vereinzelt vorhandenen bedeutenden Elemente zu beliebiger Verfügung hatte, welcher, nebenbei mehrseitig gebildet, mit der Literatur der lebenden Culturvölker vertraut, im Verkehr mit einer großen Anzahl ihrer bedeutendsten literarischen und künstlerischen Größen, sich im Laufe eines Decenniums mit allen innern und äußeren musikalischen Zuständen Europas von Gibraltar bis Petersburg, von Constantinopel bis London durch persönliche Anschauung aufs Laufende gesetzt, – dazu gelangen müßte, generelle und objective Maßstäbe für die musikalische Wirkung zu finden, und denselben gemäß eine eigenthümliche virtuose Form zu constituiren, ist eine weitere Thatsache, die man recht gut begreifen kann, die aber annoch nicht begriffen ist. Indessen ist die Persönlichkeit Liszt’s als Künstler seit sechs Jahren der Welt ferne gerückt; man hat ihn seither in nicht specifisch musikalischen Kreisen nur als eifrigen
2 Johann
Nepomuk Hummel (1778 –1837), Komponist, Pianist und Kapellmeister, stand mit seinem Klavierstil, wie ihn auch seine Klavierschule Ausführliche theoretisch-practische Anweisung zum Piano-Forte-Spiel (ED 1828) dokumentiert, trotz zahlreicher Neuerungen noch ganz im Einfluss der Wiener Klassik. 3 Karl Klindworth (1830 –1916), Pianist, Dirigent und Musikpädagoge, gehörte in den Jahren 1852 bis 1854 zu Liszts engstem Schüler- und Freundeskreis in Weimar, bevor er 1854 für 14 Jahre nach London übersiedelte.
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und ersten Protegonisten [sic] für diejenige Richtung nach dem modernen Kunstideale kennen gelernt, welche er gleich einsichtsvoll, kräftig, offen und hingebend am Dirigentenpult und vom Schreibtische aus vertrat. Abgesehen von der localen Wirksamkeit Liszt’s als Dirigent glaubt Referent angesichts der letzten Befehdungen, welche demselben in Folge seiner Thätigkeit beim Carlsruher Musikfeste erstanden sind,4 doch die Behauptung aufstellen zu können, daß die sämmtlichen deutschen Kapellmeister – seine Collegen in Partibus5 – eine umfassendere und geistig wie technisch bedeutendere Thätigkeit nicht entfaltet haben. Ref. kennt Liszt’s Direction seit 4 Jahren,6 und hat in dieser kurzen Frist, während welcher sich derselbe überdem im Ganzen mehr als 15 Monate jeder officiellen Activität enthielt, und in gänzlicher Zurückgezogenheit lebte, doch eine große Anzahl zum Theil sehr schwieriger Werke mit mäßigen Gesangs- und Orchesterkräften von ihm einstudiren und in Aufführungen leiten sehen, wie z. B. die 9te Symphonie v. Beethoven, Benvenuto Cellini, Faust7, Romeo, Harold, Francs-Juges8 von Berlioz, Faust9, Manfred10, 4ten [sic] Symphonie, Hornconcert 11 von Schumann, Messias von Händel, 3te Symphonie12, Frühlingsphantasie13 von Gade, Elias, Walpurgisnacht14, Antigone15, Athalia16 von Mendelssohn, Holländer, Tannhäuser, Lohengrin, Liebesmahl17 von Wagner, Mose18 von Marx u. s. w. – Diejenigen deutschen Kapellmeister, welche Aehnliches von ihrer Thätigkeit in den letzten Jahren zu berichten haben, mögen sich melden. – Diesen Zweig von Liszt’s Wirksamkeit zu premiren, ist jedoch weniger Zweck gewärtiger Zeilen. Sie nahm nur den kleineren Theil seiner Zeit in Anspruch, während der rastlos strebende Geist des Künstlers den größeren in anderer folgereicherer Richtung verwendete. Der Augenblick ist da, wo die Resultate mehrjähriger Studien und Anstrengungen der Oeffentlichkeit näher gerückt werden. Das erste nachhaltigst bedeutungsvolle dieser Resultate ist die Herstellung eines mustergültigen Claviersatzes, welcher gegründet ist aus dem Aggregat aller Momente, die gezogen werden konnten aus dem Vergleiche zwischen dem genuinen Vermögen des Instrumentes und seiner Assimilation der Effectuirung fremder Instrumentalcomplexe einerseits, und der Steigerung aller historischen Wirkungen nach Maßgabe eines auf Verbesserung des Instrumentes und er Applicaturen basirten Fortschrittes anderseits. Liszt wollte die monumentale Reformation des Claviersatzes, welche mit Ausnahme von kaum sechs Compositeuren der Gegenwart der übrigen gedankenlosen Masse noch ein böhmisches Dorf zu sein scheint, nicht vollenden,
4 Zum Karlsruher Musikfest 1853 und der Kritik an Liszts Dirigierstil siehe Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51 sowie H. 1853 Das karlsruher Musikfest, in: NdS 1 Nr. 50. 5 (Lat.) in Teilen. 6 Diese Aussage spricht u. a. dafür, dass Joachim Raff den vorliegenden Text verfasste, denn er war 1850 auf Einladung Liszts nach Weimar gezogen, wo er bis 1856 als dessen Assistent wirkte. 7 Hector Berlioz, La Damnation de Faust (Fausts Verdammnis) op. 24 (UA 1846). 8 Berlioz, Grande Ouverture des Francs-Juges op. 3. 9 Robert Schumann, Scenen aus Göthe’s Faust WoO 3. 10 Schumann, Manfred op. 115 (UA 1852). 11 Schumann, Konzertstück F-Dur op. 86 (UA 1850). 12 Niels Wilhelm Gade, Symphonie Nr. 3 a-Moll op. 15 (UA 1847). 13 Gade, Frühlings-Phantasie op. 23 (ED 1853). 14 Felix Mendelssohn Bartholdy, Die erste Walpurgisnacht op. 60 (UA 1833). 15 Mendelssohn Bartholdy, Antigone op. 55 (UA 1841). 16 Mendelssohn Bartholdy, Athalia op. 74 (UA 1845). 17 Richard Wagner, Das Liebesmahl der Apostel WWV 69. 18 Adolf Bernhard Marx, Mose (UA 1841).
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ohne an sich selbst zuerst das schlagendste Beispiel der Kritik zu statuiren, welches die Claviercomponisten en bloc an sich und ihrer Vergangenheit in positiver Weise nachahmen sollten. Die totale Ueberarbeitung der achtzehn großen Etuden19 und sämmtlicher ungarischen Rhapsodien20 zeugen hiervon. Allein der Styl, welcher als technische Seite der virtuosen Form sich ausprägt, konnte in der Kunstgeschichte nur dann auf allgemeine und nothwendige Berechtigung Anspruch machen, wenn seine Verhältnisse zur absoluten Idee sowie zur Historie nachgewiesen waren. In letzterer Hinsicht war durch die Effectuirung und Uebertragung einer großen Menge der verschiedenartigsten Werke anderer Autoren von längerer Zeit her die Kritik der früheren Clavierschreibart gemacht. Was aber das Verhältniß des neuen Clavierstyles zur Idee des Kunstwerkes selbst anlangt, [114] so mußte Liszt die Zeit abwarten, wo er in Ruhe die Abklärung seines individualen Gehaltes vornehmen konnte. Wie er diese Zeit benutzt, wie er die außerordentliche Elasticität und Darstellungsfähigkeit seines Styles gerechtfertigt, beweisen Werke, wie sein Concertsolo21, Scherzo (die wilde Jagd)22, Sonate, Fantasie, „après la lecture de Dante“23, und seine Clavierconcerte24, Schöpfungen, welche zum Theil veröffentlicht, zum Theil unter Presse sind. – Zu keiner Zeit war die Styllosigkeit in der Kunst mehr eingerissen, als heutzutage. Wer irgend eine Idee einer musikalischen Idee hat, der untersucht wenig, welche Form sie erheische, oder für welche Ausführungsmittel sie passe. Sie wird in Hinsicht der sinnlichen Wirkung, auf welche es in der Musik ganz naturgemäß doch ankömmt, so sorglos wie möglich notirt, und soll talis qualis25 als Kunstwerk gelten. Leider ist dies nicht nur von Dilettanten, sondern auch von manchen Fachleuten, die schon einen bedeutenden Ruf haben, zu sagen. Vernachlässigung des sinnlichen Wohlklanges und Formlosigkeit im Großen sind an der Tagesordnung. Es war zwar natürlich, daß auf den Objectivismus, welcher mälig in den sterilen Sand fixer und starrer Formen verrann, ein Subjectivismus folgte, welcher zu Gunsten der absoluten Idee gegen jenen Formalismus reagirte; allein es liegt nahe, die Erfüllung des modernen Ideales in der richtigen Mitte zu suchen. Wir haben der Exempel in den letzten Decennien mehre gehabt, daß sehr begabte Künstler lange producirten und zwar aus der Mitte eines bedeutenden Ideenkreises heraus, bevor sie im Stande waren, ihren idealen Gehalt in adäquate künstlerische Form zu bringen. Muß auch zugegeben werden, daß diese Einseitigkeit der entgegengesetzten bei weitem vorzuziehen ist, so ist und bleibt es doch eine Einseitigkeit, welche nie und nimmer als Norm wahrhaft künstlerische Gestaltung hingestellt werden darf. Liszt hat es vorgezogen, sich der Form im weitesten Sinne und Umfange Herr zu machen, ehe er daran dachte, seinen künstlerischen Inhalt an
Autor zählt hier die zwölf Études d’exécution transcendante S 139 und die sechs Grandes Études de Paganini S 141 zusammen, die Liszt 1851 in Neufassungen herausgab. 20 Liszt veröffentlichte in den Jahren 1851 bis 1853 seine Ungarischen Rhapsodien Nr. 1 bis 15 S 244. 21 Liszt, Großes Konzertsolo S 176 (ED 1851). 22 Liszt, Wilde Jagd – Scherzo S 176a entstand 1851 als Erstfassung von Scherzo und Marsch S 177 (ED 1854). 23 Gemeint ist hier die sogenannte Dante-Sonate S 161 Nr. 7, deren vollständiger Titel Aprés une lecture du Dante. Fantasia quasi Sonata lautet. 24 Die Arbeit am Klavierkonzert Nr. 1 Es-Dur S 124 erstreckte sich über die Jahre 1835 bis 1856 mit der Uraufführung am 17. Februar 1855 in Weimar, das Klavierkonzert Nr. 2 A-Dur S 125 entstand in den Jahren 1839 bis 1861 und wurde am 7. Januar 1857 ebenfalls in Weimar uraufgeführt. 25 (Lat.) So beschaffen wie. Hier im Sinne von: „so, wie es ist“ bzw. „als solches“. 19 Der
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die Welt zu vermitteln. Es ist dies ein Beweis für seine hohe Achtung vor dem Ideale und der Aufgabe der Gegenwart. Wie lange hat er sich Mangel an Productionsvermögen, Sterilität an eigener Erfindung vorwerfen lassen, ohne sich dadurch zu einem voreiligen Schritt in ein Kunstgebiet bewogen zu sehen, welches er nur mit der größten Pietät gegen das viele von großen Vorfahren geleistete Vortreffliche betreten zu dürfen glaubte? Erfüllt von dem lebensvollen Complexe eigener Gefühle und Gedanken voll Tiefe und Erhabenheit, sich stets in den umfangreichsten Kreisen des geistigen Lebens der Gegenwart bewegend, und reich an Reflexen einer anregungsvollen Vergangenheit konnte er die Invectiven26 einiger jungen Literaten und Musiker ohne Namen, Talent, Erfahrung und guten Willen ungerührt an sich abprallen lassen. – Weiterhin jedoch mußte es sich für Liszt nicht nur darum handeln Formalist in abstracto zu werden. Vielmehr mußte er darauf bedacht sein, seinen abgeklärten individualen Gehalt mit der bisherigen Ausbildung verschiedener formaler Organismen zu vergleichen und aus dieser Vergleichung eine Ausdrucksweise abzuleiten, welche im Stande war, sein innerstes Wesen ins Leben zu vermitteln. Wer einigermaßen mit Liszt’s bisherigen Publicationen vertraut ist, wird den vordringenden Hang derselben zur Lyrik nicht verkennen können. Daß er nach Erfüllung seiner Mission hinsichtlich der Umbildung des Clavierspieles und Satzes seine künstlerische Befriedigung in der symphonischen Lyrik zunächst suchen und finden würde, war vorauszusehen. Indem ich dieses Blatt beschreibe, kann jene Voraussicht als erfüllt bezeichnet werden und es liegt eine größere Reihe von Orchesterwerken vollendet in dem Portefeuille des Künstlers, welche im Verlaufe der nächsten Monate insgesammt zur Aufführung gelangen sollen.27 Einen glänzenden Anfang damit machte Liszt durch die Vorführung eines großen symphonischen Prologes zum „Orpheus“ welcher am 16ten Februar vor Aufführung der gleichnamigen Oper von Gluck executirt wurde.28 Bald darauf (im Concert für den Pensionsfond, 23ster Febr.) hörten wir von ihm eine symphonische Dichtung29, „Les Préludes“ betitelt, und eine Vocalcomposition „An die Künstler“.30 Ein Entwurf dieser letztern war schon in Carlsruhe zur Aufführung gelangt und mehrseitig ungünstig beurtheilt worden.31 Nunmehr ist dieselbe, aufs sorgfältigste ausgearbeitet, publicirt, und der
26 Beleidigung, Beschimpfung, Schmähung. 27 Tatsächlich dirigierte Liszt in Weimar 1854 noch die Uraufführung der Symphonischen Dichtungen Nr. 6 Mazeppa S 100 (16. April), Nr. 2 Tasso S 96 (19. April) und Nr. 7 Festklänge S 101 (9. November). Danach folgten allerdings erst im Jahr 1857 die Uraufführungen von Nr. 1 Ce qu’on entend sur la montagne S 95 (7. Januar), Nr. 12 Die Ideale S 106 (5. September) und Nr. 11 Hunnenschlacht S 105 (29. Dezember). 28 Liszt hatte bei der von ihm geleiteten Weimarer Erstaufführung von Christoph Willibald Glucks Orfeo ed Euridice (UA 1762) am 16. Februar 1854 eine Ouvertüre von sich selbst hinzugefügt, die 1856 unverändert als Symphonische Dichtung Nr. 4 Orpheus gedruckt wurde. 29 Liszt verwendete seit Februar 1854 den Ausdruck „Symphonische Dichtung“ für die Orchesterwerke seines 1856 bis 1861 im Druck erschienenen Zyklus. 30 Bei der Darbietung von Les Préludes handelte es sich um die Uraufführung dieses Werkes. Von Liszts An die Künstler S 70 (UA der 1. Fassung 1853 beim Karlsruher Musikfest) wurde die 2. Fassung uraufgeführt, die 1854 als Druck erschien. Des Weiteren erklangen im erwähnten Witwen-Waisen-Konzert am 23. Februar 1854 Werke von Robert Schumann, Georg Friedrich Händel, Johann Sebastian Bach und Gioachino Rossini. 31 Siehe beispielsweise Anonym 1853 Das Karlsruher Musik- und Volksfest; Anonym 1853 Das Musikfest in Carlsruhe; Anonym 1853 Karlsruhe den 8. Oktober; H. 1853 Das karlsruher Musikfest, in: NdS 1 Nr. 50.
Anonym 1854 Aus Weimar
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allgemeinen Kenntnißnahme zugänglich, was nicht verfehlen wird, kritische Expectorationen, wie die einiger süddeutscher Blätter32 im verwichenen Herbste, auf das richtige Maß zurückzuführen. – Man kennt die zahlreichen Vorurtheile, welche Unverstand, Neid und Gehässigkeit gegen Liszt in Schwang gebracht haben. Dieselben grassiren hier in Weimar nicht minder als anderswo, wenn auch zugestanden werden muß, daß sie in erfreulicher Abnahme begriffen sind. Ich darf hinzufügen, daß das Weimar’sche Publikum durch sehr viel Bedeutendes, was ihm zu Gehör gebracht worden ist und noch fortwährend in größerem Maße geboten wird als den Bewohnern Berlins und Dresdens z. B. – etwas anspruchsvoller geworden als irgend einem Debutanten lieb sein kann. Eine gute Aufnahme seines Wer-[115]kes dahier kann daher jedem Compositeur nur angenehm sein; eine enthusiastische ist selten. Letzterer Art war indeß gleichwohl die, deren sich die genannten Liszt’schen Werke zu erfreuen hatten. Man würde Unrecht thun, den Werth dieser letztern blos nach ihrem Erfolge zu bemessen. Allein im vorliegenden Falle kömmt etwas darauf an. Wenn eine gewöhnliche Natur Gewöhnliches in gewöhnlicher Form sagt, so wird jede gemischte Zuhörerschaft mit solchem Kunsterzeugnisse alsbald zurecht kommen, es auf alle Fälle sogleich zu begreifen und zu würdigen im Stande sein. Dies findet auf die Werke, welche Liszt vorführte, keine Anwendung. Durchaus individuell, eigen, originell in Form und Idee, konnten sie nur durch die größte Klarheit des Inhaltes und die Fülle schöner sinnlicher Erscheinung sich sogleich den Weg in die Sympathie der Zuhörer bahnen. Daß der Künstler den richtigen Weg zur Darlegung seines innersten Wesens nach den Anforderungen des modernen Ideales gefunden, liegt am Tage. Die Aufführung von 4 – 5 weiteren Werken welche bevorsteht, wird diese Ansicht in vollem Maße bekräftigen, und es ist für die Geschichte von um so höherer Wichtigkeit vom ersten Auftreten Liszt’s, des Symphonisten, Act zu nehmen, als die Tragweite desselben außer aller Berechnung steht. In der That scheint Liszt keine „neuen Bahnen“33 wandeln zu wollen. Es geht ein einziger gerader Weg von einem Punkte zum andern. Alle anderen sind krumme. Dieser einzige gerade Weg ist der nächste und der beste. Jeder der von seinem Standpunkte aus sich dem Kunstideale nähert, kann nur diesen einzigen Weg zu finden und zu wandeln wünschen. Er ist der älteste und der – neueste. Liszt hat ihn für sich gefunden. Wohl ihm darum! Möge er ihn auf dem Gebiete der Kunst, das er jetzt betritt, rüstig und lange wandern! –
könnte gemeint sein: H. 1853 Das karlsruher Musikfest, in: NdS 1 Nr. 50. 33 Anspielung auf den gleichnamigen Aufsatz von Robert Schumann über Johannes Brahms 1853 in der NZfM (Schumann 1853 Neue Bahnen), in dem Schumann schreibt: „einer [Brahms], der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung [bringt], sondern, wie Minerva, gleich vollkommen gepanzert aus dem Haupte des Kronion [springt]“ (ebd., S. 185, in: NdS 1 Nr. 49, S. 527). 32 Hiermit
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Kommentar Der Bericht „Aus Weimar“, der im Inhaltsverzeichnis des 40. Bandes der NZfM mit der zusätzlichen – und eigentlich treffenderen – Überschrift „Ueber Liszt“ versehen ist, beschreibt nicht nur Liszts Wirken als Weimarer Hofkapellmeister, sondern stellt vor allem eine Einführung in sein kompositorisches und dabei speziell in sein jüngstes symphonisches Schaffen dar. Der Text stammt mutmaßlich aus der Feder von Joachim Raff34 und sollte die Leser möglicherweise auch auf Liszts ersten eigenen Beitrag in der NZfM vorbereiten, der zwei Wochen danach erschien.35 Vor allem illustriert der Artikel jedoch, wie Liszt seit dem Karlsruher Musikfest 1853 und insbesondere im Zusammenhang mit den Uraufführungen seiner symphonischen, programmatischen Werke 1854 in Weimar36 allmählich als Komponist in die öffentliche Wahrnehmung rückte und durch die begleitende Berichterstattung des Weimarer Kreises auch gezielt ‚gerückt‘ wurde. Wurde er bislang vor allem als Pianist und als Fürsprecher für andere Komponisten gesehen, wird ihm in diesem Text nun ein Platz neben Schumann, Berlioz und Wagner vorhergesagt, welche hier als Protagonisten der von Liszt ins Leben gerufenen „Bewegung“ bzw. „Bewegungspartei“ betrachtet werden. Bemerkenswert ist dabei, dass Liszts Komponieren als Gegenbeispiel zur aktuellen „Vernachlässigung des sinnlichen Wohlklanges und Formlosigkeit“37 angeführt wird. Dies könnte zur Abwehr von Kritikern, die Liszt häufig genau diese beiden Punkte vorgeworfen hatten, und auch vorbeugend zur Verteidigung seiner neuen Kompositionen gedient haben.38 Der Aufsatz ist ein außerordentliches Beispiel für die sehr bedacht konzipierte Dramaturgie der öffentlichen Bekanntmachung von Liszt als nun aktivem Komponisten wie gleichermaßen der Einführung seiner symphonischer Instrumentalwerke, deren Aufführungen kurz bevor standen, samt der neuen Bezeichnung „Symphonische Dichtungen“, die, wie Rainer Schmusch annimmt, speziell für den deutschen Markt und insbesondere für Weimar seit 1851 von Liszt schon verwendete Charakterbezeichnung „poème symphonique“ ins Deutsche übertragen wurde.39
Deaville 2012 Liszt and Brendel, S. 393. Deaville begründet diese Zuschreibung durch Inhalt und Stil des Artikels. 35 Vgl. ebd. Bei dem Artikel handelt es sich um Liszt 1854 Weber’s Euryanthe (NdS 1 Nr. 65), in welchem Liszt anlässlich einer Aufführung der Oper Euryanthe seine Reformpläne für das Weimarer Theater darlegt. 36 Nr. 4 Orpheus S 98 (16. Februar), Nr. 3 Les Préludes S 97 (23. Februar), Nr. 6 Mazeppa S 100 (16. April), Nr. 2 Tasso S 96 (19. April) und Nr. 7 Festklänge S 101 (9. November). 37 Vorliegender Artikel, S. 683 [114]. 38 Siehe etwa Anonym 1852 Das Musikfest zu Ballenstedt, in: NdS 1 Nr. 34. 39 Schmusch 1999 Art. „Symphonische Dichtung“. 34 Vgl.
Nr. 65 | Franz Liszt, „Weber’s Euryanthe“, in: NZfM 21 (1854), Bd. 40, Nr. 13 (24. März), S. 133 –138.1
Weber’s Euryanthe.I
Mußte auch Beethoven bei Gelegenheit des Fidelio den Kelch der Bitterkeit bis auf die Heefe leeren, so hätte er doch eine reichliche Entschädigung, ja eine glänzende Botschaft der Nachwelt in dem Ansuchen Weber’s finden können, die Partitur der Euryanthe2 zu revidiren. Leider aber vereitelte eine in den Verhältnissen der beiden großen Meister eingetretene Spannung den günstigen Erfolg dieses Annäherungsversuchs, zu welchem Weber den ersten Schritt that.3 Mittelmäßige Halbmenschen, zudringliche Freunde, hinderten Beethoven’s große Seele, sich über gewisse Empfindlichkeiten hinwegzusetzen und die tiefe Huldigung richtig aufzufassen, welche für seinen Genius in dem Wunsche eines Künstlers wie Weber ausgesprochen war, das Werk, welches er als den schönsten Ausdruck seines dramatischen Gefühls betrachtete, an das sprühende Feuer der Conception dieses göttlichen Symphonisten gehalten zu sehen. Finden wir doch schon bei Weber eine wunderbare Divination der zukünftigen Gestaltung des Drama’s; bei ihm schon das annähernde Bestreben den ganzen Reichthum instrumentaler Entwicklung der Oper einzuverleiben, in ihr aufgehn zu lassen. – Zu gleicher Zeit theilte Weber die Partitur seiner Euryanthe Schubert mit, sang und spielte sie ihm am Piano. Da Schubert sie für weniger gelungen erachtete als den Freischütz4, brach Weber fast gänzlich mit ihm und verzieh ihm nimmer dies Urtheil, denn in seiner Schätzung stand Euryanthe bei weitem höher, als der Freischütz.5 Wer von den beiden genialen Componisten hatte nun recht? Gewiß hatte
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gereicht uns zu großer Freude, unseren Lesern anzeigen zu können, daß Hr. Dr. Liszt unseren schon gegen ihn ausgesprochenen Wunsch, sich als Mitarbeiter an dies. Bl. zu betheiligen, hiermit zu erfüllen beginnt. Er hat sich zunächst die Aufgabe gestellt, an einen Bericht über die in der letzten Saison in Weimar gegebenen Opern allgemeine Bemerkungen zu knüpfen, so wie dabei über die wünschenswerthe Art des Verfahrens, welches Theaterdirectionen denselben gegenüber einzuhalten haben, zu sprechen. Die Euryanthe, welche zuletzt in Scene ging, bietet dazu den nächsten Anknüpfungspunkt. (D. Red.) ediert in: Liszt-Schriften 5, S. 1– 7. 2 Carl Maria von Weber, Euryanthe (UA 1823). Schindler zufolge habe Weber Konradin Kreutzer und vor allem Ludwig van Beethoven um Kürzungsvorschläge für seine Oper gebeten und letzterem dabei freie Hand gelassen (siehe Schindler 1842 Beethoven in Paris, S. 102 –113). 4 Weber, Der Freischütz (UA 1821). 5 Die Kritik Franz Schuberts an Webers Oper überliefert Schindlers Beethoven-Buch (siehe Schindler 1842 Beethoven in Paris, S. 109 –112). 1 Kritisch 3 Anton
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Keiner un-[134]recht und Beide hätten ihre Meinung durch schlagende Argumente rechtfertigen können, wie es einerseits die außerordentliche und verdiente Popularität des Freischütz bezeugt, andrerseits der Umstand, daß heutzutage diejenigen Künstler, welche zu gleicher Zeit Musiker von Fach und von Kopf sind und jene Minoritäts-Phalanx bilden, deren höherstrebende Ueberzeugung das blinde und vergängliche Spiel der Fortuna überdauert, der Euryanthe einen höheren Preis zuerkennen. Um die betrübende Scheidung zu begreifen, wie sie sich zwischen gleiches Verdienst und ungleichen Erfolg beider Werke gestellt hat, ist es wesentlich, die Stoffe einer nähern Betrachtung zu unterziehen. Der Text zum Freischütz ist eines der dankbarsten Opernsujets, welche man je erdacht hat. Er ist in der glücklichsten Weise behandelt und in einem Ton gehalten, in welchem Sentimentalität mit Anmuth und Heiterkeit, sowie Unruhe, Schmerz und Erregtheit der Liebe mit Naivität und reiner Gefühlsweise in den allertreffensten [sic] Verhältnissen abwechseln, um das Urtheil der Wenigen zu befriedigen und die Herzen der Vielen zu rühren. Indem Weber diesen in seiner Art vollkommnen Canevas aus der Hand des Dichters nahm, verlieh er nicht allein dem volksthümlichen Stoff seine volle musikalische Wirksamkeit, sondern mit seinem poetischen Hauch erweiterte er die Dimensionen desselben, er verschönerte die Charaktere, vermehrte die innere Wärme, erhöhte das Colorit und gab den Conturen mehr Prägnanz, indem er über das Ganze den farbenschillernden Reiz originellster Formen verbreitete. Innerhalb des Rahmens seines Stoffes stellte er eine neue wonnige Schilderung der Natur hin, in welcher lebendiges Grün und tausendfacher Farbenglanz im Tiefsten angeweht sind von deutschem Geist, deutschem Leben und Weben in der Natur. So ist der Freischütz ein Meisterwerk geworden! Sogar die Eule die da ihre Flügel schlägt und Feueraugen rollt, ist nicht ohne Antheil an dem dauernden Erfolg dieser Oper. Wäre selbst hier oder dort, wo man den Freischütz giebt, kein einziger wirklich Musikverständige vorhanden, die wunderliche Phantasmagorie der Wolfschlucht wird nie verfehlen, das Haus zu füllen, mindestens mit Kindern, da es einen Theil der nationalen deutschen Jugendvergnügungen ausmacht, den Freischütz zu sehen. Weit entfernt, es den Familien vorzuwerfen, welche ihre Kinder auf diese Weise mit dem Genius Weber’s vertraut machen, da sie doch am Ende immer bei dieser Gelegenheit auch nebenbei etwas hören, möchten wir doch schwer zu überreden sein, daß man die Kinder so gewissenhaft in diese Oper führt, um ihnen einen Geschmack für das Schauspiel dämonischer Naturgewalten beizubringen, welches im Orchester sich entfaltet. Es läßt sich demnach mit Recht behaupten, daß an den unverwelklichen Einnahmen, welche der Freischütz noch heutzutag macht, doch immer die Eule, die Skelette, die wilde Jagd, der leidige Samiel etc., welche für die Zuschauer so anziehend sind, ihren unbestreitbaren Antheil haben. Nun findet sich aber in der Euryanthe nicht allein kein Skelett, keine Eule, keine Wolfschlucht, sondern nicht einmal ein kleiner Walzer, den alle jungen Damen mit Wonne spielen und tanzen können; kein Brautliedchen, um es in spe vor sich hinzu summen, ja nicht einmal ein Jägerchor, der für den Leierkasten passend zu gebrauchen
Liszt 1854 Weber’s Euryanthe
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wäre. Zwar finden wir auch in der Euryanthe einen Jägerchor,6 aber hier sind die Jäger nicht mehr lustige Bergbewohner, denen eine frische, lebhafte Melodie mit graziösem originellen Rhythmus genügt, es sind Ritter und Edelleute, welche mit Noblesse dem edlen Waidwerk obliegen. Und obgleich der Chor, wie der aus dem Freischütz, auf der gemächlichen Grundlage von Tonica und Dominante sich wiegt, ist er doch vermöge seiner edleren Wendungen und declamatorischen Phrasirung kein Stück für den Pfiff oder den Leierkasten, wenn er auch anderseits eine stehende Nummer der Concertprogramme von Paris und London bildet. Auch im Uebrigen herrscht eine enorme Verschiedenheit zwischen den Texten zu diesen beiden Opern. An der Euryanthe wird trotz der mannichfachen Verbesserungen, welche Weber daran vornehmen ließ, der Mangel an Schöpfungskraft in der Kunst bei weiblichen Talenten fühlbar. Weber, der diesen angebornen Mangel übersah, quälte vergebens seine unglückliche Dichterin mit Verbesserungsvorschlägen, durch welche nichts verbessert ward. Man stellt einen Park nicht mit der sandaufwerfenden Schaufel, sondern mit der wälderlichtenden Axt her. So werden auch derartige Verbesserungen nur da von Nutzen sein, wo ein Zuviel vorhanden ist, nicht aber ein Zuwenig. Bei alledem hat sowohl Text als Musik zur Euryanthe den unverkennbaren Vorzug eines erhöhten Strebens, einer erhabneren Begeisterung vor dem Freischütz voraus. Text und Musik haben höhere Ausgangspunkte. Sie erheben sich über häusliches und ländliches Leben, und nehmen einen kühnen Aufschwung zu heroischer Entfaltung. Mit der Composition der Euryanthe setzte Weber den ersten Fuß auf ein neues Land; er ward sich als Vorläufer einer neuen Aera bewußt: er hatte eine Vorahnung von Tannhäuser und Lohengrin. Indem er die Fähigkeit in sich fühlte sich der vollen poetischen Kraft solcher Stoffe zu bemächtigen, die höheren Sphären als der Freischütz entnommen, von mächtigeren Leidenschaften bewegt sind, war er [135] mit dem vom Stoff losgetrennten musikalischen Werth seiner einzelnen Stücke zufrieden, und vergaß dabei nur eines, daß eben sein Gedicht ihm nicht genügte, und daß die Mängel desselben den Schönheiten seiner Composition einen unheilbaren Schaden zufügen würden. Dies mag wohl Schubert, indem er jenes Urtheil aussprach, gefühlt haben, ohne sich Rechenschaft davon zu geben. Wagner aber gab sich sehr wohl Rechenschaft von dieser Mèsalliance [sic] zwischen dem Genie Weber’s und dem Talent seiner Dichterin, und protestirte energisch gegen alle derartige Mèsalliancen, welche ohne den mittelmäßigen Poeten zu erhöhen den großen Musiker herniederziehen.7 Durch diese beredte Protestation leistete Wagner der dramatischen Kunst einen unberechenbaren Dienst, welches auch das Schicksal der andern Ideen sein möge, die in seinem Gedankengange sich allmälig um dies unumstößliche Grundprincip gesammelt haben: „daß der Genius des Musikers sich nur mit einem ebenbürtigen Dichtergenius verbinden darf, und daß die beste Musik immer ein mehr oder minder ungünstiges Geschick haben wird, sobald mittelmäßige Poesie zu ihrem Träger sich
Euryanthe, 3. Aufzug, 3. Szene „Die Thale dampfen, die Höhen glühn“. 7 Vgl. hierzu etwa den Teil „Dichtkunst und Tonkunst im Drama der Zukunft“ in: Wagner 1852 Oper und Drama. 6 Weber,
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aufwirft.“8 Sollten auch unter der großen Anzahl Ideen, welche Wagner über die Kunst ausspricht, manche als minder fruchtbar an schnellen und erfolgreichen Resultaten sich erweisen, so wird der gerecht Urtheilende, wenn er erwägt, daß nur Diejenigen Ideen von bedeutender Tragweite hervorbringen, welche ihrer Viele zu Tage fördern, Wagner Dank dafür wissen, daß er die Nothwendigkeit einer edlen poetischen Grundlage für das Einweben glänzender musikalischer Schönheiten so vollkommen anschaulich gemacht hat. Auch Kind9, der Dichter des Freischütz, welchem dieser Text so trefflich gelang, hatte manche Neuerungsideen über die dramatische Kunst, (besonders in der Vorrede zu seinem van Dyck entwickelt),10 die wenn auch nicht so weitgehend und hochstrebend wie die Wagner’schen, doch manches Verwandtschaftliche, ja gewissermaßen einen Keim derselben in sich enthalten. Es ist nicht unser Vorhaben die auf unsrer Bühne in den letzten Tagen stattgefundene Vorstellung der Euryanthe11 ausführlich zu besprechen. Die Frage über das Wann und Wie solcher Vorstellungen ist ein zu weitläufiger Gegenstand, welchem gegenüber wir uns passiv zu verhalten haben. Im Allgemeinen aber kann man bemerken, daß in diesem Moment kaum in ganz Europa ein Theater zu finden sein dürfte, welches nach einem Kunstprincip geleitet wird, sich durch eine eigentliche innerliche Kunstthätigkeit ernstlich bewährt und demnach als Schule bildend betrachtet werden könnte. Ueberall sehn wir nur vereinzelte Künstler, welche die ephemere Neugier der Menge in Anspruch nehmen, oder zeitweilige Novitäten, die auf eine gewisse Anzahl Vorstellungen die Casse füllen. Wir würden vergebens nach einer Bühne uns umsehen, welche kunstberechtigt den Diapason12 aufrecht erhält und somit als tonangebend zu beachten wäre. Die Ursache dieser Thatsache liegt offenbar darin, daß die Directionen der Bühnen zu oft jene Wilden nachgeahmt haben, von denen Montesquieu sagt, daß sie um die Früchte zu pflücken den Baum niederhauen.13 Im hastigen Trachten fortwährend und immer nur Geld zu machen, gehen die Mittel zu diesem Zweck zuletzt gänzlich verloren. Um alles Korn, welches man besitzt in Geld zu verwandeln, spart man sich selbst das nöthige Saatkorn nicht mehr auf; und vergebens wird man der Ernte harren, wenn man der Erde keinen Samen anvertraut. Betrachten wir für heute nur den Zustand der musikalischen
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Zitat lässt sich nicht in Wagners Schriften finden und ist daher wohl eine sinngemäße Zusammenfassung von dessen Überlegungen bezüglich des Verhältnisses von Drama und Musik in seiner Schrift Oper und Drama. 9 Friedrich Kind (1768 –1843), deutscher Schriftsteller, schrieb das Libretto für Webers Oper nach der gleichnamigen Vorlage im 1. Band der Sammlung Gespensterbuch (ED 1810), herausgegeben von Johann August Apel (1771–1816) und Friedrich August Schulze (1770 –1849). 10 In der Vorrede zur 2. Ausgabe von Van Dyck’s Landleben (ED 1817), überschrieben „Andeutungen über malerische Schauspiele und damit verwandte Gegenstände“, entwickelte Kind 1821 seine Idee einer untrennbaren Einheit der Künste und einer zukünftig anzustrebenden Vereinigung der Künste, da diese „[alle] Töchter einer Mutter, der begeisterten Menschenseele“ seien und „obwohl verschiedentlich ausgestattet […], wollen und können sie sich auch nie gänzlich trennen“ (Kind 1821 Van Dyck’s Landleben, S. 3). 11 Das Werk war kurz zuvor am 19. März 1854 in Weimar unter Liszts Leitung aufgeführt worden. 12 (Griech.) durch alle (Töne), Oktave; (frz.) Einklang, Übereinstimmung, hier im Sinne von Ausgleich. 13 „Quand les sauvages de la Louisiane veulent avoir du fruit, ils coupent l’arbre au pied, & cueillent le fruit.“ Vgl. Charles Louis de Secondat Montesquieu (1689 –1755), De l’esprit des loix (Vom Geist der Gesetze, ED 1748), 5. Buch, 13. Kapitel, S. 92.
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Kunst, ohne indessen auf ein näheres Eingehen in Sachen des recitirenden Drama’s bei einer andern Gelegenheit Verzicht zu leisten; denn wenn dem Schauspiel so oft eine entscheidende Stimme in Angelegenheiten der Oper zuerkannt wird, warum sollten die Musiker nicht ihre Ansichten über das Drama verlauten lassen? In der musikalischen Kunst hat man nicht daran gedacht, das Niveau derselben zu heben und nur gute Musik zu fördern, um dadurch musikalische Bildung zu verbreiten und so allmälig ein fähiges Publikum zu erziehen; welchem Geschmack und richtige Schätzung ein gutes und schönes Repertoir als nachhaltiges Bedürfniß empfinden ließe. Es wäre auf diese Weise das einzig richtige Mittel angewandt worden, die Bühne durch eine beträchtliche Anzahl Abonnenten in Flor zu bringen. Aber nein! Man hat nur danach getrachtet, vereinzelte Vorstellungen gang und gäbe zu machen, welche die Menge anziehen, und vergaß dabei, daß die wogenden Massen, die der Zufall zusammenführt, unfähig sind zu einem ernsten und dauernden Kunstinteresse; daß sie ebenso eigensinnig, willkürlich und unleitsam sich geberden wie Kinder, die eines Spielzeugs überdrüssig es wegwerfen, sobald sie es besitzen. Diejenigen aber, welche dem Publikum gegenüber die Kunst wie ein Spielzeug handhaben, finden sich nach ihrem Verdienst belohnt, wenn ihnen dasselbe mit der Unvernunft, Gleichgültigkeit und Geringschätzung schlecht erzogener Kinder gegen die kostbarsten Gegenstände entgegenkommt. Ein Theater, welches nach einem über die Zufälligkeiten des Augenblicks erhabenen Grundprincip geleitet würde, welches nicht allein auf das Heute, sondern auf eine ferne Zukunft und ehrenvolles Bestehen, und auf ein Gedeihen sein Augenmerk richtete, das sich sicher stützte auf ein solides, normale Zinsen abwerfendes Capital, mit welchem es nicht auf die Wechselfälle frivoler Mode speculirte, wie die umher-[136]ziehenden Truppen wandernder Schauspieler zu thun pflegten, ein solches Theater hätte in unserer Zeit, und wäre es auch nur durch die besondere Ausnahme des Factums, in Folge eines wohlverdienten Rufes die Aussicht, regelmäßigere und beträchtlichere finanzielle Vortheile zu erzielen, als sie im Verhältniß jetzt erreicht werden, wo man zu empirischen Hülfsmitteln seine Zuflucht nimmt, um ein klägliches Dasein von Tag zu Tag weiter zu fristen. Wenn man das Wesen mancher Dinge näher in’s Auge faßt, und ihren Gang beobachtet, so wird man bald finden, daß es Vortheile giebt, die sich eben nur als Consequenzen, als Resultate erringen lassen, und die Denjenigen entgehen, welche ausschließlich und direct darauf aus sind, sie zu erringen. Und so ist es mit den Geldvortheilen in Sachen der Kunst beschaffen. Um sie zu erwerben, muß man sich nicht einzig und zuerst mit ihnen befassen. Ein Kunstinstitut kann der Kunst nicht entrathen. Vergebens hascht man nach Wirkungen, wenn man die Ursachen vernachlässigt. Die Kunst ist das fruchtbringende Samenkorn, welches man säen muß, will man anders eine ergiebige Ernte erzielen. Sehen wir doch zu, wo wir ein Kunstinstitut finden, welches große Vortheile errungen hätte, ohne zuerst einen gerechtfertigten Ruf und dann daraus erwachsenden Gewinn auf wahrhafte Verdienste um die Kunst zu gründen? Aber nur zu oft geschah es, wenn die Kunst Geld gebracht hatte, daß man sie verjagte um das goldene Kalb an ihre Stelle zu setzen; und nur zu oft haben Kunstinstitute von ihren ehemaligen Verdiensten weitergelebt, ohne ein anderes Verdienst den früheren zuzufügen, als das der Charlatanerie oder der Lethargie. Die Erfahrung beweist jedoch, daß solche moralische Auflösungs-
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processe nach dem Verlauf einer gewissen Zeit den materiellen Untergang nothwendig im Gefolge haben. Weimar hatte in verschiedenen Beziehungen ganz besondere Vortheile, wenn es einen Platz unter den deutschen Bühnen einzunehmen strebte, auf welchem es in der künstlerischen Schätzung derselben aufhören würde, zu den Vorletzten gezählt zu werden. Die Umstände, welche diese Vortheile herbeiführen, werden als solche sicherlich nicht in den Augen derjenigen erkannt, welche es als ein Unglück für Weimar erachten, daß Göthe und Schiller da gelebt haben, und die lästige Erbschaft jener großen Periode gerne von sich abschütteln möchten. Nichts destoweniger würde diese Erbschaft gerade Weimar mit allem Fug und Recht und vor aller Welt zu dem Anspruch berechtigen: an seinem Heerd eine Art neutralen und fruchtbaren Gebiets herzustellen, auf welchem die künstlerischen und literarischen Rivalitäten deutscher Stämme sich vermitteln ließen, ein Gebiet, auf welchem deutsche Kunst wachsen und groß werden könnte. Und wenn das Theater mit Ehren die Traditionen früherer Zeiten, welche die Geschichte factisch an den Namen Weimars knüpft (und wie ließe sich ein solches Factum verwischen?) erhalten und fortpflanzen will, so müßte das Repertoir in einer Weise gestaltet werden, daß das Wann und Wie von Vorstellungen wie die der Euryanthe, welche ein besseres Schicksal verdient als zur Ingredienz eines bunt gemengten Salats vernutzt zu werden, in der Kunstwelt gerechtfertigt erschiene. Und nur dann, wenn man es dahin bringt, das Repertoir streng nach künstlerischen Grundsätzen zu bilden, würde es möglich sein, sich Hoffnungen einer in jeder Hinsicht glänzenden Zukunft für eine Bühne zu machen, an die sich mehrfach noch jetzt nachhaltig andächtige Erinnerungen knüpfen. In Weimar trägt der Hof durch einen reichlichen jährlichen Zuschuß zur Erhaltung des Theaters bei, welchen man mit Recht ein großes, ja ein unverhältnißmäßiges Opfer nennen kann, da durch ihn Dreiviertel der Kosten gedeckt werden. Fragt man dieser beträchtlichen Ausgabe gegenüber nach ihrer Verwerthung, nach den entsprechenden Vortheilen, die sie bringt, so überzeugt man sich bald, daß weder die Kunst noch die Oekonomie ihre befriedigende Rechnung dabei finden. Dem Ruhm der Erinnerungen Weimars wird durch keine von den dramatischen Formen hinlänglich Genüge geleistet, und die Bühne ächzt unter der Last dieser Verantwortlichkeit. In diesem für alle Beteiligten unbefriedigenden Stand der Dinge, bei den täglich fühlbarer werdenden Schwierigkeiten dieser Lage, fühlt man sich unwillkürlich angetrieben ein entscheidendes Gegenmittel aufzusuchen. Je näher man aber diese oft besprochene Frage in’s Auge faßt, desto mehr sieht man sich genöthigt, bei den beiden einzigen Auswegen stehen zu bleiben, und es an der Zeit zu finden, von den zwei Punkten, welche sich darbieten, mit Entschiedenheit einen zu wählen. Hoftheater oder Stadttheater. Entweder: die Aufrechterhaltung eines Hoftheaters, welches vom Standpunkt der Kunst, der vergangenen, gegenwärtigen und zukünftigen Ehre Weimars geleitet wird, mit den Bedingungen des Zuwartens, der Pflege, der für jede Ernte unerläßlichen Saat, mit der Aussicht auf Genuß ihrer Vortheile. Oder: die Errichtung eines Stadttheaters, welches den Hof von einem Opfer befreien würde, das sich als unverhältnißmäßig erweist, indem es ihm nicht zufriedenstellende Interessen bringt. Alle Versuche, die nicht auf einem von diesen beiden Wegen gemacht werden, können nur in einem trost- und rathlosen Umherschwanken inner-[137]halb jenes Systems von empirischen und Palliativmitteln, in jenem
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ärmlichen Fristen des Daseins von Tag zu Tag bestehen, und können die Bühne nur in Gefahr bringen, schlimmer als zu einem Stadttheater: zu einem kleinstädtischen Theater herabzusinken. Die gewöhnliche Methode der Stadttheaterdirectoren ist bekannt. Der Director eines Stadttheaters in Weimar würde nichts anderes thun können, als die Directoren von Städten wie Freiburg, Posen, Chemnitz, Stettin u. a.; er würde ein Steeplechase14 über die Dornhecken aller möglichen Repertoires anstellen, auf sein einziges Ziel zu: den Gewinn. Die Kunst wird dabei nicht in Betracht kommen; das Theater wird ein Gegenstand der Speculation, der Verpachtung. Würde ein Stadttheater in Weimar bestehen können? Vielleicht nicht. Wir beeilen uns aber hinzuzufügen, daß es für die Würde und Ehre der Kunst entschieden vortheilhafter wäre, das Beispiel Oldenburgs nachzuahmen und eine Bühne gänzlich zu schließen,15 welche weder dem entspräche, was man mit Recht von einem Hoftheater verlangt, noch dem gleich käme, was der Director eines größeren Stadttheaters leistet. Wir glauben, daß man in dieser Not zu verfahren größere Achtung für die Traditionen erkennen würde, welche sich an die hiesige Bühne knüpfen, als durch ein stumpfes Fortvegetiren in einem Zustande, dessen Mängel durch eben diese Erinnerungen und die daraus entstehenden Ansprüche nur noch fühlbarer werden. Es wird Niemand beikommen, von einem Hoftheater in Weimar den scenischen Prunk der großen europäischen Bühnen zu fordern. Niemand wird in einem solchen die feenhaften Balletcorps oder ein verdreifachtes Orchester suchen, wie es Meyerbeer neuerdings in seinem „Etoile du nord“16 angewandt hat; noch wird Jemand alle [sic] den Aufwand von Scenerie und Maschinerie verlangen, wie sie dem Publikum in Paris, Berlin oder Wien geboten werden. Man fordert von Weimar nur Kunst, mehr Kunst und eine von falschem Schein freiere Kunst, als sie in Paris, Berlin oder Wien zu finden ist. Um eine solche Kunst auf unserer Bühne einheimisch festzustellen, müßten folgende drei wesentliche Hauptpunkte energisch aufrecht erhalten werden. 1) Eine intelligentere und wahrhaftere Pietät für die Meisterwerke früherer Zeiten, als die gebräuchliche. In Folge dieser: Hervorsuchen aller Varianten, neuer und besserer Uebersetzungen, seltener Versionen, feiner und geschickter Verbesserungen; – Aufführung von Meisterwerken, welche durch unverdientes Mißgeschick der Vergessenheit preisgegeben sind. Kein planloses Durcheinander der Aufführungen von berühmten Opern früherer Meister, nicht jene Nachlässigkeit in solchen Reproductionen, mit der man sich etwa eine lästige Pflicht vom Halse zu schaffen sucht, durch welches Verfahren das Andenken bedeutender Meister eher verunglimpft als gepflegt wird. Das Eine solcher
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Wettrennen mit Hindernissen. 15 Das 1834 auf Anregung des Oldenburger Großherzogs August I. (Regentschaft 1829 –1853) gegründete Hoftheater sah sich trotz Produktionen von hoher Qualität dem mangelnden Interesse der Oldenburger Bevölkerung ausgesetzt, weswegen viele Kräfte alsbald abwanderten und das Haus 1854 nach dem Tod August I. geschlossen werden musste. 16 Giacomo Meyerbeer, L’Étoile du nord (Der Nordstern, UA 1854). In dieser Opéra comique treten im Finale des 2. Aktes zwei auf der Bühne spielende Orchester hinzu.
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Werke muß durch das andere zur Geltung gebracht werden und zwar in einer Reihenfolge, welche das Publikum zu einem innigeren Verständniß, zu einer Einsicht in den Standpunkt des Kunstideals, welches jenen Componisten vorschwebte, erzieht. Hauptsächlich aber keine solchen Reproductionen ohne die hinreichenden Kräfte, ohne durchaus befriedigende Besetzung der Partien, kurz ohne die Möglichkeit, sie mit Ehren zu Stande zu bringen, ohne des spöttischen Lächelns Derer gewärtig sein zu müssen, welche dergleichen Werke anderswo befriedigend aufführen gesehen haben. 2) Thätige, beständige und gewissenhafte Pflege des Studiums von Werken, welche die Gunst der Gegenwart genießen. Planvolles, unparteiisches Alterniren mit den besten Werken italienischer, französischer und deutscher Meister, ohne Vorurtheil gegen ein oder das andere Genre, ohne Ausnahme einer oder der anderen Schule. Eifriges Bestreben, solche Aufführungen, indem man den angestrengtesten Fleiß auf das Einstudiren verwendet, durch entschiedeneres Hervortreten künstlerischer Schönheiten zu charakterisiren, – ihnen ein edleres Gepräge zu geben, als man an solchen Theatern Sorge trägt, wo man derartige Werke nur montirt, weil sie gerade Mode sind, weil sie Einnahme machen und sich nur zu leicht mit einem wohlbestellten Theaterzettel begnügt. Rüstiges Angreifen eines neuen Werkes, sobald es erschienen ist, um es nicht etwa als alte Neuigkeit aufzutischen, wenn es allenthalben seine Carrière schon geendet hat. Ein derartiges Procédé Ganal17 Mumien auszustaffiren kann nur daß [sic] Resultat herbeiführen, die Bühne, welche sich damit befaßt nach Außen zu discreditiren. 3) Ausgedehnte, unbeengte Gastfreundschaft gegen unedirte Werke, welchen man eine Zukunft zutraut, welche sich durch bemerkenswerthe Eigenschaften auszeichnen, wären diese selbst nur theilweise vorhanden, sei der Autor berühmt oder noch unbekannt, sei er aus Süd- oder Nord-, Ost- oder WestDeutschland, gehöre er unserer oder der anderen Hemisphäre an. Also Aufrechterhaltung der Initiative neuen Werken gegenüber. Sympathische verständnißwillige Aufnahme junger Talente, und somit kräftige Ermunterung für dieselben, ihre Werke unter günstigen Auspicien18 zur Aufführung zu bringen. Nächstdem nicht nur flüchtige persönliche Bekanntschaft, sondern vertrauter Umgang mit allen bedeutenden dramatischen Talenten; ehrenvolles Geltendmachen derselben auf unserer Bühne. Strenges Verpönen und Verban-[138]nen aller bloß auf Schaulust berechneten Erscheinungen, vor denen die Kunst erröthen muß. Beharrliches, grundsätzliches Ausschließen aller vulgären Productionen, durch welche selbst wirklich begabte Künstler nicht verschmähen, Applause zu erpressen, und Vorteile zu verfolgen, die unter ihrer Würde sind.
17 Der
französische Chemiker Jean-Nicolas Gannal (1791–1852) hatte ein Verfahren zur Konservierung und Mumifizierung von Leichen entwickelt. 18 (Lat.) auspicium (Vogelschau), bezeichnet ursprünglich den römischen Brauch der sogenannten Auguren, aus verschiedenen Vorzeichen den göttlichen Willen zu deuten. Hier gemeint: Leitung bzw. Verantwortung.
Liszt 1854 Weber’s Euryanthe
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Durch eine gewissenhafte und strenge Beobachtung obiger drei Punkte würde der Kunst in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft Gerechtigkeit und Genüge geschehen. Wir wissen nur zu gut, daß die sogenannten praktischen Leute vorgeben werden, die Theatercasse würde unter solchen Verhältnissen oft im Nachtheil bleiben, und daß man nur dann Geld macht, wenn man nichts Anderes denkt und träumt als Geld. Ohne uns in einen Streit darüber einzulassen ob die wahre Kunst wirklich auf deutschem Boden, im Herzen Deutschlands keine Sympathien mehr finden würde – in demselben Weimar, von welchem einst, wie aus einem Brennpunkt die Strahlen ausgingen, welchen Deutschland den Glanz seiner geistigen Cultur verdankt – antworten wir ihnen ganz einfach: daß man dann immerhin ein Stadttheater errichten möge, welches verpflichtet ist eine Anzahl unterhaltende Vorstellungen wie Mundvorräthe zu liefern. Damit ist Alles gesagt. Die Kunst hat dann nichts mehr einzuwenden und keine leeren Erinnerungen heraufzubeschwören.
Kommentar Innerhalb des vorliegenden Artikels – Liszts erstem Beitrag für die NZfM – tritt der Komponist mit Gedanken und Forderungen an die Öffentlichkeit, welche er zuvor bereits allgemeiner in seinem Pariser Aufsatz von 1835 über die Stellung der Künstler19 sowie, bezogen auf Weimar, in einem Brief vom 14. Januar 1852 an die Großherzogin Maria Pawlowna20 formuliert hatte. Wie auch aus einem Brief vom 18. März 1854 an Brendel hervorgeht, diente die einen Tag später stattgefundene Weimarer Inszenierung von Carl Maria von Webers Oper Euryanthe dabei tatsächlich vorrangig als „Veranlassung“, eine regelrechte ‚Agenda‘ für das großherzogliche Theater in der Ilm-Residenz zu entwerfen, wozu Liszt sich nach eigener Aussage „einigermassen verpflichtet“21 gefühlt habe. Wie schon in der 1851 erschienenen Schrift De la Fondation-Goethe à Weimar 22 wird hier erneut die Strategie des Weimarer Hofkapellmeisters deutlich, durch die Erinnerung an das mit dem Tode Goethes 1832 zu Ende gegangene „Goldene Zeitalter“, das Großherzogtum Weimar auf seine daraus resultierende ideelle Verpflichtung aufmerksam zu machen, um so die finanzielle Beteiligung des Hofes am Opernbetrieb auch zukünftig zu sichern bzw. noch auszuweiten. Neben der Tatsache, dass der Aufsatz ein Geschichtsbild für die Oper entwirft, welches demjenigen Wagners folgt, ist im Zusammenhang der vorliegenden Edition vor allem bemerkenswert, dass an dieser Stelle erstmals die Rede von einer Weimarer Opernschule ist,
Liszt 1835 De la situation des artistes, in: Liszt-Schriften 1. 20 Siehe Liszt-Briefe (Carl Alexander), S. 34. 21 Siehe Liszt-Briefe 1, S. 152. 22 Siehe Liszt-Schriften 3. 19 Siehe
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welche junge Talente durch die Aufführung ihrer Werke fördern soll, um die Stadt so zukünftig zum Zentrum einer neuen Opernära in Deutschland werden zu lassen. Damit positionierte sich Liszt zugleich innerhalb einer seit Jahren währenden Auseinandersetzung in deutschen Musikzeitschriften um mögliche Reformen der Opernspielpläne. Dabei lehnte Liszt jedoch eine etwa von Robert Wolfgang Griepenkerl, Franz Brendel sowie auch anderen Autoren seit Jahren wiederholt geforderte23 Konzentration auf deutsche „Nationalopern“ oder Opern mit aktuellem Zeitbezug dezidiert ab und forderte stattdessen eine ausschließlich an der Qualität der Werke ausgerichtete und somit eine tendenziell internationale Spielplanpolitik. Dass diese ambitionierten Reformbemühungen bereits Jahre zuvor überregionale Beachtung erfahren hatten, belegen mehrere Berichte in Musikzeitschriften, die sich ausnahmslos lobend über Liszts Programmgestaltung und die künstlerische Qualität der Weimarer Aufführungen äußern. Neben diesbezüglichen Artikeln in der Süddeutschen Musik-Zeitung24 und der Berliner Musik-Zeitung Echo25 verdienen insbesondere diejenigen der konservativen Rheinischen Musik-Zeitung26 Beachtung, welche in den folgenden Jahren Liszts eigenen Kompositionen überwiegend ablehnend gegenüberstehen sollte. Insbesondere für den Herausgeber der NZfM war die Mitarbeit eines so renommierten und auch populären Künstlers wie Liszt von großer Bedeutung, da Brendel als nichtprofessioneller Musiker sich bezüglich der eigenen, theoretischen Reformbemühungen immer wieder mit dem Vorwurf des Dilettantismus konfrontiert sah.27
23 Siehe Griepenkerl 1847 Die Oper der Gegenwart; Brendel 1846 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper III. Zukunft, in: NdS 1 Nr. 4; Banck 1847 Die deutsche Bühne; Anonym 1849 Das Nationaltheater des neuen Deutschlands. 24 Anonym 1852 Unser heutiges Bühnenwesen. 25 Anonym 1852 Weimar. 26 Anonym 1852b Aus Weimar. 27 Siehe dazu Riccius 1851 Musikalischer Dilettantismus, in: NdS 1 Nr. 26.
Nr. 66 | DIXI [Eduard Krüger], „Heutige Kunstzustände“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 2 (1854), Nr. 16 (22. April), S. 121–123.
Heutige Kunstzustände.
Wir gedenken lebender Schönheit auch heute noch, obwohl uns Waffengetöse1 umschwirrt und bedroht; denn es ist deutsche Art, in dem wildesten Tosen des äusseren Lebens der ersten Liebe nicht zu vergessen; und deutschen Helden war es von Alters her nicht fremd, Leier und Schwert mitsammen zu hegen, wie ja lange vor Th. Körner2 thaten die unnahbaren Helden Volker, der starke videlaere3 bei den Nibelungen, und Horand4, der Hörend-Gehörte im meergewaltigen Gudrunlied. Freilich sind so vereinte Heldenthümer in mehreren Gebieten mehr sagenhaft als wirklich; denn Geist- und Weltsinn ist selten in Einem Hirn und Herzen, dessgleichen Wissenschaft und Kunst, Sitte und Schönheit, Kritik und Schöpferkraft. Ihre Höhepunkte in Einem Menschen vereint haben wir in den letzten Jahrhunderten, wo alle Arbeit tausendfach getheilt ist, nirgend gesehen. Gleicher Maassen steht es mit den Zeitund Menschenaltern; das eine ist überwiegend schöpferisch gestaltend, ein anderes kritisch zerspaltend, jenes spendend, dieses sammelnd – und seit der grosse Spalt in die abendländische Christenheit gefahren, steht diese Trennung entschiedener da, unweigerlicher als jemals. Näher angesehen, war es wohl auch zu Homer’s und Plato’s Zeiten eben so, dass die wahre Genialität, sei es dichtende oder denkende, nur in Einem bestehen konnte, eben weil aller Genius einseitig leidenschaftliches Naturwollen ist. Diese altbekannte Wahrheit ist zuweilen unbequem, darum wird sie geläugnet. Obwohl wir eingestandener und bewiesener Maassen heute in einer kritischen, nicht künstlerischen Sternenstunde uns befinden, so wirkt doch das Künstler-Völkchen unablässig in Arbeit neuer Gestaltung. Ob diese aber wirklich neu sei, das ist nun eben die kritische Frage. Ein wahrer Dichter – hätten wir ihn, wir würden ihn schon erkennen! – Der wahre Dichter ist doch wohl ein solcher, der den alten, ewigen
1 Anspielung
auf den Krimkrieg (1853 –1856), in den insbesondere Russland, Frankreich, Großbritannien und das Osmanische Reich verwickelt waren. 2 Gemeint ist Theodor Körners (1791– 1813) patriotische, vor allem gegen Fremdherrschaft wie auch beispielsweise gegen Napoleon gerichtete, seinerzeit berühmte Gedichtsammlung „Leyer und Schwert“ (ED 1814) und die Verbindung von Lyrik (Gesang) mit dem Kriegsgeschehen wie das Besingen von Heldentaten patriotischer Art. 3 Volker von Alzey, Heldenfigur des Nibelungenliedes und Spielmann (mhd.: videlaere) am Hof Gunters zu Worms. Hier als Beispiel für die Verbindung von „Leier und Schwert“, Sänger und Held. 4 Horand ist in der Nibelungen- und Gudrunsage Herr über Dänemark und Sangesmeister. Er gewinnt durch seinen Gesang für seinen Herren, König Hetel von Hegelingen, das Herz von Hilde von Irland, der Tochter Hagens von Irland.
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Inhalt erneuert, das Herz in neue Schwebung setzt, und dieses thut ohne Absicht, wie er auch ohne Absicht ergreift und ergriffen wird; denn wahre Dichtung ist gleich einer Naturgewalt, die in geheimnissvollen Schlägen wirkt, unbewusst und unwiderstehlich. Solche Dichter haben wir heute nicht, was auch die zeitsinnige Kritik sage. Gutzkow5, Geibel6 und Hebbel7, Schumann, Berlioz und Wagner, Hübner 8, Lessing9 und Kaulbach – was haben die dreimal drei denn Lebenskräftiges, Dauerndes, Ewigschönes gebracht, was in dem einfältigen Volke wurzelte ohne zeitgemässe Lehrmeister-Vorbereitung? Keine Spur ihres Lebens ist im Volksleben abgedruckt, und ehe ein Strahl wie aus Schiller’s, Mozart’s, Raphael’s und Dürer’s Werken in die Volksseele fällt, hat’s Zeit – weil jetzt eben die Zeit zu allem Anderen Zeit hat, nur nicht zur schöpferischen Schönheit. Damit ist nicht geläugnet, dass selbst in dürren Tagen ein Reis aufspriesse voll Hoffnung. Wie in der Zeit des dunkelsten Rationalismus einzelne Strahlen helleren Lichtes von den Bergen her leuchteten – Bengel10 und Oetinger11 lebten um 1770! –, so mag es auch unserer Zeit gegeben sein, dass neben dem tollen Chor der Sänger „auf der Zinne“12 sich einzelne verborgene finden, die das Feuer der Geweihten übertragen in kommende Zeitalter, zu neuer Empfängniss vorbereitend. Dieser Art mögen Hiller, G. Schmidt13, Löwe, Fr. Schubert, gleichwie Fouqué14 und Arnim15 geachtet werden als Hüter des verborgenen Lebens, denen die treue Hut nicht vergessen sein wird, wenn der Tag kommt, dass die Aernte der Zeit geschieht. Nun aber treten die Gleissner16 der Schul-Phraseologie entgegen, die sich das Wort darauf gegeben, dass niemand ein Dichter sei, den ihre Phrase nicht gestempelt, und die sich alle mitsammen verschworen, nichts durchschlüpfen zu lassen, was nicht in der Lobräucherungs-Central-Commission geaicht [sic] ist. Zwar wehren sie sich mit Hand und Fuss gegen den Verdacht der Coterie17, und finden es eine gar unwürdige Verdächtigung, wenn ihnen das Camaradenwesen [sic] öffent
5 Karl
Gutzkow (1811–1878), deutscher Schriftsteller, Dramatiker und Journalist. 6 Emanuel Geibel (1815 –1884), deutscher Lyriker. 7 Friedrich Hebbel (1813 –1863), deutscher Dramatiker und Lyriker. 8 Alexander von Hübner (1811–1892), österreichischer Diplomat und Schriftsteller. 9 Karl Friedrich Lessing (1808 –1880), deutscher Maler, war neben den Nazarenern Peter von Cornelius und Friedrich Wilhelm von Schadow Mitbegründer der Düsseldorfer Malerschule, die unter dem Einfluss des Vormärzes auch realistische und gesellschaftskritische Kunstauffassungen mit aufnahm. 10 Johann Albrecht Bengel (1687 –1752), deutscher Theologe und ein Hauptvertreter des deutschen Pietismus. 11 Friedrich Christoph Oetinger (1702 –1782), deutscher Theologe, geistlicher Schriftsteller und führender Vertreter des württembergischen Pietismus. 12 Gemeint ist hier ein Gesang des Soldatenchors aus Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, „Vor dem Thor“. Die erste Strophe lautet: „Burgen mit hohen / Mauern und Zinnen, / Mädchen mit stolzen / Höhnenden Sinnen / Möcht’ ich gewinnen! / Kühn ist das Mühen, / Herrlich der Lohn!“ (V. 884 – 890). 13 Gustav Friedrich Schmidt (1816 –1882), deutscher Theaterkapellmeister und Komponist, Schüler von Felix Mendelssohn Bartholdy. 14 Friedrich de la Motte Fouqué (1777 –1843), deutscher Dichter, war vor allem für seine zahlreichen Ritter- und Mittelalterromane bekannt. 15 Achim von Arnim (1781–1831), deutscher Schriftsteller und Dichter. 16 Heuchler. 17 Klüngel des zeitgenössischen Cliquenwesens und der Parteiungen (zum weitern Verständnis des Begriffs siehe Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67).
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lich nachgewiesen wird.18 Aber all ihr gegenstimmiges Gezische wird die Wahrheit nicht entkräften, dass sie insgesammt Front machen gegen die Andersmei-[122]nende; und der sicherste Beweis für eine Partei ist doch wohl der Zorn der Gegenpartei. – Vor vier Jahren ward abseiten der Reaction einmal der ernste Spass versucht, einen Preis auszusetzen von 100 Louisd’or, wenn Jemand einen Social-Demokraten nachwiese, der überall, bei Freund und Feind, Achtung erworben hätte gleich Ernst August von Hannover19, der bekanntlich kein Social-Demokrat war. Die Socialisten schimpften „Verdächtigung!“ aber Niemand meldete sich, jenen Preis in Empfang zu nehmen. In gleicher Weise fordere ich hiedurch öffentlich mit gleicher PreisAuslobung die Brendel’sche Neue Musicalische Zeitschrift auf, mir einen Musiker der Zukunft nachzuweisen, der überall, bei Freund und Feind, Achtung erworben gleich Seb. Bach oder Beethoven. Dass Richard Wagner bis jetzt nur gilt, wo er auf den Schild der Partei erhoben, das bezeugt mindestens die N. M. Z. dadurch, dass sie auf alle Nicht-Anerkennenden den Bann der Geistlosigkeit schleudert. Aehnlich thaten vor Zeiten die Alexandriner, die Byzantiner, die fruchtbringenden Gesellschaften des siebenzehnten Jahrhunderts20, und zum Schluss der närrischste unter allen Kunstweisen, Mattheson – den freilich Riehl einen Fürsten der Aesthetik nennt.21 Alle diese Parteien und Parteimänner haben trotz alles Polterns und Coterirens doch keinen Dichter zuwege gebracht, der Gegenwart und Zukunft beherrscht, gewusst und in sich getragen hätte, weil sie eben insgesammt, wie Sanct Brendel und Wagner, die Vergangenheit verachteten.
Vorwurf der „Coterie“ findet sich beispielsweise in Anonym 1852 Das Musikfest zu Ballenstedt, in: NdS 1 Nr. 34; Lobe 1852 Musicalische Coterien und Parteien; H. 1853 Das karlsruher Musikfest, in: NdS 1 Nr. 50; Anonym 1854 Neueste musikalische Literatur, in: NdS 1 Nr. 58; Anonym 1854 Richard Wagner, in: NdS 1 Nr. 63. Eine direkte Gegenwehr gegen diese Anschuldigungen ist ausgesprochen z. B. bei Brendel 1853 Die bisherige Sonderkunst, in: NdS 1 Nr. 42; Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik, in: NdS 1 Nr. 62. 19 Ernst August I. (1771–1851), ab 1837 König von Hannover. Die Pointe dabei ist, dass Ernst August I. als äußert reaktionär galt und alle Freiheitsbestrebungen im Vormärz radikal zu unterdrücken suchte. 20 Hier sind die Sprachgesellschaften gemeint; nach dem Vorbild der 1583 in Florenz gegründeten Accademia della Crusca wurde die erste deutsche 1617 in Weimar unter dem Namen „Fruchtbringende Gesellschaft“ gegründet und verfolgte das Ziel der Erhaltung und Pflege der deutschen Sprache. 21 Krüger hatte zwei Wochen zuvor geäußert (siehe Krüger 1854 Ueber Musik-Literatur, S. 97), dass dieses Zitat einem Aufsatz des deutschen Journalisten und Kulturhistorikers Wilhelm Heinrich Riehl (1823 –1897) von 1852 entstamme: „Sollen wir uns aber vollends gar nach Autoritäten zurücksehnen, wie Riehl in dem gedachten Aufsatze z. B. in Mattheson aufstellt, was freilich seinen Beruf für dergleichen Erörterungen geradezu fraglich macht? ‚Mattheson, der Aesthetiker, der Fürst aller musicalischen Schriftsteller!‘ heisst es da. Das ist mehr, als einer verdauen kann, der den Mattheson kennt“ (ebd., S. 98). Dieser Ausspruch lässt sich in der angegebenen Quelle nach Riehl (Augsburger Allgemeine Zeitung 55, 1852) nicht nachweisen. Inhaltlich ähnlich und mit Bezug auf Johann Mattheson ist jedoch Riehls Musikalischen Charakterköpfen zu entnehmen: „Den einen Tag schrieben sie zopfig pedantisch, den andern frivol musikantisch; allein an allen Tagen waren sie doch wenigstens Autoritäten gewesen: sie fixirten die Theorie einer neuen, einer modernen Musik. So ist in Matthesons ‚vollkommenem Kapellmeister‘ der Grundbau einer Aesthetik der Tonkunst gegeben, auf dessen Hauptpfeilern unsere Kunstphilosophen bis in die neueste Zeit weitergebaut haben“ (Riehl 1853 Musikalische Charakterköpfe, S. 71). 18 Der
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Richard Wagner ist ein Complex von Schumann und Meyerbeer, jedoch ohne den Tiefsinn jenes, den Leichtsinn dieses Meisters, denen er eben nur die Aeusserlichkeiten abgeguckt hat, um in Steigerung aller bisherigen Kunstmittel ein ödes Erstaunen zuwege zu bringen.22 – Man kann zugeben, dass die Grund-Idee der Zukunfts-Musiker nicht eben grundfalsch ist, nämlich die, dass dem Unsinn der modernen Oper entgegen zu wirken sei, dass die Mozart-Rossini’sche Periode an dramatischer Bedeutung weit hinter der Gluck’schen stehe, dass endlich die gesunde Oper gesunden Text, vernünftige Dichtung enthalten müsse, um wahren, ewigen Kunstwerth zu besitzen.23 Daraus aber folgt keineswegs, dass nun alle Mozart’schen Opern in ihrer lyrischen Plastik verwerflich seien; noch weniger, dass alle Dramatik nun eben in diese poetisch-recitativisch-opernhafte Kunstform müsse ergossen werden; am allerwenigsten aber folgt daraus, dass Richard Wagner auch nur einen Theil von dem wirklich ausgeführt habe, was seine so genannt theoretischen Schriften jahrelang pomphaft verkünden.24 Wenn wir also zugestehen, dass die Mozart-wienerische, die Rossini-italische, die Auber-parisische Schule den höchsten absoluten Kunstwerth noch nicht erreicht haben, so ist damit keineswegs gesagt, dass wir durch Entbehrung ihrer Vorzüge, d. h. durch [b]losse Verneinung aller Einzelschönheit, nun sogleich das wahre Kunstwerk erschaffen könnten. Dass aber dieses dennoch der Glaube der Zukunfts-Schwärmer ist, erkennen wir an ihrer vollkommen negativen Thätigkeit; denn bisher haben sie sich nur verneinend verhalten. Es fehlt ihnen die gemüthlich tiefe Formenschönheit der Mozart’schen, die sinnlich kräftige der Rossini’schen, die geistreich spielende Art
22 Bemerkenswert
ist Krügers Rückführung von Wagners Opern gerade auf die Werke Giacomo Meyerbeers. In einem vier Jahre zuvor verfassten Artikel über Le Prophète (UA 1849) befindet Krüger Meyerbeers Musik als „kaltes Declamationsgeflitter, ohne Kraft und Saft, ohne Melodie und Schönheit durch und durch nichtswürdig“ und äußert zuvor: „Keine Melodie prägte sich ein, keine ist im Volksmunde wiederholt […]. Als wir vor 6 – 7 Jahren über die Hugenotten ein scharfes Urtheil fällten, da schien es vielen Zeitgesinnten ein schiefes, krankhaftes und sie meinten, das wäre schwarzsinnige Verneinungslust; jetzt ist dasselbe Urtheil schon ziemlich gäng und gäbe, und man läßt sich nicht mehr irren durch Feuilletons, Judenclaque und Kritikasmen“ (Krüger 1850 Prophetisch und Unprophetisch, beide Zitate S. 254). Abgesehen von seinen antisemitischen Äußerungen formuliert Krüger seine Kritikpunkte gegen Meyerbeer, in denen er gerade dessen Ähnlichkeit zu Wagner sieht, den Worten Brendels vergleichbar nahe, der sich zwar aus der intensiven Meyerbeer-Debatte um die angebliche Unsittlichkeit des Prophète weitestgehend heraushielt, seine Ablehnung aber in seiner Musikgeschichte (Brendel 1852 Geschichte der Musik) kundtat und in diesen Argumenten gegen Meyerbeer, konträr zu Krüger, gerade die Abgrenzung zu Wagners Opern und seiner Theorie festmachte. 23 Siehe hierzu Brendel 1846 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper III. Zukunft, in: NdS 1 Nr. 4. Die in dem Artikel enthaltene Auffassung findet sich ebenso in Brendels populärer Musikgeschichte, wodurch sie weitere Verbreitung fand. 24 Folgende kunsttheoretische Schriften Wagners waren bis zu diesem Zeitpunkt erschienen: Die Revolution (1849), Der Mensch und die bestehende Gesellschaft (1849), Die Kunst und die Revolution (1849), Das Kunstwerk der Zukunft (1850), Kunst und Klima (1850), Das Judenthum in der Musik (1850), Oper und Drama (1852), Eine Mitteilung an meine Freunde (1852). Zur Problematik und Diskussion, Schriften und Kompositionen Wagners zueinander in Beziehung zu setzen, vgl. Schaeffer 1852 Über Richard Wagner’s Lohengrin; Uhlig 1852 Ein kleiner Protest; Lobe 1853 Ein Vertheidiger Richard Wagner’s.
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der parisischen Weise. Was haben sie (R. Wagner, Brahms, Schäffer etc.) dafür gegeben, wo ist ihre Bejahung? Die tiefste Melodieen-Armuth, überhaupt schon ein Zeugniss unserer Zeit, ist in der Zukunfts-Coterie fast schon ein Lob geworden; mindestens sind die speculativen Phrasen von „äusserlicher sinnlicher Formschönheit“, die „zu den überwundenen Standpunkten“25 gehöre, oft genug vom leipziger Comptoir26 aus verkündet worden, um verstanden zu werden. Wenn aber Brendel und die Seinen klagen und gross Lamento erheben über häufige „Missverständnisse“, so fragen wir dagegen, warum denn eben diesen Leipzigern alle Tage passirt, missverstanden zu werden27 – worüber doch niemals Herder, Göthe und Schiller geklagt haben! Und es gibt heut eben so wohl Leute, die Deutsch verstehen, wie damals. Ist R. Wagner’s Dichtung etwas werth, so wird sie auch allein, ohne Musik, wirken; aus der Addition mehrerer Sonderkünste28 wird doch durch keine RechenExempel eine Allkunst. Ist R. Wagner’s Musik in sich lebendig schön, so muss sie verständlich sein auch ohne Textbuch und Bühnengrund, wie das z. B. bei der
25 In
den späten 1840er Jahren auftauchende Redewendung, die besonders in den Artikeln Brendels von Bedeutung war (siehe Brendel 1845 Zur Einleitung, in: NdS 1 Nr. 1 sowie Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14) und sich zunehmend etablierte (siehe beispielsweise Schucht 1848a Der überwundene Standpunkt, in: NdS 1 Nr. 13). So Brendel: „Was diese Blätter [NZfM] betrifft, so sprechen wir in unseren Recensionen häufig von den Forderungen der Neuzeit, von dem neuen Inhalt, der jetzt in die Welt eintritt, wir bezeichnen die früheren Stufen als überwundene Standpunkte“. „Die Mißverständnisse, welche uns entgegentreten, beruhen zumeist auf der nicht ausreichend erkannten oder mißverstandenen Bedeutung des Ausdrucks: ‚überwundener Standpunkt‘. Man versteht darunter etwas für Ungültig-Erklärtes, Beseitigtes, Veraltetes, während der Sinn einfach der ist, daß ein solcher Standpunkt nicht mehr der herrschende, in dem die Gegenwart ihren höchsten Ausdruck findet, genannt werden kann. Seine Berechtigung, seine ewige Geltung als Stufe der Entwicklung oder als einstiger Höhepunkt derselben wird ihm damit nicht entzogen. Wenn daher gesagt wird, der Standpunkt Bach’s, Mozart’s sei ein überwundener, so wird dieser dadurch nicht zur Bedeutungslosigkeit herabgesetzt. Es heißt allein, daß der Inhalt jener Werke nicht mehr das Wesen des gegenwärtigen Bewußtseins bildet, daß wir als Menschen dieser Zeit nicht mehr unseren innersten Mittelpunkt, das, was uns gerade von den Vorfahren unterscheidet, darin ausgesprochen finden“ (Brendel 1848 Fragen der Zeit III, S. 101 und S. 103, in: NdS 1 Nr. 14, S. 169 und S. 171). 26 Gemeint ist die NZfM, die in Leipzig erschien. 27 Krüger nimmt in den meisten seiner Artikel Anstoß an der von Brendel immer wieder geäußerten Anschuldigung, die Ursache der Ungunst gegenüber der modernen und fortschrittlichen Musik läge allein darin, dass diese Kunst noch immer missverstanden werde (siehe beispielsweise Brendel 1848 Fragen der Zeit III, NdS 1 Nr. 14). So betont Krüger 1855 die häufige „Wiederholung des denkwürdigen Satzes in Brendel’s neulich beurtheilten Büchlein [Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart]: ‚weil nur der zum Tadel ein Recht besitzt, der zuvor durch Anerkennung des Positiven den Beweis geliefert, dass er zu innigerem Verständnisse gelangt ist‘; Das heisst: Lobst du mich, so ist’s gut; verwirfst du mich, so bist du unzurechnungsfähig“ (Krüger 1855 Liszt „An die Künstler“, S. 410, in: NdS 2 Nr. 84, S. 1035). Siehe ebenfalls Anonym 1854 Richard Wagner, S. 60, in: NdS 1 Nr. 63, S. 676; Krüger 1855 Sonderliche Gedanken, S. 105, in: NdS 2 Nr. 74, S. 848. 28 Den Begriff der „Sonderkunst“ als Synonym für „absolute Musik“ hatte Wagner zuvor schon in „Das Judenthum in der Musik“ verwendet (Wagner 1850 Das Judenthum, S. 105 und S. 111) und bezeichnet die Kunst, die sich nicht mit den anderen Künsten verbindet.
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Tannhäuser-Ouverture allerdings der Fall ist. Die so genannte Allkunst oder Gesammtkunst ist eine Chimäre, ein krankes Product kranker Speculation; diesen Ausdruck nehmen wir nicht zurück, ehe uns bewiesen wird, dass bei einem unbefangenen Publicum, d. h. einem solchen, das weder durch journalistische Verdummungs-Institute, noch durch Abgesandte der Partei zugeritten und nicht durch Bühnenpracht geblendet ist und keine musicalischen Zeitungen lies’t – dass solchem einfältigen Volke von selbst, ohne höhere Instruction, der Tannhäuser oder Lohengrin wahres, bleibendes Wohlgefallen erweckt habe. Zu allem dem kommt die Vorneigung R. Wagner’s und der Seinen zu allem Ungeheuerlichen, Schneidenden, Blutigen, Grässlichen, Kolossalen – in Inhalt und Form, [123] in der dramatischen, wie in der musicalischen Behandlung. Die so genannte alte Schule hielt an dem Satze fest, dass alles Scheussliche und SinnlichWidrige dem Kunstleben fern sei, nicht aus Weichlichkeit, sondern aus der wohlerwogenen Kunsterfahrung aller Zeiten, dass das pure sinnliche Mitleid, die thierische Mitleidenschaft keinen Keim der Verewigung in sich trage, so wenig als die Kotzebue’sche Thränendrüsen-Literatur29. Wie sehr auch die hochmüthigen Speculanten der Zukunft den Kotzebue verachten, sie stehen doch mitten in ihm, in all seinem spiessbürgerlichen Illusions-Getreibe, in all seiner platten Wirklichkeit des Schrecklichen und Schmutzigen. Und wie sehr sie die Tendenz-Philosophen30 zu verachten vorgeben, sie stehen wiederum mitten in dem allerprosaisch-schulmeisterlichsten Tendenzwesen, wenn sie an ihren Künstlern preisen – nicht was sie leisten, sondern was sie streben31. Und was ist’s denn, dieses Leisten u[n]d Streben der „Neuzeit“?I Freiligrath rede statt meiner: „Die Kugel mitten in der Brust, die Stirne breit gespalten“32 etc. Das ist’s! Widrige Bilder von Schmerz, zwischen Mitleid und Ekel jämmerlich hangend – aber kein edler Schmerz, kein θειόν πάθος, nicht Götterleid, Götterzorn, Götterliebe, sondern thierisch Mitleid, Wuth und Brunst. Sprach der alte Horatius, der Urzopf unserer Schulweisheit (A. poet. 183)33:
I Ein
demokratisches Lieblingswort, wie „Jetztzeit“ – welche beide in Klang und Sinn zeigen, wie weit diese Coterieensprache von Schönheit entfernt ist – wenn’s nur tendenzisch riecht!! –
29 August
von Kotzebue war bekannt für seine oft auch tränenrührenden Schauspiele. Die Ablehnung Krügers gegenüber gerade diesen populären und von Goethe einige Male als „trivial“ bezeichneten Schauspielen Kotzebues zeigt sich auch in anderen seiner Artikel (Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67, Anm. 3). 30 Zeitgenössischer Ausdruck für unliebsame, eine bestimmte, meist propagandistische Anschauung vertretende Autoren. 31 Ein fünf Wochen später von Krüger ebenfalls unter „DIXI.“ veröffentlichter Artikel baut in großen Teilen auf diesen Worten auf (siehe Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, S. 204 und originale Fußnote I, in: NdS 1 Nr. 67, S. 707 und S. 708). 32 Beginn des Gedichtes Die Todten an die Lebenden (ED 1848) von Ferdinand Freiligrath (1810 –1876). 33 Horaz, Ars poetica, V. 182 –186.
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Ne tamen intus Digna geri promes in scenam, multaque tolles Ex oculis, quae mox narret facundia praesens. Ne pueros coram populo Medea trucidet, Neve humana palam coquat exta nefarius AtreusII – so ist dagegen den Gegenwarts-Denkern der Zukunft nichts erwünschter, als der Fanatismus der Hugenotten34, die cynische Liederlichkeit Robert des Teufels35 und Lucretia Borgia’s36, die Kaltfieberschauer des fliegenden Holländers, der trockene Wahnsinn und die bestialische Gluth aller derer Dichterlinge, die Farbe für Schönheit verkaufen. – Und wo ihnen einmal derb die Wahrheit gesagt wird, da schimpfen sie und sprechen: „Nun höret den Schimpfer!“ – oder schreiben Vorreden, in denen sie sich dagegen verwahren, harmonische Kunststücke zu machen, weil „alle Harmonie doch nichts weiter sei, als die Räume, wo die Töne zufällig zusammentreffen!“37 – oder überbieten alle vergangene Kunst und Unkunst mit ekelhaften offenen Wunden, womit noch kürzlich ein bekannter Maler auf einer bekannten Kunst-Ausstellung paradirte38 – oder setzen sich mit krampfhaften Witzen über die jammervolle Philisterwelt, d. h. alle diejenigen, die nicht in ihr Nashorn blasen, bis sich dann endlich ein verlorenes Seelchen findet und singt mit Aristophanes am Ende der „Wolken“: γττήμεθ, ώ~ χινούμενοι! 39
DIXI.40
II „Was hinter die Scene gehört, bringe nicht auf die Bühne, und halte dem Anblick fern, was bald ein beredter Zeuge berichte. Medea schlachte nicht ihre Söhne, der gottlose Atreus koche nicht Menschengeweide vor den Augen der Zuschauer!“
Les Huguenots (UA 1836). 35 Meyerbeer, Robert le diable (Robert der Teufel, UA 1831). 36 Gaetano Donizetti, Lucrezia Borgia (UA 1833). 37 Konnte nicht nachgewiesen werden. 38 Hier nimmt Krüger aller Wahrscheinlichkeit nach Bezug auf Gustave Courbet (1819 –1877), den Hauptvertreter der realistischen Malerei in Frankreich. Mit seinen politische Provokationen beabsichtigenden Gemälden, wie beispielsweise L’Enterrement à Ornans (Ein Begräbnis in Ornans) und Les Casseurs de pierre (Die Steinklopfer), beide 1851 in der staatlichen, konventionellen Kunstausstellung des Salon de Paris präsentiert, prägte Courbet den Begriff „Realismus“, der durch ihn spätestens 1851 zum gängigen Schlagwort wurde. Als „Courbet der Musik“ wurde Wagner besonders nach seinen polarisierenden Schriften wie Die Kunst und die Revolution in Paris ab 1852 „expressis verbis mit Courbet verglichen“ (vgl. Geck 2001 Zwischen Romantik und Restauration, S. 94 – 98, hier S. 98). 39 Aristophanes (um 450 v. Chr. – um 385 v. Chr.), Komödie Nephelai (Die Wolken, UA 423 v. Chr.): „Ihr geilen Böcke jung und alt, / Ich bin besiegt!“ (Übersetzung nach Seeger 1845 Aristophanes, S. 487). 40 (Lat.) Ich habe gesprochen. Weitere Informationen zum Pseudonym siehe Kommentar. 34 Meyerbeer,
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Kommentar Der vorliegende Aufsatz ist der erste der in der Niederrheinischen Musik-Zeitung unter dem Pseudonym „DIXI.“ veröffentlichten Artikel, hinter dem sich der Musikschriftsteller und Musiklehrer Eduard Krüger verbirgt. Schon zu Zeiten Schumanns wirkte Krüger als langjähriger Mitarbeiter der NZfM und hatte sich seit deren Parteinahme für Wagner ab 1852 zunehmend von der Redaktion um Brendel distanziert. Nach einem persönlichen Angriff von Theodor Uhlig, der Krügers Vermögen als Musikkritiker aufgrund seines abgeschiedenen Wohnorts in Emden als „Provinzler am Rande der Welt“41 bezeichnet hatte, zog Krüger, um diese Fehde zu beenden, mit seinem Artikel „Magna polemica“ einen kampfesmüde wirkenden Schlussstrich,42 worauf nur noch ein verhältnismäßig sachlich abgehaltener Artikel Krügers in der NZfM erschien.43 Kurze Zeit vor der ‚großen Polemik‘ hatte er in einem Brief an Carl von Winterfeld geschrieben: „Am liebsten freilich – denn allmählich wird mir bei R. Schumanns Erben (Brendel) etwas unheimlich! – würde ich meine Herzensmeinung einmal in der N.[euen] Pr.[eußischen] Zeitung44 aussprechen, um einmal mit Keulen drein zuschlagen, wie mir zu Mute ist – im Tone der Zeit, um der Zeit zu widersagen.“45 Diesem Ton scheint er Rechnung zu tragen, wenn Krüger ab 1854 in der Niederrheinischen Musik-Zeitung unter dem Pseudonym „DIXI.“ schreibt. Im Duktus unterscheiden sich die pseudonym gezeichneten Beiträge von jenen unter Krügers Klarnamen publizierten, eher nüchtern formulierten Texten der Zeit um 1850, womit er als DIXI wieder verstärkt in den eher scharfzüngigen Ton der frühesten Berichte aus seiner Mitarbeiterzeit bei der NZfM unter Schumann verfällt.46 Die Rückführbarkeit des Pseudonyms auf das Bibelzitat „Dixi et salvavi animam meam“47 kann einerseits im Zusammenhang mit einer Stellungnahme Krügers vermutet werden und unterstreicht den bekenntnishaften Charakter der Beiträge sowie dessen „wiederholte Mahnung zur Rückkehr zum lutherischen Glauben“.48 Andererseits weisen die häufigen griechischen und lateinischen Zitate auf den Altphilologen hin, ebenso wie dessen fundierte Bibelkenntnis, die in den meisten seiner Artikel zum Ausdruck kommt.49 Neben den persönlichen Umständen, die hier eine bedeutende Rolle spielen mögen, ist der Aufsatz ein Beispiel für die sich in den gegenseitigen Anschuldigungen fortschreitend
41 Hoppenrath 1965 Eduard Krüger, S. 322. Krüger 1851 Zeitsinniges ist eine scharfe Reaktion auf Uhligs Artikel „Die Instrumentalmusik“ im ersten Band der Deutsche Monatsschrift für Politik, Wissenschaft, Kunst und Leben (1851), worauf Uhlig zum sehr persönlich ausgearteten Gegenangriff ansetzte (Uhlig 1851 Bekenntnisse). 42 Krüger 1852 Magna polemica. 43 Krüger 1853 Mosewius. 44 Aufgrund der Abbildung des Eisernen Kreuzes im Titel war die Neue Preußische Zeitung allgemein unter der Bezeichnung Kreuzzeitung bekannt. 45 Brief Krügers an Carl von Winterfeld vom 19. November 1851, zit. nach Prüfer 1898 Briefwechsel, S. 129. 46 Obgleich Hoppenrath der Meinung ist, Krüger sei nach Austritt bei der NZfM bis in die 1860er Jahre verstummt, weiß er: „Eine stilistische Entwicklung ist nicht zu beobachten; doch fällt auf, daß der in den ersten Rezensionen vorwiegend angriffslustige und scharfe, herausfordernde und in polemischem Eifer leicht verletzende Ton bald gemäßigter klingt, später sogar taktvolle Zurückhaltung zeigt und dadurch dem Inhalt mehr kühlere Sachlichkeit verleiht“ (Hoppenrath 1965 Eduard Krüger, S. 151). 47 (Lat.) Ich habe gesprochen und meine Seele gerettet (Hes 3, 19). 48 Hoppenrath 1965 Eduard Krüger, S. 152. 49 Siehe insbes. Krüger 1855 Marx und Brendel, in: NdS 2 Nr. 79.
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zuspitzende Debatte um die damalige neue Musik. Die Kontroverse hatte vor allem seit dem Karlsruher Musikfest im Oktober 1853 an Dynamik gewonnen und sowohl zunehmend die Gruppierung von Komponisten in zwei entgegengesetzte Lager zur Folge gehabt als auch immer mehr die Identifizierung einzelner Kritiker und Zeitschriften mit einer der beiden Richtungen. Dies führte alsbald zur Abgrenzung zweier sich feindlich gesinnter ‚Parteien‘50, wofür Krüger im vorliegenden Artikel vor allem die NZfM verantwortlich macht, die insbesondere durch ihr ‚meinungsbildendes Monopol‘ eine ‚Anti-Partei‘ geradezu provoziere. Die zunächst eigenartig anmutende Zusammenstellung von Schumann und Meyerbeer liegt fraglos in Krügers Rezension von Schumanns Oper Genoveva51 begründet. Infolge dieser negativen Besprechung hatte der Komponist die Freundschaft zu Krüger aufgekündigt.52 Es waren nicht nur Krügers enttäuschte Hoffnung, dass Genoveva die lang ersehnte deutsche Nationaloper verkörpere, sondern insbesondere von Krüger monierte stilistische Mängel, wodurch er Schumann eindeutig der Tendenz der ‚Zukunftsmusiker‘ verfallen sah und ihn vergleichbarer ‚Fehler‘ wie Wagner und Meyerbeer bezichtigte.53 Es ist daher nur als folgerichtig zu verstehen, wenn Krüger im vorliegenden Aufsatz Schumann Wagner und Meyerbeer zur Seite stellt. Auffällig ist, dass Krüger den jungen Johannes Brahms in eine Waagschale mit Wagner und Julius Schaeffer als zwei der Hauptvertreter der neuen musikalischen Richtung wirft und alle drei als bloß verneinend tätige „Zukunfts-Schwärmer“ etikettiert. Der Grund hierfür dürfte in der Ende 1853 erschienenen Fürsprache Schumanns54 für den bis dahin weitgehend unbekannten Brahms begründet liegen.55 Die Angriffe Krügers stehen darüber hinaus in enger Verbindung zu seiner zwei Monate zuvor ebenfalls in der Niederrheinischen Musik-Zeitung veröffentlichten kritischen Stellungnahme zu Wagner56 und der darin dargelegten Ablehnung von „rohe[r] Illusion“57 und einer abbildenden Musik, die Krüger hier zu seinem Hauptanliegen gestaltet. Krügers markante Haltung gegen die immer stärker ausgeprägten Züge einer realistischen Kunst und einer Art Materialismus in der Musik leitete er aus sämtlichen zu dieser Zeit verbreiteten, in einem klassizistischen Denken gründenden Vorwürfen gegen die moderne Musik ab: aus der „Grässlichkeit“ von Inhalt, Form und Dramatik, der Melodienarmut wie auch aus der „miserablen“ Umsetzung der jeweiligen Werkidee. Von dieser ‚anti-realistischen‘ Färbung ist auch sein in späteren Artikeln noch öfter zitierter Vorwurf gegen die moderne Richtung geprägt, die an ihren Künstlern preise, „nicht was sie leisten, sondern was sie streben“58. Der Artikel ist nicht zuletzt ein Zeugnis für den Einsatz von politisiertem Vokabular, welches über das Scheitern der 1848er Revolution in die Restaurationszeit der 1850er Jahre
50 Zur Konstituierung gegensätzlicher und zunehmend institutionsgebundener Lager siehe auch Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik, in: NdS 1 Nr. 62. 51 Krüger 1851 Robert Schumann. 52 Ein Brief Schumanns an Krüger vom 5. April 1851 ist der letzte dieses Briefwechsels und bringt Schumanns Enttäuschung zum Ausdruck: „urteilen Sie nicht über etwas, das Sie nicht genau kennen […] Sie sind, wie ich längst wußte, weit davon entfernt, mich als Künstler in meinen Gesamtwerken zu verstehen“ (zit. nach Hoppenrath 1965 Eduard Krüger, S. 234). 53 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 22. 54 Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49. 55 Erst im hohen Alter äußerste sich Krüger erneut und in tendenziell positiver Weise zu Brahms (siehe Krüger 1870 Musikalische Briefe). 56 Anonym 1854 Richard Wagner, in: NdS 1 Nr. 63. 57 Ebd., S. 59, in: NdS 1 Nr. 63, S. 673. 58 Vorliegender Artikel, S. 702 [123].
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hinübergetragen wurde und – wie hier die Begriffe „Social-Demokraten“ und „Socialisten“, denen Krüger in früheren Artikeln noch „Lichtfreundliche“ und „Zeitsinnige“ zur Seite stellte59 – zum Angriff gegen die neue musikalische Partei dient. Neben Brendel und insbesondere Adolf Bernhard Marx war Krüger einer der dominantesten Vertreter des Fortschrittsglaubens während der Zeit um 1848. Sein persönlicher Werdegang, von seiner Mitarbeit bei der NZfM unter Schumann und Brendel sowie für die AmZ und die Berliner Musikzeitung Echo, dann zunächst pseudonym für die Niederrheinische Musik-Zeitung und schließlich in gemäßigtem Ton in den Göttingischen Gelehrten Anzeigen zeigt Krügers konsistenten Kurs und damit die unterschiedlichen Auffassungen jener Zeit von vermeintlich Gleichem auf, was – wenngleich polemisch gemeint – Theodor Uhlig gegenüber Krüger einmal als „doctrinäres“ und „sociales“ Verständnis von ein und derselben Sache beschrieb,60 wodurch der fortschrittliche Krüger – keinesfalls unberechtigt – als konservativer Philister erscheint.
59 Krüger
1852 Magna polemica, S. 43.
60 Uhlig
1851 Bekenntnisse, S. 173.
Nr. 67 | DIXI [Eduard Krüger], „Zöpfe und Coterieen“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 2 (1854), Nr. 26 (1. Juli), S. 204 – 206.
Zöpfe und Coterieen1.
Grundprosaisch ist diejenige Kunstrichtung, welche in aller Kunst und Schönheit nur sucht, was sie muss, statt zu schauen, was sie ist. Das ist nun zwar ein sehr bekanntes Axiom, dem sich die meisten Kunstgelehrten unserer Tage mit Leib und Seele verpflichtet nennen, daher sie denn mit Worten alle Tendenzen2 zu verfolgen sich anschicken, und desshalb gegen Pietisten, Schulmeister, Asketen, Altgesinnte, Zöpflinge und dergleichen Geschmeiss einen abgründlichen Abscheu zu hegen vermeinen. Wie aber, wenn nun dennoch viele Kunst-Professoren und Professionisten der Neuzeit noch bis zur letzten Stunde in Tendenzen stäken bis über die Ohren? Denn wer am Künstler eher fragt, nach was er strebt, als was er leistet, ist ein prosaischer Tendenzler; wer das [205] Neue darum liebt, weil es neuzeitlich ist, ist nichts besser, als der thörichte, altzöpfichte Tendenz-Historiker; wer die Vaterlands-Spectakel-Decorations-PuppenBallette mit obligater Trompeten-Musik und chromatischem Posaunen-Geheule3 desshalb preis’t, weil sie vaterländisch seien, ist ein Verräther an Schönheit und Vaterland; denn er nimmt Beiden, was das Ihre ist; wer ausdrücklich und absichtlich Quintenund Octaven-Parallelen rücksichtslos gebraucht, weil das Quinten-Verbot von den Altvätern ererbt ist, der ist mit demselben Zopfe behaftet, wie jener alte generalbassis-
1 Die
Übertragung des Ausdrucks „Zopf“ auf den Bereich der Musik war bereits vor 1850 anzutreffen, kam aber vor allem ab den 1850er Jahren durch die polemisierte Diskussion zwischen ‚alt‘ und ‚neu‘ zunehmend zum Einsatz. Weiteres zum Begriff „Zopf“ siehe Lobe 1848 Fortschritt, in: NdS 1 Nr. 7, Anm. 2. Mit der Bezeichnung „Coterie“, unter der im 19. Jahrhundert eine Art literarische oder politische Richtung und Schule mit der negativen Konnotation eines Klüngels verstanden wurde, spielt Krüger wahrscheinlich auf das in dieser Zeit sich zunehmend verbreitende Cliquenwesen und die Bildung von Interessengruppen und Parteiungen für und wider fortschrittlich gesinnte Haltungen auf kompositions- und musikästhetischem Feld an. Vgl. zur Thematisierung des Terminus „Clique“ einen anonym gezeichneten Artikel der NZfM desselben Jahres, der neben stark polemisierenden Angriffen gegen die Zeitschrift Die Grenzboten eine Erörterung und Zurückweisung der angeblich auf die neueren Bestrebungen der NZfM abzielenden Begriffe „Clique“ und „Claque“ enthält: Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik, S. 90 f., in: NdS 1 Nr. 62, S. 662 – 664. 2 Zeitgenössischer Ausdruck für unliebsame Autoren, die eine bestimmte, meist propagandistische Absicht vertreten. 3 Denkbar ist, dass Krüger hier auf Kompositionen anspielt, die in der Tradition der groß und blechlastig besetzten Schauspielmusiken standen, wie beispielsweise die Musik zu August von Kotzebues Schauspiel Die Hussiten vor Naumburg im Jahr 1432. Ein vaterländisches Schauspiel mit Chören in fünf Acten (UA 1803). Vgl. dazu auch Schröter 2006 Musik zu den Schauspielen August von Kotzebues.
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tische Grammatiker5, nur mit dem Unterschiede, dass dieser letztere seinen Zopf mit Ehren trug, gleich manchen anderen unserer Väter in des grossen Friedrich6 Geleit, vor welchen Russen und Franzosen erbebten. Der alte Fritz trug bekanntlich auch einen Zopf; doch scheint’s, er hatte mehr Witz im kleinen Finger, als mancher moderne Phraseologe im ganzen Gehirn, und mehr warmes Blut im Herzen, als diejenigen fieberhaften Rhetoriker, die mit nachgeplapperten Phrasen mühselig fremdes Feuer aufwärmen. Damit uns nicht gewisse leipziger und weimarer Kaffeetrinker7 injuriarum belangen8 – denn die meisten Injurien- und Tendenz-Processe gewinnen bekanntlich die Radicalen, weil sie mehr Uebung darin haben – , so erkläre ich hiedurch ausdrücklich, dass ich Niemanden nenne, weil die Koryphäen der Neuzeit ja vor Aller Augen im hellen Sonnenlichte wandeln. Wer am Künstler eher fragt, was er strebe, als was er leisteI, der bezeugt damit, dass es ihm zu thun ist um Schule, Nützlichkeit und Arbeit, dass er nicht suche in der Kunst das wallende Leben der Schönheit, die zur Wonne der Welt geschaffen ist. Soll denn auch in unserer hohen, himmlischen Kunst alle unbefangene Lust, das Seiende zu vernehmen, zu Grunde gehen in diesem schulmeisterlichen Streben, aus den Dingen, Leibern und Seelen etwas zurecht zu machen für absonderliche Zwecke? Manche – nicht alle – von den verachteten Altvätern suchten im Kunstwerke ihre Seelenlust und fragten nicht nach Strebungen, sondern nach Leistungen. Leisten ist liebevoll ergossene Schöpferkraft, die nicht strebsinniger Zeitungs-Jüngerschaften bedarf, um zu leuchten und zu zünden; das ist’s ja, was die Kunst-Schönheit mit der Natur-Schönheit gemein hat: Lebens-, Liebes- und Schönheits-Zeugung quellen und strömen auf gleiche
I Diese unselige Zeitungs-Phrase, auf die wir wider Willen oft zurückkommen müssen,4 weil sie die ganze Schulmeister-Weisheit der Neuzeit durchdringt, bedeutet, in gutes Deutsch übersetzt, eigentlich nichts als dieses: „Du kannst zwar nicht viel, aber weil du ein gutes Schul-Exercitium nach unserem Muster gemacht hast, lobe ich dich – und übrigens – man kann nicht wissen, ob du nicht noch einmal ein berühmter Mann wirst, und dann wehe mir armen Recensenten! Ergo..“ 4 Hier
ist vermutlich Friedrich Wilhelm Marpurg (1718 –1795) gemeint, dessen musiktheoretische Schriften der 1750er Jahre, seine Anleitungen zum Klavierspielen (ED 1755), wie auch seine Fugenund Satzlehren, etwa sein Handbuch bey dem Generalbasse und der Composition (ED 1755 –1758), zusammengenommen die umfassendste Musiklehre des 18. Jahrhunderts bildeten. Auch Johann Mattheson ist denkbar, da Krüger auf ihn mehrfach in negativer Weise rekurrierte. 5 Friedrich II., der Große (1712 –1786), König von Preußen. 6 Bemerkenswert ist, dass die Städte Leipzig und Weimar in einem Atemzug genannt werden, obwohl Leipzig mit seinen Gewandhauskonzerten und dem Konservatorium im allgemeinen Bewusstsein eher als konservativ galt. Hier nennt Krüger die beiden Orte jedoch stellvertretend für die von Franz Brendel redigierte Leipziger NZfM und Franz Liszts Wirken in Weimar. Mit „Kaffeetrinker“ spielt Krüger zudem auf den Künstlerkreis um Robert Schumann und den Geheimbund der „Davidsbündler“ an, die sich regelmäßig im Leipziger Kaffeehaus „Zum Arabischen Coffe Baum“ trafen. 7 „Injuriarium belangen“: jemanden wegen Beleidigung verklagen. 8 Erstmals selbst verwendet Krüger diese „Zeitungs-Phrase“ in seinem fünf Wochen zuvor erschienen Artikel Heutige Kunstzustände: „Und wie sehr sie [die hochmüthigen Speculanten der Zukunft] die Tendenz-Philosophen zu verachten vorgeben, sie stehen wiederum mitten in dem allerprosaisch-schulmeisterlichsten Tendenzwesen, wenn sie an ihren Künstlern preisen – nicht was sie leisten, sondern was sie streben“ (Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, S. 123, in: NdS 1 Nr. 66, S. 702). Eine andere Herkunft kann nicht nachgewiesen werden.
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Weise. Alle wahren Dichter aller Zeiten haben dies gefühlt, alle verkehrten HalbDichter, Philosophen und Schulmeister haben das Gegentheil darzulegen gesucht. Denn das leuchtet dem gemeinen Realismus sogleich ein, wo er Verliebtheit ohne Liebesdichtung, sackleinene Thatkräftigkeit ohne Heldengedicht erblickt; dieses begreift er, er kann es mit Händen fassen, auch ohne daran zu glauben. Obwohl er dem Frommen, der sich einfältig in alter Kirchenweise erbaut, diese Herzensstärkung missgönnt, um sie wohlfeil als Heuchelei zu brandmarken, so lässt er es dagegen ruhig über sich ergehen, wo in den Hugenotten9 Heuchelei, Fanatismus und Geilheit für Religion verkauft werden, oder im Lohengrin10 steifleinene Ritterlichkeit dämmerigen Heldenschein erheuchelt, oder wo Berlioz immense Zukunfts-Ideen … in parenthetischen Ueberschriften seinen Partituren beimalt, statt sie in Noten und Tönen lebendig auszudrücken. Unsere nothgedrungen real gewordene Zeit, die nun einmal dazu verdammt ist, sich dumm zu lesen, lässt sich geruhig maassregeln durch politische Leit-Artikel aus dem Lager der Progressisten, die von Anfang der Welt jederzeit den Vorzug der Phrase behauptet haben. Sieht man diesem Geschreibsel hinter die Coulissen, so erscheint – Niemand anders als jener kategorische Imperativ, jenes Gespenst aus Kleister und Pappe, wie es Ehren-Klinger11 richtig darstellt. Dem gröbsten Realismus zur Seite geht die Aufblähung der Handwerker-Technik, die eben bei den alleridealsten Zukunfts-Musicanten und Zeit-Ideal-Künstlern ein ziemlich Theil ihrer Gesammt-Thätigkeit dahinnimmt. Ich meine nicht die elenden Virtuosen, die sich Geldes halber an allem Schönen und Heiligen versündigen; auch nicht die horrende Technik, deren Wagner und Berlioz bedürfen, um nur gehört zu werden; sondern das kindische Spiel mit Formen, Instrumental-Künsten, KlangEffecten, Farbenspielen u. dgl. meine ich; es tödtet die Kunst, wo ihm ein Werth an sich beigelegt wird, wo man z. B. bei Berlioz’ Instrumental-Künsteleien die entsetzliche Melodieen-Armuth gnädig übersieht, oder bei Schumann’s und Meyerbeer’s Klang-Pfiffigkeiten die Unwahrheit und Unschönheit nicht merken will. Das kritische Proletariat, das Technik und Schönheit nicht zu unterscheiden weiss, gibt vor, sich über Fugen [206] und Contrapunkt zu ereifern. Gewiss, es gab auch während der Blüthezeit des Fugenthums leere Techniker; aber Niemand hat auch Marpurg12 einen weltbewegenden Künstler gescholten, weil er ein paar zopfgemässe
Meyerbeer, Les Huguenots (UA 1836). 10 Richard Wagner, Lohengrin (UA 1850). ist hier der deutsche Dichter Friedrich Maximilian von Klinger (1752 –1831), der zu den bedeutendsten Dramatikern des Sturm und Drang zählte. Sein Schauspiel Sturm und Drang (ED 1776) gab der Epoche ihren Namen. Klinger lehnte sich in seiner kritischen Geschichts- und Gesellschaftsauffassung besonders an Jean-Jacques Rousseau, aber auch an Voltaire und Immanuel Kant an und bezog eine Schiller verwandte Position von ethischem Rigorismus, der sittliches Handeln über alle Zweifel an einer fragwürdigen Welt triumphieren lässt. Spätere Romane, auf die hier möglicherweise Bezug genommen wird, sind Reisen vor der Sündfluth (ED 1795) oder Der Weltmann und der Dichter (ED 1798). 12 Marpurg zählte durch seine Aktivitäten als Musikpublizist und seinen Einsatz für Positionen der französischen Aufklärung zu den wichtigsten Vertretern der deutschsprachigen Diskussion über Musik in der Mitte des 18. Jahrhunderts. Siehe vorliegender Artikel, Anm. 4. 9 Giacomo
11 Gemeint
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Fugen geschmiedet mit regelrechten Repercussionen13. – Jenen anderen Satz aber, den einstmals der alte Bach gesprochen: Es sei ein Zeichen guter Tonbegabung, gern Fugen zu hören – den werdet ihr Neuzeitlichen längst in dieselbe Rumpelkammer geworfen haben, wo ihr eure übrigen Zöpfe aufbewahrt. Lieb wäre mir’s doch, wenn auch ihr einen ähnlichen Satz aufstelltet, der sich hundertjährige Geltung erwürbe, wie jener Bach’sche, aber – „einen erklecklichen Satz will ich, und der auch was setzt“14. Man sagt, wir seien grob. Gut das; dürfen wir’s nicht sein, so gut wie unsere Gegner? Sollen wir nicht gleiche Waffen gebrauchen, so lange es keine unehrlichen sind? Wenn die Brüder Leipziger15 jeden Andersdenkenden mit der Plumpkeule breitschlagen und doch läugnen, dass sie Coterie machen – wenn dieselben für ihre Strebungen den breitesten Raum in Anspruch nehmen und dagegen die wackeren Schwaben Lachner, Lindpaintner u. s. w. öffentlich verhöhnen und beschimpfen,16 weil diese nun eben auch auf ihre Weise Musik machen wollen, wo Niemand drein zu reden hat – wenn dieselben für einen durchgefallenen Tannhäuser oder Lohengrin den Dirigenten verantwortlich machen!! – weil dieser Lob und Tadel zu leiten verpflichtet sei!!!17 – – dann ist es aus mit der lammherzigen Geduld; man werde grob, man
13 Begriff
der Fugentheorie. „Der Wiederschlag, lat. repercussio; So heißt die Ordnung, in der der Führer [Dux, 1. Thema] und Gefährte [Comes, 2. Thema] in den verschiednen Stimmen sich wechselweise hören lassen“ (Marpurg 1753 Abhandlung von der Fuge, S. 18). 14 Diese Xenie Schillers aus Die Philosophen beginnt mit den Worten: „Damit lock’ ich, ihr Herrn, noch keinen Hund aus dem Ofen“ (Schiller, Xenien, in: Schiller-Werke 1, S. 356). 15 Mit den „Brüder Leipziger“ sind insbesondere die ‚fortschrittlich‘ gesinnten Kritiker aus den Reihen der NZfM gemeint (siehe vorliegender Artikel, Anm. 6). 16 Franz Lachner (1803 –1890) und Peter Joseph von Lindpaintner (1791–1856), beide deutsche Komponisten und Dirigenten, wurden ein Jahr zuvor in einem Artikel der NZfM von Hans von Bülow (Bülow 1853 Die Opposition in Süddeutschland, in: NdS 1 Nr. 54), auf den sich Krüger hier zu beziehen scheint, auf das Schärfste angegriffen. Lachner, kurze Zeit in Wien und Mannheim, danach dreißig Jahre an der Münchner Oper, und Lindpaintner, als Hofkapellmeister des Stuttgarter Opernorchesters, vertraten beide eine eher konservative Haltung in der Musik und waren daher immer wieder Zielscheibe für Kritiken und Polemiken von fortschrittlicher Seite (siehe auch spätere Angriffe: Brendel 1859 Die Aufgabe einer Faustmusik; Nohl 1865 Die musikalische Lage in München, in: NdS 3 Nr. 153; siehe ebenfalls Chybiński 1907 Bülow, Lindpaintner und die Kapellmeisterfrage). 17 Vgl. beispielsweise bei Bülow 1853 Die Opposition in Süddeutschland, S. 240 f., in: NdS 1 Nr. 54, S. 571 – 573: „Es war im Herbste des vergangenen Jahres als Franz Lachner auf den Einfall gerieth, den Neuromantikern einen Gnadenbrocken vorzuwerfen, und in einem der ersten Odeonconcerte dem Münchner Publikum die Ouvertüre zum Tannhäuser vorzuführen. […] Die beispiellos absolutistische Autorität, welcher [sic] Generalmusikdirector Lachner als Musiker und Dirigent beim Münchner Publikum ausübt, waren ganz geeignet, auch die Widerstrebendsten zur Ruhe zu bringen, wenn nicht zur Wandlung ihrer grundlosen Antipathie in begründete Sympathie. – Die Tannhäuserouvertüre wurde aber ausgezischt. Wer anders war also hier dieses Scandals anzuklagen, wer dafür verantwortlich und zur Rechenschaft zu ziehen, als der musikalische Chef? Seine Abneigung gegen, seine feindlichen Urtheilsäußerungen über ‚die Neuromantiker‘ sind auch außerhalb München bekannt geworden. […] So hatte denn also das Publikum gesprochen […] und die ‚Zukunftsmusik‘ die ‚neue romantische Schule‘ war für München ein für alle
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decke die Coterie-Manoeuvres auf, überlasse dem gesunden oder genesenden Sinne des Volkes das Weitere und rufe endlich: Dixi et salvavi animam.18 Und wäre noch ihre Technik eine wahrhaft neue, gesunde, zwingende: wir wollten uns ehrfürchtig beugen; denn alles Heldenthum bezwingt die Welt. Wer aber nicht mal Tact halten kann, weder mit dem Directorstabe noch am Clavier19 – und dann hinterher „die Manier des Dirigirens“20 lächerlich macht (wie kürzlich die Neue Musik-Ztg. gethan): der spricht sich selbst das Urtheil. Kürzlich sah ich Joachim21 in Hannover die Mozart’sche Es-dur-Sinfonie22 dirigiren (18. März), wo der Tact des Directorstabes wedelte und fadelte, wie die Juden beim Leichenbegängniss; nur dem sehr tüchtigen Orchester, das Marschner23, nicht Joachim herangebildet, war zu danken, dass die Sinfonie im Adagio nicht umwarf. Ist das neuzeitliche Technik? O, dann willkommen, lieber Zopf! DIXI.24
Mal abgethan.“ Siehe ebenfalls ebd., S. 266: „Kaum wird es nöthig sein, noch hinzuzufügen, daß Hr. Lindpaintner allem Neuen, Großen und Schönen in der Kunst fanatischen Haß geschworen hat. Er verabscheut aufs Gründlichste die Namen Schumann, Berlioz, Wagner, Liszt, natürlich ohne ihre Werke zu kennen und zu verstehen […]. Lindpaintner ist der Haupthemmschuh für jeden höheren künstlerischen Aufschwung in der musikalischen Oeffentlichkeit Stuttgarts. Die endliche Entfernung seiner Person ist die erste Bedingung für eine Aenderung zum Guten.“ 18 Das an die Vulgata, den lateinischen Bibeltext, angelehnte Zitat lautet vollständig: „Dixi et salvavi animam meam“ (Ich habe gesprochen und meine Seele gerettet; Hes 3, 19). 19 In beiden Fällen wird hier auf Liszt angespielt, der nach seiner internationalen pianistischen Karriere ab 1848 als Hofkapellmeister in Weimar wirkte. 20 Siehe Pohl 1854 Die Manie des Dirigirens. Schon Liszt hatte sich nach dem Karlsruher Musikfest 1853 gegen zahlreiche Vorwürfe der Unzulänglichkeit seiner Dirigierpraxis verwahrt und selbst den „unverwüstlichen Tactschlägern“ (Liszt 1853 Ein Brief von Franz Liszt, S. 268) eine ganz neue Auffassung von der Funktion des Dirigenten gegenübergestellt, diese sogar als „Fortschritt im Styl der Ausführung selbst“ (ebd.) apostrophiert: „Die wirkliche Aufgabe eines Kapellmeisters besteht […] darin, sich augenscheinlich überflüssig zu machen – und mit seiner Function möglichst zu verschwinden“ (ebd.). Auch im Artikel von Richard Pohl wird, im Anschluss an Liszt, jenes Dirigieren als ‚manisch‘ empfunden, welches durch Dauerakzentuierung den Fluss der Musik behindere. 21 Joseph Joachim (1831–1907), österreichisch-ungarischer Geiger, Komponist und Dirigent, war von 1853 bis 1868 Königlicher Konzertmeister in Hannover. Zu seinen ersten und prägenden musikalischen Mentoren zählten Felix Mendelssohn Bartholdy und, nach dessen Tod, Liszt. Seine enge Freundschaft mit dem Ehepaar Schumann und mit Johannes Brahms führten jedoch in seiner Hannoveraner Zeit schließlich zu einer Distanzierung von Liszt und dem Weimarer Kreis. 22 Wahrscheinlich ist hier Wolfgang Amadeus Mozarts Symphonie Nr. 39 Es-Dur KV 543 (UA 1788) gemeint. 23 Heinrich August Marschner (1795 –1861), deutscher Komponist und Kapellmeister in Dresden und Leipzig, ab 1831 Königlicher Hofkapellmeister in Hannover. Seinen kompositorischen Durchbruch erlangte Marschner mit den in Leipzig uraufgeführten Opern Der Vampyr (UA 1828) und Der Templer und die Jüdin (UA 1829). 24 Ob Krüger die Eigennennung „DIXI.“ (lat.: Ich habe gesprochen.) auf das oben stehende lateinische Bibelzitat (siehe vorliegender Artikel, Anm. 18) zurückführt, kann an dieser Stelle nur vermutet werden. Unter diesem Pseudonym trat Krüger erstmals fünf Wochen zuvor an die Öffentlichkeit (siehe Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, in: NdS 1 Nr. 66).
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Kommentar Der vorliegende Beitrag Eduard Krügers alias „DIXI.“ kann als ein typisches Beispiel für die stark polemische Färbung des musikalischen Parteienstreits und dessen zunehmende Entfernung von inhaltlichen Auseinandersetzungen betrachtet werden. Dabei greift Krüger in polemischer Form zwei grundlegende Themen des Streits auf, mit denen er sich in seinen beiden vorherigen Artikeln bereits befasst hatte: seine Kritik am vermeintlichen Meinungsmonopol der NZfM und an deren parteipolarisierenden Einfluss auf das Publikum sowie die Ablehnung vom „leere[n] Handwerkerthum“ und vom „Scheussliche[n] und Sinnlich-Widrige[n]“, somit von allen realistischen Zügen in der Musik 25 Vor dem Hintergrund seiner Kritik fasst Krüger explizit Wagner, Schumann und Meyerbeer in Bezug auf ihre „Unwahrheit und Unschönheit“26 als Einheit auf, zu welcher er auch Hector Berlioz zählt, samt dessen Versuch, durch ein Programm über sein Unvermögen hinwegzutäuschen. Zudem benennt er nun dort in aller Klarheit den „gemeinen Realismus“27, wo er zuvor vom „Blutigen, Grässlichen, Kolossalen – in Inhalt und Form“28 sprach. Diesen Realismus leitet er konkret aus seinen kompositionstechnischen Vorwürfen gegen die vier Komponisten ab. Damit bündelt Krüger an dieser Stelle alle zentralen, polemischen Aspekte, die während dieser Zeit gegen die als fortschrittlich geltenden, von Brendel propagierten Künstler vorgebracht wurden. Hierzu gehören die Kritik an Formlosigkeit oder am „kindische[n] Spiel mit Formen“, an extremen Klangeffekten und angeblich unschöner Instrumentation, an Melodienarmut, ausufernder „Handwerker-Technik“29 und Virtuosität sowie die Vorwürfe bezüglich oberflächlicher außermusikalischer Programme und der Schwäche der Opernlibretti und ihrer Stoffe. Obwohl Krüger auf sachlicher Ebene den Artikel dazu nutzt, seine Ablehnung des seiner Meinung nach prinzipienversessenen Streits zwischen den zukunftsorientierten und konservativen Künstlern und Kritikern auszudrücken, praktiziert er durch den vehement polemischen Tonfall, wie auch in seinen früheren Beiträgen30, das von ihm Kritisierte selbst.
25 Anonym 1854 Richard Wagner, S. 58, in: NdS 1 Nr. 63, S. 672 und Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, S. 123, in: NdS 1 Nr. 66, S. 702. 26 Vorliegender Artikel, S. 709 [205]. 27 Ebd. 28 Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, S. 122, in: NdS 1 Nr. 66, S. 702. 29 Vorliegender Artikel, S. 709 [205]. 30 Siehe dazu die Kommentare zu Anonym 1854 Richard Wagner, in: NdS 1 Nr. 63 sowie Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, in: NdS 1 Nr. 66.
Nr. 68 | Hoplit [Richard Pohl], „Betrachtungen über die Musik der Gegenwart und die Gesammtkunst der Zukunft von Franz Brendel. Erster Artikel“, in: NZfM 21 (1854) Bd. 41, Nr. 3 (14. Juli), S. 25 – 28; Nr. 4 (21. Juli), S. 37 – 41; Nr. 5 (28. Juli), S. 45 – 48; „Betrachtungen über F. Brendel’s Schrift: ‚Die Musik der Gegenwart und die Gesammtkunst der Zukunft.‘ Zweiter Artikel“, in: NZfM 21 (1854) Bd. 41, Nr. 22 (24. November), S. 233 – 235; Nr. 23 (1. Dezember), S. 252 – 254; „Betrachtungen über F. Brendel’s Schrift: ‚Die Musik der Gegenwart und die Gesammtkunst der Zukunft‘. Dritter Artikel“, in: NZfM 22 (1855), Bd. 42, Nr. 2 (5. Januar), S. 13 –16; Nr. 3 (12. Januar), S. 21– 25.
Betrachtungen über die Musik der Gegenwart und die Gesammtkunst der Zukunft von Franz Brendel.I Erster Artikel.II Jede Reformation bietet im Wesentlichen dieselben Entwickelungsphasen und Phänomene dar. Sie zeigt uns einen Reformator, der mit eisernem Willen und starrem Sinn seiner Zeit vorausschreitet, unbekümmert, ob er verstanden wird, oder nicht; einen Reformator, welcher mit der Consequenz und Einseitigkeit, die allein zu großen Dingen befähigt, seine reformatorischen Ideen bis zu einer Höhe ausbaut, wohin seine Zeit ihm nur selten folgen kann oder will, während er selbst den schwindelnden Gedankenflug durch die That zu bekräftigen und zu verwirklichen sucht. Ihm voraus geht eine Reihe von Vorläufern, welche theoretisch oder praktisch das vergeblich versuchten, was der Reformator selbst mit starker Hand erfüllt; Vorläufer, welche das Feld bereiten, den Stoff sammeln, und die Früchte bis zur Reife pflegen; denen aber diese Reife selbst nicht vollständig gelingen will, weil sie sonst eben nicht nur Vorläufer, sondern die Reformatoren selbst wären. Dem Auserwählten aber gesellt sich eine Reihe Gleichgesinnter und Verwandter bei, welche je nach ihrer Begabung und Individualität das im Detail ausbauen, was der Meister im Großen und Ganzen skizzirte; welche seine Ideen praktischer und zugänglicher machen, indem sie die Rauheiten mildern, Schroffheiten ebenen, Meinungen und Thaten vermitteln; welche endlich mit den Waffen der Polemik und
I Leipzig, 1854. Verlag von Bruno Hinze. 17 ½ Bogen. 1 Thaler. II Anmerkung der Redaction. Der Inhalt der hier genannten Schrift steht in engster Beziehung zu der Tendenz, welche diese Bl. verfolgen. Es war die Absicht des Verf.’s derselben, darin die allgemeinen Voraussetzungen, die Principfragen in umfassenderem Zusammenhang, als in einer Zeitschrift möglich, darzustellen, um damit eine speciellere Erörterung dessen, was sich weiter daran schließt, in dies. Bl. einzuleiten. Eine Besprechung des Werkes an diesem Orte erscheint daher unter diesem Gesichtspunkt gerechtfertigt.
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[26] Kritik gegen die Widersacher zu Felde ziehen, deren Zahl, wie immer, Legionen ist, wobei meist nicht sehr schonend verfahren, wohl aber öfters über das Ziel hinausgeschossen wird. – So hat denn jede Reformation ihren Huß1 und Luther, ihren Melanchton2, Hutten3 und Sickingen4, ihre Bilderstürmer und Bauernkriege im Kleinen, wie im Großen. Wohl ihr, wenn sie auch einen Churfürst von Sachsen5, und somit ein sicheres Asyl, einen festen Sammelpunkt, den Ihrigen nennen darf. Ohne den Vergleich im Einzelnen durchführen zu wollen, finden wir doch in den Entwickelungsphasen der musikalischen Reform unserer Zeit alle Symptome einer Reformation im Kleinen wieder – nur daß zum Glück (bis jetzt wenigstens; man weiß aber nicht, was noch kommen kann!) die Musikreform eine unblutige ist, deren Schlachtfeld Bühne und Concertsaal, deren zuweilen äußerst massiver Landsturm das Publikum ist, und deren Reichstage auf dem literarischen Markte abgehalten werden. An Ketzergerichten, öffentlicher Verbrennung „Bischöflicher“ Bannbullen,6 und an Parteigängern aller Art fehlt es auch nicht. Soviel Bühnen, Orchester und Concertsäle – soviel kleine Staaten mit eigener Regierung, eigenem Geschmack und Sonderinteressen. Sie Alle zu versammeln unter einer Fortschrittsfahne, ist eben so unmöglich, als die vollständige Vernichtung der drei Großmächte: der Philister, der Doctrinäre und der Privilegirten zu hoffen ist. Dennoch hat die reformatorische Kunstbewegung unserer Tage sich merkwürdig rasch krystallisirt, und sich fast momentan zu einer geschlossenen Partei heran gebildet, die fort und fort wächst, so fern sich auch die Einzelnen im Leben sonst stehen mochten, bis sie, durch eine gemeinsame Idee begeistert, sich um der Sache Willen aneinanderschlossen, um für die Realisirung der Idee, jeder nach seiner Weise, zu wirken. Das macht: sie haben auf einen festen Grund gebaut, der von jeher theils unbewußt theils halb erkannt in dem Bewußtsein und Wesen der deutschen Nation ruhte.
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Hus (1369 –1415) war christlicher Theologe, tschechischer Reformator und Lieddichter. Der Name seiner revolutionären Anhänger, der „Hussiten-Bewegung“, ist auf ihn zurückzuführen. 2 Philipp Melanchthon (1497 –1560), eigentlich Philipp Schwartzerdt, christlicher Theologe, deutscher Reformator, Pädagoge und Philologe war neben Martin Luther (1483 –1546) treibende Kraft in der kirchenpolitischen Reformation. 3 Ulrich von Hutten (1488 –1523), deutscher lutherischer Theologe, reformatorischer Publizist, wird auch als erster Ritter der Reichsritterschaft, der Gemeinschaft des freien Adels, im Heiligen römischen Reich, bezeichnet. 4 Der Reichsritter Franz von Sickingen (1481–1523) unterstützte als Anführer der rheinischen und schwäbischen Ritterschaft die Anhänger der Reformation und stritt im Ritterkrieg 1522 und 1523 für die Säkularisation der kirchlichen Güter. 5 Hier wird auf Friedrich III. (1463 –1525), auch Friedrich der Weise, Kurfürst von Sachsen (1486 –1525), Bezug genommen, einer der wenigen Fürsten, der Luther vor der Kirchengerichtsbarkeit und dem kaiserlichen Strafurteil in Schutz nahm und zudem entscheidend zur Ausbreitung der reformatorischen Ideen beitrug. 6 Papst Leo X., im katholischen Verständnis der „erste Bischoff“, erließ 1520 gegen Luther und dessen öffentlichen Forderungen eine Verbannungsandrohung (Bulle „Exsurge Domine“). Luther beantwortete die Verbrennung seiner Bücher mit der öffentlichen Verbrennung der zuvor erlassenen Bulle und wurde daraufhin 1521 durch die päpstliche Bannbulle („Decet Romanum Pontificem“) exkommuniziert.
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Seit langen Jahren arbeitet der musikalische Geist unseres Volkes, trotz mancher Ablenkungen und Irrungen, auf einen bestimmten Punkt hin, den wir jetzt genau bezeichnen und fixiren können, während man früher meist von unbestimmter Ahnung, von unbewußter Divination des Genius, dahin getrieben wurde. Daß damit eine andere Richtung – wir nennen sie die falsche, Andere nennen sie die richtige – nicht nur fortlaufen kann, sondern in der That consequent durchgeführt worden ist, und immer Raum und Anhänger finden wird, ändert die Sachlage nicht im Geringsten. Man muß diese Thatsache nur richtig constatiren und weder zu hoch, noch zu gering anschlagen. Wie das Judenthum durch das Christenthum, der Katholicismus durch den Protestantismus weder vollständig vernichtet wurde, noch jemals vollständig vernichtet werden wird; wie es neben Republiken stets absolute Monarchien, neben der Civilisation stets Vandalismus giebt und geben wird: so wird auch speciell in der Musik die Phrase stets neben dem Gedanken, das Formelle neben dem Ideellen, die Orthodoxie neben der freien fortschreitenden Entwickelung, das Exoterische neben dem Esoterischen stets fort bestehen, und bestehen müssen. Es kommt lediglich darauf an, daß man Beiden die richtige Stellung anweist, ihre relative und absolute Bedeutung wohl unterscheidet, und die Nebenphasen von der Hauptrichtung zu trennen weiß. Dies ist aber eine Aufgabe, welche meistens erst der historischen Forschung anheimfällt, mit Ausnahme der wenigen Auserwählten, denen jener Feldherrnblick angeboren ist, welcher im Gewühl der Gegenwart schon für die Zukunft denkt und bildet. Wem der Sinn für historische, nothwendige Entfaltung und Fortentwickelung verschlossen ist und wer jenen Feldherrnblick nicht besitzt, welcher vermöge der Divination und des Instinktes, der dem Genie eigen ist, vor Abwegen bewahrt, – nun der muß sich eben zu helfen suchen, wie es gehen will; der tappt umher und kämpft auf jener kleinen Stelle, welche ihm von der Natur angewiesen wurde, um sich da wenigstens zu behaupten, wo er steht; der glaubt zu treiben, aber er wird getrieben, oder – geht unter. In den Zeiten des erbittertsten Kampfes, wie die gegenwärtige in der That ist – eine Zeit, die so direct an die der Gluckisten und Piccinisten erinnert, daß dieser Vergleich ganz von selbst sich aufdrängt – in solchen Zeiten, wo die Concentration Gleichgesinnter zu einer Partei geradezu eine Nothwendigkeit ist, erscheint es doppelt schwierig, das richtige Maß allenthalben streng einzuhalten, die nothwendige Ruhe und Besonnenheit nach allen Seiten hin zu bewahren, und im Eifer und in der Hitze des Kampfes nicht über das Ziel hinauszuschießen. Dies gilt in gleichem Maße für den Blick nach Rückwärts, wie für die Bewegung nach Vorwärts. Ohne hier die übereilten Reactionsbewegungen unserer Gegner näher beleuchten zu wollen, welche mit dem Motto: „Sauve qui peut!“7 ein wahres salto mortale machten, und ein halbes Jahrhundert rückwärts mit einem Satz übersprangen, um nach Befinden sich hinter Mozart, Haydn, Händel oder Bach zu verschanzen – wollen wir nur die Vorgänger und die eigene Stellung der Führer unserer Partei in’s Auge
7 (Frz.)
Rette sich, wer kann.
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fassen, welche mir eben so viel [27] Kühnheit als Consequenz auf die retrograde Bewegung jener Kurzsichtigen schließlich mit einem kecken Gedankenflug antworteten, der ein halbes Säculum vorwärts übersprang und im Reich der „Zukunft“ sich niederließ. Werfen wir einen Blick auf die letzten Jahrzehnte, so finden wir in dieser nächsten Vergangenheit die ebenso einfache als natürliche Lösung der interessanten Stellung unserer Gegenwart. Fast gleichzeitig wurden uns in den letzten Zwanzigerjahren die größten musikalischen Genies jener Zeit: Weber, der unsterbliche dramatische Componist, Beethoven, der unübertreffliche Instrumentaldichter, und Schubert, der größte Lyriker, entrissen. Die musikalische Welt stand verwaist am Grabe dieser Triumvirn, sie schien durch ihren Verlust völlig rathlos geworden. Die Gesammtanstrengungen sämmtlicher Weber’scher Epigonen, eines Marschner, Lindpaintner, Lachner8 u. s. f., konnten natürlich nicht für den Verlust Weber’s entschädigen; was aus der Instrumentalmusik noch werden sollte und werden könnte, war nach Beethoven’s Tod eine so schwer zu lösende Frage, daß dieselbe bis jetzt, ein Vierteljahrhundert lang, sich fort und fortgesponnen hat; und die unmittelbaren Nachfolger Schubert’s waren am Wenigsten dazu geeignet, die Lyrik in ihren Consequenzen auszubeuten. Man warf sich den Italienern in die Arme, um in der Gefühlsoper Ersatz für wahre dramatische Schöpfungen und für die Lyrik zugleich zu finden – Rossini’s Stern glänzte damals gerade am hellsten, Bellini’s Sonne war im Aufgehen, die Italiener siegten – zum letzten Male. Denn schon rückte die französische Phalanx, Meyerbeer an der Spitze, heran, und es begann ein Kampf zwischen zwei feindlichen Principien der exclusivesten Art, aus welchem, wie bekannt, die Situationsoper siegreich hervorging.9 Dieses Interregnum der deutschen Oper, während fremde Mächte sich auf deutschen Bühnen bekämpften, war für unsere nationale Kunst eine sehr heilsame Lehre – momentan natürlich empfindlich genug, in ihren Folgen aber höchst wohlthätig. Gegen diese Uebermacht anzukämpfen, war keine geringe Aufgabe, aber sie
8 Franz
Lachner (1803 –1890), Peter Joseph von Lindpaintner (1791–1856) und Heinrich August Marschner (1795 –1861) waren deutsche Komponisten und Dirigenten. Lachner, kurze Zeit in Wien und Mannheim, dirigierte dreißig Jahre an der Münchener Oper. Lindpaintner war Hofkapellmeister des Stuttgarter Opernorchesters. Marschner, ab 1831 königlicher Hofkapellmeister in Hannover, erlangte seinen kompositorischen Durchbruch mit den in Leipzig uraufgeführten Opern Der Vampyr (UA 1828) und Der Templer und die Jüdin (UA 1829). Alle drei Dirigenten vertraten eine eher konservative musikalische Haltung und waren daher immer wieder Zielscheibe für Kritiken und Polemiken; vgl. u. a.: Brendel 1859 Die Aufgabe einer Faustmusik; Nohl 1865 Die musikalische Lage in München in: NdS 3 Nr. 153; Chybiński 1907 Bülow, Lindpaintner und die Kapellmeisterfrage. 9 Von einer sehr ähnlichen geschichtlichen Entwicklungslinie der Oper war auch Liszt überzeugt. Da dieser – seinen Blick auf Wagner gerichtet – jedoch noch einen Schritt über Pohl hinausging, indem „er in der neueren Operngeschichte einen Dreischritt erblickt von der ‚Gefühlsoper‘ über die ‚Situationsoper‘ zur ‚Charakteroper‘ mit Rossini, Meyerbeer und Wagner als ihren repräsentativen Vertretern“ (Borchmeyer 2000 Richard Wagner und die Juden, S. 270) galt für ihn das Werk Meyerbeers als tragende Verbindung von der italienischen zur modernen Oper.
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wurde gewagt. R. Schumann gründete die „Neue Zeitschrift für Musik“10; gleichzeitig mit diesen literarischen Bestrebungen wagte man kühne künstlerische Thaten, und auf den Gräbern von Beethoven und Schubert erblühten junge hoffnungsvolle Zweige. Es galt zunächst das dem deutschen Element überhaupt zunächst Liegende und speciell jenen jungen strebsamen Geistern vorzugsweise Beschiedene, das Lyrische und Instrumentale, weiter auszubilden. Die Oper überließ man ihrem Schicksal; man polemisirte zwar dagegen mit Glück – so war Schumann der Erste, der gegen Meyerbeer siegreich in die Schranken trat11, – man warf sich hier aber fast ausschließlich auf das kritische Gebiet, während anderwärts sich ein neues musikalisches Leben desto wärmer und entschiedener regen konnte. Ungarn, Polen, Frankreich und Deutschland reichten sich in ihren jungen Söhnen die Hand – Liszt, Chopin, Berlioz und Schumann traten fast gleichzeitig auf, suchten und fanden sich, ergänzten sich gegenseitig und strebten nach gleichem Ziel, Jeder auf seine Weise. Wie warm und lebendig schloß sich Schumann in der ersten Periode seines Wirkens an Berlioz an! Man lese die ersten Bände der „Neuen Zeitschrift“ und man wird erstaunen über die Liebe und Theilnahme, die Schumann dem jungen Pariser „Titanen an musikalischer Kraft“12 entgegenbrachte.13 Daß das später anders wurde,14 lag in der Verschiedenheit ihrer Naturen und in der Unvollkommenheit alles Menschlichen – aber von Anfang an verband sie das richtige Gefühl, daß ihre Bestrebungen, wenn auch auf verschiedenen Wegen, nach dem gleichen Ziel gingen. Berlioz, obgleich der Aeltere, ging weiter als Schumann, er ging für Schumann sogar zu weit, obgleich Berlioz gerade der Consequenteste von Allen war, und deshalb auch am Weitesten über die Gegenwart hinaus in die Zukunft ragt. Schumann fußte auf Beethoven und Schubert zugleich, die lyrische und epische Natur kämpften fortwährend in ihm. Berlioz fußte dagegen nur auf Beethoven. Er bildete ihn bis zu jenem Punkte aus, wo die Instrumentalmusik geradezu in die dramatische übergeht. Berlioz’ Natur war auch unter allen Geistern jener Periode die für das Dramatische am entschiedensten begabte, er griff seiner Zeit hierin weit voraus, mußte aber gerade deshalb auf so energische Hindernisse stoßen, daß der letzte entscheidenste Schritt, der ihm die Bühne dauernd gewinnen sollte, an der Ungunst und dem Unverstand seiner Zeit scheiterte. Berlioz kämpfte mit Riesenkraft sowohl kritisch, als durch seine Werke gegen den verbildeten Geschmack seines ganzen Volkes, er hat gelitten und gerungen
10 Robert Schumann gründete 1834 die NZfM, deren Redaktion Brendel 1845 übernahm.
11 Vgl. die Gegenüberstellung von Mendelssohn Bartholdys Paulus (UA 1836) und Meyerbeers Les Huguenots (1837), in welcher Schumann vor Meyerbeers Schaffen ausdrücklich warnt (siehe Schumann 1837 Fragmente aus Leipzig. 4). 12 Schumann 1835 „Hector Berlioz“, S. 184: „Hector Berlioz aus Paris, den wir vorläufig unsern Lesern als einen Titanen an musikalischer Kraft vorstellen, wird ehestens seine Symphonieen in Deutschland und zuerst in Leipzig aufführen.“ 13 Vgl. die Besprechung Schumanns von Berlioz’ Symphonie fantastique op. 14 (EA 1830) auf der Grundlage des von Liszt erstellten Klavierauszugs (siehe Schumann 1835 „Aus dem Leben eines Künstlers“). 14 Vgl. etwa Schumanns Rezension von Berlioz’ Grande Ouverture de Waverley op. 1 (EZ 1826 –1828): „man weiß nicht, ob man ihn [Berlioz] ein Genie, oder einen frechen Abenteurer nennen soll: wie ein Wetterstrahl leuchtet er, aber auch einen Schwefelgestank hinterläßt er; stellt große Sätze und Wahrheiten hin und fällt bald darauf in schülerhaftes Gelalle“ (Schumann 1839 Concertouverturen für Orchester, S. 187).
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wie Keiner, und was er trotz der ungünstigsten Verhältnisse dennoch geleistet und errungen hat, ist bewundernswerth – um so mehr, als Deutschland, welches ihn zuerst so brüderlich begrüßte, so lebhaft unterstützte, ihn später wieder fallen ließ, um ihn endlich, aber erst jetzt, desto wärmer und begeisterter wieder aufzunehmen und zu erheben, weil endlich auch seine Zeit gekommen war. Schumann hatte sich unterdeß consolidirt, seiner subjectiven Künstlernatur gemäß ausgebildet und befestigt. Die Instrumentalmusik und Lyrik der Schu-[28] mann’schen Richtung ward von nun an mehr in der Breite, als in der Tiefe ausgebildet, so weit man auf diesem Wege eben kommen konnte. Liszt und Chopin bildeten ihre Richtung ebenfalls consequent durch, beschränkten sich aber vorläufig nur auf das Pianoforte. Die kritischen Bestrebungen verfolgten ihren Weg, sie kämpften mit immer mehr Glück gegen die falschen Richtungen der dramatischen Musik auf deutschen Bühnen, aber auf kritischem Wege allein konnte man hier nicht mehr weiter gelangen. Die deutsche Oper hatte seit Weber’s Euryanthe15 factisch keinen Schritt vorwärts gethan, obgleich Marschner und Spohr zu den schönsten Hoffnungen berechtigten, dieselben aber nur theilweise erfüllten, weil sie ihrer innersten Natur nach keine reformatorische, sondern nur eine ausbauende Mission zu erfüllen hatten. Ist aber die Zeit endlich gekommen, wo ein Reformator dringend Noth thut, so ist er auch stets erschienen. Die Kritik, welche Schumann, – weil er erreicht hatte, was er erreichen wollte, – von 1844 an ganz aufgab, indem damals die Neue Zeitschrift für Musik in Brendel’s Hände überging16, konnte, ohne realen Grund und Boden und ohne wahrhaft national-künstlerische Anknüpfungspunkte, natürlich kein Genie schaffen – sie konnte nur die Wege bereiten und die Bahn zeigen. Sie hatte gethan was sie konnte, als zur rechten Zeit der Rechte kam, – Richard Wagner. [37] Bei Wagner’s erstem Auftreten, zu Anfang der vierziger Jahre17, zeigte sich die Zerfahrenheit und Engherzigkeit leider deutlich genug, bis zu welcher die damaligen musikalischen Zustände schon wieder gelangt waren, nachdem kaum ein Decennium früher das musikalische „junge Deutschland“18 sich so einheitlich, freisinnig und vorwärts strebend an einander geschlossen hatte. Ohne es zu wollen und ohne es wohl selbst zu fühlen, hatte man sich in die Sackgassen einseitiger Kunstanschauungen und Manieren schon verrannt, und war immer tiefer in das subjectiv
Maria von Weber, Euryanthe (UA 1823). 16 Brendel begann seine redaktionelle Betreuung der NZfM mit der ersten Ausgabe des Jahres 1845 nachdem er sie von Schumann gekauft hatte. Vgl. hierzu Brendels Eröffnungsworte zur Übernahme der Redaktion (siehe Brendel 1845 Zur Einleitung, in: NdS 1 Nr. 1). 17 Wagners Werke der 1830er Jahre waren – neben wenigen kleineren Klavier- und Orchesterwerken – Die Hochzeit (EZ 1832, unvollend.), Die Feen (EZ 1833 –1834, UA 1888) und Das Liebesverbot (UA 1836), die vom Publikum kaum wahrgenommen wurden. Erst mit den Dresdner Uraufführungen von Rienzi (UA 1842), Der Fliegende Holländer (UA 1843) und schließlich Tannhäuser (UA 1845) wurde er in der Öffentlichkeit bekannt. 18 Pohl wählt hier die Bezeichnung, die seit 1830 für die publizistisch aktive, literarische Bewegung junger, liberal gesinnter Dichter des Vormärz verwendet wurde, um sie auf die Komponisten der 1830er Jahre, somit in etwa auf Franz Schubert, Schumann, Weber und Felix Mendelssohn Bartholdy zu übertragen. 15 Carl
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Specielle19 hineingerathen. Der jugendliche allgemeine Aufschwung hatte nicht gehalten, was er versprach, wenigstens glaubte man schon zu bald, genug gethan zu haben. Charakteristisch war es für jene musikalische Periode, daß trotz des augenscheinlichen Verfalles der Bühne, und trotz der grenzenlosen Begriffsverwirrung und Heuchelei in den damaligen Opernzuständen, nicht ein Einziger jener Romantiker und Geistreichen sich bewogen oder berufen fühlte, mit einem Musterwerk aufzutreten und reformatorisch in die Verderbniß der Bühne einzugreifen. War es Mangel an Einsicht, Mangel an Schaffungskraft oder Mangel an Interesse für die höchsten Aufgaben der Kunst, welche in dem Dramatischen erst vollständig ihre Lösung finden – genug, die Thatsache steht fest, daß die ganze bezeichnete Periode, trotz der lautesten und dringendsten Mahnung der Zeit, an dramatischen Kunstwerken ärmer als je war und nichts hervorbrachte, was als fortschreitend und reformirend bezeichnet werden konnte. Die nach-Weber’sche Schule hatte sich ausgeschrieben und war alt geworden; die Mendelssohn’sche Schule konnte, ihrer ganzen historischen und formellen Entwickelung nach, keine Oper, sondern nur Oratorien hervorbringen; Mendelssohn’s eigene Versuche waren entweder unbedeutende Jugendarbeiten oder beschränkten sich auf einzelne Situationen und blieben [38] Fragmente20. Gade soll zwei Opern geschrieben haben, von denen man aber nie etwas gehört hat – er wird wohl wissen, warum.21 Schumann’s Versuch mit der „Genoveva“ 1850 war am bedeutendsten, kam aber schon zu spät. Zehn Jahre früher wäre er vielleicht epochemachend geworden; weil für jene dürre Zeit Schumann’s Streben und Ringen nach dramatischer Reform – welches in der „Genoveva“ sich auf das Ehrenvollste, wenn auch nicht auf das Gelungenste kund gab, – als vereinzelte Erscheinung von nachhaltigerer Bedeutung hätte sein müssen, wenngleich man schon damals auf diesem halben Reformwege nicht weit gekommen wäre. – Den Gebrechen der Zeit gegenüber konnte nur eine Radikalkur helfen, und diese war bereits vermittelt, als Schumann die „Genoveva“
19 Die Beobachtung, dass sich ab den 1830er bis hin zu den 1840er Jahren in ästhetischen, aber auch philosophischen und sozialen Fragestellungen immer mehr eine Scheidung zwischen einer allgemeinen objektiven und subjektiven Haltung ergab, war einer der Hauptkritikpunkte an der Romantik – von Martin Geck als „Realismus-Diskurs“ bezeichnet (siehe Geck 2001 Zwischen Romantik und Restauration) –, der sich vor allem gegen Komponisten wie Schubert, Mendelssohn Bartholdy, Weber und zum Teil auch Schumann richtete (siehe Kretschmann 1848 Romantik in der Musik, in: NdS 1 Nr. 11 sowie auch Krüger 1855 Sonderliche Gedanken, S. 115, in: NdS 2 Nr. 74, S. 855). 20 Angesprochen sind hier die frühen Opern des jugendlichen Mendelssohn Bartholdys Soldatenliebschaft (UA 1820), Die beiden Pädagogen (UA 1821), Die wandernden Komödianten (UA 1822), Die beiden Neffen oder der Onkel aus Boston (UA 1824), die komische Oper Die Hochzeit des Camacho (UA 1827), das Liederspiel Die Heimkehr aus der Fremde (UA 1829) und schließlich die unvollendete Oper Loreley (EZ 1847). 21 Pohl spielt hier wahrscheinlich auf das 1847 entstandene Opernfragment Siegfried und Brünnhilde nach einem Libretto Louise Ottos an. Darüber hinaus liegen von Niels Wilhelm Gade (1817 –1890) auf diesem Gebiet lediglich zwei Bühnenmusiken vor, Alladin (UA 1839) und Agnete og havmanden (Agnethe und der Wassermann, EZ 1838 –1842).
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veröffentlichte.22 Der „Rienzi“, der „fliegende Holländer“ und „Tannhäuser“ waren schon erschienen, „Lohengrin“ war bereits componirt. Je epochemachender Wagner’s Auftreten später werden mußte, um so vereinzelter mußte anfangs seine wahrhaft große Erscheinung unter den damaligen Zuständen bleiben. Er trat mit seiner Kunstanschauung und mit seinen Werken wie aus einer ganz anderen Sphäre so plötzlich und anscheinend unvermittelt in den beliebten Kreis herkömmlicher Formen und Gedanken, daß man ihn anfangs weder zu rangiren, noch anzuerkennen, noch zu begreifen fähig war. Solange Wagner sich noch theilweise in bekannten Opernkreisen bewegte – wie im Rienzi – folgte man ihm mit Theilnahme, ja mit Enthusiasmus23. Der Erfolg des Rienzi war ein so überaus glänzender in Dresden, daß Berlin, Hamburg etc. sich beeilten, ihn auf ihren Bühnen einzuführen.24 Als aber der fliegende Holländer erschien25, verlautete bereits, „derselbe habe den Erwartungen nicht entsprochen, welche der Rienzi erregt habe“26, und über Tannhäuser hörte man vollends außerhalb Dresden fast nichts27. Es ist der schlagendste Beweis von der Unfähigkeit der damaligen Kritik, daß sie nicht fähig war, das Große, Bedeutende und Folgewichtige in Wagner’s Opern auch nur zu ahnen, vielweniger zu erkennen! Es ist namentlich eine nie zu tilgende Schmach für die Dresdener Kritik, daß sie sich in ihren Referaten über Wagner’s Tannhäuser so engherzig, einseitig, ja bornirt aussprach, daß man außerhalb Dresden[s], wo man nichts als diese Zeitungsartikelchen nach altem Schlendrian zu lesen bekam, natürlich keine Ahnung von dem erhalten konnte, was im Tannhäuser lebte und aus ihm folgerecht hervorgehen mußte. – Bei Wagner’s Erscheinen zeigte sich folglich auf das Entschiedenste, daß man bereits auf dem Punkte gestanden hatte, den Begriff für das wahre Wesen der Oper und den künstlerischen Sinn für die Bedingungen eines echten dramatischen Kunstwerkes, theoretisch wie praktisch gänzlich zu verlieren. Wir können daher mit aller Bestimmtheit behaupten, daß Wagner durch seine Kunstwerke allein in der Gegenwart noch nicht durchgedrungen wäre – wenn mit der praktischen Reform, deren Elemente in seinen Opern lagen, nicht eine kritische Reform Hand in Hand gegangen wäre, deren Ausgangs- und Anhaltepunkt allerdings in Wagner’s Opern zu finden ist, deren eigentliches Fundament aber viel tiefer liegt, und, für die Zukunft bauend, auch weit über Wagner’s Opern hinaus greift.
22 Schumann ließ seine Oper Genoveva erstmals 1850, im Jahr ihrer Uraufführung, als Partitur und als zweihändigen Klavierauszug im Leipziger Verlag Peters drucken. 23 Siehe beispielsweise eine der ersten und überschwänglich positiven Rezensionen zwei Wochen nach der Rienzi-Uraufführung am 20. Oktober 1842 im Dresdner Königlich Sächsischen Hoftheater (Anonym 1842 Erste Aufführung der Oper). 24 Die Hamburger Erstaufführung fand am 31. März 1844 statt. In Berlin kam der Rienzi am 15. Oktober 1847 und damit erst fünf Jahre nach seiner Uraufführung auf die Bühne. 25 Wagners Fliegender Holländer wurde am 2. Januar 1843 ebenfalls im Dresdner Hoftheater uraufgeführt. Anfang Juni fanden bereits die Erstaufführungen in Riga und Kassel, einen Monat später in Berlin statt. 26 Das Zitat ist in seinem konkreten Wortlaut nicht nachweisbar, doch wurden die durch den erfolgreichen Rienzi hochgespielten Erwartungen immer wieder an den Fliegenden Holländer herangetragen. 27 Die wenigen Reaktionen auf die Uraufführung vom 19. Oktober 1845 außerhalb Dresdens kamen insbesondere aus Leipzig und Berlin (siehe F. W. M. 1845 Tannhäuser; Gaillard 1845 Tannhäuser; Das. 1846 Offener Brief).
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Diese kritische Reform konnte sich aber erst entwickeln, als Wagner als Schriftsteller auftrat.28 Durch eine seltsame Fügung des Geschickes trat dieses zweite, mächtige Moment erst ein, als Wagner nach seiner Entfernung aus Dresden29 der praktisch musikalischen Thätigkeit so gänzlich entrückt war, daß sogar seine Opern da, wo er sie geschrieben und einstudirt hatte, von dem Repertoir vollständig verschwanden. Die Wirksamkeit Wagner’s als Kapellmeister in Dresden (von 1843 bis 49), die ohnehin bis dahin eine fast ausschließlich lokale geblieben war, verschwand mit seiner Entfernung gleichsam spurlos; das, was er sechs Jahre hindurch angestrebt hatte, war für den Augenblick annullirt. – Wir möchten wohl wissen, was bis jetzt aus Tannhäuser und Lohengrin geworden wäre, wenn nicht die Kritik damals für die Kunstwerke eingetreten und auf systematischem Wege energisch vorangegangen wäre! – Daß wir hier nicht jene alte Kritik des Schlendrians meinen, welche ihre Impotenz bei Wagner’s Opern hinlänglich bewährt hatte, versteht sich von selbst. Elemente einer besseren Kritik auf neuen Fundamenten hatten schon vereinzelt sich kundgegeben, die Anregung zur Concentration und Krystallisation jener sporadischen Versuche zerstreuter Kräfte gab aber offenbar erst Wagner’s Auftreten als Theoretiker.30 Diese Kritik sah sich ganz natürlich von der alten Kritik, und ebenso von dem größten Theil der praktischen Musiker und Künstler gänzlich verlassen und einmüthig angefeindet. Solange man nur gegen fremde Eindringlinge und allgemein schädliche Mächte gekämpft hatte und solange man dies mit idealen Voraussetzungen thun mußte, weil eine künstlerische Realität, die Verkörperung jenes Ideales, eben nicht zu finden war – solange ließ man die kleine Zahl der ästhetischen Reformer ruhig gewähren, denn sie nützten Allen, durch Ausfegung fremden Unrathes, ohne den Sonderinteressen zu schaden. Sowie aber die Realität des Principes in Wagner verkörpert erschien, entspann sich ein allgemeiner Kampf ganz folgerecht. Er mußte sich zur Wuth, zum Fanatis-[39]mus steigern, als man gewahrte, daß es sich hier nicht etwa nur darum handele, Wagner als besten dramatischen Componisten zur Geltung zu bringen und seine Opern „durchzufechten“ – sondern daß es auf eine Reform der gesammten Musikzustände abgesehen sei, und zwar auf eine Radicalreform, bei welcher die jetzt lebende und geltende Kunst nach und nach allen Boden verlieren mußte. Solche Gährungsprocesse konnten freilich die Wenigsten vertragen. Und wir nehmen ihnen das so übel nicht, weil sie fühlten, daß es
28 Folgende
kunsttheoretische Schriften Wagners, die er sämtlich im Schweizer Exil verfasst hatte, waren bis zu diesem Zeitpunkt erschienen: Die Revolution (1849), Der Mensch und die bestehende Gesellschaft (1849), Die Kunst und die Revolution (1849), Das Kunstwerk der Zukunft (1850), Kunst und Klima (1850), Das Judenthum in der Musik (1850), Oper und Drama (1852), Eine Mittheilung an meine Freunde (1852). 29 Nach Wagners aktiver Beteiligung am Dresdner Maiaufstand im Frühjahr 1849 wurden sowohl er als auch seine Frau Minna von der Polizei steckbrieflich gesucht und flüchteten nach Zürich in ihr knapp zehn Jahre währendes Exil. 30 Pohl spielt hier vermutlich nicht zuletzt auf sein eigenes musikschriftstellerisches Wirken an. Angeregt durch die Lektüre von Wagners Oper und Drama (ED 1852) trat er ab 1852 vehement für die Aufführung und Verbreitung von dessen musikdramatischen Werken ein (vgl. Pohl 1852 Dresdner Musik II sowie Pohl 1852 Dresdner Musik III). Zur Biographie Pohls vgl. insgesamt Hartlaub-Pohl 1967 Richard Pohl.
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ihnen dabei selbst an’s Leben ging. Jeder wehrt sich seiner Haut, so gut er kann, nur soll er uns nicht einreden wollen, daß seine Interessen die der Kunst, und sein PrivatHeil das der Welt sei! – Wagner’s Schriften übten zunächst eine rückwirkende Kraft aus. Man lernte durch sie erst den eminenten Geist kennen, der Jahre lang in unserer Nähe gewirkt hatte, ohne daß man seine Größe ahnte. Bisher hatte er nur seine Kunstwerke für sich reden lassen, die wegen ihrer lokalen Einschränkung fast noch Niemand kannte. Jetzt aber sprach Wagner in seinen Schriften, die Jedem zur Hand waren. Man schloß ganz folgerichtig, daß in den Kunstwerken eines Mannes, der so weltbewegende Ideen in seinen Schriften niedergelegt hatte, und der zugleich Dichter und Musiker war, jedenfalls die Keime und theilweise wohl schon die Früchte dieser Ideen zu finden sein müßten. – Die Schriften führten also auf die fast unbekannten Kunstwerke zurück. Und man fand eine solche Fülle von Geist, Schönheit und von neuen, fruchtbringenden Ideen in diesen Opern, daß man nunmehr vor Allem die Aufgabe als die erste erkannte, Wagner’s Opern einen praktischen und allgemeinen Boden zu verschaffen. Diese Aufgabe ward auf das Vollständigste und Glänzendste gelöst. Während noch im Jahre 1849 Dresden die einzige Bühne war, welche Tannhäuser besaß, ist jetzt, fünf Jahre später, Tannhäuser so allgemein verbreitet,31 daß die Bühnen von irgend namhaften Range bereits an den Fingern zu zählen sind, welche Tannhäuser noch nicht gegeben haben. Und unter diesen werden noch drei (Berlin, Carlsruhe und Gotha) das Versäumte in diesem Jahre nachholen.32 Es wird dann nur die süddeutsche Trias, Wien, München und Stuttgart, der Sitz des urweltlichen Stockphilister thums in der Musik, den wenig beneidenswerthen Ruhm haben, Tannhäuser zu „ignoriren“!33 – Während ferner Lohengrin am 28sten August 1850 überhaupt zum ersten Male, und zwar in Weimar, auf der Bühne erschien, zeigt diese Oper, die bei Weitem schwieriger als Tannhäuser ist und deshalb ganz naturgemäß auch eine langsamere Bewegung in der Gunst der Directionen und Musiker macht, schon jetzt einen merkwürdig beschleunigten Siegeslauf, und wird ebenso sicher als Tannhäuser ihren Weg gehen, so daß die Kritik der Reform-Partei auch hier schon das Feld unumstößlich fest behauptet. Es ist bekannt genug, daß Liszt es war, welcher die praktische Ausführung jenes Unternehmens, Wagner’s Opern einen festen Boden in Deutschland zu gewinnen, siegreich in die Hand nahm. Liszt ist dabei mit einer bewundernswürdigen Energie, Consequenz und Sicherheit vorangeschritten und hat in dem Zeitraum von fünf Jahren wahrhaft Unglaubliches geleistet. Den Lesern dieser Zeitschrift brauchen wir das nicht detaillirt zu wiederholen; wir brauchen ihnen auch nicht zu sagen, daß die „Neue Zeitschrift für Musik“, vertreten durch Brendel, und namentlich durch Uhlig, Raff, Bülow, u. A. unterstützt, es war, welche Liszt’s Bestrebungen treulich zur Seite
31 Der Tannhäuser wurde u. a. 1852 in Breslau, Schwerin, Wiesbaden und Dresden, 1853 in Riga, Leipzig, Posen, Frankfurt a. M. und Düsseldorf aufgeführt. 32 Tatsächlich fand die Berliner Erstaufführung des Werkes erst am 7. Januar 1856 statt (vgl. hierzu Draeseke 1856 Richard Wagner, in: NdS 2 Nr. 87). 33 Zum Verhältnis Nord- und Süddeutschlands in Bezug auf die ‚Zukunftsmusik‘ siehe auch Bülow 1853 Die Opposition in Süddeutschland, in: NdS 1 Nr. 54; J. B. 1854 Die Opposition Süddeutschlands, in: NdS 1 Nr. 60.
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stand, und Schritt für Schritt für Wagner’s Opern den ästhetisch-theoretischen Boden erkämpfte, den Liszt auf praktischem Wege gewann und festhielt.34 Liszt wirkte bekanntlich ebenfalls als Schriftsteller für Wagner. Seine meisterhaften Analysen der Wagner’schen Opern trugen nicht wenig zur schnelleren Verbreitung und zur richtigen Würdigung dieser Kunstwerke bei.35 Ihm folgte[n] Robert Franz, Adolph Stahr, Julius Schäffer, Franz Müller, Louis Köhler u. A. m.36 Hier schließt sich die erste Phase der Wagner’schen Bewegung, die wir die praktische nennen können, ab. Sie reicht bis in die Gegenwart, bietet aber so zweifellose Resultate, daß die Discussion darüber bereits als beendet zu betrachten ist und der Streit, ob Tannhäuser und Lohengrin vorzügliche Opern seien, etc., bereits völlig „hors de saison“37 ist. Natürlich folgt erst ein Kritiker nach dem andern, eine Stadt nach der andern, je nachdem die Wagner’schen Opern dort früher oder später erschienen sind. Allenthalben zeigen sich aber dieselben Entwickelungsphänomene und sonstigen Erscheinungen des Für und Wider. Es dauert einige Zeit, bis man sich ausgesprochen, beruhigt und abgeklärt hat, und dann rückt ein Ort nach dem andern in Reih’ und Glied. Will die Kritik nicht nach, so nimmt sie das Publikum in’s Schlepptau, will das Publikum nicht nach, so sorgt die Kritik für die nöthigen Nachhülfen, aber dieselben Resultate erscheinen, mit geringen Variationen, allenthalben wieder.
34 Für
die Autoren Theodor Uhlig, Joachim Raff, Hans von Bülow und Pohl selbst seien hier insbesondere folgende Artikel genannt: Uhlig 1850 Drei Tage in Weimar, in: NdS 1 Nr. 21; Bülow 1851 Entgegnung; Uhlig 1851 Bekenntnisse; Pohl 1852 Dresdner Musik III.; Raff 1853 Vertrauliche Briefe, in: NdS 1 Nr. 45; Pohl 1854 Erste Aufführung des Lohengrin in Leipzig. Zur Rolle der NZfM bei der Verbreitung der Werke Wagners vgl. insgesamt Vazsonyi 2012 Richard Wagner, S. 119 –133. 35 Im französischen Journal des Débats erschien im Mai 1849 Liszts Aufsatz „Le Tannhaeuser“. Sein Artikel „Richard Wagner’s Lohengrin“ wurde erstmals im April 1851 von der Illustrirten Zeitung veröffentlicht. Beide Schriften wurden noch im selben Jahr in französischer Sprache in Leipzig gedruckt (Liszt 1851 Lohengrin et Tannhaüser de R. Wagner). Eine deutsche Übersetzung dieser Broschüre erschien ein Jahr darauf in Köln (Liszt 1852 Richard Wagner’s Lohengrin und Tannhäuser). Vgl. hierzu insgesamt den Kommentar in Liszt-Schriften 4 sowie Vazsonyi 2012 Richard Wagner, S. 119 –133. 36 Eine von Robert Franz verfasste, positive Rezension der Weimarer Lohengrin-Aufführung mit Bezug auf Wagners Schrift Das Kunstwerk der Zukunft erschien 1852 in der NZfM (Franz 1852 Ein Brief über Richard Wagner) und wurde ein Jahr später in englischer Übersetzung im Dwight’s Journal of Music veröffentlicht (Franz 1853 A Letter about Richard Wagner). Julius Schaeffers zweiteilige Lohengrin-Abhandlung, unter Berücksichtigung von Wagners Oper und Drama, wurde von der Neuen Berliner Musikzeitung im Mai 1852 gedruckt (Schaeffer 1852 Über Richard Wagner’s Lohengrin; 1. Teil des Artikels siehe NdS 1 Nr. 31) und zog wiederum eine direkte Reaktion Theodor Uhligs nach sich, der dagegen protestierte, an Lohengrin „einen theoretischen Maßstab“ des später veröffentlichten Oper und Drama anzulegen (Uhlig 1852 Ein kleiner Protest, S. 277). Die in der Berliner Nationalzeitung erschienene Rezension des Werkes von Adolph Star druckte Brendel 1851 in der NZfM ab (Brendel 1851 Einige Worte über Wagner in: NdS 1 Nr. 25), um mit Hilfe dieser seine eigene vergangene und gegenwärtige Stellung zu Wagner zu reflektieren. Franz Müller würdigte Wagners Opern mit mehreren eigenständigen Publikationen (Müller 1853 Ueber Richard Wagner’s Tannhäuser; Müller 1861 Richard Wagner und das Musikdrama; Müller 1862 Der Ring des Nibelungen; Müller 1867 Lohengrin). Louis Köhler gibt sich im Zusammenhang einer Tannhäuser-Aufführung in der NZfM mehrfach als Fürsprecher von Wagners Opern aus. Seine Position unterstreicht er infolge eines zufälligen Treffens mit Liszt, wonach er diesen zitiert: „In Königsberg ist unsere Wagner-Propaganda gut vertreten, namentlich durch L. Köhler“ (Köhler 1854 Aus Königsberg, S. 65). 37 (Frz.) unpassend.
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Hierbei ist Eins aber wohl zu beachten. Es giebt eine für Wagner begeisterte Schule von Musikern, welche sich vorläufig nur an die Kunstwerke hält, nur diese „durchfechten“ will und auf rein praktisch [40] künstlerischen Boden sich stellt. Dieser Schule gehören wir allerdings gleichfalls an, insofern wir gleiche Ausgangspunkte haben, das gleiche Ziel zunächst verfolgten, und die gleichen Resultate mit ihr erreicht haben. Wir zählen aber in sofern nicht ausschließlich zu ihr, als wir dabei keineswegs stehen bleiben wollen, etwa in der Voraussetzung, nun sei Alles gethan, und das End-Ziel erreicht! Liszt hat in seinen Schriften über Wagner sich bis jetzt lediglich an die Kunstwerke gehalten, und nur über diese sich ausgesprochen.38 Er hat noch kürzlich in dem geistvollen und reichen Artikel über „Robert der Teufel“ (Bd. 40, Nr. 25) mit Nachdruck hervorgehoben: „daß die Wagner’sche Schule sicherer fuße auf seiner künstlerischen Thätigkeit, als auf seinen theoretischen Werken, obgleich diese viel dazu beigetragen haben, veraltete Vorurtheile zu vernichten“. (S. 267).39 – Wir machen hier darauf aufmerksam, weil wir diesen Ausspruch unter gewissen Gesichtspunkten, die sich aus Wagner’s Theorie ergeben, später betrachten müssen. Was endlich die einseitigen Gegner der Wagner’schen Kunstwerke betrifft, so spielen diese jetzt eine theils komische, theils sehr traurige Rolle. Komisch ist ihr Gebahren, weil sie sich in Widersprüchen aller Art verwickeln, Theorie und Praxis in seltsamer Geistesabwesenheit durcheinander würfeln und mit Windmühlen fechten. Die Beschränktesten unter ihnen meinen noch immer, Wagner’s Opern sollten das Kunstwerk der Zukunft sein! Sie drehen und wenden Tannhäuser und Lohengrin hin und her und quälen sich zu unserer Belustigung entsetzlich ab, zu beweisen, daß Tannhäuser und Lohengrin nicht das Kunstwerk der Zukunft seien!40 – Eine Mühe, die wir ihnen hätten ersparen können, wenn es unsere Sache wäre, Ignoranten klug machen zu wollen! –
1849 Le Tannhaeuser; Liszt 1851 Richard Wagner’s Lohengrin; Liszt 1851 Lohengrin et Tannhaüser; Liszt 1852 Richard Wagner’s Lohengrin und Tannhäuser (in: Liszt-Schriften 4). 39 Originaler Wortlaut der Passage Liszts: „Die Wagner’sche Schule, sicherer fußend auf einer künstlerischen Thätigkeit, als auf seinen theoretischen Werken, obgleich seine literarische Feder viel dazu beigetragen hat, veraltete Vorurtheile zu vernichten, ist noch zu jung, als daß man eine Meinung über ihre weitere Bestimmung feststellen und ahnen könnte, in welchen Vorzügen ihre Größe bestehe und welche Fehler ihre Umwandlung nöthig machen werden“ (Liszt 1854 Scribe’s und Meyerbeer’s Robert der Teufel, S. 267, in: Liszt-Schriften 5, S. 39). 40 Das angesprochene Vorhaben, Wagners Opern als Realisierung seiner theoretisch ausgeführten Kunstprinzipien zu widerlegen, wurde ab 1852 vermehrt in Reaktionen auf einen Artikel von Julius Schäffer (Schaeffer 1852 Ueber Richard Wagner’s Lohengrin, in: NdS 1 Nr. 31) verwirklicht, in welchem dieser die in Oper und Drama erörterten Kunstprinzipien Wagners anhand Lohengrin aufzuzeigen versuchte. Dagegen richtet sich beispielsweise im Juni 1852 der Widerspruch Theodor Uhligs in der NZfM (Uhlig 1852 Ein kleiner Protest), der mit einem Verweis auf Wagner 1852 Drei Operndichtungen nebst einer Mittheilung an meine Freunde darlegte, dass man mit Hilfe der in Oper und Drama erörterten Grundsätze Wagners bisherige musikdramatischen Werke eben nicht erklären könne. Schärfer reagierte darauf schließlich Johann Christian Lobe innerhalb seiner Fliegenden Blätter (Lobe 1853 Ein Vertheidiger Richard Wagner’s), indem er eine getrennte Betrachtung und Bewertung von Kompositionen und Schriften Wagners verlangte und selbst zu differenzieren versuchte. 38 Liszt
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Andere mühen sich ab, uns zu erklären, daß Wagner’s Opern im Grunde doch musikalische Werke wie andere auch seien; daß sie z. B. Melodie, Rhythmus, Perioden und bekannte Harmoniefolgen haben; daß sie durchaus nicht wie Minerva41 fix und fertig aus dem Kopfe eines Meisters entsprungen seien, der von der ganzen Welt der Vergangenheit nichts gewußt und etwa Alles aus sich geschöpft hätte. Sie freuen sich, wenn sie entdecken, daß Wagner den Gluck, Mozart, Spontini, Beethoven, Weber und Berlioz ganz gründlich studirt, die Fortschritte und Errungenschaften dieser Meister sich angeeignet und ihre Erfahrungen benutzt habe! – Zu diesen philiströsen Naturen, die wir mehr bedauern als belachen, gehört z. B. der Wohlbekannte42. – Es ist wahrhaft rührend, wie sich der „Fliegende Blätter-Mann“43 in seinem neuesten Heft, in den „Briefen über Wagner“44 expectorirt. Er zeigt z. B. seinen Schulknaben, (denn ein anderes Publikum hat er sich hoffentlich nicht dabei gedacht!) die ersten acht Tacte der Tannhäuser-Ouvertüre, und fragt dann: „Können Sie darin einen neuen Accord entdecken? – Antwort: Nein! – Nun da haben wir’s! Und doch behaupten die Leute, Wagner sei der genialste jetzt lebende Componist!“45 – Er „analysirt“ ferner die ganze Pilger-Einleitung der Ouvertüre durch46, findet mit Befriedigung, daß sie eine „populäre Melodie“47 habe, daß Wagner sogar „gegliederte Perioden bilden kann, wenn er nur will“48, (es ist erstaunlich!) „daß aber diese Wagner’sche Melodie doch nicht die beste unter allen vorhandenen Melodien sei!“49 – Welcher Unsinn! Er faselt so in’s Himmelblaue hinein, daß seinen Schulknaben zuletzt der Kopf brummen muß und sie in ihrer Einfalt endlich glauben, wenn Wagner die Ouvertüre nicht gemacht hätte, würde sie ganz gewiß der „Wohlbekannte“ gemacht haben! – Was sich doch manche Menschen für entsetzliche Mühe geben, den gesunden Menschenverstand so zu verkleistern, daß man den Wald zuletzt vor lauter Bäumen nicht sieht! Schwätzer, die uns wie
41 Die
römische Göttin Minerva, Tochter des Zeus und der Metis, entsprang zufolge der nachhesiodeischen Fassung des Mythos bei der Enthauptung ihres Vaters durch Hephaistos bereits in voller Rüstung dessen Kopf. 42 Hinter diesem Pseudonym verbirgt sich Johann Christian Lobe (1797 –1881), Musikschriftsteller, -theoretiker und Komponist. 43 Lobe war alleiniger Herausgeber und Autor der Zeitschrift Fliegende Blätter für Musik mit dem Beinamen Wahrheit über Tonkunst und Tonkünstler, welche im Zeitraum von 1852 bis 1857 bei Baumgärtner in Leipzig erschien. 44 Von Lobes hier angesprochenen Briefen über Rich. Wagner waren bis zu der Veröffentlichung dieses Artikelteils Pohls vom 21. Juli wohl zunächst nur die ersten fünf Briefe erschienen (Lobe 1854 Briefe über Rich. Wagner, S. 411– 429). Die Publikation aller 15 Briefe Lobes über Schrift und Werk Wagners wurde dann mit dem ersten Heft der Fliegenden Blätter von 1855 abgeschlossen (ebd., S. 444 – 465 und S. 27 – 48). Zur widersprüchlichen Wahrnehmung Lobes durch die NZfM sowie seiner differenzierenden Stellung im Parteienstreit siehe folgende Artikel und ihre Kommentare: Anonym 1854 Neueste musikalische Literatur, in: NdS 1 Nr. 58 und Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik, in: NdS 1 Nr. 62. 45 Siehe Lobe 1854 Briefe über Rich. Wagner, S. 419. 46 Siehe ebd., S. 421. 47 „Das Adagio ist ganz populäre Melodie, in ihrer Zeichnung durchaus einfach und fließend“ (ebd., S. 425). 48 „Beiläufig sehen Sie [im abgedruckten Notenbeispiel], daß Wagner klar und symmetrisch gegliederte Perioden und Melodien gar wohl bilden kann, wo er will“ (ebd., S. 426). 49 „Wie gesagt, die beste unter allen vorhandenen Melodien ist die Wagnersche nicht. Es gibt viele, die ihr an Werth und Wirkung gleichkommen, und es wären einige zu nennen, die sie in beiden Beziehungen übertreffen“ (ebd., S. 426).
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Polonius, mit Wortschwall beweisen wollen, „warum Tag, Tag; Nacht, Nacht; die Zeit, die Zeit“50 – die läßt man heutzutage stehen und zuckt nur die Achseln. – Noch Andere fangen’s aber schlauer an – so die „Grenzboten“51, Sobolewski52 etc. Sie stechen einige kleine Inconsequenzen in Wagner’s Opern, z. B. Wortwiederholungen in Chören, oder bekannte harmonische Wendungen, an denen man allenfalls eine Reminiscenz herauswittern kann, oder eine Auffassung der Situation, die an Vorgänger erinnert etc., auf; sie suchen einige schwache Stellen in der Partitur, einige matte oder gewöhnliche Verse aus dem Text zusammen, hängen diese unglücklichen Schlachtopfer an die große Glocke und jubeln: „da habt ihr den ganzen Wagner! Wem man solche Ausstellungen machen kann, der soll unser Vorbild sein? Wer auch nur das Geringste sich vorwerfen lassen kann, der soll besser als wir Alle sein? hier dieser Tact und jener Vers, dieser Accord und jenes Tremolo beweisen euch, daß Wagner, hätte er es so oder so gemacht, etwas gekonnt hätte; aber wie er uns das vorführt, beweist er, daß er Nichts kann!“ – Und nun hagelt es Seitenhiebe auf das Kunstwerk der Zukunft, welches bekanntlich noch gar nicht da ist, weil es sonst nicht ein Werk der Zukunft wäre!53 – – Mit solchen Leuten haben wir uns jahrelang herumschlagen müssen! Dies auf die Dauer durchzuführen, dazu gehörte eine himmlische Geduld und eine [41] Menschenliebe und Ausdauer, die wir nicht besitzen können, – denn sie führte zuletzt direct in’s Irrenhaus54. Mit diesen Gegnern noch zu verkehren, wäre unnütze Verschwendung an Kraft und Zeit. Denn theils wollen diese Leute gar nicht überzeugt sein, und theils kommt nicht das Geringste darauf an, ob sie überzeugt sind oder nicht. Die Entwickelung geht ohne sie und trotz ihrer dennoch vorwärts. Weil wir aber zu diesen Bissigkeiten, Pedantereien und Gehässigkeiten in neuerer Zeit gänzlich schweigen, glauben diese Herren, uns durch ihre ausgekramte Weisheit zum Schweigen gebracht zu haben! – Dieses erhebende Bewußtsein gönnen wir ihnen mit Vergnügen, und überlassen hiermit sie, wie ihre Vorgänger und Bundesgenossen für immer ihrem Schicksal, um uns zur Betrachtung von Wagner’s Theorie zu wenden. [45] Es ist für die Individualität Wagner’s höchst charakteristisch, daß er in seinen theoretischen Werken – die rasch hintereinander folgten, als müsse er sich schnell davon befreien, bevor er wieder Kunstwerke zu schaffen beginnen könnte – fast
Shakespeare, Hamlet (ED 1623), 2. Aufzug, 2. Szene „Ein Zimmer im Schlosse“, Polonius: „So wäre dies Geschäft nun wohl vollbracht. / Mein Fürst, und gnäd’ge Frau, hier zu erörtern, / Was Majestät ist, was Ergebenheit, / Warum Tag, Tag; Nacht, Nacht; die Zeit, die Zeit: / Das hieße, Nacht und Tag und Zeit verschwenden. / Weil Kürze denn des Witzes Seele ist, / Weitschweifigkeit der Leib und äußre Zierrat, / Fass’ ich mich kurz. Eu’r edler Sohn ist toll, / Toll nenn’ ich’s: denn worin besteht die Tollheit, / Als daß man gar nichts anders ist als toll? / Doch das mag sein“ (Shakespeare-Werke 1, 3, S. 506). 51 Siehe beispielsweise Anonym 1853 Tannhäuser von Wagner; Anonym 1853 Lohengrin, Oper von Richard Wagner sowie Anonym 1853 Noch einmal Wagner. 52 Sobolewski 1854 Skizzen. Nach Aufführung des Tannhäuser. 53 Vgl. etwa die kritische Auseinandersetzung Joachim Raffs mit Wagners Lohengrin in Raff 1854 Die Wagnerfrage. 54 Diese Bemerkung spielt sicherlich auf die Einlieferung des schwer erkrankten Robert Schumanns in die Endenicher Heil- und Pflegeanstalt im Frühjahr desselben Jahres an, wodurch Schumann indirekt auf die Seite der kämpfenden und bekämpften ‚Zukunftsmusiker‘ gestellt wird. 50 William
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durchgängig retrospectiv verfuhr, so zwar, daß man sein letztes Buch („Mittheilung an meine Freunde“55) zuerst lesen muß, während man die erste Broschüre („Kunst und Revolution“56) erst dann verstehen kann, wenn man in den Wagner’schen Geist so eingedrungen ist, daß man zwischen den Zeilen zu lesen versteht, und alle übrigen Werke von ihm schon genau kennt. Wagner warf seine erste Broschüre 1849 in die erstaunte und verblüffte Welt hinaus, ohne daß ihm das Geringste daran gelegen war, ob man ihn verstehe und verstehen könne, oder nicht. Er zerhieb den gordischen Knoten unserer Kunstzustände mit einem Schlage, Anderen es überlassend, Anfang und Ende zusammen zu suchen, und zu verbinden. Das war offenbar genial und groß, aber kein Mensch wird behaupten wollen, daß es systematisch verfahren war, und daß mit diesem blitzschnellen Hereinbrechen ganz fremdartiger und neuer Ideen, – noch dazu in einer Zeitepoche der grenzenlosesten Verwirrung und Irrung – eine Kunstrevolution ohne Weiteres hervorgerufen werden konnte. Es wäre so, als wollte jetzt ein Emissär aus den Vereinigten Staaten plötzlich in Japan erscheinen, die Principien der reinsten Social-Demokratie predigen und nun ohne Weiteres anfangen, zu reformiren und zu revolutioniren. Die Künstler, Aesthetiker, Kritiker, Philosophen und sonstigen Kunst-Systematiker benahmen sich denn auch gerade so, wie sich die Japanesen in diesem Fall benehmen würden: sie gafften den Prediger einer neuen, unerhörten Lehre theils als Wunderthier, theils als Verrückten an, sie überlegten sich das Ding eine [46] Weile, witterten so etwas von gefährlichen Grundsätzen, und fielen nun Alle auf einmal über den neuen Propheten her, indem sie sich, auf echt japanesisch, bemühten, ihn mit dem Goldpapier ihres Weisheitskrames so dick zu bekleben, daß der Aufwiegler hätte ersticken müssen – wenn Ideen mit Papier zu ersticken wären!57 Wagner fühlte selbst, daß er bei dem ersten Schritt, der dem ganzen Jahrhundert ohne Weiteres „va banque“ bot, nicht stehen bleiben konnte, wenn er nicht wirkungslos verhallen sollte. Er hatte seine „Kunst und Revolution“ im Drange der Begeisterung wie ein Kunstwerk geschaffen, er hatte sie gesungen wie ein Dichter, nicht im trocknen Tone des Lehrgedichtes, sondern schwungvoll, eine Ode an Apollon. Das war keine Theorie, und doch mußten theoretisch-künstlerische Grundgedanken als Basis gedient haben, Gedanken, die in Wagner längst sich ausgebildet hatten, deren Entwickelung er aber der Welt noch nicht mitgetheilt hatte, sondern nur ein Resultat, das man nicht verstand. Die Entwickelung kam, wie gesagt, erst später nach, und zwar der Anfang zuletzt. Aber auch jetzt noch, wo uns Wagner’s Ideengang vollständig vorliegt, können wir nicht behaupten, daß Wagner ein Systematiker sei. Er würde sich für dieses zweifelhafte Compliment auch gehorsamst bedanken. Wagner ist und bleibt Künstler, d. h. er hat seine Theorie aus seinem Schaffen, seine Ideen mit seinen Werken herangebildet.
55 Wagners Drei Operndichtungen nebst einer Mittheilung an meine Freunde wurde bereits im November 1851 veröffentlicht. 56 Die Kunst und die Revolution wurde bereits 1849 publiziert. 57 Die in Folge der Märzunruhen aufoktroyierte Verfassung von 1848 wurde in ihrer revidierten 1850er Fassung von Friedrich Wilhelm IV. einmal als „papierner Wisch“ bezeichnet, der sich besser nicht zwischen ihn und sein Volk geschoben hätte (vgl. Huber 1968 Der Kampf um Einheit und Freiheit 1830 bis 1850, S. 487).
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Er konnte und wollte nicht philosophisch verfahren, und etwa erst Kunstwerke theoretisch construiren, deren Möglichkeit zwar bewiesen wäre, deren Vorhandensein aber noch hypothetisch erschien. Als Künstler, aber nicht als Systematiker ist daher Wagner auch nur zu fassen. Unter diesem Gesichtspunkte waren alle seine Ideen aus dem Ganzen, waren es hier mit allen Consequenzen und Eigenthümlichkeiten, die der Künstlernatur eigen sind. Das subjectiv individuelle Gepräge war hiervon nicht ausgeschlossen. Es wäre lächerlich, zu behaupten, daß Wagner objectiv verfahren sei, oder seiner ganzen Mission nach objectiv hätte verfahren sollen. Hätte er das gethan: so wären wir zwar um ein philosophisches System in der Aesthetik reicher, aber die Künstler wären um nichts klüger geworden, da bekanntlich noch keine Aesthetik im Stande gewesen ist, auch nur die geringsten formellen Erweiterungen oder harmonischen Vertiefungen in der Musik theoretisch zu schaffen. Die ganz natürliche Folge war – und dies ist wiederum charakteristisch genug – daß Wagner’s Theorie zuerst bei den Künstlern Eingang fand, obgleich sie gerade die ganze moderne Kunst, wie sie eben vorlag, über den Haufen warf, also weder den Künstlern schmeichelte, noch ihre Existenz etwa befestigte. Aber nur der Künstler konnte den Künstler verstehen, nur er die Begeisterung begreifen, dem Ideenflug folgen, nur er ihn ausführen. Die Kritik stand erst mit offenem Munde da, und glaubte zu träumen, schlug aber dann wie toll um sich, denn ihr ging’s an’s Leben. Die Aesthetik und Philosophie lächelte zuerst vornehm geringschätzend über ein System, welches eigentlich kein System war, und doch die Prätention eines solchen machte, ja, sich anmaßte, die Kunst reformiren zu wollen, ohne doch das nöthige Zeugniß aufweisen zu können, von einem Philosophen geboren und paragraphenweise großgezogen zu sein. Wir erlebten das seltene Schauspiel, daß die Kunst sich so vollständig und gänzlich von allen bis dahin geltenden und heilig gehaltenen Systemen losriß, daß ein kompletter Bruch unvermeidlich ward. Sowie dieser Bruch einmal notorisch war, konnte der Vernichtungskampf nicht auf sich warten lassen. Wir stehen hier am Schluß der zweiten Periode der Wagner’schen Bewegung, einer Periode die – ebenso wie die des Kampfes um den Werth und die Lebensfähigkeit der Wagner’schen Kunstwerke – sogut [sic] als beendet zu betrachten ist. Es ist die Periode der schroffsten Gegensätze, des schonungslosesten, erbittertsten Kampfes, wo kein Pardon verlangt, noch gegeben wird. Es war die Zeit der vollsten Thätigkeit von Theodor Uhlig, das wahre Element der Hoplits und Peltasts, mit einem Wort die polemische Periode.58
58 Die beiden sich hinter den Pseudonymen verbergenden Autoren Pohl (alias „Hoplit“) und Hans von Bülow (alias „Peltast“ – die Bezeichnung einer bewaffneten Fußtruppe im antiken Griechenland) veröffentlichten speziell unter ihren Decknamen polemische Texte, wie auf der Gegenseite beispielsweise auch Eduard Krüger alias „DIXI.“, der durch seine scharfen Stellungnahmen mehrfach Angriffspunkt der Artikel Uhligs wurde. Zentrale Artikel der drei Autoren aus der genannten „Periode der schroffsten Gegensätze“ sind beispielsweise: Uhlig 1851 Bekenntnisse (eine polemische Verteidigung gegen die Angriffe aus Krügers Artikel „Zeitsinniges“ von 1851); Uhlig 1852 Ueber die musikalischen Briefe eines Wohlbekannten; Bülow 1853 Ein Schwager; Bülow 1853 Die Opposition in Süddeutschland, in: NdS 1 Nr. 54; Pohl 1853 Ein Blick nach dem ‚fernen Westen‘, in: NdS 1 Nr. 46; Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51 sowie Pohl 1854 Erste Aufführung des Lohengrin in Leipzig.
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Hier kommt der Verfasser dieses Artikels in die Verlegenheit, seine eigene Stellung beleuchten zu müssen. Er hat es bis jetzt verschmäht, von dem Recht jedes Mitarbeiters dieser Zeitschrift Gebrauch zu machen, und sein Glaubensbekenntniß abzulegen, wie es seiner Zeit Uhlig, Raff, Hinrichs, v. Bülow, u. A. gethan haben.59 Er macht hier darauf aufmerksam, daß er bis jetzt über Wagner’s Theorie noch kein Urtheil abgegeben, sondern nur über die Kunstwerke gesprochen, und gegen die bornirtesten Gegner „aus dem Gröbsten“ polemisirt hat. Er hat es bis jetzt ruhig geschehen lassen, für einen absoluten Wagnerianer mit allen Consequenzen zu gelten, d. h. für einen welcher auf jedes Wort von Wagner schwört, und seine Theorie en bloque annimmt. Ob dem so sei oder nicht, könnte er der Oeffentlichkeit gegenüber ganz ignoriren, (da ihm an dem Urtheil und der Meinung seiner Gegner auch nicht das Geringste gelegen ist) wenn nicht Brendel’s Buch für Jeden, welcher der Wagner’schen Partei angehört, die directe Veranlassung gäbe, sich darüber auszusprechen und zu erklären. Durch unbedingtes und ohne Wahl blindes Lob ist auf die Dauer begreiflicherweise ebensowenig gethan [47] und gewonnen, wie durch Schweigen. Unsere Zeit ist eine viel zu reflectirte, um sich rein receptiv gegen die Kunst zu verhalten. Solange das goldene Zeitalter der Kunst also nicht erreicht ist, solange kann man die Kunstwerke nicht sorglos ihrem eigenen Geschick überlassen, darf überhaupt nicht schweigen, will man den Gegnern das Feld nicht gutwillig räumen. In Momenten aber, wo die natürlichen Gegner der freien Entwickelung in der Kunst massenhaft aufstehen; wo Einer den Anderen in maßlosem Tadel und mit hinterlistigen Verdächtigungen förmlich zu überbieten sucht, halte ich es geradezu für die Pflicht eines Jeden, der die Schönheiten und den Werth eines angegriffenen Kunstwerkes oder Künstlers zu erkennen und zu schätzen weiß: sich in die Reihen seiner Vertheidiger zu stellen, und solange unermüdlich Stand zu halten, bis Resultate erzielt sind, welche eine Garantie für die Zukunft bieten. In Regenerationsperioden wie die unsrige, welche den Krisen in gefährlichen Krankheiten gleichen, wo die schroffsten Gegensätze so hart aneinander gerathen, daß die Funken sprühen, wo der Fanatismus eine ruhige Debatte, mit aufrichtiger Erwägung und gemäßigter Ausgleichung des Für und Wider[,] momentan unmöglich macht: halte ich es sogar für gerechtfertigt, den heftigsten Angriffen der Gegner mit gleichen Waffen zu begegnen – natürlich mit Ausnahme der Gemeinheit, Perfidie und Bornirtheit, deren Handhabung das unbestrittene Monopol unserer Gegner ist. In solchen Krisen wird aber ein schroffes, rückhaltloses und rücksichtsloses Vorgehen nicht nur förmlich provocirt, sondern es ist sogar nothwendig, die bewundernswerthen und wahrhaft großen Seiten der Kunsterscheinung, deren Vertretung wir übernommen haben, zunächst aus[s]chließlich hervorzuheben, und die schwächeren Seiten, die jedes Kunstwerk oder System von Menschenhand hat und haben
59 Zu den größeren und breiter wahrgenommenen Stellungnahmen der genannten Autoren zu Wagners Schriften und Musik zählen beispielsweise Uhlig 1850 R. Wagner’s Schriften über Kunst; Uhlig 1850 Drei Tage in Weimar, in: NdS 1 Nr. 21; Uhlig 1851 Gedanken über die Oper; Uhlig 1851 Die Ouvertüre zu Wagner’s Tannhäuser; Raff 1853b An die Redaction; Raff 1853 Vertrauliche Briefe, in: NdS 1 Nr. 45; Raff 1854 Die Wagnerfrage; Hinrichs 1853 Zur Würdigung Richard Wagner’s; Hinrichs 1854 Richard Wagner und die neuere Musik sowie Bülow 1853 Ein Schwager.
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muß, solange mit allen ehrenhaften Waffen zu decken, bis das junge Kind der Zeit stark und kräftig genug ist, auf sich selbst zu fußen, seine Schwächen selbst zu übertragen, und das Recht einer freien, ungestörten Selbstentwickelung und Selbsterstarkung ungetrübt zu genießen. Erst gilt es, einer wirklich großen und bedeutenden Erscheinung Anerkennung zu verschaffen. Ist diese erreicht, dann ist es Zeit zur eingehenden Kritik. Wir dürfen hier nie vergessen, daß wir im Gebiet der Musik uns bewegen, also in der, für alle jungen und aufstrebenden Geister, für alle weiterschreitenden und reformirenden Genies am schwierigsten und gefährlichsten, ja sogar feindseligen Kunst. Solange wir die Geschichte der Musik kennen, hat jeder musikalische Reformer im Anfang mit denselben Gegnern und Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt. Dies gilt für den Gregorianischen Kirchengesang so gut wie für Palestrina, für Luther so gut wie für Bach, für Händel ebenso wie für Mozart, und mit Beethoven beginnen die musikalischen Leiden unseres Jahrhunderts, deren Vorgänge ja vor aller Augen liegen. Welchem epochemachenden Musiker ist es je so wohl geworden, mit seinem Op. 1 so durchzuschlagen, und ein so wohlverdientes Aufsehen zu machen, wie Göthe mit seinem „Werther“60 oder Schiller mit den „Räubern“61? Welchem Musiker ist vom Anfang seiner Laufbahn an ein Glück zu Theil geworden, wie es Raphael62 genoß? – In jeder andern Kunst ist mehr Gerechtigkeit und Anerkennung zu finden, als in der Musik; in keiner Kunst sind so haarsträubend dumme Urtheile, so empörend nichtswürdige Verketzerungen zu Tage gekommen, als in der Musik. Keine Kunst bedarf also mehr der Aufmunterung Derer, welche ihren Werth erkannten, bedarf dringender den Schutz gegen Ungerechtigkeit und Fanatismus, ein consequenteres Durchkämpfen jedes neuen lebenskräftigen und vielversprechenden Keimes – als die Musik. Und gegen Wen haben wir denn zu kämpfen? Gegen eine Partei, deren Grundsatz es ist, alles Neue zu verhöhnen, alles Große zu verkleinern, alles Wahre zu verdächtigen, es mag ausgehen, von Wem es wolle. Dieselbe Opposition, die Weber halb zu Tode geärgert hat, sein größtes Werk[,] die „Euryanthe“[,] lächerlich machte, und ihn nach England fort trieb, war es, die auch Schubert halb verhungern ließ, die Beethoven’s „Fidelio“ fort und fort verstümmelte und verketzerte, und ihn in seiner letzten Periode noch für halb verrückt erklärte! Dieselbe Partei ist es, die Berlioz im innersten Lebenskerne tödtlich verwundete, Schumann’s Anerkennung verhinderte, und jetzt auch Wagner tödtlich haßt und verfolgt! Einer solchen erblichen Reaktion gegenüber gilt es, den Kampf auf Tod und Leben zu führen, denn nur mit ihrer völligen moralischen Vernichtung ist der Streit beendet,
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Wolfgang von Goethe veröffentlichte nach seinem ersten großen nationalen Erfolg 1773 mit dem Drama Götz von Berlichingen bereits im Folgejahr seinen zweiten, nun auch international für Aufsehen sorgenden Briefroman Die Leiden des jungen Werthers. 61 Friedrich von Schillers erstes veröffentlichtes Drama Die Räuber führte nach seiner Uraufführung im Jahr 1782 schlagartig zu großer nationaler Anerkennung und Berühmtheit des Dichters. 62 Der italienische Maler und Architekt wurde bereits im Alter von 25 Jahren für seine Kunst mit Auszeichnungen von päpstlicher Seite geehrt und beauftragt, die Gemächer des Papstes im Vatikan mit Wandgemälden auszuschmücken. Fünf Jahre später, 1514, wurde Raffael zum Architekten und Bauleiter der neuen Peterskirche ernannt.
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da Concessionen nicht denkbar, Verständigung unmöglich ist. – Ist der Sieg gegen diese durchgefochten, dann erst ist es Zeit zur eingehenden, sondernden und aufbauenden Kritik, zur Verständigung mit den Wohlwollenden, Gemäßigten und Unparteiischen, die während des ersten Kampfes kopfschüttelnd zur Seite traten, und in ihrer Unbefangenheit und Gutmüthigkeit nicht begreifen können, wo das Alles hinaus soll – weil sie weder den Charakter, noch die Absichten Jener kennen, mit denen man es in der Zeit der ersten Entwickelung immer zu thun hat. Man muß eine große und bedeutende Erscheinung erst achten und schätzen lernen, bevor man sie gerecht beurtheilen kann. Die Achtung und Verehrung läßt sich nicht gebieten und erzwingen, aber die Ver-[48]ächter sind zu beseitigen. Diesen Verächtern, welche die ganze Schöpferkraft unserer Zeit ohne Weiteres negiren, und dann noch die Unverschämtheit haben, mit ihrem negativen Maßstab, unter den tollsten Voraussetzungen sich zu Kunstrichtern aufzuwerfen – nur diesen kann man im Anfang begegnen, weil sie sich stets in die erste Linie drängen, und das große Wort führen. Diesen kann und soll auch nur eine Polemik gelten, die keineswegs das Ende, sondern nur der Anfang einer Kunstreform sein darf. Wenn ich Wagner recht verstehe, so war dies auch sein leitender Gedanke in der Polemik, die er gegen die Kunst der Gegenwart in seinen Schriften eröffnet und durchgeführt hat. Wenn man nur die Wahl zwischen nichtssagenden und nichts helfenden Vermittelungsversuchen, und einem Radicalverfahren hat, so ist es gerechtfertigt, für den Augenblick mit der Vergangenheit und Gegenwart zu brechen: die Ausgleichung und Anknüpfung stellt sich ihrer Zeit ganz von selbst wieder ein. Reformationen beginnt man aber nicht mit Concessionen; Revolutionen macht man nicht mit Höflichkeiten. Wer das nicht versteht, der bleibe hübsch daheim und verstecke sich, bis die Revolution vorüber ist! – – – Unter gleichem Gesichtspunkte ist auch ein Ausspruch von Liszt (in dem früher angeführten Artikel) gefaßt, welchem vollkommen beizustimmen ist: „Die Meisten von Jenen, welche der vollendetsten Opernform ihre volle Bewunderung mit Recht zugewendet haben, kommen auf ganz natürlichem Wege in den Fall, tabula rasa in Betreff alles Vorhergehenden machen zu wollen, und insbesondere rigoristisch in ihrem Urtheil gegen die Richtung zu verfahren, welche sie noch zu bekämpfen haben. – – – Dies ist eine, jeder Fortschrittsperiode, jeder Reform anhaftende Undankbarkeit; bei allen Verbesserungen und Vervollkommnungen kommt sie in den nöthigen Vorboten, den unvermeidlichen Vorbereitungen ganz natürlich zum Vorschein“63. Ich habe schon oben bemerkt, daß diese zweite Phase der Wagner’schen Bewegung jetzt ihrem Ende zueilt. – Das Erscheinen von Brendel’s Buch bildet hier in gewissem Sinne den Markstein. Es kann natürlich einen Abschluß nicht ohne Weiteres herbeiführen, es soll ihn aber anregen und vermitteln.
63 Liszt
1854 Scribe’s und Meyerbeer’s Robert der Teufel (Liszt-Schriften 5, S. 41).
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Dies zu begründen und aus dem Buche selbst zu entwickeln, ist die Aufgabe des nachfolgenden zweiten Artikels64, mit welchen [sic] wir unmittelbar in die dritte Entwickelungsphase eintreten, in die der wissenschaftlichen Untersuchung, der historischen Entwickelung und kritischen Vermittelung. Hier kann nur Schritt für Schritt verfahren werden. Wenn wir aber rückwärts blicken und überschauen, was bis jetzt schon geleistet und erreicht worden ist, finden wir in den uns vorliegenden reichen Resultaten, in den unerschütterlichen historischen Thatsachen die sicherste Garantie, daß wir eben auf dem rechten Wege sind, und in der Zukunft auch das erreichen werden, was die Gegenwart uns vergeblich noch bestreiten will: eine Reform der Kunst, eine Regeneration der Musik in allen Consequenzen. – – –
[233]
Zweiter Artikel.III Jener berühmte Hegel’sche Satz, daß „Alles was ist, vernünftig ist“65, hat schon so oft das Schicksal erfahren, lächerlich gemacht zu werden, daß man jetzt, wo die Hegel’sche Philosophie für abgeschlossen, um nicht zu sagen abgethan erklärt wird, diese paradox scheinende Thesis nicht auf ’s Neue anregen sollte, wenn man sich nicht der Gefahr aussetzen will, von vorn herein mißverstanden zu werden. Dennoch wagen wir, auf diese Gefahr hin, zu behaupten, daß bei richtigem Verständniß dieser Satz gerade der Ausdruck des Grundprincipes ist, von welchem aus die gesammte historische Forschung zu gehen hat, wenn sie eine wissenschaftliche Forschung, und keine bloße Anhäufung und Compilation zusammenhangloser Facta und Anekdota sein soll. Im Gebiet der Universalgeschichte ist dieser Grundsatz schon längst anerkannt, und mit mehr oder weniger Glück auch festgehalten und durchgeführt worden. In der Kunstgeschichte weiß man aber noch Wenig davon, wie man denn überhaupt ohne Rückhalt aussprechen muß, daß die Leistungen auf dem Gebiet zur Kunstgeschichte noch weit davon entfernt sind, denen der Universalhistorie sich ebenbürtig an die Seite stellen zu können. Zunächst ist es Thatsache, daß nicht nur einzelne Zweige der Kunstgeschichte noch so gut wie unausgebaut sind, sondern daß auch über ganzen Perioden derselben ein fast noch undurchdringliches Dunkel ruht. Unter diesen Verhältnissen ist es zwar erklärlich, aber nicht weniger bedauernswerth, daß eine Universal-Kunstgeschichte überhaupt noch nicht existirt. Wenn wir III Vergleiche 64 Im
Nr. 3, 4 und 5 dieses Bandes.
Unterschied zum ersten, erschienen der zweite und dritte Artikel unter dem leicht variierten Titel: „Betrachtungen über F. Brendel’s Schrift: ‚Die Musik der Gegenwart und die Gesammtkunst der Zukunft‘“. Diese Änderung wird zwecks Einheitlichkeit für die Kurztitel in der vorliegenden Edition nicht übernommen. 65 Im Original lautet die Aussage Hegels: „Was vernünftig ist, das ist wirklich; und was wirklich ist, das ist vernünftig“ (Hegel-Werke 7, 24).
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auch anerkennen, daß seit Winkelmann66 und Lessing67 einzelne Zweige der Kunstgeschichte ganz vorzüglich ausgebaut wurden – daß namentlich die Geschichte der bildenden Künste und der Literatur Triumphe gefeiert hat, in unsterblichen, für [234] alle Zeiten classischen Werken – so wird doch Niemand läugnen könne, daß trotz Pater Martini68, Gerbert69, Forkel70, Kiesewetter71, Winterfeld72, Fétis73, u. A. m. die specielle Geschichte der Musik sich jetzt noch in einem Stadium der Entwicklung befindet, welches zwar zu schönen Hoffnungen berechtigt, aber die Anforderungen, die man von wissenschaftlicher und künstlerischer Seite an sie stellen muß, noch keineswegs erfüllt, und vielleicht noch nicht erfüllen könnte. Nicht nur, daß es in der Geschichte der Musik Perioden giebt, deren Entwickelung und Zusammenhang mit den übrigen Perioden für Nichts weniger als aufgeklärt gelten kann; nicht nur, daß einzelne Zweige dieser Kunstgeschichte – so z. B. die Geschichte der Instrumentalmusik, die Geschichte der Formenlehre, etc. noch gar keinen Monographen gefunden haben – sondern wir vermissen auch in den vorhandenen Geschichtsschreibungen, (mit rühmlicher Ausnahme einiger monographischen und biographischen Arbeiten), das, was die Universalhistorie in so hohem Grade schon ihr eigen nennt: eine gleichmäßige Behandlung, eine sorgfältige Kritik der Quellen, und vor allem jenes spekulative Band, welches Ursache und Wirkung verknüpfen, den Geist des Künstlers mit dem Geist der Zeiten vermitteln und die Empirie der Thatsachen durch die Hülfsmittel einer richtig angewandten Spekulation vergeistigen soll. Räumt man dieser Auffassung der Kunstgeschichte – welche zuletzt ganz von selbst zu einer Geschichte der Gesammtkunst führen muß – ihre volle Berechtigung ein, so ist jeder Versuch, welcher von universalem Standpunkte aus die spekulative Vermittelung irgend einer Kunstperiode, und die genetische Entwickelung derselben aus dem Geist der Zeit unternimmt, von vorn herein als höchst anerkennenswerth und nachahmungswürdig zu bezeichnen. Liegt es auch in der Natur solcher Untersuchungen, daß man mit dem ersten Anlauf das vorgesteckte Ziel nicht sofort
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Joachim Winckelmann (1717 –1768), Archäologe und Kunstgelehrter, gilt u. a. als Begründer der modernen Kunstgeschichte, sein Erstling und gleichermaßen eine seiner bedeutendsten Schriften ist Gedanken über die Nachahmung der griechischen Werke in der Malerei und Bildhauerkunst (ED 1755). 67 Gotthold Ephraim Lessing (1729 –1781), Dichter, Schriftsteller und Philosoph, neben seiner bedeutendsten und am nachhaltigsten wirkenden ästhetischen Schrift (Lessing 1766 Laokoon), verfasste Lessing mehrere Abhandlungen zur Literatur bzw. zur Dramentheorie (siehe etwa Lessing 1767 Hamburgische Dramaturgie). 68 Giovanni Battista Martini (1706 –1784), genannt Padre Martini, italienischer Komponist und Musikforscher, verfasste u. a. eine dreibändige, jedoch unvollendete Storia della musica (ED 1757 –1781). 69 Martin Gerbert (1720 –1793), Fürstabt von St. Blasien, Theologe, Philosoph und Musikforscher, verfasste theoretische Schriften zur Kirchenmusik, darunter De cantu et musica sacra (ED 1774) sowie Scriptores ecclesiastici de musica sacra potissimum (ED 1784). 70 Johann Nikolaus Forkel (1749 –1818), Organist, Komponist, Musikschriftsteller und -forscher sowie der erste Bach-Biograph, verfasste u. a. die zweibändige, unvollendet gebliebene Allgemeine Geschichte der Musik (ED 1788 –1801). 71 Raphael Georg Kiesewetter (1773 –1850), Musikforscher und Musikschriftsteller, verfasste u. a. die Geschichte der europäisch-abendländischen Musik (ED 1846). 72 Carl von Winterfeld (1784 –1852), schrieb u. a. Zur Geschichte heiliger Tonkunst (ED 1850 –1852). 73 François-Joseph Fétis (1784 –1871), belgischer Komponist, Musikforscher und -schriftsteller, verfasste u. a. die Histoire générale de la musique (ED 1834 –1835).
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erreichen, das in’s Auge gefaßte Gebiet nicht auf einmal erobern und zugleich beherrschen kann – so ist die Anregung zu weiteren Forschungen, die in solchen Versuchen unwiderleglich gefunden wird, schon wichtig genug, um selbst den ersten Anlauf mit lebhafter Freude zu begrüßen. Dies waren die ersten Gedanken, welche Brendel’s Buch nach aufmerksamer Lectüre in uns erregte. Es ist durchaus nicht nöthig, mit dem Inhalt dieses Werkes vollständig einverstanden zu sein, um diesen Ideengang für natürlich und folgerichtig zu erkennen. Wenn man die kindliche Periode des Autoritätsglaubens glücklich überwunden hat – und trotz aller gegentheiligen Behauptungen wird unsere Partei und Richtung in der That durch Nichts schärfer charakterisirt, als durch das gänzliche Nichtvorhandensein des Autoritätsglaubens – wenn man also auf dem freien Feld kritischer Forschung und Richtung sich ungehindert ergeht, so dürften überhaupt nur wenig Werke im Gebiet der theoretischen und praktischen Musik gefunden werden, welche man unbedingt, ohne Ausnahme und Vorbehalt, acceptiren kann. Diese wenigen Werke stehen freilich um so gewichtiger und folgewichtiger da, und die Erhabenheit und Reinheit ihres Styles entschädigt hinlänglich für ihre geringe Anzahl. So müssen wir denn auch von vorn herein erklären, daß wir dem Brendel’schen Werk nicht vollständig und in allen Theilen beistimmen können; daß wir das Buch zwar als höchst willkommene Anregung und als sicheren Ausgangspunkt, aber nicht als Abschluß zu betrachten haben – daß wir jedoch nichts destoweniger der Idee des Buches unseren unbedingten Beifall zollen müssen, da namentlich unserer Partei dadurch ein kritischer Anhalt geboten wurde, wie wir ihn im theoretischen Gebiet bis dahin entbehrten. Je schneller wir von hieraus weiter kommen, je mehr sich die darin angeregten Ideen entwickeln, concentriren und läutern, – selbst wenn sie sich von dem ursprünglich Gebotenen dadurch entfernen müßten – desto größer ist die Anerkennung, welche wir hiermit auch indirect einem Werke spenden, das wir schon früher als den Markstein bezeichneten, welcher uns unmittelbar in die dritte Entwickelungsphase der Wagner’schen Reformbewegung, in die der wissenschaftlichen Untersuchung, der historischen Entwickelung und kritisch-speculativen Vermittelung unmittelbar hinüberführt. Die Brendel’sche Auffassung der Kunstbewegung unserer Zeit unterscheidet sich in einem sehr wesentlichen Punkte von der Wagner’schen: sie ist in eben dem Maaße objectiv, als die Wagner’sche subjectiv ist; Brendel verfährt in seiner Entwickelung ebenso positiv, als Wagner in vieler Beziehung gerade hierin negativ verfuhr. Dies ist offenbar ein Fortschritt, eine Anbahnung zur Vermittelung unserer Kunstreform mit dem Zeitbewußtsein, mit einem Wort: der erste Grundstein zu einem wissenschaftlichen Fundament. Was Wagner so groß und einzig macht ist zwar gerade die Totalität seiner Subjectivität – in ihm findet sie ihre volle Berechtigung, weil sie durch ihn nur allein ihren vollen Ausdruck finden konnte. Was aber für Wagner gilt, das gilt nicht zugleich unbedingt für seine Partei. Von subjectiver Seite, im Sinne der a priori’schen Berechtigung jeder Künstler-Individualität gefaßt, wäre es ohnehin eine Unmöglichkeit, die Wagner’sche Subjectivität auf An-[235]dere übertragen, und aufpfropfen zu wollen. Von objectiver, rein kritisch und speculativer Seite gefaßt, wäre aber diese Forderung unbedingter Annahme nicht minder unzulässig. Denn die Totalität aller Subjectivitäten bildet zwar
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den Begriff der Menschheit; die Aeußerung aller dieser Subjectivitäten in Thaten und Gesinnungen bildet allerdings das Material zur Geschichte, aber eine Geschichte der Menschheit würde niemals dadurch zu Tage gefördert werden daß man die Manifestationen dieser unzähligen verschiedenen Subjectivitäten aneinanderreihen wollte, ohne sie unter einen höheren Gesichtspunkte zu betrachten und zu verbinden! Je größer und bedeutender die Individualität ist, je folgewichtiger [sic] ihre Erscheinung in den Gang der Entwickelung der Menschheit eingreift, desto mehr gehört sie der Allgemeinheit an, desto vollständiger fällt sie aber auch der Geschichte anheim und desto gründlicher muß die Kritik und Spekulation sich ihrer bemächtigen. Ein Jeder wirkt seiner Subjectivität gemäß, so viel er eben vermag. Den Platz aber, den er einzunehmen hat, kann er sich weder nach Gutdünken wählen, noch mit unbedingter Freiheit selbst bestimmen. Mag sein Bewußtsein ihn auch über seine Zeit stellen, mag er selbst aus dem Verband einer stetigen Fortentwickelung sich losreißen wollen, so ist er doch nie befähigt, diesen Act der Selbstbestimmung, selbst wenn man ihm die Berechtigung dazu in der Gegenwart zugestehen wollte, auf die Zukunft auszudehnen, denn er kann nie sein eigener Richter sein. Die Stellung solcher hervorragender und überaus begabter Naturen zu ihren Zeitgenossen wird daher stets eine an Conflikten und Kämpfen aller Art überreiche sein und sein müssen – diese Kämpfe gehören aber ebenso unmittelbar und organisch zu der Mission, welche der Genius zu erfüllen hat, als die Gährung ein nothwendiger NaturProceß ist, damit aus der Traube der edle Wein erzeugt werden kann. Aus eben dem Grunde wird das Urtheil der Zeitgenossen über eine solche, aller Blicke unwillkührlich auf sich ziehende Natur, stets ein sehr schwankendes, und zum öfteren ein höchst ungerechtes sein. Desto wichtiger ist es, wenn im Schoß der eigener [sic] Partei, im Kreis der Freunde und Verehrer eines solchen Mannes, Stimmen, wie die Franz Brendel’s sich erheben, welche das subjective Gepräge durch ihre Untersuchungen abzustreifen unternehmen, die Erscheinung zu objectiviren versuchen, und so durch eine Geschichtschreibung der Gegenwart, mitten im Kampfe die Punkte zu fixiren streben, welche man festhalten muß – während damit zugleich andere Gesichtspunkte, denen man momentan eine zu große oder falsche Bedeutsamkeit beilegen könnte, früh genug beseitigt werden, um nicht da hemmend zu erscheinen, wo eine Concentration der Kräfte und Gesinnungen im Einzelnen wie im Ganzen zur Nothwendigkeit wird. [252] Um Brendel’s Bestrebungen und seine kunsthistorische Stellung zu den Fragen der Gegenwart und Zukunft mit wenig Worten zu charakterisiren, versetzen wir uns mitten in seine Entwickelung und heben zunächst aus dem vierten Abschnitt Folgendes hervor, indem wir den Verfasser selbst sprechen lassen. „Die tieferen Untersuchungen unter Denen, welche Wagner’s Standpunkt als die gemeinschaftliche Grundlage anerkennen, müssen erst beginnen. – Jetzt besteht der Fortschritt vorzugsweise in einer durch Widerspruch vermittelten, bestimmteren Erfassung. Wir haben zugleich nach möglichster Verständigung mit der Opposition zu streben, wir müssen vermitteln, soweit Vermittelung möglich ist, ohne dem polemischen Grundcharakter der ganzen Richtung untreu zu werden. Nicht um Accomodation handelt es sich in Bezug auf das Wesentliche und Entscheidende, wohl aber um Verständigung über Sätze, die von Wagner selbst mit allzugroßer Schroffheit hingestellt worden sind.“
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„Hierzu kommt, daß nur die wenigsten der vorliegenden, umfassenden Fragen bis jetzt wirklich besprochen wurden. Die wichtigsten dieser Fragen sind noch gar nicht zur Debatte gekommen, man hat sich mehr im Allgemeinen herumgeschlagen, ohne an eine Verarbeitung zu denken.“74 „Die zunächst vorliegende Aufgabe ist also, zur Feststellung der Hauptpunkte zu gelangen, um diese bei jeder weiteren Entwickelung festhalten zu können. Wir müssen über jenes beständige Zurückgehen und In-Frage-stellen der ersten und allgemeinsten Grundlagen endlich hinauskommen, um eine sichere Basis zu gewinnen. Das Nächste und Wichtigste ist die Erreichung dessen, worin Uebereinstimmung unbedingt gefordert werden muß. Im Einzelnen können dann noch viele Differenzen bestehen; Vieles braucht zur Zeit noch gar nicht in Angriff genommen zu werden.“ „Hieraus erhellt zugleich die Nothwendigkeit eines Zurückgehens in’s Allgemeine. Wohl ist mit der Anerkennung der Wagner’schen Kunstwerke für den Fortschritt schon Viel gewonnen. Ohne die Feststellung der Voraussetzungen für dieselben wurde ihnen aber dasselbe Schicksal drohen, welches bisher allen höchsten Kunstwerken auf musikalischem Gebiet zu Theil geworden ist, entweder einsam zu stehen, und der Menge fremd und unbekannt zu bleiben – oder“75 (durch ungeschickte Nachahmer und pedantische Nachbeter) „in die Trivialität herabgezogen zu werden. Auch die speciell technischen Erörterungen, so unumgänglich nothwendig dieselben für die Zukunft erscheinen, sind ohne diese Vorarbeiten noch nicht an der Zeit. Wir hätten sonst nur einige technische Erweiterungen, und alles Uebrige bliebe beim Alten.“ (S. 128.) – – – – Diese Sätze bilden den Kern, um den die Brendel’sche Entwickelung sich gruppirt, indem sie sowohl davon ausgeht, als darauf zurückkehrt. Wenn es eigenthümlich erscheinen mag, daß diese allgemeinen [253] Voraussetzungen, welche zu Anfang des Buches gesucht werden könnten, erst in der Mitte desselben ihren Platz gefunden haben, so ist hierauf zu bemerken, daß der abgeklärte und erhöhte Standpunkt, den diese Sätze voraussetzen, wohl in einer polemischen Parteischrift, aber nicht in einer historisch-ästhetischen Entwickelung den Ausgangspunkt bilden konnte, weil man nicht a priori zu einer derartigen Stellung gelangt, ohne vorher thatsächlich sehr Vieles durchdacht und „überwunden“ zu haben. Für unsere Partei wäre ein solcher Anknüpfungspunkt allerdings vollkommen ausreichend. Das Charakteristische der Brendel’schen historischen Auffassung ist aber, daß er nicht das unbeachtet liegen lassen kann, was neben und hinter uns liegt, daß er nicht unbekümmert vorwärts stürmen darf, sondern für Verbindungen und Uebergänge sorgen muß, indem er eine allseitige Vermittelung versucht. Will man sich mit dem Buche auf systematische Weise näher vertraut machen, so hat man zwei Hauptmomente scharf zu trennen, um jedes derselben für sich in’s Auge fassen zu können. Man hat zu untersuchen, wie Brendel zu jenen angeführten Sätzen gelangt, und was er darauf weiter baut. Denn wir haben überhaupt die
1854 Die Musik der Gegenwart, S. 127 f. Sämtliche Hervorhebungen stammen von Pohl; einige Stellen weichen orthographisch vom Original ab. 75 Im Original heißt es: „[…] entweder einsam zu stehen, der Menge fremd und unbekannt, wie z. B. die Schöpfungen Gluck’s, oder herabgezogen werden in die Trivialität, in den Schmutz der Alltäglichkeit“ (ebd., S. 128). 74 Brendel
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Voraussetzungen der Wagnerfrage und die Folgerungen aus derselben noch streng zu unterscheiden. Es liegt im Charakter derartiger Untersuchungen, die noch keineswegs abgeschlossen sein können, daß man auf gleiche Folgerungen unter verschiedenen Voraussetzungen gelangen kann, wie auch umgekehrt der Fall denkbar ist, daß Uebereinstimmung in den Grundlagen noch keineswegs Harmonie aller Resultate apodiktisch fordert. Im ersteren Falle befindet sich in der That Brendel, gegenüber der Wagner’schen Entwickelung; im letzteren Falle befinden sich Diejenigen unserer Partei, welche die künstlerische Berechtigung für sich in Anspruch nehmen, ihren eigenen Weg zu suchen, um aus dem Dilemma unserer Zeit, ihrer Subjectivität gemäß sich zu befreien. Dies ist ein Proceß, den Wagner zwar gleichfalls in vollem Maaße durchlebte, nur mit dem Unterschied, daß seine subjective Befreiung für die Allgemeinheit von den gewichtigsten Folgen wurde, während viele andere derartige künstlerische Gährungsprocesse mehr egoistischer als künstlerisch-subjectiver Art zu sein pflegten, und daher für das Allgemeine ohne Nutzen, folglich auch ohne Interesse waren. Fragen wir also zunächst: Wie stellt sich Brendel zu Wagner? In welcher Weise sind denn seine Anschauungen von den Wagner’schen verschieden? – so antwortet der Verfasser selbst darauf mit folgenden Worten: „Der Unterschied meiner Auffassung und der Wagner’schen besteht darin, daß ich noch eine reiche Entwickelung anerkenne, nothwendige Vermittelungen, hinführend zu einem größeren Ziel; daß ich weltgeschichtliche Berechtigung finde, wo Wagner nur Verfall sieht. – Das Resultat jedoch ist dasselbe. In der Anerkennung der Nothwendigkeit einer Neugestaltung, einer neuen Erschaffung der Künste auf anderer Grundlage, einigen sich unsere Wege. Wagner’s Schilderung ist demnach auch meiner Ansicht nach vollkommen wahr und begründet, wenn wir den höchsten Standpunkt einnehmen, d. h. wenn wir allein das wirklich Bleibende, das was in Folge seiner rein menschlichen Beschaffenheit eine ewige Dauer besitzt, in’s Auge fassen; Anfang und Ende der Entwickelung verknüpfen, das aber, was dazwischen liegt, dahin gestellt sein lassen. Unrecht geschieht allein diesen vermittelnden Uebergangsstufen. Dieses Unrecht aber ist gerade die Ursache des Befremdlichen, ist das, was von dem Resultat abschreckt, und ich betrachte es daher als eine Hauptaufgabe, das Fehlende zu ergänzen und zu zeigen, daß das Resultat sehr wohl bestehen kann, auch wenn man über die dahin führenden Wege verschiedener Ansicht ist. Die gemachten Einschränkungen sind erforderlich, wenn wir das Endergebniß in Folge einer Motivirung, welche die Opposition herausfordert, nicht immer wieder auf ’s Neue in Frage gestellt sehen wollen.“ (S. 161)76. – Diese Stellung Brendel’s ist in doppelter Weise interessant. Sie ist es zunächst, weil es von Wichtigkeit ist, das consequente Bestreben zu gewahren „bei innigster Einheit der Empfindung die theoretische Fassung von ihrer Einseitigkeit zu befreien und derselben eine allgemeiner zugängliche Gestalt zu verleihen.“ (S. 209)77. Hierdurch ist der theoretisch-
76 Ebd.,
S. 161 f., sämtliche Hervorhebungen stammen von Pohl, ebenso einige kleinere Auslassungen. 77 Im Original heißt es: „Hier ist der Versuch gemacht bei innigster Einheit der Empfindung, in der ich mich mit Wagner zu befinden glaube, die theoretische Fassung, die derselbe seinen Sätzen gegeben hat, von ihrer Einseitigkeit zu befreien, derselben eine allgemeiner zugängliche Gestalt zu verleihen“ (ebd., S. 209).
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wissenschaftlichen Untersuchung in der That ein neues Feld eröffnet. Wagner’s Theorie nicht, wie seine Gegner beliebt haben, als Abnormität der Gegenwart hinzustellen, sondern als Consequenz der Vergangenheit; Wagner’s Kunst nicht von der subjectiven,78 sondern von der historischen Seite zu erfassen, und seine Subjectivität, selbst gegen seinen Willen, in den stetigen Strom von Ursache und Wirkung gewissermaßen einzudämmen, ist an sich schon ein bedeutendes Verdienst, weil dadurch die, nun erst folgende Reformfrage ein ganz anderes Fundament, eine weit sicherere Operationsbasis erhält, als wenn man, wie bisher, lediglich an die Thatsache der Erscheinung anknüpfte, und nun wohl oder übel versuchte, wie man damit zurecht käme, ohne vorher sich klar gemacht zu [254] haben, woher und wie das Alles so kommen mußte. Der Verfasser fährt fort: „Macht man mir den Vorwurf, daß mein Versuch zur Zeit keineswegs vollständig gelungen sei, daß ich nur erst die Grundzüge einer allgemein zugänglicheren Gestalt zu geben vermochte, so antworte ich, daß mir Niemand bekannt ist, der über diesen Punkt schon hinaus wäre. – Was ich persönlich durchzumachen hatte, ist in gleicher Weise die Aufgabe aller Anderen.“79 – – – Dies ist der zweite Punkt, dessen Wichtigkeit hervorgehoben werden muß, ein Punkt, der zunächst unsere Partei berührt. Es handelt sich nicht allein darum, wie Brendel zu seinen Resultaten gekommen ist, und welche Folgerungen darauf zu bauen sind, sondern, daß er einen Abschluß gewonnen hat. Brendel maßt sich ja nicht das Vorrecht an, das absolut Richtige gefunden, oder die Frage erschöpft zu haben – er fordert im Gegentheil zu gemeinschaftlichem Weiterbau auf, er fordert gewissermaßen die Untersuchungen Anderer heraus, indem er nachweist, daß auf die Weise, wie bisher verfahren wurde, ein Endziel nicht zu erreichen wäre, daß aber ein gemeinschaftliches Fundament gefunden werden kann und demnach aufgebaut werden muß. Ein Jeder, welcher der Wagner’schen Partei angehören wolle, müsse sich also klar machen, worin die Grundlagen der Bewegung wurzeln, und wohin sie theoretisch wie praktisch führen müssen, auch abgesehen davon, ob die Consequenzen Wagners als Künstler, und Brendel’s als Theoretiker die einzig richtigen und möglichen wären. Fragen wir nunmehr, worauf denn innerhalb der Partei das Hauptgewicht zu legen sei, worin denn die Übereinstimmung besteht, die unbedingt gefordert werden muß; und die zugleich ein Zurückgehen in das Allgemeine fordert, so antwortet darauf der Verfasser: „Ein Hauptgewicht lege ich auf die Weltanschauung im Allgemeinen, auf die Gesinnung, die gesammte Geistesrichtung, und vermag nur, im Fall Uebereinstimmung darin vorhanden, einen Anschluß an Wagner’s Richtung überhaupt anzuerkennen. Dies muß als das Erste betrachtet werden, dessen Erledigung nothwendig ist, bevor noch auf die Kunsttheorie im engeren Sinne eingegangen werden kann. Der technische Fortschritt allein und für sich ist bedeutungslos, wenn er nicht wirklich Resultat und Ausdruck des neuen Geistes ist. Principielle Uebereinstimmung muß gefordert werden. Und bevor diese nicht festgestellt ist, erscheint alle weitere Thätigkeit als ein vergebliches Bemühen“ (S. 243)80.
etwa Lobe 1852 Musikalische Briefe, in: NdS 1 Nr. 30. 79 Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 209, sämtliche Hervorhebungen stammen von Pohl. 80 Ebd., S. 243. Hervorhebungen teilweise von Brendel übernommen, einige Formulierungen sind von Pohl gekürzt. 78 Siehe
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Es kann durchaus nicht unsere Absicht sein, hier eine ausführliche Besprechung des Brendel’schen Buches geben zu wollen, oder durch erschöpfende Auszüge eine Lectüre desselben zu umgehen. Dies Alles könnte eine Bekanntschaft mit dem Buche selbst nicht ersetzen, dessen aufmerksames und unparteiisches Studium im Gegentheil Jedem zur Pflicht gemacht werden muß, der an den Erörterungen und Untersuchungen, die sich in unmittelbarer Folge weiter daraus ergeben, mit Berechtigung Theil nehmen will. Die eigene Stellung des Referenten ist auch nicht objektiv genug, um hier lediglich als Referent auftreten zu können, d. h. ohne sein Verhältniß zur Partei, wie zum vorliegenden Werke, zugleich mit in Anschlag zu bringen. Wir haben deshalb mit Vorbedacht nur „Betrachtungen“ über das Brendel’sche Werk, durchaus keinen Auszug oder eine erschöpfende Kritik desselben angekündigt. Dazu bedürfte es weit mehr Raum, als eine Zeitschrift bieten und gestatten könnte. – Wir treten im Gegentheil sogleich als der Erste in die Rechte ein, die Brendel jedem, der an der Reformbewegung unserer Zeit Theil nehmen will, mit Ueberzeugung zuspricht: „Principielle Erörterungen anzustellen, um das Besondere erst darauf zu basiren.“81 Wir können diese Erörterungen am Besten anstellen, indem wir dem Brendel’schen Werk Schritt für Schritt folgen. Wir erreichen dadurch zugleich mit dem weiteren Zweck, ein Bild vom Gedankengange des Verfassers zu entwerfen. War die Absicht unseres ersten Artikels in diesen Blättern, (Nr. 3 bis 5 dieses Bandes), ein allgemeines Bild jenes Entwickelungsganges zu geben, den wir vom Anfang der Reformbewegung bis jetzt durchlaufen haben; war ferner bis hierher unser Streben, Brendel’s Stellung zur Reformfrage im Allgemeinen zu bezeichnen, und somit auf die historisch ästhetische Wichtigkeit und Bedeutung seiner Untersuchungen hinzuleiten – so ist nunmehr der Zweck weiterer Untersuchung zu erörtern, einerseits ob die Brendel’schen Grundlagen, und seine darauf gebauten Folgerungen, ausreichend und fundamental genug sind, um dieselben ohne Modification acceptiren zu können; und anderseits, wohin wir dann zunächst, sowie künftig unsere künstlerischen Bestrebungen zu richten haben, um zu festen Resultaten zu gelangen, die in Uebereinstimmung mit gewissen theoretischen Grundlagen, ein practisch annehmbares, und zugleich sicher erreichbares Ziel verheißen.
81 Pohl nimmt hier offenbar auf Brendels Schlussbemerkung Bezug: „Principielle Erörterungen erschienen mir vor allen Dingen jetzt geboten, während das besondere passender Gegenstand der journalistischen Tätigkeit ist. Es war nothwendig, zuerst die allgemeinen Grundlagen aufzustellen“ (Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 277 f.).
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[13]
Dritter Artikel.IV Richard Wagner ist oft mit Gluck verglichen worden, und er selbst hat, durch Hinweisung auf die Grundsätze des großen Meisters dramatisch-musikalischer Kunst, auf diesen Vergleichungspunkt einen Nachdruck gelegt, der von Freund und Feind in verschiedenem Sinne ausgebeutet wurde. Wir wissen aber nicht, ob auch schon darauf speciell hingedeutet wurde, daß jene musikalische Epoche, die Gluck’s reformatorisches Auftreten bezeichnete, unmittelbar auf die der französischen Enzyclopädisten82 folgte, welche die, bis dahin geltenden Grundsätze der Ethik und Philosophie systematisch stürzten, um auf neuen Grundlagen eine neue Weltanschauung zu vermitteln, wie sie in Diderot, d’Alembert, Rousseau und Voltaire83 bekanntlich ihre Repräsentanten fand. Beachtenswerth ist es jedenfalls, daß das Auftreten Wagner’s, des „Gluck unseres Jahrhunderts“84, unmittelbar auf die Periode der „Encyclopädisten des 19ten Jahrhunderts“ folgte, wie man die Vertreter unserer philosophischen Epoche nennen könnte, die mit Hegel begann und mit Feuerbach85 zum Abschluß kam. – Hier wie dort folgte die Kunstreform der philosophischen Reform auf dem Fuße nach, nur mit dem Unterschied, daß die engste Beziehung der Wagner’schen Ideen zur humanistischen Philosophie direct nachgewiesen werden kannV, während Gluck’s
IV Wir
hatten gehofft, obige Artikel im vorigen Jahre zu beschließen, erhielten jedoch das Manuscript zu spät. Wir werden dieselben nun in dieser und der nächstfolgenden Nummer zum Abschluss bringen. D. Red. V Wir machen hier auf die Widmung an Ludwig Feuerbach aufmerksam, welche Richard Wagner seinem „Kunstwerk der Zukunft“ vorausschickte.86 „Enzyclopädisten“ werden die Herausgeber und Autoren der Encyclopédie ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers bezeichnet, die unter der Leitung Denis Diderots (bis 1759) und Jean le Rond d’Alemberts (1751–1765) in Paris erschien. Die Encyclopédie kam in den Jahren 1751 bis 1761 in 17 Textbänden und 11 Tafelbänden (1762 –1772) in Paris heraus. Sie gilt heute als das früheste bedeutendste Wissens-Werk sowie als maßgebliches Gemeinschaftsprojekt der französischen Aufklärung, das kein bloßes Nachschlagewerk sein sollte, sondern großen Wert auf die innere Einheit und Verbundenheit des dokumentierten Wissens legte. 83 Denis Diderot (1713 –1784), Jean le Rond d’Alembert (1717 –1783), Jean-Jacques Rousseau (1712 –1778) und Voltaire (1694 –1778) zählen unter den über 160 Wissenschaftlern, Schriftstellern und Handwerkern zu den Hauptautoren der Encyclopédie, ferner gelten sie mit als die bedeutendsten Vertreter der Aufklärung in Frankreich. 84 Für Wagner selbst beginnt die jüngere Operngeschichte zwar mit Gluck, führt aber seiner Meinung nach spätestens mit Rossini in eine Sackgasse. Es ist Liszt, der mit seiner Artikelserie der Dramaturgischen Blätter eine kontinuierliche Operngeschichte seit Gluck beschreibt, die ihre Vollendung in Wagners Musikdramen findet (vgl. Liszt-Schriften 5, S. 142; siehe auch Liszt 1854 Weber’s Euryanthe in: NdS 1 Nr. 65). 85 Vor seiner Begeisterung für Schopenhauer war Wagner ein glühender Verehrer Feuerbachs. Wagners Kunstwerk der Zukunft (ED 1850) ist in der ersten Ausgabe „Ludwig Feuerbach in dankbarer Verehrung gewidmet“, samt einem vierseitigen, an den Philosophen gerichteten Vorwort. In den späteren Ausgaben wurde dieses auf Wagners Veranlassung wieder getilgt bzw. ab der zweiten Auflage von 1865 dem Philosophen Konstantin Frantz, dem politischen Antipoden Feuerbach, zugeeignet. 86 In den späteren Ausgaben wurde die Widmung auf Wagners Veranlassung wieder getilgt bzw. ab der zweiten Auflage von 1865 dem Philosophen Konstantin Frantz, dem politischen Antipoden Feuerbach, zugeeignet. 82 Als
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Verhältniß zu den Encyclopädisten weniger unmittelbar ausgesprochen erscheint, obgleich systematische Beziehungen, zu Rousseau z. B. nachzuweisen wären. Die Resultate der Philosophie des 18ten Jahrhunderts sind abgeschlossen, und in die Bücher der Geschichte verzeichnet. Die Ursachen der Größe jener [14] Periode, die wir die classische nennen, waren auch die Ursachen ihres Verfalles – sie begann und endigte mit der Negation. Das Alles verbindende und umfassende religiöse Bewußtsein wurde gebrochen; die starren Schranken einer maßgebenden Objectivität wurden vernichtet; der künstlerische Cultus trat an die Stelle des religiösen: aber der Selbstzweck der Kunst wurde zur Selbstvergötterung des Ich, und die Befreiung der genialen Subjectivität endigte mit der Apotheose des Egoismus.87 – Es wäre eine interessante Aufgabe, dies im Gesammtgebiet der Kunst ebenso gründlich nachzuweisen, wie es in der Literatur bereits geschehen ist, wo die Kritik neuester Zeit die classische Periode in ihren Ursachen und Folgen mit schneidender Schärfe, öfter sogar mit einer Ungerechtigkeit und Undankbarkeit, analysirt hat, die in der Literatur weit entschiedener sich kund giebt, als in der Musik, obgleich die Musiker das Umgekehrte oft genug behauptet haben, aus reiner Unkenntniß dessen, was in der Literatur vorgeht. Brendel verfährt in der Untersuchung dieser Zustände von der Mitte des vorigen Jahrhunderts bis zur Gegenwart (im ersten Abschnitt seines Werkes)88 nur andeutungsweise, während ein genaueres Eingehen durch die Wichtigkeit des Gegenstandes wohl hinlänglich gerechtfertigt war. Halten wir uns jedoch nur an das Resultat, so müssen wir demselben vollkommen beistimmen. Andere, auf den verschiedensten Wegen vorgenommene Untersuchungen haben es bestätigt: daß die Autorität gestürzt ist, ohne daß ein neues zwingendes Gesetz bis jetzt gefunden wurde; daß die bisherigen Stützen der künstlerischen Existenz erschüttert sind, ohne daß schon andere errichtet wurden; daß wir bei einem Cultus der Individualität in der Kunst angelangt sind, der das Allgemeine zu negiren strebt, während der Grundzug des Kunstgesetzes doch nur derselbe sein kann, der sich auch als Grundgedanke im Weltganzen ausspricht: das Allgemeine in individueller Gestalt zum Ausdruck zu bringen. Bei solchen offenkundigen Verhältnissen liegt die Frage nahe genug: was kann, was soll daraus werden? – Wie Alles so gekommen ist, ja kommen mußte, ist eine leicht zu erörternde Frage, im Vergleich mit der, wie es werden müsse, damit es gründ lich und dauernd besser werde. Bei der Lösung dieses Pensums, an dessen tausend
87 Ähnliches ist bei Brendel zu lesen: „Bis jetzt hat das Princip des Egoismus die Welt beherrscht, und wir sehen demzufolge Sonderung, Vereinzelung, Spaltung. Es ist nun die unzweifelhafte Aufgabe der nächsten Weltepoche, dieser Trennung und Vereinzelung gegenüber, das Aufgehen im Ganzen zur Herrschaft zu bringen“ (Brendel 1853 Die bisherige Sonderkunst, S. 124 –125, in: NdS 1 Nr. 42, S. 435). Die Rede vom „selbstherrlichen Individualismus oder [der] Apotheose des Egoismus“ geht auf Fichte und Schlegel zurück (Hartmann 1900 Geschichte der Metaphysik II, S. 570). Auch Feuerbach spricht vom „supranaturalistischen Egoismus“ (Feuerbach 1841 Das Wesen des Christenthums, S. 370). Zentrale Bedeutung erhielt der Egoismus in der Philosophie jedoch erst bei Max Stirner (Stirner 1844 Der Einzige und sein Eigenthum). 88 Der erste Abschnitt ist überschrieben mit „Die Epoche unserer classischen Poesie und Kunst und der Verfall derselben“ (Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 1– 9).
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Variationen die Menschheit zu allen Zeiten ihre Maturität zu beweisen suchte, kommt es aber darauf an, daß man weder Optimist, noch Pessimist sei. Beides ist gefährlich, der Optimismus noch mehr als der Pessimismus. Denn der erstere hält von Erreichung des Zieles geradezu ab, der letztere schießt nur darüber hinaus. Auch Wagner ist in Behandlung gewisser Fragen Pessimist, trotz aller sonstigen Idealität in seiner Auffassung. Aber kein Mensch wird auch läugnen wollen, daß Wagner aus diesem Grunde mehr als einmal das Kind mit dem Bade verschüttet, und gerade dadurch seiner Partei anfänglich einen viel schwereren Stand gemacht hat, als sie ohne diese extremen Spitzen in seiner Kunsttheorie gefunden hätte. Denn das Bedürfniß nach Reform war ja vorhanden, die erlösende That mußte in allen Vernünftigen und Besserdenkenden einen so freudigen Wiederhall finden, wie sie ihn in der That gefunden hat. Der nun folgende Kampf mit den Gegnern wäre aber ein ungleich leichterer gewesen, wenn wir anfänglich eine Anzahl Glaubensartikel Wagner’s nicht mit in den Kauf nehmen mußten, von denen man sich momentan nicht befreien konnte, und die deshalb, wie schweres Gepäck in der Schlacht, uns um so mehr hinderten, je mehr diese Punkte von den scharfsinnigeren unserer Gegner (deren es übrigens nur sehr Wenige giebt) gerade zu den Angriffspunkten gemacht wurden. So richtig nun auch Brendel die Aufgabe erfaßt hat, eine kritische Sonderung vorzunehmen, so klar und verständlich er auch hier zu Werke geht, und so Tüchtiges er dadurch erreicht hat, so ist es ihm doch nicht völlig gelungen, das Beabsichtigte zu vollbringen. Der nächste Grund ist natürlich der, weil eine Lebensfrage von solchem Gewicht so wenig auf den ersten Anlauf gelöst werden kann, als – Sebastopol mit einem Handstreich zu nehmen war.89 Ein wesentlicher Grund liegt aber auch darin, daß Brendel in seinem Bestreben der Vermittelung und Vereinigung zu diplomatisch zu Werke ging, d. h. auch solche Fragen vermitteln wollte, die gar nicht zu vermitteln sind. Er hat Wagner so wenig wie möglich nahe treten wollen, und ihm aus diesem Grunde auch da Zugeständnisse gemacht, wo keine zu machen waren. Man kann das Haltlose unserer Zustände, das Verfehlte in den meisten Kunstbestrebungen, das Gedanken- und Gewissenlose der meisten Kritiker und Künstler, mit einem Wort den ganzen widerwärtigen Kunst-Trödel, gegen den wir gemeinsam zu Felde ziehen, sehr gut erkennen, und voll Ueberzeugung verdammen, ohne daß man nun ohne Weiteres überall Nichts als Schutt und Verwesung sehen, die Gegenwart wie ein Leichenacker behandeln und zu dem trostlosen Schluß gelangen muß, daß im Grunde doch nur das absolute „Nichts und wieder Nichts“ das einzige reelle Resultat aller Bestrebungen unserer Zeit sei. Einer solchen Auffassung der Gegenwart widerspricht schon die einfache Thatsache, daß allerdings noch ganz Respectables geleistet wird, wenn auch das, was wir als solches erkennen, von der bornirten
89 Sewastopol,
größte Stadt der ukrainischen Halbinsel Krim, die noch während des Verfassens des vorliegenden Artikels umkämpft wurde. Russland unterlag im sogenannten Krimkrieg (1853 –1856) gegen das Osmanische Reich dank der Beihilfe Frankreichs und Großbritanniens (ab 1855 auch Sardiniens). Die Belagerung Sewastopols zog sich von Oktober 1854 bis September 1855 hin, erst mit dem Rückzug der russischen Armee aus der Schwarzmeer-Metropole konnte der Friedensprozess eingeleitet werden („Pariser Frieden“, März 1856).
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Mehrheit gerade verdammt wird, und verdammt wer-[15]den muß, weil sie hier der richtige Instinkt leitet, daß diese Werke es sind, die den Nihilismus ihres Daseins gerade beweisen, das Bessere vor ihnen retten und bewahren, und das Kunstbewußtsein aus der platten Gegenwart in die bessere Zukunft hinüber tragen sollen. Ob die Anerkennung der Möglichkeit einer Reform, die unmittelbar an das Beste anknüpft, was unsere Zeit im Gebiet der Dichtkunst, der Malerei, der Musik etc., geleistet hat, ohne deshalb mit der Gegenwart rundweg zu brechen, nur versteckter Optimismus, nur ein feiger Ausweg des juste milieu90 sei, mache Jeder mit sich selbst aus – wir verneinen es. Und doch gehören wir wahrlich nicht zu denen, die voller Zerknirschung eine Pilgerfahrt im Krebsgang anrathen, und ihre Fühlhörner nach rückwärts ausstrecken, um zu versuchen, ob man nicht noch einmal von vorne anfangen könnte, da ja Nichts als der gute Wille dazu gehöre, das Zeitbewußtsein um die Kleinigkeit von einem halben, respective ganzen Jahrhundert zurückzuschrauben, und mit der classischen Periode91 ganz gemüthlich wieder anzuknüpfen. Diese Anschauung gehört so gut, wie die des Pessimismus, zu den Zeichen einer Zeit, die im Gefühl, daß es anders werden muß, in den Mitteln sich vergreift, und die Extreme sucht. Beide gehören in sofern auch zum Wesen der Sache, aber in ihnen ist die einzige Lösung nicht zu suchen. Wir unterschreiben die, in der That vortreffliche Darstellung der „musikalischen Zustände der Gegenwart“92, wie sie Brendel im zweiten Abschnitt seines Werkes mit schlagender Wahrheit, mit großer Lebendigkeit, Umsicht und Gründlichkeit giebt, vollkommen, und zwar mit freudiger Zustimmung, ohne daß wir deshalb sein „caeterum censeo“93 annehmen, „daß die Tonkunst in der Gegenwart ihre Bahn als Sonderkunst durchlaufen habe“. (S. 19)94. – Es scheint uns dies viel mehr eine, von Brendel an Wagner gemachte Concession, als die ultima ratio der Frage zu sein. Denn Brendel mildert diesen Satz im fünften Abschnitt nicht nur selbst bedeutend, indem er z. B. „noch eine reiche Entwickelung anerkennt“, (S. 161) sondern er widmet den ganzen letzten Abschnitt seines Werkes auch der Untersuchung der Frage, was die Tonkunst in der Gegenwart und Zukunft noch zu thun habe, eine Frage, die im Wagner’schen Sinne gar nicht mehr zur Discussion kommen dürfte. Gesteht also Brendel zu, daß „das Bestehende zum Theil noch seine relative Berechtigung habe“95 (S. 248)
90 Bezeichnung
der politischen Mitte, die von den Jungdeutschen in Anlehnung an die Julirevolution 1830 aus Frankreich übernommen wurde. Anders als in Frankreich wurde der Begriff durch die Autoren des Vormärz negativ belegt, da sie gerade eine eindeutige (politische) Positionierung forderten. Siehe auch Schumann 1834 Kalliwoda, S. 38 sowie die Einleitung zum Kapitel „Die Jahre 1845 bis 1847“, in: NdS 1, S. 1 – 7. 91 In Anlehnung an Brendels Geschichtsverständnis ist hier die Zeit der Shakespeare- und Antike-Rezeption in Deutschland gemeint, die Brendel in der Musik primär durch Haydn und Mozart vertreten sah und mit der 9. Symphonie Beethovens ihren „Schlussstein“ fand (Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 13). 92 Der zweite Abschnitt von Brendels Schrift ist mit „Musikalische Zustände der Gegenwart“ überschrieben (Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 10 – 86). 93 (Lat.) Im Übrigen meine ich, [dass Karthago zerstört werden muss]. Marco Porcius Cato (234 –149 v. Chr.), römischer Feldherr, Schriftsteller und Staatsmann, soll jede Rede im römischen Senat mit diesem Satz beendet haben. Im übertragenen Sinn: Einleitung einer immer wieder vorgebrachten Forderung. 94 Hervorhebung im Text durch Pohl. 95 Hervorhebung im Text durch Pohl.
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so können wir mit diesem Zugeständniß die frühere absolute Schroffheit des Satzes nicht vereinbaren, um so mehr als wir im Rahmen des Genius für das lebendig und lebenskräftig Bestehende nicht nur eine relative, sondern die absolute Berechtigung immer fordern werden. Gesetzt auch wir sähen kein Ende und keinen Ausweg, im Fall [dass] wir jenen schroffen Glaubenssatz nicht acceptirten, so wäre das momentan Rathlose unseres Zustandes noch keineswegs ein hinreichender Grund um Alles ohne Weiteres aufzugeben. Wer, anstatt den Ariadnefaden im Labyrinth der Gegenwart zu verfolgen, kurzen Prozeß macht, und sich daran aufhängt, mag entschlossen und genial handeln, aber übermäßig klug und umsichtig handelt er nicht! – Wir können überdies die Voraussetzung „daß Alles aus sei“96, nicht einmal gelten lassen. Denn die wärmsten Anhänger und eifrigsten Verehrer Wagner’s und seiner Kunst sind und bleiben doch sämmtlich Sonderkünstler 97, die mit Ueberzeugung, und nicht etwa blos aus Verzweiflung, ganz entschiedene und gelungene Versuche gemacht haben, gerade zu beweisen, daß die Bahn der „Sonderkunst“ noch nicht durchlaufen sei. Was ist denn das, was der Volksinstinkt jetzt so richtig mit „Zukunftsmusik“ bezeichnet, anders als die zur That gewordene Opposition gegen jenes Todesurtheil der Musik als Sonderkunst? Was anderes als der factische Beweis, daß man aus dem notorischen Verfall der Musik allerdings noch lebensfähige Elemente retten kann, aus denen sich neue Elemente entwickeln werden, die schließlich eine Regeneration der Tonkunst vermitteln, ohne durch die absolute Negation hindurch gehen zu müssen, da sie auf positiven Grundlagen ganz energisch sich emporarbeiten? Es sind ihrer zwar Wenige, sehr Wenige – und wenn wir das Gros der im entgegengesetzten Sinne sich lebendig begrabenden ganzen Musiker-Generation übersehen, könnte man allerdings zu dem Schluß gelangen, daß der jüngste Tag für die Musik gekommen sei. Aber die Ueberzahl entscheidet hier Nichts – eine Sündfluth98 ist noch kein Weltuntergang, solange wir auf den scheinbar endlosen und Alles verschlingenden Wasserfluthen noch eine einzige Arche segeln sehen, die in ihrer verständigen und kühnen Leitung uns beweist, daß sie kräftige und lebensvolle Keime birgt, reich genug, um eine neue Aera zu erzeugen, und aus der wir Friedensboten entsenden sehen, die einen Oehlzweig aus einem unbekannten Lande siegend zu uns herübertragen!99 96 Ein
offenbar fingiertes Zitat in Anlehnung an Brendels absolutes Urteil, das Pohl an dieser Stelle bespricht. 97 Der Begriff „Sonderkunst“ erscheint erstmals bei Richard Wagner (Wagner 1850 Das Judenthum, S. 105 und S. 111; Wagner 1852 Ein Brief an den Redacteur, S. 61, in: NdS 1 Nr. 29, S. 297) und bezeichnet sämtliche Musik, die nicht Teil des von ihm angestrebten Gesamtkunstwerks ist. Raff greift den Begriff auf (Raff 1853a An die Redaction, in: NdS 1 Nr. 41), worauf Brendel reagiert (Brendel 1853 Die bisherige Sonderkunst, in: NdS 1 Nr. 42). Alle drei haben jedoch ein jeweils eigenes Verständnis davon, was Pohl im vorliegenden Artikel aufschlüsselt und zusammenfasst. 98 In Anlehnung an die Sintflut (Gen 7, 10 – 24 und 8, 1–14) wählt Pohl hier die in der Bibel nicht vorkommende und im 19. Jahrhundert im theologischen Kontext nicht mehr geläufige Formulierung „Sündfluth“; die Übersetzung von Luther ist „Sindflut“. 99 Noah sendet in Folge der Sintflut eine Taube aus, die mit einem grünen, Hoffnung versprechenden Ölzweig im Schnabel zurückkehrt (Gen 8, 11). Im Neuen Testament wird der symbolträchtige, immergrüne Olivenbaum im Zusammenhang mit dem Tod Jesu aufgegriffen; am Tag vor seiner Kreuzigung betet er im Garten Gethsemane, der sich am Fuße des Ölbergs in Jerusalem befindet (Mt 26, 36 – 56; Mk 14, 32 – 52; Lk 22, 39 – 46).
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Entgegnet man uns: dies hieße sich an einen Strohhalm klammern, und sei Nichts als ein Aufschub des Unterganges, aber keine Rettung – so antworten wir: daß wir das erst abwarten wollen! – Der Strebende giebt sich nie selbst auf, sonst hört er auf zu streben und zu sein. Es ist nie vorauszu-[16]sehen noch voraus zu bestimmen, welche Wege der Genius einschlagen müsse, ob er Hülfsquellen nicht auch da öffnen könne, wo die Menschheit in ihrer Wüstenfahrt nur Felsen sieht. Der wahre Genius läßt sich nicht fesseln,100 läßt sich kein „bis hierher und nicht weiter“101 zurufen, sondern er zieht seine eigenen Bahnen, denen wir wohl folgen, die wir aber nicht läugnen können. Die Mythe der Griechen von jenen Kämpfern, welche ihre Kraft aus der Erde sogen, und sobald sie diese verließen, derselben verlustig gingen,102 trägt eine ernste Mahnung für die Pessimisten unserer Zeit in sich. – Es ist eine unabweisliche Aufgabe, eine vorhandene Kluft mit Werken zu überbrücken – nicht aber auf den Schwingen der Kritik hinüberfliegen zu wollen, die schließlich als Ikarusflügel sich erweisen möchten!103 Wir sehen hier die ganz natürliche und berechtigte Opposition vor uns, welche die Production in dieser Frage gegen die Kritik macht, und wir schlagen uns hier entschieden auf die Seite der Production. Es ist eins der erfreulichsten Zeichen unserer Richtung, daß in ihr die Kritik mit der Production Hand in Hand geht, schaffend und sondernd, niederreißend und bauend zugleich. Es gehört zu den seltensten Erscheinungen, daß diese Harmonie in Verfolgung gleicher Ziele selbst da nicht gestört wird, wo, wie hier, eine so entschiedene Meinungsdifferenz sich zeigt. Denn daß Keiner der productiven „Zukunftsmusiker“ daran glaubt, daß seine Sonderkunst zu Ende sei, beweist er schon dadurch, daß er schafft, daß er neue Formen sucht, neuen Inhalt verarbeitet, neue Mittel in Bewegung setzt.104 – Wollte also die Kritik ihren Ausspruch in äußerster Consequenz aufrecht erhalten, so müßte sie ihren Verbündeten selbst den Krieg erklären, ihnen selbst einen Riegel vorzuschieben suchen. Daß sie das nicht thut, sondern im Gegentheil mit Theilnahme den ferneren Bestrebungen ihrer productiven Bundesgenossen folgt, beweist hinlänglich, daß die Kritik hier einen Glaubens satz theoretisch anticipirte, den sie selbst als practisch nicht durchführbar, anerkennen muß.
100 Anspielung
auf den Prometheus-Mythos. Dieser war im 18. und 19. Jahrhundert ein viel diskutierter Gegenstand, da Prometheus dem Menschen das Feuer gebracht hat und somit Kunst und Technik bzw. den Fortschritt allgemein überhaupt ermöglichte. 101 In Anlehnung an die biblischen Worte Gottes, dem Ozean seine Grenzen aufzuzeigen: „Bis hierher sollst du kommen und nicht weiter; hier sollen sich legen deine stolzen Wellen!“ (Hb 38, 11). 102 Möglicherweise eine Anspielung auf Antaios, nach der griechischen Mythologie ein nahezu unbezwingbarer Riese und Sohn der Gaia (Erde). Bei einem Kampf mit Herakles, erkannte dieser, dass Antaios seine Kraft aus der Erde erhielt, hob ihn daher in die Luft und konnte ihn so bezwingen. 103 Nach dem IkarusMythos verlor Dädalos seinen Sohn Ikarus beim gemeinsamen Versuch, das Meer zu überqueren, da dieser der Sonne zu nah kam und abstürzte, weil seine mit Wachs gebauten Flügel schmolzen. 104 Pohl spielt hier vornehmlich auf Joachim Raff an, der in mehreren Beiträgen für die Existenz einer Instrumentalmusik neben dem von Wagner propagierten Gesamtkunstwerk eingetreten war (siehe Raff 1853a An die Redaction, in: NdS 1 Nr. 41 sowie Raff 1854 Die Wagnerfrage).
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Wir geben somit den Beweis des früher Gesagten, daß Harmonie in den Voraussetzungen noch keineswegs Harmonie in den Folgerungen fordere. Wir stehen mit Brendel auf gleichem Boden, wir erkennen mit ihm die gleiche geschichtliche Entwickelung an, wir stimmen mit den meisten seiner Anschauungen der Gegenwart überein, wir können aber trotzdem sein schroffes Resultat, und ebenso das fernere, daraus hervorgehende: daß nunmehr alle Künste in einem Kunstwerk der Zukunft, in der Gesammtkunst aufgehen müssen, nicht anerkennen. – Ueber diesen zweiten Punkt müssen wir uns näher verbreiten. Zunächst ist es aber nöthig, einen Blick auf den dritten Abschnitt des Werkes zu werfen, in welchem Brendel die „Zukunftsbestrebungen der Gegenwart“105 beleuchtet. [21] Hier greift der Verfasser sehr tief, tiefer als außer Wagner unseres Wissens bei Untersuchung musikalischer Fragen jemals gegriffen wurde, und wir halten diesen Abschnitt für den gelungensten und abgerundetsten des ganzen Werkes, gegen dessen Fassung in der That wenig Erhebliches einzuwenden sein dürfte. Es handelt sich hier um ganz andere Dinge, als musikalische Begriffe, u. dergl.[;] es handelt sich um die Fundamentirung einer neuen Weltanschauung im Großen und Ganzen, gegen welche die speciellen Fragen in sehr bescheidenen Hintergrund zurücktreten müssen. Brendel bezeichnet die große Umgestaltung, welche die Menschheit anstreben muß, als die auf höherer Stufe wieder zu erringende Einheit, die uns verloren ging, ohne daß sie bis jetzt wieder gewonnen werden konnte. Diese Einheit einer neuen Zeit besteht in der Verbindung des Wesens der großen früheren Periode religiösen Bewußtseins, mit den Erweiterungen, welche die Kunst durch die subjective Befreiung der classischen Periode gewann.106 Brendel tritt hiermit der Wagner’schen Anschauung entgegen, indem er die Ungerechtigkeit Wagner’s gegen die Vergangenheit offen anerkennt. „Der große Gewinn, die unendliche Steigerung der eben abgelaufenen Periode darf nicht verloren gehen, zugleich aber muß jene Concentration und Objectivität in anderer Gestalt wieder erreicht werden, welche die ältere Zeit vor der neueren voraus hatte“ (S. 89)107. – Brendel sieht folglich mit Recht „da eine weltgeschichtliche Berechtigung, wo Wagner nur Verfall sieht.“ (S. 161)108. – Wie ist aber diese höhere Einheit, diese Verbindung anscheinend ganz fremder Elemente zu erreichen? Der Drang darnach giebt sich kund in dem in neuerer Zeit erwachten Streben nach Verwirklichung des Nationalen auf geistigen Gebiet; in dem Drang nach Neugestaltung des äußeren Daseins im Socialen, [22] in dem Ruf nach Realität, im Gegensatz zu der früheren Idealität. Dieser einmüthige Charakterzug des neunzehnten Jahrhunderts hat sich aber bisher in mehr energischen, als glücklichen Versuchen kund gegeben, er wird noch wiederholt sehr gefährliche Krisen in unseren gesammten Zuständen hervorrufen, solange man das Heil lediglich im Politischen, Socialen etc. sucht und zu einseitigen Nachdruck auf einzelne Entwickelungsphasen legt. „Es handelt sich aber um eine neue Weltanschauung, die auf die Sphäre des Innern oder Aeußern sich nicht einseitig beschränkt, sondern beide
105 Der
dritte Abschnitt von Brendels Schrift ist mit „Die Zukunftsbestrebungen der Gegenwart“ überschrieben (Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 87 –115). 106 Ebd., S. 89. 107 Von Pohl leicht gekürzt, inhaltlich jedoch gleich. 108 Hervorhebungen im Text von Pohl.
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wahrhaft versöhnt und vereinigt. Dies ist das Reich der Zukunft, welches nur aus einem tieferen Verständniß, aus einer veränderten Auffassung des Christenthums hervorgehen kann“. (S. 97)109. – Brendel fordert hier für die Kunst dasselbe, was das Christenthum von seinen Bekennern gleich anfangs fordern mußte: „das Anziehen eines neuen Menschen“110, weil man neuen Wein nicht auf alte Schläuche111 füllen könne. Mit einem neuen Menschen auf neuem Boden kann man natürlich Ziele erreichen, die in unseren jetzigen Zuständen unerreichbar sind. Dies sind jedoch immer nur theoretische Manipulationen im Reiche des Idealismus, bei denen wir nicht vergessen dürfen, daß diese idealen Zustände einer neuen Weltanschauung, die zugleich eine neue Weltordnung im Gefolge haben muß, sich aus dem Sauerteig unserer verworrenen Gegenwart herausarbeiten sollen. Der neue Zustand an sich erscheint in seiner Reinheit und Erhabenheit daher weit weniger problematisch, als der Uebergang aus unserer Zeit in jenes neue „Reich der Zukunft“, das mit dem „tausendjährigen Reich“112 der ersten Christen zu sympathisiren scheint. Die Menschheit hat zu allen Zeiten den Glauben an ein goldenes Zeitalter, an ein Eldorado, an ein tausendjähriges Reich der Liebe und des Friedens mit Wärme festgehalten, sie hat seit Jahrtausenden darnach gestrebt und gerungen, ohne es je zu erreichen, und wir glauben auch nicht, daß sie es jemals erreichen wird! Sie muß ein Höchstes und Heiliges haben, nach welchem sie aufblickt, nach dem sie ringt, für das sie kämpft. Man nenne es Liebe, Freiheit, Kunst, Religion, oder wie immer – jedes Weltalter hat sein eigenes Ideal gehabt, jedes folgende wird es reiner und allgemeiner fassen, wird ihm näher und näher rücken, aber das absolut Wahre, Schöne und Gute wird es nie erreichen. Dies ist unser Glaube – Wagner und Brendel haben einen anderen, höheren, darum glauben sie auch an Etwas, wozu uns der Glaube fehlt: an das Kunstwerk der Zukunft. – Wenn auch Brendel mit Wagner wesentlich darin differirt, daß letzterer das Kunstwerk der Zukunft aus dem griechischen Ideal, ersterer aus dem christlichen Ideal ableitet, und daß Brendel mithin viel inniger an unser Zeitbewußtsein anknüpft, als Wagner, dessen Grundideen völlig außerhalb der Gegenwart liegen:
109 Von
Pohl gekürzt und teilweise neu zusammengesetzt, jedoch ohne die Bedeutung zu verändern. in Anlehnung an folgende Bibelstellen: „Legt von euch ab den alten Menschen […]. Erneuert euch aber in eurem Geist und Sinn und zieht den neuen Menschen an, der nach Gott geschaffen ist in wahrer Gerechtigkeit und Heiligkeit“ (Eph 4, 22 – 24). Ebenfalls im Neuen Testament: „Über alles aber zieht an die Liebe, die da ist das Band der Vollkommenheit“ (Kol 3, 14). 111 Vgl. Mt 9, 17: „Man füllt auch nicht neuen Wein in alte Schläuche; sonst zerreißen die Schläuche, und der Wein wird verschüttet, und die Schläuche verderben. Sondern man füllt neuen Wein in neue Schläuche, so bleiben beide miteinander erhalten“. Ähnliche Formulierungen finden sich auch bei Markus und Lukas (Mk 2, 22; Lk 5, 37 – 38). Franz Liszt benutzt das Gleichnis in seinem Artikel Liszt 1855 Robert Schumann, S. 136: „weil er die alten Schläuche noch geeignet hielt für seinen jungen Wein, weil er glaubte, daß moderne Seelenzustände sich in herkömmlichen Formen darstellen ließen, während diese doch einem gänzlich unähnlichen Gefühlsinhalt ihre Entstehung verdankten.“ 112 Bezeichnung für die Zeit nach der Auferstehung Jesu, während der der Satan für tausend Jahre gefesselt und Jesus sichtbar auf Erden erscheine. Im Pietismus des 19. Jahrhunderts verbreitete Vorstellung, basierend auf der Offenbarung des Johannes (Offb 20, 1– 6). 110 Möglicherweise
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so ist doch die Sympathie im Grundgedanken nicht zu verkennen. Für Wagner war das Kunstwerk der Zukunft ein Gegebenes, eine künstlerische Voraussetzung, zu welcher er, rückwärts greifend, die Elemente und Grundbedingungen im Griechen thum suchte. Auch Brendel erkannte die bewegende, umgestaltende Kraft und Fülle, welche dieser Gedanke in sich schließt; auch für ihn wurde er ein Gegebenes, zu welchem er sich aber einen anderen Weg zu bahnen suchte, der die Möglichkeit einer Verbindung zwischen der Gegenwart und Zukunft nicht absolut negirte. Wir haben hierdurch ein neues Ideal gewonnen, herrlicher, größer und allgemeiner als irgend ein Ideal vergangener Zeiten, das Ideal des „gesunden, ganzen, in sich zur Harmonie gelangten Menschen“, (101) und der [„]Herrschaft der über alle Schranken übergreifenden Liebe und Hingebung, welche allein die Menschheit wahrhaft erlösen kann.“ (108)113. Sollen wir deshalb, weil wir nicht daran glauben, daß diese Erlösung jemals vollständig erreicht werden könne, das Ideal selbst verwerfen. Sollen wir nicht darnach streben, es nicht vertheidigen dürfen? – Im Gegentheil halten wir seine Anerkennung für eine ethische Nothwendigkeit. Nur der Unverstand kann das gläubige Festhalten an einen idealen Zielpunkte bespötteln, nur Thoren können seine ethische Kraft, seine historische Berechtigung läugnen. Wohin wir steuern müssen, muß für uns klar sein, wohin wir aber dadurch gelangen werden, oder vielmehr, wieweit wir vordringen können – das ist eine andere Frage, die völlig außerhalb des Bereiches aller Voraussicht und Voraussetzung liegt. Im Grunde kann uns das auch Wenig kümmern, da es unsere Aufgabe niemals sein kann, als Zukunftspropheten das absolut Erreichbare zu bestimmen und abzugrenzen. Dies ist in der Kunst sowenig möglich, als in der Wissenschaft, wenn nicht das berüchtigte Wort, „daß die Wissenschaft Umkehr sei“114, ebenfalls seine volle Berechtigung haben soll. Es genügt, daß wir wissen, wohin wir wollen, ohne Zeit und Kraft daran zu zersplittern, die Frage lösen zu wollen, wieweit wir kommen können. Fassen wir also das Ideal des „Kunstwerkes der Zukunft“ so, wie es Brendel (S. 115) versteht, daß „in der Welt der Zukunft die Kunst in den Vordergrund treten wird“ (wir sagen: soll) „und für diese Welt, welche den früheren, einseitigen, spiritualisten115 Charakter abgestreift hat, die Kunst, die mit der einen [23] Hälfte ihres Wesens im Diesseits wurzelt, der angemessenste Ausdruck sein wird“, – so können wir dieses Glaubensbekenntniß unbedenklich adoptiren, ohne damit eine Unmöglichkeit oder einen Widerspruch mit dem Früheren auszusprechen. Wir finden nämlich in diesem Ausspruch keine Nothwendigkeit, das Kunstwerk der Zukunft im Wagner’schen Sinne anerkennen zu müssen, so wenig als wir hierin die Consequenz entdecken können, daß die Musik, oder irgend eine andere Kunst, ihre Bahn als Sonderkunst durchlaufen habe, oder jemals vollständig durchlaufen werde. Denn wenn auch „die Zersplitterung aufhören, die Sonderung der Erkenntniß der Einheit weichen wird; wenn die schroffen Unterschiede der Individualitäten
113 Von
Pohl aus den beiden von ihm angegebenen Seiten zusammengesetzt, inhaltlich jedoch dem Original entsprechend. 114 Wahrscheinlich eine Anspielung auf Friedrich Julius Stahl (1802 –1861), deutscher Rechtsphilosoph, Jurist und Politiker, der in antiaufklärerischer Haltung eine Umkehr der Wissenschaft – bezüglich Rechts- und Staatslehre – auf Basis der christlichen Religion forderte (Stahl 1830 Die Philosophie des Rechts). 115 Bei Brendel: „spiritualistischen“.
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hinwegfallen, die Künstler, und mit ihnen die Künste selbst sich annähern werden;“ (S. 114) wenn auch „der enge Schauplatz einer blos nationalen Entwickelung verschwinden, und einem universellen, alle Unterschiede in sich vermittelnden Reiche des Geistes Raum geben wird“ (S. 113)116 – so wird doch die Individualität, wie die Nationalität niemals vollständig und gänzlich verschwinden, so werden doch die Künste, trotz aller Annäherung, niemals in einander völlig aufgehen können: Ersteres aus dem Grunde, weil das Recht der Subjectivität wohl in seine geziemenden Schranken gewiesen, aber nie vollständig vernichtet werden kann – Letzteres deshalb, weil auch die Objectivität in den verschiedenen Künsten stets zu verschiedenem Ausdruck gelangen muß, weil ihre Aufgaben und Ausdrucksweisen zu mannichfaltig sind, um unter einem Gesichtspunkt vollständig erledigt werden zu können. Eine Annäherung, ja sogar eine Vereinigung der Künste ist noch kein Aufgehen derselben ineinander, – wir müßten denn das Aufgehen so verstehen, wie man etwa von einem Aufgehen zweier Individualitäten in gegenseitiger Liebe spricht, ohne dadurch das völlige Aufgeben der Individualitäten bezeichnen zu wollen. Letzteres ist überhaupt eine absolute Unmöglichkeit. Der Mensch kann in gewissen Gefühlen und Gedanken völlig in einer, ihm sympathischen Natur aufgehen, aber nie in Allen. Dies würde den Begriff einer vollkommenen Identität voraus setzen, welche dem der Subjectivität geradezu widerspricht. Der Mensch kann aus gleichem Grunde sich in vielen Fragen einem Anderen unterordnen oder beiordnen, aber nie in Allen, sonst gäbe er sein gutes Recht der Freiheit und Selbstbestimmung vollständig auf. Und wie der Mensch zum Menschen, so steht auch der Künstler zum Künstler. Und wie Sympathie der Richtung mit Freiheit der Entfaltung, wie Freiheit mit Gesetz völlig vereinbar sind, so wird auch immer künstlerische Nothwendigkeit mit subjectiver Freiheit sich vereinen lassen; und die Sympathie der Künste stets nur bis zu einem Grad sich steigern können, wo eine fernere Uebereinstimmung nicht mehr Sympathie, sondern Zwang, nicht mehr Universalität, sondern eine neue Einseitigkeit wäre. Es haben sich bereits drei gesonderte Ansichten in dieser Frage kund gegeben. Der Erste, welcher den Satz in seiner ganzen Größe, aber in eben so großer Schroffheit aufstellte, war Wagner. Er warf damit einen Eris-Apfel117 in das Lager der Künste, ohne daß irgend Wer ihn eigentlich alles Ernstes aufgenommen hätte. Denn wir dürfen es ungescheut aussprechen, daß an das Kunstwerk der Zukunft im Wagner’schen Sinne gegenwärtig Niemand glaubt, als er selbst. Die zweite Ansicht, welche sich daraus entwickelte, war die von Raff (Neue Zeitschrift für Musik, Bd. 38, Nr. 7)118. Dieser will den Einzelnkünsten ihre absolute Selbstständigkeit 119 gewahrt wissen, in einer, vom Kunstwerk der Zukunft getrennten Existenz, sodaß Letzteres neben den Einzelkünsten bestehen, und gewissermaßen als selbstständige Kunst in die Reihe der übrigen treten soll. – Brendel hat (S. 217) Einiges darauf erwidert, ohne diese Ansicht jedoch gründlich zu behandeln und zu
1854 Die Musik der Gegenwart, S. 115. 117 Nach der griechischen Sage warf Eris, die nicht zur Hochzeit der Thetis eingeladen war, einen Apfel mit der Aufschrift „der Schönsten“ unter die Hochzeitsgäste, wodurch es zum Streit zwischen Athene, Aphrodite und Hera sowie zur Bildung des Begriffs „Zankapfel“ kam. 118 Raff 1853a An die Redaction, in: NdS 1 Nr. 41. 119 Im Original heißt es lediglich: „grössere Selbständigkeit“ (Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 217). 116 Brendel
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widerlegen.120 Auch hat sich Raff erst später (in der „Wagnerfrage“)121 ausführlich ausgesprochen, sodaß nur ein gründliches Eingehen auf dieses Buch ein Gesammtbild seiner Theorie geben könnte – wozu hier nicht der Ort ist. Die dritte Ansicht ist die Brendel’sche. Dieser will eine relative Selbstständigkeit der Einzelkünste gewahrt wissen (S. 164 ff.), womit wir völlig einverstanden sind. Aber später kommt er darauf zurück, was er in einem Artikel seiner Zeitschrift (Bd. 38, Nr. 13)122 früher ausführlich zu begründen suchte: „daß von einer relativen Selbstständigkeit der einzelnen Künste nur nach vollbrachter Einigung, nicht vorher die Rede sein könne“, (S. 247)123 daß die Einzelkünste folglich im Kunstwerk der Zukunft, wie in ihrer Spitze erst zusammenlaufen müßten, um dann wieder strahlenförmig aus ihm heraus sich einzeln zu entfalten. – Dieser Satz wird in Brendel’s Buch nur äußerst flüchtig berührt; wir sehen nicht ein, warum, da er für Brendel’s Anschauung gerade der eigenthümlichste und bezeichnenste ist. Der Verfasser spricht ihn mit einer gewissen Unsicherheit aus, die trotz seiner öfteren Verwahrung gegen Mißverständnisse nicht fähig ist, ihn davor zu bewahren, und uns zu überzeugen. Wenigstens sehen wir nicht ein, was durch dieses Zusammenlaufen im Gesammtkunstwerk gewonnen werden soll, da die Nothwendigkeit einer späteren Trennung zugleich mit in Aussicht gestellt wird! Dies ist der zweite Punkt, wo Brendel, nach [24] unserer Meinung, eine Concession gegen Wagner gemacht hat, die er nicht machen sollte. Verstehen wir ihn hier falsch, so ist es die Schuld seiner Darstellung, nicht die unsere. Es ist hier überhaupt schwer, ihm zu folgen, weil er zuweilen Einschränkungen macht, die später wieder aufgehoben werden. – So macht z. B. Brendel im fünften Abschnitt („Zur Kritik der Schriften und Kunstwerke R. Wagner’s“)124 bei der Besprechung von Wagner’s „Kunstwerk der Zukunft[“] (S. 162 bis 168) höchst gerechtfertigte Einschränkungen gegen Wagner’s Theorie geltend, Einschränkungen, die wir sämmtlich unterschreiben und wegen ihrer Wichtigkeit consequent aufrecht erhalten müssen. Nachdem nämlich Brendel bewiesen hat, daß den Künsten unter allen Umständen eine relative Selbstständigkeit gewahrt bleiben müsse, fährt er (S. 165) fort. „Es ist nothwendig, daß das, was eine relative Selbstständigkeit besitzen soll, auch gesondert in die Erscheinung tritt! Die Vereinigung der Künste im Gesammtkunstwerk ist eine freie, und es muß ihnen daher die Möglichkeit der Sonderung stets offen bleiben. Dies kann indeß nur der Fall sein, wenn ihnen eine getrennte, obschon untergeordnete, Sphäre erhalten bleibt. Ohne eine solche müßten dieselben verschwinden, unfähig, ihre Eigenthümlichkeit zu wahren.“125 An diesem Satz halten wir fest; nicht so Brendel. Denn im nun folgenden sechsten Abschnitt, („die Stellung der Tonkunst zu dem bezeichneten Umschwung, und die nächsten Aufgaben derselben in der Gegenwart“)126 heißt es (S. 246): „Zwar habe ich im fünften Abschnitt gewisse Einschränkungen angedeutet – diese Einschränkungen scheinen einer unbedingten Annahme von Wagner’s Lehre entgegen zu
121 Raff 1854 Die Wagnerfrage. 122 Brendel 1853 Die bisherige Sonderkunst, in: NdS 1 Nr. 42. 123 Veränderte Satzstellung durch Pohl unter Beibehaltung der Bedeutung bei Brendel. 124 Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 130 – 243. 125 Sämtliche Hervorhebungen im Text sind von Pohl, ebenso einige vernachlässigbare Auslassungen. 126 Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 244 – 278. 120 Ebd.
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stehen“ (allerdings). – „In Wahrheit jedoch berühren dieselben die Aufgabe im Ganzen und Großen nicht unmittelbar. (?) Der Kern der Sache bleibt derselbe, selbst wenn im Einzelnen noch zahlreichere Differenzen stattfänden.“127 – Das müssen wir stark bezweifeln, und es dürfte Brendel schwer werden, uns davon zu überzeugen! Der Wunsch nach möglichster Anerkennung Wagner’s; das Bestreben, sowohl ihm als allen denen seiner Anhänger, welche nicht das Wagner’sche Kunstwerk der Zukunft acceptiren, gerecht zu werden; eine gewisse Scheu vor Mißverständnissen zur Linken und Rechten, welche dem Centrum selten erspart werden – dies Alles bringt Brendel hier in eine schwankende Stellung, sodaß er eine vollständige Erledigung der Frage über die Stellung der Einzelkünste zum Kunstwerk der Zukunft in der That nicht herbeigeführt hat. Er fühlt dies selbst, wenn er z. B. (S. 167) sagt: „Wir müssen eingestehen, daß wir nicht ein fertiges Resultat, hervorgegangen aus einer vollständigen Verarbeitung, sofort hinstellen können“128. – An einer andern Stelle sagt er: „Ich habe das ausdrückliche Bewußtsein, daß jetzt noch Vieles schwankend und unerledigt geblieben ist“. (S. 209)129. – Im Allgemeinen geht unsere Ansicht dahin, daß der erste Theil von Brendel’s Werk, namentlich der zweite und dritte Abschnitt in Form und Darstellung der gelungenste, klarste und annehmbarste ist, während der zweite Theil noch Schwankungen und Unklarheiten enthält, und durch eine, keineswegs concise Darstellung, die Uebersicht sehr erschwert. Namentlich halten wir den sechsten (und letzten) Abschnitt für den schwächsten des Werkes. Der Grund liegt sehr nahe. Die Entwickelung allgemeiner Grundzüge ist eine mehr theoretische als praktische Frage, die man aus dem Großen und Ganzen mit einer gewissen genialen Freiheit entwerfen und behandeln kann. Sowie man aber an die Detailfragen kommt, sowie jedes Einzelne seine Berechtigung fordert, seine Stelle einnehmen soll, reicht die Theorie nicht mehr aus. Eine Praxis wird hier gefordert, die noch gar nicht vorhanden ist, weil sie sich aus der Theorie erst bilden soll; eine Erfahrung wird nöthig, die bis jetzt noch keiner besitzt, weil wir uns hier auf dem „Zukunftsboden“ bewegen, den noch keiner betrat. Es bieten sich also hier dieselben Schwierigkeiten dar, wie bei dem Entwurf eines völlig neuen Gesetzbuches auf neuen politischen, socialen und ethischen Grundlagen. Ein genialer Kopf vermag die Grundzüge schnell und sicher hinzuwerfen und im Allgemeinen das Richtige zu treffen. Sowie man aber an die Ausarbeitung der einzelnen Paragraphen gelangt, bieten sich tausendfache Schwierigkeiten und Differenzen dar, die oft erst gelöst werden können, nachdem das Gesetz schon in Kraft getreten ist, und in der Praxis die einzelnen Grundsätze zur Prüfung gelangt sind. Brendel gesteht das auch zu, wie wir im zweiten Artikel bereits gezeigt haben. Er fordert selbst zur Prüfung und Ausführung der einzelnen Fragen auf, und bietet gerade im sechsten Abschnitt seines Buches, wo er die Aufgaben der Gegenwart einzeln zu behandeln sucht, hierzu die Anknüpfungspunkte. Sowie es die Pflicht jedes Einzelnen ist, das Seinige dazu beizutragen, diese Detailfragen zu fördern, so werden auch wir in kleineren selbständigen Artikeln später Einiges näher zu erörtern
127 Sämtliche
Hervorhebungen im Text sind von Pohl. 128 Sämtliche Hervorhebungen im Text sind von Pohl. 129 Sämtliche Hervorhebungen im Text sind von Pohl.
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suchen, obgleich wir auch dabei die im gegenwärtigen Artikel bezeichneten Einschränkungen, die wir gegen Brendel’s Darstellung einzuwenden haben, consequent aufrecht erhalten müssen. Ein detaillirt durchgeführtes System [25] zu geben, halten wir jetzt noch nicht an der Zeit, und überdies in einer Zeitschrift auch nicht am Ort. Denn wir machen hier ein Wort Brendel’s (gegen Raff, S. 218) geltend, das wir an ihn selbst mit gleicher Berechtigung richten können. „Es kommt vor allen Dingen darauf an, das zu thun, was die jedesmalige Gegenwart fordert, und das der Zeit Entsprechende zu geben. Ist dies in wahrhaft befriedigender Weise geschehen, so wird die Geschichte am Besten Rath schaffen, und am Besten eine momentane Einseitigkeit auszugleichen wissen.“130 – Hoplit.
Kommentar Richard Pohls Rezension von Franz Brendels geschichtsphilosophischer Schrift Die Musik der Gegenwart und die Gesammtkunst der Zukunft (ED 1854) ist in vielerlei Hinsicht ein beredtes Dokument seiner Zeit. Pohl selbst legt nachhaltig Wert darauf, seinen Text bloß als „Betrachtungen“ zu bezeichnen, da die „eigene Stellung des Referenten […] auch nicht objektiv genug [ist], um hier lediglich als Referent auftreten zu können, d. h. ohne sein [Pohls] Verhältniß zur Partei, wie zum vorliegenden Werke, zugleich mit in Anschlag zu bringen.“131 Wenngleich eine derartige Offenheit zu dieser Zeit nicht verwundert, so ist der objektive Ton, in dem sie erklingt dennoch bemerkenswert; allein die Tatsache, dass der Verfasser sie erst im zweiten Artikel offenbart, deutet auf die großangelegte Programmatik hin, welche seinen ‚Betrachtungen‘ zu Grunde liegt. Und es ist keine geringere als die große Erzählung der Historie, in welche Pohl Brendels Werk einzuschreiben bemüht ist. Das Hegel’sche Verdikt vom Ende der Kunst stets im Sinn, markiert Pohl eindringlich die historischen Zäsuren in Religion und Philosophie sowie deren jeweiligen Kontext und ihre Vertreter, um schließlich im Sinne Brendels zu erörtern, dass Wagner samt seinen theoretischen Schriften in einer geschichtlich notwendigen Abfolge von Reformation und Aufklärung stünde. An die Stelle, an der Hegels Philosophie der Auffassung Brendels nach versagt, tritt seine persönliche ‚Vision der Gegenwart‘, die Brendel insbesondere durch Wagner und dessen Kunst verkörpert sieht. Wenngleich das System Hegels zwar nicht durch jenes von Wagner ersetzt werden solle, so bedingen sie sich doch in gewisser – in dialektischer Weise: „Hegel’s System aber kann durchaus nicht mehr als das die Gegenwart beherrschende betrachtet werden, schon ist es zurückgetreten, und seine Resultate sind zu Bausteinen für die Zukunft herabgesetzt worden. Allerdings culminirt in ihm die ganze bisherige Weltentwickelung, und die gesammte Bildung der Neuzeit ist vor-
130 Sämtliche
Hervorhebungen im Text sind von Pohl, ebenso einige orthographische Veränderungen. Artikel, S. 739 [254].
131 Vorliegender
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zugsweise Resultat desselben; in der Gestalt jedoch, die es durch Hegel selbst und seine unmittelbaren Schüler und Anhänger erhalten hat, bezeichnet es nur den Schlusspunkt jener im ersten Abschnitt der gegenwärtigen Schrift charakterisirten Epoche.“132 Die Exklusivität von Hegels Philosophie ist es, die Brendel auch Wagners Theorien anlastet,133 was im ersten Fall zum Ende, im zweiten zum Unverständnis der Kunst beim Volk führe. Dies zu vermeiden bzw. die Verbindung herbeizuführen, sieht sich Brendel und mit ihm die Musikkritik in der Pflicht. Wie Pohl diese Entwicklung als dreistufige nachzeichnet, so seien infolge einer praktischen und einer polemischen Phase nun die wissenschaftliche Untersuchung sowie die kritische Vermittlung die notwendigen Mittel zum Zweck, die künstlerisch subjektiven Äußerungen Wagners in einem objektiven Licht zu zeigen, nach Pohl folglich eine „Anbahnung zur Vermittelung unserer Kunstreform mit dem Zeitbewußtsein, mit einem Wort: der erste Grundstein zu einem wissenschaftlichen Fundament.“134 Pohls Text ist die erste schriftliche Äußerung zu Brendels Buch und die darauf folgenden blieben in ihrer Anzahl überschaubar: Während beispielsweise Eduard Hanslick Die Musik der Gegenwart „beiläufig gesagt [als] Verwässerung der Richard Wagner’schen Grundsätze durch echt Brendel’sche Ignoranz und Geistlosigkeit“135 betrachtete, gab Ludwig Bischoff zu bedenken, dass „der Sieg der neuen Grundsätze […] einestheils aber auf der Voraussetzung [beruht], dass das Publicum die entgegengesetzten Ansichten und gewichtigen Stimmen […] gar nicht kennen [sic]. Dieses Letztere ist allerdings eine Thatsache, die sich erstens daraus erklärt, dass die grosse Menge die wissenschaftlichen Werke, in welchen jene Ansichten aus einander gesetzt werden, nicht lies’t, sondern sich mit den Zeitschriften und Tages-Feuilletons begnügt, ja, selbst unter diesen meist nach denen greift, die dem Bedürfnisse des Lesers, sich zu unterhalten, mehr entsprechen, als dem Triebe, sich zu belehren.“136 Obgleich eine beißende Kritik der Süddeutschen Musik-Zeitung die mangelnde Rezeption von Brendels Buch freilich dem Autor und seinem Kreis zuschreibt, so gibt sie dennoch einen aufschlussreichen Einblick in die Sichtweise der Gegenseite: „Als man das Buch entweder mit Stillschweigen überging, oder mit Schadenfreude diesen literarischen Krüppel betrachtete, muss Hr. Hoplit-Pohl heran und nach Kräften Lob und Tadel darüber ausschütten. Es war abgekartet; man wollte Wirkung um jeden Preis. Spasshaft ist dabei nur, dass der Autor in seiner eigenen Zeitung sein Lob lesen musste, und nirgend in einem unabhängigem [sic] Blatte. Und solche Leute reden noch über Cliquenwesen!“137 Dabei hat der süddeutsche Anonymus eine durchaus wohlwollende Kritik Ferdinand Gleichs in der Rheinischen Musik-Zeitung offenbar überlesen,138 ebenso die umfangreiche Besprechung durch Eduard Krüger in der Niederrheinischen Musik-Zeitung,139 in welcher Brendels Schrift Adolf Bernhard Marx’ Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts (ED 1855) gegenübergestellt wird bzw. Ähnlichkeiten in einer Weise herausgestellt werden, welche die
1854 Die Musik der Gegenwart, S. 220. 133 Siehe ebd., S. 222. 134 Vorliegender Artikel, S. 734 [234]. Siehe dazu auch Ramroth 1991 Robert Schumann und Richard Wagner, der Brendels Buch als Versuch deutet, „zwischen den extremen Positionen Wagners und den Erkenntnissen der musikhistorischen Forschung zu vermitteln. Dass diese Intention Brendels scheitern musste, äußerte bereits Richard Pohl 1854 in seiner Rezension“ (ebd., S. 234). 135 Anmerkung Hanslicks in einem Bericht über die Wiener Konzertsaison 1854 (zit. nach Hanslick-Schriften 1, 2, S. 337). 136 Bischoff 1855 Stimmen der Kritik über Richard Wagner, S. 81. 137 Anonym 1856 Die Musik der Gegenwart, S. 10. 138 Siehe Gleich 1855 Franz Brendel. Die Musik der Gegenwart. 139 Krüger 1855 Marx und Brendel, in: NdS 2, Nr. 79. 132 Brendel
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beiden Schriften im selben Licht erscheinen lassen: Gilt Krügers negative Kritik an Brendels Buch zwar maßgeblich dessen Apotheose Wagners, so betrachtet er diese dennoch als „unschädlich“140 für den Leser, mokiert sich aber über den Widerspruch von Wagners Proklamation eines ‚Kunstwerks der Zukunft‘, welches dieser kompositorisch zu erschaffen offenbar nicht imstande sei, und Brendel sich diesen Widerspruch zu erklären unglaubwürdig mache. Der allgemeine Tenor der Kritik sowohl an Brendel als auch an Marx betrifft beider Statuierungen einer defizitären Gegenwart, des notwendigen Fortschritts und schließlich der Projektion einer besseren Zukunft. Diesen nahezu ideal-visionären Verlautbarungen hält Krüger unaufhörlich Bibelzitate entgegen und zeigt daran den utopischen Idealismus der beiden Autoren auf, ebenso wie er zu bedenken gibt, dass die Bereiche Religion und Glauben sowie Philosophie, Musik, ihre Ästhetik und Ausübung als voneinander geschiedene Gegenstände zu betrachten seien. Bemerkenswert ist daran in jedem Fall Krügers Kritik eines religiösen und somit absolut anheischigen Glaubensverhältnisses zur Kunst, was einer Romantik-Kritik gleichkommt, die Brendel grundsätzlich teilte.141 Noch bevor eine der oben genannten Kritiken erschien, sah sich Brendel unmittelbar infolge der Rezension Pohls dazu bewogen, diese als in seinem Auftrag verfasst zu entlarven und zu verteidigen. Die Gründe dafür, dass Brendel seinen „geschätzten Mitarbeiter Hoplit dazu aufforderte“, die vorliegende Besprechung zu schreiben, „waren einerseits: den Inhalt und Gedankengang dieser Schrift den Lesern vorzuführen, andererseits: die Voraussetzungen und Unterlagen für die specielleren Betrachtungen, die nun in diesen Blättern [NZfM] gegeben werden können, dadurch zu gewinnen.“142 Auch versuchte Brendel wegen der Exklusivität, mit der er Wagner und sein Werk abhandelte, etwaigen Gegenstimmen vorab den Boden zu entziehen: „Hier und da ist die Ansicht laut geworden, als ob mit dem Durchdringen der Wagner’schen Opern, mit der siegreichen Verbreitung derselben durch ganz Deutschland unsere Aufgabe, was Wagner betrifft, beendet sei. […] Unserer Auffassung nach ist durch das Bisherige nur erst der erste Schritt gethan, das Terrain gewonnen; mehr nicht. Alles Uebrige ist noch zu vollbringen.“143 Brendels Bemühen um jenes „Terrain“ – als Buchautor sowie als Herausgeber der NZfM – war während dieser Zeit ein Kampf an mehreren Fronten. Vergegenwärtigt man sich allein die Leitartikel seiner Zeitschrift von Juli bis Dezember des Jahres 1854, so erschienen neben der vorliegenden Rezension und einem Artikel Wagners144 ausschließlich Artikel von Liszt145, wovon der umfangreichste der Aufsatz „Wagner’s Fliegender Holländer“ von September bis Mitte Oktober über fünf Nummern verteilt erschien und worauf im Januar 1855 noch sein Artikel „Richard Wagner’s Rheingold“146 folgte. Pohl selbst wies auf dieses gezielte Vorgehen hin: „Den Lesern dieser Zeitschrift brauchen wir das nicht detaillirt zu wiederholen; wir brauchen ihnen auch nicht zu sagen, daß die ‚Neue Zeitschrift für Musik‘, vertreten durch Brendel, und namentlich durch Uhlig, Raff, Bülow, u. A. unterstützt, es war, welche Liszt’s Be strebungen treulich zur Seite stand, und Schritt für Schritt für Wagner’s Opern den ästhetisch-
S. 952 [338]. 141 Vgl. Geck 2001 Zwischen Romantik und Restauration, S. 115 –126. 142 Brendel 1855 Anregungen. Unsere Aufgabe, S. 37. 143 Ebd. 144 Wagner 1854 Gluck’s Ouvertüre zu Iphigenia. 145 Liszt 1854 Bellini’s Montecchi; Liszt 1854 Boieldieu’s Weiße Dame; Liszt 1854 Donizetti’s Favoriten; Liszt 1854 Schubert’s Alfons und Estrella; Liszt 1854 Clara Schumann; Liszt 1854 Wagner’s Fliegender Holländer. 146 Liszt 1855 Richard Wagner’s Rheingold. 140 Ebd.,
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theoretischen Boden erkämpfte, den Liszt auf praktischem Wege gewann und festhielt.“147 War die NZfM auch das wesentliche Medium, das Fachpublikum zu erreichen, so wurden nahezu sämtliche dieser und weiterer Artikel auch in lokalen Blättern Weimars publiziert, um ebenso „die allgemeine Öffentlichkeit und den Weimarer Hof“ zu erreichen.148 Ein dabei nirgends zur Sprache gebrachter und damit umso bemerkenswerterer Umstand ist, dass zeitgleich zu der in die Artikelserie der „Dramaturgischen Blätter“149 Liszts eingebetteten Rezension von Brendels Buch Eduard Hanslicks Traktat Vom Musikalisch-Schönen in Leipzig erschien.150 In Anbetracht dieser Flut an programmatischen und propagandistischen Artikeln des Weimarer Kreises, die während des gesamten Jahres 1854 forciert veröffentlicht wurden und nahezu ausschließlich um die Person Liszt und das Werk Wagners kreisten, wird das einseitige Sendungsbewusstsein, die missionarische Gestimmtheit sowie die Bandbreite der medialen Inszenierung der durch Pohl beschriebenen ‚Parteigänger‘ offenkundig und kann ebenso deren Sensibilität erklären, welche beispielsweise eine Schrift wie diejenige Hanslicks auslöste, die als vermeintlich intendierte Gegenschrift151 verstanden und folglich auch als solche deklariert wurde. Das musikhistorische Monopol, das Brendel Wagners Schriften und Kompositionen in seinem Buch einräumt, sieht er sich wenige Jahre später – gerade in Hinblick auf die bevorstehende Proklamierung einer „neudeutschen Schule“ – zu korrigieren genötigt152 und kompensiert es durch das programmsymphonische Schaffen Liszts, um dem idealen Gedanken einer dialektischen (Musik-)Geschichte gerecht zu werden: „Aeußerst glücklich gewählt, wie Wagner’s Operntexte, und im verwandten Geiste erfunden, sind die symphonischen Dichtungen schon nach dieser Seite hin als ein Seitenstück und Gegenbild auf dem Gebiet der Instrumentalmusik zu Wagner’s Opern zu betrachten. So wie Wagner durch seine Dichtungen der Oper ein neues Ideal aufgeschlossen hatte, so auch Liszt durch seine Programme, durch die Gegenstände derselben, durch die er der Musik neue Stoffe zuführte.“153
Artikel, S. 723 [39] sowie ebd., Anm. 34. 148 Deaville 2006 Die neudeutsche Musikkritik, S. 57. 149 Kritisch ediert in: Liszt-Schriften 5. 150 Vgl. dazu Brendel 1855 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, in: NdS 2 Nr. 72 sowie Bischoff 1855 Eduard Hanslick, in: NdS 2 Nr. 73. 151 Hanslicks Schrift bot laut Dietmar Strauß „die Basis für die schärfste ästhetische Auseinandersetzung des Jahrhunderts. Auch wenn es nicht intendiert war, als Kampfschrift gegen die Neudeutschen zu fungieren, wurde er – was vielleicht historisch bedeutsamer ist – von der Rezeption dazu gemacht“ (Hanslick-Schriften 1, 2, S. 401). 152 In Brendels Artikelserie von 1857, welche seiner Schrift Liszt als Symphoniker (ED 1859) vorausging, versuchte er die Einseitigkeit seiner Betrachtung zu erklären: „Man macht uns den Vorwurf, daß der Thätigkeit Liszt’s in dies. Bl. ein zu großes Uebergewicht eingeräumt, Anderes dagegen zurückgestellt werde, und will bemerken, wie das, was vor einigen Jahren noch an der Spitze gestanden habe, später wieder vernachlässigt worden sei, so werde sie wieder herabgestürzt und eine andere dafür an die Stelle gesetzt. So sei jetzt Liszt an der Reihe, während früher Schumann und später Wagner und zum Theil auch Berlioz diese Stelle einnahmen“ (Brendel 1857 F. Liszt’s neueste Werke, S. 130, in: NdS 2 Nr. 108, S. 1369). 153 Brendel 1859 Liszt als Symphoniker, S. 12. 147 Vorliegender
Die Manifestierung des Fortschritts Die Jahre 1855 bis 1856
Der Weimarer Kreis und Eduard Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen Der Streit der Parteien offenbarte sich zu Beginn des Jahres 1855 zunächst durch Nacharbeit. Die NZfM war noch immer mit der umfangreichen Propaganda beschäftigt, Richard Wagners Werke durch Franz Liszts Besprechungen publik zu machen. Hinzu kam die Veröffentlichung einer apologetischen Publikation des leitenden Redakteurs Franz Brendel über Die Musik der Gegenwart und die Gesammtkunst der Zukunft. Vergegenwärtigt man sich allein die Leitartikel der NZfM von Juli bis Dezember des Jahres 1854, so erschienen neben einer Rezension zu Brendels Buch und einem Artikel Wagners1 ausschließlich Artikel von Liszt2. Während der Weimarer Kreis so sehr mit sich selbst beschäftigt war, blieb der schon im Herbst 1854 von Eduard Hanslick als vermeintlicher Zankapfel geworfene Traktat Vom Musikalisch-Schönen zunächst unbeachtet und daher weitestgehend folgenlos. Neben kurzen Literaturanzeigen in den Zeitschriften war es in der NZfM einzig eine Werkbesprechung einer Symphonie Richard Wüersts durch Peter Cornelius,3 deren Wortlaut erahnen lässt, dass Hanslicks Schrift auch in Weimar möglicherweise bereits wahrgenommen wurde. Die erste umfangreiche und bedeutende Rezension erschien in Wien und entstammt der Feder des Philosophen Robert Zimmermann,4 dem Vom Musikalisch-Schönen gewidmet ist. Neben der zu erwartenden Berichterstattung in Musikzeitschriften erfuhr Hanslicks Schrift vor allem Reaktionen aus dem philosophischen Bereich. Sowohl für das Verständnis der Abhandlung als auch für das Selbstverständnis Hanslicks ist es bezeichnend, dass er keinen Musikrezensenten einer Erwähnung für würdig befunden, sich im Vorwort seit der zweiten Auflage jedoch für die – seiner Meinung nach – positive Aufnahme seiner Schrift bei Friedrich Theodor Vischer, David Friedrich Strauß, Hermann Lotze, Moritz Lazarus und Hermann von Helmholtz bedankte hatte.5 Mitte Februar 1855 ergriffen schließlich die jeweiligen Chefredakteure von Niederrheinischer Musik-Zeitung und NZfM das Wort, um sich einer Besprechung von Hanslicks musikästhetischem Traktat zu widmen. Im Kontext der vorliegenden
1854 Gluck’s Ouvertüre zu Iphigenia. 2 Liszt 1854 Bellini’s Montecchi; Liszt 1854 Boieldieu’s Weiße Dame; Liszt 1854 Donizetti’s Favoriten; Liszt 1854 Schubert’s Alfons und Estrella; Liszt 1854 Clara Schumann; Liszt 1854 Wagner’s Fliegender Holländer; Liszt 1855 Richard Wagner’s Rheingold. 3 Cornelius 1854 Concertmusik. Clavierauszüge zu vier Händen, in: NdS 2 Nr. 69. 4 Zimmermann 1854 Zur Aesthetik der Tonkunst. 5 Einzig Johann Christian Lobe wird ab der dritten Auflage einmal als „Beethoven-Augure“ erwähnt (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, in: Strauß 1990 Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen 1, S. 89 f.). 1 Wagner
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Einleitung
Edition ergibt sich aufgrund zeitlich nahezu paralleler Publikationstage der Zeitschriften der seltene Sonderfall, sowohl von Brendel6 als auch von Ludwig Bischoff7 – den beiden Herausgebern der jeweils entgegengesetzte Lager vertretenden Musikzeitschriften – eine Buchbesprechung vorliegen zu haben, von der keine eine polemische Reaktion auf die jeweils andere darstellt bzw. überhaupt sein kann. Umso aufschlussreicher erweisen sich die Vorgehensweisen der Rezensenten im Vergleich, heben doch beide gezielt diejenigen Aspekte von Hanslicks Abhandlung hervor, die ihrer eigenen ästhetischen Richtung entsprechen bzw. dieser zuwiderlaufen; wobei Brendel – später immer wieder als ‚Feind‘ Hanslicks diskreditiert – sich gegenüber Bischoff in diesem Fall als der durchweg differenziertere Kritiker zeigt. So eindeutig die Fronten der beiden Rezensenten abgesteckt sein mögen, so offensichtlich gibt sich die Funktionalisierung bzw. Instrumentalisierung von Hanslicks Abhandlung für das jeweilige Musikverständnis zu erkennen und positioniert Vom Musikalisch-Schönen als Streitgegenstand, der – wenngleich nicht mit dieser Intention – zur ‚richtigen‘ Zeit erschienen war und zwischen die Lager der sich mehr und mehr befehdenden musikalischen Parteien geriet.
Liszts Ästhetik einer Programmmusik und weitere Positionierungsmaßnahmen Im März 1854 schreibt Liszt erstmals in der NZfM über Webers Euryanthe8, was den Auftakt seiner Programmpolitik für das Weimarer Theater bildete und sich inhaltlich von tendenziell nationalen und sozialpolitischen Konzepten9 unterscheidet. Die Besprechung einer Komposition von Hector Berlioz diente Liszt ab Mitte Juli 1855 in einer deutschen Übersetzung – wahrscheinlich durch Cornelius – dazu, den Lesern der NZfM seine persönliche Ästhetik detailliert vorzustellen.10 Das durch die Musikgeschichtsschreibung oftmals als antagonistisch beschriebene Verhältnis von Befürwortern und Gegnern der Programmmusik wird innerhalb der Kontroverse mehrmals diskutiert. Doch insbesondere das Jahr 1855, in dem mehrere große Schriften entstanden waren, die dieses Thema behandeln, lässt unterschiedliche Motive dafür erkennen. Eine umfangreiche Doppelrezension des einstigen NZfM-Mitarbeiters Eduard Krüger fasst für die Niederrheinische Musik-Zeitung beispielsweise die jüngst erschienene Schrift Brendels und Adolf Bernhard Marx’ Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Pflege in einer Besprechung zusammen.11 Es sei die „Zukunftslehre“, die „das geheime Band“ darstellt, „das Marx mit der Wagner-Brendel-Liszt’schen Schule verbindet“ und die Krüger heftig angreift: „Lechzen und geilen nach der Zukunft, weil sie zukünftig ist, ist die Losung“.12
1855 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, in: NdS 2 Nr. 72. 7 Bischoff 1855 Eduard Hanslick in: NdS 2 Nr. 73. 8 Liszt 1854 Weber’s Euryanthe, in: NdS 1 Nr. 65. 9 Siehe beispielsweise Griepenkerl 1847 Die Oper der Gegenwart; Brendel 1846 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper III. Zukunft, in: NdS 1 Nr. 4; Banck 1847 Die deutsche Bühne sowie Anonym 1849 Das Nationaltheater des neuen Deutschlands. 10 Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, in: NdS 2 Nr. 76. 11 Krüger 1855 Marx und Brendel, in: NdS 2 Nr. 79. 12 Ebd., S. 962 [345 f.]. 6 Brendel
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Weitere Rezensionen der beiden Schriften lassen Krügers Zusammenstellung in einem exzeptionell anti-fortschrittlichen Licht erscheinen: Während Brendel mit einer selbst in Auftrag gegebenen Besprechung13 gegen die offenbare Belanglosigkeit seines Buchs ankämpfte, äußersten sich zu Marx’ Publikation journalistische Größen wie der Berliner Kritiker Ernst Kossak14 oder bedeutende Musiker wie Liszt15 und Ferdinand Hiller16. Ein interessantes Zeugnis dieser Zeit erschien ebenfalls in der Niederrheinischen Musik-Zeitung und stammt aus der Feder Zimmermanns.17 Seine Besprechung gilt der Schrift Die Gränzen der Musik und Poesie. Eine Studie zur Aesthetik der Tonkunst (ED 1855) von August Wilhelm Ambros, die von Seiten der NZfM gänzlich ignoriert wurde, obgleich Ambros im Vorwort seiner Erstlingsschrift betont, dass er sowohl von Marx’ Veröffentlichung als auch von Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen dankbare Anregungen erhalten habe. Diese ausschließlich philosophische und somit einseitig vertretene Position zeigt sich meist als eine Verteidigung der Schrift Hanslicks und wird vor dem Hintergrund verständlich, dass Zimmermann weitestgehend für das philosophische Grundgerüst von Vom Musikalisch-Schönen verantwortlich zeichnete und Ambros’ Schrift, die sich in vielen Teilen dezidiert gegen Hanslick richtet, als Möglichkeit nutzte, diesen einerseits von philosophischer Seite zu verteidigen18 und andererseits, um seiner eigenen, formalistischen Ästhetik Nachdruck zu verleihen. Während Ambros bezüglich einer Beurteilung der programmatischen Kompositionen von Berlioz ins Schwanken geriet, tendierte er abschließend dennoch dazu, Programmmusik als unzulässige Grenzüberschreitung zu betrachten. Zimmermanns Einschalten von außen, sein Bemühen um eine Erklärung philosophischer Grundlagen der Musik, spiegelt zum einen eine Mitte des 19. Jahrhunderts von Wien aus stark werdende ästhetische Orientierung am Herbartianismus wider, zum anderen bot Zimmermann durch seinen radikalen Formalismus – vor allem für spätere Gegner Hanslicks – eine Position, die mit der von diesem vertretenen Autonomieästhetik fälschlicherweise gleichgesetzt wurde. Das schwankende Urteil gegenüber Berlioz’ programmatischer Musik war nicht allein Ambros eigen. Die Bewertung von Berlioz’ Werk war immer schon unauflöslich mit dessen Nationalität verbunden, weshalb auch Brendel bis Ende der 1850er Jahre größte Schwierigkeiten hatte, dessen Musik in vollem Umfang anzuerkennen. Während Berlioz von konservativer Seite spätestens seit dem Karlsruher Musikfest den sogenannten Zukunftsmusikern zugerechnet wurde, war beispielsweise Richard Pohl noch 1856 darum bemüht, dies anhand einer dezidierten Abgrenzung zum Schaffen Wagners zu dementieren.19 In allgemeiner Weise gab sich diese Art
13 Pohl 1854 Betrachtungen über die Musik der Gegenwart, in: NdS 1 Nr. 68. 14 Kossak 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts. 15 Liszt 1855 Marx: Die Musik im neunzehnten Jahrhundert, in: NdS 2 Nr. 80. 16 Hiller 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts. 17 Zimmermann 1855 Ambros, Ueber die Gränzen der Musik, in: NdS 2 Nr. 83. 18 In einer Rezension zur 7. Auflage von Vom Musikalisch-Schönen benennt Zimmermann dezidiert, was Hanslicks Form-Begriff mit jenem Hegels teilt, jedoch auch worin er sich unterscheidet, ebenso betont er in diesem Zusammenhang den bedeutenden Stellenwert von Herbarts Ästhetik (siehe Zimmermann 1885 Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 251). 19 Siehe Pohl 1856 Hector Berlioz, in: NdS 2 Nr. 90. Ähnlich hatte sich auch Lobe 1853 geäußert (siehe Lobe 1853 Hektor Berlioz, in: NdS 1 Nr. 43).
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nationalistischer Haltung auch in der Ablehnung des Begriffs Neuromantik zu erkennen.20 Es ist auffällig – von Nationalstereotypen unabhängig –, dass die Vorstellung von Programmmusik als eigenständiger Gattung auch in den Schriften Liszts und Ambros’ noch im Entstehen begriffen war und Musik von Berlioz trotz nationaler Vorbehalte immer häufiger wieder Teil der Debatte wurde. Eine wenngleich nur äußerliche, doch publikationsgeschichtlich vielsagende Zäsur in diesem Zusammenhang bildete die Neugründung der Zeitschrift Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft, die Brendel, gemeinsam mit Pohl seit 1856 herausgab. War es schon vor der Übernahme der NZfM Brendels Ziel, eine Zeitschrift zu betreiben, die über das jeweils Spezifische nur einer Kunstrichtung hinausreichte,21 so konnte er dies mit den Anregungen schließlich realisieren.22 Entsprechend vielsagend ist die Tatsache zu betrachten, dass Brendel bereits in der zweiten Nummer einen Artikel mit dem Titel „Programmmusik“ veröffentlichte.23 In Anlehnung an Liszts Harold-Aufsatz erörterte Brendel das Thema allgemeiner als „eine Lebensfrage der gegenwärtigen Tonkunst“, nämlich die „Frage, ob Programmmusik statthaft sei oder nicht“.24 Das Thema ist Brendel folglich ein Anliegen, welches nicht nur über den musikspezifisch interessierten Leser hinaus Verbreitung finden sollte, auch hinsichtlich seiner ästhetischen Konzeption lässt es das nur Musikalische hinter sich. Brendels Artikel bildet somit einerseits das wissenschaftlich-historische Korrelat zu Liszts essayistisch-ästhetischer Abhandlung und markiert andererseits die entscheidende Phase der Konkretisierung des Begriffs der „Programmmusik“, den Brendel auf diese Weise in den Bereich des allgemein interessierten Publikums hineinzutragen versuchte und ihn nicht nur für Kompositionen des fortschrittlichen Lagers beanspruchte, sondern als die Zukunft der Instrumentalmusik erklärte.
Wagner wird Repertoire – eine Folge der Kontroverse? Es war Pohl, der 1854/55 mit seiner großspurigen Verortung von Wagners Werk als notwendiger Folge von Reformation und Aufklärung eine grenzenlos übertriebene Selbststilisierung betrieb. Und es war ebenfalls Pohl, der auf das gezielte Vorgehen systematischer Verbreitung von Wagners Kompositionen hinwies: „Den Lesern
20 Siehe R. K. 1855 Zeitgemäße Betrachtungen, in: NdS 2 Nr. 78. 21 „Außer dem Musikblatt soll meine Zeitung noch ein Literatur- u Unterhaltungsblatt […] enthalten. […] Ich würde allerdings das Blatt nicht ganz in der von Ihnen verfolgten Richtung fortführen können; […] Ich glaube, daß man jetzt, um der Kunst zu nützen, nicht allein für Künstler, sondern zugleich auch für das größere, aber gebildete, Publicum schreiben muß. Wenn auch die Künstler das Bessere einsehen, so haben doch nur wenige den Muth zu einer nachdrücklichen Opposition“ (Brief von Brendel an Schumann vom 17. September 1841, in: Schumann-Briefe II, 5, S. 220). 22 Brendel charakterisiert die Anregungen als Blatt für all jenes, „das nicht ausschließlich Musikalische[s] betrifft, das nothwendig zur Sprache gebracht werden muß, und doch nicht in eine musikalische Zeitung gehört“ (Brendel 1856 Anregungen, S. 36). 23 Brendel 1856a Programmmusik, in: NdS 2 Nr. 86. Auch ein späterer Wiederabdruck war nicht in einer Musikzeitschrift, sondern in den fachübergreifenden Blättern für Musik, Theater und Kunst zu finden (Brendel 1856b Programmmusik). 24 Brendel 1856a Programmmusik, S. 82 f., in: NdS 2 Nr. 86, S. 1054.
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dieser Zeitschrift brauchen wir das nicht detaillirt zu wiederholen; wir brauchen ihnen auch nicht zu sagen, daß die ‚Neue Zeitschrift für Musik‘, vertreten durch Brendel, und namentlich durch Uhlig, Raff, Bülow, u. A. unterstützt, es war, welche Liszt’s Bestrebungen treulich zur Seite stand, und Schritt für Schritt für Wagner’s Opern den ästhetisch-theoretischen Boden erkämpfte, den Liszt auf praktischem Wege gewann und festhielt“25. Die massive Propagandamaschinerie des Weimarer Kreises erweckte durchaus eine Aufmerksamkeit, die weit über Thüringen hinausreichte. Ein Beispiel für die tatsächlich existierende Erwartungshaltung gegenüber Wagners Musik bildet die Berichterstattung zur sogenannten Muster-Aufführung26 des Tannhäuser am 12. August 1855 in München ab.27 Während ein anonymer Autor in der NZfM die positive Aufnahme der Oper dem laienhaften und seiner Meinung nach unvoreingenommenen Publikum zuschrieb, das sich nicht „verdrossen in den dunkeln Wald [seiner] Erinnerungen zurückzieh[e]“28, lag ein wesentliches Kriterium des Besuchererfolgs im Bereich des Nicht-Ästhetischen. Neben der vom Intendanten Franz von Dingelstedt ausführlich beschriebenen, prächtigen Ausstattung der Aufführung, sei es vor allem die durch die Schriften Wagners sowie die durch mediale Dauerpräsenz29 seiner Anhänger entfachte Sensationslust des Publikums gewesen, die so vieldiskutierten Werke des gesuchten Landesverräters nun endlich selbst auf der Bühne erleben zu wollen. Gestützt wird diese Aussage durch einen Bericht Dingelstedts, der zu erkennen gibt, dass es für ihn keineswegs ausschließlich künstlerische, als vielmehr finanzielle Beweggründe waren, das Werk in den Spielplan aufzunehmen.30 Vor der Aufführung des Tannhäuser 1849 durch Liszt in Weimar war die Oper nur in Dresden gespielt worden (UA 1845), verbreitete sich aber infolge der Weimarer Aufführung rasch. Nach Schwerin, Breslau und Wiesbaden im Jahr 1852 folgten ein Jahr später noch 18 weitere Städte, darunter beispielsweise Leipzig, wo nach der Premiere des Tannhäuser im Januar 1853 noch 21 Vorstellungen im selben Jahr folgten.31 Nahezu jede Aufführung einer Wagner-Oper war von ausführlicher Berichterstattung begleitet worden und selbst die Tageszeitungen füllten mit dem ‚Ereignis Wagner‘ zunehmend ihre Spalten. Hinzu kam die publizistische Selbstinszenierung des noch
25 Pohl 1854 Betrachtungen über die Musik der Gegenwart, S. 39, in: NdS 1 Nr. 68, S. 723 sowie ebd., Anm. 34. 26 Dass diese Art der Inszenierung bereits lange vor den späteren Aufführungen der 1860er als „Mustervorstellung“ aufgefasst wurde, belegt ein Zitat aus einem Bericht im Münchener Punsch vom 19. August 1855 (Anonym 1855 Kgl. Hof- und National-Theater, S. 261). Dennoch entsprach die Inszenierung keinesfalls exakt Wagners eigenen Vorstellungen. So hatte der Komponist für die Tannhäuser-Aufführungen eine Broschüre mit genauen Angaben für die musikalische und szenische Umsetzung des Werks verfasst. Jahre später, so heißt es in seiner Autobiographie, habe er „sämtliche dereinst dem Münchener Hoftheater übersandten Exemplare gänzlich unberührt im Archive desselben verwahrt“ gefunden, in: Wagner-Leben, S. 579. 27 Siehe insbesondere den Kommentar zu 14. 1855 Wagner’s Tannhäuser, in: NdS 2 Nr. 77. 28 Anonym 1855 Münchner Briefe. II., S. 104. 29 Siehe dazu die tabellarische Übersicht der Kontroverse um Wagner zwischen der NZfM und den Grenzboten von 1851 bis 1854 im Anschluss des Kommentars zu Raff 1853 Vertrauliche Briefe, in: NdS 1 Nr. 45. 30 Rückblickend schrieb Dingelstedt 1879: Die „Oper, bisher in München nicht gegeben, versprach ein Cassenstück ersten Ranges zu werden“ (Dingelstedt 1879 Münchener Bilderbogen, S. 149). 31 Vgl. Kirchmeyer 1993 Robert Schumanns Düsseldorfer Brahms-Aufsatz, S. 86 – 88.
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immer im Exil lebenden Komponisten, was insgesamt ein Höchstmaß an öffentlicher Aufmerksamkeit erregte und maßgeblich zur Etablierung einer ‚Marke Wagner‘32 beitrug. Erst der junge Felix Draeseke vermochte 1856 die unzähligen Anfeindungen durch eine umfangreiche Besprechung insbesondere von Wagners Tannhäuser und Lohengrin mit einer ausschließlich musikalischen Analyse zu entkräften und die Gegner aus dem vornehmlich klassizistisch-konservativen Lager zum Verstummen zu bringen.33 Obgleich auch Draesekes Analyse durchaus als Parteinahme für Wagner zu verstehen ist, verdeutlicht sie gerade durch ihre primär inhalts- und musikanalytische Beschaffenheit, dass sich ein Großteil der Vorwürfe gegenüber Wagners musikalischem Werk stark an der Oberfläche bewegt und mit Äußerlichkeiten beschäftigt hatte. Es ist für die erste Hälfte der 1850er Jahre ein bezeichnendes Phänomen, dass Tannhäuser, Lohengrin, zuweilen auch Holländer und Rienzi auf deutschen Bühnen bereits fest im Spielplan verankert waren, die Musikkritik jedoch trotz allmählich einsetzender Akzeptanz nicht müde wurde darüber zu streiten. An Wagner zeigt sich das Phänomen „Partei“ in aller Deutlichkeit – und im Grunde noch bis heute –, indem nicht nur fern einer qualitativen Bewertung, sondern sogar über den Publikumserfolg hinaus zunehmend ein Mythos etabliert worden war, der es kaum mehr zu erlauben schien, Wagners Werke, Schriften und seine Person sachlich differenziert zu betrachten und zu bewerten.
Liszts Symphonische Dichtungen Ein neuer Gegenstand des Parteienstreits Die Wahrnehmung Liszts als Komponist war trotz der seit mehreren Jahren beendeten Virtuosenkarriere verhältnismäßig gering.34 Zwar erlangte Liszt durch sein Wirken als Dirigent, Musikpublizist und Kulturpolitiker an der Seite Carl Alexanders durchaus weitreichende Aufmerksamkeit, doch schon sein Einsatz für das Werk des steckbrieflich gesuchten Wagner erweckte ein gewisses Unbehagen beim Publikum, wie es sich auch infolge der ersten Aufführungen von symphonischen Kompositionen Liszts zeigte, sobald sie den Weimarer Dunstkreis, Jena oder den Rahmen der Loh-Konzerte im Schlosspark Sondershausens verließen. Durch eine Einladung aus Braunschweig erfolgte im Oktober 1855 erstmals eine Aufführung Symphonischer Dichtungen außerhalb des Kunstlabors Weimar, was kaum einer Beachtung gewürdigt wurde,35 doch möglicherweise den Versuch Liszts
hierzu Vazsonyi 2012 Richard Wagner. 33 Draeseke 1856 Richard Wagner, in: NdS 2 Nr. 87. Christian Lobe vermerkte in seiner Besprechung des Tasso: „wenn Liszt verkleidet und unerkannt die Musikwelt durchziehen und die Ansichten derselben über sich als Komponisten erforschen könnte, so würde er, wenn nicht erschrecken, doch erstaunen über die Entdeckung, wie äußerst gering zur Zeit noch die Zahl Derjenigen ist, die ihm wirkliches Talent zu höheren Komposition zutrauen“ (Lobe 1856 Briefe über Liszt’s Symphonische Dichtungen, S. 399, in: NdS 2 Nr. 99, S. 1210). 35 Die einzige bekannte deutsche Rezension des Braunschweiger Konzerts war Litolff 1855 Ein offener Brief. Die erste Reaktion auf das Konzert kam jedoch von französischer Seite (Corvin 1855 Orphée et Prométhée, in: NdS 2 Nr. 85). 32 Vgl.
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erkennen lässt, an Berlioz’ erfolgreiche Aufnahme in Braunschweig von 1843 anknüpfen zu wollen.36 Anders als in Braunschweig verhielt es sich, als Liszt unter eigenem Dirigat sein Werk Anfang Dezember 1855 in Berlin präsentierte. Der Besonderheit entsprechend, dass in diesem Konzert ausschließlich Werke von Liszt gespielt wurden, war der enorme Aufwand, der im Vorfeld in Berlin betrieben wurde, um einer positiven Aufnahme der neuen Kompositionen den Weg zu ebnen.37 Ein eigens gegründetes Liszt-Komitee verantwortete eine wirkungsvolle Inszenierung von Liszts Aufenthalt sowie breit angelegte Werbemaßnahmen, die ihre Wirkung nicht verfehlten.38 Der Publikumsandrang war so groß, dass die Räumlichkeiten der Berliner Sing-Akademie überfordert waren; dabei ist jedoch nicht zu unterschätzen, dass allein die Neugierde auf den einst so gefeierten Pianisten es war, diesen nun nicht nur als Komponisten zu hören, sondern auch auf dem Dirigierpult sehen zu können – Liszts Berliner Auftritte Anfang der 1840er Jahre waren es, worauf Heinrich Heine den Begriff der „Lisztomanie“ ins Leben gerufen hatte. Inwieweit das Konzert musikalisch ein wirklicher Erfolg war, ist schwer auszumachen. Klar ist hingegen, die Berichterstattungen überschlugen sich und Liszt wurde schnell zum „Mittelpunct jener Partei“39 gemacht und seine Symphonischen Dichtungen zum Gegenstand musikalischer Fortschrittsdebatten. Wenngleich Eduard Krüger aus der Deckung seines Alias DIXI über Liszts Programme als „Komödien-Zettel“40 spottete, boten die Programme zu Liszts Orchesterwerken in den Debatten um das Berliner Konzert zunächst kaum Anlass zur Kritik. Vielmehr waren es Fragen der Instrumentation, die – den früheren Kritiken an Berlioz’ Musik ähnlich – die Presse provozierten sowie insbesondere formale Fragen bzw. der Vorwurf der Formlosigkeit. Eine sicherlich hervorzuhebende Position nahm Johann Christian Lobe ein, der – durch keine Zeitschrift parteilich gebunden – ein aufschlussreiches Urteil zu geben vermochte, da er die Symphonischen Dichtungen Liszts grundsätzlich zwar positiv bewertete, doch gleichermaßen eine deutlich kritische Haltung gegenüber dem Weimarer Kreis einnahm: „Der neidische Gegner könnte ihm [Liszt] nicht so schaden, als die Streiter für ihn durch die Presse geschadet haben.“41 Lobe gibt mit seiner Besprechung des Tasso einen Überblick der offenbar einst gängigen bzw. als wesentlich betrachteten musikalischen Bewertungskriterien, indem er Liszts neueste Produktion einer sowohl historischen als auch handwerklich kompositorischen Untersuchung unterzog, die er – als einer der ersten – ausführlich am Notentext belegte.42 Dass dabei die Art und Weise der musikalischen Kritik immer mehr in den Mittelpunkt des Interesses rückte, veranschaulicht eine editorische Rarität, die sehr wahrscheinlich aus Brendels Feder stammt. Einer sich oberflächlich an äußerer
Griepenkerl 1843 Ritter Berlioz; zu Liszts Konzert in Braunschweig siehe insbesondere den Kommentar zu Corvin 1855 Orphée et Prométhée, in: NdS 2 Nr. 85. 37 Altenburg 2004 Art. „Liszt, Franz“, Sp. 218. 38 Zum Berliner Konzert siehe insbesondere den Kommentar zu Engel 1855 Berliner Briefe [Das Liszt-Concert], in: NdS 2 Nr. 82. 39 Engel 1855 Concert, S. 2. 40 Krüger 1855 Liszt „An die Künstler“, S. 410, in: NdS 2 Nr. 84, S. 1036. 41 Lobe 1856 Briefe über Liszt’s Symphonische Dichtungen, S. 399 f., in: NdS 2 Nr. 99, S. 1211. 42 Schon im Januar 1856 wurde in den Beilagen zur Berliner Musik-Zeitung Echo eine Besprechung von Hans Bronsart von Schellendorff veröffentlicht, die sich als erste unter Einbezug des Notentextes ebenfalls der Symphonischen Dichtung Tasso näherte (siehe Bronsart 1856 Franz Liszt’s Torquato Tasso). 36 Vgl.
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Form und programmatischer Umsetzungen orientierenden Kritik Ernst Otto Lindners stellt der anonyme Autor eine ironische Persiflage gegenüber, indem er jeweils dieselben Kritikpunkte bezüglich der einzelnen Symphonischen Dichtungen aufgreift und ins Positive kehrt.43 Der freilich als Angriff auf Lindners Kritik zu bewertende Artikel führt jedoch gleichermaßen die eigene Sichtweise ad absurdum und trägt trotz ironischen Untertons auch das allmähliche Ende der feuilletonistischen, bloß programmatisch poetischen Musikkritik in sich. In ähnlichem Maße, wie die Musikkritik die theoretischen Schriften Wagners zu dessen musikalischem Werk – wenngleich bekanntlich anachronistisch – ins Verhältnis gesetzt hatte, waren es fortan mit zunehmender Häufigkeit die meist literarischen Programme, die Liszt seinen Orchesterwerken vorschaltete und dazu führten, das Thema Programmmusik unzertrennlich mit dem Namen Liszt zu verknüpfen. Anders als bei Wagner, waren es allerdings nicht die Gegner, sondern zumeist Artikel aus den eigenen Reihen, in denen das Verhältnis von Text und Musik hervorgehoben wurde.
Außenwahrnehmung mit Eigendynamik Die angelsächsische Rezeption des musikalischen Parteienstreits Spätestens 1855 hatte der sich stetig zuspitzende musikalische Parteienstreit in Deutschland auch das britische Königreich erreicht.44 Infolge einer Einladung der Old Philharmonic Society an Wagner, hatte das dortige Publikum erstmals die Gelegenheit, sich einen klingenden Eindruck von dessen in Deutschland viel diskutierten Werken zu verschaffen, die bislang lediglich durch überwiegend ablehnende Korrespondentenberichte Henry Fothergill Chorleys im Athenæum verbreitet waren.45 Ebenfalls seit dem Frühjahr 1855 befand sich Hector Berlioz als Gastdirigent auf der britischen Insel, der einer Einladung der New Philharmonic Society gefolgt war, gegenüber Wagner jedoch schon seit 1847 mehrmals als Komponist und Dirigent in London aufgetreten war, was nicht zuletzt auf die freundschaftliche Bande zum Musikkritiker James William Davison zurückzuführen ist. Die positive Aufnahme Berlioz’ bildete eine deutliche Ausnahme im Königreich, das sich ansonsten gegenüber jeder Art von „romantic music“ mehr als zurückhaltend verhielt.46 Neben Chorley war es Davison – langjähriger Musikkritiker der Londoner Times sowie Herausgeber und Leiter der Musical World –, der in seinen Artikeln47 eine
1856 Fr. Liszt, Symphonische Dichtungen, in: NdS 2 Nr. 100. 44 Siehe auch Anonym 1853 A Specimen of London Criticism sowie Dwight 1854 Our Wagnerism, in: NdS 1 Nr. 59. 45 Siehe Chorley 1850 Music at Weimar, in: NdS 1 Nr. 23; Chorley 1852 Notes on Music in Germany; Chorley 1852 Schumann and Wagner; Chorley 1853 Schumann and Wagner, in: NdS 1 Nr. 40 sowie Chorley 1854 Modern German Music. 46 Davison 1912 Music During the Victorian Era, S. 146. 47 James William Davison (1813 –1885) gab die Zeitung in den Jahren von 1844 bis 1885 heraus und verfasste auch nahezu sämtliche Artikel für sie, die in den meisten Fällen jedoch anonym oder unter verschiedensten Pseudonymen veröffentlicht wurden (vgl. Kitson 2006 Musical World). 43 Brendel
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Wagner gegenüber deutlich ablehnende Haltung schürte. Hinzu kam eine Veröffentlichung des in London wirkenden Musikschriftstellers Ferdinand Praeger, die für Wagners Misskredit in Großbritannien verantwortlich war.48 Kurze Zeit vor Wagners Ankunft in London, verbreitete Praeger nicht nur Wagners Ablehnung gegenüber dem britischen Königreich und dessen Musikleben, sondern er machte auch Wagners Autorschaft von „Das Judenthum in der Musik“ publik, wodurch das in Deutschland schon 1850 erschienene Pamphlet inklusive seiner insbesondere gegen Felix Mendelssohn Bartholdy gerichteten Aussagen auf der Insel erst Bekanntheit erlangte. Die heftige Ablehnung, die Wagner vonseiten Davisons zuteil wurde, scheint querzustehen zu der Tatsache, dass Davison in einer von Mai bis Ende Oktober laufenden Folge Wagners Schrift Oper und Drama in insgesamt 33 Teilen abdrucken ließ.49 Es mag als Anzeichen dafür gelten, die Schärfe der britischen Polemik keinesfalls mit jener in deutschsprachigen Fachzeitschriften vergleichen zu können. Die ablehnende Haltung galt nicht Wagner allein: Liszt, später Brahms und insbesondere Schumann waren Gegenstand der englischen Musikkritik, die stets im Vorfeld von Erstaufführungen zu einzelnen Komponisten eindeutig Partei bezog.50 So geriet Schumann durch die Erstaufführung seines Oratoriums Das Paradies und die Peri im Juni 1856 ins Fadenkreuz der Berichterstattung, wobei wiederum Davison es war, der die Messlatte für die Beurteilung anlegte: „It has nothing akin to Händel, Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Spohr, Mendelssohn, Weber, Cherubini, Rossini, or any of those whom we have been taught to regard as the masters of the art.“51 Eine ähnliche Meinung über Schumann vertrat auch Henry Fothergill Chorley schon 1855 im Athenæum, nachdem er dessen Peri beim 33. Niederrheinischen Musikfest in Düsseldorf gehört hatte.52 In diesem Zusammenhang sowie in Verbindung mit Berichten über Wagners Musik53 entwickelte sich in Großbritannien eine eigene Vorstellung von einer „music of the future“, die Liszt als Haupt der Bewegung betrachtete: „It is attributable to Liszt, and the leading journal of his party, that the public began to be excited by a desire to see and hear something of the man of ‚the future.‘“54 Es war ebenso das nach wie vor angespannte politische Verhältnis zwischen Neuer und Alter Welt, was
1855a London. 49 Anonym 1855 Opera and Drama. 50 So wurden die Werke Schumanns und Wagners den britischen Lesern bereits zuvor in Korrespondentenberichten Chorleys aus Deutschland äußerst negativ beschrieben. Liszt als ihr gemeinsamer Förderer wurde dementsprechend ebenfalls ablehnend bewertet. Siehe etwa Chorley 1852 Notes on Music in Germany; Anonym 1852a Notes on Music in Germany; Chorley 1853 Schumann and Wagner, in: NdS 1 Nr. 40; Anonym 1853 News from Liszt sowie Anonym 1856 To the editor. Auch in seinem viel gelesenen Buch Modern German Music (Chorley 1854 Modern German Music) setzte sich Chorley insbesondere mit den frühen Opern Wagners (Rienzi, Fliegender Holländer und Tannhäuser) kritisch auseinander. 51 Davison 1856 Philharmonic Society, S. 406. 52 Chorley 1855 Whitsuntide Music on the Rhine. 53 Siehe u. a. Dwight 1856a Musical Party Warfare, in: NdS 2 Nr. 95 sowie Dwight 1856b Musical Party Warfare. Schon 1854 war es zwischen The Musical World und Dwight’s Journal of Music in Bezug auf das Werk Richard Wagners und auch Robert Schumanns zu publizistischen Auseinandersetzungen gekommen (siehe Pohl 1853 Ein Blick nach dem „fernen Westen“, in: NdS 1 Nr. 46; Dwight 1854 Our Wagnerism, in: NdS 1 Nr. 59 sowie Anonym 1855 Whitsuntide Music on the Rhine). 54 Davison 1855 „As our readers“, S. 186. 48 Praeger
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der Debatte um die jeweilige Sichtweise auf den kontinentalen Parteienstreit eine Eigendynamik angelsächsischer Couleur verlieh. Andererseits sind ebenso Rückkopplungseffekte auf deutscher Seite zu beobachten, indem eine große Zahl englischer Berichte über das deutsche Musikleben in deutschsprachigen Musikzeitschriften in Übersetzungen abgedruckt wurden, um mithilfe der ‚objektiven Stimmen‘ aus dem Ausland die jeweils eigene Position zu stützen.55 Dies belegt darüber hinaus die erstaunliche Geschwindigkeit und Intensität des schon zu jener Zeit international agierenden Pressewesens.
Die ‚Schule‘ – eine disparate Einheit Über den langen Zeitraum von Juli bis Dezember des Jahres 1855 publizierte Pohl einen zweiteiligen Artikel über Brahms, dem seit Schumanns Neue-Bahnen-Artikel56 kaum mehr Aufmerksamkeit zuteil geworden war. Sowenig Pohl darin zur eigentlichen Besprechung von Brahms’ musikalischem Werk gelangt war, so sehr offenbart sich das diffizile Verhältnis der NZfM zu ihrem einstigen Gründer und wirkt daher wie der Versuch einer späten Rechtfertigung oder Wiedergutmachung. Seit Brendels negativer Rezension der Genoveva57 bestand eine zunehmende Abkühlung der NZfM gegenüber Schumann; auch die Aufkündigung der Freundschaft mit Pohl vonseiten des Komponisten infolge des Karlsruher Musikfests hatte nicht gerade zu einer Verbesserung des Verhältnisses geführt. So stark der Eindruck einer einheitlichen Gruppierung nach außen zu vermitteln versucht wurde, war der tatsächliche Mangel an Geschlossenheit innerhalb der als fortschrittlich deklarierten Tonkünstler ein beliebter Angriffspunkt der Opposition. Die vermeintlich übermäßige Einflussnahme Brendels wurde in der Niederrheinischen Musik-Zeitung beispielsweise auf ironische Weise attackiert, indem eine im Urteil nicht eindeutig gehaltene Rezension Emanuel Klitzschs58 in der NZfM zur „Physiognomie eines Seekranken“59 erklärt wurde, welche die Unglaubwürdigkeit des Verfassers beweise. Dieser Anschauungsdifferenzen war sich auch Brendel bewusst, wenn er etwa Anfang 1855 den Vorwurf dieser „große[n], durchgreifende[n] Differenzen“60 durch „eine neue […] die differierenden Ansichten vermittelte Einheit“61 zu entkräften versuchte. Noch 1856 zeugt ein Artikel Pohls über Berlioz von einem disparaten Meinungsspektrum innerhalb der selbsternannten ‚Fortschrittspartei‘ und davon, wie weit man von der später proklamierten Personentrias noch entfernt war.62 Mit der Gründung der Blätter für Musik, Theater und Kunst durch Leopold Alexander Zellner hatte der ‚Fortschritt‘ seit 1855 auch eine Dependance im als konservativ geltenden Süden erhalten, wo Zellner somit eine Art Vorhut bildete und der ‚Zukunftsmusik‘ den alleinigen Anspruch auf Originalität zu sichern bestrebt
etwa Anonym 1855 Englische Urtheile sowie Anonym 1856 Bemerkungen eines Engländers. 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49. 57 Brendel 1850 Genoveva. 58 Klitzsch 1855 Joachim Raff’s Compositionen. 59 Anonym 1855 Moderne Kritik, S. 37, in: NdS 2 Nr. 71, S. 791. 60 Brendel 1855 Anregungen. Unsere Aufgabe, S. 37. 61 Brendel 1855 Anregungen. Unsere Aufgabe, S. 37. 62 Pohl 1856 Hector Berlioz, in: NdS 2 Nr. 90. 55 Siehe
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war.63 Lobe war es, der dieses selbsterklärte ‚Originalitätsmonopol‘ der sogenannten Fortschrittspartei scharf kritisierte.64 Fern von Pauschalurteilen, war er in seinen Fliegenden Blättern stets darum bemüht, zwischen Partei und Komponist bzw. Musik zu unterscheiden, wobei er ersteres immer wieder verurteilte und dem Anspruch einer formalen Zusammengehörigkeit widersprach. Zellner hingegen stellte – um der Bewegung ein einheitliches Gepräge zu verleihen – anhand der wachsenden Zahl der Schüler und Anhänger innerhalb der ‚Zukunftsmusik‘ die Nachhaltigkeit der durch Liszt und Wagner ausgelösten musikalischen Reformen heraus.65 Auch Pohl betonte in Bezug auf Schumann und Brahms das Schüler-Meister-Verhältnis im Sinne einer Schulbildung.66 In der NZfM findet sich Entsprechendes schon zu einem früheren Zeitpunkt explizit ausgesprochen: „[…] dies ist der kleine Unterschied, welcher unsere Richtung […] himmelweit unterscheidet und trennt. Diese erstgenannten, und andere, sich ihnen anschließende, weil mit ihnen sympathisirende Männer, waren meistentheils Componisten, Dirigenten, Kritiker und Schriftsteller zugleich. Und dies ist stets das Kennzeichen einer Schule, aber niemals das einer Clique gewesen!“67 Nicht zuletzt Draeseke versprach sich im Zusammenhang seiner Besprechung der Symphonischen Dichtungen Liszts „in kurzer Zeit eine große Schule um ihn entstehen zu sehen“.68
1856 Musikalische Wochenlese, in: NdS 2 Nr. 89. 64 Lobe 1856 Das Gespenst der Zukunft, in: NdS 2 Nr. 98. 65 Zellner 1856 Aus der neuern Musikliteratur, NdS 2 Nr. 91; vgl. auch Bülow 1856 Rudolf Viole. 66 Pohl 1855 Johannes Brahms, NdS 2 Nr. 81. 67 Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik, S. 92, in: NdS 1 Nr. 62, S. 665. 68 Draeseke 1857 Liszt’s neun symphonische Dichtungen, S. 317, in: NdS 2 Nr. 107, S. 1336. 63 Zellner
Nr. 69 | Peter Cornelius, „Concertmusik. Clavierauszüge zu vier Händen. Richard Würst, Op. 21. Preis-Symphonie in F-Dur […]“, in: NZfM 21 (1854), Bd. 41, Nr. 24 (8. Dezember), S. 257 – 259.1
Concertmusik. Clavierauszüge zu vier Händen. Richard Würst2, Op. 21. Preis-Symphonie in F-Dur. – Magdeburg, Heinrichshofen. Pr. l Thlr. 20 Sgr.
Diesem anspruchslosen und recht geschickt gearbeiteten Werk wird sein Name bei Vielen im Wege stehen, welche mit den Umständen und Verhältnissen, mit dem relativen Werth der andern Concurrenzarbeiten unbekannt sind, über welche diese Symphonie den Preis davon trug.3 Auch wir kennen die Geschichte dieser PreisSymphonie nicht, werden aber statt unnützer Vermuthungen über dieselbe aus dem Werke selbst auf die Ursachen seiner Benennung zurückzuschließen versuchen. – Solchen Preisausschreibungen liegen meist restaurative Absichten zu Grunde.4 Man sieht irgend eine abgeschlossene Epoche der Kunstgeschichte vor sich, denkt sich innig hinein und zieht aus ihren allgemein bewunderten Erzeugnissen ästhetische Folgerungen und Gesetze. Wie kommt es, fragt man sich, daß solche Werke heut-
1 Kritisch ediert in: Cornelius-Schriften, S. 249 – 253. 2 Richard Ferdinand Wüerst (1824 –1881), deutscher Komponist, Musikschriftsteller, Musiklehrer, Schüler u. a. von Ferdinand David und Felix Mendelssohn Bartholdy, ab 1856 Königlicher Musikdirektor in Berlin, ab 1874 dort Professor, ab 1877 Mitglied der Akademie der Künste. 3 Am 10. August 1851 veröffentlichte die Rheinische Musik-Zeitung einen Aufruf der „musikalischen Gesellschaft zu Köln“ zu einer „musikalischen Preis-Aufgabe“. Für die „gelungenste Sinfonie, welche ihr zwischen dem 1. September 1850 und dem 1. Februar 1851 eingesandt werden wird“, wurde ein Preis von „25 Dukaten“ ausgesetzt (Anonym 1850 Musikalische Preis-Aufgabe, S. 48). Als Jurymitglieder fungierten Ferdinand Hiller, Franz Weber und Franz Derkum – alle drei Lehrer am Kölner Konservatorium. Den ersten Platz dieses Ausschreibens erhielt im April 1851 schließlich Wüersts 1. Symphonie, welche vom Komponisten daraufhin König Wilhelm IV. von Preußen gewidmet wurde. Siehe hierzu auch Bischoff 1851 Richard Würst’s Preissinfonie. 4 Preissauschreiben zur Komposition von Symphonien im 19. Jahrhundert wurden in der Regel von Konservatorien oder Musikgesellschaften ausgerufen und vertraten daher tendenziell eine akademisch-konservative Ausrichtung. Weitere „Preissymphonien“ dieser Zeit sind u. a. Franz Lachners Symphonie Nr. 5 Passionata c-Moll op. 52 (EZ 1835, Preisverleihung 1835 in Wien) und Joachim Raffs Symphonie D-Dur An das Vaterland op. 96 (EZ 1859 –1861, Preisverleihung 1863 in Wien). Eduard Hanslick beklagte noch 1863 die Fragwürdigkeit eines solchen Preisausschreibens wie in Wien, bei welchem so bedeutende Komponisten wie Liszt, Hiller, Reinecke und Volkmann durch ihre Mitgliedschaft in der Jury von der Teilnahme ausgeschlossen waren (siehe Hanslick 1863 Musik).
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zutage nicht mehr geschaffen werden? An Talenten fehlt es nicht, die jenen Mustern mit Erfolg nachzuringen verstünden, aber die seichte Moderichtung des Tages hält sie darnieder, es fehlt ihnen an Muth, an der Möglichkeit in der verschiedensten Bedeutung, das gewollte Gute zu vollbringen. Wir müssen die rechte Kunst unterstützen: wir müssen einen Preis aussetzen! – Nun hat aber der eigentliche Preisgeist der Kunst nicht erst auf eine solche Gelegenheit gewartet, um sich auszuzeichnen; er hat in der Nothwendigkeit des Fortschrittes neue Formen gefunden oder die alten mit neuem Inhalt erfüllt. Mit Beethoven gelangte die erste Periode symphonischer Kunst zu ihrer Blüthe, ihrem Abschluß, ihrem Höhepunkte; aber durch seinen titanischen, mit dem Erreichten durchaus nicht zufriedenen Genius ward die Blüthe Keim, der Abschluß Anfang, der Höhepunkt Ausgangspunkt einer neuen Zeit. Unter den Kunstküchlein, die die Kunsthenne am Wasser spazieren führt, befindet sich glücklicherweise auch meistens eine Kunstente, die dann plötzlich auf diesem Wasser schwimmt zum großen Entsetzen alles Kunstuferfederviehs. Das ist ja dein Element nicht, das ist kein Betragen wie es einem Kunsthuhn ziemt! – Was hilft alles Zureden! Die Ente schwimmt lustig zu und gönnt gern [258] den Preis von fünfundzwanzig Gerstenkörnern dem artigsten Küchlein. Vom Laien, der nur mit Gefühl und Sinn für’s Schöne zuhört, bis zum feinsten Kenner und schaffenden Künstler, dessen Verständniß tiefmöglichst in den Bau der Kunstwerke einzugehen vermag, hat jeder Zuhörer Beethoven’scher Schöpfungen das Bewußtsein, daß aus denselben ein Mehr, ein Anderes spricht als aus Haydn und Mozart, und man sucht sich auf den verschiedensten Wegen Rechenschaft davon zu geben. Man nennt es Tiefe, Humor, Subjectivität; man vergleicht ihn mit Shakespeare, Jean Paul, Byron.5 Wir unsererseits suchen für dies Besondere in Beethoven eine Erklärung darin, daß wir sein ganzes großes und ernstes Leben uns wie in geistigen Geburtswehen begriffen vorstellen, den Geburtswehen des bestimmten Gedankens, ausgesprochen durch die Sprache der Töne. So sehen wir ihn in fortwährendem Schwanken bald einzelne seiner Schöpfungen durch eine besondere Benennung im Allgemeinen charakterisiren oder durch ein kurzgefaßtes Programm dem Hörer einen Leitfaden geben, bald wieder davon abstehen und sich mit dem bloßen Gattungsnamen begnügen, wo dann unwillkührlich der sich vordrängende poetische Inhalt zu abgeschmackten oder richtig gefühlten populären Benennungen Veranlassung gab, wie Mondschein6[-] oder Sturmsonate7, die man theilweise durch Bemerkungen von Beethoven selbst zu stützen suchte.8 In diesem Ringen nach dem Ausdruck des bestimmten Gedankens, nach Darstellung des bestimmten Gefühlsbildes stieß nun Beethoven auf die geschichtliche Form der Symphonie und Kammer-
hierzu: Bauer 1987 Beethoven – unser musikalischer Jean Paul. 6 Ludwig van Beethoven, Klaviersonate Nr. 14 („Mondscheinsonate“) cis-Moll op. 27/2 (ED 1802). 7 Beethoven, Klaviersonate Nr. 17 („Der Sturm“) d-Moll op. 31/2 (ED 1803). 8 Während die Bezeichnung „Mondscheinsonate“ für op. 27/2 auf den Musikkritiker Ludwig Rellstab zurückgeht, der sich beim Hören des ersten Satzes an eine Bootstour auf dem Vierwaldstättersee erinnert fühlte, erhielt die Sonate op. 31/2 ihren Beinamen „Der Sturm“ 1840 aufgrund einer Bemerkung Anton Schindlers, wonach laut Beethoven selbst Shakespeares Drama The Tempest (Der Sturm, EA 1611) der Schlüssel zum Verständnis des Werkes sei (vgl. Schindler 1840 Biographie von Ludwig van Beethoven, S. 199). 5 Vgl.
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musik, die in einer Zeit sich gebildet hatte, in welcher Musik als ein edles Unterhaltungsmittel betrachtet wurde. Nach einem ernsten, schwierigen Stück mußte ein erbauliches, langsames kommen; auch die beliebteste Tanzform durfte nicht vergessen werden, man mußte die Damen für das geduldige Anhören der ernsten Sätze durch eine Ballreminiscenz entschädigen; dann aber noch ein lebendiger, heiter oder ernst abschließender Satz, in welchem die Fertigkeit der Spieler oder Erfindungsreichthum, contrapunktische Geschicklichkeit des Componisten in breiterer Form sich geltend machen konnte. Mögen uns die historischen Forscher über die tiefere Logik, über die Weisheit des Zufalls belehren, welcher diesen durch die Werke unserer größten Meister befestigten und geheiligten Formengebrauch zum unvermeidlichen Becher gemacht hat, aus dem wir die verschiedensten geistigen Weine und viel stagnantes9 Wasser kosten müssen, wir werden uns schwer bereden lassen, daß es nicht der richtigere Weg wäre, wenn der Gedanke sich in unermüdlichem Ringen die ihm ziemende Form neu erschafft, als wenn die conventionelle Form von vornherein den Gedanken in ihre starre Fessel zwingt. Wo finden wir in den andern Künsten diese Schranken? Was würden wir zu einem Drama sagen, in welchem jeder Act gesetzlich eine andere Stimmung anzuschlagen hätte oder zu einem historischen oder Genrebilde, welches die verschiedensten Farbengebungen bunt nebeneinanderbrächte? – Daß Beethoven gerade dann, wenn er den bestimmten poetischen Gedanken gab, die vier Sätze im Wege waren, geht für uns aus der Unmöglichkeit hervor, die beiden letzten Sätze der Eroica10, den letzten Satz der pathétique11, den letzten Satz der A[-]Dur-Symphonie12, das Scherzo der Cis-MollSonate13 mit den übrigen Sätzen in geistigen Einklang zu bringen. Wenn es ihm in der Pastorale gelang[,] die vier Sätze durch einen rothen Faden zu verbinden, wie Spohr es mit glücklichem Wurf in seinen Jahreszeiten14 gethan, wenn wir im Coriolan15, der Leonore16, dem Egmont17 der bestimmtesten Darstellung begegnen, wenn andererseits für uns der vollständigst logische Gedankengang im großen D-Moll-Trio18, in der C-Moll-Symphonie19, zu Tage liegt, wenn in der neunten Symphonie der letzte Satz die ersten erklärt und verklärt, warum ist dies bald mit bestimmter Absicht vom Componisten ausgesprochen, bald in denselben Formen unserer Willkühr überlassen, was wir fühlen oder denken wollen? Diese Frage theilt noch heute die musikalische Welt in zwei Parteien. Der einen ist die Musik ein phantastisches Spiel in Tönen20 nach Regeln des Wohllautes und stehend. 10 Beethoven, Symphonie Nr. 3 Eroica Es-Dur op. 55 (ED 1806). 11 Beethoven, Klaviersonate Nr. 8 Sonate pathétique c-Moll op. 13 (ED 1799). 12 Beethoven, Symphonie Nr. 7 A-Dur op. 92 (UA 1813). 13 Beethoven, Klaviersonate Nr. 14 („Mondscheinsonate“) cisMoll op. 27/2 (ED 1802). 14 Louis Spohr, Symphonie Nr. 9 Die Jahreszeiten h-Moll op. 143 (UA 1850). 15 Beethoven, Coriolan op. 62 (UA 1807). 16 Beethoven, Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 C-Dur op. 72 (UA 1806). 17 Beethoven, Egmont op. 84 (ED 1810/1812). 18 Ein Klaviertrio von Beethoven in d-Moll existiert nicht. Unter der Voraussetzung, Cornelius habe sich verschrieben, könnte man Beethovens Klaviertrio c-Moll op. 3/1 (ED 1795) annehmen. Wahrscheinlicher aber ist, dass Cornelius Beethovens Klaviertrio D-Dur op. 70/1 meinte, dessen berühmter zweiter Satz „Largo ed assai espressivo“ in d-Moll dem Werk den Beinamen „Geistertrio“ einbrachte. 19 Beethoven, Symphonie Nr. 5 c-Moll op. 67 (UA 1808). 20 Während Immanuel Kant den ästhetischen Genuss als „freies Spiel“ der Erkenntnis aufgrund seines interesselosen Wohlgefallens beschrieb, so verortete Friedrich Theodor Vischer das „Organ“ der ästhetischen Rezeption in der Phantasie. Es war 9 (Lat.)
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ästhetischen Gesetzen, die aus den specifisch-musikalischen Werken Haydn’s, Mozart’s und Beethoven’s, so weit er ihrer Spur folgte, abgeleitet sind, als: Einheit in der Mannichfaltigkeit, Klarheit und Maaß in Formen und Mitteln etc. Nach ihr soll die Musik durch sich selbst wirken ohne vermittelnde Nebengedanken; sie soll die Seele aus dem engen Leben zu idealen Höhen emporheben, mit ihren Tonwellen gleichsam allen Moder und Quark des Lebens aus ihr wegspülen. Nach ihr hieße es die Zaubermacht der Töne, die wie keine andere uns eben die unaussprechlichen Regungen und Gefühle des Herzens ahnen läßt, entweihen und herabziehen, wollte man sie in bestimmten Darstellungen mit Poesie und bildender Kunst wetteifern lassen, deren genaue sinnliche Technik zum Zeichnen eines bestimmten Gegenstandes sie ja doch nicht besitzt. Nun genügt es aber nicht etwa durch eine gewisse Zusammenstellung von Instrumenten uns gerührt oder andächtig zu stimmen, durch brillante Passagen unseren Geist in eine gewisse Lebendigkeit zu versetzen; das Alles muß ein Anfang und ein Ende haben, es muß in einer bestimmten Form geschehen und die edelste Form für diese Anregung unbestimmter Gefühle ist die viersätzige Symphonieform, wie unsere großen Meister im vorigen Jahrhundert sie ausbil-[259] deten. Diese vier Sätze haben ihre festen Grundregeln, von denen ohne Gefahr abzuweichen, sich nur große Genies erlauben dürfen; sie ziehen verschiedene Consequenzen aus einem musikalischen Motiv, oder bringen zwei oder mehrere in verschiedene Beziehungen zu einander, wozu besonders der aus der Kirchenmusik entlehnte und durch Bach zur höchsten Blüthe entwickelte Contrapunkt behülflich ist. Da ist es denn herrlich zu hören, zu welcher Fülle von Combinationen ein solches Motiv sich hergiebt, wie es immer interessanter wiederkehrt, bald allein auftritt, bald mit einem zweiten vermählt, bald von den Geigen, bald von den Holzbläsern, bald vom Blech übernommen wird. Der Laie versteht davon wenig, aber er fühlt sich erhoben und erheitert, zu allen möglichen unbestimmten Gefühlen angeregt, hat die Freiheit in einem Meer von Vermuthungen über die poetische Absicht des Componisten umher zu schwimmen, und wenn’s recht bunt durcheinander geht, dann weiß auch der Unwissendste, daß man das eine Fuge nennt. Der Kenner aber hat verdoppelten, verhundertfachten Genuß; er braucht oft nicht einmal etwas zu fühlen, weil ihn das Bewußtsein gelungener Formen entzückt, durch deren künstlichste Windungen und canonische Verarbeitungen er das Hauptmotiv zu verfolgen weiß, im raschesten Wechsel der Tonalitäten und Klangfarben wie schwindlich wird, mit feiner Nase sogar Beethovens Schwächen wittert und wohl gar wüßte, wo er’s besser gemacht hätte, wenn er das bischen [sic] Setzkunst verstünde! Die andere Partei betrachtet die ihr von den großen Meistern überlieferte Musik als eine poetisch ausgebildete Sprache, in welcher sie sprechen, in welcher sie darstellen will; sie sieht in ihr eine geschaffene Welt, in der nun der Mensch, der poetische Gedanke wandeln soll. Sie nimmt Beethoven nicht allein da beim Wort,
schließlich Hanslick, der dies als theoretische Grundlage in seinen Traktat aufnahm (siehe u. a. Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 4). In seiner Besprechung von Hanslicks Schrift warf Brendel ihm schließlich die Vorstellung eines „willkührliche[n] Spiel[s] der Phantasie“ vor (Brendel 1855 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, S. 81, in: NdS 2 Nr. 72, S. 804).
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wo er die classische Form durch den bestimmten poetischen Gedanken innerlich zu beleben suchte, und selbst da, wo er dies nicht that[,] mindestens in organischem Entwickelungsproceß die starre mechanische Form durchbrach; sie geht noch weiter: sie will aus dem poetischen Gedanken heraus seine jedesmalige Form bedingen, nur dieser soll ihr die Berechtigung verleihen. Sie will nicht verschwenderisch mit dem Namen Tondichter die benennen, denen in der gebildeten Musiksprache, „die für sie dichtet und denkt“21, ein Lied gelingt. Sie sollen die innere Nothwendigkeit, poetischen Gedanken in musikalischer Form Ausdruck zu geben, als einen Rechtsbrief aufweisen, um in symphonischen Schranken kämpfen zu dürfen. Sie will sich nicht länger damit begnügen, unbestimmte Gefühle in dem Laien zu erregen, während sie dem Kenner orchestrale und contrapunktische Gourmandisen22 vorsetzt und dann das Urtheil beider über die poetische Absicht des Kunstwerks dem wohlbekannten Nebelmeer überläßt. Sie will aus dem reichen Schatz, den Mythus, Bibel, Geschichte, und der unerschöpflichen poetischen Quelle, die das eigene Herz, die innerlichen Begebenheiten seiner Liebe, seiner Leidenschaften, seiner Kämpfe mit der Welt und dem Leben bietet, ihre Stoffe entnehmen, und wie der Maler sie in einzelnen Momenten concentrirt, zu denen wir ja der vermittelnden Erklärung des Wortes eben so gut bedürfen, wie der Dramatiker in äußerer Handlung die Resultate innerlicher Vorgänge zusammenfaßt, die Seelenzustände großer Persönlichkeiten, oder die Kämpfe des im Dunkeln ringenden Herzens schildern. Sie will der Freiheit absoluter Musik zugleich mit der Knechtschaft ihrer stehenden Formen entsagen, um dafür in einer Gefangengebung an einen bestimmten poetischen Gegenstand Freiheit der Form zu erringen. Selbst auf die Gefahr hin in Darstellung dieses bestimmten Gegenstandes nach gewissen Seiten hin ebenso unvollkommen zu bleiben, als jene in ihrer Weise, sich an das geschriebene Wort, an den Dichter anlehnen zu müssen, diesen zu ergänzen, halten sie ihr Bestreben für lohnender, als behufs einer Anregung unbestimmter Gefühle ausgelebte Formen immer wieder auf ’s Neue anzufüllen. Von dem Standpunkt dieser letzteren Partei aus, zu der wir uns bekennen, während wir die Preisertheilung an Würst auf Rechnung der ersteren setzen müssen, und an die von Massen für Massen ausgeführte Symphonie seit Beethoven die Forderung eines großen ausgesprochenen Inhaltes stellen, erhalten wir uns ablehnend gegen Würst’s Symphonie und ihre Benennung, nicht weil sie kein Programm hat, sondern weil wir weder den Drang fühlen noch die Möglichkeit einsehen, eines für sie zu finden. Daß der Componist mit Anstand in längst gebräuchlichen Redensarten sich auszudrücken weiß, ein viertactiges Motiv in F-Dur und ein eben so langes auf der Dominante dieser Tonart zu einem ersten oder letzten Satz verbindet und ganz charmant in die verschiedenen Instrumente vertheilt, daß er ein klares langweiliges Andante durch ein ganz pikantes Scherzo gut zu machen sucht, diesen
21 Das Zitat ist Friedrich von Schillers Epigramm „Dilettant“ aus dem Musenalmanach für das Jahr 1797 entnommen (in: Schiller-Werke 1, S. 302) und lautet vollständig: „Weil ein Vers dir gelingt in einer gebildeten Sprache, / die für dich dichtet und denkt, glaubst du schon Dichter zu sein“. 22 (Frz.) Schlemmereien.
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kurzen Anlauf zum Uebermuth aber gleich wieder durch ein recht matt sentimentales Trio sühnt, kann uns nun einmal nicht mehr interessiren; es hat nur die Bedeutung erlangter Formengewandtheit für den Componisten selbst. Möge er sie anwenden und mit poetischem Inhalt erfüllen, um sich vom Componisten zum Tondichter hinaufzuschwingen. P. Cornelius.
Kommentar Anders als es der Titel erwarten lässt, handelt es sich beim vorliegenden Aufsatz aus der Feder von Peter Cornelius um eine programmatische Positionierung der musikalisch ‚Fortschrittlichen‘ um Liszt und um eine Apologie der Programmmusik. Der Grundgedanke Cornelius’, nach welchem der aus Mythos, Literatur, Religion oder Geschichte entnommene „poetische Gedanke“23 die Form eines Musikstückes ausprägen müsse, folgt der romantischen Vorstellung einer Inspirationsästhetik und versucht zugleich, dem immer wieder in dieser Zeit von konservativer Seite begegnenden Vorwurf einer reflektierten, d. h. bloß ‚gemachten‘ Musikproduktion auf fortschrittlicher Seite entgegenzuwirken. Als historischer Bezugs- und Ausgangspunkt dieser „poetischen“ Musik wird wiederum das Werk Beethovens angeführt, insbesondere jene Kompositionen, die nach Meinung Cornelius’ über die konventionelle Regelhaftigkeit hinausgehen. Auffällig ist der wenig polemische Ton des Artikels – ein generelles Merkmal der Aufsätze Cornelius’.24 Darüber hinaus tritt – wie häufig bei diesem – aus der kursorischen Nennung einzelner musikalischer Gestaltungsaspekte der Symphonie Wüersts deutlich die Abneigung gegenüber vorwiegend technischen Analysen hervor, die den ‚Geist‘ eines Werkes aus den Augen zu verlieren drohe. In der Folge diente die titelgebende Symphonie den ‚Fortschrittlichen‘ wiederholt als Zielscheibe des Spottes. So bemerkte etwa Hans von Bülow in einem Brief an Joachim Raff vom 8. Februar 1856 über die Aufführung einer anderen Symphonie von Wüerst in Berlin, dass es sich dabei nicht um „die Preissymphonie“ gehandelt habe, sondern um eine „frühere, der aber an salopper Erfindung und schofler Arbeit entschieden der Preis gebührt.“25 Liszt selbst, der möglicherweise Cornelius zur Abfassung des Aufsatzes angeregt hat, sandte den Text an Brendel mit der Einschätzung, dieser sei „ganz hübsch geschrieben“ und werde diesem „wahrscheinlich zusagen. Wenn möglich so bringen Sie ihn in Ihrer nächsten Nummer.“26
Artikel, S. 771 [259]. 24 Vgl. hierzu auch Cornelius-Schriften, S. 25 – 31. Bülow-Schriften 3, S. 37. 26 Brief vom 12. August 1854, in: Liszt-Briefe 1, S. 164 –166, hier S. 164.
23 Vorliegender 25 In:
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Entstanden spätestens im August 1854, stellt der Aufsatz gemeinsam mit einer Rezension zu Henry Litolffs Ouvertüre27 Cornelius’ ersten Beitrag für die NZfM dar und damit seine Teilhabe an der Musikpublizistik des Weimarer Liszt-Kreises, zu dem er sich mit dem vorliegenden Artikel offiziell bekennt. Gleichermaßen ist dieser Text wahrscheinlich auch eine frühe Reaktion28 des „Neuen Weimar“ auf die kurz zuvor erschienene Schrift Eduard Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen29 – Vorzeichen einer Auseinandersetzung, welche die musikästhetischen Kontroversen der nächsten Jahre dominieren sollte.
1854 Concertmusik. Ouvertüren. 28 Mit der Formulierung, „die Musik [ist] ein phantastisches Spiel in Tönen nach Regeln des Wohllautes und ästhetischen Gesetzen, die aus den specifisch-musikalischen Werken Haydn’s, Mozart’s und Beethoven’s, so weit er ihrer Spur folgte, abgeleitet sind“ (vorliegender Artikel, S. 770 f. [258]), ist nach Gerhard Winkler „zweifellos Hanslick“ gemeint (Winkler 2006 Der „bestimmte Ausdruck“, S. 45); diese Meinung vertritt auch Deaville 2013 Negotiating the „Absolute“, S. 17. 29 Siehe dazu auch den Kommentar, insbesondere den Abschnitt „Gegnerschaft wider Willen?“, zu Brendel 1855 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, in: NdS 2 Nr. 72. 27 Cornelius
Nr. 70 | Ferdinand Gleich, „Betrachtungen über Orchestration und Tonmalerei“, in: Rheinische Musik-Zeitung 6 (1855), Nr. 4 (27. Januar), S. 25 – 28; Nr. 5 (3. Februar), S. 33 – 36.
Betrachtungenüber Orchestration und Tonmalerei. Von Ferdinand Gleich1.
I. Die Kunst der Instrumentirung oder der Orchestration hat erst in neuester Zeit einen auf philosophisch-ästhetische Grundlagen basirten wissenschaftlichen Ausbau gefunden und dadurch den Werth und die volle Bedeutung einer Kunst im höheren Sinne genommen. Auch in diesem Zweige musste die Empirie das Material zu einer systematischen Theorie liefern, es bedurfte grosser Thaten, der Erscheinung von wahrhaft Schönem und Genialem, ehe die Wissenschaft mit ordnender und sichtender Hand sich der Sache annehmen, ehe überhaupt von höheren künstlerischen, nach den Principien der Aesthetik zu formulirenden Regeln auf diesem von früheren Aesthetikern oft als Nebensache betrachtetem Gebiete die Rede sein konnte. Mit den immer grossartigen und bedeutungsvoller werdenden Entdeckungen und Erfindungen grosser Meister in dieser Beziehung, gingen nicht allein die allgemeinere Vorbereitung einer hochgesteigerten Virtuosität, sondern auch die Fortschritte der Mechanik in der Kunst des Instrumentenmachers Hand in Hand. Es wurden durch die Virtuosität und durch die Vervollkommnungen und Verbesserungen an den Instrumenten früher für unübersteigbar gehaltene Hindernisse hinweggeräumt, der Componist erhielt in Folge dessen freiere Hand und vermochte also neue und wunderbar schöne Tongebilde und blendendere Farbenmischungen zu erzielen. Durch die Componisten der Neuzeit ist nun ein so ungeheures Material angehäuft worden, dass das Bedürfniss nach Lehrbüchern, welche die Kunst der Orchestration von einem höheren als rein technischen Gesichtspunkte aus betrachten, ein unabweisbares geworden. Wir haben bereits solche Werke, und die hervorragendsten
1 Ferdinand Gleich (1816 –1898), deutscher Musikschriftsteller, Musiktheoretiker, Komponist und Dramaturg, wirkte unter dem Kürzel „F. G.“ in den Jahren 1850 bis 1855 als Leipziger Berichterstatter und ab 1852 bis 1859 zusätzlich als Rezensent für die NZfM. Ab 1855 erschienen von ihm Beiträge in der Rheinischen Musikzeitung (etwa Gleich 1855 Franz Brendel. Die Musik der Gegenwart). Ab 1866 war er in Dresden tätig.
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sind ohne Zweifel die von A. B. Marx2 und Hector Berlioz3. Frühere Werke über Instrumentirung konnten eben nicht viel mehr als Leitfäden sein; sie gaben dem Lernenden Aufschluss über die Behandlungsweise, über den Umfang und Mechanismus der im Orchester gebräuchlichen Instrumente, enthielten sich aber fast alles künstlerischen Raisonnements und lieferten höchstens kurze Andeutungen über den Character und die Klangfarbe der einzelnen Tonwerkzeuge. Dergleichen Bücher hatten ihr grosses Verdienst für ihre Zeit und würden es für die Elementarschüler in dieser Branche auch noch haben – da die grossen kunstphilosophisch gefassten Werke dieser Art für einen Anfänger zu viele allgemein künstlerische Bildung voraussetzen müssen – wenn nicht auch der Mechanismus der Instrumente so namhafte Fortschritte gemacht und daher manche in jenen Lehrbüchern gegebene Regel ihre Geltung verloren hätte.I Aber auch schon zu der Zeit, als die älteren namhaften Lehrbücher der Instrumentirung entstanden, war die Praxis der Theorie vorausgeeilt. Meister wie Beethoven und C. M. von Weber hatten bereits die hohe Bedeutung dieses Kunstzweiges erkannt und hierin die erstaunenswerthesten, für alle Zeiten mustergültigsten Resultate gewonnen. Irrig wäre jedoch die Annahme, dass von diesen Meistern her die fortschreitende Bewegung auf diesem Felde datire, wenn sie auch, ebenso [26] wie in Frankreich Cherubini und Spontini, in Italien Rossini, die noch heute gültige Norm der Zusammensetzung des modernen Orchesters gegeben haben. Mit der Wiedergeburt der Oper durch Gluck – oder besser gesagt: mit der kühnen That, durch die dieser gewaltige Geist die Oper zu einem wirklichen dramatischen Kunstwerke erhob – beginnt die höhere künstlerische Ausbildung des Orchesters. Vor Gluck dienten die Instrumente fast nur als Begleitung des Gesanges, auf ihre Klangfarbe wurde keine besondere Rücksicht genommen, von Characteristik im Orchester war wenig die Rede. Selbst in Werken der reinen Instrumentalmusik damaliger Zeit, wie in J. S. Bach’s Suiten, wird nur durch die Macht der gewaltigen Ideen, durch den kunstvollen harmonischen Bau gewirkt. Dazu reichte nun auch das Streichquartett, ebenso wie die Orgel oder das Clavier, vollkommen aus; die wenigen Blasinstrumente, die S. Bach und seine Zeitgenossen anwendeten, liefern blos einen Schmuck, der uns jetzt allerdings zuweilen etwas Rococco erscheinen muss.
I Geleitet
von dieser Ansicht hat bereits vor mehreren Jahren der Verfasser dieses Artikels den Versuch gemacht, einen für Anfänger bestimmten kurz gefassten Leitfaden der modernen Orchestration unter dem Titel „Handbuch der modernen Instrumentirung für Orchester und Militairmusikcorps, mit besonderer Berücksichtigung der kleineren Orchester etc. (Leipzig, bei C. F. Kabut)“4 zu liefern. Die freundlichen Besprechungen5, die dem Werkchen in den meisten musikalischen Zeitschriften [zu Teil] wurden[,] beweisen wenigstens so viel, dass das Unternehmen ein zeitgemässes, aus einem wirklichen Bedürfniss hervorgegangenes war 2 Marx 1847 Die Lehre von der musikalischen Komposition IV. Der vierte und letzte Teil (= 8. bis 10. Buch) der zwischen 1837 und 1847 erschienen Kompositionslehre befasst sich mit der Lehre der Instrumentation. 3 Berlioz 1844 Grande Traité d’instrumentation. 4 Gleich 1853 Handbuch der modernen Instrumentirung. 5 Siehe etwa die positive, in der NZfM erschienene Besprechung durch Emanuel Klitzsch (Klitzsch 1853 Ferdinand Gleich, Handbuch der modernen Instrumentirung).
Gleich 1855 Betrachtungen
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Man denke nur an die absonderliche Behandlung der bis ins hohe c hinausgehenden Trompeten bei Händel und Bach, der Hoboen und Flöten bei Letzterem. Der grosse Gluck hob das Orchester in seinen französischen Partituren zu einer bisher nicht geahnten Höhe. Zur Zeichnung seiner Charactere, zur musikalischen Wiedergabe seiner gewaltigen Sujets bedurfte er eines lebhafteren Colorits, als es das einfache Orchester von damals liefern konnte; er vermehrte dasselbe also, zog die drei Posaunen, ja selbst Schlaginstrument ohne bestimmte Tonhöhe, wie den Triangel, in dasselbe und erhob namentlich die Holzblasinstrumente zu einer höheren Bedeutung. Von nun an sehen wir ein fortwährendes Steigen in dieser Beziehung. Es kam Haydn und erschuf die Symphonie, in welcher er zwar – genöthigt durch die Verhältnisse der Capelle, für die er diese Werke schrieb – immer noch ein kleines Orchester anwendete, dasselbe jedoch so fein ausbildete, als es ihm nur die noch geringe Virtuosität der Musiker und der noch nicht so vollkommene Mechanismus der Instrumente gestatteten. In seinen Oratorien aber ging der Meister weiter; was er in der „Schöpfung“6 und in den „Jahreszeiten“7 an characteristischer, prachtvoller Tonmalerei geliefert, ist nicht allein für damalige Zeiten bewunderungswürdig, es kann auch noch jetzt als Muster dienen. Dass der geniale Mozart in seinen Opern und in seinem Requiem8 hierbei nicht stehen bleiben durfte, während er sich in den Symphonien mit dem Orchester ebenso beschränkte, wie Haydn, ist leicht zu erklären aus der künstlerischen Individualität des grossen Meisters. Sein Genie – gross und erhaben in allen Genres bis auf die einfachste Lied- und Tanzcomposition herab – culminirte jedoch im musikalischen Drama. Das Requiem aber nimmt unter allem Uebrigen, das er für die Kirche geschrieben, eine so eigenthümliche Ausnahmestellung ein, dass der Schwung von diesem zu jener erhabenen Todtenmesse ein so ungeheurer unvermittelter ist, wie man einen ähnlichen wohl bei keinem Meister in irgend einem Genre finden wird. Ein unsterbliches Verdienst hat sich Mozart, was Orchestrirung betrifft, um die Posaune erworben. Er wendet sie nur sehr selten an, aber wenn dies geschieht, wirken diese Instrumente auch mit so überwältigender Macht, dass man sich selbst jetzt noch – wo bekanntlich keine komische Oper, keine Tanzmusik, ja fast kein einfaches Lied mit Orchesterbegleitung ohne Posaunen geschrieben wird, die Klangwirkung derselben also schon abgeschwächt ist – auf das Tiefste von Mozart’s Posaunen-Accorden ergriffen fühlt. Wie erschütternd muss aber der Eindruck der Posaunen im Finale des „Don Juan“9, in der „Zauberflöte“10 oder der unvergleichbar schönen Behandlung der Solo-Posaune im Tuba mirum spargens sonum11 des Requiems zu damaliger Zeit gewesen sein! Doch ist dies nicht Alles, was die Kunst der Orchestration Mozart verdankt; auch die Clarinette, das Bassethorn und das englische Horn erhob er zu einer früher nicht geahnten Höhe. Er benutzte diese Instrumente,
Haydn, Die Schöpfung (UA 1798). 7 Haydn, Die Jahreszeiten (UA 1801). 8 Wolfgang Amadeus Mozart, Requiem KV 626 (UA 1793). 9 Mozart, Don Giovanni (UA 1787), 2. Akt, 15. Szene. 10 Mozart, Die Zauberflöte (UA 1791), 1. Aufzug, 18. Auftritt. 11 (Lat.) Die Posaune erklingt mit wunderlichem Laut. Gemeint ist hier der 3. Satz, „Tuba mirum“, in Mozarts Requiem KV 626 (UA 1793). 6 Joseph
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wenn er von der herkömmlichen Art ihrer Behandlung abwich, allerdings grössten theils nur zu obligaten Stimmen, aber er zeigte auch damit, wie ergiebig sie als blosse Theile des Ganzen sein können; er arbeitete in dieser Beziehung den Romantikern vor. Nach ihm verschwanden jedoch das englische und das Bassethorn fast ganz aus dem Orchester – nur in wenigen Partituren nach Mozart, wie z. B. bei Rossini, findet man noch das erstere, und der neuesten Zeit erst war es vorbehalten, das englische Horn wieder zu Ehren zu bringen, während das Bassethorn noch jetzt so gut wie vergessen ist und in den glücklicheren Fällen durch die Bassclarinette ersetzt wird, wenn man nicht gar seine Stimme zwischen das tiefe Register der Clarinette und den Fagott theilt. Dieses Vernachlässigen zweier so wunderbar schöner Instrumente ist um so unbegreiflicher, als die Componisten sonst der Vervollkommnung und Erweiterung des Orchesters so hohe Aufmerksamkeit schenkten. Aber noch waren viele und grosse Entdeckungen auf diesem Gebiete zu machen und diese blieben den Meistern der romantischen Richtung vorbehalten. Zu den Schilderungen von Gefühlen, die uns aus dem Anschauen der Natur und bei den Gestaltungen aus der Sagenwelt überkommen, zu ihren Landschafts- und Charaktergemälden [27] bedurften die Romantiker ganz besonderer glänzender Farbentöne, das Orchester mit seinen bereits vorhandenen Mitteln musste noch mehr ausgebeutet werden. Es ist der Umstand nicht ohne Bedeutung für die Kunst geblieben, dass zwei der grössten Componisten der Neuzeit – C. M. v. Weber und Meyerbeer – Schüler des grossen Akustikers Abt Vogler12 waren. Dieser gelehrte und geniale Mann erkannte schon zu seiner Zeit, dass die Kunst der Mischung der Tonfarben im Orchester ein wesentlicher Theil der Musik überhaupt sei, dass durch ein glänzendes Colorit das Tongemälde an Leben und Ausdruck gewinnen müsste, dass ein musikalischer Gedanke erst vollkommen zu Gehör gebracht werden könne, wenn er durch äussere Mittel in das ihm entsprechende Licht gestellt und so für den Sinn empfänglicher, dem Ohre näher gerückt werde. Betrachtet man die Werke des Abt Vogler, so findet man allenthalben, welches grosse Gewicht er auf die Instrumentirung legte; es ist hier Alles fein berechnet, bis in’s Detail ausgearbeitet, die Instrumente sind so ausgebeutet wie das zu einer Zeit nur möglich war, wo der Meister als Dirigent der Stockholmer Capelle dieser noch zurufen musste: „Meine Herren, passen Sie auf – jetzt kommen Sechzehntheile!“13 Der Einfluss Vogler’s auf seine beiden grossen Schüler ist unverkennbar und tritt aus jeder Note ihrer Partituren uns entgegen. Noch ehe aber die beiden Zöglinge des Abt Vogler die Schwingen ihres Genies entfalteten, stieg die strahlendste Sonne an dem Himmel der Tonkunst herauf: Beethoven, der unerreichte und unerreichbare Meister, stellte sich kühn auf die Spitze des von Haydn und Mozart vollendeten Baues und erschloss der staunenden Welt ein neues, ungeahntes Reich von Wundern und göttlichen Zaubern. Er war der
12 Georg
Joseph Vogler (auch genannt Abbé oder Abt Vogler, 1749 –1814), deutscher Komponist, Dirigent und Musiktheoretiker, der vor allem für seinen Einfluss auf den Orgelbau sowie seine tonmalerischen Kompositionen berühmt war. 13 Vogler leitete von 1786 bis 1799 die Königliche Kapelle in Stockholm.
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Prophet der Zukunft, er schuf nicht für seine Zeit, sondern für die Ewigkeit – konnte deshalb auch von den damaligen noch mehr als jetzt im blinden Autoritätsglauben befangenen Kunstgenossen nur halb und gar nicht verstanden werden. Rieth ihm doch ein damaliger Kritiker beim Erscheinen seiner ersten Werke, er solle lieber Claviervirtuos bleiben und das Componiren ganz sein lassen!14 – Ein Beethoven bedurfte aber zur Kundgebung seiner Ideen vollkommenerer äusserer Mittel, als seine Vorgänger. Anfänglich begnügte er sich mit der gesteigertsten Ausbeutung der vorhandenen, später aber zog er noch andere hinzu, zeigte aber dabei stets eine so weise Oekonomie, dass bei ihm von irgend einem Missbrauch, von einer Ueberladung nie die Rede sein kann. Es war ganz natürlich, dass Beethoven und C. M. v. Weber den als Schmuck dienenden Blasinstrumenten und den noch weniger zur Geltung gelangten Saiteninstrumenten ihre ganz besondere Aufmerksamkeit zuwenden mussten, denn sie wollten eben grosse Tongemälde so wiedergeben, wie sich diese in ihrer ganzen wunderbaren Pracht in der glühenden Phantasie der Meister wiederspiegelten. Die verschiedenen Gruppen der im Orchester vorhandenen Tonwerkzeuge mussten noch mehr geordnet, theils isolirt, theils in neuen Mischungen aufgestellt, jedes Instrument musste noch mehr als früher seinem besonderen Character gemäss verwendet und an geeigneter Stelle hervorgehoben werden. Das heroische und romantische Element in Beethoven’s Symphonien, die Sujets der Opern „Sylvana“15 und „Freischütz“16 brachten die Meister z. B. auf die kunstvollere Ausbeutung der Waldhörner, die bei den Classikern – Mozart mit inbegriffen – nur edlere Füllinstrumente gewesen und selten anders als die Trompeten behandelt worden waren. Durch Beethoven und Weber erhielt das Waldhorn erst seine höhere Bedeutung, nicht allein als Solo-, sondern auch als Orchester-Instrument. Es liegt nicht in meinem Plane, eine Geschichte der Instrumentirungskunst und der einzelnen Tonwerkzeuge zu geben und ich erwähne daher nur noch in Kürze, dass jedes Instrument bis zu den Pauken mit Geist und Scharfsinn ausgebeutet ward und zu höherer Geltung gelangte, dass namentlich auch Componisten wie Spohr, Marschner u. a. deutsche Meister sich die grössten Verdienste nach dieser Seite hin erwarben. In demselben Verhältniss wie die Pflege der einzelnen Instrumente steigerte sich auch die Behandlung des Orchesters im Allgemeinen; die nachfolgenden Meister handhabten es mit immer grösserer Freiheit und Feinheit; die Virtuosität, die man jetzt bei jedem grösseren Orchester voraussetzen darf, der verbesserte Mechanismus der Instrumente gestatteten immer mehr neue und anziehende Gestaltungen und erleichterten dem productiven Genie den Anbau dieses immer noch weiten und ergiebigen Feldes. Von der massgebendsten Bedeutung für die Orchestration sind in unserer Zeit namentlich Meyerbeer, Berlioz und Richard Wagner – ohne Zweifel die drei grössten Meister dieser Kunst, deren diesfallsige Bestrebungen um so höher anzuschlagen, als sie ihr prachtvolles und farbenreiches Orchester stets nur als Mittel,
14 Konnte nicht nachgewiesen werden. 15 Weber, Silvana (UA 1810). Das Libretto der Oper stammt von Franz Carl Hiemer (1768 –1822) und basiert größenteils auf Webers verschollener Oper Das Waldmädchen. 16 Weber, Der Freischütz (UA 1821).
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die erzeugten Klangwirkungen nie als Hauptzweck betrachten. Von den Gegnern dieser Componisten – namentlich von denen Meyerbeer’s und Berlioz[’] – ist oft das Gegentheil behauptet worden, und doch bedarf es nur eines flüchtigen, aber auch unbefangenen Blickes auf ihre Werke, um von der Unhaltbarkeit einer solchen vorgefassten Meinung zu überzeugen. Woher sollte auch der grosse und nachhaltige Erfolg dieser Meister kommen, wenn der Schwerpunkt [28] ihrer Werke einzig und allein, oder doch mindestens hauptsächlich, in dem glänzenden äusseren Gewande läge und nicht vielmehr ein wahrhaft künstlerischer Grundstoff mit der schönen Aussenseite innig verwachsen wäre. Welcher Dichter von hohem Range verdankte wohl je seine Grösse allein der schönen Sprache – wie solche ohne poetischen Inhalt nur ein leeres Wort- und Reimgeklingel sein würde, so wäre eine schöne Instrumentirung ohne musikalischen Gehalt eben nur ein leerer äusserer Pomp, der wohl momentan imponiren, nicht aber dauernd fesseln könnte. Nur ein wirkliches Genie vermag neue Entdeckungen von künstlerischem Werth in der Farbenmischung des Orchesters, im Colorit der Gemälde, in der Wortsprache zu machen; nur wenn diese hervorgegangen sind aus den poetischen Ideen des Schaffenden, wenn die innig mit dem geistigen Inhalt verwachsen sind, haben sie eine höhere Bedeutung. Ein weniger hochstehendes Talent vermag nur nachzuahmen, nicht aber selbst Neues und Originelles zu produciren, und wenn ein solches das letztere thun will und durch Combination wirklich auf noch nicht dagewesene Effecte kommt, so merkt man diesen bald an, dass sie eben nur das Resultat der Reflexion, dass sie Flitterstaat17, Theaterfeder ohne künstlerischen Gehalt sind. Ein besonderes Lob kann es gegenwärtig nicht mehr für einen Componisten sein, wenn gesagt wird, sein Werk sei schön instrumentirt, ebenso wenig wie eine schöne und elegante Diction einen modernen Dichter als besonderes Verdienst angerechnet werden kann: dergleichen versteht sich jetzt von selbst, nachdem die Kunst der Orchestration und die Wortsprache durch die grossen Meister so hoch gehoben worden. Wohl aber sind eine geniale Orchestration, eine schwungvolle, von Begeisterung glühende Sprache, ein sicheres Kriterion des Künstlers ersten Ranges. Mit Geschick und Verstand instrumentiren, Worte zusammenfügen oder Farben mischen kann am Ende ein jeder nur einigermaassen begabter Künstler lernen, den belebenden Geist vermag jedoch nur das Genie von Gottes Gnaden der sonst todten Form einzuhauchen. So hoch nun auch die Kunst der Orchestration gegenwärtig gesteigert ist, so hat sie jedoch noch lange nicht ihren Gipfelpunkt erreicht. Ein weites, unabsehbares Gebiet liegt hierin noch vor uns und harrt seines Umbaues. Selbst in der zur Zeit üblichen, obwohl nicht ganz den physikalischen Gesetzen entsprechenden Zusammenstellung des Orchesters lässt sich noch vieles Neues und Schönes gestalten, wie viel mehr wird das aber der Fall sein bei einem Orchester, das streng nach jenen Regeln zusammengestellt ist, in welchem die einzelnen Instrumentalgruppen ebenbürtiger neben einander stehen; durch gleiche Repräsentation der unter sich verwandten Tonfarben wird dann in ihrer Sonderung und Mischung eine bisher kaum geahnte Mannigfaltigkeit erzielt werden können. Bisher hat stets das Gesetz der
17 Bezeichnung
für eine recht auffällige, herausgeputzte, aber wertlose Sache.
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Zweiheit im Orchester vorgeherrscht, ebenso wie in den Gesangschören dem entsprechend der vierstimmige Satz. Nur ausnahmsweise finden wir in neuerer Zeit ein Abweichen nach der Dreiheit: bei den Flöten (Piccolo und zwei grosse Flöten), bei den Hörnern und von Alters her bei den Posaunen, doch werden letztere jetzt sehr oft mit der den Bass bildenden Ophicleide oder Basstuba oder mit dem Diskant der Ventiltrompete zu einem vierstimmigen Chore vereinigt, namentlich seit die QuartPosaune einer zweiten im Bassschlüssel geschnittenen Tenor-Posaune, wegen der leichteren Handhabung der letzteren hat weichen müssen.
[33]
II. Richard Wagner hat nun mit dem entschiedensten Erfolge im „Lohengrin“18 eine auf das Gesetz der Dreiheit begründete neue Construction des Orchesters versucht. Es sind in dieser Partitur die Holzblasinstrumente namentlich in drei Stimmen vertreten und zwar so, dass den beiden bisher üblichen Hoboen und Clarinetten noch ein englisches Horn und eine Bass-Clarinette – diese nicht als blosse Solo-Instrumente, wie z. B. bei Meyerbeer und auch noch im „Tannhäuser“19, sondern als wirkliche Theile des Ganzen, als Orchesterinstrumente verwendet – beigegeben sind. Stellenweise sind jedoch auch drei Hoboen und drei gewöhnliche Clarinetten vorgeschrieben, ebenso wie drei grosse Flöten und durchgehend drei Fagotte. Bei letzteren Instrumenten wäre es zu wünschen, wenn das dritte derselben ebenfalls, wie bei den Hoboen und Clarinetten ein tiefer stehendes mit besonderer Nuance sein könnte. Der Contrafagott würde hier eine entsprechende Stelle finden, leider aber ist dieses noch von Beethoven so schön behandelte Instrument ganz verschwunden und es gibt kein oder doch nur sehr selten noch Künstler die es blasen können. Durch diese Dreistimmigkeit der Holzblasinstrumente ist es möglich geworden, Dreiklänge in allen Stimmen ganz gleichmässiger Färbung zu geben, während bisher solchen immer ein fremdartigeres Element zur Vervollständigung beigemischt werden musste. Die Mittel sind dadurch erweitert und neue und glänzende Resultate in Folge dessen ermöglicht worden. Auch in der Eintheilung der Violin-, Bratschenund Violoncellstimmen weicht Wagner – schon im „Tannhäuser“, noch mehr aber im „Lohengrin“ – von der bisher üblichen ab. Eine drei- und sechsstimmige Behandlung der Violinen kommt bei ihm sehr oft vor. Es folgt hieraus, dass die Eintheilung der Gesangs-Chormassen auch eine andere sein musste. Die Chöre im „Lohengrin“ sind sechsstimmig, bei den fast durchgehend durch das Sujet des Drama’s gebotenen Doppelchören (Brabanter und Sachsen). Das Wagner’sche Orchester gewinnt durch diese Zusammenstellung eine gewaltige Fülle, einen eigenthümlichen im Kräftigen wie im Zarten gleich prachtvollen Wohlklang und nirgends
18 Wagner,
Lohengrin (UA 1850).
19 Wagner,
Tannhäuser (UA 1845).
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zeigt sich bei der weisen Oekonomie des Componisten eine Spur von Ueberladung. Unter wenigen geschickten Händen jedoch kann ein solches Orchester leicht zu einer unförmlichen, plumpen Masse werden und es ist nicht zu bezweifeln, dass die Art von Nachahmern, die es nur dem Meister abgeguckt haben, wie er sich räuspert und spuckt,20 in diesen Fehler verfallen dürften. Doch welches Gute, welche neue Entdeckung in der Welt hatte nicht solche Uebel im Gefolge gehabt – ist nicht mit jeder Vervollkommnung und Erweiterung des Orchesters ein heilloser Missbrauch getrieben worden, werden nicht gegenwärtig zu jeder komischen Oper, zu fast jedem Singspiel oder dergleichen vier Hörner, drei Posaunen und Tuben, die beliebte Janitscharen-Musik21 nicht zu vergessen, geschrieben. Es ist keineswegs meine Ansicht, das Wagner’sche Orchester sei das schon vollendete bezüglich der Zusammensetzung und es müsse das Princip der Dreiheit – das übrigens im „Lohengrin“ nicht einmal consequent durchgeführt ist, denn Wagner schreibt z. B. vier Hörner vor – maassgebend sein. Nicht ein jeder musikalisch darzustellender Gegenstand dürfte ein so massenhaftes Orchester vertragen; so schön und überwältigend ein solches bei einem Werke grossen und ernsten Genres sein kann, so hinderlich würde es z. B. in der komischen Oper, wie überhaupt bei Musik leichterer Gattung werden. Zur Erreichung verschiedener Zwecke bedarf es verschiedener Mittel, es muss demnach auch das Orchester der grossen Oper, der grossen Sinfonie, der für den weiten Raum der Kirche berechneten Musik ein [34] anderes sein, als das der komischen und Conversationsoper, der im heiteren gefälligen Styl geschriebenen Sinfonie etc. Der Dichter wählt zur Tragödie eine schwungvolle und begeisterte Sprache, das poetische Versmaass der Jamben, während er im Lustspiel einen leichten und eleganten Ton in ungebundener Rede oder – wiewohl in neuester Zeit sehr selten – in dem leichtfüssigen und flüssigen alexandrinischen Metrum anschlägt – der Maler braucht andere Farben zur Darstellung einer Madonna, zu einem historischen Gemälde, als zur Landschaft, zu dem Genrebild aus dem modernen gesellschaftlichen oder dem Volksleben: warum sollte nun allein der Componist stets nur dieselben Mittel zu den verschiedenartigsten Zwecken brauchen, weshalb sollte eine bestimmte unabänderliche Norm für die Zusammenstellung des Orchesters festgesetzt werden? Es ist ein heilloser Missbrauch der neuesten Zeit, dass unsere komischen Opern mit demselben Orchester ausgestattet werden, wie die grossen und ernsten, dass gegenwärtig fast kein Componist eine Ouvertüre oder Sinfonie ohne vier Hörner und drei Posaunen schreiben zu können glaubt. Auch auf die Localität, für die ein Musikwerk bestimmt, wird gegenwärtig selten Rücksicht genommen. Auch hierin stehen die Musiker den Malern nach. Während bei al Fresco-Malereien und
von Schiller, Wallensteins Lager (UA 1798), 1. Aufzug, 6. Auftritt. 21 Die sogenannte „Janitscharenmusik“ (eigentlich Mehterhâne) bezeichnet traditionell in der westeuropäischen Vorstellung die Militärmusik der Osmanen. Dort dienten die typischerweise mit Zurna (Schalmei) und Rahmentrommel besetzten Ensembles, häufig ergänzt durch Doppelpauken und kleine Trompeten sowie Triangel und Zimbeln sowohl der Untermalung des Marschierens der Truppen, insbesondere aber zur Motivation während der Schlachten sowie als Mittel psychologischer Kriegsführung, indem der Gegner nachts vom Schlaf abgehalten wurde. Häufig wurden dieser Besetzung der seit dem 18. Jahrhundert in der westlichen Kunstmusik aufgegriffenen Janitscharenmusik statt der charakteristischen Zurna die Piccoloflöte und hohe Klarinetten hinzugefügt. 20 Friedrich
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überhaupt bei solchen bildlichen Darstellungen, die auf Fernsicht berechnet werden müssen, wie z. B. auch bei Theater-Decorationen, in grossen Strichen, mit stärker aufgetragenen Farben gemalt wird, arbeitet der bildende Künstler das für die Gemälde-Gallerie oder für den Salon bestimmte Oel-, Aquarell- oder Pastellbild auf das Feinste aus, mischt die Farben so, dass die feinsten Nuancen ermöglicht werden können. Anders der Musiker. Er stellt nicht allein im Concertsaal dasselbe Orchester auf, wie im Theater, er versetzt auch Opernbruchstücke ohne Weiteres in den ersteren und umgekehrt. Ein Schauspielhaus hat nie eine solche günstige Akustik, als ein gut gebauter Concertsaal; der Ton wird in ersterem theils durch die ungünstige Stellung des Orchesters in der Vertiefung vor der Bühne, theils durch die Decorationen, die Logenreihen, die Gallerien, etc. sehr gedämpft. Der Componist kann bei Theatermusik also auch stärker auftragen, namentlich in den Ouvertüren, Ensemblestücken etc.; er kann hier mehr Mittel anwenden und braucht selbst die Lärm-Instrumente weniger zu schonen – er muss schon einen gewaltigen Lärm machen, ehe dieser dem Hörer im Theater unangenehm auffällt. Im Concertsaal aber, der so gebaut ist, dass selbst der feinste Violin- oder Clavierton ungeschmälert erscheint, in dem keine Dämpfung, kein Brechen der Tonwellen vorkommen kann, lärmt die moderne Theatermusik oft mehr als gut ist und wirkt nicht selten betäubend. Die Weber’schen und Spontini’schen Ouvertüren z. B., oder gar Werke wie die Ouvertüre zu „Tell“ von Rossini22, die im Theater keineswegs das Trommelfell zu arg erschüttern und hier nur voll und kräftig klingen, betäuben im Concertsaal, und das umsomehr, je akustischer dieser ist. Nicht wenige Componisten der Neuzeit lassen die Akustik des Concertsaales ganz ausser Acht und wenden bei Werken, die für diesen bestimmt sind, der Mittel zu viel an, malen in zu grellen Farben und ergehen sich in Intrumental-Effecten, die im Theater, nicht aber im Concertsaal am Platze und von guter Wirkung sind. Wie anders ist dies bei Beethoven, der doch ebenfalls zuweilen zu grossen Mitteln griff. Bei ihm wird die Musik nie zum Lärm; er wirkt hauptsächlich, in der Regel nur mit schwächerem Orchester, durch die gewaltige Kraft seines Genius: er verstand, wie wohl kein anderer Meister, die Kunst, mit wenigen Mitteln, oft nur mit einem einzigen Dreiklang oder selbst nur mit einem Unisono in den Saiteninstrumenten, eine Kraft und Fülle des Tones zu entwickeln, die Andere nicht erreichen und wenn sie die ganze schwere Artillerie des Orchesters ins Treffen führen. Die stark wirkenden Mittel, wie das Posaunenchor, die Schlaginstrumente ohne bestimmte Tonhöhe etc. werden bei Beethoven nur zu ausserordentlichen Gelegenheiten aufgespart und auch da nur sehr vorsichtig und die Grenzen der Concertmusik nicht überschreitend verwendet. Ein jedes Mittel ist gut und künstlerisch, sobald es mit Verstand zu höheren Zwecken gebraucht wird, nur der Missbrauch lässt es verwerflich erscheinen. Es beweist dies z. B. die prachtvolle Wirkung der sogenannten türkischen Musik (grosse Trommel, Becken und Triangel) in der neunten Sinfonie einerseits, das gedankenlose Dreschen dieser Instrumente in der modernen italienischen, französischen und leider oft auch deutschen Oper andererseits. Es ist bereits oben der Vervollkommnungen im Mechanismus der meisten Orchesterinstrumente gedacht worden. Wir haben denselben viel zu danken, denn sie
22 Gioachino
Rossini, Guillaume Tell (UA 1829).
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trugen wesentlich zur Weiterentwicklung der Kunst der Orchestration bei. Allen diesen neuen Erfindungen ist aber das Wort nicht zu reden, denn namentlich eine derselben ist von entschiedenem Nachtheile für das betreffende Instrument gewesen. Es ist diese der Mechanismus der Ventile bei dem Waldhorn.23 Bei der Trompete kann man die Ventile, wenn auch nicht als eine Verbesserung, doch als eine Erweiterung gelten lassen. Wenn auch das Instrument an Fülle, Kraft und Gesundheit etwas eingebüsst hat, so ist das hier doch weniger bedenklich, da der Ton der Trompete nicht so empfindlich und zart ist, wie der des Horns. Der Verlust an Wohlklang wird hier dadurch reichlich aufgewogen, dass man jetzt die [35] Trompete zu verschiedenartigen neuen Farbenmischungen und selbst ausnahmsweise zu melodischen Gestaltungen ungehindert durch Stimmung etc. benutzen kann. Die Einbusse, welche die Trompete bezüglich des Tones durch die Ventile erleidet, tritt nur dann auffällig hervor, wenn in Werken mit einfachen Trompeten die betreffenden Stimmen auf Ventiltrompeten geblasen oder gar transponirt werden. Bei dem Waldhorn jedoch sind die Ventile von entschiedenem Nachtheil. Der Ton wird durch dieselben rauh und ledern, die duftige Poesie, ja der ganze eigenthümliche Character des Instrumentes geht dabei gänzlich verloren – der Ton des Ventilhorns ist ein Mittelding zwischen dem des Hornes und des Fagotts, es ist dieses verbesserte Instrument aller Poesie und Schönheit baar. Sollen die Hörner bloss als Füll-Instrumente dienen, wie z. B. bei der Militair- und Tanzmusik, dann mögen die Ventile an ihrem Platze sein, im Orchester aber, wo die Hörner eine der glänzendsten und selbstständigsten Gruppen bilden, sollte man nur einfache vorschreiben. Da man jetzt allgemein vier Hörner im Orchester findet, bedarf es auch der Ventile nicht. Zwei, drei oder vier verschiedene Stimmungen geben einen solchen Reichthum an Tönen, dass man auch ohne Ventile die verschiedenartigsten Accorde bilden kann, nicht zu rechnen, dass gerade die sogenannten gestopften Töne des Horns prachtvolle Schattirungen ermöglichen. Viele neue Componisten, darunter solche ersten Ranges wie R. Schumann und R. Wagner, haben für Ventilhörner geschrieben – Letzterer besonders hat sie meisterhaft behandelt, doch kann selbst hieraus eine Berechtigung zur Empfehlung des an sich unschönen Instrumentes nicht hergeleitet werden, wenn man ein entschieden besseres und edeleres dafür hat. Das Orchester ist in neuerer Zeit vorzugsweise durch Meyerbeer um einige Tonwerkzeuge vermehrt worden – theils sind das ältere, wie das englische Horn und der Viola d’amour24, die jener Meister wieder hervorsuchte, theils neu erfundene oder
23 Das
1813 von den Hornisten Friedrich Blühmel (1777 –1845) und Heinrich Stölzel (1777 –1844) im Jahre 1813 unabhängig voneinander erfundene Ventil, welches von beiden gemeinsam im Jahre 1818 zum Patent angemeldet wurde, setzte im Blechblasintrumentenbau eine Entwicklung in Gang, die im Bereich der Hörner um 1850 zu einer Einführung ventilisierter, chromatischer Instrumente anstelle der bis dahin auf ihre Naturtöne als Grundtöne beschränkten Waldhörner in nahezu allen deutschen Orchestern führte. 24 Die Viola d’amore (auch Viola d’amour) ist ein erstmals um 1650 erwähntes Streichinstrument, welches gegenüber der etwas kleineren Viola vor allem in der größeren Anzahl der aus Darm bestehenden Spielsaiten (fünf bis sieben), von denen die tiefen in der Regel mit Stahl umsponnen sind, welches dem Instrument einen hellen, ‚silbernen‘, meist als „lieblich“ charakterisierten Klang verleiht, wofür u. a. auch die häufig unter den Spielsaiten
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doch vervollkommnete, wie die Bass-Clarinette, das Cornet à piston25 und die Ophicleide oder die Basstuba, mit welcher letzteren man jetzt allgemein alle Ophicleiden-, Serpent- oder wohl gar die Contrafagottstimmen (C-moll-Sinfonie von Beethoven etc.) besetzt, ein Brauch, der wegen der ganz verschiedenen Klanghärtung und besonders wegen der trompetenartigen Rauheit der Tuba nur ein Missbrauch zu nennen ist. Es kommen die genannten Instrumente gegenwärtig viel, oft sogar zu viel in Gebrauch, mit alleiniger Ausnahme der Viola d’amour, die in wirklich orchestraler Behandlung (vielleicht in mehreren Stimmen) ohne Zweifel von der herrlichsten Wirkung sein dürfte. Es ist möglich, dass spätere hochbegabte Tonmeister auch noch andere, längst vergessene Instrumente, so wie auch neue in das Orchester einführen werden, dass man auch noch mehr wie bis jetzt die Harfe und das Pianoforte orchestermässig behandeln wird, und solche Bereicherungen des Materials sind nur mit Freuden zu begrüssen. Welch prachtvoller Effecte die Harfe fähig ist, dafür sprechen die grossen Werke des genialen Berlioz; dass aber auch das Pianoforte sich mit dem Orchester verschmelzen lässt und wie das geschehen muss, deutet Beethoven theils in seinen Clavier-Concerten, noch entschiedener aber in der Fantasie für Pianoforte, Chor und Orchester Op. 8026 an. – Niemand wird in Abrede stellen können, dass durch die Vervollkommnungen im Orchester, durch die höhere Steigerung der Instrumentirungskunst die Musik an sinnlichem Reiz und Wohlklang bedeutend gewonnen hat, dass selbst eine weniger werthvolle Composition durch eine glänzende Orchestration geniessbarer gemacht werden kann. Wenn dies nur die einzigen Vortheile der Kunst der Orchestration wären, lohnte es da wohl der Mühe, diesem Zweige so viel Aufmerksamkeit zuzuwenden, als dies gegenwärtig geschieht? Gewiss nicht; denn in diesem Falle würde die Farbenpracht des modernen Orchesters nur dazu dienen, etwaige Blössen in der Composition, wenn nicht die ganze Hohlheit und Nichtigkeit einer solchen zu decken, sie würde nur dazu beitragen, die Tonkunst zu verflachen und sie von der erhabenen Höhe des geistigen Schwunges und der göttlichen Begeisterung hinab zu dem blossen Sinnenkitzel, der selbstsüchtigen Eitelkeit und coquetten Gefallsucht zu führen. Das grössere und glänzendere Orchester soll vielmehr dem Componisten ein weiteres Feld eröffnen, es soll ihm die Mittel zu neuen und originellen Gestaltungen gewähren, ebenso wie die vervollkommnete Sprache eines gebildeten Volkes allein
angebrachten Resonanzsaiten verantwortlich sind. Eine gewisse Renaissance erlebte das Instrument durch die vorgeschriebene solistische Verwendung in Giacomo Meyerbeers Les Huguenots (UA 1836). 25 Bei dem Kornett oder Cornet à pistons (frz. kleines Ventilhorn), handelt es sich um ein trompetenähnliches Blechblasinstrument, welches einen im Vergleich zur Trompete dünneren Rand und tieferen Kessel aufweist, der dem Instrument einen weicheren, runderen Ton, aber auch nicht die dynamischen Möglichkeiten der Trompete verleiht. Aufgrund seiner Mensur wird das Kornett jedoch zu den Horninstrumenten gezählt. Die Erfindung geht auf Louis Antoine Halary (1788 –1861) zurück, der 1828 das seit Jahrhunderten gebräuchliche Cornet, eine in französischen Militärkapellen gebräuchliche Variante des Posthorns, mit Ventilen versah. Größere Verbreitung vor allem in Blasorchestern gewann das Kornett aber erst dank der Weiterentwicklungen durch Gustave Auguste Besson (1820 –1874) im Jahre 1837. 26 Beethoven, Chorfantasie c-Moll op. 80 (ED 1811).
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dem Dichter es möglich macht, seine Fantasiegebilde in wahrhafter glänzender Schönheit zu verkörpern. Auf die Wahl der Mittel kommt in jeder Kunst gar sehr viel an: es ist z. B. nicht gleichgültig, ob man eine Melodie von einer Singstimme, von dem Pianoforte oder von irgend einem Orchesterinstrument vortragen hört. Ist die Melodie schön, so wird sie allerdings nie unschön werden können, und wenn sie der berühmte deutsche Schusterbube auf der Strasse pfiffe oder die Harfenjungfrau, der nachgemachte tyroler Natursänger27, und wie die Troubadours unserer Messen, Märkte und Bierkneipen alle heissen mögen, ableierten – in seinem vollen Glanze erscheint ein musikalischer Gedanke aber nur in dem Lichte, wie ihn sein Schöpfer bei seiner Geburt gesehen, ebenso wie des Dichters Verse nur in der Sprache, in der sie gedichtet und gedacht worden, wie das Bild des Malers nur in der Manier, in der sie [36] der Meister geschaffen, in ihrer ganzen ursprünglichen Schönheit uns entgegen treten. Clavier-Auszüge, Arrangements für Militairmusik, Kupferstiche, Lithographien etc. sind nichts als Uebersetzungen – es können diese genial und dem Geiste des Originals nicht minder entsprechend sein, wie Schiller’s Uebertragung von Racines Phädra28, Schlegel’s verdeutschter Shakespeare29 oder Adolf Böttger’s hochpoetische Uebersetzung von Lord Byron’s30 – nie aber werden sie die Schönheit des ursprünglichen Kunstwerkes erreichen, denn es fehlen dem Uebersetzer die Mittel, die dem schaffenden Meister zu Gebote standen. Die Werke der älteren Tonkunst lassen sich zur Noth aus Clavierauszügen studiren, insoweit es bei dem Studium auf das Erfassen des in ihnen wohnenden Geistes ankommt – von Beethoven’s Symphonien jedoch, von Weber’s und Meyerbeer’s Opern, von Mendelssohn’s Ouvertüren oder gar von Wagner’s oder Berlioz[’] Musik wird man nie ein klares und richtiges Bild sich aus einem Arrangement verschaffen können, denn in den modernen Werken liegt ein Theil des Schwerpunktes in der eigenthümlichen Orchestration, während die alten Meister fast ausschliesslich durch die absolute Melodie und kunstvolle harmonische Combination wirkten. Hat man jedoch bereits ein solches modernes Tonwerk gehört oder ein Kunstwerk der Malerei gesehen, so gewährt ein Clavierauszug oder eine Lithographie, ein Kupferstich etc. immerhin Genuss, denn die lebhaft angeregte Fantasie ergänzt aus der Erinnerung das ursprüngliche glänzende Colorit – man hört die Töne des Orchesters aus dem Pianoforte heraus, sieht die Farbenpracht des Originalgemäldes in den Linien des Kupferstechers oder in der Zeichnung des Lithographen wieder.
27 Im
19. Jahrhundert erlangte die Tiroler Volksmusik durch verschiedene Gesangstruppen internationale Popularität. Die bedeutendste dieser großen Zahl als „National- oder Natursänger“ auftretender Gesangstruppen im 19. Jahrhundert ist die 1839 von Ludwig Rainer (1821–1893) gegründete, welche ihr Repertoire durch Tourneen und langjährige Aufenthalte in ganz Europa, später auch in den USA bekannt machte (vgl. hierzu Gmasz 2002 Von Tyrolese Minstrels und Bratlgeigern). 28 Schillers 1805 entstandene deutsche Übersetzung von Racines 1677 uraufgeführter Phèdre (in Schillers Übersetzung: Phädra) ist dessen letztes vollendetes Werk. 29 Der deutsche Literaturhistoriker, Übersetzer, Schriftsteller und Philosoph August Wilhelm von Schlegel (1767 –1845) übersetzte nahezu das gesamte dramatische Werk William Shakespeares (ED 1797 –1810). 30 Adolf Böttger (1815 –1870), Lyriker, Dramatiker und Übersetzer, übersetzte die Werke von Lord Byron ins Deutsche.
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Ueber die Tonmalerei und ihre künstlerische Berechtigung ist früher viel gestritten worden und noch heute dürften die Meinungen über diesen Gegenstand getheilt sein. Die Tonkunst, sobald sie allein und ohne irgend eine Vermischung mit einer ihrer Schwestern auftritt, hat in der Regel allerdings nur Gefühle zu schildern, ihre Sprache ist zu unbestimmt, als dass sie ohne erläuternden Commentar, ohne Hinzutritt des bestimmten und klaren Wortes Concretes in ihr Bereich ziehen könnte. Mit dem Wort jedoch – sei dieses auch nur eine Ueberschrift oder ein Titel (Pastoral-Symphonie, Ouvertüre „Fingalshöhle“31, „Meeresstille und glückliche Fahrt“32, „Im Hochlande“33 u. s. w.) – oder sich anlehnend an eine Dichtung (Ouvertüre zum „Sommernachtstraum“34 u. s. w.) vermag auch die reine Instrumentalmusik in allgemein verständlicher Sprache von Naturscenen, vom Elfenreigen, von nationalen Eigenthümlichkeiten etc. zu erzählen. Vereint mit der Wortdichtung [i]m Lied, in der Cantate, im Oratorium, am meisten aber in dem lebendig dargestellten musikalischen Drama, kann und muss sie auch Gegenstände illustriren, die weit über das [sic] Bereich der Gefühlswelt hinaus liegen, sie kann hier Schilderungen geben, die in der reinen Instrumentalmusik unklare und verworrene Gestaltungen, also unzulässig sein würden. Die wunderbar schönen Malereien in der „Schöpfung“, das Klopfen der Steinbildes an die Pforte Don Juan’s35, der Tamtamschlag in Cherubini’s Requiem36, die Wolfsschluchts-Scene37 [sic], die in Begleitung der Pantomimen Fenella’s38 so deutlich redende Musik, das Kriegslied Marcels39, die Venusberg-Musik40 etc. – alles dies würde in reiner Instrumentalmusik mehr oder weniger als Spielerei erscheinen, während es in der Kirche und im Theater die höchste künstlerische Berechtigung hat. Das Orchester hat nun stets die schönsten Farben zu den characteristischen Schöpfungen grosser Tonmeister geliefert – je mehr vervollkommnet und erweitert dasselbe nun wird, desto mehr neue und schöne Gestaltungen werden ermöglicht, desto kühner kann der Pinsel des Meisters malen, desto weniger wird der Flug des Genies gehemmt. Der systematische ästhetische Ausbau des durch die Empirie aufgehäuften Orchester-Materials zu einer Kunst im höheren Sinne des Wortes ist daher zu einer der wichtigsten Aufgaben der Wissenschaft geworden. Nicht stichhaltig ist aber der Einwand, dass Meister wie J. S. Bach, Haydn und selbst noch Mozart mit äusserst geringen Mitteln so Gewaltiges und Grosses vermocht und dass daher die Orchestration immer nur eine Nebensache sei … hätten diesen Meistern unsere gegenwärtigen Orchestermittel zu Gebote gestanden – ich glaube nicht, dass sie sie verschmäht haben würden, denn was ihnen die damaligen Orchester darboten, haben sie auch möglichst ausgebeutet!
Mendelssohn Bartholdy, Ouvertüre Die Hebriden oder Die Fingals-Höhle h-Moll op. 26 (ED 1833). 32 Mendelssohn Bartholdy, Ouvertüre Meeresstille und glückliche Fahrt D-Dur op. 27 (ED 1835). 33 Niels Wilhelm Gade, Im Hochland. Schottische Ouvertüre op. 7 (ED 1845). 34 Mendelssohn Bartholdy, Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum E-Dur op. 21 (ED 1832). 35 Mozart, Don Giovanni, 2. Akt, 14. Szene. 36 Luigi Cherubini, Requiem c-Moll (UA 1816; ED 1820), Nr. 3 „Dies irae“, T. 7. 37 Weber, Der Freischütz, 2. Akt, 2. Szene. 38 Name der Titelfigur aus Daniel-François-Esprit Aubers Oper La Muette de Portici (UA 1829), in welcher diese ihrer Rolle als stummes Mädchen gemäß nicht singend auftritt. 39 Meyerbeer, Les Huguenots, 1. Akt, Nr. 4. 40 Wagner, Tannhäuser, 1. Aufzug, 1. Szene. 31 Felix
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Nr. 70 (1855)
Kommentar Mit dem Erscheinen von Berlioz’ epochalem Grande Traité d’instrumentation im Jahre 1844 widmete sich erstmals ein umfangreiches instruktives Werk ausschließlich der Kunst der Instrumentation. Die rasch erfolgenden und zahlreichen deutschen Übersetzungen des Buches sowie der demselben Thema gewidmete Band der Kompositionslehre Adolf Bernhard Marx41 aus dem Jahre 1847 belegen einerseits das damalige Bedürfnis nach praktischer Hilfestellung und Information auf diesem Gebiet, können aber andererseits über die zu dieser Zeit noch immer bestehende Dichotomie zwischen Komposition und – anschließender – Instrumentation42 sowohl im Schaffensprozess zahlreicher Komponisten als auch der meist auf dem Studium von Klavierauszügen beruhenden Musikkritik nicht hinwegtäuschen. Zugleich hatten sich seit Mitte der 1830er Jahre an den Werken Berlioz’, Meyerbeers und Wagners heftige Auseinandersetzungen um die in diesen Partituren verlangte größere Orchesterbesetzung sowie die dadurch angeblich bewirkte klangliche Überladung entzündet, welche etwa im Bereich der Oper zu einem Missverhältnis von Singstimme und Orchester geführt habe, insgesamt aber wiederholt als Beleg für die Gedankenarmut der jeweiligen Komponisten herangezogen wurde, welche durch reflektiert-‚ausgeklügelte‘ Orchestereffekte primär über ihre Uninspiriertheit hinwegzutäuschen suchten.43 Vor diesem Hintergrund erscheint der hier abgedruckte Aufsatz Ferdinand Gleichs, der bereits 1853 ein 86-seitiges Handbuch der modernen Instrumentirung für Orchester und Militairmusikcorps vorgelegt hatte,44 in mehrfacher Hinsicht als bemerkenswerter Versuch einer geschichtlichen Herleitung der modernen Instrumentationskunst, in welcher als bedeutendste Repräsentanten dieser Richtung Berlioz, Meyerbeer und Wagner zusammengefasst werden. Diese Würdigung steht nicht nur im Widerspruch zu zahlreichen negativen Rezensionen der Werke Berlioz’ und Wagners – nicht zuletzt in der Rheinischen Musikzeitung45 –, sondern auch zu der kurze Zeit später erschienenen Instrumentationslehre Johann Christian Lobes und den ebenfalls 1855 erschienenen diesbezüglichen Ausführungen Adolf Bernhard Marx’ in dessen Lehrbuch Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts.46 So konzentriert sich Lobe in seiner Darstellung mit dem Verweis auf die notwendige didaktische
1847 Die Lehre von der musikalischen Komposition IV. Das Buch erschien in den Jahren 1851, 1860 und 1871 in weiteren, unveränderten Auflagen. 42 Vgl. hierzu auch Janz 2006 Klangdramaturgie. 43 Siehe etwa Bischoff 1852 Richard Wagners Ouvertüre zum Tannhäuser. Diese Haltung findet sich auch später noch in den Kritiken Eduard Hanslicks der Werke Wagners und Liszts (siehe etwa Hanslick 1857 Les Préludes, S. 91, in: NdS 2 Nr. 104, S. 1279). Dass Hanslick die hohe Qualität der Instrumentation durchaus anerkennt, zeigt einer der letzten Artikel in der Niederrheinischen Musik-Zeitung: „Eine Besprechung […] schliesst E. Hanslick mit folgenden Worten: […] Wir brauchen bloss Liszt und Wagner zu nennen, deren glänzende Instrumetirungskunst im Dienste verwandter Kunst-Tendenzen mit Ursache ist, dass Berlioz’ Compositionen eine lebendige, unmittelbare Wirkung auf die musicalische Welt nicht sehr lange üben werden“ (Anonym 1867 Hector Berlioz, S. 69 f.). 44 Der Titel des Werks lautet im Ganzen: Handbuch der modernen Instrumentirung für Orchester und Militairmusikcorps mit besonderer Berücksichtigung der kleineren Orchester, sowie der Arrangements von Bruchstücken größerer Werke für dieselben u. der Tanzmusik. Die Schrift wurde in einer kurzen Rezension durch Emanuel Klitzsch in der NZfM als „verdienstvolles Werk“ gewürdigt (Klitzsch 1853 Ferdinand Gleich, Handbuch der modernen Instrumentirung, S. 103). 45 Siehe etwa 11. 1853 Richard Wagner’s „Lohengrin“; Bischoff 1852 Richard Wagners Ouvertüre zum Tannhäuser; Bischoff 1852 Tannhäuser. 46 Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 123 –130. 41 Marx
Gleich 1855 Betrachtungen
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Reduktion auf die „Partituren unserer grossen Meister Haydn, Mozart, Beethoven“, da in ihnen „alle wesentlichen Maximen der ächten Instrumentationskunst in unzähligen Beispielen aufs Schönste ausgeprägt“ vorhanden seien.47 Demgegenüber geht Marx zwar explizit auf Berlioz, Wagner und Meyerbeer ein, kritisiert aber an deren Werken den Verlust der „Individualisirung der Stimmen“, welche in „solchen Massen beengt ja erstickt“ würde, was seiner Meinung nach mit dem Einsatz von Ventil-Blechblasinstrumenten einhergeht.48 Gleich hingegen bewertet im vorliegenden Aufsatz jegliche Orchestereffekte stets im Hinblick auf den beabsichtigten Ausdruck des jeweiligen Stücks, während wiederum Lobe getreu seiner klassizistischen Prägung die Forderung aufstellt, dass in jedem Fall der „Ausdruck des Schrecklichsten selbst […] den Tondichter nicht zu widrigen Instrumentalklängen verleiten“ dürfe und stattdessen als oberste klangliche Prämisse den „Wohlklang“ herausstellt, welcher „das Grundprinzip“ sei, von welchem aus Haydn, Mozart, Beethoven „instrumentirten, wodurch sie die Wahrheit ihrer Schilderungen verklärten“ – ein Prinzip, welches in „manchem neueren Orchesterwerke[n], wo von dem Klangzauber jener grossen Meister oft wenig mehr zu spüren“ sei.49 Die Argumentation Gleichs, der die Orchesterbehandlung Wagners, Meyerbeers und Berlioz’ auf knappem Raum sowohl in akustischer Hinsicht verteidigt als auch die genannten Komponisten bezüglich eines etwaigen Missbrauchs etwa der verstärkten Blechblasinstrumente bei deren Epigonen vor diesen in Schutz nimmt, kulminiert in der zentralen Aussage, dass die differenzierte Orchesterbehandlung keineswegs lediglich dem Kolorit diene, da „in den modernen Werken […] ein Theil des Schwerpunktes in der eigenthümlichen Orchestration [liege], während die alten Meister fast ausschliesslich durch die absolute Melodie und kunstvolle harmonische Combination wirkten.“50 Diese bemerkenswerte und frühe Anerkennung der Instrumentation und des Orchesterklangs als eigenständiger Parameter und Bedeutungsträger in den Werken der genannten Komponisten verdeutlicht nicht nur, dass dieses durchaus von den Zeitgenossen als Signum eines ‚fortschrittlichen‘ Komponierens aufgefasst wurde; auf der anderen Seite beweist die gemeinsame Nennung Meyerbeers und Wagners die damalige Durchlässigkeit der vermeintlichen musikalischen ‚Parteigrenzen‘, welche von einer eindeutigen Abgrenzung und Gegenüberstellung der Akteure oftmals weit entfernt war. Dies beweist auch eine Aussage Liszts in einem Brief an Franz Brendel vom Anfang 1861, in welchem es heißt: „Ich habe in meinen Orchesterwerken den höheren Massstab der Instrumentirung (Paris, Wien, Berlin, Dresden – oder wenn Sie lieber Personen-Namen wollen, Meyerbeer, Mendelssohn, Wagner, Berlioz) angenommen.“51 Darüber hinaus verdeutlichen die auffallend sachlichen Ausführungen Gleichs, dass die modernen Instrumentationswirkungen – anders als z. B. bei Brendel52 – keineswegs zwingend durch ein Programm oder ein poetisches Sujet, im Sinne einer Erweiterung der Autonomieästhetik, legitimiert werden mussten. Damit steht Gleich der musikimmanenten Argumentation Felix Draesekes in dessen Eröffnungsvortrag zur Tonkünstlerversammlung 1861 in Weimar nahe.53
Auszugsweiser Wiederabdruck in englischer Übersetzung im Dwight’s Journal als Marx 1855 On Modern Instrumentation. 47 Lobe 1855 Die Lehre von der Instrumentation, S. III. 48 Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 124. 49 Lobe 1855 Die Lehre von der Instrumentation, S. Vf. 50 Vorliegender Artikel, S. 786 [36]. 51 In: Liszt-Briefe 1, S. 383 – 387, hier: S. 386. 52 Siehe etwa Brendel 1857 F. Liszt’s neueste Werke, in: NdS 2 Nr. 108 sowie Brendel 1858 F. Liszt’s symphonische Dichtungen. 53 Draeseke 1861 Die sogenannte Zukunftsmusik und ihre Gegner, in: NdS 3 Nr. 145.
Nr. 71 | Anonym, „Moderne Kritik“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 3 (1855), Nr. 5 (3. Februar), S. 36 – 38.
Moderne Kritik.
Die „Neue Zeitschrift für Musik“ verspricht, von jetzt an, „da Wagner’s Erscheinung momentan Alles in den Hintergrund drängte, jetzt aber das Terrain gewonnen ist –, das Versäumte nachzuholen und allen anderen Bestrebungen möglichst gerecht zu werden“1 u. s. w. (1855, Nr. 4). Unter „allen anderen Bestrebungen“ versteht Herr Brendel natürlich bloss solche, welche nach seiner und seiner Auftraggeber Losung auf die Wache ziehen, und verspricht den vernachlässigten Componisten, sie „durch Gesammt-Besprechungen ihrer Leistungen“2 zu ehren, beziehungsweise mit Trommeln und Pfeifen in die Welt einzuführen. Als Beispiel weis’t er auf einen Artikel derselben Nummer hin,3 in welchem Em. Klitzsch, welcher vorzugsweise die Wachparade4 in der neuen Zeitschrift abnimmt, sieben Liederhefte von Joachim Raff (Op. 47 – 53)5 bespricht. Die Disciplin ist in diesem kritischen Institute bekanntlich so gut organisirt, dass selbst der Officier vom Genie auf Befehl der Oberen in die Radspeichen greifen muss, wenn es gilt, ein Geschütz der Bündlerischen6, das sich selbst in den Lehm gefahren hat oder durch den Feind demontirt ist, wieder in Position zu bringen. Herr Emanuel erhält nun vermöge seiner besonderen persönlichen Beziehungen zu dem Commandirenden und wegen seiner Anstellungsfähigkeit häufig einen solchen Auftrag; so gross aber auch diese letztere ist, so ist es doch interessant, zu beobachten, wie er allerdings mit dem Winde, der von oben bläs’t, segelt, allein trotz alledem auf seinem ehrlichen Antlitze die Spuren der Seekrankheit nicht verschleiern kann,
Zitat paraphrasiert einen Abschnitt aus Brendel 1855 Anregungen. Unsere Aufgabe, S. 38. Klitzsch 1855 Joachim Raff’s Compositionen. 4 Karl Emanuel Klitzsch (1812 –1889), Organist, Komponist und Musikschriftsteller, war von 1847 bis 1867 als Rezensent der NZfM tätig und verfasste beinahe ausschließlich Besprechungen zu Gesangswerken und später auch instrumentaler Kirchenmusik. Einer der seltenen Leitartikel Klitzschs, der sich nicht dem Rezensieren widmet, ist Klitzsch 1848 Beziehungen zwischen Kunst und Politik, in: NdS 1 Nr. 12. 5 Die Reihe der Liedveröffentlichungen Joachim Raffs, auf die Emanuel Klitzsch in seinem NZfM-Artikel vom 10. November 1854 Bezug nimmt, umfasst mit op. 47 bis op. 53 aus den Jahren 1848 bis 1850 jeweils zwei bis fünf Stücke für eine Bariton- oder Altstimme mit Klavierbegleitung. 6 Als „Bündlerei“ oder auch „Coterie“ (siehe vorliegender Artikel, S. 793 [38]) wird oftmals innerhalb der Kontroverse um den Fortschritt in der Musik auf das Meinungslager um Brendel und die NZfM angespielt. Näheres zu „Coterie“, „Clique“ etc. siehe u. a. Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67, Anm. 1 sowie Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik, S. 90 f., in: NdS 1 Nr. 62, S. 662–664. 1 Das
2 Ebd. 3 Siehe
Anonym 1855 Moderne Kritik
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welche ihm die befohlene Fahrt verursacht. Erlauben Sie mir, Beweise von Beidem zu geben. I. Anstellungsfähigkeit. „Mit diesen Compositionen tritt Raff in eine neue Phase seines Schaffens – er hat sich eine eigenthümliche Sphäre seiner Kunst-Bestrebungen geschaffen – diese Lieder fussen auf einem ganz anderen Boden, der wesentlich durch ein anderes Klima bestimmt ist [Nun sage mir, o Musiker, bist du dadurch über Raff’s Manier im Klaren?]7 – Ein weit schärferes ideelles Erfassen der Texte bedingt die abweichende Art der formellen Behandlung8 [O glücklicher Dichter, dessen Gedanken erst der Componist durch die Form zur Idee verhilft!] – eine phantasiereiche, poetische Auffassung, die mit tiefer Innerlichkeit [Haben Sie eine Vorstellung von einer flachen?] sich in den Gegenstand versenkt u. s. w. – Mit Op. 51 (fünf Lieder von Geibel) tritt der Componist in ein neues Stadium“9 [Es ist bezeichnend, dass die Kritik der Propaganda für die Charakterisirung der Entwicklung ihrer Adepten jenen medicinischen Ausdruck für die Entwicklung des Fiebers, des Typhus, des Deliriums [37] u. s. w. so gern gebraucht!] u. s. w. u. s. w. Zum Schlusse „rastloses Streben – durchweg ideale [soll heissen: formlose] Richtung – Hoffnung auf noch manche herrliche Gabe“10 (!!). II. Physiognomie eines Seekranken. „Der Componist stellt freilich das Verfahren, in einem freien Spiele der Phantasie der Poesie der Texte zum musicalischen Ausdruck gelangen zu lassen (Op. 51). mit einer gewissen Schroffheit allzu subjectiv auf die Spitze – die reflexive Seite seiner Natur waltet etwas allzu sehr vor – – doch ist die Richtung nicht schlechthin verwerflich zu nennen – poetische Stimmung ist Grundton, eingedrängt hat sich nur zu viel philosophisches Element.“11 Nun fragen wir erstens jeden vernünftigen Menschen, wie er es anfangen wolle, sich „eine durch Schroffheit subjectiv auf die Spitze gestellte Phantasie mit vorwaltender reflexiver Natur und zu viel philosophischem Element“ vorzustellen! und zweitens jeden Musiker und Kunstfreund, was er nun, nachdem er dieses ästhetische Rothwälsch gelesen, von Raff’s „idealer Richtung“ und vollends von dessen musicalischem Können weiss! – Hören wir jedoch noch einige Stellen zur Charakteristik jener barocken, phantastisch-schwülstigen Kunst-Kritik. Wir entnehmen sie einer Beurtheilung von F. Liszt’s Messe für Männerstimmen mit Orgel-Begleitung, gefertigt in Nr. 20 des vorigen Jahrgangs von demselben Herrn Emanuel Klitzsch.12 Da heisst es denn u. A.: „Ein Geist, wie ihn eben nur Liszt besitzt, ein Geist von so gewaltigen Dimensionen, von so durchdringender Energie, musste – es konnte nicht anders sein [Es geschieht nämlich bei den Herren Wagner, Liszt, Raff u. s. w. Alles aus „Nothwendigkeit“,
7 Die
die Zitate erläuternden eckigen Klammern des vorliegenden Artikels wurden aus dem Original der Niederrheinischen Musik-Zeitung übernommen. 8 Paraphrase aus Klitzsch 1855 Joachim Raff’s Compositionen, S. 33. 9 Paraphrase, ebd., S. 34. 10 Paraphrase des Schlussabsatzes des Artikels (Klitzsch 1855 Joachim Raff’s Compositionen, S. 35). 11 Paraphrasiert Klitzsch 1855 Joachim Raff’s Compositionen, S. 34. Sämtliche Hervorhebungen sind vom anonymen Autor des vorliegenden Artikels. 12 Klitzsch 1854 Franz Liszt, Missa quattuor vocum.
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wie bei den Naturkräften oder auch anderen Verrichtungen, wobei die „Noth“ eine Rolle spielt] – auch da [Wo denn sonst schon?] reformirend eingreifen, wo die Tradition und der Schlendrian sich am hartnäckigsten bewiesen, auf dem Gebiete der Kirchenmusik [z. B. bei J. S. Bach, Cherubini, Beethoven!].13 „Liszt’s Messe muss als eine gewaltige Erscheinung auf dem Gebiete des religiösen Männergesanges bezeichnet werden – sie ist ein Werk, das weit alle diejenigen Erzeugnisse überragt, die der Männergesang bisher nach dieser Richtung hin hervorgebracht hat [durch Friedr. Schneider14, Bernh. Klein15 und andere verschollene Geister von kleineren Dimensionen]. – Sie ist hervorgegangen aus tiefinnerstem Schaffungsdrange, beseelt von einer seltenen Energie religiöser Anschauung [!], durchdrungen von derjenigen Weihe, die sie zu einem Werke von hoher religiöser Begeisterung stempelt. – – Der Inhalt hat das Gepräge von tief erschütternder Eigenthümlichkeit, von überzeugender und zündender Kraft u. s. w. – Hinsichtlich der Form steht sie nicht nur selbstständig und losgelös’t von allem Hergebrachten, sondern mit gewaltigen Schritten deutend auf neue Bahnen16 [Man bewundere den Reichthum der Farbengebung, indem aus den „gewaltigen Dimensionen“ eine „gewaltige Erscheinung“ mit „gewaltigen Schritten“ hervortritt! Und wie originel[l], dass sie das „Deuten“, das sonst mit der Hand geschieht, mit den Füssen thut! Und dem Himmel sei Dank, dass wir doch auch in der Kirchenmusik nun endlich „neue Bahnen“ haben, gerade jetzt, wo so Viele das ganz Alte allein wollen gelten lassen! Doch hört, hört! Diese neuen Bahnen wollen dieses Mal nur vermitteln – trotz „der Loslösung von allem Hergebrachten“, trotz der „Reform auf dem Gebiete der Tradition und des Schlendrians“], tritt Liszt hier hinsichtlich der technischen Arbeit vermittelnd auf zwischen dem Stil der grossen Meister der alt-italiänischen Schule [also gibt es deren ungeachtet Tradition und Schlendrian?] und der Neuzeit, und hat mit bewunderungswürdigem Genie diese schwierige Aufgabe gelös’t. [So drehen
13 Leicht verändertes Zitat eines Satzes aus Klitzsch 1854 Franz Liszt, Missa quattuor vocum, S. 213. Die beiden folgenden Abschnitte zitieren und paraphrasieren diesen Artikel, S. 214. 14 Johann Christian Friedrich Schneider (1786 –1853), in Dessau wirkender deutscher Komponist, Organist und Dirigent, hinterließ ein umfassendes Gesangsoeuvre und erlangte speziell durch seine ca. 400 Kompositionen für Männerchor zeitgenössische Berühmtheit. Zudem komponierte er neben 14 Messen auch sechs Oratorien, darunter das damals beliebteste Werk Das Weltgericht (UA 1820). 15 Bernhard Klein (1793 –1832), deutscher Komponist, gehörte zusammen mit dem befreundeten Ludwig Rellstab, dessen dramatisches Gedicht Dido er als Oper (UA 1823) vertonte, zu den Gründungsmitgliedern der sogenannten Zweiten Berliner Liedertafel. Neben zwei weiteren Opern, einer Messe (UA 1815), einer Kantate Hiob (UA 1820) sowie den zwei großen Oratorien Jephtha op. 29 und David op. 34 komponierte Klein, seinem stark konservativ ausgeprägtem Stil treu bleibend, insbesondere Männergesänge, so beispielweise weltliche Tafellieder, eine Singschule für Männerstimmen sowie auch geistliche Männerchöre. 16 Seit der Veröffentlichung von Robert Schumanns gleichnamigem Artikel über den jungen Johannes Brahms vom Oktober 1853 (Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49) wurden in der musikalischen Presse – sowohl polemisch wie auch sachlich – die kompositorischen Eigenschaften diskutiert, die mit „neue Bahnen“ tituliert wurden, als auch überhaupt die musikhistorische Konsistenz der Bezeichnung „neue Bahnen“ erörtert (siehe beispielsweise Lobe 1854 Neue Bahnen sowie den Kommentar zu Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49).
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wir uns denn in einem allerliebsten Zirkel. Aber halt! die „erschütternde Eigenthümlichkeit“ muss doch gerettet werden? Also:] „Man glaube aber nicht, dass irgendwie von Nachahmung die Rede sein kann; diese Verschmelzung der neuen Form mit dem alten Stil kann nur das Werk eines frei und selbstständig schaffenden Geistes sein. [Wenn uns doch dieser moderne Kunst-Philosoph über einen von der Form getrennten Stil in musicalischen Dingen belehren wollte!] Und mit dieser Lösung ist ihm zugleich eine andere, noch weit schwierigere, gelungen, nämlich den Inhalt jener vergangenen Periode in seiner tief eindringenden Glaubenskraft dem modernen Geiste zu assimiliren. [!!] Diese beiden Punkte sind von ganz besonderer Bedeutung für die Wendung der Dinge in der kirchlichen Musik. Es kann daher [?] keinem Zweifel unterliegen, dass das Werk mit diesem Januskopfe [!!] einen gewaltigen Eindruck auf alle ausüben wird, die sich ihm hingeben, sei es bei einer Aufführung oder beim Studium.“ Fassen wir, was auf dem Wege der Analyse von Herrn Emanuel Klitzsch gefunden worden, synthetisch zusammen, so gelangt nach ihm [38] die Reform oder die Wendung der Dinge in der Kirchenmusik durch Assimilation des modernen Geistes mit der Glaubenskraft der vergangenen Periode vermöge der Loslösung der Form von allem Hergebrachten und ihrer trotzdemigen Verschmelzung mit dem Hergebrachten, in so fern dieses „alter Stil“ ist, zu gewaltiger Erscheinung im Symbol eines Januskopfes. Und zwar wird dieses musicalisch-philosophische Wunder in der engen Sphäre des Männergesanges und der Orgelbegleitung ausgeführt, allein allerdings „durch die wirkungsreichsten harmonischen Combinationen“, und durch „Accord-Verschlingungen von titanischer Kraft“ [d. h.: ein Titane kann sie verschlingen, aber kein Mensch sie verdauen!], „wie sie aus dem herrlichen Inhalt nothwendig hervorgingen.“17 Doch genug. Wir sehen von dem Werthe oder Unwerthe der Composition ganz ab; es gilt uns nur, zu zeigen, wie weit es mit der musicalischen Kritik, als Ausfluss einer Bündlerei (Coterie), gekommen ist. Und diese Leute sprechen von Zopfthum und Scholastik, während ihr after-philosophischer Brei der cabbalistischen Garküche des Philippus Aureolus Theophrastus Paracelsus Bombastus ab Hohenheim18 die grösste Ehre machen würde. Weil sie musicalisch nichts zu sagen und zu begründen wissen, so greifen sie in den Phrasentopf und schwatzen über Tonkunst in einem Kauderwälsch, welches den Beweis liefert, dass sie weder das A B C der Musik noch das A B C der Logik gelernt haben. Vor wem wollen sie sich denn mit solchem Zeug
17 Zitate und Paraphrasierungen aus Klitzsch 1854 Franz Liszt, Missa quattuor vocum, S. 214.
18 Philippus Aureolus Theophrastus Bombastus von Hohenheim (genannt Paracelsus, 1493 –1541), Naturforscher, Arzt, Astrologe und Philosoph, wurde durch die vielen Heilungserfolge aufgrund seiner unkonventionellen und jenseits der traditionellen medizinischen Wissenschaft entwickelten Heilungsmethoden gleichermaßen bekannt wie verrufen. Die Bedeutung des Wortes „cabbalistisch“ geht auf die Überlieferungstradition der Kabbala zurück, ein insbesondere auch auf Zahlenund Buchstabendeutungen basierende jüdische Geheimlehre, die ihre stärkste Verbreitung im Mittelalter fand.
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ein wissenschaftliches Ansehen geben? Höchstens doch vor Musikern, die zu früh aus der Elementarschule gelaufen sind! Zum Schluss den Schluss: „Mögen nicht Intriguen oder Stumpfsinn das Werk des Meisters, welches einzig in der Männergesangs-Literatur dasteht, der Oeffentlichkeit vorenthalten! Einmal in würdiger Weise zur Darstellung gebracht, wird es seine starken Accente in die Herzen Aller schlagen und den schlummernden Funken der Begeisterung zur lichten Flamme anfachen – [bei Ihrem ganz ergebenen] Emanuel Klitzsch.“19 Da bleibt nichts Anderes übrig, als den Herren mit der leisen Aenderung von nobis in vobis aus dem Agnus Dei besagter Messe folgendes „neues Bahnstück“ unter die Nase zu schieben:20
19 Klitzsch 1854 Franz Liszt, Missa quattuor vocum, S. 216. 20 Pohl 1854 Betrachtungen über die Musik der Gegenwart, in: NdS 1 Nr. 68. Diese Besprechung Pohls erfolgte durch Brendels Auftrag (siehe den Kommentar zu ebd.).
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Kommentar Zwei Wochen, nachdem Brendel in der NZfM neben Anmerkungen zu Richard Pohls Be sprechung21 der kurz zuvor erschienenen Schrift zum Gesammtkunstwerk der Zukunft22 insbesondere die Fortführung der mit Wagner begonnenen Reformen gefordert hatte,23 erschien vorliegende anonyme Reaktion in der Niederrheinischen Musik-Zeitung. Konkreter Auslöser für die obige Stellungnahme zur zeitgenössischen Musikkritik dürfte die Rezension der Lieder Joachim Raffs durch Emanuel Klitzsch24 gewesen sein, zudem Brendels Ankündi gung – in derselben Ausgabe –, künftig anderen, neben Wagner bisher wenig beachteten Komponisten verstärkte Aufmerksamkeit zu schenken. Indem der anonyme Autor die nur zwei Monate ältere Besprechung25 der Messe Liszts zusätzlich heranzieht und damit gleich zwei Rezensionen Klitzschs zum Anlass einer gründ lichen Auseinandersetzung mit dessen Stil und der musikalischen Kritikfähigkeit der Re zensenten um Brendel nimmt, spricht er bereits diesen ersten beiden Realisierungen der angekündigtem Absicht Brendels das Vermögen einer adäquaten musikkritischen Aus einandersetzung ab. Der Autor attestiert dem „schwülstigst“26 aus dem „Phrasentopf“27 schöpfenden Klitzsch musikanalytische und -kritische Unfähigkeit. Zudem weist er ihm in seiner angeblich von Brendel auferlegten positiven Bewertung der Werke Raffs28 Unglaub würdigkeit nach, da er seine eigene Ablehnung der Kompositionen offenbar nicht verhehlen könne. Die für die Niederrheinische Musik-Zeitung charakteristische Antipathie gegen die angeb lich parteimachende und publikumsmanipulierende Einflussnahme Brendels, die schon häufig in Form von Kritik am vermeintlichen Meinungsmonopol der NZfM29 und an ihrer ‚Prophetisierung‘30 Wagners kund getan wurde, wird im vorliegenden Artikel auf polemi sche, jedoch ironische Weise an den Rezensionen Klitzschs vorgeführt: Die angebliche ‚Befehlsgewalt‘ Brendels führe aufgrund mangelnder Überzeugung zu einem schwankenden Urteil des ‚unter Befehl‘ stehenden Rezensenten und zur „Physiognomie eines Seekran ken“31. Die tendenziell konservative Haltung der Niederrheinischen Musik-Zeitung verstärkt zu dem den kritischen Blick auf eine zunächst positiv angelegte, doch im Kern abwertende Beurteilung ‚fortschrittlicher‘ musikalischer Werke. Durch die Auswahl der Textpassagen, mit denen Klitzschs kritische Stellung gegenüber Raffs Werken verdeutlicht werden soll,
21 Liszt, Missa quattuor vocum ad aequales, 1. Fassung S 8/1 (EZ 1848, UA 1852), „Agnus Dei“, T. 30–38. Die hier abgedruckte Passage wurde ebenfalls in der kritisierten Rezension Emanuel Klitzschs als Notenbeispiel zitiert, sollte dort jedoch als positives Beispiel der Eigentümlichkeit Liszts stehen, denn „gerade darin, daß die andern Stimmen nur in kurz abgebrochenen Accorden ihr miserere nobis dazwischen rufen, liegt ein feiner Zug, eine tiefe Bedeutung, wie sie eben ein mit Geist schaffender Künstler hineinzulegen versteht“ (Klitzsch 1854 Franz Liszt, Missa quattuor vocum, S. 215). 22 Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart (ED 1854). 23 Brendel 1855 Anregungen. Unsere Aufgabe. 24 Klitzsch 1855 Joachim Raff’s Compositionen. 25 Klitzsch 1854 Franz Liszt, Missa quattuor vocum. 26 Vorliegender Artikel, S. 791 [37]. 27 Ebd., S. 793 [38]. 28 Klitzsch 1855 Joachim Raff’s Compositionen. 29 Siehe Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, in: NdS 1 Nr. 66. 30 Siehe Anonym 1854 Richard Wagner, S. 57, in: NdS 1 Nr. 63. 31 Alle Zitate des Satzes aus dem vorliegenden Artikel, S. 790 [36] und S. 791 [37].
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stellt der anonyme Autor – bemerkenswerterweise aus dem Wort-Arsenal Klitzschs als dem eines befürwortenden Rezensenten – genau diejenigen zentralen Kritikpunkte zusammen, die seit Anfang der 1850er Jahre gegen die sogenannte Zukunftsmusik vorgebracht wurden: Freiheit der Form bis zur Formlosigkeit sowie angeblich überhöhte Subjektivität und der übermäßige Reflexionsgrad der Werke. Die persönliche Kritik Klitzschs an mehreren Stellen der rezensierten Lieder Raffs belegt dabei einmal mehr die sowohl kompositorische als auch ästhetische Gespaltenheit der auf ‚fortschrittlicher‘ Seite agierenden Personen. Dieser Anschauungsdifferenzen innerhalb der Gruppierung, die das im Parteienstreit konservativ gesinnte Lager immer wieder als Argu ment gegen deren Glaubwürdigkeit und Geschlossenheit ausnutzte, war sich auch Brendel bewusst, wenn er etwa Anfang 1855 in dialektischer Manier den Vorwurf dieser „große[n], durchgreifende[n] Differenzen“32 durch „eine neue […] die differierenden Ansichten ver mittelte Einheit“33 zu entkräften versucht. Die vorliegende Besprechung ist auch ein Beispiel dafür, dass die hier verlautbarte Be anstandung der fachlichen Kompetenz Klitzschs nicht ausschließlich parteipolitisches Mittel zum Zweck war: Um Klitzschs ‚Fehlurteil‘ hervorzuheben, beendete der Autor den vorlie genden Artikel mit dem Abdruck einer seiner Meinung nach misslungenen Passage aus der frühen Mess-Fassung Liszts, die auch Klitzsch in seiner Rezension – jedoch als positives Beispiel – zitiert hatte. Als Bestätigung dafür, dass eben diese von Klitzsch angeblich zu Unrecht bewunderten Takte offenbar auch dem Komponisten Liszt selbst Anlass zur Selbst kritik boten, kann seine gut zwanzig Jahre später „wesentlich verbesserte“ zweite Version der Messe34 betrachtet werden, in der Liszt selbst u. a. genau diese Passage melodisch modifizierte35 und sie dadurch, laut der Ausgabe von Liszts musikalischen Werken, „durch weg sangbarer“36 gestaltete.
1855 Anregungen. Unsere Aufgabe, S. 37. 33 Ebd. 34 Liszt, Missa quatuor vocum ad aequales, 2. Fassung S 8/2 (EZ 1869, ED 1870). Zitat: Datierung auf erster Partiturseite. 35 LisztWerke 5/3, S. 26, T. 32 – 40. 36 Liszt-Werke 5/3, Vorwort, S. VI. 32 Brendel
Nr. 72 | Franz Brendel, „Dr. Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen“, in: NZfM 22 (1855), Bd. 42, Nr. 8 (16. Februar), S. 77 – 82; Nr. 9 (23. Februar), S. 89 – 91; Nr. 10 (2. März), S. 97 –100.
Dr. Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst. – Leipzig, R. Weigel, 1854. (Angezeigt von F. Brendel.)
Es ist in dies. Bl. wiederholt auf die bedeutungsvolle Thatsache hingewiesen worden, daß seit einigen Jahren schon eine so rege Thätigkeit auf musikwissenschaftlichem Gebiet erwacht ist, wie eine solche früher kaum jemals vorhanden war. Auch dieser Fortschritt muß zum Theil als eine Folge des durch R. Wagner gegebenen Anstoßes1 betrachtet werden. Uns gereicht derselbe zu besonderer Befriedigung, da wir es gewesen sind, die immer auf die Nothwendigkeit einer solchen Wendung für die Gegenwart hingewiesen haben. Unberührt geblieben war bis jetzt noch das ästhetische Gebiet im engeren und speciellen Sinne. Jetzt hat der Verf. der hier angezeigten Schrift nun auch einen Beitrag nach dieser Seite hin gegeben, und zwar einen beachtenswerthen, einen Fortschritt, wenn auch noch nicht begründenden, so doch anregenden, so daß nun auch, was Aesthetik betrifft, ein erneuter, dem wissenschaftlichen Standpunkt der Neuzeit entsprechender Anfang gemacht worden ist.2 Die Wichtigkeit der Schrift rechtfertigt ein etwas ausführlicheres Eingehen; ich will zunächst den Leser mit dem Princip und Gedankengang derselben bekannt zu machen suchen.3 „Die bisherige Aesthetik der Tonkunst bedarf einer durchgängigen Revision.“4 Dies ist der Grundgedanke des Verfs., und der Zweck der vorliegenden Schrift daher, „die Grundsätze hinzustellen, die eine solche Revision in ihrer kritischen und
1 Brendel spielt hier offenbar auf Wagners musiktheoretische Schriften an, darunter Wagner 1850 Kunstwerk der Zukunft und Wagner 1852 Oper und Drama. Brendel betonte schon früher die Vorbildfunktion, die Wagners Schriften auf ihn ausübten (vgl. Brendel 1852 Zum neuen Jahr, S. 2, in: NdS 1 Nr. 27, S. 278). 2 Eine auf geschichtsphilosophischen Erkenntnissen basierende Musikkritik postulierte Brendel seit seiner Übernahme der NZfM 1845 (siehe Brendel 1845 Zur Einleitung, in: NdS 1 Nr. 1), und hob diese Notwendigkeit auch später immer wieder hervor (siehe beispielsweise Brendel 1848 Fragen der Zeit IV, in: NdS 1 Nr. 17). 3 Sowohl Brendels Artikel als auch sämtliche Anmerkungen in den Fußnoten beziehen sich ausschließlich auf die Erstausgabe von Hanslicks Schrift von 1854. Zu den folgenden Ausgaben und den inhaltlichen Änderungen siehe Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, in: Strauß 1990 Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen 1. 4 Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. V. An den ersten Satz des Vorworts angelehntes Zitat.
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construirenden Thätigkeit festzuhalten hat.“5 Demzufolge beschäftigt sich der Verf. in dem ersten Kapitel6 mit der Nachweisung des unwissenschaftlichen Standpunktes der bisherigen Aesthetik. Die Zeit, heißt es hier, wo man das Schöne nur in Bezug auf die dadurch wach gerufenen „Empfindungen“ betrachtet habe, sei vorüber, der Drang der Neuzeit auf objective Erkenntniß der Dinge gerichtet. Die ästhetische Untersuchung hat das schöne Object, nicht das empfindende Subject zu erforschen.7 Näher ist man diesem Princip schon in den anderen Künsten gekommen, nur in der Musik treiben die „Empfindungen“ noch den alten [78] Spuk. Die Musik habe es mit dem Gefühl zu thun, so werde gelehrt; Zweck und Bestimmung der Musik sei, schöne Gefühle zu erwecken, auch als Inhalt der Tonkunst bezeichne man das Gefühl. Beides ist nach der Ansicht unseres Verfs. ein Irrthum. Er bestimmt zunächst die Begriffe „Empfindung“ und „Gefühl“ näher,8 jene der Sinneswahrnehmung, diese dem Seelenleben vindicirend, und bezeichnet (nach Vischer)9 die Phantasie als das Organ,10 womit das Schöne aufgenommen werde. Merkwürdig sei es, fährt er fort, daß die Musiker immer nur in dem Contrast von Gefühl und Verstand sich bewegt hätten, als läge nicht die Hauptsache gerade inmitten dieses angeblichen Dilemmas.11 Die Musiker sahen in der Wirkung auf das Gefühl etwas der Tonkunst specifisch Eigenthümliches. Eine Wirkung auf das Gefühl aber wird, obschon als etwas Secundäres, in jeder Kunst vorkommen. Den angeblich principiellen Unterschied der übrigen Künste von der Musik müßte man daher auf ein Mehr oder Minder der Wirkung auf das Gefühl basiren, ob man z. B. bei einem Werke von Shakespeare oder Mozart stärker und tiefer fühle; natürlich etwas ganz Vages. Der Verf. will die starken Gefühle, die schmerzlichen Stimmungen u. s. w., welche die Musik hervorruft, nicht unterschätzen; nur gegen dieselben als Princip legt er Protest ein.12 Eben so wenig sind die Gefühle Inhalt der Tonkunst. Die Begründung und Entwicklung dieses Satzes bildet den Gegenstand des zweiten Kapitels13. Was der Inhalt eines Werkes der dichtenden oder bildenden Kunst sei, heißt es hier, lasse sich mit Worten ausdrücken. Als Inhalt der Tonkunst habe man ziemlich einverständlich die ganze Stufenleiter menschlicher Gefühle genannt.14 Demnach seien die Töne blos
5 Ebd.
An den zweiten Satz des Vorworts angelehntes Zitat. 6 Ebd., S. 1–12, Kapitel 1: „Unwissenschaftlicher Standpunkt der bisherigen musikalischen Aesthetik. Die Gefühle sind nicht Zweck der Musik“. 7 Ebd., S. 2, Hervorhebung durch Brendel. 8 Ebd., S. 4. 9 Friedrich Theodor Vischer (1807 –1887), deutscher Philosoph, Schriftsteller und Theologe. Hanslick sollte ursprünglich den „speziellen musikästhetischen Teil der großen Ästhetik Vischers“ übernehmen (in: Hanslick-Schriften 1, 2, S. 398). 10 Gemeint ist die von Vischer im zweiten Teil seiner Ästhetik unter § 384 definierte „besondere Phantasie“ (Vischer 1848 Ästhetik II, S. 315). 11 Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 5. 12 Im Sinne von Vischers Ästhetik vertritt Hanslick die Meinung, es sei „Jedermann selbst überlassen“, „ob man stärker und tiefer fühle bei einer Mozart’schen Symphonie oder bei einem Trauerspiel Shakespeare’s, bei einem Gedicht von Uhland oder einem Hummel’schen Rondo“. „Meint man aber, die Musik wirke ‚unmittelbar‘ auf das Gefühl, die andern Künste erst durch die Vermittlung von Begriffen, so fehlt man nur mit andern Worten, weil, wie wir gesehen, die Gefühle auch von dem Musikalisch-Schönen nur in zweiter Linie beschäftigt werden sollen, unmittelbar nur die Phantasie“ (ebd., S. 6). 13 Kapitel 2: „Die Gefühle sind nicht Inhalt der Musik“ (ebd., S. 12 – 31). 14 Im Original heißt es „Als Inhalt der Musik hat man […]“ (ebd., S. 12).
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das Material, das Ausdrucksmittel, wodurch der Componist dieselben darstellt, diese Gefühle seien die Idee, welche den irdischen Leib des Klanges angethan, um als musikalisches Kunstwerk auf Erden zu wandeln. Was an einer reizenden Melodie ergötzt, sei nicht diese selbst, sondern was sie bedeutet. Dieser Ansicht tritt der Verf. entschieden gegenüber. „Die Darstellung eines Gefühls oder Affects liegt gar nicht in dem eigenen Vermögen der Tonkunst,“15 denn die Gefühle stehen nicht isolirt da, sie hängen zusammen mit Vorstellungen, Urtheilen, Begriffen. Diese aber vermag die Tonkunst nicht darzustellen. Die Ideen, welche der Componist darstellt, sind vor Allem und zuerst rein musikalische. Nur das Dynamische der Gefühle ist deshalb das Bereich der Tonkunst. Sie vermag die Bewegung eines psychischen Vorgangs nach den Momenten: schnell, langsam, stark, schwach, steigend, fallend nachzubilden.16 Was uns außerdem in der Musik bestimmte Seelenzustände zu malen scheint, ist durchaus symbolisch. Wie die Farben, so besitzen die Töne von Natur aus in ihrer Vereinzelung symbolische Bedeutung.17 So die elementaren Stoffe der Musik: Tonarten, Accorde, Klangfarben. Aber auf ästhetischem Boden neutralisiren sich derlei elementarische Selbstständigkeiten unter der Gemeinsamkeit höherer Gesetze. Von einem Ausdrücken oder Darstellen ist solche Naturbeziehung weit entfernt,18 denn der Zusammenhang liegt nur in unserer Deutung. Andere Mittel aber hat die Musik nicht. Zum Beweis des Gesagten geht der Verf. auf Beispiele ein, die er zunächst aus der reinen Instrumentalmusik entlehnt. Hören wir z. B. Beethoven’s Ouvertüre zu „Prometheus“19. Was das aufmerksame Ohr vernimmt, ist etwa Folgendes: Die Töne des ersten Tactes perlen rasch und leise aufwärts, wiederholen sich genau im zweiten; der dritte und vierte Tact führen denselben Gang in größerem Umfange weiter, die Tropfen des in die Höhe getriebenen Springbrunnens perlen herab, um in den nächsten vier Tacten dasselbe Figurenbild auszuführen.20 Der Verf. führt dies noch etwas weiter aus, und schließt dann: Einen weiteren Inhalt, als den eben ausgedrückten, vermögen wir durchaus nicht in dem Thema zu erkennen, am wenigsten ein Gefühl zu nennen, welches es darstellte oder im Hörer erwecken müßte.21 Wie mit diesem, ganz zufällig gewählten Motiv, geht es mit jedem anderen Instrumentalthema. Von Bach’s wohltemperirten Clavier z. B. wird von vornherein zugegeben, daß Niemand ein Gefühl werde nachweisen können, das den Inhalt dieser Stücke bilde.22 Aber auch die Vocalmusik ist nicht im Stande, die aus dem Begriffe der Instrumentalmusik gewonnenen Grundsätze Lügen zu strafen. So könne man z. B. zum Thema aus dem zweiten Finale der Hugenotten23 statt der Worte: „Schändlich ist es, unerhört etc.“24 eben so gut singen: „O Geliebte ich hab’ Dich wieder etc.“, oder zu denselben Tönen, in welchen Florestan jubelt „O namenlose
15 Im
Original heißt es „Gefühles oder Affectes“ (ebd., S. 13). 16 Im Original heißt es „steigernd“ (ebd., S. 16). 17 Ebd. 18 Ebd., S. 17. 19 Ludwig van Beethoven, Die Geschöpfe des Prometheus op. 43 (UA 1801). 20 Nahezu wörtliche Übernahme aus Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 18. 21 Ebd., S. 19. 22 Bei Hanslick ist der Bezug eindeutig: „Eine große Klasse von Musikfreunden hält es blos für einen charakteristischen Fehler der ‚klassischen‘ Musik, den Affecten abhold zu sein, und giebt von vornherein zu, daß Niemand in […] Bach’s ‚wohltemperirtem Clavier‘ ein Gefühl werde nachweisen können, das den Inhalt derselben bilde“ (ebd.). 23 Giacomo Meyerbeer, Les Huguenots (UA 1836), 2. Aufzug, Finale. 24 Hanslick 1854 Vom Musikalisch- Schönen, S. 22, im Original mit Notenbeispiel wiedergegeben.
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Freude etc.“25, könne Pizarro wüthen: „Er soll mir nicht entkommen etc.“ Die Ouvertüre zur Zauberflöte26 ist zum Vocalquartett zankender Handelsjuden umgewandelt und Mozart’s Musik paßt zum Entsetzen gut auf den niedrig komischen Text. Unzählige deutsche Dorf- und Marktkirchen giebt es, wo zur heil. Wandlung das „Alphorn“ von Proch27 u. dergl. auf der Orgel zu großer Erbauung der Gemeinde vorgetragen wird. Dieselbe Erscheinung haben wir in Italien.28 Dies Resultat ließe vielleicht noch der Meinung Raum, daß die Darstellung bestimmter Gefühle für die Musik zwar ein Ideal sei, das sie niemals ganz erreichen, dem sie sich aber immer mehr nähern könne und solle. Das Schöne in der Musik aber würde mit der [79] Genauigkeit der Gefühlsdarstellung auch dann nicht congruiren, wenn diese möglich wäre.29 Diese Möglichkeit ist aber nicht einmal in der Vocalmusik vorhanden. Die Forderung der Wahrheit kommt mit der der Schönheit in Conflict. Eine möglichst bestimmte Musik gewährt als Musik am wenigsten Befriedigung, weshalb auch Gluck und neuerdings Wagner viel zu weit gegangen sind.30 In der Oper kämpfen dramatische Genauigkeit und musikalische Schönheit unaufhörlich mit einander. Der Verf. war bisher negativ verfahren. Im dritten Kapitel31 ist es demnach seine Aufgabe, die positiven Bestimmungen zu geben, indem er die Frage beantwortet, „welcher Natur das Schöne einer Tondichtung sei.“32 Das Schöne einer Tondichtung ist ein specifisch Musikalisches33, ein Schönes, das unabhängig und unbedürftig eines von Außen herkommenden Inhaltes einzig in den Tönen und ihrer künstlerischen Verbindung liegt. Musikalische Ideen, tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik.34 Allerdings ist das Schöne nicht ohne geistigen Gehalt. Schöpfung eines denkenden und fühlenden Geistes hat die musikalische Composition im hohen Grade die Fähigkeit, selbst geist- und gefühlvoll zu sein.35 Dieser geistige Gehalt aber steht im engsten Zusammenhang mit den Tonformen. Wir dürfen denselben nicht von dem Kunstwerk sondern, er darf in kein anderes Moment verlegt werden, als in die Tonbildungen selbst. Des Verf.’s Ansicht über den Sitz eines besonderen Geistes und Gefühls einer Composition verhält sich demnach zu der gewöhnlichen Meinung, wie die Begriffe Immanenz und Transcendenz.36 Das Ideelle in der Musik ist durchaus ein Tonliches nicht Begriffliches, welches erst in
Fidelio op. 72 (UA 1814), 2. Akt, 5. Auftritt, Duett Leonore und Florestan. 26 Wolfgang Amadeus Mozart, Die Zauberflöte (UA 1791). 27 Heinrich Proch, Das Alpenhorn op. 18. Proch (1809 –1878), österreichischer Komponist und Geiger, war während der Entstehung von Hanslicks Schrift erster Kapellmeister des Wiener Theaters am Kärntnertor. 28 Hanslick gibt als Beispiel Vincenzo Bellini La sonnambula (UA 1831), 2. Akt, letzte Szene „Ah! non giunge“. Zudem führt er aus: „Jeder Deutsche, der nach Italien kommt, hört mit Staunen in den Kirchen die bekanntesten Opernmelodien von Rossini, Bellini, Donizetti und Verdi“ (Hanslick 1854 Vom MusikalischSchönen, S. 23). 29 Ebd., S. 26. 30 Hanslick führt im Original aus: „Seit Gluck in der großen, nothwendigen Reaction gegen die melodischen Uebergriffe der Italiener nicht auf, sondern hinter die rechte Mitte zurückschritt (genau wie heutzutage Richard Wagner thut), wird der in der Dedication zur ‚Alceste‘ ausgesprochene Satz, es sei der Text die ‚richtige und wohlangelegte Zeichnung,‘ welche die Musik lediglich zu coloriren habe, unabläßlich nachgebetet“ (ebd., S. 21, Anm.). 31 Kapitel 3: „Das Musikalisch-Schöne“ (ebd., S. 31– 52). 32 Ebd., S. 31. 33 Ebd. 34 Zusammenfassung zweier Sätze durch Brendel: „Frägt es sich nun, was mit diesem Tonmaterial ausgedrückt werden soll, so lautet die Antwort: Musikalische Ideen. […] Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik“ (ebd., S. 32). 35 Ebd., S. 36. 36 Ebd. 25 Beethoven,
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Töne zu übersetzen wäre; nicht der Vorsatz, eine bestimmte Leidenschaft zu schildern, sondern die Erfindung einer Melodie ist der springende Punkt. Was daher einen Componisten von dem anderen unterscheidet, das läßt sich auf rein musikalische Bestimmungen zurückführen. Fragt man nach der nächsten Ursache, so liegt die leidenschaftliche Einwirkung eines Themas nicht in dem vermeintlich übermäßigen Schmerz des Componisten, sondern in dessen übermäßigen Intervallen, nicht in dem Zittern seiner Seele, sondern in dem Tremolo der Pauken, nicht in seiner Sehnsucht, sondern in der Chromatik.37 Obschon es nun zwar die erste Aufgabe einer musikalischen Aesthetik ist, die usurpirte Herrschaft des Gefühls unter die berechtigte der Schönheit zu stellen, so behaupten doch die affirmativen Aeußerungen des Fühlens im praktischen Musikleben eine zu auffallende und wichtige Rolle, um durch bloße Unterordnung abgethan zu werden. Der Verf. giebt daher im vierten Kapitel38 eine Analyse des subjectiven Eindruckes der Musik. In der Wirklichkeit erweist sich das begrifflich von unserem Fühlen unabhängige, selbstständige Kunstwerk als die wirksame Mitte zwischen zwei lebendigen Kräften: seinem Woher und Wohin, d. h. dem Componisten und dem Hörer.39 Was das Schaffen des Tonsetzers betrifft, so muß durchgängig festgehalten werden, daß es ein stetes Bilden ist, ein Formen in Tonverhältnissen. Nirgend erscheint die Souverainetät des Gefühls, welche man so gern der Musik andichtet, schlimmer angebracht, als wenn man sie im Componisten während des Schaffens voraussetzt und dieses als ein begeistertes Extemporiren auffaßt. Ohne innere Wärme zwar ist nichts Großes noch Schönes im Leben vollbracht worden. So kann ein starkes, bestimmtes Pathos Anlaß und Weihe manches Kunstwerkes werden, allein niemals dessen Gegenstand.40 Ein inneres Singen, nicht ein inneres Fühlen treibt den Musiker zu Erfindung eines Tonstückes.41 Was die Wirkung der Musik auf den Hörer betrifft, so handelt es sich hier um Zweierlei: worin im Unterschied von anderen Gefühlsbewegungen der specifische Charakter der Gefühlserregung durch Musik liege? und wie viel von dieser Wirkung ästhetisch sei? Müssen wir auch das Vermögen auf die Gefühle zu wirken, allen Künsten ausnahmslos zu gestehen, so ist doch der Art und Weise, wie die Musik es ausübt, etwas Specifisches, nur ihr Eigenthümliches nicht abzusprechen.42 Die intensivere Wirkung der Musik ruht auf physiologischen Bedingungen.43 Leider kann die Physiologie zur Zeit noch keine befriedigenden Antworten auf die hierhin gehörigen Fragen geben.44 Aus diesen physiologischen Resultaten aber ergiebt sich für die Aesthetik der Tonkunst
37 Ebd.,
S. 38. Satzbau leicht verändert, inhaltlich gleich. 38 Kapitel 4: „Analyse des subjectiven Eindrucks der Musik“ (ebd., S. 52 – 70). 39 Ebd., S. 52. 40 Ebd., S. 54. Der Wortlaut ist teilweise von Brendel zusammengesetzt und abgewandelt, inhaltlich jedoch mit dem Original übereinstimmend. 41 Ebd. Im Original heißt es: „[…] treibt den musikalisch Talentirten zur Erfindung eines Tonstücks“. 42 Ebd., S. 58. Wörtlich zitiert ab „um zweierlei“. 43 Ebd., S. 60. Wortlaut teilweise von Brendel, inhaltlich gleich. 44 Schon Brendels Promotion aus dem Jahr 1840, eine Kritik der Berichte „über die ärztliche Beobachtung der Somnambule Christiane Höhne in Dresden“, offenbart seine Faszination für medizinische Themen. Nur wenige Jahre später erschien eine für die Physiologie zentrale Studie von Hermann von Helmholtz, Die Lehre von den Tonempfindungen als physiologische Grundlage für die Theorie der Musik (ED1863), in der sich explizite Reaktionen auf Hanslicks Schrift finden.
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die Betrachtung, daß diejenigen Theoretiker, welche das Princip des Schönen in der Musik auf deren Gefühlswirkungen bauen, wissenschaftlich verloren sind, weil sie über das Wesen dieses Zusammenhanges nichts wissen können. Mit der Schilderung der subjectiven Bewegungen, welche den Kritiker bei Anhörung einer Symphonie überkommen, wird er deren Werth und Bedeutung nicht ergründen.45 Die beiden Fragen, – welches specifische Moment die Gefühlswirkung durch Musik auszeichne, und ob dies Moment wesentlich ästhetischer Natur sei? – erledigen sich durch die Erkenntniß eines und desselben Factors: der intensiven Einwirkung auf das Nervensystem.46 Je stärker aber eine Kunstwirkung körperlich überwältigend, also pathologisch auftritt, desto geringer ist ihr ästhetischer Antheil. Der Verf. wird auf diese Weise zur Beschreibung des wahren Kunstgenusses geführt, der ästhetischen Wirkung gegenüber der pathologischen, die er im [80] fünften Kapitel47 darlegt. Er betont hier das bewußte Genießen, die Kunst des Hörens, gegenüber falschen Aeußerungen des Enthusiasmus, der Berauschung. Das sechste Kapitel48 handelt von den Beziehungen der Tonkunst zur Natur. Es ist zu untersuchen, was die Natur für die Tonkunst gethan. Die Antwort hierauf ist, daß die Natur das Material zum Material liefert; das eigentliche Material der Tonkunst ist ein künstliches. Ebensowenig giebt es ein Naturschönes für die Musik.49 Die anderen Künste empfangen Stoffe von der Natur, die Musik nicht. Die Untersuchung über das Verhältniß der Musik zum Naturschönen hängt deshalb eng zusammen mit der Frage nach dem Inhalt der Musik überhaupt. Das siebente und letzte Kapitel50 beschäftigt sich daher mit dieser Frage. Hat die Musik einen Inhalt?51 fragt der Verfasser. Die Philosophen antworten verneinend, die Musiker bejahend.52 Erstere haben Recht. In der Musik sind Stoff und Form in engster untheilbarer Einheit verbunden.53 Andere Künste vermögen einen und denselben Stoff vielfach zu gestalten, die Musik nicht. Die primitiven Bestimmungen, welche man der Musik zuschreibt, müssen sich immer am Thema, dem musikalischen Mikrokosmus, nachweisbar finden. Was aber ist dessen Inhalt? Was seine Form? Wo fängt diese an, wo hört jener auf?54 Jeder praktische Versuch, in einem Thema Form und Inhalt trennen zu wollen, führt auf Widerspruch oder Willkühr. Deshalb aber, schließt der Verf., ist die Musik nicht ohne geistigen Gehalt. Sie ist ein Spiel, aber keine Spielerei.55 Die gegenstandlose Formschönheit der Musik hindert sie nicht, ihren Schöpfungen sogar Individualität aufprägen zu können.56
1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 68. Wörtlich zitiert ab „Leider“, lediglich das letzte Wort lautet im Original „begründen“. 46 Ebd., S. 69. Von Brendel leicht gekürzt, inhaltlich gleich. 47 Kapitel 5: „Das ästhetische Aufnehmen der Musik gegenüber dem pathologischen“ (ebd., S. 70 – 83). 48 Kapitel 6: „Die Beziehungen der Tonkunst zur Natur“ (ebd., S. 83 – 94). 49 Ebd., S. 91. Wortlaut erhalten, syntaktisch von Brendel geändert. 50 Kapitel 7: „Die Begriffe ‚Inhalt‘ und ‚Form‘ in der Musik“ (ebd., S. 95 –104). 51 Ebd., S. 95. 52 Im Original ausgeführt: „Gewichtige Stimmen behaupten die Inhaltslosigkeit der Musik, sie gehören beinahe durchaus den Philosophen: Rousseau, Kant, Hegel, Vischer, Kahlert u. a. Die ungleich zahlreicheren Kämpfer fechten für den Inhalt der Tonkunst; es sind die eigentlichen Musiker unter den Schriftstellern und das Gros der allgemeinen Ueberzeugung steht zu ihnen“ (ebd., S. 95). 53 Ebd., S. 99. Wortlaut sowie inhaltlich an Hanslick angelehnt, gekürzt. 54 Wörtlich zitiert ab: „Die primitive“ (ebd.). 55 Ebd., S. 102. 56 Ebd., S. 103. 45 Hanslick
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Betrachten wir jetzt die hier aufgestellten Sätze näher, so muß ich zunächst meine vollkommene Uebereinstimmung mit dem Princip des Verf.’s erklären. Ich kann demselben um so leichter meine Zustimmung schenken, als ich schon vor einer längeren Reihe von Jahren in dies. Bl. (Bd. 22, Nr. 1)57 dasselbe gesagt habe. Es heißt dort S. 10: „Die Kunst ist die innigste Vereinigung von Geist und Materie, Idee und Stoff. Beide Seiten können nicht getrennt existiren und in der Betrachtung auseinander gerissen werden. Der Geist ist nichts ohne das sinnliche Material, in dem er erscheint und das sinnliche Material nichts ohne den Geist. Der Geist ist nichts Jenseitiges, was nur äußerlich und locker an die harmonische Grundlage gebunden wäre, nichts flüchtig Verschwebendes, nichts von der technischen Ausarbeitung zu Trennendes, sondern in diese Combination hineingebannt und hier, so zu sagen, mit Händen zu greifen und zu erfassen. Beide Seiten sind nur vereint vorzustellen und aus der technischen Gestaltung heraus ist der Geist zu begreifen. Der bisherige Irrthum lag darin, daß zwei Seiten, die wesentlich eins sind, die nur die verschiedenen Wendungen eines und desselben sind, auseinandergerissen und als etwas gleichgültig neben einander Bestehendes gefaßt wurden.“58 Ich habe hiermit dasselbe ausgesprochen, was unser Verf. als Princip voranstellt, und freue mich um so mehr, bei ihm einer erneuten Anregung dieses Satzes zu begegnen, als ich selbst durch das fort und fort drängende Tagesleben, durch vieles Näherliegende von der weiteren Verfolgung dieses Zieles abgelenkt wurde. Die bisherige Vorstellung von dem Verhältniß des Geistes in der Musik zu ihrem Material war in der That die von dem Verf. bekämpfte, namentlich bei dem aufnehmenden Publikum, ein Irrthum, dem auch ich in dem angeführten Satze entgegentrat. Ich unterschreibe daher auch die Consequenzen, die sich für den Verf. als unmittelbare Folge aus seinem Princip ergeben. Wir müssen den subjectiven Standpunkt verlassen, das Kunstwerk an sich selbst, nicht in Rücksicht auf seinen Eindruck betrachten, wenn wir zu einer festen Grundlage gelangen wollen. Der Geist des Künstlers liegt vollständig in seinen Tönen und es ist darüber hinaus weder etwas zu suchen noch zu finden. Richtig ferner ist das über die Phantasie, als das vorwaltend künstlerische Vermögen Gesagte. Richtig und durchaus treffend sind die im dritten Kapitel aufgestellten Sätze, sowie Alles, was sich hieran schließt. Aber der Verf. wird in dem Drange nach Objectivität der Erkenntniß ungerecht gegen die bisher geltende subjective Auffassungsweise, die ihre große Berechtigung hatte und dieselbe auch fernerhin neben dem neuen Princip behaupten wird. Der allgemeine Gang der Entwicklung, der Fortschritt in der Erkenntniß überhaupt besteht nicht darin, daß an die Stelle eines durchaus Irrigen plötzlich das Wahre gestellt werden könnte. Der Fortgang ist der, daß für das meist gleich Anfangs richtig Gemeinte aber ungenügend Gesagte später die immer entsprechendere Fassung, der adäquatere Ausdruck gefunden wird. Das gilt auch von dem vorliegenden Fall. Diese subjective Auffassungsweise, das Ergehen in Gefühlen, der Standpunkt der psychologischen Beschreibung, war nothwendig, um aus dem rein Technischen, was früher als das Einzige galt, herauszukommen. Er war die Folge des großen Aufschwunges der Kunstwissenschaft seit der zweiten Hälfte des vorigen Jahrhunderts
57 Brendel 1845 Zur Einleitung, S. 10, in: NdS 1 Nr. 1, S. 25. 58 Enthält im Vergleich zum Original einige den Inhalt nicht berührende Änderungen und Auslassungen (ebd.).
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und hat zum Resultat gehabt, daß man auch in der Tonkunst ein künstlerisches Schaffen anerkennen lernte, während früher nur die Arbeit des Verstandes als das Wesentliche erschien. Der Verf. stellt den Standpunkt der psychologischen Beschreibung zu sehr als Irrthum dar, [81] während er nur eine Einseitigkeit war. Unsere Aufgabe kann nicht darin bestehen, das auf dieses Weise Gewonnene als etwas Unbrauchbares bei Seite zu werfen, es kann nur darauf ankommen, dasselbe durch den gegenwärtig versuchten Fortschritt tiefer zu begründen. Das Ungenügende bestand blos darin, in dem subjectiven Eindruck, statt in dem Kunstwerk selbst, die Erkenntniß zu suchen. Der subjective Eindruck und das was dadurch gewonnen wurde aber bleibt in der Hauptsache in Geltung. Aus diesem Grunde glaube ich auch das Richtigere gesagt zu haben, wenn ich in dem oben angef. Art. den neuen Standpunkt als Ergänzung und Resultat des bisherigen darstellte, nicht wie der Verf. thut, als das einzig Wahre einem schlechthin Verwerflichen gegenüber. Zunächst freilich könnte der Verf. hierauf erwidern, daß er einen Gehalt, wie ihn die psychologische Beschreibung zu Tage förderte, gar nicht anerkenne, daß ein solcher gar nicht für ihn exisitire und daß er erst in Folge dieser Auffassung zu solchen Consequenzen gekommen sei. Dieser Einwand jedoch erledigt sich durch Nachstehendes. Es ist gegen den Verf. noch ein zweiter, wichtigerer Einspruch zu erheben. Der Verf. nämlich wird in dem Streben nach Objectivität zu weit geführt, er gelangt zu einer einseitigen Spitze, schießt über das Ziel hinaus, er fällt in den entgegengesetzten Fehler, indem er der alten Einseitigkeit eine neue gegenüberstellt. Richtig ist das Princip, begründet und festzuhalten der große Fortschritt der Immanenz, die Einsicht, daß wir es einzig und allein mit den Tönen zu thun haben. Der Geist, das Gefühl ist nicht etwas über den Tönen schwebendes, nicht etwas äußerlich und locker damit Verbundenes. Statt nun aber den Geist, das Gefühl wirklich in den Tönen zu suchen, in der bestimmten Gestaltung eines Tonstückes diesen bestimmten Geist zu finden, dem Princip der Immanenz gemäß, wird der Verf. fast zu dem Extrem geführt, ein Läugner des Geistes zu werden, nur Töne zu erblicken, nicht die denselben immanente Idee. Allerdings versichert er wiederholt, daß die musikalische Composition im hohen Grade die Fähigkeit besitze, geist- und gefühlvoll zu sein. Weiter aber, als bis zu diesen Versicherungen gelangt er auch nicht und er bleibt darum bei derselben Unbestimmtheit stehen, die er nach anderer Seite hin dem von ihm bekämpften Standpunkt zum Vorwurf macht. Indem er einseitig die objective Seite accentuirt, kommt er dahin, die subjective ganz zu übersehen. Der Geist, der dem Verf. zufolge in dem Tonwerk enthalten sein soll, ist fast nicht mehr als ein ganz willkührliches Spiel der Phantasie, jedenfalls ein Geist, den er gar nicht näher bestimmen kann. Richtig ist, daß der Tonsetzer nicht mit einem Inhalt zu thun hat, den er gewissermaßen in Töne übersetzt, richtig das über das „innere Singen“ Gesagte, richtig, daß nicht der Vorsatz „eine bestimmte Leidenschaft zu schildern, sondern die Erfindung einer Melodie der springende Punkt“59 sei, aber diese gesammte musikalische Thätigkeit ruht ja doch auf einem psychologischen Grunde, auf bestimmten Erregungen der Seele, nur daß die Töne dafür nicht
1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 36. Im Original heißt es: „[…] eine bestimmte Leidenschaft musikalisch zu schildern, sondern die Erfindung einer bestimmten Melodie […]“. 59 Hanslick
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mit Bewußtsein gewählt werden, wie es bei der Sprache der Fall ist, sondern der von dem Tonsetzer instinctmäßig getroffene Ausdruck sind, ein Ausdruck, der sich unmittelbar darbietet, und auch dadurch von dem sprachlichen unterscheidet, daß er sich nicht in willkürlich gewählten Zeichen giebt, sondern die Sache selbst enthält. Wäre dies nicht der Fall, so erschiene das Tonstück nur als ein leeres Spiel nach technisch-musikalischen Gesetzen,60 nicht als wirkliches Kunstwerk nach den Begriffen der modernen Kunstphilosophie61. Auf dem Wege des Verf.’s ferner wäre nie dahin zu gelangen, das Kunstwerk als das Resultat inneren Seelenlebens, d. h. als ein organisch Entstandenes zu begreifen.62 Wie Geist und Gefühl in einem Tonstück enthalten sein können, bleibt für den Verf. ebenfalls ein Räthsel. Er muß das versichern, weil die Unhaltbarkeit seiner Theorie dann allzuoffenbar wäre. Die alte Frage ist darum nicht gelöst, sondern nur nach einer anderen Seite hin geschoben. Es genügt endlich ebenso wenig, wenn der Verf. behauptet, daß die Tonkunst nur das Dynomische [sic] der Gefühle, d. h. einen bloßen Abdruck der Form, in der sich das Gefühl bewegt, zu geben im Stande sei.63 Die Tonkunst thut auch dies; aber sie gewährt mehr. Sie besitzt die Mittel zu wahrhaft seelischem Ausdruck, indem der Geist, wie in aller Kunst, in das sinnliche Material eingeht, in der Durchdringung mit denselben zur Erscheinung gelangt. Diese Verbindung des Geistigen und Stofflichen in der Tonkunst geschieht bei derselben durch die künstlerische Gestaltung der verschiedenen Ausdrucksmittel. Ich wähle als Beispiel die Modulation.64 Das Reich der Accorde ist zwar kein unmittelbar und fertig in der Natur Vorgefundenes, eben so wenig aber auch ein willkürlich Gemachtes; es ist Resultat der Erkenntniß gewisser Naturgesetze. Die Ineinsbildung des Geistigen und Stofflichen geschieht nun in der Weise, daß der Geist zunächst mit dem Natürlichen Hand in Hand geht, in unmittelbarer Einheit mit demselben sich befindet. Dies sind die einfachsten modulatorischen Gestaltungen nach den Gesetzen der Naturverwandtschaft der Accorde, Ausweichungen in die nächstverwandten Tonarten. Eine solche unmittelbare Einheit aber kam [sic] nur für
60 Der
zuvor gemachten Formulierung Brendels vom „willkührliche[n] Spiel der Phantasie“ entsprechend, findet sich in einer wahrscheinlich frühen Reaktion auf Hanslicks Traktat eine ähnliche Formulierung bei Peter Cornelius: „Der einen [Partei] ist die Musik ein phantastisches Spiel in Tönen nach Regeln des Wohllautes und ästhetischen Gesetzen, die aus den specifisch-musikalischen Werken Haydn’s, Mozart’s und Beethoven’s […] abgeleitet sind“ (Cornelius 1854 Concertmusik. Clavierauszüge zu vier Händen, S. 258, in: NdS 2 Nr. 69, S. 770). 61 Möglicherweise eine Anspielung Brendels auf Hegels Ästhetik (ED 1835), insbesondere auf den ersten Teil, in dem es beispielsweise heißt: „Im Kunstwerk ist nichts vorhanden, als was wesentliche Beziehung auf den Inhalt hat und ihn ausdrückt“ (Hegel-Werke 13, S. 131). 62 Hanslicks Formulierungen dahingehend sind: „Die Formen, welche sich aus Tönen bilden, sind nicht leere, sondern erfüllte, nicht bloße Linienbegrenzung eines Vacuums, sondern sich von innen heraus gestaltender Geist“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 34), Brendels absolutes Urteil gegenüber Hanslick erscheint an dieser Stelle etwas zugespitzt. 63 Hanslick schreibt: „Was kann also die Musik von den Gefühlen darstellen, wo nicht deren Inhalt? Nur das Dynamische derselben“ (ebd., S. 15 f.). 64 Hanslick listet sämtliche „Ansichten [auf], deren Bekämpfung“ er anstrebt. Aus Christian Friedrich Michaelis’ Ueber den Geist der Tonkunst. Mit Rücksicht auf Kants Kritik der ästhetischen Urtheilskraft. Zweyter Versuch (ED 1800), zitiert er: „Musik ist die Kunst des Ausdrucks von Empfindungen durch Modulation der Töne. Sie ist die Sprache der Affecte“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 10).
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kurze Zeit genügen. Der Geist [82] schreitet weiter, indem er die nächsten, natürlichen Beziehungen der Accorde negirt und aus diesen fortgesetzten Negationen sein reicher gestaltetes Gebäude auferbaut. Der Irrthum des Verf.’s besteht daher, wie schon bemerkt, darin, indem er ganz richtig den Geist in den Tönen selbst sucht, nur an diese sich hält, diesen Geist nun doch nicht in den Tönen zu erkennen, sondern beinahe in jene alte Auffassungsweise zurückzufallen, der zufolge man in dem Tonstück nur technische Combinationen erblickte, und außerdem nur so viel Geist, als zu solchem Spiele eines abstracten Verstandes und einer abstracten Phantasie nothwendig ist. Der Trugschluß ist dieser: weil das Gefühl den Tönen nicht blos äußerlich angeheftet ist, weil das für eine sichere Erkenntniß Erste die Töne selbst sind, weil der Tonsetzer zunächst mit ihnen als seinem Gegenstand, nicht mit dem auszudrückenden Gefühl zu thun hat, die psychologischen Motive, die allen diesen Combinationen unmittelbar und unbewußt zu Grunde liegen, in Abrede zu stellen; weil es falsch ist, das Gefühl zum Ausgangspunkt zu nehmen, und dann erst die Töne zu betrachten, so, meint der Verf., sei es ebenfalls irrig, von dem Letzteren auf das Erstere zu schließen, in den Tönen selbst das Gefühl zu erkennen. Im Gegensatz hierzu ist das Wahre, jenen von dem Verf. sowohl, wie von mir zuerst bezeichneten Standpunkt der Immanenz festzuhalten, nun aber in den Tönen selbst den gestaltenden, concreten Geist zu erfassen, die Idee, welche diese bestimmten Gestaltungen hervorrief; schärfer gefaßt, zu erkennen, daß diese bestimmten Toncombinationen unmittelbar und an sich selbst dieser bestimmte Gedanke, dieses Gefühl sind. Jedes Naturproduct, die Pflanze, der Stein, das Thier, auch der Mensch macht seiner Eigenthümlichkeit gemäß einen bestimmten Eindruck auf das Gefühl. Ein solcher Gefühlseindruck ist dasselbe, was für den denkenden Geist der erkannte Gedanken ist, der in diesen Gestaltungen lebt, nur mit dem Unterschied, daß wir dort denselben in der Form eines unmittelbaren Bewußtseins, hier in der Form vermittelter Erkenntniß haben. So auch das Kunstwerk. Der Weg der Erkenntniß jedoch geht nicht durch das Gefühl hindurch, wie der Standpunkt der psychologischen Beschreibung glaubte, die Erkenntniß wird gewonnen durch objective Betrachtung, welche dann rückwärts auf das Gefühl zu schließen erlaubt, indem sie die Idendität [sic] von Gedanke und Gefühl begreift. Dieser Stein, dieser Krystall macht diesen bestimmten Eindruck auf unser Gefühl. Dieses Gefühl ist dasselbe, was im Reiche des Gedankens das mathematische Gesetz seiner Krystallisation. So das Kunstwerk. Es macht diesen bestimmten Eindruck. Dieser Eindruck ist dasselbe, was in dem Kunstwerk der, natürlich im künstlerischen Geiste nicht mit Bewußtsein vorhandene Gedanke war, der sämmtliche Ausdrucksmittel in ein bestimmtes Verhältniß zu einander setzte, diese bestimmte Modulation, diesen Rhythmus u. s. w. gebot. Haben wir demnach erkannt, welcher Gedanke in einer jeden künstlerischen Mittelverwendung sich ausprägt, so haben wir dann auch den Schlüssel in den Händen, den ästhetischen Eindruck objectiv und zunächst ganz abgesehen von allem subjectiven Beiwerk zu erfassen. Die Frage, welche offen bleibt, ist dann nur noch die, wie Gedanke und Gefühl einander correspondiren, wie Ein und Dasselbe hier in dieser, dort in jener Gestalt erscheinen kann. Natürlich ist mit dieser rein wissenschaftlichen Erkenntniß zunächst noch nicht das Geringste für das künstlerische Verständniß des Kunstwerkes gewonnen. Eine objective Basis aber wird dadurch erlangt. Die theoretische Erkenntniß und die subjective Erfahrung müssen sich weiterhin zu einem Ganzen zusammenschließen.
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So viel im Allgemeinen. Ich wende mich nur [sic] zu dem Einzelnen. Aus der schiefen Stellung, welche der Verf. seinem Princip gegeben hat, erklärt sich eine Menge von Irrthümern, die die Schrift enthält. Diese Irrthümer sind meist unzweifelhaft, lassen sich mit Evidenz darthun. Die Nachweisung derselben gewährt daher meiner Entgegnung noch eine zweite, von der principiellen Betrachtung unabhängige Begründung. Gesetzt auch, es wäre mir nicht gelungen, das Irrige principiell nachzuweisen, so muß sich dies jetzt aus der Einzelbetrachtung ergeben. Weil die Schrift der [sic] Verf.’s im Einzelnen viele Irrthümer enthält, so muß seine Entwicklung des Princips eine irrige oder einseitige sein. Die practischen Bemerkungen beweisen die theilweise Unhaltbarkeit seiner Theorie. Selbst den Verf. hätte der allzuschroffe Widerspruch, in den er zu vielem allgemein als mehr Angenommenen tritt, vor manchen seiner Consequenzen warnen können. Er schließt zu sehr von einer einseitigen Theorie aus auf die Erfahrung, statt seine Theorie der Erfahrung gemäß zu gestalten. [89] Der Verf. tritt (S. 6) jener Ansicht gegenüber, welche in der Wirkung der Musik auf das Gefühl etwas derselben specifisch Eigenes erblickt. „Allein eben so wenig“, heißt es am angef. O., „als wir diese Wirkung als die Aufgabe der Künste überhaupt anerkannten, können wir in ihr eine specifische Wirkung der Musik erblicken. Einmal festgehalten, daß die Phantasie das eigentliche Organ des Schönen ist, wird eine secundäre Wirkung dieser auf das Gefühl in jeder Kunst vorkommen.“65 Ich muß dem Verf. gegenüber die bisherige Ansicht als die entsprechendere vertreten. Sehr richtig zwar wird bemerkt, daß alle Künste etwas Verwandtes, Gemeinschaftliches in ihrer Wirkung auf das Gefühl haben. Mit der bisher gebräuchlichen Ansicht aber ist durchaus nicht gemeint, daß die Tonkunst allein das Gefühl beschäftige, es ist eben so wenig gesagt, daß hier das Gefühl unmittelbar in Anspruch genommen werde, in anderen Künsten aber nur durch Vermittlung anderer Seelenthätigkeiten; die Bedeutung jenes Satzes ist diese: Die ästhetische Wirkung der Künste ist bei allen wesentlich dieselbe, für alle Künste ist die harmonische Erregung der Seelenkräfte das Charakteristische.66 Jede Kunst aber unterscheidet sich in ihrer Wirkung dadurch von den anderen, daß in der harmonischen Erregung der Seelenkräfte eine einseitige Bestimmtheit überwiegend hervortritt. Die Poesie wirkt harmonisch anregend auf Gefühl, Phantasie u. s. w. Eigenthümlich aber ist derselben das Reich bewußter Vorstellungen. In derselben Weise wirkt die Musik; eigenthümlich aber ist derselben die musikalische Stimmung, das gegenstandslose Fühlen. Dasselbe gilt von den bildenden Künsten; hier aber überwiegt die sinnliche Anschauung. Die Geistesthätigkeit in allen Künsten ist demnach in der Hauptsache dieselbe und der Unterschied nur der, daß auf gemeinschaftlicher Basis eine bestimmte Seite überwiegend
S. 6. Im Original heißt es: „[…] eine specifische Bestimmtheit der Musik erblicken“. ist ein ausschlaggebender Widerspruch zu Hanslicks Theorie gegeben, der ab der zweiten Auflage durch die Kritik einer „knechtische[n] Abhängigkeit der Special-Aesthetiken“ eine entscheidende Konkretisierungen erfährt und mit der sechsten Auflage Robert Schumanns Satz „Die Aesthetik der einen Kunst ist die der andern, nur das Material ist verschieden“ zusätzlich als unheilstiftend zitiert (siehe Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, in: Strauß 1990 Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen 1, S. 22 f.). 65 Ebd.,
66 Damit
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hervortritt.67 Dadurch erhält das schon weiter oben von mir erwähnte „Mehr oder Minder“, auf das sich, nach des Verf.’s Ansicht, der Unterschied in der Wirkung der Künste der gewöhnlichen Ansicht nach reduciren soll, eine sehr bestimmte Stellung. [90] S. 8 wird die Thatsache, daß ein und dasselbe Tonstück auf verschiedene Hörer einen ganz entgegengesetzten Eindruck macht, benutzt, um darzuthun, daß der Zusammenhang desselben mit der dadurch hervorgerufenen Gemüthsbewegung kein nothwendig causaler sei. Diese Thatsache indeß beweist durchaus nichts. Wenn von gemeinschaftlicher Wirkung die Rede sein soll, so muß man voraussetzen, daß die Hörer auf gleicher Stufe der Bildung und Empfänglichkeit stehen, eben so, wie man voraussetzen muß, dass die Hörer eines Vortrags in irgend einer Sprache diese Sprache alle gleich gut verstehen, wenn von einem gleichen Verständniß die Rede sein soll.68 Der Schluß von der Unverständlichkeit der Rede für Einen, der die Sprache nicht versteht, auf die Sinnlosigkeit des Vortrags wäre fast nicht irrthümlicher, als im vorliegenden Fall. Außerdem ist zu sagen, daß die Wirkung der Musik, sobald dieselbe eine andere, zwingendere wäre, als sie thatsächlich ist, nicht mehr als eine geistig freie, sondern als eine naturnothwendige erschiene. Daß der Verf. (S. 18) das Beispiel der Beethoven’schen Ouvertüre zu Prometheus beibringt, um daran die Unbestimmtheit und Vieldeutigkeit des musikalischen Ausdrucks darzuthun, wurde gleichfalls in meiner im Eingange gegebenen Darstellung des Hauptgedankenganges erwähnt. Der Verf. versucht das Gefühl, welches im Thema enthalten sein soll, in Worte zu fassen. Der Irrthum besteht hier zunächst darin, das Gefühl unmittelbar in Worte übersetzen zu wollen. Das, was im Reiche der Empfindung vorgeht, ist allerdings in Worte zu fassen, aber nur nach Zurücklegung eines längeren Weges, nach Beendigung des Vermittlungsprocesses, welcher die Reproduction des Gefühls im Reiche des Gedankens zur Folge hat, und dann auch nur Schritt vor Schritt, je tiefer man in den Schacht des Bewußtseins hinabsteigt. Das Gefühl unmittelbar in Worte übertragen zu wollen, ist eine Unmöglichkeit, weil das Gefühl eine Totalität unterschiedener Bestimmungen, das Wort eine einseitige Bestimmtheit ist. Ein zweiter Irrthum ist der Schluß auf das Nichtvorhandensein einer Sache, weil dieselbe nicht mit Worten bezeichnet werden kann.69 Eine seltsame Folgerung! Als ob das Unsagbare überhaupt nicht vorhanden wäre. Hierzu kommt noch, daß der Fortschritt in der geistigen Entwicklung stets darin besteht, daß das, was auf der einen Stufe noch unaussprechbar erscheint, für die folgende schon zu etwas leicht Definirbaren wird. Endlich ist noch zu sagen, – und Sichtweise, die sich im dritten Teil von Hegels Ästhetik findet (siehe Hegel-Werke 14). Argumentation steht folgende Aussage Hanslicks gegenüber: „Unter verschiedenen Nationalitäten, Temperamenten, Altersstufen und Verhältnissen, ja selbst unter Gleichheit aller dieser Bedingungen bei verschiedenen Individuen, wird dieselbe Musik sehr ungleich wirken […], wenn es sich um die ‚Verschiedenheit des Geschmacks‘ handelt. […] Der Zusammenhang musikalischer Werke mit gewissen Stimmungen besteht nicht immer, überall, nothwendig, als ein absolut Zwingendes“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 8). 69 Hanslick spricht an dieser Stelle vom „Inhalt“: „Einen weiteren Inhalt als den eben ausgedrückten vermögen wir durchaus nicht in dem Thema zu erkennen, am wenigsten ein Gefühl zu nennen, welches es darstellte oder im Hörer erwecken müßte. Solche Zergliederung macht ein Gerippe aus blühendem Körper, geeignet, alle Schönheit, aber auch alle falsche Deutelei zu zerstören“ (ebd., S. 19). 67 Eine
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dies ist der dritte Irrthum – daß der Versuch einer Fassung in Worte – gesetzt auch, die eben bezeichneten Schwierigkeiten seien beseitigt – um so schwieriger wird, je unentwickelter der musikalische Gedanke ist, der uns vorliegt. Will man einen solchen Versuch machen, so hält man sich natürlich lieber an die ganze Composition, an den entwickelten Kern, statt an das Thema, den noch unentwickelten. Der Verf. hat die Frage falsch gestellt, und weil er auf diesem Wege eine Antwort nicht finden kann, so schließt er, daß die Antwort überhaupt unmöglich sei. Auch in der Vocalmusik ist es nicht die Musik, welche dem darzustellenden Gegenstande die nöthige Bestimmtheit verleiht, sondern der Text.70 Der Verf. erinnert an Beispiele aus den Hugenotten und Fidelio. Ich kann diese Beweisführung ebenfalls keine glückliche nennen. Daß die Musik der Bestimmtheit der Vorstellung ermangelt, ist eine längst ausgesprochene, bekannte Sache. Ein Anderes aber ist es, ob ganz verschiedenartige Vorstellungen auf ein und dieselbe Musik bezogen werden sollen, ein Anderes die Wahl nur solcher Vorstellungen, die alle ein und dasselbe Gefühl im Gefolge haben. Das Gefühl ist mehrdeutig, in so weit sehr verschiedene Vorstellungen dasselbe Gefühl zur Begleitung haben können. An sich selbst aber ist das Gefühl sehr bestimmt und gar nicht mit anderen zu verwechseln. Dasselbe gilt von der Musik. Ob also z. B. die Sehnsucht nach dem Meere oder nach der Schweiz gerichtet ist, ist für das Gefühl und in Folge davon für die Musik sehr gleichgültig. Die Sehnsucht an sich aber wird in dem Tonstück, wenn es rechter Art ist, so bestimmt ausgesprochen sein, daß man sie durchaus nicht z. B. mit einem Zornesausbruch verwechseln kann. Selbst wenn die Musik nichts vermöchte, als nur die Form, in der sich die Leidenschaft bewegt, äußerlich nachzubilden, die Umrisse, die Linien zu zeichnen, die ein Gefühl umgrenzen, die Form seiner Bewegung in Bezug auf Schnelligkeit oder Langsamkeit, würde sie größerer Bestimmtheit fähig sein. Wenn Florestan singt: O namenlose Freude etc., so haben wir sogar körperlich dabei die Empfindung eines ungehinderten Ausströmens des Gefühls, erhöhter Lebensthätigkeit, schnelleren Blutumlaufs71, während eine Stimmung, wie die in den Worten „Er soll mir nicht entkommen“ ausgesprochene das Gefühl in sich zurückdrängt, die Lebensthätigkeit hemmt, körperlich das Athemholen beeinträchtigt. Beide Stimmungen geben sich schon körperlich in ganz entgegengesetzten Formen, und wenn die Musik allein diese abbildete, würde sie zu ganz verschiedenen Ausdrucksmitteln greifen müssen. Ein paar Noten freilich können hier nichts entscheiden, und deshalb ist auch hier das Beispiel des Verf.’s falsch gewählt. Eine so kurze Figur kann mit gleichem Rechte bei der Darstellung ganz verschiedenartiger Affecte vorkommen. Es ist dies derselbe Irrthum, wie oben bei der Ouver-[91]türe zu Prometheus, wo auch schon das Thema genügen sollte. Daraus, daß die ausdrucksvollsten Gesangsstellen, wie der Verf. sagt, uns höchstens rathen lassen, welches Gefühl sie ausdrücken,72 folgt nicht, daß die Musik wie weiches Wachs wäre, das bildsam sich
Hanslick heißt es: „Trotzdem sind es die Töne nicht, welche in einem Gesangstücke darstellen, sondern der Text. Die Zeichnung, nicht das Colorit bestimmt den dargestellten Gegenstand“ (ebd., S. 21). 71 Trotz Brendels generellem Bestreben, geschichtsphilosophisch zu argumentieren, kennzeichnen derartige Anmerkungen physiologischer Natur ein allgemeines Umdenken der Zeit hin zu positivistischen Sichtweisen und zur Psychologie; vgl. dazu vorliegender Artikel, Anm. 44. 72 Bei Hanslick heißt es: „Die ausdruckvollsten Gesangstellen werden, losgelöst von ihrem Text 70 Bei
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jeder Bestimmtheit fügt, der Grund ist der schon angegebene, daß ein und dasselbe Gefühl mit verschiedenen Vorstellungen vergesellschaftet sein kann, er liegt ferner darin, daß zur Zeit das bewußte Erkennen noch weit hinter dem, was der geniale Instinkt gefunden hat, zurücksteht. Der Verf. kommt S. 23 auf die Theorie von der Nachahmung sichtbarer oder unmusikalisch hörbarer Gegenstände durch die Tonkunst, auf die musikalische Malerei zu sprechen. Mit lehrsamer Wohlweisheit, heißt es, werde uns versichert, die Musik könne keineswegs die außer ihrem Bereich liegende Erscheinung selbst malen, sondern nur das Gefühl, welches dadurch in uns erzeugt wird. Umgekehrt aber verhalte sich die Sache. Die Musik könne nur die äußere Erscheinung nachzuahmen trachten, niemals aber das durch dieselbe bewirkte specifische Fühlen. Das Fallen der Schneeflocken, das Flattern der Vögel, den Aufgang der Sonne könne man nur so musikalisch malen, daß man analoge, diesen Phänomenen dynamisch verwandte Gehörseindrücke hervorbringe.73 Es ist hierauf zu erwidern, daß der Verf. nicht richtig verstanden hat, was mit der bisherigen Lehre gemeint ist. Die bisherige Ansicht ist die richtige, nur daß dieselbe ungenügend ausgedrückt wurde, und der wahre Sinn dieser: Der Künstler soll nicht mit dem Verstande, nicht mit den Augen des Naturforschers beobachten, nicht äußerlich nachbilden, – auf diese Weise würde er nur eine trockene Copie, ein todtes Gebild, ein künstlerisches Monstrum zu Tage fördern – der Künstler soll mit der Phantasie aufnehmen, soll den Gegenstand schildern, wie er in seiner Phantasie sich abspiegelt.74 Daß er dabei ganz der Nachbildung der äußeren Erscheinung entbehren könne, ist noch Niemand eingefallen zu behaupten. Der Mangel der bisherigen Lehre war demnach, daß sie nur vom Gefühl sprach, und die Nachbildung des Aeußeren dabei stillschweigend voraussetzte, der größere Mangel in der Fassung des Verf.’s, daß er das künstlerische Aufnehmen der Erscheinung übersieht. Daß man bezüglich der musikalischen Malerei im gegenwärtigen Jahrhundert meist nur vom Gefühl gesprochen hat, lag darin, daß die frühere Zeit in der That solche trockene Copien oder Schilderungen ganz gewöhnlicher, prosaischer Vorkommnisse geliefert hat. Man fand mit Recht, daß das keine Kunstwerke seien, und erkannte in der Mitwirkung des Gefühls, d. h. in der künstlerischen Erfassung das Wahre, indem man dabei, wie gesagt, stillschweigend voraussetzte, was schon erreicht und vorhanden war, die Nachbildung des Aeußeren nämlich. [97] Noch entschiedener, als der Verf. die Möglichkeit musikalischer Gefühlsdarstellung bekämpft, glaubt derselbe (S. 26) die Meinung abwehren zu müssen, als könne dieselbe jemals das ästhetische Princip der Tonkunst abgeben. Es kann hier nur von der Vocalmusik die Rede sein, da die Instrumentalmusik, der Auffassung des Verf.’s zufolge, die Nachweisung bestimmter Affecte von selbst verwehrt. Gesetzt nun, eine solche Genauigkeit der Gefühlsdarstellung in der Vocalmusik wäre möglich, so würden wir folgerichtig solche Compositionen die vollkommensten nennen, welche die Aufgabe am bestimmtesten lösen. Allein wer kennt nicht Tonwerke von höchster
uns höchstens rathen lassen, welches Gefühl sie ausdrücken“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch- Schönen, S. 22). 73 Ab „Mit lehrsamer Wohlweisheit […]“ ist hier Hanslick wiedergegeben (ebd., S. 23 f.). 74 Ein Gedanke, der sich im ersten Teil von Hegels Ästhetik findet (siehe Hegel-Werke 13, S. 362 ff.).
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Schönheit ohne solchen Inhalt. Umgekehrt giebt es Vocalcompositionen, welche ein bestimmtes Gefühl auf das Genaueste abzuconterfeien suchen.75 Diese rücksichtslose Wahrheit steht indeß meist in umgekehrtem Verhältniß zu ihrer Schönheit. Die musikalische Schönheit ist stets geneigt, dem speciell Auszudrückenden zu weichen, weil jene ein selbstständiges Entfalten, dieses ein dienendes Verleugnen erheischt.76 – Das dramatische und das musikalische Princip in der Oper führen zu einem steten Conflict. Es ist der Kampf zweier berechtigter Gewalten, wie in einem constitutionellen Staate. In ihren Consequenzen verfolgt, müssen daher das musikalische und das dramatische Princip einander nothwendig durchschneiden.77 Die größte kunstgeschichtliche Bedeutung des Streites zwischen den Gluckisten und Piccinisten liegt daher für den Verf. darin, daß dabei der innere Conflict der Oper durch den Widerstreit ihrer beiden Factoren, des musikalischen und des dramatischen, zum ersten Male ausführlich zur Sprache kam.78 Je consequenter man das dramatische Princip in der Oper rein zu halten sucht, ihr die Lebensluft der musikalischen Schönheit entziehend, desto siecher schwindet sie dahin. Man muß nothwendig auf diesem Wege bis zum gesprochenen Drama zurückkommen, wenn man nicht dem musikalischen Princip in der Oper die Oberherrschaft gestatten will. In der Wirklichkeit ist dies auch niemals geleugnet worden, und oft genug bricht bei [98] Gluck die musikalische Natur durch, seine Theorie Lügen strafend. Dasselbe gilt von Wagner. Auch Wagner hätte sich manche Mühe ersparen können, wenn er in den Schriften des Gluck’schen Musikstreites sich unterrichtet, auf Gluck’s Grundsätzen fortgebaut hätte.79 Darum steht Tannhäuser (S. 28) höher als Lohengrin. In jenem hatte W. den Standpunkt echt musikalischer Schönheit zwar noch nicht erklommen, aber auch noch nicht überwunden.80 Ich habe diese schon oben in Kürze bezeichnete Ansicht des Verf.’s hier noch etwas ausführlicher wiedergegeben, weil sie von Wichtigkeit ist, reich an Beziehungen auf die Fragen der Gegenwart. Der Verf. hat zunächst in gewissem Sinne Recht. Das einseitige Ringen nach Bestimmtheit des Ausdrucks hat stets mit dem Streben nach musikalischer Schönheit in Widerspruch gestanden, in der Oper sowohl, als auch in der Instrumentalmusik, dies Letztere für uns wenigstens, da wir auch in dieser einen bestimmten Gehalt finden. Daß eine solche Einseitigkeit etwas Kunstwidriges ist, ist das Richtige in seinen Sätzen. Möglichste Bestimmtheit des Ausdrucks kann nicht allein Zweck und Ziel der Tonkunst sein. Aber er übersieht, daß dieses einseitige Streben nach Bestimmtheit des Ausdrucks nur ein Mißverständniß einzelner Tonsetzer war. Als das einzig Wahre hat stets gegolten, Bestimmtheit des Ausdrucks auf der Basis musikalischer Schönheit, mit Bewahrung dieser letzteren, zu erreichen. Seiner Angabe, daß es Tonwerke von höchster musikalischer Schönheit giebt ohne solchen bestimmten Gehalt, umgekehrt andere, welche diesen anstreben aber mit Vernachlässigung der Schönheit, muß man daher zunächst die Bemerkung
75 Ab „[…] so würden wir folgerichtig“ wird hier Hanslick wiedergegeben (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 26). 76 Ebd., S. 27. 77 Ab „[…] der Kampf zweier“ wird hier Hanslick wiedergegeben (ebd., S. 28). 78 Ebd., S. 29. 79 Ab „Je consequenter man“ wird hier, teilweise verkürzt, Hanslick wiedergegeben (ebd., S. 30). 80 Bei Hanslick heißt es, dass Wagner, in der Erfüllung „seines“ dramatischen Prinzips, „den Lohengrin für sein bestes Werk erklären“ müsse (ebd., S. 28, Anm.).
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gegenüberstellen, daß die große Mehrzahl der Werke, die wirklichen Meisterschöpfungen, namentlich die der neueren Zeit, insbesondere Beethoven’s, beide Forderungen vereinigen. Ich muß, bevor ich weiter gehe, noch auf einige andere Sätze des Verf.’s Rücksicht nehmen. Der Verf. kämpft (S. 25) gegen die auch von uns vertretene Ansicht einer Zuspitzung der Tonkunst zu immer größerer Bestimmtheit des Ausdrucks im Laufe ihrer geschichtlichen Entwicklung.81 S. 50 wird als falsch und unzulässig gerügt, wenn man sage, die Musik habe sich „zur Sprache erhoben“. „Herablassen“, müsse man es eigentlich nennen, meint der Verf. Wir haben hier ganz dasselbe Mißverständniß, was so eben schon angedeutet wurde. Wenn gesagt wird, die Musik solle sich zur Sprache erheben, so heißt das nicht, sie solle der Sprache sich unterordnen, das Wesen derselben in sich aufnehmen mit Hintanstellung ihrer Eigenthümlichkeit; es heißt: die Musik soll auf der Grundlage ihres Wesens, mit Bewahrung ihrer Eigenthümlichkeit, so daß dies immer in erster Linie steht, sich nach Seite der Bestimmtheit der Sprache hin möglichst erweitern, damit sie nun zu den ihr von Haus aus eigenen Vorzügen die Erweiterung, den Vortheil dieser Bestimmtheit hinzu erhält.82 In beiden Stellen übersieht der Verf., daß nicht von einem Aufgeben des der Tonkunst Eigenen die Rede ist, nicht von einem Umschlagen in’s andere Extrem, sondern von der harmonischen Einigung beider Forderungen. Es handelte sich in dem eben Gesagten nur um die Berichtigung eines einzelnen Mißverständnisses, nur um die Nachweisung, daß Künstler und Aesthetiker in der Regel und in der großen Mehrzahl von der von dem Verf. untergeschobenen Einseitigkeit frei gewesen sind, mit einem Worte, daß der Verf. diese Aussprüche falsch verstanden hat. Der Conflict selbst aber bleibt stehen. Bis zum Extrem verfolgt, hebt eine Seite die andere auf; die Wahrheit vernichtet die Schönheit und umgekehrt. Dies Alles galt indeß nur für die bisherige Entwicklung der Tonkunst, für den Standpunkt, den dieselbe bis jetzt eingenommen hat. Mit dem bisherigen musikalischen Princip stritt eine zu weit geführte Bestimmtheit des Ausdrucks. Jetzt handelt es sich um eine neue Schönheit, auf deren Grundlage höchste Bestimmtheit möglich ist, und hierin liegt die Lösung des angedeuteten Conflicts. Dies Streben aber verkennt der Verf. total, und so gelangt er zu dem verkehrten, nebenbei auch sehr rücksichtslosen Urtheil über Wagner. Auch den Kampf Gluck’s mißversteht der Verf. Nicht der Widerstreit des dramatischen und musikalischen Princips kam damals zur Sprache, es war der Kampf zwischen Gesangsvirtuosität und tieferem musikalischen Ausdruck. Allerdings ist ein Widerstreit vorhanden zwischen Gluck’s Theorie und seiner Praxis. In der Ersteren geht er weiter; in der Letzteren ist er weit mehr specifischer Musiker. In der Theorie
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Hanslick heißt es: „Unser Resultat ließe vielleicht noch der Meinung Raum, daß die Darstellung bestimmter Gefühle für die Musik zwar ein Ideal sei, das sie niemals ganz erreichen, dem sie sich aber immer mehr nähern könne und solle“ (ebd., S. 25). 82 Brendels Aussagen bezüglich der Bestimmtheit der Musik bewegen sich zwischen einer von Hegel hergeleiteten „subjektiven Innerlichkeit“ und einer romantischen Unbestimmtheit im Sinne E. T. A. Hoffmanns. „In der Neunten Symphonie sehe man, wie sich das Wort endlich aus der reinen Instrumentalmusik herausringe; der Fortgang vom ‚Unbestimmten‘ zum ‚Bestimmten‘, das Hauptcharakteristikum des Beethovenschen Geistes, wird auf diese Weise als objektives Geistessignum der neuesten Zeit offenbar“ (Winkler 2006 Der ‚bestimmte Ausdruck‘, S. 39 f.); siehe auch vorliegender Artikel, Anm. 90.
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greift Gluck seiner Zeit vor und nähert sich Wagner; in der Praxis ist auch für ihn die Musik in der Oper das Erste und Wesentliche. Sein Irrthum bestand darin, daß er als specifischer Musiker jene Theorie realisiren, daß er sich als solcher dem Dichter auf das Innigste anschließen wollte. So ist es zuerst Wagner gewesen, der wirklich zur Ausführung gebracht hat, was Gluck anstrebte.83 Streng genommen hat demnach der Verf. keine Ahnung von dem, was durch die Wagner’sche Bewegung erstrebt werden soll. Wäre die Absicht nur darauf gerichtet, höchste Bestimmtheit des Ausdrucks und dramatische Bewegung auf Kosten der Schönheit zu erreichen, so müßte das etwas sehr Trostloses genannt werden. Das aber denkt sich der [99] Verf. Er hat in Wien keine Gelegenheit gehabt, sich eine unmittelbare Anschauung, vom Lohengrin z. B., zu verschaffen und sieht darum die Wahrheit nur wie aus weiter Ferne.84 Nur die specifisch musikalische Schönheit wird vernichtet, eine neue aus dem neuen Princip geboren. Deßhalb beruht auch sein Einspruch gegen Wagner’s Princip: „die Oper war ein Irrthum etc.“85 auf Mißverständniß, so sehr ich zugestehe, daß dieser Satz, wie ich schon in meiner „Musik der Gegenwart“ erwähnt habe, noch einer Erläuterung und Ergänzung bedarf.86 S. 37 bemerkt der Verf., es sei nichts irriger und häufiger, als die Anschauung, welche schöne Musik mit oder ohne geistigen Gehalt unterscheidet. Auch hier versteht er nicht, was mit diesem Satze gemeint ist. Nur die Fassung ist ungenügend, der Sinn aber richtig. Alles wahre Verständniß, beiläufig bemerkt, beruht nicht darauf, daß man sich an die Worte hält, insbesondere auf einem Gebiet, wie dem unsrigen, wo Alles noch so schwankend ist; die wahre Tiefe der Auffassung, die allein Förderung verspricht, ist die, daß man versteht, was gemeint ist, und das Gemeinte besser zu formuliren sucht. Wir müssen einander entgegenkommen und uns ergänzen, nicht unsere Einseitigkeiten kämpfend gegen einander vertreten. So in dem vorliegenden Fall. Man unterscheidet schöne Musik mit – neuem, eigenthümlichem – geistigem Gehalt, und schöne Musik, welche nur den in einer Zeit herrschenden Geist reproducirt. Es könnte auf diese Weise das Verzeichniß der Irrthümer des Verf.’s noch um ein sehr Beträchtliches vermehrt werden. Nur zum kleinsten Theile sind dieselben bis jetzt besprochen. Der Verf. ist zu wenig mit dem musikalischen Sprachgebrauch vertraut, er tritt zu sehr nur als Mann der Wissenschaft, als Systematiker hervor und
83 Brendel folgt hier Wagners Geschichtsteleologie, wie dieser sie in Oper und Drama (ED 1852) entwickelte. 84 Hanslick hatte im Sommer 1846 eine Aufführung des Tannhäuser in Dresden erlebt. Die daraufhin von ihm verfasste elfteilige, tendenziell positive Rezension in der Wiener Allgemeinen Musik-Zeitung verhalf ihm zu seiner Stellung als einflussreichstem Wiener Musikkritiker des 19. Jahrhunderts (Hanslick 1846 „Tannhäuser“). Nachdem es im August 1857 zur Wiener Erstaufführung des Tannhäuser im Thaliatheater gekommen war, erfolgte erst am 9. November 1858 die Premiere des Lohengrin an der Wiener Hofoper (siehe Hanslick 1858a Die Oper „Lohengrin“). 85 Hanslick zitiert wie folgt: „[…] der Hauptgrundsatz Wagner’s, wie er ihn im ersten Band von ‚Oper und Drama‘ ausspricht: ‚Der Irrthum der Oper als Kunstgenre besteht darin, daß ein Mittel (die Musik) zum Zweck, der Zweck (das Drama) aber zum Mittel gemacht wird,‘ – gänzlich auf falschem Boden steht“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 31). Bei Wagner heißt es: „[…] der Irrthum in dem Kunstgenre der Oper bestand darin, daß ein Mittel des Ausdruckes (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdruckes (das Drama) aber zum Mittel gemacht war“ (Wagner 1852 Oper und Drama, 1. Teil, Einleitung, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 19). 86 Siehe Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 168.
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hält sich an die in der That oft ungenügenden Worte. Eine weitere ausführlichere Erörterung aber würde den mir vergönnten Raum überschreiten. Derartige Untersuchungen können überhaupt nur in Büchern geführt werden. Ich beschränke mich daher nur noch auf eine kurze Angabe einiger Hauptpunkte. Durchgreifender Ergänzung und Berichtigung bedarf, was (S. 48) über die Versuche, die Musik mit der Sprache zu parallelisiren gesagt wird. Unbegründet ist (S. 51) der Vorwurf gegen Dr. Becher, wenn derselbe in einer 1843 gedruckten Abhandlung über die 9te Symphonie über die „Bedeutung“ derselben spricht, und der „Musik“ mit keinem Worte gedenkt, schief aufgefaßt die Parteistellung in Bezug auf die 9te Symphonie (S. 50). In Bezug auf erstgenannten Punkt gedenke ich ein anderes Mal mich ausführlicher auszusprechen.87 Zur Rechtfertigung Becher’s ist zu sagen, daß man nicht eher von einem höheren Standpunkt aus operiren kann, bevor nicht dieser Standpunkt selbst begründet und entwickelt ist.88 Damals aber war von dem Princip der Immanenz noch gar nicht die Rede. Auch jetzt hilft uns die Erkenntniß desselben so lange noch nichts, als wir nicht die wirklich durchgeführte, diesem Princip entsprechende Aesthetik besitzen. Mit der Schilderung der subjectiven Bewegung, welche den Kritiker bei Anhörung einer Symphonie überkommt (S. 68), ist daher in der That noch keineswegs Alles gethan, es ist damit durchaus nur die eine Seite der Sache erfaßt, wir werden uns aber damit bis zu jenem Moment begnügen müssen, wo die Grundzüge objectiver Erkenntniß wirklich gegeben sind. Was endlich die 9te Symphonie betrifft, so hat zum wenigsten unsere Partei dieselbe nie für ein vollendetes Kunstwerk ausgegeben,89 und der Verf. ist daher im Irrthum, wenn er die Ansichten über dieselbe so schroff einander gegenüber stellt.90 Ebenso bedürfen die im sechsten und siebenten Kapitel verhandelten Fragen noch einer tiefer eingehenden Erörterung, obschon die Anregungen des Verf.’s, so wie überhaupt, auch hier sehr dankenswerth genannt werden müssen. Richtig ist zunächst, was über die von den anderen Künsten abweichende Stellung der Tonkunst zur Natur gesagt wird. Es finden hier durchgreifende Verschiedenheiten Statt. Aber die gegebenen Bestimmungen sind doch nur der erste Schritt für die Erfassung dieses Verhältnisses. Daraus, daß die Stellung des Tonkünstlers zur Natur eine andere ist, folgt nicht,
87 Zum Thema Musik und Sprache äußerte sich Brendel ansatzweise im Zusammenhang seiner musikgeschichtlichen Verortung des Liedes (Brendel 1855 Geschichte der Musik, S. 169 – 208), ausführlicher setzte er sich damit auseinander in Brendel 1856 Melodie der Sprache. 88 Gemeint ist eine Rezension unter der Rubrik „Konzerte“ von Alfred Julius Becher (1803 –1848), österreichischer Politiker, Musikkritiker und Komponist (Becher 1843 Konzerte). 89 In einer vergleichenden Besprechung von Haydn, Mozart und Beethoven aus dem Jahr 1848 hatte Brendel Beethoven in Bezug auf die letzte Symphonie einerseits zum Propheten einer „Religion der Zukunft“ erklärt; andererseits hatte er dort seine Ansicht geäußert, „daß sich Beethoven darin total vergriffen hat, so, daß Geist und Stoff, Inhalt und Form sich nicht decken, sondern im Gegentheil auseinanderfallen“ (Brendel 1848 Haydn, Mozart, Beethoven, S. 51); fünf Jahre später folgte Brendel der in Wagners Kunstwerk der Zukunft (ED 1850) geäußerten Argumentation, „daß wir mit der 9ten Symphonie die Selbstauflösung der Instrumentalmusik vor uns haben“ (Brendel 1853 Die bisherige Sonderkunst, S. 103). 90 Bezieht sich offenbar auf folgende Fußnote Hanslicks zum Verhältnis von Musik und Wort, in welcher auch Becher angeführt wird: „Es darf nicht verschwiegen werden, daß eines der genialsten großartigsten Werke aller Zeiten durch seinen Glanz beitrug zu dieser
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daß er in gar keiner Beziehung zu derselben, sowohl der sinnlichen, wie der geistigen steht. Das Verhältniß ist nur ein abweichendes, wobei die eigene Thätigkeit des Tonkünstlers in einem höheren Grade in Anspruch genommen ist, als in den übrigen Künsten. Wie der Dichter, der Maler erhält auch der Tonkünstler Anregungen von der Natur, wie jene beobachtet er das menschliche Herz, die Leidenschaften, Affecte u. s. w., nur daß er bei der Darstellung derselben einen längeren Weg zurückzulegen hat, bevor er ihnen eine künstlerische Gestalt verleihen kann.91 Deßhalb kann ich mich auch nicht mit den Bestimmungen des Verf.’s über Form und Inhalt einverstanden erklären. Der Inhalt der Tonkunst sind die Stimmungen der Seele.92 Dieß ist der für alle Tonkünstler in gleicher Weise vorhandene Stoff. Dieselbe Stimmung aber erhält durch verschiedene Künstler einen verschieden gestalteten, bald mehr bald weniger adäquaten Ausdruck. Das ist die Form. Dieser Proceß ist natürlich aber nicht so zu fassen, wie ihn der Verf. vorstellt, als ein Uebersetzen der Stimmung in die Sprache der Töne. Der ganze Vorgang ist ein überwiegend bewußtloser, die Tonreihen sind der unmit-[100]telbare, instinktmäßig, mit bald größerer, bald geringerer Naturnothwendigkeit gefundene Ausdruck dafür. Trennung von Form und Inhalt ist daher auch in der Tonkunst – natürlich nur für die Betrachtung – möglich. Im fertigen Kunstwerk freilich können Form und Inhalt nie geschieden werden. Dieß gilt aber im gleichen Grade auch von den übrigen Künsten, nicht allein von der Tonkunst. Der Verf. hebt nur die Verschiedenheit hervor, übersieht aber das Verwandte.93 Leichter, augenfälliger ist in den übrigen Künsten die Trennung von Form und Inhalt, der dichterische Stoff z. B. von seiner Einkleidung. Schwerer zu packen sind die Stimmungen der Seele, der noch unbearbeitete Stoff für die Tonkunst. Aus dieser Schwierigkeit der Erfassung aber folgt nicht das Nichtvorhandensein. Daß freilich der Verf. zu diesen uns durchaus unhaltbar erscheinenden Resultaten gelangt, geschieht für ihn ganz consequent, da er in dem Bestreben die bisher vernachlässigte, objective Seite hervorzuheben, von Haus aus die subjective allzusehr vernachlässigt hat. Ich habe mit etwas größerer Ausführlichkeit die vorliegende Schrift besprochen, weil in ihr auf eigenthümliche Weise Wahres und Irriges vermengt ist. Gegen manchen der angeführten Sätze wird jeder Musiker sogleich protestiren, und zwar mit vollem Recht. Dabei aber liegt die Gefahr nahe, daß das durchaus Begründete in den Ansichten des Verf.’s, das, was einen Fortschritt verspricht, zugleich mit verkannt wird. Es sind daher die verschiedenen Elemente sorgfältig zu scheiden. Die Aufgabe, die sich der Verf. stellt, muß auf ’s Neue in Angriff genommen werden, mit Bewahrung des richtigen Ausgangspunktes, aber mit Vermeidung der falschen Consequenzen.
Lieblingslüge der modernen Musikkritik […]. Sie [die 9. Symphonie] ist eine jener Wasserscheiden, die weithin sichtbar und unübersteiglich sich zwischen die Strömung entgegengesetzter Ueberzeugungen legen“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 50, Anm.). 91 Brendel bezieht sich möglicherweise auf folgende Stelle im sechsten Kapitel: „Dem Dichter sind diese Gestalten [Egmont, König Lear, Melusine usw.] wirkliches Vorbild, das er umbildet, dem Componisten bieten sie blos Anregung, und zwar poetische Anregung. Das Naturschöne für den Tondichter müßte ein Hörbares sein, wie es für den Maler ein Sichtbares, für den Bildhauer ein Greifbares ist“ (ebd., S. 92 f.). 92 Vgl. zu den seelischen Stimmungen durch Musik in Abgrenzung zum Affekt in den darstellenden Künsten schon Nägeli 1828 Vorlesungen über Musik, S. 29 f. 93 Vgl. dazu vorliegenden Artikel, Anm. 66.
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Statt sein Princip mit der Erfahrung in Einklang zu bringen, jenes durch diese zu ergänzen, zu entwickeln, diese durch jenes zu läutern und auf gedankliche Bestimmungen zurückzubringen, folgert er aus seinem einseitig erfaßten Princip gegen die Erfahrung, schlägt ihr ins Gesicht. Das ist der Grundirrthum in dem Verfahren des Verf.’s. Ich wiederhole daher noch einmal: Daß das musikalische Kunstwerk Nichts blos ausdrückt, Nichts blos bedeutet, sondern die Sache selbst ist, ist richtig. Irrig aber ist, daß wir darum nur Töne vor uns hätten, nur ein, wenn auch geistvolles Spiel mit denselben, so daß sich darin nur eine specifisch musikalische Thätigkeit ausprägte. Der Verf. übersieht, daß das gesammte Tonleben auf einem sehr reellen psychologischen Grunde ruht, daß ein bestimmter geistiger Gehalt den Tonverbindungen in der Weise immanent ist, daß die verschiedenartige Verwendung der Mittel des Ausdruckes der Geist selbst, eine bestimmte Gestaltung dieser bestimmte Geist ist.94 Indem ich so meine Auffassung der des Verf.’s gegenüber stellte, muß ich ausdrücklich betonen, daß ich weit entfernt bin von der Meinung, als ob durch meine Entgegnung die Sache ihre Lösung gefunden und zum Abschluß gekommen wäre. Auch meine Sätze sind nur annähernde Bestimmungen, vorarbeitende Andeutungen, bestimmt, in eine erschöpfendere Fassung auszumünden. Weiter können wir überhaupt zur Zeit nichts thun. Ich habe schon bemerkt, daß wir einander in die Hände arbeiten müssen. Nichts ist verwerflicher, als unbedingtes Absprechen, so sehr dies leider auf musikalischem Gebiet Mode geworden ist und – ich füge hinzu, so wenig auch unser Verf. an einzelnen Stellen davon frei ist. Bestimmtheit der Ansicht ist allerdings nothwendig, denn ohne eine solche ist nicht von der Stelle zu kommen. Aber man muß stets bereit sein, wohlmeinender Berichtigung und Ergänzung gegenüber, das, was sich als Irrthum herausstellt, sofort aufgeben zu können. Bewältigen konnte unser Verf. seine Aufgabe schon darum nicht, weil er der neueren und neuesten Richtung gegenüber zu viele Mißverständnisse mitbringt. Jetzt ist derselbe in der That unser Gegner. Hoffen und wünschen wir, daß eine Annäherung stattfinden möge. Fr. Br.
Kommentar Die von Eduard Hanslick im Jahr 1854 publizierte ästhetische Abhandlung Vom MusikalischSchönen rief neben einer Vielzahl zu erwartender Reaktionen in Musikzeitschriften vor allem auch im Bereich der Philosophie mehrere kritische Stellungnahmen hervor. Die NZfM
94 Vgl.
dazu vorliegenden Artikel, S. 805, Anm. 62.
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würdigte Hanslicks Traktat im Erscheinungsjahr zunächst lediglich mit einer vierzeiligen Ankündigung in der Rubrik „Literarische Notizen“95.
Eine verspätete Rezension? Dass der vorliegende Artikel Brendels erst 1855 erschien, scheint grundsätzlich nicht weiter bedeutend, da im selben Zeitraum die meisten der ersten umfangreichen Rezensionen veröffentlicht wurden.96 Dennoch blieb Hanslicks Schrift in der NZfM beispielsweise im Artikel „Musikalisch-Culturhistorisches aus Wien“97 vom November 1854 gänzlich unerwähnt. Doch während der Zeit, zu der eine Reaktion auf Hanslick zu erwarten gewesen wäre, beanspruchten zwei andere Gegenstände die Spalten der Leitartikel in der NZfM: zum einen eine fünfteilige Besprechung von Wagners Fliegendem Holländer von Liszt98 und zum anderen eine über sieben Nummern verteilte Rezension Richard Pohls99 von Brendels neuestem Buch Die Musik der Gegenwart und die Gesammtkunst der Zukunft (ED 1854). Die eigene Schrift betrachtete Brendel als wichtige Festsetzung des „Principiellen“ und „Allgemeinen“, als eine notwendige Grundlage, die die Richtung für die NZfM vorgebe, um darin dann auf das „Specielle“ eingehen zu können.100 Mit Blick auf Brendels eigene Vorgabe im Januar 1855, dass „die allzu große Schroffheit in der Polemik […] jetzt mehr und mehr verschwinden [werde]“101, fällt der betont sachliche Ton seiner Hanslick-Rezension auf, in der er zugunsten minutiöser Textarbeit auf polemische Gesten weitestgehend verzichtete. Die Destruktion einer allgemeinen, nur einen Schönheitsbegriff beanspruchenden Ästhetik, die Hanslick bereits durch den Titel seiner Schrift vornimmt, folgt – obgleich mit stark positivistischer, maßgeblich sich auf den Notentext beschränkender Tendenz – in ihrer grundsätzlich asemantischen Musikbetrachtung zum einen der Ästhetik Immanuel Kants102, zum anderen der Trennung der einzelnen Künste nach dem Lessing’schen Laokoon-Theorem103. Die Reduktion auf einen eigenständigen Schönheitsbegriff der Musik im von Hanslick vertretenen, nahezu absoluten Verständnis musste Brendels geschichtsphilosophischer Position104 folglich zwangsläufig widerstreben, insbesondere zu einer Zeit, da er – trotz kritischer Vorbehalte – die „erste Verwirklichung des Neuen auf dem Gebiete der Kunst durch R. Wagner“105
95 Anonym 1854 „Literarische Notizen“, S. 233. 96 Siehe dazu die tabellarische Übersicht am Ende des Kommentars. 97 Cs. 1854 Musikalisch-Culturhistorisches aus Wien. 98 Liszt 1854 Wagner’s Fliegender Holländer. 99 Pohl 1854 Betrachtungen über die Musik der Gegenwart, in: NdS 1 Nr. 68. 100 Siehe Brendel 1855 Anregungen. Unsere Aufgabe, S. 37. 101 Ebd., S. 38. 102 Kant beschreibt das Wohlgefallen, welches das Geschmacksurteil und somit den Schönheitsbegriff bestimmt, als „ohne alles Interesse“ sowie als „freies Spiel“ der Erkenntnis (Kant 1790 Kritik der Urteilskraft 1. Teil, § 2, in: Lehmann 1963 Kants Kritik der Urteilskraft, S. 69 f.), ein Begriff, dem insbesondere auch Nägeli entsprechende Bedeutung zuschreibt: „Spiel ist ihr Wesen [das der Musik]. An dem bedeutungsvollen Begriffe Spiel […] hätte man eigentlich schon längst ihre Theorie erfassen können und sollen“ (Nägeli 1826 Vorlesungen über Musik, S. 32). 103 Zum Zusammenhang von Lessings Laokoon und Hanslicks Traktat siehe auch den Kommentar zu Zimmermann 1855 Ambros, Ueber die Gränzen der Musik, in: NdS 2 Nr. 83. 104 Hanslicks ‚Gleichsetzung‘ von Form und Inhalt widerspricht auch Brendels Vorstellung „der Kunst als Einheit von einem geschichtlich wandelbaren Inhalt und einer ebenso geschichtlich wandelbaren Form“ (Determann 1989 Begriff und Ästhetik der Neudeutschen Schule, S. 158). 105 Kapitelüberschrift des vierten Abschnitts von Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 116 –129.
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umgesetzt sah und seine neueste eigene Schrift, welche die „Gesammtkunst“ bereits im Titel trägt, unlängst als „ausführlichere Rechtfertigung [s]einer Parteinahme für Wagner“ erklärt hatte.106 Dementsprechend reagierte Brendel auch auf Hanslicks Ausführungen: Das zweite, mit „die Gefühle sind nicht Inhalt der Musik“107 überschriebene Kapitel der Abhandlung Hanslicks schließt mit dem ‚Problem‘ Oper, in dem insbesondere Wagner herangezogen wird, nach dessen musikdramatischen Vorstellungen die Gattung schlicht „ein musikalisches Unding“108 sei. Auffällig ist, wie Brendel den kurzen Seitenhieb gegen Wagner aufgreift, um daran nicht nur Hanslicks Missverständnis gegenüber der ‚neuesten Richtung‘, sondern auch dessen mangelndes historisches Bewusstsein aufzuzeigen, obgleich die Oper in Hanslicks auf die Instrumentalmusik konzentrierter Schrift sonst kaum eine Rolle spielt.109
Sich gestaltender Geist vs. Seelenstimmung? Dem zumeist als Hauptaussage vielzitierten Satz Hanslicks: „Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik“110 setzt Brendel ein Pendant entgegen, das die Unterschiedlichkeit der beiden Positionen verdeutlichen soll: „Der Inhalt der Tonkunst sind die Stimmungen der Seele.“ Die Stimmung „erhält durch verschiedene Künstler einen verschieden gestalteten […] Ausdruck. Das ist die Form.“111 Bemerkenswert ähnlich klingt Hanslicks Aussage: „Die Formen, welche sich aus Tönen bilden, sind nicht leere, sondern erfüllte, nicht bloße Linienbegrenzung eines Vacuums, sondern sich von innen heraus gestaltender Geist.“112 Erst Carl Dahlhaus, der Hanslick und seine Schrift als erster nicht mehr „vorrangig als Antipoden R. Wagners“113 betrachtete, stellte diese Aussage zu Recht als die „zentrale These“114 Hanslicks heraus. Hanslicks verhältnismäßig einseitiges Streben nach einer reinen Ästhetik der Musik bezieht – intendiert oder nicht – in seiner Kritik gegen die Gefühlsästhetik gleichermaßen Stellung nicht bloß gegen die Programmmusik; durch seinen Ausschluss von Historizität, Psychologie und Physiologie reduziert er seinen Schönheitsbegriff auf drastische Weise, sodass Bernd Sponheuer gar von einem „Pyrrhussieg“ Hanslicks spricht.115 In diesem Sinne lässt sich auch Brendels Kritik verstehen, der – in dialektischer Denkweise – Hanslicks Vorgehen daher dankbar und als für den Fortschritt notwendig betrachtet. Dass die Positionen von Hanslick und Brendel nicht allzu weit voneinander entfernt sind, wurde durch eine
106 Ebd., S. 278. Als Brendels ‚offizielles‘ Bekenntnis zu Wagners Schriften und Werk gilt Brendel 1851 Einige Worte über Wagner, in: NdS 2 Nr. 83. 107 Kapitel 2: „Die Gefühle sind nicht Inhalt der Musik“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 12 – 31). 108 Ebd., S. 31. 109 Lediglich in einer Fußnote geht Hanslick auf Wagners Werke ein: „Aus seinem Princip, dem rücksichtslos dramatischen, muß Wagner gleichwohl den ‚Lohengrin‘ für sein bestes Werk erklären. Wir stellen den ‚Tannhäuser‘ unbedingt höher, in welchem der Componist den Standpunkt echt musikalischer Schönheit zwar noch nicht erklommen, aber Gottlob auch noch nicht überwunden hatte“ (ebd., S. 28 f., Anm.). 110 Ebd., S. 32. Ab der 3. Ausgabe lautet der Satz: „Der Inhalt der Musik sind tönend bewegte Formen“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, in: Strauß 1990 Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen 1, S. 75). 111 Vorliegender Artikel, S. 815 [99]. 112 Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 34. 113 Strauß 1990 Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen 2, S. 40. 114 Dahlhaus/Zimmermann 1984 Musik zur Sprache gebracht, S. 305. 115 Sponheuer 1980 Zur ästhetischen Dichotomie als Denkform, S. 30 f.
Brendel 1855 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen
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zunehmend parteipolitisch motivierte Instrumentalisierung von Hanslicks Traktat zuweilen überdeckt. Brendel selbst äußerte sich 1860 dahingehend positiv, dass die „in mehrfacher Hinsicht treffliche Schrift über ‚Das Musikalisch-Schöne‘ von E. Hanslick ihre Bedeutung [erhält], daß nämlich der Accent auf die technische Seite gelegt ist. Hanslick hat dies richtig erkannt, aber eben, weil er von der einzig wahren Einsicht ausgeht, daß außer den Tönen und unabhängig von denselben nichts frei darüber Schwebendes vorhanden ist, verleitet ihn dieselbe, den einseitigen Schluß zu ziehen, daß in der technischen Gestalt, im Formellen überhaupt, das Wesen der Tonkunst beruhe, ohne zu erkennen, daß die Form, die sinnlich rein tonliche Seite zugleich und in Einem auch unmittelbar Geist ist, und formirt gleichzeitig die ganze große geistige Hälfte der Tonkunst sich uns erschließt. Hier ist es demnach auch, wo sich, trotz der Uebereinstimmung im Princip, die Wege trennen.“116 Brendels Rezension erfuhr keinerlei Reaktion aus Wien. Doch einige von Brendels Kritikpunkten – beispielsweise der Vorwurf an Hanslick, Musik sei ein „Uebersetzen der Stimmung in die Sprache der Töne“117 – wurden auch von anderen moniert. Die kritischen Anmerkungen, auf die Hanslick in Form redigierter Auflagen implizit reagierte, entstammen vornehmlich dem philosophisch-naturwissenschaftlichen Bereich, was sich im Vorwort zur dritten Auflage (1865) widerspiegelt, wenn Hanslick sich für die – seiner Meinung nach – positive Aufnahme seiner Schrift bei Friedrich Theodor Vischer, David Friedrich Strauß, Hermann Lotze und Moritz Lazarus bedankt, denen er ab der vierten Auflage (1873) auch Hermann von Helmholtz hinzufügte; der mit Hanslick befreundete Philosoph Robert Zimmermann wäre hier zu ergänzen, ihm ist Vom Musikalisch-Schönen gewidmet. Aus dem Gebiet der Musikkritik ist es einzig Johann Christian Lobe, der, wenn auch abschätzig, in Vom Musikalisch-Schönen als „Beethoven-Augure“ erwähnt wird.118
Weitere zeitgenössische Reaktionen Die erste bedeutende Rezension von Hanslicks Traktat datiert vom November 1854 und entstammt der Feder Zimmermanns, der auch für das philosophische Grundgerüst von Vom Musikalisch-Schönen sowie für zentrale Veränderungen in den Folgeauflagen eine entscheidende Rolle spielte.119 Schon Anfang November 1854 erschien in der Niederrheinischen Musik-Zeitung ein sehr lobender Bericht, der, obgleich er kaum auf den Inhalt eingeht, Hanslicks Schrift in dankenswerter Weise als eine „Kriegserklärung gegen althergebrachte“120 Anschauungen bezeichnet. Die Neue Berliner Musikzeitung lobte den kurzen
1860 Vorstudien zur Aesthetik, S. 107 f. 117 Vorliegender Artikel, S. 815 [99]. Anmerkung findet sich erst ab der 3. Auflage 1865 (Hanslick 1854 Vom MusikalischSchönen, in: Strauß 1990 Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen 1, S. 89 f.). Lobe verfasste zwei Reaktionen auf Hanslicks Schrift, die erste, sehr umfangreiche, ist Lobe 1855 Gegen Dr. Hanslick, die zweite erfolgte kurz darauf in Form einer verbal unkommentierten Doppelfuge (Lobe 1855 Gegen Dr. Hanslick – in Noten). Grundsätzlich haben die Ansichten beider viele Gemeinsamkeiten, zentrale Unterschiede zeigen sich im allgemeinen Verständnis Lobes, Musik solle Vergnügen bereiten, was dem zweckfreien Schönheitsbegriff Hanslicks widerspricht (vgl. dazu Brandt 2002 Johann Christian Lobe, S. 289). 119 Siehe Hanslick-Schriften 1, 2, S. 400. Zu inhaltlichen Änderungen Hanslicks aufgrund von Zimmermanns Kritik siehe Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, in: Strauß 1990 Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen 2, S. 78 f. 120 –r– 1854 Wiener Briefe, S. 348. 116 Brendel 118 Diese
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Traktat pauschal als „eine Einleitung zur Ästhetik der Musik“.121 Dass Vom MusikalischSchönen auch außerhalb der NZfM als durch die Opposition zu Wagners Schriften motiviert verstanden wurde, zeigt eine ausführliche Rezension in den tendenziell konservativen Grenzboten, wonach „die Theorie des vorliegenden Buchs […] durch die Polemik gegen Wagner hervorgerufen [sei].“122 Während die Rheinische Musik-Zeitung im Januar 1855 ihre Leser darauf vorbereitete, „dass es [Vom Musikalisch-Schönen] enthusiastische Anhänger und wüthende Gegner in der deutschen Kritik finden und einen wichtigen Abschnitt in der Geschichte der Aesthetik dieser Kunst bilden dürfte“123, verfasste Ludwig Bischoff für die Niederrheinische Musik-Zeitung eine umfangreiche Besprechung, welche über drei Nummern hinweg – mit nur jeweils einem Tag Verschiebung – parallel zum vorliegenden Artikel Brendels publiziert wurde.124 Anders als Brendel, der den Schwerpunkt seiner Besprechung auf die ersten Kapitel von Hanslicks Schrift und das Verhältnis von Gefühl, Geist und Form legte, gibt Bischoff zunächst das letzte Kapitel wieder, um die „seit Jahren von uns vertretenen Grundsätze“125 und das Verhältnis von Form und Inhalt und damit vor allem die Inhaltslosigkeit der Musik zu betonen. Obgleich Hanslick bei Liszt keine Erwähnung findet, lassen sich Teile seines programmatischen Aufsatzes „Berlioz und seine Haroldsymphonie“ ebenfalls als implizite Rezeption des Traktats von Hanslick verstehen.126 Eine interessante Entwicklung, die Hanslicks Schrift ebenfalls initiierte, ist die von Brendel zwar nicht umgesetzte, aber ausgesprochene Motivation, sich dem Feld der Musikästhetik zu öffnen, um das Forschungsgebiet voranzutreiben: Nahezu mit jeder Neuauflage erschien mindestens eine umfangreiche Gegenschrift, die zuweilen auch vermittelnde Positionen einnahm, darunter von August Wilhelm Ambros, Die Gränzen der Musik und Poesie (ED 1856), welche sich dezidiert als Reaktion auf Vom Musikalisch-Schönen ausgibt.127 Ebenfalls bewusst an den Titel Hanslicks angelehnt, verfasste Adolph Kullak seine Schrift Das Musikalisch-Schöne (ED 1858).128 Ein Jahr nach Erscheinen der zweiten Auflage von 1858 publizierte Ferdinand Peter Laurencin eine Liszt gewidmete „Abwehr“ gegen Hanslicks Ästhetik, die bereits einen kleinen rezeptionsgeschichtlichen Überblick der für ihn wesentlichen Kritiken bietet, indem er „Ambros, Brendel, Carrière, Th. Vischer und A. Kullak“ als „die weitaus geistvollsten Schwertführer wider Dr. Hanslick’s Theoreme“129 anführt.130
1855 „Vom Musikalisch-Schönen“, S. 331. 122 Anonym 1855 Aesthetische Feldzüge, S. 204. 123 Anonym 1855 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, S. 15. 124 Bischoff 1855 Eduard Hanslick, in: NdS 2 Nr. 73. 125 Ebd., S. 49. 126 Siehe Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, in: NdS 2 Nr. 76; zur Hanslick-Rezeption Liszts siehe Altenburg 1980 Vom poetisch Schönen sowie dazu Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, in: Strauß 1990 Hanslicks Vom MusikalischSchönen 2, S. 49 – 52; James Deaville betont das Nichtvorhandensein von Quellen, geht aber ebenfalls von einem Zusammenhang zwischen Liszts Aufsatz und Hanslicks Schrift aus (Deaville 2013 Negotiating the ‚Absolute‘, S. 19). 127 Siehe dazu Zimmermann 1855 Ambros, Ueber die Gränzen der Musik, in: NdS 2, Nr. 83. 128 Kullak 1858 Das Musikalisch-Schöne; siehe dazu Kullak 1859 Ueber musikalische Aesthetik, in: NdS 3 Nr. 129. 129 Laurencin 1859 Vom Musikalisch-Schönen. Eine Abwehr, S. VIII. 130 Deaville verfolgt derartige Reaktionen über den hier relevanten Zeitraum hinaus (siehe Deaville 2013 Negotiating the ‚Absolute‘, S. 20 f.). 121 Lange
Brendel 1855 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen
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Gegnerschaft wider Willen? Schon im Dezember 1854 gab Peter Cornelius im Zusammenhang einer Preis-Symphonie eine Einschätzung der beiden bestehenden Parteien, die auf ein sehr frühes Bewusstsein von Hanslicks Text im Weimarer Kreis hindeutet: „Der einen [Partei] ist die Musik ein phantastisches Spiel in Tönen nach Regeln des Wohllautes und ästhetischen Gesetzen, die aus den specifisch-musikalischen Werken Haydn’s, Mozart’s und Beethoven’s, so weit er ihrer Spur folgte, abgeleitet sind“131, womit nach Gerhard Winkler „zweifellos Hanslick gemeint“132 sei. „Die andere Partei betrachtet die ihr von den großen Meistern überlieferte Musik als eine poetisch ausgebildete Sprache, in welcher sie sprechen, in welcher sie darstellen will; sie sieht in ihr eine geschaffene Welt, in der nun der Mensch, der poetische Gedanke wandeln soll.“133 Diese Charakterisierung der jeweiligen musikästhetischen Sichtweisen kann eine Vorahnung davon vermitteln, dass Hanslicks Schrift in Weimar und Leipzig in der Tat als „a powerful challenge to their aesthetic position“134 aufgefasst wurde. Die Verantwortung für die später oft geführten Anfeindungen gegenüber Hanslick135 lassen sich im Wesentlichen erst seit der hochpolemischen Auseinandersetzung um dessen negative Besprechung von Liszts Les Préludes136 und der abwertenden Doppel-Rezension von Wagners Tannhäuser festmachen.137 Erst darauf folgen Zusätze im jeweiligen Vorwort der zweiten und dritten Auflage von Vom Musikalisch-Schönen, in denen die Kompositionen von Wagner und Liszt zunehmend verunglimpft werden.138 Hanslicks Schrift bot laut Dietmar Strauß „die Basis für die schärfste ästhetische Auseinandersetzung des Jahrhunderts. Auch wenn es nicht intendiert war, als Kampfschrift gegen die Neudeutschen zu fungieren, wurde er – was vielleicht historisch bedeutsamer ist – von der Rezeption dazu gemacht.“139 In diesem Zusammenhang negiert Strauß140 mit Recht eine dezidiert gen Weimar gerichtete Intention Hanslicks. Vielmehr nutzte Brendel dessen absoluten Standpunkt dazu, „Hanslicks Schrift als die Hauptschrift der Gegenseite“ zu etablieren;141 eine Entwicklung, die in der Folge auf formalistischer Seite nicht selten als eine „Argumentationshilfe einer Zunft, die für sich bleiben wollte“142 herangezogen wurde und die Musikhistoriographie entscheidend mitprägte.
1854 Concertmusik, S. 258, in: NdS 2 Nr. 69, S. 770 f. 132 Winkler 2006 Der ‚bestimmte Ausdruck‘, S. 45. Diese Meinung vertritt auch Deaville 2013 Negotiating the ‚Absolute‘, S. 17. 133 Cornelius 1854 Concertmusik, S. 259, in: NdS 2 Nr. 69, S. 771. 134 Deaville 2013 Negotiating the ‚Absolute‘, S. 17. 135 Die relative Gleichgültigkeit, mit der Hanslick Brendel gegenüber agierte – es ist keine Reaktion auf Brendels Besprechung überliefert –, lässt sich durch eine frühere Bemerkung erahnen, wenn Hanslick in einem Bericht über die Konzertsaison 1854 erwähnt, dass Brendels Schrift Musik und Gegenwart „beiläufig gesagt [eine] Verwässerung der Richard Wagner’schen Grundsätze durch echt Brendel’sche Ignoranz und Geistlosigkeit“ sei (HanslickSchriften 1, 2, S. 337). 136 Hanslick 1857 Les Préludes, in: NdS 2 Nr. 104. 137 Hanslick 1857 Ein Vorwort zu R. Wagners „Tannhäuser“ sowie Hanslick 1857 „Tannhäuser“ von Richard Wagner. Zur Entwicklung der Kritik siehe auch Anonym 1858 „Lohengrin“ in Wien, in: NdS 3 Nr. 120. 138 Siehe Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, in: Strauß 1990 Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen 1, S. 10 f. 139 Hanslick-Schriften 1, 2, S. 401. 140 Vgl. Hanslick Schriften 1, 2, S. 391. 141 Strauß betrachtet den vorliegenden Artikel als Ausgangspunkt der Fehde: „Seiner [Brendels] Auffassung nach – und das zeigt auch seine Rezension von Hanslicks VMS [Vom Musikalisch-Schönen] (NZfM 1855), wonach Hanslicks Schrift als die Hauptschrift der Gegenseite etabliert war, – entwickelt sich in der Geschichte alles in immer größerer Ausdifferenzierung im Sinne des Fortschritts weiter“ (Hanslick-Schriften 1, 4, S. 421). 142 Geck 2001 Zwischen Romantik und Restauration, S. 184. 131 Cornelius
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Reaktionen auf Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen Autor
Titel
Jahr
Veröffentlichungsort
–r–
„Wiener Briefe”
1854
In: Niederrheinische Musik-Zeitung 2 (1854), Nr. 44 (4. November), S. 348 f.
Anonym
„[Literarische Notizen] Bei R. Weigen in
1854
In: NZfM 21 (1854), Bd. 41,
Leipzig ist eine Broschüre von E. Hanslick
Nr. 21 (17. November),
in Wien ‚Vom musikalisch Schönen‘
S. 231.
erschienen, welche in Wien viel Aufsehen gemacht hat. Der Inhalt ist theils ästhetischer, theils polemischer Art.” 1854
in: Österreichische Blätter für
Zimmermann,
„Zur Aesthetik der Tonkunst. Vom
Robert
Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur
Literatur und Kunst 2 (1854),
Revision der Aesthetik der Tonkunst. Von
Nr. 47 (20. November),
Dr. Eduard Hanslick. Leipzig. R. Weigel
S. 313 – 315.
1854” Cornelius, Peter „Concertmusik. Clavierauszüge zu vier
Anonym [11.]?
1854
in: NZfM 21 (1854), Bd. 41,
Händen. Richard Wüerst, Op. 21.
Nr. 24 (8. Dezember),
Preis-Symphonie in F-Dur […]”
S. 257 – 259.
„Besprechungen neu erschienener Werke:
1855
in: Rheinische Musik- Zeitung 6 (1855), Nr. 2
Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen”
(13. Januar), S. 15. Brendel, Franz
„Dr. Eduard Hanslick, Vom Musikalisch-
1855
Schönen”
in: NZfM 22 (1855), Bd. 42, Nr. 8 (16. Februar), S. 77 – 82; Nr. 9 (23. Februar), S. 89 – 91; Nr. 10 (2. März), S. 97 –100.
Bischoff,
„Eduard Hanslick”
1855
in: Niederrheinische Musik-Zeitung 3 (1855), Nr. 7
Ludwig
(17. Februar), S. 49 – 53; Nr. 8 (24. Februar), S. 57 – 60; Nr. 9 (3. März), S. 65 f.; Nr. 10 (10. März), S. 73 – 75. H.–L.
„[Literarische Anzeige] ‚Vom Musikalisch-
1855
in: Neue Wiener Musik-
Schönen‘. Ein Beitrag zur Revision der
Zeitung 4 (1855), Nr. 21
Aesthetik der Tonkunst […]”
(24. Mai), S. 81 f.
Lotze, Hermann [o. T. „Vom Musikalisch-Schönen“]
1855
in: Göttingische gelehrte Anzeigen (1855) Bd. 2, 106 –108 St. (5. Juli), S. 1049 –1068.
Brendel 1855 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen
823
Autor
Titel
Jahr
Veröffentlichungsort
J. H.
„Music the Exponent of Emotion”
1855
in: Dwight’s Journal (1855), (21. Juli), S. 123 f.
Lange, Otto
„[Musik-Literatur] Dr. Eduard Hanslick,
1855
In: Neue Berliner Musik-
Vom Musikalisch-Schönen. Ein Beitrag zur
zeitung 9 (1855), Nr. 42
Revision der Tonkunst. Leipzig, bei
(14. Oktober), S. 331.
R. Weigel. 1854.” Anonym
„Das Musikalisch-Schöne”
1856
in: Süddeutsche MusikZeitung 5 (1856), Nr. 29 (14. Juli), S. 113 –114.
Lazarus, Moritz
„Das Leben der Seele in Monographieen
1856
Berlin 1856.
über seine Erscheinung und Gesetze, Bd. 1” Anonym [Lobe]
„Gegen Dr. Eduard Hanlick’s
1857
in: Fliegende Blätter für Musik 2 (1857), Nr. 2,
‚Vom Musikalisch- Schönen‘”
S. 65 –106. Anonym [Lobe]
„Noch einmal gegen Dr. Hanslick – in
1857
in: Fliegende Blätter für Musik 2 (1857), Nr. 4.,
Noten”
S. 183 –189. Brendel, Franz
„Die Aesthetik der Tonkunst”
1857
in: NZfM 24 (1857), Bd. 46 (Jan-Juni 1857), S. 185 f.
Kullak, Adolf
„Über das musikalisch Schöne”
1857
in: Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft 2 (1857), S. 183 –188.
Elterlein, Ernst
„Die Aesthetik der Musik nach Vischer
1857
in: NZfM 24 (1857), Bd. 47,
von [Gottschald, und Köstlin. I.”
Nr. 20 (13. November),
Ernst]
S. 209 – 213.
Vischer,
„Ueber das Verhältnis von Inhalt und
Friedrich
Form in der Kunst”
1858
Zürich 1858.
1859
Leipzig 1859.
1859
Leipzig 1859.
Theodor von Laurencin,
„Dr. Eduard Hanslicks Lehre vom
Ferdinand Peter
Musikalisch-Schönen – Eine Abwehr”
Carrière, Moriz
„Aesthetik. Die Idee des Schönen und ihre Verwirklichung durch Natur, Geist und Kunst. Zweiter Theil”
Nr. 73 | Ludwig Bischoff, „Eduard Hanslick“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 3 (1855), Nr. 7 (17. Februar), S. 49 – 53; Nr. 8 (24. Februar), S. 57 – 60; Nr. 9 (3. März), S. 65 f.; Nr. 10 (10. März), S. 73 – 75.
Eduard Hanslick.
Wenn irgend etwas in unserer Zeit der Verwirrung der Gedanken über Musik noth thut, so ist es die Erkenntniss ihres wahren Wesens als selbstständige Kunst. Das Unkraut auf dem Felde der musicalischen Aesthetik hat in den letzten Jahren dermaassen gewuchert, dass es den gesunden Menschenverstand zu ersticken droht; ja, es muss dies letztere wohl schon bei einem Theile der Zeitgenossen, die sich um die Tonkunst bekümmern, gelungen sein, sonst wäre es unmöglich, dass ein Gewäsch, wie z. B. dasjenige, das der Artikel „Moderne Kritik“1 in unserer Nr. 5 zum Besten gegeben, noch irgend einen Leser fände. Die Verwirrung der Begriffe ist aber vorzüglich dadurch entstanden und wird täglich noch dadurch vergrössert, dass die Meisten von denen, die sich zur Schriftstellerei über Musik, Gott weiss, wodurch! berufen fühlen, entweder wissenschaftlich gebildete Denker und nicht zugleich Musiker, oder Musiker und nicht zugleich Männer der Wissenschaft sind, womit wir keineswegs eine dritte Classe läugnen wollen, welche diejenigen bilden, die weder Philosophen noch Musiker sind. Welche Classe von Wortführern das Wesen der Tonkunst mehr verkannt und den grösseren Schaden angerichtet habe, ist schwer zu entscheiden. So viel scheint uns jedoch ausgemacht, dass die wirklichen Philosophen, wenn sie auch nichts von Musik verstehen, wie z. B. Hegel, doch zum Denken über die Kunst anregen und gar manche Sätze aufstellen, welche theils positiv fördernd werden, theils negativ, d. h. durch Anregung zur Prüfung und Widerlegung derselben; dass aber die schriftstellernden Musiker mit ihrem Symbolisiren und schöngeistischen Raisonniren mehr Verwirrung anrichten als jene, sobald ihnen die zwei Grundlagen aller Erkenntniss menschlicher Dinge, das historische Wissen und das logische Denken, abgehen. Mit wahrer Freude reichen wir daher einem Manne die Hand, der in einer nicht umfang-, aber inhaltreichen Schrift das Wesen der Musik als einer selbstständigen Kunst zu ergründen sucht, und sich zu dieser Untersuchung sowohl durch musicalische Kenntnisse als durch wissenschaftlichen Sinn, logische Schärfe der GedankenEntwicklung und klare Darstellung als vollkommen berechtigt ausweis’t. Die Schrift heisst:
1 Anonym
1855 Moderne Kritik, in: NdS 2 Nr. 71.
Bischoff 1855 Eduard Hanslick
825
„Vom Musicalisch-Schönen. Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst. Von Dr. Ed. Hanslick. Leipzig, 1854, bei R. Weigel.“ Zwar ist sie in diesen Blättern bereits (in Nr. 44 des vor. Jahrgangs, v. 4. Nov.)2 von unserem Herrn Correspondenten in Wien sehr warm empfohlen worden; allein ihre Bedeutung ist viel zu gross und ihr Erscheinen für uns und die seit Jahren von uns vertretenen Grundsätze viel zu erfreulich, als dass wir ihr nicht eine wiederholte und ausführlichere Besprechung widmen sollten. Um aber die tüchtige Arbeit von vorn herein durch eine Probe ihres Geistes und ihrer Resultate sich selbst empfehlen zu lassen theilen wir zunächst das letzte Capitel derselben im Auszuge mit, und werden die weitere Entwicklung des Ideenganges des Verfassers daran knüpfen. „Hat die Musik einen Inhalt? So lautet, seit man gewohnt ist, über unsere Kunst nachzudenken, ihre hitzigste Streitfrage. Sie wurde für und wider entschieden. Gewichtige Stimmen behaupten die Inhaltlosigkeit der Musik, sie gehören beinahe durchaus den Philosophen: Rousseau, Kant, Hegel, Vischer, Kahlert u. A. Die ungleich zahlreicheren Kämpfer fechten für den Inhalt der Tonkunst; es sind die eigentlichen Musiker unter den Schriftstellern, und das Gros der allgemeinen Ueberzeugung steht zu ihnen. Fast mag es seltsam erscheinen, dass gerade diejenigen, welchen die technischen Bestimmungen der Musik vertraut sind, sich nicht von dem Irrthume einer diesen Bedingungen widersprechenden Ansicht lossagen mögen, die man eher dem abstracten Philosophen verzeihen könnte. Das kommt daher, weil es vielen MusikSchriftstellern in diesem Punkte mehr um die vermeintliche Ehre ihrer Kunst, als um die Wahrheit zu thun ist. Sie befehden die Lehre [50] von der Inhaltlosigkeit der Musik nicht wie Meinung gegen Meinung, sondern wie Ketzerei gegen Dogma. Die gegnerische Ansicht erscheint ihnen als unwürdiges Missverstehen, als grober, frevelnder Materialismus.3 Es handelt sich hier um keinen Ehrenpunkt, kein ParteiZeichen, sondern einfach um die Erkenntniss des Wahren, und zu dieser zu gelangen, muss man sich vor Allem über die Begriffe klar sein, die man bestreitet. Die Verwechslung der Begriffe Inhalt, Gegenstand, Stoff ist, was in dieser Materie so viel Unklarheit verursacht hat und noch immer veranlasst, da Jeder für denselben Begriff eine andere Bezeichnung gebraucht, oder mit dem gleichen Worte verschiedene Vorstellung verbindet. „Inhalt“ im ursprünglichen und eigentlichen Sinne ist, was ein Ding enthält, in sich hält. In dieser Bedeutung sind die Töne, aus welchen ein Musikstück besteht, welche als dessen Theile es zum Ganzen bilden, der Inhalt desselben. Dass sich mit dieser Antwort Niemand zufrieden stellen mag, sie als etwas ganz Selbstverständliches abfertigend, hat seinen Grund darin, dass man gemeiniglich „Inhalt“ mit „Gegenstand“ verwechselt. Bei der Frage nach dem „Inhalt“ der Musik hat man die Vorstellung von „Gegenstand“ (Stoff, Sujet) im Sinne, welchen man als die Idee, das Ideale den Tönen als „materiellen Bestandtheilen“ geradezu
1854 Wiener Briefe. 3 Folgenden Absatz hat Bischoff ausgelassen: „‚Wie, die Kunst, die uns hoch erhebt und begeistert, der so viele edle Geister ihr Leben gewidmet, die den höchsten Ideen dienstbar werden kann, sie sollte mit dem Fluch der Inhaltlosigkeit beladen sein, bloßes Spielwerk der Sinne, leeres Geklingel!?‘ Mit derlei vielgehörten Ausrufungen, wie sie meist koppelweise ausgelassen werden, obwohl ein Satz zum andern nicht gehört, wird nichts widerlegt noch bewiesen“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 95). 2 –r–
826
Nr. 73 (1855)
entgegensetzt. Einen Inhalt in dieser Bedeutung, einen Stoff im Sinne des behandelten Gegenstandes hat die Tonkunst in der That nicht. Kahlert stützt sich mit Recht nachdrücklich darauf, dass sich von der Musik nicht, wie vom Gemälde, eine „Wortbeschreibung“ liefern lässt (Aesth. 380)4, wenngleich seine weitere Annahme irrig ist, dass solche Wortbeschreibung jemals eine „Abhülfe für den fehlenden Kunstgenuss“ bieten kann. Aber eine erklärende Verständigung, um was es sich handelt, kann sie bieten. Die Frage nach dem „Was“ des musicalischen Inhalts müsste sich nothwendig in Worten beantworten lassen, wenn das Musikstück wirklich einen „Inhalt“ (einen Gegenstand) hätte. Denn ein „unbestimmter Inhalt“, den sich „Jedermann als etwas Anderes denken kann“, der sich „nur fühlen“, „nicht in Worten wiedergeben lässt“, ist eben kein Inhalt in der genannten Bedeutung. Die Musik besteht aus Tonreihen, Tonformen; diese haben keinen anderen Inhalt, als sich selbst. Wir erinnern abermals an die Baukunst und den Tanz, die uns gleichfalls schöne Verhältnisse ohne bestimmten Inhalt entgegenbringen. Mag nun die Wirkung eines Tonstückes Jeder nach seiner Individualität anschlagen und benennen, der Inhalt desselben ist keiner, als eben die gehörten Tonformen; denn die Musik spricht nicht bloss durch Töne, sie spricht auch nur Töne. – –5 Es bedarf wohl nicht der ausdrücklichen Berufung auf den früher begründeten Satz, dass, wenn vom Inhalt und von der Darstellungsfähigkeit der „Tonkunst“ die Rede ist, nur von der reinen Instrumental-Musik ausgegangen werden darf. Niemand wird dies so weit vergessen, uns z. B. den Orestes in Gluck’s „Iphigenia“6 einzuwenden. Diesen „Orestes“ gibt ja nicht der Componist; die Worte des Dichters, Gestalt und Mimik des Darstellers, Costume und Decorationen des Malers – dies ist’s, was den Orestes fertig hinstellt. Was der Musiker hinzugibt, ist vielleicht das Schönste von Allem; aber es ist gerade das Einzige, was nichts mit dem wirklichen Orest zu schaffen hat: Gesang. Lessing hat mit wunderbarer Klarheit aus einander gesetzt, was der Dichter und was der bildende Künstler aus der Geschichte des Laokoon zu machen vermag. Der Dichter, durch das Mittel der Sprache, gibt den historischen, individuel[l] bestimmten Laokoon, der Maler und Bildhauer hingegen einen Greis mit zwei Knaben (von diesem bestimmten Alter, Aussehen, Costume u. s. f.), von den furchtbaren Schlangen umwunden, in Mienen, Stellung und Geberden die Qual des nahenden Todes ausdrückend. Vom Musiker sagt Lessing nichts.7 Ganz begreiflich; denn nichts ist es
4 An entsprechender Stelle heißt es bei Kahlert: „Auch der Tonkünstler, der in Tönen nicht nur redet, sondern dichtet, läßt seine mathematischen Grundzüge nicht mehr wahrnehmen. Erst die Kritik findet sie durch den Schlüssel der Abstraction geleitet heraus. […] So läßt sich selbst von einem Gemälde, einer Statue eine Wortbeschreibung liefern, die bei einem Musikstücke auch dem besten Theoretiker nur eine klägliche, oder gar keine Abhülfe für den fehlenden Kunstgenuß sein wird“ (Kahlert 1846 System der Aesthetik, S. 380). 5 Bischof lässt an dieser Stelle einen längeren Abschnitt aus: „Krüger, der geist- und kenntnißreichste Verfechter […] wenn man schon das Tonstück etwas will bedeuten lassen“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 96 – 98). 6 Christoph Willibald Gluck, Iphigénie en Tauride (UA 1779). 7 Bei Lessing heißt es: „Die einzeln Töne in der Musik sind keine Zeichen, sie bedeuten nichts und drucken nichts aus; sondern ihre Zeichen sind die Folgen der Töne, welche Leidenschaft erregen und bedeuten können“ (Lessing 1766 Laokoon, Paralipomena, 27, S. 314).
Bischoff 1855 Eduard Hanslick
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eben, was er aus dem Laokoon machen kann. Wir haben bereits angedeutet, wie enge die Frage nach dem Inhalt der Tonkunst mit deren Stellung zum Naturschönen zusammenhängt. Der Musiker findet nicht das Vorbild für seine Kunst, welches den anderen Künsten die Bestimmtheit und Erkennbarkeit ihres Inhalts gewährleistet. Eine Kunst, der das vorbildende Naturschöne abgeht, wird im eigentlichen Sinne körperlos sein. Das Urbild ihrer Erscheinungsform begegnet uns nirgend, fehlt daher in dem Kreise unserer gesammelten Begriffe. Es wiederholt keinen bereits bekannten, benannten Gegenstand, darum hat es für unser in bestimmte Begriffe gefasstes Denken keinen nennbaren Inhalt. Vom Inhalt eines Kunstwerkes kann eigentlich nur da die Rede sein, wo man diesen Inhalt einer Form entgegenhält. Die Begriffe „Inhalt“ und „Form“ bedingen und ergänzen einander. Wo nicht eine Form von einem Inhalt dem Denken trennbar erscheint, da existirt auch kein selbstständiger Inhalt. In der Musik aber sehen wir Inhalt und Form, Stoff und Gestaltung, Bild und Idee in dunkler, untrennbarer Einheit verschmolzen. Dieser Eigenthümlichkeit der Tonkunst, Form und Inhalt ungetrennt zu besitzen, [51] stehen die dichtenden und bildenden Künste schroff gegenüber, welche denselben Gedanken, dasselbe Ereigniss in verschiedener Form darstellen können. Aus der Geschichte des Wilhelm Tell machte Florian einen historischen Roman8, Schiller ein Drama9, Göthe begann, sie als Epos10 zu bearbeiten. Der Inhalt ist überall derselbe, in Prosa aufzulösende, erzählbare, erkennbare; die Form verschieden. Die dem Meere entsteigende Aphrodite ist der gleiche Inhalt unzähliger gemalter und gemeisselter Kunstwerke, die durch die verschiedene Form nicht zu verwechseln sind. Bei der Tonkunst gibt es keinen Inhalt gegenüber der Form, weil sie keine Form hat ausserhalb des Inhalts. Betrachten wir dies näher. Die selbstständige, ästhetisch nicht weiter theilbare, musicalische Gedanken-Einheit ist in jeder Composition das Thema. Die primitiven Bestimmungen, die man der Musik als solcher zuschreibt, müssen sich immer am Thema, dem musicalischen Mikrokosmus, nachweisbar finden. Hören wir irgend ein Haupt-Thema, z. B. zu Beethoven’s B-dur-Sinfonie11. Was ist dessen Inhalt? was seine Form? Wo fängt diese an? wo hört jene auf? Dass ein bestimmtes Gefühl nicht Inhalt des Satzes sei, hoffen wir dargethan zu haben, und wird in diesem, wie in jedem anderen concreten Falle nur immer einleuchtender erscheinen. Was also will man den Inhalt nennen? Die Töne selbst? Gewiss; allein sie sind eben schon geformt. Was die Form? Wieder die Töne selbst – sie aber sind schon erfüllte Form. Jeder praktische Versuch, in einem Thema Form von Inhalt trennen zu wollen, führt auf Widerspruch oder Willkür. Zum Beispiel: Wechselt ein Motiv, das von einem anderen Instrumente oder einer höheren Octave wiederholt wird, seinen Inhalt oder seine Form? Behauptet man, wie zumeist geschieht, das Letztere, so
Claris de Florian, Guillaume Tell, ou la Suisse libre (ED 1801). 9 Friedrich von Schiller, Wilhelm Tell (UA 1804). 10 In einem Brief vom 14. Oktober 1797 aus Stäfa in der Schweiz schrieb Goethe an Schiller: „Ich bin fast überzeugt daß die Fabel vom Tell sich werde episch behandeln lassen, und es würde dabei, wenn es mir, wie ich vorhabe, gelingt, der sonderbare Fall eintreten daß das Märchen durch die Poesie erst zu seiner vollkommenen Wahrheit gelangte“ (Goethe-Werke 31, S. 439). 11 Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr. 4 B-Dur op. 60 (UA 1807). 8 Jean-Pierre
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bliebe als Inhalt des Motivs bloss die Intervallen-Reihe als solche, als Schema der Notenköpfe, wie sie in der Partitur dem Auge sich darstellt. Dies ist aber keine musicalische Bestimmtheit, sondern ein Abstractum. Es verhält sich damit, wie mit den gefärbten Glasfenstern eines Pavillons, durch welche man dieselbe Gegend roth, blau, gelb erblicken kann. Diese ändert hiedurch weder ihren Inhalt, noch ihre Form, sondern lediglich die Färbung. Solch zahlloser Farbenwechsel derselben Formen vom grellsten Contrast bis zur feinsten Schattirung ist der Musik ganz eigenthümlich und macht eine der reichsten und ausgebildetsten Seiten ihrer Wirksamkeit aus. Eine für Clavier entworfene Melodie, die ein Zweiter später instrumentirt, bekommt durch ihn allenfalls eine neue Form, aber nicht erst Form; sie ist schon geformter Gedanke. Noch weniger wird man behaupten wollen, ein Thema ändere durch Transposition seinen Inhalt und behalte die Form, da sich bei dieser Ansicht die Widersprüche verdoppeln und der Hörer augenblicklich erwidern muss, er erkenne einen ihm bekannten Inhalt, nur „klinge er verändert“. Bei ganzen Compositionen, namentlich grösserer Ausdehnung, pflegt man freilich von deren Form und Inhalt zu sprechen. Dann gebraucht man aber diese Begriffe nicht in ihrem ursprünglich logischen Sinne, sondern schon einer specifisch musicalischen Bedeutung. Die „Form“ einer Sinfonie, Ouverture, Sonate nennt man die Architektonik der verbundenen Einzelheiten und Gruppen, aus welchen das Tonstück besteht; näher also: die Symmetrie dieser Theile in ihrer Reihenfolge, Contrastirung, Wiederkehr und Durchführung. Als den Inhalt begreift man aber dann die zu solcher Architektonik verarbeiteten Themen. Hier ist also von einem Inhalt als „Gegenstand“ keine Rede mehr, sondern lediglich von einem musicalischen. Bei ganzen Tonstücken wird daher „Inhalt“ und „Form“ in einer künstlerisch angewandten, nicht in der rein logischen Bedeutung gebraucht; wollen wir diese an den Begriff der Musik legen, so müssen wir nicht an einem ganzen, daher zusammengesetzten Kunstwerke operiren, sondern an dessen letztem, ästhetisch nicht weiter theilbarem Kern. Dies ist das Thema, oder die Themen. Bei diesen lässt sich in gar keinem Sinne Form und Inhalt trennen. Will man Jemandem den „Inhalt“ eines Motivs namhaft machen, so muss man ihm das Motiv selbst vorspielen. So kann also der Inhalt eines Tonwerkes niemals gegenständlich, sondern nur musicalisch aufgefasst werden, nämlich als das in jedem Musikstücke concret Erklingende. Nachdem die Composition formellen Schönheits-Gesetzen folgt, so improvisirt sich ihr Verlauf nicht in willkürlich planlosem Schweifen, sondern entwickelt sich in organisch übersichtlicher Allmählichkeit wie reiche Blüthen aus Einer Knospe. Dies ist das Haupt-Thema – der wahre Stoff und Inhalt des ganzen Tongebildes. Alles darin ist Folge und Wirkung des Thema’s, durch es bedingt und gestaltet, von ihm beherrscht und erfüllt. Es ist das selbstständige Axiom, das zwar augenblicklich befriedigt, aber von unserem Geiste bestritten und entwickelt gesehen werden will, was denn in der musicalischen Durchführung, analog einer logischen Entwicklung, Statt findet. Wie die Haupt-Figur eines Romans bringt der Componist das Thema in die verschiedensten Lagen und Umgebungen, in die wechselndsten Erfolge [52] und Stimmungen – alles Andere, wenn noch so contrastirend, ist in Bezug darauf gedacht und gestaltet. Inhaltlos werden wir demnach etwa jenes freieste Präludiren nennen, bei welchem der Spieler, mehr ausruhend als schaffend, sich bloss in Accorden, Arpeggio’s, Rosalien
Bischoff 1855 Eduard Hanslick
829
ergeht, ohne eine selbstständige Tongestalt bestimmt hervortreten zu lassen. Solche freie Präludien werden als Individuen nicht erkennbar oder unterscheidbar sein; wir werden sagen dürfen, sie haben (im weiteren Sinne) keinen Inhalt, weil kein Thema. Das Thema eines Tonstückes ist also sein wesentlicher Inhalt. In Aesthetik und Kritik wird auf das Haupt-Thema einer Composition lange nicht das gehörige Gewicht gelegt. Das Thema allein offenbart schon den Geist, der das ganze Werk geschaffen. Wenn ein Beethoven die Ouverture zur „Leonore“12 so anfängt, oder ein Mendelssohn die Ouverture zur „Fingalshöhle“13 so – da muss jeder Musiker, ohne von der weiteren Durchführung noch eine Note zu wissen, erkennen, vor welchem Palast er steht. Klingt uns aber ein Thema entgegen, wie das zur Faust-Ouverture14 von Donizetti, oder „Louise Miller“15 von Verdi, so bedarf es ebenfalls keines Eindringens in das Innere, um uns zu überzeugen, dass wir in der Kneipe sind. In Deutschland legt Theorie und Praxis einen überwiegenden Werth auf die musicalische Durchführung gegenüber dem thematischen Gehalt. Was aber nicht (offenkundig oder versteckt) im Thema ruht, kann später nicht organisch entwickelt werden, und weniger vielleicht in der Kunst der Entwicklung, als in der symphonischen Kraft und Fruchtbarkeit der Themen liegt es, dass unsere Zeit keine Beethoven’schen Orchesterwerke mehr aufweis’t. In fleissiger Verwendung des Geringen kann sich ein kluger Hausvater erproben; ein Fürst muss mit vollen Händen schenken. Es ist auch von der blossen Durchfuhr in der Musik eben so wenig Jemand reich geworden, als in der National-Oekonomie. Bei der Frage nach dem Inhalt der Tonkunst muss man sich insbesondere hüten, das Wort in lobender Bedeutung zu nehmen. Daraus, dass die Musik keinen Inhalt (Gegenstand) hat, folgt nicht, dass sie des Gehaltes entbehre. „Geistigen Gehalt“ meinen offenbar diejenigen, welche mit dem Eifer einer Partei für den „Inhalt“ der Musik fechten. Mag man den „Gehalt“ nun mit Göthe (45, 419) als „etwas Mystisches ausser und über dem Gegenstande und Inhalt“16 eines Dinges begreifen oder, dem allgemeinen Verstande gemässer, als die substantiel werthvolle Grundlage, das geistige Substrat überhaupt, immer wird man ihn der Tonkunst zuerkennen und in ihren höchsten Gebilden als gewaltige Offenbarung bewundern müssen. Die Musik ist ein Spiel, aber keine Spielerei. Gedanken und Gefühle rinnen wie Blut in den Adern des ebenmässig schönen Tonkörpers; sie sind nicht er, sind auch nicht sichtbar, aber sie beleben ihn. Der Componist dichtet und denkt. Nur dichtet und denkt er, entrückt aller gegenständlichen Realität, in Tönen. Muss doch diese Trivialität hier ausdrücklich wiederholt sein, weil sie selbst von denjenigen, die sie principiel
Leonoren-Ouvertüre Nr. 3 C-Dur op. 72 (UA 1806). 13 Felix Mendelssohn Bartholdy, Ouvertüre Die Hebriden oder Die Fingals-Höhle h-Moll op. 26 (UA 1832). 14 Gaetano Donizetti Ouvertüre zu Fausta (UA 1832). 15 Giuseppe Verdi, Luisa Miller (UA 1849). 16 Wahrscheinlich stammt der Zitatnachweis „Göthe (45, 419)“ von Krüger 1847 Beiträge für Leben und Wissenschaft der Tonkunst, S. 128. Hanslick hat die Stelle ab der 6. Auflage (1881) gestrichen (vgl. Strauß 1990 Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen 1, S. 169 sowie ebd., Bd. 2, S. 58). Band 45 von Goethe’s Werke. Vollständige Ausgabe letzter Hand, Stuttgart und Tübingen 1833 weist auf S. 419 eine tabellarische Falteinlage auf, welche die Kategorien Naturell, Stoff, Gehalt, Behandlung, Form und Effekt „um dergleichen Production anschaulich zu machen“; gemeint sind zeitgenössische literarische Werke, die Goethe häufig zur Beurteilung übersandt wurden. 12 Beethoven,
830
Nr. 73 (1855)
anerkennen, in den Consequenzen allzu häufig verläugnet und verletzt wird. Sie denken sich das Componiren als Uebersetzung eines gedachten Stoffes in Töne, während doch die Töne selbst die unübersetzbare Ursprache sind. Daraus, dass der Tondichter gezwungen ist, in Tönen zu denken, folgt ja schon die Inhaltlosigkeit der Tonkunst, indem jeder begriffliche Inhalt in Worten müsste gedacht werden können. So strenge wir bei der Untersuchung des Inhalts alle Musik über gegebene Texte, als dem reinen Begriffe der Tonkunst widersprechend, ausschliessen mussten, so unentbehrlich sind die Meisterwerke der Vocal-Musik bei der Würdigung des Gehaltes der Tonkunst. Vom einfachen Liede bis zur gestaltenreichen Oper und der altehrwürdigen Gottesfeier durch Kirchenmusik hat die Tonkunst nie aufgehört, die theuersten und wichtigsten Bewegungen des Menschengeistes zu theilen und zu verherrlichen. Nebst der Vindication des geistigen Gehaltes muss noch eine zweite Consequenz nachdrücklich hervorgehoben werden. Die gegenstandlose Formschönheit der Musik hindert sie nicht, ihren Schöpfungen Individualität aufprägen zu können. Die Art der künstlerischen Verarbeitung, so wie die Erfindung gerade dieses Thema’s ist in jedem Falle eine so einzige, dass sie niemals in einer höheren Allgemeinheit zerfliessen kann, sondern als Individuum dasteht. Ein Motiv von Mozart oder Beethoven ruht so fest und unvermischbar auf eigenen Füssen, wie ein Vers Göthe’s, ein Ausspruch Lessing’s, eine Statue Thorwaldsen’s17, ein Bild Overbeck’s18. Die selbstständigen musicalischen Gedanken (Themen) haben die Sicherheit eines Citats und die Anschaulichkeit eines Gemäldes; sie sind individuel, persönlich, ewig. – –19 Gegenüber dem Vorwurf der Inhaltlosigkeit also hat die Musik Inhalt, allein musicalischen, welcher ein nicht geringerer Funke des göttlichen Feuers ist, als das Schöne jeder anderen Kunst. Nur dadurch aber, dass man jeden anderen „Inhalt“ der Tonkunst unerbittlich negirt, rettet [53] man deren „Gehalt“. Denn aus dem unbestimmten Gefühle, worauf sich jener Inhalt im besten Falle zurückführt, ist ihr eine geistige Bedeutung nicht abzuleiten, wohl aber aus der bestimmten Tongestaltung, als der freien Schöpfung des Geistes aus geistfähigem, begrifflosem Material. Dieser geistige Gehalt verbindet nun auch im Gemüthe des Hörers das Schöne der Tonkunst mit allen anderen grossen und schönen Ideen. Ihm wirkt die Musik nicht bloss und absolut durch ihre eigenste Schönheit, sondern zugleich als tönendes Abbild der grossen Bewegungen im Weltall. Durch tiefe und geheime Naturbeziehungen steigert sich die Bedeutung der Töne hoch über sie selbst hinaus und lässt uns in dem Werke menschlichen Talents immer zugleich das Unendliche fühlen. Da die Elemente der Musik: Schall, Ton, Rhythmus, Stärke, Schwäche, im ganzen Universum sich finden, so findet der Mensch wieder in der Musik das ganze Universum.“20 [57] Wir haben durch den Abdruck des letzten Abschnittes von Hanslick’s Büchlein (in der vor. Nummer) den Leser sogleich in medias res, oder eigentlich in ultimas, hineingeführt. Man könnte es sonderbar finden, mit dem Ende anzufangen; 17 Bertel
Thorwaldsen (1770 –1844), dänischer Bildhauer, sein Schaffen steht im Zeichen des Klassizismus. 18 Friedrich Overbeck (1789 –1869), deutscher Maler, Graphiker und Kupferstecher, Mitglied der Lukasbrüder (Nazarener). 19 Auslassung: „Wenn wir daher schon Hegel’s Ansicht […] haben wir im 3. Kapitel berührt“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 103 f.). 20 Ende der Wiedergabe und Schluss des 7. Kapitels von Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen.
Bischoff 1855 Eduard Hanslick
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unsere Absicht aber war, eines der schlagendsten Resultate der ganzen Untersuchung des scharfsinnigen Verfassers sogleich mitzutheilen, um dadurch zu zeigen, was man bei ihm zu erwarten habe. Auch läugnen wir nicht, dass die Befriedigung, dasjenige, was wir seit Beginn der Herausgabe unserer ehemals Rheinischen, jetzt Niederrheinischen Musik-Zeitung21 so oft deutlich, wiewohl aphoristisch, ausgesprochen und an zerstreuten Stellen angedeutet haben, hier in ein System gebracht und durch eine logische Entwicklung festgestellt zu sehen, mit dazu beigetragen hat, den Inhalt gerade dieses letzten Capitels zunächst mitzutheilen. Schon im I. Jahrgange 1850 der Rhein. Musik-Zeitung sagten wir in dem Aufsatze über J. Haydn’s Musik (S. 242): „Einer wahren künstlerischen Natur, wie Haydn, erscheint Alles musicalisch; seine Empfindung ist Musik, er denkt nicht Philosophie, nicht Aesthetik, nicht Geschichte, nicht Romantik u. s. w., er denkt Musik – seine Anschauungen und Vorstellungen sind Musik – – er hört in sich keine andere Sprache als Musik, und so redet er denn auch keine andere – darin ist er Original-Schriftsteller, während Andere die musicalische Sprache zu reden vermeinen, wenn sie in diese zu übersetzen versuchen, was sie in der gewöhnlichen Sprache gedacht haben.“22 (Vgl. Hanslick in der vor. Nr., S. 52, Sp. 2.)23 Dasselbe Thema behandelte in Nr. 46 (vom 17. Mai 1851) der Artikel „Plastische Musik“, in welchem die „lächerlichen Prätentionen der neueren Componisten, die uns zumuthen, durch ihre Musik die speciellen Vorstellungen in uns hervorzurufen, welche sie durch Ueberschriften u. dgl. bezeichnen“24, so wie die Programme zu Musikstücken verspottet werden, „bei denen man sich einstweilen noch des alltäglichen Mittels der Vermittlung der Ideen zwischen den Menschen bedient, bis völlig ausgebildete musicalische Formen und Phrasen für ‚jede Gegenständlichkeit‘ von Bischoff gegründete Rheinische Musik-Zeitung für Kunstfreunde und Künstler bestand von 1850 bis 1859, er stand ihr bis 1853 als Chefredakteur vor. Im Jahr seines Weggangs gründete Bischoff die Niederrheinische Musik-Zeitung, die bis kurz nach seinem Tod 1867 existierte. 22 Der Wortlaut im Original unterscheidet sich wie folgt: „Einer so vollendeten künstlerischen Natur, wie Joseph Haydn’s, erscheint alles musikalisch: seine eigene Empfindung ist Musik, er denkt nicht Philosophie, nicht Aesthetik, nicht Geschichte, nicht Romantik u. s. w., er denkt Musik, seine Anschauungen und Vorstellungen sind Musik und müssen sich aus innerer Nothwendigkeit eine musikalische Form schaffen. Die ganze Natur erscheint ihm als Musik, er hört in sich keine andere Sprache als Musik, und so ist es denn auch ganz natürlich, dass er keine andere redet. Aber in dieser strömt es ihm vom Munde, in dieser ist er Originalschriftsteller, während hundert Andere ihre gewöhnliche Landessprache und selbst den Dialekt der Heimath nicht vergessen können und die musikalische Sprache zu reden vermeinen, wenn sie in diese zu übersetzen versuchen, was sie in jener gedacht“ (Anonym 1850 Joseph Haydn’s Musik, S. 242). 23 „Eine Aesthetik der Tonkunst müßte es daher zu ihren wichtigsten Aufgaben zählen, die Grundverschiedenheit zwischen dem Wesen der Musik und dem der Sprache unerbittlich darzulegen und in allen Folgerungen das Prinzip festzuhalten, daß wo es sich um Specifisch-Musikalisches handelt, die Analogien mit der Sprache jede Anwendung verlieren“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 51 f.). 24 Im Original lautet der Abschnitt: „Hier erscheint die plastische Absicht des Herrn Compositeur’s freilich einem Jeden lächerlich, weil sie eine Carricatur geworden ist: aber die Prätention des Mannes ist doch nur vollkommen dieselbe, welche namhafte Componisten der Neuzeit ebenfalls haben, wenn sie uns zumuthen, durch ihre Musik die oft ganz speciellen Anschauungen in unserm Geiste hervorzurufen, welche sie durch Ueberschriften und dergl. bezeichnen“ (Anonym 1851 Plastische Musik, S. 365, in: NdS 1 Nr. 24, S. 250). 21 Die
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erfunden sind“ – und wo es unter Anderem heisst: „Es klingt in Worten ganz prächtig, dass der Componist bei seinen Schöpfungen etwas Höheres (?) denken müsse, als Musik, dass er aus der Subjectivität in die Objectivität treten müsse, damit die Musik die Elemente der Zeit, die weltbewegenden Ideen der gegenwärtigen Menschheit in sich aufnehme und darstelle. Schade nur, dass Töne keine Worte sind und der Schlüssel noch nicht gefunden, die Hieroglyphen der Notenschrift durch den Klang der Instrumente urplötzlich in das Alphabet der Muttersprache der Zuhörer zu verwandeln.“25 Man vergleiche ferner das Programm zu dem III. Jahrgange in Nr. 1 vom 3. Juli 185226, die humoristische Polemik in den Artikeln „Stoppellese“27 gegen die AfterPhilosophen, die Aufsätze über „Kunst und Kunststil“ (Niederrheinische Musik-Ztg., I. Jahrg., Nr. 9 v. 27. Aug. 1853)28 bei Gelegenheit von A. Helfferich’s Schrift29 u. s. w. – überall wird auf den einzig möglichen Inhalt der Musik, nämlich den musicalischen, hingewiesen, was denn in dem Programm zum II. Jahrgange der Niederrh. Musik-Ztg., unter der Ueberschrift „Nichts Neues“, in Nr. 1 v. 7. Januar 1854 auch mit dürren Worten ausgesprochen wird: „Wollt ihr wissen, was der wahre Inhalt der Musik ist? Die Melodie ist es, der musicalische Gedanke, das Thema; und ein denkender Tonkünstler ist nicht der, der einen Inhalt ausserhalb der Musik sucht, sondern der in der Sphäre der Musik bleibt, nur Musik denkt und den Verstand nur gebraucht, die Thema’s, die ihm aus der Seele gequollen, als musicalische Gedanken durch diejenigen Mittel zu entwickeln, welche ihm seine Kunst und sein Wissen in dieser darbieten.“30 Wir brauchen wohl kaum hinzuzufügen, dass Niemand glauben möge, wir wollten durch diese Anführungen dem Dr. Hanslick etwa beweisen, dass er nichts Neues gesagt [58] habe. Es kann kein Mensch ein abgesagterer Feind jenes Schlagwortes der heutigen Kritik in allen Kunstfächern: „Das ist zwar nicht neu, aber –“ u. s. w. sein, als wir selbst. Es ist mit dem wirklich Neuen in geistigen Dingen überhaupt eine eigene Sache, und Ben Akiba’s: „Das alles war schon einmal da!“31 enthält eine gewisse Wahrheit, wenngleich ebenfalls keine neue. Auf das eigentliche Wesen der Sache trifft Göthe, wenn er sagt: „Alles Gescheidte ist schon gedacht worden; man muss nur versuchen, es noch einmal zu denken.“32 Ferner ist es auch viel leichter, den Irrthum zu erkennen, als die Wahrheit zu finden; mit jenem wird man wohl fertig, aber dadurch hat man noch lange nicht das Wahre an dessen Stelle gesetzt, vollends nicht in der Gestalt, dass Alle davon überzeugt werden. 25 Im
Original lautet der Absatz: „Einer dieser Lehrsätze ist, dass es endlich an der Zeit sei, dass die Instrumentalmusik einen tiefern Gehalt ausspreche, als Töne, dass der Componist bei seinen Schöpfungen etwas Höheres denken müsse als Musik, dass er aus der Subjektivität heraustreten und objektiv werden, dass die Instrumentalmusik plastisch wirken und die Elemente der Zeit in sich aufnehmen, die weltbewegenden Ideen der gegenwärtigen Menschheit in Tongestaltungen zur Darstellung bringen müsse. Das klingt in Worten ganz prächtig: schade nur, dass Töne keine Worte sind, und der Schlüssel noch nicht gefunden, die Hieroglyphen der Notenschrift durch den Klang der Instrumente urplötzlich in das Alphabet der jedesmaligen Muttersprache der Zuhörer zu verwandeln“ (ebd., S. 248 [363]). 26 Bischoff 1852 An unsere Leser, in: NdS 1 Nr. 32. 27 K. 1853 Stoppellese. 28 Anonym 1853 Kunst und Kunststil, in: NdS 1 Nr. 47. 29 Helfferich 1853 Kunst und Kunststyl. 30 Das Zitat ist aus verschiedenen Aussagen des Artikels zusammengesetzt (Bischoff 1854 Nichts Neues). 31 Akiba ben Joseph (um 50 –135/36), Rabbiner und jüdischer Schriftgelehrter, der bezüglich dieser Aussage meist als Urheber genannt wird. 32 Goethe-Werke 13, S. 39.
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Wer also das Verfahren zur Erforschung der Wahrheit und zur Erhärtung und evidenten Darlegung der gefundenen gründlich durchmacht, wer alles in Beziehung auf dieselbe in einem besonderen Falle Gedachte noch einmal denkt, d. h. logisch verfolgt, entwickelt, in ein System bringt, der ist als der wirkliche Schöffe oder Finder derselben mit dem vollsten Rechte zu betrachten. Und dies Verdienst wollen gerade wir dem Dr. Hanslick im vorliegenden Fall am allerwenigsten schmälern. Seine kleine Schrift enthält offenbar die Saat zu einer Revision der Aesthetik der Tonkunst;33 und nach der ganzen Art und Weise, wie er sich hier gibt, glauben wir nicht, dass er zu denjenigen Reformatoren gehört, die da meinen, ihre Originalität zu verlieren, wenn sie das Wahre anerkennen, das schon von Anderen anerkannt worden ist. Seine Untersuchung beginnt, nach einigen einleitenden Sätzen über den bisherigen wissenschaftlichen Standpunkt der Aesthetik der Tonkunst, die da noch nicht dahin gelangt sei, eben so wie die übrigen Kunstlehren vor Allem „das schöne Object, nicht das empfindende Subject zu erforschen“34, mit der Polemik gegen den Satz, dass die Bestimmung der Musik sei, Gefühle zu erregen.35 Das Organ, womit das Schöne aufgenommen wird, ist nicht das Gefühl, sondern die Phantasie, als die Thätigkeit des reinen Schauens (Vischer’s Aesthetik §. 384)36 – d. h. eines Schauens mit Verstand, das ist Vorstellen und Urtheilen, welches letztere aber mit solcher Schnelligkeit geschieht, dass dessen einzelne Vorgänge uns gar nicht zum Bewusstsein kommen. – Der Hörer geniesst das Tonstück in reiner Anschauung, jedes stoffliche Interesse muss ihm fern liegen; ein solches ist aber die Tendenz, Affecte in sich erregen zu lassen. Eine secundäre Wirkung auf das Gefühl, nämlich durch die Phantasie, kommt in jeder Kunst vor, also auch in der Musik, allein eine unmittelbare findet nicht Statt. Indem nun nachgewiesen wird, dass der Zusammenhang eines Tonstückes mit der dadurch hervorgerufenen Gefühlsbewegung weder ein nothwendiger (vielmehr häufig ein conventioneller, durch äussere Zwecke bis zu den lächerlichsten Ueberschriften herab beeinflusster), noch ein stetiger, noch ein ausschliesslicher sei,37 so wird damit der Eindruck der Musik auf das Gefühl keineswegs geläugnet – „zu den schönsten Mysterien der Tonkunst gehört es ja, dass sie solche Gefühle ohne irdischen Anlass, recht von Gottes Gnaden, hervorzurufen vermag“ (S. 9) –, sondern nur gegen die Verwerthung dieser Thatsachen für ästhetische Principien Verwahrung eingelegt.38 Nicht
33 Der
Untertitel von Hanslicks Schrift lautet: „Ein Beitrag zur Revision der Aesthetik der Tonkunst“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen). 34 „Die Special-Aesthetiken sowie ihre praktischen Ausläufer, die Kunstkritiken, müssen, bei aller Verschiedenheit ihrer Standpunkte, sich trotzdem in der Einen unverlierbaren Ueberzeugung vereinigen, daß in ästhetischen Untersuchungen vorerst das schöne Object, und nicht das empfindende Subject zu erforschen sei“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 2). 35 „Fürs Erste wird als Zweck und Bestimmung der Musik aufgestellt, sie solle Gefühle oder ‚schöne Gefühle‘ erwecken. Fürs Zweite bezeichnet man die Gefühle als den Inhalt, welchen die Tonkunst in ihren Werken darstellt“ (ebd., S. 3). 36 Gemeint ist die von Vischer im zweiten Teil seiner Ästhetik unter § 384 definierte „besondere Phantasie“ (Vischer 1848 Ästhetik II, S. 315). 37 „So besitzt denn die Wirkung der Musik auf das Gefühl weder die Nothwendigkeit, noch die Stetigkeit, noch endlich die Ausschließlichkeit, welche eine Erscheinung aufweisen müßte, um ein ästhetisches Princip begründen zu können“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 9). 38 Im Original heißt es: „Zu den schönsten, heilsamsten Mysterien gehört es ja, daß die Kunst solche Bewegungen ohne irdischen Anlaß, recht von Gottes Gnaden hervorzurufen vermag. Nur gegen die unwissenschaftliche Verwerthung dieser Thatsachen für
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aus der unsicheren Wirkung, sondern aus den Kunstwerken selbst und aus den Gesetzen ihres Organismus ist zu erklären, was ihr Inhalt ist, worin ihr Schönes besteht. Diese Grundsätze hat Hegel bereits erschöpfend als allein richtig für alle und jede Aesthetik dargelegt und gezeigt, dass die Untersuchung der Empfindungen, welche eine Kunst erweckt, nicht anders als ganz im Unbestimmten stehen bleiben könne, was Hanslick auch erwähnt.39 Dass dieselben aber auf die Tonkunst bisher fast gar nicht oder doch nur mangelhaft angewandt wurden, ist nicht zu läugnen, und wie sehr sie in der neuesten Zeit durch das Unkraut der philosophischen Unwissenheit in der Lehre von der Gegenständlichkeit der Musik unterdrückt worden sind, haben wir in diesen Blättern oft genug dargethan. Der zweite Abschnitt40 hat es mit der Behauptung des Satzes zu thun, dass die Gefühle eben so wenig der Inhalt der Tonkunst sein können, als deren Erregung ihre Bestimmung sei. Der Ideengang des Verfassers ist folgender: Die Gefühle stehen nicht isolirt in der Seele da, sie sind abhängig von physiologischen und pathologischen Voraussetzungen, und bedingt durch das ganze Gebiet des Denkens, welchem man so gern das Gefühl als Gegensätzliches gegenüber stellt.41 Das Gefühl wird ein bestimmtes erst durch Vorstellungen und Urtheile, es lässt sich als solches von concreten Vorstellungen und Begriffen nicht trennen, es ist ohne einen historischen Inhalt nicht denkbar. Dieser ist aber nur in Begriffen darzulegen. Begriffe kann jedoch eingestandener Maassen die Musik nicht wiedergeben, folglich vermag sie auch nicht, bestimmte Gefühle darzustellen (was natürlich nicht mit erregen zu verwechseln ist).42 [59] Nur das Dynamische der Gefühle, die Bewegung eines psychischen Vorganges nach den Momenten: schnell, langsam, stark, schwach, steigend, fallend – kann die Musik ausdrücken. Was uns ausserdem in der Musik bestimmte Seelenzustände zu malen scheint, ist durchaus symbolisch (wie z. B. der Charakter der Tonarten oder
ästhetische Principien legen wir Verwahrung ein“ (ebd., S. 9). 39 „Hegel hat erschöpfend gezeigt, wie die Untersuchung der ‚Empfindungen,‘ welche eine Kunst erweckt, ganz im Unbestimmten stehen bleibt und gerade vom eigentlichen, concreten Inhalt absieht. ‚Was empfunden wird,‘ sagt er ‚bleibt eingehüllt in der Form abstractester, einzelner Subjectivitäten und deshalb sind auch die Unterschiede der Empfindung ganz abstracter, keine Unterschiede der Sache selbst.‘ (Aesthetik I, 42.)“ (ebd., S. 7). 40 Kapitel 2: „Die Gefühle sind nicht Inhalt der Musik“ (ebd., S. 12 – 31). 41 Im Original heißt es: „Es stehen nämlich die Gefühle in der Seele nicht isolirt da, so daß sie sich aus ihr gleichsam herausheben ließen von einer Kunst, welcher die Darstellung der übrigen Geistesthätigkeiten verschlossen ist. Sie sind im Gegentheil abhängig von physiologischen und pathologischen Voraussetzungen, sind bedingt durch Vorstellungen, Urtheile, kurz durch eben das ganze Gebiet verständigen und vernünftigen Denkens, welchem man das Gefühl so gern als ein Gegensätzliches gegenüberstellt“ (ebd., S. 13). 42 Der Absatz entspricht folgender Stelle: „Ein bestimmtes Gefühl (noch mehr eine Leidenschaft und ein Affect) existirt als solches niemals ohne einen wirklichen historischen Inhalt, der eben nur in Begriffen dargelegt werden kann. Begriffe kann die Musik als ‚unbestimmte Sprache‘ zugestandener Weise nicht wiedergeben – ist nicht die Folgerung psychologisch unablehnbar, daß sie auch bestimmte Gefühle nicht auszudrücken vermag? Die Bestimmtheit der Gefühle ruht ja gerade in deren begrifflichem Kern“ (ebd., S. 14).
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Accorde eben so nur auf Deutung beruht, wie das Grün sich uns mit Hoffnung, das Blau mit Treue u. s. w. verbindet).43 Auch die Vocal-Musik, wiewohl ihre Theorie niemals das Wesen der Musik bestimmen kann, ist nicht im Stande, den aufgestellten Satz Lügen zu strafen. Nicht die Töne, sondern der Text stellt dar.44 Alles dies wird durch Beispiele erläutert, denen man, wenn man nur, wie es die Sache fordert, die Begriffe mit logischer Schärfe auf die Spitze stellt, ihre Beweiskraft nicht absprechen kann. Auch der Ausweg, dass die Musik zwar nicht bestimmte, aber wohl unbestimmte Gefühle erwecken und darstellen solle, wird gründlich verstopft. Angenommen aber auch, dass musicalische Gefühlsdarstellung möglich sei – was jedoch schlechtweg geläugnet wird –, so kann sie doch niemals das ästhetische Princip der Tonkunst abgeben. Es wird dies sodann an der Vocal-Musik, welcher das Betonen der Seelenzustände zukommt, nachgewiesen und gezeigt, dass das Schöne in der Musik mit der Genauigkeit der Gefühlsdarstellung auch dann nicht congruiren würde, wenn diese möglich wäre. Was bei dieser Gelegenheit über das Wesen der Oper und gegen R. Wagner, selbst gegen Gluck gesagt wird, ist ganz vortrefflich.45 Gar Manches, was von uns in der kritischen Analyse des „Tannhäuser“ in der Rheinischen Musik-Zeitung (Jahrg. III. vom Nov. 1852 an)46, und von Prof. Jahn in dem Artikel „Lohengrin“ in den Grenzboten47, ferner in unseren Aufsätzen über GluckI gesagt ist, findet hier seinen Wiederhall, seine Ausführung und Begründung.
I Vgl. namentlich Art. IV. in Nr. 44 vom 4. Nov. 1854, wo es bei Gelegenheit der Dedication zu „Paris und Helena“48 heisst: „Wer möchte eine so gefährliche Lehre unterschreiben, die das Wesen des musicalischen Kunstwerks zerstört, und zum Realismus führt!“49 u. s. w. Und wenn Hanslick S. 30 sagt, dass Gluck zwar die falsche Theorie aufgestellt habe: die Opern-Musik habe nichts Anderes zu sein, als eine gesteigerte Declamation, „in der Ausübung aber breche die musicalische Natur des Mannes oft genug zum Vortheil seines Werkes durch“50, so stimmten wir mit ihm bereits völlig überein, als wir a. a. O. S. 345 äusserten: „Dass Gluck in der Praxis nie vergass, dass die Musik in der Oper die Hauptsache sei, und dies auch gar nicht vergessen konnte, weil er eben ein musicalisches Genie war, welches (S. 347) die Reflexion nur auf Augenblicke auf einen Abweg führen konnte.“51 43 Hanslick
gibt für die Dynamik, Bewegung und die Symbolik Beispiele, die er anhand der reinen Instrumentalmusik jeweils ausführt (siehe ebd., S. 16 – 20). 44 Im Original heißt es: „Trotzdem sind es die Töne nicht, welche in einem Gesangstücke darstellen, sondern der Text“ (ebd., S. 21). 45 Bei Hanslick heißt es u. a.: „Seit Gluck in der großen, nothwendigen Reaction gegen die melodischen Uebergriffe der Italiener nicht auf, sondern hinter die rechte Mitte zurückschritt (genau wie heutzutage Richard Wagner thut), wird der in der Dedication zur ‚Alceste‘ ausgesprochene Satz, es sei der Text die ‚richtige und wohlangelegte Zeichnung,‘ welche die Musik lediglich zu coloriren habe, unabläßlich nachgebetet“ (ebd., S. 21, Anm.). 46 Bischoff 1852 Tannhäuser. 47 Jahn 1854 Lohengrin, Oper von Richard Wagner. 48 Christoph Willibald Gluck, Paride ed Elena (Paris und Helena, UA 1770). 49 Im Original heißt es: „Wer möchte das unterschreiben? Das ist eine gefährliche Lehre, die das Wesen des Kunstwerkes, das auf dem Idealen beruht, zerstört und zu einem Realismus verführt, von welchem Meyerbeer und Wagner neuerdings beklagenswerthe Beispiele geliefert haben“ (Anonym 1854 Christoph Willibald Ritter von Gluck, S. 347). 50 Dieser Aussage folgt bei Hanslick: „Dasselbe gilt von Richard Wagner, der, auf Gluck’schen Grundsätzen fortbauend, sich manch’ eitles Gerede hätte ersparen können“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 30). 51 Im Original heißt es: „[…] ein musicalisches Genie war. Dass dieses Vergessen aus dem umgekehrten Grunde Wagner leichter werden mag, wollen wir nicht
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Nachdem der Verfasser bis hieher negativ verfahren, wendet er sich im dritten – dem ausführlichsten – Abschnitte zu der positiven Frage: welcher Natur das Schöne einer Tondichtung sei.52 „Es ist ein specifisch Musicalisches, d. h. ein Schönes, das, unabhängig und unbedürftig eines von aussen her kommenden Inhalts, einzig in den Tönen und ihrer künstlerischen Verbindung liegt.“53 „Das Urelement der Musik ist Wohllaut, ihr Wesen Rhythmus. Unausgeschöpft und unerschöpflich waltet vor Allem die Melodie, als Grundgestalt musicalischer Schönheit. Immer neue Grundlagen bietet ihr die Harmonie; beide vereint bewegt der Rhythmus, und es versehen sie mit mannigfaltigem Reiz die Klangfarben.“54 „Was soll ausgedrückt werden? Musicalische Ideen, als Selbstzweck, als selbstständiges Schönes. Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik.“55 „Wie das Schöne eines Tonstücks nur in dessen musicalischen Bestimmungen wurzelt, so folgen auch die Gesetze seiner Construction nur diesen.“56 Dies sind die Hauptsätze, deren Ausführung in der Schrift selbst nachzulesen ist. Es reihen sich daran eine Menge von treffenden Bemerkungen über das Sinnliche und Geistige in der Musik, über das Gemeine oder Edle der musicalischen Gedanken, über das Hineindeuten und Hineinlegen durch den Hörer, über das Verhältniss der Musik zur Sprache u. s. w. – welche zwar grossentheils nicht so neu, wie sie vielleicht dem Verfasser vorgekommen, aber einzig wahr sind, und desshalb nicht oft und eindringlich genug gemacht werden können. Wenn es S. 40 heisst: „Melodie und Harmonie eines Thema’s entspringen zugleich in Einer Rüstung aus dem Haupte des Tondichters“57, so sind wir um so sicherer derselben Ansicht, als wir in dem schon oben angeführten Aufsatz über „Haydn’s Musik“ aus dem Jahre 1851, S. 243 sagten: „Die Melodie bringt ihre Harmonisirung gewisser Maassen schon mit auf die Welt“58 –; bestreiten“ (Anonym 1854 Christoph Willibald Ritter von Gluck, S. 345). 52 Kapitel 3: „Das Musikalisch-Schöne“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 31– 52). 53 Im Original heißt es: „[…] indem wir die Frage beanworten, welcher Natur das Schöne einer Tondichtung sei? Es ist ein specifisch Musikalisches. Darunter verstehen wir ein Schönes, das unabhängig und unbedürftig eines von Außen her kommenden Inhaltes, einzig in den Tönen und ihrer künstlerischen Verbindung liegt“ (ebd., S. 31 f.). 54 Der von Bischoff gekürzte Absatz lautet im Original: „Das Urelement der Musik ist Wohllaut, ihr Wesen Rhythmus. Rhythmus im Großen, als die Uebereinstimmung eines symmetrischen Baues, und Rhythmus im Kleinen, als die wechselnd-gesetzmäßige Bewegung einzelner Glieder im Zeitmaß. Das Material, aus dem der Tondichter schafft, und dessen Reichtum nicht verschwenderisch genug gedacht werden kann, sind die gesammten Töne, mit der in ihnen ruhenden Möglichkeit zu verschiedener Melodie, Harmonie und Rhythmisirung. Unausgeschöpft und unerschöpflich waltet vor Allem die Melodie, als Grundgestalt musikalischer Schönheit; mit tausendfachem Verwandeln, Umkehren Verstärken bietet ihr die Harmonie immer neue Grundlagen; beide vereint bewegt der Rhythmus, die Pulsader musikalischen Lebens, und färbt der Reiz mannigfaltiger Klangfarben“ (ebd., S. 32). 55 Im Original heißt es: „Frägt es sich nun, was mit diesem Tonmaterial ausgedrückt werden soll, so lautet die Antwort: Musikalische Ideen. Eine vollständig zur Erscheinung gebrachte musikalische Idee aber ist bereits selbstständiges Schöne, ist Selbstzweck […]. Tönend bewegte Formen sind einzig und allein Inhalt und Gegenstand der Musik“ (ebd., S. 32). 56 Ebd., S. 43. 57 Ebd., S. 40. 58 Im Original heißt es: „Eine natürliche Melodie fordert nicht nur eine ebenso natürliche Harmonisirung, sondern sie verhilft auch dazu, sie bringt sie gewissermaassen schon mit auf die Welt“ (Anonym 1850 Joseph Haydn’s Musik, S. 243).
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und wenn Hanslick S. 51 die Theorieen verwirft, „welche der Musik die Entwicklungs- und Constructionsgesetze der Sprache aufdringen wollen, wie es von den Jüngern Wagner’s versucht wird“59, so verweisen wir auf unsere Beurtheilung der Schrift von L. Köhler: „Die Melodie der Sprache“, in Nr. 14 vom I. Jahrgang dieser Blätter (vom 1. Oct. 1853)60 und unterschreiben mit voller Ueberzeugung seine Worte: „Dabei wird das wahrhafte [60] Herz der Musik, die in sich selbst befriedigte Formschönheit, durchstossen und dem Phantom der „ „Bedeutung“ “ nachgejagt.“61 [65] Der vierte Abschnitt behandelt den subjectiven Eindruck der Musik.62 Die Phantasie, als das Organ, aus welchem und für welches das Kunstschöne entsteht, erweis’t sich in der Wirklichkeit als Vermittlerin zwischen dem Fühlen des Componisten und des Hörers. Das Gefühl wird beim Tondichter, wie bei jedem Poeten, sich reich entwickelt vorfinden; aber es ist nicht der schaffende Factor in ihm. Die Thätigkeit des Componisten ist eben so gut eine bildende, wie die des plastischen Künstlers;63 denn das geringste Musikstück erfordert eine Ausarbeitung bis ins Kleinste, welche nur bei einem gewissen Grade der Entäusserung der Subjectivität zu vollenden ist. Allein der unendlich ausdrucksfähige geistige Stoff der Töne lässt es zu, dass die Subjectivität des musicalischen Bildners sich in der Art seines Formens auspräge. Es werden demnach vorherrschende Charakterzüge sich nach den allgemeinen Momenten abdrücken, welche die Musik wiederzugeben fähig ist. Das selbstständige, rein musicalische Schöne wird innerhalb der Gränzen des musicalischen Bildens mehr oder weniger subjectiv ausgestattet. Daher unverkennbare Eigenthümlichkeit der Werke verschiedener Meister, wie z. B. gewaltige oder sentimentale Innerlichkeit (Beethoven, Spohr) im Gegensatz zu klarem Formen (Mozart, Mendelssohn).64 – Die unmittelbare Ausströmung des Gefühls findet nicht bei der Composition, wohl aber bei der Reproduction des Tonwerkes Statt, beim Spieler oder Sänger.65 So richtig diese letzte Bemerkung ist, so können wir doch der Subjectivität des Spielers keine so volle Berechtigung einräumen, als Hanslick zu thun scheint, wenn er sagt: „Dem Spieler ist es gegönnt, sich von dem Gefühle, das ihn eben beherrscht,
59 Hanslick erwähnt nicht ausschließlich Wagner: „Ebenso schlimm […] sind die Theorien, welche der Musik die Entwicklungs- und Constructionsgesetze der Sprache aufdringen wollen, wie es in älterer Zeit Rousseau und Rameau gethan, in neuerer Zeit von den Jüngern R. Wagner’s versucht wird“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 51). 60 Bischoff 1853 Die Melodie der Sprache. 61 Im Original heißt es: „Es wird dabei das wahrhafte Herz der Musik, die in sie selbst befriedigte Formschönheit, durchstoßen und dem Phantom – der ‚Bedeutung‘ nachgejagt“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 51). 62 Kapitel 4: „Analyse des subjectiven Eindrucks der Musik“ (ebd., S. 52 – 70). 63 Im Original heißt es: „Die Thätigkeit des Componisten ist eine in ihrer Art plastische und jener des bildenden Künstlers vergleichbar“ (ebd., S. 53). 64 Im Original heißt es: „Man vergleiche vorwiegend subjective Naturen, denen es um Aussprache ihrer gewaltigen oder sentimentalen Innerlichkeit zu thun ist (Beethoven, Spohr), im Gegensatz zu klar Formenden (Mozart, Mendelssohn)“ (ebd., S. 55). 65 Im Original heißt es: „Der Act, in welchem die unmittelbare Ausströmung eines Gefühls in Tönen vor sich gehen kann, ist nicht sowohl die Erfindung eines Tonwerkes, als vielmehr die Reproduction desselben“ (ebd., S. 57).
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durch sein Instrument zu befreien.“66 Das kann nur von der „freien Phantasie“67 gelten, worauf Hanslick zuletzt auch selbst kommt. Im Uebrigen müssen wir vor der Lehre von der subjectiven Auffassung bei der Reproduction von Tonwerken sehr ernstlich warnen, da sie neuerdings gewaltig auszuarten droht und eben sowohl die verkehrtesten Grundsätze für die Praxis des Dirigirens von Orchestersachen, als widerliche Unarten der Sänger erzeugt hat. Vergleiche unsere Bemerkungen über correcten Vortrag in Nr. 6, S. 48, unter „Köln“.68 Hiernach kommt der Verfasser zu dem Eindruck der Musik auf den Hörer. Der Hörer wird durch die Musik weit über das bloss ästhetische Wohlgefallen hinaus ergriffen; keine andere Kunst wirkt so schnell, so intensiv und so unmittelbar auf das Gefühl. „Die anderen Künste überreden, die Musik überfällt uns.“69 Sehr wahr heisst es ferner: „In Gemüthszuständen, wo weder Gemälde noch Gedichte, weder Statuen noch Bauten mehr im Stande sind, uns zu theilnehmender Aufmerksamkeit zu reizen, wird Musik noch Macht über uns haben, ja, gerade heftiger als sonst. Wer in schmerzhaft aufgeregter Stimmung Musik hören oder machen muss, dem schwingt sie wie Essig in der Wunde. Form und Charakter des Gehörten verlieren ganz ihre Bedeutung, sei es nächtig trübes Adagio oder ein hell funkelnder Walzer: wir können uns nicht loswinden von seinen Klängen – nicht mehr das Tonstück fühlen wir, sondern die Töne selbst, die Musik als gestaltlos dämonische Gewalt.“70 Es entstehen nun die zwei Fragen: worin der specifische Charakter der Wirkung der Musik auf das Gefühl liege, und wie viel von dieser Wirkung ästhetischer Natur sei. Sie erledigen sich beide durch die Erkenntniss der intensiven Einwirkung der Musik auf das Nerven-System. Die eigenthümliche Qualität der Macht der Musik beruht auf physiologischen Bedingungen. „Die Musik, durch ihr körperloses Material die geistigste, durch ihr gegenstandloses Formenspiel die sinnlichste Kunst, zeigt in dieser geheimnissvollen Vereinigung zweier Gegensätze ein lebhaftes Assimilations-Bestreben mit den Nerven, diesen nicht minder räthselhaften Or-[66]ganen des unsichtbaren Telegraphendienstes zwischen Leib und Seele.“71
66 Im Original heißt es: „Dem Spieler ist es gegönnt, sich des Gefühls, das ihn eben beherrscht, unmittelbar durch sein Instrument zu befreien und in seinem Vortrag das wilde Stürmen, das sehnliche Ausbrennen, die heitere Kraft und Freude seines Innern zu hauchen“ (ebd., S. 57). 67 „Zur höchsten Unmittelbarkeit befreit sich die Offenbarung ein [sic] Seelenzustandes durch Musik, wo Schöpfung und Ausführung Einen [sic] Act zusammenfallen. Dies geschieht in der freien Phantasie“ (ebd., S. 58). 68 In dieser kurzen Besprechung einer Kammermusik-Soiree heißt es, ohne jedoch auf Gesangspraxis oder Dirigat einzugehen: „Geht mir doch mit eurem Geschwätz! Der Inhalt der Musik ist Musik, und damit Punctum, und was den ganzen inneren Menschen aufregt, wenn er solche Werke hört [gemeint ist hier Franz Schuberts Streichquartett Nr. 14 d-Moll D 810 (UA 1826)], das ist eben wieder Musik, nichts als Musik, und das Schöne liegt in den Tönen und ihren Reihen, in dem, was musicalisch drin ist, nicht in dem, was ihr [die „neuesten Kunst-Philosophen“] von aussen durch Reflexion hineintragt“ (Anonym 1855 Köln, S. 48). Dieser Beitrag der Niederrheinischen Musik-Zeitung geht dem vorliegenden Artikel direkt voraus. 69 Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 59. 70 Ebd. Zwei Stellen des Absatzes wurden gekürzt: „[…] in der Wunde. Keine Kunst kann da so tief und scharf in unsere Seele schneiden. Form und Charakter […]. […] dämonische Gewalt, wie sie mit Zauberaugen glühend an die Nerven unseres ganzen Leibes rückt.“ 71 Ebd., S. 60. Die Hervorhebungen von „geistigste“ und „sinnlichste“ stammen von Bischoff.
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Die intensive Wirkung der Musik auf das Nervenleben ist als Thatsache von der Psychologie wie von der Physiologie anerkannt. Aber eine ausreichende Erklärung derselben fehlt. „Es vermag die Psychologie eben so wenig das Magnetisch-Zwingende des Eindrucks gewisser Accorde, Melodien und Klangfarben auf den Organismus des Menschen zu ergründen, weil es dabei zuvörderst auf eine specifische Reizung der Nerven ankommt, als die im Triumph fortschreitende Wissenschaft der Physiologie bis jetzt etwas Entscheidendes über dieses Problem gebracht hat, zumal die letztere bei der Untersuchung des Hörens vielmehr den Schall und Klang überhaupt, als insbesondere den musicalisch verwendeten, im Auge zu haben pflegt.“72 „Steht einmal fest, dass ein integrirender Theil der durch Musik erzeugten Gemüthsbewegung physisch ist, so folgt weiter, dass dieses Phänomen auch von seiner rein körperlichen Seite erforscht werden muss.“73 „Je stärker aber eine Kunstwirkung körperlich überwältigend, also pathologisch, auftritt, desto geringer ist ihr ästhetischer Antheil. Es muss darum bei der Musik in der Hervorbringung und Auffassung ein anderes Element hervorgehoben werden, welches das unvermischte Aesthetische dieser Kunst repräsentirt und als Gegenbild zu der specifisch-musicalischen Gefühls-Erregung sich den allgemeinen SchönheitsBedingungen der übrigen Künste nähert. Dies ist die reine Anschauung.“74 Ueber ihre Erscheinungsform in der Tonkunst handelt der folgende Abschnitt. [73] Der Abschnitt Nr. V.75 enthält zwar ebenfalls treffliche Wahrheiten und ist vielleicht einer der unterhaltendsten von allen; allein auch er verweilt, wie die anderen, mehr auf dem Verneinen, auf dem Oppositionellen, als dass er das Positive, die Bedingungen, unter welchen die reine Anschauung des Schönen in der Musik allein möglich ist, und die Art und Weise, wie sie zur Erscheinung kommt, systematisch darlegte. Die Grundlage zu einem ästhetischen System ist aber nicht zu verkennen, und es wird dem Verfasser auch sicher gelingen, bei weiterer Forschung auf dem eingeschlagenen Wege den positiven Ausbau desselben zu bewerkstelligen. Der fragliche Abschnitt kommt zuvörderst noch einmal auf die Wirkung der Musik auf das Gefühl zurück und erkennt dessen Recht auf die Musik, da es sich thatsächlich mehr oder minder mit der reinen Anschauung paart, allerdings an, aber nur dann, wenn es sich seiner ästhetischen Herkunft bewusst bleibt, d. h. der Freude an einem bestimmten Schönen, also hier dem Musicalisch-Schönen. Fehlt dieses Bewusstsein, so ist es nur das Elementarische der Musik, d. i. Klang und Bewegung, welches das Gefühl erregt, und diese Erregung ist pathologisch, nicht ästhetisch.76 Für solche reine Gefühls-Auffassung stehen die Werke der Tonkunst den Naturproducten gleich, welche man mit Vergnügen geniesst, die uns aber keineswegs zwingen, einem Geiste, der bewusst geschaffen, nach zu denken. Und die sinnliche
72 Ebd.
Inhaltlich irrelevant, entsprechen einige Formulierungen nicht dem Original. 73 Ebd., S. 64. Folgende Worte wurden ausgelassen: „[…]daß dies Phänomen, als wesentlich in unserm Nervenleben vorkommend, auch von dieser seiner körperlichen Seite erforscht werden müsse.“ 74 Ebd., S. 69. Folgende Worte wurden ausgelassen: „[…] ästhetischer Antheil; ein Satz, der sich freilich nicht umkehren läßt. Es muß darum […]“. Die Hervorhebung des Begriffs „specifisch“ stammt von Bischoff. 75 Kapitel 5: „Das ästhetische Aufnehmen der Musik gegenüber dem pathologischen“ (ebd., S. 70 – 83). 76 Ebd., S. 70. Von Bischoff zusammengefasst und sinngemäß wiedergegeben.
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Seite der Musik lässt allerdings einen geistlosen Genuss zu, und zwar mehr, als jede andere Kunst. (Ei nun! die Leda von da Vinci77, die Io von Correggio78, selbst die Ariadne von Dannecker79 u. s. w. machen auf das rohe Gefühl auch einen Eindruck, dem das ästhetische Bewusstsein noch weit ferner liegen dürfte, als dem Genusse des blossen Gefühls-Musikers.)80 Dies führt auf die richtige Würdigung der so genannten moralischen Wirkungen der Musik.81 Diese wird dabei nicht als ein Schönes genossen, sondern als Naturgewalt empfunden. Die Anklage derselben (schon bei den Alten) als verweichlichend, entnervend, ist am Ende noch würdiger, als ihre Lobpreisung in dieser Beziehung; denn der moralische Einfluss der Töne wächst mit der Uncultur des Geistes und Charakters, und die stärkste Wirkung der Art übt bekannntlich die Musik auf Wilde.82 Dem pathologischen Ergriffenwerden ist nun eben das reine Anschauen entgegen zu setzen; die contemplative Form des Hörens ist die einzig künstlerische, ästhetische. Ihr gegenüber fällt der rohe Affect des Wilden und der schwärmende des Gefühls-Enthusiasten in Eine Classe. Dem Schönen entspricht ein Geniessen, nicht ein Erleiden.83 Das Geniessen muss aber ein thätiges sein, ein geistiges Begleiten und Folgen, welches bei der Musik, deren Werke sich successiv abspinnen, ganz eigentlich ein Nachdenken der Phantasie genannt werden kann. – Nur solche Musik bietet künstlerischen Genuss, welche dieses geistige Nachfolgen hervorruft und lohnt. Es kann sich dies allerdings bis zur geistigen Arbeit steigern, aber auch bei sinnlichen Naturen auf ein Minimum sinken. Es gibt also eine Kunst des Hörens,84 und sie ist nicht leichtII. [74]
II „Die siegende Alleinherrschaft der Oberstimme bei den Italiänern hat einen Hauptgrund in der geistigen Bequemlichkeit dieses Volkes, welchem das ausdauernde Durchdringen unerreichbar ist, womit der Nordländer einem künstlichen Gewebe von harmonischen und contrapunktischen Verschlingungen zu folgen liebt.“ S. 79. – Darin liegt etwas Wahres, allein auch eine Ungerechtigkeit; denn sollte die wunderbare Leichtigkeit der Italiäner im Hervorbringen des musicalischen Gedankens, der Melodie, und dieser gegenüber die ausserordentliche Empfänglichkeit des Volkes dafür, nicht eben so gut auf die reine Anschauung des Musicalisch-Schönen zurück zu führen sein, und zwar auf eine primitive, von der Natur verliehene Kraft derselben? Wäre dies nicht der Fall, so würden wir ja auch kein Thema an und für sich schön finden können, und doch muss die Hauptschönheit eines Musikstückes im Thema oder in den verschiedenen Thema’s desselben liegen, wie der Verfasser ganz richtig meint. 77 Leonardo da Vinci, Leda und der Schwan (EZ 1505 –1515). 78 Antonio Allegri da Correggio, Jupiter und Io (EZ um 1530). 79 Johann Heinrich von Dannecker, Ariadne auf dem Panther (EZ 1812 –1814). 80 Offenbar eine Anspielung darauf, dass die oben angeführten Kunstwerke anerkannter Meister – allesamt Darstellungen vollständig entblößter Frauengestalten in, außer bei Dannecker, eindeutig erotischer Pose – unabhängig von ihrer ästhetischen Qualität eine ‚Wirkung‘ auf den (männlichen) Beschauer nicht verfehlen dürften; zudem als Gegenargument zu Hanslicks Position zur „moralischen Wirkung“ der Musik (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 73 sowie folgende Anm.). 81 „Ein Bild, eine Kirche, ein Drama lassen sich nicht schlürfen, eine Arie sehr wohl. Darum gibt auch der Genuß keiner andern Kunst sich zu solch accessorischem [nebensächlichem] Dienst her. […] Aus diesen Betrachtungen ergibt sich leicht die richtige Werthschätzung für die sogenannte ‚moralischen Wirkungen‘ der Musik“ (ebd., S. 73). 82 Im Original heißt es: „Je kleiner der Widerhalt der Bildung, desto gwaltiger das Dreinschlagen solcher Macht. Die stärkste Wirkung übt Musik bekanntlich auf Wilde“ (ebd., S. 74). 83 Von Anfang des Absatzes inhaltlich getreue Wiedergabe (ebd., S. 77). 84 Zusammenfassung der wesentlichen Aspekte (ebd., S. 78 f.).
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Die Hauptforderung einer ästhetischen Aufnahme der Musik ist, dass man ein Tonstück um seiner selbst willen höre. Sobald die Musik nur als Mittel angewandt wird, also accessorisch, decorativ, so hört sie auf, als Kunst zu wirken.85 (In dem Verkennen dieser Wahrheit liegt, beiläufig gesagt, der Grund-Irrthum Richard Wagner’s.)86 Namenlose Verwirrung ist dadurch entstanden, dass man das Elementarische der Musik mit ihrer künstlerischen Schönheit verwechselte. Die reizende Musik in J. Strauss’ besseren Walzern87 z. B. hört auf, es zu sein, wenn man nichts will, als dabei im Tacte tanzen.88 – Sehr zu beachten ist auch die Bemerkung, welche der Verfasser bei dieser Gelegenheit eben hinwirft, dass die Kritik überall zu entscheiden habe, was bei einer vorhandenen Wirkung künstlerisch, was elementarisch sei.89 Sollen wir bei diesem Abriss des fünften Abschnittes des Büchleins eine Bemerkung zufügen, so wird es der Ausspruch der Befürchtung sein, dass die darin aufgestellten Ansichten von der Kunst des Hörens und der Schwierigkeit derselben das Missverständniss veranlassen könnten, dass sich der Mensch, auch der gebildete, nur durch das Zeugniss einer musicalischen Studien-Anstalt, in der er seinen Cursus gemacht, zum Genusse der Werke der Tonkunst legitimiren müsse. Wir sagen: das Missverständniss; denn wir glauben nicht, dass dieses die Meinung des Verfassers sei. Das würde die Kunst als nur für die Künstler, nicht für die Menschen existirend charakterisiren, und wenn dem also wäre, so wäre das ein grosses Unglück. Es entsteht also hier die sehr wichtige Frage: „Welcher Art muss die Bildung sein, die der Mensch erlangt haben muss, um der künstlerischen Auffassung des MusicalischSchönen wenigstens annähernd theilhaftig zu werden?“ Und die zweite, für die schaffende Tonkunst noch unendlich wichtigere: „Welcher Art der Darstellung und Ausarbeitung des Musicalisch-Schönen bedarf es, um alle auf jene Weise gebildeten Menschen anzuziehen und geistig anzuregen und zu befriedigen?“ – Wir hoffen, auf diese Fragen zurück zu kommen; für jetzt erinnern wir nur an die trefflichen Aufsätze von C. F. W. U. (Uhlemann): „Die Tonkunst für Alle“, im I. Jahrgang der von uns herausgegebenen Rheinischen Musik-Zeitung.90 In dem sechsten Abschnitte handelt der Verfasser von dem Verhältnisse der Tonkunst zur Natur.91 Dass die richtige Einsicht in dasselbe zu den wichtigsten Folgerungen für die musicalische Aesthetik führe, geben wir zu; dass aber das Resultat: „es gibt keine Musik in der Natur“92, erst jetzt gefunden sei, stellen wir in Abrede, da 85 Im
Original ist die Aussage ergänzt durch: „ […] Mittel angewandt wird, eine gewisse Stimmung in uns zu fördern, accessorisch, decorativ“ (ebd., S. 81). 86 Wahrscheinlich bezieht sich Bischoff hier auf Wagners Aussage: „[…] der Irrthum in dem Kunstgenre der Oper bestand darin, daß ein Mittel des Ausdruckes (die Musik) zum Zwecke, der Zweck des Ausdruckes (das Drama) aber zum Mittel gemacht war“ (Wagner 1852 Oper und Drama, 1. Teil, Einleitung, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 19). 87 Johann Strauß (Sohn, 1825 –1899), Komponist, auch bekannt als „Walzerkönig“. 88 Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 81. Von Bischoff sinngemäß zusammengefasst. 89 Hanslick formuliert: „Jene erhebenden Eindrücke auf unser Gemüth und ihre hohe psychische, sowie physiologische Bedeutung dürfen nicht hindern, daß die Kritik überall unterscheide, was bei einer vorhandenen Wirkung künstlerisch, was elementarisch sei“ (ebd., S. 81). 90 CFWU 1851 Die Tonkunst für Alle. 91 Kapitel 6: „Die Beziehungen der Tonkunst zur Natur“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 83 – 94). 92 Im Original heißt es: „Unserem Ausspruch, es gebe keine Natur in der Musik, wird man den Reichthum mannigfaltiger Stimmen einwenden, welche die Natur so wunderbar beleben“ (ebd., S. 88).
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Nägeli 93, Hand 94, Krüger 95 und vielleicht noch Andere im Wesentlichen dasselbe bereits ausgesprochen haben. Hand legt allerdings Nachdruck auf die „geistige Beseelung“96 im musicalischen Tone im Gegensatz zu den Naturtönen, allein er sagt auch geradezu: „Nimmer gelingt es, die Folge der Töne der Vögel unserer musicalischen Scala anzupassen“97, was denn doch mit anderen Worten heisst: „sie sind nicht messbar“, worauf Hanslick allerdings mit Recht den Haupt-Nachdruck legt. Auch bei Hand ist das Ergebniss das, dass die Musik ein Product des Menschengeistes sei. Was Nägeli betrifft, so geht dieser nicht nur in diesem Punkte, sondern überhaupt schon einen Weg, welcher dem von Hanslick eingeschlagenen sehr nahe liegt, indem z. B. einer von Nägeli’s Hauptsätzen ist, dass die Musik keinen Inhalt habe, sondern nur Formen und geregelte Verbindungen von Tönen und Tonreihen gewähre.98 – Der Gedankengang bei unserem Verfasser ist folgender: Die Musik gestaltet den durch Höhe und Tiefe bestimmten, d. i. den messbaren Ton zu Melodie und Harmonie; beide finden sich in der Natur nicht vor, sie sind Schöpfungen des Menschengeistes. Vor dem Menschen existirt in der Natur nur das Eine Element der Musik, der Rhythmus. Aber auch dieser ist nicht der Rhythmus der menschlichen Musik, er trägt nur unmessbare Luftschwingungen, weder Melodie noch Harmonie.99 (Vergl. Hand, I., S. 40.)100 Unser Tonsystem und alles, was damit zusammenhängt, ist kein natürliches, sondern ein künstliches, etwas Gewordenes im Gegensatz zu einem Geschaffenen. Hauptmann (Die Natur der Harmonik und Metrik) irrt, wenn er den Begriff eines künstlichen Tonsystems einen durchaus nichtigen nennt (S. 7), „indem die Musiker eben so wenig haben Intervalle bestimmen und ein Tonsystem erfinden können, als die Sprachgelehrten die Worte der Sprache und die Sprachfügung erfunden haben.“101 Sehr zur Sache führt der Verfasser dagegen J. Grimm’s Ansicht an: „Wer nun Ueberzeugung gewonnen hat, dass die Sprache freie Menschen-Erfindung war, wird auch nicht zweifeln über die Quelle der Poesie und Tonkunst“102 (Ueber den Ur93 Hans
Georg Nägeli (1773 –1836), schweizer Komponist, Musikverleger und Musikschriftsteller. 94 Ferdinand Gotthelf Hand (1786 –1851), Philologe und Ästhetiker. 95 Eduard Krüger (1807 –1885), Philologe, Pädagoge, Musikwissenschaftler und Komponist. 96 „Die Töne der Natur sind darum nicht Musik im menschlichen Sinne“ (Hand 1837 Aesthetik der Tonkunst, S. 43). Dass der Mensch den Schlag der Nachtigall dennoch als schön empfindet, liegt nach Hand daran, dass man ihrem Gesang eine „geistige Beseelung“ unterlege (ebd., S. 44). 97 Im Original heißt es: „Nimmer gelingt es, die Folge der Töne unserer musikalischen Scala anzupassen, und vergeblich bemühen wir uns, den Gesang der Vögel in Noten auszudrücken“ (ebd., S. 40). 98 Im Original heißt es: „Ein durchaus und durchein spielendes Wesen ist sie [die Instrumentalmusik], weiter nichts. Sie hat auch keinen Inhalt, wie man sonst meinte, und was man ihr auch andichten wollte. Sie hat nur Formen, geregelte Zusammenverbindung von Tönen und Tonreihen zu einem Ganzen“ (Nägeli 1826 Vorlesungen über Musik, S. 32). 99 Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 85. Von Bischoff zusammengefasst und sinngemäß wiedergegeben. 100 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 92. 101 Im Original heißt es: „Der Begriff eines künstlichen Tonsystems ist ein durchaus nichtiger. Die Musiker haben ebensowenig Intervalle bestimmen und ein Tonsystem erfinden können, als die Sprachgelehrten die Worte der Sprache, […] sie sprechen mit der Sprache, die der allgemeine Menschensinn macht“ (Hauptmann 1853 Die Natur der Harmonik und der Metrik, S. 7). 102 Im Original heißt es außerdem: „[…] über die quelle der poesie und tonkunst in vernunft, gefühl und einbildungskraft des dichters. viel eher dürfte die musik ein sublimat der sprache heissen als die sprache ein niederschlag der musik“ (Grimm 1851 Ursprung der Sprache, S. 54).
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sprung der Sprache). Nicht die Sprachgelehrten, aber die Völker bilden sich ihre Sprache und ändern sie fortwährend; und so haben auch nicht die „Tongelehrten die Musik errichtet“, sondern das fixirt und begründet, was der musicalisch befähigte Geist mit Vernünftigkeit, aber nicht mit Nothwendigkeit ersonnen hatte.103 Alle Naturstimmen sind lediglich Schall und Klang; selbst die reinste Erscheinung des natürlichen Tonlebens, [75] der Vogelgesang, steht zur menschlichen Musik in keinem Bezuge, da er unserer Scala nicht angepasst werden kann. In der Musik muss Alles commensurabel sein, in den Naturlauten ist nichts commensurabel. „Nicht die Stimmen der Thiere, sondern ihre Därme sind uns wichtig, und nicht der Nachtigall, sondern dem Schafe verdankt die Musik am meisten.“104 Die Poesie, Malerei, Sculptur haben den Quell ihrer Stoffe in der Natur; irgend ein Naturschönes regt sie an, wird ihnen Stoff zu eigener Hervorbringung, wird ihnen VorbildIII. Die Tonkunst hat kein Vorbild in der Natur, für die Musik gibt es kein Naturschönes.106 – Der Maler, der Dichter (dieser in der Betrachtung des Menschen, seiner Handlungen, Schicksale u. s. w.) finden in naturschönen Vorbildern das, was sie künstlerisch umbilden; der Musiker findet nichts dergleichen – er kann nichts umbilden, er muss Alles neu erschaffen. „Der Componist muss der guten Stunde warten, wo es in ihm anfängt, zu singen und zu klingen; da wird er dann aus sich heraus schaffen, was in der Natur nicht seines Gleichen hat und daher auch, ungleich den Erzeugnissen anderer Künste, geradezu nicht von dieser Welt ist.“107 Man könnte aber den Einwand machen (und die neuere Afterlehre von der Gegenständlichkeit der Musik macht ihn oft genug theoretisch und praktisch!), dass der Mensch, wie dem Dichter, so auch dem Musiker Stoff zum Umbilden gebe. Führen wir Ein Beispiel für hundert andere an: Beethoven’s Ouverture zu Egmont108. Hier ist nun eben die Verwirrung der Begriffe zu lösen. „Dem Dichter ist die (historische) Gestalt wirkliches Vorbild, das er umbildet, dem Componisten bietet sie bloss Anregung, und zwar poetische, nicht musicalische. Nicht die Gestalt Egmont’s, nicht seine Thaten, Erlebnisse, Gesinnungen sind Inhalt der Beethoven’schen Ouverture, wie dies allerdings im Bilde Egmont, im Drama Egmont109 der Fall ist. Der Inhalt der Ouverture sind Tonreihen, welche der Componist vollkommen frei nach musicalischen Denkgesetzen aus sich erschuf. Mit der Vorstellung „Egmont“ bringt sie lediglich die poetische Phantasie des Tonsetzers in Verbindung. Diese Ver-
III Vischer
(Aesthetik, II.)105, dem Hanslick, wie er unter dem Text bemerkt, hier in den allgemeinen Bestimmungen über das Naturschöne folgt, nimmt die Baukunst aus, als kein Vorbild habend in der Natur. Sollten die hohen Bogengänge in den deutschen Wäldern auf den germanischen Spitzbogen-Styl nicht denselben Einfluss gehabt haben, wie die Blätter und Blumen auf die architektonischen Verzierungen? 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 87. Hanslick verweist an dieser Stelle auf die von Bischoff zitierte Stelle Grimms. 104 Ebd., S. 89. Von Bischoff umgestellt, doch sinngemäß wiedergegeben. 105 Vischer 1848 Ästhetik II. 106 Im Original heißt es: „Stellen wir nun diesen Künsten die Musik entgegen, so erkennen wir, daß sie Vorbild, einen Stoff für ihre Werke nirgend vorfindet. Es gibt kein Naturschönes für die Musik“ (ebd., S. 91). 107 Ebd., S. 92. Von Bischoff leicht gekürzt, doch weitestgehend wortgetreu wiedergegeben. 108 Beethoven, Ouvertüre zu Egmont op. 84 (UA 1810). 109 Goethe, Egmont (ED 1788). 103 Hanslick
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bindung ist aber so willkürlich, dass niemals die Hörer des Musikstückes auf dessen angeblichen „ „Gegenstand“ “ verfallen würden, wenn nicht der Autor durch die ausdrückliche Benennung unserer Phantasie von vorn herein die bestimmte Richtung octroyirte.“110 Sehr schlagend fügt der Verfasser später noch hinzu: „Uebrigens kann der Anspruch an ein Tonwerk mit bestimmter Ueberschrift, die zur Vergleichung des Musikstückes mit einem ausser ihm stehenden Objecte nöthigt, nur auf gewisse charakteristische Eigenschaften lauten, z. B. dass die Musik erhaben, düster, oder niedlich, froh klinge, sich zu betrübtem oder freudigem Abschluss entwickle, u. s. w. An die Malerei und an die Dichtkunst aber stellt der Stoff die Forderung einer bestimmten, concreten Individualität.“111 Einen zweiten Einwand könnte man aus der musicalischen Literatur holen, indem ja doch Tonsetzer wirklich hörbare Aeusserungen des natürlichen Tonlebens nachgebildet haben, z. B. Haydn, Beethoven, Spohr (Weihe der Töne112).113 Allein die genannten Componisten führen uns ja das Krähen des Hahns, den Wachtelschlag, den Kuckucksruf, den Schlag der Nachtigall nicht als Musik vor (oder als ein naturschönes Vorbild, welches sie umbilden oder musicalisch-künstlerisch gestalten), „sondern nur als Citate, um den Eindruck zurückzurufen, welcher mit jenen NaturErscheinungen zusammenhängt; sie entspringen einzig und allein der Tendenz, uns zu erinnern: es ist Morgen, es ist Frühling u. s. w. Ein Thema können alle Naturstimmen der Welt zusammen nicht hervorbringen.“114 Man sieht, dass das Verhältniss der Musik zum Naturschönen mit der ganzen Frage vom Inhalt der Musik enge zusammenhängt. Und diese Frage ist es dann eben, welche der letzte Abschnitt der Hanslick’schen Schrift115 beantwortet, welchen wir bereits in dem ersten Artikel über dieselbe (in Nr. 7) im Auszuge gegeben haben. Unsere Leser werden sich überzeugt haben, welche wichtige Punkte der musicalischen Aesthetik der Verfasser zur Sprache bringt, welche Menge von Problemen er der Lösung entgegenführt, welche eingewurzelte Vorurtheile er bekämpft. Seine
1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 92 f. Von Bischoff leicht gekürzt, doch weitestgehend wortgetreu wiedergegeben. Die Hervorhebung in doppelten Anführungszeichen von „Gegenstand“ stammt von Bischoff. 111 Im Original heißt es: „Ueberdies kann ein solcher Anspruch an ein Tonwerk mit bestimmter Ueberschrift nur auf gewisse charakteristische Eigenschaften lauten: daß die Musik erhaben, düster, oder niedlich, froh klinge, von einfacher Exposition zu betrübtem oder freudigem Abschluß sich entwickle u. s. f. An die Dichtkunst oder Malerei stellt der Stoff die Forderung einer bestimmten concreten Individualität, nicht bloßer Eigenschaften“ (ebd., S. 93 f.). 112 Louis Spohr, Symphonie Nr. 4 Die Weihe der Töne F-Dur op. 86 (EZ 1832). 113 Im Original heißt es: „[…] sondern wirklich hörbare Aeußerungen ihres Tonlebens nachgebildet haben: der Hahnenruf in Haydn’s Jahreszeiten, Kuckuk, Nachtigall und Wachtelschlag in Spohr’s ‚Weihe der Töne‘ und Beethoven’s Pastoralsymphonie“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 94). 114 „Es soll uns der Hahnenschrei nicht als schöne Musik, oder überhaupt als Musik vorgeführt werden, sondern nur der Eindruck zurückgerufen, welcher mit jener Naturerscheinung zusammenhängt. Allgemein bekannte Stichwörter, Citate sind es, welche uns erinnern: Es ist früher Morgen, laue Sommernacht, Frühling. Ohne diese beschreibende Tendenz hat nie ein Componist Naturstimmen zu wirklich musikalischen Zwecken verwenden können. Ein Thema können alle Naturstimmen der Erde zusammen nicht hervorbringen, eben weil sie keine Musik sind“ (ebd.). 115 Kapitel 7: „Die Begriffe ‚Inhalt‘ und ‚Form‘ in der Musik“ (ebd., S. 95 –104). 110 Hanslick
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Schrift ist uns ein Zeichen des Auflebens der tonkünstlerischen Vernunft gegen die wissenschaftliche Unmündigkeit und den faselnden Wahnsinn der Scharwächter der realistischen Propaganda; wir begrüssen dieses Morgenroth mit freudigem Zurufe und wünschen dem wackeren Kämpfer in dessem Lichte und für dessen Licht die nöthige Ruhe und Musse, das alles noch mehr zu präcisiren und zu einem vollständigen System der musicalischen Aesthetik auszuarbeiten. L. Bischoff.
Kommentar Den vorliegenden Artikel als Rezension von Eduard Hanslicks Traktat Vom Musikalisch-Schönen (ED 1854) zu bezeichnen, lenkt den Blick schnell auf die Tatsache, dass Ludwig Bischoff vielmehr eine Nacherzählung als eine Besprechung des in Frage stehenden Werks geliefert zu haben scheint. Doch ist es trotz der über weite Strecken wörtlich wiedergegebenen Passagen des Originals stets eine die eigene Sichtweise offenlegende Auswahl, die der Redakteur der Niederrheinischen Musik-Zeitung hier vorgenommen hat. Dass sich Bischoff in allgemein positiver Weise für Hanslicks Traktat einsetzte, erscheint folgerichtig, da der Wiener Musikkritiker des Öfteren sowohl in der Rheinischen als auch in der Niederrheinischen Musik-Zeitung publizierte bzw. dessen Artikel aus Wiener Zeitschriften von Bischoff wiederabgedruckt wurden. Der gute Kontakt zwischen Köln und Wien zeigt sich im vorliegenden Fall dadurch, dass es die Niederrheinische Musik-Zeitung war, welche Hanslicks Schrift als erste Musikzeitschrift außerhalb von Österreich überhaupt erwähnte.116 Es ist dem Umstand geschuldet, dass die Niederrheinische Musik-Zeitung während der in Rede stehenden Zeit samstags und die NZfM freitags publizierte, sodass Brendels Rezension117 von Vom Musikalisch-Schönen über drei Wochen hinweg parallel um jeweils einen Tag früher als diejenige Bischoffs erschien. Im Kontext der vorliegenden Edition ergibt sich somit der seltene Sonderfall, sowohl von Brendel als auch von Bischoff – den beiden Herausgebern der jeweils entgegengesetzte Lager vertretenden Musikzeitschriften – eine Buchbesprechung vorliegen zu haben, von der keine eine polemische Reaktion auf die jeweils andere darstellt bzw. überhaupt sein kann; zumindest betrifft dies die jeweils ersten Teile der Artikel. Umso aufschlussreicher erweisen sich die jeweiligen Vorgehensweisen der Rezensenten im Vergleich.
116 Siehe –r– 1854 Wiener Briefe. Vgl. hierzu auch die tabellarische Übersicht der Rezensionen zu Hanslicks Schrift am Ende des Kommentars von Brendel 1855 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, in: NdS 2 Nr. 72. 117 Ebd.
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Bischoffs Lesart entspricht jener Brendels insofern, dass beide zunächst ihre jeweils eigenen – gegensätzlichen – ästhetischen Prinzipien bei Hanslick wiederzufinden meinen. Während Brendel statuiert: „Ich habe hiermit dasselbe ausgesprochen, was unser Verf. [Hanslick] als Princip voranstellt“118, so sind es bei Bischoff „die seit Jahren von uns vertretenen Grundsätze“119, die Hanslicks Text im Detail wiedergebe. Darüber hinaus betrachtet Bischoff den Traktat im Hinblick eines Ordnung schaffenden und reinigenden Prinzips, indem er auf das „Unkraut“ verweist, das im Bereich der musikalischen Ästhetik offenbar wuchere. Brendels Meinung dazu lautet hingegen: „Unberührt geblieben war bis jetzt noch das ästhetische Gebiet im engeren und speciellen Sinne.“120 Sodann gerät die Kritik der Kritik ins Blickfeld, welche eine dezidierte Opposition in beiden Fällen bereits andeutet, wobei Bischoff den schriftstellerisch tätigen Künstler anprangert, dem es sowohl an Wissenschaftlichkeit als auch an logischem Denkvermögen fehle.121 Brendel dagegen propagiert gerade den „durch R. Wagner gegebenen Anstoß“122 und damit das Verdienst des Komponisten, ein musikwissenschaftliches Bewusstsein für eine Ästhetik gleich jener Hanslicks überhaupt ermöglicht zu haben. Die eindrücklichste Divergenz der Vorgehensweisen besteht in der jeweiligen Wiedergabe der einzelnen Kapitel. Während Brendels Schwerpunkt eindeutig um das dritte Kapitel zentriert ist („Das Musikalisch-Schöne“) und die letzten drei lediglich mit wenigen Sätzen wiedergegeben sind, beginnt Bischoff mit einer sehr umfangreichen Wiedergabe gerade des letzten Kapitels von Hanslicks Abhandlung und leitet dies bekräftigend mit dem positiven Urteil der „wirklichen Philosophen“123 über die Inhaltslosigkeit der Musik ein. Bischoffs Standpunkt für die Inhaltslosigkeit der Musik ist damit gesetzt, ebenso der subversive Versuch der Einflussnahme auf den Leser; ein inhaltliches Urteil seiner umfangreichen ‚Besprechung‘ ersetzt er durch den Verweis auf die Wiedergabe des – für sich sprechenden – letzten Kapitels am Anfang. Aufbau und Kritik von Brendels Rezension sind dagegen weitaus differenzierter und keine bloße Ablehnung von Hanslicks Schrift, wie es die oben angeführte Gegegenüberstellung zunächst vermuten ließe.124 Brendel beschließt seine Besprechung dennoch mit einer kämpferischen Ansage, indem er Hanslick den Vorwurf unterbreitet, „der neueren und neuesten Richtung gegenüber zu viele Mißverständnisse mit[zubringen]“125. Bischoff betrachtet die gesamte Schrift abschließend als Zeichen der Vernunft gegen die „wissenschaftliche Unmündigkeit und den faselnden Wahnsinn der Scharwächter der realistischen Propaganda“126. So polemisch Brendels abschließende Anfeindung sein mag, so gesteht er Hanslick in einigen Punkten den von ihm geforderten
118 Ebd.
Ebenfalls heißt es dort: „Ich kann demselben um so leichter meine Zustimmung schenken, als ich schon vor einer längeren Reihe von Jahren in dies. Bl. (Bd. 22, Nr. 1) dasselbe gesagt habe.“ Die Angabe bezieht sich auf Brendel 1845 Zur Einleitung, S. 10, in: NdS 1 Nr. 1, S. 25. 119 Vorliegender Artikel, S. 825 [49]. 120 Brendel 1855 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, S. 77, in: NdS 2 Nr. 72, S. 797. 121 Mit Bischoffs Verweis auf den Artikel Anonym 1855 Moderne Kritik, in: NdS 2 Nr. 71 ist die Stoßrichtung gegen die NZfM implizit ausgesprochen. 122 Brendel spielt hier offenbar auf Wagners musiktheoretische Schriften an, darunter Wagner 1850 Kunstwerk der Zukunft und Wagner 1852 Oper und Drama. Brendel betonte schon früher die Vorbildfunktion, die Wagners Schriften auf ihn ausübten (vgl. Brendel 1852 Zum neuen Jahr, S. 2, in: NdS 1 Nr. 27, S. 278). 123 Vorliegender Artikel, S. 824 [49]. 124 Siehe den Kommantar zu Brendel 1855 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, in: NdS 2 Nr. 72. 125 Ebd., S. 816 [100]. 126 Vorliegender Artikel, S. 845 [75].
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Fortschritt doch zu. Bischoffs weitestgehend127 kritikfreies Referieren ist jedoch weitaus pauschaler und unterschlägt beispielsweise sogar einen längeren Abschnitt, in dem Hanslick den Bischoff-Mitarbeiter Eduard Krüger in kritisch negativer Weise anführt.128 So eindeutig die Fronten der beiden Rezensenten abgesteckt sein mögen, so offensichtlich ist die Funktionalisierung bzw. Instrumentalisierung129 von Hanslicks Abhandlung für das jeweilige Musikverständnis und rückt Vom Musikalisch-Schönen abermals in die Position des Zankapfels, der – wenngleich nicht mit dieser Intention – zur richtigen Zeit zwischen die Lager der sich mehr und mehr befehdenden musikalischen Parteien geworfen wurde.
127 Wenngleich
Bischoff es als „Missverständnis“ herauskehrt, verschweigt er seine Kritik gegenüber Hanslicks äußerst elitären Vorstellungen eines ‚optimalen‘ Hörers nicht (vorliegender Artikel, S. 841 [74]). 128 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 5 sowie Anm. 16. Während der Jahre 1854 und 1855 wurden mehrere Artikel von Krüger in der Niederrheinischen Musik-Zeitung publiziert (Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, in: NdS 1 Nr. 66; Krüger 1854 Ueber Musik-Literatur; Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67; Krüger 1855 Liszt „An die Künstler“, in: NdS 2 Nr. 84; Krüger 1855 Marx und Brendel, in: NdS 2 Nr. 79; Krüger 1855 Sonderliche Gedanken, in: NdS 2 Nr. 74). 129 Siehe dazu auch den infolge der zweiten Auflage von Vom Musikalisch-Schönen erschienenen Artikel sowie den Kommentar zu Bischoff 1858 Zur Würdigung der Programm-Musik, in: NdS 3 Nr. 121.
Nr. 74 | Ed. [Eduard] Krüger, „Sonderliche Gedanken über die letzten Zeiten“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 3 (1855), Nr. 14 (7. April), S. 105 –108; Nr. 15 (14. April), S. 115 –117.
Sonderliche Gedankenüber die letzten Zeiten. Von Ed. Krüger.
Politische Parteiung macht sich seit einigen Jahren auch in der Kunst geltend. So sonderbar es scheint, man muss es gelten lassen, anerkennen, dass diese Auffassung vorhanden ist. Damit ist nicht zugestanden, dass sie berechtigt und in sich vernünftig sei. Es wäre eben so närrisch, wenn man den Staatsmann beurtheilen wollte nach einer Tenorstimme, den Priester nach dem Corpus juris, den Philosophen nach ro then Wangen und Haarlocken – wie es grundnärrisch ist, die Musicanten nach ihren reactionären, demokratischen, conservativen, socialistischen, aristokratischen, his torischen, zukünftigen, fortschrittigen u. s. w. Privat-Gedanken zu beurtheilen. Als im Jahre 1848 einige Gründlinge aus dem Parterre1 mit der grünen Hoffnung hervortraten, nun erst werde das Reich des Geistes ungehindert hervorbrechen, da lächelte der alte, gesunde Menschenverstand und fragte naiv genug: „Also ihr seid die Leute? Was wir bisher gerühmt und gefeiert, das war noch nicht der rechte Geist? So zeiget uns den besseren!“ – „O, ihr Philister!!“ war die Antwort: „ihr fühlet nicht das nahe Heranbrausen des Geistes, wie er sich entbindet aller hemmenden Rück sichten, wie er neue Schwingen frei entfaltet – – gebet Acht, das Land der Herr lichkeit thut sich auf, wo es keine Aristokraten und Tyrannen mehr gibt!“ – „Um Vergebung!“ lautete die naive Gegenrede: – „sollten etwa demokratisch gesinnte Contrabässe deutlicher spielen, als conservative?“ – „Böotier!2 mit dir ist nicht zu reden!“ hiess es. Und es half nichts, dass der conservative Philister sich höflich Be lehrung ausbat von seinem süssen Widerpart; auf jede erneuerte Bitte nichts als rundweg abgeschlagen: „Ihr versteht uns nicht; und wenn ihr uns versteht, so miss versteht ihr uns doch!“3 – Mit dieser wohlfeilen Reminiscenz aus Hegel wurden die Acten für dasmal geschlossen. Wenn es nun aber unzweifelhaft ist, dass jene zeitgesinnte Anwendung politi scher Kategorieen auf das Kunstwesen an sich verkehrt ist, oder doch kein un mittelbarer Bezug beider auf einander obwaltet, so wollen wir dagegen nicht ver Anlehnung an die Märzrevolution ein Zitat aus William Shakespeare, Hamlet, 3. Aufzug, 2. Szene, „Ein Saal im Schlosse“: „O es ärgert mich in der Seele, wenn solch ein handfester, haarbuschiger Geselle eine Leidenschaft in Fetzen, in rechte Lumpen zerreißt, um den Gründlin gen im Parterre in die Ohren zu donnern, die meistens von nichts wissen als verworrnen, stummen Pantomimen und Lärm. Ich möchte solch einen Kerl für sein Bramarbasieren prügeln lassen“. 2 Böotisch: ländlich grob, ungebildet. Mit dieser Wortbedeutung der griechischen Antike ging der Begriff auch in die gehobene deutsche Sprache des 18. und 19. Jahrhunderts ein. 3 Krüger nimmt 1 In
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kennen, welch Fünklein Wahres unserer Gegner Meinung in sich trägt. Der Künstler strebt nach Freiheit, die Jugend nach unbändiger Freiheit. Das ist nichts Besonderes; sie sind Menschen, wie andere auch, und es ist gar löblich, wo sie rein Menschlichem nachstreben. Ist aber die Freiheit nur bei einem bestimmten politi schen Bekenntnisse? Uns scheint, dass es mit der Freiheit ist, wie mit der Frömmig keit; wie in jedem Bekenntnisse Fromme und Gottlose, so auch bei jeder StaatsVerfassung finden sich freie Seelen und Sclavenseelen. Darüber kann sich also das Künstler-Völklein beruhigen; mit und ohne Demokratie können sie selig werden, wenn’s nur Künstler sind! Gehen wir tiefer, so hat freilich jene politische Inquisition nach reactionären und fortschrittigen Kunstgedanken eine schwerere Bedeutung. Was die ganze Zeit in nerlich bewegt, das wird sich auch im Kunstleben abdrücken. Finden wir nur erst das rechte Wort! Der Gegensatz, an dem wir mühen, quälen, bluten, ist nicht Action und Reaction, oder Alt und Neu, König und Volk, Rückschritt und Fortschritt; denn diese Gegensätze gehören jedem Leben und jedem Zeitalter; sie sind allgemeine, abstracte Formeln für die Polarität alles Lebendigen. Der specifische Gegensatz, der das Einzel leben unserer Zeit bewegt, ist vielmehr, allgemein gesagt: Subjectivität und Objectivität, und aus diesem ersten Gegensatze fliessen alle übrigen, als: Majorität und Autorität, Atomistik und Organismus, Willkür und Ordnung, Lüsternheit und Liebe, Effect und Schönheit. Dass nun diese Grundgewalten des politischen und religiösen Lebens auch in die Kunstwelt einfliessen, wird niemanden wundern, der die Wechselbeziehung alles Lebendigen erkennt. Den Ausgang haben jene Gegensätze aus dem Glaubensleben genommen. So unbequem dieses für manchen Zeitsinnigen lautet, es ist nicht min der wahr, ob es nun gefalle oder nicht. Aus dem Centrum des Seelenlebens er spriessen alle jene Blüthenzweige, die den Stamm [106] umranken, aber alle aus ihm Leben nehmen. Die gewaltige Wendung der Glaubenskämpfe seit dreissig Jahren ruht nicht auf dem Gegensatze der christlichen Kirchen. Denn wenn auch das calvinische Wesen ein übermässiges Hervorkehren der Subjectivität verschuldet hat, während das römische die alte Objectivität unerschüttert zu bewahren scheint, so ist doch durch Vermittlung evangelischen Kirchenlebens die Ausgleichung beider End punkte angenähert. Fälschlich haben ultramontane4 Stimmen die Revolution, welche eben an jenem Uebermasse der Subjectivität entzündet ist, den Protestanten Schuld gegeben, während Geschichte und Wirklichkeit zeigt, dass in römisch-katholischen Landen die Revolution ursprünglicher, gründlicher und verbreiteter geschehen ist, als in protestantischen. Wie sehr aber die Wirkung des Glaubenslebens sich ins staatliche hinein erstreckt, ist eben daran sichtbar, dass das ganze Zeitalter diesen Gegensatz ergriffen hat, der am stillen Heerde des Herzens aus dem Glauben ent zündet war; dass dieses „Subject-Object“ die Grundfrage des beginnenden Denkens
in den meisten seiner Artikel Anstoß an der von Brendel immer wieder geäußerten Anschuldigung, die Ursache der Ungunst gegenüber der modernen und fortschrittlichen Musik läge an der man gelnden Verständnisfähigkeit der Kritisierenden. Siehe u. a. Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, S. 122, in: NdS 1 Nr. 66, S. 701 sowie Krüger 1855 Liszt „An die Künstler“, S. 410, in: NdS 2 Nr. 84, S. 1035. 4 In der damaligen Zeit als pejorativer Begriff für papsttreue Katholiken ver wendet.
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geworden, dass Jugend und Alter sich daran abmühen – warum nicht auch Genies und Philister? Dass übrigens Cartesius5, der Jesuitenschüler, Erfinder des subjectiven Rationalismus ist, sei hier nur beiläufig in Erinnerung gebracht. Wie wirkt nun dieses auf die Kunst ein? Unmittelbar nicht. Das Schönheit-Leben ist nicht an jene Spitzfindigkeiten der Prophetenschulen6 gebunden. Wohl aber kann die Ausübung der Kunst berührt werden von den Folgen jenes Widerstreites. Wenn die Jugend nicht lernen will, weil sie zu Anfang der Lehre Unbegreifliches findet; wenn Liebe fehlt, Vergangenes eingänglich zu erkennen; wenn Demuth fehlt, die eine Hoheit über sich ahnen mag – so sind das zeitsinnig-subjective Auswüchse, die freilich die Leiter und Lenker solcher Jugend mitverschulden, weil sie keine Autorität zu erwerben wissen über ihrer Jünger Majorität. – Und wo die Massenhäufung der Kunstmittel (auch eine majoritätische Errungenschaft!) zuletzt allen Organismus in Atome zerlös’t und Willkür an der Ordnung Stelle setzt, da wundere sich Keiner, wenn der Effect, statt Schönheit zu bringen, sich selber vernichtet. Schönheit! Ist die Kunst wirklich etwas in dem Gesammtleben des Geistes, hat sie ihre eigene Weltbestimmung neben und unter anderen Geistesgebieten, so steht ihr Sonderleben nur in der Schönheit. Bare Lehrhaftigkeit ist prosaische Tendenzelei7, nimmt sich gut aus auf dem Katheder, schlecht auf der Bühne. Bare Charakteristik ist schmerzhafte Wirklichkeit, gehört ins Hospital, nicht ins verklärte Bildwesen. Alle Dinge im Himmel und auf Erden können in die Kunst eingehen, sofern sie schön sind, d. h. verklärende Bildkraft in sich tragen. Alle politischen, religiösen und philosophischen Probleme sind der Kunst feind, sofern sie Arbeit sind, werdende Wahrheit8, unvollendetes Suchen der vollkommenen Gestalt. Wir Anderen im Göthe’schen Zeitalter geborenen standen bisher in der ver gnüglichen Meinung, das sei der Schönheit Beruf, die stille Heimlichkeit der Seelen abzumalen, das Herz in Höhen und Tiefen zu geleiten, eine Schöpfung neben der Schöpfung sein, als Abbild jenes Urbildes, das in des Gemüthes Tiefen wohnt als kündlich grosses Geheimniss. Und der Sänger sprach:
5 Renatus Cartesius ist der latinisierte Name von René Descartes (1596 –1650). 6 Seit seinem ersten Aufsatz über Richard Wagner, in welchem er „Prophet“ in Bezug auf Wagner prägte, setzt Krüger diesen Begriff gleich mit den Anhängern und Fürsprechern Wagners und dem Kreis um Brendel und dessen NZfM: „Weil er [Wagner] es liebt, den Philistern an die Perrücke zu greifen und zugleich alle Gegensinner Philister zu schelten, so hat die zeitsinnige Bettelmanns-Kritik aus Furcht vor übler Nachrede ihn flugs zum Propheten geadelt“ (Anonym 1854 Richard Wagner, S. 57, in: NdS 1 Nr. 63, S. 669, vgl. auch dort Anm. 2). 7 Unter „Tendenzen“ wurden im 19. Jahr hundert auch propagandistische Absichten verstanden, die nachdrücklich vertretene politische oder weltanschauliche Richtung, Ideologie oder Moral erkennen ließen. Der Begriff geht zurück auf die Zeit des Jungen Deutschland und des Vormärz und erhielt im Umfeld der „Tendenzliteratur“ eine vornehmlich abwertende Konnotation. 8 Die philosophische Vorstellung von werdender Wahrheit erhielt bezüglich der Musik zuletzt durch Johann Theodor Mosewius Bedeutung, der 1852 den Ausspruch „die Musik müsse eine Wahrheit werden“ als den Grundsatz der „Aesthetiker der neuesten Schule“ prägte (Mosewius 1852 Johann Sebastian Bachs Matthäus-Passion, S. 25). Krü ger griff diese Wendung als „leipziger Terminus“ immer wieder auf. Zur näheren Erläuterung des Zitats auch in Bezug auf Krüger siehe Anonym 1854 Richard Wagner, S. 57 f., in: NdS 1 Nr. 63, S. 671, Anm. 9.
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Bilde, Künstler, rede nicht, Nur ein Hauch sei dein Gedicht.9 Damit liessen wir uns genügen und waren eine Weile fröhlich in seinem Lichte. Nun aber kommen daher die gewappneten Scharen derer, die verschollene Weisheit auf wärmen und verdorbenen Rococo der letzten Zeiten für allerneueste Kunstwerke verkaufen. Schade, dass die Vielgelehrten so wenig gelernt haben, um ihre Weisheit für neu zu halten. Unter diese Neuheiten, die nicht neu sind, rechnen wir die plumpe materielle Massenhäufung, die bekanntlich den liederlichen Höfen des siebenzehnten und achtzehnten Jahrhunderts längst bekannt gewesen, und damals wirkte wie jetzt, nämlich betäubend auf gesunde, zuckend, aufregend auf verdorbene Nerven. Ferner die kalte, unmelodische Declamatorik, welche dem prosaischen Illusions-Princip zu Liebe alle runden, plastisch-melodischen Gestalten verschmäht – aus Armuth, nicht aus Weisheit; das hatten die Ober-Rococo-Meister von Mattheson bis Schultz10 schon lange geleistet, ehe sie an den wahrhaft neuen Gestirnen Gluck und Mozart zur Vergessenheit verblichen. Sogar die rationalistische Ueberzeugung, man könne Berühmtheiten schaffen durch Coterie-Lobräucherungs-Systeme11, ist eine ziemlich alte Erfindung und hat aller Zeiten und Orten dieselbe Wirkung gethan, einen Augen blick die Thoren irre zu führen, die auf Meisters Worte schwören, um dann dem Gerichte der Zeiten zu erliegen (Vergl. Opitz12, Rist13, Gottsched14 und ihre Enko miasten15). Die eben behandelten Neuheiten gehören mehr dem Kunstleben und der historischen Kritik an. Ein Gleiches hat sich auch die theoretische Kritik gefallen lassen müssen; auch sie hat Neuheiten erfunden, die „alle schon da gewesen“16 sind, mit Gevatter Rabbi, dem klugen Judenmeister, zu reden. Wer mit der vorhandenen Nomenclatur nicht zufrieden, schafft sich lustig eine neue, und [107] meint Wunder was zu helfen, wenn er statt Genitiv Zeugefall oder Wessenfall oder sonst was Kluges sagt, statt die Termini technici als algebristische Buchstaben allgemeinen Verständnisses festzuhalten. Wer nun die Worte Consonanz und Dissonanz desswegen hasst, weil sie sittliche Consequenzen in sich tragen möchten, der verwechselt Theorie mit
9 Den
ersten Vers dieses Zweizeilers stellte Goethe der Abteilung „Kunst“ seiner 1815 erschiene nen Gedichtsammlung als Motto voran. Johann Wolfgang von Goethe, Kunst (ED 1827). 10 Johann Abraham Schulz (1747 –1800), deutscher Komponist und Musiktheoretiker. 11 Klüngel des zeitgenössischen Cliquenwesen und der Parteiungen (zum weiteren Verständnis des Begriffs siehe Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67). 12 Martin Opitz (1597 –1639), deutscher Dichter und Begründer der Schlesischen Dichterschule. 13 Johann Rist (1607 –1667), deutscher Dichter und Geistlicher. 14 Johann Christoph Gottsched (1700 –1766), deutscher Schriftsteller, Dramaturg und Literaturtheoretiker. 15 (Aus dem Griech.) Lobredner. 16 Im Trauerspiel Uriel Acosta (UA 1846) von Karl Gutzkow spricht der hochbetagte Greis Rabbi Akiba die hier zitierten Worte: „Ja, ja, mein Sohn, geht hin und widerruft, / Nur um im Denken nüchterner zu bleiben – / Und leset fleißiger daheim im Talmud! / Es haben alle Zweifler widerrufen / Und was auch einer noch so Kluges fand, / Es war nur Blüte eines frühern Keims. / Das Neue nur ist droben! Hier war alles / Schon einmal da – schon alles dagewesen – / Und fleißig Talmud lesen – junger Acher! / Schon dagewesen – alles dagewesen“ (ebd., S. 53).
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Ermahnung; ein Gleiches hatte schon Nichelmann17 versucht und mit gleichem, d. h. nichtigem Erfolg. Die Zionswächter18 des Vergangenen werden mit Recht verspottet, wenn sie das Alte um des Alten willen preisen. Doch sind sie nicht ganz so verkehrt, wie die Zionswächter des Neuen, die das neunzehnte Jahrhundert darum loben, weil es eben das neunzehnte ist und sie, die Unvergleichlichen, in selbigem geboren. Denn jene freuen sich an dem, was sich bewährt hat; diese tasten im Dunkeln und schieben der Zukunft die Bewährung zu. Das alles für wahr zu nehmen, dazu gehört ein starker Glaube an die Propheten der Neunzehner, ein stärkerer mindestens, als die bornirte Reaction sich rühmt, zu haben. Ist es aber wirklich so, dass nur der Lebende Recht19 hat: nun, so mag’s tröstlich sein, zu wissen, dass auch die Thoren sterben, wo sie dann diesem Grundsatze gemäss eben so gewiss Unrecht haben, wie Mozart, „der überwundene Standpunkt“20. Gesteht ihr das zu, so gesteht ihr freilich, dass es euch um zeitlich Leben zu thun ist, wie wir denn nie daran gezweifelt haben, bei wem weltlich Ehr’ und zeitlich Gut sich findet. – Gesteht ihr aber die Wahrheit jenes Satzes nicht, so ist’s auch mit der Lehre von „Alt und Neu“ nichts. Da wären wir allerdings auf dem rechten Wege: Ewigkeit ist’s, was die Kunst bedeutet; ewige Schönheit, ewige Liebe ist ihr Kernleben. Wie Brunst und Liebe, so sind Begeisterung und Fanatismus ungleiche Geschwister. Sie sind verschieden, wie heiliger Geist und Weltgeist. Der Fanatismus will, dass man ihm diene; der Geist Gottes in des Menschen Sohne dagegen ist nicht gekommen, dass er ihm dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben zur Erlösung für
Nichelmann (1717 –1762), deutscher Komponist. Siehe etwa Nichelmann 1755 Die Melodie nach ihrem Wesen sowohl, als nach ihren Eigenschaften. 18 Unter „Zionswächter“ versteht man jemanden, „welcher für seinen positiven Glauben allenthalben Gefahren sieht u. gegen die selben wächterhaft nach allen Seiten ausschauend Andere von der einzigen Wahrheit seines Glau bens zu überzeugen sucht“ (Pierer 1856 Art. „Zionswächter“). 19 Friedrich von Schiller, An die Freunde (ED 1803). In dem Gedicht heißt es: „Wir, wir leben! Unser sind die Stunden, Und der lebende hat recht.“ Später auch in der letzten Strophe des Trinklieds von August Heinrich Hoffmann von Fallersleben, in: Unpolitische Lieder. Sechste Sitzung (ED 1840): „Könnten unsre Väter sprechen, / Sprächen sie: stoßt an und zecht! / Leben war noch nie Verbrechen, / Und der Lebende hat Recht!“. 20 Der oft zitierte Ausdruck vom „überwundenen Standpunkt“ geht auf Franz Brendel zurück, der ihn bereits 1845 verwendete (Brendel 1845 Zur Einleitung, S. 2, in: NdS 1 Nr. 1, S. 10). „Was diese Blätter [NZfM] betrifft, so sprechen wir in unseren Recensionen häufig von den For derungen der Neuzeit, von dem neuen Inhalt, der jetzt in die Welt eintritt, wir bezeichnen die früheren Stufen als überwundene Standpunkte“. „Die Mißverständnisse, welche uns entgegen treten, beruhen zumeist auf der nicht ausreichend erkannten oder mißverstandenen Bedeutung des Ausdrucks: „überwundener Standpunkt“. Man versteht darunter etwas für Ungültig-Erklärtes, Beseitigtes, Veraltetes, während der Sinn einfach der ist, daß ein solcher Standpunkt nicht mehr der herrschende, in dem die Gegenwart ihren höchsten Ausdruck findet, genannt werden kann. Seine Berechtigung, seine ewige Geltung als Stufe der Entwicklung oder als einstiger Höhepunkt derselben wird ihm damit nicht entzogen. Wenn daher gesagt wird, der Standpunkt Bach’s, Mo zart’[s] sei ein überwundener, so wird dieser dadurch nicht zur Bedeutungslosigkeit herabgesetzt. Es heißt allein, daß der Inhalt jener Werke nicht mehr das Wesen des gegenwärtigen Bewußtseins bildet, daß wir als Menschen dieser Zeit nicht mehr unseren innersten Mittelpunkt, das, was uns gerade von den Vorfahren unterscheidet, darin ausgesprochen finden“ (Brendel 1848 Fragen der Zeit III, S. 101 und 103, in: NdS 1 Nr. 14, S. 169 und 171). 17 Christoph
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Viele (Matth. 20, 28.)21. Ist dieses Gleichniss zu hoch, so nehmen wir nähere, menschliche: Devrient22 und Rachel23, Hoffmann und Liszt, Beethoven und Wag ner; und in Kunstwerken auf ähnliche Weise: die Sixtina und der Hass-Huss des Düsseldorfers24 – Huss auf dem Concil, Gelb in Gelb gemalt, kein Strahl von Liebe und heiligem Geist, sondern barer schwarzgelber Tod in allen Zügen; dessgleichen stellet gegenüber die Zauberflöte25 und den Propheten26, die schauerliche Hoheit in Bach’s Passionen und die viehische, nicht tragische Bartholomäusnacht in den Hugenotten27 – überall ist Geist und Fanatismus deutlich geschieden; und obwohl der Teufel sich mit Larven der Engel schmückt – dennoch ist allein die ewige Wahr heit berufen, Zeugniss abzulegen ihrer selbst und ihres Gegentheils: Verum index sui et falsi28, was mit ganz ähnlichen, doch heiligen Worten der Apostel ausspricht, Ep. Joh. I. 4, 629. Die grösste Absonderlichkeit in den Zeit-Gedanken-Wirrsalen ist nun aber diese, dass sie so oft das Gegentheil von dem sagen, was sie wollen, das Gegentheil ihrer selbst bezeugen. So ist es unter Anderem eine sehr geläufige Vorstellung, dem mo dernen Fanatismus ein gewisses Uebermaass von Sinnlichkeit anzudichten, wobei sich dann die Fanatiker ganz vergnüglich auf die Rehabilitation des Fleisches30 berufen, die ihnen der geistreiche Jude vorgesungen, der allerdings solcher Rehabilitation sich höchst bedürftig fühlte. Wir Anderen, die wir ausser dem Zauberkreise zu stehen verdammt sind, erblicken nun in dem leidigen Fanatismus nichts weiter, als eine sublimirte Steigerung der Verstandesthätigkeit, die aller wahren Sinnlichkeit bar und ledig ist; was Göthe „trockene Phantasten“ nennt, das sind die im heutigen octroy irten Zeitungswälsch so genannten Fanatiker – des Ruhmes, der Kunst, der Zukunft, der Neuzeit – und wie die Rococo-Phrasen auch lauten mögen. 21 „[U]nd wer da will der Vornehmste sein, der sei euer Knecht, / gleichwie des Menschen Sohn ist nicht gekommen, daß er sich dienen lasse, sondern daß er diene und gebe sein Leben zu einer Erlösung für viele“ (Mt 20, 27 – 28). 22 Wilhelmine Schröder-Devrient (1804 –1860), deutsche Schauspielerin und Sängerin, sang die Venus in der Uraufführung von Wagners Tannhäuser 1845. 23 Rachel, auch Mademoiselle Rachel, eigentlich Elisabeth Rachel Félix (1821–1858), in der Schweiz geborene, französische Schauspielerin. 24 Das Gemälde Jan Hus vor dem Concil zu Konstanz (EZ 1842) von Carl Friedrich Lessing (1808 –1880) rief große Diskussionen in der Presse hervor, da man darin eine Beleidigung der katholischen Religion zu entdecken vermeinte. 25 Wolf gang Amadeus Mozart, Die Zauberflöte (UA 1791). 26 Giacomo Meyerbeer, Le Prophète (UA 1849). 27 Meyerbeer, Les Huguenots (UA 1836). 28 Zitat aus Baruch Spinozas Ethica, ordine geometrico demonstrata (ED 1677). (Lat.) Die Wahrheit als Prüfstein gegen sich selbst und gegen die Unwahrheit. 29 „Wir sind von Gott, und wer Gott erkennt, der hört uns; welcher nicht von Gott ist, der hört uns nicht. Daran erkennen wir den Geist der Wahrheit und den Geist des Irrtums“ (1. Joh 4, 6). 30 Die Bezeichnung „Rehabilitation des Fleisches“ oder auch „Rehabilitation der Materie“ geht zurück auf den frühsozialistischen Saint-Simonismus und wurde von dem französi schen Philosophen und Sozialisten Barthélemy Prosper Enfantin (1796 –1864) ab 1831 als Dogma des von ihm mitbegründeten Saint-Simonismus stark vertreten. Sie verkörpert die Forderung nach einer politischen Neuorganisation des Industriellen und Kulturellen, um damit der Anfang des 19. Jahrhunderts herrschenden Arbeitsideologie, der Mechanisierung des Körpers, des Fleisches, entgegenzutreten: „J’aime à faire ce rapprochement afin de vous rappeler sans cesse que notre œuvre apostolique consiste principalement dans L’Appel De la Femme et dans la Réhabilitation De La Chair, par l’organisation politique de L’industrie et la création d’un Culte nouveau“ (Barrault 1831 Doctrine de Saint-Simon, S. 162).
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Sinnlichkeit! Alle wahre Liebe ist sinnlich, leibsinnlich, naturleiblich in ihrem Wesen; alle falsche, verlogene Liebe ruht auf unsinnlicher, sinnloser Abstraction. Begreiflich für jeden Vernünftigen ist, dass die Sinnlichkeit nicht bloss im Begat tungstriebe ruht. Auch die heilige Mutter- und Kindesliebe ist sinngeistigen Wesens; selbst zärtliche Freundesliebe trägt Entzücken im Blick, warmes, wallendes Blut zieht die Herzen fester. Nur eine verglas’te Ader voll philosophischen Scheidewassers kann sich bei dem gründlich lieblosen Satze beruhigen, mit dem Arnold Ruge vermeinte etwas Neues zu sagen: „Wo sich die Principien trennen, da trennen sich die Her zen!“31 während nicht bloss Christus den Sünder liebt, sondern auch jedes treue Eheweib am Manne hängt, und sei er ein Verbrecher – und die wahre Mutter nicht vom verlorenen Sohne lässt, selbst wenn er ihr nach dem Leben gestellt. Unsinnlich dagegen, d. h. unwahr, ist solche Liebe, wie das moschusduftige Gedicht Amaranth von Redwitz32 darstellt, wo der Wendepunkt bräutlicher Liebe sich um eine Kate chese dreht über den äusserlichen Kirchenglauben, wo doch 1. Kor. 7, 14 längst genügende Antwort der Liebe gab.33 Lachen und Weinen ist sinnlich, kaltes Staunen unsinnlich. Wollten die Herren Neuzeitlichen sich selber ein-[108]mal der ersten Stunde erinnern, falls sie eine solche wirklich gehabt, wo ihnen zuerst die Herrlichkeit der Kunst überwältigend auf die Seele fiel: so würden sie doch wissen, dass jener erste Strahl sinnlich zündete in lä chelnden Thränen, nicht in logischen Erstaunlichkeiten. Weil es einmal thränense lige Narren gegeben, und die Literatur der Thränendrüsen zu den überwundenen Standpunkten gehört, so haben sich einige kluge Leute das Wort darauf gegeben, aller Thränen zu spotten. Und doch: es geschieht nichts Neues ohne Thränen; wo ein glühender Tropfen auf die Seele fällt, das ist seliger Schmerz; jede Eröffnung neuen Lebensstromes erregt die Sinnenflut in Lachen und Thränen. Das wussten unsere alten Dichter seit tausend und aber tausend Jahren, daher: άριδακρυες άνερες έσθλοι.34 Und das ist die Sinnlichkeit, die der trockene Fanatiker hasst, weil er sie nicht hat. Als besonderes Beispiel diene hier die Ueberraschung, ein sehr gebräuchliches und wirksames dramatisches Motiv. Wo diese im wahren Kunstwerke erscheint, da wirkt sie einmal wie hundertmal (decies repetita placebit, ein nicht unverächtliches Merkmal! S. Horat. Ep. ad Pis. Vs. 365)35; wo ein Lügendichter sie erfindet, da wirkt sie das erste
31 Arnold Ruge (1802 –1880), deutscher Schriftsteller: „Das Princip trennt, täusche Dich darüber nicht! […] Das Princip kann man auch seinen Freunden nicht opfern; wer es opfert, wurde nie von ihm geleitet. Was ist es andres als das Herz, die Seele, das Ich, der ursprüngliche sich selbst bewegende Punct der Entwickelung?“ (Ruge 1848 Polemische Briefe, S. 254 f.). 32 Amaranth (ED 1849), romantisches Epos des deutschen Dichters Oskar Freiherr von Redwitz (1823 –1891). 33 „Denn der ungläubige Mann ist geheiligt durchs Weib, und das ungläubige Weib ist geheiligt durch den Mann. Sonst wären eure Kinder unrein; nun aber sind sie heilig“ (1. Kor 7, 14). 34 Das Zitat stammt aus den venezianischen Scholien zu Homers Ilias (Sch Ven Il, 1. 349, um 200 v. Chr.): „Schnell mit den Tränen sind edle Männer“. 35 Das an den 3. Literaturbrief, Epistula ad Pisones, von Horaz angelehnte Zitat lautet vollständig: „Haec placuit semel, haec decies repetita placebit“ (Was einmal gefallen hat, wird auch bei der zehnten Wiederholung gefallen. Ars poetica, V. 365).
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Mal, und ist das zweite Mal abgegohren, sobald man weiss, was dahinter steckt. Wer hätte sich nicht in Schiller und Shakespeare wiederholt derselben erschütternden Ueberraschung erfreut, dessgleichen bei Gluck und Mozart – dagegen das benga lische Feuer-Vergnügen des Lügen-Propheten in Einem Male verpufft, und nur Blasirte ertragen’s zwei Mal – die eben der Moxa36 bedürftig sind. [115] Der Hochmuth, der ohne Gott sein will, wie Gott, die Quelle aller Sünde dieser Welt, ist es auch, der Liebe ohne Leiblichkeit, Kunst ohne Sinnlichkeit, Tech nik ohne Gaben, Wissen ohne Glauben erfunden hat. Auf derselben Bahn liegt auch die Ausgeburt des trockenen Verstandes-Enthusiasmus für den Fortschritt, den leeren Fortschritt an sich, den Progressus in infinitum,37 den die gereifte Philosophie bereits gerichtet hat. Zumal den so genannten! Denn wenn ich statt 12 Blasinstrumente deren 36 verwende, so ist der Fortschritt nicht geistreicher, als wenn ich drei Flaschen Wein statt Einer trinke. Aber auch der wirkliche Fortschritt, d. h. die vernünftige Entwicklung des Vorhandenen, ist nicht ziellos, nicht endlose, im Blinden suchende Bewegung, sondern er ist eine Bewegung nach der Wahrheit hin, eine Herstellung des Ursprungs, ein Wiederfinden der ersten Gestalt, die Gott selber gegebenI. Und jedes neue Princip bewahrt sich nur, indem es die neue Enthüllung eines Alten, Ewigen bringt. Wir sehen es an dem Fortschritt unserer Philosophie und Kunst: Autorität, Orthodoxie, Freiheit, Subjectivität, Objectivität – eben so byzantinische, römische, deutsche Kunst – dessgleichen heilige und weltliche, declamatorische und melodische, Sonderkunst und Allkunst – alle diese Fortschritte haben nur Sinn, in so fern die späteren Standpunkte alle früheren liebevoll umfassen und der einen längst vorhandenen Urwahrheit näher kommen. Auf diesem „Liebevoll-Umfassen“ beruht es allein, ob sich ein Standpunkt bewährt. Die moderne Philosophie hat mit Recht den Satz aus der Naturkunde entlehnt, dass der höhere Organismus den niederen umfasse und wiederum auf ein Höchstes, das Ur-Ideal, hindeute. So ist der Mensch ein Natur-Gebilde, das die niederen Organis men Mineral, Pflanze und Thier in sich fasst, auf organische Weise vereint und neu gestaltet, nicht aber mechanisch verbunden, wie das Sammelsurium der AssociationsAllkunst, welche die niederen Organismen nur zerbröckelt, um aus zerquetschten Steinen, Bäumen, Kröten und anderem Ungethier den vermeintlich idealeren Or ganismus zu gestalten. – Nichts besser als jene ist die Wagner’sche, den Neu-Franzo sen entlehnte Theorie, das Volk nur als Complex von Individuen anzusehen, den In begriff der Noth-Menschen, statt die Menschheit in dem königlichen Bilde der Persönlichkeit, der Person und des Selbstbewusstseins, anzuschauen. Hier scheidet sich heidnische und christliche, oder rationalistische und tiefsinnige Betrachtung so
ist u. A. die seit Händel und Bach allmählich überwiegende Geltung des Dur über das Moll eine Rückkehr zur ersten Natur, nicht, wie Chrysander in seinem sonst lesenswerthen und geist vollen Buche38 behauptet, eine Ueberwältigung der Vocalität von der Instrumentalität (Vergl. Niederrheinische Musik-Zeitung, I. Jahrg., Nr. 21, v. 3t. Dec. 1853)39. I So
36 In
Ostasien bei bestimmten Heilmethoden zur Erhöhung der allgemeinen Abwehrreaktion ver wendete Beifußwolle, die in oder über speziellen Stellen der Haut abgebrannt wird. 37 (Lat.) Fortschritt ins Unendliche, auch: unabschließbarer Progress. 38 Chrysander 1853 Über die Molltonart in den Volksgesängen. 39 A. H. 1853 Zur Physiologie des musicalischen Drama’s.
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deutlich, dass die Parteien eben hier [116] den Kampf auf Leben und Tod beginnen mögen, wenn es ehrlich zu thun ist um Wahrheit und Gestalt, nicht um Banditen witz und Schülerspott. Wie die bewusste Persönlichkeit das Ebenbild des Schöpfer geistes selber ist, das hat von neueren Weltweisen am besten der jüngere Fichte entwickelt.40 Zwar ist auch diese Wahrheit schon alt, da sie zuerst sichtbar ward an dem, der den Juden Aergerniss und den Griechen Thorheit war (1. Kor. I. 23.)41. Nur die Persönlichkeit hat Wahrheit und Schönheit; nur die Person kann Demuth und Sehnsucht empfinden – Der Sehnsucht rauscht der Schönheit Quelle, Der Demuth scheint die Wahrheit helle.42 Unpersönlich, d. h. ungöttlich und unwahr, ist alles Streben ins Allgemeine, das nicht wirklich wird, alle Tendenz-Verschwörung43 des blinden Köhlerglaubens44 für ein allgemeines Gut, das nirgend existirt, weil es nicht im Herzen wiedergeboren ist. Solche Verschwörungen, die viel blinderen Glauben fordern, als sie am Chris tenthume verspotten, sind aber freilich nicht erst von den Gebrüdern Leipziger45 u. Comp. erfunden. Bereits 1830 kamen uns in Berlin Symptome dieser Zeitkrank heit vor, und die hatten es wieder von den pariser Clubs seit 1789 erlernt, diese wiederum eine mangelhafte Uebersetzung geleistet aus den hundert Jahre älteren Tory- und Whig-Kämpfen, und auch diese durften sich kaum der Originalität rüh men gegenüber der ältesten Erfahrung: Genesis XI. 4.–8.46 40 Zu
Fichtes Anschauungen des Menschen als Abbild Gottes oder des Absoluten siehe beispielsweise Fichtes Anweisung zum seligen Leben oder auch die Religionslehre (ED 1806): „Mag es doch immer Gott selber sein, der hinter allen diesen Gestalten lebt; wir sehen nicht ihn, sondern immer nur seine Höhe; wir sehen ihn als Stein, Kraut, Tier, sehen ihn, wenn wir höher uns schwingen, als Naturgesetz, als Sittengesetz, und alles dieses ist doch immer nicht Er. Immer verhüllt die Form uns das Wesen; immer verdeckt unser Sehen selbst uns den Gegenstand, und unser Auge selbst steht unserm Auge im Wege. – Ich sage dir, der du so klagest: erhebe dich nur in den Standpunkt der Religion, und alle Hüllen schwinden; die Welt vergehet dir mit ihrem toten Prinzip, und die Gottheit selbst tritt wieder in dich ein, in ihrer ersten, und ursprünglichsten Form der Reflexion bleibt, die Unendlichkeit dieses göttlichen Lebens, in dir, welches, in Gott freilich, nur Eins ist“ (Fichte 1806 Anweisung zum seligen Leben, S. 81). 41 „Sintemal die Juden Zeichen fordern und die Griechen nach Weisheit fragen, / wir aber predigen den gekreuzigten Christus, den Juden ein Ärgernis und den Griechen eine Torheit; / denen aber, die berufen sind, Juden und Griechen, predigen wir Christum, göttliche Kraft und göttliche Weisheit. / Denn die göttliche Torheit ist weiser, als die Menschen sind; und die göttliche Schwachheit ist stärker, als die Menschen sind“ (1. Kor 1, 22 – 25). 42 Dies sind die beiden letzten Verse des Gedichtes Andacht (ED 1807) von Friedrich von Schlegel. 43 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 7. 44 Unbedingter und nicht zu hinterfragender Glaube in das, was die Kirche predigt. 45 Mit „Gebrüder Leipziger“ oder den „Brüdern Leipziger“ sind insbesondere die ‚fort schrittlich‘ gesinnten Kritiker aus den Reihen der NZfM gemeint, siehe vergleichbare Formulierung in Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67 sowie in Anonym 1854 Richard Wagner, in: NdS 1 Nr. 63. 46 Die hier genannten vier Beispiele beziehen sich auf: 1. Berlin 1830, Schneider revolution: Angesteckt durch die Julirevolution in Frankreich kam es in Berlin auf Seiten der Hand werker zu großem Aufbegehren wegen der Gefährdung ihrer Arbeitsplätze aufgrund von Importen neuartiger Maschinen aus England; 2. Paris 1789, Französische Revolution; 3. Tory- und WhigKämpfe: In der englischen ‚glorreichen Revolution‘ 1688/89 führten Machtkampf und Verfassungs
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Aufrichtige Geschichtforschu[n]g gibt wahre Lebensgestalten und lehrt wahre von falschen scheiden durch Mitwirkung aufrichtiger Logik; beide ruhen auf den Strömun gen des göttlichen Geistes, der allein richtige, allgemein gültige Theorieen erschaf fen kann. Wer nun, allen Zeugnissen der Historie zuwider, die Verbindung von Geige und Clavier unverträglich findet, während er die weit fremdere von Gesang und Clavier gestattet (s. Marx’ Comp.-Lehre, Th. 4, S. 428 und 472 der Ausg. von 1847)47 – oder wer die Harmonie und das Accordwesen lediglich betrachtet als die hohle Röhre, den Raum, worin die Melodieen zufällig zusammengegossen sind – oder wer die Freude an Eccard48, Händel und Mozart einen veralteten Standpunkt nennt, dennoch aber an traditioneller Verehrung S. Bach’s festzuhalten behauptet – der beweist mit solchen Sätzen, welcher Art seine Logik ist. Und wer Liszt darum lobt, weil er dem Neuzeitlichen Raum gebe, einerlei, ob Bibel oder Babel, Berlioz oder Ben David49, der Sandreiter aus der Wüste50, Schumann, Gade, Schubert oder Meyerbeer, Wagner, Brahms – nun, der beweis’t allerdings, was er von Geschichte hält und wie weit „Alt und Neu“ ihm eine Wahrheit ist. Nach so viel Klagen und Anklagen kein Wort des Friedens? Gewiss! Es ist Gutes in der Zeit vorhanden, und zwischen den Thoren finden sich Weise, denen die Kunst heilig ist, wie sie es den Vätern war. Nicht die kirchliche allein – alle Weltlust ist geheiligt, wo reine Herzen sich reiner Schönheit freuen. Welche erneute Lust am Volksliede erfrischt unsere durstige Zeit! Wie gewandt arbeiten die zierlichen Talente im Kleinen, wo Grosses versagt ist! Sollten wir diese Talente in Cameen- und Gemmen-Schnitzerei51 minder hoch halten, weil ihnen nicht gegeben ist, einen
konflikt zwischen den auf Seiten der Krone und der Stuart-Dynastie stehenden Tories und den als Sieger hervorgehenden Whigs, als den Verteidigern der Großgrundbesitzer und des Parlaments, zu einer ersten Ausbildung eines rudimentären Zweiparteiensystems sowie 4. auf den alttestamentari schen Turmbau zu Babel: „[…] und sprachen: Wohlauf, laßt uns eine Stadt und einen Turm bauen, des Spitze bis an den Himmel reiche, daß wir uns einen Namen machen! denn wir werden sonst zerstreut in alle Länder. / Da fuhr der HERR hernieder, daß er sähe die Stadt und den Turm, die die Menschenkinder bauten. / Und der HERR sprach: Siehe, es ist einerlei Volk und einerlei Sprache unter ihnen allen, und haben das angefangen zu tun; sie werden nicht ablassen von allem, was sie sich vorgenommen haben zu tun. / Wohlauf, laßt uns herniederfahren und ihre Sprache da selbst verwirren, daß keiner des andern Sprache verstehe! / Also zerstreute sie der HERR von dort alle Länder, daß sie mußten aufhören die Stadt zu bauen“ (Gen 11, 4 – 8). 47 An entsprechender Stelle heißt es bei Marx: „Die Verknüpfung von Piano und Blas- oder Streichinstrumenten kann, sie als einen einzigen Körper genommen, nicht als ein wahrhaft in sich einiges, im Gleichmaass und in Gleichheit aller seiner Stimmen vollkommen befriedigendes Organ gelten“ (Marx 1847 Die Lehre von der musikalischen Komposition, S. 428). „Ob ein Gesangstück überhaupt Begleitung erfo[r]dre? diese Frage ist bereits S. 447 [„Verstärkung des Gesangs“] zur Erledigung gekommen. Die nächste Frage ist die: ob es Klavier (oder statt dessen ein andres selbständiges Instrument) oder Orchesterbegleitung fo[r]dre – oder zulasse?“ (ebd., S. 472). 48 Johannes Eccard (1553 –1611), deutscher Komponist und Kapellmeister. 49 Félicien-César David (1810 –1876), französischer Komponist. 50 Hier bezieht sich Krüger offenbar auf Davids Ode-symphonique Le désert (Die Wüste, UA 1844). 51 Mit „Gem men“ bezeichnet man Edelsteine, in die insbesondere Gestalten oder Schriftzüge vertieft eingeschnitzt sind. „Cameen“ sind die Gegenstücke dazu, Schmucksteine, auf denen die Figuren halb erhaben herausgearbeitet sind.
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phidianischen52 Zeus zu gestalten? Oder sollen wir von jeder Zeit Alles verlangen, gleich den kritischen Propheten, die da Register aufstellen von Büchern, welche annoch zu schreiben seien? Solche Thorheit, Kunstwerke prophetisch zu postuliren, statt vorhandene zu vernehmen oder neue zu schaffen, ist von ziemlich neuem Datum; sie zieht sich durchs vorige bis in dieses Jahrhundert, und Mattheson, Gott sched, Klopstock, F. L. Jahn53 u. A. sind davon Zeugniss, dass kritische Propheten niemals Erfüllung finden. Bescheidener sind Aristoteles und Boileau54, die wenigs tens nicht darum, weil sie mit ihm aus Einem Glase getrunken, den „Mann der Gegenwart“ präconisiren, sondern den Vätern Ehre geben und die Schranken der Zeitbegabung anerkennen. Wir meinen ja nicht, dass die Zeiten und Gaben mit Mauern geschieden sind. Wenn daher in dieser Zeit, die im Kritischen und Historischen, in Arbeit und Me chanik wahrhaft gross ist, dennoch ein echter Dichter, ein Künstler mit dem Feuer zeichen an der Stirn erscheint: ich hoffe, wir würden ihn wohl erkennen und lieben; einen solchen, der die Herzen mit neuem Regen und Beben bewegte, dessen Lippe heilige und milde Lieder strömte, dessen Werke zündeten mit anderem Strahl als mechanischem Gaslicht. Und auch heute sind wir ja nicht ledig der schöpferischen Geister, nur dass sie es nicht in den alten Bahnen sind. Lindblad’s Lieder55 haben tiefen, holdseligen Volkston, Hiller’s und G. Schmidt’s Opern56 sind voll melodischen Tongehalts; Gade’s und Schumann’s frühere Werke (Gade bis zur zweiten Sinfonie57, Schumann bis zur Peri)58 bringen Gestalten, nicht blosse Schatten; Chopin’s kurze Sätze athmen jene glühende Luft, die ihn später versengte bis zum Fanatismus, woran seine grösseren Compositionen zu Grunde gingen. Von den Jüngstgeschie denen ausser Chopin sind Berger59 und Fr. Schubert, die innigsten Geistesverwandten Beethoven’s, hervor zu heben; jener in [117] köstlichen Clavier-Sonaten (Op. 6, 7) des Meisters dunkle Weise erhellend und erläuternd, dieser die phantastischen In strumental-Ideen in vocale Näherung rückend und hier all sein Herz ergiessend,
52 Besonders
groß gebaut. Der Namensgeber und griechische Bildhauer Phidias (um 500 – um 432 v. Chr.) erlangte vor allem durch seine 12 Meter hohe Statue des Zeus in Olympia Bedeutung. Sie gehörte zu den sieben Weltwundern der Antike. 53 Friedrich Ludwig Jahn, auch „Turnvater Jahn“ genannt (1778 –1852), Initiator der deutschen Turnerbewegung und Schriftsteller. 54 Ni colas Boileau, auch Boileau-Despréaux (1636 –1711), französischer Dichter. 55 Der schwedische Komponist Adolf Fredrik Lindblad (1801–1878) komponierte eine Reihe von schwedischen Lie dern für Gesang und Klavierbegleitung, die 1847 auch in deutscher Übersetzung veröffentlicht wurden. 56 Ferdinand Hillers (1811–1885) bis dato aufgeführte Opern waren La Romilda (UA 1839), Der Traum der Christnacht (UA 1845), Konradin (UA 1847) und Der Advokat (UA 1854). Zu den Opern des deutschen Theaterkapellmeister und Komponisten Gustav Schmidt (1816 –1882) gehören Prinz Eugen, der edle Ritter (UA 1847), Die Weiber von Weinsberg (UA 1858), La Réole (UA 1863) und Alibi oder Die Fahrt ins Philisterium (UA 1880). 57 Niels Wilhelm Gade, Symphonie Nr. 2 Es-Dur op. 10 (UA 1843). 58 Robert Schumann, Oratorium Das Paradies und die Peri op. 50 (UA 1843). 59 Ludwig Berger (1777 –1839), deutscher Komponist und Pianist.
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daher seine Lieder meist unnennbar schön, die Instrumentationen schwach und trocken sindII. Noch viel Derartiges hätten wir auf dem Herzen, wollen es aber sparen auf ge legene Zeit. Einstweilen bitten wir die Freunde um Verzeihung, wo wir in Worten zu viel gethan, und erwarten, von den Gegnern gehörig gestriegelt zu werden. Sollte der Esprit de corps60 schon heute fordern, dass überall bestimmt Partei genommen werde und Alles „Hie Welf, hie Waibling!“61 schreie, so geben wir nur noch schliess lich zu bedenken, dass Esprit de corps eine schöne Sache ist, wo es das Vaterland gilt und den Kampf wider die Geister unter dem Himmel. Den kindischen Esprit da gegen, der Tertia wider Quarta hetzt, achten wir nicht höher, als den der Wahn sinnigen im Irrenhause, die sich unter einander prügeln, bis ein Vernünftiger zwi schen sie tritt, worauf sie insgesammt instinctmässig wider diesen Partei nehmen.
Kommentar Mit dem vorliegenden Artikel versuchte Eduard Krüger offenbar ein paradigmatisches Beispiel dafür zu geben, was er an der einst aktuellen Debatte in der Musikkritik vermisste: Der reaktionäre und antifortschrittliche Impetus seines umfangreichen Aufsatzes fordert nicht nur Differenzierung des Sachverhalts, sondern insbesondere Offenheit für das Bestehende und einen entsprechend konstruktiven bzw. produktiven Umgang damit. Fortschritt in der Kunst betrachtet er durchaus als willkommen, gibt jedoch zu bedenken, dass Fortschritt nicht aus dem Nichts entstehen könne. Die Motivation für den vorliegenden Text ist sicherlich vielfältig, dürfte aber im näheren Publikationsumfeld zu suchen sein. Noch kein Monat war vergangen, da sowohl in der Niederrheinischen Musik-Zeitung als auch in der NZfM jeweils eine umfangreiche Rezension zu Eduard Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen erschienen war.62 Während Ludwig Bischoff in seiner Zeitschrift mit einer Reihe von „Stimmen der Kritik über Richard Wagner“63 anschloss, publizierte Brendel zeitgleich einen mehrteiligen Artikel zu Schumann, verfasst von
II Gegen
dieses Urtheil muss ich mir Einspruch erlauben. Dass Schubert’s Instrumentalwerke in der Form unvollkommen sind und durch Längen manchmal ermüden, auch dass einige Motive bei der ungeheuren Menge derselben schwach und von der Oberfläche geschöpft sind, gebe ich zu; aber im Allgemeinen scheint mir Frische der Erfindung und der Phantasie in seinen Clavier-So naten und den Clavierstücken mit Begleitung, in der C-dur-Sinfonie und in den zwei ViolinQuartetten ganz unverkennbar. L. B. [Ludwig Bischoff] 60 (Frz.)
Korpsgeist. 61 Schlacht- und Parteiruf, der der Erzählung nach auf die Schlacht bei Weinsberg 1140 zurückgeht. 62 Siehe Brendel 1855 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, in: NdS 2 Nr. 72 sowie Bischoff 1855 Eduard Hanslick, in: NdS 2 Nr. 73. 63 Bischoff 1855 Stimmen der Kritik über Richard Wagner.
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Liszt.64 Neben diesen Leitartikeln, welche die ‚großen‘ Themen der Zeit behandelten, war der Aufenthalt und ein Konzert Berlioz’ in Weimar Gegenstand kleinerer Artikel in beiden Blättern, wobei sich der anonyme Autor – wahrscheinlich Bischoff – hämisch über den Bericht Brendels mokierte,65 der darin erstmals seine Hinwendung zur Begeisterung für den Franzosen bekannte.66 Obgleich eine Artikelreihe über die „Musikzustände des Niederrheins“ in der NZfM wie eine Revanche Brendels wirkt,67 ist in dieser nahezu durchgängig ein bemerkenswert objektiver, ja positiver Ton angeschlagen – bis auf eine Fußnote: „[…] Trotzdem, daß das niederrheinische Publikum im Laufe von mehr als dreißig Jahren daran gewöhnt war hauptsächlich solche Musik zu hören, die man nach hergebrachten Begriffen ‚classisch‘ nennt, begegnet es Kunsterscheinungen wie Wagner, Schumann und Berlioz mit Mißtrauen und Vorurtheilen, ohne sich über dieselben gehörig orientirt zu haben. Die Tageskritik […] begünstigt dieses Gebahren, anstatt es nachdrücklich zu bekämpfen.“68 Zwar mag Krügers Artikel die bestehende Fehde der beiden Zeitschriften befeuert haben, er scheint aber vor allem jenes „Gebahren“ erklären und der Debatte ein ‚natürliches‘, das heißt für ihn religiöses Fundament verleihen zu wollen. Die Auseinandersetzungen der musikalischen Parteien betrachtet er dabei herablassend als „Banditenwitz und Schülerspott“69, um darauf aufmerksam zu machen, dass die eigentlich zu debattierenden Abgründe gesellschaftlicher Natur seien. Krügers Zugeständnisse an seine Gegner sind bemerkenswert, insbesondere, da er diese nicht als solche formuliert. Mit seiner Ausführung zum alles beherrschenden, dualistischen Prinzip – welchem der Grundgedanke von Goethes Begriff der „Steigerung“ innewohnt –, offenbart Krüger eine Vorstellung von sich gegenseitig befruchtender Polarität, welche sich im Grunde kaum von Hegels Dialektik unterscheidet und somit der Fortschrittsmaxime Brendels eigentlich entspricht. Die Heftigkeit von Krügers Kritik richtet sich an die Verschiebung der Debatte an die Oberfläche: leere Worthülsen der Polemik, Partei des Parteimachens, Effekt des Effekts, Fortschritt des Fortschritts wegen. „Sonderkunst und Allkunst – alle diese Fortschritte haben nur Sinn, in so fern die späteren Standpunkte alle früheren liebevoll umfassen und der einen längst vorhandenen Urwahrheit näher kommen.“70 Krüger geht damit nicht nur bezüglich der Schlagworte „All-“ und „Sonderkunst“ einen vermittelnden Weg ein, auch die Parole vom „überwundenen Standpunkt“ integriert er somit in sein dualistisches ‚Allsystem‘ und formuliert dabei ein verblüffend ähnliches Verständnis, wie es Brendel schon vor mehreren Jahren geäußert hatte.71 Ähnliches gibt sich zu erkennen, wenn Krüger die seiner Meinung
1855 Robert Schumann. 65 Anonym 1855 Stoppellese. 66 Brendel 1855 Weimar. 67 Ano nym 1855 Musikzustände des Niederrheins. 68 Ebd., S. 138, Anm. 69 Vorliegender Artikel, S. 856 [116]. 70 Ebd., S. 855 [115]. 71 „Die Mißverständnisse, welche uns entgegentreten, beruhen zumeist auf der nicht ausreichend erkannten oder mißverstandenen Bedeutung des Ausdrucks: ‚überwundener Standpunkt‘. Man versteht darunter etwas für Ungültig-Erklärtes, Beseitigtes, Ver altetes, während der Sinn einfach der ist, daß ein solcher Standpunkt nicht mehr der herrschende, in dem die Gegenwart ihren höchsten Ausdruck findet, genannt werden kann. Seine Berechtigung, seine ewige Geltung als Stufe der Entwicklung oder als einstiger Höhepunkt derselben wird ihm damit nicht entzogen. Wenn daher gesagt wird, der Standpunkt Bach’s, Mozart’s sei ein über wundener, so wird dieser dadurch nicht zur Bedeutungslosigkeit herabgesetzt. Es heißt allein, daß der Inhalt jener Werke nicht mehr das Wesen des gegenwärtigen Bewußtseins bildet, daß wir als Menschen dieser Zeit nicht mehr unseren innersten Mittelpunkt, das, was uns gerade von den Vorfahren unterscheidet, darin ausgesprochen finden“ (Brendel 1848 Fragen der Zeit III, S. 103, in: NdS 1 Nr. 14, S. 171). 64 Liszt
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nach hoffnungsversprechenden Komponisten durch das Qualitätssigel ihrer jeweiligen Geistesverwandtschaft zu Beethoven kennzeichnet. So groß Krügers Vorbehalte gegen Hegels Musikästhetik waren,72 verfolgt er doch dessen allgemeines Prinzip der Dialektik. Der entscheidende Unterschied zu Brendel ist sicherlich im Bedürfnis einer religiösen Verankerung zu betrachten. Für Krüger bestand eine Möglichkeit künstlerischen Fortschritts nur unter der Voraussetzung, dass sich „ein alle Verhältnisse durchdringendes kirchliches Leben mit zündendem nationalem Gemeingeist“ verbindet.73 In dieser Hinsicht sind auch seine wiederholten Äußerungen zum lutherischen Glauben zu verstehen sowie sein abschließender Apell an den nationalen Korpsgeist des Lesers. Dass gegnerische Positionen in Wirklichkeit oftmals sehr nahe beieinander liegen, ist ein Charakteristikum des musikalischen Parteienstreits, das in der Person Krügers sicherlich ein Extrem findet.74 Ebenfalls bezeichnend ist die bei allen Parteien festzustellende Vereinnahmung Beethovens sowie ein äußerst diffuses Bild jener Komponisten, die von Krüger als ‚zukunftsträchtig‘ bezeichnet werden.
Krüger 1842 Hegel’s Philosophie der Musik. 73 Hoppenrath 1965 Eduard Krüger, S. 152. war schon unter Schumann langjähriger Mitarbeiter der NZfM. Seit der Zeit um 1851 begann seine zunehmende Abneigung gegenüber dem Kreis um Brendel (vgl. Krüger 1852 Magna polemica), sodass er fortan (auch) für die Niederrheinische Musik-Zeitung schrieb. 72 Vgl.
74 Krüger
Nr. 75 | Anonym [James William Davison], [o. T., „Richard Wagner“], in: Musical World 33 (1855), Nr. 26 (30. Juni), S. 412 – 414.1
Richard Wagner has departed. On Tuesday, 5 o’clock A. M., the morning after the last Philharmonic concert2, the representative of the “Future Art-Work” bade adieu to this commercial metropolis,I the inhabitants of which have been hitherto insensible to his preaching. What he may think of musical London we are unable to guess; but, if there be any truth in physiognomy, the “small man with the intellectual forehead,”4 as “Drei Sterner”5 playfully designates him, must regard us as a community of idiots. Be it so. “Where ignorance is bliss ’tis folly to be wise.”6 For our own parts we should prefer a state of perpetual coma to a lively apprehension of Herr Wagner, his doctrines, and his music. In speaking of this remarkable man and his works we have, at times, however, been less serious than many may have thought it becoming. Let us, nevertheless, endeavour to absolve ourselves from any suspicion of considering a subject which gravely concerns art from the point of view of ridicule. Our profession of faith is plain and easy. We hold that Herr Richard Wagner is not a musician at all, but a simple theorist, who has conceived the unhappy idea of aiming a blow at the very existence of music, through melody, that element which has won for it the epithet of “divine.” In condemning independent melody – “absolute melody,”7 to use his own expression – Herr Wagner arraigns the essence of music itself. It is a fact, beyond discussion, that I Since
the above was written, we have heard that, although this was Herr Wagner’s first intention, he did not really start till Thursday.3 – Ed. M. W.
in gekürzter Form in: Reid 1984 Music Monster, S. 195 –197. 2 Das letzte der acht, auf Einladung der Londoner Philharmonic Society dirigierte Konzerte Richard Wagners hatte am 25. Juni 1855 stattgefunden. Auf dem Programm standen u. a. Louis Spohr, Symphonie Nr. 3 c-Moll op. 78 (ED 1828) sowie Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr. 4 B-Dur op. 60 (UA 1807). 3 Tatsächlich verließ Wagner London einen Tag nach dem letzten von ihm geleiteten Konzert am 26. Juni 1855. 4 Präger 1855 London, S. 172. Vgl. Davison 1855 Our musical contemporaries. 5 Hinter diesem Pseudonym verbirgt sich Ferdinand Praeger (auch: Präger, 1815 –1891), ein seit 1834 in London wirkender Musiklehrer, Komponist und Musikschriftsteller deutscher Herkunft, der u. a. als Auslandskorrespondent für die New York Musical Gazette (siehe etwa Praeger 1855a London sowie Praeger 1855b London) und seit 1842 für die NZfM (Praeger 1856 Aus London) Berichte über das dortige Musikleben verfasste. Bekannt wurde Praeger vor allem durch sein posthum veröffentlichtes und umstrittenes Buch Wagner, wie ich ihn kannte (ED 1892). Darin teilte Praeger unter anderem den Briefwechsel zwischen Wagner und ihm sowie seine Rolle und Bedeutung für die Wagner-Rezeption in England sowie in Bezug auf Wagners Londoner Engagement im Jahre 1855 mit. Vgl. hierzu insgesamt Nay 2012 Uncovering a forgotten legacy. 6 (Engl.) Wo Unwissen Seligkeit, ist es Torheit, klug zu sein. Die Worte bilden den Schluss der Ode on a Distant Prospect of Eton College von Thomas Gray (1716 –1771). 7 Vgl. etwa Wagners Polemik gegen die „absolute Melodie“, welche als „künstliche Blume“ oder als „narkotisch-berauschend“ beschrieben wird. Siehe Wagner 1852 Oper und Drama, 1. Teil, II, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 42 – 45. 1 Wiederabgedruckt
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music without melody is impossible, and that melody without phrase and cadence is equally so. And yet this excommunication of pure melody, this utter contempt of tune and rhythmic definition, so notorious in Herr Wagner’s compositions (we were about to say Herr Wagner’s music), is also one of the most important points of his system, as developed at great length in the book of Oper und Drame8 [sic]. His sneers at Rossini, Weber, and Auber, because they possessed the gift of melody,9 are all founded on the stupid and anti-musical assumption that a thing which can be abstracted from an opera – an air or melody, no matter how long or short – should never form part of an opera. It is nonsense to argue that an opera air is artificial, since, where there is no artifice there is no art. Opera itself is artificial, drama is artificial, all exemplifications of art are artificial; and if these be admitted we have no right to complain of any of the varieties of artifice which may be employed. What is the use of looking at a landscape of Turner10, when you can climb up a hill and see something that – if nature must be exactly copied, which we deny – a hundred such men as Turner could not paint? Why waste a glance on one of Titian’s Venuses,11 when, by calling on your artist-friend in Newman Street12, you may behold the living breathing female nude, reclining before him as a model? This cant about nature is all German and all stuff. Art is not nature, and nature is not art. Your “perfect whole” – if it could possibly be realized, which it cannot – would be nothing better than a “perfect” bore. Mozart makes his Zerlina13 sympathise with her bruised husband in an exquisite melody14 that begins and ends, that may be sung in a concertroom as well as on the stage, and pass for a thing of beauty anywhere. This is artificial. Rossini has put in the mouth of his Ninetta15 a brilliant aria,16 with all kinds of bravura passages and graceful ornaments, by which he sought to give musical expression to the joy of the young and innocent village maiden. This, too, is artificial. If, however, Zerlina were to approach Masetto17, and say, in simple prose: “Never mind, sweet, I love you – console yourself with that;” Ninetta to rush upon the stage, and scream out, at the top of her voice: “Oh dear ! – how happy I feel!” in prose as simple, why that would be natural, and not artificial. Good. But then Masetto (Polonini18) has not really been bruised; and Ninetta (Grisi19), for all we know, may
1852 Oper und Drama. Anlässlich des Aufenthalts Wagners in London im Jahre 1855 erschien in der Musical World vom 19. Mai 1855 bis zum 2. Februar 1856 eine von James William Davison in Auftrag gegebene englische Übersetzung großer Teile des Werkes (siehe Anonym 1855 Opera and Drama). 9 Siehe Wagner 1852 Oper und Drama, 1. Teil, II, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 42 – 62. 10 Joseph Mallord William Turner (1775 –1851), britischer Maler, gilt vor allem aufgrund seiner Landschaftsbilder als einer der bedeutendsten Künstler seiner Epoche. 11 Tizian, eigentlich Tiziano Vecellio (um 1485 –1576), italienischer Maler, malte u. a. die berühmte Venus von Urbino. 12 In der Londoner Newman Street war 1845 von James Matthews Leigh eine Malerschule gegründet worden, die zu einer bedeutenden Institution zur Ausbildung englischer Künstler wurde. Nach Leighs Tod 1860 übernahm Thomas Heatherley die Leitung. Seitdem trägt die Schule den Namen Heatherley School of Fine Art. 13 Figur aus Wolfgang Amadeus Mozarts Don Giovanni (UA 1787). 14 Mozart, Don Giovanni, 2. Akt, 6. Szene, Arie Nr. 18 „Vedrai, carino, se sei buonino“. 15 Figur aus Gioachino Rossinis La gazza ladra (Die diebische Elster, UA 1817). 16 Rossini, La gazza ladra, 1. Akt, 2. Szene, Arie Nr. 2 „Di piacer mi balzar il cor“. 17 Figur aus Mozarts Don Giovanni. 18 Entimio Polonini (um 1820 – nach 1868), Opernsänger. 19 Giulia Grisi (1811–1869), Opernsängerin. 8 Wagner
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be very unhappy while feigning to be the exact opposite. The a udience must imagine the dramatic beating and the dramatic felicity, as they must imagine the dramatic stonestatue, in the person of straight Mr. Tagliafico20. And if all these fables are allowed, the beginning of the artifice is allowed, and the musical treatment cannot be rated for being artificial – since the whole is artificial, deliciously artificial; and we must sympathize with the artifice as truth, or take no sort of pleasure in the play. It is clear to us that Herr Wagner wants to upset both opera and drama. Let him then avow it, without all this mystification of words – this tortuous and sophisticated systematising. He says Rossini’s opera airs are artificial, and not natural. Granted. No heroine would give vent to her joys or her sorrows in music, much less in florid vocal divisions. But, to put one plain question to Herr Wagner: – would a crowd of nobles, soldiers, peasants, or what not, express themselves continually in eight-part chorus, as in Tannhäuser21 and Lohengrin22? Is that artificial? – or is that natural? The argument lies in a nutshell. If one artifice may be tolerated, so may the others; and for our parts, we vastly prefer the artificial opera airs, with melody, of Rossini and Auber, to the artificial eight-part choruses, without melody, of Herr Richard Wagner. There is another sneer of Herr Richard Wagner, which is equally unjust and foolish. He sneers at the composers above mentioned, and, in short, at every composer except himself, because (as he assumes) their tunes spring from and are corruptions of the people’s melody. He further sneers at what is called national melody, and the couleur locale. Being a communist,23 Herr Wagner is desirous of forcing the arts into fellowship with his political and social principles. He affirms that national melody is unhealthy and unreal, being simply the narrow-souled emanation from oppressed peoples, who cannot communicate freely with each other, on account of the trammels imposed upon them by their iniquitous rulers, and whose language and song became thereby stilted and exclusive. What all this means it is, of course, for Herr Wagner to explain. Our own reasoning powers do not help us very far. So well as we can penetrate, however, into the Wagnerian mysteries (which beat the “Eleusinian” hollow), [413] the end of the “Future Art Work” is to make music, poetry (poetry, music – we beg pardon), and the other arts, all so many links in one gigantic scheme of Socialism. Herr Wagner has set himself a task more difficult than the nine labours of Hercules combined24 (or the nine giant-symphonies of Beethoven). He is just now cleansing the Augean stables25 of the musical drama; and meanwhile, with a fierce iconoclasm, is knocking down imaginary images, and levelling temples that
Tagliafico (1821–1900), Opernsänger. 21 Richard Wagner, Tannhäuser (UA 1845). Lohengrin (UA 1850). 23 Davison bezieht sich hier wahrscheinlich auf Aussagen Wagners wie in Die Kunst und die Revolution (ED 1849): „Das Ausschließliche, Einzelne, Egoistische, vermag nur zu nehmen, nicht aber zu geben: es kann sich nur zeugen lassen, ist selbst aber zeugungsunfähig; zur Zeugung gehört das Ich und das Du, das Aufgehen des Egoismus in den Kommunismus“ (in: Wagner-Schriften 3, S. 51). 24 Der Sage nach musste der griechische Held Herakles (lat. Hercules) für Eurystheus, König von Mykene, zwölf (nicht neun) schwere Arbeiten erledigen, was ihm Dank seiner außergewöhnlichen Körperkraft auch gelang. 25 Eine der Aufgaben des Herakles bestand darin, die seit dreißig Jahren nicht mehr gereinigten Rinderställe des Königs Augias auszumisten. Er löste das Problem, indem er zwei Flüsse umleitete, um damit den Mist aus den Ställen zu spülen. 20 Joseph
22 Wagner,
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are but the creations of his own brain. When he has done this, to his own thorough satisfaction, he will have to grope, disconsolate, among the ruins of his contrivance, like Marius on the crumbled walls of Carthage,26 and in a brown study begin to reflect – “What next?” For he can build up nothing himself. He can destroy but not reconstruct. He can kill but not give life. Now, whoever contemplates with finite wisdom (Herr Wagner must be presumed to be infinitely wise,) the scheme of the world and the nature of things – which Porson, when he came home drunk, and could find no rushlight, swore at “Confound the nature of things!”II, 27 – must perceive what an impossible dream is this Utopia of “the Future.” Let us, however – argumenti gratia – suppose it to be possible, and turn to some of the promised fruits, in the shape of Wagnerian “Art-Drama.” What do we find there? So far as music is concerned, nothing better than chaos – “absolute” chaos. The symmetry of form – which the great masters, the musicians, the real “tone-poets,” have, through successive ages, been enabled to perfect – ignored, or else abandoned; the consistency of keys and their relations – so delightful to the ear, so satisfactory to the mind, and so consonant to nature – overthrown, contemned, demolished; the charm of rhythmic measure, the whole art of phrase and cadence – without which music becomes a monotonous and unmeaning succession of sounds, simple, or in combination – destroyed; the true basis of harmony, and the indispensable government of modulation, cast away, for a reckless, wild, extravagant and demagogic cacophony, the symbol of profligate libertinage! “Away with the tyranny of tone families!” is a famous motto for one whose ears are too dull to apprehend the exquisite relationship of keys to each other. Are we then to have music in no definite key whatever? Look at Lohengrin – “that best piece;” hearken to Lohengrin – “that best piece.” Your answer is there written and sung. Cast that book upon the waters28; it tastes bitter, as the little volume to the prophet. It is poison – rank poison. Shall a thing so beautiful – of all sounds the sweetest, of all solaces the surest, of all delights the most innocent, of all amusements the most untiring – shall music be condemned to the stake and burnt, to satisfy the insatiate craving for destruction of this priest of Dagon29? Shall the nurse have no lullaby, to sing the child to sleep – no pretty tune, to rock it up and down – no snatch of melody, to make its little eyes glisten through tears? Heaven forbid! This man, this Wagner, this author of Tannhäuser, of Lohengrin, and so many other hideous things – and above all, the II “Confound 26 Die
the nature of things!”
mächtige Handelsstadt Karthago wurde im dritten Punischen Krieg (149 –146 v. Chr.) von den Römern endgültig besiegt und anschließend vollständig zerstört. Nach seiner Niederlage im Bürgerkrieg gegen Sulla fand der römische Feldherr und Politiker Gaius Marius (156 – 86 v. Chr.) im Jahr 88 v. Chr. auf der Insel Cercena nahe den Ruinen Karthagos Zuflucht. 27 Von dem englischen Altphilologen Richard Porson (1759 –1808) berichtet eine Anekdote, er habe in betrunkenem Zustand auf eine Kerze geschaut und diese doppelt gesehen. Als er die vermeintlich zwei Kerzen ausblasen wollte, versuchte er sich zunächst mehrmals vergeblich an dem Trugbild, woraufhin er ausrief: „Confound the nature of things!“ (Verflucht sei die Natur der Dinge!) 28 Vgl. „Cast thy bread upon the waters“ (Koh 11,1). 29 Alte mesopotamische Gottheit, in der Bibel als Gott der Philister erwähnt (Ri 16, 23 – 31; 1 Sam 5, 1– 7).
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overture to Der Fliegende Hollander30, the most hideous and detestable of the whole – this preacher of the “Future,” was born to feed spiders with flies, not to make happy the heart of man with beautiful melody and harmony. What is music to him, or he to music? His rude attacks on melody may be symbolised as matricide. What sings to him in a soft low voice, and should pour oil into that stubborn heart of his, he smites and repels. He must be taught, however, when the hollowness of his doctrine is exposed, that “Di tanti palpiti”31 is of more worth than his whole artistic life. Who are the men that go about as his apostles? Men like Liszt – madmen, enemies of music to the knife, who, not born for music, and conscious of their impotence, revenge themselves by endeavouring to annihilate it. These are the preachers of “the Future,” who hug themselves with Victor Hugo’s lying aphorism – Le laid c’est le beau32 – which their every effort tends to illustrate. Turn your eyes, reader, to any one composition that bears the name of Liszt, if you are unlucky enough to have such a thing on your pianoforte, and answer frankly, when you have examined it, if it contains one bar of genuine music. Composition indeed ! – decomposition is the proper word for such hateful fungi, which choke up and poison the fertile plains of harmony, threatening the world with drowth – the world that pants “for the music which is divine,” and can only slake its burning thirst at the silver fountains of genuine flowing melody – melody, yes, melody, “absolute” melody. We are becoming as hyperbolical as Richard Wagner himself; but, really, the indignation we feel at the revelation of his impious theories is so great, that to give a tongue to it in ordinary language is beyond our means. No words can be strong enough to condemn them; no arraignment before the judgment seat of truth too stern and summary; no verdict of condemnation too sweeping and severe. To compromise with such false preachers is a sin. To parley with them mildly would be sheer heathenism. Was the mantle of Elijah impuissant? Were not the waters smitten and divided, so that the faithful might pass over to the true prophets?33 Not to compare things earthly with things heavenly, has Mendelssohn lived among us in vain? Happily not. It is our hope and belief that the man, whoever he may be, upon whom the mantle of the great author of Elijah34 (the “mighty poet,” as he was nobly entitled by the Prince Consort35) is destined to fall, that man will smite the waters of error and leave open a dry and easy path to truth, will take away the prophets of Baal, and
Der Fliegende Holländer (UA 1843). 31 Rossini, Tancredi (UA 1813), 1. Akt, 5. Szene. Das Hässliche ist das Schöne. Hierbei handelt es sich um eine verfälschende Verkürzung von Aussagen des französischen Schriftstellers Victor Hugo (1802 –1885) aus der Vorrede zu seinem Drama Cromwell (ED 1827), welche als Gründungsdokument der französischen Romantik gilt. Neben der Überwindung der klassischen Dramenpoetik fordert Hugo darin eine Aufwertung der ästhetischen Kategorien des „Sublimen“ und des „Hässlichen“ für die Kunst der Gegenwart. 33 In 2 Kön 2, 8 wird berichtet, dass der Prophet Elias mit Hilfe eines Schlages seines zusammengewickelten Mantels auf den Jordan den Fluss teilte, so dass er diesen durchschreiten konnte. 34 Felix Mendelssohn Bartholdy, Elias op. 70 (UA 1846). 35 Albert (Sachsen-Coburg und Gotha, 1819 –1861), Prinzgemahl der englischen Königin Viktoria (1819 –1901, Königin seit 1837). Beide waren große Bewunderer der Musik Mendelssohn Bartholdys und mit dem Komponisten befreundet. 30 Wagner, 32 (Frz.)
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not sparing one, slay them incontinent with the sword, at the brook which they have attempted to defile. We have cited Porson, in the dark, and this helps us to an apt simile. Wagner’s music – take Lohengrin, “that best piece” – is very much like what the nature of things “seemed to the learned Professor, when he was too drunk to find the candle.”36 The candle is wanting. There is a candlestick, but no candle. Or there may be a candle, but there is no match. The rushlight of Franz Lizt [sic], and the “dips” of Pohl, and Brendel, and Robert Franz,37 in still unconverted Leipsic, will not do. Lucifer himself could not make them burn fiercely enough to enable ordinary minds to decipher, by their light, the “future” hieroglyph. We cannot see the “whole,” of which these demented people rave. All we can make out, by the flaming torch of truth, is an incoherent mass of rubbish, with no more real pretension to be called music than the jangling and clashing of gongs and other uneuphonious instruments, with which the Chinamen, on the brow of a hill, fondly thought to scare away our English “blue-jackets.” The sailors did not like the music, being used to “Sally in our Alley”38 and “Black-eyed Susan,”39 (“absolute” melodies); but it failed to scare them. Their sole impulse was to exterminate the ugly rascals who were making such a dismal clamour. A very intelligent correspondent of Dwight’s Journal of Music (Boston) – Mr. Charles C. Perkins40, himself an excellent musician – wrote (from Leipsic) last November, a letter [414] to the editor about Wagner and his proselytes,41 which, when we can afford space, we intend to quotes among other papers on the same subject (since every sane demonstration against the absurdity of that very insane gentleman’s doctrines is of value now-a-days). We merely refer to it at present, in order to acquaint our readers with a felicitous title with which Mr. Perkins has dubbed the little knot of musical Jesuits, who, while swinging incense before the altars of each other’s vanities, are endeavouring to thrust out music from its place among the arts, that it may be a humble minister to their mythic doggrel. He calls them “The Mutual Adoration Society.”42 No fitter name could be found to describe the coterie. Only Mr. Perkins overlooks one great fact – that, while every one of them adores Wagner, as the first article of their idolatry (we shall not throw the word religion into contempt),
36 Vgl.
vorliegender Artikel, Anm. 26. 37 Die Nennung des in Halle/Saale wirkenden Komponisten Robert Franz in diesem Zusammenhang beruht wohl auf dem 1852 erschienenen Artikel Franz’ über die Lohengrin-Aufführungen in Weimar (siehe Franz 1852 Ein Brief über Richard Wagner). Dieser erschien ein Jahr später in englischer Übersetzung im Bostoner Dwight’s Journal of Music (siehe Franz 1853 A Letter about Richard Wagner). 38 Ballade (EZ 1715, ED 1737) des britischen Dichters und Komponisten Henry Carey (1687 –1743), die in Großbritannien zu einem der populärsten Volkslieder im 18. und 19. Jahrhundert zählte. 39 Populäre Seefahrer-Ballade des englischen Dichters John Gay (1685 –1732), die vor allem in der 1727 in London gedruckten Vertonung durch den englischen Bass-Sänger und Theater-Komponisten Richard Leveridge (1670 –1758) Berühmtheit erlangte. 40 Charles Callahan Perkins (1823 –1886), Bostoner Musikkritiker und Schriftsteller, der sich durch großzügige finanzielle Unterstützung um den Aufbau des Bostoner Musiklebens bemühte, besuchte in Folge eines Studienaufenthalts in Leipzig in den 1840er Jahren wiederholt Europa und berichtete für das Bostoner Dwight’s Journal of Music über das dortige Kulturleben. 41 Anonym 1854 Our Wagnerism, in: NdS 1 Nr. 59. 42 Ebd., S. 638 [125].
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Herr Wagner adores nobody but himself – not even Liszt, who, with the bellows of his flatulent prose, blew out the author of Lohengrin,43 from a threatening spark, into the aspect and dimensions of a consuming flame. Wagner is Apollo, and these are his satellites. Liszt is the moon, which only shines by reflecting the glory of the bigger orb, and gyrates incessantly round Wagner. We would give something to see Richard at Weimar, with Liszt, and the others, paying him homage, turning somersaults, and uttering grimaces and gesticulations, like the Dervishes to the music of the chorus (there is a tune again; even Beethoven was given to “absolute” melody) in the Ruins of Athens44. It would be a ceremony worth witnessing. M. Fétis (we are reminded by Mr. Perkins)45 insists that the primary object of musical composition is beauty.46 M. Fétis is right. The first object in all artistic workmanship is to attain an ideal beauty, a beauty that is not an absolute fact of nature, as may be gathered from the very common observation on seeing a woman of uncommon loveliness: – “her beauty is ideal.” This is to say neither more nor less than that it is not a beauty common to nature, but one so rare, that, in order to find a fitting epithet, you are obliged to turn to the poet, who yearns for that which is not, and has eyes in his mind as well as in his head, eyes that are his better, his poetical eyes, and which can peer into eternity. Wagner, on the contrary – who, though a mythical dramatist, is no musician and very little of a poet, or at best a poet according to some obscure theory of his own – will have the aim of musical composition, and of all art, to be truth – which is as much as to say that the object of art is
Aussage bezieht sich wahrscheinlich auf die 1850 erfolgte Uraufführung des Lohengrin in Weimar unter Liszts Leitung, andererseits aber auf die derselben Oper gewidmeten Broschüre (Liszt 1851 Lohengrin et Tannhaüser). 44 Beethoven, Die Ruinen von Athen op. 113 (UA 1812), Nr. 4 Chor der Derwische „Du hast in deines Ärmels Falten“. 45 Anonym 1854 Our Wagnerism, S. 125, in: NdS 1 Nr. 59, S. 638. 46 Gemeint sein könnten hier Aussagen FranÇois-Joseph Fétis’ in dessen 1853 erschienenen Briefen an angehende Opernkomponisten: „Le système de M. Wagner est, comme je l’ai déjà dit, que l’objet de l’art est le vrai. Je crois avoir suffisamment démontré qu’un tel système repose sur une idée fausse; je ne reviendrai donc pas sur ce sujet. Gluck aussi croyait que la musique dramatique doit être vraie dans ses accents, mais il conservait à son art une suprématie sans laquelle cet art s’anéantirait. Ce n’est pas ainsi que l’entend M. Wagner; pour lui, il n’y a ni musique, ni versification, ni scène, ni acteurs; il y a un drame, une action, rapprochée autant que possible de l’illusion, et dont toutes ces choses ne sont que des parties intégrantes; en sorte que le but du système dont il s’agit est l’amoindrissement de tous les arts qui concourent à la réalisation de l’œuvre, et en même temps la formation artificielle d’un tout monstrueux qui ne répond à aucun des besoins du sentiment et de l’intelligence“ (Fétis 1853 Deuxième lettre, S. 429). [Das System von M. Wagner ist, wie ich bereits gesagt habe, nur Gegenstand der wahren Kunst. Ich glaube bereits ausreichend gezeigt zu haben, dass so ein System auf einer falschen Idee fußt; ich komme deswegen also nicht noch einmal auf dieses Thema zu sprechen. Auch Gluck glaubte, dass die dramatische Musik in ihren Akzenten wahr sein musste, aber er bewahrte seiner Kunst eine Überlegenheit, ohne die diese Kunst sich selbst vernichten würde. So hörte Hr. Wagner diese nicht; für ihn gibt es keine Musik, keine Dichtung, keine Bühne, keine Schauspieler; es gibt ein Drama, eine Aktion, soweit wie möglich an die Illusion angenähert, und von denen all diese Dinge nur integrale Partien sind; sodass das Ziel des Systems, um das es geht, eine Minderung aller Künste, die miteinander bei der Realisation des Werkes konkurrieren und gleichsam eine künstliche Bildung eines monströsen Ganzen ist, welches nicht auf irgendeinen Bedarf an Gefühl oder Intelligenz reagiert.] 43 Diese
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to get back again to whence it started. The only absolute truth connected with music is in the primary harmonics, which constitute its elements. But these are for the consideration of acousticians and experimental philosophers; they have nothing whatever to do with what is essentially music. That appertains solely to art, and embodies one of the most exquisite contrivances of man to turn the phenomena of nature into a means of enjoyment and recreation to himself. Mozart knew nothing about primary harmonics, and cared less. A knowledge of the theory of brick-dust is not necessary to the architect who built Saint Peter’s. The poet is a liar, no matter through what medium he addresses the world. He speaks in a language that is not simple, and being not simple not true. But as man has a soul, and is not like the beasts, he aspires to more than he sees and hears with his direct organs of sensation. There is for him an ideal as well as a real world; and it is this ideal world which the poet explores for our delight – be he painter, musical composer, sculptor, or architect, no matter what. The closer a man is able to hold communion with the poet, and understand the language of this ideal world, the further he is from the beast, the more worthy of his own soul, and the nearer to the godhead which has stamped him with its image. Now in the ideal world nothing but beauty is tolerated; and the soi-disant47 poet who seeks for plain truth, and would use the plain language of men, is simply an ass. At any rate he is no poet. This is Wagner’s case. Like many other vain and foolish persons, incapable of creating beauty – with no organic appreciation of the exhaustless forms and phases which “the beautiful” may be made to assume, through the agency of the poet, in his eternal but necessarily vain pursuit after ideal perfection – Herr Wagner has got the word Truth eternally in his mouth, and bellows it out all the louder from the consciousness of his own insignificance. He cannot write music himself; and for that reason arraigns it. His contempt for Mendelssohn is simply ludicrous; and we would grant him forty years to produce one melodious phrase like any of those so profusely scattered about in the operas of Rossini, Weber, Auber, and Meyerbeer. “Opera-melody”, indeed! Let the man of “the Future” try his hand at one, and see what he can make of it. He is as unable to invent genuine tune as pure harmony; and he knows it. Hinc illæ lachrymæ!48 Hence “the books.”49 For the reasons thus given, at some length, we have felt it our duty to warn all who love music and venerate the works of the great masters, who believe that the fine arts are a blessing and not a curse, that they proceed from the Creator and not from Satan, against the preaching and practice of Richard Wagner and his followers – sham prophets, who hoist the banner of “Truth,” as the belligerent powers, at sea, put up false colours in order to deceive and annihilate each other, dangerous enemies to music, the more dangerous from their subtle intellect and uncompromising bigotry, men, themselves degenerate, envious of those who possess the generating
47 (Frz.)
angeblich. 48 (Lat.) daher diese Tränen, sprichwörtlich: daher stammt der Verdruss. bezeichnete wiederholt in seinen Kritiken die drei bis dahin von Wagner erschienenen größeren theoretischen Schriften (Wagner 1850 Das Kunstwerk der Zukunft; Wagner 1852 Oper und Drama sowie Wagner 1852 Drei Operndichtungen nebst einer Mittheilung an meine Freunde) in bewusster Anspielung auf die Bibel als „the books“, da diese für dessen fanatisch-sektiererische Anhänger geradezu religiöse Bedeutung hätten, weswegen Davison diese wiederholt als „Jesuiten“ bezeichnete (siehe etwa Davison 1855 „As our readers“, S. 186). 49 Davison
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power. Tear away the gaudy mask that hides their features, and you see “a thing of shreds and patches.”50 Listen to their wily eloquence, and you find yourself in the coils of rattle-snakes. Fall down and worship them, and you are irretrievably damned. Göthe foresaw them when he created Mephistopheles. Avoid, then, the destiny of Faust. Put not your faith in Wagner; or when, full of ardent devotion, you inquire his name, he may answer – “I am Lohengrin” – and vanish into the nothingness whence he came. These musicians of young Germany are maggots, that quicken from corruption. They have nor bone, nor flesh, nor blood, nor marrow. The end of their being is to prey on the ailing trunk, until it becomes putrid and rotten. Instead of life, they would present us with dust; instead of bread with a stone51. There is as much difference between Guillaume Tell and Lohengrin as between the Sun and ashes.
Kommentar Im Frühjahr 1855 befanden sich sowohl Berlioz als auch Wagner in London, um dort als Gastdirigenten der beiden angesehensten Orchester der Stadt eine Reihe von Konzerten zu leiten. Während Berlioz der Einladung der 1852 gegründeten New Philharmonic Society gefolgt war, leitete Wagner die traditionsreichere Royal Symphonic Society, bei der u. a. schon Felix Mendelssohn Bartholdy wiederholt als Dirigent gewirkt hatte und welche erst nach der Gründung des Konkurrenzunternehmens den Beinamen „Old“ erhielt. Während Berlioz von Anfang an der Wunschkandidat der New Philharmonic Society war, gingen der Einladung Wagners der kurzfristige Rücktritt des langjährigen künstlereichen Leiters Michele Costa sowie die Absagen Louis Spohrs, Peter von Lindpaintners und des bereits bei dem in der Pflicht stehenden Berlioz’ voraus, weshalb Anna Sessa Wagners Verpflichtung als „act of desperation“52 bezeichnete. Wagners Kontrakt umfasste die Aufgabe, in einem Zeitraum vom 12. März bis 25. Juni acht Konzerte zu dirigieren und dabei dem Londoner Publikum sowohl eigene als auch die Werke anderer Komponisten zu Gehör zu bringen.53
Zitat ist angelehnt an William Shakespeare, Hamlet, 3. Akt, 4. Szene, V. 104: „A king of shreds and patches.“ Dort bezieht es sich auf König Claudius, der von Hamlet „als geflickter Lumpenkönig“ bezeichnet wird. 51 Vgl. Luk 11, 11. 52 Sessa 1979 Wagner and the English, S. 17. 53 Die Konzerte waren angesetzt für den 12. und 26. März, 16. und 30. April, 14. und 28. Mai sowie den 11. und 25. Juni 1855. Von Wagners eigener Musik waren lediglich das Vorspiel und der Hochzeitschor aus Lohengrin für den 26. März sowie die Tannhäuser-Ouvertüre sowohl am 14. Mai und 11. Juni vorgesehen. 50 Das
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Zwar hatte das englische Publikum zuvor schon die Gelegenheit gehabt, insbesondere die Tannhäuser-Ouvertüre Wagners zu hören;54 Auszüge aus den Opern selbst oder gar eine szenische Aufführung derselben waren bis dahin jedoch nicht gespielt worden und sollten bis 1870 mit der ersten Aufführung des Tannhäuser in London auf sich warten lassen. Der Komponist Wagner war daher zu dieser Zeit auf der Insel lediglich durch Korrespondentenberichte Henry Fothergill Chorleys für das Londoner Athenæum bekannt, in denen überwiegend ablehnend über einzelne Aufführungen von Wagners Lohengrin und Tannhäuser in Weimar und Dresden berichtet wurde.55 Dieser Haltung begegnet man in noch stärkerem Maße in den Wagner gewidmeten Artikeln James William Davisons56, des langjährigen Musikkritikers der Londoner Times und des Herausgebers und Leiters der Musical World. Neben den auch im vorliegenden Artikel vorgebrachten ästhetischen Aspekten in Bezug auf die Kompositionen Wagners und dessen im britischen Musikleben ungewohnten Art des Dirigierens57 trug hierzu jedoch wesentlich ein Artikel des in London wirkenden Musikschriftstellers Ferdinand Praeger vom 24. Februar in der New York Musical Gazette bei.58 In diesem kurz vor der Ankunft Wagners am 4. März in London erschienenen Aufsatz verbreitete Praeger nicht nur Wagners Ablehnung gegenüber dem britischen Königreich und dessen Musikleben, sondern machte auch seine Autorschaft von „Das Judenthum in der Musik“ publik, wodurch das Pamphlet inklusive seiner insbesondere gegen Mendelssohn Bartholdy gerichteten Aussagen auf der Insel erst Bekanntheit erlangte.59 Diese Gemengelage aus einer ästhetischen Ablehnung der Kompositionen Wagners, dessen offener Antisemitismus im Zusammenspiel mit den Aussagen in dessen bis dahin erschienenen kunsttheoretischen Schriften führte selbst bei Davison zu einer bemerkenswert scharfen Ablehnung, die nicht nur Wagners Musik jeglichen Kunstcharakter absprach, sondern diese sogar als starkes Gift für jede wahre Musik bezeichnete und seine Anhänger als Verrückte („madmen“) charakterisiert. Diese Haltung übertrug sich auch auf Davisons Liszt-Bild. Dieser wurde in der Musical World in den 1850er Jahren als reiner Wagner-Apologet, gar Wagner-Anbeter und als Kopf der „Music of the Future“ in Deutschland dargestellt, wenn es etwa am 30. März 1855 in der Musical World heißt:
54 Aufführungen des Werkes sind für den 10. April 1854 unter der Leitung von George Alexander Osborne mit der Amateur Musical Society und der New Philharmonic Society am 1. Mai unter der Leitung von Louis Jullien überliefert (siehe Sessa 1979 Wagner and the English, S. 16). 55 Siehe Chorley 1850 Music at Weimar, in: NdS 1 Nr. 23; Chorley 1852 Notes on Music in Germany; Chorley 1852 Schumann and Wagner; Chorley 1853 Schumann and Wagner, in: NdS 1 Nr. 40 sowie Chorley 1854 Modern German Music. 56 James William Davison (1813 –1885) gab die Zeitung in den Jahren von 1844 bis 1885 heraus und verfasste auch nahezu sämtliche Artikel für sie, die in den meisten Fällen jedoch anonym oder unter verschiedensten Pseudonymen veröffentlicht wurden (vgl. Kitson 2006 Musical World). 57 Wagner nahm bei seinen Proben und Konzerten offensichtlich zahlreiche Tempowechsel, Rubati usw. vor, welche die vom Dirigierstil Mendelssohn Bartholdys stilistisch geprägten Londoner Orchestermusiker nicht in dem Umfang gewohnt waren. Auch dies musste zu einer ungünstigen Aufnahme des Komponisten führen (vgl. Dames 2007 The Physiology of the Novel, S. 133 f.). 58 Praeger 1855a London. 59 Vgl. Sessa 1979 Wagner and the English, S. 20 und Dames 2007 The Physiology of the Novel, S. 132.
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“Wagner owes Liszt his fame, his position and even his ‘future.’ Without Liszt and the ‘Jesuits,’ he would never have emerged from the oblivion into which he had fallen before the Revolution of 1848. It is attributable to Liszt, and the leading journal of his party, that the public began to be excited by a desire to see and hear something of the man of ‘the future.’”60 Aufgrund der einseitigen Art der Berichterstattung über Wagner kam es – wie bei späterer Gelegenheit der Londoner Erstaufführung von Schumanns Das Paradies und die Peri am 23. Juni 1856 – auch im Falle der Wagner-Konzerte zu einer offenen Kontroverse zwischen der Musical World und der nordamerikanischen Musikkritik,61 insbesondere der New Yorker Musical Gazette und dem Bostoner Dwight’s Journal of Music.62 Einen Beleg für die bemerkenswerte gegenseitige internationale Wahrnehmung innerhalb der Musikkritik geben die in Deutschland erschienenen Übersetzungen und Korrespondenzen über die Londoner Wagner-Konzerte. So berichtete Ferdinand Praeger in der NZfM63 am 4. und 11. Januar 1856 über den Komponisten während bereits zuvor der hier im englischen Original abgedruckte Artikel Davisons am 21. und 28. Juli 1855 in deutscher Übersetzung in der Rheinischen Musik-Zeitung64 veröffentlicht wurde.
1855 „As our readers“, S. 186. 61 Siehe Davison 1856 Robert Schumann, in: NdS 2 Nr. 92; Dwight 1856 Musical Party Warfare, in: NdS 2 Nr. 95 sowie Davison 1856 Philharmonic Society. 62 Vgl. hierzu Davison 1855 Our musical contemporaries. 63 Siehe Praeger 1856 Aus London. 64 Siehe Anonym 1855 Englische Urtheile über Richard Wagner. 60 Davison
Nr. 76 | Franz Liszt, „Berlioz und seine Haroldsymphonie“, in: NZfM 22 (1855), Bd. 43, Nr. 3 (13. Juli), S. 25–32; Nr. 4 (20. Juli), S. 37–46; Nr. 5 (27. Juli), S. 49–55; Nr. 8 (17. August), S. 77– 84; Nr. 9 (24. August), S. 89–97.
Berlioz und seine Haroldsymphonie. Von Franz Liszt.
Es giebt im Reich der Ideen innere Kriege, ähnlich den atheniensischen1, während welcher Jeder als Verräther am Vaterland erklärt wurde, der nicht offen irgend eine Parthei ergriff, und ein müßiger Zuschauer der durch jene Kämpfe herbeigeführten Uebel blieb. Ueberzeugt von der Gerechtigkeit eines solchen Verfahrens, dessen strenges Einhalten nur dazu dienen kann, den Zerwürfnissen ein Ende zu machen und den Sieg der zur künftigen Herrschaft Berufenen zu beschleunigen, haben wir nie ein Hehl gemacht aus unserer lebhaften und bewundernden Sympathie für den Genius, den wir heute in’s Auge zu fassen gedenken, für den Meister, dem die Kunst unserer Zeiten zu so entschiedenem Dank verpflichtet ist. Alles Für und Wider, in dem seit dem Erscheinen seiner ersten Werke lärmend erhobenen Streit, läßt sich auf einen Hauptpunct zurückführen, dessen Andeutung genügt, um zu zeigen, daß die aus seinem Beispiel sich ergebenden Folgerungen über die Machtsprüche derer hinausgehen, welche sich unfehlbare Schiedsrichter in diesen Dingen dünken. Die schroffen Anthipathien, die Beschuldigungen musikalischen Hochverraths, die Verbannungsurtheile auf ewige Zeit, denen Berlioz seit seinem Auftreten ausgesetzt ist, haben ihren Grund, warum uns darüber täuschen? in dem heiligen Schrecken, in dem frommen Entsetzen, das die künstlerischen Machthaber vor dem in allen Werken dieses Meisters enthaltenen Princip überfiel, welches in Kürze sich also bezeichnen läßt: „der Künstler kann das Schöne außerhalb der Regeln der Schule verfolgen, ohne befürchten zu müssen, es dadurch zu verfehlen.[“] Seine Gegner mögen immerhin behaupten, daß er das Fahrgleis der alten Meister verläßt; das ist leicht, und wer möchte ihnen das Gegentheil beweisen? Seine Fürsprecher mögen sich die größte Mühe geben um zu beweisen, daß er nicht immer und nicht so ganz und gar andere Wege geht, als man es früher gewohnt war – was gewinnen sie dadurch? Beide bleiben dabei der Ueberzeugung, daß Berlioz nicht weniger fest an seinem von uns so eben ausgesprochenen Credo hält, ob nun eine [26] oder hundert Bekräftigungen durch die That es bezeugen. Und das ist für die Autoritäten, die sich das Vorrecht der Orthodoxie anmaßen, ein mehr als hinreichender Beweis seiner Ketzerei. Da jedoch in der Kunst von keiner Secte ein Dogma auf Grund
1 Athenisch.
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einer Offenbarung aufrechterhalten wird und in ihr Tradition einzig maaßgebend ist, da die Musik besonders nicht wie Malerei und Skulptur ein absolutes Modell erkennt und festhält, hängt die Entscheidung in Streitigkeiten zwischen Orthodoxen und Heresiarchen nicht einzig von dem Gerichtshof bestehender und ehemaliger Wissenschaft ab, sondern auch von dem Kunstsinn und Billigkeitsgefühl der heranwachsenden Generation. Erst nach geraumer Zeit kann ein entscheidendes Urtheil stattfinden, denn welchem Richterspruch der Gegenwart würden sich einerseits die AelterenI, die seit ihrer Jugend das süße Joch der Gewohnheit tragen, andererseits die Jüngeren unterwerfen, die sich kampflustig unter ein Banner schaaren und den Kampf um seiner selbst willen lieben? Die Einen wie die Anderen müssen also wohl einer mehr oder minder entfernten Zukunft die Lösung derartiger Probleme anheimgeben. Ihr allein ist es aufbehalten, die Berlioz zum Vorwurf gemachten Uebertretungen gegen gewisse Kunstregeln und Gewöhnungen des Ohrs ganz oder theilweise anzunehmen. Eines aber unterliegt schon jetzt keinem Zweifel: daß die Träger einer bevorstehenden Entwickelung eine ganz besondere Achtung vor Werken von so gewaltiger Conceptions- und Gedankenkraft hegen und sich genöthigt sehen werden sie umfassend zu studiren, wie nolens volens auch sogar schon die Zeitgenossen sich nach und nach dazu herbeilassen, in denen nur zu oft müßiges Erstaunen die Bewunderung zurückhält. Wenn diese Werke die Regeln verletzen, indem sie den der Symphonie anheim gefallenen geheiligten Rahmen zerbrechen, wenn sie das Ohr beirren, indem sie zum Ausdruck ihres Inhalts nicht die vorgeschriebenen, musikalischen Dambrettzüge einhalten, so wird es nichtsdestoweniger später eine U[n] möglichkeit werden sie zu ignoriren, wie man sich noch den Anschein giebt, um des Tributes, der Huldigung, einem Zeitgenossen gegenüber, überhoben zu sein. – Man wird eine genaue Erörterung über die streitigen Punkte der Ankläger gegen die Neuerungen, die Berlioz einführt nur dann mit Nutzen vornehmen können, wenn man das Princip[,] dem sie die Berechtigung ihres Daseins verdanken, vorläufig als eine erledigte Frage ansieht. Da wird aber gerade die hartnäckige Partheilichkeit der Kritik sich am unversöhnlichsten zeigen, denn wenn sie dies Princip auch nur auf einen Augenblick zugäbe, würde sie sich jedes Recht selbst absprechen müssen, alle Productionen nach bekannter Elle zu messen, nach ihrem auswendig gelernten aesthetischen Katechismus zu beurtheilen, und sich so den Boden der
I „Die
Meisten möchten sich gefördert sehen, aber ohne daß die süße Gewohnheit des Daseins ihnen gestört würde, wie der Kranke gar gern gesundete, nur schwer aber von dem abläßt, was ihn krank gemacht.“2 – „Tritt aber ein eigenthümlich Werk mit dem Anspruch hervor, daß man sich mit seiner Idee durchdringe, statt den neuen Geist nach althergebrachten Vorstellungen zu bemessen, und daß man sich die für neue Gedanken unabänderlich nothwendige neue Vorstellung aneigne; so schreckt die große Menge mitten im sehnsüchtigen Verlangen nach ‚Neuem‘ zurück vor den Schwierigkeiten und nimmt mit dem aufgestutzten bequemen Alten vorlieb, überredet sich wo möglich daß es neu sei.“3 – Marx. 2 Marx
1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 204.
3 Ebd.,
S. 231.
Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie
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Banalität und des Floskelkrams auf dem sie heimisch ist unter den Füßen wegziehen; sie, die Unproduktive würde ja darin den beliebten Kanzelton gegen schaffende Künstler aufgeben, vom hohen Pferd herabsteigen, und der fatalen Nothwendigkeit nachgeben müssen, die Dinge einmal aus ihnen selbst heraus zu beurtheilen, statt ein Werk einzig vom herkömmlichen Standpunct richten zu wollen; sie würde sich gezwungen sehen mit der Aufrichtigkeit und dem guten Willen, die einzig zu vollem Verständniß zu dringen vermögen, den poetischen Intentionen zu folgen, ehe sie sich für berechtigt hält eine Meinung über das Verfahren des Autors auszusprechen, sein Wollen und Können zu vergleichen; sie müßte aufhören gleich der Harpie die Beute zu beschmutzen, die sie in den Klauen hält, sie müßte so manchen Helfershelfern entsagen, die ihren Neid nicht zu Anerkennung hinaufzuschrauben vermögen. „Wie oft hindert das Wohlgefallen an der Kritik den Genuß des Schönen und Großen“ sagt La Bruyère.4 „Es ist Zeit[,] das[s] eine Kritik der Vorzüge auf die Kritik der Mängel folge,“ schreibt Chateaubriand.5 Jeder in seiner Art, spricht hier der kaltblütige, genaue Character-Beobachter des siebzehnten Jahrhunderts und der enthusiastische Poet des neunzehnten denselben Gedanken aus, und wir sind von dieser Ideenparallele so verschiedener Geister, sowie von der divergirenden Weise in ihrem Ausdruck immer eigenthümlich berührt gewesen. Der erste bemerkt eine Thatsache mit der ihm angehörenden Schärfe und Kürze, der Zweite blickt in kommende Zeiten, indem er eine Wunde der Gegenwart nur andeutet. Der erste legt der Richtigkeit seines Gedankens zu Liebe einen mehr conventionellen als genauen Sinn in das Hauptwort (Kritik) der zweite giebt ihm seine ursprüngliche Geltung wieder, als wollte er dadurch auch die Sache, die es bedeutet, zu ihrer ursprünglichen Bestimmung zurückführen. Treffliche Lehren, die oft in Sprachge-[27]wohnheiten, in dem Sinn enthalten sind, den der Gebrauch manchen Worten beilegt! Jemand die Wahrheit sagen, heißt meistens, ihm von seinen Fehlern sprechen; streng genommen ließe sich daraus folgern, daß es nicht Wahrheit wäre, Jemanden seine Vorzüge einzugestehen. Gewiß ist man von den unangenehmen Dingen, die man dem Nächsten zu sagen hat, viel öfter innig überzeugt, als man in seinem Lobe durchaus aufrichtig zu Werke geht. Ueber ein Kunst- oder Literaturwerk abhandeln heißt: es kritisiren. Wenn man seinen Organismus analysirte, ohne seinen Zauber zu zerstören, ohne ihn, den poetischen Hauch, seinen Lebensathem auszublasen, ohne es wie einen Leichnam auf der anatomischen Bank auszustrecken, wäre dies in dem Sinne, den man heutzutage in das Wort legt, keine Kritik, wäre nicht mehr Aufgabe eines Kritikers. Darf man bei einem Richter, der sich Büttel und Henker nennt, eine Frei-
4 Das Zitat stammt vermutlich aus Jean de La Bruyères (1645–1696) Les Caractères (ED 1688). Es lautet im Original: „Le plaisir de la critique nous ôte celui d’être vivement touchés de très belles choses.“ (Die Freude an der Kritik nimmt uns, von sehr schönen Dingen tief berührt zu werden). 5 Ein ähnlicher Wortlaut findet sich in einem Artikel von François-René de Chateaubriand (1768– 1848), der 1819 in Le Conservateur unter dem Titel „Sur les Annales littéraires, ou de la Littérature avant et après la restauration“ veröffentlicht wurde. Dort heißt es im Original: „Le seul moyen […] serait peut-être d’abandonner la petite et facile critique des défauts pour la grande et difficile critique des beautés.“ (Die einzige Möglichkeit […] könnte darin bestehen, die kleine und leichte Kritik an Mängeln für die große und schwierige Kritik an Schönheiten aufzugeben).
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sprechung, eine Begnadigung erwarten? Darf man von einem Laboratorium, dessen Aushängeschild nur deprecirende Verrichtungen ankündigt, ehrliche Schätzung und Preiswürdigung voraussetzen? Wenn das Wort Kritik ursprünglich Untersuchung, Analyse bedeutete, wenn die Anwendung der Kritik auf die Werke des Geistes für eine ähnliche galt wie die des Schmelztiegels auf edle Metalle, so hat der gesunde Menschenverstand, als er einsah wie wenig das Wort dieser Bedeutung entsprach, ihm alsbald einen anderen Sinn untergelegt. Einerseits bemerkte man, daß Werken gegenüber, deren intrinseker Werth nicht mehr in Zweifel gezogen werden durfte, die Kritik alsbald ihren Namen änderte, daß sie dann als Studie, Untersuchung, Commentar auftrat; anderseits, daß aus ihrer Feuerprobe nimmer ein reiner Goldtheil hervorging, und schloß daraus mit Recht, das Wort Kritik sei gleichbedeutend geworden mit Tadel nicht mit Prüfung, mit Verdammung nicht mit Beurtheilung. In der That, wer hofft heutzutage Gerechtigkeit zu finden vor ihrem eingebildeten Tribunal? – Sie verspricht sie nicht einmal! – Oder Gewissenhaftigkeit? – Sie kennt keine! Und wenn es damit einmal anders werden soll, so müßten die Verwalter dieses hohen Richteramtes, die verantwortlichen Träger dieser Würde, diejenigen die es auf sich nehmen Kunstwerke öffentlich zu prüfen, vor allem der üblich gewordenen Methode entsagen, und eine mit so folgenschwerem Amte besser übereinstimmende sich aneignen. „Der Kunstrichter muß eine klarsehende, aber innige Liebe zum Schönen besitzen: er muß gern ihm begegnen, es suchen, es begehren. Unschönes erkennen und darlegen, ist ein trübseliges Vergnügen, eine undankbare Aufgabe; das Schöne herausfühlen, sich davon zu durchdringen, es anschaulich machen und Andere[n] seine Empfindung mitzutheilen, ist ein hoher Genuß, eine edle Aufgabe. Bewunderung beglückt und ehrt zugleich den, der sie hegt. Sie beglückt ihn durch ein tiefes Gefühl des Schönen; sie ehrt ihn, weil er zur Erkenntniß desselben beiträgt. Bewunderung ist Zeichen einer gebildeten Vernunft auf dem Grund einer schönen Seele. Sie steht über der kleinen, skeptischen, unmächtigen Kritik; aber sie ist die Seele der großen, befruchtenden; sie ist so zu sagen der göttliche Theil des Geschmacks.[“]II, 6 Schwerlich ließe sich wohl die ganze hohe Bedeutung wirklicher Kritik, wenn sie verständige Schätzung verständiger Werke, und verständliche Belehrung über dieselben giebt, mit feinerem Tact zusammenfassen. Ist es aber nicht zu gleicher Zeit auffallend, daß ein mit so glänzender Virtuosität des Styles begabter Schriftsteller, wie
II Du
Vrai, du Beau, du Bien. V. Cousin.
Zitat ist Victor Cousins (1792–1867) Hauptwerk Du Vrai, du beau, du bien (ED 1853) entnommen und findet sich im 6. Abschnitt „Du Beau, dans l’esprit de l’homme“. Es heißt im Original: „Outre l’imagination et la raison, l’homme de goût doit posséder l’amour éclairé mais ardent de la beauté: il faut qu’il se complaise à la rencontrer, qu’il la cherche, qu’il l’appelle. Comprendre et démontrer qu’une chose n’est point belle, plaisir médiocre, tâche ingrate. Mais discerner une belle chose, s’en pénétrer, la mettre en évidence et faire partager à d’autres son sentiment, jouissance exquise, tâche généreuse. L’admiration est à la fois pour celui qui l’éprouve un bonheur et un honneur. C’est un bonheur de sentir profondément ce qui est beau; c’est un honneur de savoir le reconnaître. L’admiration est le signe d’une raison élevée servie par un noble cœur. Elle est audessus de la petite critique, sceptique et impuissante; mais elle est l’âme de la grande critique, de la critique féconde: elle est pour ainsi dire la partie divine du goût.“ 6 Das
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Cousin, unwillkührlich in einem und demselben Satze dem Wort Kritik die beiden verschiedenen Bedeutungen beilegt, die es in unseren Tagen hat, und dabei gewiß sein darf wohl verstanden zu werden, obgleich streng logisch die Beinamen klein und groß nicht ausreichend erscheinen möchten, um eine böswillige oder oberflächliche Analyse von einer gerechten, unpartheiischen Prüfung zu unterscheiden. So verführerisch ist aber die Sprachgewöhnung die durch das Augenscheinliche gewisser eingewurzelter Mißbräuche in manchen Dingen herbeigeführt wird, daß die überlegtesten Denker unversehens die schreiendsten Widersprüche in Anwendung eines und desselben Wortes sich hingehen lassen, indem sie es bald in seiner ursprünglichen, etymologischen Bedeutung, bald in dem Sinn geben, in dem es in der gewöhnlichen Umgangssprache gang und gäbe ist. Chateaubriand fühlte schon die Nothwendigkeit die Kritiker zu mahnen, daß sie ihre Aufgabe edler erfüllen, aller Schwerwilligkeit und systematisch gepflegten Kurzsichtigkeit entsagen möchten, wenn sie mit Werken zu thun haben die mit allen Schwierigkeiten kämpfen, denen das Auftreten neuer Formen ausgesetzt ist, die aber gerade deßwegen das Recht beanspruchen das Neue erkannt zu wissen welches sie bieten, ein Verdienst das man bei allem Herummäkeln und Kritteln nicht unter der Last bombastischer Phrasen begraben, und einstiger gerechter Anerkennung entziehen kann. Der Tag wird kommen. Dieser alte Wahlspruch mag auch für sie Anwendung finden. Indem wir, im Vergleich zu jener unter deren Druck Berlioz so schwer zu leiden hatte, von der Kritik reden die Chateaubriand anruft, können wir nicht umhin, Schumann zu erwähnen. Die Gerechtigkeit, welche er Berlioz nach dem ersten prüfenden Blick angedeihen ließ,7 [28] sichert ihm die Stellung eines gentleman dem gemischten Troß der Kritik gegenüber, der selten anders als mit falschem Maaß und Gewicht zu Werke geht. Schon durch diese einzige Thatsache gewinnt Schumann’s Name einen besonderen wohlthuenden Schimmer. – Von den erwähnten beiden Hauptvorwürfen, welche Berlioz gemacht wurden, möchte gewiß der schwerste der sein, daß er das Ohr verletzt, Effecte sucht die unsere Aufnahmsfähigkeit überbieten, melodisch unverständlich wird, den Rhythmus bis zur Unkenntlichkeit zerstückelt, das Gedächtnis überanstrengt und so unser Interesse übermüdet statt es anzuspannen, unser Fassungsvermögen endlich mit einer unverdaulichen Masse von Wohl[-] und Mißklängen erfüllt, die uns seine Musik zuletzt nur noch wie die verworrenen Accorde der Aeolsharfe, wie Meeresbrausen und Wälderrauschen erscheinen läßt; endlich um einen Ausdruck des Metier-Rothwälsch8 anzuwenden, daß er Mißbrauch mit Polyphonie treibt. Diesem Vorwurf gegenüber drängen sich uns einige präjudicielle Fragen auf. War die Musik immer das, was sie heute ist? Gehorchte sie stets denselben Gesetzen, entzückte sie durch dieselben Reize? Hat sie immer denselben Charakter beibehalten? Glaubte sie nicht in jeder Epoche daß sie nun vollkommen, von nun an unumstößlichen Regeln
7 Schumann 1835 „Hector Berlioz“; Schumann 1835 „Aus dem Leben eines Künstlers“; Schumann 1836 Hector Berlioz. 8 Aus dem Bereich der Gaunersprache.
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unterworfen sei, nachdem sie nun ihre volle Entwicklung erreicht habe? Und wenn sie nichts destoweniger eine Erweiterung erleiden, einen Fortschritt machen mußte, kamen dann nicht immer die Herrn Magister a posteriori9 nachgehinkt, die sie ein für einmal als unverbesserlich, perfekt erklärten? Das ist keine Musik mehr! rief man aus, als Berlioz seit seinen ersten Werken seine complicirten Effecte vernehmen ließ. Man war naiv genug dies Rossini nachzusprechen, indem man eines der tausend Epigramme für baare Münze nahm, in welchen dieser sarkastische Geist so wohl über den in Frage stehenden Gegenstand als über den Fragenden sich gerne lustig macht. „Es ist ein großes Glück,“ sagte er eines Tages, nachdem er eine Symphonie von Berlioz gehört hatte, „daß dieser junge Mann keine Musik macht, denn in diesem Falle möchte sie verteufelt schlecht ausfallen!“10 Ganz gewiß! Berlioz hat so wenig wie Beethoven Musik im Sinne Rossini’s gemacht und hätten es Beide versucht, so ist höchst wahrscheinlich, daß sie dem Schwan von Pesaro11 nicht gleichgekommen wären. Wenn aber Rossini’s Genius in so ganz verschiednen Regionen sich bewegte, so folgt daraus noch gar nicht, daß er für Kunstwerke[,] die keine Verwandtschaft mit den seinigen in sich tragen, so unempfänglich sein sollte, als er Andere glauben zu machen für gut fand. Rossini zeigt sich ebenso glänzend und selbstständig in seiner Diogenes-Weisheit, als in den Erzeugnissen seiner Muse, und es wäre ein sehr precäres Beginnen die Grenzen herausfinden zu wollen, wo in seiner Ausdrucksweise die Mystifikation aufhört; wenn er aber zufällig aufgelegt ist, seinen Gedanken auf den Grund sehen zu lassen, dann wirft er jedesmal blitzende Streiflichter auf jedweden Gegenstand, die gar keinen Zweifel über die besondere Tragweite seines Verständnisses aufkommen lassen, wenn er auch gewöhnlich vorzieht die Kurzsichtigen nicht zu enttäuschen, um sich das Vergnügen zu gönnen, im Stillen ein behagliches Mephistogelächter über sie aufzuschlagen. Wer da weiß, daß er die volle Höhe, auf welcher Beethovens Symphonien stehen, zu einer Zeit mit richtigem Blick maß, als das Pariser Conservatorium nur schüchterne Versuche mit ihnen wagte, wo es noch nicht zu den Mode-Banalitäten gehörte, sich dafür zu exaltiren, der wird gern glauben, daß er in gewissen Momenten eine Meinung von Berlioz hatte, über welche sich die harmlosen Gemüther sehr wundern würden, die in beneidenswerther Naivität jenen äußerst doppelzüngigen Ausspruch als ein feierliches Urtheil hinnahmen, wie wir ihn aus dem Munde von Leuten wieder vernommen haben, die weit weniger zur Kritik großer Musikwerke geeignet sind. Was ist denn schließlich die Musik? Wir unseres Theiles gestehen, und berufen uns dabei auf ihre Geschichte und die mannichfachen verschiedenen Formen welche sie im Lauf derselben angenommen, daß wir bei Beantwortung dieser Frage von ihren drei wesentlichen Elementen: Rhythmus, Melodie, Harmonie nicht zu abstrahiren vermögen. Ueberall, wo wir eines derselben zu einer bedeutenden Entwicklung gelangen, es neu, originell, characteristisch anftreten sehen, glauben wir
9 (Lat.)
Hier im Sinne von nachträglich, im Nachhinein. 10 Der vielzitierte Ausspruch geht vermutlich auf einen Brief von Adolphe Adam an den Berliner Journalisten Samuel Heinrich Spiker vom 7. Dezember 1846 zurück. Er berichtet darin über die Uraufführung von Berlioz’ La Damnation de Faust op. 24 (6. Dez. 1846) und teilt Gioachino Rossinis Kommentar dazu mit: „Quel bonheur, disait-il, que ce garçon-là ne sache pas la musique! Il en ferait de bien mauvaise.“ 11 Bezeichnung für Rossini von seinen Verehrern aufgrund seiner Herkunft aus dem italienischen Pesaro.
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Musik zu erkennen, ob sie sich wie bei den Griechen durch Ueberwiegen des Rhythmus, wie in der großen Kirchenmusik durch Vorwalten der Harmonie, oder in der italienischen Oper durch Vorherrschen der Melodie kundgebe, ob sie zwei der genannten Elemente ebenbürtig verbinde, oder alle drei zu mächtige[m] Ineinandergreifen vereinige, wodurch ihre Natur fühlbar oder unmerklich modificirt wird. Welche Menge von Kenntnissen und verschiedenen Begabungen auch dazu gehört, um in unserer Zeit große Musik zu schaffen, wie auch harmonisches Wissen in Verbindung mit melodischem Erfinden, orchestrale Beobachtung mit der Divination combinirter Klang-Effecte u. s. w. gefordert wird, die Musik selbst, gleich einer Gottheit mit mannichfachen Attributen, bleibt in ihrer Wesenheit einfach; sie ist eine Dreieinigkeit deren Einzelbegriffe wir soeben genannt haben, die aber als eine einzige, untheilbare besteht. Jedes Werk, in welchem der lebendige Hauch einer der drei schöpferischen Gewalten zu spüren ist, ist eine berechtigte Creatur in ihrem Reiche, und nimmt einen unbestreitbaren Vorrang vor dem ganzen Schwarm gewöhnlicher Productionen ein, die [29] durch eine geistlose Zusammenstellung von Tönen weder dem Ohre rhythmischen Genuß, noch dem Gefühl melodischen, noch dem Geiste harmonischen gewähren, und sich nutzlos mit dem Bürgerrecht in der Kunstwelt breit machen, da sie zuletzt doch wie Eindringlinge hinausspedirt werden. Die Musik hat sich immer nur aus Dürftigkeit zum Stillstand entschlossen, sobald ihre Reichthümer zunahmen, bewegte sie sich alsbald durch Modificationen und Umgestaltungen. Vor dem jedesmaligen Tagesanbruch aber einer ihrer neuen Phasen versäumte man niemals, ihren drohendsten Verfall, ihren gänzlichen Untergang zu proclamiren. Durch eine begreifliche Anhänglichkeit an die von ihnen geschaffenen, vergrößerten, verschönerten Formen geben sich die Musiker aller Zeiten dem stets enttäuschten und stets wieder sich fixirenden Glauben hin, daß von ihren Arbeiten, oder diesem und jenem Meister an, nichts mehr die Höhe des Ideals wird erreichen können, welches sie gebildet und geheiligt. Ihr Leben, und oft ein arbeit- und leidenvolles Leben lang, waren sie von diesem Ideal so ganz hingenommen, daß sie zuletzt die nöthige Elasticität einbüßen, die zum Aneignen eines neuen unentbehrlich ist. Ohne ihrem Andenken wehe zu thun, macht dies erklärlich wie die größten Künstler oft das mindeste Wohlwollen gegen neue Richtungen zeigten; sahen sie doch in ihnen nur Symptome des Verfalls und Verderbs, konnte doch die Redlichkeit ihrer Abneigung ihr Gewissen täuschen und sie den geheimen Stachel der Eifersucht verkennen lassen! Es macht erklärlich wie Spontini sich nie herablassen mochte eine Weber’sche Oper zu dirigirenIII, wie Cherubini
III „Händel scheut da naturgemäß Bach, und geringschätzt Gluck; Haydn erwartet ‚nicht allzuviel‘ von Beethoven und C. M. von Weber satyrisirt seine Eroica12.“ Marx.13 – In einer der glänzenden Improvisationen[,] in welcher Méry oft nur an Ideen vorbeistreifend sie im günstigsten Licht, in der besten Fassung zeigt, ergeht er sich in so geistreich scherzhafter Weise über diese Frage, daß wir unseren Lesern das Vergnügen nicht vorenthalten wollen seine eigenen Worte hier zu finden: „Wie kommt es,“ sagt er, „daß die gewandtesten, feinsten Köpfe sich immer von dem versuchenden 12 Beethoven, Symphonie Nr. 3 Eroica Es-Dur op. 55 (ED 1806). neunzehnten Jahrhunderts, S. 28.
13 Marx
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Dämon der Vergleichung hinreißen lassen, da doch das Vergleichen unter allen rhetorischen Figuren die dürftigste ist? Sie ward nur dem bürgerlichen, trägen Neid zu Liebe erfunden, der wohl geruht in dieser Weise etwas zu bewundern, seine Bewunderung aber auf die kleinste Dosis reducirt, und diese nur an Todte verwendet. Der Pater Rapin14, der um’s Jahr 1689 blühte, hat die Vergleiche erfunden; in einem von ihm veröffentlichten dicken Bande finden wir Parallelen zwischen Demosthenes und Cicero, Scipio und Hannibal, Homer und Virgil, Marius und Sulla, meisterlich ausgeführt. Hier kömmt dann ewig die Formel vor: Dieser, nerviger, gewaltiger, leidenschaftlicher; – jener, sanfter, biegsamer, zarter; dieser …. jener …. beide endlich …. Der träge und mit Bewunderung geizende Bourgeois, der seit seiner Kindheit Cicero und Demosthenes auf dem Halse hatte, wußte dem Pater Rapin vielen Dank, daß er ihn des Cicero überhoben, und ihm nur den Demosthenes gelassen hatte, es war ihm schon vollkommen genug. Die Todten brauchen nicht mehr zu leben, und sie gerade sind es, deren der Vergleich sich nur bedient, um die Lebenden zu tödten. Es giebt doch im Gebiete der Kunst einige göttliche Namen, welche einer Menge gleich Berühmter nicht den geringsten Eintrag gethan haben. Die Sonnenglorie eines Homer, Virgil, Dante, Phidias, Praxiteles, Euripides, Sophocles, Michel Angelo, Rafael, Murillo, hat nahestehende Gestirne niemals verdunkelt. Warum sollte man denn mit der Bewunderung so haushälterisch verfahren? Sie ist doch die einzige Leidenschaft, deren Ueberfülle nie den Menschen tödtet, seinem Wohl nie Eintrag bringt. Mein Himmel! – Ich weiß ja recht gut, daß es viele ganz gesunde Patienten giebt, die sich noch mehr auf ihre Weisheit einbilden werden, wenn man ihnen bewiesen, daß Mozart größer ist als Rossini! Diese Menschen haben weder den Einen, noch den Anderen jemals bewundert: aber der Erste ist todt, und das ist schon viel: der Zweite ist ein Millionär an Geld, Melodien und Gesundheit: wenn’s ihm einmal einfällt, kann er eines schönen Tags nach Paris kommen und wie ehedem im grauen Paletot, mit dem Regenschirme in der Hand, auf dem Boulevard des Italiens spazieren gehen. Nun sollte dies Unglück wirklich eintreffen, wie angenehm wäre es dann sagen zu können: ‚Der Herr da drüben ist Rossini! O er reicht dem Mozart das Wasser nicht! Da habe ich neulich einen Vergleich zwischen beiden gelesen. Ei ja! – das ist doch ein gewaltiger Unterschied; o! die sind himmelweit auseinander! O Mozart! göttlicher Mozart! . . Ja, der ginge nicht im grauen Paletot auf dem Boulevard spazieren! – O nein! Damals gab es noch gar keine Paletots! Wenn der noch lebte, er würde im Triumph-Cabriolet an uns vorüberfahren, O sublimer Mozart! Più non andrò farfallone!15 . . . . Viva la liberta!16 – Was das für ein Finale ist! und das Duett im ersten Act? und der steinerne Geist? und die Bässe? Ja, das sind steinerne Schritte! O Mozart! . . .‘ Dieselben Leute, die Krampfanfälle von Bewunderung bekommen, wenn sie den Namen Mozart hören, lebten unter anderen Namen, als der Don Juan erschien, und sie sprachen: ‚O Gluck! göttlicher Gluck! Ja, der hätte gewiß keine Leporelloarie17 geschrieben! Großartiger Gluck! O Armide!18 Orpheus!19 Larven, Geister . . . Ja, der wäre nicht wie Mozart mit einer gepuderten Perrücke zu Fuß aus dem Place Royale spazieren gegangen!‘ Und ganz dieselben Leute, mit wieder anderen Namen, sagten als man zum ersten Mal Orpheus gab: ‚O Lulli, göttlicher Lulli! Welch’ rührende Einfachheit! Das ist Musik! Das ist nicht Geschrei und Geheul, wie im Orpheus. Man hört die Sänger, das Orchester nicht? Wozu auch? Die Musik muß gefühlt werden, gerochen, wie eine unsichtbare Blume. Göttlicher Lulli! O, Triumph der Flora20! Was ist das für eine Oper! Wie weit steht das über Gluck und seiner Schrei-Armide! Komm, Zephir, süßer Zephir komm! Flora ruft dich! Hat Gluck jemals so eine Melodie geschrieben? Nein, die Musik wird das nie wieder erreichen.‘ Wenn wir so den Stammbaum dieser Race von Bewunderern todter Componisten verfolgen, finden wir, daß sie im Lauf der Jahrhunderte nur die Namen ihrer Götzen ändern. Zuletzt kommen wir auf Orpheus, den Gemahl der Eurydice. Orpheus führte eine Oper in Thracien auf; alsbald suchten die Feinde 14 Réne
Rapin (1621–1687), französischer Jesuit und Philologe. Er veröffentlichte 1684 in Paris sein zweibändiges Werk Les Comparaisons des grands hommes de l’Antiquité. 15 Wolfgang Amadeus Mozart, Le nozze di Figaro (Die Hochzeit des Figaro, UA 1786), 1. Akt, 8. Szene, Nr. 10 „Non più andrai, farfallone amoroso“. 16 Mozart, Don Giovanni (UA 1787), 1. Akt, 22. Szene, „Viva la libertà“. 17 Ebd., 1. Akt, Nr. 4 „Madamina, il catalogo è questo“. 18 Christoph Willibald Gluck, Armide (UA 1777). 19 Gluck, Orfeo ed Euridice (UA 1762). 20 Jean-Baptiste Lully, Atys (UA 1676).
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Berlioz seine Studienhefte mit einem ironischen Lächeln und mit einem „Kannitverstan“22 zurückgab. Und wenn [30] wir etwas weiter zurückgreifen wollen, schrieb nicht Marcello23 im Jahr 1704: „die Musik geht unter!“ Worauf Rameau24 1760 noch immer Zeit hatte auszurufen: „die Musik ist verloren!“ In unseren Tagen erklärt ein Theoretiker, den man durchaus nicht vorschnellen und unreifen Urtheils zeihen kann, ähnliche Nothrufe folgender Weise: „Die Musik nährt sich von Gemüthsbewegungen. Diese sind um so lebhafter, je mannichfaltiger sie sind. Sie werden schnell abgenutzt, weil bei der unausgesetzten Gewöhnung an den Genuß dieser Kunst das Bedürfniß des Neuen sich hier schneller als in jeder anderen fühlbar macht. Daher das Interesse an ihren Umwälzungen, der Enthusiasmus den sie erregen. Daher auch die Klagen Jener, welche die gewohnten Formen für die einzig zulässigen halten, daher die so oft erneuerten Weherufe: die Musik geht zu Grunde, die Musik ist verloren! die eben doch nur bedeuten, daß die Musik eine andere Form angenommen.“IV, 25 – Wenn schon Organisationen sich vorfanden die mit den Eindrücken eines Neuerers in der Kunst sich befreunden konnten, warum nicht voraussetzen, daß in der Folge, jemehr seine Werke bekannt und verbreitet werden, ihre Zahl sich vergrößern wird. Wäre es gerecht, wenn man solchen für neue Formen Empfänglichen die Möglichkeit entzöge ihre Sympathie zu äußern, indem man ihre Kenntnißnahme ihnen gänzlich vorenthielte? Dies geschieht aber in allen Städten, wo die Leiter musikalischer Anstalten es von selbst unterlassen, Werke von Berlioz aufzuführen, oder vor den Schwierigkeiten der Aufführung, den langen Gesichtern einiger Pedanten, einiger Großmäuler von Dilettanten, zurückschrecken, statt, da sie doch mindestens theilweise ihre Verdienste anerkennen, das Publikum mit ihrem Styl vertraut zu machen, es nach und nach in das Verständniß von Schönheiten einzuweihen, die
der Lebendigen einen Vorgänger für Orpheus, Es gab keinen. Wie schade! Jeder-[30]mann weiß, wie man diesem Mangel abzuhelfen suchte. Man schnitt Orpheus in Stücke, hackte ihn klein, ließ kein ganzen Haar an ihm, kein Stückchen von seinem Fleisch an seiner Lyra hängen – und setzte dann diese Handhabung ernster Kritik auf Rechnung der Bacchanten des eisigen Strymon. Arme Bacchanten! .“21 IV Fetis. 1854 Rossini, S. 41–45. Im Buch ist dieser Vergleich zwischen Mozart und Rossini Teil eines Briefes vom französischen Dichter Joseph Méry (1798–1866). 22 Leitet sich vom niederländischen „kan niet verstaan“ (kann nicht verstehen) ab und war titelgebend für Johann Peter Hebels (1760–1826) Kalendergeschichte Kannitvertan (ED 1808). 23 Benedetto Marcello (1686–1739), italienischer Komponist und Theoretiker. 24 Jean-Philippe Rameau (1683–1764) veröffentlichte 1760 in Paris seinen Code de musique practique. 25 Fétis 1830 Curiosités historiques de la musique, S. 3. Im Original heißt es: „La musique vit d’émotions. Celles-ci sont d’autant plus vives qu’elles sont plus variées. Elles s’usent promptement, parce que, l’usage de cet art étant habituel, le besoin de nouveauté s’y fait sentir plus souvent que dans tout autre. De là l’intérêt qu’on prend à ces révolutions et l’enthousiasme qu’elles excitent. De là aussi les regrets de ceux qui considèrent les formes aux quelles ils sont accoutumés comme les seules admissibles, et ces exclamations: la musique se perd! la musique est perdue! qui signifient seulement que la musique a changé de forme.“ 21 Escudier
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gleichen Rang einnehmen mit dem Bedeutendsten, was bis jetzt da ist. Ist denn vielleicht Beethoven zu seinen Lebzeiten verherrlicht und vergöttert worden, und hat es nicht dreißig Jahre gebraucht, die Musiksäle ihm zu Liebe zu füllen? Ist denn ihm vielleicht die gleichzeitige Kritik alsbald verständnißvoll entgegengekommen? Hat nicht die bedeutendste Musikzeitung Deutschlands in jener Epoche die Kreutzersonate26, die seitdem eines der Idole Pflicht schuldiger Bewunderung geworden ist, ein groteskes Opus genannt und gerieth nicht Kreutzer selbst anfangs in Verlegenheit über die Widmung eines Werkes, das ihm noch viel tartarischer vorkommen mochte, als sein berühmter Tartaren-Marsch?27 – Hören wir die allgemeine Leipziger Musikzeitung aus dem Jahre 1805. „Man muß von einer Art artistischem Terrorismus befangen, oder für Beethoven bis zur Verblendung gewonnen sein, wenn man hier nicht einen Beleg findet, daß Beethoven sich seit einiger Zeit nun einmal capricire, vor allen Dingen immer ganz anders zu sein wie andere Leute. Für zwei Virtuosen denen nichts mehr schwer ist, die dabei soviel Geist und Kenntniß besitzen, daß sie, wenn die Uebung dazu käme, allenfalls selbst dergleichen Werke schreiben könnten, ist diese Sonate. Ein effectvolles Presto, ein originelles schönes Andante mit höchst wunderlichen Variationen, dann wieder ein Presto, der bizarrste Satz. In einer Stunde vorzutragen, wo man auch das Groteskeste genießen mag.“V, 28 So lange Beethoven lebte herrschte unter Künstlern und Kritikern keine große Meinungsverschiedenheit über diesen Gegenstand. Seltsamkeit wird immer das sublime beneidenswerthe Unglück jedes musikalischen Genies sein, nicht an und für sich selbst, sondern als unzertrennlich von der wirklichen Erfindung. Genie und Erfindung ist eines; Erfindung und Neuerung geht aber über das Bekannte hinaus und erscheint dann vielen Augen seltsam. Die Schwierigkeit besteht darin, die Fälle wohl zu unterscheiden, wo diese Seltsamkeit nur eine Zuflucht geistiger Armuth, eine Maske ist, hinter welcher sich ein nichtssagendes Gesicht versteckt, oder wo sie unvermeidliche Folge einer neuen Gefühlsweise und der neuen Form ist, welche diese nothwendig macht. Nur feinen Intelligenzen ist es gegeben sie dann zu erkennen, nur der Zukunft vorbehalten, die Behauptungen dieser zu bekräftigen. War die Seltsamkeit eine Nothwendigkeit des Genies, so erhält sie später den Namen Originalität, und wird dann plötzlich eben so gerühmt, als sie früher getadelt wurde. Unter dieser neuen Benennung erkennt man sie dann allgemein als jene seltene kostbare nicht zu lernende Fähigkeit durch welche jeder Federzug gewisser Künstler eine Art kenntlich machendes Monogramm wird, das man dann als ihre Manier hochpreist. Wie anders unterscheidet man die zerstreuten und einzeln wieder aufgefundenen Schätze großer Maler, als an der immer besonderen und unnachahmlichen Pinselführung eines jeden? Was wäre aus der mannich-
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van Beethoven, Sonate für Klavier und Violine Nr. 9 („Kreutzersonate“) A-Dur op. 47 (ED 1805). 27 Rodolphe Kreutzer (1766–1831), französischer Komponist und Geiger. Eine seiner zahlreichen Opern trägt den Titel Lodoïska ou Les Tartares (UA 1792). 28 Liszt zitiert hier nach dem Buch Beethoven et ses trois styles von Wilhelm von Lenz (Lenz 1852 Beethoven, S. 127). Dieser Wortlaut weicht von der 1805 in der AmZ erschienenen Kritik ab (Anonym 1805 Recension).
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faltigen Fruchtbarkeit dieser Kunst geworden, hätte man zu jedem Maler gesagt: „Daß du nicht anders malst als Dein Meister!“ Wenn [31] jede Stadt, jede Schule sich eine unbedingte Autokratie über die andere angemaßt hätte? Dann wäre es an Raphael sehr zu tadeln gewesen, daß er den Perugino übertroffen, an Buonaroti, daß er anders als Raphael verfuhr, an Rubens, daß er die Wärme des Colorits auf einer anderen Palette suchte als die[,] auf welcher Titian das durchsichtig Blendende des seinigen gefunden hatte. Und Rembrandt, den man wohl manchmal mit Berlioz vergleichen möchte, als er seine ersten Bilder mit ihrem verschwimmenden Dämmerlicht, ihrem unheimlichen Halbdunkel und wunderbaren Lichtparthien malte. Da hatte man ihm gut zurufen: Halt! Ho! Die Malerei geht zu Grunde! Die Malerei ist verloren! Sie soll das Auge erfreuen, ihm liebliche lachende Bilder bieten, Scenen die Geist und Sinne bequem fassen und genießen können. Sie ist nicht dazu bestimmt dem Schauenden das Verständniß des vom Künstler Gewollten zu einer schwierigen Aufgabe zu machen. Welch ein ergiebiges Thema wäre es gewesen, ihm demonstrirend, beweisend zu entwickeln, daß niemals ein Auge es ergötzlich finden könne auf so ungefälligen Farbengebungen zu verweilen, so brüsque Schlaglichter ertragen zu müssen, solch lividen Schimmer, solch blutrothe Reflexe zu schauen: daß nimmer die Imagination geschmeidig genug sein werde, die Conturen seiner in Dunkel gehüllten Gruppen zu verfolgen, um Gedanken zu errathen die unter soviel Schleiern sich verbergen, daß nimmermehr Jemand die Zeit daran wenden würde diese trüben Atmosphären zu durchdringen, um all’ die zweifelhaften Formen zu enträthseln, all’ diese verschlungenen Linien, die zwischen Licht und Schatten in so unverhofften Wendungen sich dem Blick entziehen und ihm wieder begegnen. Wie leicht wäre es nicht gewesen, seiner rauhen und mächtigen Manier den Reiz und die weichliche Zartheit eines Carlo Dolce entgegen zu halten? Wenn man über die geistigen Einwirkungen und Vorgänge nachdenkt, die den Künstler dazu bestimmen, seine Innerlichkeit gerade in dieser oder jener Form statt in allen anderen mitzutheilen, und falls keine entsprechende sich vorfindet, die seinem Bedürfniß genügende neue zu schaffen, so leuchtet uns immer deutlicher ein, daß je mehr ein Talent dem Genie sich nähert, desto beschränkter seine Freiheit in der Wahl einer Manier aus vorsätzlichem Entschluß werden muß. Auf ein solches läßt sich das bekannte Motto anwenden: Sint ut sunt, aut non sint.29 Wie die Seele ihren bestimmenden Einfluß auf die körperliche Hülle übt, so modelt jeder Gedanke die sichtbare Form[,] in der er auftritt. Wohl denen die aus gebietendem Triebe auf den Spuren einer zarten, idealen Schönheit wandeln, sie in ängstlich rein gehaltenen Formen zu fesseln streben. Sie erlangen schnelle Gunst, und sind fast gewiß als Lebende einen sicheren Lohn zu genießen, der wohl für das zweifelvolle Ziel eines höheren Ruhmes zu entschädigen vermag, wie er zuweilen einem Künstler aufbewahrt bleibt, der von stürmischen Leidenschaften und heftigem Drange beseelt, das Bedürfniß fühlt seinen gewaltigen Entwürfen einen weiten Spielraum zu gewinnen und so leicht das Anmuthige, Reizvolle hinten ansetzt, ja eine gewisse Scheu davor, als vor einem Unnützen, Ueberflüssigen empfindet. Will man aber gegen so
29 (Lat.)
Sie seien wie sie sind oder sie seien nicht. Ein im Hinblick auf das Existenzrecht der Jesuiten zugeschriebener Ausspruch.
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verschieden begabte Geister gleiche Gerechtigkeit üben, so muß man zum voraus die von der Natur ihres Genius unzertrennlichen Bedingungen annehmen. Streben nicht in Talenten wie in Characteren gewisse Eigenschaften nach Absonderung? Sobald wir die eine übermächtig werden sehen, mögen wir überzeugt sein, daß die andere leidet, oder wenigstens sich nur mittelbar, scheinbar verstellt kundgiebt. Kommt des Kriegers Mitleid in so zarter Weise zum Ausdruck als das der Frauen? Das Vergeben einer starken Seele, ist es minder schön weil es schroffer sich ausspricht, als das eines mittheilsam angelegten Herzen? Wiegt nicht ein Wort der Liebe oder des Rathes von schweigensgewohnten Lippen oft tausend Schwüre eines leichtentbrannten Liebenden, ganze Reden eines Polonius auf? Niemals ist ein hochgefaßtes Kunstwerk ohne eines der Attribute, die unzertrennlich sind von der Schönheit, oft aber ist dasselbe in solcher Eigenthümlichkeit vorhanden, daß um es in der bekleidenden Form zu erkennen, man sich sehr innig mit dem inneren Sinn des Werkes, mit den Styleigenheiten, man möchte sagen dem persönlichen Character des Autors durchdringen muß. Die Eigenschaften des Talentes sind noch relativer als die des Characters und wenn man die Umwandlungen nicht erwägt[,] die viele von ihnen durch Vorherrschen einer einzelnen erleiden, so möchte man sagen daß im Menschen und Künstler die Fehler um so fühlbarer werden, je unbedingter sie der Herrschaft einer Tugend, eines vorwiegenden großen Triebs unterworfen sind. Doch wird ein solches Urtheil dem Vorwurf der Oberflächlichkeit kaum entrinnen; was oft durch Hintenansetzung gewisser Schönheitsgesetze uns als Mangel erscheint, hört auf ein solcher zu sein, wenn jene Vorzüge durchaus nicht abwesend, sondern nur in einer besonderen Weise vertheilt sind, um deren richtige Auffassung es sich handelt. Um sich von solchen Individualitäten Rechenschaft zu geben, muß man sie nach ihren eignen Proportionsgesetzen messen. Das wissen die Zwerge nicht, oder wollen es nicht wissen, die mit toller Wuth gegen den Riesen anprallen[,] um ihn zum Falle zu bringen. Ihr kleinen Thoren! Und gelänge es euren Anstrengungen, ihm bleibt immer die [32] Kraft sich wieder zu erheben! Aber all euer Abmühen macht euch auch noch nicht um einen Daumen breit größer! [37] Außer den angeführten beiden Belastungsgründen (Abweichung vom alten Bau der Symphonie, Anwendung unerhörter harmonischer Kühnheiten) müssen wir noch einen dritten berühren, der, obgleich von Berlioz’ Gegnern immer schwächer betont, nichtsdestoweniger die Quelle der hartnäckigsten Opposition ist, mit der er zu kämpfen hat. Es giebt ganz scharfsichtige Köpfe, die aus einer abergläubischen Anhänglichkeit an nothwendig und ihrem Wesen nach transitorische Regeln, die sie aber für absolute, unerschütterliche Principien halten, auch nicht ein Jota von dem annehmen wollen, was Berlioz giebt, weil sie ganz richtig fühlen und voraussehen, daß all’ sein Streben nach Befreiung aus den vorgeschriebenen symphonischen Schranken, aus den Parallelsätzen und der thematischen Repercussion, all’ sein Vermehren der Orchestermassen zum Entfalten seines polyphonen Reichthums, nur die Consequenz einer noch tiefer gehenden Neuerung ist, welche den heiligen Bau gründlicher umzugestalten droht, als bloße Veränderungen an der Regelmäßigkeit seiner architektonischen Verhältnisse es vermöchten. Wir sprechen von dem, der rein instrumentalen Musik zugefügten Programm in Prosa und Versen, welches in längerer oder kürzerer Fassung, andeutend oder ausführlich, den Zuhörer auf bestimmte Gedanken und Bilder hinweist, die der Componist vor ihm zu entfalten versuchen will.
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In Bezug auf die Einführung dieser Neuerung sind zwei Puncte in’s Auge zu fassen. Ist sie eine Erscheinung ohne jeglichen Vorgang, ohne frühere ähnliche Beispiele? Ist sie ein bei Berlioz allein sich findendes Phänomen, ein ausnahmsweises Vorkommniß und knüpft es sich an keinen vorbereitenden Versuch? Welches sind sodann die schlimmen Folgen, die der Kunst aus ihr erwachsen könnten? Welches mißliche Uebel wird sie im Geleit führen? Mit anderen Worten: hat das Programm eine Berechtigung, da zu sein? Kann es sein Bestehen verantworten? Das Programm, – also irgend ein der rein instrumentalen Musik in verständlicher Fassung zugefügter Hinweis, welcher die Absicht des Componisten: daß die Zuhörer seinem Werke gegenüber nicht die Will-[38]kühr poetischer Auslegung bewahren sollen, deutlich ausspricht, und die Aufmerksamkeit im Voraus auf einen besonderen Gegenstand lenkt, ist so wenig von Berlioz erfunden, daß wir ihm schon vor der Haydn’schen Periode begegnen. Das Capriccio von Bach: Auf die Entfernu[n]g eines sehr theuren Bruder’sVI ist genügend bekannt. Diese Programme sind knapp gehalten. Wahr! Aber es ist die Eichel der Eiche und alle Keime sind unscheinbar, selbst die aus denen Ideen wachsen.
VI Wir theilen das von Bach diesem Stücke beigefügte Programm mit. Hätte diese Composition zu den unedirten gehört, so wäre ein treffliches Pendant zu dem Scherz aufzustellen gewesen, welcher Berlioz bei Gelegenheit der ersten Aufführung seiner Flucht nach Egypten30 so vollständig glückte, indem man vorgegeben hätte, die Bach’sche Composition sei von dem Verfasser der Fantastique. Dann wäre Midas wieder einmal durch eine Kriegslist auf ’s Eis geführt worden, und seine achselzuckende Geringschätzung wäre nicht minder ergötzlich gewesen, als sein damaliger Enthusiasmus. – Hier der Titel der sechs Theile des Capriccio: l) Schmeicheleien der Freunde, um den geliebten Bruder von seiner Reise abzuhalten. 2) Vorstellung der verschiedenen Zufälle, die ihm in der Fremde begegnen können. 3) Allgemeine Wehklage der Freunde. 4) Hier nehmen die Freunde, da es nicht anders sein kann, Abschied. 5) Das Lied des Postillons. 6) Nachahmung des Posthorns.31 Ist es nicht zugleich ein poetisches und pittoreskes Programm? Im l6ten Jahrhundert hatte man schon: „Le dixiesme livre de Chansons, contenant La Battaigle á 4 de Clèment Jannequin,32 avec la cinquiesme partie de Philippe Verdelot, deux chasses de Lièvre á 4 Parties,33 et le Chant des Oyseaux á 334. Anvers 1545. [“]35 Mattheson schreibt über den berühmten Organist Froberger (1635): „Dieser Componist hat
30 Ausgehend von La fuite en Égypte (Die Flucht aus Ägypten) hatte Berlioz ab 1850 sukzessive sein Oratorium L’Enfance du Christ (Des Heilands Kindheit) op. 25 (UA 1854) komponiert. Die schaffenschronologisch erste Komposition La fuite en Égypte wurde das Mittelstück des dreiteiligen Werks. 31 Bach, Capriccio sopra la lontananza del suo fratello dilettissimo BWV 992, 1. Satz „Arioso: Adagio. Ist eine Schmeichelung der Freunde, um denselben von seiner Reise abzuhalten“, 2. Satz „(Andante) Ist eine Vorstellung unterschiedlicher Casuum, die ihm in der Fremde könnten vorfallen“, 3. Satz „Adagiosissimo: Ist ein allgemeines Lamento der Freunde Start“, 4. Satz „(Andante con moto) All hier kommen die Freunde (weil sie doch sehen, dass es anders nicht sein kann) und nehmen Abschied“, 5. Satz „Aria di Postiglione: Allegro poco“, 6. Satz „Fuga all’imitazione della cornetta di postiglione“. 32 Clément Janequin (um 1485–1558), „Escoutez tous gentilz galloys“ (La Bataille de Marignan oder La Guerre). Philippe Verdelot ergänzte zu dem vierstimmigen Chanson eine fünfte Stimme. 33 Nicolas Gombert (um 1495 – um 1560), „Or escoutez gentils veneurs“ (La chasse du lièvre). 34 Gombert, „Resveillez vous cueurs endormis“ (Le chant des oyseaux). Das Chanson geht auf Janequin zurück. 35 RISM 154517.
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Wir wollen hier nicht auf Oratorium und Cantate eingehen, wo das Orchester von jeher der Aufgabe nachzukommen suchte, in reinen Instrumentalparthien ohne Chor und Sologesang den landschaftlichen Hintergrund, den Rahmen zu bilden, innerhalb dessen die Handelnden sich bewegen. Es nähert sich hier der Art von Mitwirkung, die es in der Oper ausübt, von welcher es die Form instrumentaler Stücke sich aneignete, die bald, ohne die Scene zu verlassen, in den Concertsaal überging: die Ouvertüre. Diese war anfangs nur ein kurzes Vorspiel, welches der Oper vorherging, und bewahrt das Andenken dieser ihrer Entstehung bis zum heutigen Tag in ihrer Benennung. Nach und nach erlangte sie dann selbstständigen Werth und Inhalt, abgesehen von dem dramatischen Werk, dem sie als Einleitung diente; die Ouvertüre wurde später ohne die Oper aufgeführt, für welche sie bestimmt war, überlebte dieselbe sogar in vielen Fällen; man schrieb dann Ouvertüren ohne Opern und behielt eben nur diesen Namen bei für alle instrumentalen Werke, die nicht wie die Symphonie in vier verschiedene Sätze zerfallen, sondern ein homogenes, organisches, unzertrennliches Ganze in einem Satz geben. Sowohl der größere Spielraum, welcher hier der Phantasie des Componisten gelassen war, als die günstige Gelegenheit, solche Stücke an ein bestimmtes Sujet zu knüpfen, welches im Titel anzudeuten man fortfuhr, trug zum raschen Erblühen dieser Gattung Kunstwerke bei. Sie brachte, wie wir sagen möchten, das Privilegium des Programms mit auf die Welt. Mendelssohns Schöpfungen in dieser Richtung gehören zu den gelungensten und anerkanntesten Beispielen. Die Ouvertüren zum Sommernachtstraum39, zu Athalia40 und Ruy Blas41 waren zu diesen Dramen geschrieben. Die Hebriden42 und Melusine43 sind schon unabhängige Orchestercompositionen. Meeresstille und glückliche Fahrt44 geht noch weiter als zu einem bloßen Anknüpfen an die
auf dem bloßen Claviere ganze Geschichten, mit Abmalung der dabei gegenwärtig gewesenen und Theil daran nehmenden Personen, sammt ihren Gemüthseigenschaften, gar wohl vorzustellen gewußt.“36 Johann Kuhnau componirte verschiedene Biblische Historien nebst Auslegung in SonatenForm für das Clavier37 und gab dieselben 1700 zu Leipzig in den Druck. Der zweiten Sonate ist beigefügt: Der von David vermittelst der Musik curirte Saul. I. Saul’s Traurigkeit und Unsinnigkeit; II. David’s erquickendes Harffen-Spiel; III. Des König’s zur Ruhe gebrachtes Gemüthe. Die dritte Sonate stellt vor: Jacob’s Heirath, etc. Couperin’s Werk: Pièces de Clavecin,38 Paris, 1713, enthält fast nur Programm-Musik, z. B, Les Silvains, l’Enchanteresse, le Réveil-matin, les Ondes, etc, etc. In den Jahren, welche zwischen Händel’s und Haydn’s Blüthenzeit liegen, finden wir öfters Orgelcompositionen und andere Instrumentalstücke mit einem, ihren Charakter und Zweck andeutenden Titel versehen. Es sind Stürme, Meerfahrten etc. in ihnen beschrieben. ziziert hier nach Becker 1840 Die Hausmusik in Deutschland, S. 46. Die originale Stelle findet sich in Johann Matthesons 1739 veröffentlichtem Buch Der vollkommene Capellmeister (4. Haupt-Stück, § 72). 37 Johann Kuhnau, Musicalische Vorstellung einiger Biblischer Historien (ED 1700). Enthält sechs Sonaten. 38 François Couperin, Premier livre de pièces de clavecin (ED 1713). Sammlung von 71 Stücken. 39 Felix Mendelssohn Bartholdy, Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum E-Dur op. 21 (ED 1832). 40 Mendelssohn Bartholdy, Ouvertüre zu Athalia op. 74 (UA 1845). 41 Mendelssohn Bartholdy, Ruy Blas op. 95 (ED 1852). 42 Mendelssohn Bartholdy, Ouvertüre Die Hebriden oder Die Fingals-Höhle h-Moll op. 26 (ED 1833). 43 Mendelssohn Bartholdy, Ouvertüre zum Märchen von der schönen Melusine F-Dur op. 32 (ED 1836). 44 Mendelssohn Bartholdy, Ouvertüre Meeresstille und glückliche Fahrt D-Dur op. 27 (ED 1835). 36 Liszt
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in den Namen enthaltenen Bilder und Erinnerungen; sie führt das vollständige Gedicht von Göthe45 als Programm in ihrem Geleite. Die Symphonie wurde von dieser Richtung nicht so merklich ergriffen; sie übte einen Zauber[,] der etwas von der Ehrfurcht hat, mit welcher man heilige Stätten besucht. Es wäre unnütz, den Spuren des Programms in manchen mehr scherzhaften als poetischen Anekdoten über die Entstehung Haydn’scher Symphonie nachgehen zu wollen. Sprudelnd heiter und naiv wie er war, vertraute er seiner Muse kein herzbedrückendes Geheimniß, suchte in ihr keine ahnungsvollen Räthsel und schrieb um so freier von Nebenabsichten, als es ihm leicht und sorglos von der Hand ging. Beethoven aber fühlte mehr das Begehren die vorübergehenden Geister der rein instrumentalen Musik mit einem Namen anzurufen, die übermächtigee Wellen der Tonströmungen in das sichere Bett eines einheitlichen, bestimmenden Gedankens zu leiten. Die Eroica46 und Pastoral-Symphonie47, die Ueberschrift zum Trauermarsch48 der ersteren, die Abschieds-[39]sonateVII so wie das Dankgebet eines Genesenen50, sein Muß es sein? in dem letzten Quartette51, möchten dies, besonders bei einer so wortkargen Individualität, sattsam bezeugen. Der Tod überraschte ihn mitten in der Conception einer Faust-Symphonie.52 Der allgemein angenommene Zuname Mondscheinsonate53 zu einer seiner bekanntesten Pianocompositionen, wenn auch ungeschickt romantisirend, so wie die seit etwa fünfzehn Jahren immer häufiger vorkommenden Versuche, die durch seine Symphonien, Quartette und Sonaten in uns hervorgerufenen Bilder in pittoresken, poetischen oder philosophischen Commentaren festzuhalten, zeigen, wie lebhaft das Bedürfniß sich ausspricht, den leitenden Gedanken großer Instrumentalwerke genau bezeichnet zu sehen. Spohr versuchte die Darstellung der großen Antithese: Irdisches und Göttliches in einer Symphonie für zwei getrennte Orchester.54 Eine frühere nannte er Weihe der Töne55 und fügte ihr ein Gedicht gleichen Titels als Programm bei. Zu einer dritten dienten ihm die vier Jahreszeiten als Gegenstand.56 Wir beschränken uns auf diese so namhaften Beispiele. Der moderne Classiker, Mendelssohn, hielt es für einen zu gewagten Schritt einem Publikum gegenüber, welches ihn leicht als Profanation auslegen
VII Les
adieux, L’absense et le retour.49
Wolfgang von Goethe, Meeres Stille (ED 1796) und Glückliche Fahrt (ED 1796). 46 Beethoven, Symphonie Nr. 3 Eroica Es-Dur op. 55 (ED 1806). 47 Beethoven, Symphonie Nr. 6 Pastorale F-Dur op. 68 (ED 1809). 48 Beethoven, Symphonie Nr. 3 Eroica Es-Dur op. 55, 2. Satz „Marcia funebre“. 49 Satzüberschriften von Beethovens Klaviersonate Nr. 26 Les Adieux Es-Dur op. 81a (ED 1811). 50 Beethoven, Streichquartett Nr. 15 a-Moll op. 132 (ED 1827). Der 3. Satz trägt die Überschrift: „Heiliger Dankgesang eines Genesenen an die Gottheit, in der lydischen Tonart“. 51 Beethoven, Streichquartett Nr. 16 F-Dur op. 135 (ED 1827). Der 4. Satz ist überschrieben mit „Der schwer gefasste Entschluss“. Der 1. Abschnitt Grave ma non troppo tratto ist unterlegt mit der Frage „Muss es sein?“ und der 2. Abschnitt Allegro mit „Es muss sein! Es muss sein!“ 52 Zur Verbindung von Beethovens Symphonik und Goethes Faust in der Rezeption im 19. Jahrhundert siehe Noeske 2017 Liszts „Faust“, S. 593–604. 53 Beethoven, Klaviersonate Nr. 14 („Mondscheinsonate“) cis-Moll op. 27/2 (ED 1802). 54 Louis Spohr, Symphonie Nr. 7 Irdisches und Göttliches im Menschenleben C-Dur op. 121 (ED 1842). 55 Spohr, Symphonie Nr. 4 Die Weihe der Töne F-Dur op. 86 (ED 1834). 56 Spohr, Symphonie Nr. 9 Die Jahreszeiten h-Moll op. 143 (ED 1853). 45 Johann
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konnte, eine Symphonie an poetische Schöpfungen anzulehnen oder ihren Inhalt in einem Titel zu präcisiren. Sorgfältig wich er jedem Zusammenstoß mit Vorurtheil und Befangenheit aus, wie wohl er nichts destoweniger durch die Gesammtrichtung seines Schaffens wesentlich zur verbreiteten Aufnahme des Programms beitrug. Auffallend ist es, daß seine Lieder ohne Worte, die das Programm auszuschließen scheinen, dennoch wesentlich zu dessen Anwendung in Clavierstücken beigetragen haben; es schien als erwecke dieser Gattungsname das Verlangen nach specielleren Benennungen. Er brach einer Fluth von kurzen Stücken Bahn, unter denen Henselt’s57 Compositionen eine [sic] bleibendes Interesse bewahren werden, während Schumann durch seine Charakter- und Phantasie-Bilder und Scenen etc. als Muster in diesem Genre gelten muß, indem er nicht allein den feinsten Tact in der Wahl seiner Programme bewies, sondern auch das musikalisch Gegebene in der innigsten Verschmelzung mit dem ausgesprochenen Gedanken zur Erscheinung brachte. Es wäre überflüssig daran zu erinnern, in welchem Grade es augenblicklich Mode geworden ist, alle möglichen Stücke für Einzelinstrumente, Piano, Violine, Cello, ja selbst Clarinette und Flöte! mit erklärenden Titeln, Gedichten, Motto’s, Epigraphen, mit Allem zu versehen, was dazu dienen kann, den Gedanken eine Beschäftigung zu geben, sie vor einer Idee, einem Bilde festzuhalten. Wenn also ähnliche Erscheinungen durchaus nicht vereinzelt, ausnahmsweise vorkommen, nicht bizarr gescholten werden, wenn denkende und verständige Künstler sie mit der Autorität ihres Beispiels unterstützen, und das Publikum sie gewissermaßen hervorruft, könnte man sie dann als eine Verirrung des Geschmacks bezeichnen, selbst in dem Fall, daß schlechter Geschmack, wie wir gar nicht leugnen, seinen Antheil daran hat, und nach den Liedern ohne Worte, Lieder „ohne Gedanken“ als Schmarotzerpflanzen wuchern läßt. Ein aufmerksamer Blick auf die Entwicklung der rein instrumentalen Kunst, besonders seit Haydn, würde uns alsbald, nach einigen staubigen Untersuchungen, wie einen mehr und mehr betretenen Pfad eine ununterbrochene Reihe von Programmversuchen wahrnehmen lassen, welche das immer wachsende Verlangen der Künstler bezeugen, die Lösung des Räthsels zu geben, welches aus den Wellen der Instrumentation ihnen entgegentaucht. Wir überlassen es Andern, die bei größerer Muße über reichhaltigere Quellen zu verfügen haben, in einer Art statistischem Auszug die zusammenhängende Folge jener Versuche nachzuweisen, zu zeigen wie kurz die Zeiträume zwischen dem Erscheinen hervortretender oder unbedeutender Erzeugnisse sind, welche in einer oder der anderen Weise mit dem in Rede stehenden kunsthistorischen Zug zusammentreffen. Unserem Zweck genügt es für heute darauf hinzuweisen, daß geistige Größen gleich stark sich von ihm ergriffen fühlten, wie verschieden sonst auch die Formen ihres Talentes und Geistes gewesen sein mögen. Wozu taugt es, von Thatsachen abstrahiren, dem in ihnen liegenden Sinn sich verschließen zu wollen? Durch mehr oder minder zahlreiche Citate belegt, bleibt es in den Augen jedes denkenden Künstlers ein unwiderlegbares Faktum, daß seit langer Zeit das Programm auf dem Gebiet des Soloinstrumentes wie der Orchester-
57 Adolph
Henselt (1814–1889), deutscher Klaviervirtuose, Komponist und Musikpädagoge.
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compositionen mehr und mehr festen Fuß faßt. Seit die Musik in allen Ländern einer allgemeinen Verbreitung genießt, seit sie durch ihre großen Feste Zusammenkünfte von Tausenden veranlaßt, unzertrennlich geworden ist von jeder öffentlichen Feier und jeder Erholung und Vergnügung des Privatlebens bis in die fernste Zurückgezogenheit des Einzelnen, hat sowohl das Publikum die Nothwendigkeit gefühlt, an einem Ariadnefaden durch ihre Labyrinthe geleitet zu werden, als auch die Künstler einsahen, ihn gewähren zu müssen; letztere haben den Vortheil so wohl erkannt, dem ersteren die Verlegenheit des Rathens zu ersparen, welch’ geheimer Sinn [40] in den dargebotenen Tongedichten enthalten sei, daß es längst nicht mehr zu den Seltenheiten gehört, einem Instrumentalstück mit Textworten, mit Namen oder Zunamen zu begegnen, der ein Bild oder Andeutung der Gefühle in sich schließt, welche durch das Tonwerk hervorgerufen werden. Berlioz gehorchte also nicht einer zufälligen Anwandlung, einem blos persönlichen Trieb, einer zwecklosen Laune, als er seine symphonischen Tongebilde durch den ausgesprochenen Gedanken bedingte, und diesen vom Zuhörer deutlich erfaßt und verstanden wissen wollte. Er verbreitete zwar eine Art Entsetzen durch die Gewaltsamkeit seines Gebahrens; es wäre aber nicht das einzige Beispiel, daß die ersten Heftigkeiten der Leidenschaft durch legitime Bande ausgeglichen worden. Mit oder ohne Zustimmung derer, die sich für die höchsten Richter in diesen Angelegenheiten halten, wird die instrumentale Musik auf dem Weg des Programms immer sicherer und siegreicher fortschreiten. Die Gegner des Programms, die seinen Gebrauch als eine Entweihung der Kunst ansehen, werden nicht läugnen können, daß lange vor unserer Epoche vorbereitende Versuche statt gefunden, und daß seine schnelle Verbreitung durch glänzende Anhänger für ein, ihm innewohnendes, lebensberechtigtes Princip Zeugniß ablegt; die Componisten aber die es zu weiterer Anwendung bringen, mögen den schreienden Mißbrauch bedenken, der damit getrieben werden kann, sie mögen sich erinnern, daß Programm oder Titel nur dazu gerechtfertigt erscheinen, wenn sie eine poetische Nothwendigkeit, ein unablösbarer Theil des Ganzen und zu seinem Verständniß unentbehrlich sind, was durchaus nicht der Fall ist, wenn sie nur als Zierrath oder als ein Lockvogel des Herausgebers figuriren, nur den Firnis für ein Bild abgeben, das sich im Uebrigen weder durch poetische Auffassung noch Gruppirung, weder durch Schönheitslinien noch durch Wahrheit des Colorits auszeichnet. – Wenn aber diese großen und seltenen Eigenschaften alle oder zum Theil in einem Werke vorhanden sind, was soll ihm dann das erklärende Programm? Aehnelt es nicht vielleicht dem Bandstreifen den die ersten christlichen Maler ihren Heiligen aus dem Munde hervorwachsen ließen, mit den darauf geschriebenen Reden der Handelnden? Ist es nicht eher eines jener naiven Hülfsmittel nach denen die Kindheit der Kunst in ihrer Unbeholfenheit greift, als ein Fortschritt ihrer Reife? Und wenn das Programm ein Auswuchs ist, wenn es nicht einen integrirenden organischen Theil des Ganzen bildet, ist dann sein Vorhandensein ein gleichgültiges? Kann es dem Tonwerk nicht mehr oder minder schaden?
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So heißen die Hauptbedenken der die Berechtigung des Programms Verneinenden, wiewohl dieselben ihre Einwürfe selten offen und klar dargelegt, vielmehr die erschöpfende Besprechung des Gegenstandes umgangen haben; und da auch die Fürsprecher des Programms die Frage nicht entschieden als eine der wichtigsten unserer Zeit aufstellten, so hat man sich von beiden Seiten darauf beschränkt, es anzuwenden oder zu verpönen, ohne weiter zu untersuchen, ob es einen unablösbaren Theil des Werkes bilden kann und muß und folglich nicht vermieden, es eben so oft in unrichtiger Weise zu benutzen als zu verurtheilen. Verhüte der Himmel[,] daß Jemand im Dociren über Nützlichkeit, Zulässigkeit und Vortheil des Programms den alten Glauben abschwöre und vorgebe, daß die himmlische Kunst nicht um ihrer selbst willen bestünde, nicht sich selbst genüge, daß sie den göttlichen Funken nicht aus sich selbst entzünde und nur als Vertreterin eines Gedankens, als Erhöhung des Wortes Werth habe. Die Wahl zwischen einem solchen Vergehen an der Kunst und der gänzlichen Ablehnung des Programms würde nicht schwanken dürfen, und es wäre vorzuziehen, eine ihrer reichhaltigsten Quellen versiegen zu lassen, als mit dem Läugnen ihres Bestehens durch eigne Kraft, ihren Lebensnerv zerschneiden zu wollen. Das Gefühl incarnirt sich in der Musik, ohne, wie in seinen übrigen Erscheinungsmomenten, in den meisten Künsten und vornehmlich denen des Worts, seine Strahlen an dem Gedanken brechen, ohne die Nothwendigkeit sich mit ihm verbinden zu müssen.VIII Wenn die Musik einen Vor[41]zug vor den andern Mitteln besitzt, vermöge welcher der Mensch die Eindrücke seiner Seele wiederzugeben im Stande ist, so verdankt sie ihn jener höchsten Eigenschaft, jede innere Regung vernehmbar machen zu können, ohne dabei die in ihrer Mannichfaltigkeit so beschränkten Formen des Verstandes zu Hülfe nehmen zu müssen, die endlich doch nur ein Bestätigen, Beschreiben unserer Affecte ermöglichen, nicht aber ihre volle Intensität unmittelbar mitzutheilen fähig sind, da sie, um dies nur annähernd zu bewerkstelligen, genöthigt sind nach Bildern und Vergleichen zu suchen. Die Musik dagegen giebt gleichzeitig Stärke und Ausdruck des Gefühls; sie ist verkörperte, faßbare Wesenheit des Gefühls; unsern Sinnen wahrnehmbar durchdringt sie dieselben wie ein Pfeil, wie ein Strahl, wie ein Thau, wie
VIII „Musik
ist Geist, Seele, die unmittelbar für sich selbst erklingt, und sich in ihrem Sichvernehmen befriedigt fühlt…. die Seelensprache, welche die innere Lust und den Schmerz des Gemüths in Tönen ergießt und in diesem Erguß sich über die Naturgewalt der Empfindung mildernd erhebt, indem sie das präsente Ergriffensein des Innern zu einem Vernehmen seiner, zu einem freien Verweilen bei sich selbst macht und dem Herzen dadurch die Befreiung von Druck und Leiden giebt…. Wenn wir nun im Allgemeinen schon die Thätigkeit im Bereiche des Schönen als eine Befreiung der Seele, als ein Lossagen von Bedrängniß und Beschränktheit ansehen können, so führt die Musik diese Freiheit zur letzten Spitze…. Die eigenthümliche Aufgabe der Musik besteht darin, daß sie jedweden Inhalt nicht so für den Geist macht, wie dieser Inhalt als allgemeine Vorstellung im Bewußtsein liegt, oder als bestimmte äußere Gestalt für die Anschauung sonst schon vorhanden ist, oder durch die Kunst seine gemäßere Erscheinung erhält, sondern in der Weise, in welcher er in der Sphäre der subjectiven Innerlichkeit lebendig wird…. Abstrahiren wir von einer bloßen Verstandesanalyse und lassen uns unbefangen gehen, so zieht uns das musikalische Kunstwerk ganz in sich hinein und trägt uns mit sich fort, abgesehen von der Macht, welche die Kunst als Kunst im Allgemeinen über uns ausübt. Die eigenthümliche Gewalt der Musik ist eine ele-
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ein Geist, und erfüllt unsere Seele. Wenn die Musik sich die höchste Kunst nennt, wenn der christliche Spiritualismus sie als einzig des Himmels würdig in die überirdische Welt versetzt hat, so liegt dies Höchste in den reinen Flammen des Empfindens, die von Herz zu Herzen ineinanderschlagen ohne Hülfe der Reflexion, ohne vom zufällig Geschehenden die Gelegenheit des Sichgeltendmachens abwarten zu müssen; sie ist Hauch von Mund zu Mund, strömendes Blut in den Adern des Lebens. Das Gefühl selbst lebt und leuchtet in der Musik ohne bildliche Hülle,IX ohne Vermittelung der That, des Gedankens; es hört hier auf Ursache, Quelle, Triebfeder, bewegendes und erregendes Princip zu sein, um sich faltenlos und ohne vertretende Symbole in seiner unbeschreiblichen Ganzheit zu offenbaren, wie der Gott der Christen, nachdem er seinen Auserwählten durch Zeichen und Wunder sich zu erkennen gab, sich ihnen nun durch die Vision im beseligenden Glanze seiner fühlbaren Gegenwart zeigt. Einzig in der Musik hebt das lebendig gegenwärtige, ausstrahlende Gefühl den Bann auf, welcher mit den Leiden irdischer Unmacht unsern Geist belastet, und entreißt uns mit den sprühenden Fluthen seiner freien und wärmevollen Gewalten dem demon Thought, streift uns auf Augenblicke sein Joch von der gefurchten Stirne. In der Musik allein macht das Gefühl zu seiner Kundgebung die Hülfe des Verstandes und dessen Ausdrucksmittel entbehrlich, welche im Vergleich zu seiner Intuition so unzureichend, seiner Kraft, seiner Zartheit, seinem Glanz gegenüber so unvollständig sind. Auf den hochgehenden klingenden Wogen der Tonkunst hebt uns das Gefühl zu Höhen empor, die über der Atmosphäre unseres Erdballs liegen, und zeigt uns sternschimmernde Wolkenlandschaften mit Weltarchipeln, die im Aether gleich Schwanen singend im Raum sich bewegen. Auf den Flügeln der unendlichen Kunst zieht es uns mit in Regionen, zu denen es allein zu dringen vermag, wo in geläuterter Luft das Herz sich erweitert und vorahnend Theil nimmt am Dasein eines körper- und hüllenlosen geistigen Lebens. Was uns über die kärgliche, dürftige irdische Hülle, über unseren beschränkten Planeten hinaus die Auen der Unendlichkeit öffnet, uns an rauschenden Quellen des Entzückens tränkt, mit Schauern der Wollust uns anweht, uns netzt mit
mentarische Macht, d. h. sie liegt allein in dem Element des Tones, in welchem sich hier die Kunst bewegt.“58 (Hegel’s Aesthetik) IX „Wir wollen gern zugestehn, daß unsere Kunst nicht befähigt ist, ein Charakterbild, überhaupt ein Object sofort deutlich und vollständig vor das Auge zu bringen, wie Dichtkunst und Bildnerei. Dafür hat sie vor dieser die Macht fortschreitender Entwickelung, vor jener die Möglichkeit gleichzeitiger Rede verschiedener und entgegengesetzter Charaktere voraus. Sie vermag nicht zu nennen, zu definiren wer du bist; aber sie führt alle Regungen deines Gemüths, wie sie sich vernehmbar machen, vorüber. Und sie stellt dich mit deinen Gleichen und deinen Gegnern zusammen und führt euch alle, wie ihr lebt und euer Leben aushaucht und aushallt, uns vorüber daß wir das Dasein und Wesen des Einen an dem der anderen, in Fülle vernehmen. Es ist ein fortschreitender Monolog, ganz von dialogisch-dialektischem Inhalt erfüllt, zwei und mehrseitig wie die Dialogen Platons sein sollten, aber künstlerisch betrachtet mit dem Uebergewicht wahrhaft dramatischer Gegensätze und Kämpfe.[“]59 (Marx, die Musik des 19. Jahrh.) 58 Georg
S. 197 f.
Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, in: Hegel-Werke 15, 1855 Die Musik des eunzehnten Jahrhunderts, S. 80 f.
59 Marx
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Thauperlen der Sehnsucht; was Ideale, gleich den goldnen Thurmspitzen jener im Meer versunkenen Stadt vor uns schimmern läßt, – uns vorüberführt an den unbeschreiblichen Erinnerungen, welche unsere Wiege umringten, wie an himmlischen Gestalten die wir kennen und die uns einst wieder umarmen werden, – uns leitet durch die schallenden Werkplätze der Elemente, – uns weihet mit allen Gluthen des Dürstens nach unerschöpflicher Wonne wie die Seligen es empfinden; was uns ergreift und mitreißt im hochaufstürmenden Wirbel aller Leidenschaften, welcher der Welt uns entrückend uns an die Ufer eines schöneren Lebens trägt, – ist es nicht die Musik, die vom ursprünglichen Gefühl belebte, wie es in uns schwebt, ehe es sich kundgiebt, ehe es in der Gießform des Gedankens gerinnt und erstarrt? Welche andere Kunst erschließt ihren Adepten ähnliche Wonnen, die von einem undurchdringlichen züchtigen Mysterium verschleiert, desto kostbarer und veredelnder sind? Welche andere Kunst zeigt ihren Dienstbeflissenen den Himmel wo Engel liebend walten, und durchfliegt mit ihnen im Eliaswagen die Sphären der Extase? Der slavische Dichter hat es gesagt: „Das Wort lügt dem Gedanken, die That lügt dem Wort.“ Die Musik lügt nicht dem Gefühl, sie täuscht es nicht, und Jean Paul durfte ausrufen: „O Tonkunst, die du Vergangenheit und Zukunft mit ihren fliegenden Flammen so nahe an unsere Wunden bringst!60 . . O Musik! Nachklang aus einer harmonischen Welt! Seufzer des Engels in uns! Wenn das Wort sprachlos und das Auge, das weinende, und wenn unsere stummen [42] Herzen hinter dem Brustgitter einsam liegen – o so bist Du es wodurch sie sich einander zurufen in ihren Kerkern, und wodurch sie ihre entfernten Seufzer vereinigen in ihrer Wüste“61 . . . . Die Musik offenbarte Hoffmann: „jenes ferne Reich, das uns so oft in seltsamen Ahnungen umfängt, und aus dem wunderbare Stimmen zu uns herabtönen, und alle die Laute wecken, die in der beengten Brust schliefen, und die nun erwacht, wie in freudigen Strahlen freudig und froh herausschießen, so daß wir der Seligkeit jenes Paradieses theilhaftig werden… Ist nicht die Musik die geheimnißvolle Sprache eines fernen Geisterreiches, deren wunderbare Accente in unserem Innern wiederklingen, und ein höheres, intensiveres Leben erwecken? Alle Leidenschaften kämpfen schimmernd und glanzvoll gerüstet mit einander und gehen unter in einer unaussprechlichen Sehnsucht die unsere Brust erfüllt.“62 – Wer möchte es wagen, unserer erhabenen Kunst die höchste Kraft des Sichselbstgenügens abzusprechen? Heißt aber einer neuen Form sich bemächtigen, den angeborenen und geschichtlich anerzognen auf immer entsagen? Schwört man die Muttersprache ab, wenn man einen neuen Zweig der Beredtsamkeit erringt? Weil es Werke giebt, welche eine gleichzeitige Thätigkeit des Fühlens und Denkens beanspruchen, wird deswegen der reine Instrumentalstyl für Solche seinen Zauber einbüßen, die gern mit ihrem ganzen Empfindungsvermögen in ihr aufgehen, ohne
Paul, Hesperus oder 45 Hundposttage (ED 1795), in: Jean Paul-Werke I, 1, S. 949 f. 61 Jean Paul, Die unsichtbare Loge (ED 1793), in: Jean Paul-Werke I, 1, S. 60. 62 Hoffmann 1813 Dichter und Componist, Sp. 800. 60 Jean
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durch einen bestimmten Gegenstand in der Freiheit des Fühlens gehindert zu sein? Hieße es nicht Mißtrauen in seine Lebensfähigkeit setzen, befürchtete man sein gänzliches Verwelken, weil ihm zur Seite eine neue Gattung entsteht, die von Drama, Oratorium und Cantate verschieden, dennoch mit ihnen die poetische Grundlage gemein hat? Die Gegenfüßler dieser neuen Kunsthemisphäre werden vielleicht ein schlagendes Argument gegen sie darin finden wollen, daß die Programmmusik durch scheinbares Versöhnen verschiedener Abarten gerade den eigenen individualisirenden Charakter aufgebe, auf keine unabhängige Stellung in der Kunst Anspruch machen könne. Sie werden behaupten, daß die Instrumentalmusik den lautersten Ausdruck unserer Kunst giebt, daß sie in dieser Form zu höchster Vollkommenheit und Macht gelangt, sich in glänzendster Majestät entfaltet, ihre Unmittelbarkeit am ergreifendsten geltend macht: daß nichtsdestoweniger die Musik sich von jeher das Wort aneignete, um ihm durch den Gesang Reiz und Kraft ihres Ausdrucks zu verleihen, und also immer in den beiden Formen als instrumentale und vocale sich entwickelt hat: daß diese beide Formen gleiche Naturwüchsigkeit besitzen, gleich normal sind, und daß der erfindend Schaffende, sobald er die Musik auf gegebene Verhältnisse und handelnde Personen anwenden will, in den lyrischen und dramatischen VocalFormen hinreichende Motive vorfindet und somit weder Notwendigkeit noch Nutzen für ihn entstehen kann, die Eigenheiten jener für sich bestehenden und von eigenem Leben athmenden Musik auf einem Pfad mit dem Entwickelungsgang dieser anderen zusammentreffen zu lassen, die sich mit der poetischen Anlage des Dramas, mit dem gesungenen und gesprochenen Wort identifiicirt [sic]. Diese Einwendungen wären richtig, könnte man in der Kunst zwei unterschiedene Formen nur verbinden, könnte man nicht dahin gelangen, sie zu vereinigen. Es ist augenscheinlich, daß ihre Verknüpfung eine unharmonische sein kann, daß dann das Werk ein mißlungenes und der Geschmack durch ein ungeschicktes Vermengen verletzt sein wird. Dies läge aber an einem Mangel in der Ausführung, nicht an einem principiellen Irrthum. Ist nicht die Kunst im Allgemeinen und eine jede insbesondere eben so reich an verschieden gearteten und unähnlichen Erscheinungen als die Natur im Wechsel ihrer Haupt-Reiche und deren mannichfachen Abtheilungen? Die Kunst stellt wie die Natur stufenweise Gliederungen her, welche die entferntesten Reiche und unterschiedensten Abstufungen durch vermittelnde Gattungen aneinander kettet, die nothwendig und natürlich, also auch lebensberechtigt sind. Wie es in der Natur keine Leere giebt, in der menschlichen Seele nicht blos Contraste sich zeigen, so klaffen keine steilen Abgründe zwischen den Gipfeln der Kunst, und es fehlen nirgends Ringe in der wunderbaren Verkettung ihres großen Ganzen. In der Natur, in der Menschenseele und in der Kunst sind die Entfernungen, Gegensätze und Höhepunkte durch eine ununterbrochene Reihenfolge verschiedener Arten des Seins miteinander verbunden, in welchen durch Modifikationen Verschiedenheiten herbeigeführt, zugleich aber Aehnlichkeiten aufrecht erhalten werden. Die menschliche Seele, dieser Mittelpunkt zwischen Natur und Kunst, findet in der Natur Ansichten welche allen Gefühlsfärbungen und Modulationen entsprechen, welche sie durchschreitet, ehe sie sich auf den steilen und einzelstehenden Gipfeln widersprechender Leidenschaften aufhält, die sie nur in seltenen
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Zeiträumen ersteigt; sie findet diese Ansichten in der Natur und trägt sie auf die Kunst über. Die Kunst vermählt, ebenso wie die Natur, verwandte oder entgegengesetzte Formen und Eindrücke, welche mit Stimmungen der menschlichen Seele zusammentreffen, die oft durch Gegenströmungen manichfacher Triebe [43] entstehen, die bald sich vereinigend, bald sich wiedersprechend [sic] einen getheilten Seelenzustand herbeiführen, der weder reiner Schmerz zu nennen ist noch reine Freude, weder vollkommene Liebe noch entschiedener Egoismus, weder gänzliche Abspannung noch volle Energie, weder Fülle der Befriedigung noch völliges Verzagen und durch diese Mischung verschiedener Tonalitäten eine Harmonie, eine Individualität oder eine Kunstgattung bildet, die nicht ganz auf sich selbst fußt und demnach verschieden von allen Andern ist. Die Kunst, in ihrer Allgemeinheit und in der Stellung betrachtet, die sie in der Geschichte der Menschheit einnimmt, wäre nicht nur ohnmächtig, sie bliebe unvollständig, wenn sie ärmer und unselbstständiger als die Natur nicht jedem Seelenmoment des Menschen den anklingenden Ton, die gleichgestimmte Farbe, die unentbehrliche Form zu bieten hätte. Kunst und Natur sind so wechselnd in ihren Erzeugnissen, daß wir die Grenzen derselben weder bestimmen noch errathen können; beide umfassen eine Menge heterogener oder verschwisterter Grundelemente; beide bestehen aus Stoff, Substanz und unendlich mannichfaltigen Formen, deren jede aber wieder an Ausdehnung und Kraft durch Grenzen bedingt ist; beide üben durch Vermittelung unserer Sinne eine ebenso wirkliche als unbestimmbare Wirkung auf unsere Seele. Jedes Element erlangt durch Berührung mit einem anderen neue Eigenschaften, indem es ursprüngliche einbüßt; andere Wirkung in veränderter Umgebung ausübend, nimmt es einen neuen Namen an. Ein Wechsel in den bezüglichen Verhältnissen ihrer Mischung reicht hin, um das durch ihr Zusammentreten erzeugte Phänomen zu einem neuen zu machen. Das Amalgamiren von Formen, die ihrem Ursprung nach verschiedener Art sind, wird in der Kunst wie in der Natur entweder Erscheinungen von ganz neuer Schönheit oder Ungeheuerlichkeiten erzeugen, je nachdem eine harmonische Vereinigung oder eine unerquickliche Verbindung ein homogenes Ganze oder peinliche Ungereimtheiten zu Tage fördert. Jemehr wir uns von der vielformigen Einheit überzeugen, die im All herrscht, in dessen Mitte der Mensch sich befindet, so wie von der, die in seinem eigenem Leben, seiner eigenen Geschichte waltet, um so mehr werden wir die in den Geschicken der Kunst sich offenbarende vielformige Einheit erkennen und dem verderblichen Hang uns zu entziehen suchen, an ihr mäkeln und zustutzen zu wollen, wie die Gärtner, die die Vegetation hemmen, um Hecken nach der Linie zu ziehen, und den gesunden Baum um gekünstelter Formen willen verkrüppeln. Nirgends finden wir in den belebten Erscheinungen der Natur geometrische und mathematische Figuren; warum sie der Kunst aufdringen wollen, warum die Kunst gradlinigen Systemen unterwerfen? Warum bewunderten wir nicht ihre üppige, zwanglose Entfaltung, wie die der Eichen, deren gewundene verschlungene Aeste lebhafter zu unserer Phantasie sprechen, als der zur Pyramide oder zum chinesischen Hut entstellte Taxus? Wozu all’ das Trachten, um Natur- und Kunsttriebe zu verkümmern und zu meistern? Vergebliche Mühe! Am ersten Tag, wo die kleinen Gartenkünstler einmal die Scheere verlegt haben, wachsen sie, wie sie sollen und müssen.
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Der Mensch steht zu Kunst und Natur in umgekehrter Beziehung; er beherrscht die letztere als ihr Schlußstein, ihre Blüthe, als ihr edelstes Erzeugniß; die Kunst aber erschafft er, gleichsam als eine zweite Natur, und macht sie in Beziehung auf sich zu dem, was er selbst der Natur gegenüber ist. Bei alledem kann er im Schaffen der Kunst nur nach den Gesetzen verfahren, welche die Natur ihm vorschreibt, weil er ihr die Materiale zu seiner Arbeit entnimmt, um ihnen ein höheres Leben zu verleihen, als ihnen nach dem Plan der Natur zugefallen wäre. Diese Gesetze tragen den unverlöschlichen Stempel ihres Ursprunges in der Aehnlichkeit, die sie mit den Naturgesetzen haben, und wiewohl Geschöpf des Menschen, Frucht seines Willens, Ausdruck seines Gefühls, Ergebniß seines Nachdenkens, hat die Kunst darum nicht weniger ein von seinem Wollen nicht bestimmtes Dasein, dessen aufeinander folgende Phasen einen von seiner Entscheidung und seinem Voraussagen unabhängigen Lauf nehmen. Sie besteht und blüht in verschiedener Weise vermöge Grundbedingungen, deren inneres Entstehen uns eben so unbekannt bleibt, als die Kraft welche die Welt in den Angeln hält, und wie diese strebt sie nach einem von uns nicht voraus gesehenen und vorauszusehenden letzten Ziele in beständigen Umwandlungen, die keiner äußerlichen Macht unterwerfbar sind. Der gelehrte Forscher kann wohl den Spuren ihrer Vergangenheit nachgehen, nicht aber vorausahnen, welcher Endbestimmung künftige Umwälzungen sie entgegenführen mögen. Die Sterne des Himmels kommen und gehen, die Gattungen auf unserer Erdkugel erscheinen und verschwinden nach Bedingungen, welche im fruchtbaren und unaufhörlichen Wechsel der Zeit die Jahrhunderte herbeiführen und wieder aufheben. So auch in der Kunst. Befruchtende und belebende Sonnen ihres Reiches verlieren nach und nach an Glanz und Wärme und neue Planeten erheben sich jugendstrahlend, stolz und feurig an ihrem Horizont. Ganze Künste sterben aus und ihr ehemaliges Leben ist nur noch an den Skeletten zu erkennen, die sie hinterließen, welche gleich denen vorsündfluthlicher Racen uns mit staunender Überraschung erfüllen; durch Kreuzung und Verschmelzung [44] entstehen neue, bis dahin unbekannte, die durch ihre Ausdehnung und Mischung vielleicht dereinst wieder ihrem Ende entgegengeführt werden, so wie im Thier- und Pflanzenreich ganze Gattungen durch andere ersetzt worden sind. Die vom Menschen, wie er selbst scheinbar von der Natur, ausgehende Kunst, die, wie er selbst das Meisterstück der Natur ist, als sein Meisterstück von ihm mit Gedanken und Gefühl begabt wird – die Kunst kann der nothwendigen Veränderung nicht entgehen, die allem eigen ist was die Zeit gebiert. Ihr mit dem der Menschheit zugleich bestehendes Lebensprincip bleibt, wie das Lebensprincip der Natur, nur eine Zeit lang denselben Formen innewohnend und geht von einer in die andere in ewigem Wandel über und treibt die Menschen an sich neue zu schaffen in dem Maaße, als er die Verblühten und Veralteten verläßt. – Der menschliche Geist trägt wie das liebevolle Geschenk einer über die seinige unendlich erhabenen Natur, die Begriffe der Ewigkeit und des Nichts gleich den Spuren außer ihm liegender Elemente in sich. Kant hat zuerst den räthselhaften Wiederspruch [sic] bemerkt, mit welchem der menschliche Geist Beides annimmt, ohne fähig zu sein, weder das eine noch das andere zu fassen. Diese Begriffe bilden die
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beiden entgegengesetzten Pole der Axe, um welche er sich dreht, die Idee eines Daseins ohne Anfang und Ende, und die eines absoluten Nichtseins. Unaufhörlich bewegt er sich um diese beiden Anziehungspunkte, bald zu diesem bald zu jenem sich neigend; zurückschauernd vor dem Gedanken der Vernichtung, entsetzt ihn der Gedanke eines Unwandelbaren. Alles was den Menschen umgiebt ist nur Ende und Anfang, Leben nach dem Tode, und Tod vor dem Leben. Nichtsdestoweniger ergreift ihn instinctiv und unerklärlich eine Abneigung gegen die Schwächlichkeiten aller Anfänge, gegen das Schmerzliche jeden Endes, während ein ebenso instinctiver und unerklärlicher Trieb ihn zum Zerstören drängt, um widerzuschaffen. Nach Sättigung Ueberdruß empfindend und durch Neubegier zum Begehren gereizt, fühlt er in fortwährender Erfüllung durch ein angeborenes herrschendes Verlangen nach einer Befriedigung sich getrieben, für deren Ausdruck ihm das Wort fehlt, die aber jeder Wechsel ihm zu verheißen scheint. Aus dem Streit dieser beiden Bestrebungen entsteht Kampf, und Leid, unsere gemeinschaftliche, unabwendbar[e] Mitgift. – Diese beiden widerstrebenden Impulse, die den Geist des Menschen im Schweben und Schwanken zwischen Dauer und Unbeständigkeit erhalten, finden sich überall wieder; in der physischen Welt als Centripedal und Centrifugalkraft, in der Chemie als Formation und Desorganisation, in der Moral als Vervollkommnung und Entartung, in der Politik als Conservation und Reform. Eine verborgene Macht, die wir Vorsehung oder Geschick nennen, stellt ihr Gleichgewicht durch Senken und Erheben der einen oder der andren Wage her, bis sie dann in den unvorhergesehensten Momenten beide in gleicher Schwebung erhält. Als Newton sagte: „Wäre Centripedal und Centrifugalkraft gleich, sie zerstörten die Maschine des Weltalls; wären sie ungleich, sie würden das Chaos erzeugen; Gottes Finger muß sie halten!“ war er von dem wunderbaren Gleichgewicht so widerstrebender Principe ergriffen, voll unbegreiflicher Weisheit, die wie in den Welten des Raumes sich in den Geschicken der Menschheit bewährt. In der Kunst und ihrem Schwanken zwischen sterilen verbrauchten Formen, die noch fortvegetirend keine neuen Typen mehr erzeugen, und dem Fortschritt entstehender, noch unvollkommener, offenbart sich der Finger Gottes, von dem Newton spricht, dies geheimnißvoll Bewegende, dies verborgen Waltende, welches zwischen den verschiedensten Elementen die Harmonik erhält und unser Fortschreiten in Zeit und Unendlichkeit entscheidet, durch das Genie. Wie jener gallische Eroberer wirft es sein blitzendes Schwert in die Waage der Kräfte, Anziehungen und Gegenbestrebungen, welche die Kunst von einer Seite zur Neuerung, Verbesserung, Umwandlung fortreißen, von der andern sie in den alten Gleisen, Formen und Verfahrungsarten zurückhalten wollen. So lange das Genie nicht sein Zauberwort spricht, erzeugt dieser Dualismus eine mehr oder minder schnell wechselnde Ebbe und Fluth, Verderb oder Förderung der Kunst und des Geschmacks; früher oder später aber zieht das Genie die Kunst über die sorglich gesetzten Grenzen hinaus, auf daß ihr Leuchtfeuer den Weg der Menschheit erhelle, die gleich unserer Sonne nach einem Ziel strebt, das unser Auge nicht gewahrt, unser Verstand nicht berechnet. Freilich aber wandelt die Sonne gleichen, gemessenen Schrittes ihre Bahn, zu dem Punkte des Firmaments hin, dessen Gestirn seltsamerweise und gleichsam vorahnend mit dem Namen Herkules bezeichnet wurde, dem Befreier des Prometheus, in welchem das Menschengeschlecht symbolisirt ist, während Mensch[h]eit und Kunst zu ihrer höchsten und letzten Verklärung unregel-
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mäßig, von Pausen unterbrochen, sich fortbewegen, bald mit einer die unterirdische Arbeit des Maulwurfs bezeichnenden Langsamkeit und Geduld, bald in so gewaltigem Sprung, wie der Tiger nach seiner Beute thut. Aus dieser Verschiedenheit des Ganges von Kunstentwickelungen erwächst die Schwierigkeit, ihre Anzeichen und Vorläufer zu erkennen. Man muß vorwärts geschritten sein, um den erledigten Fortschritt als [45] solchen zu erkennen. Solang er noch fern ist, wie ein Ankerplatz auf den wir zusegeln, bedarf es eine Art Gabe des Hellsehens, um mit Gewißheit zu behaupten, daß wir weiter gelangen, indem wir uns ihm nähern. Optische Täuschung liegt hier so nahe, daß für Skeptiker, welche das von Andern als ein Fortschreiten angesehene für rückgängige Bewegung halten, keine Beweise a priori möglich sind. Indessen wäre es vergebens eine aufsteigende Seelenwanderung des menschlichen Geistes läugnen und bestreiten zu wollen, der in immer edlern Künsten und Formen sich verkörpernd, nach immer breiterem Ausstrahlen, nach hellerem Lichte, nach unendlicher Erhöhung hinstrebt.X Eben so vergebens wäre es, eine Kunst oder die geringste ihrer Formen der Unbeweglichkeit anheimgeben zu wollen, indem man die neuen Gestalten in welchen sie sich zeigt zu zerstören, die Keime zu vernichten trachtet, welche aus dem Samen gereifter Frucht entstehen. Sie lassen sich nimmer verkümmern; keine entweihende Hand vermag ihre Lenzestriebe zurückzudrängen.
X „Man kann nicht über die tiefere Bedeutung der drei großen, so zu sagen, Cardinal-Künste: Plastik, Malerei und Musik nachdenken, ohne die Geschichte der drei großen, um so zu sagen, Cardinal-Sinne: Getast, Gesicht und Gehör dabei sich gegenwärtig zu halten. Die merkwürdigsten Beziehungen zwischen der Entwickelung dieser Sinne in der belebten Welt der Planeten und der Entwickelung dieser Kräfte in der Geschichte der Menschheit ergeben sich hierbei ganz ungesucht. Wie der Getast das erste und überall unentbehrlichste ist, durch welches das lebendige Geschöpf sich orientirt, so ist irgend eine Art Plastik die erste und nothwendigste Kunst der Völker und ihre höchste Blüthe hat sie am frühsten erreicht. Das Gesicht, jene wunderbare Wahrnehmung feinster Lichtwirkung, tritt erst auf höherer Stufe des Thierreichs hervor. Aber gewissermaßen unstätig, bald zu einem Auge, bald zu tausenden von Augen sich gestaltend, ja zuweilen selbst in den höchsten Thierformen wieder ganz verkümmernd; entsprechend dem fällt die Blüthe der Malerei erst in die mittlere Periode der Menschheit, nimmt die verschiedensten Formen an, taucht auf und sinkt zuweilen wieder plötzlich. Noch später, ja zu höchst erst entwickelt sich das Gehör, es deutet sich nur an in höheren Mollusken und wird erst vom Reiche der Fische an bleibendes Eigenthum der Thierwelt, Dann aber mit größerer Stätigkeit und Symmetrie nie mehr, nie weniger als zwei Organe, ein rechtes und ein linkes, und nie wieder sich verlierend. In ähnlichem Maaße tritt eine wahre Musik erst in den letzten Jahrhunderten auf, mit großer Festigkeit in ihren Grundgesetzen, zu gleicher Zeit sich gestaltend und an dieser nur gleichsam vor Anker liegend, giebt sie sich hin den feinsten wie den erhabensten Schwankungen und wird so das Mysterium, in welchem frei von allen Nachahmungen wirklicher Welt, das vergeistigte Reich der Gefühle sich spiegelt. Wenn jene anderen Künste über ihre höchste Blüthe längst hinaus sind, fällt das volle Erblühn des Tonreiches in die neueste Zeit und noch liegen manche Geheimnisse hier unter leichter Hülle verborgen, dem rechten Rhabdomanten gewiß sich zu erschließen bereit.“63 Carus. 63 Carus
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Seltsamer Widerspruch! Nichts Menschliches bleibt still stehen; Cultus, Sitte, Gesetz, Regierung, Wissenschaft, Geschmack und Genußweise, alles wechselt, alles vergeht und kommt unaufhörlich, ohne Rast, ohne Frist; kein Land gleicht dem andern, und kein Jahrhundert endet in derselben Atmosphäre in welcher es begonnen; Bestrebungen, Richtungen, Verbesserungen, Ideale jeder Generation pflügen den von den Vätern geerbten Acker um, Anpflanzungen neuer Art zu versuchen; – und in mitten all’ dieser Gährungen, in diesem Zeitengewog, in dieser, den Umwandlungen der Natur wenn nicht an Majestät, doch an Allgemeinheit ähnlichen, ewigen Weltverjüngung, sollte unter allen Wegen des Fortschritts ein einziger nie betreten, unter allen Kundgebungen des menschlichen Geistes der reinsten und glänzendsten die Entwickelung versagt, die Beweglichkeit verkümmert werden? Man möchte unter allen virtuellen Kräften gerade ihr die Vervollkommnungsfähigkeit absprechen, der höchsten Kraft, die dem Stoffe Geist einhaucht, die, ein Echo jenes ersten Schöpfungsrufes, durch ihr „Werde“ ein harmonisches All schafft aus den umgestalten Elementen eines embryonischen Chaos? Wunderbare Gabe, edelstes Weihegeschenk des Daseins! Einzige Schaffensgewalt des Menschen! Wo anders, als in der Kunst, bist du zu suchen? Wie auch der Mensch sich bethätige auf allen Wegen des Lebens, wie er entdecke, wie er erfinde, sammle, zerlege und verbinde – er schafft nur im Kunstwerk; nur hier vermag er in freiem Wollen, Fühlen und Denken mit sinnlicher Hülle zu umgeben, die ihren Sinn und Inhalt bewahrt und mittheilt. Und nur die Kunst sollte von einem bestimmten Moment an unbewahrt bleiben von Ebbe und Fluth seiner Seele, unergriffen vom Schwanken seiner Hoffnungen, theilnahmlos an allem Wechsel seiner Träume, an allen Keimen und Weben seiner Ideen? Nein, gewiß nicht! Die Kunst im Ganzen wie im Besonderen schifft mit der Menschheit den Strom der Zeiten abwärts, und steigt nimmer zurück zur Quelle. Selbst wenn sie Momente lang still zu stehen scheint, hören die Fluthen, die den Menschen und sein Leben tragen, nicht auf, auch ihr Element zu sein. Die Kunst geht, schreitet fort, nimmt zu und entwickelt sich nach unbekannten Gesetzen, in Revolutionen deren ungleiche und in unberechenbaren Zeitpunkten eintretende Wiederkehr, ähnlich dem Erscheinen mancher Kometen, niemals die feste Behauptung möglich macht, daß sie nun nicht mehr in voller Pracht vorübergehen oder nach dem Vorbeigehen nicht mehr zurückkehren werden. Nur ist es uns nicht gegeben, ihr unerwartetes Wiedererscheinen, noch die ungeahnte Glorie vorauszusehen, in welcher sie dann auftreten wird. – Wenn für die Kunst die Stunde des Fortschrittes geschlagen hat, fehlt das Genie niemals an der Bresche, [46] es folgt dem Ruf der Zeiten, sei es um eine Entdeckung voll und ganz aus nebelhaftem Limbus an’s Licht zu führen, sei es um kindisch gesammelte einzelne Silben zu einem volltönenden, zauberkräftigen Wort zu vereinigen. Zuweilen geschieht es, daß die Kunst wie eine Pflanze erblüht, die nach und nach ihre Blättter [sic] entfaltet, daß ihre aufeinanderfolgenden Repräsentanten sich in gleichmäßigem Verhältniß vervollkommnen, so daß ein Meister nur einen Schritt über das hinausthut, was sein Meister ihm überliefert hat. Dann gönnt dieser langsame Fortschritt den Massen die nöthige Zeit, durch ein stufenweises Erhöhen ihres
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Niveaus vorbereitet, dem Streben nach vollkommnerem Verfahren und höherer Inspiration zu folgen. In anderen Fällen greift das Genie seiner Zeit vor und erklimmt in einem kräftigen Aufschwung mehrere Stufen der mystischen Leiter. Dann bedarf es der Dauer, bis nachringend das allgemeine geistige Bewußtsein zu seinem Gesichtspunkt gelangt ist; ehe dies geschehen wird es nicht verstanden, kann es nicht gerichtet werden. Dies hat sich oft in der Literatur, oft auch in der Musik ereignet. Weder Shakespeare noch Milton, weder Cervantes noch Camoens, weder Dante noch Tasso, weder Bach noch Mozart, weder Gluck noch Beethoven, um nur diese strahlenden Namen anzuführen, sind zu ihrer Zeit in dem Maaß erkannt worden, wie später. Für die Musik, die fortwährend im Bilden begriffen ist (und die in unserer Zeit in raschem Entwickelungsgang nach Ersteigung eines Gipfels alsbald das Emporklimmen zu einem andern beginnt) liegt das Eigene des Genies darin, seine Kunst sowohl mit unbenutzten Stoffen als durch eigenthümliche Handhabung der vorgefundenen zu begaben, und man kann sagen, daß in ihr die Beispiele von Künstlern sich am reichhaltigsten antreffen lassen, die förmlich mit gleichen Füßen in eine künftige Zeit hinübergesprungen sind. Wie sollte ihr Vorausergreifen des Styles, von dem sie erkannten, daß er der herrschende werden müsse, nicht den Zeitgenossen anstößig sein, denen die nöthige Kraft fehlt, sich gleich ihnen durch einen gewaltigen Ruck von der bequemen Gewohnheit traditioneller Formen loszureißen? Doch möge ihnen die Menge den Rücken kehren, brotneidige Rivalen sie schmähen. Freunde sie verspotten, mögen ihre Schüler von ihnen abfallen, mögen sie geringschätzt von Dummen und verdammt von Ignoranten, ein gequältes, gehetztes Leben führen, sie hinterlassen sterbend ihre Werke wie einen befruchtenden Segen. Diese prophetischen Werke impfen einem nach dem andern der Kommenden ihren Styl, ihre Schönheit ein. Oft sind es die zum Anerkennen ihres Auftretens wenigst geneigten Talente, die sich am aller ersten einige ihrer poetischen Intentionen oder technischen Verfahrensweisen zu nutze machen, deren Werth sie am besten zu schätzen wissen. Diese werden bald wieder nachgeahmt, und so gezwungen, dem anfangs Verkannten sich noch inniger zu nähern, bis dann im Umsichgreifen solcher Nachahmungen und Annäherungen endlich das Verständniß und die Verherrlichung des Genius erreicht wird, der zu seinen Lebzeiten vergebens Anerkennung forderte. Erst wenn es sich an die Bewunderung von Werken gewöhnt hat, die den seinigen analog, von ähnlicher Fassung aber geringerem Werth sind als sie, nimmt das Publikum dann sein kostbares Vermächtniß mit voller Achtung, mit Beifallsjubel auf. Die alten Formen, auf diese Weise verdunkelt, werden dann bald vernachlässigt und zuletzt von jüngeren Generationen gänzlich vergessen, welche schon mit den neuen aufwachsen und diese ihrem poetischen Ideal entsprechender finden. So füllt sich denn nach und nach die Kluft aus zwischen dem mit Schwingen begabten Genius und dem schneckenbedächtig ihm folgenden Publikum. [49] Die im Programm enthaltene poetische Lösung der instrumentalen Musik erscheint in unseren Augen mehr als einer von den mannichfachen Forschritten, welche dieser Kunst noch bevorstehen, ein nothwendiges Ergebniß unserer Zeitentwicklung, als ein Symptom ihrer Erschöpfung und Entartung, denn wir können nicht annehmen, daß sie schon jetzt gezwungen wäre, subtilen Kunstgriffen und Verirrungen des Raffinements sich hinzugeben, um nach Abnutzung all’ ihrer Hülfsquellen, nach dem Verbrauch all’ ihrer Mittel die Unmacht ihrer alternden Tage zu
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verdecken. Wenn bis dahin ungebrauchte Formen aufkommen und durch den Zauber, den sie üben, sich bei denkenden Künstlern und beim Publikum Eingang verschaffen, daß Erstere sich ihrer bedienen, Letzteres Aufnahme für sie zeigt, so ist es schwer, anticipirend ihre Vortheile und Mißstände so erschöpfend darzuthun, um aus beiden ein Facit zu ziehen, nach welchem sich ihre Aussichten auf Dauer und die Art ihres Einflusses feststellen ließe. Nichts destoweniger wäre es kleinlich und engherzig, wollte man sich eines Eingehens auf Ursprung, Bedeutung, Tragweite und Zielpunkte derselben enthalten, um Werke des Genies mit einer Geringschätzung zu behandeln, deren man sich vielleicht später zu schämen hätte, um einer Erweiterung des Kunstgebiets die schuldige Anerkennung zu versagen, sie im Gegentheil ohne Weiteres als Auswuchs einer Verfallsepoche zu bezeichnen. Wir wollen Verzicht darauf leisten, Vortheil aus einem Ausspruch Hegel’s zu ziehen, wenn man uns beweist, daß große Denker (solche, vor deren herkulischen Geistesarbeiten, abgesehen von der Sympathie für ihre Doktrinen, jede Stirne sich beugt) gerade die Formen als wünschenswerth bezeichnen könnten, die sich als krankhaft und zum Verfall der Kunst beitragend erweisen. Hegel scheint den Impuls vorauszusehen, welchen das Programm der Instrumentalmusik zu geben vermöchte, indem es die Zahl der Verstehenden und Genießenden vermehrt, wenn er am Schluß des von der Musik handelnden Capitels seiner Aesthetik, deren intuitive Richtigkeit in den [50] Hauptüberblicken durch einige irrthümliche Vorstellungen, wie die Zeit sie damals mit sich brachte, nicht beeinträchtigt werden kann, Folgendes sagt: „Der Kenner, dem die inneren musikalischen Verhältnisse der Töne und Instrumente zugänglich sind, liebt die Instrumentalmusik in ihrem kunstgemäßen Gebrauch der Harmonien, melodischen Verschlingungen und wechselnden Formen; er wird durch die Musik selbst ganz ausgefüllt und hat das nähere Interesse das Gehörte mit den Regeln und Gesetzen, die ihm geläufig sind, zu vergleichen, um vollständig das Geleistete zu beurtheilen und zu genießen, obschon hier die neue erfindende Genialität des Künstlers auch den Kenner, der gerade diese oder jene Fortschreitungen, Uebergänge etc., nicht gewohnt ist, häufig kann in Verlegenheit setzen. Solche vollständige Ausfüllung kommt dem Liebhaber selten zu Gute, und ihn wandelt nun sogleich die Begierde an, sich dies scheinbar wesenlose Ergehen in Tönen auszufüllen, geistige Haltpunkte für den Fortgang überhaupt für das, was ihm in die Seele hineinklingt, bestimmtere Vorstellungen und einen näheren Inhalt zu finden. In dieser Beziehung wird ihm die Musik symbolisch, doch er steht mit dem Versuch, die Bedeutung zu erhaschen, vor schnell vorüberrauschenden räthselhaften Aufgaben, die sich einer Entzifferung nicht jedesmal fügen, und überhaupt der verschiedenartigsten Deutung fähig sind.“64 Wir möchten Hegels Meinung nur modificiren, um sie noch absoluter aufzustellen, und vermögen nicht zuzugeben, daß der Künstler sich mit Formen begnüge, die für den Liebhaber zu trocken sind. Wir behaupten im Gegentheil, daß der Künstler noch dringender als der Liebhaber Gefühlsinhalt vom Formengefäß fordern muß. Nur vom Ersteren erfüllt, hat Letzteres Bedeutung für ihn. Künstler und Kenner, die im Schaffen und Beurtheilen nur die sinnreiche Construction, Kunst des Gewebes
64 Hegel,
Vorlesungen über die Ästhetik, in: Hegel-Werke 15, S. 216 f.
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und verwickelte Faktur, nur die kaleidoskopische Mannichfaltigkeit mathematischer Berechnung und verschlungener Linien suchen, treiben Musik nach dem todten Buchstaben und sind Solchen zu vergleichen, welche die blätterreichen indischen und persischen Gedichte nur um der Sprache und Grammatik willen ansehen, nur Wortsonorität und Symmetrie des Versbaues bewundern, ohne Sinn, Gedankenund Bilderfülle in ihrem Ausdruck, ohne ihren poetischen Zusammenhang, geschweige den besungenen Gegenstand, den geschichtlichen Inhalt zu berücksichtigen. Wir leugnen nicht den Nutzen philologischer und geologischer Untersuchungen, chemischer Analysen, physikalischer Experimente, grammatischer Erläuterungen – aber sie sind Sache einer Wissenschaft, nicht der Kunst. Jede Kunst ist die schimmernde Blüthe, die der gedrungene Baum einer Wissenschaft an seinen belaubten Wipfeln trägt, während seine Wurzeln sich unter eine verhüllende Decke verbergen sollen. Die Nothwendigkeit und Nützlichkeit, Stoff und Substanz, in welchen sich die Künste verkörpern, zu zersetzen, um ihre Eigenschaften kennen und nutzen zu lernen, rechtfertigt nicht die Vermengung von Wissenschaft und Kunst, des Studiums der einen mit dem Schaffen der anderen. Der Mensch muß Kunst und Natur erforschen; dies ist aber nicht das Ziel seiner Beziehungen zu beiden, es ist wesentlich ein vorbereitender, wenn auch wichtiger Moment in denselben. Beide sind ihm vor allem zum Genuß gegeben; er soll göttliche Harmonien der Natur in sich aufnehmen, die Melodien seines Herzens, die Seufzer seiner Seele in der Kunst aushauchen. Ein Werk, das nur geschickte Handhabung des Stoffes bietet, wird stets das Interesse der zunächst Betheiligten, der Künstler, Lehrenden und Kenner in Anspruch nehmen, aber trotz dem immer nur an der Schwelle des Kunstkönigreiches weilen dürfen; ohne den göttlichen Funken in sich zu tragen, ohne ein lebendiges Gedicht zu sein, wird es von der Gesellschaft gleichsam als für sie nicht vorhanden angesehen und nimmer von den Völkern als ein Blatt in das Brevier des Schönheitscultus aufgenommen werden. Es wird nur so lange Werth behalten, als die Kunst in einer gewissen Stellung verharrt; sobald sie aber nach einem andern Horizont fortschreitet, der Erfahrung erweiterte Methoden ablernt, verliert es außer der historischen jede andere Bedeutung, und wird zu den archäologischen Documenten der Vergangenheit gestellt. Kunstdichtungen aber leben durch alle Zeiten und überstehen alle formellen Revolutionen kraft des unvergänglichen Lebensprincips, das die menschliche Seele ihnen incarnirte. Wenn die Instrumentalmusik sich die Spitze, die ungebundenste, die absoluteste Kundgebung unserer Kunst nennt, so kann sie dies nur, weil sie gewissen Gefühlen und Leidenschaften einen Ausdruck zu geben vermag, den der Hörer versteht, dessen Seele von ihm ergriffen ist, während sein Verständniß der logischen Entwicklung folgt, die mit seiner innerlichen übereinstimmt, oder durch den unbeschreiblichen Genuß unbestimmbarer Eindrücke, welche gewaltsam oder gelinde unser ganzes Wesen in einen für Unempfängliche unverständlichen Zustand versetzen, den man oft Versenkung in das Ideal genannt hat, und den Hegel so treffend als eine Art Befreiung der Seele65 bezeichnet, weil diese sich in der That aller materiellen Fesseln entledigt glaubt, und sich ungehindert dem unendlichen Meer der Empfindung
65 Ebd.,
S. 141.
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überläßt. Jede musikalische Organisation giebt sich, wenn nicht ganz deutlich, doch annähernd, von dem Eindruck Rechenschaft, den [51] ein instrumentales Gedicht vom Autor auf den Leser übertragen soll, sie wird sich der Leidenschaften und Gefühle ihrer Modulationen bewußt, die dasselbe entfaltet. Wenn auch der Einzelne nach dem Hang seiner Phantasie diese Leidenschaften und Gefühle in andere Bilder kleidet, über die Art von Gemüthsbewegungen, die der Componist durch sein Werk hervorrufen wollte, wird er sich nicht täuschen können. Kann man doch den Charakter eines Musikers nicht besser beurtheilen, als indem man die Stimmungen präcisirt, welche er im Zuhörer zurückließ! Zwischen Tondichter und bloßem Musiker ist dies der Unterschied: der erste reproducirt seine Eindrücke und Seelenereignisse, um sie mitzutheilen; der zweite handhabt, gruppirt, verkettet Töne nach gewissen hergebrachten Regeln, und gelangt darin höchstens, mit spielender Ueberwindung von Schwierigkeiten, zu neuen und kühnen, ungewöhnlichen und verzwickten Combinationen.XI
XI Möge
man uns erlauben, nochmals Hegel anzuführen, der in seiner Schätzung und Darlegung vieler wichtiger musikalischer Punkte von jener Schärfe des Instinkts geleitet war, wie wir sie häufig bei begabten Organisationen antreffen, und welche sie seltener als der Sophismus in manchen anderen Dingen täuscht, die sie nicht so unbefangen zu betrachten vermögen. „Es kann wohl geschehen, daß wir uns einerseits ohne weitere innere Bewegung an dem blos sinnlichen Klang und Wortlaut erfreuen, oder auf der anderen Seite mit den Betrachtungen des Verstandes den harmonischen und melodischen Verlauf verfolgen, von welchem das innere Gemüth nicht weiter berührt und fortgeführt wird. Ja, es giebt bei der Musik vornehmlich eine solche bloße Verstandesanalyse, für welche im Kunstwerk nichts anderes vorhanden ist, als die Geschicklichkeit eines virtuosen Machwerks66 . . . . Der Componist kann zwar in sein Werk eine gewisse Bedeutung, einen Inhalt von Vorstellungen und Empfindungen, und deren gegliederten, geschlossenen Verlauf hineinlegen, umgekehrt aber kann es ihm auch, unbekümmert um solchen Gehalt, auf die rein musikalische Structur seiner Arbeit und auf das Geistereiche solcher Architektonik ankommen. Nach dieser Seite hin kann dann aber die musikalische Production leicht etwas sehr Gedanken- und Empfindungsloses werden, das keines auch sonst schon tiefen Bewußtseins, der Bildung und des Gemüthes bedarf. Wir sehen, dieser Stoffleerheit wegen, die Gabe der Composition sich nicht nur häufig bereits im zartesten Alter entwickeln, sondern talentreiche Componisten bleiben oft auch ihr ganzes Leben lang die unbewußtesten, stoffärmsten Menschen. Das Tiefere ist daher darein zu setzen, daß der Componist beiden Seiten, dem Ausdruck einen freilich unbestimmten Inhalts und der musikalischen Structur auch in der Instrumentalmusik die gleiche Aufmerksamkeit widmet, wobei es ihm dann wieder frei steht, bald dem Melodischen, bald der harmonischen Tiefe und Schwierigkeit, bald dem Charakteristischen den Vorzug zu geben oder auch diese Elemente mit einander zu vermitteln67 . . . . So sagte ich bereits früher, daß die Musik unter allen Künsten die meiste Möglichkeit in sich schließt, sich nicht nur von jedem wirklichen Text, sondern auch von dem Ausdruck irgend eines bestimmten Inhalts zu befreien, um sich blos in einem in sich abgeschlossenen Verlauf von Zusammenstellungen, Veränderungen, Gegensätzen und Vermittelungen zu befriedigen, welche innerhalb des rein musikalischen Bereichs der Töne fallen. Dann bleibt aber die Musik leer, bedeutungslos, und ist, da ihr die eine Hauptseite aller Kunst, der geistige Inhalt und Ausdruck abgeht, noch nicht eigentlich zur Kunst zu rechnen. Erst wenn sich in dem sinnlichen Elemente der Töne und ihrer mannichfaltigen Figuration Geistiges in angemessener Weise ausdrückt, erhebt sich auch die Musik zur wahren Kunst, gleichgiltig, ob dieser Inhalt für sich seine 66 Ebd.,
S. 154.
67 Ebd.,
S. 217.
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Da er aber nicht zum Menschen redet, weder von seinen Schmerzen noch von seinen Freuden, von seinem Entsagen und Begehren, so bleibt er den Massen gleichgültig und interessirt nur die Zunftgenossen, die seine Fertigkeit zu beurtheilen im Stande sind. Die Uebrigen sprechen das tödtlichste Verdammungsurtheil über ihn aus; sie nennen ihn trocken, und wollen damit sagen, daß kein Lebenssaft in seinem Werke fließt, kein edles Blut, keine leidenschaftliche Flamme, daß es nur eine Anhäufung, eine Krystallisation unorganischer Theile ist, denen zu vergleichen, welche die Gelehrten aus der Lebenslehre (Biologie) verwiesen, also vom Bereiche des Lebendigen ausgeschlossen haben. Und doch! Sonderbare Bedeutung der Dinge! Nur dem Tondichter ist es gegeben, die Grenzen der Kunst zu erweitern, indem er die Fesseln zerbricht, die den freien Aufschwung seines Gedankens hemmen. Nur Der Meister kann die Form zerbrechen Mit weiser Hand, zu rechter Zeit.XII, 70 Der specifisch musikalische Componist, der gerade nur auf das Verbrauchen des Stoffes Werth legt, ist nicht fähig, ihm neue Formeln abzugewinnen, neue Kräfte einzuhauchen, weil ihn keine geistige Nothwendigkeit zum Auffinden neuer Hülfsmittel treibt, keine glühende Leidenschaft die an’s Licht will, ihn dazu drängt. So ist denn gerade Denen verliehen, die Form zu bereichern, zu vergrößern, geschmeidig zu machen, die sich ihrer nur als eines Ausdrucksmittels, als einer [52] Sprache bedienen, die sie nach den Erfordernissen der auszudrückenden Ideen behandeln; während die Formalisten nichts Besseres und Klügeres zu thun vermögen, als das von Jenen Errungene zu nutzen, zu verbreiten, einzutheilen und gelegentlich zu verarbeiten. Das Programm will nur die Möglichkeit anerkannt wissen einer genauen Bestimmung des Seelenmomentes, der den Componisten zum Schaffen seines Werkes trieb, des Gedankens, den er zur körperlichen Erscheinung brachte. Wenn es nun kindisch müßig, ja oft verfehlt ist, nachträgliche Programme zu zeichnen, das Gefühl
nähere Bezeichnung ausdrücklich durch Worte erhalte, oder unbestimmter aus den Tönen und deren harmonischen Verhältnissen und melodischen Beseelung müsse empfunden werden.“68 Obschon man gegen Hegel einwendet, er habe von Musik gesprochen, ohne eine umfassende Kenntniß dieser Kunst zu besitzen, finden wir seine Urtheile doch meistens treffend und wie von jenem graden gesunden Verstand dictirt, der mit der allgemeinen Ueberzeugung zusammenstimmt. Im Uebrigen gesteht er seine Incompetenz mit einer Bescheidenheit ein, welche kleinergeschnitzte Leutchen sich zum Muster nehmen dürften. Auch beklagt er sich, daß sein Begehren besserer Belehrung wenig Unterstützung gefunden habe. „Einerseits[“] [,] sagt er [,] [„]gehört zu einer weitläufigen und begründeten Abhandlung des Gegenstandes eine genauere Kenntniß der Regeln der Composition und eine ganz andere Kennerschaft der vollendesten musikalischen Kunstwerke als ich sie besitze und mir zu verschaffen gewußt habe, da man von den eigentlichen Kennern und ausübenden Musikern – von diesen letzten, die häufig die geistlosesten sind, am allerwenigsten – hierüber nie etwas Bestimmtes und Ausführliches hört.“69 XII Schiller. 68 Ebd., S. 148 f. [142 f.] 1799).
69 Ebd.,
S. 185 f.
70 Friedrich
von Schiller, Das Lied von der Glocke (ED
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einer Instrumentaldichtung erklären zu wollen, und so den Zauber zerstören, Gefühle entweihen, feinste Gespinnste der Seele durch das Wort zerreißen, die gerade nur diese Form annehmen konnten, weil sie sich nicht in Worte, Bilder und Ideen fassen ließen, so ist doch auch wieder der Meister Meister [sic] über sein Werk und kann es unter dem Einfluß bestimmter Eindrücke schaffen, welche er im Zuhörer zu vollem ganzen Bewußtsein bringen möchte. Der specifische Symphoniker trägt seine Zuhörer mit sich in ideale Regionen, deren Gestaltung und Ausschmückung er der Phantasie jedes einzelnen überläßt; es ist in solchen Fällen sehr gefährlich dem Nachbar dieselben Scenen oder Gedankenfolgen aufdringen zu wollen, in die unsere Einbildung sich versetzt fühlt. Möge da jeder schweigend sich der Offenbarungen und Visionen erfreuen, für die es nicht Namen und Bezeichnung giebt. Der malende Symphonist aber, der sich die Aufgabe stellt, ein in feinem Geist deutlich vorhandenes Bild eben so klar wiederzugeben, eine Folge von Seelenzuständen zu entwickeln, die ihm unzweideutig, bestimmt im Bewußtsein liegen, wie sollte er nicht vermittelst eines Programms nach vollem Verständniß streben? – Wenn die Musik nicht auf dem Weg des Verfalls ist, wenn ihr rasches Fortschreiten seit Palästrina [sic] und die glänzende Entwickelung, die seit dem Ende des vorigen Jahrhunderts ihr zu Theil ward, nicht das ihrem Lauf gesteckte Ziel sind, so scheint uns wahrscheinlich, daß die Programm-Symphonie dazu bestimmt ist, festen Boden in der jetzigen Kunstperiode zu gewinnen, gleiche Wichtigkeit wie Oratorium und Cantate zu erreichen, und nach mancher Seite die Bedeutung dieser beiden in modernem Sinne zu erfüllen. Ein Erfolg in den letzteren ist schwer geworden, seit so manche Meister diesen Styl zu höchstem Glanz, zu vollster Blüthe gebracht haben. Auch aus andern Gründen, deren Auseinandersetzung hier nicht am Orte wäre, haben diese Gattungen aufgehört ein ähnliches Interesse einzuflößen wie zu jener Zeit als Händel sie mit dem Hauch des Flügelstiers beseelte. Oratorium und Cantate gleichen scheinbar dem Drama durch Auftreten und Dialog von Personen. Doch sind dies nur äußerliche Aehnlichkeiten und eine genaue Betrachtung zeigt alsbald, daß nicht zu verkennende Verschiedenheiten der Anlage vorherrschen. Kampf der Leidenschaften, Schilderung der Charaktere, unerwartete Peripetieen und verknüpfte Handlung werden hier noch fühlbarer vermißt als die wirkliche Darstellung; wir stehen keinen Augenblick an, hier eine nähere Verwandtschaft zu bestreiten, sind im Gegentheil überzeugt, daß die Musik sich in dieser Form mehr dem antiken Epos näherte, dessen wesentlichste Züge sie so am besten wiedergeben konnte. So wenig wie das Epos haben Cantate und Oratorium Gemeinsames mit der Bühne, als die durch eine gewisse Folge der von ihnen dargestellten Handlung verknüpften Unterredungen; durch ihre Neigung zum Beschreibenden leiht ihnen die Instrumentation einen ähnlichen Rahmen, wie ihn das Epos hat. Episode und Anrede nehmen hier fast dieselbe Stellung ein, und die Wirkung des Ganzen stellt sich als die der feierlichen Erzählung eines denkwürdigen Ereignisses dar, dessen Ehre ungetheilt das Haupt eines einzigen Helden verherrlicht. Wenn man es als ein zu lösendes Problem ausstellte, welche musikalische Form dem poetischen Epos am meisten entspräche, so zweifeln wir, daß man bessere auffinden möchte als Israel,
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Samson, Judas Maccabäus, Messias und Alexander von Händel, die Passion von Bach, die Schöpfung von Haydn, Paulus und Elias von Mendelssohn. Das Programm vermag der Instrumentalmusik Charactere zu verleihen, welche den verschiedenen poetischen Formen fast identisch entsprechen; es kann ihr die Haltung der Ode, der Dythyrambe, der Elegie, mit einem Wort, aller lyrischen Poesie geben. Wenn sie längst die diesen verschiedenen Gattungen besonders eigenen Stimmungen ausgesprochen hat, so kann sie durch eine Feststellung des Gegenstandes, aus der Annäherung gewisser Ideen, der Wahlverwandtschaft gewisser Figuren, aus dem Trennen oder Vereinen, dem Nebeneinander oder Verschmelzen gewisser poetischer Bilder und Schlüsse neue, ungeahnte Vortheile ziehen. Das Programm kann aber außerdem für die Musik das Aequivalent einer Dichtungsart ermöglichen, welche dem Alterthum nicht bekannt war, und ihr Dasein einer charakteristisch modernen Gefühlsweise verdankt, jene gewöhnlich in dialogisirter Form verfaßten Gedichte, die noch weniger als das Epos zur dramatischen Aufführung sich eignen. Wir sind der Meinung, daß es wenigstens der Bühne Gewalt anthun heißt, Gebilde auf sie übertragen zu wollen, die in anderen Zonen der Poesie und Lite-[53] ratur Wurzeln gefaßt und geblüht haben, die nun schon einmal ein von dem ihrigen ganz verschiedenes Wachsthum erlebten. Bei alledem lassen sich Motive aus dem klassischen Epos immer noch eher auf dieses Gebiet verpflanzen als jene modernen Dichtungen, die wir in Ermangelung eines anderen Namens philosophische Epopöen benennen möchten, unter denen Göthe’s Faust die riesigste ist, neben dem Byron’s Kain71 und Manfred72, die Dziady73 von Mickiewicz unsterbliche Typen bleiben werden. In der erstgenannten Dichtungsform sind nicht die Personen, sondern die Handlung ungeeignet für das Theater; doch kann das Talent über diese Schwierigkeit einen, wenn nicht mühelosen, um so glänzenderen Triumph feiern. In der zweiten sind es die Personen selbst, welche mit den Erfordernissen der Bühne nicht übereinstimmen, weil sie größtentheils von Gefühlen beseelt erscheinen, deren Höhen und Tiefen der Majorität, welche die Masse des Theater-Publicums bildet, unzugänglich bleiben. In der Epopöe und ihrem erhabenen Vorbild Homer, ist es ein mit heroischen menschlichen Tugenden begabter Held, dessen Großthaten im Vordergrund stehen, während eine Reihe von Figuren der episodischen Erzählung Gruppen um ihn bilden. Ihre große Anzahl wird für einen Reichthum, die Mannichfaltigkeit ihrer verschiedenen Erscheinungen für eine Schönheit des Werkes geachtet. Sie sind mit raschen, hervortretenden Zügen gemalt, bekunden ihren Character durch Handlungen und Reden, ohne genaue Beschreibung noch ausgeführte Schilderung. Das Spiel ihrer natürlichen, einfachen Leidenschaften begnügt sich mit dem von gewöhnlicher Erfahrung zugegebenen Voraussetzungen. Das Wunderbare erscheint hier als ein dem Willen des Menschen ebenso Fremdes und Ueberlegenes als die Naturkräfte. Die Natur ist mit Farbenfülle beschrieben, wird wie eine Gewalt, wie
71 Lord Byron, Cain (ED 1821). 72 Byron, Manfred (ED 1817). 73 Adam Mickiewicz, Dziady (Totenfeier). Der 2. und 4. Teil des vierteiligen Dramenzyklus erschien 1823, der 3. Teil folgte 1832 und der 1. Teil wurde erst 1860 posthum veröffentlicht.
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ein Schauspiel bewundert. In der modernen Epopöe wird sie mehr besungen als beschrieben; hier werden ihre geheimen Verwandschaften mit unsern Seelenanlagen enträthselt; sie hört fast auf Object zu sein, und greift wie eine handelnde Person in die Entwicklungen ein, den Menschen durch ihr Beispiel zu zügeln, seine Eindrücke zu theilen, ihn zu trösten, ihn in Träumen zu wiegen. Handlung und Ereigniß büßen von ihrer Wichtigkeit ein, und die Zahl der episodischen Figuren, die ohnedieß nur leicht skizzirt werden, schmilzt zusammen. An die Stelle des Wunderbaren tritt das Phantastische; den Gesetzen der Wahrscheinlichkeit gänzlich entzogen, zusammengedrängt, modificirt, gewinnt die Handlung symbolischen Schimmer, mythische Unterlage. Die übernatürlichen Wesen treten nicht mehr störend in die Entwicklung menschlicher Interessen; sie sind gewissermaßen Verkörperungen leidenschaftlicher Wünsche und Hoffnungen, und erscheinen nur noch als zu Gestalten gewordene Momente unsres Innern. Grund und Zweck des Gedichts ist nicht länger Darstellung von Thaten der Hauptfigur, sondern von Affecten, die selbst in seiner Seele handeln. Es gilt weit mehr zu zeigen, wie der Held gesonnen ist, als wie er sich benimmt, und deßwegen genügt ein geringes Zusammentreffen von Thatsachen, um zu beweisen wie vorherrschend dies oder jenes Gefühl in ihm wirkt. Aus dem Dialog wird dann nothwendig ein Vorwand zum Monolog. Allerdings wird auch hier ein Heros besungen, nicht aber um seiner Heldenfahrten zu gedenken, denn schon die Wahl eines Helden fällt nicht mehr auf solche, die ein Muster von außerordentlichen Tugenden sind. Der moderne Held ist im Gegentheil oft ein Typus der seltensten, anormalsten, dem Menschenherzen ungewohntesten Triebe. Wie diese in der Seele keimen, himmelhoch emporflammen, und in zuckendem Verglühen Trümmer des Herzens beleuchten – das wird sorglich, ausführlich gemalt. Während das antike Epos uns die Majorität der Menschen vorführt und in seiner wahrheitsvollen genauen Characterschilderung uns tiefe Seelenkenntniß bewundern läßt, greift das romantische, wie wir es nennen möchten, nur nach ausnahmsweisen Gestalten, zeichnet seine Figuren weit über Lebensgröße und außergewöhnlichen Verhältnissen, so daß in ihnen sich nur solche Organisationen wiedererkennen, die aus feinerem Teig geformt, von glühenderem Hauch angeweht sind, ein mächtiger pulsirendes Leben mit einer beweglicheren Seele führen, als Andre. Dennoch üben sie oft einen unwiderstehlichen Zauber auf Alle, weil sie in dem Auge des alltäglichen Menschen Neigungen idealisiren, die er in ähnlicher Weise, nur matter, undeutlicher und nicht so durchgeistigt empfindet und versteht. Der höchste Reiz und größte Vorzug dieser Kunstwerke liegt in dem beredten Ausdruck lebendigster, tiefster, oft schuldvoller Gefühle großer Herzen. – Doch wenn wir trotz wesentlicher Verschiedenheiten diese beiden Dichtungsarten vergleichen und unter den gemeinschaftlichen Namen Epopöe reihen, so veranlaßt uns eine Aehnlichkeit dazu, die uns wichtiger scheint, als die der Form und des Umfangs. Beide, gering an Zahl aber hoch im Werth, sind durch das Gepräge welches das Genie ihren Zügen verlieh, das lebendigste Abbild des Zeitgeistes, der Nation, in welcher sie entstanden. Das Epos der antiken Völker bietet uns ein typisches, gleichsam statuäres Bild derselben. Ehemals fand ein Volk in des Dichters Werk sich selbst mit seiner Sitte, seinem Cultus, seinem Staatswesen und seinem ganzen Gebahren wie in einem treuen Spiegel wieder; heute aber, wo die Hauptunterscheidungszüge der an der christlichen Civilisation theilhabenden Völker [54] sich mehr und mehr verwischen, fühlt sich der Dichter natürlich mehr
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dazu hingezogen, die das Jahrhundert und seine Menschen durchdringende Gefühlsweise zu characterisiren, (wie Göthe und Byron es in Figuren gethan, deren Vaterland man, so zu sagen, nur an ihrem Costüm erkennt,) das Ideal von Seelenstimmungen festzuhalten, welches zu ihrer Zeit die Gebildeten aller europäischen Länder durchdrang. – Warum sollte die Musik sich dieser neuen Kundgebung des menschlichen Geistes nicht anschließen? Niemand bestreitet es mehr in der Literatur, daß Göthe und Byron berechtigt waren, die philosophische Epopöe zu erfinden oder einzuführen, als eine Erzählung innerlicher Vorgänge, deren Keim in dieser oder jener Nation und Epoche vorzugsweise vorhanden ist und in den Herzen gährt, und durch Uebertragen solcher exclusiver Seelenzustände auf ein Einzelwesen dieses zu einer Bethätigung hinzudrängen, welche genügt, ein Geschick mit dem Stempel des Unheils zu zeichnen. Niemand hat mehr etwas dagegen einzuwenden, daß jene großen Dichter ausnahmsweise Naturen zu Helden wählten, die den Wunderpflanzen der Sage gleichen, deren Blüthen nach den günstigen oder verderblichen äußerlichen Bedingungen ihres Daseins ätzendes Gift in sich trugen, das sie selbst wieder zerstörte, oder zu paradiesischen Früchten wurden, von welcher ein einziger Ambrosiatropfe die welksten Lippen neu belebte. Sollte die Musik ungeeignet sein, solche Wesen in ihrer Sprache reden zu lassen? Ihr Entstehen und Umgestalten wiederzugeben, ihren strahlenden oder zum Untergang sich neigenden Lauf, ihre krankhaften Ausbrüche und erlösenden Kräfte, ihr heil- oder schreckenvolles Ende zu schildern? Vermöchte sie es aber im Drama? Schwerlich. Die Literatur selbst vermag nicht Leidenschaften auf der Scene darzustellen, deren mäandrischer Lauf vom Entspringen bis zum Verschwinden im Strudel der Vergangenheit verfolgt werden muß. Das ihnen zugewandte Interesse knüpft sich weit mehr an die inneren Vorgänge als an die Handlungen der Außenwelt gegenüber. – Würde vielleicht die specifisch musikalische Symphonie sich besser zu solchen Stoffen eignen? Wir bezweifeln es. Das Ringen ihres unabhängigen Styls mit dem aufgezwungenen eines Sujets würde unangenehm berühren, weil es der augenscheinlichen, faßbaren Ursache entbehrte. Der Componist würde aufhören unsre Phantasie in die Regionen eines der ganzen Menschheit gemeinsamen Ideales zuführen, und ohne genaue Angabe der besonderen Wege, die er wählen will, den Hörer nur verwirren. Mit Hülfe eines Programms aber zeigt er die Richtung seiner Ideen, den Gesichtspunkt an, von welchem er ein gegebenes Sujet auffaßt. Die Aufgabe des Programms wird dann zu einer unerläßlichen, und sein Eintritt in die höchsten Sphären der Kunst erscheint gerechtfertigt. Wir möchten gewiß nicht die Fähigkeit der Musik in Frage stellen, ähnliche Charactere wie die von den Dichterfürsten unsrer Zeit gezeichneten darzustellen. Im Uebrigen sehen wir sie in ihren Beziehungen des Anlehnens und Anknüpfens an die Literatur auf einen Punkt gelangt, wir sehen zugleich das ganze menschliche Fühlen, Denken, Dichten und Trachten so überwiegend auf ein tiefes Forschen nach den Quellen unser[er] Leiden und Irrthümer gerichtet, wir sehen alle andern Künste, die wetteifernd damit beschäftigt sind Geschmack und Bedürfniß der Zeit zu befriedigen, so vorzugsweise von dem Begehren erfüllt, diesem Streben einen Ausdruck zu verleihen, daß wir die Einführung des Programm’s in den Concertsaal für eben so unvermeidlich halten, als die des declamatorischen Styles für die Oper ist. Diese beiden Richtungen werden trotz aller Fesseln und Hemmungen in siegreichem
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Entwickelungsgang ihre Kraft bewähren. Sie sind gebieterische Nothwendigkeiten eines Momentes in unserm gesellschaftlichen Leben, unsrer sittlichen Bildung, und werden als solche früher oder später sich Bahn brechen. Die Gewohnheit instrumentalen Stücken ein Programm zuzufügen hat im Publikum schon so sehr Eingang gefunden, daß die Musiker bereits aufhören sich dagegen zu sträuben, und es als eine jener unabwendbaren Thatsachen ansehen, welche man in der Politik faits accomplis74 nennt. Die Worte eines Schriftstellers den wir oben bereits citirten, liefern uns einen Beweis dafür. „Ein schönes Instrumentalwerk hat eine viel kleinere Anzahl Verständniß fähiger zu gewärtigen als die Oper: um es ganz zu genießen bedarf es wirklicher Kunsteinsicht, thätigeren und geübteren Gefühls. Für ein ähnliches Publikum wird das Colorit immer als Ausdruck gelten; denn wenn es nicht aus Individuen besteht, die sich ein abstractes Ideal zu bilden vermögen, was von einem ganzen Auditorium, so auserlesen es auch sein möge, nicht vorauszusetzen ist, so wird es eine Symphonie, ein Quartett oder ein in dieses Fach schlagendes Stück niemals anhören, ohne sich während der Ausführung je nach dem grandiosen, lebhaften, ungestümen, heitren sanften oder schwermüthigen Character des Stückes ein Programm zu entwerfen. Vermittelst dieses Kunstgriffs assimiliren die Zuhörer der meisten Concerte die Instrumentalmusik mit dem Ausdruck gewisser leidenschaftlicher Gefühle; sie stellen sich eine Handlung vor die zu Anderen, wie Individuen unter sich, im Gegensatz steht. Ich spreche hier von den Gebildetsten, denn für Viele, oft für die Meisten, ist die Instrumentalmusik nur ein rein sinnlicher Genuß, wenn nicht gar ein langweilendes Räthsel. Für sie hat die Instrumentalmusik weder [55] Colorit noch Ausdruck, und ich weiß in der That nicht, was sie darin suchen.“XIII, 75 Ist es hiernach nicht augenscheinlich, daß es sich nur darum handelt, eine schon bestehende Macht officiell anzuerkennen, um ihr eine größere Freiheit des Handelns zu gewähren, um ihr die Beseitigung ihrer Uebelstände zu erleichtern, auf daß sie hinfort nicht mehr heimlich, sondern in der überlegten Ruhe, die ein festgestellter Erfolg verleiht, an ihrem Bestehen, an ihrem Ruhm arbeite.
XIII Fetis.
unumstößliche Tatsachen. 75 Fétis 1854 De l’expression en musique, S. 231. Es heißt im Original: „Le public capable de sentir et de comprendre une belle œuvre de musique instrumentale est beaucoup plus limité que celui qui peut goûter les beautés d’un opéra: il y faut plus d’intelligence de l’art, un sentiment plus actif et mieux exercé. Mais pour un public semblable, le coloris sera toujours de l’expression; car, à moins qu’il ne soit composé d’individus capables de s’élever jusqu’à la conception de l’idéal, ce qui est impossible, un public semblable, bien que plus avancé que tout autre, n’écoutera jamais une symphonie, un quatuor ou toute autre pièce du même genre, sans lui imposer un programme pendant l’exécution, en raison du caractère de l’ouvrage, suivant qu’il est grandiose, véhément, ou vif et gai, ou doux et mélancolique. Au moyen de cet artifice, qui est celui dont j’ai parlé précédemment, les auditeurs de la plupart des concerts assimilent la musique instrumentale à l’expression de certains sentiments passionnés, se représentent une action qui diffère comme les individus, et pour eux les nuances du coloris deviennent des accents d’expression. Je parle ici des plus intelligents; car il en est beaucoup d’autres pour qui la musique instrumentale n’est qu’un plaisir de pures sensations, si toutefois ce n’est un ennui. Pour ceuxci, il n’y a ni expression, ni coloris dans la musique instrumentale: je ne sais en vérité ce qu’ils y trouvent.“ 74 (Frz.)
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[77] Durch das gesungene Wort hat von jeher eine Verbindung der Musik mit literarischen oder quasi literarischen Werken bestanden; gegenwärtig wird nun eine Vereinigung Beider erstrebt, die eine innigere zu werden verspricht, als sie bis jetzt vorgekommen. Die Musik nimmt in ihren Meisterwerken mehr und mehr die Meisterwerke der Literatur in sich auf. Wie könnte es der Musik, in ihrem seit dem Beginn der modernen Aera erlangten Wachsthum, verderblich werden, sich einer gerade aus unverkennbar moderner Gefühlsweise erblühten Gattung anzuschließen? Aus welcher Rücksicht sollte sie, die sich der Tragödie des Sophokles und Pindar’s Ode in so unzertrennlicher Verbindung zugesellte, Bedenken tragen, sich in anderer aber dennoch adäquater Weise mit Werken zu verschmelzen, die aus einer dem Alterthum unbekannten Inspiration entstanden sind,– sich mit Namen wie Dante und Shakespeare zu identificiren? Es warten hier reiche Schachte auf kühne Steiger, aber sie sind von Berggeistern bewacht, welche den ihrem Eingang Nahenden Feuer und Rauch in’s Gesicht blasen, und gleich der Verläumdung die Voltaire mit Kohlen vergleicht, alles anschwärzen was sie nicht verbrennen, und den nach jenen Schätzen Lüsternen mit Blendung, Erstickung, oder gänzlicher Vernichtung drohen. Leider müssen wir eingestehen, daß zwischen den berufenen und professionirten Musikern sich ein heimlich lodernder aber unversöhnlicher Streit erhoben hat. Die letzteren halten sich wie die Pharisäer des alten Gesetzes an den Buchstaben des Gebots, auf die Gefahr hin, seinen Geist zu tödten. Sie haben kein Verständniß für die im neuen Testament geoffenbarte Liebe, für den Durst nach dem Unendlichen, den Traum von einem Ideal, für das Streben nach dem poetisch Schönen unter allen Formen. Sie leben nur von der Furcht, fassen und predigen nur die Furcht, für sie ist die Furcht, (und zwar eine andre als die Furcht des Herrn) Anfang und Ende aller Weisheit; sie kleben am Wortlaut des Gesetzes mit der Kleinlichkeit jener Herzen, die nicht von ihrem Innern belehrt werden, wie die Erfüllung der Prophezeihung in der Abstellung des Opfers, im Zerreißen des Tempelvorhangs liege; ihre Weisheit besteht im rechthabe-[78]rischen Streiten, in sterilen müßigen Untersuchungen über Subtililäten der Regel. Sie läugnen daß es den Meistern der Vergangenheit eine größere Ehre anthun heiße, den Keim von Kunstentwickelung den sie in ihren Werken niedergelegt aufzusuchen, als knechtisch und gedankenlos die leeren Formen zu kalkiren deren Luft und Lichtinhalt Jene zu ihrer Zeit vollständig ausgesogen. Die berufnen Musiker behaupten im Gegentheil, jenen Patriarchen größere Ehre zu erweisen, wenn sie die von ihnen behandelten Formen für erschöpft halten, und Nachahmungen derselben nur als Copien von geringem Werth ansehen. Sie hoffen auf de[n] von Riesen gemähten Feldern keine Ernten mehr einzusammeln, und glauben das von ihnen begonnene Werk nicht anders fortsetzen zu können, als wenn sie, wie Jene zu ihrer Zeit, neue Formen für neue Gedanken schaffen, neue Schläuche für neuen Wein bereiten. Berlioz und seinen Erfolgen stellte sich von Anfang an wie ein unübersteiglicher Damm jene academische Aversion gegen jedes Kunsterzeugniß gegenüber, das nach einem ungebräuchlichen Ideal, nicht nach dem Gewohnheitsschlendrian geformt, oder durch Beschwörungsformeln hervorgerufen ist, welche dem alten Ritus fremd sind. Mit oder ohne hohe obrigkeitliche Bewilligung aber aller titulirten und nicht titulirten Hrn. Professoren, und selbst des erlauchten Pariser Conservatoire-
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Directors76, welcher die von Berlioz veranstalteten Concerte ziemlich regelmäßig besuchte, um wie er sagte, „zu lernen, wie man es nicht machen soll“ – muß eben doch Jeder, der mit der heutigen Kunst Schritt halten will, die Partituren dieses Meisters studiren, gerade um zu sehen, wie man es heute macht, und „wie man es machen soll.“ Und die sogenannten Classiker selbst lassen es wahrlich nicht daran fehlen, von verstohlen abgelauschten Ideen und Effecten dieser Partituren Gebrauch zu machen, und sogar im äußersten Falle einzugestehen, daß allerdings Berlioz Talent zur Instrumentation und Geschick zur Combination entfaltet, weil er eben einer von den Künstlern ist, von denen wir oben sprachen, welche behufs umfassenden Ausdruckes ihres Gefühls, freierer Entfaltung ihrer Individualität, die Form ausdehnen, bereichern, geschmeidig machen. Die neidvolle Heuchelei seiner Gegner besteht aber gerade darin, ihm das Lehrgeld, daß sie ihm vor ihrem Gewissen schuldig geworden sind, nicht zahlen zu wollen, auf dem lauten Markt alles in den Koth zu ziehen, was sie ihn eben nun und nimmer nachzumachen im Stande sind, hinter ihren vier Mauern aber ihm alle Federn auszurupfen, die sie zu eignem Zierrath brauchen können. Wir kennen deren Manche, die gegen Berlioz sich auflehnen, und deren beste Werke es verstümmeln hieße, wollte man alles herausnehmen, was sie ihm zu verdanken haben. Wir wiederholen es also: nicht das ungewöhnliche Handhaben der Form ist der unverzeihlichste Fehler den sie Berlioz vorwerfen; ja, sie werden vielleicht sogar zugeben, daß er der Kunst einen Dienst erwiesen, indem er neue Wendungen erfand. Dies aber werden sie ihm nie verzeihen, daß die Form bei ihm nur eine dem Gedanken nachstehende Wichtigkeit hat, daß er nicht wie sie die Form um der Form willen hegt; sie werden es ihm nie verzeihen, daß er Denker und Dichter ist. Die zu immer größerer Innigkeit gedeihende Verbindung von Musik und Literatur, von der wir oben sprachen, und die sich mit einer verhältnißmäßig außerordentlichen Schnelligkeit entwickelt, gewinnt merkwürdiger Weise festen Bestand trotz der gleich lebhaften Opposition der professionirten Musiker und Literaten. Beide widersetzen sich ihr mit gleicher Heftigkeit, mit gleichem Widerwillen. Die Letzteren sehen mit schelen Augen ihr Eigenthum in eine Sphäre übergehen, wo es abgesehen von den Werthe, den sie in dasselbe legten, eine neue Geltung erhält; die ersten empören sich gegen eine Verletzung ihres Gebiets durch Uebertragen von Elementen, mit denen sie nicht umzugehen verstehn. Die Tondichter haben demnach mit zweierlei Feindseligkeiten zu kämpfen, sie gerathen zwischen zwei Feuer. Aber ihre Schwäche wird durch die Gewalt der Dinge gestärkt. Anerkannt oder nicht, steht es fest, das beide Künste, mehr als es jemals der Fall war, sich zu einander hingezogen fühlen, nach inniger Vereinigung streben. Die Kunst reproducirt die unendliche Mannichfaltigkeit der Organisationen und Eindrücke durch die unendliche Mannichfaltigkeit ihrer Formen. Es giebt Charaktere und Gefühle, die nur in der dramatischen zu voller Entwickelung gelangen können; andere, die den Rahmen und die Schranken der Bühne durchaus nicht ertragen. Dies fühlte Berlioz. Von der Kirche, wo die musikalische Kunst so manches
76 Hier
leitete.
ist Luigi Cherubini (1760–1842) gemeint, der von 1822 bis 1842 das Pariser Conservatoire
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Jahrhundert lang ausschließlich ihren Sitz hatte, von der ihre Meisterwerke kaum in die Außenwelt drangen, siedelte sie gemach auf das Theater über, um dort eine Art Generalquartier, eine offne Tafel aufzuschlagen, an welcher Jeder seine Eingebungen in jedem beliebigen Genre vernehmen ließ. Zeitlangs wäre es schwerlich irgend einem Musiker in den Sinn gekommen, sich nicht geeignet zur Composition dramatischer Werke zu halten. Es schien als ob man mit der Aufnahme in die musikalische Zunft oder Brüderschaft auch die Befähigung, Ermächtigung und Verpflichtung erlange und übernehme, eine gewisse Anzahl großer oder kleiner, romantischer oder komischer, opere serie oder buffa zu liefern. Alle eilten um die Wette auf diese Allen freundlich eröffnete Arena. Wenn dann das Terrain der Bretter sich als schlüpfrig erwies, krochen die einen, [79] die andern tanzten auf dem Seil; manche versahen sich mit einem Hammer statt einer Balancirstange und schlugen ihren Nachbarn auf die Köpfe[,] wenn sie strebten sich im Gleichgewicht zu erhalten. Einige schnallten goldene Schlittschuhe an die Füße und ließen mit ihrer Hülfe den Troß armer Teufel weit hinter sich zurück, der hinkend hinterdreinkeuchte. Gewisse hatten wie der antike Götterbote Flügel an Haupt und Fersen, mit denen der Genius sie in der Wiege begabt hat, vermöge deren sie nicht gerade immer besonders schnell vorwärts kamen, aber doch gewiß waren einmal den Gipfel zu erfliegen. Und obgleich diese letzteren hier wie anderswo sehr in der Minorität blieben, nöthigten sie nichts destoweniger ihre Nachfolger zu einer derartigen Steigerung ihrer Leistungen, daß ein Zeitpunkt eingetreten zu sein scheint, welcher Viele veranlassen sollte sich zu fragen, ob eine Art Pflichtgefühl, welches sie treibt sich diesem Gewühl anzuschließen, nicht ein Vorurtheil ist? Ja, diejenigen die vom Ruhme mehr verlangen als einen von der Gegenwart zu discontirenden Wechsel, mehr als eine vergoldete Papierkrone nach welcher Fabrikanten künstlicher Blumen Sturm laufen, sie mögen sich fragen, ob sie wirklich zur Verwendung ihrer Tätigkeit auf diesem Feld, zum Lauf und Wettlauf in diesen engen Schranken geschaffen sind? Ob ihre Anlagen sie nicht zu ideelleren Regionen hintreiben, ob ihre Fähigkeiten in einem von weniger hemmenden Gesetzen beherrschten Reich, nicht einen höhern Aufflug nehmen werden, ob ihre dann einmal freiere Phantasie nicht vielleicht eine jener Atlantiden, jener seligen Inseln, oder ungekannten Gestirne entdecken wird, nach welchen alle Meer- und Himmelkundigen forschen? Wir unsererseits sind überzeugt, daß nicht jedes Genie seinen Flug auf die engen Gränzen der Bühne zu beschränken vermag, und so genöthigt ist, ein neues Habitaculum77 sich zu bilden. Ein fremdes Element in die instrumentale Musik einführen und heimisch machen zu wollen, indem man die Unabhängigkeit des Gefühls durch bestimmte Gegenstände, die dem Geist zum Voraus dargeboten werden beeinträchtigt, den Componisten zu einer literarisch zu vertretenden, poetisch zu formulirenden Conception zwingt, und die Aufmerksamkeit des Zuhörers nicht allein auf das musikalische Gewebe, sondern auch auf die durch seine Conturen und Reihenfolge ausgesprochenen Ideen lenkt, erscheint Vielen als ein absurdes wenn nicht profanirendes Unternehmen. Wie sollten sie nicht vor Berlioz ihr Haupt verhüllen und ihr Barthaar zerzausen, der dies Beginnen so weit treibt, daß er in die bis jetzt absolut unpersönliche
77 (Lat.)
Wohnung.
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Symphonie die Stimme des Menschen durch eine Symbolisirung seiner Gegenwart ertönen läßt? Vor ihm, der es unternimmt ein anderes Interesse in die Symphonie zu legen, als das bisherige, sie mit einem Element ganz neuer Art zu beleben? Der, nicht zufrieden die Klagen gemeinsamer Betrübniß in ihr zu ergießen, die Hoffnungen Aller in ihr ertönen zu lassen, aus ihrem Brennpunkt alle Affekte und Erschütterungen, Leiden und Gluthen auszuströmen, die im Herzen der Menschheit pulsiren – ihre Kräfte sich aneignet[,] um sie zum Ausdruck der Leiden und Empfindungen einer bestimmten, ausnahmsweisen Individualität zu entfalten? Weil das Vergnügen orchestrale Werke anzuhören für Solche[,] die den poetischen Inhalt neben dem musikalischen verfolgten, immer ein so durchaus subjectives gewesen ist, so erscheint es Vielen entstellt, sie glauben seinem Charakter Gewalt angethan, wenn die Phantasie gezwungen werden soll dem Gehörten vollständig skizzirte Bilder unterzulegen. Gestalten gerade so schauen und annehmen zu müssen, wie der Autor es wollte. Die bisherige Wirkung rein instrumentaler Musik auf poetische Gemüther ließe sich vielleicht mit der vergleichen, welche antike Bildwerke auf sie hervorbringen; auch diese stellen in ihren Augen mehr Leidenschaften und Formen dar, welche gewisse Seelenbewegungen erzeugen, als bestimmte besondere Individuen, deren Namen sie allerdings tragen, Namen aber die meist wieder Allegorisirungen von Ideen sind. So ist Niobe78 ihnen nicht dieses oder jenes von einem oder dem andern Mißgeschick betroffene Weib: sondern der erhabenste Ausdruck höchsten Leidens. Sie sehen in Polyhymnia79 nicht eine bestimmte Person in bestimmter Rede oder Handlung begriffen; sie ist ihnen vielmehr sichtbare Darstellung von Schönheit, Harmonie, Reiz und Zauber jener hinreißenden und doch sanften, ruhigen Ueberzeugungskraft, deren Beredtsamkeit sich in einem einzigen Blicke concentriren kann. Minerva80 ist ihnen nicht nur die blauäugige göttliche Rathgeberin des schlauen Ulyß81; sie erscheint ihnen als die edle Symbolisirung jener Begabung unseres Geistes, die zugleich urtheilt und erräth, die mit allen Attributen der Kraft ausgestattet, mit allen Waffen des Krieges gerüstet, dennoch Freundin der Ruhe ist, die Lanze und Harnisch tragend den Frieden verheißenden Oelbaum als ihre schönste Gabe sprießen läßt, die im Besitz der furchtbaren Aegide nichts von der Güte und Anmuth ihres Lächelns, von dem langsam sich senkendem Rhythmus ihrer Bewegungen verliert. Eines der großartigsten Meisterwerke moderner Kunst möchte vielleicht das treffendste Beispiel für den symbolischen Character der Bildhauerei liefern: wir meinen die Victorien von Rauch82 in der Walhalla. Die Victorien wurden von dem Alterthum aufgefaßt als Göttinnen, die dem Menschen das Siegeszeichen herniederbringen, und durch ihre Krönung das Haupt des [80] Siegers weihen, selbst jene (die ergreifendste von allen), die mit tiefer Trauer in den Zügen, mit einer beredten Gebehrde des Mitleids, ihre Krone darreicht als wäre sie vertraut mit allen Schmerzen, mit allen höchsten Opfern,
78 Tochter
des Tantalos, die sich für ihre Fruchtbarkeit rühmte. Ihre Nachkommen wurden zur Strafe von den Göttern getötet, worauf sie selbst erstarrte. 79 Eine der neun griechischen Musen. Ihr wird u. a. die Inspiration der Dichter und Redner (Rhetorik) zugeschrieben und ist in der bildenden Kunst zumeist ernst, nachdenklich und ohne Attribute dargesellt. 80 Göttin des Handwerks, der Weisheit und der schönen Künste. 81 Gemeint ist Odysseus. 82 Der Bildhauer Christian Daniel Rauch (1777–1857) schuf für die Walhalla neben einigen Büsten zwei sitzende und vier stehende Victorien.
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die der Preis des errungenen Triumphs waren. Nicht so die Victorien von Rauch. Obgleich jede von ihnen dem eigenthümlichen Eindruck entsprechen konnte den der Erfolg, je nach den Bedingungen unter welcher er erkämpft wurde, in verschiedenen Naturen hervorbringt, so drücken sie doch auch die aufeinander folgenden Stimmungen des Ueberwinders aus, und so betrachtet stellt jede einen andern Moment jener höchsten Bewegung dar, welche der Sieg in einer heldenmüthigen Seele erweckt. Es sind sechs Statuen von so blendender Schönheit, daß schon ihr erster Anblick genügt, um jenes leise Leben hervorzurufen, welches der Erschütterung der tiefsten Saiten unseres Innern vorangeht. Wenn man sie der Reihe nach betrachtet, versteht man alsobald den Sinn der Modulationen, welche der DichterSkulptor sein Thema durchlaufen läßt. Die ErsteXIV scheint auf den Schauplatz des Triumphs vorzutreten; ihre ganze Gestalt verräth den Schauer, der sich bei der ersten Kunde des Sieges des Helden bemächtigt, und noch keinem anderen Gefühle als einem unbestimmten Entzücken Raum giebt, keinen andern klaren Gedanken im Geiste aufkommen läßt, als die Gewißheit des Erfolgs. „Ich also überwand!“ ruft der Sieger aus, ergreift die Palme, und krönt sich selbst im Uebermuth seiner eigenen Kraft. Die zweite Figur erblicken wir sitzend, ruhig und gesammelt; selbst bekränzt hält sie einen Kranz in jeder Hand, und scheint zu erwägen, wem sie denselben aufdrücken soll; in ihr finden wir den Seelenmoment des Triumphators wiedergegeben, in welchem er darüber sinnt wie er durch weise Gerechtigkeit gegen die Theilnehmer an seinen Kämpfen, durch Vergütung ihrer Verluste und Belohnung ihrer Mühen seine Eroberung befestigen soll. Die dritte wiegt düster nachdenkend das Haupt, als wäre sie von der Last ihrer Krone niedergedrückt. Lässig hält sie den das Scepter der Herrschaft symbolisirende[n] Zweig, und erhebt das Faltengewand, gleichsam um es einem Strom von Blut und Schlamm entfernt zu halten. Es ist der Augenblick wo das in Betrachtung aller Opfer des Sieges versenkte Herz, von Trauer ergriffen und seine Erschütterung verhehlend, sich frägt ob der Glanz des Ruhmes jedwedes Leid verlöschen kann. Hier ist Reinheit mit Schwermuth, Grazie mit Majestät so innig verbunden, daß wir wie gebannt vor dieser idealen Verkörperung eines der dunkelsten Probleme menschlichen Geschickes stehen: der Enttäuschung, welche selbst den Triumph begleitet. Auch die vierte Figur bewahrt noch im Ausdruck ihres Mundes einen Character bittern Leidens, doch ist die Angst schon in der ungetrübten Friedlichkeit der Stirne überwunden, und diese zeigt uns, daß Sicherheit eines reinen Bewußtseins und Glauben an eine gerechte Sache die Ruhe der Seele zurückgebracht haben. Mit edler Bescheidenheit hält sie ihre Kränze; ihr Blick ist träumerisch wie der des Denkers, für den jeder Sieg nur ein Ausgangspunkt zu neuen und wohlthätigen Eroberungen ist. Die Fünfte, so wunderbar schön und ausdrucksvoll daß sie das Auge entzückt, die Sinne berauscht, erhebt uns wie eine Erscheinung aus höherer Welt, mit so feuriger Lebhaftigkeit durchströmen die Pulsationen des Lebens ihre zauberisch harmonievollen Glieder! Sie strahlt nicht allein von eigener freudiger Bewegung; es spricht aus ihr die allgemeine Freude an einem großen Sieg. Es athmet aus ihr die ganze Luft von der in einer solchen Stunde alle Herzen electrisirt sind; sie scheint Ehre und Glanz des Erfolges freimüthig Allen mittheilen zu wollen; denn
XIV Wenn
wir ihre Reihe rechts von der Eingangspforte beginnen.
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obwohl wir sie aus einem steilen und schmalen Felsen sitzend erblicken, auf welchem nur für einen Platz ist, hält sie ihren Eichenkranz, als wollte sie denselben einer ganzen zu ihren Füßen versammelten und solchen Preises würdigen Menge zuwerfen. Die Sechste personificirt jene süße Trunkenheit, die aus einem Conflict verschiedener, außerordentlicher Gemüthsbewegungen entsteht, und keine überwiegen läßt, so daß die Seele in einer Exaltation erhalten wird, welche den Taumel der Lust in ihr verlängert, und sogar die Erinnerung an den eigentlichen Grund dieser Wonne verdrängt. Ohne Nachgedanken überläßt sich das zufriedene Herz der Freude, mit seligem Lächeln, gefälliger Regsamkeit, mit entzücktem Blick, mit wohlwollenden zuvorkommenden Gebehrden gegen Alle. Wie nun der Marmor dem Auge allgemeine von der Kunst formulirte Begriffe bietet, so verlangt das Ohr nach Aehnlichem in der instrumentalen Musik. Jene Symphonie ist den Gebildeten höchster Ausdruck der verschiedenen Phasen eines leidenschaftlich freudigen Gefühls, diese der einer elegischen Trauer, die andere einer heroischen Begeisterung, wieder eine der Klagen über ein Unersetzliches. Wenn sie demnach im Kunstwerk den abstracten Ausdruck allgemein menschlicher Gefühle zu suchen und zu finden gewohnt sind, so muß eine natürliche Abneigung gegen Alles sie erfüllen, was darauf hinaus geht, diesem Allgemeinen einen concreten Character zu verleihen, es zu einem Besondern zu machen, auf eine bestimmte menschliche Figur zurückzuführen. Gewiß haben sie den unbestreitbaren Anspruch, die unveräußerliche Pflicht jene Art des Schaffens aufrecht erhalten wissen zu wollen; soll aber deswegen anderen [81] Gattungen ihr Daseinsrecht geschmälert werden? Sollen diejenigen unter das Joch einförmiger Arbeiten gebeugt werden, die von ihrem Genius und dem Geiste der Zeit zum Erfinden neuer Gießformen sich getrieben fühlen? Müßte man nicht fürchten, sie den Leistungen entsagen zu sehen die ihnen vortrefflich gelingen würden, um dann in Bestrebungen, welche der Natur ihrer Inspiration nicht zusagen, ihre Bestimmung zu verfehlen? – Es wird vielleicht nicht ohne Interesse sein, in einem der bedeutenderen Werke, die der Richtung des Programms angehören, zu untersuchen in wiefern die instrumentale Musik diesem Rahmen genugthuen kann. Wenn man dabei die specielle und technische Analyse überginge und die symphonischen Gebilde, die durch irgend eine Textbeilage dazu Veranlassung bieten einer poetischen Schätzung unterzöge, würde man vielleicht dazu gelangen, von dem was auf diesem Weg möglich und nicht möglich ist, sich Rechenschaft zu geben, um ein Ziel in’s Auge zu fassen, zu dessen Erreichung, außer dem Aufgeben der alten specifischen Symphonieendigungen, bis jetzt schon die Neuerung eingeführt ist, Personen (wie im Harold) oder Leidenschaften (wie in der Fantastique83) durch eine wiederkehrende Melodie zu charakterisiren. Um in der Instrumentalmusik einen der philsophischen Epopöe analogen Plan in’s Werk zu setzen, mußte Berlioz neue Verfahrensweisen erfinden, die den neuen Ansprüchen des Künstlers an seine Kunst Genüge leisten. Er täuschte sich nicht[,] wenn er vor ihm für unmöglich gehaltene orchestrale Schilderungen 83 Berlioz,
Symphonie fantastique op. 14 (UA 1830).
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möglich zu machen suchte, in dem er eine Melodie ein Individuum bedeuten ließ, und sie in verschiednen Stücken mit verschiednem Colorit begabte, so daß sie mit ihrem Erscheinen auch zugleich die Stimmung ausdrückt von der es augenblicklich erfüllt ist. Durch diese, von ihm zuerst angewandte Symbolisirung ermöglicht Berlioz nicht nur Anwesenheit oder Abwesenheit seines Helden in verschiednen Scenen anzuzeigen; mit Hülfe der Modulation, Biegungen des Rhythmus und harmonischen Ausdrucks macht er alle Wendungen seiner Gefühlsbewegung verständlich. Wer diese Neuerung ohne vorgefaßte Feindschaft, ohne Vorsatz der Opposition in jedem Fall in Erwägung zieht, muß in ihr eine Bereicherung unsrer Kunst erblicken, welche für die verschiedenartigste Anwendung ergiebig sein wird, und je nach dem Character des Tondichters und des gewählten Gegenstandes zu den glücklichsten Ideenverbindungen Gelegenheit geben kann. In der sogenannten classischen Musik ist die Wiederkehr und thematische Entwickelung der Themen durch Regeln bestimmt, die man als unumstößlich betrachtet, da doch nur die eigne Phantasie Jenen die Anlage ihrer Stücke vorschrieb, die zuerst in die gewisse Reihenfolge sie anordneten, welche man jetzt als Gesetz aufstellen will. In der Programm-Musik ist Wiederkehr, Wechsel, Veränderung und Modulation der Motive durch ihre Beziehung zu einem poetischen Gedanken bedingt. Hier ruft nicht mehr ein Thema das andere hervor, nicht länger führen stereotype Annäherungen oder Gegensätze von Klangfarben die Folge der Motive herbei, und das Colorit als solches bedingt nicht die Gruppirung der Ideen. Alle ausschließlich musikalischen Rücksichten sind denen der Handlung des gegebenen Sujets untergeordnet, wenn auch nicht außer Acht gelassen. Handlung und Sujet nehmen also in dieser Symphonie ein über der technischen Handhabung des musikalischen Stoffes stehendes Interesse in Anspruch; die unbestimmten Eindrücke der Seele werden durch einen exponirten Plan zu bestimmten, der hier durch das Ohr vermittelt wird, wie er dem Auge durch eine Folge von Bildern mitgetheilt werden kann. Der Künstler[,] welcher diesem Genre von Kunstwerken den Vorzug giebt, genießt den Vortheil alle Affekte, die das Orchester mit so großer Gewalt auszudrücken vermag, an einen poetischen Hergang anknüpfen zu können. In der Haroldsymphonie finden wir zuvörderst eine Neuerung und eine Erfindung: das poetische Programm und die charakteristische Melodie. Berlioz gibt in wenigen kurzen Andeutungen eine Uebersicht der Ideenfolge seines Gedichtes, ohne ein vollständiges Gedicht beizufügen, ohne auch sich mit einem bloßen Titel zu begnügen, welcher uns den gewundenen Laubgängen unserer Phantasie überließe. Man hat diese Methode wie ein unstatthaftes Klägergesuch zurückgewiesen, ohne ihr Vortheilhaftes und Mißliches gegeneinander abzuwägen. Wir zweifeln nicht, daß eine verständnißvollere Kritik es übernehmen wird, die Ungerechtigkeit der Zeitgenossen an Berlioz zu vergüten. Indem wir nun die Haroldsymphonie Schritt für Schritt durchwandeln, und dabei hauptsächlich auf die Ideenassonanzen hinweisen wollen, die das Programm in Verbindung mit der charakteristischen Melodie durch eine Folge von Bildern in der Instrumentalmusik hervorzubringen vermag, werden wir bei der technischen Ausführung nur dann verweilen, wenn ihre Originalität und Anlage, selbst da wo es sich nicht um specielleres Eingehen handelt, zu hervortretend erscheinen, um nicht mindestens vorübergehend angedeutet und berührt werden zu müssen.
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Unter den symphonischen Werken, welche wir Berlioz verdanken, scheint Harold dasjenige, dessen Schnitt noch am ersten den gewohnten Concertaufführungen und ihrem Publikum entsprechend sein dürfte. Trotz allem was auch dieses Werk von seinen Gattungsgenossen unterscheidet, stört es nicht so entschieden, wie andere [82] Werke des Autors, die Angewöhnungen der Ausführenden und des Publikums. Auch ist sie deßwegen in Paris wie in Deutschland, von Künstlern und Liebhabern am Besten gekannt. Wir haben also nicht zu fürchten, alle unsere Leser den Eindrücken fremd zu finden, deren Gesammtbild wir hier entwerfen möchten, und dürfen voraussetzen, daß Viele unter ihnen aus der Erinnerung der Unzulänglichkeit des beschreibenden Wortes zu Hilfe zu kommen vermögen, wo dasselbe zu schwach und zu stumpf ist, um den unmittelbaren Reiz und Zauber der Kunstwerke zu schildern, so gern es auch die Aufgabe übernimmt sie zu beurtheilen. Sie werden zu diesem Hilfsmittel mehr als einmal ihre Zuflucht nehmen müssen, um eine Skizze zu ergänzen[,] welche nur in der Absicht vor das Publikum tritt, die poetische Conception des Tongedichtes anschaulich zu machen, ohne streitige Punkte und Controversfragen, über Einzelheiten und Anwendung technischer Mittel berühren zu wollen, welche in Betreff dieses Componisten so lebhaften Meinungsaustausch hervorgerufen haben. Wir halten diese Erörterungen für höchst unfruchtbar, weil sie zuletzt doch alle zu einem Punkt gelangen, über den sie nicht hinaus reichen. Es ist dies das Zusammentreffen physischer Empfindung mit geistiger Einwirkung, ein geheimnißvoller Moment, vor welchem Materialisten wie Spiritualisten als vor einem unlösbaren Räthsel stehen bleiben. Setzt man mit den Ersteren allen Eindruck auf Rechnung der Nerven, wodurch nichts erklärt und gelöst wird, oder setzt man mit den Letzteren unvermittelte Thätigkeit der Seele voraus, oder nimmt man die hervorgerufene Erschütterung als Durchschnittspunkt der beiden Gegensätze an, über deren wesentliche Verschiedenheit kein Zweifel waltet, während wir durchaus nicht bestimmen können, wo sie aufgehoben, wo wiederhergestellt erscheint – so wird in keinem Falle Jemand dahin gelangen zu beweisen, daß diese oder jene Sensation eine angenehme sein muß, und daß sie in dieser oder jener Weise unser immaterielles Sein berührt. Nur der allmälige oder schnelle Eingang, den eine Kunstform bei einer entschiednen Mehrzahl von Menschen findet, oder das beharrliche Ablehnen derselben entscheidet einzig für oder wider die Versuche eines ächten Künstlers, der mittelst sinnlicher Sensationen geistige Wirkungen hervorzubringen strebt. – Wir haben öfters die Frage gehört, warum die Symphonie, mit der wir uns augenblicklich beschäftigen, den Namen Harold führe? Ob mit diesem Titel irgend eine besondere Bedeutung oder Erinnerung verbunden sei? Beim Anhören des Werkes überzeugt man sich alsbald, sollte man auch keine Kenntniß von dem Programm haben, daß die getroffene Wahl eines Helden keine zufällige ist, und daß der Autor hier gewiß nicht den großen skandinavischen Krieger84, noch den königlichen Besiegten von Hastings85 im Sinne hatte. Das Gedicht, in welchem Byron unter
84 Vermutlich
ist hier der norwegische König Harald III. (1015–1066) gemeint. 85 Gemeint ist der englische König Harald II. (1022–1066), der in der Schlacht bei Hastings von den Normannen
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diesem Pseudonym auftritt,86 hatte schon Lamartine auf den Gedanken gebracht, ihm einen Schlußgesang zuzufügen.87 Der edle, tiefsinnige Wanderer, welcher seinen Weg mit Blättern einer schwermuthvollen Trauer bestreute, hatte jedoch nicht alle Gemüthsbewegungen berührt, die jene Fahrt erwecken konnte. Andern Poeten blieb noch eine Nachlese übrig, die sein Gang nur leise gestreift hatte, und die Schütterungen jenes großen Herzens zitterten in den ihrigen nach. Beim Anhören der Monodie, welche in der Symphonie gleichen Namens die Persönlichkeit Harolds bezeichnet (sie ist der Bratsche anvertraut, deren Sonorität die Trauer und erloschene Färbung der Enttäuschung besser als die Geige wiederzugeben vermag, welche für diese absonderlichen Empfindungen zuviel Colorit hat) tritt dem Hörer sogleich die umfängliche innere Gedrücktheit des Pilgers jenseits der Meere entgegen, deren Ausdruck zu gut getroffen ist, um ihn nicht sogleich auf die Vermuthung zu bringen, daß Berlioz von derselben Idee beherrscht war wie Lamartine, nur daß er andere Umgebungen und Eindrücke vorüberführen wollte an dem Verbannten, der nicht vor sich selbst entfliehen kann, und den the blight of life, the demon thought von Zone zu Zone treibt.XV, 88 Mächtig angezogen von dem Zauberkreis jener hohen Gestalt, welche Italien durchwandelnd, sich geneigt hatte jeder Reliquie, gegrüßt hatte jeden Genius, einen Wiederklang fand im Herzen für den Weheruf jeder überzeugungsmüthigen Seele, bebende Antwort gab jeder Frage des Leidens, Enthusiasmus dem Märtyrer, Mannesthränen entschwundenem Ruhm widmete, – den die Niobe der Nationen89 zu elegischen Gesängen begeisterte, wie nur eine unerfüllte, verzagende, giftkrankende Seele sie zu singen vermag, zu Bildern wie Schatten der Vergangenheit sie im Dichter erwecken, zu Gedanken wie sie des Denkers Haupt umdrängen wenn er die Geschicke der Völker erwägt, zu Klängen innigster Ergebung wie sie dem Christen sich entringen der den Allbewegenden anbetet – angezogen, sagen wir, von dem Zauberkreis dieses lebendigen Phantom’s, war Berlioz ohne Zweifel von dem Vorsatz bewegt, wie voll dies von ätzender Bitterkeit gekränkte, und in so beredten Strophen nach Ausdruck ringende Herz, wenn es geflüchtet wäre vor seinen tiefen und schwermüthigen Betrachtungen, in einem weniger geschichtlichen, einem beengteren aber zu-[83]gleich mehr unmittelbaren lebendigem Medium hatte schlagen müssen. Hier störte ihn die stolze Miene des englischen Lord, der den Verfall menschlicher Größen beklagte, als ob er ihre Giebel betreten hätte, vor den mit unsterblichen Namen gezierten Gräbern wie vor Ruhestätten seiner Ahnen trauerte, und ihre trübe Stille dem Ruf und gewöhnlichen Laut der Lebenden vorzog. Berlioz, in welchem selbst der heftigste Anfall misanthropischen Ueberdrusses niemals
XV Childe
Harold.
getötet wurde. 86 Byron, Childe Harold’s Pilgrimage (EZ 1812–1818). 87 Alphonse de Lamartine, Le Dernier Chant du pelerinage d’Harold (ED 1825). 88 Byron, Childe Harold’s Pilgrimage, „Canto the First“, V. 861. 89 Ebd., „Canto the Fourth“, V. 703. Gemeint ist die Stadt Rom.
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eine gänzliche Erschlaffung der lebendigen Seelenkräfte zur Folge hat, mochte sich wohl gegen diese stillschweigende Geringschätzung der üppigen Natur, der lebhaften Leidenschaften auflehnen, die Italien immer beleben, und seinen schönen Leib mit dem frischen Blut ewiger, unverwelklicher, glühender Jugend durchrinnen; er verwarf also den dem Namen zugefügten Titel, Childe, der bei aller seiner Einfachheit unter feodalem90 Schatten und bescheidener Bedeutung, den Rang durchschimmern ließ, welchem Lord Byron, ein Sproß hoher Ahnen, sich anwies, wenn er in der Hierarchie der Poeten sich zuweilen mit dem bloßen Vasallenthum begnügte, und Göthe als seinem Lehnsherren Huldigung und Dienstpflicht leistete.XVI Harold, wie ihn Berlioz sich dachte, läßt sein Wappenschild unter Spinngeweben verwittern, gibt selbst seinen Titel Childe der Vergessenheit anheim, und gedenkt nur seines verzehrenden Leids, seines düstern Trübsinns. Berlioz sinnt den Contrasten nach, die das himmlisch lachende Italien in einem täuschungsmüden schmerzenübersättigten Herzen in unmittelbarer Berührung erzeugen mußte, wenn es einmal aus dem Kerker philosophischen Brütens, der großen Schatten der Vergangenheit vergessend, in die lebenvolle Gegenwart, in das bunte Treiben einer Bevölkerung träte, welche die Freude des Daseins dem Ruhm der Grüfte vorzieht. Die Symphonie ist Harold in Italien betitelt, und die Absicht des Componisten demnach nicht zu verkennen, die Eindrücke wiederzugeben, welche die herrliche Natur dieses Landes, der ungestüme und sinnliche, glühende und liebende Charakter seiner Bewohner auf eine an Schmerzen siechende Seele, wie die des Harold in der Monodie der Symphonie dargestellt, machen mußte. Wir sehen hier den Wandrer im Schoos einer zauberischen Umgebung von brennendem Schmerz, von jener nie zu beschwichtigenden Unruhe, jener Enttäuschung des Geistes, jener unseligen Stimmung erfüllt, deren Typus in der Literatur Byron geblieben ist, obgleich Renè92 aus noch andern als Ancienitätsbedenken, ihm das ausschließliche Recht bestritten hat. So ließe sich zum Beispiel, mit ziemlichen Gründen bekräftigen, daß der Held unsres Meisters in geraderer Linie von dem träumerischen Kinde der wilden Bretagne,93 als von dem stattlichen, ritterlichen Erben von Newstrad94 abstammt. Der Letztere hört keinen Augenblick auf, und wollte er es, er vermöchte es nicht, Schöngeist und Weltmann zu sein, und es läßt sich ohne Schwierigkeit nachweisen, daß Lord Byron selbst im Schildern der phantastischsten Persönlichkeiten und wildesten Naturen, sich dieselben nie ohne jene Geistesbildung, ohne jene Ueberlegenheit der Erziehung und Vornehmheit der Lebensart denken konnte, wie sie denen eigen ist, die zum Gebieten geschaffen sind und ein durch Kaste und Geist angebornes Uebergewicht in sich fühlen. Diese Züge treten an dem armorikanischen [K]üsten95 entsprossenen Dichter augenscheinlich in den Hintergrund. Chateaubriand sah sein Wappenschild zu gleichgültig verrosten und im Staub ver-
XVI Widmung
des Sardanapal.91
feudal. 91 Byron widmete Goethe sein Schauspiel Sardanapalus (ED 1821). 92 Chateaubriand, René (ED 1802). 93 Chateaubriand wurde 1768 in Saint-Malo geboren. 94 Byron erbte mit zehn Jahren den Titel Baron Byron of Rochdale in the County Palatine of Lancaster und das Anwesen Newstead Abbey. 95 Armorica (auch Aremorica) war in der Antike die geographische Bezeichnung für die heutigen Landschaften Normandie und Bretagne. 90 (Frz.)
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wittern, um sich viel mit seiner Devise zu beschäftigen, während er unter dem Druck seines unheilbaren Uebels – le vague des passions96 – stöhnte, und das Unbeschreibliche seines Leidens dennoch definirte und aussprach. Um so erlaubter ist es, das besprochene Werk von Berlioz an diesen romantischen Typus anzuknüpfen, dessen Schmerzen mit den seinigen so viel Verwandtschaftliches hatten, daß er ihm in dem Programm seiner Symphonie Fantastique die obige Benennung einer Krankheit unseres Jahrhunderts entlehnt. Nur die erhabne Schmerzeninnigkeit, deren Gesangsklage Childe aus Renè gesogen, ist ganz in den musikalischen Harold übergegangen. Von den übrigen Characterzügen des britischen Harold konnte die Conception des Tondichters keinen in sich aufnehmen; dagegen gibt sie die unheilbare Trostlosigkeit, das Versiegen aller Freudenquellen bis zur ironisirenden Verzweiflung, bis zum Versagen aller sehnlichst begehrten und gesuchten Seelenregungen um so kräftiger und unmittelbarer wieder. Wenn jemals ein Dichter den Zustand eines Herzens geschildert hat, das übersättigt ist ohne genossen zu haben, jenes gründlichste aller Uebel, welches man als Ueberdruß der Seele bezeichnen möchte, so geschah dies durch Berlioz. So blasirt von halb sinnlich erschöpften, halb im Geiste durchlebten Genüssen ist sein Held, daß wir ihn von einem der Götter würdigen Mahle den Qualen geistigen Hungers anheimgegeben sehen. Ihm ist, als müßten all’ die purpurnen Früchte, die üppigen Blumen zu Asche zusammensinken unter dem Hauch seines Mundes, solch ein tiefer Widerwille, solch’ ein Nachschmack des Nichts, solch ein Moderduft, solche Furcht vor greulicher Umwandlung hält ihn von jeder Berührung der lockendsten Speise zurück! Sein Leid überbietet alle Tantaluspein, denn er spricht selbst sein Qual- und Verdammungsurtheil; er selbst aus eignem Antrieb und Impuls muß den Zweig zurückstoßen, und alle Gaben des Lebens von sich weisend, dem unstillbaren Hunger preisgegeben, schmachten eigenwillig [84] in furchtlose Zuckungen dem Tode entgegen, ohne seine Erschütterungen durch Versenken im Stoïcism97 beschwichtigen zu können, oder einen Gegenhalt zu finden durch einen Trunk an jener Quelle die jeden Durst stillt und jeder Seelengröße ihre Erquickung bietet, wenn das Unglück den Muth hat durch Hingebung und Entsagen sich die Ruhe zu erringen, und Schritt für Schritt vordringend jenen einzigen Schatz zu erwerben, welche das Unbesessene zu spenden, ein Glück zu verbreiten verleiht, dessen man selbst nicht genießt. Byron hat den Tod in Griechenland98 gefunden und so die Ueberzeugungen eines edlen Dichterherzens durch sein Ende bekräftigt; der Harold von Berlioz zieht es vor in düstrer Höhle von italienischen Räubern umgeben den Todeskelch zu leeren, und mit seinem letzten Hauch einen letzten Fluch über die verachtete Menschheit auszusprechen. [89] Bei dem ersten Theil der Symphonie, überschrieben: Harold in den Bergen; Scenen der Schwermuth, des Glückes, der Lust,99 giebt uns sogleich der fugirte Anfang Gelegenheit darauf hinzuweisen, wie ungegründet die Vorwürfe waren, welche man Berlioz lange Zeit gemacht hat: daß er nicht eingeweiht sei in die Geheimnisse des
96 (Frz.)
die Welle der Leidenschaften. 97 (Frz.) Stoizismus. 98 Byron starb 1824 in Mesolongi. Harold en Italie op. 16 (UA 1834), 1. Satz „Harold aux montagnes. Scènes de mélancholie, de bonheur et de joie“. 99 Berlioz,
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Contrapunkts. Hierbei suchte man sich wieder auf das Witzwort eines großen Meisters zu stützen und dasselbe als Endurtheil hinzustellen. „Berlioz liebt die Fuge nicht,“ sagte Cherubini; „das ist nicht zu verwundern, sie macht sich auch sehr wenig aus ihm.“100 Wer sich überzeugen will, wie Berlioz den verbitterten Richterspruch Lügen gestraft hat, mag die meisterhafte Behandlung dieses Styls im letzten Theil der Fantastique, im Trauermasch aus Romeo und Julie101 und in verschiedenen Theilen des Requiem102 verfolgen. Wenn er manchmal mit der alten Praxis bricht, so zeigt die Kraft und Geschicklichkeit der an ihre Stelle getretenen Combinationen sattsam, daß er die streng und genaue Befolgung alter Vorschriften nicht aus Mangel an Wissen und Können vernachlässigt, sondern [e]s in vollem Selbstbewußtsein und zur Erreichung von Wirkungen thut, welche innerhalb der ehemaligen Grenzen nicht möglich sind. Heute wagt man es allerdings kaum, jenen Tadel noch länger auszusprechen. Es haben bereits zu viele Musiker diese Partituren gelesen oder gehört. Wir hielten nur die Bemerkung hierher passend, daß wenn zwanzig Jahre hingereicht haben, die bestehende Meinung so bedeutend zu modificiren, zwanzig folgende Jahre wohl auch dazu beitragen dürften, einen noch viel entschiedeneren Einfluß auf sie zu üben. Wir geben zu, daß ein Symphonie-Eintritt wie der des Harold nicht mit den Metierüberlieferungen übereinstimmt; wenn aber ein Bruch mit funfzigjährigen Verträgen sich rechtfertigen läßt, so ist es dieser. Es möchte schwer sein einen besseren Introitus zu den Empfindungen zu geben, welche die sogleich darauf eintretende Hauptmelodie in uns hervorrufen soll. Das erste Fugato-Thema bringen die Streichinstrumente und durch ein in den Blasinstrumenten mit ihm alternirendes Gegenthema entsteht eine eigenthümliche kla-[90]gende, düstre Klangfarbe. Die letzteren Accorde zeichnen dann in einer Breite von drei Octaven auf einem GeigentremoloXVII, wie einen durch graue Wolken blickenden unsicheren Strahl, das Thema welches Harold personificirt, der hier aber nur sein Herannahen anzukündigen scheint, da es in Moll gehört wird, was im Verlauf der Symphonie ungeachtet aller Modificationen nicht mehr vorkommt.104 Gleich einem die Landschaft einhüllenden Nebel steigt der fortgesetzte Rhythmus der fugirten Exposition chromatisch empor. Die allerersten Anfangstakte werden pianissimo mit dem Eindruck, den eine verschwimmende Fernsicht macht wiederholt; die Harfe verhaucht in einem letzten MollaccordXVIII, worauf im folgenden Takt ein hastig betontes Harpeggiren mit Dur
XVII Partitur
bei Richault. Paris. S. 2. T. 9.103
XVIII S. 4.
T. 7.
1842 Cherubini, [S. 2]. Im Original: „Cherubini entre au milieu de la discussion; malgré mes signes pour l’engager au silence, mon adversaire la continue de manière à attirer au contraire l’attention de Cherubini qui se retournant vivement: ‚Qu’est ce que c’est? – C’est Monsieur, répond perfidement le virtuose, qui n’aime pas la fugue. – Parce que la fugue ne l’aime pas.‘“ 101 Berlioz, Roméo et Juliette op. 17 (UA 1839), Nr. 5. „Convoi funèbre de Juliette“. 102 Berlioz, Grande Messe des morts op. 5 (UA 1837). 103 Die hier und im Folgenden von Liszt angegebenen Stellen aus Berlioz’ Harold en Italie sind im Hauptteil des vorliegenden Artikels jeweils mit Taktzahlen nachgewiesen. 104 Berlioz, Harold en Italie op. 16, 1. Satz, T. 14ff. 100 Berlioz
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einsetzt.105 Jetzt erklingt die Viola;106 Harold tritt ein, und seine tiefsinnige Monodie singend, scheint er in seiner Sprache die Worte des Dichters wiederzugeben: . . . . . there are wand[e]rers o’er Eternity Whose bark drives on and on, and anchor’d ne’er shall be. ..... ..... Is it not better, then, to be alone And love earth only for its earthly sake?107 ..... ..... I live not in myself, but I become Portion of that around me; and to me High mountains are a feeling, but the hum Of human cities torture; I can see Nothing to loathe in nature, save to be A link reluctant in a flesh[l]y chain, Classed among creaturs, when the soul can flee, And with the sky, the peak, the heaving plain Of Ocean, or the stars, mingle, and not in vain.108 (Childe Harold. Canto III.) Harold möchte aufgehen in der Natur, sich im großen All verlieren, auflösen; er möchte das ganze System abstracter Ideen, welche aus dem Menschen eine der Kundgebungen dieses vergötterten Alls machen, in ein unmittelbares Gefühl fassen, es zusammen drängen in einer ungehemmten Erhebung. So verschleiert und belegt die Viola tönt, als Harold’s Stimme, als Ausdruck seiner Innerlichkeit, beherrscht sie doch das Orchester, wie der Hauch des fühlenden Menschen über der Natur waltet. Von den wundervollen Scenen einer zauberischen Landschaft umgeben, wie der Delphin im weiten Ocean, scheint er in den uferlosen Aether zu tauchen, um in rastlosem Aufschweben an den letzten Gränzen des Weltalls, die wie Klippen auftauchenden Nebelsterne zu erreichen. Kosend ruht er im Schooß Cybelens109, der Alma Mater, ehrfurchtsvoll küßt er ihr die thurmgekrönte Stirn, mit kindlichem Entzücken staunt er die blühenden Verzweigungen ihres mit Honigtopas gestirnten Gewandes mit seinen Guirlanden aus Schwertlilien an, dessen Akanthagraffen110 mit Asphodil111 befestigt sind, besetzt mit sammetweichen Ranunkeln, purpurnen Trauben und mit den gerötheten Lanzen der spitzblättrigen Tulipane. Seine Gedanken folgen brausend den in kimmerisches112 Dunkel sich stürzenden Wasserfällen, oder T. 30ff. 106 Ebd., T. 38. 107 Byron, Childe Harold’s Pilgrimage, „Canto the Third“, V. 670–673. 108 Ebd., V. 681–689. 109 Göttermutter der griechischen Mythologie. 110 Ornament nach dem Vorbild der Blätter des Akanthus (Bärenklau). 111 Asphodill ist eine Gattung der Liliengewächse. 112 Die beiden ältesten Faltungsphasen der Alpen und anderer Hochgebirge betreffend; Bezeichnung geht zurück auf einen früher in Südrussland ansässigen Stamm der Kimmerier, auf den in zahlreichen griechischen Quellen Bezug genommen wird, u. a. bei Homer, Herodot und Aristoteles. 105 Ebd.,
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wirbeln mit der Lava aus vulkanischen Tiefen empor; sie durcheilen mit dem pfeilschnellen Casoar113 die Pampas, entschlummern wie die Neride114 auf regungslosen Wellen des ruhenden Sees, durchschiffen mit wandernden Kranichzügen die Lüfte, begleiten den schlanken, rosigen Flamingo zwischen tausend blüthigen Aloen, oder überlassen sich mit den trägen Albatros lässig und träumend dem sanft sie mit sich ziehenden Winde, verweilen mit dem ernsten Ibis in tiefes Sinnen versunken vor den Felsen, diesen Sphinxen der Natur, oder lassen sich mit dem Phönix auf den blitzentzündeten Balsamstrauch nieder, um aus seiner duftenden Asche mit neuentfalteten Schwingen sich empor zu heben. Plötzlich wird die Monodie schwächer, die Stimme verhallt; die erhobene Seele senkt ihre Flügel. Harold wendet sich ermüdet von diesen Traumbildern hinweg, die letzten dumpfen Klänge der Viola verrathen seine Abspannung . . Das Orchester nimmt Harold’s Motiv auf;XIX, 115 so giebt uns die Natur den Hauch wieder, den unsere Seele in sie ausströmt, vervielfältigt in ihren tausend wundervoll ineinanderklingenden Stimmen. In dem Echo, welches aus der canonischen Fortführung des Motivs entsteht, finden wir eine Verkörperung dieses vielformigen Zurückstrahlens. Eine in zweiunddreißigstel Triolen aufsteigende Figur, zwischen Geigen und Bratschen getheilt, tritt hinzu, wie das erquickende Wehen jenes wolkenscheuchenden frischen Morgenwindes, der einen gluthheißen Tag verkündet, wie er dann später im Allegro116 eintritt. Dieses steigert sich allmälig zu vollem Farbenglanz, und nimmt den Character einer gewaltsammen, unruhigen, übersprudelnden Freude an, zu welcher das Herz durch ein überlegtes Verlangen des Selbstvergessens sich anspornen kann, um in den Entzückungen einer reichen, blendenden Natur wieder aufzuleben, sich in Licht und Duft wie in Lethewellen117 zu tauchen, um mit bebenden Lippen an ihren Riesenbecher eine anderswo vergebens gesuchte Seligkeit zu schlürfen, oder wenigstens auf den Grund seines hefen-[91]losen Nectars eine Stunde schmerzstillender Betäubung zu finden. Dies Allegro ist ein Complex von zurückgedrängter Entmuthigung und aufbrausendem Jubel der Seele, auf dem Hintergrund einer herrlichen Naturumgebung, und die gebrochenen Rhythmen und Harmonien der polyphonischen Figuren, die Niemand so wie Berlioz zu combiniren, zu vereinigen, aufzuthürmen und wieder zu zertheilen versteht, dienen hier, um de[m] Ganzen ein doppeltes Siegel der Pracht und des Leidens aufzudrücken, die wechselnd Phantasie und Herzerregen. Freudig belebt, bewegt und pulsirend entfaltet sich Anfangs ein lebensfrohes Dasein mit ganzer Gewalt; gegen das Ende aber erscheint das Haroldmotiv langsam im Tremolo;118 sein düstres Sehnen kann nicht von dem Prunk äußerer Eindrücke besiegt werden und wurde vergebens aus seiner Versunkenheit und dumpfen Ruhe aufgestört. Es wird auf ’s Neue von den beiden Themen des Allegros übertönt und immer mächtiger durchkreuzt und unterbrochen, deren eines wie ein gesungenes Gefühl erklingt, während das andere sich wie eine riesige Contur durch
XIX S. 7.
T. 1
Kasuar, Laufvogel Neuguineas. 114 Im Meer lebende Nymphe. 115 Berlioz, Harold en Italie op. 16, 1. Satz, T. 73ff. 116 Ebd., T. 94. 117 Lethe ist einer der Flüsse der griechischen Unterwelt. 118 Berlioz, Harold en Italie op. 16, 1. Satz, T. 323. 113 (Frz.)
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ein mehr als hundert[t]aktiges Crescendo verbreitet, welches bis zu blendendsten Glanz anwachsend noch einmal den lautesten Jubel der Natur vernehmen läßt, gleichsam an einem Sonnentage, wo sie all’ ihre Pracht verschwenderisch vor dem Blick des Menschen entrollt. – Der zweite Theil der Symphonie nennt sich: Marsch und Abendgebet der Pilger.119 Der Rhythmus dieses eben so bekannten als bewunderten Marsches wird jeden achten Takt von einer Art musikalischer Mimologie unterbrochen,120 welche die periodische Wiederkehr der psalmodirenden Stimmen darstellt, die mit einer monotonen Andacht die Responsorien der Abendlitanei vor sich hinmurmeln. Harold läßt sie, in stumme Betrachtung versenkt, an sich vorüber ziehen; die Viola kündet uns seine GegenwartXX durch die Monodie an,121 welche wie eine wehende Trauerflagge, wie ein zwischen Grau und Braun schillernder Regenbogen, wie ein öder, düsterer Gedanke über der hellen Abendscene schwebt; gleich einer aufgeschossenen Rebe rankt sie sich von Takt zu Takt und umschreibt dabei lange Bogen in unerwarteten Combinationen von einer Mannichfaltigkeit, die bei jedem anderen Componisten uns in Erstaunen setzen dürfte. Der Pilgermarsch wird durch eine mit canto religiosoXXI, 122 bezeichnete Alternative unterbrochen; durch etwa hundert Takte scheinen nun ernste, schöne Harmonien fromm und erhebend die Luft zu durchtönen, wie die letzten aromatischen Wellen des im Weihrauchfaß verglimmenden Benzoë123 sich über die Felder verbreiten. Harold ist bewegt, die Viola begleitet diese durchsichtig hinströmenden Harmonien mit arpeggirten Accorden, wie Paganini sie zuerst anwandte und die hier so wundersam erklingen. Leise tönt an den Bässen der Rhythmus des Marsches ununterbrochen fort, als ob die betende Schaar einen Berg umwandelte, um irgend einen ländlichen Altar zu erreichen. Der Componist charakterisirt die Pilger nicht durch eine erhobene Pietät; in ihrem Gang und dem Gemurmel ihrer Stimme finden wir keine Spur religiösen Aufschwungs. Sie gehen wie einfache Landbewohner vorüber, welche heilige Gebräuche ohne jeglichen Pathos erfüllen. Und doch löst sich von diesen scheinbar so alltäglichen Schauspiel eine durchdringende Gefühlsbewegung ab. Selbst das so mechanisch hergesagte Gebet erhebt uns unwillkührlich. Den stolzesten Geist überkommt ein vagues Gefühl seiner Nichtigkeit, seiner Ohnmacht, seiner Dürftigkeit dem Glauben gegenüber, welcher so vielen Uebeln Heilung, nach so mancher Arbeit Ruhe gewährt, so manches Mißgeschick versüßt und dauerndes Elend mit dem Zauber überirdischer Hoffnung umgiebt. Einer den Sinnen und der Einbildung wenig schmeichelnden Wirklichkeit den Funken tiefer und wahrer Poesie zu entlocken, malerische Wirkung und poetisches Gefühl in einem Rahmen zu vereinigen, heißt seinen Gegenstand künstlerisch erfassen; auch spricht aus diesem Bilde die
XX S. 49.
T. 2.
XXI S. 53.
T. 3.
119 Ebd., 2. Satz „Marche de pélerins chantant la prière du soir“. 120 Ebd., u. a. T. 23–25, T. 33– 35, T. 43–45, T. 53–55. 121 Ebd., T. 60ff. 122 Ebd., T. 169. 123 Ein Harz, das als Heilmittel, Räuchermittel und zur Herstellung von Parfüm verwendet wird.
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volle Prägnanz italienischer Scenen; es erweckt in uns dieselbe Folge von Reiz und Rührung, dieselbe Art von Eindrücken und Gedanken wie die Realität selbst. Aber die Empfindungen, die in manchem Schauenden nur vereinzelt hervorgerufen worden, sind hier eine durch die andere ergänzt, und wir konnten dies Tonstück nie hören oder lesen, ohne uns in jenes, wir möchten sagen, geistduftende Land zurückversetzt zu fühlen, dessen räthselhafter, magnetisch anziehender Boden so oft seit Virgil den Ruf von Seele zur Lippe bringt: Italiam! Italiam!124 Nach der Reprise, und nach der Art contemplativer Unterbrechung, von der wir vorhin sprachen, zeigt der Pilgermarsch statt seines Näherkommens, wie er bisher gethan, durch ein mäliges Schwächerwerden des Klanges sein Entfernen an, und verschwindet zuletzt gänzlich. Hervortretende, zwischen Flöten, Harfe und Hörnern wechselnde Noten, schildern dem Ohr in einem schon zu Anfang des Marsches vernommenen sehr dissonirenden, aber merkwürdig harmonisirten Intervall, (der großen Septime H–C) welches in immer leiserem Pianissimo ertönt, den verhallenden Gesang und die einbrechende Dämmerung.125 Es kommt die Nacht und ihre Stille, die ersten Sterne blicken, die Blumen schließen sich; die träumende Pflanzenwelt [92] athmet balsamischen Hauch, die Luft ruht, die Natur entschläft, und wenn das leise verzitternde Tönen des Orchesters ganz verstummt, umfängt es uns wie eine laue, ruhige Nacht, in welche tiefer und tiefer Dunkel und Schweigen sich niedersenkt. Harold hat gelauscht[,] geschaut, geträumt, aber verbleibt stumm, undurchdringlich; ohne Zucken sein Herz, trocken sein Auge, kalt sein Lächeln. – Im dritten Theil: Serenade eines Montagnard126 in den Abruzzen für die Geliebte,127 ist Harold Zeuge einer Liebesscene, wie er vorher einer religiösen zugeschaut hatte; aber jetzt wie damals streift ihn nur äußerlich berührend der frische Hauch der Außenwelt; seine dem Glauben verschlossene Seele vermag auch nicht mehr das Gefühl liebender Hingebung nachzuempfinden. Er läßt sich die Stirn umspielen vom Luftzug tiefer Leidenschaft, die hier in kosenden Klängen, ursprünglich kräftig sich ausspricht; aber die lebendigen Fibern seiner Seele bleiben stumpf; er nimmt diese Töne nicht als heilige, liebe Gäste in seinem Innern auf, er läßt sie skeptisch an sich vorüberziehen, und fragt nur, an welcher Quelle er nun sich tränken solle, um seiner Erstarrung, seiner Verdumpfung sich zu entringen. Dieser dritte Theil entzückt uns von den ersten Takten an durch ein herrliches, lebhaft rhythmisirtes ScherzettoXXII, 128 welches eine aus ländlichen Instrumenten zusammen gestellte Serenade bringt, wie wir sie von den italienischen Pifferari’s129 hören, deren drollige Schelmerei, kurzweilige Lustigkeit und sprudelnder, mittheilsamer Humor in diesem Stück lebendig wird. Auf diese Art Ritornell folgt ein Gesang,130 der in einer schmachtenden, anmuthig flehentlichen Melodie die Romanze XXII S. 59. 124 Vergil, Aeneis, Liber 3, V. 523. 125 Berlioz, Harold en Italie op. 16, 2. Satz, T. 279ff. 126 (Frz.) Berghirte. 127 Berlioz, Harold en Italie op. 16, 3. Satz „Sérénade d’un montagnard des Abruzzes à sa maîtresse“. 128 Ebd., T. 1–31. 129 Schalmei spielende italienische Hirten. 130 Berlioz, Harold en Italie op. 16., T. 32ff.
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des verliebten Hirten vernehmen läßt. Zu dem englischen Horn, welches dies Allegretto wundervoll girrend singt, gesellt sich sanft Harold’s Stimme oder vielmehr sein Blick, als trauriger Zuschauer dieser ungezwungenen Zärtlichkeit. Seine Monodie kehrt diesmal in VergrößerungXXIII wieder,131 und erhält dadurch etwas Feierliches, als wenn bei einem schönen Sonnenuntergang in der Campagna romana132 die weitgeschweiften Arcaden eines Aquaducts ihre schwarze Silhouette in das reine Gold des Horizontes zeichnen. Die Romanze des Montagnard verirrt sich launisch in kokette Windungen, gleich jenen verschlungenen Initialen, welche in der rauhen Rinde alter Buchen ein kurzes Liebesglück verewigen sollen. Der Pifferari-Refrain wird nun ganz wiederholtXXIV, 133 und verlängert sich dann im abweichenden Rhythmus, während die von Flageolettönen der Harfe begleitete Flöte Harold’s Monodie singt, und die Viole, gleichsam gereizt von einer so zauberischen Täuschung, einige Fragmente der Romanze aufnimmtXXV, 134 Die sich kreuzenden Rhythmen und sich umwindenden Themen sind hier mit einer Feinheit des Kalkuls und Zartheit der Empfindung in einem Gleichgewicht erhalten, die man beim Durchlesen der Partitur noch deutlicher erfaßt als bei bloßem Anhören, weil man bei letzterem zu sehr vom schimmernden Colorit und de[m] einwiegenden Klang des Morendo absorbirt ist, in welchem das Orchester wie im Dufte sich aufzulösen scheint gleich einem Traum der Liebe, gleich einem fernsten Echo der Zärtlichkeit, gleich der flüchtigen Rührung, welche dies verwundete unselige Herz aus jenen verwehenden Klängen sog. – Orgie der Banditen, Nachklänge der vorhergehenden Scenen,135 heißt der Titel des vierten und letzten Satzes. Ist er glücklich gewählt? Ist überhaupt der Schluß des Gedichtes ein passender? Wir verstehen sehr wohl, wie peinlich es für viele zartfühlende Naturen sein muß, eine edle Gestalt in scheußliche Höhlen sich schleppen, an frenetischem Taumel, schmählicher Erniedrigung Theil nehmen zu sehen. Manches Herz, das Harold bis hierher gerührt und theilnehmend gefolgt ist, wird nur zögernd am Eingang der dunklen Stätte verweilen, und es nur gewaltsam über sich gewinnen können, den furchtbaren Lupercalen136 beizuwohnen, welche hier gefeiert werden. Indessen wird man dem diesen Schluß bestimmenden Gedanken seine Zustimmung nicht versagen können. Wem die heilige Segensfülle des Gebetes, wem die sehnsüchtigen Schauer der Liebe nur noch flüchtiges Bedauern, einen kurzen Seufzer oder bald verfallende Klage entlockt, wer in ihrem Anschauen nur noch ein augenblickliches Aufflackern, einen Gegenstand zu elegischen Strophen findet, muß der nicht, wenn seine Leidenschaften gluthgehärtet, sein Geist und Körper von energischer Complexion, seine Gemüthsanlage eine heftige ist – muß er nicht sich in Umgebungen stürzen, welche
XXIII S. 63.
T. 3.
XXIV S. 70.
T. 12.
XXV S. 72.
T. 4.
T. 65. 132 Hügelige Umgebung Roms. 133 Berlioz, Harold en Italie op. 16, 3. Satz, T. 136–165. 134 Ebd., T. 166ff. 135 Ebd., 4. Satz „Orgie de brigands. Souvenirs des scènes précédentes“. 136 Reinigungs- und Fruchtbarkeitsfest des antiken Roms zum Frühlingsbeginn. 131 Ebd.,
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seine Bedürfnisse nach Ueberreizung, sein Haschen nach galvanischen Gefühlszuckungen stillen, wäre es selbst durch langsames Verthieren oder schnellen Tod? Was ist dem der Tod oder völliges Verthieren, der vor den beiden großen Dogmen der menschlichen Seele – dem Himmel dort oben an Gottes Brust, – dem Himmel hinieden am Busen eines geliebten Weibes – seine eigenen Regungen, mit trocknem Auge, mit zweifelvollem Lächeln betrachtet? – Wie peinlich also auch das erregte Mitleid durch das letzte Geschick dieses neuen Harold sein mag, kann man gegen den vierten Theil der Symphonie sich nicht völlig ablehnend verhalten, nicht Berlioz den [93] Vorwurf machen, daß er aus dem tödtlichen Princip dieser edlen Natur eine zu schroffe Folgerung gezogen habe. Die Kunst kann unmöglich auf süßliche und spielende Stoffe beschränkt werden; man darf ihr für die Entfaltung von grauenvollen Mysterien, von Bildern, welche keusche Blicke meiden, nur eine ausreichende Motivirung abverlangen. Sobald die Kunst deren Eintritt in ihr Bereich als gerechtfertigt ansieht, hört sie durch Zulassung solcher Momente nicht auf, Kunst zu sein, nur muß der Künstler, der Aehnliches unternimmt, im Voraus gewärtig sein eine sehr beschränkte Zahl Hörer zu finden, welche der Verkettung seiner Ideen mit Bewußtsein zu folgen vermögen. Selbst unter denen, die Begehren tragen, in die verschiedensten Phasen der vom Dichter vorübergeführten Leidenschaften geleitet zu werden, möchten nicht alle zu jeder Zeit geneigt sein, ihnen bis zum Ziele vollständiger Folgerungsentwickelung gleichen Schritt zu halten, besonders wenn man die Zerstreutheit, den leicht verletzlichen Geschmack unseres heutigen eleganten Concertpublikums bedenkt. Daher ist es nicht überraschend, daß die Orgie nicht so aufgenommen wird, als sie es durch die Größe ihrer musikalischen Conception verdient. Sie macht uns zum Tafelgenossen eines ungeheuerlichen Gastmahls, das von Branntwein und von Verbrechen trieft, welche über die von unseren Sitten und Gewohnheiten zugelassenen so weit hinausgehen, daß die meisten Hörer sich keinen Begriff von der Scene bilden können, die mit Geheul und Gewieher vor ihnen aufgeführt wird. Der Satz beginnt mit dem Motiv der OrgieXXVI, 137 welches dann auf eine Zeit lang fortwährend von Erinnerungen aus den vorigen Sätzen unterbrochen wird, die gleich Gewissensbissen, gleich halbwilligen Reuegedanken vor Harold’s Geist aufsteigen, ehe er als empfindungslose Beute der Hallucination anheimfällt. Die fugirte Exposition tritt zuerst wieder einXXVII, 138 gleich der Erinnerung eines schönen Tages, einer edlen That: die Orgie verdrängt es; dann taucht eine Reminiscenz des PilgermarschesXXVIII auf,139 wie ein zögerndes, letztes Flehen: die Orgie übertönt es; nun drängen sich verwirrte Klänge jener Liebesromanze des AbruzzenhirtenXXIX, 140 wie schutzsuchende Flüchtlinge, wie Zaubersprüche gegen die Verzweiflung an der Liebe in die vermaledeite Schlucht: die Orgie zieht sie in ihren Strudel: eine letzte Mahnung des ersten AllegroXXX, 141 jener noch unbefleckten Freude, erklingt: die Orgie erstickt sie. Die Orgie grollt lauter und lauter; die besseren Triebe unterliegen und ersterben. Endlich richtet Harold’s Monodie sich aufXXXI, 142 aber hohläugig, gespensXXVI S. 75. XXXI S. 80. 137 Berlioz,
T. 1. XXVII S. 76. T. 5. T. 10.
XXVIII S. 77.
T. 14.
XXIX S. 78.
T. 8.
Harold en Italie op. 16, 4. Satz, T. 1–11. 138 Ebd., T. 12–17. 141 Ebd., T. 60–70. 142 Ebd., T. 81ff.
140 Ebd., T. 46–53.
XXX S. 79.
T. 2.
139 Ebd., T. 34–41.
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tisch. Wir sehen die Gestalt langsam vom granitnem Tisch, aus der Umgebung der wilden Gefährten, mit stieren Blicken, schäumendem Munde, hager, gebrochen, schwankend, weintrunken, unkenntlich sich erheben. Die Melodie verliert ihre wirklichen Umrisse, wird undeutlich und unstät, wie die zusammenhangslosen Ideen eines berauschten Hirns; ein Crescendo packt sie und reißt sie wider Willen fort im Taumel wilder Rhythmen zum Allegro frenetico, wo nur das Bachanal-Motiv zuerst sich vollständig vernehmen läßtXXXII, 143 Es ist nicht ohne kriegerischen Charakter, denn wir müssen nicht vergessen, daß wir nicht etwa in einer gemeinen Spielhölle sind, oder mit Taschendieben zu thun haben. Wir sind nicht in einem Schlupfwinkel, sondern in einer tiefen sicheren Höhle, die durch Pechfackeln erhellt, mit dunklen Tapeten aus Rauchwolken behängt ist. Ihre lebendigen Felsenwände haben meilenweiten Umfang, ihr Giebel ist ein Berggipfel, der stolz an die Sterne reicht; die Abgründe sind Burggräber, und Wasserfälle in welche tausend Bäche sich stürzen, die Zugbrücken. Tiefe Erdspalten verschlingen das rauhe Geschrei, welches diese Räume durchtobt. Wir sind hier bei bewaffneten out-law’s144, mitten unter einer dichten zügellosen, gierigen und gesättigten Banditen-Soldateska. Bald wird die Verwirrung grenzenlos, und wenn einzelne Gruppen vor dem Auge auftauchen während Berlioz erzählt, so kann die Feder keinen Begriff von dem geben was, fern von aller Möglichkeit menschlichen Eingreifens, ohne Scheu und im Trotz gegen jede Beschränkung, in namenlosen Extravaganzen sich ergiebt, welche wie unerhörte Scheusale durch Ströme brennenden Alkohols in dickem, siedendem Blut erzeugt worden. Das erste Motiv der Orgie wiegt sich bebend auf wachsendem Tumult und unerhörtem Getöse. Plötzlich tritt ein zweites,XXXIII, 145 nicht weniger wildes, hinzu, gleich einer Banditendirne, die nun mit dem Hauptmann die pandämonische Runde beginnt, beide umschlingen sich wie in unzüchtigem Tanz, bis sie zu einem kläffenden Geheul in rasendem Hurrah, in einem betäubenden Gekreisch, als ob ein Chaos in die Luft gesprengt würde, sich vereinigen. Plötzlich! . . . . Anfangs ferne tönend, naht sich unerwartet, unverhofft, unvorbereitet, der Pilgermarsch.XXXIV, 146 Man glaubt ihn von ferne an der verruchten Grotte vorüberziehen zu hören, als wenn der Athem Gottes, das himmlische Erbarmen vor keiner Umgebung zurückgehalten, als wenn der Glaube vor keiner Lästerung verscheucht werden könnte. Die Viole verhaucht nur noch in erstickten Seufzern . . . . Was auch die letzten Schläge dieses gebrochnen Herzens sagen möchten, Harold’s Stimme kann nur noch verworrene, unverständliche Laute finden. Ein zerschmetterndes Unisono zeigt uns die fortbrausende Orgie,147 die [94] den Leichnam in rasendem Stampfen durch blutigen Schlamm zieht, und eine Stretta148 von unvergleichlicher Gewalt der Zeichnung und des Pinsels bildet den Abschluß eines Gedichts, das gegen gewisse Geschmacksgewöhnungen verstoßen mag, dem man aber eine gewaltige Inspiration unmöglich absprechen kann.
XXXII S. 81.
T. 12.
143 Ebd., T. 118ff.
XXXIII S. 85. 144 (Engl.)
146 Ebd., T. 464–504.
T. 9.
XXXIV S. 107.
Gesetzlose.
T. 14.
145 Berlioz,
147 Ebd., T. 507–518.
Harold en Italie op. 16, 4. Satz, T. 177ff.
148 Ebd., T. 518ff.
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Da für Berlioz die musikalische Idee nur der adäquate Ausdruck eines poetischen Gedankens ist, so sind seine Programme, ob sie auch auf den ersten Augenblick sehr ausführlich erscheinen mögen, weit entfernt eine Erklärung aller Gefühlsvorgänge zu enthalten, welche er dem instrumentalen Idiom anvertraut. Es gehörte eine umständliche poetische und technische Zersetzung seines Werkes dazu, die eben nur einen sehr begränzten Leserkreis finden dürfte, wollte man seiner Phantasie durch alle Gänge und Wendungen folgen, sich von jeder Facette Rechenschaft geben, die er schleift, um den Stein in ganzem Glanz und Feuer leuchten zu lassen. Die ein Interesse daran finden möchten, die im Erscheinen und Verschwinden der characteristischen Melodie oder anderer Reminiscenzen liegenden poetischen Intentionen mit der Aufmerksamkeit zu verfolgen, mit welcher man die Strophen des Childe Harold commentirt, wären wohl keine specifischen Musiker, und würden sich durch die zu solcher Besprechung unentbehrliche musikalische Terminologie abgestoßen fühlen, da ein kenntnißreiches Eingehen auf die Partitur eine unumgängliche Nothwendigkeit ist, wenn man das volle Verständnis dieser Dichtung erzielen will. Aus so manchem Uebergang, manchem Accord, dieser oder jener Nachahmung und Modulation, wird dann erst klar, welcher Ge[f]ühlszug, welche Ideenverbindung, welche verborgene Anspielung in sie gelegt ist. Der gedrungene Styl dieses Meisters ist eigenthümlich mit Motiven und Rhythmen erfüllt, welche sich brechen, von einander trennen und loslösen, sich verhüllen, verstecken, und von denen dann einzelne Theile in anderen Intervallen, Positionen, Contrasten und Unisonos, in feindlichen und verbundenen Klängen wiederkehren, daß man nicht umhin kann sie auf Rechnung einer noch höhern Intention zu setzen als dem bloßen Vermeiden des Homophonen, und dem möglichsten Entfalten polyphoner Verwickelungen. Leider sind die, welchen ein solches Studium mit der Partitur in der Hand, ein Leichtes wäre, meist grade am wenigsten geneigt, in der instrumentalen Musik die Möglichkeit des Ausdrucks und der Entwickelung eines poetischen Stoffes, einer zum Voraus in Worten dargelegten lyrischen oder dramatischen Conception zugeben zu wollen. – Einige wollen behaupten (unter Andern Schumann149) daß nicht nur die Anwendung des Programms Berlioz nachtheilig gewesen sei, sondern auch die Wahl seiner Sujets, die zu sehr den Stempel des Phantastisch-Furchtbaren tragen, welches in der Literatur nur einem besonderen Publikum gefällig ist, und in der Musik so angreifende Proportionen annimmt, so lebhaft auf unsern nervösen Organismus wirkt, daß nur eine geringe Zahl die erschütternden Eindrücke in sich aufnimmt. Wollte man aber selbst zugeben, daß das Phantastisch-Furchtbare dem Wesen der Instrumentalmusik wenig angeeignet ist, so bliebe immer noch zu sehen, in welchem Maaß es sich in den Werken von Berlioz verwebt findet, und ob man berechtigt ist der Gesammtheit seiner Schöpfungen einen Vorwurf zu machen, welcher jedenfalls nur auf einen sehr kleinen Theil seines ganzen Schaffens sich erstrecken dürfte. Es ist klar, daß das natürliche Streben des Berlioz’schen Genius ihn zum Grandiosen, Kolossalen, Giganti-
149 Siehe
Schumann 1835 „Aus dem Leben eines Künstlers“.
Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie
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schen, Immensen hinleitet. Sich, soweit es der Macht der Kunst gegeben ist, dem Unermeßlichen zu nähern durch die Dimensionen seiner Rahmen, ist ein Bedürfniß seines Geistes, ebenso gebieterisch als das, mit ausgesuchtester Feinheit, mit unendlicher Zartheit, mit einer bis in’s Kleinste gehenden Sorgfalt die geringsten Einzelnheiten seiner Tongebilde zu vollenden. Wahrlich, hätte er einen Tempel oder einen Palast zu bauen, so wäre er nicht eher zufrieden, als bis er Gebirge ausgehöhlt hätte, um darin unabsehbare Kirchenschiffe zu wölben, deren Kuppeln von schneebekränzten Gipfeln gebildet sein müßten, erhellt durch weite Portale gleich Golfen im Ocean des Lichtes, wie man sie im heiligen Indien sieht; er würde Bauwerke errichten, wie die der Semiramis,150 denen die Assyrische Flora den Schmuck ihrer hängenden Gärten verlieh – die Säulen Kapitel mit vielfarbigen Akanthen verzierend, ihren Mauern entlang Friese von lebendigen Arabesken ausbreitend, vor den Thoren ihre damascirten Lianendraperien mit goldenen und purpurnen Knospen wie geheimnisvolle Schleier aufhängend. Hätte er eine Statue aufzustellen, so wären seine Gedanken weit über die Verhältnisse derer von Phidias151 hinausgegangen; er würde aus dem Berg Athos eine menschlichen Gestalt geformt, und ihr in die Rechte an Stelle des Scepters eine Stadt, in die Linke die Quelle eines Flusses gegeben haben. In der Musik verlangt sein Ohr das Zusammenklingen und Brausen von tausend Stimmen, die ihm dünken wie der Gesang, wie der Seufzer, der Schrei oder das Schluchzen aus einer Titanen Brust, dessen Athem den Aetna erhebt, und dessen Wehklagen von Himmel zu Himmel wiederhallen und mit ihrem gewaltigen Echo selbst den Sitz des mysteriösen Olymp erschüt-[95]tern. Daraus folgt jedoch nicht, daß ein Geist, dessen Augenstrahl so weit geöffnet ist, eine künstlerische Monstruosität sei, und wir können keineswegs die Meinung gelten lassen, daß die Fähigkeit großartige Proportionen zu umfassen, ein Fehler sei in der Musik, während sie in allen andern Künsten als ein Vorzug gilt. Wenn die Aegypter ihre Größe bewiesen, indem sie die Grundrisse ihrer Tempel in meilengroßem Maaßstabe anlegten, wenn Erwin152 das Recht hatte die Thurmspitzen des Straßburger Münster gleich in die Lüfte ragenden Vorgebirgen aufzurichten, warum sollte der Musiker, welcher seiner Kunst solche Beispiele aufzustellen strebt, nur ein Thor sei[n], der das Unmögliche träumt? Weit entfernt zu leugnen, daß Berlioz in den meisten seiner Werke die ausgedehntesten Dimensionen im Auge gehabt, um die Pracht der großartigsten Fresken zu entfalten, rechnen wir es im Gegentheil zu einem seiner glänzendsten Ruhmestitel. Sein Requiem153 und sein Te Deum154 sind mit so grandiosen Mitteln angelegt, wie sie noch Keiner in Bewegung zu setzen, und in so schöner Symmetrie zuordnen vermochte. Diese Massen von Tönen sind die Felsblöcke, aus denen er seine Pyramiden aufthürmt. Obwohl durch äußere Umstände im Gebiete des Dramas auf die engen Grenzen einer jener zweiaktigen Opern beschränkt, welche man lever de
150 Von
antiken griechischen Historikern geprägter Name einer assyrischen Heldin oder Königin. Die Hängenden Gärten der Semiramis zählen zu den sieben Weltwundern der Antike. 151 Phidias (um 500/490 v. Chr. – um 430/420 v. Chr.), altgriechischer Bildhauer. Schuf u. a. die Zeusstatue in Olympia, die zu den sieben Weltwundern der Antike zählt. 152 Erwin von Steinbach (um 1244–1318), Steinmetz und Baumeister. Er soll 1277 den Bau des Straßburger Münsters begonnen haben. 153 Berlioz, Grande Messe des morts op. 5 (UA 1837). 154 Berlioz, Te Deum op. 22 (UA 1855).
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rideau155 nennt weil sie meistentheils als Vorspiel zu einem fünfaktigen Ballet gegeben werden, hat Berlioz dennoch ein ganzes Volk als Hauptperson auftreten lassen in einer dieser durchschlagenden Scenen voller Bewegung, Leidenschaft, Aufregung, voller Gegensätze zwischen Licht und Dunkel, zwischen heiterm Lachen und Sterbensröcheln, zwischen Ueppigkeit des Lebens und Schnelligkeit des Todes, zwischen Liebe und Mord, Zorn und Feigheit; eine Scene, in der die Menge zum erstenmal mit ihrer großen brüllenden und tosenden Stimme spricht, immer mächtiger sich vermengend und übertönend durch den Wahnsinn der Freude oder Wuth, der Trunkenheit von Blut oder Wein, den Taumel der Saturnalien oder Rache, so daß er in seinem Finale des ersten Akts des Benvenuto Cellini156 Alles überbot, was die dramatische Musik bis jetzt in großen ergreifenden Gemälden aufzuweisen hat. Dies Finale ist mit flammenden Noten geschrieben, und andere vorhandene OpernVolksscenen stehen verdunkelt daneben wie das spärliche Licht eines Dochtes durch den blendenden Glanz einer Fackel. In den dramatischen Symphonien Romeo und Faust sind das Fest bei Capulet157 und der Studenten- und Soldaten-Chor158 in gleicher Weise mit Combinationen von außergewöhnlichstem Maaß aufgebaut. Unter den Instrumentalwerken citiren wir die Orgie in Harold159, la Marche au supplice und den Sabbat in der Fantastique,160 die beiden Ouvertüren zum Cellini161, von denen eine allgemein unter dem Namen des Carnaval Romain162 bekannt ist, die zum König Lear163 und den Vehmrichtern164, welche nach Verhältniß ihrer verschiedenen Aufgaben, die besten Beweise darbieten, was für Wirkungen ein gigantisches Wollen und Können in unserer Kunst zu erreichen vermag. Es ist also ohne Zweifel, daß man in jeder Berlioz’schen Composition den hervorragenden Zug seines Genius findet, namentlich das Bedürfniß seine Bilder auszubreiten, seine Gestalten und Gegenstände so zu zeichnen, wie er sie durch das vergrößernde Prisma seiner Phantasie erblickt, um sie zu färben mit dem Reflex der Flammen seiner eigenen Empfindung, mit seiner hellleuchtenden Leidenschaft, welche immer auf dem Heerd seiner Cyklopenschmiede brennt und zwar oft in dem Wärmegrade, wo das Roth des Eisens wie vor Schrecken erblaßt und zur Weißglühhitze übergeht. Berlioz ist aber durchaus nicht einseitig in der Wahl seiner Sujets gewesen. Die zwei Partituren, welche sich wie zwei mit wunderbaren Sculpturen bedeckte Giebel eines Tempels über seine anderen Werke erheben, gehören zur Kirchenmusik, zwei andere schließen sich an Dramen von Shakespeare und Göthe in symphonischer Form, zu dieser Aushülfe vielleicht gezwungen durch die schreiende Ungerechtigkeit, welche ihm nach den Cellini den Weg der Bühne versperrte. Harold und die Fantastique sind als Dichtungen mit der Art und Weise Byron’s, Senancours165, Jean
Aufziehen des Vorhanges. 156 Berlioz, Benvenuto Cellini (UA 1838), 1. Akt „Lundi gras“, Nr. 4. Finale. 157 Berlioz, Roméo et Juliette op. 17, Nr. 2 „Roméo seul“, „Grande Fête chez Capulet“. 158 Berlioz, La Damnation de Faust (Fausts Verdammnis) op. 24 (UA 1846), Nr. 8 „Chœur de Soldats. Chanson d’Étudiants“. 159 Berlioz, Harold en Italie op. 16, 4. Satz. 160 Berlioz, Symphonie fantastique op. 14, 4. Satz „Marche au supplice“ und 5. Satz „Songe d’une nuit de sabbat“. 161 Berlioz, Grande Ouverture de Benvenuto Cellini op. 23. 162 Berlioz, Le Carnaval romain (Der römische Karneval) op. 9 (ED 1844). 163 Berlioz, Grande Ouverture du Roi Lear op. 4 (ED 1839). 164 Berlioz, Grande Ouverture des Francs-Juges op. 3 (ED 1836). 165 Étienne Pivert de Senancour (1770–1846), französischer Schriftsteller. 155 (Frz.)
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Paul’s verwandt. Es sind psychologische Gebilde, wie diese Dichter sie hätten schaffen können, jeder in der Eigenthümlichkeit seiner Ausdrucksweise. Bei dieser Mannigfaltigkeit des Schaffens darf man Berlioz nicht vorhalten, die Hülfsquellen seiner Erfindungsgabe für großartige Combinationen und Effecte mißbraucht und launisch auf Stoffe von schlechtem Geschmack verschwendet zu haben. Wir sagten es bereits: die kräftige Schilderung der Orgie im Harold ist von poetischen und philosophischen Gesichtspunkte aus vollkommen gerechtfertigt, und wenn es der Opiumtraum in der Fantastique166 beim ersten Anblick weniger zu sein scheint, so behalten wir es einer späteren Besprechung dieser Symphonie vor, darzuthun, daß diese Extravaganz der Phantasie doch eine Art von Berechtigung hat. – Und nachdem wir die Meisterwerke aufgezählt haben, welche auf die Nachwelt den verlängerten Schatten ihrer massiven Conturen werfen werden, den principiellen Vorwurf gegen ihre Extensivität zurückwiesen, möchten wir noch untersuchen, ob viele unter ihnen sind, deren schon bekannter Stoff eine gewaltige Ausdehnung der Formen nicht nur zuläßt, sondern selbst be-[96]dingt? Dabei, wie in allen Kunstwerken, handelt es sich wesentlich nur darum, die harmonische Proportion zu gewinnen und festzuhalten; und dieß hat Berlioz mit nicht wegzuläugnender Meisterschaft vollbracht. Kann wohl ein Requiem, ein Te Deum, eine Apothéose in zu gewaltigen Verhältnissen angelegt werden? Können wir uns etwas Erschütternderes denken[,] als den Anblick von Welten welche zusammenstürzen, von Todten die plötzlich erweckt sind, um durch den Gott der Gnade und Gerechtigkeit gerichtet zu werden? Sollten etwa die Myriaden der Geister und Wesen, welche in weitem, unendlichen Raum zerstreut in einem einzigen Hymnus den Schöpfer und Lenker des Weltalls anbeten, oder ein großes Volk, versammelt um seine Helden zu feiern, um ihr Blut mit seinen Thränen zu segnen, um ihren Tod durch Wiedererhebung zu weihen, nur eine einfache Quartett Begleitung erheischen? In wie fern können solche Bilder übertrieben erscheinen in Betracht ihres Vorwurfs und begegnen wir nicht in allen seinen Compositionen einer Menge von Stücken voll Lieblichkeit, Grazie, majestätischer Ruhe? Kann sich nicht der Chor der Seelen im Fegefeuer167 aus dem Requiem, in der zunehmenden Sanftheit des Eindrucks den er verbreitet, mit dem erhabenen Gesang Dante’s vergleichen, wo er auf einem strahlenden Meer, mit einem Engel als Pilot, zu dem Ort der Sühne schifft und die Stimmen der Hoffnung andächtig belauscht? Ist nicht das Tibi omnes angeli168 im Te Deum von jener warmen und tiefen Sammlung erfüllt, welche die ganze Natur ergreifen würde, so daß die Gestirne in ihrem Lauf stillstehen, die Wasser und Flammen unbeweglich werden vor Staunen, die Pflanzen erbeben und sich zur Erde beugen, die Vögel und wilden Thiere zugleich verstummen, die Menschen geblendet und erschüttert werden, die Seraphim in Entzückung niederknien, sollte der Höchste plötzlich die Glorie seines zugleich vernichtenden und belebenden Angesichts strahlen lassen? Welche Schilderung von Liebe, ihres Schmachtens und Sehnens, ihres verzehrenden Verlangens und ihrer
Programm zum 4. Satz der Symphonie fantastique heißt es: „Ayant acquis la certitude que son amour est méconnu, l’artiste s’empoisonne avec de l’opium.“ (In der Gewissheit, dass seine Liebe nicht erwidert wird, vergiftet sich der Künstler mit Opium). 167 Berlioz, Grande Messe des morts op. 5, Nr. 7 „Offertoire. Chœur des âmes du Purgatoire“. 168 Berlioz, Te Deum op. 22, Nr. 2. 166 Im
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holden Träume, ihres seligen Vergehens und ihrer zarten Segnungen, ihrer wonnevollen Leiden, und ihrer überströmenden Thränen, kann man vergleichen mit diesem Adagio, wo Romeo die Einsamkeit sucht, um dort Julia’s Bild zu umfassen.169 Welche Schilderung von keuschem Erblühen eines von Liebe ergriffenen Herzens, das gewiegt wird von jenen leise murmelnden Hauchen, welche die Höhen einer zauberischen Landschaft, ihre duftenden Blumen und ihr umhüllendes Laubwerk in sanften und zarten Wellen, gleich bräutlichen Küssen baden, finden wir nicht in der Scene aux champs170 aus der Fantastique? Giebt es unter den Wundern der Miniaturkunst etwas Graciöseres, Durchsichtigeres, Farbenschimmernderes, als das Fahrzeug der Fee Mab171, welches man aus Wolkenduft gewebt nennen möchte, worin Berlioz Shakesspeare den Rang abläuft und bis zur Stätte hinschwebt, wo Faust in Schlummer gewiegt ist von jenen luftigen Sylphen, die unter den Strahlen des Mondes entsprossen, aus den krystallenen Tropfen der Nacht gebildet, in unendlichem Spiral wirbeln. Dort entfalten diesen tönenden Atome in infinitesimalen Verhältnissen alle weiblichen Reize der Wellenlinie, der Gluth und Zurückhaltung, des verheißenden Blickes und der zierlichen Neckerei, des strahlenden Lächelns und der cadenzirten Schritte, der melodischen Gesänge, der honigsüßen Laute, und die unaussprechliche Magie der Bewegungen und Accente, welche purpurne, von Liebeswehn beklommene Tröpfchen mit Electricität belebt in unsere Sinne hineinträuft! Wie reich ist nicht Cellini an Musikstücken von der auserlesensten Feinheit, die man mit der künstlichsten Filigranarbeit, oder den gleich dem Schatten eines Schattens auf niellirtes Silber gehauchten Arabesken vergleichen möchte? Von welch’ pikanter und origineller Lebendigkeit ist nicht das meisterhafte Trio172 des ersten Aktes? Wie hoch komisch die Arie des feigen, prahlhansigen Fieramosca,173 und die Marionetten-Scenen,174 dies Meisterwerk von Lustigkeit, Ironie, Verve und Poesie, wie man sie ähnlich nur an einigen Stellen des großen Molière findet! Wenn der Catalog der Berlioz’schen Werke eine exclusive Vorliebe für die grelllodernden Farben der Orgie und des Hexenssabbaths erwies, wenn Gesänge wie die Captive von Hugo,175 der Fischer von Goethe,176 Profile wie die Gretchen’s und Julia’s nicht von seiner Hand so innig gezeichnet wären, so könnten wir vielleicht den Einwurf einigermaßen gerechtfertigt finden, welcher öfters der Wesenheit seiner Phantasie gemacht wird in den seinen Werken so häufig aufgebürdeten Argumenten. So aber erscheint es uns fast überflüssig, daran zu erinnern, daß jeder Künstler nothwendig unter dem Einfluß seiner Zeit steht, und daß Berlioz’s Jugend mitten in die Periode des romantischen Fiebers fällt, welches Frankreich aus der deutschen und englischen Literatur aufgenommen hatte, in dem es bald aus Byron,
Roméo et Juliette op. 17, Nr. 2 „Roméo seul“. 170 Berlioz, Symphonie fantastique op. 14, 3. Satz. 171 Berlioz, Roméo et Juliette op. 17, Nr. 4 „Scherzo. La reine Mab, ou la fée des songes“. 172 Berlioz, Benvenuto Cellini, 1. Akt, Nr. 3. 173 Ebd., 2. Akt, Nr. 7. 174 Ebd., 2. Akt, Nr. 8. 175 Berlioz, La Captive op. 12 (EZ 1831–1832). Der Liedtext basiert auf dem gleichnamigen Gedicht aus Victor Hugos Sammlung Les Orientales (ED 1829). 176 Berlioz, Lélio, ou le retour à la vie op. 14b (UA 1832), Nr. 1 „Le pêcheur“. Der Text ist Albert-Marie Du Boys’ französische Übersetzung von Goethes Der Fischer (ED 1779). 169 Berlioz,
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bald aus Hoffmann, bald aus Bürger, bald aus Me. Radcliff177 jene Scenen der Zerrissenheit und des Schauderns, jene verzweifelten und furchtbaren Charactere, jene Neigung für Gespenster und verlassene Schlösser, jene Schilderungen ausschweifender Leidenschaften, unversöhnlichen Hasses, diabolischer Liebe, reueloser Gewissensbisse, Flüche und Verwünschungen entlehnte. Wenn man erwägt, daß damals Alle mehr oder weniger von dieser epidemischen Krankheit ergriffen waren, so wird man sogar zugeben, daß Berlioz nicht zu denen gehörte, die ausschließlich und syste-[97]matisch diese Richtung verfolgten. Es wurde ihm nur schwerer als anderen Berühmtheiten, Gnade zu finden in den Augen der Kritik, weil die Instrumentalmusik nicht die Milderungen, Vorbereitungen, Zugaben und Ergänzungen besitzt, welche denselben Schwächen auf anderen Feldern der Kunst größere Schonung sichern, und es immer gewagt bleiben wird, extreme Situationen selbst Solchen zu schildern, die begierig sind den heftigsten Krampf der Leidenschaft, die äußerste Steigerung der Wollust vorgestellt zu sehen, ohne Anwendung einer conventionellen Perspective, ohne in allmäligen Wendungen den Geist in jene Spannung zu versetzen, in welcher er Eindrücke freudig aufnimmt, die im normalen Zustande ihn verletzend oder peinigend berührt hätten. Das Orchester ist von dem Zauber entblößt, der auf der Scene den größten Unwahrscheinlichkeiten einen Reiz verleiht, welcher selbst die besonnensten mit der Kette umwindet, die dann von Schauenden zu Schauenden den electrischen Schlag fortpflanzt; es theilt auch nicht den Vortheil des gelesenen Buches, welches seine Bilder langsam dem einsamen, ganz und ungestört der Lektüre hingegebenen Leser enthüllt, daß er sich in ihr Colorit einleben, es nach eigener Neigung mäßigen oder erhöhen kann, und so betrifft es sich in der aller unvortheilhaftesten Lage, wenn es die Stimmung anregen soll, welche die Phantasmagorien rasender Leidenschaften mit so mancherlei Begünstigungen anderswo hervorbringen können. Wie aber auch immer Berlioz’ Muse gestimmt sein möge, herb oder mild, verzweifelnd oder lächelnd, fromm oder phantastisch, überall, in der Kirche, im Theater, im Concert, sehen wir seinen Genius als eine der gewaltigsten Erscheinungen dieses Jahrhunderts vor uns treten, welcher wir Alle, die wir durch Stellung, Beruf, Wahl und Ueberzeugung der Kunst angehören, mit Achtung, mit Bewunderung unsere Huldigung darzubringen haben.
177 Ann
Radcliffe (1764–1823), englische Schriftstellerin. Sie war eine der populärsten Vertreterinnen der englischen Gothic Novel (Schauerroman).
Nr. 77 | 14., „Wagner’s Tannhäuser im Hoftheater in München“, in: Rheinische Musik-Zeitung 6 (1855), Nr. 37 (15. September), S. 289 – 292.
Wagner’s Tannhäuserim Hoftheater in München.I
„Nur Lumpe sind bescheiden“1, sprach Göthe im vollen Selbstgefühle seines eigenen Werthes, im vollen Bewusstsein seiner eigenen Grösse und Erhabenheit, seiner göttergleichen Schöne und Klarheit, seines vollkommen in und mit sich Abgeschlossenseins. Hätte Göthe geahnt, wie verderbenbringend, wie unheilvoll diese wenigen Worte werden würden, gewiss, er hätte sie unausgesprochen gelassen. „Nur Lumpe sind bescheiden“ wurde die Devise aller Jener, welche die Welt nicht auf ihren Schild heben und als von den Göttern Auserkorene preisen und verehren wollte; „Nur Lumpe sind bescheiden“ wurde die Devise aller Jener, die als verkannte Genies, als zu früh oder zu spät Geborne nach Anerkennung jagten: „Nur Lumpe sind bescheiden“ wurde die Devise aller Jener endlich, die kein Mittel scheuten, keinen Weg unversucht liessen, um wenigstens, Irrlichtern, aus den rechten Bahnen geschleuderten Kometen gleich, auf kurze Zeit die Aufmerksamkeit, das Staunen der Welt auf sich zu lenken, Streit und Wirren hervorzurufen über den Werth und Unwerth ihres Seins, kurz berühmt zu werden um jeden Preis, wenn auch nur auf die kürzeste Spanne Zeit. Und als den Bannerträger aller dieser im Gebiete der Tonkunst bezeichnen wir Richard Wagner. Wagner hat sich der Welt als Schriftsteller, Operndichter und Operncomponist vorgeführt. Wagner hat deutlich bewiesen, als Schriftsteller nämlich, dass Haydn, Mozart, Beethoven dadurch, dass ihnen der musikalische Ausdruck die Hauptsache, im grossen Irrthum waren; ihm, dem Reformator, dem Erfinder des „Drama der Zukunft“, ihm ist der Gegenstand die Hauptsache. Wagner beweist ferner, dass eben seinen Vorgängern jeder Gegenstand Musik, ja noch mehr, dass sie oft gar keinen bestimmten Gegenstand, sondern blos einen musikalischen Gedanken hatten, auf den sie ihre Kunstwerke bauten. Die Welt, die sie bewundert, die eben darin ihr Genie findet, ist natürlich auch im Irrthum. Man hatte noch nicht die „Universalkunst“ erfunden und war noch so weit zurück, die „Sonderkunst“ zu bewundern.2 Da erscheint er, Richard Wagner, von Haus
I Ohne
mit den hier ausgesprochenen Ansichten des verehrten Correspondenten einverstanden zu sein, öffnen wir, unserm Princip getreu, diesem Aufsatze die Spalten unserer Zeitung. (Die Red.)
Wolfgang von Goethe, Rechenschaft (ED 1810). 2 Den Begriff „Sonderkunst“ verwendete Wagner erstmals in „Das Judenthum in der Musik“ als Bezeichnung für Kunst, die keine 1 Johann
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aus ein musikalisches Genie, der höher steht, als Haydn, Mozart, Beethoven, erklärt alles, was vor ihm für „überwundenen Standpunkt“3 und dass in der Tonkunst nicht die Musik, sondern der Gegenstand der Musik die Hauptsache sei. Nicht zu läugnen ist es, dass Wagner seine Gedanken, seine Axiome mit einer Entschiedenheit und Bestimmtheit entfaltet, und eben dadurch viele Anhänger gewinnt. – Behauptet nur etwas ganz bestimmt und entschieden, und wäre es das Tollste, wenige werden daran zu zweifeln wagen. – Ueberdies duldet Wagner keine Einrede. Wer nicht unbedingt an sein Wort glaubt, oder gar sich einen Einwurf erlaubt, ist in seinen Augen ein Schwachkopf, ja sein Feind. Er selbst aber drückt sich oft über Andere mit so zarten und liebreichen Worten aus, dass wir nicht unterlassen können, eine kleine Stylprobe einzuschalten. „Was Mendelssohn und Meyerbeer künstlerisch kund geben wollen, kann nur das Gleichgiltige und Triviale sein. Sie können den frühern Meistern nur sinnlos nachreden und zwar ganz peinlich genau und lächerlich ähnlich, wie Papageien menschliche Worten und Reden nachpapeln. Nur ist bei der nachäffenden Sprache dieser jüdischen Musikmacher eine besondere Eigenthümlichkeit bemerkbar, die der jüdischen Sprachund Singweise. Den jüdischen Musikern bietet sich als einziger musikalischer Ausdruck ihres Volkes nur die musikalische Feier ihres Jehovadienstes dar, ihr einziger Quell, aus dem sie ihre, ihnen verständliche volksthümliche Motive für ihre Kunst schöpfen, ist die Synagoge. So [290] dass uns jüdische Musikwerke oft den Eindruck machen, als wenn z. B. ein Göthe’sches Gedicht im jüdischen Jargon vorgelesen würde.“4 Was bleibt uns da zu sagen übrig? Nichts als den Mann zu bedauern, der mit Blindheit geschlagen alles hasst und verachtet und doch von seinen Zeitgenossen geehrt, bewundert sein will, der es grade bei den besten Stellen seiner Opern nicht unterlassen kann diesen „jüdischen Musikmachern nachzupapeln“ der die Abstammung und Verwandtschaft der Schönheiten Tannhäusers von und mit Mendelssohn’s, Meyerbeer’s, Spontini’s, Weber’s, Beethoven’s Klängen nicht verläugnen kann und dadurch sich selbst, den Reformator der alten Oper, Lügen strafend beweist, dass er von seinen Vorgängern die nach seinem eignen Urtheil von Irrthum umnachtet waren, besser denkt, als er sich selbst und uns einreden will. Um den vielseitig vorherrschenden Irrthum zu heben, als wären Wagner’s Opern später als seine Schriften erschienen und dessen Tonwerke ein Ergebniss seiner Zukunftslehre,5 erlauben wir uns folgenden kurzen Abriss aus Wagner’s Leben zu geben.
Verbindung zu den anderen Künsten aufweist, im Fall der Musik somit im Sinn von „absoluter Musik“ (Wagner 1850 Das Judenthum, S. 105 und S. 111). Vgl. auch Wagner 1852 Ein Brief an den Redacteur, S. 61, in: NdS 1 Nr. 29, S. 297. Damit steht der Begriff der von Wagner angestrebten Vereinigung aller Künste, die im vorliegenden Artikel als „Universalkunst“ bezeichnet wird, diametral gegenüber. 3 Schlagwort, das vornehmlich in den Schriften Brendels zur Beschreibung von Positionen oder Kunstwerken verwendet wird und dessen Bedeutung darin bestehe, „daß ein solcher Standpunkt nicht mehr der herrschende, in dem die Gegenwart ihren höchsten Ausdruck findet, genannt werden kann. Seine Berechtigung, seine ewige Geltung als Stufe der Entwicklung oder als einstiger Höhepunkt derselben wird ihm damit nicht entzogen“ (Brendel 1848 Fragen der Zeit III, S. 10, in: NdS 1 Nr. 14, S. 171). 4 Wagner 1850 Das Judenthum, in: Fischer 2000 Richard Wagners Das Judentum, S. 156. 5 Diese irrtümliche Ansicht, welche durch die vielerorts späten Erstaufführungen von Wagners Opern provoziert wurde, wie etwa in Berlin, wo der Tannhäuser
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Wagner, im Jahre 1813 in Leipzig geboren, war zuerst Capellmeister in Magdeburg, dann in Riga.6 Von da, wo er seinen „Rienzi“ begann, reiste er über London nach Paris, wo er 1841 den „Rienzi“ und „den fliegenden Holländer“ vollendete. Im Jahre 1843 führte er seinen „Rienzi“ in Dresden auf und wurde dort Capellmeister. Tannhäuser erschien 1845. Beide Opern hatten eben keinen größeren Erfolg als so viele andere Capellmeisteropern – einen succès d’éstime7. Man fand in Rienzi viel Talent, hübsche, wenn auch nicht originelle Melodien, aber auch allzugetreues Copiren Meyerbeer’s, reiche aber übermässig lärmende Instrumentation, Berechtigung zu schönen, ja zu den schönsten Hoffnungen u. s. w. Bei Tannhäuser tadelte man die Sucht nach Neuerungen, die auf die Spitze gestellte Instrumentierung, die bizzare und unschöne Verwendung Mendelssohn’s und Berlioz’s reizender Violinfiguren (Berlioz’s „Romeo und Julie“8, Mendelssohn’s Sommernachtstraum9) fast gänzlichen Melodienmangel; doch fand man auch manche Schönheiten und kannte sie freudig und würdig an, warnte aber vor der leidigen Sucht des mit Gewalt originell Seinwollens, vor Irrbahnen und Wegen auf welchen schon so viele und schöne Talente zu Grunde gegangen waren. Das war Alles. Das Publikum, die Welt war ruhig wie zuvor, wie bei so vielen Opern von bewährten Meistern, doch konnte das einem Richard Wagner, den Ehrgeiz und Ruhmsucht erfüllten, genügen? Nein! Was daher thun? Was unternehmen? Wie der, dem es an Vermögen fehlt und je eins zu besitzen resignirt hat, sich fortwährend wundert, wie Andere bald dies bald das benöthigen und, für in seinen Augen Ueberflüssiges, Geld hinauswerfen, ewig wiederholt: Ich brauche dies und das gar nicht – wie der, der nie einen witzigen Gedanken in seinem Kopfe hat, nimmer begreift, dass man über einen Witz lachen kann und sich darüber ereifert und ärgert – ebenso ärgert sich Wagner über die sowohl, welche die Muse mit schaffender Phantasie begabt, welchen sie einen reichen Schatz von Melodien mitgegeben, als über die Welt, welche die von der Muse Bevorzugten bewundert, verehrt und sich an dem Wohlklang ihrer Töne, ihrer Melodien ergötzt, sich ihres begeisterten Schaffens labt und erfreut, wie er in „Tannhäuser“ begonnen, in „Lohengrin“ im höheren Masse ausgeführt hat, und wie er in seinem neuesten Drama der Zukunft „der Nibelungenhort“, das an drei Abenden hintereinander aufgeführt werden soll,10 gewiss tüchtig drauf losgearbeitet haben wird, er beschloss die Phantasie durch reflectirenden Verstand zu ersetzen und die Melodie, die sogenannte populäre Melodie, die absolute Musik, nicht mehr zu schaffen, denn er hält sie der Zukunft nicht
am 7. Januar 1856 oder in Wien, wo das Werk erst am 28. August 1857 zur Aufführung gelangte, findet sich in zahlreichen Artikeln dieser Jahre wieder (siehe Schaeffer 1852 Über Richard Wagner’s Lohengrin, in: NdS 1 Nr. 31 sowie Anonym 1858 Die Oper VI, in: NdS 3 Nr. 114). 6 Wagners Engagement als Musikdirektor in Magdeburg datiert vom 10. Oktober 1835 bis zum 19. Mai 1836. Die Anstellung als Kapellmeister in Riga währte vom 21. August 1837 bis Ende März 1839. 7 (Frz.) Kritikererfolg. 8 Hector Berlioz, Roméo et Juliette op. 17 (EA 1839). 9 Felix Mendelssohn Bartholdy, Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum E-Dur op. 21 (EZ 1826, ED 1832). 10 Bereits in Drei Operndichtungen nebst einer Mittheilung an meine Freunde (ED 1852) hatte Wagner den Plan zur Tetralogie des Ring des Nibelungen (UA 1876) und seine Idee einer Aufführung des Werks an mehreren aufeinanderfolgenden Abenden dargelegt.
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würdig. Auch begann er nach und nach seine Schriften in die Welt zu schleudern, von denen sein „Kunstwerk der Zukunft“ betiteltes Buch erst 1850 nach Aufführung seines „Lohengrin“ in Weimar11 seine Schrift „Oper und Drama“ erst 1852 erschien. Die Neugierde des Publikums wurde erregt, die Aufmerksamkeit gespannt. Man legte den Schriften von Anfang her viel zu viel Bedeutung bei, es fanden sich Männer, die, weil sie vielleicht eben an Opposition Gefallen finden, Wagner’s ausgesprochene Ideen mit Feuer ergriffen, zu den ihrigen machten, für sie auftraten und dieselben vertheidigten.12 Journale fingen nun auch an zu rumoren.13 Parteien bildeten sich, bekämpften sich gegenseitig durch Wort und Schrift und durch all’ dies erhielten seine Opern, seine Schriften eine relative Bedeutung und Wirkung und üben jetzt auf das Publikum eine wenn auch kurze, doch immerhin gewisse Anziehungskraft, die sie ohne den vielen Lärm (um Nichts?) nie erreicht hätten. Wir können in Wagner den Operndichter, den Reformator auch nicht erkennen; denn er hat weder das Drama zu seiner edlen Einfalt zurückgeführt, noch hat er den Theater-Spectakel daraus verbannt. Im Gegentheil [291] entfaltet er in seinen Opern eine sinnlose Augenweide, einen Pomp der Aufzüge und Dekorationen, wie wir sie kaum irgendwo wiederfinden. – Ueberhaupt lassen sich Wagner wie seine Anhänger allenthalben grosser Widersprüche zeihen. Wagner will seine Musik nur für die Bühne berechnet haben und eifert gegen jede Aufführung einzelner Stücke daraus, während er selbst später Bruchstücke aus seinen Opern in Concerten aufführt.14 Wagner beschuldigt Meyerbeer, Halevy, kurz alle neuern Tonmeister, dass sie bei Benutzung des Orchesters und der Singstimmen blos auf äusseren Effect hinarbeiten und den Situationen oft ganz entgegen übermässigen Lärm erregen,15 und er selbst (man könnte da herrlich das Sprichwort „Ziehe den Balken aus deinem Auge[“]16 etc. anwenden) verstärkt das Orchester massenhaft[,] zwingt es zu entsetzlichen Kraftanstrengungen, erstickt die Singstimmen, dass um solch einen unharmonischen Spectakel auszuhalten, unsere armen Gegenwartsohren nicht mehr genügen, sondern Ohren oder wenigstens Hörwerkzeuge der Zukunft sich als unabweisbares Bedürfniss dringend fühlbar machen. Wagner und seine Anhänger sagen: „Wort und Ton sei in seiner
Lohengrin wurde am 28. August 1850 unter Liszts Leitung in Weimar uraufgeführt. vor allem Uhlig 1850 Drei Tage in Weimar, in: NdS 1 Nr. 21; Uhlig 1850 Wagner’s Schriften; Brendel 1851 Zur Beurtheilung der Schriften. Zur Parteinahme insbesondere der NZfM für die Schriften und Werke Wagners vgl. Vaszonyi 2012 Richard Wagner, S. 119 –133. 13 So proklamierte Brendel in seinem Neujahrsartikel 1852 eine „entschiedenere Parteinahme“ für die Werke Wagners (Brendel 1852 Zum neuen Jahr, S. 2, in: NdS 1 Nr. 27, S. 278). 14 Die Praxis, Ausschnitte aus Wagners Bühnenwerken konzertant aufzuführen, diente zu dieser Zeit vielerorts in Ermangelung einer vollständigen szenischen Aufführungsmöglichkeit der Werke als einzige Möglichkeit, das Publikum mit der Musik Wagners bekannt zu machen. Wagner selbst nutzte dieses seinen eigenen künstlerischen Postulaten widersprechende Vorgehen etwa in Wien oder Paris, um im Vorfeld der dort geplanten Aufführungen seiner Opern um Unterstützung zu werben. Vgl. hierzu Kolland 1995 Die kontroverse Rezeption von Wagners Nibelungen-Ring. 15 Vgl. die berühmte Aussage Wagners, das „Geheimniß der Meyerbeer’schen Opernmusik“ liege in dem „Effekt“, welcher wiederum als „Wirkung ohne Ursache“ definiert wird (Wagner 1852 Oper und Drama, 3. Teil, VI, in: Kropfinger 2008 Richard Wagners Oper und Drama, S. 101). 16 In Anlehnung an das Neue Testament, wo es heißt: „Warum siehst du jeden kleinen Splitter im Auge deines Mitmenschen, aber den Balken in deinem eigenen Auge bemerkst du nicht?“ (Mat 7, 3 – 5). 11 Wagners 12 Siehe
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Musik so innig mit einander verbunden, dass die Trennung beider Elemente gar nicht möglich sei, ohne sie zu zerstören. Eines ohne das Andere sei nichts. Beide verbunden das Höchste, was Poesie und Musik zusammen leisten könnten;“ und eben Wagner und seine Anhänger sind es, die seine Operntexte für sich drucken lassen17 und der Welt als Lectüre empfehlen und anpreisen. Wir wollen nur noch hinzufügen, dass das Meiste, was Wagner mit grossem Wortschwall zu Tage fördert und als neue Idee ausposaunt, schon lange da gewesen, was alle jene, die in der Kunstwissenschaft sich ein wenig umgesehen haben, uns gerne bestätigen werden, dass Wagner selbst seinem aufgestellten System in der Praxis gar oft untreu wird, dass Wagner kein musikalisches Genie ist, weil er seinem eigenen Grundsatz, dass die Melodie der Ausdruck des Empfundenen sein soll, nicht gewachsen ist, weil ihm die schöpferische Kraft fehlt, seiner Lehre Beweis durch musikalische That zu geben und dass endlich Wagner, so lange er die Musik bei seinen Opern oder musikalischen Dramen nur als Mittel zum dramatischen Ausdruck gebraucht oder gebrauchen will, er nur musikalische Undinge schaffen kann, die weder die Gegenwart noch die Zukunft bewundernd anerkennen, sondern höchstens als Verirrungen, als Ausgeburten des menschlichen Geistes, als Wechselbälge einer krankhaften Phantasie anstaunen und dann von sich stossen wird. – Nun zum Tannhäuser. Die Ouverture, aus Musikgedanken zusammengesetzt, die in der Oper oft wieder kehren, ist nach Wagners eigenem Ausspruche nichts;18 denn da seine Musik von dem Wort getrennt für sich nichts ist, so ist auch die Tannhäuser-Ouverture wie sie geschrieben, ein nonsens. – Doch wir sind weit entfernt, jetzt Nummer für Nummer, Stück für Stück kritisch zu zerlegen, nein wir wollen nur, nachdem wir unser Glaubensbekenntniss, unsere Meinung und Ansicht über Wagner’s Grundsätze und Befähigungen, erstere durchzuführen, vorausgeschickt haben, die Lichtseiten, die Schönheiten der Oper anführen und dann die Exequirung dieses höchst schwierigen Werkes besprechen. Im ersten Akte finden wir Tannhäuser’s Lied zur Frau Venus19 und den Choral der Pilger20, den wir in j[e]dem Akte wiederfinden. – Der zweite Akt bringt uns das grosse Duett zwischen Elisabeth und Tannhäuser21 voll schöner, melodischer Perioden, ein schön gearbeitetes Musikstück. Von neuer Form ist dabei aber auch nicht die kleinste Spur. Im Gegentheil, die Melodien, Führung und Charakter erinnern an die alten und neueren Meister. Dass in dem folgenden Recitativ und Arioso des Landgrafen Hermann22 der „jüdische Musikmacher Mendelssohn“23 fast wörtlich
erschien etwa der Text des Ring des Nibelungen bereits Mitte Februar 1852 in einem Privatdruck für Freunde und Bekannte mit einer Auflage von 50 Exemplaren. 18 Vgl. etwa Wagner 1852 Oper und Drama, 3. Teil, VI, in: Kropfinger 2008 Richard Wagners Oper und Drama, S. 354. „[J]eder Verständige weiß, daß diese Tonstücke [die Opernouvertüren] – sobald in ihnen überhaupt etwas zu verstehen war – anstatt vor dem Drama, nach demselben vorgetragen werden müßten, um verstanden zu werden. Die Eitelkeit verführte den Musiker, in der Ouvertüre – und zwar im glücklichsten Falle – die Ahnung schon mit absolut musikalischer Gewißheit über den Gang des Dramas erfüllen zu wollen.“ 19 Wagner, Tannhäuser, 1. Aufzug, 2. Szene. 20 Wagner, Tannhäuser, 1. Aufzug, 3. Szene. 21 Wagner, Tannhäuser, 2. Aufzug, 2. Szene. 22 Wagner, Tannhäuser, 2. Aufzug, 3. Szene. 23 Anspielung auf Wagners Das Judenthum in der Musik (ED 1850), in welchem vor allem 17 So
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oder besser notlich, sowie der „überwundene“ Mozart als Sarastro erscheinen, wollen wir übergehen und uns zum Sängerkrieg, der eigentlichen Handlung des Drama’s wenden. Die prachtvolle Einleitung dieser Scene,24 sowie das Finale sind von wahrhafter Schönheit und freudig erkennen wir es an. Auch hier findet sich nichts Neues, als höchstens dann und wann Uebertreibung dessen, in was Wagner’s Vorgänger so schön Maass und Ziel zu halten wussten. Doch noch einmal müssen wir es wiederholen: das Finale des zweiten Aktes ist das werthvollste Stück der ganzen Oper, voll wahren und schönen Effects. – Der dritte Akt bringt uns eine liebliche Melodie, Wolfram’s Lied an den Abendstern.25 Man mag nun sagen, was man will, so behaupten wir doch fest: Wagner sucht wirklich Melodie; doch versagt ist ihm die schöpferische Kraft der musikalischen Erfindung und kömmt Melodie bei ihm zu Tage, so kann sie weder auf Neuheit noch Originalität Anspruch machen. Was nun die Aufführung betrifft (wir konnten erst der dritten am 19. August26 beiwohnen und sprechen daher von dieser) wollen wir bei Frau Venus – Frln. Schwarzbach27 – beginnen und bemerken, dass bedeutender Mangel an Energie und Feuer sowie lebendiger Gestaltung (Duett im ersten Akt) sich fühlbar machte, [292] übrigens die Partie befriedigend durchgeführt wurde. Frau Dietz28 – Elisabeth – überraschte uns, obwohl wir immer nur Gelungenes von dieser Künstlerin erwarten, durch ihre Auffassung, Spiel und Gesang, durch die abgerundete, vollendete Ausführung ihrer so schwierigen Partie im hohen Maasse, so dass wir nicht viele Worte des Lobes machen, sondern kurz sagen wollen: die Leistung der Frau Dietz als Elisabeth war ausgezeichnet. Hr. Auerbach29 – Tannhäuser – sang seine, das Organ wie das Publicum gleich ermüdende Partie (Wagner’s Heldencharaktere sind schwach[,] oft psychologisch fehlerhaft und erwecken selten das Interesse des Publikums) mit Kraft und Ausdauer. Hr. Kindermann30 – Wolfram von Eschinbach [sic] – das würdige Seitenstück zu Frau Dietz, war in Spiel und Gesang gleich vollendet. Warum nicht immer diese weise Mässigung des Organs? dieses ruhige, würdevolle Spiel, diese von jeder Affectation und läppischer Geziehrtheit freie Haltung? Der Vortrag der Strophe im Sängerkrieg voll Kraft und begeisternder Weihe, des Abendlieds mit seiner Weichheit und wehmuthvoller Trauer war besonders schön. Zugleich hat Hr. Kindermann sich als tüchtiger umsichtiger Regisseur bewährt. Bei Hrn. Kremenz31 –
Meyerbeer und Mendelssohn Bartholdy als „jüdische Musikmacher“ bezeichnet werden (Wagner 1850 Das Judenthum, in: Fischer 2000 Richard Wagners Das Judentum, S. 51 und 156). 24 Wagner, Tannhäuser, 2. Aufzug, 4. Szene. 25 Wagner, Tannhäuser, 3. Aufzug, 2. Szene. 26 Die Erstaufführung des Werkes hatte bereits am 12. August 1855 stattgefunden. 27 Ida Franziska Schwarzbach (1825 –1880), deutsche Sängerin (Sopran). 28 Sophie Dietz (1820 –1887, geb. Hartmann), deutsche Sängerin (Sopran), war zunächst Mitglied des Hofopernchores in München, bevor sie, von Franz Lachner entdeckt, ab 1837 bis 1877 als Ensemblemitglied u. a. an den Münchner Erstaufführungen von Meyerbeers Les Huguenots im Jahre 1838 oder Lortzings Zar und Zimmermann im Jahre 1841 mitwirkte. 29 Adolf Auerbach (1826 –1896), deutscher Sänger (Tenor), der bereits 1855 dieselbe Partie in Frankfurt a. M. gesungen hatte, wechselte nach der Spielzeit 1855/1856 an die Wiener Hofoper. 30 August Kindermann (1817 –1891), deutscher Sänger (Bass), wirkte von 1846 bis 1887 als Ensemblemitglied des Münchner Hoftheaters. 31 Philipp Kremenz (1821– ca. 1861), deutscher Sänger (Bass), der von 1853 bis 1856 in München wirkte.
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Biterolf – hätten wir ein wenig mehr Aussichherausgehen, mehr Feuer beim Sängerkrieg gewünscht. Hier wäre etwas Loslegen an seinem Platze gewesen. Nicht minder bei Hrn. Hoppe32 – Walther von der Vogelweide – der mit herabhängenden, verschlungenen Händen dasteht, während alle wuthentbrannt auf Tannhäuser losstürzen. War auch nach Wagner Walther von der Vogelweide ein sentimentaler, für „Gaumenlabendes“ begeisterter Ritter, so hatte er doch gewiss, wo es galt, die Faust am Schwertknopf. Herr Allfeld33 – Landgraf Hermann – verdarb wenigstens nichts. – Vom Orchester unter der Leitung des Hrn. Generalmusikdirektors Franz Lachner34 können wir nicht genug Rühmendes sagen. Möge es sich zufriedenstellen, wenn wir dessen Leistung als trefflich bezeichnen. Das choreographische Arrangement entsprach vollkommen der schöpferischen Phantasie des Frln. Lucile Grahn35. Dekorationen von den k. Hoftheatermalern Döll36 und Quaglio37[,] Costüme, Waffen, Geräthe ganz neu angefertigt nach Angabe und unter der Leitung des phantasiereichen Künstlers Hr. Fr. Seitz38, sowie scenische Einrichtung vom k. Hoftheatermaschinisten Hrn. Schütz39, sind prachtvoll und vollkommen eines Hoftheater würdig. Der Beifall, den das Publikum eben nicht verschwenderisch spendete, galt offenbar den trefflichen Leistungen der Sänger, der herrlichen Ausstattung. Die Musik selbst liess kalt und wirkte abspannend und ermüdend.
32 Eduard
Hoppe (1808 –1893), deutscher Sänger (Tenor), sang als Ensemblemitglied am Münchner Hoftheater in den Jahren 1837 bis 1879. 33 Johann Baptist Allfeld (1818 – ca. 1859), deutscher Sänger (Bass), wirkte von 1846 bis 1855 an der Münchner Hofoper. 34 Franz Lachner (1803 –1890), deutscher Dirigent und Komponist, der nach Stationen in Wien und Mannheim von 1836 bis zu seinem Ruhestand 1868 zunächst u. a. als Hofkapellmeister, ab 1852 dann als Generalmusikdirektor wirkte. 35 Lucile Grahn (eigentlich Lucina Alexia Grahn, 1819 –1907), dänische Ballerina und Choreographin, welche nach zahlreichen Gastspielen u. a. in Paris, Mailand, London und Hamburg nach dem Rückzug von der Bühne ab 1854 zunächst in München als Ballettmeisterin wirkte, bevor sie von 1858 bis 1861 in Leipzig in selber Funktion am dortigen Stadttheater tätig war. 1869 bis 1875 kehrte sie an das Hoftheater in München zurück und entwarf dort u. a. die Choreographie zum Tannhäuser-Bacchanal. 36 Heinrich Döll war seit 1854 am Hoftheater München als Theatermaler beschäftigt und insbesondere für seine Landschaftsdarstellungen berühmt. 37 Simon Quaglio (1795 –1878), deutscher Maler und Grafiker, der von 1814 bis zu seinem Tod am Hoftheater in München als Bühnenmaler und Bühnenbildner tätig war. Quaglio betreute zusammen mit seinem Sohn Angelo Quaglio auch die Dekorationen des 1858 in München erstaufgeführten Lohengrin. Zusammen mit Döll waren die Quaglios maßgeblich für die Bühnenmalereien der sogenannten „Musteraufführungen“ Wagner’scher Opern zuständig, welche von 1864 bis 1867 unter großzügiger Finanzierung durch Ludwig II. am Münchner Hoftheater stattfanden. Vgl. hierzu Kurth/Rückert/Nägele 2013 Richard Wagner. Die Münchner Zeit sowie Borchmeyer 2012 „Barrikadenmann und Zukunftsmusikus“, S. 22 – 33. 38 Franz Seitz (1817 –1883), deutscher Maler, Zeichner und Litograph, studierte zunächst an der Münchner Kunstakademie. Seitz war seit 1855 als Kostümier am dortigen Hoftheater tätig, bevor er 1869 zum technischen Direktor des Hauses ernannt wurde. Er schuf u. a. die Kostüme zur Uraufführung der Meistersinger von Nürnberg (1868). 39 Ferdinand Schütz (Lebensdaten unbekannt).
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Schliesslich halten wir es für unsere Pflicht des Hoftheater-Intendanten Hrn. Dr. Franz Dingelstedt40 dankend zu erwähnen, indem er München die Gelegenheit gab, endlich eine Oper Wagner’s zu hören und die reichen Mittel bot, diese Oper auf wirklich in jeder Beziehung vollendete Weise zu insceniren und vorzuführen. 14.
Kommentar Am 12. August 1855 erlebte das Münchner Hoftheater die erste Aufführung des Tannhäuser. Drei Jahre zuvor, am 1. November 1852, war es unter der Leitung Franz Lachners in der bayerischen Residenz bereits zur Aufführung der Ouvertüre gekommen – als erstes Werk Wagners in München überhaupt. Trotz des damaligen Misserfolgs des Werkes bei Publikum und Presse datieren aus dieser Zeit die Versuche des dortigen Intendanten Franz von Dingelstedt, das ganze Werk auf die Bühne zu bringen. Bei diesem Ansinnen sah sich Dingelstedt aber nicht nur mit ästhetischen, sondern vor allem politischen Ressentiments konfrontiert: Neben der dem „Barrikadenmann“ Wagner gegenüber ablehnenden Münchner Tagespresse41 war es nicht zuletzt die Sorge um die engen bayerisch-sächsischen Beziehungen, die die Erlaubnis einer Aufführung am Hoftheater zunächst unmöglich machte. Nachdem jedoch der Wagner aufgeschlossen gegenüberstehende Maximilian II. seine ausdrückliche Zustimmung gegeben hatte, stand dem Plan im Jahre 1855 nichts mehr im Weg. Wie aus dem vorliegenden Bericht hervorgeht, wurde das Werk in München positiv aufgenommen. Dies deckt sich auch mit einem späteren Bericht Dingelstedts, der insgesamt von neun Aufführungen bis Ende 1855, davon acht mit erhöhten Preisen, berichtet, was für die Stadt „ein außerordentliche[r] Erfolg“42 gewesen sei. Während der Zuspruch des Publikums vonseiten der NZfM als Bestätigung für die „anderwärts gemachte Erfahrung“ in Anspruch genommen wurde, „daß die von den ‚Musikern‘ als ‚Laien‘ bezeichneten es sind, denen die große Wahrheit und innere Berechtigung der Wagner’schen Principien zuerst zugänglich werden, und daß gerade sie so glücklich sind die unendlichen Schönheiten dieser Musik zu verstehen, während die Orthodoxen sich verdrossen in den dunkeln Wald ihrer Erinnerungen zurückziehen, um im Jahre des Heils 1855 – auf Reminiscenzen zu pirschen, oder, in den Zauberkreis vorsündfluthlicher Aesthetik gebannt, diesen wahrhaften
40 Franz von Dingelstedt (1814 –1881), deutscher Dichter, Journalist und Theaterintendant, war von 1851 bis 1857 Intendant am Münchner Hoftheater, bevor er auf Einladung Liszts in selber Funktion nach Weimar wechselte. 41 Vgl. Röckl 1913 Ludwig II. und Richard Wagner, S. 3 sowie Borchmeyer 2012 „Barrikadenmann und Zukunftsmusikus“, S. 10 f. 42 Dingelstedt 1879 Münchener Bilderbogen, S. 149.
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Circulus vitiosus dreißigmal in einer Viertelstunde durchrennen“43, hatte der anonyme Verfasser in der Rheinischen Musik-Zeitung andere Gründe für den Erfolg ausgemacht. Abgesehen von der von ihm ausführlich beschriebenen, prächtigen Ausstattung der Aufführung,44 sei es vor allem die durch die Schriften Wagners sowie der Publizistik seiner Anhänger entfachte Sensationslust des Publikums gewesen, die so vieldiskutierten Werke des gesuchten Landesverräters nun endlich selbst auf der Bühne zu erleben, was den regen Zuspruch erkläre. Gestützt wird diese Aussage auch durch den Bericht Dingelstedts, der indirekt zugibt, dass es für ihn keineswegs ausschließlich künstlerische als vielmehr finanzielle Beweggründe waren, das Werk in den Spielplan zu nehmen, da er davon ausgehen konnte, der zu erwartende mediale Aufschrei in den Münchner Zeitungen sorge für die nötige Aufmerksamkeit und Neugier, wenn er 1879 rückblickend schrieb: Die „Oper, bisher in München nicht gegeben, versprach ein Cassenstück ersten Ranges zu werden“45. Der Abdruck des Münchner Berichts in der Wagner ablehnend gegenüberstehenden Rheinischen Musik-Zeitung belegt darüber hinaus, wie Dingelstedt zusätzlich durch diesen Coup mit überregionaler Aufmerksamkeit für sein Wirken rechnen durfte. Insgesamt verdeutlicht der hier wiedergegebene Bericht somit, dass – bei aller polemischer Absicht des anonymen Autors, die schriftstellerische Tätigkeit Wagners und seiner Anhänger diene lediglich als Kompensation fehlender schöpferischer Fähigkeit des Komponisten zu erklären – bereits zu damaliger Zeit die Bedeutung der publizistischen Auseinandersetzungen rund um den Komponisten für die Verbreitung seiner Werke erkannt und benannt wurde. So dürfte die intensive mediale Berichterstattung, die nach 1849 nicht nur in den Musikzeitschriften, sondern auch Tageszeitungen jede Inszenierung einer WagnerOper begleitete, sowie die eigene publizistische Selbstinszenierung des im Exil lebenden Komponisten tatsächlich zu einem wesentlichen Teil für das hohe Maß an öffentlicher Aufmerksamkeit, die dessen Opern entgegengebracht wurde, verantwortlich gewesen sein und so – ungeachtet der Qualität der jeweiligen Werke – zur Etablierung und Verbreitung der ‚Marke Wagner‘46 bei.
1855 Münchner Briefe. II., S. 104. 44 Dass diese Art der Inszenierung bereits lange vor den späteren Aufführungen der 1860er als „Mustervorstellung“ aufgefasst wurde, belegt ein Zitat aus einem Bericht im Münchener Punsch vom 19. August 1855 (Anonym 1855 Kgl. Hof- und National-Theater, S. 261). Dennoch entsprach die Inszenierung keinesfalls exakt Wagners eigenen Vorstellungen. So hatte der Komponist für die Tannhäuser-Aufführungen eine Broschüre mit genauen Angaben für die musikalische und szenische Umsetzung des Werks verfasst. Jahre später, so heißt es in seiner Autobiographie, habe er „sämtliche dereinst dem Münchener Hoftheater übersandten Exemplare gänzlich unberührt im Archive desselben verwahrt“ gefunden, in: Wagner-Leben, S. 579. 45 Dingelstedt 1879 Münchener Bilderbogen, S. 149. 46 Vgl. hierzu Vaszonyi 2012 Richard Wagner. 43 Anonym
Nr. 78 | R. K., „Zeitgemäße Betrachtungen“, in: NZfM 22 (1855), Bd. 43, Nr. 17 (19. Oktober), S. 182 –184.
Zeitgemäße Betrachtungen.
I. Unsere Partei. Man nennt unsere Partei die der „Neuromantiker“1. Ist diese Benennung richtig? Ist Wagner ein Romantiker, weil sein Tannhäuser „romantische Oper“ betitelt ist? Hat Schiller seine Jungfrau von Orleans nicht auch „romantische Tragödie“ überschrieben und ist sie darum weniger klassisch? Ist Schiller darum Romantiker? War er es, der Göthe tadeln wollte, als er das Klassische für das Gesunde und das Romantische für das Kranke erklärte?2 – Unter Romantikern verstand man zu ihrer Zeit die Anhänger einer Restauration mittelalterlicher Dichtungsweise. Sind wir nun, die wir jetzt Neuromantiker genannt werden,3 Anhänger einer Restauration früherer Compositionsweise? Sind wir es, die für die festen Schlösser und Burgen, contrapunktische Regeln genannt, schwärmen, in die die Herren des musikalischen eisernen Zeitalters sich einschlössen? Sind wir es, die da Hexenprozesse erheben gegen frei angeschlagene Dissonanzen und die den Teufel wittern, wo ein Accord ohne Zopf4 auftritt? – Unter den classischen Künstlern ihrer Zeit verstand man bisher
1 Der
Ausdruck der „Neuromantiker“ wurde vornehmlich in klassizistisch-konservativen Schriften als pejorative Bezeichnung für Liszt, Berlioz und Wagner angewandt (siehe etwa B. P. 1852 Pariser Briefe, S. 1003; Fatal 1853 Aus London, S. 105). Zur Begriffsgeschichte vgl. auch Dahlhaus 1973 Neuromantik. 2 Nach einer Gesprächsaufzeichnung Eckermanns vom 2. April 1829 war es Goethe, der gesagt haben soll: „Das Klassische nenne ich das Gesunde, und das Romantische das Kranke […] Das meiste Neuere ist nicht romantisch, weil es neu, sondern weil es schwach, kränklich und krank ist, und das Alte ist nicht klassisch, weil es alt, sondern weil es stark, frisch, froh und gesund ist“ (Goethe-Werke 39, S. 324). 3 In einem mehrteiligen Artikel, der Auszügen von Wagnerkritischen Stimmen zusammenstellt, wurde im September eine Rezension einer Tannhäuser-Aufführung in München aus der Allgemeinen Zeitung zitiert, in der das Libretto u. a. durch folgenden Vorwurf moniert wird: „Wagner hat, wenn auch Sympathie für den Stoff, doch durchaus kein Verständniss der deutschen Sage und des deutschen Wesens; er gehört ganz und gar zu der neuromantischen, französischen Schule“ (Bischoff 1855 Stimmen der Kritik über Richard Wagner, S. 278). 4 Die Übertragung des Ausdrucks „Zopf“ auf den Bereich der Musik war bereits vor 1850 anzutreffen, kam aber vor allem ab den 1850er Jahren durch die polemisierte Diskussion zwischen ‚alt‘ und ‚neu‘ zunehmend zum Einsatz. Weiteres zum Begriff „Zopf“ siehe: Lobe 1848 Fortschritt, in: NdS 1 Nr. 7, Anm. 2. Zur intensiven Verwendung und Polemisierung des Begriffs „Zopf“ innerhalb der Debatte um die zeitgenössische Musik vgl. Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67.
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diejenigen, welche in ihren Werken den herrschenden Geist ihrer Zeit treu ausdrückten. Ist dies mit den sogenannten „Neuromantikern“ nicht der Fall? Stehen Wagner, Schumann etc. nicht an der musikalischen Spitze unserer Zeit? Sind sie etwa eine Minorität? Eine Sekte? Haben sie ernsthafte Nebenbuhler? Oder sind sie etwa neu in dem Sinne des Modernen? Sind sie musikalische Solonhelden [sic]? – Nein! Unsere Partei vertheidigt die Klassiker unsrer Zeit und die Benennung „neuromantisch“ für sie ist geradezu ein Seitenstück zur berühmten Riehl’schen Behauptung, nach welcher Wagner mit seinen Opern auf dem Lully’schen Standpunkte stehe5, d. h. der größte musikalische „Reaktionär“ sein soll.
II. Neueste Lyrik. Oft wird jungen Künstlern gerathen (Rath geben ist ja so leicht!), nur ihrem natürlichen Gefühl zu [183] folgen, nicht zu reflectiren, u. s. w. Schade, daß die solchen Reden zu Grunde liegende einfache Wahrheit so ganz ohne Folge oder doch ohne die gewünschte Wirkung bleiben muß! Es kann besagten Rathschlägen gegenüber nicht genug wiederholt werden, daß wer Etwas auf empfangenen Rath beschließt, schon in das Gebiet der Reflexion eingetreten ist, daß reflectirte Primitivität aber ein Unding und das Ergebniß der Absicht, sie herzustellen, Heuchelei ist. Unsere Primitivität ist Reflexion. Wir sind beziehungsweise primitiv, wenn wir unserem durch die moderne Erziehung nothwendig erzeugten Hange zur Reflexion folgen. Wollen wir aber, weil unsere Reflexion uns die Schönheit der absoluten Primitivität schätzen lehrt, selbst absolut primitiv werden, so ist das ungefähr, wie wenn ein Verliebter aus Liebe zu einem Weibe selbst Weib werden wollte; er wird es nicht, wohl aber wird er weibisch, sobald er sich verleiten läßt, seine Liebe durch Nachahmung des geliebten Gegenstandes bekunden zu wollen. Die bereits übermäßig lang andauernde Pflege der Lyrik, von der ein geistreicher Kritiker (wahrscheinlich um nicht trivial zu sein) behauptete, daß sie jetzt noch jungfreulichen [sic] Boden habe, ist leider oft Veranlassung zu dieser gutgemeinten Heuchelei. Bekanntlich ist sie die zuerst entstehende, die Kindheit eines Volkes ausschließlich bezeichnende Kunstgattung und in Folge dessen auch diejenige, die sich zuerst abschwächt. Da aber eine Menge kleiner Talente so beschaffen sind, daß sie den Anschein von etwas relativ Bedeutendem dadurch gewinnen können, daß sie sich freiwillig in die engsten Grenzen bannen, so hat sie sich, natürlich ohne die frühere Frische, bis in eine Zeit selbstständig erhalten, in der man sie dem Entwickelungsgange der gesammten Kunst nach nur noch
5 Siehe
vorliegender Artikel, Anm. 3. Ludwig Bischoff vermutet hinter dem mit „A.“ gezeichneten Artikel in der Allgemeinen Zeitung einen „Prof. Riehl?“. Diese Annahme ist insofern glaubwürdig, als Wilhelm Heinrich Riehl (1823 –1897) sich später in ähnlicher Weise äußerte: „Das ganze ist ein stetes obligates Rezitativ, von zerbröckelten Melodiestückchen und etlichen Chören unterbrochen. Ich sage das alles von Lully; man könnte auch meinen, ich sage es von Wagner; es gilt für beide. […] Lully opfert die musikalische Architektur dem dramatischen Ausdruck; er hat Anläufe zu Melodien, aber keine Melodie. Lully oder Wagner? […] Lully und Wagner sind als Musiker schwach, stärker als Tondichter, am stärksten aber als Regisseure“ (Riehl 1862 Culturstudien, S. 388 f.).
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als Hülfszweig anderer, höherer Gattungen erwarten sollte. Die zwei Wunschobjecte jedes aufgeklärten Künstlers unserer Zeit über sich selbst, die Klarheit der Reflexion und die Kraft der Primitivität, können ihren Widerspruch nur im Drama und Epos (Oper, Oratorium, Ballade; – in der reinen Musik kann jedes größere Werk, welches eine künstlerische und nicht nur sentimentale Veranlassung hat, hieher gerechnet werden) vollständig auflösen. Der Autor reflectirt, die von ihm aufgestellte Person empfindet, denkt und will mehr oder weniger primitiv. Hier haben beide Momente freien Spielraum. Je mehr der Autor reflectirt, desto vollendeter wird sein Werk: je mehr Genie die Natur ihm angeboren hat, desto primitiver werden seine Charactere gebahren. Und da deren immer neue aufgestellt werden können, so behält der Epiker und Dramatiker immer jenen jungfräulichen Boden, während der Lyriker keinen andern Stoff hat, als das, was ihn persönlich angeht. Das ist aber nicht immer so interessant, daß er, ohne albern zu werden, daraus Stoff zu künstlerischen Leistungen schöpfen könnte. Zwar giebt es Viele, die in dem Bewußtsein, sich lächerlich zu machen, wahrhaft schwelgen. Wenn man sie auslacht, so heißt es: Verehrter Freund! Sie lächeln? Ob ich weiß! Ich bin albern! Aber bedenken Sie, daß es der Künstler ist, mit dem Sie sprechen etc. Uns Andern aber, die wir nicht unsern Stolz darein setzen, belächelt zu werden, verarge man es nicht, wenn wir das unaufhörliche „Zullen und Schnullen am lieben Ich“6 bei Menschen, deren Bildungsstufe nicht die allerunterste ist, für geradezu widerlich erklären. Denn Jedermann weiß, daß sie ihre schönen Empfindungen mit bewußtem Wohlgefallen an sich selbst, an ihrem warmen, gefühlvollen Herzen auskramen. Ein Lyriker von modern civilisirten und natürlich hellem Verstande wäre in letzter Consequenz nur durch Mangel an Stolz und Schaam [sic] erklärlich, es giebt aber keinen Solchen. Der wirklich vorhandene moderne Lyriker ist der entschiedenste Lichtfeind. Für den prosaischen Sonnenschein hat er die souveränste Verachtung, der Tag ist nach seiner Ansicht die unnützeste Einrichtung der ganzen Schöpfung und der Beachtung Werth scheint ihm nur das, was Einem so in der Dämmerung einfällt! – Im Ernst gesprochen: es giebt mehr wirkliche Talente, als man nach dem Wenigen, was unter den musikalischen Neuigkeiten von Bedeutung ist, schließen sollte. Aber sie bleiben im lyrischen Sumpf stecken. Ihre Ansprüche an sich selbst richten die Besseren von ihnen so hoch, daß sie es unter ihrer Würde finden, das ganze Gewicht ihrer Thätigkeit da einzusetzen, wo es nicht ein Unternehmen von an sich kunsthistorischer Bedeutung gilt. Die Folge davon ist, daß sie den größten Theil ihrer Zeit mit Nichtsthun hinbringen. Trotzdem bilden sie sich gewaltig viel darauf ein, wenn sie in vielen Jahren ein Paar hübsche Lieder zu Stande gebracht haben, die am Ende gar irgendwo mit einem Preise gekrönt worden sind! Mancher wird einwenden: es wäre doch schrecklich, wenn das ganze Heer von Lyrikern sein Gewerbe aufgeben und etwa gleich anfangen wollte, Opern zu componiren. Die Gefahr wäre nicht groß. Bekanntlich kommt ein ächter
6 „Zullen
und Schnullen“ bedeutet „Saugen und Lutschen“ oder „Herzen und Liebkosen“. Eine vergleichbare Formulierung findet sich in Ludwig Feuerbachs Gedanken über Tod und Unsterblichkeit an: „Ach welche Wonne wird das sein, welcher Genuß, an seine einst begangenen Sünden nun zurückzudenken, das saure Leben der Geschichte und Vernunft gleich einem Schwank hinter sich zu haben, und nun so von Ewigkeit zu Ewigkeit an sich selbst zu zullen und schnullen!“ (Feuerbach- Werke 3, S. 13).
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Lyriker in der Regel nicht über seine erste Oper hinaus und (mit Carl Maria von Weber zu reden) die ersten Hunde und die ersten Opern ersäuft man.7 Aber manches schöne Talent würde bei gründlichem Nachdenken, bei reiflicher Reflexion über die moderne Lyrik sich einer ernsteren, gesünderen, männlicheren Gattung zuwenden und entdecken, daß es zu etwas Besserem als zu Dämmerungsphantasien und dgl. befähigt ist. [184]
III. Ein Vorwurf. Es wird vielfach behauptet, die neue Musik sei im Vergleich zur Classicität früherer Zeiten zu sinnlich, zu nervos [sic] aufregend. Gutzkow versicherte sogar einmal in den „Unterhaltungen am häuslichen Heerd“, daß Wagner vom athenischen Areopag8 für seine Musik unfehlbar zum Tode verurtheilt worden wäre,9 wie ja im alten Griechenland allerdings gewisse Volksweisen bei Todesstrafe verboten waren, wenn man von ihnen einen verweichlichenden Einfluß auf die Hörer befürchtete. Der geistreiche Journalist verwechselte nämlich „verweichlichend“ mit „nervenangreifend“. Kanonendonner ist bekanntlich auch nervenangreifend, aber außer denen etwa, die das Geistreichsein als Beruf betreiben und bei Allem gerade das Gegentheil von Dem empfinden, was gewöhnlichen Sterblichen als das Natürlichste erscheint, wird er wohl Niemandem verweichlichend erscheinen. Volksweisen, mögen sie nun weichlich oder rauh sein, haben immer wenigstens eine Eigenschaft mit einander gemein: nämlich die denkbar größte Einfachheit. Wenn also von weichlichen Volksweisen die Rede ist, so könnte man zur Noth wohl (wenn durchaus verglichen werden soll) jenes italienische Geleier citiren, an dessen Existenz wir zuweilen auf Jahrmärkten unangenehmer Weise gemahnt werden und welches sich die Gegner der neuesten deutschen Musik (wahrscheinlich um sich abzuhärten?) immer noch vorgurgeln lassen. Welche Vergleichungspunkte man aber da mit der Wagner’schen Musik finden will, dürfte um so weniger zu begreifen sein, als Wagner’s Musikwerke, obwohl in ihrer Grundconception gewiß einfach, in ihrer Ausführung doch so unendlich complicirt sind, daß man sie eher geradezu als das Gegentheil jedes läppisch weichlichen Geleiers bezeichnen könnte. Freilich, daß sie sinnlich sind, ist in einer Bedeutung vollkommen wahr, jede Kunst bezieht sich auf einen Sinn und am Bedeutendsten ist dasjenige Kunstwerk, welches den betreffenden Sinn am stärksten berührt und dadurch am stärksten auf die Seele wirkt. Nimmt man aber das Wort in der Bedeutung der Weichlichkeit, so paßt es nur auf eine Musik, die die Sinne in
äußerte sich Carl Maria von Weber zu Alfons und Estrella (UA 1854), dem seiner Meinung nach ersten Werk Franz Schuberts: „Ich aber sage Ihnen, dass man die ersten Hunde und die ersten Opern ertränkt“ (Reissman 1873 Franz Schubert, S. 123). 8 Bezeichnung eines Felsens unweit der Akropolis, wo im alten Athen der höchste Gerichtshof tagte, der mit demselben Namen bedacht wurde. 9 Bei Gutzkow heißt es: „Es ist nicht Griechenland, wie er uns in seinen Schriften glauben machen will, in ihm, sondern der Orient. In Ekbatana componirte man so, oder schwimmend auf dem Ganges in Lotosblumen und von Mohnsaft betäubt. In Richard Wagner ist orientalische Wonne, hypomixolydische Wonne, und der Areopag in Athen hätte ihn ohne Gnade zum Tode verurtheilt“ (Gutzkow 1853 Unterhaltungen am häuslichen Herd, S. 128). 7 Angeblich
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Unthätigkeit wiegt und dadurch erschlafft, während gerade diese Musik eingestandener Maaßen die aufregendste ist. Eine andere Aufregung, als eine durch die Sinne vermittelte ist aber gar nicht denkbar und es wäre nach der Weisheit jener Sinnenhasser die langweiligste Musik relativ und gar keine Musik absolut die beste. Noch mehr aber muß jene Behauptung seiten [sic] eines Mannes, der das Volksleben der alten Athener zu kennen scheinen will, befremden, wenn man erwägt, wie wenig gerade die alten Athener darauf bedacht waren, ihre Nerven bei Kunstgenüssen zu schonen. Als z. B. die Orestes des Aischylos zum ersten Mal aufgeführt wurde,10 geschah es, daß bei einem besonders eigenthümlichen Auftreten der Eumeniden mehre [sic] Menschen vor Schreck starben, Frauen unzeitig gebaren, u. s. w. Aischylos aber wurde nicht zum Tode verurtheilt, sondern erhielt einen Preis. Nur wurde von da an bestimmt, daß der Chor eine gewisse Anzahl von Mitwirkenden nicht übersteigen dürfe. Kann man sich aber etwas Angreifenderes für die Nerven vorstellen, als denjenigen Eindruck, der augenblicklichen Tod zur Folge hat? – Der athenische Areopag hätte demnach gewiß nicht Wagner, sondern weit eher seine künstlerischen Antipoden, d. h. die modernen Italiener oder Flotow und Consorten zum Tode verurtheilt.
IV. Legitimität. Die musikalische und die dramatische Form haben bekanntlich im Wesentlichen gleiche Grundlagen. (Die musikalische Hauptform besteht aus drei Theilen, von denen der erste die Motive aufstellt, der zweite dieselben durchführt und der dritte, gleichsam als Resultat der Durchführung, eine mehr oder minder freie Wiederholung – Bestätigung, Wahrbefindung – des ersten Theiles bringt. Exposition, Conflict und Katastrophe der regelrechten Tragödie entsprechen vollkommen jenen drei Theilen eines regelrechten Musikstückes. In der Exposition werden die Charaktere aufgestellt, ein Conflict durch die Feuerprobe der Consequenzen geführt und in der Katastrophe zur Endgültigkeit gebracht.) Daher ist es gekommen, daß Wagner in seinem Lohengrin, in der Absicht, eine vollendete Tragödie zu schaffen, der alten, bewährten musikalischen Hauptform ganz treu ist, man vergleiche nur die ganze Oper z. B. dem ersten Satz einer Symphonie oder Sonate. Der erste Act legt alle Hauptthemen der ganzen Oper bei dem Auftreten der betreffenden Personen dar. Im zweiten Act begleiten in manichfaltigster Durchführung dieselben Themen das Hervortreten des tragischen Conflictcs. Und endlich der dritte Act mündet wieder in den Anfang und namentlich in das Hauptmotiv des Vorspiels aus. So betrachtet ist der Lohengrin die erste Oper, die nicht nur geistig, sondern auch in Materie und Form ein einheitliches, ein einziges Musikstück bildet, dessen Form, obgleich neu und selbst, ständig erweitert, doch auf „historischem Rechtsboden“ steht. – R. K.
10 Aischylos,
Drama Orestie (UA 458 v. Chr.).
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Kommentar Der vorliegende Artikel steht im Licht einer allgemeinen Abwehr11 seitens der ‚Vertreter der Zukunft‘ gegen den Begriff „Neuromantiker“ und versucht, die mangelnde Tragfähigkeit seiner Anwendung auf die ‚neue Musik‘ am Beispiel Wagners nachzuweisen, indem er einen Bezugsrahmen großer Klassiker von der griechischen Antike bis zu Goethe und Schiller erstellt. Namentlich Goethes angebliches Wort von der gegen Frankreich gerichteten ‚kranken Romantik‘ dient dem Autor als Ausgangspunkt seiner Argumentation, die Notwendigkeit geistiger Reflexion als Voraussetzung künstlerischen Schaffens zu statuieren. Der Zustand bloßer Primitivität könne durchaus zu erfolgreicher lyrischer Produktion – etwa im Bereich des Liedes – führen, nicht jedoch zu der in größeren musikalischen Gattungen. Der Autor impliziert damit nicht nur eine eindeutige Wertzuschreibung bezüglich Oper und Oratorium, gleichermaßen vielsagend wird die Symphonik dabei verschwiegen. Der Verweis des pseudonymen Autors auf die „Riehl’sche Behauptung“12 gibt Aufschluss über den konkreten Anlass des Artikels und lässt ihn im Kontext der Münchener Erstaufführung des Tannhäuser am 12. August 1855 im dortigen Hoftheater verorten.13 Innerhalb einer in Auszügen wiedergegebenen Sammlung von „Kritiken über Richard Wagner“14, in welcher die Niederrheinische Musik-Zeitung negative Berichte von Otto Jahn, Julian Schmidt und Eduard Hanslick abdruckte, entstammt die vom Autor zitierte Zuschreibung des ‚Neuromantischen‘ einer in diesem Zusammenhang angeführten Rezension der Münchner Tannhäuser-Aufführung unter der Leitung von Franz Lachner.15 Durch die vierteilige Gliederung und die entsprechenden Zwischenüberschriften scheint der Autor versucht zu sein, ein größtmögliches Maß an Reflexion beispielhaft in seinem Text vorzuführen. So ungewöhnlich diese Vorgehensweise ist, so bemerkenswert ist sein Verständnis von Klassizität – dem er die Romantik als geradezu reaktionär gegenüberstellt –, und Wagner gemeinsam mit Schumann16 als durchaus klassische Vertreter seiner Zeit rubriziert. Die somit entkräfteten Vorwürfe gegen „unsere Partei“17, neuromantisch und geistig zu reflexiv zu sein, werden abschließend direkt mit einer Gleichsetzung von dramatischer und musikalischer Form verknüpft, um die Argumentation seiner Beweisführung des Klassischen in Wagners Lohengrin münden lassen zu können, was um seiner Beweiskraft willen schließlich mit den Dramen des antiken Aischylos’ verglichen wird.18 Der Begriff des Neuromantischen ist in der Musikkritik dieser Zeit von eindeutig nationalstereotypen Zuschreibungen getragen und wurde insbesondere auch von Wagner selbst pejorativ verwendet, bei gleichzeitiger Koppelung des Begriffs an die Person Giacomo
beispielsweise Bülow 1853 Die Opposition Süddeutschlands, S. 241 f., in: NdS 1 Nr. 54, S. 571 f.. 12 Vorliegender Artikel, S. 944 [182]. 13 Siehe dazu 14. 1855 Wagner’s Tannhäuser, in: NdS 2 Nr. 77. 14 Bischoff 1855 Stimmen der Kritik über Richard Wagner. 15 Ebd., S. 276 – 279. 16 Eine Zusammenstellung, die sich auch bei Eduard Krüger findet (siehe insbesondere: Krüger 1855 Sonderliche Gedanken, S. 116, in: NdS 2 Nr. 74, S. 857; aber auch schon: Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, S. 122, in: NdS 1 Nr. 66, S. 700). 17 Vorliegender Artikel, S. 944 [182]. 18 Den indirekten Vergleich von Wagners Opern mit den Dramen Aischylos’ baut der Autor auf der Besetzungsgröße des Chores auf und lässt damit die in Oper und Drama bereits 1852 dargelegte Ansicht Wagners, der das Pendant zur das Drama kommentierenden Funktion des antiken Chores gerade im Orchesterapparat seiner Opern verortete, außen vor. 11 Siehe
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Meyerbeer.19 Der vorliegende Artikel ist innerhalb dieses lang währenden Versuchs zu sehen, sich von der französischen Neuromantik zu distanzieren – auch die immer wieder begegnende Problematik der ‚falschen‘ Nationalität Berlioz’ ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Die Notwendigkeit der expliziten Abgrenzung erwuchs unter anderem seit 1850, da Autoren wie Theodor Uhlig, Eduard Krüger und Wagner heftig Position gegen Meyerbeer und dessen Werk bezogen,20 was auf der Seite der Gegenstimmen unter anderem dazu führte, die Kompositionen Wagners mit denen Meyerbeers zu vergleichen oder diese sogar gleichzusetzen. Ein explizit geplanter, wenngleich gescheiterter Vermittlungsversuch ging im Zusammenhang des Karlsruher Musikfests von Liszt aus, der aus Motiven der offenbar notwendigen Versöhnung, Meyerbeer in das Konzertprogramm aufnehmen wollte, was Joachim Raff in einem Brief kommentierte: „Schließlich glaube ich, daß Liszt interessirt ist, Meyerbeer auf die Wunde, die er ihm durch die praktische Opposition schlug, ein kleines Pflaster zu legen.“21 Gut eine Woche später wusste Raff über die Gemütslage Liszt zu berichten: „Er war sehr gedrückt. Die Meyerbeer-Wagnersche Versöhnung ist – wie vorauszusehen war, mißlungen. Die Nachwehen von Carlsruhe sind ihm peinlich.“22
Dahlhaus 1973 Art. „Neuromantik“. 20 Siehe dazu die in Wagners Aufsatz über „Das Judenthum in der Musik“ gipfelnde Debatte, die im Kommentar nachgezeichnet ist zu: Bischoff 1850 TU hoc intrivisti, in: NdS 1 Nr. 20. 21 Brief von Jaochim Raff an Doris Genast, Weimar, den 17. bis 21. Juli 1853 (Quelle: Bayerische Staatsbibliothek. Handschriftenabteilung. Raffiana II, 7 S., 2 Bl., S. 3). 22 Brief von Joachim Raff an Doris Genast vom 29. Oktober 1853 (Quelle: Bayerische Staatsbibliothek. Handschriftenabteilung. Raffiana II, S. 4). 19 Vgl.
Nr. 79 | A E K. [Eduard Krüger], „Marx und Brendel“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 3 (1855), Nr. 43 (27. Oktober), S. 337–340; Nr. 44 (3. November), S. 345–349.
Marx und Brendel.
I. Die neueste Zeit belegt ihren Beruf, mehr kritisch als schöpferisch zu sein, durch unzählige Zeugnisse, thätige und leidende, offenbare und verborgene. Thätige Zeugnisse sind die Werke der namhafteren Künstler und Kunstfreunde, die überwiegend zur Auflösung, zum Verständnisse, zur Philosophirung der Kunstwerke, weit minder zur Gestaltung neuer, eigener Schönheit hingewandt sind. Leidend ist das Zeugniss der Massen, die volksthümliche Empfängniss, welche sich schon längst mehr urtheilend als begeistert verhält; daher das krampfhafte Zucken zwischen Wärme und Kälte, der öde Fanatismus, der an die Stelle freudigen Mitlebens getreten ist, allabendlich am infernalischen Lampenlichte aufblitzt und mit ihm erlischt. Offenbar äussert sich die Ueberwucht der Kritik in dem gesammten literarischen Leben, so auch im musicalischen; verborgen schleicht sie durch die Zeitungen in Schule, Haus und Gesellschaft, und mehr als drei Viertel alles Erlebnisses, aller poetischen und politischen Genüsse werden in kritisch vorgedachten Meinungen zugerichtet verschlungen, ehe man die Werke, die Sachen selbst ergriffen oder angeschaut hat. Wie aber dieses Zeitalter trotz aller Fortschreitungen – die Niemand läugnet, weil sie vor Aller Augen offen liegen – dennoch schöpferisch arm sei, das bezeugen ihre feurigsten Zeichendeuter, indem sie fast nicht anders mehr denken können, als kritischvergleichend, daher immerfort gefangen sind in Vor-, Rück- und Seiten-Blicken des „Zeitlichen“, auch aus solcher Quelle wohl mögen abgeleitet haben die sprachlichabscheulichen Wortbildungen „Jetztzeit, Neuzeit“ u. s. w., dergleichen dem Göthe’schen Zeitalter unbekannt waren. Damals, als man schöpferisch lebte, dachte und glühte, da war das Haupt-, Kron- und Kern-Wort „Ewig“, und die Conjugation der lateinischen Zeitwörter liess man den Schulknaben. Sei es nun ein Leiden der Zeit oder ein Gewinn, wir müssen’s über uns ergehen lassen und Lust und Last mittragen, welche die Zeit gebiert. Ist die Kritik eine Zeitmacht, so erkennen wir sie an, ohne ihr Knecht zu werden. Hüten wir uns nur vor falscher Kritik! Verum index sui et falsi!1 hat schon der Apostel Christi gelehrt. 1. Ep. Joh. 4, 6.2
1 (Lat.)
Die Wahrheit als Prüfstein gegen sich selbst und gegen die Unwahrheit. Baruch de Spinoza, Ethica (ED 1677), 2. Teil, Anmerkung zum Zweiundvierzigsten Lehrsatz. 2 „Wir sind von Gott,
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Damit wir nicht in den Fehler der Zeit fallen, über Vieles viel zu sagen, was wir nicht wissen, so gehen wir sogleich zur Besprechung der neuesten Erscheinungen über, welche jene kritische Zeitströmung aufs deutlichste bekunden, und deren beide Autoren, wenn auch mit sehr verschiedener Begabung, doch darin nächstverwandt sind, dass sie schöpferisch arm, kritisch reich und mannigfaltig sind. Bei Marx3 soll dies nicht zum Tadel gesagt sein; denn er hat doch Zeugs dazu; er hat doch gelernt, gestrebt, gelitten und geleistet. Ob Brendel ausser dem Studium Hegel’scher Worte und deren grammatisch richtiger Handhabung sonst noch etwas gelernt und geleistet, wird seine Freundin, die Zukunft, dereinst offenbaren; die Gegenwart weiss es nicht und hat, durch ihre Lehrer belehrt, die kritische Schrulle, keinem Propheten mehr zu glauben. Brendel’s neuestes Buch: „Die Musik der Gegenwart und die Gesammtkunst der Zukunft“4, geht von dem richtigen Gesichtspunkte aus, dass die classische Kunst des vorigen Jahrhunderts eine vergangene und ein neuer Höhepunkt, der jene Zeit überschritten, weder in anderen Künsten noch in der Musik bisher gewonnen sei. Dass nun desshalb diese Zeit einem dunklen Ziele nachringe, mag auch richtig sein, obwohl bestimmtere Nachweisung, als die hier gegebene (S. 87–115),5 uns Unwissenden allerdings erwünscht wäre. Um sämmtliche Schönheiten und Neuheiten des Brendel’schen Buches darzustellen, müsste man es wörtlich abdrucken. Wie in sechs Abschnitten dargethan wird, 1) dass unsere classische Poesie verfallen,6 2) dass die Gegenwart nichts tauge,7 3) dass sie nach Zukunft strebe,8 4) dass Richard Wagner das Neue zuerst verwirklicht habe,9 5) dass seine kritischen Schriften voll tiefen Geistes seien,10 6) dass endlich die Tonkunst eine ganz andere Stellung einnehmen werde, wenn erst die [338] Kunst der Zukunft, der holde Schmetterling, aus der schwarzen Puppe der Gegenwart heraus geschlüpft sei…..11 – dieses alles muss man lesen, um es zu glauben, kein Auszug hilft; den Freunden genügt er nicht, die Gegner begreifen ihn nicht, und Beide schimpfen sich höflichst Böotier12, blinde Hessen, Fanatiker und anderes Sanftere.
und wer Gott erkennt, der hört uns; wer nicht von Gott ist, der hört uns nicht. Daran erkennen wir den Geist der Wahrheit und den Geist des Irrtums“ (1 Joh 4, 6). 3 Adolf Bernhard Marx (1795–1866), Komponist, Musikwissenschaftler und Theoretiker, der vor allem durch seine musiktheoretischen und instruktiven Schriften Bedeutung erlangte (u. a. Die Lehre von musikalischen Komposition, ED 11837–1838, 21841–1847). 4 Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart. 5 Die angegebenen Seiten umfassen den dritten Abschnitt „Die Zukunftsbestrebungen der Gegenwart“ von Brendels Schrift (ebd., S. 87–116). 6 „Erster Abschnitt. Die Epoche unserer classischen Poesie und Kunst und der Verfall derselben“ (ebd., S. 1–9). 7 „Zweiter Abschnitt. Musikalische Zustände der Gegenwart“ (ebd., S. 10–86). 8 „Dritter Abschnitt. Die Zukunftsbestrebungen der Gegenwart“ (ebd., S. 87–116). 9 „Vierter Abschnitt. Die erste Verwirklichung des Neuen auf dem Gebiete der Kunst durch R. Wagner“ (ebd., S. 117–129). 10 „Fünfter Abschnitt. Zur Kritik der Schriften und Kunstwerke R. Wagner’s“ (ebd., S. 130–243). 11 „Sechster Abschnitt. Die Stellung der Tonkunst zu dem bezeichneten Umschwung und die nächsten Aufgaben derselben in der Gegenwart“ (ebd., S. 244–278). 12 In Anlehnung an die altgriechische Landschaft Böotien ein denkfauler, schwerfälliger Mensch.
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Demnach bitten wir alle, denen es um nähere Kenntniss Brendel’s zu thun ist, das Büchlein eben so arbeitsam zu durchlesen, wie wir es allerdings mit einiger Mühe gethan haben. Was die Sache angeht, nämlich Wagner und die Zukunft, so wird dieselbe weder gefördert noch gehemmt durch das Büchlein, welches im Ganzen sehr unschädlich zu lesen ist. Wer den Tiefsinn der Kategorieen: Standpunkte, Berechtigungen, Vertretungen, Zukunft, Kritik, Opposition, und ähnlicher landläufiger Begriffe noch nicht begriffen und den Hegel’schen „Rhythmus der Logik“ noch nie hat klingen hören, der wird – nun, der wird zwar nicht hegelisch denken lernen aus diesem Büchlein, aber doch merken, wie’s klingt. Die „relative Berechtigung“ der „alten überwundenen Standpunkte“13 ist das reichhaltige, nimmer ruhende Phrasen-Capital, das sich wie ein rother Faden von Theer durch das Ganze zieht, z. B. Berechtigung S. 16, 25, 26, 32, 94, 95, 97, 99, 100, 160, 200, 221, 250, 252 u. s. w.; denn gar Vieles ist dem Verfasser relativ berechtigt, ausgenommen diejenigen böswilligen Ketzer, welche den Fortschritt Richard Wagner’s nicht anerkennen und „nicht einsehen, dass nur der zum Tadel ein Recht besitzt, der zuvor durch die Anerkennung des Positiven den Beweis geliefert hat, dass er zu einem innigeren Verständnisse gelangt ist“ (S. 216)14. Also wer z. B. in Brendel nichts Positives anerkennt, ist nicht berechtigt, ihn zu tadeln. Wird nun dieser Lehre gemäss eine Aneignung und Hingebung an das Neue gefordert (221)15, um dasselbe zu begreifen, so dürfen wir gegenfragen: Ist denn dieses Neue wirklich neu? Und wenn wirklich, warum erzwingt es nicht Anerkennung, wie doch sonst alles wahrhaft Neue im Gange der Weltgeschichte pflegte zu thun? Welcher weltbewegende Genius ist denn mit Anerkennung zur Welt gekommen? Erwerben muss er sie, indem er seine Sendung bewährt. Wagner’s Theorie von dem Egoismus der Sonderkunst16 ist geschichtlich und logisch unhaltbar. Denn die Geschichte zeigt, wie alle Menschen-Arbeit in organischem Fortschritte sich zerlegt und damit zu immer grösserer Entwicklung gedeiht. Dabei zeigt sich auch logisch eine Erweiterung und Vertiefung des Ganzen; ohne einzelne Vorarbeit wäre auch Hegel nicht zu seinem Ganzen gekommen. Dieses
13 Bei Brendel etwa: „Das Bestehende hat zum Theil noch seine relative Berechtigung. Nicht mit einem Male kann der Schritt vollbracht werden aus der bisherigen Sonderkunst heraus zu voller Hingabe an die erwartete Allkunst“ (Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 248); sowie „Unmittelbar schon werden Wagner’s Schöpfungen zum Resultat haben, dass sich der Zeit nach neue, aber dem Geiste nach jenem überwundenen Standpunkt angehörige Werke nicht mehr halten können“ (ebd., S. 256). 14 Hervorhebung nicht von Brendel. 15 „Der grösste Irrthum und der Grund aller Missverständnisse liegt desshalb darin, wenn man meint, mit den jedes Mal geltenden Kategorien, mit dem bisherigen Verstande an das Neue herankommen zu können. Der einzige Weg, um dasselbe zu begreifen, besteht in unmittelbarer Aneignung, rückhaltloser Hingebung, in dem inneren Durchleben. Erst nach Zurücklegung eines solchen Processes ist eine bewusstere Erfassung, ist die denkende Verknüpfung des Neuen und Alten möglich“ (ebd., S. 221). 16 Mit dem Begriff „Sonderkunst“ bezeichnete Richard Wagner jede Kunst, die keine Verbindung zu den anderen Künsten aufweist bzw. im Falle der Musik diejenige Musik, die nicht Teil des von ihm angestrebten Gesamtkunstwerks ist (Wagner 1850 Das Judenthum, S. 105 und 111; Wagner 1852 Ein Brief an den Redacteur, S. 61, in: NdS 1 Nr. 29, S. 297).
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Ganze schwebt aber der Menschheit allzeit als Grund-Welt über, neben und in der Summe der Einzelheiten. Als Ganzes ist es nicht darstellbar, so wenig wie das Weltall als Ganzes darstellbar oder menschenfassbar ist. Eine That des Genius (162,17 190)18 ist es daher schwerlich, wenn Jemand entdeckt, dass alle Vereinzelung nichtig und dass der absolute Werth nur im Ganzen ruhe. Das Axiom selbst ist nämlich gar keine neue Entdeckung, sondern in der Bibel auf jeder Seite zu lesen, auch von weltlichen Denkern und Künstlern unzählige Male bezeugt: Gluck, Hamann19, Göthe, Schelling, Hegel sprechen es sogar mit klaren Worten aus, was hier als wundersame Erfindungs-That präconisirt wird. Dass Wagner dies nicht weiss, mag aus seiner Verachtung der Geschichte (233)20 erklärlich sein; dass Brendel mit jenen historischen „Thaten“ anderer Genien unbekannt sei, dürfte man von dem „vorsichtigen Kritiker, der alles weltrichterlich Gelust aufgegeben“ (207)21, nicht erwarten. Wenn aber Brendel’s Kritik wirklich einen „herrschenden“ (205)22, einen höheren Standpunkt einnimmt als die überwundenen – (auf denen freilich „die heutige Welt wesentlich noch ruht!“ S. 100)23 –, so nimmt es Wunder, wie dieselbe Kritik in den hellen Selbst-Widerspruch gerathen mochte, 1) Richard Wagner zu preisen, weil seine Schöpferkraft die positive befreiende That bereits geleistet – S. 19024;
17 „Wenden
wir uns jetzt zu diesem Resultat, betrachten wir das Ergebniss dieser ganzen Entwickelung, das Kunstwerk der Zukunft, so erhellt aus allem Bisherigen, dass ich mit Wagner darin die Erlösung aus dem künstlerischen Jammer der Gegenwart erblicke, es ergiebt sich meine vollste Anerkennung für diese That des Genius“ (Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 162). 18 „Seine [Wagners] grosse That ist, das Neue hingestellt zu haben; die Beziehungen, in die er dasselbe zur Vergangenheit bringt, müssen geschieden werden von denen, in die ihn die Auffassung der Gesammtheit stellen wird“ (ebd., S. 190). 19 Johann Georg Hamann (1730–1788), deutscher Philosoph und Schriftsteller, betrachtete die Wirklichkeit als eine Einheit von Entgegengesetztem. 20 „W. dagegen ist mit einer in ihrer Art grossartigen Unbeugsamkeit der Geschichte gegenüber stehen geblieben. Die Geschichte ist für diese starre Individualität nur eine feindselige Macht. Diess rächt sich nothwendig, der ganze Reichthum der Geschichte ist für ihn verloren“ (Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 233). 21 „Die alte Kritik erschien nur zu oft absprechend, hemmend, niederdrückend, trotz dem dass sie fast immer die Erfahrung machen musste, neue Erscheinungen verkannt zu haben, und endlich ihren Irrthum einzugestehen genöthigt war. Unsere Kritik ist bei weitem vorsichtiger, sie hat jene früheren weltrichterlichen Gelüste längst aufgegeben“ (ebd., S. 207). 22 „Auch von mir wurde früher schon die Nothwendigkeit eines derartigen radicalen Aufräumens, die Notwendigkeit einer Verstandesepoche, einer Epoche der unbedingten Herrschaft der Kritik anerkannt, die Nothwendigkeit eines Bruches mit der Vergangenheit“ (ebd., S. 205). 23 „Die Macht und Grösse, die innere Berechtigung des alten Standpunktes, ist die Ursache gewesen, dass wesentlich noch auf demselben unsere ganze gegenwärtige Welt ruht“ (ebd., S. 100). 24 „Was aber Wagner einzig macht, was ihn an die Spitze unserer Zeit stellt, ist die keinem Anderen in diesem Grade verliehene Schöpferkraft, welche ihn befähigte, nicht blos den Bruch auszusprechen, sondern auch die positive, befreiende That folgen zu lassen, ist die Entdeckung einer wahrhaft neuen Welt für die Kunst, welche in diesem Abschnitt der vorliegenden Schrift [Oper und Drama, 2. Teil] unseren Blicken eröffnet wird, möge nun auch diese Entdeckung selbst nur erst in ihren Anfängen dargestellt, einer unendlichen Erweiterung und Steigerung fähig sein“ (ebd., S. 190).
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2) die Gegner zu schelten, welche Richard Wagner’s schöpferische Thaten schon für das Kunstwerk der Zukunft ansehen – S. 21025. Warum Richard Wagner diese Höchste noch nicht geleistet, wird unter Anderem sehr naiv damit entschuldigt, dass die „Natur der Stoffe eine bessere Behandlung nicht zuliess“!! (229)26. Frage: Wer hat denn den Stoff gewählt, die seichten, bornirten, gehässigen Gegner (219)27 oder der Entdecker der Zukunftsthäter selbst? Von einzelnen Sonderkünsten der Brendel’schen Logik müssen wir doch eine Gruppe zusammenstellen, die allerdings monumental genug ist. Die beliebten SchulPhrasen der „Standpunkte“ (98, 100, 107, 160 u. s. w.), der „Vertretungen“I (27, 28 u. s. w.) und ähnliche [339] registriren wir bloss als bekannte abgebrauchte, die gleich Rechenpfennigen so lange gelten, bis das Spiel vorbei ist, sonst würden wir bescheidentlich bemerken, dass die Tiefe des Glaubens, die Fülle des Herzens, die Urwahrheit keine „Standpunkte“ im modernen Sinne sind, weil es nur Eine Wahrheit gibt. La vérité [est] une et indivisible29 aber ist ein Begriff, der in der Schule nicht zu lernen und mit Phrasen nicht zu bewältigen ist. Uebrigens ist es schon anderswo offenbar geworden, dass, wer nur Logik gelernt, auch diese nur halb besitzt. Die Logik ist eben die Mutter der Sonderkünste; die Allkunst ist nirgends als im Glauben und in Gottes Geist. Auch andere Sonderlichkeiten sind nicht so erheblich, um darüber zu zürnen, z. B. dass das deutsche Volksthum im Ganzen der Kunst nicht günstig sei (55)30, während andere Forscher, vielleicht auf bornirt historischem Standpunkte, das Gegentheil herausgebracht haben, indem mindestens die drei letzten Jahrhunderte zeigen, dass ausser Shakespeare, Raphael und Palestrina alle weltbewegenden Künstler von Deutschland ausgingen und dorthin zurückkehrten. Für ein logisches Kukuks-Ei
représentation, ist ein Wort, das aus dem politischen Leben in das philosophische durch üble parabolische Vertauschung höchst unnützlich eingeschlichen ist. Kürzlich hörte ich: „Die Violine war vertreten in der Person des….“ – „der Sopran war vertreten durch Fräulein….“. Wo ein schöppenstädter Literat sich im berliner Wirthshause betrunken, da heisst es: „Schöppenstädt war vertreten in der Person des….“28. I Vertretung,
25 „Der
Hauptirrthum besteht, wie so eben angedeutet wurde, vorzugsweise darin, dass man Theorie und Praxis in unzulässiger Weise in Verbindung bringt, W’s. Kunstschöpfungen als Belege gewissermassen für das Kunstwerk der Zukunft ansieht“ (ebd., S. 210). 26 „Der Vf. [Friedrich Hinrichs, in: Hinrichs 1853 Zur Würdigung Richard Wagner’s] erklärt den Mangel einer bis zur Spitze geführten individuellen Charakteristik aus der Natur der Stoffe, welche eine andere Behandlung nicht zu lassen. W. hat demnach geleistet, was der Gegenstand von ihm fordert“ (ebd., S. 229). 27 „Der Vf. [Hinrichs, in: Hinrichs 1853 Zur Würdigung Richard Wagner’s] missversteht, weil seine Richtung ihn nicht zu einer entsprechenden Auffassung gelangen lässt, nicht aber wie die Meisten der übrigen Gegner in Folge der ihnen eigenthümlichen Seichtheit, Bornirtheit und Gehässigkeit der Auffassung“ (ebd., S. 219). 28 Der Ort Schöppenstedt liegt im Kreis Wolfenbüttel in Niedersachsen und wurde samt seinen Bewohnern häufig in ironischer Weise wie Schilda und die Schildbürger verwendet. 29 (Frz.) Die Wahrheit ist eins und unteilbar. Nach Jean-Jacques Régis des Cambacérès (1753–1824), der dies als eines von drei Prinzipien für die Ausarbeitung des Code Civil formulierte. 30 „Aber der deutsche Nationalcharakter ist im Ganzen der Kunst nicht günstig, es ist mehr ein stoffliches Interesse, welches ihm eigen, nicht oder weniger der Sinn für das Schöne“ (Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 55).
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müssen wir auch halten die neu entdeckte „Gebärung der Melodie“ (175)31, wobei denn die Logik Hebammendienste thun mag nach ihrer ureigensten Kraft. Logisch grundverkehrt ist, der Schule zu gebieten, dass sie in die Bewegung eintrete (258)32, da die Historie aller Zeiten beweis’t, dass die Schule Empfängniss ist und erst die Meisterschaft freie, befreiende That, umschwingende Bewegung erlaubt. Wo der Schule aber Bewegung eingeimpft wird, da hüte sich der Lehrer, der nicht auf festen Füssen steht, wie ein rocher de bronze33. Seit 1848 hat es sich mehrmals ereignet, dass des radicalen Lehrmeisters Auditorium ihm zum Trotze reactionär ward – bloss der „berechtigten Bewegung“ halber. In die Reihe solcher unpraktischen, doch freilich logischen Traditions-Axiome gehört auch der verbrauchte Satz, es komme durch Disputation die Wahrheit an den Tag (219)34, während die Erfahrung darthut, dass alles Disputiren nicht zeigt, was Wahrheit ist, sondern nur zeigt, was nicht Wahrheit ist. Selbst der logische Vorwurf, der Richard Wagner gemacht wird, er kämpfe zuweilen wider Schattenbilder, nämlich wider eine Dummheit der Gegner, die gar nicht existire (20035 – dergleichen ist Hegel auch passirt!), derselbe Vorwurf kehrt sich gegen den Träger seiner Mantelschleppe, wenn er die Irrthümer bekämpft, die dem bisherigen so genannten Christenthume beigewohnt haben sollen. Das Christenthum selbst ist die Religion der Zukunft, welche nach S. 92–96, 100, 107, 163, 247 erst neu entdeckt werden soll; es ist mehr als das, da es ausser und über allen endlichen (logischen) Zeitbegriffen steht. Dass das Innere ein Aeusseres
Menschwerdung der christlichen Musik erfolgt durch die Gebärung der Melodie. Der Drang nach Gebärung der Melodie tritt am deutlichsten in Beethovens grösseren Instrumentalwerken hervor. Der charakteristische Unterschied zwischen dem Gange der Melodie in diesen Werken und den ihnen entgegengesetzten besteht darin, dass in den letztern die Melodie sogleich fertig und formell ganz bestimmt sich ausspricht (wie wir sie auch im Volksliede antreffen) und ihre fernere Verwendung nach conventionellen (contrapunktischen) Regeln erfolgt, während bei Beethoven diese Melodie vom Anfang herein wohl auch als fertig vorauszusetzen ist, sogleich aber in Stücke zerbrochen wird, welche Stücke er zu selbstständiger Geltung bringt, und sodann erst im Verlaufe oder am Schlusse des Tonstücks zur fertigen Melodie wieder zusammenfügt“ (ebd., S. 175). 32 „Sollen sie [die Konservatorien für Musik] daher ihrer Bestimmung wirklich entsprechen, sollen sie eingreifen in den Gang der Ereignisse, so müssen sie in die Bewegung eintreten, müssen sie dem sich vorbereitenden Umschwung als Organ dienen“ (ebd., S. 258). 33 (Frz.) eherner Fels. Sinnbild unerschütterlicher Festigkeit nach einem Ausspruch von Friedrich Wilhelm I. von Preußen, der 1716 auf eine Eingabe die Randbemerkung schrieb: „Ich […] stabilisiere die Souveränität und setze die Krone fest wie einen rocher von bronze.“ 34 Hiermit könnte Krüger auf folgende Bemerkung Brendels anspielen: „So ist das, was er [Hinrichs im Artikel Hinrichs 1853 Zur Würdigung Richard Wagner’s] vorbringt, das Beste, was bisher von gegnerischer Seite gekommen ist, wesentlich geeignet, ein gründlicheres Verständniss zu vermitteln“ (Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 219). 35 „W. ist unbedingt im Recht einer solchen ganz äusserlichen, gedankenlosen Ansicht gegenüber, wie die ist, welche als die gewöhnliche mitgetheilt wird, aber eine solche Auffassung findet sich höchstens bei denen, welche von aller Geistesthätigkeit überhaupt nur die oberflächlichsten Vorstellungen haben, während von allen Urtheilsfähigen das Genie stets als Ausdruck einer ‚gemeinsamen Kraft‘ erkannt wurde, nur mit dem Unterschied, dass dabei dem Individuum allerdings eine grössere Betheiligung zuerkannt wurde, als hier geschieht“ (ebd., S. 200). 31 „[D]ie
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werde (95)36, lehrt bereits Jacobus 1, 22.37 Dass der Egoismus zu überwinden sei (162)38, lehrt in höherer, d. h. göttlicher Weise 1. Cor. 13, 5.39 Dass das Christen thum jede Entwicklung ausschliesse (19740 – womit in klarem Widerspruche steht S. 100,41 wo es doch geboten wird, sich gefälligst zu entwickeln!), diese wunderliche, doch freilich zeitgemässe Behauptung steht in klarem Widerspruche mit Phil. 3, 12.42 – 1. Joh. 3, 2.43 – Col. 1, 11.44 – 2. Petri 3, 18.45 Ja, sogar die postulirte Scheidung zwischen Subjectivem und Substantiellem (246)46 ist vorgebildet im Briefe an die Hebr. 4, 12.47 Wir unterlassen es, die heiligen Worte weiter, als hier geschehen, in den unheiligen Streit herbei zu ziehen; auch würde der Verfasser sich zuvor entschliessen müssen, der biblischen Wahrheit so viel positive Anerkennung zuzuwenden, wie nach seinen eigenen Worten (216)48 erforderlich ist, um urtheilsfähig zu 36 „Die früher im Inneren vorhandene, übergreifende Einheit soll jetzt auch im Aeusseren zur Erscheinung gelangen, so dass dieselbe auch hier als das Mächtigere, das Alles zusammenfassende Band, die Sonderung als etwas nur Secundäres auftritt“ (ebd., S. 95). 37 „Seid aber Täter des Worts und nicht Hörer allein; sonst betrügt ihr euch selbst“ (Jak 1, 22). 38 „Das Kunstwerk der Zukunft aber ist Ausdruck für diese neue Welt. Es hat die Ueberwindung des Egoismus zu seiner Voraussetzung, es ist Ausdruck jener communistischen Richtung der Zukunft, – in dem von dem gewöhnlichen abweichenden Sinne natürlich, in welchem Wagner dieses Wort gebraucht, – es steht im Zusammenhang mit der Richtung der Zeit nach der Seite des Aufgehens des Einzelnen im Allgemeinen, es bedingt ein harmonisches Dasein, es ist der nothwendige Ausdruck für ein auf rein menschlicher Grundlage errichtetes Dasein“ (Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 162). 39 „Sie [die Liebe] verhält sich nicht ungehörig, sie sucht nicht das Ihre, sie lässt sich nicht erbittern, sie rechnet das Böse nicht zu“ (1 Kor 13, 5). 40 Auf S. 197 findet sich keine Aussage dieses Inhalts. Krüger könnte stattdessen Ausführungen wie die folgende meinen: „Er [Wagner] giebt sodann im zweiten Abschnitt [von Oper und Drama] einen Nachweis der Unmöglichkeit für die Entwickelung der wahren Kunst aus dem christlichen Bewusstsein“ (Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 131). 41 „Unsere Zeit aber schreitet vor bis zur Spitze und verlangt, dass das griechische Element von innen heraus geboren werde, dass das Christenthum in seiner Heranbewegung zu demselben so weit vorgehe, um es neu aus sich zu erzeugen, damit die Gegensätze nicht mehr als für sich bestehende, selbstständige, sei es auch in innigster Durchdringung, stehen bleiben, sondern als getrennte völlig aufhören, um in einer neuen, fertigen Weltgestalt zu verschwinden“ (ebd., S. 100). 42 „Nicht, dass ich’s schon ergriffen habe oder schon vollkommen sei; ich jage ihm aber nach, ob ich’s wohl ergreifen könnte, weil ich von Christus Jesus ergriffen bin“ (Phil 3, 12). 43 „Meine Lieben, wir sind schon Gottes Kinder; es ist aber noch nicht offenbar geworden, was wir sein werden. Wir wissen aber: wenn es offenbar wird, werden wir ihm gleich sein; denn wir werden ihn sehen, wie er ist“ (1 Joh 3, 2). 44 „Und gestärkt werdet mit aller Kraft durch seine herrliche Macht zu aller Geduld und Langmut“ (Kol 1, 11). 45 „Wachset aber in der Gnade und Erkenntnis unseres Herrn und Heilands Jesus Christus. Ihm sei Ehre jetzt und für ewige Zeiten! Amen“ (2 Petr 3, 18). 46 „Ich habe ferner gezeigt, dass W’s. Theorie zur Zeit nicht frei ist von Beimischungen überwiegend subjectiver Art. Unser Resultat war eine nothwendig gebotene Scheidung des Subjectiven und wirklich Substantiellen“ (Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 246). 47 „Denn das Wort Gottes ist lebendig und kräftig und schärfer als jedes zweischneidige Schwert und dringt durch, bis es scheidet Seele und Geist, auch Mark und Bein, und ist ein Richter der Gedanken und Sinne des Herzens“ (Hebr 4, 12). 48 „Die Verständigung über diesen Punkt [ob in Wagners Kunstschöpfungen durchgängig und überall nur Vortreffliches sich vorfinde] würde keine Schwierigkeiten gemacht haben, wenn die Gegner wirklich hätten eingehen, zunächst den Fortschritt anerkennen, wenn sie hätten einsehen wollen, dass nur der zum Tadel ein Recht besitzt, der zuvor durch die Anerkennung des Positiven den Beweis geliefert hat, dass er zu einem innigeren Verständniss gelangt ist“ (Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 216).
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sein. Dass er nicht ganz unbekannt ist mit christlichem Inhalt, beweis’t S. 136–137;49 warum erkennt er nicht an, dass das Christenthum Vieles hat, was er postulirt? Schliessen wir denn auch mit Anerkennung dessen, was löblich ist in Brendel’s Büchlein. Der Zorn gegen das pöbelhafte Applaudiren (47)50, die Anerkennung der Sonderkünste (164)51, die Verwerfung der politischen Dichtung (185)52, die Vertheidigung des Unaussprechlichen (219)53 – diese und ähnliche Sätze voll gesunder Vernunft thun einem wohl neben der logischen Trigonometrie und grammatischen Flexions-Lehre von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Neues haben wir nicht aus dem Büchlein gelernt, doch ist es ein historisches Denkmal dessen, was die Schule will, und in so fern werthvollII. In anderer Weise spricht Marx zum versammelten Volke. Ihm steht ein reicherer Schatz an Erfahrungen offen, auch „Thaten der Befreiung“ darf er sich vielleicht rühmen, vollbracht zu haben; es ist hier sowohl die Geschichte als die Praxis, die
II Um alle Gerechtigkeit zu erfüllen, tragen wir hier die Druckfehler des sonst wohl ausgestatteten Schriftchens nach, welche vielleicht selbst Freunde stören könnten. S. 6 steht erhabendste, statt -enste; S. 12 und 217 ausgesprochendste, statt -sprochenste; umgekehrt S. 15 befähigste, statt befähigtste; S. 92 verwanden, statt verwandten. S. 217 ist die undeutsche, doch leider zeitgemässe Form zu lesen: Ich anerkenne, statt ich erkenne an.
S. 136–137 kritisiert Brendel, was Wagner in seiner Schrift Die Kunst und die Revolution (ED 1849) etwa „über die Bedeutung des Eintritts des Christenthums in die Welt, diesen weltgeschichtlichen Wendepunkt, und die unvermeidliche Einseitigkeit der frühesten Gestalt desselben“ sagt. 50 „Die widerliche Sitte des Applaudirens, namentlich eines über alles Maass hinausgesteigerten Applaudirens hat in solchen Verhältnissen ebenfalls ihre Entstehung und reichste Nahrung gefunden. Sie ist Ausdruck jener unwürdigen Stellung, und durch solchen Enthusiasmus hört der Kenner unserer Zustände immer ein: Bravo, Bajazzo! welches man den Virtuosen zuruft, durchklingen. Das Publikum, ohne Haltung, ist erfreut, eine Gelegenheit zu finden, seinem Klatschbedürfniss genügen zu können, es gebehrdet sich wie ein grosses Kind, den Künstler immer und immer wieder hervorcitirend, um, wie die Kinder, mit ihm Verstecken zu spielen“ (Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 47). 51 „Fassen wir, um uns davon zu überzeugen, die einzelnen Künste in’s Auge. Was Skulptur und Malerei betrifft, so wurde schon vorhin im Vorübergehen auf die Nothwendigkeit, die Selbständigkeit derselben beizubehalten, hingedeutet. […] Was die Poesie betrifft, so giebt es einen Standpunkt für das Drama, bei dem die Musik, trotz ihrer Fähigkeit sich anzuschmiegen, jedenfalls störend erscheinen müsste. […] In die Augen springend zeigt sich die Nothwendigkeit eines gesonderten Bestehens der Künste insbesondere an diesen Beispielen. Aber auch für die Tonkunst bleibt eine Sphäre übrig, welche in dem Gesammtkunstwerk keineswegs eine ausreichende Vertretung finden kann“ (ebd., S. 164). 52 „So ist allmälig die Kunst des Dichters zur Politik geworden. Keiner kann dichten, ohne zu politisiren. Nie wird aber der Politiker Dichter werden, als wenn er eben aufhört, Politiker zu sein: in einer rein politischen Welt nicht Politiker zu sein, heisst aber so viel, als gar nicht existiren; wer sich jetzt noch unter der Politik hinwegstiehlt, belügt sich um sein eigenes Dasein. Der Dichter kann nicht eher wieder vorhanden sein, als bis wir keine Politik mehr haben“ (ebd., S. 185). 53 „Am besten lernen wir jedenfalls den Hrn. Vf. [Hinrichs] kennen, wenn wir zunächst noch ganz absehen von dem gegen W. Vorgebrachten, und seinem Standpunkt aus dem, was er über frühere, der Meinungsverschiedenheit nicht mehr in gleichem Grade unterworfene Kunsterscheinungen ausspricht, zu begreifen suchen. Hier sind es u. A. […] seine Herabsetzung des Unaussprechbaren, weil noch Unentwickelten, der bewussten Seite des Geistes gegenüber, (Bd. 39, Nr. 10, Art. 4) welche charakteristisch sind, und in Frage kommen“ (ebd., S. 219). 49 Auf
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Wissenschaft und die Kunst „vertreten“, wie schon der seltsame Titel besagt: „Die Musik des 19. Jahrhunderts und ihre Pflege. Methode der [340] Musik von A. B. Marx.“54 Schade, dass dieser Titel so unlogisch, wie unbegreiflich ist und in dieser goldenen Zeit der Titulaturen, an denen man, gleichwie am Adler-Orden55, schon von fern den Werth des Trägers zu erkennen liebt, leichtlich einen verworrenen, wo nicht üblen Eindruck erregen mag, Die „Und“-Titulatur (Musik und ihre Pflege) mag man hingehen lassen, weil sie dem Zeitgeschmack schmackhaft scheint, par ordre56 der pariser Feuilletons, die es ohne das nicht thun: „England und die Engländer“; „Die Industrie und die Industriellen“ u. s. w. So sei es als ein Stückchen Mode-Journal concedirt57, schon desshalb, um die Capitel-Ueberschriften nicht in ihrer Ruhe zu stören, die zu zwei Dritteln auf jenem zeitgemäss unerlässlichen Und beruhen. Aber der zweite Theil des Titels widerspricht dem ersten; wenn der erste nach dem Wortverstande historisch, so ist der zweite offenbar didaktisch-pädagogisch. Also ein historisch-pädagogisches Werk! So hätte der Titel einfacher lauten mögen: „Die Musik u. s. w. mit pädagogischen Anwendungen“, obwohl im höheren Sinne Kunstgeschichte und Pädagogie doch gar verschiedene Dinge sind. Oder ist’s umgekehrt: die Pädagogie aus der Geschichte abgeleitet? Auch dann wäre der Titel undeutlich. Zu solcher scheinbar kleinlichen Betrachtung von Aeusserlichkeiten fordert „das Buch und sein Lebenskreis“58 heraus, da es sich in sehr gemüthlicher Breite über sehr äusserliche Dinge ergeht (S. 3, 19, 20, 22 u. s. w). Aus Achtung für den Namen des Verfassers gehen wir seiner Darstellung nach, obwohl wir leider erkannt haben, dass der rüstige Arbeiter, der reichbegabte Lehrer, der durch das wissenschaftlichpädagogische System seiner Compositionslehre59 uns alle einst zu wahrem Dank verpflichtet, in seinem neuesten Werke keinen Fortschritt zur Objectivität, sondern verschiedene Rückschritte in die allersubjectivste Selbstgefälligkeit gemacht hat. Der objective Fortgang, den wir einst hoffen durften, wäre gewesen von der pädagogischen Lehre zur (speculativ-philosophischen) Musik-Wissenschaft. Wie gern gäben wir für eine solche die Hälfte der Ich-Erzählungen dahin, die mit S. 19 beginnen und mit 566 schwerlich zu Ende sind! Das erste Capitel erzählt vorredenartig im lyrischen Stil auf 26 Seiten, was auf Einer gesagt werden konnte. Die folgenden vier Capitel sind historischen Inhalts, zum Theil sehr kernhaft, desshalb anregend, wenn auch öfter zum Widerspruche als zur Beistimmung. Die übrigen sieben Capitel ergehen sich über die Methode ziemlich selbstständig, ohne engen Zusammenhang mit den früheren, womit denn die obenerwähnte Zwiespältigkeit des Thema’s deutlich zu Tage tritt. „Tonkunst und ihre Factoren, Leben der Musik, Gegenwart und Zukunft“60, werden zuvörderst auf etwa 200 Seiten abgehandelt. Dieses scheint den ersten Theil
1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts ist in Leipzig erschienen. 55 Hiermit ist wahrscheinlich der Schwarze Adlerorden gemeint, der seit 1701 als höchster preußischer Orden zunächst nur an Personen verliehen wurde, die fürstlicher Abstammung waren. 56 (Frz.) Auf Befehl. 57 Einräumen, zugestehen. 58 Wortlaut der Überschrift des ersten Kapitels (Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 1–26). 59 Marx 1837 Die Lehre von der musikalischen Komposition. 60 Dies sind die Titel der ersten drei Kapitel von Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts. 54 Marx
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des Titel-Thema’s auszuführen, während die übrigen eilf Capitel dem anderen, methodischen, entsprechen. Geben wir allenfalls zu, dass jene wunderliche Verflechtung der Themen sich in der Wirklichkeit besser gestalte als in dem äusserlichen Anblicke der Disposition, so dürfen wir doch nicht verhehlen, dass die ermüdende Breite der Diction die Uebersicht erschwert, dass häufige Wiederholungen, theils innerhalb des Buches, theils aus der allgemeinen Musiklehre61 und der Composi tionslehre, lästig und das durchgehende Pathos des Tones höchst abspannend ist. Was Neues im Buche gesagt wird, möchte sich in einem Viertel des Gesammt-Raumes von 565 Seiten sehr wohl sagen lassen, wenn statt des bald pathetischen, bald salopp naiven Tones der jugendkräftige Lapidar-Stil aus der „Kunst des Gesanges“62 verwandt wäre. Muss denn alles geschrieben und gedruckt werden, was in stiller Stunde zwischen Tag und Abend gedacht, gesonnen, geplant, versucht wird? Nun – sei es, wie es sei –, wir wollen dem Buche seine Ehre geben, seinem Kern-Inhalt uns dankbar erweisen und den beiherspielenden Ueberfluss in Kauf nehmen, dabei aber ohne Scheu vor des gefeierten Lehrers Autorität (225)63 auch seine Schäden blosslegen, da wir zwar Partei nehmen für das Gute, aber die ultramontanische Parteilichkeit eines äusserlichen Esprit de corps64 verwerfen.
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II. Am meisten tritt in Marx’ Buche die Zukunftslehre und was dran hängt hervor. Diese ist das geheime Band, das Marx mit der Wagner-Brendel-Liszt’schen Schule verbindet, obwohl sich die wissenschaftliche Methode unseres Marx von der leipziger Schule denn doch erheblich unterscheidet. Sprechen wir uns hier einmal offen darüber aus, um diese Fragen, wo nicht abzuschliessen, doch der Entscheidung näher zu bringen. Die Lehre, dass die Gegenwart ungenügend sei, dass sie auf Vergangenheit sich erbaue und auf eine Zukunft deute, ist nicht neu, sondern von tausend Jahren her bekannt. Ferner, dass eben diese heutige Gegenwart besonders ungenügend und dass sie eine ganz absonderliche Zukunft vorbedeute, scheint zwar neu, ist aber auch schon mehrmals da gewesen. Aus beiden Gründen bedarf es nicht 61 Marx 1839 Allgemeine Musiklehre. Das Werk war bis 1855 in der vierten, verbesserten Auflage erschienen. 62 Marx 1826 Die Kunst des Gesanges. 63 „Ich wenigstens erkenne wo mein ganzes Selbst, Empfinden und Erkenntniss, mitzusprechen hat schlechthin keine Autorität an als die von der Gottheit eingesetzte Vernunft, – und in der Kunst, wo die feinsten Saiten der Persönlichkeit berührt werden und bei dem redlichsten Streben nach allseitiger Gerechtigkeit im Urtheil unbewusst mitklingen, am allerwenigsten. Selbst meinen Schülern gegenüber hab’ ich niemals Autorität verlangt, vielmehr stets vor jeder blinden Folgsamkeit gewarnt, und nur soviel Zutrauen angenommen, in einzelnen Lehrperioden kurze Zeit zu folgen bis der Beweis rechtzeitig und bald nachfolge. Was auch hülfe dem künftigen Künstler Autorität des Lehrers? Er selber giebt sich, sein Fühlen und Schaun Denken und Vollbringen in seinem Werke“ (Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 225). 64 (Frz.) Korpsgeist, Standesbewusstsein.
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der gelehrten Auseinandersetzung, was Gegenwart sei (142)65 und wie alles Leben vorwärts strebe, und dass man Ahnungen von Zukunft hege, wie jenes prahlerische L’avenir est à nous66 (143–145)67 besagt. Denn kein Lebender steht still; die Zukunft ist dunkel, Jeder deutet sie für seine Wünsche, menschliche Propheten haben allen Credit verloren. Wie wär’s, wenn wir nach Göthe’s Rathe auf eine Weile und einmal aller zeitläufigen Phrasen enthielten und uns entschlössen, einfältig aufrichtig zu sprechen von Sachen, nicht von Zeiten? Dann würde das klare Was (104)68 uns beschäftigen und, so Gott will, ein lebendes Was erzeugt werden, was Phrasen und Standpuncte nicht vermögen. Dann würden sich die Avenir-Scharen nicht mehr entsetzen vor blassen Gespenstern, nicht mehr die „Umkehr der Wissenschaft“ fürchten, da diese ohne Blödsinn und Heuchelei (143)69 gesprochene Wort nichts Zeitliches besagt, sondern die ewige Ueberzeugung, dass alle pantheistisch70 gewordene Wissenschaft am Abgrunde des Unterganges stehe, von wo sie zur allein wahren, lebenskräftigen Wissenschaft des persönlichen Gottes umkehren müsse, um nicht zu versinken. Wer nun dagegen den Sündenfall einen blossen Fortschritt der Erkenntniss nennt (476)71, der kennt nicht das Elend der Zeit, also auch nicht die wahre Bedeutung von Gegenwart, Vergangenheit und Zukunft. Wer aber weiss,
65 Marx beginnt das 5. Kapitel „Die Zukunft“ mit folgenden Fragen: „Wo stehn wir? wohin gehn wir in unsrer Kunst? Hat sie neue Offenbarungen, einen neuen Ideen- und Lebenskreis zu erwarten, oder welcher Beruf harrt ihrer im fernem Lebenslauf der Völker? Auf diese Fragen hat uns die Betrachtung der Gegenwart geführt. Aber – vermögen wir denn in die Zukunft zu blicken? Sind es nicht eitel Träume, was wir, Kurzsichtige schon für die Gegenwart, als Gestalten der Zukunft uns vorspiegeln, um vielleicht vom nächsten Tage Lügen gestraft, vom heitern Blick seiner Morgensonne mit all’ unsern Sorgen und Hoffnungen und Veranstaltungen hinweggelacht zu werden?“ (Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 142). 66 (Frz.) Die Zukunft gehört uns. Angeblich die letzten Worte Henri de Saint-Simons (1760–1825). 67 Am Ende dieses Abschnitts heißt es: „Jene feurigen Jünger unsrer Kunst, die von einer ‚Musik der Zukunft‘ weissagen, – sie mögen viel oder wenig im Einzelnen irren: in der einen Ahnung, dass der Geist vorwärts streben müsse, darin irren sie nicht. In ihnen brennt der Durst des Lebens, der Drang und der Muth dem wahren Lebensgebote ‚Vorwärts‘ zu gehorchen, die Hoffnung einer weiten Zukunft voll neuer Wandlungen und Offenbarungen des Geistes, wie viel oder wenig davon in ihren Lebenskreis falle. Ihr Glaube giebt ihnen auch die jenseits liegende Zukunft zu eigen, wie jenen Freiheitkämpfern, die mit dem unsterblich wahren l’avenir est à nous! in den Bann gingen oder in das blutige Grab“ (Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 144 f.). 68 „Allein die Folgen sind darum nicht weniger entscheidend, – das mögen die beherzigen, die sich eine jener Halbwahrheiten der Aesthetiker haben einprägen lassen, es komme nichts in der Kunst auf das Was? alles auf das Wie? an. Kann das ‚Was‘, der Gegenstand, vom Künstler nicht mit voller Ehrlichkeit und Hingebung erfasst werden, so durchzieht Halbheit und Unwahrhaftigkeit auch das ‚Wie‘, die Darstellung“ (ebd., S. 104). 69 „Alles Leben des Einzelnen wie der Völker, das Leben des Menschengeistes in all’ seinen Formen von Glauben Kunst Wissenschaft gehorcht und gehört dem ewigen Rufe ‚Vorwärts!‘ Nur Blödsinn oder Heuchelei sind reaktionär, dürfen Stillstand (das wäre Tod im Leben) zu gebieten, oder ‚Umkehr‘ etwa der Wissenschaft zu predigen sich unterfangen, oder ‚Rückkehr‘ des Vorübergegangnen zu hoffen und zu erstreben vorgeben“ (ebd., S. 143). 70 Als Pantheismus wird die Lehre bezeichnet, nach der Gott in allen Dingen der Welt existiert. 71 „Was Theologen Erbsünde genannt, ist die erste Erlösung des Menschen, der Fortschritt zu Bewusstheit[,] Erkenntniss[,] Selbstbestimmung[,] That“ (Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 476).
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dass das Beste, was wir thun, aus höherer Quelle begabt wird, dass unsere besten Gedanken und Stimmungen von einem verborgenen Saitenstimmer so und so gestimmt werden (147)72: nun, der muss auch inne werden, dass zwischen Vorwärts und Umkehr etwas liegt, was nicht mit Rennen und Laufen zu erwerben ist (Röm. 9, 16.)73. Und wäre es noch ein relativ Wirkliches, ein relativ klar Geschautes, dieses Zukünftige: wir wollten uns ja gern ein Bisschen Phantasterei daneben gefallen lassen. Aber hier – Alles läuft auf ein luftiges Wenn hinaus! „Wenn die neue Idee ins Leben tritt, so ist der Fortschritt da!!“ (182)74. Ja, wenn! Wenn wir dann noch leben, so werden wir uns wieder sprechen. Bis dahin wird das formelle Gerede von der Zukunfts-Frage (173)75, der Nothwendigkeit des Fortschrittes (165)76, der GeistKunst-Schöpfung (201)77 u. s. w. uns auch nicht um eines Maulwurfes Schritt vorwärts bringen; ja, ich fürchte fast, es gibt Rückschritte, Flucht treuer Seelen in die Einöden, um allen „berechtigten Standpunkten“ (238)78 zu entrinnen, um dem
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hatte nicht Vortheil nicht Ruhmdurst, die Götzen falscher Künstler, an den Altar gelockt; so ist es auch nicht Trägheit oder pedantischer Hochmuth auf Errungnes und Erkanntes oder trotzigscheues Augenverschliessen vor dem Morgenlicht des neuen Tages, was euch da festhält. Die Stimmung eurer Seele – ihr wisst nicht wer die Saiten so gestimmt – hatte dahin euch geführt“ (ebd., S. 147). 73 „So liegt es nun nicht an jemandes Wollen oder Laufen, sondern an Gottes Erbarmen“ (Röm 9, 16). 74 „Wenn die erneuende Idee als gottgesandtes Ereigniss in das Leben des Volks tritt, dann wird auch die Kunst ihren Fortschritt in eine neue Lebensphase feiern. Eher nicht, und anders nicht“ (Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 182). 75 „Ich habe diesen Karakter und die That Wagners an dem Punkte zuerst zu erfassen getrachtet, der für die Oper der entscheidende ist: an dem Zusammentreffen der Musik mit dem Drama und am bedingenden Einflusse dieses Vereins auf jene. Hier liegt die Entscheidung der Zukunftfrage, gleichviel ob es Jedem ohne viel umfassendere Auseinandersetzungen möglich und genehm sein mag, das hier nur flüchtig Angedeutete weiter bis zu fester Ueberzeugung zu verfolgen“ (ebd., S. 173). 76 „Sie [die Frage nach der Zukunft der Oper] knüpft sich für uns Gegenwärtige eben so nothwendig an den Namen Richard Wagner, wie die vorige Richtung der Zukunftfrage an Berlioz Namen. Wagner hat mit einer Bestimmtheit des Bewusstseins, die keineswegs der Eitelkeit sondern fester Ueberzeugung entsprungen ist, seinen Opern (namentlich Tannhäuser und Lohengrin) einen Fortschritt nach der Zukunft beigemessen; seine Schriften zeigen den geistvollen von der Nothwendigkeit des Fortschritts ganz durchdrungnen für seinen besondern Beruf energisch und unerschütterlich wirkenden Mann, seine Opern selbst haben gleich Berlioz Kompositionen an vielen Orten lebhaftesten Antheil, in manchem feurig edlen Gemüth Enthusiasmus erweckt und die Ueberzeugung, dass hier die verheissne Zukunft und Vollendung der Oper gegeben sei“ (ebd., S. 165). 77 „Der Geist des Dichters – in Worten oder Tönen oder Farben – findet sich selber wieder im Gegenstande, durchdringt denselben, schafft ihn, wenn er als äusserlicher Stoff sich darbot, um in Idealgestalt ‚nach seinem Ebenbilde‘, durchdringt und erfüllt ihn gänzlich bis in die letzte Aeusserung, wie die Seele des Menschen das Leibliche bis in den fernsten Nerv. Schöpfer der Kunst ist der Geist. Die Zukunft der Kunst ruht in der Zukunft, die der Geist sich schaffen wird“ (ebd., S. 201). 78 „Dem Künstler ist die Kunst um ihrer selbst willen da, sie ist ihm Selbstzweck; die frühere Betrachtungsweise hat eben in diesem Sinne die Benennungen: ‚freie Künste‘ und ‚schöne Künste‘ für das was wir überhaupt Kunst nennen aufgestellt, im Gegensatze zum Handwerk und verfeinerten ‚Kunsthandwerke‘, das nicht im Werke selbst sondern in der Befriedigung irgend eines Lebensbedürfnisses seinen Zweck finde. Der Künstler steht mit jener Auffassung auf einem durchaus berechtigten Standpunkte“ (ebd., S. 238).
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„All und Nichts“ (62)79 der Philosophen aus dem Wege zu gehen und alles speculative Geschwätz, das so hohl ist wie der Dotter eines Fliegen-Eies, gründlich abzuschwören. – – Wie ist’s gegangen zu Bach’s und Beethoven’s Zeit? Niemand hat auf dem Markte gestanden, zu weissagen, Niemand die Zukunfts-Frage zum Stichblatt tendentiöser Polemik gemacht; und siehe da: das Alte ist vergangen, das Neue gekommen ohne prophetische Geburtshelfer, die auch sicherlich damals wie heute die Geburt der Zeiten weder gezeugt noch gezeitigt hätten. Dass Fortschritt geschehe, Zukunft komme, läugnet Niemand, und Niemand bedarf eines Beweises für beide (143)80; auf der Stelle stehen bleiben, wo er steht, will Niemand, kaum scheinen’s [346] einige hochmüthige Narren zu wollen; aber dass diese Zukunft, welche diese heutige Prophetenschule postulirt, nicht die wahrhaftige sei, das sagen viele Besonnene, die doch nicht weissagen wollen. Darum fürchten wir uns nicht, wenn am Schlusse des Buches (566) gewissen Zweiflern am neuen Evangelium zu denen wir uns auch rechnen, zugerufen wird: „Beharren beim Bestehenden, weil es besteht, u. s. w. – – ist die Losung derer, die schneckengleich in ihrer verhärteten Haut alle Interessen und Aussichten enthalten finden“81 u. s. w. Denn wir dürfen mit gleichem Rechte den Satz umkehren und sagen: „Lechzen und geilen nach der Zukunft, weil sie zukünftig ist, ist die Losung derer, die infusoriengleich82 wie die Räderthiere in ihrer schwabbeligen Haut alle Herrlichkeit des Daseins erblicken“ u. s. w. – Niemand von keiner Partei erkennt jenes Weil an. Dagegen hat es doch wohl Sinn, zu fragen, ob die Vorboten der Zukunft, die uns bisher gekommen – Berlioz, Liszt, Wagner –, ob sie wirklich Schöneres als die Vorzeit, wahre Schönheit, die zur Seele geht und Geist spendet, gebracht haben, ob ihr bisheriges Wirken denn wirklich ein Allkunsthaftes, Tiefvolksthümliches gegeben und gegründet. Ist die Historie wirklich eine Lehrerin (100)83, so lehre sie denn die Zeiten wirklich schauen. So würde einer inne werden, dass in unserem Uebermaass des technischen Formalismus allerdings ein Versinken der Tonkunst angedeutet sei, und dass die aus jener Allkunst ausgeborenen Sonderkünste einander ablösen mit Ebben und Fluten, gleich anderen Geistesschwüngen. Wie, wenn einer behaupten wollte, es zeige sich augenblicklich ein Abblühen der Wort-
79 „Die
Entwickelung der spekulativen Philosophie aus ‚All und Nichts‘ – oder wo sie anzuknüpfen unternommen – steht uns Künstlern und Kunstlehrern zu fern. Unsrer Natur gemäss ist Anschauung das Erste – und Einblick, Eindringen in die Dinge wie sie uns zur Erfahrung kommen, das Zweite auf das wir gewiesen sind“ (ebd., S. 62). 80 „Die Nothwendigkeit des Fortschritts in der Kunst ist schon an einer einfachen Beobachtung festzustellen: an der Unmöglichkeit des Stehnbleibens oder der getreuen Wiederholung dessen, was einem frühern Standpunkt’ angehört, wär’ es auch unsrer Theilnahme noch so nah geblieben“ (ebd., S. 143). 81 „Beharren im Besteh[e] nden weil es besteht und bequem und sicher scheint: das ist Verleugnung des Berufs, der der Menschheit in all ihren Strebungen eingeboren, das ist die Losung derer, die schneckengleich in ihrer verhärteten Haut alle Interessen und Aussichten enthalten finden und mit dem hinfälligen funfzehnten Ludwig ‚Après moi le déluge!‘ [Nach mir die Sintflut] rufen“ (ebd., S. 566). 82 Als Infusorien werden einzellige Wimpertierchen bezeichnet. 83 „Diese Vorzeit, welchen Zustand der Gegenwart hat sie unter dem dauernden Einfluss der allgemeinen Verhältnisse zur Folge gehabt?“ (ebd., S. 100).
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dichtung und Tondichtung, dagegen ein Emporstreben der Baukunst und Sculptur neben absinkender Malerei? Es wäre nicht gewisser und nicht gewagter, als ähnliche Prophetieen des vorliegenden Buches (147 u. s. w.)84. Jene wunderliche „Allkunst“ selber, was ist sie denn? Nach S. 48 zunächst ein „Inbegriff“, d. h. ein logischer Real-Index, ein abstracter Collectiv-Name, gleich „Obst“, das erst concret wird in wirklichen Birnen und Aepfeln.85 Auch spätere Erörterungen, z. B. S. 54, 62, 124, helfen nicht weiter. Ist aber Allkunst jene Wirklichkeit aller Künste, die einst den Griechen gegeben war, so hat hierüber Brendel schon das Richtige gesagt: sie war ein niederer Standpunkt, und unsere Sonderkünste sind ein höherer, der nicht überwunden wird, indem man zum niederen wiederkehrt. Aus jenen vorgefassten zeitthümlichen Hauptsätzen fliessen andere, die eben so auffallend wie unbeweisbar, zum Theil auch lieblos und kränkend sind. So das Ur theil über Deutschland, S. 84;86 als wenn nicht auch Frankreich den Hoch-Conservativen faule Ruhestätten geboten von Racine87 bis Auber88, die Genien wie Rousseau darben liesse! Und in dem demokratisch freien America ist Fulton89, der Erfinder des social beglückenden Dampfschiffes, in bitterer Armuth gestorben. Wenn den wahren Künstler „nicht Vortheil und Ruhm an den Altar lockt“ (147), so wird sich ja auch „das Brod der Verbannung“ (179) von einer freien Seele verdauen lassen, falls es ehrlich Brod ist; und so ist „anspruchslose Treue mit kargem Entgelt“ zufrieden (98); denn kein Staat „kann bezahlen“ (240), was Bach und Mozart leisten. „Das muss also sein“ (284), weil der Künstler „Höheres gibt, als was bezahlt werden kann“ (478). Deutschland ist im vorigen Jahrhundert nicht schlechter gewesen als Frankreich, und ist’s heute auch nicht. Der Kern und Quell der philosophischen Ueberzeugungen unseres Verfassers ist der Hegel’sche Pantheismus. Damit ist vielen Streitfragen hier der Weg abgeschnitten; denn ihr Kampfplatz ist nicht die Kunstlehre, sondern die Religions-Philosophie. Dass nur „die Menschheit unsterblich, nicht der einzelne Mensch“ (145); dass der Gott nach dem „Werde das Gewordene bei Seite schiebt“ (252); dass der „Geist“, dieses ewige hysteron proteron90 der allerneuesten Scholastik, bald negativ ist, indem er nicht schafft, sondern zerstört (40, 251), bald wieder schöpferische, je nachdem (201); dass er
84 „Und
wenn – jetzt oder einst der Geist zu neuen Formen verjüngt sich zu enthüllen fortgeschritten: werden doch jene Schmeicheltöne nimmer ablassen Echo zu sein den leisen Herzensgeständnissen, Trost und Labung nach der Schwüle des übergeschäftig qualmenden Tags, unsre Feste zu schmücken, den Fuss zu Tanz oder Kampf zu beflügeln“ (ebd., S. 147). 85 „[E]s ist nicht Dichtkunst nicht Plastik nicht Musik – die man abwechselnd als vornehmste oder zeit-erste Kunst gepriesen – es ist der Verein aller, die All-Kunst, die ‚Kunst‘, in der alle besondern Künste inbegriffen sind. Diese Vorstellung muss ich in mehr als einem Sinne festgehalten wünschen. Zunächst ist es ein blosser Inbegriff, der sich in dem Namen ‚All-Kunst‘ ausspricht“ (ebd., S. 48). 86 „Es ist herkömmlich in Deutschland, dass die Mittelmässigkeiten Gunst finden und die Grössen allenfalls almosenartige Abfindung; so Haydn, so Mozart, so Beethoven, so Schiller – und Andre genug“ (ebd., S. 84). 87 Jean Racine (1639–1699), französischer Dichter. 88 Daniel-François-Esprit Auber (1782–1871), französischer Komponist. 89 Robert Fulton (1765–1815), amerikanischer Ingenieur. 90 In der Philosophie der Beweis aus einem Satz, der selbst erst zu beweisen ist.
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absolute Nothwendigkeiten dichtet, wo der einfältige Verstand historische Thatsachen sieht (Em. Bach 7391, Beethoven 160, 16292, 163, 164), und doch wieder ein ander Mal die geniale Willenskraft über alle Nothwendigkeit des Fatums erhebt (82, 168) – – diese Zeugnisse hin und her fahrenden Hegelthums sind reichlicher, als wir sie aufzählen mögen, und geben Urkunde von einem Standpunkte, den manche Leute heutzutage zu den „überwundenen“ zu zählen wagen, wie denn auch der Verfasser selbst stellenweise unpantheistisch sich äussert (210)93 und damit bezeugt, dass das Gebiet der Philosophie – ihm oder der Kunst? – ein fremdes sei (61)94. Dem absoluten Standpunkte gebührt auch, sein Ich nicht unter den Scheffel zu stecken; und so geschieht es häufig in diesem Buche, nach dem Grundsatze: Nur die Lumpe sind bescheiden.95 Die Anführungen aus dem Moses96, den Männerchören97, der Compositionslehre98 u. s. w. wird der geneigte Leser so zahlreich verstreut finden, wie in keinem ähnlichen Werke (76, 92, 126, 162, 170, 190, [347] 240, 271, 440, 446, 539). An einigen Stellen ging’s für unser eins um ein Kleines über die Gränzen der Grazie hinaus, z. B. 170, wo es heisst: „Ich muss jeder Form ihr Recht u. s. w…. gewährleisten“99, wo man sich kaum enthält, gegen zu flüstern. Was gesagt ist Hiob 12, 2.100 Der Verfasser will keine Autorität, keinen blinden Glauben für sich in Anspruch nehmen (225, 266, 429), bedarf aber doch, wie jeder Lehrer, des Glaubens, der Pietät, des jugendlichen Vertrauens (30, 445). Die Art und Weise, wie dieses wirken soll, ist aber nicht die echte, sondern eine sehr rationalistische, wenn der Schüler (rectius101 Jünger, 249) erst einmal versuchen soll, ob die Lehre richtig sei. Nein! der echte Lehrer wirbt und fordert Autorität, und der Schüler ist wohl berathen, der einen wackeren findet und sich nicht scheut, eine Weile jurare in verba magistri102, 91 „Schon Bachs glücklichster Sohn, Emanuel, entsagte mit Nothwendigkeit dem hohen strengen Wesen des Vaters; die Zeit des Prophetenthums und heiliger Weihe war vorübergezogen“ (Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 73). 92 Ähnlich den anderen angegebenen Seiten heißt es hier beispielsweise: „Man hat früher Beethoven Formlosigkeit zum Vorwurf gemacht, wie jetzt das Formzerbrechen zum Verdienst“ (ebd., S. 162). 93 Hiermit könnte Krüger auf folgende Aussage von Marx anspielen: „Da sind wir erst wirklich Menschen, da heissen ‚Kinder Gottes‘ wir nach der tiefsinnigen Sprache der Schrift, die den aus der Verfallenheit der Kreatur Erlösten und zur idealen Anschauung und Lebens-Richtung Erhobnen nach dem so benannt hat, der die Welt dachte und die Macht des schöpferischen ‚Werde!‘ an ihr bezeugte“ (ebd., S. 100). 94 „Indem wir uns auf das fremde Gebiet der Philosophie verloren zu haben scheinen, erblicken wir dasselbe Räthsel immitten unsrer eignen Kunst“ (ebd., S. 61). 95 Nach Johann Wolfgang von Goethe, Rechenschaft (ED 1810): „Nur die Lumpe sind bescheiden, / Brave freuen sich der Tat.“ 96 Sein Oratorium Mose (EZ 1832–1840) führt Marx mehrmals beispielhaft an (Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 77, 92, 126 und 190). 97 Marx erwähnt seine „sechsstimmigen Hymnen für Männerchor“ (ebd., S. 76) sowie seinen „achtstimmigen ‚Morgenruf‘ (einen der schwierigsten Sätze für Männerchor)“ (ebd., S. 271). 98 Auf seine Kompositionslehre (Marx 1837 Die Lehre von der musikalischen Komposition) verweist Marx den Leser auf zahlreichen Seiten (Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 76, 78, 126, 276, 296, 349 und 498). 99 „Noch einmal muss ich jeder besondern Form Recht und Unentbehrlichkeit für den Inhalt dem sie sich eignet gewährleisten, während jede für fremden Inhalt nicht nur entbehrlich sondern sogar unzulässig ist“ (ebd., S. 170). 100 „Ja, ihr seid die Leute, mit euch wird die Weisheit sterben!“ (Hiob 12, 2). 101 (Lat.) richtiger, zutreffender. 102 (Lat.) auf die Worte des Meisters schwören, im Sinne einer unkritischer Adaption (nach Horaz, Epistulae I, 1, Vers 14).
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wie auch Marx’ Schüler thun; in solcher Zucht ist der alte Fritze erwachsen, und da er erwachsen war, zeigte sich, dass ihn die strenge Lehre frei gemacht und nun erst überflüssig geworden (550)103. Wann die Mündigkeit eintrete, ist eine sehr überflüssige Frage, wie überhaupt alle Frage nach der Gränze im Gränzenlosen (28, 29, 61, 69, 140, 319, 430, 455, 494). Die vielen Fragezeichen sind zuweilen lästig, da der Verfasser oft versichern muss, sie gar nicht beantworten zu können. Und das ist gut. Fragen und Antworten, Disponiren, Demonstriren und Definiren ist nicht Kunstlehre, kaum Kunst-Wissenschaft (81, 89, 226). Nicht das Wissen ist der Kern des Kunstlebens; es ist möglich, durch tiefe Schönheitsliebe ohne alle Gelehrsamkeit zur wahren Anschauung des Schönen zu gelangen, wohin weder Kenntniss (91) noch Erkenntniss (206, 436) führt. – Vielmehr ist das „Erkennen, wie ich erkannt bin“ (1. Cor. 13, 12)104, ein Vor- und Urbild des hier Gesuchten, d. h. jene Geistleiblichkeit, die in sich selber eins geworden, die schöpferische Lust, das selige Sein; jenes „Erkennen“ der Offenbarung ist, wie Genes. 4, 1105 beweist, etwas ganz Anderes, als das Wissen von der Erkenntniss, die Erbschaft aus Hegel’s Zeitalter. Genug von der Philosophie. Schöner ist, zu verweilen bei den didaktischen und kritischen Theilen des Buches, welche, obwohl mit manchen Wiederholungen und Oftgehörtem durchzogen, doch im Ganzen belebend, wirksam sind. Wollte sich der hochverehrte Verfasser entschliessen, seiner unendlich redseligen Breite nur ein Weniges abzuschneiden: es würden nicht bloss die Gegner dankbar sein. Wozu das unzählige „wie wir bereits erkannt haben“ u. s. w. (217, 501, 504, 509, 536, 546 u. s. w.) – und „wie viel sonst noch“ (440, 497 u. s. w.), das zehnmal repetirte „Empfängniss, Verständniss, Befähigung“ (489, 492, 496, 521 u. s. w.)? die eingeständliche Entschuldigung: „Vielleicht bin ich zu ausführlich gewesen“ (409, 416, 441, 469), macht’s nicht gut. So auch manche philosophische Breite der vorbereitenden Didaxis, wie die alte kursächsische Lehre von „Schall, Klang, Ton“ (56), nebst der speculativen Frage: „Was ist Musik?“ (54) – manch schiefen Seitenblick in andere Wissenschaften, z. B. die Sprachlehre (247) – dergleichen hätten wir gern gemisst zum Besten des Buches und des Verfassers. Die in das ganze Buch zerstreuten pädagogischen Lehren und Winke sind theilweise neu (z. B. 477, 483, 488, 534, 544, 550; – 501 – 509 u. s. w.), zum Theil aber Wiederholungen aus früheren Werken. Ueberflüssig scheint die Lehre von den Kreuzen und Been (309), die, so abgezählt, als sollte man dafür bezahlt werden, mechanisch, nicht lebendig ist. Sehr gut ausgeführt sind dagegen die Rathschläge über Gehör-Uebungen (334), Gedächtniss (299), zusammenhangendes, ununterbrochenes
103 „Ich
lobe mir die Lehre die ‚sich überflüssig macht‘, die sobald wie möglich des Schülers Selbstkraft weckt und anstatt ihrer weiter wirken lässt, den Jünger auf eigne Füsse stellt statt mit Krücken (oder wenn es deren gäb’ mit Siebenmeilenstiefeln) zu begnadigen“ (Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 550). 104 „Wir sehen jetzt durch einen Spiegel ein dunkles Bild; dann aber von Angesicht zu Angesicht. Jetzt erkenne ich stückweise; dann aber werde ich erkennen, wie ich erkannt bin“ (1 Kor 13, 12). 105 „Und Adam erkannte sein Weib Eva, und sie ward schwanger und gebar den Kain und sprach: Ich habe einen Mann gewonnen mit dem HERRN“ (Gen 4, 1).
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Spiel (384), Tonleiter-Uebungen (416), Moll und Dur (344). Bei dem letztgenannten Thema jedoch widersprechen wir, indem die Entwicklung der Moll-Tonart genetisch nicht aus dem Umsingen (345)106 eines gegebenen Dur-Accordes abzuleiten, sondern lediglich aus dem Versuche, von jeder Stufe der Tonleiter einen leitereigenen Dreiklang anzuheben, entstanden sein muss, wie die Geschichte der Kirchentöne zeigt. Ueber die harmonischen Grundlagen (338) ist bereits früher polemisirt, seit der Recension der Compositions-Lehre in den berliner Jahrbüchern von 1842.107 In der Kürze wiederholen wir, jener Recension im Wesentlichen uns anschliessend, dass uns wohl aus der Harmonie eine Melodie zu entwickeln möglich scheint – jede Fanfare beweis’t das –, aber nie aus einer unbestimmten Tonleiter die Harmonie. Es liegt aber tief im Marx’schen Systeme verborgen, dieses Paradoxon von der Melodie, als wäre sie gleichsam ein auf selbsteigenen Füssen stehendes Menschenwerk des bewussten Willens, während doch die wahrhaft logische Kunstlehre darthun würde, wie auf dem vorhandenen Naturgrunde erst des Menschen Erfindung sich erbaut; also gleichwie die Bildkunst die kosmische Gestalt ethisch verwendet, desselbigen Gleichen die Tonkunst den klingenden Grund-Accord vernimmt und das Vernommene frei gestaltet; das ist die Vernunft der Sache. Der Grund-Accord wird vernommen, nachgesungen: c e g; die freibildende Vernunft umsingt ihn und [348] findet Mitteltöne: das ist die Erfindung der Tonleiter. Ich habe minderbegabte Gesangschüler kaum mit äusserster Mühe dahin bringen können, sogleich Tonleitern zu singen, dagegen die Mindestbegabten, scheinbar Tonlosen, durch Vorsingen eines Grund-Accordes (Dur-Dreiklangs) sogleich zum richtigen Nachsingen veranlasst. Diesem natürlichen Entwicklungsgange widerspricht, wenn immerfort das Consonanzen- und Dissonanzen-Wesen u. s. w. verspottet wird (65)108, während man denn doch „Widrigklingendes“ anerkennen muss (414)109. Nicht besser als der Harmonie ist’s dem Rhythmus ergangen, welcher ebenfalls nach einer hartnäckig festgehaltenen Vorstellung als reine Verstandes-Operation gefasst wird (57, 63, 294, 360, 365), während die Naturseite und Naturmacht des Rhythmus, die sich in Pendelschwingung, Wellenschlag und Saiten-Vibration offenbart, gänzlich übergangen wird. Und doch ist hier eine mystisch-dämonische Macht, die aus der Natur in die Natur wirkt ohne menschliche Willensthat; dieses bezeugt im niedersten Gebiete schon die Wirkung der Rhythmen auf Thiere, deren mehrere und geistlosere vom Rhythmus ergriffen werden, als vom harmonischen Tone; höher
106 „Nun
wird auf die unter 12 beiläufig mitbenutzten Molldreiklänge hingewiesen und das Gehör im Erkennen von Moll- und Durdreiklängen geübt; jeder Durdreiklang wird in einen Molldreiklang, jeder Molldreiklang in einen Durdreiklang umgesungen und umgenannt“ (Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 345). 107 Möglicherweise eine Verwechslung, eine dementsprechende Rezension findet sich 1839 von Carl Borromäus von Miltitz in den Hallischen Jahrbüchern (Miltitz 1839 Marx: Die Lehre von der musikalischen Composition). 108 „Der menschliche Geist hatte da allmählig eine Welt von Harmonien geschaffen, in der ihr eigne Beziehungen und Neigungen (z. B. die Auflösungen der sogenannten Dissonanzen und Dissonanz-Akkorde) hervortraten und gebieterisch sich geltend machten, keineswegs immer im Einklange mit dem, was eben im Herzen und Kopfe des Künstlers sich hervorarbeiten wollte“ (Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 65). 109 „Sie [die Übungen bei ruhender Hand auf fünf Tasten] könnten (besonders die widrigklingenden) auf dem Tisch, und zwar bei etwas flacher und ausgedehnter Fingerhaltung vorgeübt werden“ (ebd., S. 414).
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hinauf, bei Menschen, ereignet sich’s, dass mancher Kaltverständige, Willenskräftige doch im Rhythmischen schwach ist; im höchsten Gebiete aber, im grossen Tongebilde, zeigt sich das rhythmische Wesen oft als gestaltende Macht über dem Verstande, indem z. B. das Princip der (nothwendigen) Wiederholung, der Repercussion, der Eurhythmie der Haupt- und Neben-Glieder – wie sie Marx in seiner CompositionsLehre so schön dargestellt –, keineswegs abstracte Verstandes-Zählungen oder äusserliche Ordnungs-Merkmale sind, sondern innerlich dem Leben verflochten in wundervoller, unbegreiflicher Schönheit. Es ruhen hier Natur-Mysterien, geheimnissvoll und offenbar (61, 69), gleich der Wellenlinie (372, 532), was uns noch viel zu sprechen gäbe, wenn wir nicht eilen müssten zum Ende. Desshalb weilen wir nicht mehr bei der Verurtheilung eitlen Virtuosenthums (406)110, der Empfehlung wahren künstlerischen Gehaltes (104)111 u. s. w., weil wir hier völlig beistimmen. Nur über die Concerte (448)112 mit ihrer sogenannten Zerrissenheit wäre doch ausser Mendelssohn’s Vorschlag (448)113 noch zu erwägen, ob es nicht Schuld der Directoren sei, wo die Mannigfalt eine störende geworden. Freilich, wenn in continuo drei Liedchen gesungen, oft mit schreiend verschiedener Tonart, dessgleichen ein paar Piecen aus ein paar Salonstückchen abgedudelt und alles dieses ohne Rücksicht auf Inhalt, Tonart, Poesie vermengt wird, da ist kein vernünftiges Concert. Aber eine vernünftige Zusammenstellung ist möglich, ist auch hier und da wirklich geworden. Wäre sie (ausser in grossen Tonwerken, Motetten, Oratorien u. s. w.) an sich unmöglich, dann würde auch die durch Marx in ihrer vollen Bedeutung anerkannte Sinfonie, die Ouverture u. s. w. ebenfalls unmöglich sein; denn Niemand gibt oder hört eine Tonübung von grossen Massen, um eine Viertel-, höchstens eine halbe Stunde beisammen zu sein! Die kritischen Bemerkungen über Lebende und Todte sind wohl das Gelungenste in dem Buche; mit seltener Schärfe und Rücksichtslosigkeit ausgesprochen, wecken sie das Urtheil und fördern die Kunst-Wissenschaft. Stimmen wir auch nicht überall bei, z. B. über Richard Wagner, der freilich bald gepriesen, bald für ungenügend
110 „Das führt denn allerdings zu jenem Standpunkte, wo Geist und Herz verstummen unter dem Geröll der Tonmassen, wo Eitelkeit siegt über Kunstsinn und Kunstliebe, wo der Missleitete nichts mehr liebt und anerkennt als die Wunder seiner Gelenkigkeit, und wo der kunstgebildete Zuhörer (wenn er zuhören muss) Gott noch dankt, wenn der Tausendkünstler bei seinen eignen Machwerken und denen von seines Gleichen stehn bleibt und nicht irgend einen Beethoven oder gar Bach, die er gar nicht mehr verstehn und vortragen kann, öffentlich misshandelt“ (ebd., S. 406). 111 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 68. 112 „Nur jener eine Uebelstand [der Konzerte] ist nicht zu vermeiden gewesen: die Zerstreutheit, die aus der Zusammenstellung verschiedner und nicht zusammengehöriger Tonstücke folgt. Wähle man ordne man wie man wolle, immer wird eine Komposition der andern Abbruch thun, da sie nach Ursprung und Richtung einander fremd sind“ (Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 448). 113 „Ich erinnere mich übrigens nicht, ob diese zerstreuende Eigenschaft der Konzerte schon zur Sprache gebracht worden; aber empfunden hat man sie. Dahin deutet Mendelssohns langgehegter Vorsatz, einmal ‚ein ganzes Konzert‘ (wie er sich ausdrückte) zu komponiren, nämlich eine vollständige Folge von Tonstücken, wie der Konzertabend fo[r]dert“ (ebd.).
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erklärt wird114 (175,115 157,116 179)117, über Berlioz (160)118, Victor Hugo und Grabbe (184)119, so sind dagegen die Kern-Urtheile über Beethoven, Mendelssohn, Meyerbeer, Bach u. s. w. grossentheils von objectivem, bleibendem Werthe. Mendelssohn ist an mehreren Stellen in seiner Grösse und seinen Mängeln deutlich gezeichnet (102, 106, 119, 265), wogegen ihm anderswo ein ungerechter Vorwurf daraus gemacht wird, dass er nicht an den Fortschritt im neu-hegel’schen Sinne glaubt (93, 193). Meyerbeer ist mit allem Grunde um seine „Ehrlichkeit“ gefragt (116)120; auch Strauss, der Walzerkönig, kommt zu seinem Rechte (227)121, wobei es denn freilich Wunder nimmt, bei so gütiger Anerkennung mannigfacher Zeitrichtungen die frommen Gesänge der Vorzeit so constant verurtheilen zu hören (446)122, als läse man zwischen den Zeilen: „Thut nichts, der Jude wird gehängt!“123
114 Bewertet
Marx die Idee des Gesamtkunstwerks im Sinne Wagners grundsätzlich positiv, so beurteilt er bereits Lohengrin bezüglich dessen musikalisch ‚fortschrittlichen‘ Vermögens eindeutig negativ: „Nein. Das ist nicht Oper der Zukunft. Das ist Flucht aus der Gegenwart hinaus“ (ebd., S. 178). 115 „Auch Wagner hat das Verhängniss der Oper nicht abwenden können“ (ebd., S. 175). 116 Auf S. 157 findet sich keine Aussage über Wagner, eine der positiven Anmerkungen ist beispielsweise: „Gestehen wir es nur: keiner von allen deutschen Komponisten, wie gross und überlegen ihre künstlerische Befähigung sonst auch sein mag, hat den Entschluss und die Karakterkraft gehabt, sich gleich Gluck dieser Forderung des Drama’s unbedingt zu widmen, jenem erhabnen Vorgänger zu folgen, als der verbannte Richard Wagner“ (Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 109). 117 Auf S. 179 findet sich keine Aussage über Wagner, möglicherweise ist die auch im Index angegebene Seite 169 gemeint: „Über seinen [Glucks] Gedanken hinaus hat es für die Oper der Idee nach keinen Fortschritt geben, auch Wagner hat keinen höhern Gedanken fassen und offenbaren können“ (ebd., S. 168 f.). 118 „Berlioz hatte den Muth gehabt und den Geist, sich auf die höchste Felskuppe Beethoven nachzuringen. Und es war ihm Nothwendigkeit gewesen und Verhängniss, hier zu beginnen und hier zu weilen; denn hier erst, wo die Musik ihre Gränze berührt und zu fremder Stütze greift in das Reich des freien Geistes einzudringen, – eben an dieser fremden Hülfe fand der geistvolle Franzos die Leitung umgekehrt in das Gebiet der Musik“ (ebd., S. 160). 119 „Das alte Frankreich hat in Corneille Racine Moliere, das durch die Revolution verjüngte Frankreich hat in Victor Hugo, dem jetzt Verbannten, und seinen Strebensgenossen seine Dramatik sich geschaffen. […] Auch dem deutschen Volke war (Früheres nicht zu erwähnen) in Schiller und Goethe eine erste dramatische Erhebung geworden, von der es unbereit für ein thatmächtiges Leben hinabsank in die Krankhaftigkeit und Einseitigkeit Kleists, dem das edle aller Dichterkraft und Dichterweihe übervolle Herz am Fall des Vaterlands krankte und brach, – bis in noch verkommnerer Zeit Grabbe, der in Ungunst der Verhältnisse verkrüppelte Titan, in Unvollendung sich zerarbeiten und zerrütten musste“ (ebd., S. 184). 120 „Denn bei all seinen bewundernswürdigen Eigenschaften und Geschicklichkeiten hat ihm [Meyerbeer] Eins gefehlt: Ehrlichkeit – Ehrlichkeit des Künstlers“ (ebd., S. 116). 121 „In einem straussschen Walzer im schwäbischen herzigen Lied’ in der Menuett die Haydn einem Ochsenhändler zur Hochzeit schrieb, ist mehr Lebensluft und Gesundheit als in jenen Gewächsen blasirter und ausgehöhlter Zustände [der Salonmusik], wo Anmaassung aller Art die innre Unbefriedigung verdecken und überwinden soll, aber nur unheilbarer macht“ (ebd., S. 227). 122 „Erst nach dem Stahlbad in Händels und Bachs Gesängen würd’ ich einen Versuch mit mittelaltrigen Tonsetzern (wem es gelüstet) gutheissen, damit nicht das noch unklare Gemüth von den Duftwolken jener altkatholischen Weihrauchgefässe, die ganz zeitgemäss wieder in Schwung gekommen, vollends umnebelt und betäubt werde gegen den positiven Inhalt gesungnen Worts“ (ebd., S. 446). 123 Nach Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise, 4. Akt, 2. Auftritt: „Tut nichts! der Jude wird verbrannt!“
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Beethoven wird im Ganzen und Einzelnen sehr gründlich erläutert. Die Betrachtungen der neunten Sinfonie im Sinne der leipziger Schule (153,124 163)125 lassen wir auf sich beruhen. Ein paar Mal aber müssen wir einsprechen und uns weitere Belehrung erbitten. Das Allegretto der Cis-moll-(Mondschein-)Sonate126 (467) ist, meinen wir, nicht tänzermässig und doch richtig bezeichnet. Die Kühle nach der Schwüle des ersten Satzes, in Thränen lächelnd, tritt so klar hervor, wie es die Töne nur sagen können. Beweisbar und wortbeschreiblich (467) ist dergleichen allerdings nicht; der logische Gang ist heimlich, doch wirksam, wie in Bach’s Präludien und Fugen, die auch oft in Gegensätzen reden, nicht allzeit a = a sagen,127 gleich dem französischen Philosophen128. Das grosse F-dur-Präludium des temperirten Claviers, 3/2,129 ist von tiefernstem Inhalt, feierlich singend, orgeltonig, und seine Fuge 3/8 ein heiteres, neckisches Spiel, voll jugendlichen Muthwillens; wie sollte [349] Bach Unrecht gethan haben, Mann und Kind mitsammen reden zu lassen? Diese schönste Dramatik lassen wir uns nicht rauben. So auch die As-dur-Sonate, Op. 26130, worüber viel Schönes gesagt ist (S. 514); ihre Variationen sind voll feiner Empfindung, sangreich, schwärmerisch, schweifend, in sich wiederkehrend – wie kommt da nun der Trauermarsch hinein, dem doch wieder das verzweifelte Menuett folgt? und das kühn muthwillige, zweistimmige Fugato macht den Beschluss? Ich weiss keine Antwort, finde sie aber hier eben so überflüssig, wie bei der Frage, ob Geige und Clavier zusammen passen – da doch alle Tage Gesang und Clavier selbst bei Marx einträchtig mitsammen gehen. Es ist dieselbe Frage, wie die nach der Versöhnung der Temperatur und Mixtur, nach der Vereinigung des (temperirten) Claviers mit (untemperirten) Waldhörnern und (akustisch in reine Quinten gestimmten) Geigen u. s. w.; und wenn ich die Antwort nicht weiss, so beruhigt mich der Anblick einer grossen Reihe erhabener Werke und Künstler, wo alles das geschehen ist, was über mein Denken hinaus geht.
124 „Er, der seines Lebens reinste vollste Kraft der Instrumentenwelt gegeben und in ihr, sie zum bestimmten Geistgehalt emporhebend, seine eigenste Aufgabe gelöst: er bietet noch einmal die Macht seines eigentlichsten Reichs auf zu kühnstem gewaltigstem und freiestem Gebahren. Und all das mystisch-mythische Leben jener nicht-menschlichen Stimmen drängt nur unwiderstehlicher zum Menschenwort hin“ (Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 153). 125 „Und noch schlagender wird, was der neunten Symphonie nothwendig war, das Hinüberwachsen selbständiger Instrumentaldichtung in Vokalsatz, den Nachfolgern zum Gebrechen“ (ebd., S. 163). 126 Ludwig van Beethoven, Klaviersonate Nr. 14 („Mondscheinsonate“) cis-Moll op. 27 (ED 1802). 127 Anspielung auf die philosophische Fragestellungen bezüglich des Satzes der Identität sowie des Satzes des Widerspruchs, das ein seit Aristoteles diskutiertes Problem ist und auch Zeitgenossen Krügers, wie beispielsweise Hermann Lotze, umtrieb (vgl. Schick 2010 Contradictio est regula veri, S. 14 f.). 128 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 29. 129 Johann Sebastian Bach, Das Wohltemperierte Klavier, Präludium und Fuge Nr. 11 F-Dur BWV 856. 130 Beethoven, Klaviersonate Nr. 12 As-Dur op. 26 (ED 1802).
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Und so bleibe denn auch Einiges unerledigtIII, damit wir uns nicht rühmen, Alles ins Bewusstsein vermauert oder verflüssigt zu haben, was hehre, heilige Stimmen gesagt haben, grösser als wir, grösser als die Welt. Auf alle Fälle nehmen wir auch für uns die Ehre in Anspruch, es mit der Kunst ehrlich zu meinen, grämen uns aber durchaus nicht, wenn die Fanatiker der Fortschrittes ihre Gegner blöde und heuchlerisch schelten (143)132, sondern nehmen hier des Dichters Wort zum Schilde: Ihr Gläubigen, rühmt nur nicht euren Glauben Als einzigen – wir glauben auch, wie ihr; Der Forscher lässt sich keineswegs berauben Des Erbtheils – aller Welt gegönnt – und mir.133 A E K.
Kommentar Die vorliegende Rezension Eduard Krügers fasst mit Franz Brendels Die Musik der Gegenwart und die Gesammtkunst der Zukunft (ED 1854) und Adolf Bernhard Marx’ Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts und ihre Pflege (ED 1855) zwei für den Musikdiskurs bedeutende Schriften der 1850er Jahre in vielsagender Weise zusammen. Während Brendel sich vor allem aus geschichtsphilosophischer Sicht mit Wagners Konzept des Gesamtkunstwerkes auseinandersetzt,134 geht es Marx primär um die Entwicklung einer wissenschaftlich-fundierten Musikpädagogik, der er eine ästhetische Erörterung über das Wesen der Kunst und der III z. B.
einiges Sprachliche und Typographische, was wir aus kritischem Gewissen und im dem Verfasser zu zeigen, wie sorgfältig wir seine immer anregsamen Worte geprüft, allenfalls nachholen dürfen. Auffallend sind folgende Stellen: S. 62, Z. 8 v. u., bin mich bewusst. – 70, 1 ob., immerhin, statt immer. – 81, 3 u., festzuhalten hat kein regierendes Zeitwort. – 107, 18, geben statt gibt. – 117, 11, er anvertraut (beliebte, dem Französischen nachgebildete, aber undeutsche Flexion). – 138, 7 u., Lehrers, statt Lehrer. – 160, 13 commencéz, statt commencez. – 239, 10 u., Einzeln, statt Einzelnen. – 276, 4 u., ein Einfluss, statt einen. – 362, im 13. Tacte, hat die dritte Stimme fälschlich a statt g. – 440, 11 u., so Vielen, statt Vieles. – 510, 8. ixiontisch, statt ixionisch. Ausserdem beklagen wir eine Anzahl überzähliger Apostrophe bei abgebrochenen Dativen und dem häufigen wär’ (543, 2), was einen gar zu naiv lyrischen Klang hat in der Prosa, während wir die Sparsamkeit der Komma’s, die unser Verfasser nach J. Grimm’s Vorgang eingeführt hat, nicht so lebhaft anklagen möchten, wie ein anderer einsichts- und liebevoller Beurtheiler in der Köln. Zeitung gethan.131 ist eine Rezension Ferdinand Hillers gemeint (Hiller 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts). 132 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 69. 133 Johann Wolfgang von Goethe, Zahme Xenien IX. 134 Zu Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart siehe auch den Kommentar zu Pohl 131 Hiermit
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Musik sowie eine Einordnung der musikalischen Zustände der Zeit vorschaltet. So unterschiedlich die beiden Bücher in Umfang, Ziel und Ausführung sind, so bemüht ist Krüger, durch seine Rezension das verbindende und seiner Meinung nach entscheidende Moment herauszukehren: Es ist die immer wieder vorgebrachte Parole vom ‚Fortschritt‘ in der Musik, welcher untrennbar mit einem solchen im gesellschaftspolitischen Leben verbunden und nur mit Hilfe neuer ‚Inhalte‘ in der Musik zu erreichen sei;135 eine Parallele im Denken von Brendel und Marx, die schon in früheren Schriften – beispielhaft im Jahr 1848 – zu Tage trat, indem sich beide u. a. für eine Neustrukturierung des Musiklebens sowie für eine Neuorientierung der Komponisten und Künstler aussprachen.136 Die Doppelbesprechung zweier so umfangreicher Schriften ist kaum auf rationelle Gründe allein zurückzuführen und auch die verhältnismäßig späte Veröffentlichung rechtfertigt diese nicht genügend. Sprechender scheinen hingegen die Rezensionen, welche sich schon vor Krüger entweder der Schrift Brendels oder jener von Marx annahmen: Waren die Reaktionen auf Brendel weitestgehend verhalten, sah sich der Autor selbst bemüßigt, seinen Mitarbeiter Richard Pohl mit einer ‚kritischen‘ Besprechung für die eigene Zeitschrift zu beauftragen.137 Außer einer positiven Reaktion von Ferdinand Gleich138 war die dürftige Kritik auf Brendels Buch kaum inhaltlich und zielte vordergründig auf das ihm vorgeworfene Parteimachen ab.139 Zu Marx’ Publikation äußersten sich hingegen journalistische Größen wie der Berliner Kritiker Ernst Kossak140 oder bedeutende Musiker wie Franz Liszt141 und Ferdinand Hiller142. Neben einer kürzeren Rezension in der Rheinischen Musik-Zeitung143, die grundsätzlich positiv und nacherzählend ist, ging Kossak in der Neuen Berliner Musikzeitung – hauptsächlich lobend – jedoch wesentlich detaillierter auf Marx’ Schrift ein. Die Besprechung durch Hiller erschien einen Monat vor den beiden letztgenannten Artikeln im Feuilleton der Kölnischen Zeitung und zeichnet trotz der offenkundigen Ehrerbietung gegenüber Marx erstmals ein differenziertes Bild, das den philosophischen Teil der Schrift zwar lobt, jedoch – gewissermaßen vielsagend – nicht weiter darauf eingeht, den pädagogischen hingegen als zwar reiche, aber doch zu ‚bunte‘ Mischung von Wahrem, Wichtigem, zuweilen Überflüssigem und Einseitigem beschreibt; des Weiteren erklärt Hiller ausführlich sein Unverständnis für die Missgunst, welche Marx Felix Mendelssohn Bartholdys Werk gegenüber bezeugte. Anfang Mai desselben Jahres erschien schließlich der Aufsatz Liszts, der die von sämtlichen Rezensenten bemängelte Zweiteiligkeit als positiv und dezidiert zukunftsträchtig beurteilt, indem er seine eigenen Vorstellungen mit jenen von Marx verknüpft:
1854 Betrachtungen über die Musik der Gegenwart, in: NdS 1 Nr. 68. 135 So heißt es etwa bei Marx: „Soll also die Kunst einen Fortschritt erleben, so kann das nicht anders als durch Fortschritt im Leben der Zeit und des Volks geschehn. Die Frage nach dem Standpunkt’ und Fortschritte der Kunst ist Eins mit der Frage nach dem Standpunkt’ und Fortschritte des Volks und der Zeit“ (Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 179). 136 Siehe etwa Marx 1848 Der Ruf unserer Zeit, in: NdS 1 Nr. 9; Marx 1848 Denkschrift über Organisation des Musikwesens; Marx 1848 Assoziation im Kunstgebiete sowie in Brendel 1848 Fragen der Zeit IV, in: NdS 1 Nr. 17; Brendel 1848 Auch eine Petition; Brendel 1848 Tonkünstler-Versammlung zu Leipzig, Brendel 1848 Erklärung des Leipziger Tonkünstler-Vereins. 137 Siehe Pohl 1854 Betrachtungen über die Musik der Gegenwart, in: NdS 1 Nr. 68. 138 Gleich 1855 Franz Brendel. Die Musik der Gegenwart. 139 Anonym 1856 Die Musik der Gegenwart; siehe dazu auch den Kommentar zu Pohl 1854 Betrachtungen über die Musik der Gegenwart, in: NdS 1 Nr. 68. 140 Kossak 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts. 141 Liszt 1855 Marx: Die Musik im neunzehnten Jahrhundert, in: NdS 2 Nr. 80. 142 Hiller 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts. 143 1. 1855 Die Musik des 19. Jahrhunderts.
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Nr. 79 (1855)
„Wenn es erst als Grundsatz festgestellt, daß von nun an der Musiker sich nicht mehr auf Kosten des Menschen entwickeln dürfe […], um die Chorden seiner Lyra mit der Tonhöhe der Zeiten in Uebereinstimmung zu bringen, um die Kundgebungen seiner Kunst in Bildergruppen zu reihen die durch einen poetischen oder philosophischen Faden untereinander verbunden sind – so ist damit das große Wort der Musikzukunft ausgesprochen“144. Für Krüger ist es ebendiese „Zukunftslehre“, die „das geheime Band“ darstellt, „das Marx mit der Wagner-Brendel-Liszt’schen Schule verbindet“145 und die er angreift: „Lechzen und geilen nach der Zukunft, weil sie zukünftig ist, ist die Losung […]. Niemand von keiner Partei erkennt jenes Weil an. Dagegen hat es doch wohl Sinn, zu fragen, ob die Vorboten der Zukunft, die uns bisher gekommen – Berlioz, Liszt, Wagner –, ob sie wirklich Schöneres als die Vorzeit […] gebracht haben, ob ihr bisheriges Wirken denn wirklich ein Allkunsthaftes, Tiefvolksthümliches gegeben und gegründet.“146 Betrachtet Krüger das Emporheben Wagners durch Brendel als „unschädlich“147, so räumt er der gesamten Schrift doch den Wert eines „historische[n] Denkmal[s]“ ein, nämlich „dessen, was die Schule will“.148 Gegenüber Marx offenbart Krüger einen gewissen Grad der Enttäuschung, die er im bloßen Kompilieren von früher Verfasstem begründet, das stilistisch jedoch von höherem Wert gewesen sei, im Ganzen sei die Schrift ein Rückschritt „in die allersubjectivste Selbstgefälligkeit“.149 Bekannt als Autor der AmZ sowie der NZfM stellt Krügers vorliegende Rezension – vornehmlich der erste, Brendel betreffende Teil – zunächst ein Gegenpol zu den euphorischen Besprechungen Pohls und Gleichs dar; in der Niederrheinischen Musik-Zeitung schrieb Krüger erst seit einem Jahr und das meist unter seinem Pseudonym „DIXI“.150 Durch die Verbindung mit Marx, den Krüger als musikalische Autorität anerkennt und nicht zur ‚Schule‘ zählt, wird die sonst meist auf den Weimarer Kreis beschränkte ‚Zukunfts‘-Polemik allerdings zu einer diskursiven Kritik, die sich gegenüber bloßen Personaldebatten vermeintlich erhaben zeigt. Das Fortschritts-Thema, in der von den beiden Autoren jeweils behandelten Weise, scheint für Krüger derart von prophetischem Impetus, dass dem Leser durch die Unmenge an Bibelzitaten, die er dagegen anführt, Brendel und Marx unweigerlich als idealistische Utopisten erscheinen müssen. Durchaus bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang Krügers Verurteilung eines „technischen Formalismus“151 zugunsten einer von ihm geforderten ‚realistischen‘ Kunstbetrachtung – für die beiden rezensierten Autoren, deren als fortschrittlich erklärtes Ziel gerade die Verbindung von Musik und Gesellschaft darstellt, eine weitaus mehr als parteibedingte Absage. Dennoch zeigt sich Krügers gezielt parteikritische Intention dieser Doppelrezension unzweifelhaft in der einseitigen Vereinnahmung – wenn nicht sogar Instrumentalisierung – von Marx’ nahezu radikalen, aber durchaus differenzierten Fortschrittsbestrebungen, indem er beispielsweise dessen eindeutige Absage an Wagners Lohengrin als Oper der Zukunft schlichtweg verschweigt und somit Marx zwar nicht als schulangehörig deklariert, dem Leser jedoch zumindest seine ‚Mitgliedschaft‘ in der Partei der sogenannten Zukunftsmusiker suggeriert.
144 Liszt 1855 Marx: Die Musik im neunzehnten Jahrhundert, S. 220 f., in: NdS 2 Nr. 80, S. 985. 145 Vorliegender Artikel, S. 959 [345]. 146 Ebd., S. 962 [346]. 147 Ebd., S. 952 [338]. 148 Ebd., S. 957 [339]. 149 Ebd., S. 958 [340]. 150 Möglicherweise hatte Krüger das Pseudonym aufgrund seines Wechsels von der NZfM zur Niederrheinischen Musik-Zeitung eingeführt; vgl. dazu den Kommentar zu Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, in: NdS 1 Nr. 66. 151 Ebd., S. 962 [346].
Nr. 80 | Franz Liszt, „Marx: Die Musik im neunzehnten Jahrhundert“, in: NZfM 22 (1855), Bd. 42, Nr. 20 (11. Mai), S. 213 – 221; Nr. 21 (18. Mai), S. 225 – 230.
Marx: Die Musik im neunzehnten Jahrhundert. Von Franz Liszt
Wir begrüßen dies Buch als eines der edelsten Erzeugnisse des hervorragenden Mannes welcher sich durch seine Werke so mannichfach bewährte, und die in ihm niedergelegte Kunstanschauung als von einem Standpunkt ausgehend auf dessen Höhe vor ihr im Bereiche der Kunst keine andere sich gezeigt hat. Wir hegen den lebhaften Wunsch, daß die Ideen die hier von einem vollwichtigen und in ganz Deutschland seines umfassenden Wissens wegen hochverehrten Theoretiker aufgestellt werden, überall rege, thätige Geister finden möchten, die sie in sich aufnehmen und erfassen, sich von ihnen durchdringen lassen, weil das Buch den Ausgangspunkt für jeden Musiker des neunzehnten Jahrhunderts bildet. Es enthält die Zukunft der Musik in dem Sinne, daß die Musik nur dann eine Zukunft haben wird, wenn die Künstler die großen Wahrheiten die hier so richtig so klar und schön ausgesprochen sind, sich zu Herzen nehmen, – wenn sie die Ueberzeugung gewinnen, daß von nun an das Trachten unsrer Kunst darauf gerichtet sein muß, die Vergangenheit und ihre Meisterwerke zu studiren, nicht aber sie knechtisch nachzuahmen, weil die Formen im Wechsel und Schwinden der Zeit unaufhörlich wechseln und schwinden; – daß von nun an specifische Ausbildung, einseitige Fertigkeit und Wissenschaft für den Musiker nicht mehr ausreicht, weil der ganze Mensch mit dem Musiker sich heben und bilden muß, in dem, „Macht und Inhalt seines Geistes den Inhalt bestimmt, den er in seinem Werke niederlegt;“I – daß die Musik die Schranken durchbrechen müsse, in welchen ihr rein instrumentaler Theil zur Zeit noch zurückgehalten wird, und daß ihr vocaler Theil die schlechte, lästige Gesellschaft literarischer Nichtigkeiten von sich abzuwehren habe um sich mit den poetischen Kräften zu vereinigen.
I Marx:
Die Musik im neunzehnten Jahrhundert. S. 46.
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Nr. 80 (1855)
„In den Gluthen unsrer Tage, die eine neue Zeit emporblühen machen, müssen all die spröden Erze, die sonst da und dort in einzelnen Schachten wuchsen aus dem flüssigen Erdkern zusammen schmelzen zu schönem korpethischen1 Gusse.“2 [214] Wenn die Hoffnung und Zuversicht auf eine große Zukunft der Musik die wir unser Lebelang festhalten, einer Ermuthigung bedurft hätte, gewiß wäre sie uns nie kräftigender und tröstlicher entgegengetreten als in diesen herrlichen Blättern in welchen ein so eindringlich redender Geist die wichtigen Wahrheiten glänzend ausspricht, deren allgemeine Erkenntniß jene Zukunft herbeizuführen vermag. L’homme est un être enseigné.3 Dies unwiderlegbare Axiom hat der dogmatischen Philosophie häufig zur Grundlage ihrer Beweisführungen gedient. Wenn nun der Mensch des Unterrichts nicht entrathen kann, wie kommt es doch, daß zwischen Lehrenden und Belehrten oft so heftige, unversöhnliche Kämpfe stattfinden? Welche ist die Ursache, daß so Viele die ein angebornes Begehren nach Sättigung in sich tragen, die ihnen von ihren Schaffnern vorgesetzte Kost oft mit Heftigkeit von sich weisen? Die Lehrer verfehlten nie, solche Schüler störrige Kinder, Rebellen, Opfer des Irrthums und der Anmaßung zu nennen, und man kann nicht gänzlich ableugnen, daß in dem Betragen junger Leute welche das Joch ihrer Schulmeister abzustreifen entschlossen sind, oft eitle Sucht nach Unabhängigkeit, Widerspruchsgeist und Irrthümer der Anmaßung hervortraten. War aber die Schuld blos auf ihrer Seite? – Wir haben hier nicht das allgemeine Feld der Wissenschaften zu berühren, wir beschränken uns darauf, von der Lehre zu sprechen, deren Gegenstand die Kunst und insbesondere unsere Kunst ist, und wir fragen: Wenn der Unterricht von Organisationen so oft verschmäht wurde, die zur Entwicklung seiner Keime die geeignetesten waren, wenn man alle die Vorwürfe an ihn richtet die Marx in seinem Buche (S. 20 u. 252) so trefflich zusammenfaßt, haben die Unterrichtenden selbst niemals Veranlassung dazu gegeben? Wurde der Unterricht den Lernenden immer wie eine belebende Nahrung mitgetheilt, welche den Geist mit verschiedenen Substanzen bereichert, die er in einem dem physischen Verdauungsprozeß ähnlichen Verfahren sich nach und nach aneignen soll? Hat der Unterricht niemals die Aufgabe einer gleichsam mütterlichen Sorgsamkeit, die es sich angelegen sein läßt nach dem Naturell der Zöglinge die zu ihrer Entwickelung nöthige Speise einzurichten, in die eines gleichgültigen Kerkermeisters verwandelt, welcher dem Gefangenen den Lebensunterhalt zu dem er verurtheilt ist in täglichen Portionen hinreicht, ohne darnach zu fragen, ob es ihm gut oder schlecht bekommen wird? – Hat die Lehre dem sich fortschreitend entwickelnden Streben gegenüber immer jene höchste Achtung vor der menschlichen Natur bewahrt, hat sie statt ein von kopferbrechender Stubengelehrsamkeit ausgeklügeltes Gesetzformular ihr aufzudringen, beobachtet und experimentirt, Mißtrauen gegen die eigne Unfehlbarkeit gehegt, hat sie dem Fortschritt der Zeiten neue Weisheit zu neuen Methoden, neue Entdeckungen für neue
1 Möglicherweise handelt es sich um eine eigene Wortschöpfung im Sinne von: wie ein Körper, ein Ganzes. Im 5. Band von Liszts Gesammelten Schriften (ED 1882) ist das Wort durch ‚korintisch‘ ersetzt. 2 Konnte nicht nachgewiesen werden. 3 (Frz.) Der Mensch ist ein gelehrtes Wesen.
Liszt 1855 Marx: Die Musik im neunzehnten Jahrhundert
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Bedürfnisse abgelauscht ? – Wir müssen es gestehen, die Lehre hat dieser ihrer ersten Pflicht nur selten Genüge geleistet. Zumeist machte sie sich als eine Art geistige Tyrannei geltend und verlangte dann widerstandlos gehorchende Unterthanen, unterwarf, wie ein Ordensvorsteher, ihre Novizen klösterlichen Regeln von denen die geringste Abweichung eine sündige Gebotsübertretung war. Sie zog ihren Schülern Theorien wie Uniformen an, und um die verschiedendsten Taillen mit einem gleichförmig zugestutzten Costüm auszustaffiren, that sie ihnen in seltsamer Weise Gewalt an, suchte natürliche Fähigkeit, Selbstkritik, Scharfsinn und Urtheil in ihnen zu ersticken, und es nahm sie dann noch Wunder, wenn Viele die Mönchskutte an den Nagel hingen und lieber die ersten Anfänge der Wissenschaft auf dem mühsamen Weg der Versuche sich zu eigen machen wollten, als Wohlthaten der Lehre mit Aufopferung innerer Anlagen zu bezahlen! Hatte die Kunstlehre jemals daran gedacht, ihre Verpflichtungen in einer ähnlichen folgenden Weise auszusprechen? „Viel und Größres ist dem Kunstlehrer zu bedenken, zu gewinnen Pflicht. Er muß die Kunst erkannt haben nach ihrem Wesen und ihrer bisherigen Entfaltung, er muß erfaßt haben ihre Bedeutung und ihr Verhältniß im Dasein des Volks und der Zeit, denen er angehört; er bedarf eines vorschauenden Blicks für die kommende Zeit, in der seine Zöglinge zur Selbstthat antreten, – er muß Theil haben an der Bildung und Richtung seiner Zeit und seines Volks, um zu wissen was in ihnen die Kunst bedeutet und gilt, um vorzuschauen (so weit es uns gegeben) was sie im Fortgang der Entwicklung zu gegenwärtigen, was sie darin und dafür zu wirken hat. – Er muß Menschen zu erkennen, zu behandeln, für seine Kunst zu gewinnen verstehn, muß enträthseln, was sie begehren und was ihnen frommt, was sie vermögen, was ihnen versagt oder erlangbar ist. Mit der Kunstkenntniß muß er Geschick der Ausführung, mit der Menschenkenntniß Erfahrung, Gewandtheit und Menschenliebe verbinden, ohne die jedes Wirken todt und unfruchtbar bleibt, mit der Wissenschaft des Lehrers muß er die Kunst des Lehrens vereinen, dieses über alle Grundsätze und Vorschriften hinauslangende instinktive Erfassen des einzig in jedem besondern Falle und Augenblicke Rechten und Wirksamen . . . . Künstler und Lehrer, Bildner und Denker, Forscher und Thatmensch muß er sein, will er seinen Beruf vollkommen erfüllen,II“ – „seine dritte Pflicht neben jenen ist, die Eigenthümlichkeit im Empfinden und Wollen zu läutern, ohne sie zu vernichtenIII“ – „und das Feld der Lehre muß [215] das Friedensfeld sein; nicht ein prahlerisches Campo Santo für aufgeschmückte, gleichgültig todte Leichname die man bei und wegsetzen will mit abgethanem Interesse, sondern ein Friedensfeld voll Erquickung für die Wirkenden, und voll reicher Keime zukünftiger Erndten.IV“ – „Man ist nicht mit irgend einer einzelnen oder einigen Eigenschaften Künstler oder kunstempfänglich, sondern der ganze Mensch in der Einheit all seiner Vermögen ist das Subjekt der Kunst. Folglich hat die Kunstlehre nicht das abstract Körperliche, nicht das abstract geistige, nicht irgend eine besondere Form und Geistthätigkeit zum
II S. 13.
III S. 25.
IV S. 18.
Nr. 80 (1855)
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Gegenstand; in der Kunst ist Sinn und Geist Einheit, folglich kann die Kunstlehre nicht Abrichtung, nicht innere Entwickelung irgend einer einseitigen Geistbethätigung sein; sie muß Erziehung sein; sie muß Erziehung sein, muß den ganzen Menschen fassen und erziehen, d. h. emporziehen aus dem Stande des Unvermögens zu dem Standpunkte der für künstlerisches Leben und Wirken genügend ist.“V – „Von unten herauf! Von innen heraus: nur so kann der Mensch erzogen und gebildet werden, nur so ist der Künstler“VI – „Der Erzieher aber muß ein Erzogener sein, nicht ein angelernter sondern ein wirklich Erzogener, in seinem ganzen Wesen und Vermögen ein Emporgezogener und Emporgehobener! – Ein ganzer Mensch und ein Ganzes für die Kunst. Der ganze Mensch in der Person des Lehrenden tritt zu dem ganzen Menschen in der Person der Lernenden ein. Der Lehrende weiß Kraft seines Selbstbewußtseins, daß was er künstlerisch wirkt, nichts als unmittelbarer Ausdruck seiner Persönlichkeit, daß in seinem Werk und Wirken nichts sein kann, als was seiner Person eigen gewesen. Er muß also auch die Person und Persönlichkeit des Schülers werth und unverletzlich halten, denn gleich ihm wird auch der Schüler nur wirken und eigenthümlich wirken durch seine ihm eigenthümliche Persönlichkeit.“VII – „Ziel alles Strebens ist Bewußtheit, wachsende und tieferdringende Erkenntniß. Ohne sie hat alles Bemühen keinen Abschluß, keinen Erfolg, – ja keine gewisse Bahn.“VIII – „Die Natur eines jeden Menschen wäre er auch in Fesseln geboren, hat den unaustilgbaren Drang zu Selbstbestimmung und Freiheit. Wer den unterdrücken will, geht auf Mord der Menschen von innen aus.“IX – „Nichts helfen alle äußerlichen Kenntnisse und Mittheilungen, wenn sie nicht jenen Lebenspunkt, jenes tief Innere treffen, ohne das es weder Kunst noch Kunstverständniß giebt, ohne das sie sind, was Werkzeuge in der Hand eines Todten oder ein Sehglas für ein blindgebornes Auge.“X Bis jetzt hat die Lehre höchst selten die Verpflichtung begriffen, ihren Jüngern die von Generationen langsam angehäuften Schätze der Erfahrung, zu denen sie die Schlüssel in Händen hält, gleichsam als Mittel zu überantworten, deren sie sich nach Eingebung ihres Genies oder Talents und zu den für ihre Zeit passendsten Gebrauch zu bedienen hätten. Bis jetzt war es höchst selten wahrzunehmen, daß sie im Schüler den Menschen suche, daß sie ihm eine andere Behandlung angedeihen lasse als den neu angeworbenen Rekruten oder Arbeiter, dem man eben bis ins Kleinste die Handthierungen seiner Vorgänger eintrichtert; dieselbe Waffe und wäre sie von Rost durchlöchert ganz eben so zu handhaben, dieselben Ideen in dieselben Formen zu gießen, an derselben Quelle zu trinken, in derselben Atmosphäre zu leben und zu sterben ohne dem unvergänglichen Vermächtniß der Ahnen etwas zugefügt zu haben. Ein schlagender Beweis dieses hundertjährigen Despotismus welchen der Unterricht übt, ist kürzlich durch den Ausspruch eines der feinsten Schriftsteller unsrer Zeit beigebracht worden. St. Beuve4 bemerkt sehr richtig, daß der größte Theil der
V S. 248.
VI S. 432.
4 Charles-Augustin
VII S. 249.
VIII S. 442.
IX S. 443.
X S. 427.
Sainte-Beuve (1804 –1869), französischer Schriftsteller und Literaturkritiker.
Liszt 1855 Marx: Die Musik im neunzehnten Jahrhundert
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Autoren, welche die Nachwelt in die Reihe der Beispiele gestellt hat, die von den Lehrern in ihren Classen der Jugend als bewundernswerthe Muster empfohlen werden, und deßwegen Classiker heißen, ihrer Zeit zu den Romantikern, das heißt zu jenen Rebellen gehörten, welche das Joch veralteter Disciplinen brachen, die enge Uniform und alte Kutte wegwarfen, den Rekruten und Novizengehorsam verweigerten, nicht länger zum millionstenmal über eine wurmstichige Schablone arbeiten, erkältete, geronnene Gefühle in staubiges Formengerumpel gießen, aus vertrockneter Quelle einem vergessnen Tropfen nachspüren wollten, um endlich neue Muster für neue Gewebe, feuerfeste Tigel zum Schmelzen neuer Metalle zu suchen, überströmende Quellen zu erforschen die noch im Verborgnen rauschten. Nun war aber und ist noch bis auf den heutigen Tag dies Streben nach Freiheit ein Stein des Anstoßes für die Lehre, und als ob keine früheren Beispiele Aehnliches aufwiesen, betrachtet sie eine solche Abtrünnigkeit als beleidigend, empörend und strafbar, bis sie der allgemeinen Anerkennung nachgebend sich gezwungen sieht, dreißig Jahre später gut zu heißen, was sie dreißig Jahre früher mit de[m] Bann belegt hatte, das von ihr Bekämpfte zu preisen, das Verpönte zu loben. Warum sollten wir nicht wagen es auszusprechen? Die Lehre im Allgemeinen, – mit Ausnahme spärlich gesäeter und schlecht gehegter Individuen, die dann oft von den Schulen heimlich oder offen verfolgt und angegriffen wurden, – repräsentirte nur den Dünkel und das Selbstgefallen, intelectuelle Blindheit und Taubheit; sie hat uns das sonderbare Beispiel eines skeptischen Clerus, eines Schulcollegiums gegeben welches seine Doc trinen läugnet da sie ohne Glaube an die Wahrheit, Unsterblichkeit und Aufgabe der Kunst war, deren Cultus sie verbreiten sollte. Die Etymologie gewisser Namen reicht oft hin den Sinn gewisser Dinge darzulegen. Wie hätten zum Beispiel unsere musikalischen Kunstschulen [216] den Namen Conservatorien angenommen, ohne die Voraussetzung, daß die Kunst ein dem Zufall zu verdankendes Phänomen sei, daß, wenn große Männer vorhanden gewesen wären (aus Zufall) die große Dinge vollbracht hätten, die Menschheit dann durchaus nichts Besseres zu thun und zu hoffen habe, als das von ihnen Erreichte zu conserviren, das Zerlegen ihrer Werke und die Lehre ihrer Factur zu conserviren, sich von nun an darauf zu beschränken ihre Beispiele nachzuahmen, sich mit aller Anstrengung ihrer Vollkommenheit zu nähern. In den Augen derer, die Conservatorien zu einem solchen Zweck errichteten (der an und für sich ganz lobenswerth zu nennen ist, da ein solches Institut den ersten Etappenplatz für den Fortschritt bildet, der nur nach Sicherstellung des Eroberten weiter vorzurücken im Stande ist) war also die Musik nicht eine dem menschlichen Geist ebenso unzertrennlich innewohnende Kundgebung als die Sprache, und gleich ihr berufen im Laufe der Zeit mit immer neuen Idiomen und Formen sich zu bereichern, aus den absterbenden die nöthigen Säfte zu neuem Wachsthum zu ziehen, zu neuen Blüthen und Früchten entsprechend neuen Bedürfnissen und Formen menschlichen Fühlens und Denkens, wie sie in stufenweiser Entwicklung und unaufhörlichen Umwandlungen innerhalb Civilisationsphasen sich bilden, welche durch unberechenbare Entdeckungen im Bereiche des Geistes und der Materie fortwährend modificirt worden! Die Kunstlehre, statt ihre Vergangenheit wie den der Gegenwart unentbehrlichen Steigbügel zu betrachten, machte es wie die falschen Wahrsager des Dante. Sie hat den Kopf auf ihren Schultern verkehrt, um die Augen einzig auf die Vergangenheit zu richten, nach ihren verhallenden Schritten das Ohr
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zu neigen, und so den lauten Ruf der Zukunft weder hören können noch wollen, noch die Prophezeihungen der jugendlichen Boten des Geschicks. Ihr Inneres war zu vertrocknet, als daß diese Stimmen hätten wiederhallen können. Aber „die Kunst ist nicht Spiel mit materiellen Atomen, nicht Technik, nicht bloße Gefühlserregung, oder bloßes Phantasiespiel oder Verstandes-Arbeit, obgleich sie sinnlichen Stoffs, äußerlicher Geschicklichkeit bedarf, obgleich sie alle Formen geistiger Betheiligung, und zu ihrer Auferziehung die Hülfe der Wissenschaft nicht entbehren kann. . . . . . Wie viel Lehrer beschränken ihr Werk auf technische Vervollkommnung, und ziehen im Schüler die Vorstellung groß, daß Geschicklichkeit Alles sei, dessen er bedürfe . . . . . Und wieviel andre Lehrer erstickten Geist und Gemüth unter Lasten abstracter Regeln äußerlichen Gedächtnißwerks. . . . . Diese falschen Richtungen, die vermeintlich auf die Kunst, in der That aber auf Entrückung aus der künstlerischen Sphäre hinführen, wirken für die von ihnen Ergriffenen nachtheiliger, als Unterlassung jeder Kunstpflege. Denn das Letztere läßt wenigstens den natürlichen Sinn frisch und unbeirrt, das erstere schiebt ein Phantom an die Stelle des Ideals, ein Nichts oder eine Eitelkeit in das Gemüth.“XI – „Nichts hilft da die Regel. Jede Regel ist Ausdruck eines Urtheils, daß nur ein einzelner Punct aus dem ganzen System von Anschauungen oder Ueber zeugungen ist, mithin nur im Zusammenhang dieses Systems Lebenskraft und Geltung hat. Für sich allein ist die Regel nur eine Behauptung, die den in ihrer Vereinzelung mithin außerhalb ihrer Wahrheit und Lebendigkeit sich ihr Unterwerfenden zu ihrem Sclaven macht. Sie nutzt nur dem der im Besitz der ganzen Wahrheit sie entbehren kann; den aber verdirbt sie der sich in ihr Weise glaubt, und sie für etwas Ansichseiendes und Ansichgeltendes nimmt, statt für ein Wörtlein aus dem Spruch der die ganze Wahrheit faßt. Sie ist ein Räthsel das durch andere Räthsel forthilft; nur der Sinn des Ganzen in seiner Ganzheit löst die Räthsel. Daher die uralte Bemerkung daß keine Regel ohne Ausnahme ist, mithin jede sammt ihren sogenannten Ausnahmen (die wieder Regeln sind) auf eine höhere, d. h. allgemeinere Wahrheit hinweise.“XII – „Jede Kunstform hat ihr unsterblich Recht aber nur für Aufgaben und Verhältnisse, aus dessen sie als eigenthümlicher Ausdruck hervorgegangen ist.“XIII Hatte sich die Lehre bisher in solcher Sprache vernehmen lassen? Hatte die Lehre den Grundsatz aufgestellt, daß die Regel in der Kunst keine knechtende sein dürfe, daß der Jünger ihr nur in so weit zu folgen habe, als sie den geheimen Regungen seiner Seele entspricht, er ihre Erfüllung als eine seiner Innerlichkeit nöthige Form, als den genauen Ausdruck seiner individuellen Anschauungsweise betrachtet? Hatte sie es vorher schon zugegeben, daß die Schule kein Kloster ist? Denn vom Künstler ist nicht zu verlangen, daß er das Gelübde der Enthaltsamkeit, Armuth und Gehorsam leistet; der Liebe unter irgend einer ihrer Formen, der sinnlichen, seelenbewegenden asketischen oder mystischen zu entsagen, ist für ihn keine Pflicht; seine Phantasie gefällt sich nothwendig im Reichthum unter seinen verschiedensten XI S. 220.
XII S. 248.
XIII S. 187.
Liszt 1855 Marx: Die Musik im neunzehnten Jahrhundert
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Formen und verlangt nach Freiheit unter allen ihren Formen, da die Freiheit unveräußerliche Mitgift der Künste ist, welche man aus diesem Grund freie Künste nennt. In ihrem Reich soll nicht gepredigt werden, daß man sich des freien Willens, oder des Urtheils, der Meinung, des innern Dranges zu enthalten habe, weil die Künstler nur kraft ihres Könnens, nicht kraft ihres Entsagens Künstler sind, und weil jedes Wesen in der Schöpfung seine Bestimmung, nicht die eines Anderen zu erfüllen hat. Die Blume soll mit schweigendem Dufthauch ihren Cultus begehen, der Vogel soll mitsingen im großen [217] Zusammenklang der Natur; der beschauliche Mensch weihe sich dem Ideal des abstracten Gefühls, der Künstler feiert sein Ideal in concreten Werken. Jener entsage der Sinnenwelt, dieser beherrsche sie, und mit ihr Stoff und Form; jener möge sie fliehen, dieser soll sich ihrer bemächtigen, jener sie fürchten, dieser sie verwerthen. Jener leiste blinden Gehorsam, auf daß er sich ihrem unlauteren Reiz entziehe, dieser bleibe frei, um ihr die Reize des Schönen, der Vollkommenheit, des Ideals, der höchsten Reinheit zu verleihen. So lang aber die Lehre als Autokrat einer unverletzlichen Regel sich geberdete, ist es zu verwundern daß sie gerade die Begabtesten mit Unwillen erfüllte, die sich dann entmuthigt und angewidert von ihr abwandten, während sie von Natur dazu bestimmt waren die Kunst zu fördern, zu bereichern, ihre Entwickelung der allgemein menschlichen gemäß herbeizuführen? Die Lehre, wie sie Marx repräsentirt, hat mit dieser veralteten Routine des Conservirens gänzlich gebrochen und die ihm dafür gebührende Ehre ist um so größer, je weniger Vorgänger er hierin gehabt hat. Er gab dem tiefen Gedanken, in welchen sich die fortbewegende Kraft der Kunst in unserer Zeit zusammendrängt, den entsprechenden Ausdruck, indem er sagte, daß zur Bildung des Künstlers vor allem Emporwachsen des Menschen nöthig sei.XIV Sein Lehrgang besteht nicht mehr darin, Metier beizubringen, sondern in einer Sprache zu unterrichten, in einer göttlichen Sprache, göttlich sobald sie das Beste ausdrückt, was der Mensch zu sagen vermag. Endlich ist unter den Männern tiefen Wissens unter den gründlichen, tüchtigen Theoretikern Einer aufgetreten, für den das Wesentliche nicht mehr Innehaben und Lehren einer erlernten, gereinigten und mit großem Eifer veredelten Sprache ist, sondern: daß man Ideen ihr anzuvertrauen habe, Eingebungen in ihr ertönen lasse. Für Marx, wie für uns, ist das Kunststudium nicht mehr Zweck, es ist XIV „Der Künstler kann nicht mehr sein und geben, als in seinem Menschen ist. Wir müssen, ich wiederhole es, den Menschen aufrecht halten und kräftigen, damit er als Künstler aufgerichtet und kräftig dasteht und wirke. Wir müssen im Zögling vor allem Selbstgefühl und Selbstgewißheit erhalten, seine Selbstbestimmung und Richtung, seine Willen und die Summe seiner Willentlichkeiten: den Character stählen und stärken, nicht durchkreuzen, nicht durch den Rost des Zweifels anfressen lassen, nicht durch Ansehn oder dialektische Künste der Ueberredsamkeit oder überschimmernde Beispiele vom Gegentheil des Erstrebten das Vorwärtsstreben in Schwanken bringen.“ S. 549. „Soll unsere Kunst nicht vollends zur Industrie, zu Handwerk und Mode herabsinken, so muß die Bildung für sie vollständig und durchdringend, so muß sie durchgeistet und künstlerisch werden. Was man gewöhnlich Fachbildung nennt, nämlich Anlernung für eine bestimmte Reihe von Leistungen, kann im Kunstgebiete durchaus nicht mehr genügen. Mit allen äußerlichen Kenntnissen und Geschicklichkeiten zum Clavier- und Orgelspielen, ist man kein guter Clavierspieler und Organist, wenn man nicht volles und sicheres Verständniß der Kunstwerke mit denen man wirken will, besitzt, S. 562.
Nr. 80 (1855)
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Mittel, weil für ihn wie für uns die Kunst weder eine sinnige Unterhaltung, ähnlich (wenn auch von besserem und feinerem Geschmack) den merkwürdigen Balancirkünsten der Chinesen oder den erstaunlichen Productionen indischer Künstler, welche mit zehn Dolchen auf ein Mal Ball spielen – noch eine mnemonische oder archäologische Wissenschaft. Für ihn wie für uns „ist die Kunst nichts durchaus für sich Bestehendes, sie ist nur eine Seite des ganzen Menschenthums, nicht loszulösen vom Leben der Menschheit, sondern in steter Beziehung und Wechselwirkung mit dessen gesammtem Gehalt.“5 Die Kunst ist nie etwas Anderes als eine der Sprachen gewesen, welche Gedanken und Gefühl der Menschen je nach dem empfundenen Bedürfniß sich schaffen. Als Zeugen für diese Wahrheit mögen die Meisterwerke aller Zeiten dienen, welche Alle die Voll kommenheit der Form nur kraft der innerlichen Empfindung erstreben, die für immer in ihr enthüllt und durch sie mitgetheilt werden soll, kraft des empfundenen Ideals dessen sichtliches oder hörbares Bildniß zu geben sie bestimmt ist. Von dem den Künsten und besonders der Musik innewohnenden Ideal schien man sich aber lange Zeit, wie wohl man die ihm entströmende Atmosphäre einsog und einathmete, die unseren Geist in seine höchsten Regionen entzückt, nicht so bewußte Rechenschaft gegeben zu haben, als von jenem welches in den Formen der Poesie und Rede, Seele und Leben erhält. Die großen Künstler, die Auserwählten der Vorsehung vollendeten ihre Aufgabe, die Materiale häuften sich, ohne daß man alle Folgerungen zog, die in ihnen enthalten waren, wie dies endlich in unserem Jahrhundert geschah, als die angesammelten Leistungen zahlreich genug waren, um sie nun aus einem umfassenden Gesichtspunct zu betrachten. Die Lehre weigerte sich lange Zeit, diesen anzunehmen, sie glaubte genug zu thun wenn sie conservirte, und vergaß dabei, daß sie Diejenigen zur Mißachtung der alten Meisterwerke reizte, denen sie dieselben als Schlagbaum, als unvermeidliche Muster zu blinder Nachahmung, kurz als Bretter hinstellte, mit denen die Welt vernagelt ist. Marx war unter den Lehrern der Kunst einer der ersten, welche einen klaren Blick für den Sinn ihrer Phänomene besaßen, und sein Wort ist ein so vollwichtiges, daß es früher oder später die in unseren Schulen so häufig vorherrschende Pedanterei entwaffnen muß. Er hat es erfaßt und dargestellt, daß der Künstler nicht blos die Form um der Form willen [218] handhaben müsse, daß er in ihr nur die Stimme zu suchen habe, welche die Eindrücke seines innern Wesens kundgiebt: daß es für ihn dennoch das Nothwendigste sei, diese seine Innerlichkeit zu erheben und zu veredeln, sie zu läutern und zu bereichern. Alle dem Menschen verliehenen Mittel des Ausdrucks, Kunst und Sprache, können nicht ohne Erniedrigung darauf beschränkt werden, einen eitlen, flüchtigen Thätigkeitstrieb Genüge zu leisten; man darf sie nicht zu bloßer Erfüllung materieller Zwecke mißbrauchen, denn „der Mensch lebt nicht allein vom Brode;“6 er kann sich ihrer als der herrlichsten Naturgaben nur dann rühmen wenn sein Geist sie neu erschafft, wenn sie seinen Ge-
5 Marx
1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 491 f.
6 5. Mose 8, 3.
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danken Ausdruck, seinem Gefühl lebendigen Hauch verleihen. Marx spricht es von den Höhen der Wissenschaft aus, auf welchen er sicher wandelt, er sagt es aus dem Bewußtsein einer bedeutenden und aufrichtigen Intelligenz, die ohne Scheu vor dem Lichte ist, weil sie am Tage nur um so heller leuchtet: „Die Kunst ist Zweck, die Lehre Mittel; und die Kunst ist auch der Zeit nach das Vorangehende, ist Mutter der Lehre. Also die Lehre macht uicht die Kunst, sondern umgekehrt.“XV – „Die Lehre hat ihr Bestes gethan, wenn sie sich am innigsten dem künstlerischen Leben und Weben anschmiegt und in dasselbe gleichsam unvermerkt einfließt, wie das vorherige Leben des Künstlers in seine That.“XVI – „Nicht im halbbewußten Thun, nicht im dunkeln Gefühl, nicht im todten „Auswendiglernen“ darf sie den Schüler lassen, nicht darf sie sich feig und bequem auf das Lotterbett der Autorität strecken, ihre Lehren als unverbrüchlich, ihr Beispiel als unantastbar, die ihr genehme Weise des Empfindens als Norm für Andere und Alle dem Schüler auferlegen. Sie muß ihn zum eignen Bewußtwerden und damit zu selbstständigem Gefühl und Schauen wecken, muß selber ihn zur Prüfung ihrer Lehren und Beispiele anregen, und damit zum Selbstdenken, zur Freiheit des Geistes erheben. Dies ist überall die Aufgabe, nirgends aber mehr als in der Kunst, in der zuletzt die Persönlichkeit das bestimmende, der höchste Werth der Leistungen von Freiheit und Eigenthümlichkeit der Persönlichkeit des Künstlers abhängt. Ein unfreier Character kann auch in der Kunst nur Lakai sein; er kann reichvergoldete Livree tragen, kann Hofpianist und alles Mögliche werden, nur nicht Künstler und der Kunst geistig froh.XVII Lehrende sind Vermittler zwischen der Kunst, wie sie sich bis zu uns hin entwickelt hat und denen, die sich näher an ihr betheiligen, sie tiefer fassen, oder sie ausüben wollen.“XVIII Wir können nicht umhin, der in den folgenden Zeilen enthaltenen Vornehmheit der Kunstanschauung unsere innige Uebereinstimmung auszudrücken, indem wir sie unseren Lesern vollständig mittheilen. „Künstler und Kunstlehrer, wie Liebhaber gehören dem Volke an; die Ausübung der Kunst ist auf einen Theil der Summe von Zeit, Kraft und Vermögen angewiesen, die der gesammte Besitz des Volkes ist; die Wirkung der Kunst richtet sich unbeschränkt auf das Volk selber und kann auf dessen geistigen und sittlichen Zustand, auf sein Befinden im weitesten Sinne des Wortes nicht ohne Einfluß bleiben. In dieser Richtung zeigt sich die Kunstpflege als wichtiger Gegenstand der allgemeinen Volkserziehung . . . . Die Kunst ist eine der Richtungen und Bethätigungen des gesammten Menschenlebens, ein Theil von der Lebenssumme des Volkes; Künstler und Kunstfreunde sind ein Theil der Menschensumme.“XIX – „Wenn überhaupt Kunstgenuß Bedürfniß des Volkes ist, so darf Musikbildung nicht fehlen. Aber
XV S. 242.
XVI S. 254.
XVII S. 266
XVIII S. 203.
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ebenso wenig kann sie einen andern Zweig der allgemeinen Kunstbildung entbehrlich machen oder ersetzen. Jedem Menschen bietet das Leben zweierlei Richtungen. Die eine geht auf das sogenannte Reale, auf die Bedingungen des Daseins, auf jene Neigungen und Pflichten, die den Einzelnen für sich erfüllen und bestimmen. Das ist die Noth des Daseins, die sich stets erneut, das sind die Bedürfnisse, die selbst in glücklichster Befriedigung stets wiederkehren; immer wieder fällt Hunger den eben Gesättigten an, immer verlangt der reichste Besitz reicheren. In dieser Hatz endlicher Verlangen und flüchtiger Genüsse findet Niemand Genugthuung, in dieser Beschränkung auf das enge nichtige Dasein ist Jeder beklommen, fühlt Jeder sich einsam unsicher und leer. Das sogenannte Reale, Wirkliche, Gewisse sättigt und befriedigt Niemand, es ist die kreatürliche oder thierische – wenn gleich über das dem Thier Eigene hinaus verstandvoll ausgebildete und verfeinerte Seite unseres Daseins. Ueber diese Sphäre des Fürsichseins ist dem Menschen das Haupt erhoben, die Welt in sein Bewußtsein aufzunehmen, sein Selbstbewußtsein ist Weltbewußtsein geworden. Er ist nicht mehr ein verlorenes, unsicher wohin gewehtes Atom: er ist Einer mit Vielen; in der Gemeinschaftlichkeit mit ihnen empfindet er seine höhere Bestimmung, in der Idee des Ganzen und der das Ganze durchdringenden und bestimmenden Vernunft findet er seinen Frieden, aus dieser Idee schaut er – stellt er sich das Wesen der Dinge vor, die im Ganzen sich bewegen; diese Vorstellungen: was Jeder in der Idee des Ganzen ist, sind die Ideale der Dinge. Das ist die ideale Seite unseres Daseins. Da sind wir erst wirklich Menschen, da heißen ‚Kinder Gottes‘ wir nach der tiefsinnigen Sprache der Schrift, die den aus der Verfallenheit der Kreatur Erlösten und zur idealen Anschauung und Lebensrichtung Erhobenen nach dem so benannt hat, der die Welt dachte und die Macht des schöpferischen ‚Werde‘ an ihr bezeugte. Diese ideale Welt ist nirgend greiflich und [219] überall im Grunde der Dinge vorhanden. Sie sättigt nicht leiblich und ist doch einzig das Sättigende, einzig Ziel und Friede des Lebens, wie einzig Wecker desselben, und Besieger des allem Endlichen gesetzten Todes . . . . Und wie Gefühl und Bewußtsein des Einzelnen keine Sättigung mnd kein Zufriedengeben findet, als in der Richtung zum Idealen, so kann auch nichts Großes und Edles geschehen, kein hohes Werk vollführt, kein Bund geschlossen werden und bewahrt, als auf diesem geweihten Boden. Der Held wagt sich nur für die Idee des Rechts, der Freiheit, des Vaterlandes, der Menschenwürde, die ihm zunächst als Heldenthum und Ruhm erscheint. In diesem Sinne allein hat der Krieg seine hohe Berechtigung. Ueber all’ die reale Noth und Schädigung, die uns das quäckerische Gepinsel der Olivenblattfabrikanten in unerschöpflicher Aufdringlichkeit vormalt und vormonotonisirt, ragt er himmelhoch empor als die Stätte wo Völker ihr Leben selber einsetzen für ihre Idee, wo die Idee zur kühnsten opfervollen That wird, und man sich selber als Pfand darbietet für die Wahrhaftigkeit seines Schauens und Wollens. Jene großen Momente, in denen das Volksleben sich zur Bewahrung der Idee in der That zusammennimmt, können gleichwohl nur in weiten Zwischen-
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räumen einander folgen; auch dem Einzelnen wird im Gedräng der Wirklichkeit die ideale Seite des Lebens allzuleicht entrückt. Hier ist es nun zunächst die Kunst die mitten im überbürdeten und verkümmerten Leben der realen sogenannten Wirklichkeit ein zweites Leben in der Freiheit und Wahrhaftigkeit, der Ideale schafft und zur Vorstellung bringt, eine Welt der Vorstellungen, in denen aber die Wahrhaftigkeit zum Vorschein kommt. Die Menschen lernen in ihr die Dinge frei von der Angst selbstischen Bedürfnisses, wie von der rein persönlichen Vorliebe, gereinigt von den verhüllenden und entstellenden Zufälligkeiten – lernen bei subjectivster Betheiligung objectiv die Gestalt der Dinge fassen und ihre ideale Bedeutung erkennen. In der Form der Kunst, oder des Glaubens oder des Begriffs bewahren wir dann jene weltlenkenden Ideen, die der eigentliche Gehalt auch unseres Lebens sind und uns inmitten der Beschränktheit des kreatürlichen Daseins und über ihm auf der Höhe geistiger Freiheit erhalten . . . . Dies scheint mir der Beruf der Kunst im Leben der Völker. Ohne sie würde der Hebel fehlen, der realen Last und kreatürlichen Fesselung ledig zu werden. Daher beginnt mit ihr die Cultur; – Religion und Wissenschaft treten ursprünglich in künstlerischer Form, in Einheit mit der Kunst auf. Daher nennt die Geschichte kein Volk, das ohne Kunst ein menschenwürdig Dasein geführt hätte.“XX Manchem Leser möchte der Titel des Buchs: „Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts“ auffällig sein, da es doch statt einer in’s Einzelne gehenden Besprechung moderner Musikwerke vielmehr und hauptsächlich von der Musiklehre handelt. Uns scheint die Wahl dieses Titels eine ganz treffliche. Schwerlich würde es genügenden Aufschluß über die Musik des neunzehnten Jahrhunderts gegeben haben, hätte Marx eine Reihe von mehr oder minder allgemein gekannten Werken aufzählen, und dabei mit einem docirenden Ton, den das große Gewicht des Autors rechtfertigen könnte, dessen gänzliche Abwesenheit aber jedenfalls angenehmer berührt, Worte des Lobes oder Tadels aussprechen wollen, um banal gewordene Wahrheiten nochmals zu bekräftigen, oder die Polemik heraus zu fordern, an welcher ohnedies kein Mangel ist. Um die Aufgabe der Musik des neunzehnten Jahrhunderts darzulegen, war gerade das nöthig, was Marx that: die Stellung aufzukündigen, welche man ihr außerhalb aller socialen Interessen der Menschheit angewiesen, sie aus der Reihe der die Sinne nur reizenden Vergnügungen, wie auch aus der Kategorie der Wissenschaften die nur den Gesetzen der Berechnung unterworfen sind zu entrücken, sie aus der unbestimmten, zu glühenden und bald zu eisigen Temperatur zu entfernen in welcher man sie abwechselnd zurückhielt; – das hieß endlich mit anderen Worten sagen, daß der Musiker nur noch unter der Bedingung Musiker sei: daß nichts Menschlich es ihm fremd bleibe; es hieß demselben die Verpflichtung auferlegen, Urtheile Lügen zu strafen wie noch Hegel sie aussprechen konnte, als er eingestand, keine Musiker getroffen zu haben, die nicht sehr arm an Ideen gewesen wären. Das hieß in der That die Aufgabe der Musik im
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neunzehnten Jahrhundert richtig definiren. Das hieß der Musik den Wendepunkt andeuten, welchem sie mit großen Schritten sich nähert, den Augenblick wo sie aus einer Art stillschweigend eingestandener und darum nur um so fühlbareren Unterordnung sich befreien wird, in welcher sie sich bis jetzt in der Schätzung derjenigen befand, deren physisch wenig musikalische Organisation für den sinnlichen Wohlklang nicht empfänglich ist, und die durch ihre geistigen Gewöhnungen nicht dazu gemacht sind in den von der Musik angeregten Gefühlsbewegungen einen Genuß zu suchen, weil jene Beschäftigungen sie zu fortwährender Erstarrung verurtheilen. Diese meistens Hochgebildeten legen der Poesie, Architektur, Skulptur und besonders der Malerei eine viel höhere Wichtigkeit bei, weil diese Künste ihrem Denken Nahrung bieten, und diese Gedankenbeschäftigung in ihren Augen die Sinnenbefriedigung mit welcher sie verbunden ist veredelt und rechtfertigt. Ueberdies werden die für diese Künste maaß-[220]gebenden Gesetze allgemeiner gelehrt, eine Kenntniß derselben mit weniger Mühe erworben als man bedarf um sich eine Uebersicht, einen Begriff von den Formen und Mitteln musikalischer Composition zu verschaffen; die ästhetischen Grundsätze jener Künste um in ihnen einen Leitfaden für die Beurtheilung zu haben, stehen ihnen leichter zu Gebot; wie bald ist man hier im Besitz einer beiläufigen Kennerschaft, welche dann im Schimmer der Eigenliebe als competente Kritik erscheint, um somehr als sich hier viele Berührungspunkte finden für Gedanken, die auf anderen geistigen Feldern erblüht und gereift sind. Ihre Kundgebungen sind durch tausend Fäden mit Sitten, Glauben und Aberglauben der Zeit und des Lebens verknüpft, an poetische Typen und historische Thatsachen welche für alle Gebildeten gleiches Interesse haben. Was sollen aber Die zur Musik sagen, deren Ohr wenig von ihren Klängen geschmeichelt ist, die kein Gedächtniß für ihre Melodien haben, die Harmonie nicht verstehen und die obendrein gegen alle Gemüthsbewegungen eingenommen sind? Sie können und wollen sich von den unbestimmten, aber lebhaften, mächtigen Gefühlen nicht durchdringen lassen, welche das Ensemble schöner Musikwerke in Empfänglichen, wenn auch nicht musikalisch Gelehrten hervorruft; und wenn sie auch einmal von jenen elektrischen Eindrücken überrascht werden, welche auf andre Personen so bezaubernd wirken, wie wohl sie sich von den künstlerischen Schönheiten des Werkes keine bessre Rechenschaft zu geben vermögen, so halten sie es für eine flüchtige, zufällige Rührung, für einen vorübergehenden Schwindel der sie anwandelt. Poetische, zart angelegte Seelen lieben die Musik, ohne sie gründlich zu kennen oder selbst zu pflegen, sie danken ihr die Emotionen, die sie um ihrer selbst willen lieben; die gedankenthätigen Menschen dagegen, allen geistigen Genuß im Denken selbst suchend, bleiben schon im täglichen Leben den Gefühlserregungen unzugänglich, betrachten sie als ein krankhaftes Ueberwallen nervöser Organisationen, als eine Schwäche, die man nachsichtig behandelt weil sie wie ein absurdes aber festeingewurzeltes Vorurtheil allgemein verbreitet ist. Auch dieser Theil des Publikums, aus anderweitig anhaltend beschäftigten Menschen zusammengesetzt, welche in Folge angestrengter Thätigkeit des Gehirns den durch Auge und Ohr vermittelten sinnlichen Erschütterungen der Künste unzugänglich geworden und sie nur an festen Punkten zu fassen wissen, an denen ihr Denken einen Halt findet, hört die Musik heute noch aus Convenienz nur. Die von ihr ausgeübte Wirkung erscheint solchen als eine bloße Berufung auf das
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Gefühl, als ein rein sinnlicher Nervenreiz, oder als ein ihnen unverständliches, fast unnützes geistiges Spiel, und sie weigern sich, irgend einen dieser Eindrücke zu beachten. Sie haben nur Sinn für die Materien die sie zu analysiren vermögen, ohne technische Kenntnisse an die sie allgemeine Betrachtungen anknüpfen können. Und doch! Die Aufrichtigsten unter ihnen haben dann gleichsam ein schlechtes Gewissen, ungeachtet aller Beweisgründe gegen die Möglichkeit die Musik und ihre Meisterwerke mit den andern Künsten in eine Linie zu stellen; ein leiser Zweifel überkömmt sie manchmal, und in einem Anfall von Bescheidenheit wenden sie sich von der Musik zu den Musikern. Gerade dann aber, wenn sie einsehen, daß die Musiker nicht fähig sind, ihnen einen bessern Begriff von der eignen Kunst beizubringen, daß sie von ihrem speciellen Treiben absorbirt kein Medium zwischen Kunst und Außenwelt herzustellen wissen, daß sie Begebenheiten und Ideen, welche in ihrer Zeit und Umgebung die Geister bewegen und beunruhigen, die Völker entzweien, die Nationen umwandeln, – nur vom Hörensagen kennen – wird ihre Gleichgültigkeit gegen Musik und Musiker unheilbar, sie wenden sich von Beiden ein für allemal ab. Nun gehört aber die Musik ihrer Natur nach nicht so ausschließlich dem Bereich des Gefühls an. Sie vermag durch mehr als einen Anknüpfungspunkt sich den Interessen des Gedankens zu vereinigen. Die Vocale kann es durch die Wahl ihrer Texte, deren Sinn durch ihre Hülfe zu erhöhtem Ausdruck gelangt; die Instrumentale kann es durch Programme. Beide können jedoch von diesen dem Gefühl und dem Gedanken gleichzeitig angehörenden Feldern nur dann mit Ruhm und Erfolg Besitz nehmen, wenn die Musiker zu einer höheren geistigen Entwicklungsstufe emporwachsen als die bis jetzt für genügend erachtet ist; wenn sie nicht mehr an der Scholle der Unwissenheit kleben, wenn ihnen die Ideale des wissenschaftlichen, des Gedanken- und Thatmenschen nicht fremd bleiben, daß diese auch ihrerseits in ihnen und ihren Werken Ideen begegnen, die neu, kühn und genial genug sind, um ihr Nachdenken, Forschen und Beurtheilen zu reizen. Wenn es erst als Grundsatz festgestellt ist, daß von nun an der Musiker sich nicht mehr auf Kosten des Menschen entwickeln dürfe, daß Arbeitergeschicklichkeit als Virtuose oder Componist nicht mehr für ihn ausreiche, da es sich für ihn nicht mehr darum handelt größere oder geringere mechanische Vollkommenheit, mehr oder minder ausgebildete Formengewandtheit zu erringen, sondern daß der Mensch um Musiker zu werden, damit anfangen müsse seinen Geist zu bilden, zu denken, zu erwägen, mit einem Wort: Ideen zu haben, um die Chorden seiner Lyra mit der Tonhöhe der Zeiten in Uebereinstimmung zu bringen, um die Kundgebungen seiner Kunst in Bildergruppen zu reihen die durch einen poetischen oder philosophischen Faden [221] unter einander verbunden sind, – so ist damit das große Wort der Musikzukunft ausgesprochen, so ist die Musik dadurch aus der Stellung zweiten Ranges gerückt, die sie noch heute in Vieler Augen im Vergleich zur Malerei und wievielmehr zur Literatur einnimmt; es ist ein Anstoß zu ihrer Annäherung an Beide, und daraus hervorgehend eine Verminderung der mißtrauischen und mürrischen Gereiztheiten der Schriftsteller und andren Künstler, welche sich erstaunt fragen, wie man dazu komme, Zeit und Geld verschwenderisch an diese beschränkten, halbwissenden, geistesarmen Musiker zu wenden, von denen die Beliebtesten und oft wenigst Geachteten meist nur ein Seiltänzerschau-
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spiel bereiten, während die Edleren Werke vorführen die zu beurtheilen und ganz zu verstehen nur Wenige im Stande sind, wenn auch die allgemeine Bewunderung ihnen die Weihe eines glühenden Enthusiasmus verleiht? Das Problem ist in der That schwierig, und muß ihnen unerklärlich bleiben, so lange sie über die Musik selbst nicht klar sind: Die Massen werden immer empfänglicher für den Genuß, den ihnen die Musik durch Erregung ihres Empfindens gewährt, selbst da wo sie sich von dem Verfahren, vermittelt dessen sie diese Empfindung hervorruft, durchaus keinen klaren Begriff zu machen vermag. Diese Thatsache wird dann von Jenen welche geistige Vergnügungen suchen, für die des Ohres aber weniger zugänglich sind, zur Begründung ihrer Geringschätzung der Musik angeführt, indem sie bemerken, daß fast keine Kunst lebhafter als sie auf die unwissende Masse wirkt, während zu gleicher Zeit nur eine so kleine Zahl Kenner das Gehörte sachkundig zu beurtheilen verstehen – und dabei in der von ihr geübten Wirkung nicht unterscheiden wollen zwischen den Gefühlserregungen die sie in allen Herzen weckt und dem Urtheil welches die zur Kritik Befähigten über die Formen fällen, deren sie sich zu diesem Zweck bedient. Die Kunst kann ihnen nur dann Achtung vor ihren Gewalten einflößen, wenn der Zögling von seinem Lehrer gelernt haben wird, daß man im neunzehnten Jahrhundert ein bedeutender Mensch sein muß um ein rechter Musiker zu werden. „Den Griechen bedeutete der Name Musik einst nicht Tonkunst allein, sondern den Inbegriff aller Musischen, aller freien Künste“XXI – „Musik ist nur eine von den verschiedenen Künsten. Empfänglichkeit und Verständniß für diese, die mit der Tonkunst vereint ein einig Wesen sind, und im Studium, wie im Leben sich unter einander und mit ihr gegenseitig ergänzen und erklären, Vertrautheit namentlich mit der Schwester Kunst Poesie, – dann Geschichtskunde, allgemeine Geistesbildung sind nächststehende Gehülfen für Lehre und Kunst. Hier verstießen die Grenzen in denen die Aufgabe der Kunstlehre sich zeichnet in die weitere Aufgabe algemein menschlicher Bildung.“XXII [225] Es ist in unseren Augen für einen durch sein umfassendes Wissen so berühmten Lehrer unserer Kunst, für einen Theoretiker von so anerkannter Autorität, für einen so hochbegabten Künstler wie Marx, ein so seltenes und großes Verdienst, jenen inhaltschweren Wahrheiten das ganze Gewicht seiner Feder und seines Namens geliehen zu haben, daß bei Besprechung eines Werkes, in welchem er seinen Standpunct der Kunstlehre gegenüber und innerhalb derselben feststellt, in welchem er den Grundstein eines wahrhaften musikalischen Lehrganges legt, es uns schwierig und kaum am Orte scheint, kleinlich rechtend um etwaige Meinungsverschiedenheiten dem Autor gegenüber zu treten. Wir wollen nur den Ausdruck so lebensfähiger und lichtvoller Ansichten als ein glückliches Ereigniß in der Musikgeschichte mit Freude und innigem Antheil bewillkommnen. Im Uebrigen kann bei einer im Allgemeinen so edlen und gerechten Schätzung unserer Kunst
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die Beurtheilung eines oder des andern Einzelwerks nur eine Bedeutung zweiten Ranges einnehmen. Es sind dies Detailfragen über welche keine Stimmeneinheit erforderlich ist. Wo neidische Ungerechtigkeit, vorsätzliches Herabziehen, systematische Häkeleien keinen Antheil haben (und wie ließe sich das bei einem so reinen und rückhaltlosen Character wie Marx auch nur einen Augenblick bezweifeln!) darf die Freiheit der Meinungen unumschränkt walten, persönliche Sympathien, ja selbst Irrthümer müssen geachtet werden, weil der menschliche Geist nun einmal so beschaffen ist, daß er eine Wahrheit oft nur hinter der Maske erkennt, welche seine Einbildung reizt, die früher oder später abfallend ihr unsterbliches Antlitz enthüllt; ein Umstand dem man nicht immer so ganz außer Acht lassen sollte, wenn man so viel Bitteres und Hartes über irrthümliche Ueberzeugungen bedeutender Menschen ausspricht, während solche doch meist nur Verpuppungen richtiger Gedanken sind, nach denen, wenn sie als glänzende Schmetterlinge auffliegen, selbst die Kinder Derer haschen, welche die Raupe zertreten wollten. – Es bedarf kaum einer Erwähnung [226] daß die Meinung, welche Marx über einige Componisten, Berlioz und Wagner zum Beispiel, äußert, nicht ganz die unsrige sein kann, ohne uns hier veranlaßt zu fühlen, sie zu widerlegen. Von einem so gewiegten Urtheil wie den seinigen läßt sich nicht voraussetzen, daß es nicht auch nach dieser Seite hin Richtiges enthalten sollte; er konnte nicht verfehlen, einige Vorzüge oder Schwächen ihrer Werke treffend zu bezeichnen, denn in welchem großen Künstler fänden wir keinen Fehl, kein Zuweitgehen der Manier, kein Zuwenig, kein Zuviel? Mit dem Hervorheben merklicher Schwäche, oder dem Andenken einzelner Vorzüge ist aber noch keine Characteristik eines großen Künstlers fertig, noch kein genügendes Schätzen seiner Richtung, seines Ideals ausgesprochen. Man wird sich über die genannten Tondichter täuschen, so lange man auf seinem Gesichtspuncte beharrt, statt sich auf den ihrigen zu stellen, denn nur so kann man das poetische Ideal des Schaffenden, sein Gelingen und Irren im Streben nach ihm, klar in’s Auge fassen. Alles was über Einzelheiten ihrer Werke sich sagen läßt, wird nimmer erschöpfend und gültig sein, so lange man nur kritisch zersetzend verfährt, ohne dem Ganzen, dem Totaleindruck, mit einem Worte, dem Geiste Rechnung zu tragen. Selbst die schärfsten Bemerkungen über, von dem Ganzen getrennt betrachtete Theile, werden von ihrer Trefflichkeit verlieren, sobald diese getrennten Theile durch ein Aufgehen im Ganzen eine neue Physiognomie gewinnen. Wir möchten noch bemerken, daß der Autor gegen Andere, wie zum Beispiel gegen Hiller zu streng ist, dessen Rhythmische Studien7 nicht so wenig des Neuen bieten, als es Fetis schon vermeinte. „Es giebt nichts Neues unter der Sonne“8 ist am Ende auch nicht gerade eine junge Wahrheit und es ist gewiß, daß die Keime jeder Sache, jedes Gedenkens virtuell im Universum und im menschlichen Geist seit Beide bestehen, vorhanden waren, und daß wir nichts zu entdecken vermögen, dessen Anfang nicht vor uns bestanden hätte. Nichtsdestoweniger bleibt es eben so wahr, daß die Mannichfaltigkeit verschiedener Combinationen, vermittelst derer dieselben Elemente neue Wirkungen hervorbringen ebenso unerschöpflich ist, und daß das Hervorragende ausgezeichneter
7 Ferdinand
Hiller, Rhythmische Studien op. 52 (ED 1851).
8 Pred 1, 9.
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Geister gerade darin liegt: geheime Verwandtschaften und noch nicht beachtete Beziehungen zwischen Gegensätzen herauszufinden und zu entwickeln, die bis dahin unvereinbar erschienen waren. Wer also aus unverborgenen Thatsachen ungeahnte Folgerungen zieht, sie in einem Licht zeigt, in welchem ihre Ursachen und Wirkungen deutlicher werden, möchte doch wohl als Geber eines Neuen anzusehen sein. Wenn auch Hiller das Princip combinirter Rhythmen nicht erfand, so entwickelte er es doch auf einen Punct, auf welchem man ein solches Verfahren umfassender und genauer beurtheilen kann, als bei irgend einem anderen Componisten. – Doch was bedeuten dergleichen verschiedene Ansichten in einem Buch von solcher Tragweite, wie das besprochene. Der Idee gegenüber, der es seine Entstehung verdankt, handelt es sich weder um Wagner noch um Berlioz, noch um Hiller oder um irgend eine andere besondere Erscheinung, es handelt sich nur um die Musik, deren Stellung, Sendung und Zukunft in der modernen Civilisation Marx so richtig bezeichnet. Die Zukunft, sagen wir, denn wir setzen den Ausspruch: „Im Großen und Ganzen muß die Reihe der wesentlichen Aufgaben für die Tonkunst erfüllt und geschlossen erscheinen,“XXIII auf Rechnung einer zufälligen Verstimmung, vor welcher, dem Himmel sei Dank! kein Mensch bewahrt ist, der zuviel Geist und Beweglichkeit hat um ein Grandisson zu werden. Widerlegt unser Autor doch alsbald sich selbst durch seine eigenen Worte: „. . . daß man Nothwendigkeiten und Möglichkeiten neuer Bahnen ahnt, zeigen die vielfachen Versuche . . .“XXIV nachdem er sich durch seine ganze Künstlerlaufbahn schon wiederlegt hat, deren innerster Kern der Gedanke war, daß die Kunst aus den gegebenen Formen noch nicht alle Consequenzen entwickelt, noch nicht alle Modificationen erschöpft habe, deren sie sich fähig zeigen können, folglich auch noch nicht alle neuen Formen die sich dann ergeben würden. Es ist nicht schwer herauszulesen, daß weder Wagner’s Drama, noch die dramatische Symphonie wie Berlioz sie gab, so wenig als Mendelssohn’s Oratorium mit dem Ideal übereinstimmten, welches Marx von einer neuen Form sich bildete, und die Antwort auf das Warum? ist leicht zu finden. Er kann sich weder mit der mythischen Conception des ersten, noch mit der überströmenden Leidenschaftlichkeit des zweiten, noch endlich mit der vornehmen und graziösen Genügsamkeit des dritten identificiren, weil seiner Phantasie ein ebenso erhabenes, aber fester an die historische Wirklichkeit sich lehnendes Ideal vorschwebt als Wagner, ein ebenso glühendes, aber mehr nach dem Abschluß eines breiteren, minder individualisirten Gefühls strebendes als Berlioz, ein in seiner Reinheit ebenso untadeliges, aber von schmerzlicherem, stolzerem, gewaltigerem Streben durchdrungenes als Mendelssohn. Dem Ideal, wie Marx es sich aufbaut,
XXIII S. 151.
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kann nicht durch die Symbolisirung der lebhaftesten Leidenschaften des menschlichen Herzens die Wagner in seinen Dramen veranschaulicht, volle [227] Genüge geschehen, da ihm dies Verfahren zu abstract ist, und er sich daran gewöhnt hat das Individuum mehr wie ein, die erhabene Harmonie des großen Weltganzen vervollständigendes Räderwerk sich vorzustellen, denn als einen Typus welcher Freud oder Leid der ganzen Menschheit in sich zusammenfaßt. Ebenso entfernt steht ihm Berlioz Weise, der, concreter als Wagner verfahrend, allerdings keinen Mythus darstellt, aber doch so ausnahmsweise Persönlichkeiten, und Charactere und die von der gewöhnlichen menschlichen Norm so verschieden sind, daß sie dem Urbild poetischer Vollkommenheit nicht entsprechen können, wie es ein Geist schaut, der zu fest, zu klar und gesund ist, um die markdurchwühlenden Leiden mitfühlen zu mögen, welche die heilige Krankheit: le vague des passions9 begleiten. Mit dem epischen Pomp aber, dem anmuth- und empfindungsvoll Conventionellen in Mendelssohn, dessen Manier in ihrer Regelmäßigkeit nicht des Schönen, wohl aber des Ueberraschenden und Biegsamen entbehrt, wie es den Formen Reiz und Naturell verleiht welche lebhaften Einbildungen entsprechen, konnte sich Marx durchaus nicht zufrieden stellen. Es giebt geistige Regionen wo für die Ideen, wenn sie eine gewisse Zone, (etwa eine ähnliche wie die Atmosphäre in welcher das Gesetz der irdischen Schwere herrscht) überschritten haben, die Begriffe von Hoch und Nieder, Oben und Unten sich gleichsam im Raum verlieren. Die Ideen nehmen dort wie die Sterne alle einen gleichen Rang ein, finden alle nebeneinander Platz, und da sie nicht wägbar sind, kann man sie selbst nicht einmal irgendeiner Classification unterziehen. Jede leuchtet durch ihren eignen Glanz und für sich. – Wenn wir also, eingestanden oder nicht, in Marx das Streben nach einem, von dem der genannten großen Zeitgenossen durchaus verschiedenen Kunstideal erkennen, so wollen wir deßwegen nicht über ihre respectiven Verdienste streiten, um sie nach Rang und Stellung wie Honorationen bei einem Zweckessen zu vertheilen, wir wollen nicht zu en[t]scheiden versuchen, ob eine oder die andere Auffassung die Höhere ist, so wenig wir wünschen möchten, von den Nüancirungen in den Farben des Regenbogens eine oder die andere vorherrschen zu sehen. Jede von ihnen rechtfertigt ihr Dasein in der physischen Welt wie in der Kunstsphäre, alle tragen gegenseitig zu ihrem Geltendmachen bei und vermehren den Total-Reichthum, die allgemeine Größe, Schönheit und Majestät der in Kunst und Natur aus einer unendlichen Abwechselung und unberechenbaren Mannichfaltigkeit der Producte sich ergebenden Harmonie. Bei der Verschiedenheit menschlicher Organisationen würde weder Natur noch Kunst allen Ansprüchen der Menschenherzen vollständig genügen, entbehrten sie dieser überraschenden und bewundernswerthen, vielförmigen Fruchtbarkeit. In Natur und Kunst offenbart sich das Schöne tausendmal anders, wie wir es auch tausendmal anders erfassen, verstehen, lieben und bewundern. Deswegen wird man von uns am wenigsten erwarten, daß wir die Ideale verschiedener Tondichter vergleichen, um ausschließliche Vorliebe für ein einzelnes auszusprechen. Jeder hat in dem seinigen das Schöne erstrebt und da dasselbe kei-
9 (Frz.)
Die Wellen der Leidenschaften.
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nem ihrer Werke fehlt, so reihen sie sich, wie die Sonnen im unendlichen Raum, auf den unabsehbaren Gefilden der Poesie aneinander. Es verrieth eine geringe Bekanntschaft mit der schöpferischen Verfahrungsweise bevorzugter Geister, wüßte man nicht, daß sobald ein gewaltiges Ideal sie ganz erfüllt, ihr inneres Auge sich nur ungern von ihm abwendet, um plötzlich ein anderes zu betrachten und sich auf den nöthigen Gesichtspunkt zu versetzen, der zum Erfassen seines ganzen Umfanges nöthig ist. Marx fühlt, wie alle Diejenigen die voll sind von einer im Herzen mälig erblühten und im Gehirn verzweigten Idee, die Nothwendigkeit einer neuen Form für eine neue Conception in unserer Kunst, und kann seine Befriedigung in Formen und Conceptionen nicht finden, die wiewohl neu, doch dem Ideal nicht entsprechen, welches er sich von dem Neuen gebildet. Er achtet das Individuum als ein so kümmerliches, schwaches, unmächtiges Wesen, daß es fast scheint, als könne er ihm die zur Idealisirung eines umfassenden Kunstwerkes nöthigen Di[m]ensionen nur dann zugestehen, wenn es in seiner Person tausend andere Individuen repräsentirt, wenn in seinem Geschick tausend Geschicke sich zusammendrängen, wenn seine Seele sich mit dem Loos einer jener Gruppen identificirt hat, die wir Volk, Nation oder Menschheit nennen. Der ist sein Held, der mit dem Conrad des slavischen Poeten ausrufen kann: „Ich leide für Millionen, denn Millionen sind in mir lebendig, ihre Vergangenheit ist meines Daseins Geschichte, ihre Zukunft meine Lebensaufgabe. Ihr Herzklopfen hallt wieder in meiner Brust, und in meinen Augen brennen ihre Thränen; ihre Fesseln lasten auf meinen Gliedern, um meine Stirne strahlt ihr Ruhm, und meine Seele öffnet sich weit, um all’ ihr Glück zu empfinden; meine Wangen erröthen über die Demüthigung des Geringsten unter ihnen, seine Schmerzen wühlen in meinen Eingeweiden und das Frohlocken seines Sieges ist das hohe Lied meiner Seligkeit!! . . .“10 In solcher Weise mag Marx die große, erhebende Figur des Moses begriffen haben. Und wenn dann Elias, wenn Christus dazutraten, so konnte seinem Geist eine Ahnung auftauchen[,] welche den Sinn der mysteriösen Unterredung durchdrang, die einst auf Tabor jene Drei in lichter Verklärung vereinigte.11 Marx ist in vollem Recht, wenn ihm die Bühne [228] für die hehren Leidenschaften, welche er auf ihr entwickeln möchte, als ein zu begränzter Raum erscheint. Ihr fehlt der unbeschreibliche Zauber der Perspective, der Luftspiegelung, des Halbschattens, welche der Phantasie das Schauen wunderbarer Bilder gestatten, wenn nicht eine unzulängliche Wirklichkeit hindernd dazwischentritt, in dem sie die glänzenden Visionen der Einbildung durch Schauspiele ersetzen will, welche jenen gegenüber nur als Parodien erscheinen können. Für Diejenigen, deren Phantasie zu ihren Gedichten voll unnachahmlicher landschaftlicher Schönheit und Größe einen Rahmen zu erfinden weiß, scheint es eben so kindisch sie in den engen Umkreis der Bretter einzuschließen, als wollte man in einem Parkbassin einen Meeressturm darstellen. Costüme und Coulissen, Decorationen und Maschinen, Schauspieler und Scenirung sind zu plumpe Instrumente für das wirkliche Wiedergeben gewisser erhabener Scenen. Es unterliegt keinem Zweifel daß die
10 Konnte nicht nachgewiesen werden. dem Berg Tabor in Israel.
11 Hinweis
auf das Mosaik in der Verklärungsbasilika auf
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Kunst, wenn sie darauf verzichtet, Alles darstellen, Alles vergegenwärtigen, Alles den Sinnen faßlich machen zu wollen, in mehreren Fällen sicher nichts einbüßen wird, denn der Geist erräth mehr als man ihm zeigen kann, und der Zuhörer der sich seinen besonderen Rahmen um die dramatische Handlung denkt, läuft nicht Gefahr, durch eine Realität welche in einer oder der anderen Weise die Täuschung vernichtet von seiner Aufmerksamkeit abgezogen, in seiner Bewegung gestört zu werden. Vieles wird wahrlich nur gewinnen, wenn man es eher andeutet als beschreibt, eher beschreibt als verwirklicht, und in manchen Punkten geht die Einbildung so weit über die Möglichkeit der Darstellung hinaus, daß die letztere vergeblich versuchen würde, es mit ihr aufzunehmen. Wenn es auch keinem Zweifel unterliegt daß die Scene durch Handlung sich am Leben erhält, das will sagen durch Schilderung aller menschlichen Leidenschaften deren Spiel sich zur Handlung und besonders zu einem gewissen Genre von Handlung eignet; daß man ausnahmsweise das lyrische Element auf sie verpflanzen, das Portrait vorwalten lassen kann, (was vermag nicht das Genie? was nicht das Talent?) – so ist die Natur der Scene doch weit entfernt, aus eigner Kraft allen dramatischen Formen zu entsprechen, deren Poesie und Musik fähig sind. Beide können nicht alle Werke dieser Art auf die Bühne bringen. Wir verstehen unsererseits sehr gut, wie entschieden Marx den Gedanken von sich abweisen mußte, von einem mit falschem Bart ausstaffirten, geschmückten und parfümirten Sänger, der zwischen bemalten Leinwandstücken auf einem Bretterboden mit Versenkungen umherstolzirt – den biblischen Gesetzgeber vorstellen zu lassen, den Eingeweihten des Isis Dienstes, das heilige Richtschwert, den Denker der Wüste, den Auserwählten des Herrn, den Retter eines Volkes, das er gegen dessen Willen mit schmerzlicher Hingebung liebt, für welches er als Prophet mit dem Geschick vermittelt, als Fürsprecher vor den Herren tritt, dessen Anwalt und Befreier er wird. Wir begreifen daß Marx einen solchen Gegenstand nur musikalisch behandeln konnte, daß der Gedanke einer Scenirung ihm zuwider sein mußte, daß er nur auf das Gefühl wirken und jedem ergriffnen Zuhörer die Sorge überlassen wollte, sich die sichtbaren Parthien des Dramas auszumalen, wie es dramatische Dichter mit Tragödien gemacht, die aufzuführen abgeschmackt und unersprießlich wäre.XXV Eines aber verstehen wir nicht, daß wenn Marx die Möglichkeit eines wirklich musikalischen Dramas außerhalb der Bedingungen der Scene begriff, er nicht auch die Nothwendigkeit einsah, dasselbe nicht durch seine Benennung mit einem ganz Anderen zu verwechseln. Warum Oratorium betiteln, was seiner Natur nach ein so Verschiedenes ist? Da dieser von der ersten Entstehung der Gattung sich herschreibende Titel ohnedieß in unserer Zeit selbst für biblische Gegenstände nicht mehr der entsprechende ist, indem solche Werke nicht mehr auf den Cultus sondern auf die Kunst sich beziehen, mehr an unsere Phantasie als an unserer Glauben sich wenden, die Gegenstände poetisiren ohne sie unserer Anbetung darzubieten, unser Gefühl, wie alle Kunstwerke, erheben ohne
XXV Man
weiß, daß Göthe so lange er konnte sich gegen die Aufführung des Faust sträubte, Byron die des Manfred12 niemals erlaubte. 12 Lord
Byron, Manfred (ED 1817).
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diese Erhebung bis zur Andacht zu steigern, zum wirklichen Gebet (oratio, Gottesdienst) zu stimmen, zu dessen ausschließlicherem Bereich vorzudringen, beiläufig gesagt, ohne ein Dogma einerseits, und Glauben andererseits, ohne einen Altar und einen Priester nicht möglich ist. Das Unrichtige der Bezeichnung „Oratorium“ für unsere Tage tritt am deutlichsten durch den öftergebrauchten und grell contrastirenden Zusatz „weltlich“ hervor, als ob es weltliche Gebete gebe, bei Werken die nach demselben Plan eingetheilt doch nothwendig im Concertsaal eine Heimath suchen mußten, da die Kirche keinen Vorwand mehr hatte, ihren nicht aus den christlichen Büchern entlehnten Stoffen die Pforten zu öffnen. Neue Dinge müssen neue Namen bekommen und alte Gewänder dürfen nicht mit neuem Tuch geflickt werden. Der Character des Oratoriums ist ausgeprägt episch; lyrische und dramatische Elemente können in ihm nur episodisch Platz greifen. Marx will sie im Gegentheil in höchster Fülle und Gewalt seinem Werk infundiren. Dies Werk wird auch der Cantate nicht ähnlich sehen, die bei einer oft mehr unmittelbaren Handlung Geist und Herz anzog und rührte ohne ihre Ruhe zu beeinträchtigen; [229] auch nicht der vocalen und instrumentalen Symphonie, die keine solche geschlossene Entwicklung und eng geschürzten Knoten hat und meist nur die Peripetien einer dramatischen Handlung bietet. Marx hat ein ideales Drama im Auge, dessen Stimmung, Leidenschaft und Handlung die Schranken der Bühne überschreitet, das aber nichtsdestoweniger durch die Musik den vollsten Ausdruck finden, alle feierliche und imposante Wirkung durch sie entfalten soll. Wir glauben mit Marx, daß derartig angelegte Werte bis jetzt noch nicht vorhanden und daß sie möglich, daß sie ergiebig sind. Sie erscheinen wie eine neue Frucht welche die Sonne des neunzehnten Jahrhunderts am Baume der Kunst reifen wird. Dann haben sie auch das Recht auf einen besonderen Namen, wie das Publikum ebenfalls berechtigt ist einen solchen zu fordern. Wie sollte es sonst nicht die Fährte verlieren und sich vergeblich zu orientiren suchen, wenn es in Erwartung eines Bekannten plötzlich ein ganz Neues sich gegenüber sieht, dessen Character ihm weder durch eine Benennung noch durch ein unterscheidendes Merkmal im Voraus angedeutet wurde. Aeußere Umstände bewegen Marx sich der Lehre zu widmen, ehe er den gefaßten Plan zu einer Trilogie: Moses, Elias, Christus ausführen konnte, von welcher bis heute leider nur der erste Theil vollendet ist,13 der die Kunst mit einem hohen Werk bereichert hat, und uns von der mächtigen Conception des Ganzen schon einen vollen Begriff zu geben vermag. Die ihm innewohnende exclusive Neigung für die Form[,] welche er diesen Compositionen geben wollte, fand ihren theoretischen Ausdruck früher in seinem Buch, als ihre lebendige vollständige Gestaltung in der Ausführung. Das Darstellen von Typen und Formen, die einem Meister als die vorzüglichsten erschienen welche der Kunst von der Zukunft aufbehalten sind, gehört mit mindestens eben so großem Recht zu den Gegenständen der Lehre als die Leistungen der Vergangenheit. Auch erachten wir, daß die Blätter auf welchen der Autor seine Gedanken nach dieser Seite entwickelt, in einem von der Musik des neunzehnten Jahrhunderts handelnden Buche vollständig am Platze sind. Wir behaupten sogar, daß ihr Nichtvorhandensein als eine Lücke erschienen wäre, da die 13 Adolf
Bernhard Marx, Mose (UA 1841).
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Beobachtung in unsere Zeit gehört: daß in der Kunst wie in unserer Organisation zwei Principe walten, deren eines; der Körper, die Hülle, die Form und Bekleidung, dem Verfall unterworfen und wesentlich transitorisch ist; deren andres die Seele, das Gefühl, die Poesie, das Ideal ewig jung bleibt und ein Recht auf Unsterblichkeit in sich trägt. Die Musik wechselt wie die Architectur ihre Style, und eine Form verdrängt die andere in dem Grade wie die Gesellschaft ihr Ideal, ihren geistigen Inhalt ändert, bei anderen Sitten andere Bedürfnisse empfindet, mit welchen die Kunst übereinzustimmen, zu harmonisiren hat. Marx gebührt die Ehre, der erste unter den Lehrenden gewesen zu sein, der gegen den Fetischdienst der Vergangenheit protes tirte, der für die Kunst die Nothwendigkeit fortschreitender Formenmetamorphosen besonnen aussprach. Wollte man alle Gegenstände und Ideen, die dieses Werk berührt und anregt, im Einzelnen aufzählen, alle besprechen, prüfen und rühmen, man müßte Seite für Seite ihm folgen. Von denen also, welche die Obliegenheit haben auf seine seltenen Verdienste aufmerksam zu machen, obschon sie allgemein anerkannt und gewürdigt sind, wird Jeder unter so Vielen was ausführlich behandelt, berührt oder angedeutet ist, nur einzelne Punkte zu einer genauen Auseinandersetzung wählen können. Wahrscheinlich wird es Niemand unternehmen alle Ansichten zu analysiren, welche über Philosophie und Aesthetik der Kunst, über Geist und Anwendung der Lehre, über alte und neue Werke und die Art ihres Studiums für die Lernenden, ihre Auffassung von dem Publikum, über Theorie und Praxis[,] Poesie und Technik der Musik etc. in diesen denkwürdigen Blättern enthalten sind. Jeder wird aber seinen Schatz von Ideen und Kenntnissen über all diese Punkte vermehrt und bereichert finden; jeder wird den Keim irgend eines neuen Gedankens aus ihnen entnehmen, der sich mit der Zeit entwickeln und Frucht bringen mag. Wir unsererseits begnügen uns damit, die Stellen des Buches hervorzuheben, deren baldige und richtige Schätzung uns zunächst am Herzen liegt, weil die Bedingungen die sie dem geistigen Regime, der intellectuellen Gesundheitslehre des Musikers vorhalten, uns die einzigen scheinen, welche die Musik am Leben erhalten und ihr eine der Vergangenheit würdige Zukunft sichern können. Das von Marx für seine Ideen gewählte Gewand gehört zu den reichsten, die je ein Schriftsteller gewebt hat. Bewundernswerth erscheinen an seinem Styl die stattliche Haltung, die Würde, wir möchten wohl sagen die Grandezza, die Fülle poetischer Bilder, die edle und abgeschlossene Ruhe in seiner Art zu reden und zu citiren. Wie prächtige Denkmünzen prägt er seine Aphorismen aus, die allerdings sich nicht nach dem stehenden Münzfuß verwerthen lassen, dafür aber den unvergänglichen Werth des Schönen an sich tragen. Sein Tadel ist im Bewußtsein voller Gerechtigkeit energisch, sein Lob feierlich, gleichsam andächtig. In dem Theil des Buches welchen wir seine philosophische Einleitung nennen möchten, finden wir unter allem was bis jetzt über Musik geschrieben wurde das mit unseren eigenen Ueberzeugungen vollständigst Uebereinstimmende; die Fassung des Gedankens ist hier oft [230] eine ganz besonders glückliche und befriedigende. Man kann z. B. den Inbegriff der Kunst nicht besser in einem Worte definiren, als er es that, da er mit einer begeisterten Kühnheit den Ausdruck Geistkörperlichkeit14 schuf. 14 Marx
1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts, S. 197.
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Ein großer Denker welcher über das Vergängliche in allen Meinungen und Theorien nachgesonnen hat, deren jede relative Wahrheit enthält, während keine die absolute auszusprechen vermag, sagte in der Ueberzeugung, daß die Kunst noch der mindest vergängliche Reliquienschrein sei um das Angedenken unserer Ideen und Gefühle zu bewahren: „die Bücher leben nur durch ihren Styl.“ Und dieser einzige Rechtsanspruch, welche Veränderungen auch immer die Zeit in unserer Kunst, in ihren verschiedenen Formen, in der Handhabung ihrer Materiale, im Erzeugungsverfahren ihrer Werke, in der Art ihre Ideen kundzugeben und den in ihrem Betreff waltenden Meinungen hervorbringen möge, könnte schon genügen um dem Buche unseres Autors in den Augen der Nachwelt dieselbe Geltung zu sichern, die es in den unsrigen hat: eines Monuments, welches der Kunst, der Lehre und dem Verfasser zur Ehre gereicht.
Nr. 81 | Hoplit [Richard Pohl], „Johannes Brahms“, in: NZfM 22 (1855), Bd. 43, Nr. 2 (6. Juli), S. 13 –15; Nr. 24 (7. Dezember), S. 253 – 255; Nr. 25 (14. Dezember), S. 261– 264.
Johannes Brahms Von Hoplit.
Wohl mancher Leser dieser Blätter mag sich im Stillen (oder auch laut) schon verwundert haben, daß der Name an dieser Stelle noch nicht wieder erschien, den einst Robert Schumann1 – es sind nun schon über 1½ Jahre – hier zuerst nannte, und durch sein Künstlerwort mit einem Schlage zu einer Berühmtheit erhob, welche in der Geschichte unserer Zeit und Kunst zu den seltensten Erfahrungen gezählt werden muß. Wenn man für die anscheinende Vernachlässigung einer musikalischen Erscheinung von solchem Interesse diesen Blättern einen Vorwurf zu machen geneigt wäre, so möge der Zorn der Freunde und Verehrer des jungen Künstlers sich allein gegen den Verfasser dieser Zeilen wenden. – Er ist es, der sich die Besprechung von Johannes Brahms sofort von der Redaction ausgebeten hätte, als er die ersten Compositionen von ihm in Leipzig hörte – denn erschienen war damals noch Nichts. Er ist es, dem die neu erschienenen Werke regelmäßig zur Besprechung zugeschickt wurden;2 der sie wieder und wieder mit der lebhaftesten Theilnahme betrachtete und nach Kräften in sie einzudringen suchte – der aber trotzdem sein Urtheil bis jetzt für sich behielt, und die zahlreichen Mahnungen der Redaction, doch endlich einmal auch öffentlich über Johannes Brahms zu sprechen, mit der Seelenruhe eines guten Gewissens von sich abprallen ließ. – Und doch hatte der junge Künstler ihn schon beim ersten Begegnen so wunderbar sympathisch berührt. Und doch lagen seine Werke, wie seine ganze Individualität, ihm so warm und innig am Herzen, wie nur irgend Einem! Warum also dieses hartnäckige Schweigen? – Zunächst: Weil da, wo persönliche Sympathie vorhanden, Vorsicht und Zurückhaltung im Urtheil um so mehr geübt werden muß. – Sodann: Weil nach dem Urtheil, welches eine Autorität wie Schumann über einen jungen Componisten in so entschiedener Weise gegeben hatte, das Urtheil eines Anderen, an demselben Orte ausgesprochen, immer einen schwie-
1 Robert
Schumann veröffentlichte im Oktober 1853 seinen folgenreichen Artikel über den erst 20jährigen Brahms in der NZfM, in dem er dessen Genie pries (siehe Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49). 2 Bis zum vorliegenden Artikel Pohls Ende 1855 lag bereits eine ganze Reihe erster Klavierwerke Brahms’ im Druck vor: 1853 erschienen die Klaviersonate Nr. 1 C-Dur op. 1 und die beiden ersten Liedsammlungen op. 3 und 6, 1854 dann die beiden Sonaten op. 2 und 5, das Scherzo es-Moll op. 4, das Trio Nr. 1 H-Dur op. 8, die Variationen fis-Moll über ein Thema von Schumann op. 9 sowie seine Liedsammlung op. 7.
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rigen Stand haben wird, das Geringste, was er fordern kann, also hinreichende Zeit ist, um sein eigenes Urtheil, frei von [14] jeglichem fremden Einfluß, genügend festzustellen. – Endlich: Weil die Bedeutung einer künstlerischen Individualität, die mit solchem Aufsehen in die Kunstwelt eingeführt wird, nach einem oder nach wenigen einzelnen Werken überhaupt nicht erschöpfend erkannt werden kann. Erst wenn eine größere Reihe von Werken vorliegt, kann man beurtheilen, ob eine Steigerung vorhanden, ein stetiger Fortschritt ersichtlich ist; ob der Machtspruch, den einer unserer hervorragendsten Meister schon vor dem Erscheinen jedes Werkes öffentlich kundgab, durch die Werke selbst hinlänglich gerechtfertigt erscheint; und ob die späteren Werke halten, was Opus 1 verspricht. Wenn das Opus 1 eines Unbekannten bescheiden und still in die Welt eintritt – hat man alle diese Bedenken nicht nöthig, weil man alle diese Anforderungen nicht zu machen hat. – Findet man in dem ersten Werke eines Neulings Nichts, was uns für die Zukunft besonders Erfreuliches hoffen ließe, so legt man es ruhig zur Seite, zu den vielen Uebrigen. – Findet man aber die Züge des werdenden Genius in den Lineamenten der glücklichen Hand, welche dies Opus 1 geschaffen, so erwartet man mit Hoffnung und Theilnahme die weitere Entwicklung, muntert auf und hebt empor, hütet sich aber, zu große Hoffnungen vorzeitig zu erregen, um nicht durch übermäßiges Lob auf Irrwege zu führen, und mehr zu schaden, als zu nützen. – Kommt dann endlich einmal ein erstes Werk, bei dem man ohne Zweifel und Zaudern sofort ausrufen kann und darf: Das ist ein Auserwählter! „Hier beginnt ein selbstständiger Geist seine neuen Bahnen!“3 – dann ist ja die Freude und Genugthuung um so größer. Das sind allein die Stunden, wo man seines kritischen Berufes sich wahrlich erfreuen kann, wo man Entschädigung findet für alle die Wanderungen durch steinige und dornige Wüsten, die man jährlich durchzieht, um Menschen, ganze, wahre und große Menschen zu suchen! Wie wenige Opus 1 giebt es aber und hat es gegeben, welchen der Stempel des Genius so rein und unverkennbar aufgedrückt ist, daß man mit Bestimmtheit darauf eine ganze Zukunft bauen könnte! Wie wenige traten überhaupt auch mit solcher Wucht und Energie auf, daß das Aufsehen, welches sie in der That erregen, ein völlig gerechtfertigtes ist! Solcher Art waren wohl das Opus 1 und 2 eines Beethoven (3 Claviertrios und 3 Sonaten)4; das Opus 1 eines Berlioz (Ouvertüre zu den „Vehmrichtern“)5; das Opus 1 bis 3 von Mendelssohn (3 Clavierquartette)6; und das Opus 1 und 2 eines
3 Anspielung auf den Titel des Brahms gewidmeten Artikel Schumanns (siehe Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49). 4 Das Opus 1 von Ludwig van Beethoven umfasst die drei Klaviertrios Nr. 1 Es-Dur op. 1/1, Nr. 2 G-Dur op. 1/2 und Nr. 3 c-Moll op. 1/3 (ED 1795); Opus 2 enthält die Klaviersonaten Nr. 1 f-Moll op. 2/1 (ED 1796), Nr. 2 A-Dur op. 2/2 (ED 1796) und Nr. 3 C-Dur op. 2/3 (ED 1796). 5 Berlioz’ erste abgeschlossene Komposition Grande Ouverture des Francs-Juges (EZ 1826) zur gleichnamigen fragmentarisch gebliebenen Oper (EZ 1825 –1826, rev. 1829) hat in der Werkzählung, trotzt ihrer frühen Entstehungszeit, die Opus-Nummer 3 erhalten. Als Opus 1 hatte Berlioz zunächst die Huit Scènes de Faust (EZ 1828 –1829) veröffentlicht, die er jedoch später, nachdem er seine Faust-Szenen zurückgezogen hatte, durch die Grande Ouverture de Waverley op. 1 (EZ 1826 –1828) ersetzte. 6 Felix Mendelssohn Bartholdy, Klavierquartett Nr. 1 c-Moll op. 1 (ED 1823), Nr. 2 f-Moll op. 2 (ED 1824) und Nr. 3 h-Moll op. 3 (ED 1825).
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Franz Schubert (Erlkönig und Gretchen am Spinnrad)7 – aber nicht Gluck, nicht Mozart, nicht Weber, nicht Schumann, nicht Richard Wagner, und noch so Mancher, dessen Bedeutung und Größe fast mit jedem Werke wuchs, können hier genannt werden. Beweis genug, daß dieser Maßstab ein durchaus unbestimmter und unzuverlässiger ist, weil von den verschiedensten Lebensumständen, Naturgaben und Zufällen abhängig, denen jede Künstlernatur mehr oder weniger unterworfen sein wird. Nur im Verlauf des Kampfes mit dem Leben kann man behaupten, daß jeder Künstler sein eigenes Geschick, bis zu einem gewissen Grade, selbst in den Händen habe – nicht aber beim Beginn der Laufbahn. Hier ist das Wort des Archimedes: „Gieb’ mir wo ich stehe“ – richtiger, als das Göthe’sche: „Behaupte, wo du stehst“!8 – Die Biographien unserer größten Geister sind hierzu der lebendigste Commentar. Wenn es Individualitäten giebt, deren Fähigkeiten ihnen ganz bestimmte, aber dann immer auch in gewissen [sic] Sinne beschränktere Wirkungskreise anweisen, (wir nennen hier Chopin und Robert Franz), welche mit ihrem ersten Werke9 gleichsam schon fertig vor das Publikum treten, so daß das, was sie später bringen, wohl noch intensive, aber nicht eigentlich mehr extensive Erweiterungen zeigt; wenn Andere, welche eine bestimmte Kunst-Richtung sich vorgezeichnet haben, die sie durch ihr ganzes Leben hindurch consequent verfolgen wollen, in ihrem Opus 1 gleichsam schon ihr ganzes Glaubensbekenntniß aussprechen (wie Mendelssohn): so sind wieder Andere in fortwährender Entwicklung, Entfaltung und Erweiterung begriffen; sie ringen sich von den Mustern, die am meisten anregend auf sie wirkten, erst nach und nach mit heißen Kämpfen los; sie arbeiten sich zum Styl empor, endlich zum Begründer einer Schule (oft auch zu dem einer Manier); aber das Alles nicht so schnell und ununterbrochen, daß man beim Opus 1 etwa schon weissagen könnte, welches das wahre Feld der Wirksamkeit sein werde und wohin der Weg führe. Im Gegentheil wird bei solchen Naturen des Dichters Wort zur vollen Wahrheit: „Es wächst der Mensch mit seinem Gegenstand!“10 Daß diese Letzteren gerade die Begabtesten sind, daß ihr Schaffen und Wirken immer von der größten Folgewichtigkeit für die Gesammt-Entwickelung der Kunst war und sein wird – wer wollte das läugnen? – Wer hätte aus Gluck’s ersten italienischen Opern11 seine „Iphigenie“12, aus Mozart’s „Mitridate“13 seinen „Don
Schubert veröffentlichte 1821 seine Lieder Erlkönig (D 328) und Gretchen am Spinnrade (D 118) als op. 1 und 2. 8 Beide Zitate nach Johann Wolfgang von Goethe, Maximen und Reflexionen (ED 1833), 3. Abteilung: „Gieb mir wo ich stehe! / Archimedes./ Nimm Dir wo Du stehest! / Rose. / Behaupte wo Du stehst!“ Der Satz von Archimedes (285 – 212 v. Chr.) lehnt sich an den heute sogenannten ‚Archimedischen Punkt‘ an: „Gib mir (einen Standpunkt außerhalb der Welt), wo ich stehen kann, und ich werde die Welt bewegen“. Damit formulierte er erstmals das physikalische Hebelgesetz. 9 Frédéric Chopin, Rondo c-Moll op. 1 (ED 1825); Robert Franz, Zwölf Gesänge op. 1 (ED 1843). 10 Friedrich von Schiller, Wallensteins Lager“ (UA 1798), Prolog: „Es wächst der Mensch mit seinen größern Zwecken.“ 11 Hierzu gehören etwa: Christoph Willibald Gluck, Artaserse (UA 1741), Cleonice (UA 1742), Demofoonte (UA 1843). 12 Hier ist Glucks Iphigénie en Aulide (UA 1774) gemeint. 13 Wolfgang Amadeus Mozart, Mitridate (UA 1770). 7 Franz
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Juan“14, aus Weber’s „Peter Schmoll“15 seine „Euryanthe“16; aus Beethoven’s erster Symphonie seine letzte17; aus Wagner’s erster Ouvertüre18 seinen „Lohengrin“19 auch nur im Entferntesten ahnen, wie vielweniger voraussagen können? Wenn also von einem blutjungen, kaum 17jährigen Componisten20 voraus verkündet wird: „er sei einer, [15] der uns die Meisterschaft nicht in stufenweiser Entfaltung bringe, sondern, wie Minerva21, gleich vollkommen gepanzert aus dem Haupte des Kronion entsprang“I, 22 – muß dann ein solches Urtheil, und selbst wenn es ein, von uns hochgeachteter und verehrter Meister ausspräche, nicht eher beängstigen, als erfreuen? Es beängstigt nicht minder, wenn die Weissagung sich erfüllt, als wenn sie sich nicht erfüllt. Denn in ersterem Falle müssen wir fürchten, schon im Anfang das Ende zu gewahren, und die neue, aber kurze Laufbahn des jungen Genius nicht jenen kosmischen Bahnen einverleiben zu können, deren erste bekannte Elemente noch durchaus keinen Schluß auf das Ganze ziehen lassen, und deren Ende in unberechenbarer Ferne liegt. Und im anderen Falle müssen wir fürchten, daß, wenn die Weissagung sich nicht erfüllt, die ganze Zukunft des jungen Künstlers dadurch gefährdet wird. Wenn aber nun Robert Schumann, den [sic] diese Gefahren seines Lobes sicher nicht entgehen konnten, trotzdem seinem Glauben an den, ihm sympathischen Genius, und seiner Begeisterung für diese junge, frische, vielsprechende Kraft, sich ohne kluge Vorsicht mit ungetheilter Liebe, mit unbeschränkten [sic] Enthusiasmus hingab – was wäre natürlicher und verzeihlicher gewesen, als, auf Schumann’s Autorität fußend, und sie als Schild vorhaltend, mit Siegesruf „das junge Blut, an dessen Wiege Grazien und Helden Wache hielten“23, zu empfangen, und in des Meisters Namen ihm bei jedem neuen Werke einen frischen Lorbeer auf die blonden Locken zu drücken? Wäre aber damit dem jungen olympischen Sieger, und wäre selbst dem verehrten Meister, der ihn nicht nur vertrauend zu sich emporzog, sondern in edler Selbstverläugnung auf seine eigenen Schultern hob – wäre ihnen Beiden auf die Dauer damit wahrhaft gedient worden? Zu leicht und zu früh erworbene Lorbeeren sind die gefährlichste Gabe der Musen! Denn was sind selbst die Kämpfe mit dem ganzen kleinlichen und elenden Misère des
I Robert
Schumann, „Neue Bahnen“. – Siehe Band 39. Nr. 18 dieser Blätter. –
Don Giovanni (UA 1787). 15 Carl Maria von Weber, Peter Schmoll und seine Nachbarn (UA vermutlich 1803). 16 Weber, Euryanthe (UA 1823). 17 Beethoven, Symphonie Nr. 1 C-Dur op. 21 (UA 1800) sowie Symphonie Nr. 9 d-Moll op. 125 (ED 1826). 18 Erste Ouvertüren Wagners waren die Paukenschlag-Ouvertüre B-Dur WWV 10 (UA 1830), die Politische Ouvertüre WWV 11 (EZ 1830) und die Ouvertüren C-Dur WWV 14 (EZ 1830) und Es-Dur WWV 17 (EZ 1831) sowie neben weiteren die Konzertouvertüre Nr. 1 d-Moll WWV 20 (UA 1831). 19 Wagners Lohengrin wurde 1850 in Weimar unter Liszt uraufgeführt. 20 Brahms war beim Erscheinen des Artikel von Schumann Ende Oktober 1853 bereits 20 Jahre alt. 21 Minerva, römische Göttin, Tochter des Zeus (Beiname: Kronion, von dessen Vater Kronos) und der Metis, entsprang zufolge der nachhesiodeischen Fassung des Mythos bei der Enthauptung ihres Vaters durch Hephaistos bereits in voller Rüstung dessen Kopf. 22 Schumann 1853 Neuen Bahnen, S. 185, in: NdS 1 Nr. 49, S. 527. 23 Ebd., S. 527 [185]. 14 Mozart,
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Lebens, die dem Jüngling seinen ersten Eintritt in die Welt zu erschweren und zu verleiden suchen24 – was sind sie, gegen das ruhelose, titanenhafte Ringen, das der Genius der Kunst keinem seiner Auserwählten durch das ganze Leben hindurch ersparen kann und das dann erst am furchtbarsten wird, wenn das Höchste erreicht werden soll! Es war ein eigenes, uns tiefergreifendes Geschick, daß Robert Schumann gerade um jene Zeit den Jüngling fand, von dem er sagen konnte: „Das ist der, der kommen mußte“! – als seine Stunde nahe war, wo er auf lange Abschied nehmen mußte von der Kunst und seinem rastlosen Wirken! – So wurde Johannes Brahms gleichsam ein Vermächtniß, welches der edle Meister seinen Schülern und Freunden hinterließ, bis er selbst wieder erscheinen würde auf dem Schauplatz der Kunst, dem er plötzlich so grausam entrückt wurde. Und so gesellt sich die Pietät für des Meisters gläubige Zuversicht fast unwillkührlich zu dem Gedanken an Jenen, den er so innig liebte und doch so bald verlassen mußte. Und sie gemahnt uns, mit freundlich mildem Lächeln, an Schumann’s Worte: „Es waltet in jeder Zeit ein geheimes Bündnis verwandter Geister. Schließt, die Ihr zusammengehört, den Kreis fester, daß die Wahrheit der Kunst immer klarer leuchte, überall Freude und Seegen [sic] verbreitend!“25 – – – Die Wahrheit der Kunst! – Wer suchte sie nicht aufrichtig, wenn er kein Thor, kein Heuchler, oder noch Schlimmeres ist? – Die Wahrheit ist das Eden, nach dem die Menschheit sucht, so lange sie ringt. Und die Wahrheit der Kunst ist uns nicht minder heilig und ist nicht minder erhaben, als die der Religion, der Philosophie, der Wissenschaft. Wer wagte aber zu sagen – er habe sie gefunden? Mag jeder einzelne Künstler, in treuer, begeisterter Verfolgung der Bahn, die er sich wählte, (oder vielmehr, seinen Gaben zufolge wählen mußte) mag er vorwärts dringen nach jenem erhabenen Ziel, nach der Wahrheit der Kunst – noch Viele ringen neben und mit ihm, und nicht alle Bahnen laufen nebeneinander: sie kreuzen sich nur zu oft! Des weisen Nathan Märchen von drei Ringen26 ist ebenso ein Spiegel für die Kunst, wie für die Religionen – nur dürften leider drei Ringe für uns nicht mehr genügen! Daß aber Jeder den Ring, den er erwählte, für den Rechten hält, daß, mit anderen Worten, die Kunstrichtung, die er einschlug, für ihn die einzig wahre ist und sein muß – das fordern wir sogar, denn sonst wäre der Künstler ja kein echter! [253] Das künstlerische Schaffen ist und bleibt ein für uns unergründliches und in letzter Instanz außer aller Berechnung liegendes Geheimniß. Es mögen noch so viele gegebene Elemente zur Vorausberechnung eines zu bildenden Kunstwerkes
Worte ähneln Formulierungen einer Rezension von Brahms’ ersten Werken in der Niederrheinischen Musik-Zeitung aus dem Frühjahr 1854: „Niemals ist einem jugendlichen Componisten sein Eintritt in die musicalische Welt so schwer gemacht worden, wie Johannes Brahms, gegen den sich von einer Seite entweder ein Vorurtheil geltend machte in Folge jenes beregte[n] Artikels, dessen Verfasser selber noch so unzählig viele Widersacher hat, von dem aber auf der anderen Seite von den Verehrern Schumanns zu viel erwartet wurde“ (Anonym 1854 Johannes Brahms, S. 65). 25 Schlussworte von Schumanns Brahms-Artikel (Schumann 1853 Neue Bahnen, S. 186, in: NdS 1 Nr. 49, S. 529). 26 Gotthold Ephraim Lessing, Nathan der Weise (UA 1783). Die im Zentrum des Stückes stehende Ringparabel steht für die Unzulässigkeit der Frage, welcher der drei monotheistischen Religionen – Judentum, Islam oder Christentum – das Primat einzuräumen sei. 24 Diese
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bekannt sein – ein Element wird immer ein unberechenbares sein und bleiben: das der Individualität ureigene Element, welches in Verbindung mit den Eindrücken der Außenwelt, mit der Tradition, mit dem Erworbenen und Ererbten, ein Neues, Selbstständiges, die wahre künstlerische Subjectivität, aus sich heraus erst bildet. Wenn schon jeder Mensch im Staate, im Religionsverband, in der Gesellschaft, im Verkehr das ihm ureigene und angeborene Recht der Subjectivität, der freien Meinungsäußerung und Selbstbestimmung sich zu wahren weiß, und wenn man nach dem Grad der Energie und Consequenz, die er hierbei entwickelt, einen haltbaren Schluß auf seine Bedeutung als Charakter, als Individualität ziehen kann: so wird der Künstler in um so höheren Grade dasselbe Recht in Anspruch nehmen müssen, und uns um so bedeutender erscheinen, je ausgeprägter und selbstständiger seine Subjectivität im Kunstwerk sich ausspricht. Wir sagen: „im Kunstwerk“ – und schließen hiermit alle unselbstständigen, so wie alle verfehlten, weil jeden objectiven Gehaltes entbehrende Versuche einer irregeleiteten Subjectivität selbstverständlich aus, denn eben so wie ein rein objectives Kunstwerk für uns nicht denkbar ist, eben so wenig wird die Subjectivität an sich schon ein Kunstwerk bilden können, sofern sie jenen Kunstgesetzen, welche dieselbe ewige Geltung wie die Naturgesetze haben (wenn sie nicht schließlich sogar in diese übergehen sollten) zuwider handeln wollte, oder der schwache individuelle Gehalt des Schaffenden eine Intensivität der Gedanken und eine Extensivität der Behandlung absolut verbieten sollte. In einer Zeit, welche sich dadurch auszeichnet, daß sie Alles unter einen gewissen Bildungsgrad zu nivelliren und zu generalisiren strebt, das Gepräge der Individualität zu verwischen, aber das Typische zu fördern sucht, – sind die reinen Subjectivitäten im Ganzen ohnehin selten genug, so daß wir jede neu auftauchende mit Freuden begrüßen müssen. Warum ruft denn jede künstlerisch bedeutende [254] Erscheinung eine solche Menge von Nachahmungen hervor, denen man im Einzelnen vielleicht Nichts Wesentliches absprechen kann, als daß sie eben nicht „originell“ sind? Warum genügt oft eine Form, ein Gedanke, ja schon ein Titel, von einem genialen Kopfe hingeworfen, um ganze Schaaren sonst befähigter Köpfe daran herum schwärmen zu sehen, wie Nachtvögel um ein Licht? – Weil Hunderten und Tausenden Nichts fehlt, als jener Gehalt, der aus sich selbst schöpft und aus sich selbst schafft. Weil Hunderte und Tausende einer Anregung, eines Fingerzeiges, eines Anhaltes bedürfen, dessen ihre eigene Natur entbehrt. Sie müssen den Schwerpunkt außer sich selbst suchen, bevor bei ihnen das secundäre Schaffen beginnen kann. Auf solche Art bilden sich die „Schulen“ – und wir behaupten nicht zu Viel, wenn wir als Kennzeichen einer echten künstlerischen Subjectivität vor Allem die immanente Kraft bezeichnen, eine Schule bilden zu können. Daß der Erfolg diesem Princip öfter nicht entspricht, liegt in äußeren Verhältnissen, die nicht immer und überall zu überwinden sind. Wenn man aber zu der Erkenntniß gekommen ist, daß die Majestät „von Gottes Gnaden“ in der Kunst nur in der ganzen und großen Subjectivität zu finden ist, concentrirt sich unser Interesse auch unwillkürlich mehr und mehr auf diese Ein-
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zelnen, und das Heer der Nachahmer, der Dutzendtalente, der Techniker und Mechaniker verschwindet in einen Gattungsbegriff. – Von Letzteren sind jedoch die einem selbstständigen Künstler wahlverwandten und sympathischen Naturen wohl zu unterscheiden. Es ist Thatsache, daß jedes Zeitalter, jede Culturepoche einen gewissen allgemeinen Charakter, einen gemeinschaftlichen Zug und Drang zeigt, dem der Einzelne sich dadurch nicht entziehen kann, daß er ihn ignorirt, sondern nur dadurch, daß er ihm prophetisch voraus eilt. Wer dann im Kunstwerk ausspricht, was man schon dunkel fühlte, ohne den Ausdruck dafür finden zu können, der ist im wahren Sinne der Künstler seiner Zeit, der Repräsentant seiner Culturepoche geworden. Aber mancher Andere der nach oder mit ihm zum gleichen Ziele schritt, wird bei ähnlicher Subjectivität auf ähnliche Entwicklungsphasen und Resultate stoßen, ohne daß es ihm doch vergönnt war, in dieser Richtung der Erste sein zu können. Er kommt hierdurch in den Verdacht der Nachahmung, oder des Mangels an Originalität, weil er Aehnliches aus sich herausschuf, wie schon ein Anderer vor ihm, mit ähnlicher Organisation. Was hierbei das Angeeignete, was das Ursprüngliche sei, wo der Einfluß der Zeit und wo der eines Musters beginnt, das ist im einzelnen Falle oft sehr schwer zu bestimmen, um so schwerer, je näher uns die Erscheinung liegt, oder je unentwickelter sie noch ist. Man kann viel Tradi[ti]onelles mit sich führen, ohne daß man selbst eine Ahnung davon hat; man kann aber auch vieles Ursprüngliche, dem Zeitgeist Entsprechende besitzen, ohne daß es uns gelingen könnte, die Mitwelt zu überzeugen, daß es uns angehörte, daß wir es selbstständig, wenn auch nicht zuerst gedacht haben. Bei Entscheidung dieser Fragen kommt es mehr auf das Ende, als auf den Anfang der Entwicklungsbahn an. Man kann lange Zeit nebeneinander wandeln, und einen Parallelismus der Entwicklung mit Anderen zeigen, der einer Nachahmung täuschend ähnlich sieht, bis plötzlich, bei einer Hauptfrage, die Wege sich scheiden, die Bahnen sich entfernen, oder sich durchkreuzen. Dieser Moment der Scheidung kann aber möglicherweise auch nie eintreten, weil der Eine hinter dem Anderen nur zurückbleibt, aber nicht über ihn hinaus gelangen oder von ihm sich losmachen kann. Wir könnten das durch viele Beispiele belegen, die alle unmittelbar in die Gegenwart eingreifen. Wir verzichten aber darauf, einmal, weil das hier zu weit führen, und auch zu manchem harten Urtheil gegen Solche verleiden würde, mit denen wir es heute nicht zu thun haben; – dann auch, weil wir einfach auf den weiteren Entwicklungsgang in der Musik hinweisen können, der mehr als ein sogenanntes Genie baldigst an das Ufer werfen, respective auf den Sand setzen wird. Wir haben jetzt nur einen im Auge, den wir auch in der Einleitung keinen Moment aus dem Auge verloren, obgleich sein Name bis jetzt nur in der Ueberschrift genannt wurde. Er war uns im ersten Augenblick ein Räthsel, das wir nur durch ähnliche Betrachtungen lösen konnten, wie wir sie soeben gegeben haben. Seine Subjectivität forderte unsere ganze Aufmerksamkeit mehr als hundert Andere heraus und die Frage nach dem Woher? und Wohin? des jungen Geisteshelden führte zu manchen Erörterungen die durchaus nicht so auf der flachen Hand liegen, wie seine
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zahlreichen Gegner und seine unbedingten Lobredner (jede Partei natürlich im entgegengesetzten Sinne) meinen mochten.27 Daß Johannes Brahms gleich bei seinem ersten Auftreten zahlreiche Gegner fand,28 war eine seltene Auszeichnung, zu der wir ihm nur Glück wünschen konnten. Damit bewiesen seine Gegner sogleich, was sie zu läugnen sich abmühten, daß er eine sehr bedeutende Kunst-Individualität besitze. Nur das Unbedeutende läßt man unangefochten, nur das Hergebrachte ist bequem, nur das Gewöhnliche ist be-[255]liebt. Weil also in dem jungen Künstler sehr unbequeme und unbeliebte Elemente sich energisch kundgaben, darum bemühte man sich, sein erstes Auftreten im Keim zu ersticken. Das Wüthen der süddeutschen29 und rheinischen30 Presse gegen Brahms, das man, ohne Prophet zu sein, schon voraussehen konnte, bildete folglich die ob27 Gegnerische
Abhandlungen über die Kompositionen Brahms’ bzw. seine aktuelle Vermarktung waren beispielweise Anonym 1853 Johannes Brahms (Signale); Lobe 1854 Gespräche mit Felix Mendelssohn (Fliegende Blätter); Lobe 1854 Neue Bahnen (Rheinische Musik-Zeitung); Anonym 1854 Musik (Grenzboten): Köhler 1854 Johannes Brhmas (Signale); Anonym 1854 Opus 1– 4 von Joh. Brahms (Süddeutsche Musik-Zeitung); Anonym 1854 Johannes Brahms (Niederrheinische Musik-Zeitung) sowie Anonym 1854 Johannes Brahms, Sonate C-dur (Rheinische Musik-Zeitung). Positive Reaktionen auf Brahms waren u. a. Schumann 1853 Neue Bahnen (NZfM); Schloenbach 1853 Ein offener Brief an Franz Brendel (NZfM); Gleich 1854 Leipzig (NZfM); Dwight 1854 Our Wagnerism (Dwight’s Journal) sowie Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift (NZfM). 28 Gemeint sind hier wohl die Geschehnisse des Herbstes 1853: Im Oktober besuchte Brahms im Rahmen eines Düsseldorfer Konzerts, bei dem er ebenfalls eigene Werke spielte, auch Schumann, der daraufhin seine Lobpreisung auf Brahms verfasste. Der überaus positive Tenor von Schumanns Neuen Bahnen, ein weiterer Konzertauftritt des jungen Hamburgers Mitte Dezember in Leipzig sowie die ersten Veröffentlichungen Brahms’scher Kompositionen – so seiner ersten Klaviersonate op. 1 und seiner beiden ersten Liedsammlungen op. 3 und 6 –, gefolgt von ersten Rezensionen und Reaktionen auf seine Werke, führten zu großer Aufmerksamkeit in der Presse (Reaktionen der Musikzeitungen siehe vorherige Anm.; zu weiteren Aspekten der Brahms-Rezeption siehe Meurs 1996 Neue Bahnen?). 29 Seit den ersten Drucken von Brahms’ Werken 1853 veröffentlichte die Süddeutsche Musik-Zeitung eine einzige über drei Nummern angelegte, hier wohl angesprochene Rezensions-Serie, die die „unpassende Art und Weise, wie Herr Brahms sich einen Namen zu verschaffen gesucht hat, bevor er öffentlich auf irgendetwas Anspruch hatte“, anklagte, um dann dessen op. 1 bis 4 unter Abdruck einer Reihe von Notenbeispielen melodisch, thematisch, harmonisch, formal und stilistisch scharf zu kritisieren: „Summa: in allen vier Stücken kein einziger Satz, der gut zu nennen wäre; dagegen schon eine ungewöhnlich ausgebildete Manier. Deshalb tritt bei ihm keck heraus, was Andere zu sagen mehr oder weniger vergeblich sich abmühen, es wundert uns daher auch nicht im mindesten, wenn er dieser hoffnungsvollen Jugend als Zugführer gelten sollte. Das einzige Verdienst, welches ihm daraus erwüchse, besitzt er nach unserm Dafürhalten jetzt schon: er ist es nämlich werth, dass man seinetwegen einige Bogen vollschreibt. Wie gesagt, dies ist sein einziges, negatives Verdienst, und dadurch steht er über vielen Genossen“ (Anonym 1854 Opus 1– 4 von Joh. Brahms, S. 79). 30 Das „Wüthen“ der rheinischen Presse bezieht sich wohl auf eine schon knapp zwei Monate vor der Rezension in der Süddeutschen Musik-Zeitung erschienene, analytisch-kritische Besprechung von Brahms’ C-Dur-Sonate op. 1 aus der Rheinischen Musik-Zeitung, die von „Chaos“, „Härten“, Hässlichkeit und fehlender Originalität spricht, sich aber nicht als „Dornen“ gegen Brahms, sondern als aufmerksame Lenkung „zu größerer Reife“ verstanden wissen will: „[…] möge er sich vor Selbstüberschätzung hüten und mit dem Publicieren seiner Werke einstweilen inne halten, bis er zu grösserer Reife gediehen. Der Weihrauch, den ihm Robert Schumann in so unglaublichem Maasse gestreut, möge ihn nicht beirren; grosse Meister sind nicht immer unfehlbar in ihrem Ur theile über Andere“ (Anonym 1854 Johannes Brahms, Sonate C-dur, S. 78 und 79).
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ligate Begleitung hier, wie überall, wo ein bedeutendes Talent der Kleinkinderschule unserer A-B-C-Musiker verächtlich den Rücken kehrt. Wenn aber die enthusiastischen Freunde und Verehrer von Brahms in ihm sogleich den Propheten einer neuen Zeit erblickten, und namentlich den fertig entwickelten, reifen Künstler proklamirten,31 so war das eine liebenswürdige Ueberstürzung des Enthusiasmus, (die sich übrigens auch schon gelegt hat) die man ruhig verlaufen lassen konnte, um schließlich ein zu unbedingtes Lob auf das rechte Maß zurück zu führen. Brahms eine fertige Künstler-Natur nennen, hieße, seine Zukunft nicht nur gefährten [sic], sondern sogar bezweifeln. Denn so, wie er jetzt vor uns steht, bezeichnet er nur eine Uebergangsperiode, nicht aber einen Abschluß, weder in sich, noch in der Richtung, der er angehört. Wenn überhaupt Einer, so hatte nur Schumann das Recht, über Brahms ein vorgreifendes Urtheil in dieser Weise abzugeben, weil bei ihm die unmittelbarste Seelenverwandtschaft, die innigste künstlerische Sympathie ihre subjectiven Rechte geltend machte, die nur zu leicht verleiten können, das als fertig, als abgeschlossen zu erklären, was uns im Spiegel einer neuen Zeit, als jugendlicher Abglanz unserer eigenen Individualität erscheint. Schumann konnte und durfte sich über Werth, Ausgiebigkeit und Bedeutung einer Richtung wohl täuschen, die für ihn selbst mehr als eine Täuschung auf seiner Künstlerlaufbahn nach sich zog. Aber Andere die nicht in ihr, sondern außer ihr standen, durften sich darüber keinen Illusionen hingeben. [261] Eine seltene, frappirende Erscheinung war es jedenfalls, daß ein so junger Componist in seinen ersten Werken32 mit einer Freiheit der Formbehandlung, einer Mannigfaltigkeit der harmonischen und rhythmischen Entfaltung, und einer Fülle der Gedanken auftrat, wie sie in den Jugendwerken nur solcher Talente gefunden werden können, welche den Beruf zum einstigen Meister in sich tragen. – Aber, wer wollte läugnen, daß heutzutage Vieles „in der Luft“ liegt, was man ehemals mit schweren Kämpfen erringen, oder lediglich aus sich heraus entwickeln mußte? Die Formgewand[t]heit, die technische Behandlung der Instrumente, die harmonische Kühnheit, die rhythmische Mannigfaltigkeit, sind Elemente, die jeder begabte, talentvolle Musiker jetzt womöglich schon mit auf die Welt bringen muß, wenn er überhaupt „mit fortkommen“, wenn er beachtet werden, und eine Stellung in der Musikwelt sich gründen will. Dadurch daß Einer einen gewandten Klaviersatz schreibt, ein ansprechendes Liederheft, ein formell tadelloses Quartett, eine geschickt instrumentirte Ouvertüre componiren kann, ist für ihn, als Künstler der Gegenwart, noch sehr wenig oder keine Aussicht, bemerkt zu werden. Er hat damit gleichsam
31 Auf welche Äußerungen „enthusiastischer Freunde und Verehrer“ Pohl hier anspricht, ist nicht ganz klar, da außer dem „Neue Bahnen“-Aufsatz Schumanns und den beiden positiven Rezensionen Schloenbachs und Gleichs (Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49; Gleich 1854 Leipzig sowie Schloenbach 1853 Ein offener Brief an Franz Brendel) keine vergleichbaren Artikel erschienen waren. Eben dazu vermerkt Norbert Meurs in seiner Untersuchung früher BrahmsRezensionen: „Wenn in den Kritiken der ersten Brahms-Werke blind enthusiastische Reaktionen, wie Pohl sie den Schumannianern zuschrieb, fehlten, wohlwollende Zustimmung dagegen sehr wohl aus dem Umkreis der NZfM kamen, so ist dies ein bezeichnendes Indiz für nach außen hin keineswegs unmißvertständlich geklärte Positionen [der ‚Schumann’schen Partei‘]“ (Meurs 1996 Neue Bahnen?, S. 75). 32 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 2.
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nur seine Visitencharte [sic] in der Kunstwelt abgegeben; es ist ein Name mehr genannt worden; die Individualität ist dadurch wohl vertreten, noch nicht aber charakterisirt. Welcher gehörig gebildete, gut geschulte und einigermaßen gewandte junge Mann, dessen Herz warm schlägt, dessen Phantasie lebhaft arbeitet, wäre jetzt nicht im Stande, eine Prosa zu schreiben, die als „Reiseskizze“, „Novelle aus der Gesellschaft“33 etc. im Druck sich ganz anständig ausnähme, oder einen Band lyrischer Ergüsse in die Welt zu setzen, die nicht schlechter und nicht besser wären, als hundert andere auf dem Büchermarkt? Wenn man alle diese Leute Dichter nennen wollte (sie selbst halten sich freilich meist dafür) so würde der Parnaß an einer Uebervölkerung leiden, welche der Uebervölkerung des Proletariats in den Fabrikstaaten numerisch nicht viel nachgeben dürfte! Dasselbe Uebermaß der Production zeigt sich in der Musik, – für das Publikum zwar nicht so augenfällig, für die mit den Verhältnissen Vertrauten [262] aber in ebenso erschreckendem Grade. Warum sollte nun die musikalische Kritik schonender verfahren, als die literarische? Warum sollte sie nicht dasselbe Recht haben, nur das wirklich Bedeutende aus der Masse hervorzuheben, und dem Genie mit aller Macht eine Gasse zu bahnen durch die dichtgedrängte Schaar der Mittelmäßigkeiten? Daß diese Erhebung Einzelner immer nur auf Kosten Anderer, die sich dadurch zurückgesetzt oder verdrängt glauben, geschehen kann, ist nicht zu ändern. Wollte man Jedem Betheiligten darüber Rechenschaft geben, so würde man doch schließlich kein anderes Resultat erzielen, als – daß man Niemand eines Besseren überzeugt hätte, weil Jeder sich für bedeutend genug hält, um unter den Auserwählten zu sein. Ohne gewisse Rücksichtslosigkeit, bei strenger Ueberzeugung, würde man also gar kein Resultat erzielen – aber ohne einen gesunden, glaubensstarken Enthusiasmus ebensowenig. Dieser war es, der Johannes Brahms so schnell aus der Menge emporhob. Daß er diese Auszeichnung bis zu einem gewissen Grade verdiente, ist keinem Zweifel unterworfen. Daß er sie aber nicht als fertiger, sondern nur als werdender Meister verdiente, behaupten wir eben so fest. Zum Meister fehlte ihm vor allen Dingen noch das Haupterforderniß: der Styl. – Daß er sie jedoch nicht allein den oben angedeuteten Eigenschaften und Kennzeichen eines tüchtig geschulten Musikers verdanken kann, sondern einem Etwas, das darüber hinausragt, ist eben zu beweisen. Wer diese Frage nur oberflächlich faßt, ist mit der Antwort bald fertig. „Brahms ist der talentvollste und ausgeprägteste Schumannianer, folglich hatte er nicht nur die Sympathie Schumann’s selbst, sondern seiner ganzen Anhänger, sofort für sich, und hierdurch erklärt sich der Zusammenhang der ganzen Procedur, als einer reinen Parteisache, ganz von selbst.“ – So haben wir oft genug urtheilen hören, und daß etwas Wahres an dieser Behauptung ist, haben wir von Anfang an im Interresse [sic] von Brahms bedauert. Denn zuletzt hilft doch alles Getragenwerden Nichts, und man muß auf eigenen Füßen stehen können – oder wieder fallen! Wir wollen nicht in Abrede stellen, daß die exclusiv Schumann’sche Partei, die unter den jüngeren Musikern noch immer stark vertreten ist, das Bedürfniß fühlte,
33 Anspielung auf die sich seit Anfang des 19. Jahrhunderts ausbreitende, zur Modeerscheinung gewordene Gattung der Reiseliteratur und der novellenartigen Unterhaltungslektüre.
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einen ihrer Richtung Angehörenden zu erheben, um auch ihrerseits für einen Propheten der neuen Zeit zu sorgen,34 und für ihn das Panier erheben zu können. Denn man fühlte wohl, daß Schumann in mehr als einem seiner neuesten Werke nicht mehr absolut zu vertreten sei, und daß, wenn er so fortfahre, in sich hinein, anstatt aus sich heraus zu schaffen, die „Zukunft“ seiner Richtung sehr gefährdet sei. Deshalb mochte es Manchem nöthig erscheinen, ein frisches kräftiges Blut dem Stammbaum auf diese Weise einzuverleiben. Von dieser gutgemeinten, aber verfehlten Politik ist natürlich Schumann und Brahms persönlich eben so frei zu sprechen, und überhaupt unberührt geblieben, als wir unserseits uns davor verwahren müssen. Denn daß die Schwächen, die bei dem Meister nicht nur erträglich, sondern sogar liebenswürdig erscheinen, bei den Schülern und Nachbetern unerträglich werden können, haben die exclusiven Schumannianer zur Genüge bewiesen. Und daß eine Natur, wie die Schumannische, eben nur einmal vorhanden sein kann, weil sie in sich durchaus abgeschlossen ist, und keine Fortsetzung erträgt (so wenig wie Jean Paul oder E. T. A. Hoffmann) das dürfte jetzt, nachdem eine 20jährige Künstlerthätigkeit des von uns verehrten Meisters vor uns liegt, nur noch Wenigen ein Geheimniß sein – nämlich nur denen, welche irr thümlich glauben, daß man einer bedeutenden Künstlernatur dadurch zu nahe tritt und ihr Unrecht thut, wenn man ihr nicht alle denkbaren Consequenzen offen läßt und nicht alle ihre Einflüsse, selbst die schädlichen, als Wohlthaten preist. Wer strenggläubig genug ist, um in Schumann’s Fußtapfen treten zu wollen, oder zu beschränkt, um etwas Anderes zu können, der bannt sich freiwillig in denselben Cirkel, in den er selbst sich festbannte, nur mit dem Unterschied, daß Schumann’s sehr bedeutende Subjectivität einen ganz unzweifelhaften, hohen Werth besitzt, und für die Geschichte der Kunst immer behalten wird – aber nur in ihrer Originalität, nicht in der Nachahmung. Sähen wir also in Brahms Nichts als einen Schumannianer mehr, so wäre das höchstens ein Grund für uns, seine Zukunft zu bezweifeln, nicht aber, ihn mit besonderer Auszeichnung zu behandeln. Also nicht weil, sondern trotzdem die Schumann’sche Partei ihn erhoben hat, fühlen wir für ihn eine besondere Sympathie. Und zwar aus folgendem Grunde. Brahms ist kein Nachahmer Schumann’s, sondern eine Schumann’sche Natur. Er zeigt mit ihm eine innere Verwandtschaft in der ganzen Anlage seines Geistes und Schaffens, die mehr als bloße Sympathie ist; die durchaus nichts Forcirtes oder Angeeignetes enthält, sondern ganz ursprünglicher Natur erscheint. Wie nun aber jede ächte künstlerische Subjectivität etwas Unberechenbares und nicht Nachzuahmendes enthält, so hat auch Brahms ein Element in sich, das Schumann nicht besitzt, jenes Etwas, das uns verheißt, er werde seine eigenen Bahnen [263] suchen, wenn es ihm überhaupt vergönnt ist, zur völligen Entwickelung zu gelangen, – eine Bedingung, deren Erfüllung theilweise von ihm selbst abhängt. Es ist weniger das, was
34 Der hier von Pohl indirekt angesprochene andere „Prophet der neueren Zeit“ spielt sicherlich auf Richard Wagner an, der oftmals – sowohl unter negativer als auch positiver Betrachtung – als „Prophet“ tituliert wurde (siehe beispielsweise Kretschmann 1848 Romantik in der Musik, S. 10, in: NdS 1 Nr. 11, S. 153 sowie Anonym 1854 Richard Wagner, S. 57, in: NdS 1 Nr. 63, S. 669).
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er jetzt leistet, als das, was er für die Zukunft verspricht, was uns zu ihm hinzieht. Je mehr es ihm gelingt, sich von der ihm charakteristischen Schumann’schen Natur zu befreien, je energischer er über den, seinem Vorgänger eigenthümlichen Ideenkreis hinausschreitet, desto vielversprechender wird seine Zukunft sein. Dieselbe Natur wird nie zweimal geboren. Die Bedingungen des Werdens in und mit der Zeit werden immer ebenso verschieden sein, als die eigenthümlichen Combinationen der Geistesanlagen variiren, unter denen ein Talent sich entfaltet. Es ist daher lächerlich, von einem zweiten Gluck oder Beethoven etc. zu sprechen. Einen Zweiten giebt es nie! – Aber bis zu einem gewissen Grade sind annähernd gleiche Grundbedingungen denkbar, und bis zu diesem Grade wird die Entwickelung eine ähnliche sein. Schumann’s Bildungsgang, sein künstlerisches Werden und Gestalten wurzelt wesentlich in der Kunst des 19ten Jahrhunderts. Er war ein ächtes Kind seiner Zeit, und zwar der hervorragendste, ächt deutsche Repräsentant der Esprit-Periode der 30er Jahre. Seine Geistesrichtung greift unmittelbar in die Zeit ein, aus der er entsprossen, und die Fundamentalbedingungen seiner Entwickelung sind in den Werken von Beethoven, Schubert und Chopin zu suchen, zu denen sie in mehr als einer Hinsicht eine Fortsetzung und Ergänzung bilden, wenn auch durchaus mit jener speciell subjectiven Färbung, die Schumann eben zu den wenig Auserwählten erhoben, welchem der Ehrenname eines musikalischen Charakters zukommt. Jene scharf ausgeprägte Subjectivität aber, die in der Verinnerlichung des Schaffens, in der unmittelbaren Eingebung des Augenblickes ihren Ausdruck suchte; die bei einem fast krankhaften Produktionsdrange den Gesichtskreis jedoch nicht erweiterte, sondern eher verengte; die bei aller Tiefsinnigkeit zuletzt in einem Grübeln in Ideenkreisen endete, aus denen sie sich nicht mehr befreien konnte, – sie wurde nicht nur für Schumann zur Klippe, an der sich die Wogen seines hochstrebenden Geistes brachen – sondern sie mußte es auch für jede, ihm ähnliche und geistesverwandte Natur werden. Brahms steht nicht außer dieser Gefahr, und hat sich daher wohl zu hüten, nach dieser Seite dem starken Drange seiner Subjectivität nachzugeben und so auch in den Schumann’schen Consequenzen zu verfallen. Auch Brahms hat das innerlich Grübelnde und den sehnsüchtigen Zug nach dem Unbestimmten, Nebelhaften, der die Romantiker auf so eigenthümliche Weise charakterisirt – jenes Eichendorf’sche Träumen „Nachts in Waldeseinsamkeit, Wenn die Bäume träumend lauschen, Und der Flieder duftet schwül. Und im Fluß die Nixen rauschen: Komm’ herab, hier ist’s, so kühl!“35
35 Zitat
der letzten fünf Verse des zweistrophigen Gedichts „Lockung“, welches Joseph von Eichendorff als Liedtext in seine Novelle Dichter und ihre Gesellen (ED 1834) eingeflochten hat (1. Buch, Kap. 9).
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Er hat auch mit den Romantikern, und namentlich mit Schumann, jenen guten und starken Glauben an die Eingebungen des Genius, an die Inspirationen des Augenblickes gemein, denen man folgen müsse, ohne Wahl und Widerstand und die man, allen Andersmeinenden, und namentlich aller Kritik zum Trotz, besiegeln müsse durch ein: „Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben!“36 Deshalb bringt Brahms mitunter Sätze, denen mit der Logik schwerlich beizukommen wäre, die außer aller Consequenz und Voraussetzung liegen, aber darum noch nicht als Himmelsgabe gut geheißen werden können. Seine Arbeit wird dadurch ungleich, die Erfindung schwankend, sie erhält zuweilen den Anschein des Grillenhaften. Sie ist nicht stetig, weil nicht genug überlegt, und vor Allem fehlt ihr noch der Styl, der die künstlerische Subjectivität zum objectiven Ausdruck gelangen läßt. Das „Hineingeheimnissen“ der Romantiker in ihre Werke, das Räthselhafte in den Intentionen, die oft zu Visionen werden, besitzt nur dann eine überwältigende und überzeugende Gewalt, wenn es von einer künstlerisch fertigen Individualität getragen wird, die keinen Widerstand mehr duldet, die unter allen Umständen mit sich fortreißt, und dadurch zum Glaubenssatz auch für Andere, und nicht nur für den Schöpfer des eigenen Werkes wird. Die Klippen für Brahms liegen also in dem, was seine Ähnlichkeit und Verwandtschaft mit Schumann begründet, dort, wo seine nächsten Sympathien ihn hinziehen. – Das Verschiedene aber, das Brahms von Schumann unterscheidet, liegt in dem Angebornen, Selbstständigen, welches auch ihm zum werdenden „Charakter“ stempelt, jedoch in einer neuen Zeit, und mit veränderten Grundbedingungen. Brahms ist nicht minder ein ächtes Kind seiner Zeit wie Schumann von der seinigen – aber er ist 25 Jahre nach ihm gekommen. Ein Vierteljahrhundert liegt zwischen Beiden, so bedeutsam für die Entwickelung der Kunst! Er ist nicht allein in der Luft Beethoven’s, Schubert’s und Chopin’s emporgewachsen und erstarkt, sondern er hat in seinen Bildungsgang auch bereits ihre Consequenzen mit aufgenommen. Sein Gesichtskreis war daher von vorn herein ein erweiterter, weil das klar vor ihm liegt, was 20 Jahre früher kaum [264] noch im Werden war; weil alle die Resultate, die der Kunst seitdem als neue Fundamente gewonnen wurden, seiner Entwickelung beschleunigend und läuternd zu Gute kommen. Man kann nie mit Bestimmtheit behaupten, was aus einem Künstler geworden wäre, wenn er zu der oder jener Zeit gelebt hätte, anstatt in der, in welcher er gelebt hat. Das muß man aber unter allen Umständen festhalten, daß Jeder, zu einer anderen Zeit geboren, auch ein Anderer geworden wäre. Wer da glaubet, daß Bach oder Mozart gerade so sich entwickelt, und eben so geschaffen hätten, wenn sie im 19ten statt im 18ten Jahrhundert gewirkt hätten, ist ein Thor, für den es keine Geschichte giebt, dessen Orthodoxie ihn selbst verdammt, auf den Buchstaben, anstatt auf den Geist zu schwören, und folglich todtgeboren zu schaffen!
36 Die
Antwort Pilatus auf die Aufforderung der Hohenpriester: „Schreibe nicht: ‚Der Juden König‘, sondern daß er gesagt habe: Ich bin der Juden König. Pilatus antwortete: Was ich geschrieben habe, das habe ich geschrieben“ (Joh 19, 21– 22).
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Wir behaupten nicht zu viel, wenn wir annehmen, daß selbst Schumann, wenn er heute seine Kunstlaufbahn erst beginnen könnte, ein Anderer geworden wäre, weil die neue Zeit, gegen deren Einflüsse er sich als gereifter Mann zuletzt fast hermetisch verschloß, wie er sich schon lange abweisend gegen sie verhielt – den Werdenden in ihre allmächtigen Arme geschlossen und sicher nicht erdrückt, sondern erhoben haben würde. Aehnlich verhält es sich mit Brahms. Wäre Brahms in den 30er Jahren aufgetreten, anstatt in den 50er Jahren, so wäre seine Aehnlichkeit mit Schumann noch deutlicher hervorgetreten, aber die Gefahr auch um so größer gewesen, mit Schumann, und vielleicht durch ihn, der Herrschaft einer innerlich wühlenden und sich aufreibenden Subjectivität zu verfallen. – Aber ein Kind unserer Tage ist dieser Gefahr schon bei weitem weniger ausgesetzt, wenn es nur Augen und Ohren offen hält und nicht eigensinnig oder tollkühn genug ist, gegen den Kunststrom der Zeit schwimmen zu wollen – vorausgesetzt, daß die geistige Capacität ausreicht, ihm nicht nur zu folgen, sondern ihm ein neues Bett zu graben – eine Voraussetzung, die sich hier von selbst versteht. Es ist keine Frage, daß unsere Zeit nervöser, pointirter ist, als irgend eine ihr vorhergehende Periode. Aber sie hat bei alledem einen Hang nach dem Reflectirten, der ein sehr glückliches Gegenwicht dazu bildet, weil er nach dem Objectiven hinlenkt, und so das Schaffen aus der Herrschaft der unumschränkten Subjectivität befreit. Das Betonen des Persönlichen, das Streben nach individuellster Auffassung, nach durchgreifendster Charakteristik, nach der größten Schärfe logisch zugespitzter Ausdrucksweise in der Kunst (sei es auch mehr auf die Spitze getrieben, als je zuvor) gewinnt durch den realistischen Zug, der das Leben unserer Zeit durchdringt, doch eine ganz andere Färbung, als in der Periode des Esprits und der Romantik. Man sucht den individuellen Gehalt nicht mehr in sich, sondern im Gegenstande auf, den man zu behandeln hat; man charakterisirt mithin in jeder Aufgabe nicht nur immer sich selbst, sondern betont das Charakteristische im Kunstobjekt. Bis zu dieser Stufe der Freiheit ist zwar Brahms noch nicht gelangt, aber er kann und wird dahin kommen, wenn er seine Zeit recht versteht, und seine Kräfte recht anwenden will. Nur wenn er sich diesem Einflusse gewaltsam entziehen sollte, würde er in sich versinken und somit nicht das leisten, was er leisten könnte. Und es kann natürlich nicht die Aufgabe der Kritik sein, vorauszubestimmen, wie Alles kommen müsse, sondern nur, wie es sich gestalten könne. Denn eine Kritik, die infallibel wäre, kennen wir wenigstens nicht, und werden ihr auch nie das Wort reden. – Schon Mancher, dessen Auftreten ein glänzendes, vielverheißendes war, hat die Erwartungen seiner Zeitgenossen getäuscht, und hielt nicht, was er versprach. Und wieder mancher Andere nahm einen Aufschwung, den man nie erwartete, er leistete Mehr, als alle Voraussicht ahnen konnte. Nur die Wenigsten sind in ihrer Entwickelung stetig vorwärts geschritten, leisteten in allen Perioden das, was man von ihnen zu erwarten berechtigt war, aber auch nicht Mehr als das. Man nennt die Letztern bevorzugte Talente, die Ersteren Genies. – Auf welchem Namen Brahms einst Anspruch machen darf, das kann und wird erst die Zukunft
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entscheiden. Seine ersten 9 uns vorliegenden Werke37 berechtigen noch zu keinem bestimmten Schluß. Diese Werke aber nunmehr etwas näher zu betrachten, und an ihnen im Einzelnen unsere Ansicht zu prüfen, sei die Aufgabe eines dritten Artikels38.
Kommentar Richard Pohls vorliegender Beitrag über Johannes Brahms ist ein vielsagendes Zeugnisse innerhalb der frühen Brahms-Rezeption. Eigentlich als eine dreiteilige Werkrezension geplant, erschienen nur zwei Artikel dieser Serie, und zwar in einem Abstand von fünf Monaten und von hauptsächlich einleitendem Charakter, die dann vor der eigentlichen Rezension der Kompositionen abbricht.39 Trotz der neun bis Ende 1855 gedruckten Opera Brahms’ ist dies der erste Beitrag der NZfM über den jungen Komponisten nach eineinhalb Jahren des Schweigens40, das Pohl damit begründete, der Meinungs-Autorität Schumanns und dessen Neue Bahnen-Urteil ohne eigene Einsicht in erste Werke von Brahms nicht blind folgen und zudem seine Kritik nicht anhand nur erster einzelner Kompositionen überstürzen zu wollen. Die Umstände sprechen aber vor allem auch dafür, im vorliegenden Aufsatz Pohls – als engstem Mitarbeiter Brendels41 – eine grundlegende und lang überfällige Auseinandersetzung der NZfM mit Schumann selbst zu sehen. Spätestens seit den negativen Genoveva-Rezensionen von Brendel und Eduard Krüger war die Zurückhaltung in der NZfM gegenüber dem Spätwerk Schumanns offensichtlich.42 Diesen Hintergrund lassen auch Pohls Charakterisierung von Brahms als ‚subjektiven Romantiker‘ erkennen, die stark an den Schumann-Aufsatz von Liszt erinnert, der in der NZfM damit im März 1855 den ersten diplomatischen Vorstoß in diese Richtung getan hatte.43
37 Siehe
vorliegender Artikel, Anm. 2. 38 Der Aufsatz ist nie erschienen, siehe den Kommentar zu vorliegendem Artikel. 39 Norbert Meurs vergleicht dieses Verfahren in Anlehnung an Honoré de Balzacs Illusions Perdues (Honoré de Balzac, Verlorene Illusionen, aus dem Französischen übertragen von O. Flake, Zürich o. J., S. 339.) mit der sogenannten „Leitartikelmethode“ und beschrieb es als ein „bewährtes Verfahren, das Werk eines Autors zu erwürgen, ohne sich auf eine eigentliche Auseinandersetzung überhaupt einlassen zu müssen“ (Meurs 1996 Neue Bahnen?, S. 71). 40 Die ersten und letzten Beiträge der NZfM zu Brahms erschienen im Oktober, Dezember 1853 und Januar 1854 (Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49, Schloenbach 1853 Ein offener Brief an Franz Brendel und Gleich 1854 Leipzig). Am 4. August 1854 kündigte die NZfM unter der Rubrik „Musikalische Novitäten“ neben einem Trio und dem dritten Liederheft an, „demnächst auf die bis jetzt erschienenen Werke desselben [Brahms] ausführlicher zurück[zu]kommen“ (S. 67). 41 Beide waren neben ihrer Zusammenarbeit bei der NZfM auch gemeinsame Herausgeber der von 1856 bis 1861 erschienenen Zeitschrift Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft. 42 Brendel 1850 Genoveva; Krüger 1851 Robert Schumann. 43 Liszt 1855 Robert Schumann.
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Ausgehend von der Erörterung eines gegebenen oder erworbenen Genies Brahms’ möchte Pohl den jungen Komponisten nicht – wie es Schumann tat – als fertigen, sondern „nur als werdende[n] Meister“44 auszeichnen. Diese Apostrophierung des Übergangs, der noch nicht erlangten Meisterschaft Brahms’ bildet neben dem Vorwurf, keinen persönlichen Stil ausgeprägt zu haben, den wesentlichen Kritikpunkt von Pohls umfangreicher Rezension. Dass er dafür wieder und wieder um das Opus 1 von Brahms kreist, könnte im Verriss dessen durch die Niederrheinische Musik-Zeitung begründet liegen, die schon im März 1854 feststellte, dass der ‚falsche‘ Weg des jungen Komponisten bereits eingeschlagen sei.45 Mit der impliziten Bezugnahm auf Liszts Schumann-Bild, der dessen romantischen Geist „weniger in freier Selbstbestimmung als fatalistisch dazu gezwungen [sah], weil eben der echte Künstler nothwendig dahin getrieben wird seine Form nach den Conturen seines Gefühls zu modeln, sie mit dessen erheiternden oder verdüsternden Farbengebungen zu durchdringen, sie mit der Stimmhöhe seiner inneren Saiten in Einklang zu bringen. So that er es, aber unfreiwillig, gleichsam unter dem Joch seines Dämons“,46 so spricht auch Pohl gegenüber Brahms die Gefahr an, einer gänzlich nach innen gerichteten Subjektivität zu verfallen – vorsichtige Worte, die jeodch beim einstigen Leser kaum die Tatsache außer Acht gelassen haben dürften, dass Schumann sich zu dieser Zeit längst in der Heilanstalt in Endenich befand. Im Gegensatz zu den Einschätzungen seines NZfM-Kollegen und ersten dortigen BrahmsRezensenten Ferdinand Gleich47 vertrat Pohl nicht die Meinung, dass Brahms’ Kompositionen Grundlage für „Neue Bahnen“ darstellten. Es ist diese Absage an eine Anschlussfähigkeit für junge Komponisten, die Brahms einerseits in seinem jungen Schaffen (vor-)verurteilt, gegenüber Schumann hingegen Respekt bekundet, dessen ‚Subjektivität‘ noch innerhalb einer anderen Zeit eingebettet war und daher nicht oder zumindest nicht in demselben Maß der Notwendigkeit eines mehr ‚objektiven‘ Ausdrucks bedurfte. Für die innerhalb der vorliegenden Edition abgezeichnete Kontroverse ist Pohls klare Abgrenzung von drei, statt sonst meist zwei Fronten innerhalb der musikalischen Landschaft von besonderem Interesse, zumal er die Bezeichnung „Schumannianer“48 dafür wählt, um der vermeintlichen Gruppierung den Eidnruck einer feststehenden Opposition zu verleihen, die sich mit Brahms nun einen neuen ‚Propheten‘ zu erschaffen versuche. Diese letztgenannte Richtung lässt sich jedoch weder bei Pohl noch in Äußerungen aus eigenen Reihen49 in ihrer Position konkret bestimmen, sondern wurde in der Rückschau von Ludwig Meinardus als eine Gruppe von „nur allgemeinhin verwandte[n] Gesinnungen“ ohne „organisirende Kunstprinzipien“50 beschrieben, die, da ohne eigenständiges ‚Parteiorgan‘, meist mit der von Schumann gegründeten NZfM identifiziert wurde. Nicht zuletzt diese Sichtweise
Artikel, S. 1004 [262]. 45 Anonym 1854 Johannes Brahms, S. 67. 46 Liszt 1855 Robert Schumann, S. 136. 47 Gleich 1854 Leipzig. 48 Vorliegender Artikel, S. 1005 [262]. 49 Zum eher uneindeutigen Partei-Charakter der Schumannianer teilte der ebenfalls von Schumann zu einem der „hochaufstrebenden Künstler der jüngsten Zeit“ (Schumann 1853 Neue Bahnen, S. 185, in: NdS 1 Nr. 49, S. 526) gerechnete Ludwig Meinardus im Rückblick mit, dass diese eigentlich nur „eine Art unsichtbarer Loge mit strengem konventionellen Dekorum“ bildeten und „nicht organisirende Kunstprinzipien, sondern nur allgemeinhin verwandte Gesinngungen und Geschmacksbestimmtheiten das vermittelnde Band“ zwischen ihnen ergeben hätten (Meinardus 1873 Des einigen deutschen Reiches Musikzustände, S. 166). 50 Beide Zitate des Satzes ebd., S. 166. 44 Vorliegender
Pohl 1855 Johannes Brahms
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bewog eine Gruppe von Komponisten51 aus dem einst unmittelbaren Umkreis Schumanns im Jahre 1860 zur Veröffentlichung einer knappen Erklärung52 in der Berliner Musik-Zeitung Echo, die darauf abzielte, eine öffentliche Distanzierung und die Artikulation einer eindeutigen Gegenposition durchzusetzen, was jedoch aufgrund eines Missgeschicks und ausbleibender zeitgenössischer Resonanz scheiterte. Weitere musikpublizistische Auseinandersetzungen der NZfM mit Schumann und insbesondere mit Brahms blieben äußerst sporadisch.53 Umso mehr tritt die Bedeutung des Ausbleibens einer Besprechung von Brahms’ Werken in den Vordergrund, liest man den vorliegenden Artikel als Versuch einer späten Rechtfertigung der zunehmenden Distanz gegenüber Schumanns Spätwerk bzw. zwischen Schumann und Brendel seit dessen negativer Genoveva-Besprechung. Ein weiterer Grund, der im persönlichen Bereich der Protago nisten liegt, dürfte Schumanns Aufkündigung der Freundschaft gegenüber Pohl infolge des Karlsruher Musikfests sein.54 Zwar wurde Schumann immer wieder Anerkennung als Gründer der Zeitschrift gezollt und in diesem Sinne schließlich auch als Vorläufer der später proklamierten „neudeutschen Schule“ inszeniert55 – seine Werke selbst wurden jedoch kaum mehr Gegenstand von Rezensionen. Laut Brendel lag der Grund dafür in der Tabuisierung von Schumanns Erkrankung56 sowie darin, dass nach ausreichender Berücksichtigung des Komponisten Schumanns „neue Erscheinungen [kamen], die ebenfalls ihre Berücksichtigung“57 verlangten. Der vorliegende Artikel kann somit auch als eines der zahlreichen Beispiele eines Stellvertreterkriegs gelesen werden. Und dass die missliche Lage, in die Schumann Brahms mit seinem Neue Bahnen-Artikel wahrscheinlich unbewusst versetzt hatte, als solche durchaus erkannt und genutzt wurde, vermittelt der Anonyme Autor der Niederrheineischen Musik-Zeitschrift mit den Worten: „Niemals ist einem jugendlichen Componisten sein Eintritt in die musicalische Welt so schwer gemacht worden, wie Johannes Brahms“58.
51 Die
verantwortliche Gruppe setzte sich zusammen aus Personen des unmittelbaren ‚Schumann’schen Umkreises‘: Brahms, Joseph Joachim, Julius Otto Grimm und Bernhard Scholz. Zu den weiteren Unterschriften und geplanten Unterschreibenden siehe Kommentar zu Brahms 1860 Erklärung, in: NdS 3 Nr. 138. 52 Siehe ebd. 53 Siehe Gleich 1855 Album-Blätter; Cs. 1857 Brahms und Rubinstein; Schubring 1863 Schumannianer Nr. 10 sowie Zopff 1867 Werke von Johannes Brahms. 54 Siehe den Kommentar zu Pohl 1853 Briefe aus C arlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51. 55 Siehe etwa Pohl 1859 Leipziger Tonkünstler-Versammlung, in: NdS 3 Nr. 127 sowie Brendel 1859 Zur Anbahnung einer Verständigung, in: NdS 3 Nr. 126. 56 Siehe Brendel 1858 R. Schumann’s Biographie. 57 Anmerkung der Redaktion zu Schubring 1863 Schumannianer Nr. 10, S. 193. 58 Anonym 1854 Johannes Brahms, S. 65.
Nr. 82 | G. E. [Gustav Engel], „Berliner Briefe. (Das Liszt-Concert.)“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 3 (1855), Nr. 51 (22. Dezember), S. 405 f.
Berliner Briefe. (Das Liszt-Concert.)
Den 13. December 1855. Das Liszt-Concert1 ist vorüber, und die Aufnahme der neuen Compositionen ist sowohl von Seiten des Publicums als der Kritik eine ungünstige gewesen.2 Es hat sich herausgestellt, dass gerade hier ein schwieriger Boden für Richtungen ist, die durch Aeusserlichkeiten blenden, anstatt durch innere vernünftige Entwicklung zu fesseln; die Musikwerke der Zukunft haben sich das Publicum der Zukunft erst noch zu suchen. – Der Inhalt des Concertes bestand in zwei symphonischen Dichtungen (Les préludes und Tasso’s Leiden und Sieg), einem Clavier-Concerte, einem Ave Maria für Chor und Orgel und einem Psalm für Solo, Chor und Orchester, Alles von Liszt. Man würde zu weit gehen, wenn man den Compositionen allen inneren Zusammenhang absprechen wollte. Sie haben zunächst eine thematische Verbindung, die in den beiden symphonischen Dichtungen sich sogar so weit erstreckt, dass Ein und dasselbe Motiv sich durch die verschiedenen Abschnitte des Ganzen hindurchzieht. Aber erstens kommt es darauf an, festzustellen, von welcher Beschaffenheit die Themate sind, zweitens, in welcher Weise sie entwickelt werden, drittens, was für andere, selbstständige Elemente noch hinzutreten. Wenn wir nun z. B. in dem ersten Satze des Clavier-Concertes ein chromatisches Thema hören,3 so ist das schon eine Absonderlichkeit, mit der man den natürlichen Boden aller Musik verlässt; denn der vernünftige Organismus der Musik besteht eben darin, dass sich der Dreiklang zur Tonart und die Tonart zum System der Tonarten entwickelt. Wenn nun nicht einmal das Thema die Tonart zum Bewusstsein bringt, so hat die ganze folgende Entwicklung keinen rechten Anfang und Stützpunkt; es ist eine Rede ohne leitenden Grund1 Am
6. Dezember 1855 wurden bei einem allein Liszts Werken gewidmeten Konzert in der Berliner Singakademie folgende Werke aufgeführt: Die Symphonische Dichtung Nr. 3 Les Préludes S 97 (UA 1854), das Ave Maria I, S. 20, (EA 1846) für Chor und Orgel, das von Hans von Bülow gespielte erste Klavierkonzert Es-Dur S 124 (UA 1855, ED 1857), die Symphonische Dichtung Nr. 2 Tasso S 96 (UA 1854) und Psalm 13 S 13. 2 Die Reaktion des Publikums wird entgegen dieser Behauptung in mehreren Rezension als durchaus positiv dargestellt, u. a.: „Dass der Beifall ein sehr lauter war, bedarf kaum der Erwähnung“ (– n –1855 Concert, S. 2). Negative Konzertrezensionen waren beispielsweise – t. 1855 Fünftes Konzert des Orchester-Vereins; Engel 1855 Concert sowie C. H. 1856 Neue Compositionen von Franz Liszt. 3 Liszt, Klavierkonzert Nr. 1, 1. Satz „Allegro maestoso“, T. 1 f.
Engel 1855 Berliner Briefe [Das Liszt-Concert]
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gedanken, da das, was Grundgedanke zu sein scheint, selbst bereits etwas Abgeleitetes ist. Das Thema der Sinfonie „Les préludes“4 ist besser, obschon auch nicht vorzüglich; denn es ist sehr kurz und gedrängt und hat dabei doch etwas Unbestimmtes, Schwankendes. Wie das Programm uns lehrt, soll dieses Thema oder Motiv das auf Erden unlösbare Problem des Menschen ausdrücken; damit wäre freilich das unbestimmte, schwankende Wesen desselben gewisser Maassen entschuldigt, aber die aphoristische Kürze nicht, um so weniger, da die thematische Entwicklung nicht von solcher Bedeutung ist, dass der Componist zu Gunsten der breiteren musicalischen Ausführung sich zu einem möglichst kurzen Texte gedrängt fühlen konnte. Geringere Bedenken haben wir an dem Haupt-Thema der TassoSinfonie gefunden. Das Thema des Ave Maria ist melodiös und ausdrucksvoll, aber mehr für den Sologesang als für den Chor geeignet. In der thematischen Behandlung selbst hat Liszt wenig Kunst entfaltet. Es ist wenig Polyphonie darin und nur eine geringe Umgestaltung des Thema’s selbst, sei es nach seiner harmonischen, melodischen oder rhythmischen Seite; wir hören es von verschiedenen Instrumenten oder Stimmen in verschiedenen Tonarten, im Zusammenhange bald mit diesem, bald mit jenem Gedanken; aber es ist mehr so, dass Ein und derselbe Grundgedanke sich im Gegensatze zu einer Reihe selbstständiger Ton-Combinationen wiederholt, als dass er die Mannigfaltigkeit aus sich selbst erzeugte dadurch, dass er sich nach allen möglichen Richtungen hin in sich verschiedenartig bestimmte. Es ist nicht ein systematischer Bau, sondern eine äusserliche Combination, in der die Wiederkehr des Haupt-Thema’s nur einen oberflächlichen Zusammenhang herstellt. Doch könnten die Compositionen, trotz dieses Mangels, wenn man ihnen auch nicht das Prädicat eines vollendeten Kunstwerkes zugestehen würde, sehr interessant und anregend sein. Es kommt also namentlich darauf an, was man von den Nebengedanken zu halten hat, die, wie nun einmal diese Werke gebildet sind, eigentlich als die Hauptsache erscheinen. Wir finden einzelne melodiöse und meistens sehr zart instrumentirte Stellen, und im Gegensatze dazu wilde, rauschende Momente, in denen das Orchester mit aller nur möglichen Macht auf uns herandringt, in denen der häufige Gebrauch chromatischer Ton-Verbindungen alle Natürlichkeit des melodischen und harmonischen Zusammenhanges zerstört. Diese letzteren sind [406] es nun namentlich, gegen die man sowohl wegen ihrer Instrumentirung als wegen ihres Ton-Inhalts selbst vom musicalischen Standpunkte aus Protest einlegen muss. Es ist sehr leicht, auf diese Weise z. B. eine kriegerische Stimmung oder das höchste Maass des Leidens auszudrücken, aber auch sehr uninteressant. Denn nur die oberflächliche Sinnlichkeit wird dadurch beschäftigt, der Geist bleibt leer, weil diese Art von musicalischem Ausdruck aller inneren musicalischen Entwicklung entbehrt. Der blosse Klang tritt an die Stelle des musicalischen Gedankens, und es ist keine allzu weite Entfernung mehr von dem ursprünglichen Zustande der Musik als eines ungegliederten, formlosen Klangwesens. Die Form in der Musik – abgesehen von dem Thematischen, das dem kunstvollen Baue nur die Spitze aufsetzt – besteht in dem vernünftigen, harmonischen und melodischen Zusammenhange; diesen aufgeben heisst diejenige Seite der Musik aufgeben, die eine Schöpfung des menschlichen
4 Liszt,
Les Préludes, ab T. 47.
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Geistes ist, und sich auf die blosse Naturseite beschränken; denn was nützt es, sich noch der bestimmten Töne zu bedienen, die uns das kunstvoll aufgebaute System der Musik an die Hand gibt, wenn wir diese Töne aus ihrer inneren, organischen Verbindung reissen? Nun treten, wie schon oben bemerkt, im Gegensatze zu den schrankenlosen Ausbrüchen wildester Leidenschaft, wohlklingende Melodieen auf, denen aber meistens nicht nur Neuheit der Erfindung, sondern auch der Reiz der Anspruchslosigkeit fehlt; sie haben dasselbe zudringlich süsse, sentimentale Wesen, das wir aus unseren Opern und Salon-Compositionen zur Genüge kennen. Die Eigenthümlichkeiten dieser Richtung sind nicht unbedingt neu, aber für das Orchester und mit diesen Ansprüchen sind sie neu. Von je her hat sich neben der echten, gedankenvollen Musik eine andere Gattung der Musik zu behaupten gesucht, die statt eines kernhaften Inhalts sich mit äusserem Putz und rauschenden Flittern begnügte und nichts Höheres erstrebte, als die Sinne zu blenden und die geistlose Bewunderung der urtheilslosen Menge sich zu verschaffen. Die Bühne hat diesem Wesen vielen Vorschub geleistet; noch gründlicher aber ist es durch das Virtuosenthum ausgebildet worden. Selbst die vorzüglichsten und grössten Virtuosen trugen kein Bedenken, nebenbei dem Götzen der rohen Sinnlichkeit zu huldigen; und die Bewunderung, die man der persönlichen Kunstfertigkeit bringen musste, liess auch ernste Musiker gegen den musicalischen Inhalt, der dabei verbreitet wurde, nachsichtiger sein. Das Vergnügen an der Musik hat in der Sinnlichkeit seinen Ursprung, und wir sind weit entfernt, der sinnlichen Aufregung und Beruhigung ihr Recht streitig machen zu wollen. Aber die Sinnlichkeit musste, um des menschlichen Geistes würdig zu sein, in eine bestimmte Form gebracht werden. Heutzutage läugnet man nun, dass diese Form etwas für sich zu bedeuten habe, dass sie etwas geistig Selbstständiges sei. Man stellt die Behauptung auf, dass nicht mehr die Form selbst, sondern der poetische Gedanke Regel und Gesetz für das Kunstwerk der Zukunft sein solle. Indem man der Musik den ihr eigenthümlichen geistigen Inhalt nimmt, sucht man diese Lücke durch Gedanken anderer Art auszufüllen. Wir haben gar nichts dagegen, dass man bestimmte menschliche Seelen-Zustände musicalisch ausdrücke; wir glauben aber nicht, dass dieser Ausdruck ein wirklich musicalischer ist, wenn man die Formen der Musik über Seite wirft; es ist dann ein Klang-Ausdruck, nichts weiter. Was hindert mich, bei dem Heulen des Sturmes an die Zerrissenheit und den Schmerz eines menschlichen Herzens zu denken? auch dies ist ein hörbares, aber darum noch nicht musicalisches Abbild des menschlichen Wesens. Es ist eben ein Unterschied, ob ich die Musik oder den blossen Klang zum Ausdruck eines poetischen Gedankens mache; der poetische Gedanke kann nie das Recht geben, die Schranken zu überschreiten, die in dem Wesen der Musik begründet sind. Man verlangt von der Dichtung, dass sie in sich zusammenhangend sei; man verlangt von der Musik, dass sie die zum Grunde liegende Dichtung zu sinnlicher Darstellung bringe, und man übersieht, dass ein zusammenhangloses musicalisches Werk unmöglich der richtige Ausdruck einer zusammenhangenden Dichtung sein kann. Die Musiker der Zukunft irren nicht darin, dass sie von der Musik Ausdruck verlangen, sondern dass sie sich mit einem so unreifen, ungebildeten Ausdrucke begnügen. Um noch einmal auf Liszt zurückzukehren, so erscheinen seine Compositionen in der That noch schwächer, wenn man sie mit dem vergleicht, was er darin hat ausdrücken wollen, als wenn man sie rein musicalisch betrachtet.
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Namentlich aber macht der 13. Psalm einen höchst verletzenden Eindruck, da sowohl der Ernst des Textes als die Natur der menschlichen Stimme zu der Willkür und Verzerrung der musicalischen Behandlung in dem schärfsten Gegensatze stehen. Zum Schlusse meines Berichtes erwähne ich noch einer Ouverture von Schindelmeisser, „Mondnacht“5, die in den Sinfonie-Soireen der königlichen Capelle zur Aufführung kam. Sie ist verständig und geschickt gearbeitet und in einer poetischen, schwärmerischen Stimmung gehalten; doch würden einige kräftigere Striche den Eindruck des Ganzen noch erhöhen. G. E.
Kommentar Der Anlass für die vorliegende Rezension des Liszt-Konzerts am 6. Dezember in Berlin von Gustav Engels stellt sowohl einen bedeutenden Moment in der Aufführungsgeschichte wie auch einen der Höhepunkte in der Rezeptionsgeschichte der Symphonischen Dichtungen Liszts überhaupt dar. Nachdem Liszt seine im Februar 1854 erstmals als Symphonische Dichtungen aufgeführten Orchesterwerke ausschließlich in Weimar dirigiert hatte und damit auch bis Herbst 1855 noch auf heimatnahem Boden geblieben war,6 trat er mit seinem programmmusikalischen Ideenkonzept bereits im Juli in Form einer Abhandlung7 über Berlioz’ programmatische Komposition Harold en Italie an die Öffentlichkeit. Im Oktober bestritt er dank einer Einladung der Braunschweiger Herzoglichen Kapelle erstmals eine Präsentation seiner Symphonischen Dichtungen außerhalb Thüringens. Doch blieb dieser Vorstoß von der deutschen Musikpresse beinahe unbeachtet.8 Erst das hier besprochene fünfte Konzert des OrchesterVereins in der Berliner Singakademie – zum ersten Mal ausschließlich mit Kompositionen Liszts in einer bedeutenden Großstadt – entfachte schlagartig einen bis ins Jahr 1856 anhaltenden Zeitungskrieg zwischen Fürsprechern und Gegnern.
5 Louis Schindelmeisser (1811–1864), Konzertouvertüre Die Mondnacht auf stillem Wasser op. 30 (ED 1855). 6 Das erste offizielle Konzert Liszts in Jena fand am 12. März 1855 statt (siehe die positiven Rezensionen Anonym 1855 „Weimar, im April“ sowie Anonym 1855 „Jena, im Mai“). Weitere Konzerte folgten wiederum in Weimar am 21. Mai (siehe die positive Rezension Damrosch 1855 Weimar – Liszt) und im August/September in Sondershausen, erstmals unter der fremden Leitung Eduard Steins (zu diesen frühen Konzerten der Symphonischen Dichtungen siehe den Kommentar zu Corvin 1855 Orphée et Prométhée, in: NdS 2 Nr. 85). 7 Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, in: NdS 2 Nr. 76. 8 Die einzige bekannte deutsche Rezension des Braunschweiger Konzerts war Litolff 1855 Ein offener Brief. Die erste Reaktion auf das Konzert kam jedoch von französischer Seite (Corvin 1855 Orphée et Prométhée, in: NdS 2 Nr. 85).
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Seit seinem pianistischen Siegeszug in den späten 1840er Jahren war es Liszts erster öffentlicher Auftritt in Berlin, weshalb dem eine lange und intensive Planung vorausging. Liszt selbst hatte das Konzertprogramm schon früh zusammengestellt,9 welches die beiden noch unveröffentlichten Werke Tasso (UA 19. April 1854) und Les Préludes (UA 23. Februar 1854) unter seinem Dirigat vorsah. Zudem hatte nicht nur Hans von Bülow vor Ort „die Wege für eine Aufführung der Symphonischen Dichtungen […] geebnet“10. Um im klassizistisch geprägten Berlin, das sich gegenüber Liszt und Wagner zumeist skeptisch positioniert hatte, als geschlossene Einheit auftreten zu können, hatte man ein Liszt-Komitee11 gegründet, das Liszts Anwesenheit wirkungsvoll inszenierte.12 Viele der so geschaffenen Voraussetzungen haben sicherlich in nicht geringem Maße zu den regen – auch negativen – Pressemeldungen beigetragen. Infolge der breit angelegten Werbemaßnahmen waren die Räumlichkeiten der Sing-Akademie dem enormen Publikumsandrang kaum gewachsen, der freilich auch der Neugierde auf den zum Komponisten changierten, einst so gefeierten Virtuosen geschuldet war. Nicht zuletzt die Anwesenheit von Prominenz wie u. a. des Königspaars zeugen für die phänomenale Aufmerksamkeit und die Bedeutung, welche dem Ereignis zugemessen wurde.13 Die offenbar positive Aufnahme des Konzerts durch das Publikum14 steht in gewissem Kontrast zu den Pressereaktionen. Im Rahmen der zahlreichen Rezensionen ist die vorliegende Besprechung Engels beispielhaft für eine Reihe von Beiträgen, welche die Diskussion um die Vereinbarkeit von absolut-musikalischen, poetischen und programmatischen Vorstellungen in der Musik auf analytische, weitestgehend sachliche Weise fortführten – nun mit Blick auf Liszts symphonische Werke. Engels Hauptkritikpunkt gilt der Instrumentierung von Liszts Werken, deren Fülle von vordergründiger Tonmalerei und Zerstörung von Natürlichkeit der Melodik und Harmonik. Diesen Hauptvorwurf richtet er ohne konkrete Bezüge und verallgemeinernd gegen alle der „Sinnlichkeit“ verfallenen „Musiker der Zukunft“15, da deren Vorstellung eines musikalisch und formal leitenden poetischen Gedankens gegen jedes Formgesetz verstoße, da es zu
9 Siehe
dazu die schriftliche Ausarbeitung in Absprache mit Hans von Bülow in Liszts Brief an Bülow vom 3. und 4. September (Liszt-Briefe, Bülow, S. 147). 10 Altenburg 2004 Art. „Liszt, Franz“, Sp. 218. 11 Das Liszt-Komitee setzte sich u. a. aus den Mitgliedern Heinrich Dorn, Adolf Bernhard Marx, August Eduard Grell (Direktor der Singakademie 1855 und bekannter Musikkritiker), Ferdinand Laub, August Neidhardt (Chor der Kathedrale) und Hans von Bülow zusammen (siehe Hahn 1855 Franz Liszt in Berlin, S. 281 und Weitzmann 1855 Franz Liszt in Berlin, S. 264; vgl. ebenfalls Johns/Saffle 1997 The Symphonic Poems of Franz Liszt, S. 89). 12 Das Komitee veranstaltete Liszt zu Ehren u. a. einen festlichen Empfang am Bahnhof, zwei musikalische Matinees, viele arrangierte Besuche und mehrere Konzerte, darunter auch ein Liszt gewidmetes Konzert des Pianisten Theodor Kullak (1818 –1882) am 7. Dezember in dessen Berliner Neuen Akademie der Tonkunst. Zudem organisierte Liszts Berliner Verleger und gleichzeitiger Herausgeber der Berliner Musik-Zeitung Echo, Heinrich Schlesinger, ein Bankett mit 300 bis 400 Gästen, welches in der Presse ebenfalls angegriffen wurde (Näheres dazu siehe Johns/Saffle 1997 The Symphonic Poems of Franz Liszt, S. 90). 13 So waren außerdem Prinz Karl und die Prinzen Friedrich und Georg sowie auch Alexander von Humboldt, der Pianist Alfred Jaell, Anton Rubinstein und Otto Singer anwesend. 14 Der Publikumserfolg wurde auch von der kritischen Seite bestätigt, siehe vorliegender Artikel, Anm. 2. Auf den Widerspruch zwischen Publikums- und Pressereaktionen wies wiederum auch Liszt in seinem Brief an Carolyne von Sayn-Wittgenstein vom 12. Dezember 1855 hin (Liszt-Briefe 4, S. 294). 15 Vorliegender Artikel, S. 1014 [406].
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bloßem Klang verkomme. Engels Formbegriff, demzufolge man die zu ausschweifende Sinnlichkeit der Musik zum Schutz der Würde des menschlichen Geistes zu ordnen und zu strukturieren sucht, betrachtet er als „etwas geistig Selbstständiges“16, womit er sich nah an der Ästhetik Hanslicks zeigt: „Die Formen, welche sich aus Tönen bilden, sind nicht leere, sondern erfüllte, […] sich von innen heraus gestaltender Geist“17. Ähnlich wie Hanslick gesteht auch Engel der Musik durchaus ein bestimmtes Maß an poetischem Ausdruck und Sinnlichkeit zu, sieht aber den Irrtum der ‚Musiker der Zukunft‘ in ihrer als ungebildet empfundenen Ausdrucksart, die durch die nun auch in Orchesterkompositionen eingebundenen anspruchslosen, opernhaften und effekthaschenden Melodien des mehr unterhaltenden Genres keinerlei musikalische Entwicklung aufweise. Mit seiner Kritik an der fehlenden thematischen Entwicklung, die den inneren Zusammenhang einer Komposition bilde und den systematischen Bau des Themas substantiell zu verändern verlange, gelangt Engel mit seiner ablehnenden Anspielung auf Liszts Technik der reinen Variation und äußerlichen Kombination der Themen zu einer interessanten Einschätzung: Anstatt das Thema umzugestalten, würde „es von verschiedenen Instrumenten oder Stimmen in verschiedenen Tonarten, im Zusammenhange bald mit diesem, bald mit jenem Gedanken [gespielt]; aber es ist mehr so, dass Ein und derselbe Grundgedanke sich im Gegensatze zu einer Reihe selbstständiger Ton-Combinationen wiederholt“18. Damit beschreibt er sehr plastisch die für Liszt charakteristische, an die Stelle der thematischen Arbeit tretende Themen- und Charaktervariation, wenn er diese auch nicht als solche bezeichnet. Auffällig ist der im Gegensatz zu anderen Rezensenten verhältnimäßig sachliche Ton dieser Kritik, insbesondere bezüglich der einzelnen musikanalytischen Momente des Thematischen und Formalen, sowie im Hinblick auf sein durchaus klassizistisches und vom Organizitätsstreben geprägtes Denken.19 Hervorzuheben ist außerdem, dass sich Engel mit seiner Kritik nicht auf der Ebene bloßer Ablehnung bewegt. Auch wenn er die „Musikwerke der Zukunft“ als „blosse[n] Klang“20 sowie als vordergründige Sinnes- anstatt Geisteserregung anprangert, seine Argumentation kreist nicht um die noch Jahre später erörterte Frage nach der Zulässigkeit einer außermusikalischen Vorlage oder um die Schwierigkeit, diese Programme musikalisch abzubilden: Engel scheint für Rückfragen an das Programm in gewissem Maße bereit, beispielsweise wenn sich eine musikalische Gestalt nicht rein musikalisch motiviert erklären lässt.21 Heinrich Urban charakterisierte das als Engels, „obwohl im Klassischen wurzelnde, doch fortschrittliche Kunstanschauung“22. In der Kontroverse um die Berechtigung von Programmmusik wird durch Engels Beitrag sicherlich ein als ästhetisch neu zu bezeichnendes Niveau erreicht, das einerseits als fortschrittlicher Vermittlungsversuch sowie andererseits auch als neuer Zündstoff in der Debatte um die programmmusikalischen Werke Liszts betrachtet werden kann.
S. 1014 [406]. 17 Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 34. 18 Vorliegender Artikel, S. 1013 [405]. 19 Siehe dazu Noeske 2012 Musik als Organismus. 20 Vorliegender Artikel, S. 1012 f. [405 f.]. 21 „Das Thema der Sinfonie ‚Les préludes‘ […] hat dabei doch etwas Unbestimmtes, Schwankendes. Wie das Programm uns lehrt, soll dieses Thema oder Motiv das auf Erden unlösbare Problem des Menschen ausdrücken; damit wäre freilich das unbestimmte, schwankende Wesen desselben gewisser Maassen entschuldigt“ (ebd., S. 1013 [405]). 22 Nachruf aus der Vossischen Zeitung, enthalten in: I/43, Personalakte Gustav Engel, zit. nach Schenk 2004 Die Hochschule für Musik zu Berlin, S. 135. 16 Ebd.,
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Der Eifer der weiteren Presse schien sich zusätzlich daran entzündet zu haben, dass „Liszt der Mittelpunct jener Partei geworden [war], die verschiedenen neuen und viel bestrittenen Bestrebungen, in der Composition äußere Geltung und Anerkennung zu beschaffen sucht“23. So erschienen zwei Tage nach dem Konzert in den Berliner Tageszeitungen gleich fünf Rezensionen, die auf unterschiedliche Weise – teils um objektive Auseinandersetzung mit den Werken bemüht,24 teils sich ironisch über den „Erfolg“ der „Partei“25 auslassend – zu einem ähnlich negativen Urteil über seine Werke kamen.26 Interessant erscheint, dass Engel, der sowohl für musikalische Fachzeitungen27 – wie beispielsweise seine Reihe der „Berliner Briefe“28 für die Niederrheinische Musik-Zeitung – wie auch für ortsansässige Tageszeitungen schrieb,29 fünf Tage vor dem obigen, für die Fachpresse verfassten Artikel bereits der Berliner Tagespresse in der Spenerschen Zeitung30 eine leicht anders gefärbte Rezension beigesteuert hatte.31 Darin gelangte er – mit einem Liszt gegenüber recht wohlwollenden Tenor – zu einem zwar kritischen Urteil, schien aber dennoch bestrebt, die aus seiner Sicht negativen Momente der Kompositionen Liszts, wie die stärkere Gewichtung der „Klang- und Farben-Wirkungen […], als jene ernstere, inhaltsvollere Schönheit eines kunstvollen musikalischen Baues“32, mit dem Künstler-Dasein Liszts zu rechtfertigen.33 Doch gelangte er aufgrund der empfundenen Einfachheit des Prinzips rein klanglicher Gegensätze, der „innere[n] Zerrissenheit“ der Kompositionen, ihrer Nähe zum Opern- und Unterhaltungsgenre und der fehlenden stilistischen „Eigenthümlichkeiten“34 nicht zu einem positiven Urteil. Zudem wird aus diesen früheren Ausführungen Engels bereits deutlich, dass das Berliner Konzert, trotz der Konzentration auf Liszt, als Aktion der ‚Zukunfts-Partei‘ aufgefasst wurde, der man sich als eine Weiterführung der Kontroverse gegen die bereits früher durch Wagner angebahnte Richtung – nun mit einem neuen Protagonisten – durchaus bewusst war. Denn „die Richtung selbst, die von ihm [Liszt] und Gleichgesinnten angebahnt ist, möge sie nun zu erstrebenswerthen Zielen führen oder
1855 Concert, S. 2. 24 – n – 1855 Concert in Berlin; Lindner 1855 Das Lisztconzert; Engel 1855 Concert. 25 Beide Zitate aus einer Rezension der National-Zeitung als liberalem deutschem Tagesblattes: – t. 1855 Fünftes Konzert des Orchester-Vereins, unpaginiert [S. 1]. 26 Siehe ebenfalls Anonym 1855 [o. T.] der Tageszeitung Die Zeit. 27 Neben seiner philosophischen Schrift (Engel 1852 System der metaphysischen Grundbegriffe) verfasste Engel in dieser Zeit für die Neue Berliner Musikzeitung u. a. Engel 1850 Poesie und Musik; Engel 1852 Richard Wagner als Kunsttheoretiker und Operndichter sowie Engel 1860 Ueber Idealismus und Realismus in der Musik. 28 Siehe beispielsweise Engel 1855 Berliner Briefe [Das Liszt-Concert]; Engel 1856 Berliner Briefe [Richard Wagner’s Tannhäuser]; Engel 1859 Berliner Briefe [Liszts Ideale]. 29 Nach seinem Philosophie- und PhilologieStudium verkörperte Engel – als Gesangslehrer an der 1855 gegründeten Hochschule Theodor Kullaks, der Neuen Akademie der Tonkunst, tätig – bereits zu Lebzeiten „den Typus des musiktheoretisch gebildeten, publizistisch tätigen Gesangspädagogen“ (Schenk 2004 Die Hochschule für Musik zu Berlin, S. 135). 30 Engel 1855 Concert. 31 Wie stark die Eingriffe der jeweiligen Redaktion in die inhaltliche Ausrichtung der Artikel waren, ist nicht zu ermitteln. 32 Engel 1855 Concert, S. 2. 33 „Der wahre Componist hat ein abstractes Ideal in jenen Gesetzen harmonischer Tonverbindung, die in dem innern Sinn, in der Vernunft des Menschen ihren Ursprung haben und denen er vermittelst der Sinnlichkeit eine möglichst vollkommene äußere Erscheinung zu geben strebt; der ausübende Künstler giebt sich dem Klange seines Instruments hin und gestattet dem musikalischen Inhalt manche Unvollkommenheit, wofern es ihm gelingt, Klang-Gegensätze hervorzubringen“ (ebd.). 34 Alle Zitate ebd. 23 Engel
Engel 1855 Berliner Briefe [Das Liszt-Concert]
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nicht, wird, wie wir glauben, nicht so schnell vorübergehen, daß die Zeit nicht ausreichen sollte, sich erschöpfend darüber auszusprechen.“35
Das Berliner Konzert in der weiteren Kritik Neben der mehrfach geäußerten Kritik an der Programmgestaltung des Berliner Konzerts, welches durch seine Gegenüberstellung von weltlichen und geistlichen Werken als sehr ungewöhnlich für das sonstige Repertoire der Singakademie empfunden wurde,36 sowie an dem übermäßigen und als negativ aufgefassten Einfluss des Virtuosen Liszt auf seine Orchesterkompositionen37 scheint der Fokus der weiteren Tagespresse, ähnlich wie bei Engel, auf die ästhetischen Grundlagen der Programmmusik konzentriert. Neben der Kritik, die musikalische Form in den Dienst außermusikalischer Inhalte zu stellen, sie folglich als Mittel zum Zweck zu degradieren, wurde ebenfalls eine übermäßige Instrumentalisierung der Musik zur reinen Trägerschicht eines emotionalen oder poetischen Ausdrucks angeprangert, welche zudem zum Schwachpunkt des ästhetischen Konzepts der sich ehemals um Wagner, nun um Liszt rankenden ‚Zukunftsmusik‘ erklärt wurde. In diesem Sinne gelangt die offensivste der Berliner Kritiken in der National-Zeitung zu dem die künstlerische Lagerbildung vertiefenden Schluss, „die ‚jüngste romantische Schule‘, ‚die Partei‘, erkenne in dem berühmten Virtuosen und in dessen Freund Richard Wagner ihre vornehmsten Führer […]. Unter der gemeinschaftlichen Devise der Zukunftsmusik haben sich bis jetzt die verschiedenartigsten Elemente zusammengefunden, welche, wie alle revolutionären Minoritäten, zunächst blos in dem Bruch mit den bestehenden Traditionen und dem leidenschaftlichen Wunsche, an deren Stelle etwas Neues zu setzen, einig sind. Es fehlt der ganzen Bewegung nicht an idealen Triebfedern, aber wir erblicken hier zugleich das sehnsüchtige Verlangen nach einem Fortschritt und ungestüme Thatenlust in engem Bunde mit eitler Effektsucht, gähnender Blasirtheit, künstlerischem Unvermögen und andern sehr zweideutigen Motiven. Da es der Gegenwart an wahrhaft produktiver Fähigkeit gebricht […], mußte sie sich eine ganz neue Art von Kunst zurechtmachen […]. Die Lösung dieses Problems […] sprach endlich Richard Wagner in der Formel aus: ‚Die Musik ist nur ein Mittel des Ausdrucks, nicht dieser selbst.‘ Ein Kunstwerk soll nicht Werth und Bedeutung in sich tragen, sondern nur das Gefäß eines anderweitigem ihm ursprünglich fremden Inhalts sein. / Das Tonreich war damit der s[u]bjektiven Willkühr preisgegeben, denn es handelte sich nun nicht mehr darum, den Stoff nach inneren Gesetzen zu gestalten, sondern i[h]n als Mittel zum Zweck bestmöglichst zu verwenden.“38
36 Vgl. Johns/Saffle 1997 The Symphonic Poems of Franz Liszt, S. 92 – 95. 37 Dem entgegen betonte wiederum Liszt 1855 in seinem Aufsatz über Marx, dass sich gerade in der virtuosen Musik das ihm so wichtige geistige und intellektuelle Element zeige (Liszt 1855 Marx: Die Musik im neunzehnten Jahrhundert, S. 220 f., in: NdS 2 Nr. 80, S. 985 f.). 38 – t. 1855 Fünftes Konzert des Orchester-Vereins, S. 1. 35 Ebd.
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Im Gegensatz zu den Meldungen der Berliner Feuilletons, die sich auf einen einzelnen Tag beschränkten, erwuchs in den Fachzeitschriften eine bis Ende Januar 1856 anhaltende, zwischen den Zeitungen geführte Kontroverse, in der – mehrheitlich betrachtet – die positiven Berichte von Seiten der Liszt-Anhänger überwogen. Auf die oben dargestellte, im Ganzen kritisch-negative Tagespresse reagierte zuerst die NZfM in den beiden Ausgaben vom 14. und 21. Dezember mit einem überaus positiven Beitrag des fortschrittsorientierten Musiktheoretikers Carl Friedrich Weitzmann39 und einer überschwänglich lobenden Rezension Albert Hahns40. Mit dem vorliegenden Artikel startete daraufhin die Niederrheinische Musik-Zeitung am 22. Dezember eine kritische Reihe von drei Beiträgen. Charakteristisch erscheint für die Kontroverse, dass diese Zeitschrift vom Rhein in ihrer auf den vorliegenden Artikel folgenden Ausgabe den anonymen Beitrag der Vossischen Tageszeitung vom 8. Dezember41, der zu einem den Kompositionen gegenüber ganz ähnlich negativen, wenn auch versucht objektiven Urteil42 wie Engel gelangt, wiederabdruckte.43 Als Grund dafür führte sie an, damit die gegen die Niederrheinische Musik-Zeitung aufgekommene Kritik, sich u. a. durch den vorliegenden Beitrag Engels als Partei-Blatt der Konservativen präsentieren wollen, zu entkräften. Neben den frühen Äußerungen Engels aus der Spenerschen Zeitung bestätigt dadurch auch die Fachpresse, in Liszts Kompositionen und deren parteigebundener Unterstützung neuen Antrieb für die Kontroverse gefunden zu haben. Laut der redaktionellen, wohl auf den leitenden Redakteur Ludwig Bischoff zurückgehenden Anmerkung zum Wiederabdruck, die noch eine weitere Auseinandersetzung mit den Berliner Pressemitteilungen zum Liszt-Konzert ankündigt, diene der erneute Abdruck des Artikels der Tagespresse nicht dazu, „das Urtheil unseres Herrn Correspondenten (in Nr. 51) [des vorliegenden Artikels von Engel] zu rechtfertigen, denn das hat er selbst hinreichend durch die ästhetische Begründung desselben gethan, sondern um denen, die unsere Musik-Zeitung gar zu gern als Parteiblatt darstellen möchten, zu zeigen, wie wir es schon früher gethan […], dass gar viele Kritiker, und zwar die tüchtigsten, d. h. solche, die ihre Berechtigung zum Urtheilen in ihren Aufsätzen deutlich bekunden, mit uns und unseren Mitarbeitern vollkommen übereinstimmen. Leider ist aber ein großer Theil des Publikums welches an Musik und Theater Theil nimmt, durch das dreiste Coteriewesen der Journalistik bereits so gründlich verdorben, dass ihm eine aufrichtige Ueberzeugung, die es für ‚heilige Pflicht‘ hält, falsche Richtungen zu bekämpfen, als ein Räthsel erscheint, das nur durch Parteiung zu erklären sei!! – Auch auf das Urtheil des Dr. O. Lindner44 (das im Wesentlichen mit dem obigen übereinstimmt) in Berlin über das Liszt-Concert werden wir zurückkommen, da die Schluss-Bemerkungen seines Berichtes Anlass zur Erörterung der Frage heben, ob die Musik der neuen Richtung auf die Bildung und Erhebung des Volkes wirken könne.“45
1855 Franz Liszt in Berlin. 40 Hahn 1855 Franz Liszt in Berlin. 41 Anonym 1855 Das Liszt-Concert in Berlin. 42 „Hier [in Liszts Tasso] reiht sich ein Motiv an das andere, eine Harmonie erdrückt die andere, eine Dissonanz zerstört die andere, nirgend nehmen wir Durcharbeitung eines Gedankens, Aufbau, Abschluss, Ruhepunkt, musicalisches Wissen wahr; allen Gesetzen der Musik, sie sich geschichtlich und organisch entwickelt haben, wird aufs entschiedenste der Krieg erklärt“ (– n – 1855 Das Liszt-Concert in Berlin, S. 413). 43 – n – 1855 Das LisztConcert in Berlin als Wiederabdruck von Anonym 1855 Das Liszt-Concert in Berlin aus der Vossischen Zeitung. 44 Lindner 1855 Das Lisztconzert. 45 – n – 1855 Das Liszt-Concert in Berlin, S. 412. 39 Weitzmann
Engel 1855 Berliner Briefe [Das Liszt-Concert]
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Interessant dabei ist, dass diese erneut abgedruckte Rezension die einzige zu sein scheint,46 die sich in der aufgeworfenen Diskussion um die Symphonischen Dichtungen überhaupt zu den Programmvorlagen äußerte, die Liszt Ende 1854 hat drucken lassen und sich mit Hilfe dieses „Ariadnefadens“47 ein erleichtertes Verständnis des Publikums erhofft hatte.48 Vielsagend ist jedoch, dass der anonyme Autor das Programm lediglich zur Betonung der Zusammenhangslosigkeit der Kompositionen anführt.49 Deutlich wird dadurch, dass außer Engel keiner der Kritiker eine Interpretation oder Analyse von Liszts Werken vornahm, die künstlerische Bezüge zwischen kompositorischer Gestaltung und Programm herstellt oder musikalische Abschnitte mit programmatischen Äußerungen in Verbindung zu setzen versucht. Somit wurde, im Verhältnis zu den programmatisch interpretierenden Rezensionen ab 1856,50 auch noch keinerlei Augenmerk auf eine poetisch motivierte Verarbeitung und Transformation der Themen gelegt. Entgegen ihrer im Wiederabdruck betonten Ankündigung objektiver, parteiungebundener Kritik wartete die Niederrheinische Musik-Zeitung Ende Januar jedoch noch mit einem höchst polemischen Verriss der Kompositionen Liszts des Berliner Konzerts auf51 und lieferte nicht zuletzt damit ein augenfälliges Zeugnis für die Weiterführung des Parteienstreits. Der Artikel entpuppt sich als eine typisch zynische Anti-Presse-Reaktion auf die NZfM-Beiträge Hahns und Weitzmanns. Im Gegensatz zu den vorliegenden, differenzierteren Erörterungen Engels verfällt dieser negative letzte Kölner Beitrag wiederum in das alte Argumentationsmuster der Programmmusik-Gegner. Die Musik von Les Préludes sei „nur musicalische Illustration der Poesie […]; aber gewiss so fern, als sie in einem Concerte vorgeführt und von siebenzig Musikern executiert wird. Also diese symphonische Dichtung ist eine InstrumentalComposition von vier Sätzen mit einer Introduction, die aber wie die ganze Länge eines Aals, wenn auch nicht so gelinde, in Einem fort durchrutscht“52. Im Anschluss an seine Belustigungen über die Plastizität der programmatischen Vorlage und die Unmöglichkeit der musikalischen Wiedergabe lässt sich der Autor in ähnlich despektierlicher Weise über die Bezeichnung „Symphonische Dichtung“ aus. In die Zwischenzeit dieser drei negativen Rezensionen vom Niederrhein fielen weitere, positive Konzert-Berichte wie der überschwänglich lobende Beitrag53 Adolph Kullaks54 in den Zellner’schen Wiener Blättern für Musik, Theater und Kunst und eine gegenüber den als „geistreich“, wenn auch „dunkel und verschwommen“ empfundenen Les Préludes und dem „hell, groß und klar“ eingeschätzten Tasso sich allgemein positiv positionierende anonyme Leipziger Wortmeldung.55 Mit der Absicht, einen Einblick in das geben zu wollen, was „man
46 Vgl. Johns/Saffle 1997 The Symphonic Poems of Franz Liszt, S. 94. 47 Liszt 1855 Berlioz und die Haroldsymphonie, S. 39, in: NdS 2 Nr. 76, S. 889. 48 Siehe Liszt-Schriften 4, S. 21. 49 „Dieser Leitfaden ist ein fast unentbehrliches Mittel zur gerechten Würdigung der Musik, weil ohne ihn auch selbst das musicalisch Haltbare in sich zusammenfallen müsste“ (– n – 1855 Das Liszt-Concert in Berlin, S. 413). 50 Siehe beispielsweise Lindner 1856 Orgelkonzert sowie Brendel 1856 Fr. Liszt, Symphonische Dichtungen, in: NdS 2 Nr. 100. 51 C. H. 1856 Neue Compositionen von Franz Liszt. 52 Ebd., S. 17. 53 Siehe Kullak 1855 Bei Anlaß des Liszt’schen Concertes in Berlin. 54 Adolph Kullak (1823 –1862) war der jüngere Bruder von Theodor Kullak, der gemeinsam mit Julius Stern und Adolf Bernhard Marx 1850 das Berliner Stern’sche Konservatorium gründete und dann 1855 eigenständig die Neue Akademie der Tonkunst eröffnete. 55 Alle Zitate des Satzes Anonym 1855 Dur und Moll, S. 9.
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der ‚österreichischen Zeitung‘“ über das „nicht allzuweit von dem Fiasko entfernt“ vonstattengegangene Berliner Konzert schreibt,56 zeugt dieser Signale-Beitrag aus Leipzig ebenfalls von der Aktualität der Kontroverse um die ‚Zukunftsmusik‘ in Verbindung mit der personellen Verschiebung von Wagner zu Liszt. Dabei zeigt sich in der dort eingenommenen Position57, die Liszts Kompositionen als symphonischen Erstlingswerken durchaus künstlerische Chancen einräumen will, sie jedoch mit dem Los als neuer Vertreter der durch Wagners Opern vorgeprägten ‚Zukunftsmusik‘ zum Scheitern verurteilt sieht, eine neue Qualität der Kontroverse. Auch auf der gegen die ‚Zukunftsmusik‘ publizierenden Seite scheinen zu dieser Zeit bereits Zweifel an einer kompositorischen, kunstästhetischen und konzeptionellen Nähe oder gar parteilichen Einheit der ‚Zukunftsmusiker‘, hier speziell Wagners und Liszts, bestanden zu haben. Eine letzte hervorstechende und mit großer Wahrscheinlichkeit auf die negativen niederrheinischen Stimmen reagierende Rezension kam wiederum, und zum ersten Mal positiv, von Berliner Seite. Die Liszt verehrenden Verleger Heinrich Schlesinger und Ernst Kossak publizierten mit einer musiktheoretisch fundierten Analyse Tassos von Hans Bronsart von Schellendorff58 Ende Januar einen erstmals an Notentext59 gebundenen und mit Notenbeispielen versehenen Beitrag zu Liszts Symphonischen Dichtung, in welchem Bronsart dem Werk auf analytischer Ebene diejenigen kompositorischen Qualitäten nachzuweisen sucht, die die Kritik den Kompositionen zuvor abgesprochen hatte. Auch wenn von Leipziger, Berliner und sogar Wiener Seite eine Reihe sehr wohlgesonnener Artikel publiziert wurden, hat die Schärfe und einheitlich argumentierende Ablehnung der Berliner Tageszeitungen und des u. a. hier abgedruckten Kölner Fachblattes von Liszts Wirken in und um Berlin möglicherweise auf seine Reputation größeren Einfluss ausgeübt. Ein nächstes Konzert mit symphonischen Werken Liszts konnte nach mehreren gescheiterten Anfragen erst ein dreiviertel Jahr nach dem Berliner Konzert realisiert werden.60
56 Ebd., S. 8 und S. 9. 57 „Wenn man mit Einem Worte sagen sollte, worin eigentlich das Wesen dieser Zukunftsmusik besteht, so würde dies eher zum Schaden als zu Gunsten dieser so anspruchsvoll aufgetretenen Richtung geschehen müssen. Denn man würde sie dann nur als die hochmüthig gespreizte Phrase bezeichnen können, die sich einbildet neu und originell zu sein, wo sie nur das Gold der vorausgegangenen großen Meister zu blanken Spielpfennigen ausmünzt. Es ist allerdings eine hohe und ehrenwerte Aufgabe, welche sich die ‚Zukunftsmusik‘ dahin gestellt hat, daß sie auf die Grundidee der Kunst und auf die Musik als einen wirklichen Ausdruck des Gedankens zurückgehen und dadurch eben ihre Bedeutung für eine neue Zukunft der Musik begründen will. Aber diese Aufgabe ist eine allgemeine für Jeden, der in irgend einer Kunst etwas Wesentliches schaffen und gestalten will, während es zur Bizarrerie und zur Fratze führt, die Zukunft als Aushängeschild vor die Thüre zu hängen damit pomphaft etwas anzukündigen, was sich von selbst versteht, hier aber jedenfalls zugleich als eine Absonderlichkeit ausgeboten wird. Insofern nun auch die neuen Compositionen von Liszt unter dem Spiegel der Zukunftsmusik gestellt werden, habe sie Gunst und Ungunst derselben zu theilen, obwohl sie durch ein einfacheres Streben, aber auch durch eine geringere Kraftfülle und der Form und im Inhalt sich von ihnen unterscheiden“ (Anonym 1855 Dur und Moll, S. 8). 58 Siehe Bronsart 1856 Franz Liszt’s Torquato Tasso. 59 Die Notenbeispiele sind in Form eines Klavierauszugs abgedruckt. 60 Nach einem mehr privaten Konzert am 3. August im vertrauten Sondershausen, folgten die nächsten öffentlichen Konzerte außerhalb Thüringens erst am 8. September in Pest und am 15. September in Wien.
Nr. 83 | Robert Zimmermann, „A. W. Ambros, Ueber die Gränzen der Musik und Poesie. Eine Studie zur Aesthetik der Tonkunst. Prag, 1856“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 3 (1855), Nr. 51 (22. Dezember), S. 401– 405.
A. W. Ambros, Ueber die Gränzen der Musik und Poesie. Eine Studie zur Aesthetik der Tonkunst. Prag, 1856.
Es liess sich erwarten, dass die tief einschneidende Kritik, welcher Eduard Hanslick in seiner Schrift „Vom Musicalisch-Schönen“1 die bisherige Gefühls-Aesthetik2 unterwarf, von dieser aus nicht ohne Erwiderung bleiben würde. Das gerechte Aufsehen, welches jenes geistreiche Werkchen erregte, hat eine Flut theils beifälliger, theils gegnerischer Beurtheilungen hervorgerufen,3 unter welch letzteren obige Schrift4 um ihres Umfanges sowohl, als um ihres als geistvoller Musik-Kritiker bekannten Verfassers willen die Beachtung vor Allen in Anspruch nimmt. Schon der Titel der Schrift zeigt, dass sie nicht bloss eine Abwehr, sondern den Grundriss eines Neubaues zu geben versucht; sie soll ein „musicalischer Laokoon“5 sein. Aus diesem Grunde und weil der Herr Verfasser S. 10 die Philosophie der „Befriedigung“ halber, mit welcher sie auf die Hanslick’sche Schrift hingewiesen,6 ausdrücklich in Mitleiden
1854 Vom Musikalisch-Schönen. 2 Für einen Überblick der Phase der „psychologischen“ Musikkritik siehe Kirchmeyer 1990 Kleiner Leitfaden, S. XIX–XXII. 3 Siehe etwa Zimmermann 1854 Zur Aesthetik der Tonkunst, Brendel 1855 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, in: NdS 2 Nr. 72; H. – L. 1855 „Vom Musikalisch-Schönen“; Anonym 1855 Aesthetische Feldzüge; Lotze 1855 „Vom Musikalisch-Schönen“, für weitere Reaktionen siehe Hanslick-Schriften 1, 3, S. 361. 4 Die erste Auflage von Ambros’ Schrift war 1855 bereits bei Matthes in Leipzig erschienen. Die hier zitierte Prager Ausgabe verzeichnet im Vorwort das Datum „Mai 1855“ und kursierte offenbar ebenfalls vor dem offiziellen Erscheinungsjahr 1856. 5 Anspielung auf Gotthold Ephraim Lessings Schrift Laokoon: oder über die Grenzen der Mahlerey und Poesie. Mit beyläufigen Erläuterungen verschiedener Punkte der alten Kunstgeschichte (Lessing 1766 Laokoon), worin maßgeblich die Unterschiede der einzelnen Kunstdisziplinen definiert werden, insbesondere zwischen bildender Kunst und Literatur. Hanslick belegt seinen Gedanken einer inhaltslosen Musik unter anderem mit dem Verweis auf Lessing: „Vom Musiker sagt Lessing nichts. Ganz begreiflich, denn Nichts ist es eben, was er aus dem Laokoon machen kann“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 98). 6 Hanslicks Schrift wird von Ambros bewusst mit der Philosophie Johann Friedrich Herbarts (1776 –1841) in Zusammenhang gebracht: „Indessen ist kürzlich von der Herbart’schen Philosophie mit großer Befriedigung auf ein Buch von Hanslik […] hingewiesen worden“ (Ambros 1856 Die Gränzen der Musik und Poesie, S. 10); Vgl. dazu den Kommentar des vorliegenden Artikels. Um seine philosophische „Grundrichtung“ zu verdeutlichen zitiert Hanslick diese Passage, in seinem Habilitationsgesuch an 1 Hanslick
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schaft zieht, sehen wir uns veranlasst, das Wort hier zu nehmen, das wir sonst den Musikern von Fach gern allein überlassen hätten.7 Den Herrn Verfasser empört die Ansicht, welche das Wesen der Musik in „tönend bewegte Formen“8 setzt. Er sieht in ihr eine „Kunst des Geistes“9, was an sich ganz richtig ist; denn jeder Künstler, wenn er einer ist, arbeitet im Geiste, bevor er mit der Hand thätig ist, und, was der „ästhetische Formalist“ am allerwenigsten läugnet, indem er gerade die Erfindung „tönend bewegter Formen“ als die Arbeit des musicalischen Geistes betrachtet. Der Herr Verfasser sieht ferner in ihr die Kunst, die „naturgemäss zu immer bestimmterem, schärfer, individueller ausgeprägtem Ausdrucke ringend, bezeichnet werden kann als die Kunst des in den Ton aufgelös’ten Wortes“ (S. 9).10 Wenn dies, wie aus dem Zusammenhange erhellt, bedeuten soll, die Musik ginge dahin, die Bestimmtheit des „Wortes“ zu erreichen, so ist der Ausdruck allerdings übel gewählt. Denn ein „in den Ton aufgelös’tes Wort“11 ist bekanntlich kein Wort mehr, sondern blosser Ton, und die schöne Phrase von der individuellen Wort-Bestimmtheit der modernen Musik verpufft wirkungslos in die Luft. Der kühne Satz besagt genau nicht mehr, als die verhöhnten Formalisten auch behaupten: die Poesie dichtet Worte, die Musik nur Töne. Allein wir hoffen kaum, den Herrn Verfasser und seine Meinungsgenossen dadurch zu überzeugen. Auch „ein in den Ton aufgelös’tes Wort“ klingt ihnen noch immer wie ein „Wort“, und es gibt eine Menge Leute, die auch trotz oder vielleicht in Folge dieses Luftschusses dem Herrn Verfasser aufs Wort glauben werden, die moderne Musik vermöge die „Worte“ zu ersetzen. Der Herr Verfasser beginnt seine „Gränzbestimmung“ zwischen Musik und Poesie damit, dass er, „wie die Maler die Musen“, sie nicht einzeln, sondern „in schön verschlungener Gruppe“ hinstellt.12 Damit ist der richtige Standpunkt eigentlich schon verrückt; denn wenn ich etwas vom Anderen „scheiden“ will, so fange ich nicht damit an, Beide zu „vereinigen“. Die Frucht dieser „schönen Verschlingung“ sind die logischen „Schlingen“, in die der Herr Verfasser, wie die ästhe tische Schule, zu der er gehört,13 gerathen ist. Weil er die „Musen“ nicht „einzeln“
die Universität Wien (siehe Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, in: Strauß 1990 Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen 2, S. 23 f. und S. 145). 7 Robert von Zimmermann (1824 –1898) war seit 1852 ordentlicher Professor für Philosophie in Prag, worauf er 1861 dem Ruf an die Universität Wien folgte. 8 Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 32. 9 Die Musik Haydns und Mozarts betrachtete Ambros als „die Kunst der Seele“, aus welcher sich die Musik Beethovens entwickelte, „die Kunst des Geistes“ (Ambros 1856 Die Gränzen der Musik und Poesie, S. 9). 10 Im Original heißt es: „[…] Ausdrucke ringend, hat endlich einen Standpunkt erreicht, welcher, an sich der Kunst des Geistes angehörig, an deren äußerste Gränze zu drängen scheint, weil sie, aus dem Schauplatze inneren Seelenlebens heraustretend, darstellen will, was nur das Wort vollständig, zu versinnlichen möchte“ (ebd.). In der gegen Hanslicks Schrift gerichteten Besprechung Franz Brendels machte dieser Hanslick einen vergleichbaren Vorwurf (siehe Brendel 1855 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, S. 98, in: NdS 2 Nr. 72, S. 811–813). 11 Ambros 1856 Die Gränzen der Musik und Poesie, S. 9. Hervorhebung von Zimmermann. 12 Im Original heißt es: „Die Maler lieben es, die Musen nicht einzeln, sondern in schön verschlungener Gruppe darzustellen“ (ebd., S. 12). 13 Wie aus einer späteren Stelle des Textes hervorgeht, steht Ambros in seinem Denken in der ästhetischen Tradition Hegels (siehe vorliegender Artikel, Anm. 20).
Zimmermann 1855 Ambros, Ueber die Gränzen der Musik
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hinstellt, so verfällt er sogleich auf das Trugbild einer „Kunst par excellence“. Die „Poesie“ ist ihm „der Lebens-Aether aller Künste“14, sie ist die „Kunst“ und nebenbei auch „eine Kunst“, so wie die „Philosophie“ nicht bloss die Grundlage aller Wissenschaften ist, sondern auch als abgegränzte Wissenschaft für sich allein erscheint. „Die Begränzung der Musik gegen die Poesie hebt sonach damit an, dass Beide in Bezug auf den „Lebens-Aether“ für Eins, gelegentlich sodann auch für Zwei erklärt werden, wahrscheinlicher Weise wie die Philosophie in Bezug auf ihren „Lebens-Aether“ mit jeder anderen Wissenschaft Eins und nebenbei Zwei sein soll. Ein Unbescheidener wird fragen: In so fern Musik mit Poesie Eins ist, ist sie denn noch Musik, und ist denn, worin Poesie mit Musik Eins ist, schon [402] Poesie? Oder ist das, was Beide gemeinsam haben, ein Drittes, weder der Musik noch der Poesie ausschliessend Eigenes, ein wahrer „Lebens-Aether“ jeder Kunst, aber selbst noch weder Poesie noch Musik? Doch still! Ist nicht, wer dichtet, d. i. erfindet, Poet, und wird in der Musik nicht erfunden, also gedichtet? Ist also nicht der Musiker Poet und die Musik Poesie? Gerade so gut wäre, weil in der Philosophie gedacht wird und in der Jurisprudenz gedacht wird, der Philosoph Jurist und Jurisprudenz Philosophie.15 Daraus, dass der Musiker erfindet und der Poet erfindet, folgt nicht, dass Beide dasselbe erfinden. Jener erfindet Harmonieen, Rhythmen und Melodieen, dieser in Worten und nur in diesen rhythmisch ausdrückbare Gedanken. Darin, dass Beide erfinden, verwandt, sind sie in dem, was sie erfinden, verschieden. Das Erfinden selbst aber ist keine besondere Kunst für sich; denn sie kommt nur an Erfundenem zur Erscheinung. So wenig ein Sprechen ohne Sprache, so wenig gibt es ein Erfinden ohne Erfundenes. Ein Erfindungs-Vermögen, das nichts erfände, eine Sprache, die nichts spräche, ist ein imaginärer Begriff, eine gegenstandlose Vorstellung. Sobald aber gesprochen wird, spricht man eine bestimmte, nicht die Sprache überhaupt; sobald ein Aesthetisch-Schönes erfunden wird, erfindet man ein Bestimmtes, Linien-, Flächen-, Körperschönes, Tonschönes oder Gedanken aussprechendes Wortschönes. Nicht die Erfindung ist Poesie, sondern in der Poesie, wie in der Musik und in jeder anderen Kunst, gibt es Erfindungen. Es gibt keine Kunst, es gibt nur Künste. Der Herr Verfasser hätte besser gethan, zu sagen, Erfindung sei der „LebensAether“ aller Künste, statt: die Poesie sei es. Eine so vage Bezeichnung, die im Grunde von dem Doppelsinne des griechischen Wortes,16 das bald jedes Hervorbringen eines Neuen, bald das Dichten im strengen Sinne ausdrückt, sich herschreibt, bringt die Meinung hervor, als unterschieden die Künste sich nur den verschiedenen Zeichen für einen und denselben Inhalt nach, und begünstigt die Einbildung, es liege jeder Kunst ein in Worten darstellbarer Gedanken-Inhalt zu Grunde, der bald in Tönen, bald in Farben und Formen, bald in Worten zur äusseren Darstellung gelange. Daher die stets wiederholte Forderung, die Musik, weil sie der Ausdruck von Gedanken sei, die wir sonst in Worten aussprechen, müsse dem Worte so nahe als möglich kommen, müsse selbst in „Ton aufgelös’tes Wort“ sein. Aber
1856 Die Gränzen der Musik und Poesie, S. 12. 15 Sowohl Ambros als auch Hanslick war promovierter Jurist, beide übten zur Zeit der Veröffentlichung des vorliegenden Artikels diesen Beruf im Staatsdienst aus. 16 Poíēsis (griech.): Machen, Verfertigen, Dichten, Dichtkunst. 14 Ambros
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eben in jener Einbildung liegt der Irrthum. Es ist nicht derselbe, sondern ein ganz anderer „Gedanken-Inhalt“, den die Musik und den z. B. die Poesie zur Erscheinung bringt. Dieser besteht aus Begriffen, Anschauungen, Urtheilen und Schlüssen, jener aus Ton-Vorstellungen, Harmonieen und Melodieen. Diese in Worten auszudrücken, ist eben so widersinnig, wie jene in Tönen. Der „Gedanken-Inhalt“ der Musik besteht in „rein musicalischen Gedanken“.17 Der richtige Gedanke, der jener Einbildung zu Grunde liegt, wird dadurch nicht beeinträchtigt. Mit Recht setzt jeder Aesthetiker voraus, jede äussere künstlerische Darstellung in Zeichen sei nur das Abbild eines rein innerlichen „Gedanken-Kunstwerkes“. Aber mit Unrecht behauptet der speculative Aesthetiker, das GedankenKunstwerk jeder Kunst müsse so beschaffen sein, wie es das des Dichters ist. Das Gedanken-Kunstwerk des Componisten besteht in Ton-, das des bildenden Künstlers in Form-Gedanken, nur das des Dichters in Wort-Gedanken. Der hörbare Ton ist Zeichen, aber nicht für ein Wort, nicht für einen Begriff, sondern für den unhörbaren im Geiste des Componisten. Die sichtbare Farbe oder Form ist Zeichen für die unsichtbare, d. i. vom Künstler gedachte, das hörbare Wort Zeichen für den unhörbaren Gedanken des Dichters. Und so sagen wir es denn gerade heraus: Gedanken im eigentlichen Sinne des Wortes hat nur der Dichter, dem Musiker „stehen Gedanken fern“. Die Musik ist wirklich „gedankenlos“, und sie theilt dieses Geschick mit jeder ihrer Schwestern, die Poesie, die „Gedankenkunst“, ausgenommen. Barbaren! rufen hier tausend zartfühlende Seelen, deren „Gedanken-Reichthum“ bisher die Tonkunst war. Allein wir fürchten uns weniger vor dem Tadel, ein Barbar gegen Enthusiasten, als gegen die gesunde Logik zu sein. Gedanken sind nun einmal nur streng gesonderte Anschauungen, Begriffe, Urtheile und Schlüsse, und diese lassen sich eben nur in Worten ausdrücken. Wir sprechen ja der Musik nicht allen Inhalt ab, indem wir ihr den absprechen, der ihr nicht zukommt. Es sind eben nicht alle unsere Vorstellungen „Gedanken“ im obigen Sinne, und so bleiben noch eine Menge Vorstellungen als Object für die übrigen Künste übrig. Die auffallende Thatsache, dass Künstler, vornehmlich aber Tonkünstler, ausser ihrer Kunst oft höchst unbedeutende Menschen sind, wäre gar nicht zu erklären, wenn man annähme, sie besässen denselben Reichthum an eigentlichen „Gedanken“, wie Andere. Sehen wir aber den eigentlichen „Gedanken“, die Ton-Vorstellungen, wie Farben- und FormVorstellungen, als disparate, aber neben einander liegende Vorstellungskreise an, so ist nichts leichter zu enträthseln. Gerade je ausschliesslicher einer derselben, z. B. der Kreis der Ton-Vorstellungen, entwickelt ist, desto dürftiger sind natürlich die übrigen. Neben reichster Ton- und [403] Harmonieen-Fülle findet die grösste „Gedanken-Armuth“ Platz. Umgekehrt wäre beim Dichter, in dem das rhythmische, musicalische und Gedanken-Element zusammenwirkt, eine gleichzeitige Entwicklung aller drei dahin bezüglichen Vorstellungskreise am leichtesten denkbar, wenn eine glückliche Anlage und eine geregelte Erziehung eine parallele, wechselseitig sich nicht hemmende Pflege disparater Vorstellungskreise in einem Individuum zur dreifachen Blüthe brächten.
17 Hanslick
formuliert ähnlich: „Die Ideen, welche der Componist darstellt, sind vor Allem und zuerst rein musikalische“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 15).
Zimmermann 1855 Ambros, Ueber die Gränzen der Musik
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Der Herr Verfasser, der den Philosophen in der Musik „an allen Ecken verlegene Unerfahrenheit“18 vorwirft und mitleidig die Mühe und das Studium belächelt, das sie mit ihren Systemen von den Eleaten und Joniern19 bis auf Hegel und seinen Nachwuchs haben, scheint doch eben bei diesem „Nachwuchse“ gläubig in die Schule gegangen zu sein; denn die bedenklichen Resultate ihrer „verlegenen Unerfahrenheit“ macht er zu seinen eigenen. Von ihnen stammt die berufene Lehre von der „einen“ Kunst, von ihnen der Satz, dass die Künste sich nur nach den Mitteln unterscheiden, durch welche der gemeinschaftliche Gedanken-Inhalt zur Darstellung gebracht wird.20 Mit ihnen theilt der Herr Verfasser die Abneigung, im subjectiven Eindruck der Musik nichts als das gemeinschaftliche Resultat einer Form-Schönheit und „elementarischen“ Klang-Zaubers zu sehen.21 Wenn Hanslick die rein ästhetische, sich gleich bleibende Wirkung harmonischer Ton-Verhältnisse, worauf das unveränderliche Urtheil des Wohlgefallens im Zuhörer beruht, von dem sinnlichen, ewig wechselnden Eindrucke, des einzelnen Tones als solchen streng scheidend, den letzteren als „elementarisch“ mit seinem „Zauber“ auf das physiologische Gebiet verweis’t, so erscheint dies dem Herrn Verfasser als ein Angriff auf die heiligsten Gefühle. Wenn Hanslick sagt: „die stärkste Wirkung übe die Musik (das ist das rein Elementarische derselben) auf Wilde, und je geringer die Bildung, desto gewaltiger das Dareinschlagen solcher Macht“22, so hat er damit nach des Herrn Verfassers Meinung „die letzten Reste von Glauben und Liebe aus der Seele weggescheuert“23. Fast möchte man schliessen, der Herr Verfasser finde die stärksten Stützen des Glaubens und der Liebe in der türkischen Musik; denn diese übt bekanntlich auf Wilde den stärksten Eindruck.24 Er scheint nicht verstehen zu wollen, dass Hanslick unter dem „Zauber“ der Musik nur das „rein Elementarische“ derselben meint, und diesen sinnlichen Reiz von der musicalischen Schönheit der Töne ausdrücklich unterscheidet. Er findet es lächerlich, dass wir, um uns „anschauend“ zu verhalten, etwa während der C-moll-Sinfonie25 uns sagen sollten: Andante con moto,
18 Im
Original heißt es: „[…] nicht aller Enden verlegene Unerfahrenheit zeige, heißt zu viel verlangen, da er schon mit seinen eigenen Systemen von den Eleaten und Ioniern anzufangen bis auf Hegel und dessen Nachwuchs der Mühe und des Studiums mehr als genug hat“ (Ambros 1856 Die Gränzen der Musik und Poesie, S. 7 f.). 19 Die Eleaten, benannt nach der italienischen Stadt Elea, waren eine der ältesten philosophischen Schulen der griechischen Antike und zählen neben den Vertretern der ionischen Naturphilosophie zu den Vorsokratikern (600 – 400 v. Chr.). 20 Zimmermann zieht hier eine große Linie von in monistischer Tradition stehender Philosophie nach, in der auch Hegels Vorstellung von Kunst als sinnlicher Präsentation eines absoluten Geistes zu verorten ist. Mit „Nachwuchs“ spielt Zimmermann möglicherweise auf den hegelianisch geprägten Philosophen Friedrich Theodor Vischer (1807 –1887) an. 21 Ambros 1856 Die Gränzen der Musik und Poesie, S. 11. In Anlehnung an Hanslick, der eine an Objektivität mangelnde Betrachtung von Musik anprangert: „Das Elementarische der Musik, der Klang und die Bewegung ist es, was die wehrlosen Gefühle so vieler Musikfreunde in Ketten schlägt“ (Hanslick 1854 Vom MusikalischSchönen, S. 70). 22 Bei Hanslick heißt es: „Je kleiner der Widerhalt der Bildung, desto gewaltiger das Dreinschlagen solcher Macht. Die stärkste Wirkung übt Musik bekanntlich auf Wilde“ (ebd., S. 74). 23 Ambros 1856 Die Gränzen der Musik und Poesie, S. 41. „Glauben“ und „Liebe“ sind bei Ambros hervorgehoben. 24 In Anlehnung an Hanslick (siehe vorliegender Artikel, Anm. 22). 25 Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr. 5 c-Moll op. 67 (UA 1808), 2. Satz.
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⅜-Tact, As-dur u. s. w.26 Aber wer hat denn behauptet, dass wir uns dies während des Anhörens „sagen“ müssen, um jene Sinfonie schön zu finden? Das Wunderbare des subjectiven Eindrucks der Schönheit ist gerade, dass wir uns weder zu sagen brauchen, worin ihr Grund liege, noch wir es oft sagen können. Aber vorhanden muss ein solcher Grund doch sein! Und nun, Hand aufs Herz! was ist in dem gedachten Satze der C-moll-Sinfonie Anderes vorhanden, als: Andante con moto, ⅜-Tact, singbares Thema, Accorde u. s. w.? Wo ist die „holde Stimme, die vergebens den Frieden zu bringen trachtet“?27 Was darf in der Musik sein, was nicht Musik wäre? Und wenn Berlioz, um ein Beispiel des Herrn Verfassers anzuführen, in „Romeo und Julie“28 nun „ganz äusserliche Ereignisse, den Zank der Diener, den Frieden stiftenden Eintritt des Fürsten, den Ball bei Capulets“29, ja, um „Romeo und Julie“ selbst deutlich zu machen, zu Ueberschriften, also zu Worten, nicht zu solchen, die in „Ton aufgelös’t sind“, sondern zu klaren articulirten Worten seine Zuflucht nehmen muss, hat er da nicht das Gebiet der reinen Musik bereits verlassen? Um gegen Hanslick’s entgegengesetztes Urtheil zu beweisen, im Tonstücke falle Inhalt und Form auf keine Weise zusammen, bemerkt der Herr Verfasser S. 46, aus dem „blossen Formenspiel“30 und der elementaren Kraft der Töne die ganze Wirkung der Musik ableiten, sei eben so, als „wollte man die Wirkung eines Gedichtes aus der grammaticalischen und syntaktischen Sprachrichtigkeit, dem rhythmischen Fall der Verse, der Reinheit der Reime und dem elementaren Wohlklang der Sprache, z. B. der italiänischen, herleiten“31. Nichts kann irriger sein. Wenn die Musik, wie der Herr Verfasser und seine Meinungs-Genossen wollen, sich nur dadurch von der Poesie unterschiede, dass sie dieselben Gedanken, welche diese in Worten, in blossen Tönen ausdrückt, dann wäre jener Vergleich allerdings im Rechte. Aber gerade weil die Musik, wie wir streng festhalten, keine Gedanken ausdrückt, so entspringt der Reiz des Gedichtes, abgesehen von seinen rhythmischen und musicalischen Eigenschaften, hauptsächlich aus dem ihm ausschliesslich eigenthümlichen Elemente des Gedankens. Wenn ferner, um darzuthun, dass in der Musik in der That, wie in der Poesie bei demselben Worte, so bei derselben Tonstelle alle Hörer dieselbe Vorstellung erhalten, der Napoleonische Invalide angeführt wird, der bei dem triumphirenden Jubel-Finale der C-moll-Sinfonie Vive l’Empereur! schreit,32 so bedauern wir, gestehen zu müssen, dass uns dieses Beispiel nicht überzeugt; denn ein Anderer, vielleicht Herr Ambros selbst, würde im gleichen Falle entzückt Vive Beethoven! geschrieen haben. [404] Der Herr Verfasser ist der Meinung, wer die Musik für „tönend bewegte Formen“ erkläre, könne in die Bezeichnung: heroische, pastorale Musik u. s. w. nicht einstimmen. Es gibt keine heroische Arabeske, kein heroisches Kaleidoskop, kein
1856 Die Gränzen der Musik und Poesie, S. 42. Ambros führt das Beispiel noch detaillierter aus. 27 Konnte nicht nachgewiesen werden. 28 Hector Berlioz, Roméo et Juliette op. 17 (EA 1839). 29 Im Original heißt es: „er nimmt ganz äußerliche Ereignisse, wie sie in Shakespeares Tragödie erscheinen, mit herüber, den Zank der Diener, den friedenstiftenden Eintritt des Fürsten, den Ball bei Capulet u. s. f.“ (Ambros 1856 Die Gränzen der Musik und Poesie, S. 9). 30 Ebd., S. 47. 31 Ebd., S. 46. Außer der Umstellung von Satzteilen, im Originalwortlaut wiedergegeben. 32 Ebd. 26 Ambros
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heroisches Dreieck oder Viereck.33 Dies ist vollkommen richtig. Aber es gibt ohne Zweifel einen Rhythmus, der heroischen Bewegungen als solchen eigenthümlich ist, folglich auch tönende Formen, die sich in solchen Rhythmen bewegen, und diese verdienen dann offenbar den Namen heroischer Musik. Von der pastoralen gilt dasselbe. Nur suche man keine Musik, die „Romeo und Julie“ oder eben einen Ball bei „Capulets“ ausdrückte. „Die einzelnen Töne in der Musik“, sagt Lessing (Anm. z. Laokoon) treffend, „bedeuten nichts und drücken nichts aus.“34 Die Worte dagegen bedeuten für sich selbst etwas. „Ein einziger Laut als willkürliches Zeichen drückt so viel aus, als die Musik nicht anders als in einer langen Reihe von Tönen empfindlich machen kann.“35 Und da nicht vollständig. Der Herr Verfasser sagt S. 73 selbst, dass die Musik „Unaussprechliches“36 ausdrückte. Nun wohl, so überlasse sie das nur Aussprechliche der Poesie. Damit soll, wie sich von selbst versteht, dem eigenthümlichen Werthe der Musik nichts genommen, nur von dem ihr angedichteten soll sie befreit werden. Ihre Freunde sind es, vor denen sie behütet werden soll. Die Wolff’sche Schule37 stritt darüber, ob Gefühle oder Gedanken vorzüglicher seien, und schätzte danach den Werth der Musik gegen den der Poesie ab. Die Schwärmer zogen die Musik als den Ausdruck des Gefühls, die Nüchternen die Poesie als Ausdruck des Gedankens vor. Dieser Streit währt noch fort und muss, so lange die Musik für den Ausdruck von Gefühlen gilt, ihren Werth von dem Werthe dieser letzteren abhängig machen. In dem Maasse, als die Gefühle im Werthe sanken, hat die Musik gesucht, sich als Trägerin von Gedanken geltend zu machen. Das ist das Geheimniss der neuesten Bewegungen auf dem musicalischen Gebiete, des Strebens nach Bestimmtheit und Individualisirung, nach dem in „Ton aufgelös’ten Worte“. Aber dieses ganze Streben verdankt seinen Ursprung einer fehlerhaften Psychologie. Der Werth der Musik ist gar nicht abhängig von dem Werte der Gefühle. Mag dieser steigen oder fallen, jener bleibt sich völlig gleich. Ihr Gebiet sind die Ton-Vorstellungen, die weder „Gefühle“ noch „Gedanken“ sind. Sie hat ihr eigenes, so fest begränztes Reich, dass Gefühle und Gedanken darin nicht eindringen, wohl aber äusserlich aus den verschiedensten Motiven daran mögen angeknüpft werden. Ihr Streben soll weder auf Gefühle noch auf Gedanken gerichtet sein, sondern auf sich selbst, auf ihren eigensten Bereich, die Welt der Töne. Ob die Töne Gefühle erzeugen oder Gedanken ausdrücken, ist
33 Ebd,
S. 47. Nahezu wörtlich wiedergegeben. Die Musik mit Arabeske und Kaleidoskop zu vergleichen, brachte Hanslick immer wieder massive Kritik ein (siehe auch vorliegender Artikel, Anm. 60). 34 Bei Lessing heißt es: „Die einzeln Töne in der Musik sind keine Zeichen, sie bedeuten nichts und drucken nichts aus; sondern ihre Zeichen sind die Folgen der Töne, welche Leidenschaft erregen und bedeuten können“ (Lessing 1766 Laokoon, Paralipomena, 27, S. 314). 35 Bei Lessing heißt es: „Die willkürlichen Zeichen der Worte hingegen bedeuten vor sich selbst etwas, und ein einziger Laut als willkürliches Zeichen kann so viel ausdrücken, als die Musik nicht anders als in einer langen Folge von Tönen empfindlich machen kann“ (ebd.). 36 Ambros 1856 Die Gränzen der Musik und Poesie, S. 73. Bei Ambros folgt ein direkter Bezug auf Wagners Opern: „Unaussprechliches! Unweigerlich schöne Beispiele finden sich auch in Richard Wagners musikalischen Dramen.“ 37 Auch bekannt als die Leibniz-Wolff’sche Schule. Christian von Wolff (1679 –1754), deutscher Philosoph und Mathematiker, war neben Leibniz einer der bedeutendsten deutschen Denker der Aufklärungsphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts.
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für ihren ästhetischen Werth so gleichgültig, als für die ewige Wahrheit, ob ihr Bild zu Sais38 enthüllt wird oder ewig verschleiert bleibt. Darum hat Felix Mendelssohn ganz Recht, wenn er in dem von dem Verfasser citirten Briefe S. 72 sagt: „der Ausdruck der Musik sei gar nicht vage, vielmehr nur zu bestimmt, dass er in Regionen reicht und dort lebt und webt, wohin das Wort nicht nach kann und nothwendig erlahmen muss“39; aber nur in ganz entgegengesetztem Sinne, als der Herr Verfasser es auslegt. Diese „Region“ sind nicht die Gefühle, wie Herr Ambros zu glauben scheint, es ist die Tonwelt, die ihre bestimmten unwandelbaren Gesetze hat und die der Welt des Wortes ganz disparat ist. Dort „lebt und webt“ ein Erfindungsgeist, der auf ganz andere Dinge gerichtet ist, als auf Erzeugung von „Gefühlen“ und Ausdruck von „Gedanken“, die durch Worte kürzer und besser können ausgedrückt werden. Wenn der Componist „Gedanken“ auszudrücken hätte, er würfe, je grössere es sind, desto eher ein so unbehülfliches Werkzeug wie die Töne weg und schriebe Bücher statt dessen, oder dichtete Verse. Aber eben weil sein Geist auf Schöpfungen gerichtet ist, die keine poetischen, philosophischen, politischen, industriellen, sondern rein musicalische Gedanken enthalten, darum schafft er Harmonieen und nur Harmonieen. Von ihm verlangen, er solle „Gedanken“ haben, heisst vom Orangenbaume begehren, dass er Birnen tragen solle. Der Musiker braucht keinen Geist als musicalischen; was er sonst noch besitzt, kommt ihm als Menschen, auch wohl als Künstler überhaupt zu Gut, aber nicht als Musiker. Sehen wir nun, was der Herr Verfasser, den wir durch die rein musicalischen Partieen, den grössten Theil seiner Schrift, jetzt nicht begleiten, am Schlusse für ein Resultat seiner Bestrebungen findet. Er stellt S. 179 die Gränzen der Musik und Poesie als „leicht zu ziehen“ dar.40 Zunächst ist nach ihm ein „formales“ und ein „ideales“ Moment der Musik zu unterscheiden.41 Die Gränze des ersteren liegt in der Forderung, dass jedes Einzelglied eines Tonstückes sich nach der rein musicalischen Logik, nach dem bloss formalen Momente vollständig begründen und ableiten lasse.42 Dass dies keine „Gränze“ gegen die Poesie, sondern lediglich eine innere, übrigens auf jedes Kunstwerk analog anzuwendende Compositions-Regel ist, leuchtet ein. In ihrem idealen Moment dagegen „hält sich die Musik innerhalb ihrer natürlichen Gränze, so lange sie nicht unternimmt, [405] weiter zu gehen als
Erzählung, die durch Friedrich von Schillers Ballade Das verschleierte Bild zu Sais (ED 1795) zur Bekanntheit gelangte, nach der kein Sterblicher je den Schleier einer ägyptischen Gottheit – und damit die Wahrheit – gelüftet habe. Überliefert wurde sie durch zwei griechische Quellen, zum einen von Plutarch (um 45 –120), griechischer Philosoph und Schriftsteller, zum anderen von Proklos (412 – 485), griechischer Philosoph, Neuplatoniker, Leiter der Akademie. 39 Ambros zitiert den Brief „nach dem bloßen Gedächtnisse“ wie folgt: „[…] der Ausdruck der Musik vielmehr gar zu bestimmt ist, daß er in Regionen reicht und dort lebt und webt, wohin das Wort nicht mehr nachkann und daher notwendig erlahmen muß, wenn es, wie Sie es damit versuchen, doch nach will“ (Ambros 1856 Die Gränzen der Musik und Poesie, S. 72). 40 Bei Ambros folgt dieses „Endresultat“ direkt auf die Anmerkung: „Durch ein Programm aber stellt sie sich ein Armuthszeugniß aus – sie gibt, wie wir schon einmal bemerkt haben, dadurch selbst zu, daß sie über ihre natürliche Gränze hinausgegangen ist“ (ebd., S. 178 f.). 41 Ambros statuiert: „Jenes bildet die Form, dieses den Inhalt – das formale und das ideale Moment“ (ebd., S. 179). 42 Ebd. Ab „eines Tonstückes“ wörtlich wiedergegeben, im Original vollständig hervorgehoben. 38 Eine
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ihre Ausdrucksfähigkeit, d. h. so lange die dichterischen Gedanken des Tonsetzers aus den durch sein Werk hervorgerufenen Stimmungen und den dadurch angeregten Vorstellungs-Reihen, also aus dem Tonwerke selbst verständlich werden und zum Verständnisse nicht ein fremdes, mit der Musik selbst nicht organisch Verbundenes herbeigeholt werden muss“43. Wie weit übrigens diese „Ausdrucksfähigkeit“ geht, wird „wohl nie durch irgend eine Gränz-Commission zu reguliren sein.“44 – So der Herr Verfasser. Wir schlagen um: sieh da, wir befinden uns auf der letzten Seite. Die natürliche Gränze der Musik ist ihre Ausdrucksfähigkeit, die Gränze dieser selbst ist aber nicht zu bestimmen! Man muss gestehen, solche Gränzen sind „leicht“ zu ziehen. Prag, im November 1855. Prof. Dr. Robert Zimmermann.
Kommentar Beim vorliegenden Artikel Robert Zimmermanns handelt es sich um den minimal gekürzten45 Wiederabdruck einer ursprünglich am 3. Dezember 1855 in den Oesterreichischen Blättern für Literatur und Kunst, einer Beilage zur Oesterreichisch-Kaiserlichen Wiener Zeitung, erschienenen Rezension, welche drei Wochen später auch in der Niederrheinischen MusikZeitung veröffentlicht wurde. Das von Zimmermann kritisierte Werk ist die Erstlingsschrift46 von August Wilhelm Ambros, mit der dieser seinen Ruf als Musikkritiker etablierte, indem er sich zeitlich wie inhaltlich explizit an Eduard Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen (ED 1854) sowie an Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts (ED 1855) von Adolf Bernhard Marx anschloss.47
43 Ebd.,
S. 181. Von Zimmermann mit minimalen, die Aussage nicht beeinträchtigende Änderungen wiedergegeben, ab „so lange sie […]“ ist der zitierte Abschnitt bei Ambros vollständig hervorgehoben. 44 Ebd., S. 185. 45 Zwischen den beiden ersten hier abgedruckten Absätzen des Artikels wurde durch die Redaktion der Niederrheinischen Musik-Zeitung ein vollständiger Absatz gestrichen, in dem Zimmermann die philosophischen Beweggründe für seinen Artikel detailliert auseinandersetzt. Zudem wurde im letzten Satz des ersten Abschnitts eine Anmerkung gekürzt, in der Zimmermann sich zu „musikalischer Laienschaft“ bekennt (siehe Robert Zimmermann, „A. W. Ambros über die Grenzen der Musik und Poesie. Eine Studie zur Aesthetik der Tonkunst. Prag 1856“, in: Oesterreichische Blätter für Literatur und Kunst 3 (1855), Nr. 49 (3. Dezember) S. 369 f., hier: S. 369). 46 Obgleich das Werk in mehreren Auflagen gedruckt und auch ins Englische übersetzt wurde, findet sich in der NZfM keine Besprechung darüber. 47 Ambros nennt die beiden Bücher im Vorwort als dankbare Anregung (Ambros 1856 Die Gränzen der Musik und Poesie, S. IX). Siehe auch die Artikel Brendel 1855 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, in: NdS 2 Nr. 72 sowie Liszt 1855 Marx: Die Musik im neunzehnten Jahrhundert, in: NdS 2 Nr. 80.
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Zimmermann, ordentlicher Professor für Philosophie und lebenslanger Freund Hanslicks, begründete die Motivation für seinen Artikel eingangs aus professioneller, also aus philosophischer Sicht und folgte in seiner Argumentation dieser Vorgabe weitestgehend, wobei sowohl sein Bekenntnis zu „musikalischer Laienschaft“ als auch seine detaillierte Begründung, „die philosophische Seite [von Ambros’] Schrift allein [zu] prüfen“48, einer Kürzung durch die Redaktion der Niederrheinischen Musik-Zeitung zum Opfer gefallen ist. Während Ambros sich wesentlich an Hegel orientierte, war Zimmermann Anhänger einer der bedeutendsten Nebenströmungen der Zeit: des Herbartianismus49, einer positivistischen Philosophie, die, maßgeblich auf dem Gebiet der Psychologie, die seelischen Vorgänge des Menschen nach kausalen Methoden der Naturwissenschaft zu ergründen bestrebt war. Das in bewussten Widersprüchen mündende, dichotome Denken Hegels, glaubte Herbart als widerspruchsfreie, einheitliche Wirklichkeit darstellen zu können.50 Gleicht Zimmermanns Ambros-Kritik zwar primär einer Verteidigung von Hanslicks Schrift, so sollte der Einfluss, den Zimmermann schon mit seiner ersten Rezension51 auf Hanslick ausübte,52 nicht unberücksichtigt bleiben. Den zentralen Vorwurf äußert Zimmermann bezüglich der von Ambros vertretenen ästhetischen Vorstellung, die Musik solle eine der Sprache ähnliche Bestimmtheit erlangen. In diesem Zusammenhang macht Zimmermann, außer der Absage an Hegel, die ‚gefühlsarme‘ Aufklärung dafür verantwortlich, den Weg für das durch Ambros vertretene Streben nach dem im „Ton aufgelös’ten Worte“ bereitet zu haben. Wenn Hanslick in seinen Lebenserinnerungen die „beseelte Form“ für seine Ästhetik beansprucht,53 wird klar, dass seine Kernaussage der „tönend bewegten Formen“54 dem Musikverständnis von Ambros55 kaum widerspricht.56 Die ausschließlich philosophische und somit einseitig vertretene Position pro Hanslick wird vor dem Hintergrund verständlich, dass Zimmermann weitestgehend für das philosophische Grundgerüst von Vom MusikalischSchönen verantwortlich zeichnete und Ambros’ Schrift, die sich in vielen Teilen dezidiert
48 Siehe
vorliegender Artikel, Anm. 45. 49 Nach Eduard Winter war der Herbartianismus „in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Philosophie Österreichs schlechthin“ (Winter 1968 Frühliberalismus in der Donaumonarchie, S. 167). 50 Vgl. Störig 1995 Kleine Weltgeschichte der Philosophie, S. 544 f. 51 Zimmermann 1854 Zur Aesthetik der Tonkunst. 52 Siehe Hanslick-Schriften 1, 2, S. 400. Zu inhaltlichen Änderungen Hanslicks aufgrund von Zimmermanns Kritik siehe Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, in: Strauß 1990 Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen 2, S. 78 f. 53 Hanslick 1894 Aus meinem Leben, S. 155. „Andrerseits ist es, wie ich wohl einsehe, ein mißverständlich Ding, schlechtweg von der ‚Inhaltlosigkeit‘ der Instrumentalmusik zu sprechen, was auch meiner Schrift die meisten Gegner erweckt hat. Wie ist in der Musik beseelte Form von leerer Form wissenschaftlich zu unterscheiden? Ich hatte die erstere im Auge, meine Gegner warfen mir die letztere vor.“ 54 Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 32. 55 Eine der „beseelten Form“ ähnliche Formulierung lautet bei Ambros: „hören wir das Tonwerk, so weckt es die gleiche Stimmung in uns, wir empfinden gleichsam mit seiner Seele. […] Und hier ist der Punkt, von welchem aus die Musik mehr, weit mehr ist, als bloßes geistreiches Amusement an Tonspiel und Wohlklang“ (Ambros 1856 Die Gränzen der Musik und Poesie, S. 107). 56 Nach Volker Kalisch erklärte Hanslick die „tönend bewegten Formen“ und die „beseelte Form […] beide als identisch“ (Kalisch 1999 Art. „Ambros, August Wilhelm“, Sp. 583).
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gegen Hanslick richtet, als Möglichkeit nutzte, diesen einerseits von philosophischer Seite zu verteidigen57 und andererseits, um seiner eigenen, formalistischen Ästhetik58 Nachdruck zu verleihen. Damit übergeht er jedoch einen musikhistorisch bedeutenden Aspekt, den Die Gränzen der Musik und Poesie im Hinblick auf Ausdruck und Bestimmtheit der Musik abhandelt: die zu jener Zeit hochaktuelle Diskussion um die Programmmusik. Nach dem Vorbild von Lessings Laokoon59 beschreibt Ambros Gemeinsamkeiten und Unterschiede der Musik zu den übrigen Künsten: Verleiht eine symmetrische Anlage, wie in der Architektur60, der Musik einen Körper, so ist es nach Ambros zwar die Poesie, die diesen beseelt.61 Dennoch führt seine Argumentation dahin, dass ein musikalisches Programm eine der Musik abträgliche Grenzüberschreitung sei, was im vorletzten Kapitel seinen Niederschlag fand.62 Zimmermann, der allein die philosophische Vorgehensweise Ambros’ kritisierte, positionierte sich innerhalb der Auseinandersetzung um die Programmmusik daher nicht näher. Nahezu zeitgleich veröffentlichte hingegen Liszt seinen Aufsatz „Berlioz und seine Haroldsymphonie“, in dem er – entgegen Ambros – den Begriff der Programmmusik als eine „Vereinigung“, als ein Aufnehmen der Literatur in die Musik bestimmte.63 Zimmermanns Ambros-Kritk bildet einen Teil der Rezeptionsgeschichte von Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen, wobei diese sich neben musikästhetischen Beiträgen in die Linie der philosophischen Rezensionen einschreibt.64 Sein Bemühen um eine Erklärung der philosophischen Grundlagen spiegelt zum einen die allgemeine Unsicherheit vieler Autoren der Zeit wider, die sich – insbesondere nach 1848 – häufig in einer eklektizistisch anmutenden Aneignung zeitgenössischer Denkströmungen zeigte, zum anderen bot er durch seinen radikalen Formalismus eine Position, die mit der von Hanslick vertretenen Autonomieästhetik fälschlicherweise gleichgesetzt wurde.
einer Rezension zur 7. Auflage von Vom Musikalisch-Schönen benennt Zimmermann dezidiert, was Hanslicks Form-Begriff mit jenem Hegels teilt, jedoch auch worin er sich unterscheidet, ebenso betont er in diesem Zusammenhang den bedeutenden Stellenwert von Herbarts Ästhetik (siehe Zimmermann 1885 Hanslick: Vom Musikalisch-Schönen, S. 251). 58 Zimmermanns Eintreten für eine formalistische Ästhetik setzte maßgeblich mit seinem programmatischen Aufsatz „Die spekulative Aesthetik und die Kritik“ ein (Zimmermann 1854 Die spekulative Aesthetik), siehe Jäger 1982 Die Herbartianische Ästhetik, S. 196. 59 Strauß betrachtet „die Laokoon-Debatte als Voraussetzung zu VMS“ sowie als „zentralen Gegenstand des Ästhetik-Diskurses zwischen Hanslick und Robert Zimmermann“ (Hanslick-Schriften 1, 2, S. 444). 60 Hanslicks vielgeschmähten Kaleidoskop-Vergleich (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 32 f.) ersetzt dieser ab der 4. Auflage – möglicherweise eine späte Reaktion auf Ambros – durch einen Vergleich der Musik zur Architektur (vgl. dazu Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, in: Strauß 1990 Hanslicks Vom MusikalischSchönen 2, S. 25 und S. 103). 61 Siehe Ambros 1856 Die Gränzen der Musik und Poesie, S. 52. 62 „Die Musik mit durch neben sie gestellte Worte eingeschränkter Ausdeutung; Programmen-Musik“ (ebd., S. 137 –179). 63 Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, S. 77, in: NdS 2 Nr. 76, S. 909; vgl. auch Altenburg 1997 Art. „Programmusik“, Sp. 1824 f. 64 Im Hinblick auf einen zu jener Zeit stark werdenden materialistischen Positivismus sind die Grenzen zwischen Philosophie, Psychologie, Physiologie und Naturwissenschaft zuweilen schwer zu ziehen – eine Tatsache, die sich im Vorwort zur 3. Auflage (1865) zu Vom Musikalisch-Schönen widerspiegelt, wenn Hanslick sich für die – seiner Meinung nach – positive Aufnahme seiner Schrift bei Friedrich Theodor Vischer, David Friedrich Strauß, Hermann Lotze und Moritz Lazarus bedankt, denen er ab der 4. Auflage (1873) auch Hermann von Helmholtz hinzufügte. 57 In
Nr. 84 | DIXI [Eduard Krüger], „Liszt ‚An die Künstler‘“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 3 (1855), Nr. 52 (29. Dezember), S. 409 – 411.
Liszt „An die Künstler“1
hat einen TonsatzI versucht oder gewagt, von dem man Anfangs zweifelt: Ist’s Schule, Asketik oder Kunstwerk? ist’s ernst oder scherzhaft gemeint? ist’s ein programmatistischer Abriss der schülerhaften Zukunfts-Bestrebungen oder ist’s ein vorausfliegender Bote und Genius dieser seligen Zukunft selber? ein solcher, der in diese arme heutige Welt, obwohl nur halb verstanden, doch blitzend hineinleuchte, um, wo nicht Allen zu gefallen, doch Wenigen es recht zu machen? Gäbe uns über Solches doch das Vorwort2 Auskunft! Zwar ist es so unnütz, wie die Wagner’sche Dedications-Vorrede zu Lohengrin3, und die abgründlich albernen Prooemia4 des Signor Joachim Raff5 sind nichts besser, nichts schlechter, als dieses Vorwort. Vordem war’s guter Dichter Art, von Homer bis Göthe, ohne Vorrede zu wirken durch die Kraft der Schönheit selber. Doch jene Beiden und manche Andere gehören
I Es
ist zwar schon über Jahr und Tag her, dass der hier besprochene „Festgesang“, dessen Text aus Schiller’s Gedicht „Die Künstler“ genommen ist, für Männerchor und acht Soli mit Orchester erschienen ist; allein da der obige Artikel mehr das Allgemeine als das Besondere, mehr die Gattung und die Principien als ihre Ausführung und Anwendung berücksichtigt, so dürfte er auch jetzt noch durchaus nicht als verspätet erscheinen, zumal, da Franz Liszt die Bahn, welche er in dieser Composition betreten, keineswegs wieder verlassen hat, sondern im Gegentheil auf derselben beharrlich zu dem vorzudringen versucht, was er für das Ziel der Musik hält. Wir unsererseits halten diese Richtung für eine verfehlte und auf einem Grund-Irrthum über das wahre Wesen der Tonkunst beruhende, und werden also überall dagegen auftreten, auch wenn, wie in diesem besonderen Falle, wir dem Verfechter derselben als Künstler und Menschen die höchste Achtung und persönliche Zuneigung zollen. (Die Redaction.) Liszt, An die Künstler S 70 (EZ 1853, 2. Fassung: 1856). 2 Liszt, An die Künstler, Vorwort des Erstdrucks der Partitur (Weimar und Berlin 1854): „Der Componist hat es versucht[,] den Strophen, aus dem Schillerschen Gedicht ‚Die Künstler‘ entnommen, ihren erhabenen, erhebenden Character, musikalisch zu verleihen. Ob es ihm gelungen oder nicht, ist nur denen zur Beurtheilung überlassen, welche diesen Character geziemend auffassen und mitempfinden. Gegen den gewöhnlichen Maassstab aber, den man an erheiternde Liedertafelcompositionen zu legen pflegt, sowie gegen die beliebigen Anforderungen der zu jedem Preis vergnügungs- und zerstreuungslustigen Sänger und Zuhörer, muss er sich leider zum voraus bescheidenst verwahren“. 3 Der Erstdruck der Lohengrin-Partitur (Leipzig 1852) erschien mit der Widmung: „Seinem lieben Freunde / Franz Liszt / gewidmet.“ Der sich daran anschließende Widmungsbrief Richard Wagners an Liszt ist wiedergegeben in: RWS 26, S. 106. 4 (Aus dem Griech., eigentlich „Prooimia“) Einleitungen oder Vorreden zu einer Schrift. 5 Siehe Joachims Raffs viel diskutierte Schrift zu Wagners Lohengrin (Raff 1854 Die Wagnerfrage). 1 Franz
Krüger 1855 Liszt „An die Künstler“
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freilich zur Vergangenheit, sind daher dringend verdächtig, von Zukunft nichts zu verstehen.6 Also es sei denn die Vorrede: sit, fiat, maneat ergo!7 – So gebe sie doch einen allermindesten Aufschluss über das Innere. Thut sie’s? Sie thut nichts als böse Kritik abwehren mit der listigen Wendung – mystisch ist sie nicht, aber fein! – : „Ob ihm gelungen, den Schiller’schen Worten u. s. w. ihren erhabenen, erhebenden Charakter musicalisch zu verleihen, ist nur denen zur Beurtheilung überlassen, welche diesen Charakter geziemend auffassen und mitempfinden.“8 Quaeritur9: wer ist „dieser Charakter“? Ist gemeint „der erhabene Charakter Schiller’s“? Dann ist der Satz überflüssig und unverständig. Schwerlich wird der Verfasser sagen wollen: „Nur wer den Sinn des Schiller’schen Gedichtes geziemend mitempfunden, darf [410] diese Compostion beurtheilen“; denn da wäre doch mindestens zu erwägen, ob nicht gar viele begeisterte Verehrer Schiller’s gänzlich ausser Stande sind, sowohl die Liszt’sche als irgend eine andere Musik zu beurtheilen. Ist es nun unglaublich oder unmöglich, dass der Verfasser solchen Unsinn hat schreiben wollen, so bleibt nur das Andere übrig, nämlich es so zu verstehen: „Nur wer diesen Charakter, den künstlerischen Charakter meines Tonsatzes, geziemend auffasst und mitempfindet“ u. s. w., wo wir dann nichts Anderes erblicken als einen Brendel ins Liszt’sche übersetzt, eine Wiederholung des denkwürdigen Satzes in Brendel’s neulich beurtheilten10 Büchlein: „Die Musik der Gegenwart“11 u. s. w., S. 216: – – weil nur der zum Tadel ein Recht besitzt, der zuvor durch Anerkennung des Positiven den Beweis geliefert, dass er zu innigerem Verständnisse gelangt ist;12 Das heisst: Lobst du mich, so ist’s gut; verwirfst du mich, so bist du unzurechnungsfähig. – Sollten aber jene Worte noch ein Drittes bedeuten können (was uns freilich grammatisch unmöglich scheint), nun, so wird uns ja die richtige Bedeutung wahrscheinlich bald von Weimar her telegraphirt werden. Bedeuten sie aber das hier aufgestellte Zweite, so sprechen sie eine bodenlose Selbst-Ueberschätzung aus, dergleichen an dem Franzosen Berlioz Niemanden überrascht, am Deutschen aber Niemand bisher gewohnt war. Fast fürchten wir, richtig verstanden zu haben; denn das Motto über der ersten Partitur-Seite: „Was schöne Seelen schön empfunden, muss trefflich und vollkommen sein“13, lässt schwerlich eine andere Deutung zu. Wir dürfen bei der Vorrede verweilen, eben weil das Vorredenschreiben nun einmal ein „Ereigniss, eine befreiende That“14 der Neuzeitlichen geworden; wie 6 Anspielung
auf die von Brendel immer wieder geäußerten Anschuldigung, die Ursache der Ungunst gegenüber der modernen und fortschrittlichen Musik läge an der mangelnden Verständnisfähigkeit der Kritisierenden, also allein darin, dass diese Kunst noch immer missverstanden würde. 7 (Lat.) Es sei, es werde, deshalb soll es bleiben. 8 Liszt, An die Künstler, Vorwort der Partitur, siehe Anm. 2. 9 (Lat.) Es wird gefragt. 10 Die umfangreiche, von Brendel selbst in Auftrag gegebene Rezension seiner Schrift durch Richard Pohl wurde in der NZfM über den Zeitraum der zweiten Jahreshälfte 1854 sowie abschließend zum Jahresende 1855 veröffentlicht (Pohl 1854 Betrachtungen über die Musik der Gegenwart, in: NdS 1 Nr. 68). In der Niederrheinischen Musik-Zeitung rezensierte Krüger das Buch gemeinsam mit der neuesten Schrift von Adolf Bernhard Marx (Krüger 1855 Marx und Brendel, in: NdS 2 Nr. 79). 11 Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart. 12 Ebd., S. 216. 13 Diese Worte der letzten Strophe von Schillers Gedichts Die Künstler (ED 1789) stellte Liszt seiner Komposition An die Künstler auf der ersten Partiturseite voran. 14 Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 190: „Was aber Wagner einzig macht, was ihn an die
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denn auch Brendel rühmt im genannten Buche, S. 198, dass Wagner sein Vorwort mit besonderer „Liebe, Sorgfalt und Umständlichkeit geschrieben, indem er den Freunden die Entstehungs-Geschichte seiner sämmtlichen Werke erzählt“ u. s. w. Schade, dass Raphael und Mozart solches nicht gethan; wir wären um manches monumentale Kunstwerk ärmer, desto reicher aber gewisslich an Zukunfts-Gedanken-Literatur, an polemischer Rhetorik, an moralisch posaunendem Tantengewäsch, und die Welt wäre noch hohler und leerer, als sie schon ist. Ein schlimmerer, rein logischer Uebelstand, der sich auf jene Liszt’sche Vorrede erbaut, ist nun ferner, dass innerhalb der gesungenen Strophen das Wort Künstler gar nicht vorkommt, also ohne Komödien-Zettel Niemand weiss, von wem die Rede ist. Ueber die Erfindung der Komödien-Zettel spricht sich ein gewisser Geheimerrath von Göthe, der auch in Weimar gewohnt hat, aber vielleicht nicht auf dem berechtigten Standpunkte stand, etwa folgender Maassen aus: „Es ist unerträglich, im Theater auf dem Zettel nachzusehen, was für Personen das sind, die da auf der Bühne arbeiten; denn an den wirklichen Menschen, die da schauspielern, ist der Kunst-Empfindung nichts gelegen, und den Zusammenhang der Thatsachen, so wie die Namen der poetischen Personen muss man aus dem Stücke vernehmen, sonst taugt es nichts. Die Griechen in ihrer grossen dramatischen Zeit hatten keinen KomödienZettel und verstanden ihren Sophokles vielleicht darum desto besser u. s. w.“15 Gewiss! wenn ich in die Gemälde-Galerie gehe und verstehe – bei übrigens offener Seele und mässiger Kunstbegabung – den Inhalt eines Gemäldes ohne Katalog nicht, so wird die Schuld des Unverstandes öfter beim Maler als beim Beschauer liegen. Dessgleichen in der Tonkunst; wo die Religion nicht dringend sitzt, was hilft da die bleierne Ueberschrift Adagio religioso, oder Amoroso, oder Appassionato, oder sonstige Parenthesen-Poesie, dergleichen der jugendliche Schiller z. B. in den Räubern, im Fiesco u. s. w. so überreichlich hat?16 Wird dadurch die Sache klarer, nämlich das Kunstwerk und die Schönheit? und müssen die Hörer, um zu hören, zuvor gelesen haben? Oder sollen sie sich allzeit auf einen zur Seite stehenden Cicerone17 verlassen, bei dessen Ermangelung sie lediglich auf Unverstand und Missverstand angewiesen sind? Oder werden etwa Hogarth’s Caricaturen18 besser, wenn sie einen Zettel aus dem Halse hangen haben mit Pass, Signalement, Geschichte, Vorrede, Rechtfertigung und Berechtigung darauf? Vielleicht mögen sie so prosaisch deutlicher werden; aber auch wirksamer, schöner, auf dass die Kunst eine Wahrheit werde19? – Ein Beweis, wie weit unsere „tiefbewusste Aufklärung“ bereits gediehen ist, mag wohl darin gesehen werden, dass manche Schulmeister ihre Kinder lassen die Ueberschriften im
Spitze unserer Zeit stellt, ist die keinem Anderen in diesem Grade verliehene Schöpferkraft, welche ihn befähigte, nicht blos den Bruch auszusprechen, sondern auch die positive, befreiende That folgen zu lassen, ist die Entdeckung einer wahrhaft neuen Welt für die Kunst“. 15 Konnte bei Goethe so nicht nachgewiesen werden. 16 Durch Regieanweisungen differenzierte Schiller u. a. in seinen Dramen Die Räuber (UA 1781) und Die Verschwörung des Fiesco zu Genua (UA 1783) Befinden, Stimmungen und Affekte der handelnden Personen. 17 Fremdenführer. 18 William Hogarth (1697 –1764), englischer Maler, entwickelte durch seine sozialkritischen Gemälde und Kupferstiche eine frühe Art der Karikatur. 19 Mosewius 1852 Johann Sebastian Bachs MatthäusPassion, S. 25. Zur näheren Erläuterung des Zitats auch in Bezug auf Krüger siehe Anonym 1854 Richard Wagner, in: NdS 1 Nr. 63, Anm. 9.
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Lesebuche laut vorlesen, nicht bedenkend, dass diese gleich dem Umschlage bloss eine Handhabe für das Auge sind. Wer die (satz- und tonlose) Ueberschrift laut spricht, der muss consequenter Weise auch die Seitenzahl, das Komma und Punktum mit sprechen, wie jenes Kind sprach: „Aller Augen warten auf dich Komma Herr Ausrufungszeichen – “20, [411] oder gewissenhaft sagen, wie jener verunglückte Candidatus theologiae: „Predigt am 13. Trinitatis. – Wir haben heute das Evangelium – “ u. s. w. Genug von dieser Theorie der Ueberschriften, Vorreden und Komödien-Zettel. Sie war nicht überflüssig, da eben die Schule der Neuzeit und Zukunft auf derlei Zuthathen Gewicht legt. Sollte sie aber dennoch dem musicalischen Blatte fremd erscheinen, so müssen wir dagegen versichern, dass die Liszt’sche Composition aller Tonseele eben so fremd ist, wie jene Grammaticalien dem Generalbass. Vielleicht dass uns der Maassstab fehlt, oder die Berechtigung, oder die Auffassung und Mitempfindung – aber für jeden gerade gewachsenen Menschen, der nicht eben in der weimar-leipziger Schule21 orthopädisirt ist, muss dieses verrenkte Zeug abgeschmackt und entsetzlich erscheinen – um desto mehr, weil es nicht einmal so viel Geist und Erfindung besitzt wie die Tannhäuser-Ouverture, in welcher sich doch wirklich acht Tacte wahrer Melodie befinden. Die Liszt’schen Künstler beginnen22
vollkommen unmelodisch und unbegreiflich; man könnte eben so gut jene Sforzandissimi-Circumflexe über einen Pauken- oder Triangel-Solo setzten. Der Gesang hebt an: 23
welche Phrase, kaum geboren, in weit entlegener Modulation transponirt wird, um den ohnedies ausgegorenen Tenören unserer Zeit bei hoher Stimmung noch das gehaltene ais zuzumuthen. (Am Schlusse des Ganzen muss sogar der Chor zwei Tacte lang ff das eingestrichene h aushalten!!). „Der Dichtkunst heilige Magie“ wird S. 14
20 In
Anlehnung an den Psalm „Aller Augen warten auf dich, Herre“ (Ps 145, 15). 21 Mit „weimar-leipziger Schule“ ist der maßgeblich durch die NZfM vertretene Kreis gemeint. 22 Liszt, An die Künstler, Partitur, T. 1– 4. 23 Ebd., T. 15 – 20 [die hier abgedruckten Ton- und Harmonieverläufe unterscheiden sich vom Original].
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der Partitur24 in allerlei vertrackten Quint-Sexten und überspannten Septimen umsungen, dazu mit chromatischem Geigen-Gewimmer durchflochten, dass es einem übel und weh wird, wie bei der Valse diabolique25 des selbigen Componisten. Die „grosse Harmonie“ des Dichters wird S. 19 zu einer ungeheuren Ohrfeige:26
Der „Kamönen Chor“ (S. 21, 22)27 unket wie ein Chor von Eulen – aber was hilft’s? Der Zweck ist erreicht: diese Kunst, „furchtbarer noch in ihres Reizes Hülle – sie rächet sich an des Verfolgers Ohr!“ (S. 24, 25.)28 Ja, gewiss. Nachdem wir diese Phrasen an uns haben ergehen lassen, sind wir hinlänglich bestraft, die Rache ist vollzogen, unsere Silenen-Ohren sind aller Sirenen-Töne der VorzeitII verlustig gegangen, wir wissen nicht, wo uns das Ohr steht, oben oder unten – – halten wir aber aus bis ans Ende, bis zum „Thron der hohen Einigkeit“, dann werden wir gekrönt und beschenkt mit folgender Invention, um welche uns die Altzeit beneiden wird29:
Sehen wir ab von der sinnlosen, verwirrenden Orthographie der dritten Stimme im zweiten Tacte, von der überflüssigen Noten-Wechselreiterei durch enharmonischen [412] Schnadahupferl30 (aus Gis in As), von der gräulichsten Fortschreitung aus
II Muss
man nicht auch inskünftig sagen (analog mit Jetztzeit, Neuzeit) „Altzeit“, „Gesternzeit“, statt des altväterisch gesunden Wortes Vorzeit? T. 44 – 47. 25 Liszt, Réminiscences de Robert le Diable S 413 (EZ 1841). 26 Liszt, An die Künstler, Partitur, T. 88 – 92. 27 Ebd., T. 107 –110 und T. 117 –120. 28 Ebd., T. 124 –144. 29 Ebd., T. 261– 273. 30 Oberdeutsche Bezeichnung eines für Gesang bestimmten Sprüchleins, 24 Ebd.,
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Des-dur nach E-dur und G-durIII, sehen wir von allem ab, was nicht abzusehen ist, so bleibt dennoch als Residuum die Frage: Ist das nun die Allkunst der Neuzeit? So ist sie mindestens logisch unbegreiflich, da die Begriffe „Einigkeit, Thron, Umarmung“ u. s. w. doch wohl nicht mit zerreissenden, unbegreiflichen, wahnwitzigen Accordsprüngen darzustellen sind. Oder wär’s dennoch „Sonderkunst der Gesternzeit“31? und es scheint freilich Musik zu sein; denn es sind Noten drinnen und gar viele Kreuze und Been, Geigen, Harfen, Pauken und lange Partiturstriche – – nun, dann suchen wir und fragen nach einem Melodie-Tröpflein, so gross wie der Augapfel einer Mücke, und finden keines. Sollten etwa die Anklänge an die Kirchentöne, welche sich in den tollen Accordsprüngen verbergen, von den Meistern der Schule als Allsonderthum oder Sonderallthum gepriesen werden, so meinen wir denn doch, dass solches Spielwerk mit ernsten Dingen zeigt, wie wenig die landläufigen Zeitbegriffe von Gegenwart, Zukunft, Vergangenheit, Historie u. s. w. ernst gemeint und innerlich erlebt sind. Bei aller Kühnheit der kirchentonigen Accordfolgen ist doch in jenen alten Tonsätzen Vernunft und Klarheit vorhanden; hier fehlt Beides; es ist nichts als Farbe in Farbe gerieben, ohne Bild und Gestalt, ohne Nothwendigkeit, ohne Glauben an die Wahrheit der Tonarten, ohne Schönheit. Ernstlich gesprochen: Glaubt nun wirklich der berühmte Mann, der Fürst der Pianisten, mit dem Gewichte seines Namens und seiner literarischen Helfershelfer der bisherigen Musik eine neue Wendung gegeben zu haben? Gewiss kann, wer an so hoher Stelle steht, wie er, viel leiten und – viel verderben. „Gar leichtlich verlieren sich die Künste, aber gar schwerlich werden sie wieder erworben!“ – Was Liszt Verdienstliches hat, was er für die TechnikIV wirklich geleistet, wird unverloren sein für alle Zeit. Genial aber, schöpferisch in lebenskräftiger Weise hat er sich bisher nirgend erwiesen. So bleibe sein Verdienst in Anerkennung (damit auch wir nach dem Canon Brendel’s ein Wort mitsprechen dürfen, da nur „Anerkennende“ das Recht haben, zu urtheilen33), aber seine Thorheit werde gegeisselt, wie sie es verdient. DIXI.
gesagt: Der Melodie-Schritt der Oberstimme am Schlusse: f gis h ist ein Schritt per tritonum – Mi contra fa, eine kleine Quinte! Dergleichen soll schön sein? – Neu – vielleicht! IV Doch auch wer solches Verdienst anerkennt, braucht nicht über alles, was Liszt gethan, in Entzücken zu gerathen, wie jener sonderliche Verehrer W. Lenz, der in d. Bl. (1853, Nr. 19, S. 147, Sp. 2) erzählt, wie Liszt den Fingersatz des Scherzo in der Mondschein-Sonate sonderlich geistreich und neu genommen!32 Schreiber dieses hat schon vor dreissig Jahren ganz denselben gebraucht, weil jeder andere unnatürlich und schwierig ist; auch erinnert er sich nicht, jemals anderen Fingersatz an dieser Stelle gesehen zu haben. III Nebenbei
meist improvisiert und gewöhnlich aus zwei oder vier Zeilen. 31 In Gegenüberstellung zum Werktitel Das Kunstwerk der Zukunft (1850) von Wagner. 32 „und er [Liszt] setzte sich hin, das Scherzo so zu spielen, wie es jenes wunderbare Orchester gespielt haben würde […] Liszt (achtzehn Jahre alt) fand mir auf der Stelle den richtigen Fingersatz. […] Ei, rief er [Chopin], damit kann man ja die ganze Claviatur hinabsteigen, wie ein Krebs, der nach seinem Bache zurückgeht: ihr Fingersatz ist trefflich, ich werde ihn benutzen“ (Anonym 1853 W. von Lenz über Beethoven, S. 147). 33 „Die Verständigung über diesen Punkt [über einige Partien im ‚Tannhäuser‘, welche nicht auf
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Kommentar Auch wenn die Veröffentlichung des vorliegenden Beitrags Eduard Krügers alias „DIXI.“34 durch keinen konkreten Anlass motiviert zu sein scheint, ist es auffällig, dass die Publikation des Artikels genau in die Auseinandersetzung der musikalischen Fachpresse und speziell der Niederrheinischen Musik-Zeitung mit dem aufsehenerregenden Berliner Konzert Liszts am 6. Dezember 1855 fiel. Die Kölner Zeitung hatte sich mit einer Reihe von drei kritischen Beiträgen35 an der intensiv geführten Auseinandersetzung um Liszts ersten Auftritt mit eigenen symphonischen Werken in einer deutschen Metropole beteiligt.36 Der zweite dieser drei Beiträge, der Wiederabdruck einer kritischen, wenn auch milderen Rezension aus der Tagespresse, erschien in derselben Nummer wie der vorliegende Artikel. Ziel dieses Wiederabdrucks war es, laut einer redaktionellen Anmerkung der Niederrheinischen, den Vorwurf zu entkräften, sich als Partei-Blatt der Konservativen präsentieren zu wollen. Doch kann der obige Artikel Krügers mit seiner überspitzen Polemik, der extremen Wertung der Werke Liszts, der durch Notenbeispiele exemplifizierten Kritik auf andere Komponisten und seinen Parteizuschreibungen als eine von klassizistischer Seite typische Stellungnahme im Streit um die zeitgenössische Musik und geradezu als Zeugnis der Stärkung klarer Fronten gesehen werden. Da bereits in der nächsten Nummer der Niederrheinischen ein massiver Verriss der Symphonischen Dichtungen Liszts erschien,37 ist allerdings die Glaubwürdigkeit der redaktionellen Verlautbarung einer objektiven und parteiungebundenen Kritik etwas fragwürdig. Die von Krüger rezensierte Kantate Liszts wurde seit ihrer Uraufführung am 3. Oktober 1853 beim Karlsruher Musikfest bereits mehrfach gespielt und als eines der ersten aufgeführten symphonischen Werke Liszts überhaupt sehr häufig und sehr kontrovers beurteilt.38 Auf beiden Seiten der Kritik wurde die Kantate vielen zum Inbegriff von Liszts ‚Zukunftsmusik‘ und „Neuheit“39 bezüglich Harmonie, Bau, Malerei und Stimmungskontrasten. Sogar ein Liszt-Verehrer wie Richard Pohl betrachtete die Kantate als „gewagteste“ und „schwierigste Composition“, die ihm lediglich für ein „gebildete[s] musikalische[s] Publikum“40 geeignet erschien.
gleicher Höhe mit dem Ganzen stehen] würde keine Schwierigkeiten gemacht haben, wenn die Gegner wirklich hätten eingehen, zunächst den Fortschritt anerkennen, wenn sie hätten einsehen wollen, dass nur der Tadel ein Recht besitzt, der zuvor durch die Anerkennung des Positiven den Beweis geliefert hat, dass er zu einem innigeren Verständnis gelangt ist“ (Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 216). 34 (Lat.) Ich habe gesprochen. Weitere Erläuterung zum Pseudonym von Eduard Krüger siehe Kommentar zu Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, in: NdS 1 Nr. 66. 35 Engel 1855 Berliner Briefe [Das Liszt-Konzert], in: NdS 2 Nr. 82; – n – 1855 Das Liszt-Concert in Berlin (als Wiederabdruck des Artikels Anonym 1855 Das Liszt-Concert in Berlin aus der Vossischen Tages-Zeitung sowie C. H. 1856 Neue Compositionen von Franz Liszt). 36 Näheres zu diesem Konzert siehe Engel 1855 Berliner Briefe [Das Liszt-Konzert], in: NdS 2 Nr. 82. 37 C. H. 1856 Neue Compositionen von Franz Liszt. 38 Siehe beispielsweise die positive Rezension Emanuel Klitzschs, in der er der Kantate das Verhältnis vom poetischen Gehalt zu seiner Wirkung und vom Text zum Inhalt in einer kurzen musikalische Analyse mit Notentext analysiert (Klitzsch 1855 Franz Liszt. An die Künstler). 39 A. Z. 1853 Das Musikfest in Karlsruhe, S. 340. 40 Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe II, S. 169.
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Die Anmerkung der Redaktion im vorliegenden Artikel gibt die allgemein zwiegespaltene Wahrnehmung von Liszt als Komponist wieder und legt die Vermutung nahe, die Niederrheinische habe Liszts Kompositionen nicht gleich nach Erscheinen be- oder eben verurteilen wollen, da man ihn als Pianisten nach wie vor hoch respektierte. In dieser Hinsicht kann auch Krügers Zuschreibung gewertet werden, Liszts Schaffen erst jetzt in die Reihe der „schülerhaften Zukunfts-Bestrebungen“41 aufzunehmen. Seine Angriffe galten zuvor den seiner Meinung nach sozialistisch anmutenden und „hochmüthigen Speculanten der Zukunft“42 im Umkreis von Brendels NZfM, worunter zunächst Berlioz, Meyerbeer, insbesondere Wagner, aber auch Schumann und Brahms zählten. Krügers Kritik richtet sich zum einen gegen die abschätzig als „Komödien-Zettel“43 bezeichneten Programme und das von Brendel propagierte Verfassen der Werk-Vorreden von Liszt, Wagner und Berlioz, welches allein zur Verteidigung der Kompositionsideen diene und von Krüger sarkastisch als „That der Neuzeitlichen“44 bezeichnet wird. Trotz seiner musikalischen Analyse, die merkliche Werk- und Fachkenntnis beweisen, argumentiert Krüger mit typischen Vorwürfen der Gestaltlosigkeit, Unwahrheit, fehlender Schönheit der Komposition und führt auch viele der sonst gegen die moderne Musik hervorgebrachten Einwände wie Kritik am harmonischen Verlauf, auf Effekt bedachte Tonmalerei und Melodienarmut an. Auch lässt er den historischen Rückgriff nicht aus, dass die Werke Sophokles’, Raffaels und Mozarts ebenfalls keiner Programme oder Erklärungen bedurft hätten. Charakteristisch sind außerdem die geballt auftretenden Überzeichnungen Krügers von seinen der „Schule“ zugeschriebenen Begriffen wie „Allkunst“, „Sonderkunst“, „Neuzeit“ und „Gesternzeit“,45 die vor dem Hintergrund seiner Äußerungen aus dem Vorjahr verstanden werden können, in denen er die Begriffe „Sonderkunst“ und „Allkunst“ „nach dem Sinne der Schule“ ironisch erläuterte: „Die Sonderkunst, als z. B. die für sich wirkende sonderlich schöne Malerei, Bildkunst, Tonkunst etc., soll aufhören, dem neuen Begriffe der neuen Welt entspreche dieses Sonderliche nicht mehr; alles Sondere muss dem Allgemeinen sich ergeben, aufgelöst im All, sind alle Sonderheiten dienende zu sein bestimmt, während sie bisher in der zöpfischen Kunst der Vergangenheit herrschende waren“46. Es gilt festzuhalten, dass Krüger seinem Versuch einer künstlerischen Einordnung der Kantate Liszts den zuvor insbesondere auf Brendel und Wagner bezogen Terminus der „Schule“ nun auch mit Liszt in Verbindung bringt.47
Artikel, S. 1034 [409]. 42 Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, S. 123, in: NdS 1 Nr. 66, S. 702. 43 Vorliegender Artikel, S. 1036 [410]. 44 Ebd. 45 Siehe ebd., S. 1039 [412]. 46 Anonym 1854 Richard Wagner, S. 57 f., in: NdS 1 Nr. 63, S. 672. Mit dem vorliegenden Artikel Krügers endet vorerst die in den Jahren 1854 und 1855 auffällige Häufung der anonym oder mit „DIXI.“ gezeichneten, meist polemischen Beiträge Krügers (siehe u. a. Anonym 1854 Richard Wagner; in: NdS 1 Nr. 63, Krüger 1854 Heutige Kunstzustände, in: NdS 1 Nr. 66; Krüger 1854 Ueber Musik-Literatur; Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67; Krüger 1855 Sonderliche Gedanken, in: NdS 2 Nr. 74). 47 Siehe vorliegender Artikel, S. 1037 [411]. 41 Vorliegender
Nr. 85 | A. de Corvin, „Orphée et Prométhée par F. Liszt“, in: RGMP 22 (1855), Nr. 45 [45. KW = 5.–11. November], S. 352 f.1
Orphée et Prométhée Par F. Liszt
En arrivant à Brunswick, le 18 octobre, je trouvai toute la ville en émoi, au sujet d’un concert où Liszt devait faire exécuter deux de ses poëmes symphoniques: l’Orphée et le Prométhée. De toutes les villes environnantes était accourue l’élite des artistes de cette jeune Allemagne qui a écrit sur sa bannière: Musique de l’avenir. Cette solennité faisait partie de la série des concerts qui se donnent annuellement dans la plupart des villes d’Allemagne par souscription d’abonnés, sous la direction d’un maître de chapelle spécialement chargé de ces fonctions, ou d’un chef d’orchestre du théâtre. Dans certaines villes, à Leipzig par exemple, ces sortes d’établissements ont acquis une célébrité européenne, et pas un artiste en France ou en Angleterre n’ignore quelle espèce d’autorité exerçait Mendelssohn au Gewandhaus. Berlin possède plusieurs associations de ce genre, et Brunswick jouit d’une renommée toute particulière pour l’excellence de son orchestre et le goût éclairé de son public. C’est à Brunswick, en effet, que Berlioz rencontra pour la première fois en Allemagne cet enthousiasme chaleureux et sympathique qui l’attendait plus tard dans d’autres capitales d’outre-Rhin. Aussi, Liszt, invité à diriger le concert qui nous occupe en ce moment et à en fixer le programme, n’a pas manqué d’y placer en tête la première ouverture de Benvenuto Cellini, l’une des œuvres de Berlioz qui est restée moins généralement connue, quoiqu’elle ne cède en rien pour la pompe et l’éclat du style, comme pour les qualités de composition et de finesses harmoniques, à l’ouverture du deuxième acte, si populaire sous le nom de Carnaval romain. On a écouté ce morceau avec une attention d’autant plus soutenue, qu’il avait partagé le sort de l’opéra, traité avec une si injuste sévérité à Paris et à Londres, ce qui ne l’empêchera pas de prendre sa revanche en Allemagne, où Liszt l’a fait monter pour la première en 1852 sur le théâtre grand-ducal de Weimar. A Brunswick, un éditeur artiste, M. Litolff-Meyer entreprend en ce moment la gravure de la petite partition de cet ouvrage remarquable et encore inédit, que Liszt a si justement appelé le nouveau Fidelio, comparant ainsi du même coup les oppositions rencontrées par ces deux opéras, et leur incontestable mérite. Le second numéro du programme était occupé par un concerto symphonique pour piano et orchestre, composé et exécuté par M. Henri Litolff. Ce morceau
1 Dem
originalen Artikel folgt eine deutsche Übersetzung, die vollständig annotiert und kommentiert ist. Aus dem Französischen übersetzt von Dr. Corinna Ortuño-Stührung.
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a obtenu un très-grand succès, que justifiait pleinement le jeu inappréciable de cet artiste distingué. M. Litolff, Anglais de naissance, joint à un talent du premier ordre le prestige d’une vie tourmentée et romanesque, qui lui a valu une sorte de renommée fantastique parmi les enfants de la placide Germanie. Un jour peut-être nous pourrons initier le lecteur à quelques-unes des phases de cette existence extraordinaire; mais pour le moment nous passerons aux deux poëmes symphoniques de Liszt, que le nombreux auditoire attendait avec une vive impatience. Ces deux productions font partie de l’ensemble des poëmes symphoniques que Liszt, le représentant, le chef et le soutien de la nouvelle école, et dont le nom est devenu inséparable de ceux de Wagner et de Berlioz, fait graver chez Martel à Leipsig [sic], et pour lesquels il a choisi le chiffre significatif de neuf, en mémoire des neuf muses, des neuf livres d’Hérodote et des neuf symphonies de Beethoven. Entre l’une et l’autre il y a toute la différence qui existe entre le chantre divin et l’orgueilleux Titan, ces sublimes symbolisations de la fable antique. Dans la première, tout est doux et suave. Orphée ne peut apparaître à travers les âges qu’au milieu d’une atmosphère éthérée et radieuse d’amour et d’harmonie. La paix et la concorde coulent de ses lèvres et s’échappent des accents inspirés de sa lyre, dont les accords touchants font oublier à l’hommes ses passions, à la brute ses instincts, à l’enfer ses fureurs. La pierre même que lance la main d’une ménade irritée s’arrête vaincue et vient tomber suppliante aux pieds du poëte. Ac veluti supplex pro tam furialibus ausis, Ante pedes jacuic … Il semble qu’à sa voix tout doive se taire dans la nature, qui écoute, attentive et recueillie, les sons de cette lyre immortelle comme l’art, éternelle comme la mission. Les rugissements s’apaisent, les gazouillements n’osent se faire entendre, le vent semble retenir sa bruyante haleine, la harpe domine tout de ses accords. Telle est la puissance civilisatrice de l’art que Liszt paraît avoir choisie comme caractère dominant de cette donnée musicale. A mesure que cette symphonie, qui ne dépasse pas les proportions habituellement adoptées pour une ouverture, avance vers sa fin, il se fait une lente dégradation de sonorité, et au moment où les dernières notes sont déjà exhalées, l’oreille cherche encore à entendre comme une vibration lointaine: frappant emblème de l’éternité de l’art! Le mythe de Prométhée, au contraire, par la grande multiplicité des idées qu’il réveille, par l’énergie et la variété des situations, offrait à l’art musical de grandes difficultés à vaincre; mais, en revanche, c’était une puissante mine d’émotions à exploiter. Personne ne doutait que cette tâche, sympathique au génie fougueux et téméraire de l’auteur, ne l’eût heureusement inspiré. Prométhée, en effet, est le symbole du génie ambitieux et créateur, de l’âme audacieuse rivée aux misères humaines. [353] Les premiers accords nous transportent sur les cimes caucasiennes glacées et arides. Le vent siffle, la tempête gronde, le tonnerre éclate, les démons rugissent, et tous semblent insulter à la grandeur du Titan terrassé. Ces accents désolés ne sont pas moins sombres que les pensées du prisonnier. Quand il se voit chargé de fers pesants, quand il sent l’âpre morsure de l’insatiable vautour, un cri d’angoisse lui échappe, cri strident et désespéré. Il triomphe pourtant de sa douleur; l’espérance renaît dans
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son cœur, et, malgré ses tortures, il trouve encore assez de force pour consoler les Océanides humides de larmes et les Dryades frémissantes, qui viennent se plaindre à lui de l’audace des hommes. Il leur fait entrevoir des horizons plus riants et la grandeur future de sa race chérie. Quelquefois il retombe épuisé; sa poitrine haletante laisse échapper une plainte amère. Mais bientôt, relevant la tête, le Titan lance à Jupiter un anathème menaçant. Soudain on entend des fanfares de triomphe. Ces cris de désolation et d’impuissante fureur, d’où viennent-ils? C’est Alcide victorieux qui fait rendre au ténébreux Érèbe ses victimes que depuis si longtemps il entassait dans ses terribles profondeurs. Hercule abat le vautour, brise les fers du Titan, et tous deux entonnent un hymne de délivrance d’une incomparable énergie. Tel est le Prométhée, telles sont les idées que Liszt avait à rendre palpables, en quelque sorte. Il s’est montré, dans cette circonstance, ce qu’il est, ce qu’il sera toujours: un grand artiste et un grand poëte. Au résumé, cette musique, qu’il faut étudier mûrement avant de pouvoir bien la juger, est d’une grande nouveauté de style. La hardiesse des combinaisons étonne d’abord le public et lui impose. Quels qu’en soient les défauts ou les qualités, le moment n’est pas venu de les juger, puisque ces ouvrages n’appartiennent point encore à la publicité. Cependant, il faut le dire, on ne peut les entendre sans les écouter, ni les écouler sans y rêver. A. de Corvin
Orpheus und Prometheus. von F. Liszt
Als ich am 18. Oktober in Braunschweig ankam, fand ich die ganze Stadt in Aufregung wegen eines Konzertes, in dem Liszt zwei seiner Symphonischen Dichtungen spielen sollte: Orpheus und Prometheus.2 Aus allen Städten der Umgebung war die Elite der Künstler dieses jungen Deutschlands zusammengekommen, die sich auf ihre Banner geschrieben hatte: Zukunftsmusik [Musique de l’avenir ]. Diese Feierlichkeit war Teil der Konzertreihe, die jährlich in der Mehrheit der deutschen Städte unter Abonnentenbezug gegeben wird unter der Leitung eines Kapellmeisters, dem speziell diese Aufgaben übertragen wurden oder eines Orchester
2 Liszt leitete bei diesem Konzert am 18. Oktober 1855 neben seiner Symphonische Dichtung Nr. 4 Orpheus S 98 (UA 1854) auch die dortige Uraufführung seiner Symphonischen Dichtung Nr. 5 Prometheus S 99. Für die Eröffnung wählte er die Ouvertüre zu Berlioz’ Oper Benvenuto Cellini, welcher Henry Charles Litolffs (1818 –1891) selbst aufgeführtes Concerto symphonique Nr. 4 d-Moll op. 102 (EZ 1851/1852) folgte.
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leiters des Theaters. In einigen Städten, in Leipzig zum Beispiel, haben diese Art von Einrichtungen europäische Berühmtheit erlangt und nicht einem Künstler in Frankreich oder in England ist unbekannt, welche Autorität Mendelssohn im Gewandhaus ausübte.3 In Berlin gibt es mehrere Zusammenschlüsse dieser Art4 und Braunschweig genießt einen ganz besonderen Ruf hinsichtlich der exzellenten Fähigkeiten seines Orchesters und des aufgeklärten Geschmacks seines Publikums.5 In Braunschweig war es tatsächlich auch, wo Berlioz in Deutschland zum ersten Mal der warmherzige und sympathische Enthusiasmus begegnet, auf den er später auch in anderen Hauptstädten jenseits des Rheins treffen wird.6 Auch Liszt, der geladen war, um das Konzert, das uns im Moment beschäftigt, zu dirigieren und das Programm festzulegen, hat es sich nicht nehmen lassen, an den Anfang die erste Ouvertüre aus Benvenuto Cellini7 zu setzen, eines der Werke von Berlioz, das eher unbekannt geblieben ist, obgleich es in keiner Weise weder auf den Pomp und Glanz des Stils, noch auf die Qualität der Komposition und die harmonischen Finessen verzichtet, besonders in der Ouvertüre des zweiten Aktes, die
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Leipziger Gewandhaus etablierte sich bereits zum Ende des 18. Jahrhunderts unter dem Namen „das große Konzert“ eine Abonnementveranstaltung mit 24 Aufführungen pro Jahr, die aufgrund ihrer herausragenden künstlerischen Qualität wie auch des publikumswirksamen Programms mit großen symphonischen Werken zunehmend breite Anerkennung erlangte. Das Format, das bis in die jüngste Zeit Bestand hat, wurde von so einflussreichen Dirigenten wie Felix Mendelssohn Bartholdy (1835 –1847), Ferdinand Hiller (1843 –1844), Niels Wilhelm Gade (1844 –1848) und Julius Rietz (1848 –1860) geprägt. 4 Hier ist insbesondere die 1791 gegründete „Sing-Akademie zu Berlin“ zu nennen, die, als die älteste gemischte, nicht-höfische Chorvereinigung weltweit gilt, im 19. Jahrhundert speziell dem Bürgertum Zugang zu geistlicher Musik außerhalb der Kirche in ihrem eigenen Konzerthaus ermöglichte. 5 Die bereits 1587 gegründete herzogliche Hofkapelle Braunschweig hatte sich zu Beginn der 1850er Jahre die Konzertgestaltung der Berliner Sing-Akademie zum Vorbild genommen und veranstaltete regelmäßig große Symphonie-Konzerte, zu deren organisatorischen und künstlerischen Umsetzung sie anerkannte Dirigenten von außerhalb einlud (vgl. u. a. Litolff 1855 Ein offener Brief). 6 Sein erstes deutsches Konzert führte Berlioz bereits 1839 nach Braunschweig, wo er seine Ouvertüren King Lear und Les Francs-Juges (Die Vehmrichter) aufführte. Wolfgang Robert Griepenkerl veröffentlichte vier Jahre später eine ganze Broschüre mit dem Titel Ritter Berlioz in Braunschweig, in der er sowohl von dieser Aufführung und der gespaltenen Publikumsreaktion als auch von dem nächsten, 1843 ebenfalls in Braunschweig realisierten Konzert Berlioz’ mit einer Reihe eigener Werke, darunter auch die Ouvertüre zu Benvenuto Cellini sowie Harold en Italie, berichtete (siehe Griepenkerl 1843 Ritter Berlioz). Von Oktober bis Dezember 1853 konzertierte Berlioz in mehreren deutschen Städten wie Karlsruhe, Hannover, Bremen und Leipzig und löste mit seinem Werk La Damnation de Faust u. a. auch in Braunschweig große Begeisterung aus. Seine nächste große Deutschlandtournee im Frühjahr 1854 verhalf ihm außerdem zu einer Reihe von Konzerten in Dresden, die nach dem Urteil von Hans von Bülow „zu einem der leuchtendsten Triumphe [wurden], die Berlioz je in Deutschland gefeiert hat“ (Brief Hans von Bülow an Liszt vom 29. Juni 1854, in: Liszt-Briefe, Bülow, S. 91). In seinen Memoiren vermerkte Berlioz: „Herr von Lüttichen, der Intendant des Königs von Sachsen, schlug mir die Dresdener Kapellmeisterstelle vor“ (Berlioz-Werke (literarisch) 2, S. 312). 7 Berlioz, Benvenuto Cellini (UA 1838). Nach der erfolglosen Pariser Uraufführung und einigen weiteren missglückten Aufführungen wurde die Oper in Frankreich sofort abgesetzt und gelangte erst 14 Jahre später, 1852, im Rahmen der sogenannten Berlioz-Festwoche in Weimar unter Liszts Leitung und in der extra angefertigten deutschen und gekürzten, Weimarer Fassung wieder zur Aufführung (siehe Bülow 1852 Aus Weimar sowie Brendel 1852 Ein dritter Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 37).
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unter dem Namen Carnaval romain8 bekannt geworden ist. Wir haben dieses Stück mit so anhaltender Aufmerksamkeit verfolgt, wie er das Schicksal der Oper gespalten hat, welche mit einer so ungerechtfertigten Strenge in Paris und in London behandelt wurde,9 was ihn aber nicht davon abgehalten hat, sie in Deutschland noch einmal aufzuführen, wo Liszt sie zum ersten Mal 1852 im großherzoglichen Theater in Weimar gezeigt hat.10 In Braunschweig nimmt derzeit ein Kunstverleger, Herr Litolff-Meyer, die Gestaltung der kleinen Partitur dieses bemerkenswerten und noch unveröffentlichten Werkes vor,11 welches Liszt richtigerweise den neuen Fidelio genannt hat, da er damit gleichermaßen die aufeinandertreffenden Widersprüche der zwei Opern wie auch ihren unbestreitbaren Verdienst vergleicht.12 An zweiter Stelle des Programmes stand ein Symphoniekonzert für Klavier und Orchester, komponiert und dirigiert von Herrn Henri Litolff13. Dieses Stück ist zu großem Erfolg gelangt, was das unschätzbare Spiel des vornehmen Künstlers vollkommen gerechtfertigt hat. Herr Litolff, von englischer Herkunft, reiht an ein Talent höchster Ordnung ein bewegtes und romanhaftes Leben, was ihm bei den Kindern des gelassenen Germaniens einen fantastischen Ruf eingebracht hat.14 Eines Tages werden wir vielleicht den Leser an einige Phasen dieser außergewöhnlichen Existenz heranführen können, aber für den Moment gehen wir zu den zwei symphonischen Dichtungen Liszts über, welche die umfangreiche Hörerschaft mit lebhafter Un-
Le Carnaval romain op. 9 (Der römische Karneval, EA 1844), Vorspiel zum ersten Akt. die Pariser Uraufführung Benvenuto Cellinis 1838 wie auch die Londoner Erstaufführung 1853, die ebenfalls wie in Paris ein sofortiges Absetzen des Werks zur Folge hatte, konnten der Oper keinen Eingang ins Repertoire verschaffen. 10 Liszt dirigierte Berlioz’ Benvenuto Cellini im März 1852 in Weimar gleich zwei Mal, am 20. März (mit einer Wiederholung am 24. März) und verhalf dem Werk damit nicht zuletzt dank der Berichterstattung in der NZfM zu überregionalem Ansehen. Auf Liszts Anregung hatte Berlioz die Oper für diese deutsche Erstaufführung umgearbeitet, jedoch an der Einteilung in zwei Akten und vier Bildern festgehalten, welche als „Hauptverstoß gegen die Form“ u. a. den unter Wagners Einfluss stehenden Berlioz-Anhänger Bülow zur Kritik am dramaturgischen Aufbau des Werks veranlasste (siehe Bülow 1852 Hektor Berlioz). Für die weiteren Aufführungen im November 1852 fügte sich Berlioz jedoch noch mehreren von Liszts Bearbeitungsvorschlägen, woraufhin Bülow die Neueinteilung und Kürzung von ehemals vier Bildern in drei Akte vornahm. Diese sogenannte Weimarer Fassung Benvenuto Cellinis, die unter Liszt Leitung großen Erfolg hatte, wurde in Klavierauszug und Partitur publiziert und war von da an Grundlage aller weiteren Aufführungen. Erst 1957 griff eine englische Produktion auf die ursprüngliche Pariser Fassung zurück. 11 Der Braunschweiger Verlag Litolff’s, der bis 1856 noch den Namen seines Gründungsvaters Gottfried Martin Meyer im Titel führte und im gleichen Jahr noch in „Henry Litolff’s Verlag“ umbenannt wurde, publizierte die Partitur zu Berlioz’ Benvenuto Cellini Ende 1856. 12 Siehe Liszt 1854 Beethoven’s Fidelio, S. 179, in: Liszt-Schriften 5, S. 14: „Es existiert in unsrer Zeit ein zweiter Fidelio. Ein Werk voll hoher, mächtiger Conception, welche gleichfalls aus dem Geist eines symphonisch großgewordenen Meisters hervorgegangen ist, der aber den Unterschied der dramatischen Behandlung schneller erfaßt, die nothwendigen Erfordernisse und Hülfsmittel derselben gewandter gehandhabt hat, als Beethoven. Wir sprechen vom Benvenuto Cellini des Hector Berlioz.“ Zur weiteren Interpretation der Aussage Liszts siehe Schröder 2012 Beethovenrezeption und die Ästhetik der Intermedialität in den Schriften der Neudeutschen Schule, S. 183. 13 Litolff, Concerto symphonique Nr. 4 d-Moll op. 102 (EZ 1851/1852). 14 Der englische Pianist, Komponist und Musikverleger Henry Litolff wurde in den 1840er Jahren durch sein virtuoses Klavierspiel international bekannt und unternahm – zunächst als Theaterkapellmeister von War8 Berlioz, 9 Sowohl
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geduld erwartete. Diese zwei Produktionen sind Teil der gesamten symphonischen Dichtungen, die Liszt, dessen Name untrennbar mit denen Wagners und Berlioz’ verbunden ist, als Repräsentant, Chef und Unterstützer der neuen Schule bei Martel [sic] in Leipzig anfertigen lässt15 und für die er die bedeutungsschwere Nummer neun ausgewählt hat, im Gedenken an die neun Musen, die neun Bücher Herodots16 und die neun Symphonien Beethovens. Zwischen der einen und der anderen bestehen alle nur möglichen Unterschiede, die zwischen dem göttlichen Kirchensänger und dem hochmütigen Titan, diesen hehren Symbolen der antiken Fabel, existieren können. In der ersten ist alles mild und lieblich. Orpheus kann über die Dauer der Zeiten nur inmitten einer himmlischen und strahlenden Atmosphäre von Liebe und Harmonie auftauchen. Friede und Eintracht rinnen von seinen Lippen und entspringen dem Zungenschlag, der von seiner Laute inspiriert ist, deren Akkorde den Menschen seine Leidenschaften, den wilden Tieren ihre Instinkte, der Unterwelt ihren Zorn vergessen lassen. Sogar der Stein, den die Hand einer jungen erregten Mänade17 wirft, hält untertänig inne und fällt dem Poeten flehend zu Füßen. Ac veluti supplex pro tam furialibus ausis, Ante pedes jacuit …18 Es scheint, als brächte diese Stimme alles in der Natur zum Schweigen, was den Klängen der unsterblichen Laute aufmerksam und andächtig folgt, ebenso die Kunst, ewig wie ihr Auftrag. Das Gebrüll beruhigt sich, das Plätschern verstummt, der Wind scheint sein rauschendes Getöse zurückzuhalten, die Harfe dominiert in allen Akkorden. Darin besteht die zivilisatorische Macht der Kunst, die Liszt als beherrschenden Charakter dieses musikalischen Ereignisses ausgewählt zu haben scheint. Je mehr
schau und ab 1847 von Braunschweig aus – pianistische Konzertreisen in viele europäische Hauptund Großstädte. 1856 verlieh er dem unter seiner Leitung stehenden Braunschweiger Noten-Verlag seinen Namen als „Henry Litolff’s Verlag“. Litolffs kompositorisches Oeuvre umfasst neben drei Opern, einem Oratorium und kammermusikalischen Werken u. a. die sich großer zeitgenössischer Beliebtheit erfreuenden fünf symphonischen Konzerte für Klavier und Orchester. 15 Gemeint ist der Verlag Breitkopf & Härtel. Die Vorankündigung, „dass Liszt 9 Symphonische Dichtungen für Orchester […] in der 2ten Hälfte des März im Leipziger Gewandhaus, vor einem eingeladenen Publikum, in einer Matinée unter seiner Direction aufzuführen beabsichtigt“ und nach erfolgter Aufführung im Leipziger Verlag Breitkopf & Härtel „die Partituren veröffentlicht“ (Anonym 1854 Vermischtes, S. 130), kursierte bereits seit spätestens Mitte März 1854 in den Musikzeitungen, konnte jedoch in der angekündigten Form nicht realisiert werden. 16 Hier ist das neunbändige, auch „Historien“ genannte, einzig erhaltene Geschichtswerk des griechischen Historikers und Geographen Herodot (490/480 – um 424 v. Chr.) aus dem fünften Jahrhundert v. Chr. gemeint. 17 Als Mänaden (griech. mainades, die „Rasenden“) bezeichnete man die Begleiterinnen des Dionysos und der dionysischen Züge der griechischen Mythologie sowie die späteren Anhängerinnen des Dionysos-Kultes. 18 „Legt, als bät’ er in Reu’, zu verzeihn so wütendes Wagnis, / Jenem zu Füßen sich hin“ (Ovid, Metamorphosen, 11. Buch „Tod des Orpheus“, V. 12 f.).
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diese Symphonie, die die gewöhnlich zur Anwendungen kommenden Proportionen einer Ouvertüre nicht überschreitet,19 sich dem Ende neigt, stellt sich langsam ein Rückgang der Klangfülle ein und wenn die letzten Noten gespielt sind, versucht das Ohr noch, sie wie eine entfernte Schwingung zu hören: welch frappierendes Sinnbild der Ewigkeit der Kunst! Der Mythos des Prometheus stellt im Gegensatz dazu die Musik durch die große Vielfalt an Ideen, die er entfaltet, durch die Energie und die Mannigfaltigkeit an Situationen vor schwerwiegende Probleme, ihn zu bezwingen; aber im Gegenzug handelte es sich um eine mächtige Gefühlswallung, die es zu nutzen galt. Niemand zweifelte daran, dass diese Aufgabe, die dem ungestümen und waghalsigen Genie des Autors durchaus sympathisch war, erfreulicherweise inspiriert hat. Tatsächlich ist Prometheus das Symbol des ehrgeizigen und schöpferischen Genies, der kühnen Seele, die untrennbar an das menschliche Leiden gebunden ist. [353] Die ersten Akkorde nehmen uns mit über die eisigen und kargen Gipfel des Kaukasus. Der Wind bläst, das Unwetter grollt, der Donner bricht los, die Dämonen toben und alle scheinen der Größe des überwältigten Titans zuschulden zu sein. Diese trübsinnigen Akzente sind nicht weniger düster als die Gedanken des Gefangenen. Als er sich mit schwerem Eisen beladen sieht, als er den herben Biss des unersättlichen Aasgeiers spürt, entrinnt ihm ein Schrei der Angst, ein schriller und verzweifelter Schrei. Er triumphiert aber über seinen Schmerz; die Hoffnung erwacht wieder in seinem Herzen und trotz seiner Qualen findet er genügend Kraft, um die vor lauter Tränen feucht gewordenen Okeaniden und die erzitternden Dryaden zu trösten,20 die sich bei ihm über die Kühnheit der Menschen beschwert haben. Er lässt sie heitere Horizonte und die zukünftige Größe seiner geliebten Rasse erkennen. Mitunter fällt er erschöpft zu Boden; seine keuchende Brust lässt eine bittere Klage verlauten. Aber bald schon hebt er den Kopf wieder und der Titan legt einen bedrohlichen Bann über Jupiter. Unvermittelt erklingen Fanfaren des Triumphes. Woher kommen seine Schreie der Verzweiflung und der ohnmächtigen Wut? Es ist der siegreiche Alcide (Herakles), der dem finsteren Érèbe (Erebus) seine Opfer bringt, dass dieser sie seit langer Zeit in seinen furchtbaren Tiefen ansammelt. Herkules erlegt den Aasgeier, zerschmettert das Eisen des Titans und beide stimmen eine Hymne der Befreiung von unvergleichlicher Energie an. Das ist der Prometheus, das sind die Ideen, die Liszt in gewisser Hinsicht greifbar zu machen hatte. Er hat sich in diesen Umständen als das gezeigt, was er ist, was er immer sein wird: ein großer Künstler und ein großer Dichter. Resümierend lässt sich über diese Musik, die reiflich studiert sein will, um sie richtig beurteilen zu können, sagen, dass sie eine große stilistische Neuartigkeit dar-
19 Wie alle erst ab 1854 als ‚Symphonische Dichtung‘ bezeichneten Kompositionen Liszts, die bei früheren Aufführungen (1849 –1853) in ihren ersten Fassungen noch als Ouvertüren, Einleitungsund Schauspielmusiken fungierten, war auch Orpheus bei dessen Erstaufführung in einem Weimarer Konzert am 16. Februar 1854 noch als Ouvertüre aufgeführt worden. Als Symphonische Dichtung kam es erstmals am 10. November 1854 auf die Weimarer Bühne. 20 Nach der griechischen Mythologie hielten sich die Okeaniden, als Töchter Okeanos, dem Gott der Flüsse, Meere, Quellen und Brunnen, in den Süßgewässern und Meeren auf. Als Dryaden werden Baumgeister und Waldnymphen bezeichnet.
Corvin 1855 Orphée et Prométhée
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stellt. Die Kühnheit in den Verknüpfungen erstaunt das Publikum zuerst und beeindruckt es. Was auch die Schwächen oder die Stärken sein mögen, hier ist nicht der Zeitpunkt, sie zu beurteilen, da diese Werke der Öffentlichkeit noch gar nicht gehören.21 Dennoch muss man sagen, dass man sie weder verstehen kann, ohne sie zu hören, noch sie hören kann, ohne zu träumen. A. de Corvin
Kommentar Das hier rezensierte dritte Symphonie-Konzert der herzoglichen Hofkapelle Braunschweigs – die häufig berühmte, externe Dirigenten engagiert und auch Liszt eingeladen hatte – nutzte dieser dazu, um dort seine Symphonischen Dichtungen „einzuführen“,22 nachdem im selben Jahr drei weitere Konzerte in den Liszt vertrauten Gebieten Jenas, Weimars und Sondershausens vorausgegangen waren.23 Ab Juli wurde seine große, in vielen Gesichtspunkten Liszts eigenen programmmusikalischem Ideenkonzept gewidmete Abhandlung über Berlioz’ programmatische Komposition Harold en Italie24 publiziert. Im Oktober folgte der hier besprochene Auftritt in Braunschweig, Anfang Dezember konzertierte Liszt schließlich in Berlin, wo er mit fünf eigenen Werken einen ganzen Konzertabend allein füllte.25 Dementsprechend kalkuliert, mutet auch Liszts Zusammenstellung des Braunschweiger Konzert-
21 Sechs
der angekündigten neun Symphonischen Dichtungen wurden erst im Mai 1856 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig veröffentlicht, die weiteren drei im Jahr darauf. Die Programme zu den neun Werken ließ Liszt allerdings bereits 1854 vor der Herausgabe der Partituren unter dem Titel Poèmes symphoniques bei der Weimarer Hof-Buchdruckerei publizieren. Bis zum ersten Schritt an die Öffentlichkeit im November 1855 mit dem Braunschweiger Konzert waren zudem lediglich vier der für März 1854 angekündigten neun Symphonischen Dichtung allesamt in Weimar uraufgeführt worden (Les Préludes, Mazeppa, Festklänge, Orpheus) mit zwei Folgekonzerten in naher Umgebung wie Jena (Orpheus) und Sondershausen (Festklänge). 22 Litolff 1855 Ein offener Brief, S. 389. 23 Die erste Aufführung außerhalb der eigenen Residenz in dem Weimar benachbarten Jena fand am 12. März 1855 im Rahmen der Akademischen Konzerte statt. An dieses im Ganzen recht erfolgreiche Konzert, in dem er seinen noch ungedruckten Orpheus aufführte (weiteres zum Jenaer Konzert siehe Johns 1988 A Concert in Jena; siehe außerdem Anonym 1855 „Weimar, im April“ sowie Anonym 1855 „Jena, im Mai“.), schlossen sich noch zwei Aufführungen in Weimar und Sonderhausen an (siehe u. a. die positive Rezension Damrosch 1855 Weimar – Liszt). Am 21. Mai erklangen die Festklänge zum zweiten Mal unter Liszt in Weimar und im August/September in Sondershausen das erste Mal unter der fremden Leitung Eduard Steins. 24 Berlioz, Harold en Italie op. 16 (EA 1834). Liszts Aufsatz Berlioz und seine Haroldsymphonie wurde von Juli bis August in fünf aufeinanderfolgenden Nummern der NZfM veröffentlicht (Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, in: NdS 2 Nr. 76). 25 Das Konzert fand am 6. Dezember in der Berliner Sing-Akademie statt. Siehe Engel 1855 Berliner Briefe [Das Liszt-Concert], in: NdS 2 Nr. 82.
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programms26 an, um seinen Symphonischen Dichtungen einen möglichst positiven Rahmen zu bieten: Berlioz’ Ouvertüre war bereits als erfolgreiche Konzerteröffnung erprobt, eine durchaus positive Konzertrezension des ortsansässigen Musikkritikers und geschätzten Verlegers Henry Litolff27 war durch die Einbindung und Selbstaufführung einer seiner eigenen Kompositionen zu erwarten und die Symphonische Dichtung Orpheus war bereits in Jena positiv aufgenommen worden.28 Den sich im Titel niederschlagenden äußeren Anlass des vorliegenden Artikels, der vier Wochen nach dem musikalischen Ereignis in der Pariser Revue et gazette musicale erschien, verknüpft der Berichterstatter Corvin mit der persönlichen Absicht, für Berlioz zu werben und diesen zu verteidigen. Mit Blick auf dieses Anliegen scheint gerade das hier besprochene Konzert als Gegenstand der Betrachtung aus mehreren Gründen naheliegend: Der ehemals gefeierte Virtuose und nun erfolgreiche Dirigent Liszt war es, der Berlioz in den Jahren 1852 und 1853 im deutschen Raum mit den sogenannten Berlioz-Wochen zu großer Anerkennung verholfen29 und ihm nochmals im Februar 1855 zwei große Aufführungen eigener Werke in Weimar ermöglicht hatte.30 Peter Cornelius verfasste über beide Konzerte für die französischen Zeitungen einen ausführlichen, ein halbes Jahr vor dem vorliegenden Artikel ebenfalls in der Revue et gazette musicale publizierten Bericht, der sowohl Berlioz ehrte als auch das ihm entgegengebrachte Weimarer Wohlwollen und die Unterstützung Berlioz’ durch Liszt hervorhob.31 Dass Liszt an jenem Ort, wo Berlioz einst seine Damnation de Faust erstmals auf eine deutsche Bühne gebracht hatte,32 nun auch seine mehrfach angekündigten Symphonischen Dichtungen zu präsentieren suchte, erscheint zumindest in der Rückschau als kalkulierbares Risiko. Zusätzlich eröffnete Liszt dieses Ereignis mit der von ihm selbst protektierten und nach Corvin zu Unrecht wenig bekannten Ouvertüre zu Berlioz’ Benvenuto Cellini. Diese Punkte nutzt der Autor als Argumente für die Bestätigung der kompositorischen Fähigkeiten Berlioz’ und zur Verteidigung gegen das ihm in Frankreich und England widerfahrene Unrecht. Gleichermaßen ist es ein Versuch, den Namen Berlioz sowie dessen Werke mit dem Erfolg und der Popularität Liszts (und auch Wagners) in direkte Verbindung zu bringen. Auch wenn über Identität und Herkunft des Autors bislang keine weiteren Informationen vorliegen und auch dessen Name sowohl in den französischen als auch in den deutschsprachigen Zeitschriften nicht noch einmal nachgewiesen werden konnte, ist es durchaus bemerkenswert, dass die erste Rezension dieses in der Aufführungsgeschichte der Symphonischen Dichtungen Liszts hervorgehobenen Konzerts von französischer Seite verfasst und publiziert wurde. Zudem scheint das Konzert in der deutschen Presse und Öffentlichkeit außer einer Besprechung des Braunschweiger Komponisten und Verlegers Henry Li-
26 Die
Bedeutung dieses Konzertprogramms für Liszt zeigt sich schon in seinem brieflichen Austausch darüber mit Hans von Bülow vom 12. Oktober 1855 (in: Liszt-Briefe, Bülow, S. 161). 27 Für das Programm der zweiten Aufführung seines Orpheus (bzw. Uraufführung der Fassung als Symphonische Dichtung) am 10. November 1854 im Weimarer Stadthaussaal hatte Liszt bereits auch schon ein Symphonie-Konzert von Litolff bestimmt, welches dieser ebenfalls selbst aufgeführt hatte. 28 Siehe Anonym 1855 „Weimar, im April“ sowie Anonym 1855 „Jena, im Mai“. 29 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 7 und 10. 30 Die beiden Konzerte unter der Leitung Berlioz’ fanden am 17. Februar als Hofkonzert anlässlich des Geburtstags der Großherzogin und am 21. Februar im Weimarer Theater statt. 31 Siehe Cornelius 1855 Berlioz à Weimar. Concert à la cour sowie Cornelius 1855 Berlioz à Weimar. Concert au théâtre. 32 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 6.
Corvin 1855 Orphée et Prométhée
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tolffs,33 der im selben Konzert eine eigene Komposition aufführte, keine weitere Berücksichtigung erfahren zu haben.34 Diese Tatsache zeigt, dass Liszts Braunschweiger Auftritt – der ebenfalls die Uraufführung seines Prometheus miteinschloss – (noch) nicht als besonderes Ereignis wahrgenommen wurde. Gleichermaßen stützt sie die Lesart der vorliegenden Rezension, neben der einer ersten Anerkennung der symphonischen Werke Liszts durch die nicht-deutsche Presse, als Danksagung gegenüber einem Berlioz-Fürstreiter für dessen Protektion. Inhalt, Art und die den musikalischen Anschauungen zu Grunde liegende Methode der Ausführungen Corvins über Liszts Symphonische Dichtungen geben sich rein programmatisch, poetisch vermittelt, in Ansätzen tonmalerisch interpretierend und nah an das Programm Liszts angelehnt, welches dem Publikum bei allen Konzerten in gedruckter Form vorlag.35 Es lässt sich eine ästhetische Position erkennen, die – fern von musiktheoretischen Reflexionen sowie der Analyse und Bewertung der Musik – die künstlerische Qualität der Kompositionen insbesondere mit der geistreichen Wahl der den Werken unterlegten programmatischen Stoffe bedeutender Mythen und „hehren Symbolen der antiken Fabel“36 begründet. Dass der Autor anführt, wie edel Liszt „mächtige Gefühlswallung[en]“37 der schweren mythischen Stoffe für sich zu nutzen vermochte, ebenso die Betonung, es sei nicht verwerflich, wenn er sich von den großen Emotionen des Mythos für die musikalische Umsetzung inspirieren lasse, zeugt durchaus von einer gewissen Sensibilität gegenüber der zeitgenössischen Diskussion um die Rechtfertigung programmmusikalischer Werke. Hingegen erscheinen eingeschobene Aussagen wie jene über die an Symphonie und Ouvertüre angelehnte formale Gestaltung der Symphonischen Dichtungen eher heranzitiert.38 Auch die zweite Rezension des Braunschweiger Ereignisses erinnert als offener Brief in der Liszts Werken später eher kritisch begegnenden Rheinischen Musik-Zeitung an die „begeisterte Hingebung“, die „einst dieselbe Capelle für Berlioz gewirkt und in Deutschland die Bahn für diese Compositionen dieses Musikers geebnet hatte“39. Litolff preist ebenfalls die Vorzüge von Liszts umfassendem künstlerischen Engagement, um als Mittelpunkt des Weimarer Zirkels an der „Spitze eines kleinen aber ausgewählten Kreises von Künstlern und Gelehrten ein Kunstleben zu beginnen“40. Im Gegensatz zu Corvin widmet der Braunschweiger Musikkritiker seine Ausführungen jedoch speziell der Neuheit und der erstmalig außerhalb von Weimar angesiedelten Aufführung zweier einzelner „Symphonie-Sätze Liszts“, deren „feine Tonmalerei“, abwechslungsreiche und differenzierte Instrumentation sowie anspruchsvolle Stoffwahl nicht nur „Liszts hohes Genie“, sondern auch „in Uebereinstimmung mit der ‚modernen‘ Richtung, vielleicht auch sein [Liszts] theilweises Abweichen von derselben“41 zu dokumentieren prädestiniert seien.
1855 Ein offener Brief. 34 Nach Johns/Saffle 1997 The Symphonic Poems of Franz Liszt existieren zu diesem Konzert keinerlei Rezensionen. In einem Brief an Agnes Street-Klindworth schreibt Liszt, er wolle seine Symphonischen Dichtungen erst mit verschiedenen Orchestern ausprobieren, bevor er sie drucken lässt (Pocknell 2000 Franz Liszt and Agnes Street-Klindworth, 1047 S. 64). 35 Siehe Liszt 1854 Poèmes symphoniques. 36 Vorliegender Artikel, S. [352]. 37 Ebd. 38 So erscheint eine Übernahme von Liszts eigenen, in seinem kurz zuvor (Juli bis August) in der NZfM veröffentlichten Aufsatz über „Berlioz und seine Haroldsymphonie“ dargelegten Form-Vorstellungen durchaus möglich (Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, in: NdS 2 Nr. 76). 39 Litolff 1855 Ein offener Brief, S. 389. 40 Ebd., S. 388. 41 Alle Zitate des Satzes ebd., S. 396. 33 Litolff
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Der vorliegende Artikel ist ein bemerkenswertes Zeugnis interkulturellen Austauschs, der durch die beiden Persönlichkeiten Berlioz und Liszt bedingt ist. Anders als die tendenziell passive Wahrnehmung der ‚New Germans‘ in Großbritannien oder den Vereinigten Staaten von Amerika42 wird die deutsche ‚Musique de l’avenir‘ von Corvin im Sinne eines Reimports der seiner Meinung nach in Frankreich nicht angemessen gewürdigten Werke Berlioz’ genutzt. Die Strahlkraft Liszts, dessen Ruhm als Virtuose auch in Frankreich als unumstritten galt, konnte durch eine solch positive Besprechung das Werk Berlioz’ im selben Licht präsentieren. Interessant ist dabei, dass der Autor über die Persönlichkeit Liszts hinaus auch jene „neue Schule“, die „Elite der Künstler dieses jungen Deutschlands“43 anführt und diese Gruppierung für das Werk Berlioz’ instrumentalisiert und somit gleichermaßen in Frankreich bekannt macht.
42 Siehe Pohl 1853 Ein Blick nach dem „fernen Westen“, in: NdS 1 Nr. 46 sowie Dwight 1854 Our Wagnerism, in: NdS 1 Nr. 59. 43 Vorliegender Artikel, S. 1044 [352].
Nr. 86 | Fr. Br. [Franz Brendel], „Programmmusik“, in: Anregungen 1 (1856), Nr. 2 [März/April], S. 82 – 92.
Programmmusik.
Die Entwicklung der Instrumentalmusik hat seit Beethoven zu immer größerer Bestimmtheit des Ausdrucks geführt, so daß wir, wenn wir die Erscheinungen der neuesten Zeit auf diesem Gebiet ins Auge fassen, bei der großen Mehrzahl gerade der befähigsten Tonsetzer eine derartige Richtung gewahren, mögen diese selbst in anderer Beziehung in ihrem Wesen so verschieden als nur möglich sein. Man kann sagen, daß man bei den Componisten, welche nicht blos damit sich begnügen, das Alte zu reproduciren, sondern die wirklich dem fortschreitenden Geiste dienen, überwiegend die Neigung für Darstellung psychischer Vorgänge, Bestimmtheit der Schilderung, Anlehnen an ein poetisches Programm erblickt. Im Gegensatz hierzu freilich giebt es wieder Einzelne, welche diese Neigung nicht theilen, und doch Hervorstechendes leisteten. Was meine Ansicht von der Sache betrifft, so habe ich bei verschiedenen Gelegenheiten früher schon und wiederholt darauf aufmerksam gemacht, daß der Entwicklungsgang der modernen Instrumentalmusik ganz entschieden auf Programmmusik hinführt,1 und ich habe dem entsprechend auch diese Richtung vertreten, obschon ich anderseits bemüht war, vor allzugroßer Einseitigkeit, vor einem Uebermaaß zu warnen.2 Ganz vor kurzem hat Franz Lißt Gelegenheit genommen, in einem Artikel: „Berlioz und seine Haroldsymphonie“ (Neue Zeitschrift für Musik, Band 43, Nr. 3 – 9)3 sich noch bestimmter, als ich es gethan, für Programmmusik auszusprechen, und wir können in der That in letzter Zeit wahrnehmen, wie eine immer größere Zahl von Musikern sich zu dieser Ansicht bekennt. Nicht zu läugnen aber ist anderseits, daß auch noch immer Gegner vorhanden sind, welche darin eine Verirrung der Kunst erblicken und um so leiden-
1 Schon 1850 äußerte sich Brendel dazu: „Die moderne Musik zeigt das entschiedenste Streben nach Bestimmtheit des Ausdrucks, nach möglichster Schärfe der Charakteristik auch in der reinen Instrumentalmusik. Bestimmt erfaßbare poetische Seelenzustände zur Darstellung zu bringen, ist das gemeinsame Streben, und um diesen Zweck zu erreichen, werden alle zu Gebote stehenden Mittel, Schilderungen der manichfachsten Art, wird Malerei zu Hülfe genommen“ (Brendel 1850 Einige Worte über Malerei, S. 242, in: NdS 1 Nr. 19, S. 209); noch in der zweiten Auflage von Brendels Musikgeschichte von 1855 heißt es: „Möglichste Bestimmtheit des Ausdrucks in der reinen Instrumentalmusik ist nicht blos etwas Zulässiges, es besteht im Gegentheil darin die höchste Steigerung und Vollendung innerhalb dieser Kunstsphäre. Zu dem hat ja auch die Kunstentwicklung selbst auf diesen Punct mit Nothwendigkeit hingeführt“ (Brendel 1855 Geschichte der Musik, S. 265). 2 Vgl. Brendel 1850 Einige Worte über Malerei, in: NdS 1 Nr. 19. 3 Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, in: NdS 2 Nr. 76.
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schaftlicher in ihrer Opposition werden, je mehr sich die Anhänger unserer Richtung mehren.4 Die Frage, ob Programmmusik statthaft sei oder nicht, bildet daher eine Lebensfrage der gegenwärtigen Tonkunst, und die Untersuchung ist um [83] so dringender, da dieselbe bisher noch nicht allseitig und erschöpfend behandelt worden ist. Betrachten wir zunächst die Geschichte, um uns hier Rath zu erholen, so giebt uns diese, beim ersten Blick wenigstens und scheinbar, keine befriedigende Antwort an die Hand. Die Geschichte zeigt uns, wie die Neigung für Schilderungen in der reinen Instrumentalmusik fast ebenso alt ist, wie diese selbst. Wir finden schon bei Seb. Bach Beispiele dafür, und können wahrnehmen, wie sich derartige Versuche fort und fort in sehr kurzen Zwischenräumen bis herab auf die neueste Zeit wiederholen. Eben so wenig jedoch kann in Abrede gestellt werden, daß es eine ganze Epoche gegeben hat, wo diese Richtung entschieden verworfen wurde, wo man eine Verirrung darin erblickte: die Epoche Mozart’s und seiner Schule. Noch lange zwar dauerten auch in dieser Zeit die Bestrebungen für malende Musik fort, insbesondere in untergeordneteren Kunstsphären, aber zugleich gewann auch das Bewußtsein mehr und mehr die Oberhand, daß dies ein Abweg sei, und diese Ansicht wurde sodann die allgemein gültige bis herab auf die neueste Zeit. Daß dies der Fall, dafür liefert u. A. die Aufnahme, die Berlioz bei seiner ersten Reise in Deutschland fand, einen Beweis.5 Er wurde zuerst mit Achselzucken empfangen und halb und halb als ein verdrehter Kopf angesehen; man belächelte die Programme, die er den Besuchern seiner Concerte in die Hände gab und fand nur in dem mangelhaften Kunstbewußtsein des Franzosen,6 dem die Lehren deutscher Aesthetik fremd geblieben waren, eine Entschuldigung. Neuerdings ist nun aber wieder eine Wendung eingetreten und man hat sich der Programmmusik entschieden zugewendet. Der Umstand, daß außer Berlioz Künstler wie Mendelssohn, Spohr, Schumann u. A. – in ihrem sonstigen Wesen demnach sehr verschiedene Künstler – nach dieser Seite hin sämmtlich einer Richtung angehören, hat die Gegner vorsichtiger gemacht und die
heißt es in Hanslicks 1854 erschienenem Traktat Vom Musikalisch-Schönen: „An die Darstellung eines bestimmten Inhaltes denkt der Tonsetzer nicht. Thut er es, so stellt er sich auf einen falschen Standpunkt, mehr neben als in der Musik. Seine Composition wird die Uebersetzung eines Programms in Töne, welche dann ohne jenes Programm, unverständlich bleiben“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 41); August Wilhelm Ambros widmete dem Thema in einer ästhetischen Schrift ein eigenes Kapitel: „Die Musik mit durch neben sie gestellte Worte eingeschränkter Ausdeutung; Programmen-Musik“ (Ambros 1856 Die Gränzen der Musik und Poesie, S. 137 –178). 5 Der erste Aufenthalt Berlioz’ in Deutschland datiert auf die Jahre 1842 und 1843 mit Konzerten u. a. in Hamburg, Braunschweig und Leipzig. Vgl. hierzu die Übersicht in Jacobshagen/Braam 2002 Berlioz in Deutschland, S. 607 – 618. Vgl. auch den kurz darauf erschienenen Bericht von Berlioz über diese Reise, der unter dem Titel Musikalische Reise in Deutschland (ED 1843) in einer deutschen Übersetzung von Johann Christian Lobe erschien (neuediert in: Jacobshagen/Braam 2002 Berlioz in Deutschland, S. 239 – 328). 6 Brendel thematisierte die Problematik der Nationalität in Bezug auf Berlioz schon in seiner Musikgeschichte, dort heißt es u. a.: „Berlioz, über den das Urtheil zur Zeit immer noch schwankt, ist, so weit wir ihn kennen, nicht zur Vollendung gekommen. Schon sein für Instrumentalmusik nicht günstig organisirter Nationalcharakter bereitet ihm Hindernisse und es liegt hierin zugleich der Grund, wesshalb er bei uns weniger festen Fuss fassen konnte“ (Brendel 1852 Geschichte der Musik, S. 512). 4 Beispielsweise
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frühere unumschränkte Geltung ihrer Ansicht bedeutend erschüttert. Zu einer endgültigen Entscheidung jedoch ist es, wie gesagt, bis jetzt nicht gekommen, insbesondere da auch die Geschichte, dem eben Dargestellten zufolge, keine bestimmte Antwort an die Hand gab. Die Geschichte bestätigt sowohl die eine, als auch die andere Richtung, beide erscheinen vertreten in derselben, und jede Partei vermag deshalb die verschiedenen Erscheinungen zu ihrem [sic] Gunsten zu benutzen und Stützpuncte für ihre Ansicht darin zu finden. Das soeben ausgesprochene Resultat ist indeß nur ein scheinbares. Prüfen wir genauer, so bemerken wir leicht, wie jede Partei die ihrer Ansicht widersprechenden Thatsachen möglichst ignorirte oder den Werth derselben bestritt, – dies letztere geschah z. B. von den Anhängern der reinen, [84] absoluten Instrumentalmusik in Bezug auf Beethoven’s Pastoralsymphonie, – bestätigende dagegen, für dieselbe sprechende, allzu nachdrücklich accentuirte. Es kommt demnach nur auf die Art und Weise an, wie wir die Lehren der Geschichte auffassen, nur darauf an, daß wir diesen gegenüber eine unbefangenere Stellung einnehmen, um zu Ergebnissen ganz anderer Art zu gelangen. Das Nächste ist, daß wir einen großen Unterschied in der Beschaffenheit der verschiedenen der Richtung der Programmmusik angehörigen Werke gewahren, sobald wir dieselben in ihrer historischen Folge an uns vorübergehen lassen. Wenn wir bei früheren Tonsetzern derartige Bestrebungen antreffen, wenn Seb. Bach z. B. ein Capriccio schrieb „Auf die Entfernung eines sehr theuren Bruders“7, so können wir darin nur die ersten, den Anfangsstufen der Kunst angehörigen Versuche erblicken, die ersten Bemühungen, eine größere Ausdrucksfähigkeit für die Instrumentalmusik zu erringen. Aus derartigen Werken selbst ließ sich ohne Programm der Gegenstand nicht erkennen, weil die dazu erforderliche Bestimmtheit der Darstellung noch lange nicht erreicht war. Programm und Kunstwerk fielen aus einander, standen nur in äußerlicher Beziehung; das Erstere war damals weiter nichts, als die aufgeheftete Etiquette, die eben dem Gegenstand nur äußerlich aufgedrückt ist, jenen Zetteln vergleichbar, welche auf alten Bildern den Figuren aus dem Munde gehen, um zu sagen, was dieselben bedeuten. Das Kunstwerk erscheint auf dieser Stufe noch nicht fähig, das was gemeint ist entsprechend zur Erscheinung zu bringen. Mit Recht mußte demnach bei weiteren Fortschritten die Forderung zur Geltung gelangen, daß in einer Tonschöpfung selbst wirklich enthalten sein müsse, was dieselbe zur Darstellung bringen soll, daß nicht mehr – so zu sagen – ein Theil des Inhaltes in das Programm, und nur der andere Theil in diese fallen dürfe; die Einsicht mußte gewonnen werden, daß das ächte Kunstwerk solche Nachhülfe zu verschmähen habe. Es geschah dies zu einer Zeit, wo überhaupt die moderne Anschauungsweise sich Bahn brach, und die Grundlage gewonnen wurde für das höhere Kunstbewußtsein der Neuzeit. Der nun folgende mächtige Aufschwung der Poesie und Musik, unsere classische Epoche8, war das Resultat dieser Umgestaltung, und zugleich entstand in Folge davon jene große, deutsche Kunstwissenschaft, der die
7 Johann Sebastian Bach, Capriccio Sopra la lontananza del suo fratello dilettissimo B-Dur BWV 992 (EZ um 1705). 8 Brendels Begriff der Epoche der „Classizität“ umfasst maßgeblich die Zeit und Werke Haydns und Mozarts (siehe Altenburg 1997 Art. „Neudeutsche Schule“, Sp. 67).
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Aufgabe zu Theil wurde, das neue Ideal festzustellen. Die bezeichnete Einsicht auf musikalischem Gebiet, welche jenen frühern, naiven Versuchen in der Sphäre der Programmmusik ein Ende machte, war der Ausdruck dieses neuen Bewußtseins im Bereiche der Tonkunst. Jetzt erkannte man, daß das Kunstwerk aus einem inneren schöpferischen Mittelpunct entsprungener Organismus sei,9 eine lebendige Einheit, [85] die nichts nur äußerlich Zusammengefügtes duldet. Zugleich auch gelangte man zu bestimmterer Einsicht über das Wesen der Instrumentalmusik, man erkannte, daß sie die Aufgabe habe, das dem Worte Unerreichbare auszusprechen, man erkannte das Gefühl als ihr bestimmtes Bereich, das sie nicht verlassen dürfe, wenn sie nicht sich selbst untreu werden wolle. Auf diesem Standpunct, dessen allgemeine Charakteristik – abgesehen von Musik – Göthe im Theatervorspiel zum Faust dem Dichter in den Mund legt,10 geschah es demnach mit Recht, daß man die frühere Programmmusik verwarf, die Opposition gegen dieselbe war eine vollkommen begründete, und nur in untergeordneter Sphäre fristeten Schilderungen mit Programm, so z. B. die damals noch beliebten Schlachtmusiken für Pianoforte ein kümmerliches Dasein. Mit allem Nachdruck und in schroffer Opposition mußte dieser Standpunct festgehalten werden, wenn die Instrumentalmusik überhaupt zu dem Range höherer Kunst sich emporarbeiten sollte. Man weiß von Haydn, daß er bei seinen Symphonien verschiedene Objecte sich gedacht hat.11 Diese Objecte aber waren für Haydn jetzt schon weiter nichts mehr, als rein subjective Anhaltepuncte, die den Hörer nichts angehen, etwas ganz Zufälliges und Beiläufiges, was mit dem Kunstwerk selbst in keiner näheren Verbindung steht, in demselben gar nicht zum Ausdruck gekommen ist. Aber auch diese blos subjectiven Anhaltepuncte verschwinden bei Mozart, der absoluter Musiker war und nur in Tönen dichtete. Mozart ist aus diesem Grunde der entschiedenste Repräsentant für diese neue Stufe der Kunstentwicklung. Jetzt konnte man, und zwar mit vollkommenstem Recht, in Tonstücken mit Programm weiter nichts erblicken, als kindische Versuche, deren ganzes Interesse darin besteht, zu sehen wie das Programm und der dafür gewählte künstlerische Ausdruck zusammenstimmen, was lediglich Sache des Verstandes ist, durchaus aber keinen Kunstgenuß gewährt. Es war daher ganz consequent, und geschah abermals mit Recht, wenn man Beethoven’s Leistungen auf dem Gebiet der Programmmusik anfangs desavouirte,12 wenn man sich später namentlich gegen Berlioz wehrte,13 und in seinen Bestrebungen einen Rückschritt sehen zu müssen glaubte, wenn man fürchtete, daß eine kaum erst beseitigte Barbarei auf diese Weise wieder hereinbreche. Neuerdings jedoch hat man in Folge der schon vorhin bezeichneten Richtung unserer Zeit zu bemerken angefangen, daß zwischen unserer Programmmusik und jenen früheren Versuchen ein gewaltiger Unterschied Statt findet, und dieser
Organismus-Begriff in der Musik vgl. etwa Noeske 2012 Musik als Organismus. 10 Johann Wolfgang von Goethe, Faust I, „Vorspiel auf dem Theater“. Die Figur des Dichters besingt darin das einheitsschaffende Moment der Kunst in der Welt. Siehe auch vorliegender Artikel, Anm. 14. 11 Wohl eine Anspielung auf die durch Haydns ersten Biographen Griesinger überlieferte Aussagen des Komponisten, er habe in seinen Symphonien „öfters moralische Charaktere geschildert“ (Griesinger 1810 Biographische Notizen, S. 117). 12 Vgl. hierzu Kunze 1987 Ludwig van Beethoven. 13 Vgl. hierzu Jacobshagen/Braam 2002 Berlioz in Deutschland sowie Brzoska/Hofer/Strohmann 2005 Hector Berlioz. Ein Franzose in Deutschland. 9 Zum
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Umstand ist es gewesen, der bei Vielen ein geneigteres Entgegenkommen vermittelt hat. Nicht mehr äußerlich stehen sich Programm und Kunstwerk gegenüber, das Erstere ist nicht mehr die aufgeheftete Etiquette, es wird geboren zugleich mit dem Kunstwerk, es resultirt [86] aus der Sache, aus dem Kunstwerk, in dem es enthalten ist, auch wenn es nicht daneben gestellt wird. Die künstlerische Erregung selbst trägt die erforderliche Bestimmtheit in sich, und der Ausdruck hat die Schärfe gewonnen, die erforderlich ist, um ohne äußere Nachhülfe den Inhalt vollständig zur Erscheinung bringen zu können. Es ist auf diese Weise erreicht, daß das Kunstwerk sich wirklich als ein einheitlicher Organismus darstellt, es ist eine Schöpfung, entworfen von einem Standpunct aus, welcher das Kunstideal der mittleren, Mozart’schen, Epoche als Voraussetzung in sich trägt, dieses als Grundlage bewahrt hat. Betrachten wir dies Resultat, so ergiebt sich die schon angedeutete große Verschiedenartigkeit in den der Programmmusik angehörigen Werken, wir gelangen zu der Einsicht, daß nicht jede Programmmusik zulässig ist, im Gegentheil, daß wir bei der Entscheidung der Frage vor Allem nach der näheren Beschaffenheit derselben zu fragen haben. Programmmusik in der Weise jener frühern Versuche war anfangs statthaft, weil nur dadurch das musikalische Ausdrucksvermögen die nöthige Vollendung erlangen konnte. Später aber mußte dieselbe mit gleichem Recht als kunstwidrig verworfen werden. Moderne Programmmusik endlich aber, welche das Mozart’sche Kunstideal als Voraussetzung in sich trägt, und nur erst nach Erfüllung der Forderungen einer jenem Ideal entsprechenden Kunstwissenschaft zu größerer Bestimmtheit des Ausdrucks fortschreitet, nur in diesem Sinne sich Objecte wählt, Programmmusik demnach, die nicht mehr äußerlich abzeichnet oder sich Gegenstände wählt, die außer dem Bereiche der reinen Instrumentalmusik liegen, ist eine natürliche Folge der ganzen bisherigen Entwicklung und die den Fortschritt bezeichnende Aufgabe der gegenwärtigen Kunst. Nur so lange demnach, als wir es mit den bezeichneten Gegensätzen als solchen zu thun haben, so lange die Parteien sich nicht entschließen, sich wechselseitig einige Zugeständnisse zu machen, wird man zu einem befriedigenden Abschluß nicht gelangen können. Sind dagegen Beide bereit zu der Anerkennung, daß sie auf verschiedenen Standpuncten wechselseitig im Recht sind, daß dieses Recht aber verschwindet, sobald der Standpunct selbst ein anderer wird, so kann eine Ausgleichung nicht fehlen. Der Irrthum der Vertheidiger der Programmmusik besteht gemeinhin darin, – und das ist der bis jetzt nicht erkannte Punct, den wir durch die bisherige Darstellung gewonnen haben – daß sie die durch das Ideal der mittleren Epoche gebotenen Einschränkungen nicht anerkennen, die Gegner aber halten sich, in gleicher Weise befangen, nur an dies Ideal und verkennen gänzlich das weit umfassendere Gesetz, welches der Entwicklung der Instrumentalmusik in ihrem Gesammtverlauf zum Grunde liegt. [87] Durch das bisher Dargestellte ist die eine Seite der Frage beantwortet, die eine Hälfte der Aufgabe erledigt. Jetzt bleibt noch übrig, die neueste Richtung auf Programmmusik selbst genauer zu betrachten, und was diese betrifft, schärfere Bestimmungen zu versuchen. Es ist zu untersuchen, ob die gegebenen Gesichtspuncte die Sache wirklich erschöpfen, oder ob nicht, wie nach rückwärts, so auch nach vorwärts, nicht nur nach Seite der früher eingenommenen Stufe, sondern auch nach Seite des Zieles hin, welches die neueste Zeit anstrebt, eine Abgrenzung nothwendig ist; es ist die Frage zu erledigen, ob nicht auch unter den angegebenen Ein-
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schränkungen Verirrungen anderer Art möglich sind, und für diesen Fall das Gebiet der Programmmusik auf diesem neuesten Standpunct genauer abzugrenzen. Hier ist es demnach, wo wir die Erscheinungen der Gegenwart näher zu betrachten haben. Bekanntlich nimmt die neueste Programmmusik von Beethoven ihren Ausgangspunct. Bei ihm aber ist diese Richtung noch nicht mit der späteren, jetzt vorherrschenden Bestimmtheit ausgesprochen. In seiner ersten Epoche sehen wir Beethoven noch ganz auf Mozart’schem Standpunct. Erst weiterhin, in der späteren Zeit seines Schaffens, nimmt die neue Wendung ihren Anfang. Doch auch hier erfolgt dieselbe nur als letztes Ergebniß, als Resultat seines gesammten Schaffens, die Darstellung erlangt von selbst mehr und mehr diese Präcision, und das Wort ringt sich endlich nur als letzte Bestimmtheit heraus. Der Gang der Entwicklung überhaupt seit dem vorigen Jahrhundert war dieser: Die erste Stufe beschränkt sich auf Versuche der bestimmteren Erfassung einer Aufgabe, ich möchte sagen: die naive Freude ist vorherrschend, daß die Musik überhaupt zu etwas Derartigem fähig ist, und die Ueberschriften gewähren das kindliche Vergnügen, zu erfahren, was gemeint ist. Mit dem Erwachen eines höheren Kunstbewußtseins auf der zweiten Stufe wurde alles nur Aeußerliche beseitigt: „Ist es der Einklang nicht, der aus dem Busen dringt, und in sein Herz die Welt zurücke schlingt“14, läßt Göthe am a. O. den Dichter sagen, um damit anzudeuten, daß das Wesen des Kunstwerks in der inneren Wiedergeburt des Darzustellenden besteht. Man lernt erkennen, daß die Ueberschrift ohne Bedeutung ist, wenn die Musik derselben nicht entspricht, das Gemeinte nicht wirklich zur Darstellung bringt. Als diese Einsicht fest begründet war, als man das Bewußtsein gewonnen hatte, daß die Musik im Bereiche des Gefühls ausschließlich sich zu bewegen habe, ging Beethoven fort zu immer schärferer Zuspitzung, fort zur Bestimmtheit der Vorstellung in der reinen Instrumentalmusik. Auf dieser Grundlage nun haben die Nachfolger weiter gebaut, so zwar, daß das, was bei Beethoven Resultat des ganzen [88] Entwicklungsprocesses ist, und zwar ein mit Nothwendigkeit aber instinctmäßig gefundenes, zum Ausgangspunct gemacht und zum bewußten Princip erhoben worden ist. Es sind poetische Aufgaben, welche sich die von dem Geiste ihrer Zeit wirklich erfüllten Tonsetzer wählen, ein Anlehnen an ein bestimmtes Programm findet Statt, und man sucht dasselbe in seinen Einzelheiten zur Darstellung zu bringen. Jetzt geschah es demnach, daß man nicht blos den Inhalt bezeichnende Ueberschriften wählte, oder festumgrenzte Stoffe sich wählte und diesen entsprechende, ganz genaue Schilderungen anstrebte, wie u. A. Schumann in seinen früheren Pianofortewerken15 und Mendelssohn in seinen Ouverturen16 ge than hat; Spohr verband sogar – in seiner „Weihe der Töne“17 z. B. – verschiedenartige Situationen, verschiedene Vorstellungen zu einem Ganzen, die nur durch die abstracte Einheit des Grundgedankens zusammengehalten werden, und Berlioz ging
Faust I, „Vorspiel auf dem Theater“, V. 140 f. 15 Robert Schumann, beispielsweise Papillons op. 2 (ED 1831); Carnaval As-Dur op. 9 (ED 1837); Kinderszenen op. 15 (ED 1839). 16 Felix Mendelssohn Bartholdy, Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum E-Dur op. 21 (ED 1832); Ouvertüre Die Hebriden oder Die Fingals-Höhle h-Moll op. 26 (ED 1833); Ouvertüre Meeresstille und glückliche Fahrt D-Dur op. 27 (ED 1835); Ouvertüre zum Märchen von der schönen Melusine F-Dur op. 32 (ED 1836). 17 Louis Spohr, Symphonie Nr. 4 Die Weihe der Töne F-Dur op. 86 (EZ 1832). 14 Goethe,
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noch weiter, indem er – in „Romeo und Julie“18 z. B. – eine fortschreitende Handlung zum Gegenstand der Symphonie machte, in sich abgeschlossene Instrumentalsowie Gesangsstücke an einen Faden reihte, oder indem er, wie in der Sinfonie fantastique, sich zwar auf Instrumentalmusik beschränkte, aber darin ebenfalls eine Handlung durchführte und zur Orientirung mit einem Hauptthema eine bestimmte Vorstellung äußerlich verknüpfte. Die Herrschaft über alle Mittel des Ausdrucks hatte eine solche Vollendung erlangt, die Kunst der Charakteristik in der reinen Instrumentalmusik war zu einer Höhe der Ausbildung gediehen, daß man jetzt Alles dies unbedenklich wagen zu können glaubte. Es zeigt sich demnach aus dem Mittelpunct der Empfindung, aus dieser inneren geschlossenen Einheit, „aus dem Einklang“ heraus, „der aus dem Herzen dringt“, ein Fortgang zu schärferer Ausprägung und Gegenüberstellung der einzelnen Momente, zur Verbindung bestimmter Vorstellungen, so daß zuletzt der Mittelpunct des Kunstwerks nicht mehr in der Empfindung, sondern in der Vorstellung liegt, daß die Erstere sich unfähig erweist, diese Gegensätze in sich zu befassen und zur Einheit umzubiegen. Damit aber ist eine gewisse Einseitigkeit, ein Ueberschreiten der Grenzen nach der anderen Seite hin nothwendig gegeben. Man wird nicht blos dem Ideal der zweiten Epoche ungetreu, in der That: man ist bei dem entgegengesetzten Extrem angekommen, und nähert sich wieder den Anfangsstufen der Kunst, wenn auch mit dem großen Unterschiede, daß der Durchgang durch das Mozart’sche Ideal sichtbar ist. Eine ganz ähnliche Aeußerlichkeit, wie die frühere war, gelangt wieder zur Geltung; sie ist dieselbe, nur mit dem Unterschied, daß man damals den Mittelpunct der Empfindung noch nicht erreicht hatte, jetzt aber über denselben hinaus ist, und das über jene ausgesprochene [89] Urtheil muß zuletzt auch die neuesten Bestrebungen treffen. Wenn Spohr in seiner „Weihe der Töne“ verschiedene Situationen verbindet, so liegt, wie bemerkt, der Einheitspunct nicht mehr im Kunstwerk selbst, sondern in der allgemeinen Vorstellung. Wenn Berlioz dramatische Vorgänge schildert, und zu dem Zweck mit einem Thema eine bestimmte Vorstellung verknüpft, welche nicht unmittelbar daraus zu entnehmen ist, die man im Gegentheil durch besondere Mit theilung erfahren muß; wenn Schumann in seinen „Papillons“, in seinem „Carneval“ Musikstücke aufeinanderfolgen läßt, die nicht mehr Resultat der sich entwickelnden Stimmung, sondern der Verwandtschaft der Vorstellungen sind, so heißt das die Grenzen der Instrumentalmusik überschreiten. Denn der Hörer, der diese äußere Mittheilung nicht empfängt, entbehrt auch des Einganges und Verständnisses des Kunstwerkes, und es wird dies um so mehr der Fall sein, in je höherem Grade dasselbe seinem Programm entspricht. Scheint es demnach dem Gesagten zufolge, als müßten diese Bestrebungen, was mindestens die principielle Berechtigung derselben betrifft, von der Hand gewiesen werden, so ist doch hiermit die Frage noch keineswegs erschöpft, und es sind Einschränkungen zu machen, welche das ausgesprochene Ergebniß wesentlich modificiren. Zunächst nämlich ist anzuerkennen, daß der Weg, den die neueste Zeit eingeschlagen hat, für die Gegenwart und auf dem durch Beethoven begründeten Stand-
18 Berlioz,
Roméo et Juliette op. 17 (EA 1839).
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punct der einzig mögliche ist. Der Gang der Entwicklung weist mit zweifelloser Gewißheit nach dieser Seite hin. Damit ist nicht gesagt, daß nicht noch treffliche Werke auch ohne Programm geschrieben werden können. Aber der Fortschritt der Kunst beruht nicht mehr darauf, sondern entschieden auf der entgegengesetzten Richtung. Im Princip ist jene schon durch Beethoven überwunden. Muß man demnach auch zugestehen, daß neuerdings eine gewisse Einseitigkeit Raum gewonnen hat, daß ein Uebermaaß, ein Fortgang zum Extrem hin Statt findet, so ist doch auch zugleich die Erweiterung der künstlerischen Aufgaben darin anzuerkennen, es ist zu berücksichtigen, daß damit wirklich die nothwendigen Consequenzen gezogen und die von der Geschichte gestellten Bedingungen ihrer Verwirklichung näher gebracht worden sind. Eine zweite Einschränkung ist geboten durch die künstlerische Ausführung in den der Programmmusik angehörenden Instrumentalwerken der Gegenwart. Die Sache kann im Princip verwerflich sein, in der Art und Weise ihrer künstlerischen Gestaltung aber wieder zulässig werden. Spohr in seiner „Weihe der Töne“ ist entschieden und ohne alle Frage zu weit gegangen, und die Aesthetik muß sich gegen das Werk aussprechen. In [90] der Ausführung aber hat er die Uebelstände, die aus dem gewählten Stoff entspringen, so gut vermieden, er hat die Einheit und Harmonie der Empfindung so glücklich herzustellen gewußt, daß das Werk als zulässig betrachtet werden darf. Ein großes Talent überhaupt kann wohl einen principiellen Verstoß begehen, die Ausführung aber wird diesen immer wieder corrigiren; ein großes Talent kann bis an die Grenzen des Möglichen vorschreiten, nie aber wird es sich bis zur Carricatur, bis zur Häßlichkeit verirren. Eine solche aber müßte die unausbleibliche Folge sein, wenn ausschließlich die Consequenzen des Princips verfolgt würden, wenn also z. B. im vorliegenden Fall der Tonsetzer nicht verstanden hätte, das Heterogene durch die Verwandtschaft der Grundstimmung zu verknüpfen. Diesen Sätzen entsprechend gestaltet sich das Urtheil über die Programmmusik unserer Zeit, insbesondere über Berlioz, der ja der Hauptvertreter derselben ist, in folgender Weise: Indem man zugesteht, daß eine gewisse Einseitigkeit Raum gewonnen, daß man sich dem Extrem genähert hat, ist zugleich – worauf ich soeben schon hindeutete – anzuerkennen, daß damit die von der Geschichte gestellte Aufgabe ergriffen und ihrer Lösung näher gebracht worden ist, daß die Consequenzen der Beethoven’schen Richtung gezogen worden sind. In dem Uebermaaß demnach ist anderseits ebenso sehr das Große und Bedeutende, der Fortschritt, zu erkennen. Was Berlioz betrifft, so lag bis jetzt darin gerade die größte Schwierigkeit für eine richtige Auffassung desselben. Das Urtheil ist nicht mit wenigen Worten, mit einer einfachen Bejahung oder Verneinung, abzuschließen. Dies, daß bei ihm Fortschritt und Rückschritt – der Erstere wird zu einem solchen durch das Extreme, was darin liegt, – in Einem unge theilt enthalten sind, ist das wirklich Bezeichnende. Hierzu kommt, daß bei ihm als Franzosen in der That die deutsche Innerlichkeit nicht in diesem Grade enthalten ist, daß Manches darum zu äußerlich aufgefaßt erscheint. Aber wir haben auch entschiedene Erweiterungen bei ihm, und in der Kunst der Charakteristik, in der Fähigkeit bestimmtester Zeichnung, übertrifft er Beethoven. Dieser hat zum Theil, in Folge des Kunststandpunctes seiner Zeit, noch nicht erreicht, was er anstrebte, Berlioz dagegen zu Zeiten das durch die Natur der Musik gesteckte Maaß überschritten. In der Mitte liegt hier das Wahre. Unsere Aufgabe ist es demzufolge, eben
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so sehr wie wir uns hin und wieder abwehrend und verneinend zu verhalten haben, anderseits in derselben Weise den Fortschritten zu folgen. Absurd würde es sein, wenn man damit überhaupt eine Ablehnung der gesammten Berlioz’schen Kunst motiviren wollte. Man mag zugestehen, daß er hin und wieder zu weit gegangen ist, erfreue sich aber an dem gro-[91]ßen, geistigen Gehalt, der unzweifelhaft seinen Werken inwohnt. Diejenigen, welche zur Zeit immer noch diesen läugnen, unterliegen mit Recht dem Verdacht der Unfähigkeit, wo es sich um geistiges Verständniß handelt. Haben wir so ein bestimmtes Urtheil über die Erscheinungen, welche uns die neueste Zeit bietet, erlangt, so bleibt noch übrig, theoretisch die Bezeichnung des Hauptgesichtspunctes zu versuchen. Programmmusik, bei der das Ideal der zweiten Epoche als Voraussetzung und Grundlage vorhanden ist, – jede andere ist schon durch die Geschichte gerichtet, – wird unzulässig, wenn der Tonsetzer wirklich bis dahin fortgeht, diese Grundlage zu verneinen, wenn er die verschiedenen Bilder nicht zugleich durch die Einheit der Stimmung, sondern lediglich der Vorstellung verknüpft. Das Tonstück muß stets als solches, auch abgesehen von seinem Programm, einen befriedigenden Eindruck hinterlassen, muß als solches verständlich sein und von einer einheitsvollen Stimmung getragen werden. Ein zwar musikalisch befriedigendes Werk, das aber ohne äußerliche Kenntniß seiner dichterischen Grundidee nicht mehr vollkommen klar ist, dürfte auf der Grenzlinie stehen. Wirft aber eine Composition unvermittelt den Hörer in ganz heterogenen Zuständen umher, die sich nur durch das zu Grunde liegende Phantasiebild erklären, welches in der Vorstellung verbinden kann, was in der Empfindung weit auseinander liegt, so ist die der Instrumentalmusik gesteckte Grenze überschritten,19 und man gelangt unmittelbar in das Bereich der Poesie. Nur wenn diese Grenzlinie innegehalten wird, kann es gestattet sein, so weit als möglich zur Bestimmtheit des Ausdrucks fortzuschreiten. Aus dieser Bestimmung ergiebt sich schließlich auch der richtige Gesichtspunct, was die poetische Erklärung der schon vorhandenen Werke der Instrumentalmusik und die Abfassung der Programme betrifft. Einseitige Vertreter der Programmmusik haben den Versuch gemacht, Instrumentalwerke, sogar der ältern Zeit, die gar nicht mit solcher Bestimmtheit gedacht sind, Tact für Tact zu erklären. Das ist absurd und dem Verfahren des Kindes zu vergleichen, welches sein Spielzeug zerstört, um zu erfahren, was darin steckt. Das Kind macht die Erfahrung, daß nichts darin steckt, und der Erklärer hat das Kunstwerk vernichtet, wenn er glaubt, in dieser Weise den innersten Kern desselben erfaßt zu haben. Umgekehrt sind Programme nothwendig, – nur nicht mit ängstlicher Genauigkeit abgefaßte und prosaisch ins Einzelne gehende, – sobald das betreffende Werk es verlangt, und es ist eine lächerliche, dem früheren Standpunct gemachte Concession, wenn man dieselben ablehnt. Concertdirigenten, welche dies thun, – es sind mir derartige Fälle bekannt geworden, – werden sich entschließen müssen, diesen Zopf sobald als möglich abzuschneiden. Viele neuere Werke wurden von [92] ihren Componisten in solcher Weise gedacht,
19 Diese
Passage ab „wird unzulässig“ ist sinngemäß jeweils im Zusammenhang mit Hector Berlioz in Brendels Musikgeschichte wiedergegeben (Brendel 1855 Geschichte der Musik, Bd. 2, S. 255 f.; Brendel 1860 Geschichte der Musik, S. 537).
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und es ist eine große Ungerechtigkeit gegen diese, sie dadurch beeinträchtigen zu wollen. Darum hat Musik-D. Stern20 in Berlin sehr wohl gethan, eine derartige Einrichtung zu treffen, und ich trage kein Bedenken, dieselbe als ein nachahmenswerthes Beispiel zu bezeichnen. Daß auf diese Weise dem Dirigenten zugleich ein Mittel in die Hand gegeben ist, auf die Auffassung und das Urtheil seines Publicums einzuwirken, darf noch als ein besonderer Vortheil bezeichnet werden. Programmmusik auf der einen, freies Tonspiel auf der anderen Seite erschöpfen allein nicht den Begriff der Instrumentalmusik. Beide sind Momente eines umfassenderen Ganzen, welches dieselben in sich befaßt. Die Entwicklung geht von dem Unbestimmten zum Bestimmten, und jede Stufe derselben besitzt ihre besondere Berechtigung. Es ist daher nicht beliebig eine oder die andere zu fixiren, und von ihr aus die Entscheidung zu treffen. Das richtige Urtheil kann nur auf der Höhe des Gesammtüberblicks, wie ich hier versuchte, gewonnen werden. Fr. Br.
Kommentar Der vorliegende Artikel erschien in der Zeitschrift Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft, die Brendel seit der Gründung 1856 gemeinsam mit Richard Pohl herausgab und ihren Inhalt in der Einleitung der ersten Ausgabe damit charakterisierte, „die Wirksamkeit der von mir redigirten ‚Neuen Zeitschrift für Musik‘ zu erweitern. Daß die bisherige Trennung der Künste, die strenge Sonderung derselben auch in den ihnen gewidmeten Organen, gegenwärtig ein Hinderniß wird für die Weiterentwicklung derselben, das unterliegt wohl kaum noch einem Zweifel.“21 In der NZfM erklärte Brendel die Anregungen außerdem als Blatt für all jenes, „das nicht ausschließlich Musikalische[s] betrifft, das nothwendig zur Sprache gebracht werden muß, und doch nicht in eine musikalische Zeitung gehört.“22 Entsprechend vielsagend ist die Tatsache zu betrachten, dass Brendel seinen Artikel eben nicht in der NZfM veröffentlichte und auch ein späterer Wiederabdruck in den fachübergreifenden Blättern für Musik, Theater und Kunst23 erschienen ist. Das Thema ist Brendel folglich ein Anliegen, welches aufgrund seiner Relevanz nicht nur über den musikspezifisch interessierten
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Stern (1820 –1883), Musikpädagoge und Komponist. Mit Adolf Bernhard Marx und Theodor Kullak gründete er 1850 die Musikschule für Gesang, Klavier und Komposition in Berlin, welcher Stern seit 1857 bis 1883 als alleiniger Leiter vorstand, wonach die Institution unter der Bezeichnung Stern’sches Konservatorium firmierte und eine Reihe sehr erfolgreicher Musiker hervorbrachte. 21 Brendel 1856 Einleitung, S. 1. 22 Brendel 1856 Anregungen, S. 36. 23 Brendel 1856b Programmmusik.
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Rezipienten hinaus Verbreitung finden sollte, vielmehr lässt es bereits ob seiner ästhetischen Konzeption das nur Musikalische hinter sich. Schon der Titel von Brendels Beitrag ist von mehrfach programmatischer Natur: Noch sind die Symphonischen Dichtungen Liszts – später zentraler Gegenstand des Programmmusik-Diskurses – nicht gedruckt und auch Brendels Kenntnisse davon noch marginal.24 Findet der Begriff „Programm“ zwar schon früher Verwendung in Verbindung mit Instrumentalmusik, sind meist die Bereiche „objektiv nachahmender und subjektiv empfindender Tonmalerei“ gemeint.25 Spätestens jedoch seit Liszts Aufsatz über „Berlioz und seine Haroldsymphonie“26 erhält der Begriff „Programmmusik“ nicht nur seine Prägung, sondern eine hinsichtlich letzterer Bedeutung eindeutige Konnotation und wird in der Folge zum Schlagwort, das die Kontroverse um die ‚Zukunftsmusik‘ wesentlich bestimmte.27 In der kurzen Passage des vorliegenden Artikels,28 welche Brendel bereits für die zweite Auflage seiner Musikgeschichte 1855 in Bezug auf Berlioz abgefasst hatte, erscheint „Programmmusik“ noch als nähere Bestimmung des Terminus „Tonmalerei“, was auch in der Neuauflage von 1860 unverändert übernommen wurde.29 Brendels Artikel markiert somit die Übergangsphase hin zur Konkretisierung in der Begriffsgeschichte und gliedert sich der essayistisch-ästhetischen Abhandlung Liszts an, um den Gegenstand der Programmmusik einerseits in den Bereich des allgemein interessierten Publikums hineinzutragen und andererseits, ihn nicht nur historisch zu legitimieren, sondern durch dessen musikgeschichtliche Herleitung die notwendige Konsequenz der Programmmusik aufzuzeigen und ihn sich infolge dessen für die eigene Partei ‚anzueignen‘.30 So ungewöhnlich Brendels Rückgriff bis auf Bach dabei erscheinen mag, so entwickelt sich die auch von ihm vorgenommene Instrumentalisierung der Symphonien Beethovens zum regelrechten Gemeinplatz der Befürworter sowie der Gegner der Programmmusik, was Brendel bemerkenswerterweise selbst zugesteht. Schon Hanslick begriff diesbezüglich Beethovens 9. Symphonie als die „Lieblingslüge der modernen Musikkritik“, als „Wasserscheide“ zwischen den „Strömung[en] entgegengesetzter Ueberzeugungen“31; wie bereits 185032, so zieht Brendel auch im vorliegenden Artikel die Pastorale heran, in einem wesentlich späteren Artikel33 machte Ludwig Bischoff beispielsweise die Eroica und deren programmatisch problematischen Titel zum Thema der Auseinandersetzung. Der Aufsatz verdeutlicht Brendels auch noch zu diesem Zeitpunkt kritische bzw. ambivalente Haltung gegenüber Berlioz und dessen Programmmusik,34 wobei sich der Wort-
der zweiten Auflage seiner Musikgeschichte berichtet er, dass ihm bislang nur Mazeppa bekannt sei und dies nur in einer Klavierfassung (Brendel 1855 Geschichte der Musik, S. 318). 25 Siehe Massow 1992 Art. „Programmusik“. 26 Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, in: NdS 2 Nr. 76. 27 Vgl. allgemein dazu Altenburg 1997 Art. „Programmusik“. 28 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 19. 29 „Was endlich die schon erwähnten Fragen über die Berechtigung der Berlioz’schen Tonmalerei, seiner Programmmusik betrifft, so ist hier nicht der Ort zu einem ausführlicheren Eingehen“ (Brendel 1855 Geschichte der Musik, Bd. 2, S. 255 f. sowie Brendel 1860 Geschichte der Musik, S. 537). 30 So verweist Brendel später bezüglich des Begriffs „Programmmusik“ auf den vorliegenden Artikel (Brendel 1857 Franz Liszt in Leipzig, S. 103) sowie auf seine Musikgeschichte (Brendel 1855 Geschichte der Musik). 31 Beide Zitate in Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 50, Anm. 32 Brendel 1850 Einige Worte über Malerei, S. 242, in: NdS 1 Nr. 19, S. 209. 33 Bischoff 1858 Zur Würdigung der Programm-Musik, in: NdS 3 Nr. 121. 34 Brendel konstatierte beispielsweise schon 1852, dass Berlioz die „feine Grenzlinie“ überschritten habe (Brendel 1852 Ein dritter Ausflug nach Weimar, S. 238, in: NdS 1 Nr. 37, S. 367). 24 In
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führer der späteren „neudeutschen Schule“ nicht als pauschaler Befürworter zeigt, sondern vielmehr – geradezu in Tradition von Schumanns Besprechung der Symphonie fantastique35 – eine zwar differenzierte Vorstellung von Programmmusik präsentiert, welche von klassizistischen Anleihen jedoch keinesfalls frei ist.
35 In
Robert Schumanns Berlioz-Rezension schreibt dieser die Bedeutung des Poetischen dezidiert der Musik und nicht dem Programm zu: „Ob nun in dem Programme zur Berliozschen Symphonie viele poetische Momente liegen, lassen wir dahingestellt. Die Hauptsache bleibt, ob die Musik ohne Text und Erläuterung an sich etwas ist, und vorzüglich, ob ihr Geist inwohnt“ (Schumann 1835 „Aus dem Leben eines Künstlers“, S. 50).
Nr. 87 | Felix Draeseke, „Richard Wagner, der Componist. Eine Betrachtung desselben vom rein musikalischen Standpuncte aus“, in: NZfM 23 (1856), Bd. 44, Nr. 13 (21. März), S. 133 –136; Nr. 14 (28. März), S. 145 –147; Nr. 15 (4. April), S. 157 –160; Nr. 16 (11. April), S. 169 f.; Nr. 17 (18. April), S. 177 –180.1
Richard Wagner, der Componist. Eine Betrachtung desselben vom rein musikalischen Standpuncte aus.
Wie oft auch Richard Wagner Gegenstand künstlerischer Besprechungen und Abhandlungen gewesen, wie viele geniale Gedanken auch über einen Mann geäußert worden sind, der voraussichtlich noch lange der Drehpunct künstlerischer Streitigkeit oder Bewunderung sein wird, so sei es doch auch uns, als specifischem Musiker2 einmal vergönnt, R. Wagner als solchen zu betrachten, und zu sehen, wie es mit der Behauptung derer stehe, die W.’s Musik allein für ungenießbar ausgeben, diesen großen Mann höchstens nur in der Vereinigung seiner künstlerischen Gaben für groß gelten lassen wollen. Denn es dürfte wol wenige, bei diesem Streite Interessirte geben, welche die Beschuldigungen nicht gehört hätten, Wagner’s Musik sei keine mehr, sie sei der Dichtung auf eine ihrer selbst unwürdige Weise untergeordnet, eine Sclavin des Textes geworden und wie sie ferner heißen; welche ferner aber auch nicht begriffen, daß all diese handgreiflichen Uebertreibungen auf einer falschen Ansicht von der musikalischen Behandlung rein dramatischer Stellen beruhen. Oder sind nicht auch Mozart’s steinerne Gast-Scene3, Beethoven’s Kerkerquartett4 solche dramatische Stellen, in welchen die Musik sich dem Texte, der Handlung so innig
ediert in: Draeseke-Schriften, S. 112 –137. 2 Der Ausdruck „specifischer Musiker“ wurde Anfang der 1850er Jahre, ausgehend von Wagners Schrift Das Kunstwerk der Zukunft (ED 1850) insbesondere durch Theodor Uhlig (Uhlig 1850 Drei Tage in Weimar, S. 137, in: NdS 1 Nr. 21, S. 227) und Franz Brendel geprägt (siehe etwa Brendel 1853 Die bisherige Sonderkunst, S. 91, in: NdS 1 Nr. 42, S. 417). Er bezeichnet einen Musiker oder Komponisten, der sich ausschließlich auf das Gebiet der Musik zurückzieht, und somit den Gegenpol zu einem umfassend gebildeten Musiker darstellt, der sich etwa auch mit Literatur und bildender Kunst auseinandersetzt. Für Brendel bildet letzterer jedoch eine notwendige Voraussetzung für den Fortschritt in der Musik: „Mit Künstlern, welche nur eine solide musikalische Bildung besitzen, sonst nichts, ist der Gegenwart nicht mehr gedient. […] Der zweite Punct des Fortschritts für die Musiker besteht dem Gesagten zufolge in der Gewinnung dieses höheren Bewusstseins, in der Entfernung jenes specifischen Musikerthums, welches die Ursache der Verkommenheit, der Inhaltslosigkeit in unserer Kunst ist“ (Brendel 1852 Geschichte der Musik, S. 540). 3 Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni (UA 1787), 2. Akt, 15. Szene. 4 Ludwig van Beethoven, Fidelio (UA 1814), 2. Akt, 3. Szene, Nr. 14. 1 Kritisch
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anschließt, daß sie davon nicht loszureißen ist? Und ist es nicht gewiß, daß beide Meister viel mehr derartige musikalische Stellen geliefert haben würden, hätte es ihnen die Dichtung erlaubt? Ist ferner Wagner ein Vorwurf daraus zu machen, daß er eine weit größere Anzahl solcher Stellen lieferte, da ihm seine Dichtungsweise dies auch viel mehr gestattete als früheren Operncomponisten, ja es zur Pflicht machte? Und befähigt diese größere Anzahl rein dramatischer Stellen in einem Werke zu dem Schluß, daß demzufolge dasselbe unmusikalisch sein müsse; wenn wir bedenken, daß gerade die Comthurscene aus Don Juan, das Kerkerquartett aus Fidelio Mozart’s und Beethoven’s größte musikalische Thaten in ihrer gesammten Opernmusik sind? Doch eine specielle Betrachtung von Wagner’s Musik wird zeigen, wie weit der genannte Vorwurf begründet ist. – Dieselbe wird sich auch nur auf Tannhäuser5 und Lohengrin6 beschränken, da diese einmal dem Publicum bekannter sind als Holländer7 und Rienzi8, ferner aber auch die musikalische Individualität Wagner’s in diesen Werken sich am freiesten zeigt, in diesen Werken der Meister am meisten mit der alten Form gebrochen, der Idee des musikalischen Dramas sich am meisten genähert hat, die Beschuldigungen seiner Gegner diese Opern also am meisten oder fast einzig treffen. Hier, bei der Betrachtung des speciellen musikalischen Elementes begegnen wir Vorwürfen, welche zum Theil allerdings begründet sind, aber gegenüber dem Totaleindruck, welchen das Werk hinterläßt, doch lange das Gewicht nicht haben, welches Wagner’s Gegner ihnen gern verleihen möchten. Sie betreffen erstens modulatorische und harmonische Härten. Wie gesagt, finden sich in den beiden zu besprechenden Musikdramen solche, doch sind im Tannhäuser wenige, die durch die Situation nicht berechtigt wären und demgemäß störend einwirkten. In dem vielfach gerühmten Liede Wolfram’s an den Abendstern9 sind u. a. Harmoniefolgen zu bemerken, die nicht ganz in das schwermüthige und dabei einfach zarte Gemälde zu passen scheinen, sowie uns auch die unvermittelt wechselnden Stimmungen der F und Es Waldhörner im ersten Acte10 stets etwas hart vorkommen wollten; sonst aber könnten wir uns [134] nicht entsinnen, irgendwie durch gezwungene Accordfolgen und Ausweichungen beleidigt worden zu sein. Denn an die wilden Harmonien der Venusbergsmusik11, die anfänglich der Schrecken so manches ehrlichen Musikers gewesen, gewöhnt sich das Ohr immer mehr und mehr; wir finden sie dem Auszudrückenden so entsprechend, so wenig gegen das Grundgefühl des musikalisch Schönen verstoßend, daß sie uns völlig berechtigt, ja für die Behandlung solcher Scenen nothwendig erscheinen. – Etwas Aehnliches findet statt bei dem raschen Wechsel der Tonarten am Schlusse des Sängerkriegs, in dem Augenblicke, wo Tannhäuser sein Lied aus dem Venusberge anhebt. Hier kommt es mehr als je auf die Situation an; denn solch ein jäher Uebergang von Es nach E12 ist beleidigend für das Ohr in einem ruhigen Musikstücke, völlig an der Stelle aber, wenn, wie hier, Tannhäuser, nach dem edlen, erha-
Wagner, Tannhäuser (UA 1845). 6 Wagner, Lohengrin (UA 1850). 7 Wagner, Der Fliegende Holländer (UA 1843). 8 Wagner, Rienzi (UA 1842). 9 Wagner, Tannhäuser, 3. Akt, 2. Szene, T. 38 – 74. 10 Ebd., 1. Akt, 3. Szene, T. 174 –188. 11 Ebd., 1. Akt, 1. Szene, ab T. 1. 12 Ebd., 2. Akt, 4. Szene, T. 769 – 771. 5 Richard
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benen, keuschen Gesange Wolfram’s, in wahnsinniger Verzückung sich selbst sein Schicksal bestimmt. – Mehr Härten finden sich allerdings im Lohengrin und wir glauben auch, daß sie gegen andere weniger gezwungene Harmonien, theilweise wenigstens, hätten vertauscht werden können. Es ist nicht zu läugnen, daß z. B. der Uebergang nach dem Gebet im ersten Act (von D dur nach Es dur)13 etwas sehr absichtlich klingt, daß ferner in dem Gesange der vier Edelknaben, welcher dem Frauenzuge vorausgeht, die Modulation von G nach A14 uns nicht nöthig geschienen, da sie den Uebergang zu dem folgenden Es dur15 erschwert, statt erleichtert; daß auch Lohengrin’s: „Zum Streit sie führen kann ich nicht“,16 mit den vorausgehenden C moll, Es moll, Fis moll Accorden17 äußerst hart und gezwungen klingt. Allein ebenfalls auch nicht, daß in den eigentlichen Musikstücken der Oper sich höchst selten eine ähnliche Stelle findet und ein Ursprung für diese genannten sich nachweisen läßt, der sie zum größten Theil begreiflich macht, ja entschuldigt. – Jeder wird eingestehen, daß ein öfterer Wechsel der Tonarten besonders in der Oper nöthig ist und daß dieser bedingt wird durch den Wechsel der Situationen oder der Gemüthsstimmungen, so wie durch das Bedürfniß der Steigerung. Die früheren Operncomponisten hatten nun für jede in sich abgeschlossene Situation eine ebenfalls in sich abgeschlossene musikalische Form, Arie, Duett u. s. w., welche in einer bestimmten Tonart geschrieben wurde. War dieses Stück zu Ende, so wurde die Handlung entweder durch ein Recitativ, oder auch durch das glorreichste Besitzthum unserer Oper, den gesprochenen Dialog, weiter geführt, oder endlich, wenn Zwischengespräche nicht nothwendig waren, durch das gleich darauf folgende, in einer anderen Haupttonart geschriebene Musikstück, welches sich auch nicht immer sehr vermittelt anschloß. Die Recitative waren entweder sogenannte parlando – oder große Recitative mit Orchesterbegleitung und stachen beide von den formell abgerundeten Musikstücken so sehr ab, daß sie für die, in den alten Operntexten von den lyrischen schon durch die Form getrennten, deklamatorischen Stellen sehr geeignet – dem ungehinderten Fluß Wagner’scher Operndichtungen jedoch nicht entsprechend erscheinen mußten. Dieser Meister schrieb daher seine Recitative etwa in der Form des alten arioso und ließ wenigstens fast alle in strengem Tacte ausführen; dabei bemühte er sich nun, um bei seiner strengen Declamation nicht in Langweiligkeit zu verfallen, was unvermeidlich ist, wenn diese Recitative irgend eine Ausdehnung haben, so geistreiche Harmonien und Modulationen wie möglich anzuwenden, und gerieth dann manchmal dadurch in Absonderlichkeiten und Härten. Mußte er sofort von einem Stück ins andere übergehen, so suchte er eine schnelle Modulation, die zugleich steigerte, und besonders diesem Bestreben, zu steigern, verdanken wol manche Modulationen ihren Ursprung, die von Musikern etwas scheel angesehen werden. Wie wir also sehen, hatte Wagner mit früher noch nicht in dem Maße vorhandenen Hindernissen zu kämpfen, während er in den gewöhn-
Lohengrin, 1. Akt, T. 959 – 963. 14 Ebd., 2. Akt, T. 1316 –1330. 15 Ebd., T. 1330 –1338. 16 Ebd., 3. Akt, T. 1126 –1129. Korrekt lautet die Textstelle: „Zum Streit sie führen darf ich nicht.“ 17 An dieser Stelle des Lohengrin (3. Akt, T. 1119 –1129) findet sich eine andere Akkordfolge: F-Dur, b-Moll, Des-Dur, As-Dur, E-Dur, cis-Moll, gis-Moll, A-Dur, H7, A-Dur, E-Dur, F-Dur. 13 Wagner,
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lichen Musikstücken, obwol in Harmoniefolgen und Ausweichungen überraschend neu, höchst selten unsern Ohren Zwang anthut. – „Aber“, wird man dagegen einwenden, „die Oper ist nicht mit einemmal aus der ganz alten Form in das Wagner’sche musikalische Drama übergegangen: besonders Marschner18 und Meyerbeer haben den Weg sehr gebahnt und hatten mit denselben Hindernissen zu kämpfen, ohne in die Wagner’schen Fehler zu verfallen.“ Zum Theil sind diese Reden begründet, dennoch aber fällt der Vergleich beider Componisten mit Wagner sehr zum Vortheil des Letzteren aus. – In den drei bekannten Marschner’schen Opern ist der Unsinn des gesprochenen Dialogs in vollster Blüthe und der Recitative sind daher nur wenige; in seinen großen Scenen modulirt jedoch Marschner theilweise, wenn auch nicht so hart wie manchmal Wagner, obwol auch er im Vampyr19 z. B. es an Härten nicht fehlen läßt, doch so fortwährend, daß u. a. im Vorspiel des „Hans Heiling“20 dem Zuhörer die Vorstellung einer bestimmten Tonart fast an allen Stellen geradezu fehlt. Im „Templer“21 dagegen wird der Componist gerade in solchen Stellen etwas gewöhnlich, ein Vorwurf, der Wagner weder im Tannhäuser noch im Lohengrin trifft, welchen man aber in noch erhöhterem Grade Meyerbeer mit Recht an vielen Stellen seiner Hugenotten22 und seines Propheten23 machen kann. Das Recitativ hat in seinen drei großen Opern durchweg den gesprochenen Dialog verdrängt, ist aber in denselben doch nicht in der Ausgedehnheit vorhanden, wie bei Wagner, da es ja in Scribe’s24 musikalischen Dramen nicht auf Sinn und Verstand, sondern auf fortwährendes Wachhalten des Interesses ankommt. Stellen, zu deren Erläuterung, Motivirung und Verständniß Wagner recitativische Dialoge beträchtlicher Ausdehnung nöthig gehabt hätte, werden in Meyerbeer’s Opern mit zwei Worten abgemacht und dem drohenden Uebel der Langweile ist [135] vorgebeugt auf Kosten des gesunden Menschenverstandes. Aber auch auf Kosten der edlen Schreibweise. Meyerbeer ist in seinen Recitativen selten langweilig oder geschraubt, aber italienisch melodiös und oft sogar trivial und frivol. Wie verwerflich italienische Melodie besonders beim deklamatorischen Gesang ist, brauchen wir wol nicht auszusprechen, noch wie unwürdig für einen deutschen Componisten französische Frivolität und Trivialität. Und mit diesen Eigenschaften vereinigt sich, im Propheten am auffälligsten z. B. in der Verläugnungsscene im vierten Acte25, Geschraubtheit und modulatorische Härte. – So sehen also unsere Leser, daß Richard Wagner’s musikalische Mängel dieser Art durchaus nicht so vereinzelt dastehen, und keineswegs von solchem Gewicht sind, wie sie seine Gegner gern erscheinen lassen möchten; besonders wenn sie sich den Totaleindruck eines der beiden Musikdramen vergegenwärtigen. In welchem Verhältnisse stehen jene wenigen Unschönheiten zu demselben? vermögen sie, ihn wesentlich zu schmälern? Wagner’s Gegner haben Berge aus diesen Kleinigkeiten gemacht, so groß, daß ein unbefangener Leser, welcher unsern Meister nur aus den Berichten und Aburtheilungen jener kennen lernte,
18 Heinrich
August Marschner (1795 –1861), deutscher Komponist und Dirigent, Hauptvertreter der Romantischen Oper zwischen Carl Maria von Weber und Wagner. 19 Marschner, Der Vampyr (UA 1828). 20 Marschner, Hans Heiling (UA 1833). 21 Marschner, Der Templer und die Jüdin (UA 1829). 22 Giacomo Meyerbeer, Les Huguenots (UA 1836). 23 Meyerbeer, Le Prophète (UA 1849). 24 Eugène Scribe (1791–1861), sehr effizienter französischer Bühnenautor und gefragter Librettist. 25 Meyerbeer, Le Prophète, 4. Akt, Finale (C), „Couplets et morceau d’ensemble“.
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glauben mußte, Wagner sei ein musikalisches Ungeheuer, ein Bösewicht im Princip, der die ohrenzerreißendsten Dissonanzen, die härtesten Modulationen, die gezwungensten Harmoniefolgen mit Absicht suche, den Laien zu verblüffen, den Musiker zu ärgern. Wie erstaunt er dann beim Anhören des Tannhäuser oder Lohengrin, wenn so selten einmal eine ihm häßlich erscheinende Tonfolge sein Ohr berührt, während sonst fortwährend dem Wohlklang soviel Rechnung getragen wird, daß diese wenigen einzelnen Stellen fast in ein Nichts verschwinden. Und wieviel mehr erstaunt er ferner nicht, wenn soviel herrliche Harmoniefolgen, soviel neue, originelle, gewaltige Modulationen seinen Sinnen sich zeigen, deren nicht zu gedenken oder die ebenfalls zu verdächtigen, W.’s Gegner sich nicht scheuten. Wir nennen nur den Mittelsatz aus dem berühmten Pilgerchor26 im Tannhäuser, das Vorspiel zu Lohengrin und Elsa’s erstem Auftreten27, in der Gewißheit gegen den hohen künstlerischen Werth dieser meisterlichen, durch ihre gewaltige Originalität überraschenden, musikalischen Stellen, keinen, oder einen höchst ungegründeten und unhaltbaren Einspruch zu erfahren. Denn weder von Seiten des reinen Satzes, noch von Seiten der Aesthetik dürften dieselben anzugreifen sein. Ein weiterer Vorwurf nennt Wagner melodielos, und diesen können wir, trotzdem oder vielmehr, weil zum Theil das große Publicum in denselben mit einstimmt, als ganz ungerechtfertigt zurückweisen, da er auf der sinnlosen Anforderung beruht, daß in einem Musikdrama die Dichtung musikalisch durch italienische Opernmelodien begleitet werden solle. Oder ist es diese Gattung der Melodie nicht, welche das große Publicum meint, wenn es überhaupt von Melodie spricht, und ist es nicht das Vermissen dieser, welches dasselbe in unserer Zeit aller guten und ernsten Musik entfremdet hat? Hat es nicht auch den Fidelio, nicht auch Schumann’s Werke für melodielos erklärt, weil die in jenen Werken enthaltenen Melodien nicht das beschränkte Gepräge tragen, welches sie nach den Forderungen der Menge tragen müssen? Haben sie nicht auch darum bei Wagner keine Melodien gefunden, weil die vorhandenen besser waren, als sie gefordert wurden? Freilich giebt es im Tannhäuser und Lohengrin kein Jungfernlied28 und keinen Jägerchor29, allein es giebt einen Gesang der Pilger30 und die Melodie des Schwanenritters31, die ebenfalls populär, aber edel sind und die harmonische Beschränkung auf Tonika und Dominante nicht nothwendig haben, um der großen Menge bequem und singbar, dem gebildeten Publicum aber, und den Musikern besonders, trivial und unerträglich zu erscheinen. Darum suchet, so werdet ihr finden: bei genauerem Studium des Tannhäuser und Lohengrin werden sich in den genannten Werken soviel Melodien zeigen, als nur der Dichtung entsprechend vorhanden sein können – Melodien, die, wenn sie auch nicht wie größtentheils die bisherigen, einen rein musikalischen Ursprung haben, sondern vielmehr aus der Declamation der Dichtung hervorgegangen sind, dennoch weder an musikalischem Gehalte, noch an Schönheit der
26 Wagner, Tannhäuser, 1. Akt, 2. Szene, T. 54 – 85 (Variante im 4/4-Takt) bzw. 3. Akt, 1. Szene, T. 7 – 93 (Variante im 3/4-Takt). 27 Wagner, Lohengrin, 1. Akt, ab T. 263. 28 Weber, Der Freischütz (UA 1821), 3. Akt, 4. Szene, Nr. 14. 29 Ebd., 6. Szene, Nr. 15. 30 Von den Pilgerchören der Oper meint Draeseke gewiss denjenigen zu Beginn des dritten Aktes (Tannhäuser, 3. Akt, 1. Szene, T. 53 –134), dessen Melodie bereits in der Ouvertüre erklingt. 31 Das Thema Lohengrins erklingt erstmals zu Beginn des Vorspiels.
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frühern Melodienart nachstehen, sich aber auszeichnen vor ihnen durch eine strenge und geistvolle Declamation. Im Tannhäuser lehnen sich dieselben theilweise noch an die alte Opernmelodie an, theilweise sind sie auch aus der Declamation der Dichtung hervorgegangen, in beiden Fällen sind aber die Worte des Textes durch die Musik nicht im mindesten hintenangesetzt. Wir nennen als Beispiel der ersteren Melodienbildung: Wolfram’s „Als du in kühnem Sange uns bestritten“32, als Beispiel der zweiten: die erste Hälfte von Tannhäuser’s „Pilgerfahrt“33, so wie das dem Schluß ebengenannter Erzählung folgende: „Zu dir, Frau Venus, kehr’ ich wieder“34. Auch beide letztere Stellen sind formell abgerundete, streng aus der Declamation hervorgegangene und dabei höchst melodiöse Stücke. Um nicht zu Bekanntes zu erwähnen (Tannhäuser’s Lied an die Venus35, Wolfram’s Lied an den Abendstern), gedenken wir nur eines herrlichen Sanges der Venus: „Hin zu den kalten Menschen flieh’!“36, des ersten Finales37, der übergroßen Melodienfülle, die im ganzen zweiten Acte ausgebreitet ist, besonders in der Scene zwischen Elisabeth und Tannhäuser38, in dem Einzug der Gäste39 und dem Finale40; sowie des schon in der Ouverture gewaltig auftretenden Pilgerchores41 aus dem dritten Acte. Nur wenige dieser genannten Stellen prägen sich aufs erstemal dem Ohre ein, aber mit dem öfteren Hören des Werkes (und dies verlangt ein öfteres Hören) nehmen sie den Zuhörer immer mehr gefangen wegen des ganz eigenthümlichen Zaubers, den sie ausüben und [136] wegen der überraschenden Verschiedenheit von dem melodiösen Elemente anderer Zeiten. Noch reichere Ausbeute finden wir aber im Lohengrin, in welchem Werke die überall vorherrschende „Melodie der Sprache“42 der Opernmelodie an Schönheit und Musikgehalt nichts nachgiebt. – Welcher jungfräuliche Zauber liegt nicht in dem ersten Auftritt Elsa’s? Wie hehr und ritterlich, und dabei wie eigenthümlich neu erscheint uns die Weise, welche des Schwanenritters Nahen verkündet! Was ferner gleicht der Verklärung, die der Chor „Wie faßt uns selig süßes Grauen“43 über den andächtigen Zuhörer in reichem Maße ausgießt! Soll ich noch von der kindlich reinen Naivetät reden, die Elsa’s Balconscene44 und das darauffolgende Duo mit Ortrud: „Es giebt ein Glück, das ohne Reu“,45 so verklärend abhebt von dem düsteren Grunde, auf welchem in den entsprechendsten Farben Telramund’s und Ortrud’s wilde Leidenschaften aufgetragen sind. Schon jetzt fehlen uns die beschreibenden Worte und doch kommen wir erst zu der melodisch reichsten und schönsten Abtheilung des ganzen Werkes, zu der großen Liebesscene Lohengrin’s und Elsa’s
Tannhäuser, 1. Akt, 4. Szene, ab T. 161. Korrekt heißt es im Operntext: „bestrittest“. 3. Akt, 3. Szene, ab T. 103. 34 Ebd., 3. Szene (2.–5. Fassung), ab T. 287. 35 Erstmals erscheint es im ersten Akt des Tannhäuser, 2. Szene, T. 92 –158. 36 Ebd., 1. Akt, 2. Szene, T. 463 – 508. 37 Ebd., 4. Szene, ab T. 208. 38 Ebd., 2. Akt, 2. Szene, ab T. 9. 39 Ebd., 4. Szene, T. 24 – 211. 40 Ebd., 4. Szene, ab T. 1117. 41 Ebd., Ouvertüre, bis T. 80 und wieder ab T. 320. 42 Anspielung auf den Titel einer 1853 vom Königsberger Musikdirektor Louis Köhler verfassten Schrift, in welcher Köhler versucht hatte, ausgehend von Wagners Ausführungen in Oper und Drama (ED 1852) und seinen bis dahin komponierten Opern eine insbesondere auf die Deklamation fokussierte Kompositionslehre vorzulegen. 43 Wagner, Lohengrin, 1. Akt, T. 705 – 717. 44 Ebd., 2. Akt, ab T. 424. 45 Ebd., T. 475 – 823. Die erwähnte Textstelle steht am Schluss, ab T. 814. 32 Wagner,
33 Ebd.,
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im dritten Acte,46 die auf dem Gebiete dramatischer Musik ihresgleichen nicht hat. Wo nehmen kritische Federn den Muth her, Vorwürfe der Melodielosigkeit gegen ein Werk auszusprechen, wenn auch nur ein einziges Mal das: „Fühl’ ich so süß zu dir mein Herz entbrennen“,47 in ihre Seele eingedrungen ist, sie nur ein einziges Mal den ergreifenden Gesang gehört haben, mit dem Lohengrin von Elsa scheidet!48 Allerdings vermögen wir wol Gründe, warum das große Publicum weniger Melodien finden will, als wir, zum Theil darin zu finden, daß manche derselben nicht immer ganz den Sängern gegeben ist, sondern Violine, Violoncell, Clarinette, englisch Horn und andere Instrumente einen Theil an der Ausführung haben, oder daß, wie im Lohengrin, einige Melodien blos vom Orchester getragen werden, zum Zweck verschiedenartiger Charakteristik, und der Laie, welcher gewohnt ist, sie im Munde der Solosänger zu suchen, dieselben nicht als solche anerkennt, oder darin, daß sie, wie schon oben erwähnt, nicht das geforderte beschränkte Aussehen haben. Unter den Orchestermelodien giebt es freilich mehrere, welche dem Zuhörer mehr als andere sich einprägen, ja beim großen Publicum sogar das Erkennungszeichen des Wagner’schen Styles abgeben. Wir meinen seine breiten, von großen Mitteln getragenen Melodien, mit deren Erscheinen er zuerst die Oper bereicherte. Denn die Allgewalt und Hoheit, welche diese Weisen in dieser instrumentalen Ausstattung athmen, lassen uns in ihrer Einbürgerung in das Musikdrama eine Bereicherung desselben sehen. Schon bei Weber finden wir das Bemühen, seine Gesangsthemen in den Instrumentalwerken mit großem Pomp und Glanz auszustatten. Bei der Beweglichkeit seiner Melodien, welche stets von den Violinen vorgetragen wurden, war es ihm aber unmöglich, die passende Instrumentation zu finden; die brillante Orchestration kam stets nur der Begleitung zu gute, und verschlang stets die Themen. Berlioz war der erste, welcher am Schluß seiner Cellini-Ouverture49 das große choralartige Hauptthema unisono den drei Posaunen und allen Trompeten gab, Meyerbeer, der wol sah, welch nie geahnte Wirkung diese Instrumentationsweise erzielte, benutzte dieselbe bei einem sehr trivialen Gedanken im vierten Acte des Propheten;50 die rechte Weihe aber und Popularität erhielt sie erst, als Wagner sie zum Ausdruck des tiefernstesten, erhabensten Siegesjubels machte, der am Schluß seiner Tannhäuser-Ouverture im mächtigen Fluge aller Herzen gewinnt. Dies ist die richtige Art, einen großen Gedanken großartig darzustellen und ihn auf eine mächtige Weise dem Ohre des Zuhörers einzuprägen; – dies das richtige Mittel, einer gewaltigen Steigerung derselben Melodie die Krone aufzusetzen. So tritt auch die genannte Instrumentation bei dem herrlichen Aufzuge der brabantischen und sächsischen Edlen im dritten Acte des Lohengrin51 mit einer ganz niederschmetternden Macht ein, um das Auftreten König Heinrich’s zu zeichnen. [145] Diese breiten, von großen Mitteln getragenen Weisen sind indeß nur ein Theil der obenerwähnten Orchestermelodien, die Wagner (doch erst im Lohengrin in solcher Ausdehnung und mit solch’ ausgesprochener Absicht) schuf, um die Haupt
46 Ebd.,
3. Akt, ab T. 306. 47 Ebd., erstmals ab T. 334. 48 Ebd., ab T. 1514. 49 Hector Berlioz, Benvenuto Cellini (UA 1838), Ouvertüre (Weimarer Fassung), ab T. 355. 50 Meyerbeer, Le Prophète, 4. Akt, Finale (B), „Chœur d’enfants et chœur générale“, ab T. 59. 51 Wagner, Lohengrin, 3. Akt, T. 950.
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personen und Hauptgegenstände seines Werkes damit zu charakterisiren. Er hat nämlich Lohengrins, Elsa’s, Ortrud’s Gestalt, sowie den Graal, das Gottesgericht u. a. Dinge m. von Melodien begleiten lassen, die an den passenden Orten wiederkehren, um das Nahen der durch sie gezeichneten Person, die Einmischung des von ihr repräsentirten Gegenstandes anzudeuten und auf diese Weise den Zuhörer immer in das Folgende einzuführen. So erscheint z. B. auch die Melodie: „Nie sollst du mich befragen“52 (nebenbei eine der herrlichsten im ganzen Werke) öfter als Warnungszeichen, und viele andere Gedanken kehren oft sehr geistvoll an späteren Stellen wieder, zur Erinnerung an frühere (wie z. B. das „Fühl’ ich so süß mein Herz zu dir entbrennen“, welches nach dem Eintritt der Katastrophe wiederkehrend,53 von unbeschreiblicher Wirkung ist). Anfänge dieser Art, Wiederholungen lassen sich schon in Euryanthe54, Robert55, Prophet, Holländer und Tannhäuser nachweisen (denn ausnahmsweise und nur sehr selten finden sie sich schon bei Mozart, Weigl56, Spontini57, Beethoven); aber erst im Lohengrin sind dieselben principiell zur Charakteristik von Personen und Gegenständen verwendet worden. Wagner’s Gegner haben freilich gefunden, daß diese Gedanken zu oft wiederkehren und uns zuletzt belästigen, und wir können, obwol wir durchaus nicht einstimmen in diesen Vorwurf, da er eine Sache des Gefühls berührt, denselben allerdings nicht durch Beweise entkräften. Doch ist jedenfalls anzuerkennen, daß W. bei diesen Wiederholungen die äußerste Mannichfaltigkeit hat walten lassen, daß ferner die meisten bei der Wiederkehr nur andeutungsweise erscheinen und daß endlich durch dieselben etwas gewonnen worden, was früheren Werken fehlt, nämlich die äußerlich wahrnehmbare formelle Einheit des Ganzen. Die einzelnen Arien nämlich, Duetten und Ensemblestücke athmen bei den großen Meistern der dramatischen Tonkunst wol eine formelle Schönheit und Einheit, die Wagner’schen Musikstücken nicht überall zu eigen ist, doch fehlt in den Werken jener Meister der Zusammenhalt durch die ganze Oper. Unsere großen Componisten schrieben keine in einem Flusse fortlaufenden Dramen, bedurften also des Zusammenhaltes nicht, weil sie ihre Texte von vornherein zum Zweck der Composition in kleine Theile gespalten sahen und ihr künstlerischer Tact sie verhinderte, die einzelnen Musikstücke eines solchen Werkes (ausgenommen, wenn eine außergewöhnliche Situation es bedingte) zu ungleichartig von einander zu gestalten. Mit der allmählichen Aufhebung der musikalischen Einzelformen und dem Anwachsen der Scene erwachte jedoch das Bedürfniß, die Form des großen Ganzen zu vervollkommnen und mit demselben ganz naturgemäß die Melodienwiederholungen, die, wie wir schon oben angedeutet, sich, wenn auch seltner und absichtsloser, bei Weber, Meyerbeer u. A. vorfinden. Wagner, wie gesagt, machte sich bei der Composition des Lohengrin diese Wiederholungen zum Princip, und erzielte dadurch einen solchen einheitlichen Totaleindruck, daß selbst der ängstlichste
53 Ebd., 3. Akt, T. 784 – 791. 54 Weber, Euryanthe (UA 1823). 55 Meyerbeer, Robert le diable (Robert der Teufel, UA 1831). 56 Joseph Weigl (1766 –1846), österreichischer Komponist und Dirigent, vorrangig bekannt durch sein Singspiel Die Schweizer Familie (UA 1809). 57 Gaspare Spontini (1774 –1851), italienischer Komponist und Dirigent, wirkte vor allem in Paris und Berlin, gilt als ein Hauptvertreter der späten Tragédie lyrique. 52 Ebd., 1. Akt, T. 777 f.
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Formensinnige denselben befriedigt anerkennen [146] wird. Dabei ist aber die formelle Einheit der eigentlichen Musikstücke durchaus nicht so unberücksichtigt geblieben, daß wir eben nur in jener oben erwähnten des großen Ganzen dafür Ersatz fänden. Ja, es ist Letzteres immer geschehen, wenn der Text lyrisch genug war, um eine, die Handlung nicht hemmende Ausbreitung der Musik zu erlauben. Im Tannhäuser ist diese musikalische Ausbreitung bisweilen noch sehr an das Wesen der alten Oper erinnernd; deswegen fällt es uns bei diesem Werke nicht schwer, in Wolfram’s erstem Solo58, dem Schlußchor des ersten Actes59, dem As dur Duett60, dem Einzug der Gäste, dem großen A dur Chore61 im zweiten Aufzuge, Elisabeth’s Gebet62, der ersten Hälfte von Tannhäuser’s Erzählung63 und dem bekannten Gesange der Pilger64, auch dem Laien erkennbare, ausgeprägte Formen aufzufinden. Aber auch im Lohengrin, in welchem Wagner’s Bruch mit der alten Oper sich doch noch viel entschiedener ausspricht, kann es uns nicht schwer fallen, Beispiele formeller Abrundung einzelner Musikstücke aufzufinden. An solchen ist des ersten Acts letzte Scene65 besonders reich, sowie auch das vielerwähnte Duett im Brautgemach66. Mit diesen mögen besonders die Männerchöre67 und der Frauenzug68 im zweiten Acte, sowie die Instrumentaleinleitung des dritten und der große Aufzug der Krieger69 in ebendemselben, zumeist aber das Vorspiel zu der Oper in erster Reihe genannt werden. Auf dieses Vorspiel verweisen wir auch Alle, welche nach Anhörung der Holländer- und Tannhäuser-Ouverture Wagner die Fähigkeit, ein nicht zerrissenes, einheitvolles, gutgearbeitetes Instrumentalwerk zu schreiben, absprechen wollen. Denn die beiden genannten Ouverturen trifft der Vorwurf des Zerstückelten, Unverarbeiteten wol nicht ganz mit Unrecht, wenn man auch der Tannhäuser-Ouvertüre wenigstens musikalischen Fluß nicht im mindesten absprechen kann. Auf jeden Fall sind aber beide Werke nicht formlos, nicht ohne innere Einheit, ferner von bedeutendem musikalischen Inhalt, und als Malereien ganz genial und durch ihre originelle Wahrheit überraschend. Wenn wir nun noch mit diesen die selbst jetzt noch vom großen Publicum, wie zum Theil auch von den Musikern so sehr überschätzten Weber’schen Ouvertüren vergleichen und ermessen, wie auch in diesen immer noch als Meisterwerke hingestellten Musikstücken das vielfache Flickwerk und der fühlbare Mangel an Durcharbeitung der Ideen einem streng-kritischen Auge nicht verborgen bleiben kann, und besonders der unwürdige Gebrauch der Blechinstrumente zu einem nichtsweniger als edlen Spectakel den Zuhörer verletzen muß, wie ferner von eigentlicher Originalität der Gedanken oder der Behandlung des Orchesters selten die Rede ist, und die Hauptvorzüge derselben blos ein schwungvoller Fluß, ein brillantes, effectvolles Ende sein dürften, so müssen wir gestehen, daß Wagner’s
Tannhäuser, 1. Akt, 4. Szene, ab T. 161– 200. 59 Ebd., 4. Szene, ab T. 241. 60 Ebd., 2. Akt, 2. Szene, T. 201– 348. 61 Einen Chor in A-Dur gibt es im zweiten Akt des Tannhäuser nicht. Da Draesekes Aufzählung chronologisch vorgeht, ist wohl entweder der Chor der einziehenden Gäste gemeint (2. Akt, 4. Szene, T. 92 – 205), oder derjenige, der nach Elisabeths Bitte einsetzt (2. Akt, 4. Szene, T. 960 –1025). Beide stehen allerdings in H-Dur. 62 Ebd., 3. Akt, 1. Szene, T. 135 – 231. 63 Ebd., 3. Akt, 3. Szene. 64 Ebd., 1. Akt, 3. Szene. 65 Wagner, Lohengrin, 1. Akt, ab T. 660. 66 Ebd., 3. Akt, ab T. 306. 67 Ebd., 2. Akt, T. 972 –1018, 1057 –1086, 1114 –1149, 1185 –1261. 68 Ebd., T. 1346 –1424. 69 Ebd., 3. Akt, T. 859 – 979. 58 Wagner,
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originelle, musikalisch inhaltreiche Prologe zu Holländer und Tannhäuser den Wettkampf mit den eben besprochenen Werken durchaus nicht zu fürchten haben. Bei weitem übertroffen werden jedoch die letztgenannten beiden Tongemälde durch das erwähnte Vorspiel zu Lohengrin, was zwar auch nach Wagner’s Programm ein bestimmtes Bild, die Herabbringung des Graals auf die Erde durch Engel, darstellen soll, nichtsdestoweniger aber als specifisches Musikstück durch schönen Fluß, contrapunctistische Arbeit, formelle, einheitliche Abrundung, bedeutenden Musikinhalt und wahrhaft zauberhafte Instrumentation gegründeten Anspruch machen kann auf den Namen eines instrumentalen Meisterwerkes. Dabei ist die Form wesentlich unterschieden von der gewöhnlichen, die Gedanken, die Harmoniefolgen und Modulationen, sowie die Farbengebung sind im höchsten Grade durch Originalität überraschend, ferner frei von allen Härten und mit einem ungewöhnlichen Wohlklange ausgestattet. Bezeichnend ist auch für dieses Meisterwerk instrumentaler Kunst, daß W.’s Gegner fast nie davon geredet, höchstens nur die Benutzung der getheilten Geigen in den hohen Tönen spöttisch erwähnt und für eine unnatürliche Ueberreizung der Nerven ausgegeben haben.70 Wer aber das dem Werk zu Grunde liegende Bild kennt, wird die erwähnte Instrumentationsart nicht nur am Platze, sondern geeigneter, als alle andern finden, und wenn derselbe nur irgendwie ohne Vorurtheil an das Anhören geht, von der musikalischen Schönheit und dem poetischen Zauber des Ganzen so gefangen genommen werden, daß ihm keine Zeit bleibt, zu Reflexionen über Unnatürlichkeit und Ueberreizung. Oder findet sich in der Gegenpartei ein dramatischer Componist, der W.’s nervenaufregender Musik gegenüber etwas Anderes, als einschläfernde Langweiligkeit zu bieten vermöchte? Als specifisches Musikstück dürfte das genannte Vorspiel die größte musikalische Leistung Wagner’s sein; jedenfalls ist es das Formvollendeteste, was er geschrieben. Wie wir sehen, ist aber die formelle Einheit der Musikstücke auch in der Oper selbst möglich und nicht blos, wenn jene Orchesterwerke sind. Am meisten ist dies bei den Chören der Fall, in welchen von Massen ein Gedanke ausgesprochen wird, der eben aus diesem Grunde einer mannichfachen Bearbeitung freies Feld läßt. So sind es denn auch die Ensembles und Chöre in W.’s Opern gewesen, welche den specifischen Musiker am meisten ansprachen, obwol auch sie von den Vorwürfen der Gegner nicht verschont blieben. Diese behaupten nämlich mit scheinbarer Berechtigung, Wagner habe zwar oft Doppelchöre geschaffen, aber dieselben klängen nichtsdestoweniger durchaus nicht sechs- oder achtstimmig, sondern Verdopplungen, Octavenfolgen und vieles im reinen Satze nicht Zulässige finde sich fortwährend
70 Otto Jahn hatte 1854 in seiner Rezension des Werks in den Grenzboten über die Instrumentaleinleitung bemerkt: „Aber eigenthümlich ist die Klangfarbe und die Steigerung, welche dadurch hervorgebracht wird, daß zu den Geigen in höchster Lage, immer mehr und immer tiefere Instrumente hinzutreten, so daß die Tonmasse sich zu verdichten scheint, bis sie allmälig wieder verschwindet. Dieser Effect ist mit großer Geschicklichkeit ausgeführt und man würde ihn als Klangeffect schön nennen können, wenn nicht die hohe Geigenlage etwas Gereiztes und Ueberspanntes hätte, welches die Nerven stark afficirt, aber nicht für schön gelten kann“ (Jahn 1854 Lohengrin, Oper von Richard Wagner, S. 135).
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in diesen Stücken.71 Allerdings! Die Frage stellt sich demnach so: Wollte Wagner uns den Genuß bereiten, einen sechs- oder achtstimmigen Satz zu hören, oder wollte er ein frisches, dramatisch belebtes Musikstück schaffen, das insofern ein Doppelchor [147] war, als eine Theilung der auf der Bühne befindlichen Personen in zwei Haufen (Chöre) stattfand? Müssen wir auch zugeben, daß durchaus nicht dem Verbot der Octavenfolge so ängstlich Rechnung getragen worden, wie die früheren Meister es bei der Composition der Chöre für nöthig befanden, so ist es doch auch einzugestehen, daß in Wagner’s Doppelchören die einzelnen Chöre als Ganzes sich streng untereinander scheiden, daß sie überall wohlthuend wirken und der nicht immer vorhandene sechs- oder achtstimmige Satz nur von dem feinen Ohr des Musikers empfunden, von niemandem aber ernstlich vermißt werden wird. Und mit welchen Augen müssen wir endlich bei solcher Gewissenhaftigkeit Meyerbeer und seine vielen Unisonochöre betrachten? [157] Von den einzelnen Musikstücken der Wagner’schen beiden Werke wenden wir uns nun zu den recitativisch-declamatorischen, d. h. den eigentlich dramatischen Stellen, welche hauptsächlich schuld sind an dem Vorwurf des Unmusikalischen in Wagner’s Opernmusik. Glauben wir auch, es sei uns gelungen, diesen Vorwurf zu entkräften eben durch die vorangegangene Betrachtung der formell abgerundeten Musikstücke, so möchten wir doch weiter noch durch Eingehen in die rein dramatischen Theile seiner Werke den Beweis liefern, daß die dieselben begleitende Musik ebenfalls durchaus nicht Unmusik sei, auch nicht fehlen könne, ja sogar durch keine andere, als die eben gegebene (mit sehr wenig Ausnahmen), zu ersetzen sein dürfte. Sind doch gerade diese sogenannten Stellen von der entscheidendsten und größten Wirkung und überragt doch W. in dieser Art von Musik alle seine Vorgänger. Denn, wenn auch Gluck’sche Recitative, Beethoven’s Kerkerquartett, Mozart’s Comthurscene schon gleich Großes bringen, so sind dies doch nur eben Ausnahmen von der gewöhnlichen Opernform, zu welchen außerordentliche Situationen diese Meister drängten; Annäherungen derselben an das musikalische Drama, dessen Gesammtidee denselben wol nicht klar gewesen, in Augenblicken aber, in welchen sie derartige Stellen componirten, von ihnen geahnt worden sein mag. Erst mit der Reformation der Dichtung konnte der dramatischen Musik das große Feld eingeräumt werden, das sie in W.’s Opern inne hat und auf welchem sie so Entscheidendes wirkt. Betrachten wir u. a. den Schluß von Tannhäuser’s Erzählung seiner Pilgerfahrt. Welch ein ergreifendes Gemälde ist diese Darstellung der mühseligen Wanderung von Anfang an und wie erschütternd wirkt das Ende, die Verdammung durch den heiligen Vater! Es sind blos einzelne, oft aufeinander folgende Töne mit der harmonischen Grundlage verminderter Septimenaccorde; allein dies oftmalige Wiederholen desselben Tones ist so eindringlich, die Stöße der Posaunen, besonders bei dem ganz unerwarteten F moll Accorde72, sowie bei dem noch unerwarteteren darauf folgenden Liegenbleiben auf dem Tone es („Erlösung niemals
71 So
hatte etwa Joachim Raff 1854 an Wagners Doppelchören bemängelt, ihnen ginge die „nötige polyphone Anlage“ ab (Raff 1854 Die Wagnerfrage, S. 124). 72 Wagner, Tannhäuser, 3. Akt, 3. Szene, T. 240.
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dir erblühe“)73 sind so niederschmetternd, die Contrabaßfigur74 ist ein so wahrer Ausdruck innerster Zerknirschung, daß wir nach dem oftmaligsten Anhören des Werkes bei dieser Stelle eben noch die andächtigen Zuhörer der ersten Aufführung sind und keine Note anders wünschen. Und gleichwol, was wäre diese Musik, die uns an dieser Stelle der Dichtung so ergreift, wenn sie für sich bestehen sollte? Können wir dieselbe Frage nicht auch in Beethoven’s Kerkerquartett, sowie in Don Juan’s Scene mit dem Comthur aufwerfen? Und ist diese Musik darum weniger Musik, weil sie aufhört, alles in sich selbst zu sein? Im Gegentheil, wir finden sie erhabener als alle andere Opernmusik der genannten beiden Meister, und hoffen auch auf keine Gegner dieser Ansicht zu stoßen. Und gewiß wäre das declamatorisch-musikalische Element im Don Juan wie im Fidelio überwiegend, hätten die Dichtungen beider Opern mehr Stellen wie die genannten, aufzuweisen. Denn diese kleinen Bruchstücke bezeugen, wie Beethoven und Mozart den gewöhnlichen Pfad der Composition gern verließen, um ihre Musik eng der Dichtung anzuschließen, wenn letztere durch äußere Fassung und innern Gehalt, dies Verfahren nur einigermaßen rechtfertigte. Die [158] Wagner’schen Dichtungen rechtfertigen dies aber stets: wozu also Vorwürfe, die beim Anblick der anerkannten dramatischen Meisterwerke unserer musikalischen Koryphäen in ein Nichts zerfallen? Gehen wir lieber zu anderen Beispielen über aus Tannhäuser und Lohengrin, deren gewaltige Wirkung auch nur nach einmaligem Hören jedem lebhaft vor der Seele stehen wird. Der Kampf Wolfram’s und Tannhäuser’s am Schluß des letzten Actes75 ist ein solches. Sehen wir die bloße Musik an, so umgiebt uns ein wahres Meer von raschen Harmoniefolgen, wüsten Modulationen, chromatischen Gängen und vielen dem Anschein nach unmusikalischen Tonverbindungen. Und wie wirkt dieser Kampf auf der Bühne? Die Musik könnte nicht anders sein, das fühlen wir: aber in uns regt sich auch nicht der Musiker, wenn er selbst wollte. Es überkommt in dieser Scene dem Zuhörer ein ähnliches Gefühl, wie in der großen Kerkerscene im Fidelio: der ganze Mensch ist von dem Vorgange gefangen genommen, er keucht innerlich vor Aufregung und der erste, solchen erschütternden Seelenbewegungen folgende Ruhepunct im Kunstwerk ist demnach auch ein Punct des Aufathmens für den Zuhörer. Wer aber versteht, durch die Musik auf eine solch gewaltige Weise zu wirken, und den ganzen Menschen in Aufregung zu setzen, hat meines Erachtens das Höchste erreicht, was dem dramatischen Tonkünstler zu erreichen möglich ist. Oder beweist nicht auch Gluck, daß er dies für seine Aufgabe gehalten, durch den Ausspruch in der Vorrede zur Alceste76: er versetze sich, wenn er an die Composition einer Oper gehe, in Gedanken ins Parterre, lebe sich so viel als möglich in die musikalisch zu behandelnde Dichtung ein und suche hauptsächlich zu vergessen, daß er Musiker sei.77 Die Betrachtung von Gluck’s
73 Ebd., T. 241– 243. Korrekt lautet der Vers: „Erlösung nimmer dir erblühn“. 74 Es kann nur das fünftönige chromatische Motiv in T. 243 der dritten Szene gemeint sein, das jedoch im Unisono aller Streicher erklingt. 75 Ebd., 3. Szene (2.–5. Fassung), ab T. 302. 76 Gluck, Alceste (UA 1767). 77 Die von Draeseke erwähnten Äußerungen Glucks finden sich nicht im Vorwort zur Alceste, sondern gehen auf einen Bericht Olivier de Coranceys zurück, den Anton Schmid in seiner Gluck-Monographie mitgeteilt hatte, wo er Gluck wie folgt zitiert: „Ehe ich arbeite, suche
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Werken78 zeigt uns das stete Anschmiegen der Musik an die Dichtung, soweit es in den damals noch strengen musikalischen Formen möglich war, am meisten natürlich in dem alle dramatische Freiheit zulassenden Recitative, ohne daß uns irgend etwas Unmusikalisches aufstieße. Dies „den Musiker vergessen“ bedeutet also den specifischen Musiker nicht in sich aufkommen lassen, der, mit contrapunctistischen Kenntnissen ausgerüstet, nur schöne, gut gearbeitete Musik geben will, und das dramatische Element von vornherein als ein Hinderniß für die musikalische Umkleidung oder vielmehr Verarbeitung seines Textes verwünschen muß. Denn wie gern wir auch zugestehen, daß contrapunctistische Kenntnisse selbst dem dramatischen Componisten von höchstem Nutzen, die Anwendung derselben von der größten Wirkung sein könne, so mögen wir doch auch nicht verhehlen, daß die Entfaltung derselben, wenn sie das dramatische Leben einer Scene hindert, uns durchaus nicht am Platze zu sein scheint. In dieser Weise negirt denn auch Wagner den specifischen Musiker in sich, und zwar noch viel ausgedehnter als Gluck, da ihn die strengen Einzelformen der Oper nicht in dem Maße binden, wie letztgenannten Meister. Stoßen wir denn auch aus diesem Grunde auf Manches, was uns unmusikalisch erscheint, so haben wir schon oben erläutert, wie hoch diese Fehler dem mächtigen Totaleindruck gegenüber anzuschlagen sind: werden wir ja durch die zündende Wirkung seiner dramatischen Stellen allein hinreichend dafür entschädigt. Bei Anführung derselben haben wir uns bis jetzt blos auf „Tannhäuser“ beschränkt. Mögen denn auch aus W.’s Meisterwerk „Lohengrin“ einige hier Platz finden, die an gewaltiger dramatischer Wirkung den vorher angeführten nicht nachstehen. So sei besonders die erste Scene des zweiten Actes genannt, in welcher Telramund’s und Ortrud’s finstere Gedanken so überzeugend wahr musikalisch wiedergegeben sind. Nur einmal erhebt sich die Wuth des um seine verlorne Ehre klagenden Friedrich zu einem formellen Tonstück79, sinkt aber sodann wieder, machtlos zusammenbrechend, um den unheildrohenden, rachedurstigen Reden Ortrud’s zu weichen, womit dieses dämonische Weib seinen Gatten berückt. Das ganze Wesen dieser gewaltig-schrecklichen weiblichen Erscheinung, welches sich zum erstenmal vor uns in dieser Scene enthüllt, ist mit überraschender Wahrheit musikalisch ausgedrückt worden durch das düstere Colorit der Instrumentation, die Unbestimmtheit der verminderten Septimenaccorde und der übrigen harmonischen Ausstattung, und besonders das öftere Auftauchen
ich vor allen Dingen zu vergessen, dass ich Musiker bin“ (Schmid 1854 Christoph Willibald Ritter von Gluck, S. 425). „Den Plan der Komposition entwerfe ich immer, wenn ich mitten im Parterre sitze. Bin ich einmal mit der Komposition des Ganzen und mit der Charakteristik der Hauptpersonen im Reinen, so betrachte ich die Oper als fertig, obgleich ich noch keine Note niedergeschrieben habe“ (ebd., S. 433). 78 Die Diskussion um Gluck entwickelte sich als Seitenzweig der Kontroverse um Wagner. Im Gegensatz zu Draesekes Gluck-Bild wird von gegnerischer Seite gerade der Musiker Gluck betont, wodurch Wagner die Berechtigung eines Anknüpfens bei ihm abgesprochen werden soll. So schrieb Johann Christian Lobe: „Der Schöpfer der beiden Iphigenien war aber viel zu sehr Musiker, um den Beruf seiner Kunst einem erträumten, dramatischen Ideale ganz zum Opfer zu bringen“ (Lobe 1857 Ueber R. Wagner’s ‚Tannhäuser‘, S. 381). 79 Wagner, Lohengrin, 2. Akt, T. 102 –166.
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einer Melodie, die, fast nur von der Baßclarinette vorgetragen80, in ihrer trüben Färbung, ihrer finsteren harmonischen Ausstattung, eigens für diese Scene geschaffen erscheint und nicht wenig zu dem schaurigen, unheimlichen Eindruck beiträgt, den Ortrud’s Gestalt und die ganze Scene überhaupt, in uns erregt. Einzelne Stellen in derselben, z. B. die Wuthausbrüche Telramund’s („Entsetzlich! Ha, was lässest du mich hören!“81), sowie der darauf folgende Schluß der Scene, sind so gewaltig und besonders das rasch, aber wundervoll aufeinander folgende E dur und F moll bei den Worten „meine Ehr gewänn ich neu“,82 wirkt so niederschmetternd, daß diese sehr lange, fast nur recitativische Scene, eben durch die Hilfe der Musik fortwährend spannt und interessirt, statt zu ermüden, wie man erwartet. Diese Meisterschaft in dem rein dramatischen Elemente setzt aber ganz natürlich eine Meisterschaft in der Charakterisirung der einzelnen Personen voraus, da ohne dieselbe wol eine declamatorische, nicht aber dramatisch-wahre Musik geschaffen werden könnte, ferner eine unerträgliche Einförmigkeit des Gesanges entstehen und eben durch dieselbe alles dramatische Leben zerstört werden würde. Doch auch diese Eigenschaft hat man Wagner abgesprochen, freilich fast stets ohne Beweise und mit demselben Rechte, mit welchem man Beethoven für einen trivialen Nachäffer Mozart’s, Weber für einen unpopulären Componisten erklären dürfte! Allerdings – wenn [159] die ganze Charakterisirung der Personen blos in den öfteren Wiederholungen der sie repräsentirenden Orchesterthemen bestände, so möchten Wagner’s Gegner recht haben und diese Art der Charakterisirung als eine wohlfeile bezeichnen; allein die reine Musik an und für sich, in welcher Wagner seine Personen sich ausdrücken läßt, ist hinreichend bezeichnend genug für die Eigenthümlichkeit einer jeden. Beispiele werden unsere Behauptung am besten bekräftigen, und darum möge unter denselben der Sängerkrieg83 aus Tannhäuser genannt werden, indem dieser Theil des Dramas, in Hinsicht auf musikalische Charakterisirung eines der größten Meisterwerke, sonderbarerweise von dem obenerwähnten Vorwurfe getroffen worden ist. Die in demselben auftretenden Minnesänger sind der ritterliche, dabei etwas derbe und ungefüge Biterolf, sein Gegensatz der zarte und duftige Walther von der Vogelweide und Wolfram von Eschinbach84, in dessen tiefernstem, echt männlichem, dabei aber sanftem und gemüthstiefem Wesen die Eigenschaften der beiden Erstgenannten ihren Verschmelzungs- und Einigungspunct finden. Ihnen gegenüber steht Tannhäuser, der wild-leidenschaftliche, kurzangebundene, leicht entzündbare Mensch. Gereizt von den ascetischen Gesängen der drei Troubadours wird er heftig im Entgegnen, in seinen Gedanken taucht (was das Orchester sehr schön ausdrückt) wieder der Venusberg vor ihm auf, und immer mehr gereizt durch die heftigen Einsprüche seiner Rivalen, gesteht er endlich in höchster Verzückung seinen Frevel. Wem sollte nun in dieser Scene die musikalische Charakteristik der verschiedenen Sänger entgangen sein? Oder tritt das zarte, fast weibliche Element in Walther’s Sange85, das wild-kriegerische, derb-männliche in dem Biterolf ’s86 nicht auch in der 80 Wahrscheinlich meint Draeseke das erstmals in T. 28 des zweiten Lohengin-Aktes auftauchende Motiv. 81 Wagner, Lohengrin, 2. Akt, T. 337 – 339. 82 Ebd., ab T. 360 – 364. 83 Wagner, Tannhäuser, 2. Akt, 4. Szene, ab T. 385. 84 Bis Mitte des 19. Jahrhunderts waren für den Dichter verschiedene Varianten seines Namens gebräuchlich: „Eschenbach“, „Eschinbach“, „Eschilbach“. 85 Ebd., T. 544–595. 86 Ebd., T. 662–692.
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Musik unterschiedlich genug hervor? Und finden sich nicht in Wolfram’s Gesängen87 beide ebengenannte Elemente auch musikalisch aufs wohlthuendste zu einem männlichen, aber trotzdem weichen und innigen Ernste vereinigt? Und ist in den Gesängen dieser Meister nicht auch wieder ein Gegensatz bemerklich zu Tannhäuser’s stürmischen, leidenschaftlich erregten Weisen, die schon durch ihr bewegtes Zeitmaß die Charakterverschiedenheit dieses Sängers von den übrigen kund geben? Es ist unmöglich, auf all diese Fragen mit Nein zu antworten und besonders in Wolfram’s und Tannhäuser’s letztem Sange („O Himmel, laß dich jetzt erflehen“88 und „Dir, Göttin der Liebe“89) die so scharf ausgeprägten Gegensätze in den Naturen beider Meister zu verkennen. Schon die Wahl der Tonarten, Es dur und E dur, ist so bezeichnend für den Unterschied der sich folgenden Stimmungen und Empfindungen, und der sonst unter allen Verhältnissen schroffe und grelle Uebergang90 erscheint für die vorliegende Situation sogar nothwendig. Ferner aber tragen beide Melodien selbst ein ganz verschiedenes Gepräge. Während Wolfram’s Weise zwar erregt, doch maßvoll, von ernsten Posaunenklängen begleitet, dahinströmt, hören wir an Tannhäuser’s Sang und den, diesen begleitenden Tremolo-Geigen, wie an dem verzückten Sänger jede Fiber zuckt, und die Erinnerung an das im Venusberg genossene Glück jede andere Empfindung aus seinem Innern verdrängt hat. – Noch mehr Triumphe feiert Wagner als Charakterschilderer in seinem Lohengrin, und es ist besonders die Instrumentation zu diesem Zweck sehr glücklich von ihm benutzt worden. Wie er nämlich die Hauptpersonen durch Melodien zeichnet, so hat er dasselbe auch durch die verschiedenen Klangfarben versucht und demgemäß, wenn auch natürlich nicht ausschließlich, die Blechinstrumente hauptsächlich zur Begleitung König Heinrich’s und der kriegerischen Chöre, die hohen Holz-Blasinstrumente zur Schilderung Elsa’s, das englische Horn und die Baßclarinette zur Zeichnung Ortrud’s, die Violinen endlich (besonders in hohen mehrstimmigen Lagen) zur Andeutung des Graals und seines Abgesandten Lohengrin verwendet. Ja sogar die Wahl der Tonarten scheint mit künstlerischer Absicht geschehen zu sein. Oder wäre es absichtslos, Ortrud’s Vortreten fast jedesmal mit dem Eintritt von Fis moll anzudeuten? Wäre es ferner absichtslos, die vier Heerrufer stets in C dur blasen zu lassen, auch König Heinrich’s Auftritt stets mit C zu begrüßen? Wäre es Zufall, daß die für Streichinstrumente reinste und durch den in ihr am häufigsten möglichen Gebrauch der Flageolettöne zauberhaft klingende Tonart A dur uns stets Lohengrins Nahen und des Graals Eingreifen in die Handlung verkündet? Und die Musik selbst, zeichnet sie nicht so wahr die Eigenthümlichkeiten der verschiedenen Gestalten? Welche Kraft liegt, um nur einige Beispiele anzuführen, in der Ansprache des Königs an die Krieger nach dem großen Aufzuge derselben im dritten Acte!91 Welcher Zauber ist ausgegossen um Elsa’s jungfräuliche, kindlich reine Gestalt! In welchen düsteren Farben werden Ordrud’s schwarze Rachepläne wiedergegeben! Wie fremdartig, mährchenhaft und dabei überirdisch verklärt sind die Töne, welche uns den Graal schildern! Und diese, als wohlfeiles Mittel der Charakterschilderung verschrienen Orchestermelodien – sind sie nicht so musikalisch schön und wahr, daß sie keinen
87 Ebd.,
T. 391– 492 und T. 720 – 769. 88 Ebd., T. 720 – 769. T. 769 – 771. 91 Wagner, Lohengrin, 3. Akt, ab T. 981.
89 Ebd.,
T. 771– 803.
90 Ebd.,
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Angriff zu scheuen haben? Oder, wer wollte sich vermessen, Lohengrin’s Gestalt besser zu zeichnen, als es in dieser fremdartigen, hehren und dabei männlich-ritterlichen Weise geschehen ist? Wer wollte kühn genug sein, den Zauber in Elsa’s erstem Auftritt durch eine andere Musik zu überbieten? Und noch haben wir der feinen einzelnen Züge nicht gedacht, an denen Wagner’s Charakteristik so reich, und von welchen blos ein einziger hier Erwähnung finden möge. Elsa hat die verhängnißvolle Frage gethan und wird auf Lohengrin’s Geheiß von ihren Frauen ans Ufer der Schelde gebracht, woselbst König und Edle des Schwanenritters harren. Bei ihrem Auftritt begleitet sie wieder das schöne Thema, mit welchem ihr erstes [160] Betreten der Scene gezeichnet war: allein statt des herrlichen Uebergangs nach A dur, der die ganze kindlich reine Jungfräulichkeit dieser zarten Gestalt in sich faßte, kehrt jetzt die Melodie, wie um Elsa’s Schuldbewußtsein zu versinnlichen, nach dem traurigen As moll zurück;92 statt der hold verschämt sich entfaltenden Knospe sehen wir die geknickte Blume vor uns stehen. Es ist dies einer der genialsten und schönsten Züge im ganzen Werke und dürfte wol allein hinreichen, vorlaute absprechende Urtheile über Wagner’s Fähigkeit zu charakterisiren, mit der gebührenden Verachtung zurückzuweisen. – [169] Auch der Instrumentation Wagner’s, als eines wesentlichen Bestandtheiles seiner Musik zu erwähnen, sind wir im Laufe dieser Abhandlung öfter genöthigt gewesen, ohne näher auf sie eingehen zu können. Die große Bedeutung jedoch, welche sie für die besprochenen Werke hat, ihre außerordentliche Schönheit und die auch gegen sie nicht fehlenden Vorwürfe von W.’s Gegnern, machen uns eine genauere Betrachtung zur Pflicht. Mit ihren Aussetzungen stützen sich W.’s Gegner auf die Meinung des Publicums, welches seit einiger Zeit die Manier angenommen hat, alles Liebliche zu loben und über jedes Forte zu raisonniren, überhaupt über Instrumentation, von der es doch am allerwenigsten versteht, wie ein Sachkundiger zu reden. So findet denn auch dieses Publicum W.’s Opern zu lärmend instrumentirt, eine Behauptung, die wir nur an wenigen Stellen zugeben, dagegen überall da zurückweisen, wo die Situation die vorhandene Massenentwicklung rechtfertigt oder fordert. Letzteres glauben wir durchgängig thun zu können im Tannhäuser, in welcher Oper in der That mit den Mitteln so vortrefflich Haus gehalten worden ist, daß die Instrumentation dieses Werkes allen dramatischen Componisten unserer Zeit als ein Vorbild hingestellt werden dürfte. Die zur Verfügung gestellten Mittel sind allerdings groß, und nimmt man Rücksicht auf das geforderte Bühnenorchester, das Maß des in Deutschland Gewöhnlichen bei weitem überschreitend, allein ihre Anwendung en masse geschieht äußerst selten und nur da, wo die Situation es fordert. Vielmehr können wir behaupten und diese Behauptung durch ein näheres Eingehen auf die einzelnen Abtheilungen und Scenen der in Rede stehenden Oper beweisen, daß in vielen Fällen fast zu viel Beschränkung in der Farbengebung stattgefunden, mit den geringen Mitteln oft aber das Bedeutendste erreicht worden ist. In der Ouverture z. B. ist blos durch das spärliche Verwenden der Blechinstrumente im
92 Mit „A-Dur“ kann nur As-Dur gemeint sein. Das Erscheinen Elsas wird an beiden Stellen mit as-Moll unterlegt (1. Akt, T. 271; 3. Akt, T. 1066). Die Wendung nach As-Dur erfolgt im ersten Akt in T. 278, während die Parallelstelle im dritten Akt (T. 1073) in as-Moll verbleibt.
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Anfang des Allegros die ungeheure Steigerung93 möglich geworden, die bis zum Ende fortdauert. Daß in der ersten Scene, welche das wilde, wüste Treiben des Venusberges mit so charakteristischer Musik schildert, die Anwendung aller zu Gebote stehenden Mittel nicht nur erlaubt, sondern auch beinah gefordert ist, wird wol niemand in Abrede stellen; ebensowenig wol auch, daß die Benutzung derselben mit Maß geschehen ist und nicht auf Kosten der Schönheit der Klangwirkungen. Hauptsächlich aber ist es die folgende lange Scene zwischen Tannhäuser und Venus,94 welche bei so mäßiger Instrumentirung doch so farbenreich erscheint und die größten leidenschaftlichen Bewegungen mit den einfachsten Mitteln darstellt. Das hier gebrauchte Orchester besteht aus den üblichen Holzblas- und Streichinstrumenten, vier Hörnern, die selten zusammen thätig sind, Pauken und Harfe. Kein Trompeten- und Posaunenton ist zu finden in diesem ganzen Auftritt, in welchem sich zwei Personen im geistigen Kampfe gegenüberstehen, ihren leidenschaftlichen Empfindungen freien Lauf lassen und endlich, wenn die Aufregung beider auf die Spitze getrieben ist, nach Verfluchung von Seite der einen sich verlassen! Ob wol Marschner und Meyerbeer diese Enthaltsamkeit gezeigt hätten bei einer solch gewaltigen Scene? Die Verwandlung des Venusberges in das Thal der Wartburg begleitet ein kurzes ff aller Instrumente.95 Dann aber braucht Wagner wieder bis an den Schluß des Actes das vorhin [170] erwähnte Orchester. Eine Ausnahme macht die Stelle: „Allmächtiger, dir sei Dank und Preis! Groß sind die Wunder deiner Gnade“96, welche in ähnlicher Weise in der zweiten Scene des zweiten Actes bei den Worten: „Ein Wunder war’s“97 wiederkehrt, und bei der die eintretenden Posaunen, eben so schön als wahr, Tannhäuser’s tiefe Erschütterung malen. Auch im zweiten Acte bis zum Anfang des festlichen Einzugs finden wir außer dem Posaunenaccorde, welcher Tannhäuser’s freudiges Erschrecken beim ersten Erblicken Elisabeth’s darstellt,98 der vorhin erwähnten Stelle, und den Trompeten in dem As dur Duette99, deren Verwendung in diesem Ideal des Liebesjubels ihre vollste Berechtigung hat, nur dasselbe, vorhin näher bezeichnete, Orchester wieder. Der sogenannte Marsch ist ein Muster von Steigerung der Instrumentation, die Entwicklung sämmtlicher Massen bei solch einem großartigen Feste vollkommen begründet und deren Verwendung mit den Gesetzen des Wohllauts stets in Einklang gebracht. Höchstens könnte das Eintreten aller zwölf Bühnentrompeten100 als Lärm verworfen werden; dieselben sollten aber in dieser Zahl auch nur bei großen Theatern besetzt sein, für welche überhaupt der Componist Tannhäuser und Lohengrin berechnete. Der hierauf folgende Eintritt der S änger101 ist äußerst zart instrumentirt, wie auch die Rede des Landgrafen an die Sänger und Gäste102 in Bezug auf Orchestration sehr discret behandelt worden ist. In dem ganzen Sängerkriege selbst finden wir nicht eine Stelle, deren Begleitung man lärmend nennen könne, wenngleich die Färbung fortwährend wechselt oder vielmehr sich steigert und den schönsten Reichthum zeigt. Blos an der Stelle, wo Tannhäuser sich selbst sein Schicksal bestimmt durch das Bekenntniß
Tannhäuser, Ouvertüre, ab T. 320. 94 Ebd., 1. Akt, 2. Szene. 95 Ebd., T. 571– 580. 96 Ebd., 3. Szene, T. 89 – 92. 97 Ebd., 2. Akt, 2. Szene, T. 67. 98 Ebd., T. 1. 99 Ebd., T. 243 – 246, 251– 254, 330 – 348. 100 Ebd., 4. Szene, T. 191. 101 Ebd., ab T. 215. 102 Ebd., T. 247 – 330. 93 Wagner,
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seines Aufenthaltes im Venusberge, entwickelt der Componist vollständig seine Massen und zwar mit vollster Berechtigung, um das Entsetzen und den Abscheu der Edlen, sowie gleich darauf ihre Drohungen und Rachegelüste zu schildern.103 Elisabeth’s Bitte104 und der folgende Chor in A dur105, sind wieder äußerst lieblich und zart orchestrirt, mit Ausnahme der gewaltigen Steigerung kurz vor dem Schluß des erwähnten Ensembles. Der Culminationspunct derselben, eine ff Wiederholung des schönen Themas: „Ich fleh’ für ihn“ durch das ganze Orchester,106 kann bei der kurzen Dauer von zwei Tacten wol füglich nicht Lärm genannt werden, auch macht er keinen betäubenden und unangenehmen, sondern vielmehr einen höchst erhebenden Eindruck, wie jedes ff, welches dazu dient, einen bedeutenden Gedanken, nach einer großen Steigerung, auch mit bedeutender Klangwirkung, so zu sagen, imponirend den Ohren des Hörers wieder vorzuführen. Derart sind aber viele sogenannte Spectakelstellen in W.’s Werken, unter denen wir als die großartigste und am populärsten gewordene den Schluß der Tannhäuser-Ouverture bezeichnen. Im dritten Act ist, mit Ausnahme der Wiederholung des Pilgerchores, Alles, bis zum Auftreten Tannhäuser’s, sehr ruhig gehalten. Auch die erste Hälfte der Erzählung von der Pilgerfahrt nach Rom ist mit wenig[en] Instrumenten begleitet. Daß aber die andere derselben, welche von der Verfluchung des Büßers durch den heiligen Vater handelt, gerade mit diesen erschütternden Posaunenstößen und nichts Anderm, ausgestattet sein mußte, dürfte keiner, der die niederschmetternde Wirkung dieser Stelle kennt, in Abrede stellen wollen. Die Anwendung der Blechinstrumente ist hier ebensowenig Lärm zu nennen, wie in Mozart’s Comthurscene; die Situation erfordert sie, und wir würden sie vermissen, wenn sie vom Componisten nicht geschrieben worden wären, überdies verdecken sie nicht die Singstimme, sondern fallen immer am Schlusse eines Verses ein.107 Auch in dem folgenden, unheimlichen Auftritt, in dem die Zauber des Venusberges, die wilden, verführerischen Klänge aus dem ersten Acte wieder auftauchen,108 können wir keinen unberechtigten Lärm entdecken. Die Leidenschaften Tannhäuser’s sind auf den höchsten Grad gestiegen, er selbst befindet sich in einem Taumel, dazu erscheint Venus selbst, ihn zu verlocken; auf der andern Seite sehen wir Wolfram in der peinlichsten Angst, bemüht, ihn zurückzuleiten: eine ruhige Musik wäre hier das Fehlerhafteste und Unzweckmäßigste gewesen. So sehen wir denn auch in der Musik einen wilden Taumel herrschen, dessen Aeußerungen aber nicht so laut sind, daß die einzelnen Stimmen der handelnden Personen unvernehmlich wären. Nur das einzige große ff auf dem Es dur Quartsextaccorde, welcher dem entscheidenden Worte Wolfram’s „Elisabeth“ folgt, ist laut genug, um gewöhnlich die weitern Worte des Sängers „Heinrich du bist erlöst“ zu verschlingen.109 Aber dieses ff ist unumgänglich nothwendig als Abschluß des aufregenden Kampfes, und ersetzt allein schon durch seinen Auftritt
103 Ebd., T. 799 – 819. 104 Ebd., T. 946 – 958. 105 Ebd., T. 960 –1025. Der Chor steht aber in H-Dur. 106 Ebd., T. 1009 f. 107 Ebd., 3. Akt, 3. Szene, T. 229, 231, 233 – 236, 240 – 243. 108 Ebd., 3. Szene (2.–5. Fassung), ab T. 317. 109 Die beiden erwähnten Stellen liegen in allen Fassungen der Oper einige Takte auseinander („Elisabeth“: 3. Akt, 3. Szene, T. 444 – 446. „Heinrich, du bist erlöst“: 3. Akt, 3. Szene, T. 456 [jeweils 2.–5. Fassung]). Es kann deshalb vermutet werden, dass Draeseke sich hier an eine gekürzte Aufführung erinnert.
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Wolfram’s Rede. Für die Instrumentation des Schlußchores gilt das über das Ende der Ouvertüre Gesagte. [177] Es erübrigt nun noch einen Blick auf Lohengrin zu werfen, der entschieden reicher orchestrirt, als Tannhäuser, und in dem allerdings auch mit den Mitteln weniger hausgehalten ist, als in jenem Werke. Gleichwol müssen wir hier die gesteigerte Instrumentation ebenfalls zum größten Theil als durchaus berechtigt anerkennen, da der historische Hintergrund sich weit weniger friedlich als im Tannhäuser gestaltet, und eine Menge höchst wirksame, und dem Ganzen nur zum Vortheil gereichende Aeußerlichkeiten der Action derartige musikalische Behandlung, wie sie hier öfters sich zeigt, verlangten. Vielen sind z. B. die zwölf Trompeter auf der Bühne, welche im dritten Acte beim Aufzuge der Fürsten und Edlen beschäftigt sind,110 als ungebührlich lärmend vorgekommen. Wir können aber versichern, daß die Klangwirkung derselben lange nicht so grell klingt, als man es sich von zwölf Trompetern vorstellen möchte. Die Menge dieser Instrumente verdickt den Ton, nimmt ihm aber von seiner Schärfe. Auch hat Wagner diese Oper, noch mehr wie Tannhäuser, für ein großes Theater berechnet, da ein solches nur fähig ist, alle Anforderungen des Componisten in Hinsicht der Mittel zu befriedigen. Auf kleineren Bühnen wird eine geringere Besetzung der Blechinstrumente auf dem Theater, falls sie nicht durch den Mangel an solchen von vornherein geboten ist, immerhin wünschenswerth, und ohne besondere Störung des Eindrucks zu ermöglichen sein. Das eigentliche Orchester aber tritt mit wenig geringfügigen Ausnahmen nur in einer Abtheilung des Werkes zu bedeutend in den Vordergrund, nämlich im zweiten Theile des letzten Actes. Lohengrin und Ortrud besonders haben daselbst mit Blechmassen zu kämpfen, die nicht selten die Stimme erdrücken. Wer aber wollte hier nicht nachsichtig mit dem Componisten sein, dem es nie vergönnt war, sein Werk zu hören! Es wären dann gewiß Einzelnheiten in der Instrumentirung, über die unbarmherzig jetzt der Stab gebrochen wird, weggefallen und wol auch noch viel Schönes hinzugekommen. – Denn gewiß ist das Hören des Werkes in den Proben von großem Einfluß auf den Componisten, und besonders von Spontini ist bekannt, daß die anfangs dicker orchestrirte Vestalin111 in jeder Probe mit Strichen bereichert worden sei, bis sie die durchsichtige Klarheit gewonnen, die fast die meisten Nummern dieses Werkes auszeichnet. Ebenso findet sich auch im Lohengrin oft große Durchsichtigkeit der Instrumentation, wenn auch, wie nicht zu läugnen ist, dieselbe im Ganzen den Tannhäuser an Dichtheit übertrifft. Fast durchweg aber wird der Gesang des Einzelnen durch das Orchester nicht verdeckt, und wenn in den Chören die Instrumentalmassen öfters überwiegend scheinen, so dienen sie blos einer Steigerung dessen, was vorher von den Chören ohne jene ausgeführt worden ist. Möchte es uns hiermit gelungen sein, den Vorwurf unmotivirten Lärms von Wagner’s Opern mit Erfolg abgewendet, den künstlerischen Gebrauch seiner großen Mittel gerechtfertigt zu haben, und ferner der Versuch gestattet werden, die Anwendung letzterer überhaupt als eine berechtigte zu vertheidigen.
110 Die Trompeter treten nach und nach mit den sich sammelnden Kriegern ein und spielen alle zwölf schließlich in T. 949 zusammen. 111 Spontini, La Vestale (UA 1807).
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Man hat Wagner vielfach den Vorwurf gemacht, er entbehre der Einfachheit und verschmähe dieselbe besonders in seiner Instrumentation; auch sei es ihm, während Mozart, Gluck, Beethoven sich mit den vorhandenen Orchestermitteln begnügt hätten, unmöglich mit diesen seine Zwecke zu erreichen.112 Nun ist aber zu be[178]merken, daß Mozart und Beethoven, Gluck und sämmtliche bedeutende Opern-Compositeure vor Wagner sich keineswegs begnügt haben mit den im Orchester vorgefundenen Instrumenten, und daß wir gerade dieser Ungenügsamkeit die herrliche Entwicklung der Instrumentirungskunst verdanken. Alle diese großen Meister strebten nach Wohlklang und Reichthum in der Farbengebung ihrer Tongemälde, und dies letztere Streben machte ihnen zur Pflicht, sich aller Mittel zu bedienen, welche zu ihrer Zeit erfunden wurden und noch nicht im Gebrauch waren, für die Schönheit der Instrumentirung aber förderlich erscheinen mußten. Gluck verschmähte in seiner Iphigenie auf Tauris nicht die so vielfach für unwürdig erklärte Janitscharenmusik.113 Mozart gab dem Orchester die Clarinetten, zu seiner Zeit ein neu erfundenes Instrument und die Posaunen, welchen bis dahin das Theater verschlossen war. Das für die Symphonien gebräuchliche Orchester bestand aus den üblichen Holz- und Streichinstrumenten, zwei Hörnern, zwei Trompeten und Pauken. Beethoven aber fügte diesen in seiner C moll Symphonie nicht allein drei Posaunen, sondern auch Contrafagott und Piccoloflöte hinzu, denen sich in der neunten noch die Schlaginstrumente der Janitscharenmusik zugesellten. Meyerbeer und Mendelssohn brachten die Ophicleide ins Orchester, Letzterer in seinen Oratorien und Ouvertüren, Ersterer in seinen Opern. Diesem verdanken wir auch die Wiederaufnahme des englischen Horns, den Gebrauch der Baßclarinette und die erste, mit Erfolg angebrachte Anwendung der Harfe. Die Bühnenorchester endlich finden wir schon bei Spontini in dessen Olympia114, später auch im Propheten von Meyerbeer. Im Ganzen sehen wir daher sämmtliche Mittel, die Wagner in seinen Opern zur Anwendung bringt, von früheren Componisten ebenfalls schon benutzt. Wenn nun dieser Künstler dieselben in etwas größerer Anzahl forderte, so that er wol nicht mehr, als was die früheren Autoren den damalig gang und gäbe gewordenen Instrumentalmassen gegenüber thaten. Sie vermehrten dieselben zur Erreichung neuer wirkungsvoller Bilder und Klangeffecte durch Hinzuziehung neuer Instrumente. Wagner benutzte die bis auf unsere Zeit in Anwendung gekommenen Orchestermittel zu gleicher Zeit und in größerer Anzahl. Dafür zeichnet sich die Instrumentation in seinen Opern aber auch aus durch einen Farbenreichthum, den weder Meyerbeer, noch irgend ein Componist früherer Zeiten aufzuweisen hat. Es sind nicht blos Klänge, welche durch außerordentliche Schönheit uns fesseln, sondern es ist fast durchweg die Originalität der Combinationen und die Schärfe der Charakterisirung, welche seine Farben mit einem unwiderstehlichen Reize, dem Reize der Treue und Wahrheit ausstatten. Wer hat so wie er Vortheil zu ziehen gewußt aus der Theilung der Geigen und dem Gebrauch dieser Instrumente in hohen Lagen? Wo finden wir einen solchen zauberhaften Reiz der Holz-Blasinstrumente, als z. B. im ersten Finale
112 Siehe etwa Lobe 1854 Briefe über Rich. Wagner, insbes. S. 456 – 461. 113 Gluck, Iphigénie en Tauride (UA 1779). In den Szenen 3, 4 und 6 des ersten Aktes werden Becken und Trommel verwendet. 114 Spontini, Olimpie (UA 1819).
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des Lohengrin? Auch die Verwendung der Posaunen und Trompeten im Piano ist nirgends mit diesem Erfolg angebracht worden, wie in eben genanntem Werke. Von der großartigen Macht seiner breiten Melodien hatten wir schon früher gesprochen; ebenso von der Schärfe der Charakterisirung durch die Instrumentation. Oder sollte sich nicht jedermann der Unterschied aufgedrängt haben zwischen der Orchestrirung des Tannhäuser und des Lohengrin? Abgesehen von dem wilden Jubel der Venusbergsscene ist auch das rein katholische Element, was sich bei den Pilgergesängen so treu ausspricht und dessen Farbengebung ebenfalls so wahr und durchaus angemessen ist, gänzlich verschieden von dem mystischen und übersinnlichen Wesen des Graals, welches ebenfalls hauptsächlich durch die Instrumentirung diese Schärfe der Zeichnung erhalten hat. Auch die Scenen des Sängerkrieges haben ihre eigenthümlichen Farben, und es ist nicht allein die Harfe, deren wundervolle Anwendung die Instrumentation jener Scenen wesentlich unterscheidet von den andern der Oper. Wir könnten noch viel aufführen, um die Wahrheit der Charakterisirung durch die bloße Farbengebung nachzuweisen, wir könnten uns auch noch aufhalten bei den verschiedenen Combinationen und Mischungen von Klängen überhaupt, durch welche Wagner oft die unglaublichsten Wirkungen hervorgebracht hat, und ferner weitläufig reden von dem Wohllaut, der mit wenigen Ausnahmen seine ganze Orchestration durchweht; aber es ist all’ dies eigentlich unnöthig. Zu beschreiben sind die genannten Vorzüge nicht, da selbst die glänzendsten Beschreibungen derselben Dem trocken erscheinen müssen, welcher die Oper gehört hat, die aber nicht überzeugen werden, welche, sei es aus Vorurtheil, sei es aus Gehässigkeit, Wagner’s Instrumentation vom gegnerischen Standpunct aus betrachten. Sie werden immer wieder auf das beliebte Capitel der Einfachheit und Durchsichtigkeit kommen, wie sie auch stets von Melodienmangel, Dissonanzenanhäufung und Charakterlosigkeit der Zeichnung reden werden, mag man auch „Vernunft gesprochen haben Stunden lang“115. Mit der liebenswürdigen Naivetät von Kindern ignoriren sie jede Gegenrede, um, sobald diese zu Ende ist, mit desto größerer Freude ihr einmal Gesagtes zu wiederholen! Wer wollte so grausam sein, dies Vergnügen zu zerstören? Aber wie sie stets von Vorwürfen überfließen, wissen sie auch stets zu geizen mit Anerkennung der Vorzüge, welche selbst sie als solche gelten lassen müssen. Und deswegen ist es unsere Pflicht, diese Vorzüge heller zu beleuchten. Wagner ist eine originelle Kraft. Das hat noch niemand bestritten, kann und wird auch niemand bestreiten. Allerdings ist er nicht so originell (aber auf diese Weise ist es auch niemand), daß nicht hie und da in einzelnen Tacten sollten Anklänge von irgend einem Meister früherer Zeiten zu finden sein. Ist dies ja selbst [179] bei Beethoven, dem eigenthümlichsten aller Tondichter der Fall, und sind sogar in seinen späteren Werken noch Einwirkungen Mozart’s nicht zu läugnen; die Themen, die musikalischen Gedanken Wagner’s hingegen, sind entschieden frisch, selbständig und in keiner Weise manierirt. Er hat großen Reichthum der Erfindung und die Früchte dieses Reichthums zeigen durchweg die größte Abwechslung und Verschiedenheit. Mono-
von Schiller, Wallenstein Tod (UA 1799), 2. Akt, 3. Auftritt: „Seid ihr nicht wie die Weiber, die beständig / Zurück nur kommen auf ihr erstes Wort, / Wenn man Vernunft gesprochen stundenlang!“ 115 Friedrich
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tonie und Phrasenhaftigkeit wird man in seinen Ideen nicht finden können. Ferner sind sie aber auch gesund und athmen eine wahrhaft deutsche Kraft. Jene gewisse interessante Blässe, welche Compositionen heutzutage besitzen müssen, um in einigen Concertinstituten repertoirfähig zu werden, findet sich durchaus nicht bei Wagner. Im Gegentheil, die Kraft seiner Gedanken ist manchmal so urfrisch, daß sie zu jenen Extravaganzen führt, von denen wir in unserem Capitel über modulatorische und harmonische Härten gesprochen haben, und die leider dem specifischen Musiker so oft ein Hinderniß waren, Wagner’s Werken ein vorurtheilsfreies Studium zu widmen. Wir freilich müssen gestehen, daß wir die Auswüchse einer gesunden Kraft lieber in Kauf nehmen, als jene gesunde Kraft überhaupt einbüßen wollen, daß wir ferner aber auch, wie schon früher erwähnt, solche kleine unmusikalisch klingende Stellen quantitativ durchaus nicht so vorherrschend finden, daß sie ein wesentliches Hinderniß sein könnten, für das viele Große und Herrliche in diesen Werken unempfänglich zu bleiben. Zu diesem letzteren rechnen wir auch Wagner’s unbestreitbare Rückkehr zur Einfachheit. Einfachheit? höre ich fragen, und sehe die verwunderten Gesichter derer, welche bei Nennung des Namens Wagner stets sich freuten, ihre classische Bildung zeigen zu können durch eine wohlfeile Bewunderung der Einfachheit alter Meister. Ein genaueres Studium derselben würde allerdings zeigen, daß diese ebenfalls complicirter schrieben, als es zu ihrer Zeit gebräuchlich war, und daß, wie z. B. in der Instrumentation ein jeder neue Mittel den bisher üblichen zugesellte, so auch das harmonische und melodische Element durch jeden bedeutenden Componisten eine wesentliche Bereicherung erfuhr. Wagner hat in Vergleichung zu Beethoven und Bach kaum soviel sich erlaubt, als diese Künstler dem Usus ihrer Zeit gegenüber gethan haben, und der Vorwurf, daß er die Einfachheit verschmähe, wird nach solchen Betrachtungen zum Zeugniß seines rastlosen Strebens nach Bereicherung seiner Kunst. Aber in einer andern Weise ist er der Vertreter einer nothwendigen Reaction zur Einfachheit geworden und imponirt als solcher. Oder welchen Namen soll man auffinden für die Wiedereinführung der alten Gluck’schen Behandlung der Singstimme im dramatischen Gesange, die hervorging aus dem Streben nach treuester musikalischer Wiedergabe des Dichterwortes? Wir wüßten keinen anderen dafür. In seinen beiden hier vielgenannten Opern finden wir stets jene reine, keusche Anschmiegung des Tons an die Rede, wie sie seit Gluck so consequent von keinem deutschen Tondichter gehandhabt worden. Seht Meyerbeer an, und nicht allein ihn (obwol er der Culminationspunct der Richtung ist, welche dramatischen und colorirten Gesangsstyl zu einem heterogenen und darum unkünstlerischen Ganzen verschmolzen hat), sondern auch seine deutschen Vorgänger, Weber, Spohr und Marschner, und fragt euch, ob sie in dieser Hauptsache mit Wagner um den Preis ringen können? Seht ferner auf die Wirkungen des großen Deutschfranzosen, welche derselbe allein durch Ausdehnung der natürlichen Grenzen jeder Stimme bezweckte und auf Wagner, der den Sopran nie über h, den Tenor nie über a schrieb, und behauptet ferner, auch dies sei keine Rückkehr zur Einfachheit! Betrachtet schließlich noch die Vermeidung aller groben, dem Kunstgegenstande nicht angemessenen Effecte, an denen Meyerbeer ebenfalls so reich ist, durch welche er die denkfaule Menge verblüfft und den edlen, kunstverständigen, ästhetisch fühlenden Geist abstößt, und die bei Wagner nur die lügenhafte Gehässigkeit läugnen kann, und ihr wollt hierin ebenfalls eine wohlthätige Umkehr zur Einfachheit und
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Keuschheit in dem künstlerischen Schaffen verkennen? Es wird wol nicht möglich sein! Denn diese Reaction allein, durch deren Einführung Wagner noch nicht einmal ein moderner Gluck sein würde, ist so gewaltig, daß sie ihm einen ewigen Namen sichern müßte! Aber er hatte auch das Genie, das specifisch musikalische Genie, als Vertreter dieser Reaction, eine solche dramatische Musik zu schaffen, welche seine Zeitgenossen verdunkelte, ihn selbst den Heroen in diesem Fache der Kunst als einen würdigen Jünger an die Seite stellte. Ist seine Erfindung nicht so reich, wie die Mozart’s, sein Wissen und seine Gestaltungskraft nicht so gewaltig und tief, wie die Beethoven’s, so überragt er beide durch das Leben und Feuer seiner Dramatik, die sinnliche Glut seiner Schilderung und die Virtuosität der Instrumentation. Endlich ist er, wie schon erwähnt, ein Original voll jugendlicher Frische, voll Gesundheit und Kraft. Er hat als solches alles Bittere erfahren, was die Mitwelt dem ungewöhnlichen, epochemachenden Genius beim ersten Auftreten bietet, und die Gehässigkeit hat kaum je gegen einen Künstler so viele Pfeile abgeschossen und so viel Gift verspritzt, als gegen Richard Wagner. Denn die Originalität , wenn sie wirklich eine gewaltige ist wird stets im Anfang Bizarrerie, die gesunde Kraft, besonders zu einer Zeit, wo vornehme Blasirtheit und Kränklichkeit der Empfindung sich theilweise auch der besseren Tondichter bemächtigt hat, stets Rohheit geheißen werden. Aber desto fester wird die Schaar derer stehen, die ihn und seine Größe erkannt haben, sie wird wachsen und die Gegner werden vom Strome fortgerissen werden, ohne daß sie wollen. Die bedeutenden Zeitgenossen, besonders unter den Künstlern, falls sie nicht durch gehässige Entstellung ein Vor-[180]urtheil gewonnen haben, jauchzen ihm schon jetzt als einem Höheren zu, oder schweigen wenigstens vor der niederschmetternden Größe seiner künstlerischen Thaten, und nur die impotente, neidische Mittelmäßigkeit ist es, welche wie stets dem Genius gegenüber, von nichts als Spott und Gehässigkeit überfließt. Denn diese Mittelmäßigkeit kann sich nicht freuen an der Größe des Künstlergeistes, sondern nur an seinen kleinen Mängeln und nichts bezeichnet sie mehr, als Heine’s berühmtes: „Nur wann wir im Koth uns fanden, Haben wir uns gleich verstanden!“116 Aber sie hat sich ein trauriges Loos erwählt! Denn die Nachwelt wird ihr kein anderes Andenken bewahren, als das des lächelnden Mitleides! Hiermit schließen wir unsere Betrachtung. Es ist während der Abfassung derselben von Hrn. A. Hahn eine gegnerische Abhandlung in die Spalten dieser Zeitschrift aufgenommen,117 in welcher zum erstenmal auf Wagner’s Musik im Einzelnen näher eingegangen wird. Eine Beantwortung dieser soll einem spätern Artikel aufbehalten bleiben.118 Felix Dräseke. 116 Heinrich
Heine, „Selten habt Ihr mich verstanden“ (ED 1827). „Selten habt Ihr mich verstanden, / Selten auch verstand ich Euch, / Nur wenn wir im Koth uns fanden, / So verstanden wir uns gleich.“ 117 Hahn 1856 Der Tannhäuser in Berlin. 118 Siehe Draeseke 1856 Einiges zur Erwiderung.
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Kommentar Dieser Artikel des damals 20-jährigen Komponisten Felix Draeseke entstand infolge der regen publizistischen Debatten um die Werke und Kunsttheorien Wagners, die durch die Berliner Erstaufführung des Tannhäuser am 7. Januar 1856 einen neuerlichen Auftrieb erhielten. Seine Bedeutung liegt vor allem darin begründet, dass er zu den sehr wenigen Aufsätzen aus jener Zeit gehört, in denen nicht nur allgemeine Bemerkungen zu Beschaffenheit und Wirkung der Opern Wagners zur Sprache kommen, sondern auch die Musik einer genaueren Analyse unterzogen wird. Die Berliner Aufführung selbst erwähnt Draeseke in seinem über zwei Monate später veröffentlichten Artikel nicht mehr. Viel eher scheint es ihm um die Klärung grundsätzlicher Sachverhalte zu gehen, weswegen er auch auf keine Schriften gegnerischer Kritiker direkt Bezug nimmt, sondern die von ihnen vorgebrachten Einwände in verallgemeinerter Form zusammenfasst und damit gleichsam eine Übersicht zur Wagner-Kritik in der Mitte der 1850er Jahre liefert: Wagner ordne die Musik zu sehr dem „Gegenstand“119 unter und nehme ihr die Selbstständigkeit,120 seine Musik sei lärmend instrumentiert und melodielos, voller „harmonischer und modulatorischer Härten“ und ergehe sich in einer ständigen Wiederholung der Hauptmotive; einerseits – und hierin zeigt sich auch die Unterschiedlichkeit der Argumentationen – ermangele es ihr an polyphoner Gestaltung (ein Vorwurf, den besonders Joachim Raff in seiner Wagnerfrage erhoben hatte121), andererseits an „Einfachheit“ (eine namentlich von Otto Jahn in den Grenzboten vertretene Position122). Ausgehend von seinem Vorhaben, die Werke vom „rein musikalischen Standpunct“ aus zu untersuchen, stellt Draeseke die verschiedenen Kritikpunkte vor, um sie der Reihe nach zu entkräften. Teilweise wendet er dabei die Strategie an, das Vokabular der Gegner bezüglich ihrer Idealvorstellungen ins Spiel zu bringen und dieses auf Wagners Musik zu übertragen, so etwa, wenn er an ihr „formale Einheit“, „stilistische Einheitlichkeit“ und eine „Hinwendung zur Einfachheit“ nachzuweisen bestrebt ist. Gleichfalls verfolgt er das Ziel, Wagner in eine Traditionslinie mit den als klassisch anerkannten Komponisten Gluck, Mozart und Beethoven zu stellen und in seinem Schaffen Parallelen zu ihnen aufzuzeigen. Um diesen Rang noch gesondert hervorzuheben, vergleicht ihn Draeseke auch mit den führenden
119 So heißt es in der Rheinischen Musik-Zeitung einige Monate zuvor anlässlich einer Münchner Aufführung des Tannhäuser: „Da erscheint er, Richard Wagner, von Haus aus ein musikalisches Genie, der höher steht, als Haydn, Mozart, Beethoven, erklärt alles, was vor ihm für ‚überwundenen Standpunkt‘ und dass in der Tonkunst nicht die Musik, sondern der Gegenstand der Musik die Hauptsache sei“ (14. 1855 Wagner’s Tannhäuser, S. 289, in: NdS 2 Nr. 77, S. 935.) 120 Die Berliner Tannhäuser-Aufführung vom Januar 1856 wurde von gegnerischer Seite auch genutzt, um mit Wagners Konzept des Gesamtkunstwerks abzurechnen. So stellte etwa Otto Lange in der Neuen Berliner Musikzeitung Wagners Theorien ein gänzlich entgegengesetztes Bild der musikgeschichtlichen Entwicklung gegenüber, demzufolge die von eigenen Formgesetzen bestimmte Musik danach strebe, „sich von den Fesseln anderer Künste, die in sie hineingreifen […], frei zu machen“ (Lange 1856 Die Aufführung des ‚Tannhäuser‘, S. 19). Beethovens 9. Symphonie sei entsprechend „der Triumpf der rein instrumentalen Macht der Musik über die Poesie“ (ebd., S. 19), die Oper allgemein „das formloseste aller musikalischen Kunstwerke“ (ebd., S. 20). Wagners Schaffen ziele folglich darauf, der Oper durch die Auflösung der geschlossenen Formen den Charakter eines musikalischen Kunstwerks ganz zu nehmen. 121 Raff 1854 Die Wagnerfrage, S. 129. 122 Anonym 1853 Tannhäuser von Wagner.
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Opernkomponisten der unmittelbar vorangegangenen Generation – Carl Maria von Weber, Giacomo Meyerbeer und Heinrich Marschner – wobei die Gegenüberstellungen durchweg zu Wagners Gunsten ausfallen. Zur Erklärung und Verteidigung der unkonventionellen Züge der von Wagners Tonsprache verweist Draeseke auf die dramatisch ausgerichtete Konzeption der Musik. Sein Ansatz, die Eigenart bestimmter Stellen aus ihrer Funktion innerhalb der Handlung heraus zu rechtfertigen, wird sich, übertragen auf die instrumentale Programmmusik, auch in der Artikelserie über Franz Liszts Symphonische Dichtungen wiederfinden, die von 1857 bis 1859 in den Anregungen erschien.123 Draeseke zeigt sich in seinem Wagner-Artikel zwar als begeisterter Anhänger des Dichterkomponisten, fügt jedoch auch regelmäßig kleinere kritische Bemerkungen ein, die vor allem gelegentliche „harmonische Härten“ betreffen. Zwar lässt sich dahinter die Strategie erkennen, einerseits dadurch die Vorzüge der Werke noch stärker hervortreten zu lassen und anderseits sich als Autor dem Leser nicht in der Art eines unkritischen Apologeten zu präsentieren, jedoch lässt sich hier angesichts der weiteren Entwicklung Draesekes auch beobachten, dass bereits in diesem frühen Aufsatz der Keim zu seiner Kritik an Wagners späterem Schaffen enthalten ist: Da Draeseke darauf beharrte, dass auch in modulationsreichen Stücken die Haupttonarten klar erkennbar sein sollten, blieb er der in Tristan, Ring und Parsifal angewendeten Tonsprache gegenüber reserviert eingestellt, während ihm Tannhäuser und Lohengrin weiterhin als vorbildlich erschienen.124 Dass Wagners Musik bereits in den 1850er Jahren auch von Anhängern der ‚Zukunftsmusik‘ keineswegs unkritisch betrachtet wurde, ist durch Albert Hahns Artikel „Der Tannhäuser in Berlin“125 belegt, der kurz vor Draesekes Aufsatz im Februar und März 1856 in der NZfM veröffentlicht worden war und von Draeseke in einer „Erwiderung“126 scharf kritisiert wurde. Hahn, im Großen und Ganzen ein Bewunderer des Librettisten Wagner, äußerte sich nur hinsichtlich der klanglichen Gestaltung lobend zu dessen Musik, wiederholte ansonsten einige der bereits bekannten Vorwürfe und empfand die musikalische Gestaltung als zum Text insgesamt unpassend, da er von den in Oper und Drama dargelegten Prämissen ausging. Draeseke nahm dies zur Gelegenheit, seine im vorliegenden Artikel niedergeschriebenen Ansichten zu untermauern und die Musik des Tannhäuser unter Verwendung der von Hahn beanstandeten Stellen als dramatisch geglückt darzustellen. Insgesamt zeigt das argumentative Vorgehen Draesekes, den andauernden Polemiken um das Werk Wagners vonseiten der Musik zu begegnen, indem er historische Vorläufer und Zeitgenossen miteinbezieht, auf Angriffe gegenüber indirekt angesprochenen Gegnern jedoch verzichtet. Die eminente analytische und schriftstellerische Begabung des jungen Komponisten machen seine Beiträge für die Anregungen und die NZfM zu den kenntnisreichsten der damaligen Auseinandersetzungen, die, gemeinsam mit den späteren Schriften zu Liszts Werken, für die Fortsetzung der Diskussion um Programmmusik über das 19. Jahr-
123 Draeseke 1857 Liszt’s neun symphonische Dichtungen, in: NdS 2 Nr. 107 sowie Draeseke 1858 Liszt’s neun symphonische Dichtungen V. 124 Zu Draesekes Wagner-Rezeption vgl. Ortuño-Stühring 2011 Musik als Bekenntnis, S. 294 – 296. 125 Hahn 1856 Der Tannhäuser in Berlin. 126 Draeseke 1856 Einiges zur Erwiderung.
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hundert hinaus begriffsprägend waren.127 Dies dokumentiert sich auch in hervorragender Weise durch seine spätere Rede auf der Gründungsveranstaltung des ADMV in Weimar 1861,128 in welcher Draeseke noch einmal die musikalischen Errungenschaften der nun offiziell durch Brendel proklamierten „neudeutschen Schule“ zusammenfasst, bevor er kurze Zeit später seine innere Abkehr von den zuvor verteidigten Grundsätzen vollziehen sollte.
127 „In
gewisser Weise gehören die beiden Aufsatzgruppen auch zusammen, denn das schriftstellerische Engagement für die beiden führenden Repräsentanten der Neudeutschen Schule ist zeitlich genau hintereinander angeordnet. Dies entspricht einer offenbar bewußt betriebenen Strategie führender Köpfe der Neudeutschen Partei, die in der Neuen Zeitschrift umgesetzt wurde“ (Helmut Loos, „Einleitung“, in: Draeseke-Schriften, S. XIV). 128 Draeseke 1861 Die sogenannte Zukunftsmusik und ihre Gegner, in: NdS 3 Nr. 145.
Nr. 88 | Hoplit [Richard Pohl], „Vertrauliche Briefe aus Weimar von Hoplit. I.“, in: NZfM 23 (1856), Bd. 44, Nr. 19 (2. Mai), S. 199 – 201.
Vertrauliche Briefe aus Weimar. von Hoplit.
I. „Zur Lage“ im Allgemeinen und Besonderen. – Nebst einigen „Reflexionen“ und „Raisonnements“. – Liszt’s Stellung in Weimar. – Die hiesigen Kunstverhältnisse. Weimar, 12. April 1856. Dresden, die Stadt der großen Mittel und kleinen Erfolge, habe ich vor 1½ Jahren verlassen, und seitdem meine öffentliche Correspondenz mit Ihnen ruhen lassen. Erst jetzt nehme ich sie wieder auf, und begrüße sie officiell aus Weimar, der Stadt der kleinen Mittel und großen Erfolge. – Wieviel ich bei diesem Wechsel der geographischen und musikalischen „Lage“ verloren, und was ich dafür eingetauscht habe, das fühlen Sie und alle Freunde mit mir: dort Krebs1 – hier Liszt; dort der „Nordstern“2 und ein „Oeuvre posthume“ von Marschner3 – hier „ Lohengrin“4
1 Carl
August Krebs (1804 –1880), Dirigent und Komponist, wirkte zunächst in Hamburg, bevor er nach Wagners Weggang aus Dresden 1850 dessen Nachfolger als Kapellmeister wurde. Zwischen Richard Pohl und Krebs hatte sich aufgrund einiger polemischer Artikel Pohls in der NZfM (siehe etwa Pohl 1852 Musik aus Dresden II), in welchen Krebs musikalische Unfähigkeit vorgeworfen worden war, eine Auseinandersetzung entsponnen, die beinahe zu einem Pistolenduell geführt hatte. Dieses konnte jedoch durch das Urteil eines sogenannten „Ehrengerichts“ abgewendet werden, welches Pohl in der Sache Recht gab (vgl. Walker 1989 Franz Liszt, S. 366, Anm. 71 sowie Hartlaub-Pohl 1967 Richard Pohl, S. 18). 2 Giacomo Meyerbeer, L’Étoile du Nord (Der Nordstern, UA 1854). Das Werk war 1855 in Dresden erstaufgeführt worden und kam bis 1872 auf 19 Aufführungen (siehe John 1995 Das Opernrepertoire zwischen Wagner und Schuch, S. 291). 3 Heinrich August Marschner (1795 –1861), deutscher Opernkomponist. Die bis dahin jüngste Neueinstudierung einer Oper Marschners war der am 7. August 1853 in Dresden erstaufgeführte Hans Heiling (UA 1833). 4 Richard Wagner, Lohengrin (UA 1850). Nachdem aufgrund der revolutionären Unruhen 1848/1849 die für 1848 geplante Uraufführung des Werkes in Dresden abgesetzt worden war, fand diese stattdessen 1850 unter der Leitung Liszts in Weimar statt. Die Dresdner Erstaufführung erfolgte erst 1859.
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und „Cellini“5; dort eine neue Messe von Reissiger6 – hier neue symphonische Dichtungen und zwei Messen von Liszt7; dort ein neues Oratorium von Emil Naumann8 – hier drei neue Werke von Hector Berlioz;9 dort ein neues Conservatorium10 – hier kein Conservatorium11; dort die Gebrüder Banck12, „Dresdner Journälichen“13 Angedenkens, nebst dem Advokaten14 Mozart’s Idomeneo15, „Constitu-
5 Hector Berlioz, Benvenuto Cellini (UA 1838). Die Oper war auf Liszts Betreiben hin in Weimar am 20. März 1852 erstmals 14 Jahre nach der erfolglosen Pariser Uraufführung überhaupt wieder zur Aufführung gekommen und in der Folge am 17. und 21. November im Rahmen der sogenannten Berlioz-Festwoche sowie am 16. Februar und 15. März 1856 erneut auf die Bühne gelangt. Die Dresdner Erstaufführung der Oper war ursprünglich für den Herbst 1854 vorgesehen, wurde jedoch durch den Tod König Friedrich Augusts von Sachsen im Sommer 1854 verhindert (siehe Bartnig 1995 Das Dresdner Hoftheater nach 1849, S. 279). 6 Karl Gottlieb Reißiger (1798 –1859), Dirigent und Komponist, war von 1827 bis zu seinem Tod als Kapellmeister in Dresden engagiert. Neben seiner Tätigkeit an der Dresdner Hofoper, wo er u. a. am 26. Oktober 1852 die erste Dresdner Aufführung des Tannhäuser nach dem Scheitern der Revolution 1848/1849 leitete, wirkte Reißiger vor allem als Dirigent der Hofkapelle bei ihren Diensten in der katholischen Hofkirche und komponierte dafür insgesamt zwölf große Messen. Gemeint ist hier möglicherweise die Messe Nr. 11 F-Dur (Quelle: Autograph SLUB Dresden Mus. 488-D-11), deren genaue Datierung jedoch bislang nicht möglich ist (vgl. insgesamt zu den Messen Reißigers: Heinze/Fensterer 1998 Die Messen von Carl Gottlieb Reissiger). 7 Liszt, Graner Messe S 9 (UA 1856). Die zweite hier genannte Messe, welche Liszt für den 1854 gebauten Dom in Kalocsa geplant hatte, wurde letztlich nicht komponiert (vgl. Hamburger 2010 Franz Liszt, S. 132). 8 Emil Naumann (1827 –1888), deutscher Komponist und Kirchenmusiker, studierte 1842 bis 1844 bei Felix Mendelssohn Bartholdy in Leipzig. Das einzige bekannte Oratorium Naumanns ist der 1849 in Berlin uraufgeführte Christus der Friedensbote. Naumann wirkte von 1856 bis 1873 als Hofkirchenmusikdirektor in Berlin. 9 Gemeint sind wohl das am 21. Februar 1855 in Weimar unter der Leitung von Berlioz in einer deutschen Übersetzung von Peter Cornelius erstaufgeführte Oratorium L’Enfance du Christ (UA 1854) und die erste szenische Aufführung des Lélio op. 14b (EA 1830) sowie die am 1. März 1856 ebenfalls unter der Leitung des Komponisten in Weimar erstaufgeführte Damnation de Faust (Fausts Verdammnis) op. 24 (UA 1846, ED 1854). 10 Am 1. Februar 1856 hatte der Kammermusiker Friedrich Tröstler in Dresden ein Konservatorium gegründet. Drei Jahre später verkaufte er es an Friedrich Pudor unter dessen Leitung die Einrichtung 1881 das Prädikat „Königliches Konservatorium“ erhielt. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging dieses Institut 1952 in eine staatliche Hochschule für Musik über, die seit 1959 den Namen „Carl Maria von Weber“ trägt. 11 Zwar hatte sich Liszt schon zu Beginn der 1850er Jahre für die Gründung eines Ausbildungszentrums für Orchestermusiker in Weimar eingesetzt, doch kam es erst 1872 unter Carl Müllerhartung (1834 –1908) zur Gründung der ersten Orchesterschule Deutschlands. 12 Carl Banck (1809 –1889), Musiker und Musikschriftsteller, war zunächst Musikkritiker im Dresdner Tageblatt, nach 1850 dann in selber Funktion vierzig Jahre lang beim Dresdner Journal tätig. Bancks jüngerer Bruder, der Publizist und Kunsthistoriker Otto Banck (1824 –1916), hatte sich 1845 ebenfalls in Dresden niedergelassen, wo er vor allem als Kunstkritiker wirkte. Der bei Carl Friedrich Zelter und Bernhard Klein in Berlin sowie bei Friedrich Schneider in Dessau ausgebildete Carl Banck setzte sich zeitlebens kritisch mit den Werken Wagners und Liszts auseinander (siehe etwa Banck 1857 Aufführung von Liszts Werken, in: NdS 2 Nr. 112). 13 Das seit 1850 erschienene Dresdner Journal war nicht nur die verbreitetste Tageszeitung der Stadt, sondern fungierte auch als offizielles Organ der Sächsischen Staatsregierung. 14 Gemeint ist der Advokat und Publizist Ludwig Siegel (1812 –1877), Chefredakteur der nationalliberalen Sächsischen constitutionellen Zeitung (siehe Anm. 16). 15 Wolfgang Amadeus Mozart, Idomeneo (UA 1781). Die Oper wurde in Dresden ab dem 15. Januar 1854 gegeben und erhöhte
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tionellen“16 Angedenkens – hier gänzliche Abwesenheit jeglicher feuilletonsüchtigen Localpreß-Gebrechen. – – – Wie weise ist es doch von der Natur eingerichtet, daß in Deutschland jeder einen Ort finden kann, wo er „nach seiner Façon selig werden“17 darf! – Sonst wäre es auch mitunter nicht zum Aushalten! Seitdem ich nach Weimar übergesiedelt bin, habe ich mir zwar angelegen sein lassen, Ihnen fast ununterbrochen kleine Notizen und briefliche Nachrichten über die Vorgänge und Ereignisse in den hiesigen Kunstkreisen regelmäßig zu senden.18 Einem aufmerksamen Leser Ihrer „Kleinen Zeitung“19 werden sie nicht entgangen sein. – Daß ich aber vermied, außer dieser Registrirung des Thatsächlichen auch größere „Raisonnements“ zu geben, hat seinen Grund in einer Gewissenhaftigkeit, die selbst den leichtsinnigsten Journalisten zuweilen übermannt, wenn er auf ein neues, ihm zwar nicht fremdes, aber doch überwältigendes Terrain versetzt wird. – Ich hätte meinen Einzug in Weimar mit Jubelhymnen feiern mögen. Aber den Lesern wäre mit diesen Zeitungsdithyramben wenig gedient gewesen. Sie erwarten mit Recht, durch Correspondenzen orientirt, nicht begeistert zu werden; sie wollen einen klaren Einblick in die Verhältnisse, eine geordnete Uebersicht der Thatsachen, und diese kann man nur erst Anderen mittheilen, wenn der betreffende Referent und Kritiker seine eigenen Brillengläser – welche der Hauch der Freude, des Enthusiasmus und der persönlichen Sympathie zwar nicht trübte, wol aber rosig färbte – wieder gehörig geputzt und gesäubert hat von all dem schönen Farbenspiel seiner Privatgefühle. Und hierzu braucht der Deutsche (wie zu vielen Dingen) viel Zeit, umsomehr, wenn bei ihm der, in unseren Tagen so verrufene Herzensquell des Enthusiasmus, noch nicht ganz verkritisirt und exproprirt20 [sic] ist. Ein wahrhafter Ueberblick über die Kunstzustände eines Ortes, mit dessen Verhältnissen man nicht von Jugend auf verwachsen, ist schwerer zu gewinnen, als man im ersten Moment selbst glauben mag. Daher auch das viele Falsche, Einseitige und verzerrte, welches das Heer unserer „Touristen“ und „Publicisten“21 alljährlich in der Welt verbreitet. Ist es in der Kunst schon eine schwierige Aufgabe, den Resultaten im Moment ihres Entstehens den rechten Platz anzuweisen, so ist es noch viel
die Zahl der zu dieser Zeit im Spielplan stehenden Werke Mozarts auf insgesamt fünf (neben Le nozze di Figaro, Die Zauberflöte, Don Giovanni sowie Die Entführung aus dem Serail). Offenbar hatte sich Siegel für die Aufnahme des Idomeneo in den Spielplan eingesetzt. 16 Die Sächsische constitutionelle Zeitung war eine von 1850 bis 1859 erschienene Dresdner Tageszeitung. 17 Ein auf eine Verfügung Friedrichs II. vom 22. Mai 1740, welche die Religionsfreiheit in Preußen regelte, zurückgehender Ausspruch. Im Original heißt es: „Die Religionen Müsen alle Tolleriret werden und Mus der fiscal nuhr das auge darauf haben, das keine der andern abruch Tuhe, den hier mus ein jeder nach Seiner Fasson Selich werden!“ (zit. nach Lehmann 1881 Preussen und die katholische Kirche seit 1640, S. 4). 18 Siehe Pohl 1854 Reisebriefe aus Thüringen II; Pohl 1854 Reisebriefe aus Thüringen III; Pohl 1855 Weimar. Franz Liszt’s neue Werke und Reisen sowie Pohl 1855 Weimar. 19 Rubriktitel in der NZfM für kürzere Korrespondenzen und Nachrichten. 20 Expropriieren: enteignen. 21 Anspielung auf das in der damaligen Musikberichterstattung verbreitete Vorgehen von Musikjournalisten, ihren Sommeraufenthalt in einer fremden Stadt mit Korrespondenzen von dort zu kombinieren. So hatte Pohl selbst in einem seiner „Reisebriefe aus Thüringen“ geäußert, dass er gegenwärtig drei Wochen in Weimar verbringe, um über das dortige Musikleben zu schreiben (Pohl 1854 Reisebriefe aus Thüringen II, S. 257).
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schwieriger, ihrer Genesis auf die wahre Spur zu kommen. Wirkungen lassen sich allenfalls auch aus der Ferne erkennen (obgleich sie oft genug verkannt werden), aber die Ursachen, die Mittel und – die Hindernisse muß man sehr in der Nähe studirt haben, bevor ein objectives Urtheil gewonnen werden kann. – Bei sorgfältiger Beobachtung bestätigt sich eben allenthalben die, von unseren Gegnern so erbittert angefochtene Wahrheit, daß der Fortschritt der Kunst nur auf wenig Individuen beruht, die für sich und ihre Nachfolger zugleich das Eis brechen müssen; die über ihrer Zeit stehen, und deren Vorurtheile und falsche Geschmacksrichtungen unerbittlich ignoriren müssen, wenn sie, und durch sie die Kunst, vorwärts gehen wollen. Es soll damit keineswegs gesagt sein, daß das Neue auch immer das Rechte sei, und daß die Opposition gegen das Bestehende allein schon hinreiche, einen dauernden Grund für das Kommende zu legen. Aber umgekehrt mag man das lahme Princippferd der „Classicität“ auf dem „historischen Boden“ abhetzen, so viel man will, man wird damit doch nicht weiter gelangen können, als man ohnedies schon war. Wer glaubt, auf diesem Wege selbstständige Kunstwerke schaffen zu können, der belügt sich selbst, oder will wenigstens Andere belügen. Daß wir, die wir mitten in den Kämpfen dieser Zeit stehen, und noch manche Schlacht schlagen werden, ohne vorläufig Aussicht auf dauernden Frieden zu haben, mit diesen Gedanken uns vollkommen vertraut gemacht haben müssen, bevor wir ins Feld gezogen sind, das sollten diejenigen, welche dem Publicum noch immer einreden wollen, es handele sich hier nur um eine vorübergehende Erscheinung, um eine Reclame, oder was sonst – doch endlich klar gemacht haben. Daß unsern Gegnern hierüber (im Stillen) auch ein Licht aufgegangen sein mag, beweist die [200] Erbitterung, der Haß, der Fanatismus, welcher sich in neuerer Zeit der Gegenpartei mehr und mehr bemächtigt hat. Es wird von ihr nicht selten mit unehrlichen Waffen, hinterlistig, selbst gemein gekämpft, weil der löbliche Zweck, mit heiler Haut davon zu kommen, ihr alle Mittel heiligt. In der That darf man sich auch nicht verhehlen, daß wir keineswegs am Ende, sondern erst am Anfange jenes großen Schisma stehen, dessen Früchte wol die Nachwelt, nicht aber die Gegenwart ernten kann und wird. Denn wo die absoluten Extreme so dicht und so hart aufeinander prallen, ist ein klares, Allen zugängliches und Allen zu gute kommendes Resultat noch gar nicht zu erwarten, und diejenigen sind die größten Thoren, welche von dem Erfolg oder Nichterfolg des flüchtigen „Heute“ den ferneren Gang der Kunstgeschichte abhängig machen wollen. Und in diesem Sinne hat der, von unseren Gegnern aufgebrachte Beiname „Zukunftsmusiker“ nicht nur einen tiefen Sinn, sondern ist sogar als Ehrentitel adoptirt worden.22
22 Vgl.
den Bericht Hans Bronsart von Schellendorffs über eine Rede Liszts auf dessen Geburtstagsfeier in der Altenburg am 11. Oktober 1855. In dieser hatte Liszt geäußert, sein Schülerkreis habe den ihnen „gegebenen Spitznamen ‚Zukunftsmusiker‘ [bereits] als Ehrentitel adoptirt. Unseres Strebens dürften wir uns nicht schämen, solange wir ihm in Ehrbarkeit, Bescheidenheit und Ehrlichkeit treu blieben, und bei aller Ehrfurcht gegen die großen Meister der Vergangenheit (die alle ihrer Zeit auch Zukunftsmusiker gewesen) dürften wir nicht vergessen, daß es dem lieben Gott gefallen habe, auch uns zu schaffen, und daß es unsere Pflicht sei, für das Unvergängliche, Göttliche in der Kunst, das sich zu jeder Zeit in der Menschheit offenbare, muthig in den Kampf zu gehen“ (Bronsart 1855 Weimar, S. 206).
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Entschuldigen Sie diesen Excurs. Er ist nur eine neue Variation über ein altes Thema. Aber man wird fast gezwungen, darauf zurückzukommen, solange die Behauptungen unserer Gegner von jener beneidenswerthen Stabilität sind, und mit einer Consequenz sich im Kreise drehen, welche dem zu belehrenden Publicum „imponiren“ sollen. – Das Genie zu erheben, und ihm freie Bahn zu erkämpfen, ist die schönste Aufgabe jeder, den Kunstinteressen geweihten Presse. Aber der Beschränktheit, Bosheit und Lüge unverdrossen Stand zu halten, und ihre gallsüchtigen Ausbrüche jahraus, jahrein mit anzusehen, ohne vom Ekel übermannt zu werden, ist das nothwendige, damit verbundene Uebel. Wieviel „trotz alledem“ durch eine wahrhaft künstlerische, geniale Subjectivität geleistet werden kann, ist bekanntlich in Weimar durch Liszt evident bewiesen. Nicht die Mittel sind es, durch welche er so Bedeutendes erreicht hat, sondern der Geist, der ihm eigen ist; der Geist eines, aus innerster Ueberzeugung entspringenden Enthusiasmus für die Kunst und ihren Fortschritt; der Geist einer edlen Selbverläugnung [sic], gepaart mit der, nur einer großen Künstlerseele eigenen Humanität; endlich der, in seinen Wirkungen überwältigende, unmittelbar zündende Kunstgenius, der in unserer Zeit durch Liszt zu so bedeutungsvoller Erscheinung kam. – Man nehme Liszt aus Weimar hinweg, und es bleibt für die Musik nichts übrig, als eine kleine Residenz mit bescheidenen Mitteln, welche zwar mäßigen Kunstforderungen zu Selbstzwecken auch ferner genügen würde, aber keinen Augenblick länger versuchen dürfte, selbständige Ziele zu verfolgen, eine neue eigenthümliche Kunstrichtung zu vertreten, und mit den ersten Centralpuncten deutscher Musik einen offnen Kampf aufzunehmen, zu dessen Richtern erst die Nachwelt berufen ist – man möge dagegen vorbringen, was man will. – Dieser Kampf ist in mehr als einer Hinsicht ein sehr ungleicher. Aber nur in den quantitativen Beziehungen stehen wir in der Minorität. Im Qualitativen ist das geistige Uebergewicht ganz entschieden auf Seite des Fortschritts. Es soll hiermit keineswegs gesagt sein, daß in Weimar lauter „große Geister“ leben. Im Gegentheil leiden wir so wenig Mangel an „kleinen“ und „kleinlichen Geistern“, als irgend eine Residenz unseres lieben Vaterlandes. Neben der Größe und Universalität des Liszt’schen Geistes, welcher diese „kleinen Geister“ mit ihren Privatgelüsten und Separationsbestrebungen theils niederhält, theils unschädlich macht, ist es aber noch ein Moment, welches dem öffentlichen Wirken von Liszt jene Sicherheit und Stetigkeit verleiht, die für einen dauernden Erfolg nothwendig ist, wenn es sich um Organisation von Instituten handelt, zu deren Führung ein Ineinandergreifen mannichfaltiger Factoren allenthalben erforderlich ist. Beziehungen der edelsten und erhabensten Art, – wie sie nur selten in der Kunstgeschichte zur Erscheinung kamen, aber, wo sie sich fanden, auch von den bedeutendsten Folgen waren – fesseln Liszt an den geistvollen und erleuchteten Herrscher Weimars, an den jungen Großherzog von Weimar, Karl Alexander23, und an
23 Carl
Alexander (Sachsen-Weimar-Eisenach, 1818 –1901) versuchte durch eine gezielte Förderung der Künste, aber auch etwa durch die auf sein Betreiben hin bereits ein Jahr vor seiner Thronbesteigung 1854 begonnene Restaurierung der Wartburg, die seit dem Tode Goethes 1832 gesunkene kulturelle Bedeutung des Großherzogtums wieder zu beleben.
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seine erhabene Mutter, die Großfürstin Maria Paulowna24 – Was die Herzogin Amalie25 und ihr erlauchter Sohn, Karl August26, für jene große Literaturepoche waren, deren Spitzen die deutsche Nation in Goethe und Schiller verehrt, das sind Maria Paulowna und Karl Alexander für die große Musikepoche unserer Zeit, deren weitausgreifende Beziehungen sich heute in den [sic] Namen Liszt concentrieren. Hiermit ist eigentlich Alles gesagt. Liszt ist hierdurch in jene exceptionelle, mit keinem gewöhnlichen Maßstab zu messende Stellung erhoben worden, die ihn so einzig macht, und die er wie kein Anderer verdient, weil er sie wie kein Anderer versteht und würdigt, ohne jemals auch nur den Gedanken zu fassen, sie zu mißbrauchen. Den Einfluß der edelsten Art, der ihm hierdurch zutheil wurde, benutzte er niemals für sich, sondern nur für die Kunst. – Diese schönen Beziehungen greifen bis in jene Zeit zurück, wo der großherzogl. Hof von Weimar Liszt zum Hof-Capellmeister im außerordentlichen Dienst ernannte (1842)27, wodurch er periodisch an Weimar gefesselt wurde,28 bis er (1848) sich dauernd hier niederließ29. Nach wie vor fungirte er aber nur im „außerordentlichen Dienst“, weil diese Vergünstigung allein ihm die Möglichkeit verlieh, als schaffender Künstler jene imposante Reihe
24 Maria
Pawlowna (auch: Maria Paulowna, 1786 –1859), war ein Mitglied des Hauses RomanowHolstein-Gottorp und die Tochter des russischen Zaren Paul I. (1754 –1801). 1804 heiratete sie den Erbprinzen Carl Friedrich von Sachsen-Weimar-Eisenach (1783 –1853). Nach dessen Thronbesteigung 1828 förderte die neue Großherzogin in der Tradition ihrer Vorgängerin Anna Amalia (1739 –1807) vor allem die Künste im Großherzogtum. Vorrangig auf ihr Betreiben hin bemühte sich der Weimarer Hof auch um die Verpflichtungen des Komponisten und Pianisten Johann Nepomuk Hummels (1778 –1837) sowie Franz Liszts als Hofkapellmeister. Liszts Wirken unterstützte sie wiederholt durch materielle Zuwendungen, wie etwa durch einen Zuschuss von 2000 Talern aus ihrer Privatschatulle, welcher die Uraufführung des Lohengrin 1850 in Weimar sicherstellte (vgl. Huschke 2010 Franz Liszt, S. 91). 25 Anna Amalia (Sachsen-Weimar-Eisenach, 1739 –1807) führte nach dem frühen Tod ihres Mannes, Herzog Ernst August II. Constantin (1737 –1758) ab 1759 die Regierungsgeschäfte des Herzogtums und nutzte diese Position trotz beschränkter finanzieller Mittel vor allem dazu, durch die gezielte Anwerbung von Dichtern und Gelehrten wie Johann Wolfgang von Goethe oder Christoph Martin Wieland Weimar zum sogenannten „Musenhort“ von internationaler Bedeutung werden zu lassen. 26 Carl August (Sachsen-Weimar-Eisenach, 1757 –1828) lud Goethe 1774 ein, zu ihm nach Weimar zu ziehen, was dieser tatsächlich ein Jahr später tat und so mit der späteren auf Goethes Betreiben hin erfolgten Anstellung Friedrich von Schillers in Jena zum später sogenannten „Goldenen Zeitalter“ Weimars führte. 27 Auf Veranlassung des damaligen Weimarer Erbgroßherzogs Carl Alexander gab Liszt am 23. Oktober 1842 im Weimarer Stadtschloss zu dessen Vermählung mit der niederländischen Prinzessin Sophie Wilhelmine Marie (1824 –1897) ein Klavierkonzert. Im Anschluss an die Hochzeitsfeierlichkeiten wurde Liszt am 2. November zum außerordentlichen Weimarer Großherzoglichen Kapellmeister ernannt; ein Titel, mit dem jedoch noch keine Anwesenheitspflicht in Weimar verbunden war, sondern lediglich das Recht, während eines Aufenthalts im Großherzogtum die Hofkapelle anstelle des eigentlichen Kapellmeisters André Hippolyte Chélard (1789 –1861) zu dirigieren. 28 Auf seinen europäischen Konzertreisen machte Liszt 1844 und 1846 Station in Weimar, wo er auch 1844 sein Debüt als Orchesterdirigent gab. 29 Bereits im Februar 1848 hatte Liszt in der Weimarer Hofoper dirigiert, bevor er im Juni in die sogenannte „Altenburg“ – eines am nördlichen Stadtrand gelegenen Anwesens – einzog, worauf die dauerhafte Übersiedelung in das Großherzogtum erfolgte, das bis 1861 sein Lebensmittelpunkt blieb.
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von Werken zu produciren, welche, nur erst theilweise der Oeffentlichkeit übergeben, schon jetzt epochemachend sind. Die exceptionelle Stellung, welche Liszt erlaubt, nach Bedürfniß sich zeitweise zurückzuziehen und seine [201] Thätigkeit mit voller Freiheit selbst zu regeln, erklärt auch manchen Vorgang in den hiesigen Kunstverhältnissen, der aus der Ferne leicht zu falscher Beurtheilung verleiten könnte. Ich selbst war früher der Meinung, daß Liszt allein hier das Opern-Repertoire entwerfe, alle Opern-Engagements vermittele und überhaupt die technische und artistische Leitung der Oper ganz übernommen habe. Manches, was hier in dem Theater-Geschäftsbetriebe geschah und nicht geschah, war mir unter diesem Gesichtspunct ein Räthsel. Namentlich zeigte das Repertoire der Oper nicht jene Stetigkeit und Consequenz, die sie, meiner Ansicht nach, haben mußte, wo ein Liszt an der Spitze stand. Mein Aufenthalt hier belehrte mich bald eines Besseren. Liszt will durchaus nicht über die hiesigen Mittel und Kräfte die alleinige Disposition haben, er vermeidet es sogar, in den Organisationsfragen sich geltend zu machen. Seine Wünsche und Vorschläge werden zwar allenthalben, wo nicht pecuniäre Mittel eine natürliche Schranke setzen, gebührend berücksichtigt, aber in vielen, und namentlich in den administrativen Beziehungen vermeidet er nicht nur allen Einfluß, sondern weist sogar die Aufforderung, sich direct mit Rath und That zu betheiligen, zurück, da er dem geschäftsmäßigen Betriebe fern bleiben, und seine Künstlerfreiheit sich wahren will. So entwirft er namentlich das Repertoire nicht, sondern macht nur in jeder Saison einige neue, oder sonst bedeutende Werke namhaft, die er einzustudiren und zu dirigiren wünscht. Daß ihm hierbei ein wahrhaft kunstliebender und kunstgebildeter, in der Leitung ebenso intelligenter, als liebevoller Intendant, Freiherr von Beaulieu-Macconnay30, zur Seite steht – dessen Wirksamkeit ebenfalls eine noch bedeutendere sein würde, wenn ihm nur größere Mittel zur Verfügung ständen – erleichtert natürlich Liszt seine rein künstlerische Thätigkeit. Es hat sich auf diese Weise ein Wechselverhältniß gebildet, wie es wol an keiner anderen Hofbühne besteht – und die natürlichen Folgen hiervon sind denn auch Resultate für die Kunstgeschichte, deren sich gegenwärtig keine andere Bühne in gleichem Maße zu rühmen haben dürfte. Daß die Concertverhältnisse sich nicht schon in ähnlicher Weise ausgebildet und entfaltet haben, wie die der Bühne, und daß wir demnach noch immer jene MusterAbonnementconcerte entbehren,31 deren Einrichtung hier, wie auswärts, so allgemein
30 Karl
Olivier von Beaulieu-Marconnay (1811–1889), Diplomat, Schriftsteller und Kulturhistoriker hugenottischer Abstammung, wirkte u. a. in den Jahren von 1854 bis 1857 als Hoftheaterintendant in Weimar, bis er von Franz von Dingelstedt (1814 –1881) in dieser Funktion abgelöst wurde. 31 Zwar fanden zu dieser Zeit in unregelmäßigen Abständen insgesamt jährlich durchschnittlich etwa sechs bis acht Konzerte der Hofkapelle im Weimarer Stadtschloss statt, doch wurden regelmäßige, öffentliche Abonnementkonzerte aufgrund der von Liszt monierten geringen Größe des Orchesters sowie eines fehlenden Konzertsaales erst nach Liszts Rückzug von der Weimarer Oper im Jahre 1859 unter dem Kapellmeister Carl Stöhr (1814 –1889) eingeführt (vgl. hierzu Huschke 2010 Franz Liszt, S. 127 –134).
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gewünscht wird, hat tiefer liegende Gründe, deren Untersuchung einem späteren Briefe32 aufbewahrt bleibe. In den nächsten Briefen will ich zuvor meiner Pflicht genügen, als „Berichterstatter“ eine kleine Revue der hiesigen Kräfte und Mittel, sowie einen Rückblick auf die hauptsächlichsten Leistungen zu geben, deren Zeuge ich hier schon selbst gewesen bin.
Kommentar Nachdem die NZfM ihre Leser bereits 1850 in Reiseberichten Theodor Uhligs33 und seit 1852 auch Brendels34 ausführlicher über Liszts Wirken in Weimar in Kenntnis gesetzt hatte, ebbten die enthusiastischen Aufsätze über die dortigen Musikzustände in den folgenden Jahren nicht ab. Wie auch im vorliegenden Beitrag von Richard Pohl verfolgten diese Berichte offenkundig das Ziel, die kleine Thüringer Residenz einem überregionalen Leserkreis als das neue musikalisch-fortschrittliche Zentrum Deutschlands zu präsentieren. Seit 1854 wurden diesen Korrespondenzen zunehmend Aufsätze von Liszt selbst zur Seite gestellt,35 die dieser nutzte, um seine künstlerischen Intentionen und Ziele, welche er mit seiner Position in Weimar verfolgte, auch theoretisch darzulegen. Darüber hinaus ermutigte Liszt seine Schüler oder Gleichgesinnte, sich mit Beiträgen über das Weimarer Musikleben und für die Werke der von ihm geförderten Komponisten Berlioz und Wagner publizistisch einzusetzen. Diese gleichsam aus der ‚Innenperspektive‘ heraus abgefassten Artikel gingen jedoch schon bald vermehrt dazu über, als ‚unkünstlerisch‘ empfundene Komponisten oder Musikschriftsteller in meist polemischem Ton anzugreifen. Während die publizistischen Mitstreiter aus Liszts Weimarer Kreis, welche er später allesamt in seinem Testament aus dem Jahre 1861 als Vertreter der „neudeutschen Schule“ bezeichnete,36 sich alle auch selbst als Komponisten und
Pohl 1856 Aus Weimar. 26. Septbr. 1856, S. 164: „Die allgemeine Sehnsucht nach Abonnementconcerten wird auch in dieser Saison noch nicht erfüllt werden. Es ist dazu nicht eher bestimmte Aussicht, als bis ein neuer Concertsaal gebaut ist, der allerdings nunmehr projectirt sein und in nächster Zeit in Angriff genommen werden soll.“ Dies erfolgte erst 1860 mit dem Bau eines „Erholung“ genannten Konzertsaales (vgl. Huschke 2010 Franz Liszt, S. 128). 33 Siehe Uhlig 1850 Drei Tage in Weimar, in: NdS 1 Nr. 21. 34 Siehe Brendel 1852 Ein Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 28; Brendel 1852 Ein zweiter Ausflug nach Weimar sowie Brendel 1852 Ein dritter Ausflug nach Weimar, in: NdS 1 Nr. 37. 35 Siehe etwa Liszt 1854 Weber’s Euryanthe, in: NdS 1 Nr. 65; Liszt 1854 Beethoven’s Fidelio; Liszt 1854 Mendelssohn’s Sommernachtstraum; Liszt 1854 Schubert’s Alfons und Estrella; Liszt 1854 Scribe’s und Meyerbeer’s Robert der Teufel sowie Liszt 1854 Wagner’s Fliegender Holländer. Alle diese später als „dramaturgische Blätter“ zusammengefassten Aufsätze Liszts finden sich in kritisch kommentierter Form in: Liszt-Schriften 5. 36 So heißt es in Liszts Testament: „Ich bitte sie [Carolyne] auch, mehreren Mitgliedern unserer Brüderschaft der ‚neudeutschen Schule‘, denen ich herzlich zugetan verbleibe: Hans von Bronsart, Peter Cornelius (Wien), Eduard Lassen (Weymar), Dr. Franz Brendel (Leipzig), Richard Pohl (Weymar), Alexander Ritter (Schwerin), 32 Siehe
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Musiker betätigten, zog es mit Pohl im Jahre 1856 den ersten hauptberuflichen Musikschriftsteller in das unmittelbare künstlerische Umfeld Liszts nach Weimar. Ermöglicht wurde der Umzug Pohls, der zuvor bereits mehrfach als Gast Liszts in Weimar geweilt hatte, um von dort Korrespondenzen und Berichte zu liefern, nicht zuletzt durch die auf Liszts Betreiben hin am 6. Oktober 1854 für die Weimarer Hofkapelle verpflichtete Frau Pohls, Jeanne Pohl.37 Liszt hatte die von ihm hochgeschätzte Harfenvirtuosin 1853 beim Karlsruher Musikfest kennengelernt und daraufhin bei vielen Uraufführungen seiner Symphonischen Dichtungen als Soloharfenisten zur Mitwirkung bewogen.38 Pohl, seit der Lektüre der Kunstschriften Wagners und der Tannhäuser-Aufführung 1852 in Dresden ein glühender und bekennender Wagner-Anhänger,39 war zuvor mit seinen Korrespondenzen aus Dresden für die NZfM40 sowie mit Beiträgen für die Dresdener AbendZeitung, aber auch bereits mit einer von Liszt angeregten41 Broschüre über das Karlsruher Musikfest42 schriftstellerisch in Erscheinung getreten. Wie aus einem Brief Liszts an Carolyne von Sayn-Wittgenstein vom 30. März 1854 hervorgeht43, verfolgte Liszt mit dem Umzug des Ehepaares Pohl nach Weimar von Anfang an das doppelte Ziel, sowohl eine hervorragende Musikerin für die Hofkapelle zu gewinnen als mit deren Mann auch einen ihm wohlgesinnten und erfahrenen Publizisten zu installieren, der mit Berichten aus dem unmittelbaren Umfeld in der NZfM für Liszts künstlerische Pläne eintreten sollte.44 Bemerkenswert ist hierbei die offenkundige und von Brendel als Herausgeber der NZfM mitgetragene Strategie, mittels gezielter Berichterstattung Pohls über Liszts dirigentisches
Felix Draeseke (Dresden), Professor [Carl] Weitzmann (Berlin), Carl Tausig (aus Warschau). Mögen sie das Werk fortsetzen, was wir begonnen haben – die Ehre der Kunst und der innere Werth der Künstler verpflichtet sie dazu. Unsere Sache kann nicht untergehen, sollte sie auch gegenwärtig nur wenige Vertheidiger haben“ (zit. nach Gut 2011, Franz Liszt, S. 692). Von den Genannten lebte lediglich Franz Brendel sowie Carl Weitzmann nicht für längere Zeit in Liszts persönlichem Umfeld in Weimar. Liszt hatte das 14-seitige Testament am 14. September 1860 verfasst und danach nicht wieder verändert (vgl. Walker 1989 Franz Liszt, S. 555). 37 Jeanne Pohl (geb. Eyth, 1824 –1870) und Richard Pohl waren seit 1852 verheiratet (siehe Pohl 1870 Jeanne Pohl, S. 31). Liszt versuchte darüber hinaus, ihr 1857 durch den Titel einer Großherzoglichen Kammervirtuosin eine solch außerordentliche Stellung zu verschaffen, wie sie der Soloviolinist Edmund Singer und der Solocellist Bernhard Cossmann in der Hofkapelle bereits innehatten. Dieses Ansinnen wurde jedoch zunächst auf Intervention des Theaterintendanten Beaulieu-Marconnay verhindert (siehe Huschke 2010 Franz Liszt, S. 126). Schließlich erfolgte die Ernennung Jeanne Pohls erst nach Liszts Weggang aus Weimar am 24. Juni 1862. 38 Vgl. Pohl 1870 Jeanne Pohl, S. 34 f. 39 Vgl. Hartlaub-Pohl 1967 Richard Pohl, S. 16 –18. 40 Siehe Pohl 1852 Dresdner Musik III. 41 Siehe Deaville 2006 Die neudeutsche Musikkritik, S. 63. Vgl. einen Brief Liszts vom 5. November 1853 an Pohl, in: Liszt-Briefe 1, S. 142 –145. 42 Siehe Pohl 1853 Das Karlsruher Musikfest. Siehe auch Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51. 43 In diesem Brief heißt es: „Je souhaite beaucoup sa femme soit engagée à Weymar, car elle a un charmant talent, et lui me conviendrait beaucoup…“ (Ich wünsche sehr, dass seine Frau für Weimar engagiert werden möge, denn sie hat ein charmantes Talent, und er käme mir sehr zu statten …), in: Liszt-Briefe 4, S. 186. 44 Neben zahlreichen Korrespondenzen in der NZfM gelang es Pohl auch in der damals sehr verbreiteten Leipziger Illustrirten Zeitung mit umfangreichen Berichten über Liszts Wirken in Weimar zu erscheinen. Siehe hierzu die tabellarische Übersicht am Ende des Kommentars. Darüber hinaus trat Pohl als der Verfasser zahlreicher zum Teil umfangreicher Beiträge in der NZfM und der seit 1857 von ihm und Brendel geleiteten Anregungen in Erscheinung.
1100
Nr. 88 (1856)
Wirken, die Programmgestaltung der Weimarer Oper und der Konzerte sowie nicht zuletzt Liszts eigene, bereits realisierte oder geplante Werke, das ‚Neue Weimar‘ als Ort der Erneuerung des deutschen Musiklebens und der deutschen Kultur zu inszenieren. Dabei sticht immer wieder die Absicht hervor, Liszts Tätigkeit und Schaffen als eine Fortsetzung des sogenannten „Goldenen Zeitalters“, die Jahre des Wirkens Goethes und Schillers in der Stadt, darzustellen. Dieses Vorgehen entsprach nicht nur der in Liszts Schrift von 1851 zur Goethe-Stiftung proklamierten Idee einer neuartigen Verbindung der Wiener (musikalischen) mit der Weimarer (literarischen) Klassik.45 Darüber hinaus knüpfte dies zugleich an das bereits bei Goethe und Schiller erprobte Vorgehen an, der eigenen künstlerischen Produktion durch eine gezielte Publizistik wie etwa den gemeinsam herausgegebenen Propyläen ästhetisch den Weg zu bereiten und zugleich dem eigenen kulturellen Wirken überregionale – gar internationale – Bedeutung beizumessen.46 Dieses Bestreben fand nach dem Weggang Liszts aus Weimar nach Rom im Jahre 1861 abrupt ein Ende, zumal in der Darstellung des ‚Neuen Weimar‘ – wie auch im vorliegenden Beispiel – stets auf die herausragende Bedeutung Liszts und seines hohen persönlichen Einsatzes für die Weimarer Musikzustände hingewiesen worden war47, sodass bereits zu Beginn der 1850er Jahre die kleine Residenz „synonym mit Liszt geworden“48 war. Nachdem durch die Eröffnung der dortigen Großherzoglichen Malerschule unter der Leitung Stanislaus von Kalckreuths im Jahr 1860 eine von Liszt seit Jahren angeregte baldige Eröffnung eines Konservatoriums in Weimar und damit sowohl die dauerhafte Rückkehr Liszts als auch eine mögliche Anstellung seiner ehemaligen Mitstreiter in weitere Ferne gerückt worden war,49 zog Pohl als einer der letzten Verbliebenen des Weimarer Liszt-Kreises 1863 nach BadenBaden, um von dort bis zu seinem Tod 1896 über das Musikleben und seine Weimarer Jahre zu berichten.50
1851 De la Fondation-Goethe, in: Liszt-Schriften 3. 46 Vgl. hierzu Altenburg 1997 Liszt und das Erbe der Klassik. 47 Vgl. etwa Stahr 1852 Weimar und Jena. 48 Deaville 2006 Die neudeutsche Musikkritik, S. 58. 49 Vgl. Hartlaub-Pohl 1967 Richard Pohl, S. 31: „Von diesem Moment [der Gründung der Kunstschule] an wußten alle Anhänger Liszt’s, daß es mit einer Liszt’schen Musikschule für immer vorbei sei. Einer nach dem anderen ging von Weimar weg und suchte sich auswärts einen Wirkungskreis. Den Meisten wurde das nicht leicht, da man damals noch allenthalben die Weimarischen Tendenzen fürchtete und die Konservatorien, die Konzertsäle, die Theater den Liszt’schen Schülern durch die Presse ängstlich verschloß.“ 50 Vgl. zur Biographie Pohls insgesamt Hartlaub-Pohl 1967 Richard Pohl. 45 Liszt
Pohl 1856 Vertrauliche Briefe aus Weimar
1101
Übersicht der Richard Pohl zuzuordnenden Berichte über das Weimarer Musikleben51 während seines dortigen Aufenthalts Datum
Titel
Zeitschrift
20. April
„Weimar, im April“
NZfM
26. Mai, 2. Juni
„Ein Besuch auf der Altenburg in Weimar“
Illustrirte
1855
Zeitung 6. Juli
„Musikalischer Tartaren-Schwindel“
NZfM
12. Oktober
„Weimar, 15ten September“
NZfM
2. Mai
„Vertrauliche Briefe aus Weimar von Hoplit. I.“
NZfM
10. Oktober
„Aus Weimar. 26. Septbr 1856“
NZfM
17. Oktober
„Aus Weimar. 11. October 1856“
NZfM
12. und 19. Dezember
„Aus Weimar. III. 27. Nov. 1856“
NZfM
1. Januar
„Weimar, 27. Dec. 1856“
NZfM
16. und 23. Januar
„Weimar, 12. Januar“
NZfM
15. und 22. Januar
„Weimarer Briefe von Hoplit“
NZfM
26. Februar, 5. und 12. März
„Weimarer Briefe von Hoplit. II.“
NZfM
4. Juni
„Weimar, 22. Mai“
NZfM
22. Oktober
„Weimar“
NZfM
5. November
„Weimar“
NZfM
26. November, 3., 10.
„Weimarer Briefe von Hoplit“
NZfM
1856
1857
1858
und 24. Dezember
51 Ab 1859 werden die Berichte zunehmend von Liszts Freund, dem Tiefurter Kantor Alexander Wilhelm Gottschalg (1827 –1908) übernommen.
Nr. 88 (1856)
1102
Datum
Titel
Zeitschrift
1., 7., 14., 21. und
„‚Comala‘. Oper in 3 Aufzügen. Text, nach Ossian,
NZfM
28. Januar, 4., 11., 18.
und Musik von Eduard Sobolewski“
1859
und 25. Februar, 4. und 11. März „Liszt’s Rücktritt von der Weimarer Bühne“
NZfM
5. Juli
„Tonkünstler-Versammlung in Weimar“
NZfM
26. Juli
„Allgemeines Programm der Tonkünstler-Versammlung
NZfM
4. Februar 1861
zu Weimar. Vom 5. bis 7. August 1861“ 16. August
„Die zweite Tonkünstler-Versammlung in Weimar. II.“
NZfM
6., 13., 20. und 27. Septem-
„Die zweite Tonkünstler-Versammlung zu Weimar“
NZfM
ber, 4. und 11. Oktober, 1. November
Nr. 89 | L. A. [Leopold Alexander] Zellner, „Musikalische Wochenlese“, in: Blätter für Musik, Theater und Kunst 2 (1856), Nr. 41 (20. Mai), S. 161–163.
Musikalische Wochenlese. Von L. A. Zellner. (Ein probates Mittel für Skeptiker. – Vom Gespenst der Zukunftsmusik. – Der Geist des Fortschritts. – In was besteht er, und was verlangt seine Lehre? – Die Reformpartei und ihre Thätigkeit. – Die Oper. – Rossini’s „Mathilde di Schabran“. – Von der Ausführung.)
Zweiflern an dem wichtigen Aufschwunge, welchen die Tonkunst sowohl nach Seite ihrer theoretischen wie practischen Entwicklung hin, namentlich aber in der Richtung ihrer ästhetischen Ausbildung in den letzten Decennien bis in die jüngste Gegenwart genommen; Zweiflern an der Fruchtbarkeit der Resultate, die das unablässige Drängen zum Fortschritte hin bereits gewann; geheimen Verächtern oder offenen Gegnern der sogenannten Partei der Zukunftsmusiker und ihrer Utopien gescholtenen Bestrebungen; Lobrednern der guten alten Zeiten, die in der Rückkehr zur Naivität der formellen Gestaltungsweise, stofflicher Handhabung und ästhetischen Anschauung unserer Urväter einzig und allein das Heil der Musik erblicken – empfehlen wir das Anhören der, vor einigen Tagen von den im Kärntnerthortheater hausenden wälschen Gäste der verdienten Vergessenheit unverdienterweise entzogenen Oper Rossini’s „Conradino, il cuor di ferro“ oder wie sie gelegentlich der spätern für Paris vorgenommenen Bearbeitung getauft wurde „Mathilde di Schabran“1. – Wer nach dem ersten Acte nicht vollständig geheilt ist, und nach dem zweiten sich zufällig noch unter den Lebenden befindet, da es leicht möglich wäre, in Folge perpetueller Gähnkrämpfe mittlerweile seelig entschlafen zu sein, der wird nach dem dritten Acte gewiß spornstreichs2 in unser Lager übergehen, besäße er auch noch weniger Musiksinn als ein Maikäfer. In unser Lager?! – Ich sehe Gesichter erbleichen. Wie? – Das unheimliche Gespenst der Zukunftsmusik hätte sogar schon bis in das ruhige, gemüthliche Wien seine Arme ausgestreckt, und findet hier seine Anhänger, ja noch mehr, eine förmliche Vertretung in den „Blättern für Musik“. – Nur schnell herbei mit Räucher-
1 Gioachino Rossini, Matilde di Shabran (UA 1821). Bei der Wiener Erstaufführung am 24. Juli 1822 trug das Werk den Titel Corradino, ossia Belezza e cuor di ferro. 2 Unverzüglich.
1104
Nr. 89 (1856)
pfannen, damit das Phantom entweiche, man halte ihm vor die Partituren Haydn’s und Mozart’s, beschwört es mit den wirksamsten Pleyel-Wanhal’schen3 Kraftsprüchen, flieht, wendet eure Blicke von diesem Geiste des Unheils. – – Ruhig meine Freunde, ruhig und gelassen. Diesem Geiste könnt ihr nicht entfliehen, denn es ist der Geist der Zeit, der fortschreitenden Aufklärung und Läuterung; dieser Geist läßt sich nicht besprechen, darum bemühet euch, ihn aus Besprechungen näher kennen zu lernen. Laßt euch nicht irre machen von dem Geschrei verrotteter Zöpfe4, deren Blöken nur die Dunkelheit deckt, weßhalb sie das Licht so sehr scheuen; glaubt nicht den verrückten Mährchen alter Musikweiber, die euch schrecken wollen mit den schaudererregendsten Beschreibungen dieses Geistes, den sie aber selbst noch nie gesehen. Urtheilt nicht nach dem, was Andere sagen, prüft selbst, untersucht selbst, und ihr werdet ein liebevolles, freundliches hehres Wesen finden, das euch emporhebt über die Kreise des Gewöhnlichen, die Pforten öffnet und euch einladet, in den blühenden Garten einzutreten, wo Herz, Gemüth und Verstand sich verbunden haben, euch ideale Genüsse zu bereiten. Kürzlich konnte man – und irren wir nicht, so war es gelegentlich einer Besprechung der Schumann’schen Manfred-Ouverture5 – in einem hiesigen Blatte lesen: „Die Musik der Zukunft ist jene Musik, die nicht wir, sondern erst unsere Nachkommen, unsere Enkel und Urenkel verstehen sollen“6. – Man möchte es kaum für glaublich halten, daß ein solcher Unsinn niedergeschrieben werden könne, es scheint einem völlig unmöglich, daß dergleichen Ansichten Glauben finden sollten; und dennoch ist dies die Meinung eines großen Theiles des Publikums, ja man trifft sie häufig selbst bei Musikern an. Solche Aussprüche werden dann gedankenlos nachgebetet und weiter verpflanzt. Statt Aufklärung durch vernünftige Darstellung der Fortschrittsprincipien zu verbreiten, trägt man durch absichtlich übertriebene oder aus Unkenntnis entstandene falsche Auffassungen zur Verkennung des Bestrebens, zur Lächerlichmachung der Lehre, zur Verdummung der Künstler, die leider immer noch zu wenig lesen, des Publicums bei, das in der Regel gar nicht liest, wenn es sich um die theatralische Entwicklung und Begründung einer Kunstproduction handelt. Manches hat zu den argen Mißverständnissen wohl allerdings die Wahl der Devise beigetragen, unter welcher die Partei des Fortschritts ihre Bestrebungen verfolgt. Ein Kunstwerk, welches die Zukunft uns erst bringen soll – und das ist die falsche Auffassung – vermag der Gegenwart freilich kein Interesse abzugewinnen. Hierzu kommt noch die nirgends ausgesprochene, durch nichts begründete Annahme, als
3 Sowohl Ignaz Pleyel (1757 –1831), ein Schüler Joseph Haydns, als auch Johann Baptist Vanhal (auch Wanhal, 1739 –1813), seinerseits Lehrer u. a. von Pleyel, waren ungemein produktive Komponisten und nahmen zentrale Rollen im Musikleben des späten 18. Jahrhunderts ein. So wurde Pleyel etwa von den Londoner Professional Concerts als Gegenpart Joseph Haydns nach London eingeladen. Vanhal wiederum konnte als einer der ersten Komponisten vom Verkauf seiner Werke leben. 4 Unter dem Schlagwort „Zopf“ wurde im 19. Jahrhundert in Anspielung auf die Haarmode des 18. Jahrhunderts eine reaktionäre Gesinnung verstanden. 5 Robert Schumann, Ouvertüre zu Manfred op. 115 (UA 1852). Die Wiener Erstaufführung fand am 10. Februar 1856 im philharmonischen Konzert im Redoutensaal statt. 6 Konnte nicht ermittelt werden.
Zellner 1856 Musikalische Wochenlese
1105
verleugne und verwerfe die Fortschrittslehre Alles, was bis jetzt gegolten, was wir als Kunstwerke anerkannt, denen wir Genuß und Erbauung zu verdanken hatten. Es ist traurig, daß wir erst dabei sind, den Platz vom Schutte der Begriffsverwirrungen zu säubern, wo schon ein stattlicher Bau sich erheben könnte; aber das eine muß geschehen, bevor das andere stattfinden kann. Es handelt sich nicht um einen Umsturz der Musik, ihrer ästhetischen, phisikalischen [sic] oder akustischen Gesetze. Die Musik der Zukunft wird sich, wie die gegenwärtige, in Klängen kundgeben, aus Tonfolgen construiren, die wieder nur entweder allmälig (Melodie) oder gleichzeitig erklingende (Harmonie) sein können. Das Material also bleibt dasselbe. Ein Fortschritt kann also nur in geistiger Richtung stattfinden, und zwar: hinsichtlich der Erfindung neuer Ideen, also des Inhalts, so wie der Art ihres Aussprechens, worunter man sowohl die Form versteht, welche begreiflicher Weise vielfältiger Modificationen fähig ist. Dieser Fortschritt aber ist nicht nur möglich, sondern sogar nothwendig. Der Beweis der Möglichkeit liegt in der Geschichte unserer Kunst. Haydn hat die vor ihm noch nicht bestandene Form der Symphonie erfunden, aber welche kindische Gestalt zeigt sie neben der Breite Beethovens. Beethoven hat allerdings die Haydn’sche Form [162] bereichert und erweitert, er schuf, streng genommen, keine neue. Aber daraus folgt durchaus nicht, daß ein künftiger Componist nicht ebenso wie Haydn, der Erfinder einer wesentlich neuen Form sein könne. Auf gleiche Weise verhält es sich mit den Gedanken. Bei Haydn hatten sie einen andern Charakter als bei Mozart, und jene Beethoven’s sind wieder anders als die seiner Vorgänger. Je weiter der Abstand, desto merkbarer der Unterschied. Man vergleiche nur ein Haydn’sches Motiv mit einem Mendelssohn’schen oder Schumann’schen. Was also die Fortschrittslehre vor allem verlangt, ist: die vollste Geltendmachung der künstlerischen Individualität. Sie verwirkt die Reproduction verbrauchter Formen, wo höher Ausgebildete bereits zu den Maßgebenden geworden und in diesem, nur in diesem Sinne, hat sie mit der Vergangenheit gebrochen. Sie erkennt mit vollster Freudigkeit den Kunstwerth z. B. irgend einer Haydn’schen Sonate an, jedoch nur vom damaligen Kunststandpunkte besehen, sie würde aber dieselbe Sonate, wenn sie heute geschaffen worden, entschieden verwerfen und zwar mit demselben Rechte, mit welchem ein Maler ausgelacht würde, der, statt die Contouren durch Licht und Schatten hervorzuheben, dieselben – wie es in der altdeutschen Schule gebräuchlich war, mit schwarzen Linien begrenzte. Aus dieser Unmöglichkeit der Rückkehr und des gleichbedeutenden Stillstandes ergiebt sich die Nothwendigkeit des Fortschrittes von selbst. Was die Fortschrittslehre will, ist: daß der Tondichter seine Gedanken nicht in abgethane Formen zwänge; daß der chablonehaften Musikfabrikation gesteuert werde; daß der Componist, statt im leeren Formenspiel zu gebaaren, irgend einen poetischen Gedanken zum Ausdruck bringe; daß sein Werk eben so die Theilnahme der Sinne wie des Gemüths, des Verstandes wie der Phantasie errege. Das Zukünftige bedeutet das Nochnichtexistirende, dieses aber ist das Neue. Jede originelle Production ist ein Zukunftswerk, so jeder Componist, der neue, ursprüngliche Gedanken in origineller Form ausspricht, ein Zukunftsmusiker. Man kann es sein im Verhältnisse zum Allgemeinen, wie zu sich selbst.
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Nr. 89 (1856)
Rossini ist Zukunftsmusiker in seinem „Tell“7 im Vergleiche zu seiner „Italienerin in Algier“8, nicht aber in der „diebischen Elster“9, denn zwischen den beiden letztern bestehen keine Merkmale eines Fortschritts. Beethoven ist in jeder seiner Symphonien Zukunftsmusiker gegen sich, in der Neunten gegen das Gesammte und bleibt es so lange, bis nicht über dieselbe hinaus ein Fortschritt stattfindet. Eine Musik der Zukunft ist ein absurder Begriff, und zwar einfach aus dem Grunde, weil jede Schöpfung in dem Augenblicke als sie entsteht, der Gegenwart, und im nächsten schon der Vergangenheit angehört. Eine Musik für die Zukunft aber, eine Musik nämlich, die den Moment ihrer Entstehung überdauert, ist zu allen Zeiten geschaffen worden, und wird auch künftighin nicht ausbleiben. Es wären daher die Bestrebungen der Fortschrittspartei ganz überflüssig, wenn nicht eine Epoche des Stillstandes in der Productivität eingetreten, die, ob sie nun von der Schwierigkeit, die höchsten Ausläufer der Kunstentwicklung noch zu übertreffen bedingt oder auf welch’ immer für eine andere Weise erklärt werde, verderbliche Neigungen zur Reproduction, ja zum Rückgreifen zu antiquirten Standpunkten nährt. Dieser in letzter Auflösung künstlerischer Indolenz zu begegnen, sind die Anregungen der Reformpartei nicht nur nothwendig, um der völligen Stagnation entgegen zu arbeiten, sondern zugleich um dem erstehenden Talente den Weg in der Art zu ebnen, damit es nicht erst die Kräfte verschwende, um sich durch alle Phasen des Überwundenen bis zu den letzten Errungenschaften durchzuarbeiten, sondern sogleich von dem gereinigtsten, entwickeltsten Ausgangspunkte seine Fahrt antrete. Die Reform versieht das Talent mit Compas und Karte, damit es nicht erst in dem Meere der Vergangenheit umhersteuere um die richtige Fahrstraße, die es zum Ziele führt, mühsam aufzusuchen, sie zeigt ihm die Klippen, denen es auszuweichen habe, sie stattet es mit Erfahrungen aus, die bisher jeder Einzelne Schritt für Schritt sammeln musste, zeigt ihm endlich klar das Ziel, gibt ihm die Mittel und Wege an, es am schnellsten zu erreichen. Können solche Vorarbeiten, diese Läuterungen und Präcisirung der Kunsttheorie verdammenswerthe Bestrebungen genannt werden? Das Gespenst der Zukunftsmusik dürfte jetzt Manchem nicht mehr so furchtbar vorkommen. Die Thätigkeit der Reform hat sich bisher vorzugsweise dem Genre der Oper zugewendet und zwar gedrängt von der Nothwendigkeit, dort vor Allem beizuspringen, wo die Verwirrung am höchsten, also die Hilfe am dringendsten. Das Lied ist durch Schubert, die Instrumentalmusik durch Beethoven zu einem Grad der Vollendung ausgebildet worden, über welchen hinaus ein wesentlicher Fortschritt im Großen und Ganzen weder praktisch geschah, noch theoretisch gezeigt und zu entwickeln versucht wurde; das Bedürfniß hiezu hat sich noch nicht so sehr gebieterisch eingestellt. Eher erheischte noch die Kirchenmusik eine Revision, vornehmlich, wenn man den ascetischen Standpunkt, von welchem sie allmälig verdrängt worden ist und den sie in letzterer Zeit ganz zu verlieren droht, im Auge behält. Ohne Zweifel wird die Reform über kurz oder lang auch dieses Feldes sich bemächtigen, ja es würde vielleicht schon geschehen sein, wenn die Tonkunst,
7 Rossini, Guillaume Tell (UA 1829). 8 Rossini, L’Italiana in Algeri (Die Italienerin in Algier, UA 1813). 9 Rossini, La gazza ladra (Die diebische Elster, UA 1817).
Zellner 1856 Musikalische Wochenlese
1107
welche ursprünglich ein Pflegling der Kirche war, im Drange ihrer modernen Entwicklung den beengenden Mutterschoß nicht hätte verlassen müssen, um als weltliche Kunst ihrer Vollendung zustreben zu können. Es ist nicht der Zweck dieser Zeilen, die Gebrechen, den Widersinn der gefühlund vernunftverletzenden Elemente, welche, auf die widerspruchvollste Weise durcheinander gemengt, bisher den Begriff Oper ergaben, einzeln nachzuweisen und eine Prüfung der diesfälligen Reformbestrebungen, eine Beleuchtung ihrer Theorien vorzunehmen. Dieses ist zum Theile bereits an anderen Orten in diesen Blättern geschehenI, und es wird wohl noch mancher Anlaß sich ergeben, ausführlich auf diese Frage zurückzukommen. Der Hauptsache nach strebt die neue Theorie der Operncomposition das Princip des Vernunftgemäßen und die strenge Durchführung dieses Gesetzes an. Zweck der Oper ist die Darstellung einer Handlung, sie ist also vorzugsweise dramatisches Product, und unterscheidet sich von dem gesprochenen Schauspiele blos durch die musikalische Betonung der Rede und deren musikalische Begleitung. Jeder unmotivirte Aufenthalt, jede Stockung der Handlung muß also in der Oper ebenso verletzend empfunden werden, wie es im Schauspiele der Fall sein würde. Wer hat es nicht schon unzählige Male mit angesehen, wie der Held, das Schwert in der Brust, oder Gift im Leibe, noch eine Viertelstunde lang die kunstvollsten Arien trillert, wer hörte nicht Opernfiguren in Situationen der höchsten Gefahr die Phrase „ja, laßt uns fliehen“ in allen Tonarten immer vom Neuen wiederholen, wobei sie sich nicht vom Flecke rühren. Es fällt einer ins Wasser, auf seinen Hilferuf strömt die Menge zusammen. Was wäre nun natürlicher, als daß einige der Muthigsten sich in die Wellen stürzten, um dem Verunglückten zu helfen. Der Dichter hat die Situation vernunftgemäß mit raschen Strichen gezeichnet, ein allgemeines „Auf, zur Rettung“ ist alles, was er den Chor sagen läßt. Aber der Componist findet in diesem „Auf zur Rettung“ einen prächtigen Anlaß zu einem recht kunstvoll leidenschaftlichen Ensemblestücke, in welchem das drängende „Auf zur Rettung“ – allerdings auf die schönste Art ausgemalt, ein paar Hundertmal ausgerufen wird. Während dessen aber hätte der arme Teufel zehnmal mehr Zeit als nothwendig war, eine solche Portion Wasser zu schlucken, um nie mehr vom Durst geplagt zu werden. Zum Glücke ertrinkt man in Theatergewässern nicht. Diesen und ähnlichen Unsinn, der im Drama verlacht, ausgepfiffen wurde, ja heute überhaupt gar nicht mehr denkbar ist, läßt man sich mit dem größten Gleichmuthe von der Opernbühne herab gefallen. [163] So verstandeswidrig aber auch derlei unzählig vorkommende Situationen sein mögen, die Construction der Opernmelodie, die Declamation ist es in einem weit höheren Grade. Wir wollen aus den neuern, oder nach den bisherigen Begriffen, gediegenen Opern, wo die vernünftige Behandlung der Rede in Folge des Bedürfnisses nach charakteristischer Gestaltung vielfach schon Platz gegriffen hat, kein Beispiel wählen (obwohl sie sich in Menge finden lassen). Das Richtige mit
I Siehe
I. Jahrgang. Rückblick und Umblick S. 65 u. s. f.10
10 Müller
1855 Rückblick und Umblick.
1108
Nr. 89 (1856)
dem Unrichtigen, das Wahre mit dem Falschen ist zu sehr in einander gemengt, um ohne weitläufige Sonderungen und Nachweisungen für Jeden gleich auf den ersten Blick faßlich dargestellt werden zu können. Hingegen werden uns ältere Werke die schlagendsten Argumente zur Hand geben. Eines der merkwürdigsten Exemplare dieser Art möchte wohl (und damit kehren wir von unserer Excursion zur eigentlichen Veranlassung dieses Aufsatzes zurück) die Eingangs besagte „Mathilde di Schabran“11 sein. In derselben hat der Unsinn der musikalischen Faktur schon den möglichsten Culminationspunkt erreicht. Der trockene Formalismus chablonenhafter Mache, die tödtende Monotonie einer nicht enden wollenden absoluten Melismatik müssen den apathisch’sten Zuhörer aufrütteln und zum Ausrufe zwingen: das ist Unsinn. Oder wär’s nicht Unsinn, wenn Personen in den heterogensten Gemüthsstimmungen unaufhörlich Scalen gurgeln? Ist eine dreistündige Sequenz von Arien nach durchaus gleichem Zuschnitte, welchen in Folge der ewigen Umschreibungen der Melodie jede Melodie fehlt, die man überdies vollständig, ohne daß eine Note fehlen darf, mit einer Guitarre begleiten kann, kein Unsinn? Will man ein Beispiel der höchsten Geschmacklosigkeit, des völligsten Mangels an dramatischer Characteristik, der Negation des Begriffes „Oper“ anführen, so muß man „Mathilde di Schabran“ nennen. Kann man noch ein größeres Armuthszeugniß des heutigen Zustandes der wälschen Oper verlangen, als es die Wiederaufnahme dieser monströsen Mißgeburt ist? – Was die Aufführung betrifft, so sind die HH. Carrion12 und Everardi13 und Frau Borghi14 als vorzügliche Kehlenvirtuosen bekannt. Was sie mit der Kunst der Geläufigkeit zu leisten im Stande waren, erfüllten sie redlich, daß dreistündige Solfeggien und wenn sie von den lieben Engeln selbst gesungen würden, höchst langweilig werden müssen, dafür können die Ausführenden nicht verantwortlich gemacht werden. Ueber Frau Medori15 schrieb ein hiesiges Journal: sie habe durch Virtuosität ersetzt, was ihr an Leichtigkeit und Geläufigkeit des Gesanges mangelte. Der glückliche Löser dieses kritisch-stylistischen Rebus enthält eine anständige Belohnung. Unserer bescheidenen Meinung zu Folge fehlt der genannten Dame entschieden aller Beruf zum Coleraturgesang [sic]. Da es aber häufig vorzukommen pflegt, daß Menschen gerade für das am meisten passionirt sind, was sie nicht können, so erklärt sich auch die Liebhaberei der Frau Medori für solche Rollen. Das einzige Gute ist dabei, daß ihr die Melismen keine Zeit lassen, ihrer zweiten Leidenschaft, dem Tremoliren, nachzuhängen. Man möchte wünschen, sie hätte in tragischen Partien recht viel Coleratur [sic] zu singen. Die übrigen Giebigkeiten der Opernwoche, die man diesmal füglich die Rossiniwoche nennen darf, waren der „Othello“16 und „Barbier“17, beide größtentheils in den bekannten Besetzungen. Neu waren im Othello blos Hr. A. Bettini18 als
11 Siehe
Anm. 1. 12 Emanuele Carrión (1817 –1876), spanischer Tenor, von 1855 bis 1859 in Wien. 13 Camillo Everardi (1825 –1899), Bariton, in Wien 1853 bis 1859 und 1864. 14 Adelaide Borghi-Mamo (1829 –1901), ital. Mezzosopran, in den Jahren 1853 bis 1856 Gastspiel in Wien. 15 Giuseppina Medori (1827 –1906), von 1852 bis 1858 in Wien. 16 Rossini, Otello (UA 1816). 17 Rossini, Il barbiere di Siviglia (Der Barbier von Sevilla, UA 1816). 18 Alessandro Bettini (1825 –1898), Tenor.
Zellner 1856 Musikalische Wochenlese
1109
Rodrigo, welcher besser als sein Vorgänger Sacchero19 befriedigte. G. Bettini20 in der Titelrolle leistete Anerkennenswerthes, spielte und sang mit Feuer und Geschmack die übrigen Parthien mit Ausnahme der vorzüglichen Darstellung des Jago durch Hrn. Debassini21, besonders aber Fr. Bendazzi22 standen unter dem Niveau der Kritik. Die Vorstellung des Barbier zeichnete sich durch gutes Ensemble und animirte Leistungen der einzelnen Darsteller aus. Besonders war Debassini voller Laune. Carrion schien etwas fatiguirt. Frau Borghi singt die Rosine besser, als sie sie spielt, ihre Bewegungen und Actionen sind ohne Anmuth. Bartolo und Basilio verdarben nichts.
Kommentar Hatte der Musikpublizist und Komponist Leopold Alexander Zellner im Eröffnungsartikel der von ihm ein Jahr zuvor in Wien gegründeten Blätter für Musik, Theater und Kunst für diese noch eine überparteiliche Haltung innerhalb des sich stetig zuspitzenden musikalischen Parteienstreits in Anspruch genommen,23 so positionierte er sich mit dem vorliegenden Artikel als eindeutiger Verfechter der musikalischen „Fortschrittspartei“ und damit als eine Art ‚Vorkämpfer‘ im konservativen Wiener Musikleben. Anlass für dieses Bekenntnis war jedoch keineswegs das klingende Erlebnis eines Werkes Richard Wagners oder Franz Liszts, deren Wiener Erstaufführungen noch bis 1857 bzw. 1858 auf sich warten ließen24, sondern bemerkenswerterweise die Aufführung einer Oper Gioachino Rossinis. Diese musste so – gleichsam ex negativo – den Beweis für die Notwendigkeit der „Fortschrittsbestrebungen Norddeutschlands auf dem Felde der musikalischen Aesthetik und Komposition“25 erbringen, wie Zellner diese Richtung bereits in einer Fußnote am 30. März 1855 bezeichnet hatte. Inhaltlich bemerkenswert ist vor allem die vom Autor vorgenommene Darlegung der „Principien“ der von ihm als geschichtlich „nothwendig“ beschriebenen „Fortschrittspartei“ – ein Begriff, der den zu dieser Zeit offenbar allgemein negativ konnotierten Terminus „Zukunftsmusik“ ersetzen sollte.26 Ohne die Namen der im damaligen Diskurs bereits als Protagonisten der ‚Partei‘ angesehenen Komponisten Wagner, Liszt oder Berlioz zu nennen,
19 Konnte nicht ermittelt werden. 20 Geremia Bettini (1823 –1865), Tenor. 21 Achilles De Bassini (1819 –1881), Bariton, Verdi-Sänger, 1851 bis 1858 in Wien. 22 Luigia Bendazzi (1833 –1901), Sopranistin, 1854/55 in Wien. 23 Zellner 1855 Zum Beginne. 24 Vgl. Hanslick 1857 Les Préludes, in: NdS 2 Nr. 104; Zellner 1857a Musikalische Wochenlese; Anonym 1857a Entstehung der sogenannten Zukunftsmusik, in: NdS 2 Nr. 106 sowie Hanslick 1858b Die Oper ‚Lohengrin‘. 25 Müller 1855 Rückblick und Umblick, S. 65. 26 Dass dies nicht gelang, zeigen schon die zu dieser Zeit verstärkt begegnenden Artikel, welche den Begriff im Titel führen. Vgl. etwa Anonym 1857a Entstehung der sogenannten Zukunftsmusik, in: NdS 2 Nr. 106, Nitzsche 1857 Zur Würdigung der Zukunfts-Musik, in: NdS 2 Nr. 109 sowie später Lp 1859 Zukunftsmusik, in: NdS 3 Nr. 133.
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reklamiert Zellner als Charakteristika eines „fortschrittlichen“ Schaffens allgemein Originalität hinsichtlich der musikalischen Gestaltung27, eine den zeitgemäßen Kunstansprüchen genügende handwerkliche Beherrschung des Metiers sowie nicht zuletzt eine neue geistige Grundlage des Komponierens. Letztere drücke sich beispielsweise in der generellen Einsicht in die Notwendigkeit einer dramatischen und ‚realistischeren‘ Gestaltung der Oper sowohl innerhalb der Libretti als auch der Vertonung aus. Die Aufgabe, diese Positionen im Musikleben zu verbreiten, fiel der Musikkritik zu, die damit eine „positive“, das zukünftige Schaffen der Komponisten fördernde Rolle einnehmen müsse. Dass die hier vorgenommene Gleichsetzung von Originalität und „Zukunftsmusik“ nicht nur von dezidiert konservativer Seite als regelrechte Anmaßung empfunden werden musste, zeigt exemplarisch die ausführliche Reaktion Johann Christian Lobes in dessen Fliegenden Blättern aus dem Jahre 1856 auf Zellners Äußerungen, die vehement bestrebt ist, das für sich selbst reklamierte ‚Originalitätsmonopol‘ der „Fortschrittspartei“ in Abrede zu stellen.28 Wenngleich der vorliegende Beitrag das erste öffentliche Bekenntnis Zellners zu den Positionen Liszts, Brendels, Wagners usw. darstellt, so hatten die Blätter für Musik, Theater und Kunst bereits zuvor und verstärkt in der Folge als Veröffentlichungsort der Positionen Liszts, Wagners, Brendels und seines Kreises fungiert29 und konnten neben Wiederabdrucken aus der NZfM und den Anregungen sogar mit Originalbeiträgen wie etwa Liszts ausführlicher Besprechung von Joachim Raffs Dornröschen-Musik30 aufwarten.
27 „Jede
originelle Production ist ein Zukunftswerk, so jeder Componist, der neue, ursprüngliche Gedanken in origineller Form ausspricht, ein Zukunftsmusiker“ (Zellner 1856 Musikalische Wochenlese, S. 162, in: NdS 2 Nr. 89, S. 1105). 28 Siehe Lobe 1856 Das Gespenst der Zukunft, in: NdS 2 Nr. 98. 29 Brendel 1856a Programmmusik; Anonym 1856 Brendels Geschichte der Musik sowie Müller 1855 Rückblick und Umblick. 30 Liszt 1856 Dornröschen.
Nr. 90 | R. [Richard] Pohl, „Hector Berlioz und seine künstlerische Stellung zur Gegenwart“, in: Anregungen 1 (1856), Nr. 3 [Mai/Juni], S. 129–140; Nr. 6 [November/Dezember], S. 251–263.1
Hector Berlioz und seine künstlerische Stellung zur Gegenwart.
Erster Artikel: Berlioz’ Verhältniß zu Richard Wagner. Betrachten wir die ästhetisch-kritischen Untersuchungen, welche in der neueren Zeit, und namentlich seit dem Auftreten Richard Wagner’s, in so mannigfaltiger Weise angeregt worden sind, und theils ein reichhaltiges Material fruchtbarer Kunstanschauungen angesammelt, theils eine erfreuliche Folge künstlerisch abgeschlossener Consequenzen schon zu Tage gefördert haben: so muß es zum mindesten merkwürdig, wenn nicht abnorm erscheinen, daß nur über einen der bedeutendsten Künstler der Gegenwart überhaupt so wenig Namhaftes, und durchaus noch nichts Umfassendes und Erschöpfendes veröffentlicht worden ist – über Hector Berlioz.2 – Im Gegentheil circuliren noch über ihn ungehindert eine Menge Irrthümer und Vorurtheile, welche selbst die besten unserer musikalischen Schriftsteller nachzubeten und weiter zu
1 Wiederabgedruckt in: Pohl-Schriften 3, S. 111–130. 2 Tatsächlich waren mit Ausnahme des Hector Berlioz gewidmeten Artikels Franz Liszts (Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie), der aber im Grunde vor allem eine Poetik der Instrumentalmusik Liszts darstellt, bis 1856 hauptsächlich Konzertberichte von Werken des französischen Komponisten erschienen. Dazu zählen vor allem die Berichterstattung über die sogenannten „Berlioz-Wochen“ in Weimar 1852 (Anonym 1852 Hector Berlioz en Allemagne; Anonym 1852 Hektor Berlioz in Weimar; Bülow 1852 Hektor Berlioz) oder einzelne Konzerte wie in Leipzig 1853 (Jahn 1853 Hector Berlioz in Leipzig) und 1855 (Anonym 1855 Te Deum von Hector Berlioz). Den Versuch, Berlioz in einem größeren geistesgeschichtlichen Kontext einzubetten, hatte zuvor vor allem der Musikschriftsteller und Dramatiker Robert Wolfgang Griepenkerl in seiner 1843 erschienenen Novelle Ritter Berlioz in Brauschweig: Zur Charakteristik dieses Tondichters vorgelegt. Darin wird Berlioz als ‚Bruder‘ Beethovens dargestellt, der seinerseits wiederum Teil eines geistigen Triumvirats zusammen mit Shakespeare und Jean Paul bilde. Vgl. hierzu insgesamt Hennemann 2003 Ritter Berlioz und Prophet Mendelssohn.
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verbreiten sich nicht gescheut haben.I – Und doch gebührt diesem Meister eine ganz selbstständige und eigenthümliche Stellung in der Kunstgeschichte unseres Jahrhunderts; doch ist sein Einfluß ein so unabweisbarer und intensiver, daß wir kaum eine andere Erklärung für seine Vernachlässigung in unseren kritischen und ästhetischen Annalen finden können, als: Unbekanntschaft mit seinen Werken. – Diese Erklärung ist aber keine Entschuldigung, sondern nur ein weiterer Vorwurf. Er ist es für die Aesthetiker und Kritiker – daß sie diese Werke nicht aufsuchten, so schwer sie ihnen auch zugänglich sein mochten. Er ist es für die Musiker – daß sie das Studium dieser Werke bei ihrer Ausbildung versäumten. Er ist es für die Leiter der Concertinstitute und Capellen – daß sie die Aufführung dieser Werke kaum versuchten, vielweniger noch consequent durchführten. – Alles in Allem be-[130] trachtet ergiebt sich, daß kein Meister der Neuzeit mit größeren Schwierigkeiten der Anerkennung, daß Keiner mit mehr Ungerechtigkeit und Einseitigkeit zu kämpfen hatte, und noch heute kämpft, als Hector Berlioz, der moderne Epiker par excellence, der größte Instrumental-Componist unserer Zeit, der ausgeprägteste Repräsentant der nach-Beethoven’schen Periode, der originellste und selbstständigste unter allen jetzt lebenden Musikern. Wenn also überhaupt die Würdigung eines Musikers hier ihre Stelle finden kann, so verdient die der Verdienste von Hector Berlioz in diesen „Anregungen“ eine der ersten. Denn in Bezug auf ihn ist es wahrlich an der Zeit, anzuregen, und zwar allseitig und nachdrücklich anzuregen: zum Studium, zur Aufführung, zur Anerkennung, zur ästhetischen und geschichtlichen Forschung. Man vergegenwärtige sich, wie viel über Richard Wagner in wenig Jahren geschrieben und gestritten worden ist, und vergleiche damit die verschwindend kleine Literatur, welche Deutschland über Berlioz besitzt. – Einige größere Artikel von Griepenkerl5, Lobe6, Schumann7, v. Bülow8, Liszt9, Brendel10, Raff11 und Hoplit12 sind im Grunde genommen Alles, was über Berlioz im anerkennenden, günstigen Sinne,
I Wir erinnern hier beispielsweise an A. B. Marx, der in seinem neuesten Werk „Die Musik des 19. Jahrhunderts“3 über Berlioz auf eine sehr verkehrte und einseitige Weise abgeurtheilt hat.4 Wir haben bei der Lectüre der Abschnitte seines sonst so verdienstlichen Werkes die feste moralische Ueberzeugung gewonnen, dass Marx Wenig oder Nichts von Berlioz kennt, keinesfalls aber ihn studirt, und meist nur nach dem Hörensagen geurtheilt hat. – Schreibt man auf diese Weise aber in unseren Tagen noch Geschichte? – A. d. V.
Marx 1855 Die Musik des neunzehnten Jahrhunderts. 4 Marx kritisierte sowohl die Orchesterbehandlung Berlioz’, da diese das „geistige Leben des Orchesters, jene Poesie und Dramatik, welche auf Individualisirung der Stimmen, auf karakteristischer Unterscheidung und sicherer Durchführung dieser Karaktere“ beruhe, „in solchen Massen beengt ja erstickt“ werde (ebd., S. 124). Darüber hinaus bemängelte er, Berlioz strebe danach, anstatt sich der Oper zuzuwenden, in seinen „Kantaten mit überwucherndem Vokale“ (ebd., S. 163) über die 9. Symphonie Beethovens hinaus zu gelangen – was aber laut Marx „Niemand“ vermöge (ebd., S. 161). 5 Siehe Griepenkerl 1843 Ritter Berlioz. 6 Siehe u. a. Lobe 1853 Hektor Berlioz, in: NdS 1 Nr. 43 sowie Lobe 1853 Liszt und Berlioz in Weimar, in: NdS 1 Nr. 38. 7 Siehe Schumann 1835 Aus dem Leben eines Künstlers. 8 Siehe Bülow 1852 Aus Weimar, Bülow 1852 Hektor Berlioz. 9 Siehe Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie. 10 Siehe etwa Brendel 1855 Weimar. 11 Siehe Raff 1852 „Benvenuto Cellini“. 12 Siehe Pohl 1853 Hector Berlioz sowie Pohl 1854 Hector Berlioz in Dresden. 3 Siehe
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mit dem Bestreben, seine Bedeutung im Ganzen zu erfassen, veröffentlicht worden ist.II – Es ist zwar über einige der bekanntesten seiner Werke noch außerdem Manches gesagt worden,15 das man, als „gut gemeint“, gelten lassen kann. Aber fast alle diese Kundgebungen erheben sich nicht über das Niveau gewöhnlicher Zeitungsreferate. Sie haben weder den Willen noch die Kraft, sich zu höheren Gesichtspuncten aufzuschwingen und die Totalität von Berlioz’ Kunsterscheinung im geistigen Ueberblick zu erfassen. Wieviel des Unwahren, Verkehrten, Einseitigen und Unüberlegten ist dagegen auf den Namen dieses Mannes gehäuft worden, der von der Last des Unsinns, den man seit einem Vierteljahrhundert auf ihn gewälzt hat, längst erdrückt sein müßte, wenn ihm nicht eine bewundernswerthe Elasticität und Thatkraft des Geistes innewohnte, die, allen Anfechtungen zum Trotz, ihn unveränderlich und unerschütterlich eine Bahn verfolgen läßt, welche sein Genius ihm mit Flammenschrift vorgezeichnet hat. Es wäre ganz unmöglich, diesen Vorwürfen hier sämmtlich begegnen und sie alle widerlegen zu wollen. Sie greifen so tief in viele musikalische [131] Principfragen ein, daß man eine Abhandlung über die Aesthetik der Tonkunst und eine über die Geschichte der Musik vorausschicken müßte, um die Einwürfe gegen Berlioz an der Wurzel packen zu können. Eine Vermischung der Fragen über Berlioz’ Bedeutung mit der sogenannten „Wagnerfrage“16 ist aber die neueste und unstatthafteste von allen Erwiderungen. Die Vereinigung ihrer Principien ist in neuerer Zeit wiederholt versucht worden, hat aber die Gesichtspuncte nur noch mehr verwirrt, die Urtheile noch befangener gemacht, ohne doch das geringste Licht in die Sache zu bringen.17 – Denn, Berlioz neuester Zeit tritt noch A. W. Ambros in Prag hinzu, der in seinem Werkchen über „Die Grenzen der Musik und Poesie“13 sich ausführlich und mit großer Sachkenntniß mit Berlioz beschäftigt, obgleich auch Ambros sich von einigen, fast allen Musikern eigenthümlichen Vorurtheilen gegen Berlioz, noch nicht befreien konnte.14 II In
Ambros 1856 Die Gränzen der Musik und Poesie. 14 In einer später erschienenen Rezension des Buches äußerte Pohl in Bezug auf Ambros: „Er tadelt z. B. die Programmusik (über deren Wesen er übrigens noch nicht ganz klar ist) und entwirft doch in seinem Buche eine höchst anziehende Reihe trefflicher Programme. – Er fühlt sich in Folge seiner Principien genöthigt, gegen Berlioz wiederholt zu polemisiren, und doch sagt er wieder so Treffliches, so Begeistertes über ihn, daß man überall herausfühlt, wie sehr er diesen Heros verehrt“ (Pohl 1857 Die Grenzen der Musik und Poesie, S. 105). 15 Weitere, bis dahin zu Leben und Werk Berlioz’ erschienene Artikel in Musikzeitschriften sind: Anonym 1852 Hector Berlioz en Allemagne; Anonym 1852 Hektor Berlioz in Weimar, welche sich mit den sogenannten „Berlioz-Wochen“ in Weimar beschäftigen. Zu einzelnen Konzerten mit Werken Berlioz siehe Jahn 1853 Hector Berlioz in Leipzig sowie Anonym 1855 Te Deum von Hector Berlioz. 16 Mit dem Schlagwort „Wagnerfrage“ wurde zu dieser Zeit die durch die 1854 erschienene gleichnamige Schrift Joachim Raffs (Raff 1854 Die Wagnerfrage) ausgelöste Diskussion bezeichnet, die sich – neben der generellen Diskussion um die künstlerische Qualität der bis dahin erschienenen Opern Wagners – mit der Frage befasste, inwieweit auch nach einer zukünftigen Realisierung des „Kunstwerks der Zukunft“ es noch eine Berechtigung für eine separat existierende Instrumentalmusik gebe, wofür sich Raff mehrfach explizit ausgesprochen hatte (siehe Raff 1853a An die Redaction, in: NdS 1 Nr. 41 sowie Raff 1853b An die Redaction). 17 So beschrieb Franz Brendel in der 21. Vorlesung seiner Musikgeschichte von 1855 beispielsweise 13 Siehe
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mit Wagner zu identificiren, ist nicht nur ein völlig unfruchtbares, sondern sogar unverständiges Bemühen, gegen welches beide Meister selbst entschieden protestiren dürften, da es noch weniger Sinn hat, als Beethoven und Weber mit gleichem Maßstabe und unter gleichen Gesichtspuncten messen zu wollen. Es ist bekannt genug, wie jene letzteren beiden Meister ihrer Zeit sich gegenüberstanden, ja, bis zu einem gewissen Puncte, sich völlig ignorirten. Wie wir nun in Jenen die Grundelemente finden, auf welchen Berlioz und Wagner weiter bauten, so finden wir im reciproken Verhältniß der Letzteren auch dieselben Gegensätze und Spaltungen, nur noch schroffer, unvereinbarer, wie denn unsere Zeit in dieser Hinsicht überhaupt sich noch weit entschiedener, aber auch unversöhnlicher, gestaltet hat. Berlioz ist von den Gegnern alles und jedes Fortschritts kurzweg ein „Zukunftsmusiker“ genannt worden.18 – Er ist es, insofern man darunter versteht, daß seine Werke, in der Zeit ihres Entstehens, fast sämmtlich keine Gegenwart hatten, (weil sie weit über ihre Zeit hinausgriffen,) wohl aber später bewiesen haben, daß sie zukunftsfähig sind und noch auf ein halbes Jahrhundert hinaus eine „Zukunft“ haben werden, bevor sie, als unabweisbare Momente des künstlerischen Fortschritts, in Fleisch und Blut der Musiker und Aesthetiker übergegangen und mit den erweiterten Kunstbegriffen identificirt sind. Es wird und muß eine Zeit kommen, wo Berlioz’ Werke eine ähnliche musikalische Stellung einnehmen werden, wie jetzt noch die letzten großen Werke von Beethoven, zu denen sie sogar in ganz bestimmten, nachweisbaren Verhältnissen stehen. Und wie in diesem Sinne Beethoven ein „Zukunftsmusiker“ war, ist auch Berlioz ihm hierin, wenn nicht ebenbürtig, so doch gleichberechtigt. Insofern man aber bei dem Worte „Zukunftsmusiker“ an Wagner’s Kunstwerke und Kunsttheorien, oder, im ausgedehnteren Sinne, an das „Kunstwerk der Zukunft“19 denkt, ist Berlioz nichts weniger als „Zukunftsmusiker“ zu nennen. Denn er ist in jedem Werke, ja in jedem Tacte ein so vollständiger „Sonderkünstler“20, er ist so durch und durch Musiker, und [132] speciell Symphoniker, daß er nicht einmal Wagner’s künstlerische Kundgebungen im „Lohengrin“ vollständig würdigen und
Berlioz’ Romeo et Juliet op. 17 (EA 1839), von Komponisten mit der Bezeichnung „dramatische Symphonie mit Soli und Chören“ versehen, als Vertreter einer „Zwittergattung“ auf dem Weg zu Wagners „Kunstwerk der Zukunft“, welches Berlioz „noch nicht vermögend“ gewesen sei zu erreichen. Daher wird Berlioz innerhalb Brendels einflussreicher Musikgeschichte lediglich die Rolle als „eine[m] der bedeutendsten Vermittler zwischen Beethoven und Wagner“ zugewiesen (alle Zitate: Brendel 1855 Geschichte der Musik, S. 250). 18 Die Zuschreibung Berlioz’ zur sogenannten Zukunftsmusik ist spätestens seit dem Karlsruher Musikfest 1853 in den Musikzeitschriften ein verbreiteter Topos (siehe etwa H. 1853 Das karlsruher Musikfest, in: NdS 1 Nr. 50; Liszt 1853 Das Karlsruher Musikfest sowie Pohl 1853 Briefe aus Carlsruhe IV, in: NdS 1 Nr. 51). 19 Wagner 1850 Kunstwerk der Zukunft. 20 Mit den hier verwendeten Begriffen „Sonderkünstler“, „absolute Musiker“ und „Gesammtkünstler“ rekurriert Pohl auf einen drei Jahre zuvor erschienenen Artikel Franz Brendels (siehe Brendel 1853 Die bisherige Sonderkunst, in: NdS 1 Nr. 42). Dort heißt es: „[D]ie in unzulässiger Weise bisher getrennte Kunst nenne ich Sonderkunst, jene dagegen, welche in dem Ganzen wurzelt, und nur eine relative Selbstständigkeit behauptet, die Kunst der Zukunft, bezeichne ich mit dem Ausdruck Einzelkunst“ (ebd., S. 432 [122]). Unter „Gesammtkünstler“ ist hingegen laut Brendel der (Mit-)Schöpfer des anzustrebenden Gesamtkunstwerkes zu verstehen, vgl. dazu den Kommentar des vorliegenden Artikels.
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noch viel weniger dessen allgemeine Kunsttheorien zugeben kann und wird. Derselben Ungerechtigkeit, welcher hier der „absolute Musiker“ sich dem „Gesammtkünstler“ gegenüber schuldig machen würde, (eine Präsumtion, die wir aus Berlioz’ Partituren herauslesen, obgleich er sich hierüber öffentlich nie ausgesprochen hat,) derselben, aus einer nicht zu läugnenden Einseitigkeit entspringenden, künstlerischen Ungerechtigkeit hat sich R. Wagner in seinen Schriften bereits schuldig gemacht, indem er über Berlioz früher in einer Weise abgeurtheilt hat, die wohl zu erklären, aber kaum zu entschuldigen sein dürfte.21 Daß Wagner, von musikalischer Seite betrachtet, trotzdem an Berlioz anknüpft, – indem er zwar dessen Polyphonie und Polyrhythmik verworfen, sowie dessen Kunstformen umgestoßen hat, wohl aber seine Instrumentation sehr genau studirte, sowie die Berlioz ganz eigenthümliche Permutation und Combination der Motive in einzelnen Fällen (wie in der Tannhäuser-Ouvertüre, in den Instrumental-Einleitungen zu „Tannhäuser“22 und „Lohengrin“23, etc.) auch adoptirt hat, – kann dem Musiker nicht entgehen, während umgekehrt Berlioz von Wagner schon aus dem Grunde Nichts angenommen haben kann, weil des Ersteren Werke der Mehrzahl nach viel früher entstanden sind, und überdies eine Umkehr der künstlerischen Logik, (vom Wagner’schen declamatorisch-dramatischen auf den Berlioz’schen symphonisch-epischen Styl zurück) nicht statthaft, ja nicht einmal denkbar ist. – Wagner wirft sich mit dem ganzen Gewicht seiner künstlerischen Subjectivität, wie seiner durchgebildeten Theorie, auf das Dramatische. Er ist nur auf der Bühne (und nur in vollkommenster Ausführung) das, was er allein sein will, der Reformator des Opernstyles unserer Zeit. – Berlioz dagegen wirft sich mit aller Macht auf das Orchester, und ist nur hier als der zu erkennen, der er in der That ist: der größte Symphoniker unserer Zeit, der unübertroffene Repräsentant unserer, durch ihn auf die Spitze der musikalischen Charakteristik, wie der technischen Vollendung erhobenen Instrumentalmusik. Eine weitere Ausdehnung der symphonischen Formen, über Berlioz hinaus, ist in der That für uns nicht denkbar. Er geht bereits über die Grenzen der reinen Instrumentalsymphonie hinaus, indem er (nach dem Vorgang von Beethoven) die Vocal-Symphonie soweit ausgebildet hat, daß sie – in ihren Entwickelungsstadien der „Symphonie mit Chören“,[133] der „Vocal- und Instrumentalsymphonie“, der „dramatischen Symphonie“, des „lyrischen“, „epischen“ und „dialogisirten Oratoriums“ – bereits
21 1852 hatte Wagner in Oper und Drama über Berlioz geäußert: „In dem Bestreben, die seltsamen Bilder seiner grausam erhitzten Phantasie aufzuzeichnen […], trieb Berlioz seine enorme musikalische Intelligenz bis zu einem dahin ungeahnten technischen Vermögen. Das, was er den Leuten zu sagen hatte, war so wunderlich, so ungewohnt, so gänzlich unnatürlich, daß er dies nicht so geradeheraus mit schlichten, einfachen Worten sagen konnte: er bedurfte dazu eines ungeheuren Apparates der kompliziertesten Maschinen, um mit Hülfe einer unendlich fein gegliederten und auf das mannigfaltigste zugerichteten Mechanik das kundzutun, was ein einfach menschliches Organ unmöglich aussprechen konnte: eben weil es etwas ganz Unmenschliches war“ (Wagner 1852 Oper und Drama, 1. Teil, V, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 80). An anderer Stelle des Werks nennt Wagner Berlioz eine „tief bedauernswürdige Erscheinung“, die von „wahrhaft künstlerischem Sehnen verzehrt“ werde, jedoch „bereits rettungslos unter dem Wuste“ ihrer „Maschinen begraben“ liege (ebd., S. 81). 22 Wagner, Tannhäuser (UA 1845). 23 Wagner, Lohengrin (UA 1850).
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über sich hinaus auf die Bühne weist, und nur noch eines Schrittes bedurfte, um zur Oper zu werden. Insofern ist Berlioz als nothwendiges organisches Mittelglied zwischen Beethoven und Wagner zu betrachten. – Berlioz selbst aber konnte und wollte nicht weiter gehen, als er gegangen ist, weil er, um die Wagner’schen Consequenzen zu adoptiren, den rein musikalischen Boden hätte verlassen und statt der Oper (zu deren Reformator er sich keineswegs berufen fühlte) das musikalische Drama hätte substituiren müssen. Berlioz hat den ihm angewiesenen Wirkungskreis innerhalb der Musik (als Sonderkunst) so vollständig für seine Zeit erfüllt, daß man seine große Mission anerkennen muß, wenn man nicht Ohren und Augen absichtlich verschließen will. Es ist aber zugleich ersichtlich, daß Wagner, dessen künstlerische Mission eine andere, weit universellere war, wohl im Einzelnen (rein Musikalischen) an Berlioz anknüpfen, im Ganzen aber über ihn hinaus gehen mußte, schon deshalb, weil der Berlioz’sche Kunststyl von ihm nicht weitergeführt werden konnte, ohne über das Maaß, das der Musik als Sonderkunst gesteckt ist, in’s Unschöne und Unbestimmte sich zu verlieren. Wagner steht folglich, auf einseitig musikalischem Gebiet, noch innerhalb der Berlioz’schen Periode; seine Bedeutung als Musiker reicht bei weitem nicht an die von Berlioz heran. Er steht aber als dramatisch-musikalischer Künstler völlig außerhalb des Berlioz’schen Kunstprincips, und überragt seinen großen Vorgänger insofern bedeutend, als er den Begriff einer Gesammtkunst auf der Bühne geltend gemacht hat, die Berlioz nicht kennt und auch nicht anerkennen würde. – Berlioz ist, mit einem Worte, der größte und letzte Prophet des alten Bundes, Wagner der erste Apostel des neuen Testamentes. Hiermit ist Alles gesagt, um ihr gegenseitiges Verhältniß auf das Bestimmteste zu formuliren. Es könnte nun die Frage aufgeworfen werden, wie wir dann noch behaupten dürfen, daß Berlioz eine „Zukunft“ habe. – Denn mit dem Eintritt des neuen Bundes sei doch der alte Bund erfüllt und gelöst. Man könne nicht rückwärts schreiten und von Wagner auf Berlioz zurückkommen. Habe man des Ersteren Bedeutung erkannt, so könne man nicht mehr an den Letzteren glauben. Und da überdies Berlioz die Sphäre seines Wirkens, als Mittelglied zwischen Beethoven’s Symphonie und Wagner’s Musikdrama, selbst so vollständig ausgefüllt habe, bliebe ja Anderen,[134] die ihm nachfolgen wollten, Nichts mehr zu thun übrig. Berlioz könne also nicht fähig sein, eine Schule zu bilden; er könne höchstens für sich jetzt eine Gegenwart, aber für seine Werke keinen Einfluß in der Zukunft beanspruchen. – Hierauf ist zunächst zu erwidern, daß ein Genius, von so subjectiver und intensiver Begabung, wie Berlioz, der seinen Styl (fast rein empirisch) aus seiner Individualität heraus gebildet hat, überhaupt eine Schule, im strengen Sinne des Wortes, zu bilden weder beabsichtigen kann, noch dazu fähig ist. – Man hat zwar Berlioz unzähligemal vorgeworfen, es sei bei ihm Alles combinirt, berechnet, reflectirt.24 Wäre diese
24 Vgl. etwa einen Artikel Eduard Kossaks in der Berliner Musik-Zeitung Echo aus dem Jahre 1855, wo es über „die Neueren“ in der Musik heißt, diese würden „unaufhörlich darüber grübeln, neue Tonerzeugungswerkzeuge zu erfinden, und noch nicht dagewesene Effekte auf den üblichen Instrumenten hervorzuzaubern“. Weiter heißt es: „Ihre Instrumentation soll die Symbolik der Gedanken sein, die sie zur Klarheit des Ausdrucks zu bringen trachten. Man würde gegen diese
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Beschuldigung aber wahr, so wäre er auch zugleich befähigt, „Schule zu machen“. – Wir behaupten aber im schärfsten Gegensatze, daß kein Componist der Gegenwart so unmittelbar, aus sich heraus, ohne Reflexion, vollkommen naiv, und unwillkürlich so und nicht anders schafft, weil er nicht anders schaffen kann, – als Hector Berlioz. – Daß seine Werke Vielen fremdartig, gesucht und berechnet erscheinen, beweist nicht im Geringsten, daß sie es sind. Es beweist nur, daß Berlioz eine, aller Berechnung und Vorausbestimmung Anderer sich vollständig entziehende, völlig ursprüngliche und nur auf sich ruhende Natur, daß er, mit einem Worte, ein Genie ist. Wenn man nach einem Gegensatz zu diesem Schaffen von Berlioz sucht, so kann man keinen entschiedneren finden, als wiederum Wagner. – Dieser ist an seine Werke so systematisch herangegangen, sie sind ein so wunderbares Ergebniß der schärfsten Reflexion, im Verein mit der glühendsten Kunstbegeisterung, daß wir seine logische Schärfe oft ebenso sehr bewundern müssen, als seine künstlerische Freiheit, und die seltene Vereinigung eines, als Kunsttheoretiker wie als schaffender Künstler gleich bedeutend dastehenden Meisters als ein Phänomen unserer Zeit aufzunehmen haben, wie es eine frühere, weniger systematisch durchgebildete und weniger reflectirte Zeit gar nicht hervorbringen konnte. Deshalb bildete aber Wagner auch sofort bei seinem Erscheinen eine Schule. Seine Theorie fand im Moment ihres Entstehens Anhänger, Vertreter, sowie weiterbauende und ausbauende Kräfte. Sein Kunststyl wurde sofort zur Anregung, zum Muster für Viele; er breitete sich sogar auf Gebiete aus, die nicht unmittelbar von Wagner selbst berührt wurden – auf das Lied einerseits, auf die symphonischen Formen anderseits. – Hier ist also Schule, Partei, Ausbreitung, Verallgemeinerung des Styles, der Principien, der Theorie. Berlioz dagegen, der zwanzig Jahre vor Wagner auftrat, blieb einsam und wird es bleiben, in dem angedeuteten Sinne. – Er hat keine [135] „Theorie“ geschaffen, außer eine der Instrumentation, die bereits zum Gesetz erhoben, und von Allen anerkannt worden ist.25 Er hat nie über sein Schaffen, über seine Werke öffentlich Rechenschaft gegeben; er hat nie über sich reflectirt im Sinne eines objectiven Kunstschaffens; er hat nie Principien aus seinen Werken entwickelt, oder sie als Norm für Andere aufstellen wollen. – Wäre es also unter diesen Umständen für seine Schüler (wenn er deren je gehabt hätte) schon schwierig genug gewesen, dem Meister ohne Anleitung nachzuempfinden und nachzudenken, so liegt es außerdem in der ureignen Natur seines musikalischen Empfindens und Schaffens, daß sie nicht copirt werden kann, ohne sofort zur Carricatur zu werden. Und dennoch hat Berlioz eine Zukunft. Er muß sie haben, weil sonst die ethische Bedeutung eines selbstschöpferischen Kunst-Genius, wie der seine ist, eine Lüge, oder ein Spiel der Phantasie wäre. Und dem widerspricht die Kunstgeschichte auf
geistreichen Männer ungerecht werden, wollte man ihnen nicht nachrühmen, daß es vornehmlich Hector Berlioz gelungen ist, auf diesem Wege außerordentliche äußerliche instrumentale Wirkungen hervorzubringen, allein man wird ihnen nicht einräumen können, daß sie irgendwo auch nur annähernd die Seelen ihrer Zuhörer so tief ergriffen hätten, als z. B. Beethoven in der ersten besten seiner Symphonieen und Ouvertüren“ (Kossak 1855 Das große Lisztconcert, S. 397). 25 Siehe Berlioz 1844 Grand Traité d’instrumentation. Zur rasch einsetzenden Rezeption und Verbreitung des Werkes im deutschen Sprachraum vgl. Jacobshagen 2003 Die Instrumentationslehre von Berlioz.
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das Bestimmteste. – Wie Berlioz’ Schaffen, so muß nun auch sein Wirken ein anderes sein. Wagner erfüllte das Gebiet, das er erobert, sofort auf die intensivste Weise mit ganz bestimmtem Gehalt, theoretisch und praktisch zugleich. Das Terrain ist von ihm nicht nur erobert, sondern zugleich mit Ueberlegung befestigt worden. Der ruhige, gemessene Ausbau ist Aufgabe seiner Schule; die Vertheidigung und Behauptung wird ihr aber um so leichter, je mehr die Cultur jedes einzelnen Zweiges in’s Detail eingeht. Und hier ist die Arbeit schon im vollen Gange. – Berlioz dagegen gleicht dem kühnen Entdecker im Weltall, der mit seinem Späherblick von Stern zu Stern, von Sphäre zu Sphäre fliegt, neue Weltkörper findet, aber, wenn er sie gefunden hat, rastlos weiter eilt und die Berechnung der Bahnen Anderen überläßt. Er giebt Fragmente neuer Bahnen, deren Elemente kommende Geschlechter suchen und feststellen mögen. Er giebt Gedankenblitze des Genius, wie sie im Weltendunkel dem Seherblick auftauchen. Aber die theoretische Begründung, – ob das, was er sah, ein Fixstern, ein Planet, ein Komet oder nur ein flüchtiges Meteor war, – überläßt er der Nachwelt. Nur das Suchen ist ihm Genuß, nicht das Finden, nicht das Besitzen. Ein zweiter „Faust“ ruft er aus: „Stürzen wir uns in das Rauschen der Zeit, In’s Rollen der Begebenheit! Da mag denn Schmerz und Genuß, Gelingen und Verdruß, Mit einander wechseln wie es kann. Nur rastlos bethätigt sich der Mann! –“26 [136] Eine solche Natur ist freilich ein Räthsel, wenn nicht ein Gräuel, für jeden gut geschulten Systematiker. Doch fragt der Genius wenig darnach, ob er „systematisch“ oder „problematisch“ erscheint. Er ist, und in ihm ist die ewig rege Schöpferkraft, und treibt ihn vorwärts, nach Oben! – Hat Berlioz also, im extensiven Schaffen, für die Instrumental-Musik die weitesten Grenzen gesucht und abgesteckt, die überhaupt für eine einzelne Kraft zu erreichen sind, so ist damit noch nicht gesagt, daß er auch seine Eroberungen gehörig befestigte; daß er das ganze, von ihm umschriebene Gebiet gleichmäßig durchforschte und allseitig beherrschte. Die ganze von uns charakterisirte Art seiner Production bietet Anderen eine Fülle der geistvollsten Aperçüs, aber wenig vollständig abgerundete Resultate. Seine Werke sind im Einzelnen überwältigend, als Ganzes betrachtet aber nicht fehlerfrei. Die Ausführung ist immer genial, die Anlage oft sehr eigenthümlich, aber nicht nachahmenswerth, mehr willkürlich, als normal zu nennen. – Und hierin liegt gerade ein neuer Beweis, wie wenig bei Berlioz die „Reflexion“ mit der Conception seiner Werke zu thun hat. Denn bei vorhergehender allseitiger Prüfung und Erwägung könnte die „Berechnung“ der Gesammtwirkung doch am allerwenigsten übersehen werden!
26 Goethe,
Faust I, „Studierzimmer“, V. 1754 –1758.
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Wieviel ist in dieser Hinsicht also für seine Nachfolger noch zu thun, wie lange ist noch zu arbeiten, um den großen Bau mit neuem Gehalt zu erfüllen, die neuen Kunstmittel zu beherrschen, und auf dem genialen Fundament ein formell vollendetes Gebäude aufzuführen! – Fehler in der Anlage sind, wenn die Bahn einmal gebrochen ist, ja leicht zu erkennen, und leicht zu vermeiden. Der zweite Eroberer oder Unternehmer ist immer klüger als der erste, weil die Mängel des ersten Angriffes ihm vor Augen liegen. Und er kann durch Ueberlegung und Besonnenheit ersetzen, was ihm an Genialität mangelt. Hierzu kommt, daß Berlioz die verschiedenen Kunstformen, die er beherrscht, fast sämmtlich nur einmal und nicht wieder behandelte. Er hat damit große Marksteine und Denksäulen gegründet, deren jede für sich ein Monument seines Geistes und seiner Zeit ist. Zwischen ihnen blieb aber noch viel Raum zu Monumenten für eine nachfolgende Zeit. Diesen Raum zu erfüllen, und somit erst Berlioz’ Mission in der Symphonik ganz zu vollenden, ist eine zwar schwierige, aber sehr interessante, und für bedeutende Talente auch dankbare Aufgabe. Freilich kennen Berlioz nur erst die Wenigsten, und unter diesen haben die Wenigsten ihn schon recht erkannt. Noch bleibt aber der Einwurf zu beseitigen: daß die Anhänger des neuen Bundes nicht zugleich am alten Bunde festhalten können, daß man von Wagner nicht auf Berlioz zurückschreiten dürfe, weil nur Einer von [137] ihnen, aber nicht Beide Recht haben können. – Wir erwarten diesen Satz von einigen ächten „Wagnerianern“, von den Fanatikern des „Kunstwerks der Zukunft“, ohne daß wir ihn fürchten, weil er nicht mehr bedeutet, als: eine neue Einseitigkeit an die Stelle einer für überwunden gehaltenen zu substituiren. Daß wir mit dem Auftreten Wagner ’s Alles über den Haufen werfen sollen, was vor ihm geleistet worden ist, das zu verlangen und zu behaupten ist einem Vernünftigen niemals eingefallen. Die Gegner der Fortschrittspartei haben der letzteren, um sie zu discreditiren, diesen Wahnsinn zwar untergeschoben, haben aber selbst an diese Lüge nie geglaubt. Kann also hiervon im Ernste nirgends die Rede sein, soweit es sich um Bestehendes handelt, so kann diese Frage höchstens für das noch nicht Entstandene, für das Kommende discutirt werden. Und hier ist sofort zu erwidern, daß das „Kunstwerk der Zukunft“ – das bis jetzt nur theoretisch existirt – auch in der ferneren Kunstentwicklung die „Sonderkünste“ niemals absorbiren, sondern nur als neues, höheres Element neben diesen und mit ihnen bestehen wird. Eine Gesammtkunst ohne Einzelkunst zu denken, ist unlogisch, denn ein Collectivbegriff ist nicht vorhanden, sobald er nicht in Elemente zerlegt werden kann. Da nun die, das Gesammtkunstwerk bildenden Elemente unter sich von sehr verschiedener und scharf abgegrenzter Natur sind, können sie wohl zu einer, außerhalb ihrer selbstständigen Sphäre liegenden und von den Einzelnen deshalb nicht zu erreichenden Gesammtwirkung vereinigt werden, sie können aber deshalb noch nicht in ihrer innersten Natur für immer zerstört, in ihrer Sonder-Existenz total aufgehoben werden. Denn sollte dies möglich sein, so müßte vor Allem bewiesen werden, daß sämmtliche Sonderkünste in der Totalität ihrer Erscheinung und ihres Wirkungskreises auch in ihrer Vereinigung wiedererscheinen, daß sie mithin im Gesammtkunstwerk ohne Bruchtheil aufgehen könnten. Und das ist nicht zu beweisen, weil es der Natur der Kunst im Allgemeinen wie im Besonderen widerspricht. – Von rein technischer Seite ist zugleich die praktische Unmöglichkeit eines völligen Aufgehens in der
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Gesammtkunst gegeben. Denn, damit es eine Technik der Gesammtkunst geben kann, muß eine Technik der Einzelkünste nothwendig fortbestehen. Und von einer Kunst verlangen, daß sie die Technik erhalte, ohne doch selbstständige Kunstzwecke damit zu verbinden, hieße herabsteigen und die Kunst zum Handwerk machen. Es wird und muß folglich nach wie vor eine selbstständige Instrumentalmusik, Gesangskunst, lyrische, epische und dramatische Dichtkunst etc. geben,[138] welche das Bestehende erhält und weiterbildet, um so das Material zu liefern, aus welchem die Gesammtkunst ihre Stoffe und ihre Mittel zur Aufführung schöpfen kann. – Und selbst wenn wir zugeben wollen, daß eine Zeit kommen könnte, wo alle Mittel und Leistungen der Einzelkünste in dem Maaße erschöpft seien, daß eine neue Kunstwirkung nur noch durch die Gesammtkunst erreicht werden könnte – so ist diese Zeit doch noch eine sehr ferne. Wir stehen dabei nicht einmal mehr auf theoretischem, sondern schon auf rein hypothetischem Standpunct, wir nehmen damit an, daß das „Kunstwerk der Zukunft“ zum Kunstwerk der Gegenwart geworden sei, und bei dieser Voraussetzung kann sich der Sonderkünstler von heute vollkommen beruhigen. Kann es also hier nur unsere Aufgabe sein, uns mit den Kunstforderungen der Gegenwart und nächsten Zukunft zu beschäftigen, so schließen wir den Einfluß der Wagner’schen Reform auf das Terrain ein, auf das sie allein gehört – auf die Bühne, auf das musikalische Drama. Und wenn wir hier Wagner zugestehen müssen, mit Hülfe der Sonderkünste, ohne Prädominiren einer einzelnen, eine Gesammtwirkung erreicht zu haben, die noch Keiner vor ihm erreichte; sowie die volle Berechtigung, diese Gesammtkunst im engeren Sinne auch ferner so zu cultiviren, wie sein Genius ihm vorschreibt, und das Princip so weit zu verfolgen, als die Kunstmittel überhaupt zulassen, – so haben wir ihm hiermit eingeräumt, was er überhaupt rechtmäßigerweise fordern kann. – Wenn aber das Wagner’sche Kunstwerk unter diesen Gesichtspuncten nicht einmal die Bühne allein beherrschen kann – indem das Drama, die Komödie und, unter gewissen Beschränkungen, auch die historische und komische Oper noch einer Entwicklung fähig sein müssen – so werden auch die Instrumentalmusik und Vocalmusik ihr gutes Recht sich zu wahren haben, und um so mehr behaupten müssen, als Wagner in seinen Kunstwerken an diese beiden Sonderkünste gerade die höchsten Forderungen stellt, die sie nicht erfüllen könnten, wenn man ihre selbstständige Existenz aufheben wollte. Ueberdies ist die Instrumentalmusik, als jüngste und modernste Kunst, auch an sich noch so sehr in der Entwickelung begriffen, daß man, ganz abgesehen von jenen praktischen Bedenken, gar nicht das Recht hat, ihr die Berechtigung ihrer Sonderexistenz abzusprechen, bevor sie nicht bewiesen hat, daß sie Alles geleistet habe, was sie zu leisten fähig ist. – Und das ist nirgends bewiesen. – Im Gegentheil finden wir in Berlioz den unwiderleglichsten Beweis, daß die Instrumentalmusik, – nach einer längeren Pause des Ausbaues, in welcher sie allerdings nichts Neues producirte, sondern nur das Gewonnene verarbeitete und individuell ausbildete – noch [139] Mittel und Kunstformen gewinnen und heranbilden könne und müsse, die keineswegs außer ihrer Sphäre liegen, aber noch so neu sind, daß man kaum begonnen hat, sie zu verstehen und zu benutzen. Wenn wir sogar zugeben wollen, daß Berlioz selbst die Fortentwickelung seines Styles nicht weiter führen könne und dürfe, als er in den einzelnen Kunstwerken
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gethan hat, so ist damit noch keineswegs gesagt, daß seine berufenen Nachfolger, indem sie sich dem Geiste seines Schaffens anschließen, nicht weiter als er gelangen könnten. Es ist im Voraus gar nicht zu berechnen, wieviel eine Kunstform an neuem Gehalt, an neuer Wirkung noch gewinnen könne, sobald eine geniale Subjectivität sich ihrer bemächtigt, und ihren individuellen Gehalt in diese Form überträgt. – Das hat Beethoven bewiesen, als er der Mozart’schen Symphonie sich bemächtigte; das hat Berlioz bewiesen, als er an Beethoven anknüpfte; das hat Wagner bewiesen, der als geistiger Erbe von Gluck und Weber auftrat. Wenn wir hier durch die Bedeutung, welche die beiden letztgenannten Meister in der Gegenwart in verschiedenen Sphären einnehmen, dahin geführt wurden, eine Vergleichung und Abwägung ihrer Verdienste und ihres Einflusses im Allgemeinen zu versuchen, so ist es nicht weniger interessant, an einem besonderen Kunstwerk ihre charakteristischen Unterschiede, wie ihre gegenseitige Stellung zur Gegenwart speciell nachzuweisen. – Wir könnten z. B. Wagner als selbstständigen Instrumentalcomponisten – in den Ouvertüren zum „Fliegenden Holländer“27, zum „Tannhäuser“ und zu „Faust“28 – ins Auge fassen und untersuchen, wie hier seine Bedeutung sich zu der von Berlioz verhält. Wir würden damit Wagner allerdings von der Sphäre isoliren, in der er am größten und selbstständigsten ist. Wir würden auch bei näherer Untersuchung finden, daß er (mit Ausnahme der ihm ganz eigenthümlichen, weil subjectiv-künstlerischen harmonischen und melodischen Erfindung) Nichts geleistet habe, was in Berlioz nicht schon zu finden wäre; daß Wagner im Gegentheil hier hinter seinem großen Vorgänger bedeutend im Nachtheil stehe, soweit es sich um rein musikalische Fragen, um Behandlung der Form, Technik und Ausführung handelt. Noch interessanter, weil wichtiger und folgenreicher, ist es aber, Berlioz in einer Sphäre aufzusuchen, die seiner innersten, symphonischen Natur nach, ihm ursprünglich fern war, und die er auch nur einmal betreten hat – das Gebiet der Oper. – Berlioz hat eine Oper geschrieben, deren Schicksal nicht weniger merkwürdig, als deren Stellung in der Kunstgeschichte so interessant und eigenthümlich ist, wie Alles, was er geschaffen hat. – Diese [140] Oper „Benvenuto Cellini“29 entstand vor den Wagner’schen Opern,30 und doch ist über sie in Deutschland überhaupt noch Nichts veröffentlicht worden, außer einigen angefangenen Artikeln von H. v. Bülow in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ (1852)31 und in einer Weimarischen Zeitung32 – die beide durch Zufall nicht vollendet wurden. Wir stehen also hier auf einem völlig neuen und unbebauten Terrain, und hoffen demnach, die Zustimmung unserer Leser zu erhalten, wenn wir in einem zweiten Artikel in den „Anregungen“ sie mit diesem Unicum von Berlioz ausführlicher bekannt machen.
Der Fliegende Holländer (UA 1843). 28 Wagner, Eine Faust-Ouvertüre d-Moll WWV 59. Benvenuto Cellini (UA 1838). 30 Die von 1834 bis 1837 entstandene Oper Benvenuto Cellini wurde am 10. September 1838 in Paris uraufgeführt, aber bereits nach insgesamt sechs Aufführungen wieder aus dem Spielplan genommen. 31 Siehe Bülow 1852 Aus Weimar. 32 Siehe Bülow 1852 Hektor Berlioz. 27 Wagner, 29 Berlioz,
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Zweiter Artikel: Berlioz als dramatischer Tondichter. Wie der Fortschritt der Kunst immer nur an einzelne schaffende Individualitäten sich geknüpft hat und knüpfen muß – da es nicht denkbar ist, daß die ganze Masse der großen und kleinen Kunstvertreter sich zugleich in Bewegung nach vorwärts setze, indem sie etwa von einer großen Idee begeistert, von einer neuen Einsicht erleuchtet, von einem folgereichen Schaffungsdrang ergriffen würde; da es anderseits ebenso unmöglich ist, daß die Theorie und die Kritik mehr leisten könne, als: Altes aufzuräumen, Schlechtes und Gutes zu sondern, Ursache und Wirkung zu ergründen, Neues anzuregen, Fortschritte anzubahnen und so die Production zu unterstützen – so wird auch die Betrachtung eines wesentlichen Fortschrittes (sei es nun eines schon geschehenen, oder noch zu geschehenden,) immer auf jene wenigen Kunstindividualitäten zurückgeführt werden können, die aus der Masse hoch genug empor ragen, um in ihrer Subjectivität einen historischen Collectivbegriff und eine specielle ästhetische Richtung zugleich realisirt zu finden. Wir haben in unserem ersten ArtikelIII nachzuweisen versucht, in welchem Verhältniß Berlioz zu seiner Vergangenheit und Gegenwart, speciell zu Beethoven und Wagner steht. – Wir haben in ihm, im Gegensatz zur „Gesammtkunst“ Wagner’s, einen scharf ausgeprägten „Sonderkünstler,“ den durch und durch „specifischen Musiker,“ erkannt, und zwar den bedeutendsten Symphoniker der nach-Beethovenschen Zeit; den [252] größten musikalischen Epiker; den Repräsentanten unserer, durch ihn auf die Spitze der musikalischen Charakteristik, wie der technischen Vollendung erhobenen Instrumentalmusik. – Indem er die Grenzen der Instrumentalmusik nicht nur ausdehnte, sondern über sie hinausging, wurde er Vertreter der Vocal-Symphonie, und hierdurch ein nothwendiges organisches Mittelglied zwischen Beethoven und Wagner. Er näherte sich mehr und mehr der Bühne, und gelangte so naturgemäß, von rein musikalischer Seite, zur Oper, ohne jedoch bis zum Begriff des musikalischen Drama vorzudringen. Er wurde somit der größte und letzte Prophet des alten Bundes, während Wagner zum ersten Apostel des neuen Testamentes sich erhob. – Daß Berlioz trotzdem eine „Zukunft“ habe und haben müsse, wurde dann zu beweisen gesucht, indem wir das gute Recht der einzelnen Sonderkünste, dem Kunstwerke der Zukunft gegenüber, zu wahren suchten und zugleich ausführten, wie das extensive Kunstschaffen von Berlioz, seiner inneren Natur entsprechend, zum Anschließen und Fortbauen in dieser Richtung sogar auffordere, indem ein neuer, großer, nur erst in seinen Umrissen abgesteckter Bau mit neuem Gehalte zu erfüllen sei, und wohl das geniale Fundament, aber noch kein formell vollendetes Gebäude vor uns stehe. – Wir deuteten endlich an, daß Wagner, als absoluter Musiker, selbst noch als innerhalb der Berlioz’schen Entwickelungsphase stehend zu betrachten sei, indem er in ihr wenigstens seinen Ausgang genommen habe (und nehmen mußte), wenngleich im weiteren Verlauf der Entfaltung sehr charakteristische Unterscheidungspuncte sich herausstellen.
III Band 1.
Heft 3. S. 129 und ff. dieser „Anregungen“.
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Diese nun an speciellen Kunstwerken nachzuweisen, ward als der Zweck nachfolgender Artikel bezeichnet. Wir stellten uns die Aufgabe, Berlioz zunächst in einer Sphäre aufzusuchen, die seiner innersten, symphonischen Natur ursprünglich fern lag, in jener Oper „Benvenuto Cellini“ des genialen Meisters, deren Erscheinung, nicht nur in der Zeit ihrer Entstehung, sondern auch in der Gegenwart, ebenso interessant als wichtig und folgereich für die klare Erkenntniß der Stellung ist, die Berlioz in der Kunstentwickelung unserer Zeit, und somit in der Kunstgeschichte überhaupt einnimmt. Jedes Kunstwerk besitzt einen doppelten Werth – einen relativen und einen absoluten. Jener bezeichnet das Vergängliche, dieser das Bleibende des Kunstwerks. Das Verhältniß Beider zu einander weist erst dem Künstler die Stellung in der Kunstgeschichte an, die er mit Recht einzunehmen hat. – Der relative Werth ist jener, den das Werk in [253] der Zeit seiner Entstehung zu besitzen verdient (wir sagen nicht: besitzt). Er bezeichnet die Stellung, welche die Zeitgenossen dem schaffenden Künstler anweisen sollten, wenn sie gerecht wären; es ist die Bedeutung, die ein Werk in seiner Zeit und für seine Zeit hat, insofern es sich aus Vergangenem entwickelt hat, unter Gegenwärtigem sich einreiht und auf Zukünftiges wirken kann. – Inwieweit es auf Zukünftiges in der That wirkt, können die Zeitgenossen nicht beurtheilen, da sie unmöglich alle die Factoren mit in Rechnung ziehen können, welche später, (in der „Zukunft“) mitzuwirken berufen sind. Aber die Erkenntniß einer, wenn auch noch incommensurablen Lebens- und Wirkungsfähigkeit ist ihnen nicht verschlossen, wenn sie anders klar sehen können oder wollen. Der absolute Werth dagegen ist jener, den das Kunstwerk nicht nur für eine gewisse Zeit, sondern für alle Zeiten besitzt. Er repräsentirt die ästhetische Höhe, bis zu welcher die Erreichung des absoluten Kunstideales dem Künstler überhaupt gelungen ist, nicht nur relativ, seinen Zeitgenossen gegenüber, sondern auch in Rücksicht auf alle, noch ferner zu erreichenden Stufen der Vervollkommnung, trotz des wechselnden Geschmackes, trotz aller später erweiterten Kunstanschauungen. – Diesen absoluten Werth kann immer nur die Geschichte bestimmen, die den Blick über die Jahrhunderte frei, und die vollendeten Thatsachen mit allen Ursachen und Wirkungen vor sich ausgebreitet hat. – Der absolute Kunstwerth umfaßt also das Ewige, der relative das Zeitliche des Kunstwerks. Letzterer ist aber von dem imaginären Kunstwerth wohl zu unterscheiden, womit wir jenen bezeichnen, der einem Werk in seiner Zeit wirklich eingeräumt wird, der also lediglich abhängt von der Einsicht der Zeitgenossen, oft von Zufälligkeiten des ersten Erscheinens, vom guten Willen, von Glück u. s. w. – Dieser ephemere Werth ist das, was man den Tages-Erfolg nennt. Die tiefer eingehende Kritik hat ihn bei ihren Untersuchungen nicht zu berücksichtigen. Sie hat sich nur zu bestreben, den relativen Kunstwerth zu ergründen, und die Untersuchung des absoluten einer späteren ästhetischen und Geschichtsforschung zu überlassen. Der imaginäre Werth eines Kunstwerks kann sehr gering erscheinen, und der relative doch sehr groß sein. Dies würde uns beweisen, daß die Zeitgenossen in ihrer Erkenntniß der Schönheit und Bedeutung eines Werkes sehr tief standen, und in ihrer Bildung hinter der des schaffenden Künstlers weit zurückblieben. – Eine gleiche Urteilslosigkeit und Beschränktheit zeigt sich uns da, wo man den imaginären Kunstwerth sehr hoch anschlägt, während der relative Werth doch nur als gering
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sich herausstellt. [254] Dieses Schicksal haben alle ephemeren Tagesgrößen, alle Modewerke, welche von ihren Zeitgenossen in den Himmel gehoben werden und nach wenig Jahren vergessen sind. – Das Extrem nach dieser Seite hin bezeichnen uns jene Erscheinungen, welche nur imaginären Werth und gar keinen relativen haben. Sie gleichen dem Papiergeld unserer Tage, das nur so lange gilt, als man es für das nimmt, wofür es sich ausgiebt, aber augenblicklich in Nichts verfällt, wenn der Credit erschüttert ist. Das Extrem nach anderer Seite hin bezeichnet uns einen sehr wünschenswerthen Zustand, der aber nur selten erreicht wird: wenn gar kein imaginärer Werth vorhanden, sondern der relative Werth vollständig anerkannt ist, wenn also das Werk in der Zeit seiner Entstehung jenen Werth wirklich besitzt, den es zu besitzen verdient. Das Werk wird in diesem Fall zum vollen Curse seines wahren Verdienstes, seines ächten Gehaltes angenommen; nicht überschätzt, nicht unterschätzt, steht es al pari auf der Kunstbörse seiner Zeit verzeichnet. – Dieser Zustand ist allerdings nur ein hypothetischer, denn gewöhnlich wird nach rechts oder links „über die Schnur gehauen“. Doch giebt es Fälle, wo die einsichtsvolleren Zeitgenossen wirklich gerecht sind, und, annähernd wenigstens, weder zu hoch noch zu tief in ihrem Urtheil, ihrer Anerkennung greifen. Kann demnach der imaginäre und relative Kunstwerth den mannigfaltigsten gegenseitigen Verhältnissen und Schwankungen unterliegen, so stellt sich das Verhältniß des relativen zum absoluten Werth doch viel einfacher dar. – Der relative Werth wird immer der größere, der absolute Werth immer nur ein Bruchtheil von jenem sein können. Es ist nur ein idealer Zustand, wenn beide als gleich groß gedacht werden. In der Wirklichkeit kann dieses Verhältniß aber nicht erreicht werden, weil sonst der Künstler kein Mensch, sein Werk kein Menschenwerk, sondern die Wahrheit und Schönheit selbst sein müßte. Jeder Künstler lebt in einer gewissen Zeit nicht nur physisch, sondern auch psychisch. Er kann bis zu einem gewissen Grad über seine Zeit hinauskommen, er kann ihr bedeutend vorauseilen, aber sich nicht absolut ihr entziehen, so wenig er seinen Körper den Einwirkungen der Natur absolut entziehen kann, möge er die Natur noch so sehr erkennen und beherrschen. Wie wir uns keinen Menschen denken können, der, in Folge seiner tiefen Erkenntniß der Naturkräfte, so weit gelangte, sich dem Tode zu entziehen und ein ewiges Erdenleben zu führen – so wenig kann ein Künstler gedacht werden, der sich den Einflüssen seiner Zeit so gänzlich entziehen könnte, daß der absolute Werth seines Werkes dem relativen Kunstwerth vollkommen gleichstände. [255] Wir können ihm aber hieraus durchaus keinen Vorwurf machen, wenn wir ihm seine Endlichkeit nicht etwa ebenso als Verbrechen anrechnen wollen. Diese Verhältnisse scheinen so klar, so einfach, so natürlich, daß Mancher vielleicht nicht sofort begreifen wird, wie wir sie hier so ausführlich erörtern konnten. Und doch, wie unklar, wie verworren zeigt sich die Einsicht, sobald wir aus der Theorie in die Praxis übergehen, sobald wir um uns schauen, wie Publicum, Kritik und Künstler hier noch im Dunklen umhertappen. Keine Zeit will begreifen, daß der imaginäre und relative Kunstwerth eines Werkes zwei himmelweit verschiedene Dinge sind; kein Künstler wird vollkommen einsehen, daß der absolute Werth seines Kunstwerkes dem relativen nicht gleichkommt. Für
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ihn selbst wird das wahre Verhältniß sogar immer verborgen bleiben müssen, weil es erst erkannt werden kann, wenn er der Geschichte angehört, also nicht mehr unter den Lebenden wandelt. – Die nachfolgenden Generationen sollten jedoch hierin eine immer wachsende Einsicht kund geben. – Aber wie selten geschieht das! Was wir classisch nennen, bezeichnet nur den absoluten Kunstwerth an einem Werke, nicht den relativen. Deshalb kann man den Begriff des Classischen auch nur auf Vergangenes, historisch Gewordenes, aber nie auf Gegenwärtiges, sich noch Entwickelndes anwenden. Die fanatischen „Classiker,“ namentlich wieder in unseren Tagen, verlangen aber, daß der Werth, den ein Kunstwerk für seine Zeit und für die nächstfolgende Zeit unzweifelhaft besessen hat, ihm auch für alle Zukunft erhalten bleiben solle, wie ein unantastbares Capital. Sie verlangen, daß man diesen relativen Werth wie eine große Nationalschuld in Bausch und Bogen übernehmen solle, die niemals amortisirt werden könnte!IV [256] Liegen uns Beispiele hierfür in unseren Tagen nicht massenweis vor in der Abgötterei, die man jetzt (namentlich seit dem Mozart-Jubiläum)37 wieder mit Mozart treibt? Kein Vernünftiger wird bezweifeln, daß Mozart „unsterblich“ sei. Aber kein Klardenkender sollte auch daran zweifeln können, daß Mozart’s sterbliches Theil ebenso vorhanden war, als sein unsterbliches, und daß seine Werke Schwächen besitzen, wie andere Werke auch, die uns zeigen, daß auch Mozart – ein Mensch gewesen sei, und zwar ein Kind des 18ten Jahrhunderts, nicht aber eine Norm für alle Jahrhunderte, ja, in seiner Totalität, nicht einmal mehr eine Norm für die zweite Hälfte des 19ten Jahrhunderts.V Wir sind bei der Auseinandersetzung dieser Verhältnisse so ausführlich gewesen, weil ihre klare Einsicht wesentlich dazu beiträgt, Berlioz’ künstlerische Stellung zur Gegenwart deutlicher zu erkennen. – Seinen absoluten Werth bestimmen zu wollen, maßen wir uns nicht an. Wir möchten aber ebenso entschieden dagegen protestiren, daß seine Gegner sich unterfangen, diesen absoluten Werth voreilig und vorlaut fest-
IV Aus
allerneuester Zeit sei hier ein schlagendes Beispiel dafür angeführt. In seinen ausgezeichneten Artikeln über „Richard Wagner’s Faust-Ouvertüre“ (Neue Zeitschrift f. Musik Band 45. Nr. 6. 7.)33 sprach sich H. v. Bülow über die mangelnde organische Einheit und Charakteristik in den „Introductionen“ der meisten älteren Ouvertüren, und namentlich der von Cherubini, tadelnd aber vollkommen gerecht aus, weil der Verfasser den, bei Cherubini ganz besonders scharf hervortretenden Unterschied zwischen dem relativen und absoluten Kunstwerth vollkommen richtig erfasste. – Sofort erhoben die „Classiker“ ein entsetzliches Geschrei, und fanden darin die unheilverkündenden Symptome des musikalischen Umsturzes, etc.34 – Fr. Brendel hat hierauf im Allgemeinen schon erwidert (N. Z. f. M. Nr. 9. p. 91.)35 indem er auf den Mangel an „geistiger Freiheit“ auf musikalischem Gebiet hingewiesen, obgleich wir auch ihm nicht einmal zugeben können, daß v. Bülow hierbei „über die Schnur gehauen habe.“36 A. d. V. V Was soll man unter Anderem zu einem Autor sagen, der sich zum „Geschichtsschreiber“ in unseren Tagen aufwirft, und aus dem Schwarzwald heraus uns jetzt noch demonstrirt: („Kurze Geschichten der musikalischen Ideen“ Bülow 1856 Wagners Faustouvertüre. 34 Siehe Bischoff 1855 Stimmen der Kritik über Richard Wagner. 35 Siehe Brendel 1856 Vermischte Artikel. 36 Ebd., S. 91. 37 Möglicherweise spielt Pohl hier auf die anlässlich des hundertsten Geburtstags des Komponisten 1856 erschienen ersten beiden Teile der Mozart-Biographie von Otto Jahn an, in welchem der Komponist als unüberbietbarer Gipfelpunkt der Musikgeschichte dargestellt erscheint (Jahn 1856 W. A. Mozart). 33 Siehe
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setzen zu wollen. Daß dieser einst, durch die Kunstgeschichte, als ein weit größerer und intensiverer constatirt werden wird, als Alle die nur ahnen können, die sich z. B. noch jetzt mit dem Mozart-Cultus ausschließlich beschäftigen (und die dadurch sich jeder Berechtigung, über Berlioz überhaupt nur zu urtheilen, von vornherein selbst entschlagen) – das ist unser Glaubensbekenntniß, und wir sprechen es hier aus, wie wir es schon anderweitigVI motivirt haben,43 indem wir mit Robert Schumann bekennenVII: „In der festen Ueberzeugung, daß gewisse Schulbank-Theoristen viel mehr geschadet, als unsere praktischen Himmelsstürmer, und daß Protection [257] elender Mittelmäßigkeit viel mehr Unheil angerichtet, als Auszeichnung poetischer Extravaganz, fordern wir ein für allemal unsere Nachkommen auf, uns zu bezeugen: daß wir in Hinsicht der Compositionen von Berlioz mit unserer kritischen Weisheit nicht, wie gewöhnlich, zehn Jahre hinterdrein gefahren, sondern im Voraus gesagt, daß ein Genie in diesem Franzosen stecke.“44 – Obgleich Schumann dies vor 20 Jahren (1836) geschrieben hat, so könnte er das doch ebensogut erst heute geschrieben haben. Denn mit der kritischen Anerkennung von Berlioz steht es in unseren Tagen noch nicht viel besser als damals, obgleich man auch in dieser Hinsicht jetzt im Fortschreiten begriffen ist. Der imaginäre Werth, den der Unverstand seiner Zeitgenossen ihm und seinen Werken beizulegen für gut fand, ist also der geringste, wenn auch dieser jetzt schon bedeutend im Steigen ist. Desto größer ist aber der relative Werth, wie wir bereits im vorigen Artikel nachzuweisen suchten und im Hinblick auf seine Oper jetzt noch näher zu erörtern haben. Wenn wir „Benevenuto [sic] Cellini“ im Allgemeinen betrachten, so erscheint diese Oper uns heute noch, trotz einzelner Mängel, und trotz Wagner’s reformatorischen Bestrebungen, als ein eminentes, ein bewundernswerthes Werk. Wenn wir aber bedenken, daß sie vor nunmehr 20 Jahren componirt wurde, so erscheint sie als ein Phäno-
dargestellt von Keppner. Freiburg, Wagner)38 „daß die „musikalischen Ideen“ in Mozart ihren Gipfelpunct erreicht haben,“39 und mit ihm die Geschichte schließt? – Der gute Mann gab hierdurch in aller Bescheidenheit zu, daß er von dem absoluten Kunstwerth einer Erscheinung keine „Idee“ habe, daß er sich nur mit der Constatirung des relativen Werthes genügen ließ, daß ihm folglich gerade das mangelt, was zum „Geschichtsschreiber“ allein befähigt! A. d. V. VI Neue Zeitschrift für Musik. Band 39. Nr. 23 – 26.40 – Band 41. Nr. 3.41 – Band 42. Nr. 5. 6.42 VII „Gesammelte Schriften über Musik und Musiker“ von Robert Schumann. Band I. pag. 245. 38 Siehe Keppner 1856 Kurze Geschichte der musikalischen Ideen. 39 Pohl paraphrasiert hier Keppner, der in seiner hier angesprochenen Schrift die geschichtliche Darstellung mit dem Werk Mozarts abgeschlossen hatte, da mit diesem Komponisten „das Höchste“ (ebd., S. 49) in der Musik erreicht sei, nicht ohne an anderer Stelle mit einem Seitenhieb auf die damalige musikalische Gegenwart zu fragen: „Hat unter den neueren Tonsetzern, die sich mit verzweifelter Anstrengung gegen alles Bestehende auflehnen (lediglich um ‚Nichtdagewesenes‘ zu produziren), hat einer unter ihnen mit jahrelangem Bemühen vermocht, durch eine ähnliche Ausnahme einen Beweis von Genie zu geben, wie ihn Mozart durch obige querständige Introduction [zum Streichquartett Nr. 19 C-Dur KV 465, das sog. „Dissonanzenquartett“] spielend gegeben hat?“ (ebd., S. 54). 40 Siehe Pohl 1853 Hector Berlioz. 41 Siehe Pohl 1854 Hector Berlioz in Dresden. 42 Siehe Pohl 1856 Hector Berlioz’ Werke. 43 Siehe Pohl 1853 Hector Berlioz. 44 Schumann 1836 Hector Berlioz, S. 101 f.
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men, das in seiner Zeit fast incommensurabel dasteht, auf einsame, unbegreifliche Höhe erhoben, wie ein glühender Vulkan auf platter Ebene. – Man muß sich die trostlosen Opernzustände der 30er Jahre vergegenwärtigen, um für die Größe des Berlioz’schen Genius den richtigen Maßstab zu finden. Die Italiener waren damals im höchsten Flor. Rossini hatte zwar schon seit 1829 (mit dem „Tell“45) aufgehört zu schreiben, seine Nachfolger, Bellini (seit „Romeo“46 1829 der Held des Tages), Donizetti (seit dem „Liebestrank“47 1832 sein Nebenbuhler) überschwemmten aber die Bühnen. Weber, Rossini’s großer Antipode, war todt,48 und seine Nachahmer Kreutzer,49 Herold,50 Marschner,51 arbeiteten mit großem Erfolg an der Verflachung seines blühenden Styls. – Meyerbeer erhob sich zu günstiger Zeit als Opposition aus der Masse, sein „Robert“52 war schon 183053 erschienen, die „Hugenotten“54 betraten soeben die Bühne und rissen alles Interesse an sich (1836). Halevy suchte ihm durch die fast gleichzeitig erschienene (1835) „Jüdin“55 den Rang streitig zu machen: dagegen segelte Auber schon mit vollen Segeln in seinem Tagesruhme, den ihm seit der „Stummen“56 (1828) lange Niemand in Frankreich streitig zu machen wagte, obgleich Adam57 schon (1836) begann in Paris Aufsehen zu erregen. – Mit [258] den wenigen genannten Ausnahmen in der großen Oper warf sich Alles auf die komische, auf die Spieloper, und italienische Cantilenen rangen mit französischen Couplets und Tanzrhythmen um die Palme des Tages und die ausschließliche Gunst der Masse. In dieser Zeit tritt nun Berlioz mit einem Werk hervor, das allen damals geltenden Ansichten von Operngeschmack und Opernmusik schnurstraks entgegen lief. – Glühende Kunstbegeisterung hatte es dictirt; unerschöpfliche Phantasie, unantastbare Originalität lebte in jeder Nummer; künstlerisch bedeutende, musikalisch werthvolle Arbeit in jeder Note; ein Verläugnen jedes Modegeschmackes, strenges Vermeiden jeder unkünstlerischen Concession an das Publicum kennzeichnete das Ganze; die musikalisch-dramatische Charakteristik ging bis in’s kleinste Detail; das Orchester wetteiferte mit den Sängern an Bedeutung; eine großartige Polyphonie, ein fast symphonischer Styl gliederte die Partitur, – und doch kündigte man die Oper nur als eine „opera semiseria“ an, nicht einmal als eine „große“ Oper; doch hatte sie nicht die traditionellen 5 Acte, sondern bescheiden nur zwei; doch machte sie nicht einmal die Ansprüche, den Abend zu füllen, sondern galt der Direction nur als „lever de rideau,“58 als Vorspiel. Rossini, Guillaume Tell (UA 1829). 46 Vincenzo Bellini, I Capuleti e i Montecchi (UA 1830). 47 Gaetano Donizetti, L’elisir d’amore (UA 1832). 48 Carl Maria von Weber verstarb 1826. 49 Conradin Kreutzer (1780 –1849) wurde vor allem durch seine Oper Das Nachtlager in Granada (UA 1834) bekannt. 50 Ferdinand Herold (1791–1833), französischer Komponist, war ein führender Vertreter der Opéra comique seiner Zeit. 51 Heinrich August Marschner (1795 –1861), ein Hauptvertreter der deutschen Romantischen Oper zwischen Weber und Wagner, der vor allem durch seine Opern Der Vampyr (UA 1828) und Hans Heiling (UA 1833) Berühmtheit erlangte. 52 Giacomo Meyerbeer, Robert le diable (Robert der Teufel, UA 1831). 53 Recte: 1831. 54 Giacomo Meyerbeer, Les Huguenots (UA 1836). 55 Fromental Halévy, La Juive (UA 1835). 56 DanielFrançois-Esprit Auber, La Muette de Portici (Die Stumme von Portici, UA 1829). 57 Adolphe Adams (1803 –1856) Durchbruchswerk war die 1836 in Paris uraufgeführte Opéra comique Le Postillon de Lonjumeau. 58 (Frz.): Aufziehen des Vorhangs. Der Begriff wird im französischen Theater auch als Bezeichnung für kurze, wenig anspruchsvolle Theaterstücke verwendet, die als Vorspiel vor dem 45 Gioachino
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Das war damals unerhört, und für Paris unfaßlich. Wären die Franzosen überhaupt fähig gewesen, den Opernstyl von Berlioz zu begreifen, so hätte dieses eigenthümliche Auftreten einer radicalen Reform des damals herrschenden Opernbegriffs schon verwirren und Opposition hervorrufen müssen. Da man aber absolut nicht fähig war, Berlioz zu begreifen, da man gar nicht den Willen hatte, ihm zu folgen, da überdies eine systematische Opposition längst organisirt war, diese Oper um jeden Preis zu stürzen, weil sie für Berlioz eine Lebensfrage war, – so stürzte diese Oper auch, wie Berlioz’ Feinde glaubten, rettungslos, für immer. – Im September 1838 fand ihre erste Aufführung statt, unter den ungünstigsten Verhältnissen, und unter den Ausbrüchen einer organisirten Opposition. Zwei weitere Vorstellungen folgten kurz hintereinander, und noch zwei zu Anfang des Jahres 1839, aber ohne allen Erfolg, und damit glaubte man das Schicksal des Berlioz’schen Werkes für immer entschieden zu haben. Man hatte sich aber geirrt. Zwar erreichte man seinen nächsten Zweck, Berlioz jede öffentliche Stellung in seinem Vaterlande für den Augenblick unmöglich zu machen; zwar erreichte man den ferneren Zweck, Berlioz’ Genius der Opern-Composition dadurch auf immer zu entziehen, daß man ihm die französischen Bühnen verschloß; aber es gab schon damals in Paris einzelne Köpfe, die weiter sahen, als der Tageserfolg reicht. – Wir be-[259]zeichnen besonders einen (anonymen) Kritiker in der „France musicale“ und Joseph d’Ortigue, der kurz nach dem „chûte“59 von Berlioz’ Oper eine Brochüre veröffentlichte,60 deren Hauptinhalt eine Vertheidigung von Berlioz’ Werk, und eine Polemik gegen seine Feinde und den damals herrschenden Geschmack war. Die Bestrebungen dieser Männer verdienen, in der Geschichte der Oper aufbewahrt zu bleiben, wenngleich ihre Anstrengungen umsonst blieben, und ihre Mahnworte im Wind des französisch-italienischen Operngeschmacks verweht wurden. Daß aber d’Ortigue in seinem Werkchen auf dem rechten Wege war und den Kern der Frage erkannte, beweist er, indem er unverholen aussprach: „daß die musikalischen Fragen in Frankreich wieder ziemlich auf demselben Puncte ständen, als zu der Zeit, wo Gluck erschien, und daß Berlioz der Genius sei, der gegen das herrschende System des italienischen Operngeschmacks mit vollem Bewußtsein, mit voller Berechtigung in die Schranken getreten sei und in die Schranken treten könne, da er sich nicht scheue, trotz aller voraussichtlichen ersten Niederlagen, den Kampf auf Tod und Leben mit seinen Meisterwerken zu eröffnen.“61 Wer kann hier die eigenthümliche Parallele verkennen, die zwischen Berlioz und Wagner herrscht? – Was Wagner für Deutschland geworden ist, das wollte Berlioz für Frankreich sein. Daß Wagner glücklicher war, als sein großer Vorgänger, hing theilweise von veränderten Zeit- und Kunst-Verhältnissen, theils von größerer dramatischer Begabung, theils von dem richtigeren Principe ab, das Wagner verfolgte. – Aber Berlioz kam auch 10 Jahre früher; er kam zu früh für seine Zeit, er war viel zu hoch für seine Nation; er konnte den rechten Angriffs-Punct, um mit dem Hebel seines
Hauptteil einer Vorstellung üblicherweise auf dem Proszenium, vor dem Vorhang aufgeführt werden. 59 (Frz.): Fall, Sturz. 60 Siehe Ortigue 1840 De théatre italien. 61 Hierbei handelt es sich um eine freie Zusammenfassung eines der Grundgedanken der Broschüre.
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Kunstwerks den Zeitgeschmack zu erfassen und zu stürzen, nicht finden, da man ihm den Boden unter den Füßen wegzog, und das: „Gieb mir, wo ich stehe“62 des Archimedes, dem Reformator gegenüber wohlweislich ignorirte. – So mußte Berlioz das Schicksal jedes ersten großen Propheten, des Verkünders und Vorläufers einer jeden Reformation theilen. Sein Werk wurde geopfert, damit auf seinem Grabe ein glücklicheres auferstehen konnte. Allein der Tod dieser Schöpfung war nur ein scheinbarer. Die Geschichte ihrer Schicksale war noch nicht zu Ende. Sie beginnt aufs Neue, und zwar in Weimar, und knüpft sich, wie die von Wagner’s Kunstwerken, an den Namen Franz Liszt. [260] Nachdem Berlioz’ Oper 14 Jahre geruht hatte und fast vergessen war, ruft sie Liszt in Weimar aufs neue ins Leben. – Er läßt eine deutsche Uebersetzung veranstalten,63 er überwindet beim Einstudiren des großartigen Werkes, mit seinem kleinen Weimarer Personal, alle die mannigfachen und großen Schwierigkeiten, die ein Bahnbrechen auf neuem Terrain immer zu begleiten pflegen, und im März 1852 erschien die Oper auf der Weimarer Bühne.64 Sie war nicht nur für Deutschland, sie war überhaupt eine neue Oper, deren Größe und Schönheiten aufs Neue entdeckt werden mußten.VIII – Das deutsche Publicum verhielt sich der eigenthümlichen Schöpfung gegenüber anfänglich kalt, vorsichtig, ungläubig.68 Ein eigentlicher „Erfolg“ war damit auch nicht ohne weiteres zu erzielen, und lag den Intentionen Liszt’s fern, der ein Factum der Kunstgeschichte, aber keinen localen Theatererfolg herzustellen berufen war. Mit Beginn der neuen Saison, im November 1852, wurde Berlioz von Liszt eingeladen, nach Weimar zu kommen. Liszt veranstaltete ihm zu Ehren eine „Berlioz-
darüber gaben: Hans von Bülow65 in der „Neuen Zeitschrift f. Musik“ 1852. Band 36. Pag. 156, 204 und Joachim Raff in den „Signalen“ 1852. No. 1466 und in der „Illustrirten Zeitung“ 1852.67 VIII Berichte
62 Das
Zitat wird bei Pappos (um 300 v. Chr.), griechischer Mathematiker, folgendermaßen überliefert: „Gib mir einen Punkt, wo ich hintreten kann, und ich bewege die Erde“. 63 Auf Liszts Betreiben hin wurde zunächst eine deutsche Übersetzung des Textes vom Kapellmeister, Komponisten und Musikreferenten August Ferdinand Riccius (1819 –1886) angefertigt, welche 1854 durch eine Neufassung von Peter Cornelius ersetzt wurde. 64 Liszt hatte die Oper in der Saison 1851/1852 in den Weimarer Spielplan genommen, wo sie am 16. Februar 1852 anlässlich des Geburtstages der Großherzogin ihre Premiere erleben sollte, was jedoch nach offizieller Darstellung aufgrund der plötzlichen Erkrankung eines Hauptdarstellers abgesagt werden musste. Einem Brief Hans von Bülows an Theodor Uhlig vom Februar 1852 zufolge, sei der Sänger Karl Beck (1814 –1879) „zu träge gewesen“, „die Parthie zu lernen“ (siehe Bülow-Schriften 1, S. 421), sodass die Oper erst am 20. und 21. März 1852 in einer gekürzten, sogenannten „Weimarer Fassung“ erstmals wieder zur Aufführung gelangte – 14 Jahre nach den ersten Pariser Aufführungen in den Jahren 1838/1839. 65 Siehe Bülow 1852 Aus Weimar. 66 Siehe Raff 1852 „Benvenuto Cellini“. 67 Siehe Anonym 1852 Die Berlioz-Woche in Weimar. Der erste Teil der Besprechung ist mit zwei Illustrationen der Sänger und einer zum Bühnenbild versehen. 68 So berichtet Bülow 1852, das Weimarer Publikum der Erstaufführung habe das Werk „ziemlich kalt und schweigsam aufgenommen“ (Bülow 1852 Aus Weimar, S. 158). Die zweite Aufführung sei im Vergleich dazu sogar noch „etwas spärlicher besucht“ (ebd.) gewesen.
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Woche,“ bestehend aus mehreren Aufführungen seiner Werke, deren Schlußstein eine abermalige, wiederholte Aufführung seiner Oper bildete,69 die nunmehr, nachdem namentlich Berlioz noch verschiedene Aenderungen vorgenommen hatte (er theilte die Oper, die in Paris in 2 Acten gegeben werden mußte, für ihre erste Weimarer Aufführung in 4, bei ihrer Reprise während seiner Anwesenheit in 3 Acte, er strich einige Nummern, etc.) – sich unter Liszt’s Direction des entschiedensten Beifalls erfreute,IX und bei Anwesenheit vieler ausgezeichneten Fremden zur allgemeinen Kenntniß competenter Autoritäten gebracht wurde.74 Durch den Weimarer Erfolg nicht nur bedeutend gehoben, sondern auf sein eigenes Werk thatsächlich selbst erst wieder aufmerksam gemacht, versuchte nunmehr Berlioz eine Aufführung seiner Oper in London, in der Sommersaison 1853.75 Die Oper fiel auch dort den Kabalen der Italiener zum Opfer, war überdies dem englischen Musikverstand ohnehin unzugänglich.76 Denn ein Volk, das Schumann’s „Paradies und Peri“ noch jetzt nicht begreift,77 ist absolut unfähig, Berlioz’ Werk auch nur annähernd zu erfassen. [261] Nach den Weimarer und Londoner Aufführungen überarbeitete Berlioz seine Oper nochmals, zum dritten Male. Er lichtete in einzelnen Stellen die Partitur, er
IX Berichte darüber gaben: Franz Brendel in: „Ein dritter Ausflug nach Weimar,“ Neue Zeitschrift für Musik 1852. Band 37. No. 22 – 24.70 – Hans von Bülow in: „Hector Berlioz und Benvenuto Cellini,“ Weimarische Zeitung „Deutschland“ 1852. No. 274 – 277.71 – Prof. Griepenkerl72, und Chorley (im „Athenæum“)73.
Aufführungen erfolgten am 17. und 21. November 1852. 70 Siehe Brendel 1852 Ein dritter Ausflug nach Weimar. 71 Siehe Bülow 1852 Hektor Berlioz. 72 In einem „Toast am Berliozfeste ausgebracht von Prof. R. Griepenkerl“, der in einer anonymen Rezension in der Weimarischen Zeitung vollständig zitiert ist, heißt es u. a.: „Franz Liszt hat den vor neun Jahren zu Leipzig gegen Berlioz erhobenen Schrei: ‚Steiniget ihn! Steiniget ihn!‘ zu Schanden gemacht. Von dieser BerliozWoche zu Weimar wird das Urtheil datiren, daß Hector Berlioz der größeste Instrumentalcomponist der Gegenwart ist, der Bruder Beethovens, gesendet in einem Augenblicke, wo ein neues Gesicht an dem Januskopf der Zeit springt und das alte über Gräbern die Augen schließt. Glücklich Der, dem es vergönnt ist, nach zwei Richtungen hin solcher neuen Phase der Entwickelung die Bahn zu brechen. Es lebe Franz Liszt und sein Wirken in Weimar!“ (Anonym 1852 Weimar, 23. Nov., S. 922). 73 Siehe Chorley 1852 Notes on Music. 74 So war beispielsweise der einflussreiche britische Musikkritiker Henry Fothergill Chorley (1808 –1872) anwesend, der später einen Bericht über die BerliozWoche für das Londoner Athenæum verfasste (siehe Chorley 1852 Notes on music). Auch der BerliozEnthusiast Wolfgang Robert Griepenkerl (1810 –1868) war eigens aus Braunschweig angereist und hielt am 22. November im Rahmen einer Berlioz-Feier im Weimarer Stadthaussaal einen Toast, der in der Weimarischen Zeitung (Nr. 94 vom 24. November 1852, S. 922) abgedruckt wurde. In diesem wurde Berlioz als der „größeste Instrumentalcomponist der Gegenwart“ und als „Bruder Beethovens, gesendet in einem Augenblicke, wo ein neues Gesicht an dem Januskopf der Zeit springt und das alte über Gräbern die Augen schließt“ bezeichnet. 75 Berlioz hatte die Einladung nach London durch Frederick Gye (1810 –1878), dem Direktor an Covent Garden, erhalten. Die Aufführung der Oper fand am 25. Juni 1853 statt. 76 Das Werk gelangte aufgrund des Misserfolges der Londoner Erstaufführung beim Publikum nur zu einer Aufführung am 25. Juni 1853, bevor es wieder abgesetzt wurde. Vgl. hierzu insgesamt Hibberd 2007 Benvenuto Cellini in London. 77 Siehe auch die ablehnenden Kritiken des Werkes anlässlich der Londoner Erstaufführung vom 23. Juni 1856 (Davison 1856 Robert Schumann, in: NdS 2 Nr. 92; Chorley 1856 Philharmonic Society). 69 Die
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beseitigte einige, die Handlung aufhaltende Längen, er ließ eine neue deutsche Uebersetzung von Peter Cornelius machen, da die erste (von Riccius) sich als untauglich erwiesen hatte.78 So ausgerüstet erschien das seltene Werk im Februar dieses Jahres (1856) als Festoper, zum Geburtsfest der Frau Großfürstin-Großherzogin, zum drittenmale auf der Weimarer Bühne, und gehört nunmehr zu ihrem festen Repertoirbestand.79 Die nächste Folge dieser neuen und glänzenden Inscenesetzung war, daß ein Clavier-Auszug der Oper (bei Litolff in Braunschweig) veranstaltet wurde, der in allernächster Zeit zu erwarten steht.X, 80 – Ferner hat Franz Liszt eine große Abhandlung über den „Cellini“ in französischer Sprache verfaßt,81 die in deutscher Uebersetzung wohl bald der Oeffentlichkeit übergeben wird.82 – Welche weiteren Folgen sich daran knüpfen werden, steht erst noch zu erwarten; so viel läßt sich aber schon jetzt übersehen, daß die Geschichte dieser Oper noch nicht zu Ende ist, und in den nächsten Jahren in ein neues Stadium, in das der allgemeinen Verbreitung dieses Meisterwerks (namentlich mit Hülfe des Clavier-Auszugs, dem Liszt’s Analyse erläuternd zur Seite geht) treten wird und muß. Wir haben bei diesem kurzem geschichtlichen Rückblick schon auf die eigen thümliche Parallele zwischen Berlioz und Wagner hingedeutet, die in ihren Intentionen gefunden wurde, als Reformatoren des Opernstyls mit ihren Werken zu wirken. – Daß aber Berlioz’ „Cellini“ auch mit Beethoven’s „Fidelio“ in interessanter Beziehung steht, indem in den Schicksalen und in der Bedeutung beider Werke eine merkwürdige Aehnlichkeit sich findet, darauf hat Franz Liszt zuerst aufmerksam gemacht, indem er zugleich über den hohen Werth dieser Oper ein sehr gewichtiges Urtheil fällte. Er sprach sich hierüber folgendermaßen aus:XI „Es existirt in unserer Zeit ein zweiter Fidelio. Ein Werk voll hoher, mächtiger Conception, welches gleichfalls aus dem Geist eines [262] symphonisch groß gewordenen Meisters hervorgegangen ist, der aber den Unterschied der dramatischen Behandlung schneller erfaßt, die nothwendigen Erfordernisse und Hülfsmittel derselben gewandter gehandhabt hat, als Beethoven. Wir sprechen von „Benevenuto [sic] Cellini“ des Hektor Berlioz. Noch hat seine Stunde nicht geschlagen, und leider steht es dem Componisten sehr im Wege, daß er zur Zeit noch unter den Lebenden wandelt. Ist X Anmerkung
des Verfassers. Daß dieser, schon seit mehreren Monaten erwartete Clavier-Auszug noch nicht erschienen ist, machte es dem Verfasser unmöglich, in diesem Artikel, wie er gewünscht hätte, auf die musikalischen Einzelheiten von Berlioz’ Oper einzugehen, da ihm in diesem Augenblicke auch die große Partitur nicht zugänglich ist. – Sobald aber der Clavier-Auszug erschienen ist, beabsichtigt der Verfasser, in einem 3. Artikel im nächstfolgenden Bande der „Anregungen,“ mit einer Anzeige desselben, eine eingehende Analyse der Oper zu verbinden. – XI „Beethoven’s Fidelio“ Von Franz Liszt. Neue Zeitschrift für Musik 1854. Band 40. No. 17.83 78 Siehe
vorliegender Artikel, Anm. 50. 79 Entgegen der hier geäußerten Vermutung Pohls folgte der Aufführung am 16. Februar 1856, dem Geburtstag der Weimarer Großherzogin, Maria Pawlowna, nur noch eine am 15. März desselben Jahres. 80 Der Klavierauszug erschien im März 1857 bei Litolff in Braunschweig. 81 Der Artikel mit dem Titel „Le Persée de Benvenuto Cellini“ erschien zuerst in RGMP 6, Nr. 2 am 13. Januar 1839 als elfter der Lettre d’un voyageur (in: LisztSchriften 1, S. 270 – 277). 82 Die hier von Pohl angekündigte deutsche Übersetzung des Artikels erfolgte offenbar nicht. 83 Siehe Liszt 1854 Beethoven’s Fidelio.
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aber einmal der Zeitpunct gekommen, wo die verschiedenen localen Kleinlichkeiten, an deren Widerstand das Werk an verschiedenen Orten scheiterte, beseitigt sind, so wird es als eines der bedeutendsten unserer Zeit erkannt und gewürdigt werden, und die Weimarische Bühne darf sich dann rühmen, die erste gewesen zu sein, die es der Vergessenheit entzogen.“84 – Die Aehnlichkeit der Schicksale des „Fidelio“ und „Cellini“ ist in der That merkwürdig. Nicht allein, daß beide großen Symphonikern ihre Entstehung verdanken, die in diesem dramatischen Werke nur einmal, und nicht wieder die Bühne betraten; nicht allein, daß beide zur Zeit ihrer Entstehung „von den Künstlern mit Geringschätzung behandelt, von der Kritik verdammt, von den Directionen zurückgelegt, vom Publicum vergessen wurden;“85 nicht allein, daß beide Tondichter ihr Werk, in Folge der Angriffe, die es zu erdulden hatte, wiederholt zurückzogen und umarbeiteten: sondern die Aehnlichkeit erstreckt sich sogar so weit, daß beide Werke einer genialen Künstlernatur, die sich mit Begeisterung des Werkes annahm, ihre Auferstehung zum wirkungsvollen Kunstleben verdanken – „Fidelio“ der Künstlerschaft der Schröder-Devrient,86 und „Cellini“ dem ächten Künstlerwirken von Franz Liszt, der nicht ermüdete, diesem Meisterwerk die ihm zukommende Stellung und Anerkennung zu erringen. Daß beide Werke auch darin Aehnlichkeit besitzen, daß sie „den Anforderungen an ein vollkommenes dramatisches Meisterwerk gegenüber noch Manches zu wünschen übrig lassen,“87 darf nicht verhehlt werden. – Auch die gemeinschaftlichen Gründe hierfür sind in der Aehnlichkeit, sowohl der Naturen von Beethoven und Berlioz, als der Zeit und Art ihrer Entstehung und der näheren Umstände zu finden, unter denen sie in die Oeffentlichkeit traten. Obgleich es gewagt scheinen möchte, die musikalischen Verdienste gleichsam mathematisch gegeneinander abzuwägen und namentlich jetzt schon hierüber ein Endurtheil abzugeben, so dürfte doch der Gedanke hier eine hypothetische Stelle finden, daß eine steigende Proportion im dramatischen Kunstwerth und seiner einflußreichen Wirkung auf die Zeitgenossen, in den Opern von Beethoven, Berlioz und Wagner ungefähr in der Art [263] zu erkennen wäre, daß der „Fidelio“ zum „Cellini“ sich etwa ebenso verhalte, wie letzterer zum „Tannhäuser.“88 Auch die Erfolge dieser drei Opern in ihrer Zeit, sowie ihr relativer Kunstwerth, dürften durch diese Proportion annähernd zur Anschauung gebracht sein. R. Pohl.
1854 Beethoven’s Fidelio, S. 179. 85 Ebd., S. 177. 86 Wilhelmine Schröder-Devrient (1804 –1860), deutsche Opernsängerin, die als eine der bedeutendsten Interpretinnen des 19. Jahrhunderts gilt, hatte bereits als Siebzehnjährige 1822 in Wien die Titelpartie in Beethovens Fidelio gesungen. In der Folge verhalf sie dem Werk durch Aufführungen u. a. in Dresden (EA 1823), Paris (1830) und London (1832) zum Einzug ins internationale Bühnenrepertoire. 87 Siehe Liszt 1854 Beethoven’s Fidelio, S. 177. Im Original bezieht sich Liszt an dieser Stelle nur auf den Fidelio. 88 Siehe hierzu auch Pohl 1854 Betrachtungen über die Musik der Gegenwart, in: NdS 1 Nr. 68. 84 Liszt
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Kommentar Der vorliegende Artikel Richard Pohls ist ein bemerkenswertes Dokument einer Debatte über den ästhetischen Wert und die historische Stellung der Werke Hector Berlioz’, welche seit 1852 in den deutschsprachigen Musikjournalen entbrannt war und nach der ersten Phase der Berlioz-Rezeption in den 1830er und 1840er Jahren nun vor dem Hintergrund der sich in Deutschland intensivierenden musikalischen Parteienbildung eine neue Qualität gewann. Charakteristisch für die damalige Auseinandersetzung ist vor allem das Phänomen, dass die Zuschreibung Berlioz’ zur sogenannten „Zukunftsmusik“ von konservativer Seite spätestens seit dem Karlsruher Musikfest von 1853 einen regelrechten Topos bildete, während auf fortschrittlicher Seite hierüber nicht nur keinesfalls Einigkeit herrschte, sondern dessen ‚Mitgliedschaft‘ – wie etwa im vorliegenden Artikel – sogar vehement bestritten wurde.89 Die Gründe für diese widersprüchliche Haltung gegenüber dem Schaffen Berlioz’ waren vielfältig und gewähren gerade daher einen aufschlussreichen Einblick in den maßgeblich von Geschichtsteleologie, ‚Volksgeisthypothese‘ und Beethovenrezeption geprägten damaligen musikästhetischen Diskurs. Ausgelöst nicht zuletzt durch die Konzerte Berlioz’ in Deutschland sowie das dirigentische und schriftstellerische Eintreten Liszts für den französischen Komponisten, wurde neben der ästhetischen Berechtigung von Programmmusik90 vor allem die Frage diskutiert, welche musikhistorische Stellung einerseits Berlioz’ symphonisches Schaffen im Verhältnis zum ideellen Erbe Beethovens und andererseits die sich jeder traditionellen Gattungszuschreibung entziehenden vokal-symphonischen Werke Berlioz’ im Hinblick auf das angestrebte „Kunstwerk der Zukunft“ Wagners einnehmen. Vor allem der seit Ende 1853 mit Berlioz in persönlichem Kontakt stehende91 Pohl selbst war es, der noch unter seinem Pseudonym „Hoplit“ 1853 in der NZfM einen ersten Berlioz gewidmeten Artikel veröffentlichte92 und darin der von ihm drei Jahre später kritisierten „Vermischung der Fragen über Berlioz’ Bedeutung mit der sogenannten ‚Wagnerfrage‘“93 entscheidenden Auftrieb verliehen hatte. Insbesondere die dort getroffene Aussage, Berlioz sei ein musikgeschichtliches „Mittelglied zwischen Beethoven und Wagner“, da er durch die ‚Erfindung‘ der „Vokal-Symphonie“ und durch dessen innovative Orchesterbehandlung erst die Musikdramen Wagners ermöglicht worden seien,94 befeuerte eine Auseinandersetzung, deren Fronten rasch quer durch alle damaligen musikalischen ‚Parteien‘ verlaufen sollte. Bemerkenswert ist dabei vor allem die Haltung Brendels, der noch 1855 in der stark erweiterten zweiten Auflage seiner einflussreichen Geschichte der Musik geäußert hatte, nach der letzten Symphonie Beethovens sei für Berlioz „nichts übrig [geblieben], als zunächst in einer Zwittergattung Befriedigung zu suchen. Wie Händel über die Oper seiner Zeit hinaus getrieben wurde, unvermögend aber, das musikalische Drama zu erreichen, zum Oratorium gelangte, so wurde Berlioz, noch
hatte sich auch Lobe 1853 geäußert (siehe Lobe 1853 Hektor Berlioz, in: NdS 1 Nr. 43). etwa Brendel 1856a Programmmusik, in: NdS 2 Nr. 86. 91 Vgl. Pohl 1870 Frau Jeanne Pohl, S. 29. 92 Siehe Pohl 1853 Hector Berlioz. 93 Vorliegender Artikel, S. 1113 [131]. 94 Pohl 1853 Hector Berlioz, S. 262. 89 Ähnlich 90 Vgl.
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nicht vermögend, das Kunstwerk der Zukunft, den Wagner’schen Standpunct zu erreichen, zu dieser seltsamen, in der Mitte liegenden Form gedrängt“.95 Und in einem kurz zuvor, ebenfalls in den Anregungen veröffentlichten Aufsatz über die Geschichte der Programmmusik hatte Brendel über Berlioz geäußert, dass bei Berlioz „als Franzosen in der That die deutsche Innerlichkeit nicht in diesem Grade enthalten ist, daß Manches darum zu äußerlich aufgefaßt erscheint.“96 Dieser das künstlerische Schaffen Berlioz’ vorrangig negativen Interpretation Brendels stand auch Joachim Raff nahe, der im Rahmen seiner 1854 publizierten Wagnerfrage äußerte, die Werke Berlioz’ zeigten, „daß man anstatt eines Kunstwerks zuletzt nur noch ein Agglomerat von kleinen Kunstwerken haben wird, einem Bildungsprocesse gemäß, der in der Natur dem der anorganischen Welt entspricht.“97 Vor diesem Hintergrund der außerordentlich kontroversen Beurteilung Berlioz’ durch den Kreis der ansonsten nach außen hin um Geschlossenheit bemühten Publizisten des LisztBrendel-Kreises muss die Absicht Pohls gesehen werden, seinem ersten Artikel über Hector Berlioz aus dem Jahre 1853 drei Jahre später in den kurz zuvor durch Brendel gegründeten Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft einen zweiten folgen zu lassen. In diesem hier abgedruckten Text zeigt sich Pohl offenkundig darum bemüht, sich nicht nur mit den verbreiteten Vorbehalten gegenüber dem Werk des französischen Komponisten, sondern auch mit seiner eigenen früheren Argumentation auseinanderzusetzen, vor allem aber, Berlioz’ künstlerische Bedeutung im Verhältnis bzw. in dezidierter Abgrenzung zum musikdramatischen Schaffen Wagners zu betonen. So sticht vor allem die Beschreibung Wagners als „erste[m] Apostel des neuen Testamentes“ (der „Gesammtkunst auf der Bühne“) hervor, dem Berlioz als „letzte[r] Prophet des alten Bundes“ gegenübergestellt wird, dessen Bedeutung jedoch auf dem Gebiet der Instrumentalmusik von Wagner „bei weitem“ nicht erreicht werde.98 Mit dieser Aussage gesteht Pohl Berlioz nicht nur eine ästhetisch eigenständige Position als bedeutendster Symphoniker der Zeit nach Beethoven zu, sondern unterstreicht auch dessen Einfluss auf Wagners Orchesterbehandlung – eine Aussage, die Wagners Vorgehen, jegliche „Spuren, die von Wagner zu Berlioz hinführen“99, deutlich zuwiderläuft. In Abgrenzung zu Äußerungen Brendels macht Pohl darüber hinaus deutlich, dass eine einseitig auf das – zu dieser Zeit noch nicht erreichte – Musikdrama Wagner’scher Prägung hin ausgerichtete Musikgeschichtsauffassung eine unzulässige Verengung innerhalb der musikgeschichtlichen und -ästhetischen Beurteilung der damaligen Gegenwart bedeuten muss, welche Künstlern wie Berlioz – 1856 waren Liszts symphonische Dichtungen außerhalb Weimars noch nahezu unbekannt –, aber auch Joachim Raff, zwangsläufig nicht gerecht würde. In diesem Zusammenhang ist auch bemerkenswert, wie Pohl hier den französischen Komponisten implizit gegen wohl gutgemeinte, aber letztlich der Verbreitung seiner Werke eher hinderliche Äußerungen Brendels aus dem Jahre 1855 in Schutz nahm, welcher Berlioz aufgrund seines französischen Wesens die generelle Fähigkeit abgesprochen hatte, „innerlich“
1855 Geschichte der Musik, S. 250. 96 Brendel 1856a Programmmusik, in: NdS 2 Nr. 86, S. 1060 [90]. 97 Raff 1854 Wagnerfrage, S. 268 f. 98 Vorliegender Artikel, S. 1116 [133]. 99 Piontek 2003 Wagner und Berlioz, S. 28. 95 Brendel
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zu empfinden, da ihm hierfür „das deutsche Gemüth in dem specifischen Sinne [fehle], in welchem wir diesen Ausdruck gebrauchen“100. Gerade vor dem Hintergrund dieser hier erkennbaren Unsicherheit und einem beständigen Schwanken innerhalb der Beurteilung des sich jeder traditionellen Gattungszuschreibung verweigernden Œuvres Berlioz’ dokumentiert der vorliegende Artikel einerseits die Pluralität innerhalb des damaligen Meinungsspektrums der selbsternannten musikalischen „Fortschrittspartei“. Andererseits aber zeigt sich hieran in eindrucksvoller Weise, wie weit entfernt noch im Jahre 1856 die Vorstellung einer auf das ideelle Erbe Beethovens beruhenden Trias Berlioz-Liszt-Wagner war. Neben dem Eindruck der zwischenzeitlich erschienenen Symphonischen Dichtungen Franz Liszts waren es wohl auch nicht zuletzt Artikel wie der vorliegende, welche in der Folge innerhalb der Schriften Brendels zu einem erkennbaren Abrücken vom bis dahin vertretenen musikgeschichtlichen Telos des „Gesamtkunstwerks“ Wagners und schließlich in dessen berühmter „Anbahnungs“-Rede101 aus dem Jahre 1859 zur Proklamation einer „neudeutschen Schule“ führte – ein Terminus, der wohl gerade aufgrund seiner bewussten inhaltlichen Unschärfe und Offenheit seinen musikgeschichtlichen Siegeszug antreten konnte.
1855 Geschichte der Musik, S. 246 f. ständigung, in: NdS 3 Nr. 126. 100 Brendel
101 Siehe
Brendel 1859 Zur Anbahnung einer Ver-
Nr. 91 | L. [Leopold] A. [Alexander] Zellner, „Aus der neuern Musikliteratur“, in: Blätter für Musik 2 (1856), Nr. 48 (13. Juni), S. 189 f.; Nr. 49 (17. Juni), S. 193 f.
Aus der neuern Musikliteratur. Grande Sonate pour Piano Op. 1 – „Die Schwanenjungfrau.“ Ballade für das Pianoforte. Op. 2. von Rudolf Viole.1 Weimar bei T. F. A. Kühn.
Ein beliebiges Blatt dieser Werke2 aufzuschlagen, einen flüchtigen Blick auf den Bau, die Gruppirung der Sätze, Perioden, auf die thematische Führung, auf die harmonischen Fortschreitungen zu werfen, genügt, um den eifrigen Jünger der Weimarer Schule zu erkennen. Wir könnten nach dieser Prämisse sogleich zur speciellen Durchsicht der vorliegenden Arbeiten schreiten, wenn wir annehmen dürften, daß alle Leser mit den Principien und Postulaten dieser Schule so vertraut seien, um sich eine entsprechende Vorstellung von in diese Richtung einschlägigen Compositionen dem Stoffe wie seiner Gestaltung nach, zu machen. Da es aber in Anbetracht der Neuheit der Sache gestattet sein dürfte, dieses Vertrautsein in weitern Kreisen vorläufig noch zu bezweifeln, so möchte ein Versuch, die Grundsätze der Fortschrittslehre mit Bezug auf Instrumental-Compositionen oder – um einen kunstphilosophischen Ausdruck zu gebrauchen – absolut musikalische Kundgebungen in ein gedrängtes Bild zusammen zu fassen, uns hier wohl nicht am unrechten Orte dünken. Größte Mannigfaltigkeit bei größter Einheit gilt als die oberste Bedingung des Kunstwerkes. Der Zusammenhang der verschiedenen, eine größere musikalische Composition bildenden Haupt- und Nebengedanken wurde bisher zunächst durch das Ineinandergreifen, Verschmelzen, Versetzen, gegenseitige Ablösen dieser Gedanken bewirkt, woraus das sogenannte „aus einem Gusse geformte Kunstwerk“ entstand. Dieser Ausdruck muß jedoch für eine conventionelle Formel der Aesthätik [sic] angesehen werden, welche damit die innere Verwandtschaft der aufeinander folgenden Motive zu bezeichnen beabsichtigt, womit im Grunde aber doch nur eine Anerkennung der Geschicklichkeit im Ein- und Durchführen der Motive ausgespro-
1 Rudolph Viole (1825 –1867), deutscher Komponist, lebte seit 1850 als Schüler Liszts in Weimar, bevor er ab 1855 bis zu seinem Tod in Berlin als Komponist, Klavierpädagoge und Musikschriftsteller für die NZfM wirkte. 2 Viole, Klaviersonate Nr. 1 B-Dur (Franz Liszt gewidmet) op. 1(ED 1856) sowie Viole, Ballade für das Pianoforte „Die Schwanenjungfrau“ op. 2 (ED 1856).
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chen und folglich nicht dem schöpferischen, sondern dem formenden, componirenden, (zusammensetzenden) Talente des Tonsetzers ertheilt wird. Es können zwei, ja mehrere Hauptmotive, wie solche den Inhalt ausgeführterer Compositionsgattungen (Sonate, Ouverture, Symphonie) zu bilden pflegen, aus einer und derselben Stimmung hervorgegangen erscheinen, das Gefühl kann sie als solche erkennen (oder auch nicht,) einen Beweis ad oculos jedoch vermag kein Aesthätiker zu führen. Zeigen diese Motive aber eine heterogene Gestaltung, welche des nothwendigen Contrastes und der bedingten Mannigfaltigkeit wegen der Tonsetzer in der Regel grundsätzlich anstrebt, so wird es höchstens dem Poeten möglich sein, da von einer inneren Einheit zu träumen, womit dem analysirenden Musiker jedoch durchaus nicht Genüge geschieht. Ein Widerspruch gegen die Einheit liegt schon darin ausgedrückt, daß man in Compositionen, von welchen hier die Rede ist, die Form vom Inhalte getrennt betrachten kann. Erstere erscheint – unwesentliche Modificationen, Erweiterungen durch eingeschobene Theile, Verkleinerungen durch gedrängtere Fassung der Themen, kürzere Durchführungssätze u. s. w. abgerechnet – als ein theoretisch normirtes Schemen, welches jedem Gedanken seinen bestimmten Platz und Wirkungskreis anweist, ja sogar bis ins Minutiöse bemißt. So lautet z. B. die Regel für die Construction des ersten Theils eines ersten Sonatensatzes: Hauptthema, (welchem nach Belieben eine freie Einleitung vorangehen kann) – Seitensatz – Durchführungssatz – zweites Thema – Durchführung – Passage – Schlußsatz mit Rückmodulation zur Haupttonart. Da haben wir eine vollständige triangulirte3 und nivellirte Chablone, die nichts weiter erfordert, als daß man für die verschiedenen Abtheilungen passende Motive erfindet, sie geschickt in die fertige Form hineinpaßt und wo sie aneinander stoßen, mit modulatorischem Kitt verbindet, der wiederum sauber abgeschliffen werden muß, damit die Leimfuge für das Auge verschwinde. Und ein solches Mosaikgebilde, ein solches Gedankenkaleydoscop4 soll innere Einheit besitzen?! – Mannigfaltig wird es allerdings sein, aber nur mannigfaltig. Was man bisher unter Einheit versteht, ist nur ein Resultat der größten Geschicklichkeit im Handhaben der Form. Sie gestattet dem Tonsetzer blos die Freiheit des Erfindens seiner Motive, hinsichtlich ihrer Verwendung ist er durch das eiserne Formgesetz gefesselt. Mag sein Thema noch so gestaltungsreich sein, er muß es, bei einem gewissen Punkte angelangt, fallen lassen, denn nach der Geschäftsordnung der Form ist der Moment gekommen, wo einem zweiten Thema das Spruchrecht gebührt. Das aber heißt die künstlerische Freiheit in Bande schlagen, vernichten, die Individualität in den Block legen, die
3 Dreischneidig. Hier im Sinne: geometrisch-abgezirkelt. 4 Wahrscheinlich handelt es sich hierbei um eine Anspielung auf Eduard Hanslicks 1854 erschienenes Buch Vom Musikalisch Schönen. Dort heißt es: „Jeder von uns hat als Kind sich wohl an dem wechselnden Farben- und Formenspiel eines Kaleidoscops ergötzt. Ein solches Kaleidoscop, jedoch auf incommensurabel höherer idealer Erscheinungsstufe ist Musik. Sie bringt in stets sich entwickelnder Abwechslung schöne Formen und Farben, sanft übergehend, scharf contrastirend, immer symmetrisch und in sich erfüllt. Der Hauptunterschied ist, daß solch unserm Ohr vorgeführtes Tonkaleidoscop sich als unmittelbare Emanation eines künstlerisch schaffenden Geistes giebt, jenes sichtbare aber als ein sinnreich-mechanisches Spielzeug“ (Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, S. 33).
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Einheit des Stoffes zersplittern, den Künstler zum gewöhnlichen Handwerker herabdrücken. Erzeugen soll er den Stoff, ihn aber nach seiner Eingebung zu gestalten, zu verwerthen und zu ordnen soll ihm jedoch verwehrt sein? Diese sclavische Unterthänigkeit, diese drückende Tyrannei der Form mußte endlich dem Gefühle einer den idealsten Zielen zustrebenden Künstlernatur unerträglich werden. Mit seinen gewaltigen, von göttlicher Kraft geschwellten Armen faßte er den Götzen, hob ihn erst zu unendlicher Höhe, und schleuderte ihn zu Boden, wo er krachend zerschellte, so daß die Memmen erbebten und Philister zitterten, der echte Musensohn aber hoch aufjubelte. Das war die That des Größten unter den Großen, Ludwig Beethoven’s. Ob er sieI in Folge tieferer Einsicht, im Bewußtsein der Nothwendigkeit künstlerischer Erlösung, oder im Augenblicke der großen Spannung des künstlerischen Freiheitsdranges, unbewußt beging, mag unentschieden bleiben. Gewiß aber ist, daß Beethoven mit dem Zerbrechen der Form den Anfang, nicht aber – wie grau gewordene Aesthätiker zu demonstriren sich be-[190]mühen, – das Ende einer That beging, die eine neue Aera herbeizuführen, einer herrlichen Zukunft entgegenzureifen berufen, jedem wahren und vollwichtigen Künstler die Pflicht auferlegt, ihr innerstes Wesen zu erfahren, festzustellen und zum Ausgangspunkte für künftiges Gestalten zu nehmen an, denn nur von diesem Standpunkte ist noch ein Fortschritt möglich. Auf dieses Erkennen fußt das Gebäude der Fortschrittslehre. Sie hebt die Zollschranken zwischen Inhalt und Form auf, und ermöglicht dadurch den freiesten gegenseitigen Verkehr; sie löst der geknechteten Individualität des schaffenden Künstlers die Bande, er darf den Eingebungen seines Genius nunmehr folgen, dieser allein sei sein Führer; sie setzt den bisherigen Lehensmann in volles Herrenrecht ein, was er hervorbringt ist sein, er darf damit schalten nach seinem Gutdünken, es formen, ordnen, verwenden wie er will; sie schließt endlich den klaffenden Spalt des Widerspruchs zwischen Einheit und Mannigfaltigkeit, der nach den bisherigen Principien ewig unausgefüllt geblieben wäre, sie lehrt uns diese anscheinend schreienden Gegensätze auf ’s Innigste zu verbinden. „Wird diese schrankenlose Freiheit den Jünger nicht – wissentlich oder unwissentlich – zu Ausschreitungen verleiten“, höre ich engherzige Seelen befürchtend fragen. Weg mit dieser Angst, sie ist unbegründet. Das ewige unverrückbare Ziel ist festgesetzt. Es lautet: Einheit und Mannigfaltigkeit in vollendetster Vermählung. Der Weg ist gebahnt durch eine schon weit entwickelte Theorie, zu der auch die Praxis bereits viele Belege geliefert hat. Wenn sonach der Jüngere die ihm gegebene Freiheit der Selbstbewegung zu ziel- und planlosem Umhervagiren mißbraucht, so liegt einerseits doch gewiß an der Lehre nicht die Schuld, anderseits aber – und dies möge zum Troste gereichen – ist an solchen Individuen selten viel verloren. Um Mannigfaltigkeit zu erzielen, war der formgefesselte Tonsetzer gezwungen, eine Reihe verschiedener Gedankengruppen einzuführen, deren Wirksamkeit von der Stärke des gegenseitigen Contrastes abhing. Bei diesem Verfahren mußte die Erfüllung der zweiten Begleitung „Einheit“ unmöglich werden; was dafür gehalten wurde, war und konnte nicht mehr sein, als ein Ergebniß der Formgewandtheit. Der Jünger der neuen Lehre stellt einen Gedanken hin. Es ist das Thema, von dem Alles ausgeht, auf I Im
letzten Satze der neunten Symphonie.
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welches alles zurückkehrt, es ist Keim, Saat, Blüthe und Frucht zugleich. Die Sonne die alles beleuchtet, die allhin mit ihren wärmenden, belebenden Strahlen dringt. So, nur so entsteht Einheit, erweisliche, unbestreitbare Einheit. Durch sie zur Mannigfaltigkeit vorzudringen, bildet die Aufgabe einer Kunst, die man „thematische Arbeit“ nennt; sie gewinnt dem absolut herrschenden Thema die verschiedenartigsten Gestalten, die mannigfaltigsten Stimmungen ab, die der Componist nach bisheriger Art durch, ihrem inneren Wesen nach, ganz heterogene Motive darzustellen angewiesen war. Ueber welch’ ein Reichthum von Mitteln als: Zeitmaß, Takt, Rhythmus, Tonart, Tongeschlecht, Modulation, Figuration, Erweiterung, Verengung, Verkehrung, Vollstimmigkeit, Einfachheit, Lage, Nachahmung, Wiederschlag u. s. w. u. s. w.[,] aber die thematische Kunst verfügt, die dem Prisma ähnlich, den Strahl des Fixen [sic] leuchtenden Punktes (Thema) im reichsten Farbenspiele erscheinen macht, ist jedem Musiker bekannt. Hieraus aber geht hervor: die Unmöglichkeit eines Formzwanges, da bereits fertige Formen nicht benützt werden können, indem der Inhalt sich dieselbe jedesmal nach Bedarf construiren muß. Es geht hervor: die höchste individuelle Freiheit des Gebarens mit dem selbstgeschaffenen Material, die aber zugleich in ihrem Course geregelt wird durch einen Compaß, welcher stets unverrückt die Richtung anzeigt, die der Seegler [sic] im Tonmeere einhalten muß, um zum Ziele zu gelangen. Dieser Compaß ist das Gesetz, welches dem Thema centrale Gewalt verleiht. [193] Es wäre möglich, daß Einer oder der Andere in diesem Principe statt eines Fortschrittes, einen Rückschritt zur Strenge des gebundenen Styls erblicken und dadurch zur Ansicht gelangen könnte, als liege dieser Verfahrungsweise das Bestreben zu Grunde, die contrapunctische Schreibart, welche gegenwärtig nur für gewisse Gattungen musikalischer Compositionen maßgebend ist – auf den ganzen Umfang specifisch musikalischen Schaffens auszudehnen, wodurch alle bisherigen Errungenschaften des freien Styls paralysirt würden. Eine solche Auffassung wäre nur geeignet, die Zahl der Mißverständnisse zu vermehren, welche die Fortschrittstheorie, wie jede neue Bestrebung, bei Kurzsichtigen in alten Anschauungen Befangenen, hervorruft, und die der Mehrzahl nach weniger einer grundsätzlichen Animosität, als vielmehr einer gewissen Indolenz in neue Anschauungen sich hineinzufinden und heimisch einzuleben, zuzuschreiben sind. Die wenigsten Künstler haben den Muth und die Energie, über die Schule hinaus, an der zu kleben sie gewohnt sind, einen Schritt in eine unbetretene Region zu wagen; aber fragt sie, und sie werden euch Wunder erzählen von den schauerlichen Dingen, die ihnen da begegnet – wo sie nebstbei gesagt noch nicht gewesen, von den ungeheuerlichen Wesen, die sie da erblickten. – Freilich nur aus der Entfernung. Sie glauben ein System, dessen Entwicklung eben so viel Scharfsinn als, Logik erforderte, mit einem oberflächlichen Blicke ergründet zu haben, halten die Ergebnisse des ersten Eindrucks für Resultate einer vollständigen Auffassung, woraus natürlich ein grundfalsches Urtheil fließen muß (denn urtheilsfähig glaubt sich Jeder) das von der denkfaulen Menge gläubig aufgenommen und nachgeplappert wird. – Sehen wir daher, einem solchen Mißverständnisse vorzubeugen. Allerdings bedient sich die neue Lehre desselben Mittels, welches der starrste Contrapunktist zum Aufbau seiner trockensten Fugen und Canons bedarf. Aber wie himmelweit ist der Unterschied hinsichtlich der Verwendung! – Während dieser
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nicht allein schon bei der Bildung seines Themas und Gegensatzes, der Einführung des Gefährten, der Zahl der Durchführungen, sondern auch im weitern Verlaufe seine Arbeit an eine Unzahl der strengsten, unverbrüchlichsten Regeln gebunden ist, gestattet Jene mit dem Thema in freiester Weise zu gebahren, dasselbe einzuführen und zu wiederholen, auf welcher Stufe es sei, es darf dem harmonischen Zuge folgen, sich den Stimmungen anschließend umgestalten. Dort liegt der Arbeit ein nahezu mathematisches Vorgehen zu Grunde, während hier der Gestaltungsproceß ein ausschließlich psychologischer ist. In eben so verschiedener Weise muß das Wesen der Polyphonie, welcher beide Richtungen zustreben, aufgefaßt werden. Der Weg, der sich dem Contrapunktisten hierzu darbietet, ist die Selbstständigkeit der Stimmenführung. Seine Meisterschaft wird nach der Anzahl gleichberechtigter Factoren bemessen; je mehr derselben er gleichzeitig ein- und je länger er sie selbstständig fortzuführen vermag[,] um so größer seine Kunst. Leider feiert [194] diese Kunst ihren größten Triumphe nur auf dem Papiere, und je künstlicher, daher bewunderungswürdiger ein contrapunktischer Bau dem Auge des Lesers erscheint, um so weniger dankbar wird er sich für den Hörer erweisen. Das gebildetste Ohr kann höchstens 2 – 3 gleichzeitig auftretende selbstständige Stimmen verfolgen, und das nur auf kurze Dauer. Sobald die geringste geistige Abspannung eintritt, hält es sich an die Hauptstimme (das Thema), alle Uebrigen gelten ihm als Bestandtheile der Harmonie. Solchen Selbsttäuschungen ist die Poliphonie [sic] nach dem Vorgange der neuen Doctrine nicht ausgesetzt, denn sie entwickelt sich unmittelbar aus concret harmonischen Gebahren, und nicht aus Elementen, die, ihre ursprüngliche Bestimmung, als selbstständige Factoren zu wirken, aufzugeben gezwungen, dem Schicksale – eine unfreiwillige Synthese zu harmonischer Unterlage eingehen zu müssen – nothwendig verfallen. Welcher ungemeinen Elasticität ein und dasselbe Material nach der ersten Procedur fähig sei, wie spröde es hingegen unter den Händen des Andern werden müsse, ergibt sich aus dem Gesagten von selbst. Wir können nunmehr nach dieser versprochenermaßen nur skizzirten und keineswegs erschöpfenden Darstellung, auf den Gegenstand näher eingehen, welcher in Folge der noch ungewohnten Richtung, der er angehört, wenigstens einige Anhaltspunkte zur übersichtlichen Orientirung auf dem neuen Terrain, uns zu erheischen schien. Vorzugsweise ist es die Sonate Viole’s, die hier in Betracht kommt, da die Ballade bereits mehr in das [sic] Bereich angewandter Musik fallend – principiell schon nicht geeignet ist, als ein Beispiel des neuen Gestaltungsverfahrens für specifisch musikalische Kundgebungen zu dienen. Mit Bezug auf die Sonate muß von allen vorangeschickt werden, daß diese Bezeichnung nicht in dem bisherigen conventionellen Sinne, wonach man darunter eine, aus mehreren selbstständigen, dem Charakter, der Bewegung, größtentheils auch der Tonart nach verschiedenen drei, vier, manchmal auch fünf Sätzen bestehende Composition verstand, sondern in der reinen Wortbedeutung als „Klangstück“ zu nehmen sei. Viole’s Sonate giebt sich als ein ununterbrochener Tonsatz von 31 Seiten, der zwar scheinbar ganz heterogene Partien enthält, welche jedoch bei näherer Unter-
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suchung ihren künstlerischen Zweck, nämlich: zur Gewinnung neuer Grundlagen für neue Gestaltungen des durchgehends [sic] dominirenden Thema’s zu dienen, rechtfertigen, ihren Zusammenhang mit dem Ganzen erkennen lassen und begründen. Leider ist der Motor der Bewegung, der Grundstein des ganzen Baues nicht Eigenthum des Componisten, der sich ein fremdes Thema (von Liszt) zur Aufgabe stellte.5 Wir sagen „leider“ da uns in Folge dessen der wichtigste Anhaltspunkt zur Beurtheilung der Erfindungskraft des Componisten in dieser hauptsächlichen Richtung benommen ist. Auch scheint uns das Motiv selbst, ungeachtet seines ausgeprägten Characters, für den Zweck etwas zu kurzathmiger und aphoristischer Natur zu sein. Umso mehr muß die Mannigfaltigkeit der Gestaltungen überraschen, welche er diesem Thema abgenommen hat; besonders geistreich muß das al rovescio6 (Seite 16, letztes System) und die unmittelbar vorangehende Verkehrung genannt werden. Allerdings führte das Bestreben der möglichsten Vielgestaltigkeit einestheils zu manchen Scurilitäten, anderntheils zu Häufungen von Varianten, deren Sichtung und Auswahl von ersprießlichen Folgen gewesen wäre. Als Harmoniker zeigt sich unser Componist im vortheilshaftesten Lichte. Seine Gewandtheit der Modulation, die Sicherheit, mit der er von den kühnsten Excursionen wieder zurücklenkt, der Reichthum seiner Harmonien, die Originalität vieler Fortschreitungen, verdienen die vollste Anerkennung. Freilich kommen wohl auch nicht selten Fortschreitungen vor, die lebhaft an die Börne’sche Definition des Unterschieds zwischen der deutschen und französischen Sprache erinnern.7 Er sagt: „Es scheint, daß der Franzose Geistessprünge nicht machen kann oder was wahrscheinlich ist, er hält es für unanständig. Eine Sprache aber ist nur dann reich zu nennen, wenn sie – wie die Mathematik in ihrer Art – fertige Formeln von bekannten und anerkannten Sätzen und Schlüssen hat, über die man nicht erst nachzudenken braucht, und die nur als Brücken dienen, über welche man zu neuen Schlüssen gelangt“8. Dasselbe möchten wir von einigen Fortschreitungen in der Viole’schen Sonate sagen, welchen gegenüber wir uns auf französischem Standpunkte zu befinden gestehen. Es fehlen uns die Mittelglieder um die Richtigkeit der Schlußfolgerung controliren zu können. Ein gleiches ward uns von einigen Unisono-Stellen auferlegt, wie z. B. jene im 9. und 10. Tacte (Seite 3) vorkommende, zu der wir mit allem Aufgebote der Combination keine entsprechende Harmonie zu finden im Stande waren. Wozu solche Bizarrerien, die nicht allein unmusikalisch, sondern, da sie den Gegnern der Richtung nur zu willkommene Waffen in die Hand geben, auch zugleich unpolitisch sind. Um das Werk einer noch specielleren Kritik zu unterziehen, dünkt es uns im Ganzen nicht reif genug, daß wir uns so ausführlich als es geschah, damit beschäftigten, verdiente es gleichwohl eben so der Entschiedenheit der darin
Bülow 1856 Rudolf Viole, S. 23: „Die Ausbeutung des viertactigen Hauptmotives (das dem Componisten von Franz Liszt zur Ausarbeitung gegeben war) ist selten lahm und stagnirend“. 6 (Ital.) in der Umkehrung. Im Sinne einer Inversion, besonders in Kanon-Kompositionen gebräuchliche Vortragsanweisung. 7 Ludwig Börne (1786 –1837), deutscher Journalist, Literaturund Theaterkritiker, welcher in seinen Briefen und Schriften aus Paris, wo er ab 1830 lebte, für demokratische Reformen und die literarische Bewegung des „Jungen Deutschland“ eintrat. 8 Börne 1829 Schilderungen aus Paris, S. 8. 5 Siehe
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verfolgten Tendenz, wie des ermunterungswürdigen und bereits zu einer so erfreu lichen Entwicklung vorgeschossenen Talentes wegen, welches in diesem Werke unzweifelhaft zu Tage steht. Unser kurzgefaßtes Urtheil über Viole lautet dahin, daß nach den vorliegenden Erstlingswerken zu schließen, bei offenbartem Vorhandensein tüchtiger künstlerischer Gesinnung, strebsamen Eifers, bedeutendem Bildungsgrade, die Productionsfähigkeit nach Seite harmonischer Kundgebungen jene in melodischer Richtung derzeit überrage, was besonders aus der, auf keine fremde musikalische Anregungen basirten Ballade hervorgeht, deren viele Motive dem Vorwurfe der Unbedeutenheit – um oft nicht zu sagen: der Flachheit – schwer entgehen möchten. Nichtsdestoweniger dürfte bei zunehmender Abklärung von diesem Jünger noch Erfreuliches im edelsten Sinne anzuhoffen sein. Möge die musikalische Welt ihn nicht aus den Augen verlieren. L. A. Zellner
Kommentar Nachdem Leopold Alexander Zellner am 20. Mai 1856 in seinen in Wien erscheinenden Blättern für Musik, Theater und Kunst anlässlich der Aufführung einer Rossini-Oper noch ein eher allgemeines ‚Bekenntnis‘ zu der grundsätzlichen Notwendigkeit von „Fortschritt“ innerhalb der Musik abgelegt hatte9, dient ihm die hier vorliegende Rezension von Werken des Komponisten und Liszt-Schülers Rudolph Viole dem Zwecke, „alle Leser mit den Principien und Postulaten“ der „Fortschrittslehre“ oder auch „Weimarer Schule“ näher vertraut zu machen.10 Zwar hatte Liszt selbst in diesem Sinne bereits ein Jahr zuvor innerhalb seiner Besprechung der Harold-Symphonie Berlioz’ eine erste ‚Poetik‘ seiner Programmmusik vorgelegt,11 doch bezog Zellner seine Ausführungen nicht nur explizit auf sämtliche „specifisch musikalische[n] Kundgebungen“ (d. h. auf Instrumentalmusik im Allgemeinen), ohne den Terminus „Programmmusik“ dabei zu erwähnen, sondern ist im Gegensatz zu Liszt bemüht, konkrete kompositorische Schaffensprinzipien und Techniken zu benennen, da bereits ein „flüchtige[r] Blick auf den Bau, die Gruppirung der Sätze, Perioden, auf die thematische Führung, auf die harmonischen Fortschreitungen“ genüge, „um den eifrigen Jünger der Weimarer Schule zu erkennen.“12 Ausgangspunkt von Zellners Überlegungen ist seine Kritik an einem epigonal-klassizistischen Formalismus, der den (motivisch-thematischen) Zusammenhalt der Kompositionen auf-
Zellner 1856 Musikalische Wochenlese, in: NdS 2 Nr. 89. 10 Alle Zitate: vorliegender Artikel, S. 1136 [189]. 11 Siehe Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, in: NdS 2 Nr. 76. 12 Vorliegender Artikel, S. 1136 [189]. 9 Siehe
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grund des angeblich darin geforderten Themendualismus behindere und zu einer Dichotomie von Form und (musikalischem) Inhalt führe. Zellner beruft sich in seiner Argumentation vor allem auf das Werk Beethovens. Mit seiner Einschätzung, dessen 9. Symphonie habe mit „dem Zerbrechen der Form […] eine neue Aera“ herbeigeführt, die, weil „nur von diesem Standpunkte“ noch „ein Fortschritt möglich“13, „zum Ausgangspunkte für künftiges Gestalten“ geworden sei, partizipiert Zellner an der vor allem durch Wagner14 und Theodor Uhlig15 etablierten historischen ‚Meistererzählung‘ vom Ende der ‚klassischen‘ Symphonie. Im Sinne des klassizistischen Ideals von der ‚Einheit in der Mannigfaltigkeit‘, welches durch die Schriften Herders, Kants und Goethes sowie – in der Musik – durch Adolf Bernhard Marx vor allem in Deutschland paradigmatische Bedeutung hatte,16 zeichne sich eine „fortschrittliche“ Musik durch die permanente Verarbeitung eines auf „psychologischer Grundlage“ gewonnenen „Gedankens“, ein „organisches“ Ganzes zu erschaffen, welches sich durch seine ‚Natürlichkeit‘ vom bisherigen, bloß mathematisch-mechanischen Komponieren auf der anderen Seite unterscheide.17 Einen Monat nach der Veröffentlichung des Aufsatzes von Zellner erschien in der NZfM eine zweite Besprechung der ersten beiden Opera Violes durch Hans von Bülow, dem Widmungsträger der Sonate op. 1. Darin nimmt Bülow ebenfalls die Drucklegung der Werke zum Anlass, die Schaffensprinzipien der Schüler Liszts zu charakterisieren: „Liszt’s Schule ist eben keine Schule im alten Wortsinne: Liszt’s Schule will nicht blos, sie lehrt die künstlerische Emancipirung des individuellen Inhaltes vom Schematismus. Wo anderwärts Erstarrung, ist hier Leben, wo anderwärts Eintönigkeit, ist hier Mannichfaltigkeit. In Liszt’s neuen Formen – die kleinste bis zur größten zeigt uns die unantastbarste Logik, die bewundernswertheste architektonische Oekonomie – herrschen, trotz der Läugner, wol Gesetze, aber Gesetze des Geistes, nicht des Buchstaben, Gesetze unwandelbar in ihrem Wesen, aber wechselnd in ihrer Anwendung zur Erscheinung kommend. Liszt giebt Muster für die freie, nicht für die sclavische Nachbildung.“18 Anders als Zellner aber benennt Bülow die Ambivalenz der neu gewonnenen künstlerischen Freiheit, welche sich durch die Überwindung der bisherigen Formschemata für junge Talente ergebe: „Es ist ersichtlich, daß der Componist [Viole] sich eine neue Tonsprache bilden will. […] Das Anders-Machen-Wollen als die Anderen ist ein rühmliches Bestreben; die Furcht zu copiren darf aber nicht in die Sucht nach Originalität um jeden Preis, in die Jagd auf Curiositäten quand même ausarten.“19 Vorausgegangen war beiden Besprechungen eine programmatische Akzentverschiebung innerhalb der Publizistik der NZfM, welche verstärkt auf eine Selbststilisierung der musika-
S. 1138 [189 f.]. 14 Siehe etwa Wagner 1850 Das Kunstwerk der Zukunft, S. 97: „Die letzte Symphonie Beethoven’s ist die Erlösung der Musik aus ihrem eigensten Elemente heraus zur allgemeinsamen Kunst. Sie ist das menschliche Evangelium der Kunst der Zukunft. Auf sie ist kein Fortschritt möglich, denn auf sie unmittelbar kann nur das vollendete Kunstwerk der Zukunft, das allgemeinsame Drama, folgen, zu dem Beethoven uns den künstlerischen Schlüssel geschmiedet hat.“ 15 Siehe etwa Uhlig 1850 Natürliche Grundlage der Instrumentalmusik sowie Uhlig 1850 Beethoven’s Symphonien. 16 Vgl. hierzu insgesamt Thaler 1984 Organische Form sowie Köhler 1996 Natur und Geist. 17 Vorliegender Artikel, S. 1140 [193]. Ähnlich hatte zuvor auch Liszt argumentiert, der musikalische Gebilde mit dem Wachstum von Pflanzen verglich, in: Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, in: NdS 2 Nr. 76. Vgl. hierzu auch Noeske 2012 Musik als Organismus. 18 Bülow 1856 Rudolf Viole, S. 23. Hervorhebungen im Original. 19 Ebd., S. 22. 13 Ebd.,
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lischen ‚Fortschrittspartei‘ als „Schule“ abzielte.20 Anstatt sich, wie seit 1852 geschehen, auf das Werk Wagners zu konzentrieren,21 widmete sich die überwiegende Mehrzahl der Sammelbesprechungen neuer Werke in der NZfM oder ihr inhaltlich verwandte Blätter nunmehr vorrangig jungen Komponisten wie Viole, dem jungen Joachim Raff22 oder Eduard Sobolewski23, die den Lesern entweder als direkte Schüler Liszts oder als den Schaffensprinzipien der ‚Zukunftsmusik‘ nahe stehend dargestellt wurden. Diese quasi ‚parteiinternen‘ Besprechungen – die Mehrzahl der rezensierten Komponisten waren selbst als Autoren für die NZfM Brendels tätig – hatten jedoch schon bald wiederum scharfe Kritik hervorgerufen und die Objektivität dieser Besprechungen vehement in Frage gestellt.24 Wie sehr auch innerhalb der vorliegenden Rezension Zellners ‚parteipolitisches‘ Kalkül eine Rolle spielte, zeigt sich nicht so sehr an der insgesamt positiven Besprechung der Werke, sondern an der Bemerkung, die in dem Werk enthaltenen kompositorischen „Bizarrerien“ seien „nicht allein unmusikalisch“, sondern „auch zugleich unpolitisch“, da sie „den Gegnern der Richtung nur zu willkommene Waffen in die Hand geben“25. Eine kritische Reaktion auf den Aufsatz Zellners lieferte kurz darauf Johann Christian Lobe in seinen Fliegenden Blättern.26 In dem Beitrag, der den Artikel Zellners beinahe Absatz für Absatz zitiert, um diesen dadurch zu widerlegen, bemängelte Lobe die von Zellner als charakteristisch speziell für die ‚Weimarer Schule‘ genannten Themenverarbeitungstechniken, welche allesamt bereits aus der Fuge bekannt seien, was dem Innovationsanspruch der „Schule“ widerspreche. Auch habe sich Zellner in argumentative Widersprüche verstrickt, wenn er einerseits die neugewonnene künstlerische Freiheit betone, aber zugleich von einem „Gesetz“ und gar einer „neuen Doctrine“27 der ‚Weimarer Schule‘ spreche, welche jeden ihrer Vertreter innerlich leiteten. Bemerkenswert ist nicht zuletzt die Tatsache, dass Lobe die bei Zellner besprochenen Werke Violes unerwähnt lässt, dafür aber wiederholt die kurz zuvor im Druck erschienenen Symphonischen Dichtungen Liszts in den Mittelpunkt rückt. Diese Konzentration Lobes auf die Werke Liszts widersprach zugleich dem oben beschriebenen ‚Kurswechsel‘ in der NZfM und den Wiener Blättern für Musik, fortan in ihrer Berichterstattung auch auf die Werke von Schülern und Anhängern Liszts und Wagners einzugehen. Vor dem Hintergrund des bereits erwähnten Organizitäts-Paradigmas lässt sich dieses Vorgehen wiederum als Versuch werten, nicht nur – wie im vorliegenden Artikel Zellners – das einzelne musikalische Werk, sondern die „neue Schule“ insgesamt als ‚organisch‘ und damit im damaligen Verständnis als einen „nicht zu hinterfragenden Wert“28 darzustellen. Das Herausstellen der wachsenden Zahl der Schüler und Anhänger innerhalb der ‚Zukunftsmusik‘ diente zugleich auch dazu, die ‚Nachhaltigkeit‘ der durch Liszt und Wagner ausgelösten musikalischen Reformen zu belegen und dadurch das eigene Schaffen
20 So
war 1855 eine Ankündigung Franz Brendels erschienen, wonach im Gegensatz zur bisherigen Konzentration auf „eine so große Erscheinung, wie die Wagners“, welche „anfangs das Hauptinteresse für sich in Anspruch nahm und momentan alles in den Hintergrund drängte“, man nun zukünftig wieder verstärkt „allen anderen Bestrebungen möglichst gerecht zu werden“ versuche und daher vermehrt „Gesammtbesprechungen der Leistungen einzelner Componisten“ veröffentlichen werde (Brendel 1855 Anregungen. Unsere Aufgabe, S. 38). 21 Siehe Brendel 1852 Zum neuen Jahr, in: NdS 1 Nr. 27. 22 Siehe Klitzsch 1855 Joachim Raff’s Compositionen. 23 Siehe Liszt 1855 Sobolewski’s Vinvela. 24 Siehe Anonym 1855 Moderne Kritik, in: NdS 2 Nr. 71. 25 Vorliegender Artikel, S. 1141 [194]. 26 Lobe 1856 Das Gespenst der Zukunft, in: NdS 2 Nr. 98. 27 Vorliegender Artikel, S. 1140 [194]. 28 Noeske 2012 Musik als Organismus, S. 94.
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in seiner ‚Natürlichkeit‘ und damit ‚Notwendigkeit‘ ästhetisch und historisch zu legitimieren. Vergegenwärtigt man sich zudem die Tatsache, dass das Wiener Publikum zum Zeitpunkt des Erscheinens des vorliegenden Artikels noch Monate auf die erste Aufführung eines größeren Werkes der ‚Zukunftsmusik‘ warten musste,29 belegt der Aufsatz Zellners darüber hinaus insgesamt die Bedeutung der journalistischen Musikpublizistik zu dieser Zeit, welche als Ort der Theoriebildung der musikalischen (Aufführungs-)Praxis in vielen Orten zeitlich deutlich vorausging und ihr damit zugleich ästhetisch das Feld bereitete.
29 Die
erste Aufführung einer Symphonischen Dichtung Liszts in Wien fand am 8. März 1857 (Les Préludes) statt, die Erstaufführung einer Wagner-Oper (Tannhäuser) erlebte das Wiener Publikum im Thalia-Theater ebenfalls erst am 28. August des selben Jahres.
Nr. 92 | Anonym [James William Davison], [o. T., „Robert Schumann“], in: Musical World 34 (1856), Nr. 26 (28. Juni), S. 408.
Robert Schumann has had his innings, and been bowled out – like Richard Wagner. Paradise and the Peri1 has gone to the tomb of the Lohengrins. When, to drop metaphor, is all this trifling to cease? How many times more shall we have to insist that the new school – the school of “the Future” – will never do in England? If the Germans choose to muddle themselves with beer, smoke, and metaphysics, till all things appear to them through a distorted medium, or dimly suggested through a cloud of mist, there is no reason why sane and sober Britons should follow their example. The moon-struck zealots of Weimar, Halle2, and Leipsic, have their Liszt to (mis)guide them; but without a Liszt, who may “stand at our elbow and teach us what is whale and what is ouzel”3 (Athenæum – “ante,” page 786), it is impossible for ordinary thinkers to apprehend the meaning, if meaning there be, of such strange fish as Wagner, Schumann, Brahms, Franz, and Co.4 Unhappily, or happily, we are unprovided with a jack-a-lantern5. Thus, when listening to the music of such men, we are compelled to wander at random in a dark and impenetrable forest, without even a cheat of a will-o-the-wisp6 to deceive us for a moment into the notion that we are going somewhere, that we are really about to light upon an unseen path conducting to an outlet from the labyrinth of trees and undergrowth. We are lost, like the babes of the wood7, when night approaches –
Schumann, Das Paradies und die Peri op. 50 (UA 1843). 2 Halle/Saale war der langjährige Wirkungsort von Robert Franz, der im vorliegenden Artikel als Mitglied der „Music of the Future“ in Deutschland dargestellt wird. Siehe vorliegender Artikel, Anm. 4. 3 Das Zitat ist einer wohl von Henry Fothergill Chorley stammenden Kritik aus dem ebenfalls in London erschienenen Athanæum (Anonym 1856 Concerts of the week) anlässlich der dortigen Aufführung von Robert Schumanns Carnaval op. 9 durch dessen Frau Clara entnommen, worin der Autor seine Ablehnung gegenüber jeglicher Programmmusik oder außermusikalischer Bezüge in der Musik dezidiert zum Ausdruck bringt. Ursprünglich ist das Zitat dem Gespräch zwischen Hamlet und Polonius über die Gestalt einer Wolke entnommen, die laut Hamlet in einem Augenblick wie ein Wal, in einem anderen wie ein Wiesel (im Athenæum ist von einer Amsel die Rede) erscheine (William Shakespeare, Hamlet, 3. Akt, 2. Szene, V. 359 – 366). 4 Die Erwähnung von Johannes Brahms und Robert Franz in diesem Zusammenhang dürfte im Falle von Brahms auf den „Neue Bahnen“Artikel Robert Schumanns (Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49), im Falle von Franz wohl aufgrund der lobenden Besprechung von dessen Liedern durch Franz Liszt in der NZfM (Liszt 1855 Robert Franz) zurückgehen. Dieser Artikel war kurz zuvor auch in englischer Übersetzung im Bostoner Dwight’s Journal of Music veröffentlicht worden (Liszt 1856 Robert Franz). 5 Eigentlich „Jack-O’-Lantern“, eine aus der irischen Volksdichtung stammende Figur, die aufgrund eines Teufelspaktes gezwungen ist, mit einem ausgehölten Kürbis, in welchem ein Stück glühende Kohle aus der Hölle brennt, am Vorabend von Allerheiligen umherzuirren. 6 Eigentlich „Will-O’-theWhisp“, eine aus der englischen Volksdichtung stammende Figur, welche vor allem nachts mit seinem Licht Wanderern den (falschen) Weg weist. Das deutsche Äquivalent hierzu ist das „Irrlicht“. 7 Die 1595 erstmals gedruckte Geschichte der „Babes in the Wood“ handelt von zwei Geschwistern, die nach dem Tod ihrer Eltern von ihrem Onkel zunächst getötet werden sollen, 1 Robert
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seeing nothing but shadowy phantoms, hearing nothing but the howling of furious wolves, and the roaring of pitiless pards. Why then, we repeat, in the absence of Liszt – who will not travel from Weimar to London,8 and enlighten us, but sends us books which we cannot understand9 – why thus helplessly afflict us with Wagner and Schumann? We put it to Professor Bennett10, who took such care to introduce the Peri in her best attire, that, but for her moral deformity, she might have passed for something decent and becoming – we put it to Professor Bennett, who has redeemed the Philharmonic sins by good works, [(]and saved those who, justly, should have done penance in a winding sheet) – we put it to Professor Bennett, a musician and composer of genius and attainments, who knew Mendelssohn intimately,11 and worships John Sebastian12 with his soul – to Professor Bennett, the champion of English instrumental music among foreigners,13 and the spoiled child of his own country14 – Professor Bennett, who was nurtured in harmony, and brought up in the path which all sincere musicians should tread15 – we put it to Bennett, whether such a tuneless rhapsody as Paradise and the Peri was fit for those whose delicate ears – during half a century, more or less – have been nourished with the pure, and sweet, and healthy strains of Haydn, Mozart, Beethoven, Spohr, and Mendelssohn? We anticipate his answer – “No.” After the disastrous failure of Richard Wagner and his music, last season,16 there was no excuse for devoting a whole concert to the music of another composer of “the Future.” Since these gentlemen have written for “the Future,” let “the Future” enjoy
dann aber aus Skrupel vor der Tat im Wald ausgesetzt werden und dort letztlich doch den Tod finden. Die Geschichte diente als Vorlage für Volkslieder und Balladen und wurde so populär, dass der Titel sprichwörtlich für Menschen wurde, die sich aus Leichtsinn und Unerfahrenheit in potenzielle Gefahr begeben. 8 Den ersten Aufenthalten Liszts in London 1840/1841 folgte erst kurz vor dessen Tod 1886 ein weiterer. 9 Gemeint sein dürfte hier vor allem die 1851 in Leipzig in französischer Sprache erschienene Schrift Lohengrin et Tannhaüser (Liszt 1851 Lohengrin et Tannhaüser), die ein Jahr später in Köln in deutscher Übersetzung publiziert wurde (Liszt 1852 Richard Wagner’s Lohengrin und Tannhäuser) und wiederum ein Jahr später in Auszügen in englischer Übersetzung im Bostoner Dwight’s Journal erschien (Liszt 1853 Wagner’s ‚Tannhäuser‘). Die ab 1854 in der NZfM in regelmäßiger Folge erschienenen sogenannten „Dramaturgischen Blätter“ Liszts wurden im Gegensatz zu der in der Musical World kurz zuvor abgedruckten Übersetzung großer Teile aus Wagners Oper und Drama (siehe Anonym 1855 Opera and Drama) erst Jahre später ins Englische übertragen. 10 William Sterndale Bennett (1816 –1875), englischer Komponist, Dirigent und Pianist, leitete von 1856 bis 1866 die Konzerte der Londoner Philharmonic Society. 11 Der 22-jährige Davison war zum ersten Mal 1836 mit Felix Mendelssohn Bartholdy zusammengetroffen, als er zusammen mit Bennett nach Düsseldorf reiste und dort das Niederrheinische Musikfest erlebte: „From Düsseldorf the two of them returned jubilantly, confirmed Mendelssohn militants for ever. Whenever Mendelssohn happened to be around their adoration was apt to take an aggressive turn“ (Reid 1984 Music Monster, S. 15). 12 Johann Sebastian Bach (1685 –1750). 13 Davison und Bennett verband von Jugend an eine enge Freundschaft, die in den zahlreichen Aufsätzen des Kritikers wiederholt zu der Feststellung der Überlegenheit Bennetts gegenüber allen lebenden ausländischen Komponisten führte (vgl. Reid 1984 Music Monster, S. 5). 14 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 21. 15 Bennett studierte von 1826 bis 1836 an der Londoner Royal Academy of Music und wurde stilistisch später entscheidend durch verschiedene Aufenthalte in Leipzig von der Musik Mendelssohn Bartholdys geprägt. 16 Auf Einladung der Londoner Philharmonic Society leitete Richard Wagner im Jahre 1855 innerhalb von vier Monaten acht Konzerte mit eigenen und fremden Werken – u. a. Beethovens 9. Symphonie sowie Aus-
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the exclusive benefit of their inspirations. Why perturb and vex the Present to no purpose? The Present – as the most enthusiastic partisans of Schumann and Wagner admit, nay insist – is incapable of fathoming the depths of their philosophy; all the length of line which it can throw out is insufficient to get half-way down to the bottom. To abandon it as hopeless, then, and rest satisfied with Mozart and his successors, would surely be the wiser course. Such an experiment as that of Monday evening must not, on any account, be repeated. The Queen’s17 visit and Jenny Lind’s18 singing were almost rendered inflictions – since, as no one was willing to rise before Her Majesty had given the signal, or to quit the concert-room while Jenny Lind was in the orchestra, the inconveniently crowded audience was compelled by courtesy, if not by inclination, to remain till the end. Imagine – oh, uninitiated reader! – three uninterrupted hours of Schumann, three uninterrupted hours of music “without form and void,”19 three hours of organised sound without a single tune! We are not exaggerating, but stating a simple fact. Seriously, this passes the limits of toleration. It was sad to listen to the efforts of Mad. Goldschmidt Lind and her associates – so clever, intelligent, and zealous – to give life to music which has no more spark of vitality than a corpse; it was painful to view the carestricken countenance of the conductor, who with an “anxious polyscopity,” natural under the circumstances, surveyed now the band and chorus under his control, now Jenny Lind and her vocal fellow-sufferers, now the Queen and her most musical Consort, and now the poor subscribers, half suffocated and half asleep – as though fearful that in spite of all his toil and trouble, the cantata would sooner or later go to pieces. Poor Professor Bennett! His task was not an enviable one – before the Queen, too, in presence of the “Nightingale,”20 and with Mr. Costa21, all eyes and ears, among the audience.
züge aus Tannhäuser und Lohengrin. Für eine genaue Auflistung der Programme dieser Konzerte siehe Glasenapp 1905 Das Leben Richard Wagners, S. 72 – 98. In der Londoner Presse wurden die Aufführungen vor allem wegen der Werke Wagners, welche in den Konzerten am 26. März und 14. Mai erklangen, überwiegend und in sehr polemischer Form abgelehnt (siehe Davison 1855 „As our readers“ sowie Davison 1855 „Richard Wagner“, in: NdS 2 Nr. 75). 17 Viktoria (Großbritannien, 1819 –1901, Regierungszeit 1837 –1901). 18 Jenny (eigentlich Johanna Maria) Lind (verheiratet Lind-Goldschmidt, 1820 –1887), schwedische Sopranistin, war eine der berühmtesten Primadonnen des 19. Jahrhunderts. Seit 1856 lebte sie bis zu ihrem Tod in London, wo sie als Oratoriensängerin und Gesangslehrerin wirkte. 19 Zitat aus dem Alten Testament, wo es in der englischen Übersetzung heißt: „The earth was without form and void“ (Gen 1, 2). 20 Lind wurde aufgrund des angeblich durch die Sängerin inspirierten Märchens Nattergalen (Die Nachtigall, ED 1843) von Hans Christian Andersen häufig mit dem Beinamen „die schwedische Nachtigall“ bedacht. 21 Michele (Michael) Costa (1808 –1884), britisch-italienischer Komponist und Dirigent, wirkte von 1846 bis 1855 als künstlerischer Leiter der Londoner Philharmonic Society. Die im vorliegenden Artikel deutlich zutage tretende Ablehnung gegenüber Costa lag zum einen darin begründet, dass Davison dem Dirigenten eine wesentliche Mitschuld am Rückzug des ihm freundschaftlich eng verbundenen Bennett aus dem Direktorium der Philharmonic Society gab; zum anderen ermöglichte der plötzliche Rücktritt Costas als künstlerischer Leiter der Philharmonic Society zum Ende der Saison 1854 erst die von Davison als nationale Schande betrachtete Verpflichtung Richard Wagners als Dirigenten für acht Konzerte mit dem Orchester im Zeitraum März bis Juni 1855 (vgl. hierzu Davison 1912 Music during the victorian era, S. 160 –162 sowie Reid
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Last year Richard Wagner very nearly annihilated the Philharmonic.22 Luckily he did not quite. But, now that Wagner has returned to Zurich,23 never again to be summoned “to the rescue,” if Robert Schumann is allowed to represent the school of “the Future” (not as conductor, of course, but as composer), a still greater peril will be incurred – for, though Richard is more subtle, uncompromising, arrogant, and fearless, Robert is more specious. His music, at times, more nearly resembles music than the monstrous combinations of Tännhauser [sic] and Lohengrin; yet inasmuch as, in principle, it is just as vicious and bad, for that reason it is all the more dangerous.
Kommentar Der Entstehungsanlass des vorliegenden, vom langjährigen Herausgeber24 der Londoner Musical World, James William Davison, stammenden25 Artikels war die Erstaufführung26 von Schumanns Das Paradies und die Peri am 23. Juni 1856 unter der Leitung William Sterndale Bennetts in der Londoner Philharmonic Society.27 Unter den Mitwirkenden dieses letzten Abonnement-Konzertes der Saison ragte die schwedische Starsopranisten Jenny Lind-Goldschmidt hervor, während dem Ereignis durch die Anwesenheit Königin Victorias weitere gesellschaftliche Bedeutung verliehen wurde. Nach den ein Jahr zuvor in der britischen Hauptstadt ebenfalls in der Philharmonic Society veranstalteten Konzerten unter der Leitung von Wagner wurde dem dortigen Publikum mit Schumanns 1843 uraufgeführtem „weltlichen“ Oratorium nun erneut die Musik eines Vertreters der damaligen deutschen musikalischen Avantgarde zu Gehör gebracht. Im Gegensatz zu den insgesamt acht Wagner-Konzerten, bei denen lediglich an zwei Abenden einzelne Ausschnitte aus dessen Opern in die
1984 Music Monster, S. 78 – 80). 22 Siehe etwa Davison 1855 „As our readers“ sowie Davison 1855 „Richard Wagner“, in: NdS 2 Nr. 75. 23 Aufgrund seiner Beteiligung am gescheiterten Dresdner Mai-Aufstand und der damit verbundenen Strafverfolgung in den deutschen Teilstaaten war Wagner über Umwege im Juli 1849 im Züricher Exil eingetroffen, welches er – mit Unterbrechungen durch Konzertreisen und Aufenthalte u. a. in London und Paris – erst am 17. August 1858 endgültig verlassen sollte. 24 James William Davison (1813 –1885) gab die Zeitung in den Jahren von 1844 bis 1885 heraus und verfasste auch nahezu sämtliche Artikel für sie, die in den meisten Fällen jedoch anonym oder unter verschiedensten Pseudonymen veröffentlicht wurden (vgl. Kitson 2006 Musical World). 25 Die Zuordnung der Autorschaft des Artikels wird auch durch den auszugsweisen Abdruck desselben in der Davison-Biografie von Charles Reid (Reid 1984 Music Monster, S. 222 – 224) gestützt. 26 Die Erstaufführung im Vereinigten Königreich hatte bereits am 10. Februar 1854 in Dublin stattgefunden. 27 Seit der Gründung des Konkurrenzunternehmens der sogenannten „New Philharmonic Society“ im Jahre 1852 erhielt die seit 1827 existierende Philharmonic Society häufig auch den Beinamen „Old“.
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ansonsten von Werken anderer Komponisten dominierten Programme eingestreut waren, war dieser Konzertabend ausschließlich Schumann gewidmet.28 Wie in der Musical World ab 1854 üblich,29 wurden solch außergewöhnlichen Konzertereignissen zwei separate Berichte innerhalb einer Ausgabe der Zeitschrift gewidmet, wovon der erste eher die äußeren Begleitumstände sowie die künstlerischen Leistungen der Aufführung wiedergab, während der zweite meist eine allgemeinere Besprechung des erklungenen Werkes darstellte.30 In ihrer polemischen, auch vor chauvinistischen Ressentiments und antideutschen Stereotypen nicht zurückschreckenden Sprache geben die beiden Konzertberichte ein anschauliches Beispiel der bei Davison vorherrschenden zutiefst ablehnenden Haltung gegenüber allen, nicht an Mendelssohn Bartholdy, Bach, Mozart oder dem (frühen bis mittleren) Beethoven orientierten Komponisten aus Deutschland – insbesondere wenn diese sich auch schriftstellerisch-philosophisch über ihre Kunst zu Wort meldeten.31 Dementsprechend heißt es beispielweise in dem hier nicht abgedruckten ersten Teil des Konzertberichts über die Musik Schumanns: „It has nothing akin to Händel, Bach, Haydn, Mozart, Beethoven, Spohr, Mendelssohn, Weber, Cherubini, Rossini, or any of those whom we have been taught to regard as the masters of the art. There is no melody, no form – nothing that ‚appeals‘ to the ear – nothing that touches the heart. Even the effects, to which the disciples of the new school point so triumphantly, are produced by means anything but legitimate.“32 Diese konservative Grundhaltung der englischen Musikkritiker deckt sich mit den damaligen Konzertprogrammen im Königreich und den darin zutage tretenden Vorbehalten gegenüber jeglicher „romantic music“ – mit Ausnahme allerdings des mit Davison freundschaftlich verbundenen Berlioz.33 Dies hatte zur Folge, dass – stärker noch als im damaligen deutschsprachigen Musikleben, wo ebenfalls musikalisches Schrifttum und Konzertkritiken vielerorts als Ersatz für tatsächliche Aufführungen der besprochenen Kompositionen dienen mussten – die Werke Schumanns, Wagners und Liszts nur sehr vereinzelt und mit größerer zeitlicher Verzögerung in die Konzertsäle gelangten.34 So hatte beispielsweise der ebenso einflussreiche Londoner Kritikerkollege Henry Fothergill Chorley am 2. Juni 1855 im Athenæum von einer Aufführung von Schumanns Das Paradies und die Peri vom 33. Niederrheinischen Musikfest in Düsseldorf berichtet, dass das Werk „ten times more fierce, frivolous, dismal, and irrational“35 klinge als er beim Lesen der Partitur ohnehin schon erwartet
28 Siehe hierzu den Kommentar und die Anmerkungen zu Davison 1855 „Richard Wagner“, in: NdS 2 Nr. 75. 29 Zum Aufbau der Zeitschrift allgemein vgl. Kitson 2006 Musical World, S. XV. 30 Im vorliegenden Fall ist der erste, ebenfalls von Davison stammende Artikel (siehe Davison 1856 Philharmonic Society) nicht abgedruckt. 31 Jacques Barzun bemerkte über die beiden, in feindlicher Abneigung zueinander stehenden Kritiker Davison und Chorley: „[T]he two camps into which the politicians of London became divided, the larger of the Times and the smaller of the Athenæum, joined their forces when the ‚music of the future‘ was in question“ (Barzun 1958 Darwin, Marx, and Wagner, S. 328, zit. nach Sessa 1979 Wagner and the English, S. 16). 32 Davison 1856 Philharmonic Society, S. 406. 33 Vgl. hierzu Davison 1912 Music during the victorian era, S. 146 sowie Biddlecombe 2007 Berlioz and the London Musical Scene. 34 Während Hector Berlioz im Zeitraum von 1847 bis 1855 mit insgesamt fünf von ihm geleiteten Konzerten im Londoner Musikleben vertreten war (vgl. Glanz 1950 Berlioz in London), hatte das englische Publikum erstmals im April und Juni 1854 die Gelegenheit, die Tannhäuser-Ouvertüre Richard Wagners bzw. die B-Dur-Symphonie Robert Schumanns zu hören, nachdem bereits ein Jahr zuvor, am 4. April 1853, dessen Ouverture, Scherzo und Finale op. 52 aufgeführt worden war. 35 Chorley 1855 Whitsuntide Music
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hatte. Dementsprechend negativ fiel auch seine Beurteilung der späteren Londoner Erstaufführung des Werkes auf, als er in seiner am 28. Juni 1856 erschienenen Rezension über die Musik des „German transcendentalist“ bemerkte, das Werk weise eine „sterility of thought, unloveliness of form, crudity of colour, and disregard of the poet’s meaning, which from first to last it displays“ auf. Wie andere „so-called innovators“ sei Schumanns Musik „essentially as trivial in idea as poor in resource as the most intolerable of the ‚Philistines‘“.36 Wie auch im hier abgedruckten Artikel Davisons erkennbar, führte diese Art ‚gefilterter‘ Sichtweise in der Londoner Presse nicht nur zu einer spürbar aufgeheizten Stimmung im Umfeld der jeweiligen Aufführungen selbst, sondern zugleich zu einer vor allem in der Retrospektive willkürlich anmutenden Konstruktion einer „new school – the school of ‚the Future‘“, welche Komponisten wie Johannes Brahms, Robert Franz, Wagner und Liszt umfasse.37 Auffällig ist hierbei nicht zuletzt, dass Liszt zwar als deren Anführer, jedoch wie ebenfalls in Deutschland zu dieser Zeit hauptsächlich als dirigierender und schreibender Künstler wahrgenommen wurde. Beide Aufsätze Davisons zum Schumann-Konzert gaben der seit längerem bestehenden Kontroverse zwischen der Musical World und dem in Boston erscheinenden Dwight’s Journal of Music in Bezug auf das Werk Wagners weiteren Auftrieb.38 Diese Auseinandersetzung dokumentiert wiederum die bemerkenswerte Eigendynamik innerhalb der englischsprachigen Rezeption und das auch darin zutage tretende angespannte Verhältnis zwischen der ‚neuen‘ und ‚alten‘ Welt innerhalb der jeweiligen Sichtweise auf die zu dieser Zeit in Deutschland an Intensität gewinnende musikästhetische Kontroverse. Zugleich erschien – im Gegensatz zu dem hier vorliegenden Artikel – eine große Zahl dieser englischen Berichte über das deutsche Musikleben wiederum zeitnah in Übersetzungen für deutschsprachige (meist konservative) Musikzeitschriften, um so diese vermeintlich objektiven Stimmen aus dem Ausland zur Stützung der eigenen Positionen zu instrumentalisieren.39 Dies belegt zugleich die erstaunliche Intensivität der wechselseitigen Wahrnehmung innerhalb des damaligen Pressewesens.
on the Rhine, S. 651. Bezeichnend für das angespannte Verhältnis zwischen dem Bostoner Dwight’s Journal of Music und der Londoner Musikkritik wurde der Artikel kurze Zeit nach seiner Veröffentlichung im Dwight’s Journal wiederabgedruckt, nicht ohne jedoch aufgrund seiner ablehnenden Haltung gegenüber jeglicher neuerer Musik aus Deutschland kritisiert zu werden (siehe Anonym 1855 Whitsuntide Music on the Rhine). 36 Alle Zitate siehe Chorley 1856 Philharmonic Society, S. 816. 37 Die angebliche Existenz einer solchen „new school“ in Deutschland war bereits zuvor durch Berichte Chorleys (Chorley 1852 Notes on Music in Germany) etabliert worden, worin dieser Schumann und Wagner einer gemeinsamen Richtung zugerechnet hatte. Bei Davison findet sich diese Sichtweise in dessen Rezension von Schumanns Ouverture, Scherzo und Finale vom 9. April 1853 in der Musical World, worin es ebenfalls heißt, Schumann und Wagner seien „representatives of what is styled the ‚aesthetic‘ school in Germany“ (Davison 1853 „The second concert“, S. 225); und weiter: „Robert Schumann, according to some, is the composer who in combination with Richard Wagner (Brother Wagner, be it understood) is to raise a new school of art, to extinguish Mendelssohn […]“ (ebd., S. 226). 38 Siehe hierzu Anonym 1856a Musical Party Warfare, in: NdS 2 Nr. 95 sowie Anonym 1856b Musical Party Warfare. Schon zuvor war es im Jahre 1854 zwischen beiden Organen in Bezug auf das Werk Richard Wagners und auch Robert Schumanns zu publizistischen Auseinandersetzungen gekommen (siehe Pohl 1853 Ein Blick nach dem „fernen Westen“, in: NdS 1 Nr. 46; Dwight 1854 Our Wagnerism, in: NdS 1 Nr. 59 sowie Anonym 1855 Whitsuntide Music on the Rhine). 39 Siehe etwa Anonym 1855 Englische Urtheile sowie Anonym 1856 Bemerkungen eines Engländers.
Nr. 93 | Anonym [Johann Christian Lobe], „Ein neuer Prophet der Zukunft“, in: Fliegende Blätter für Musik 2 (1855 –1857), Nr. 5 (1856), S. 314 – 319.
Ein neuer Prophetder Zukunft. Geheimes Sendschreiben an den Herausgeber der fl. Bl. f. Musik1.
Wundern Sie sich nicht, wenn ich Ihnen unter dem Siegel des tiefsten Geheimnisses mittheile, daß ich, bisher ein simpler Lakai der Gegenwart, dieser den Dienst gekündigt, und mich in den Bund der Seher der Zukunft habe aufnehmen lassen. Der große Schritt ist nicht im dunkeln Gefühle des Instinkts, in welchem bis vor Kurzem alle Künstler und auch ich hingewandelt sind, sondern im strahlenden Lichte des vollsten modernsten Bewußtseins unternommen und vollführt worden. Die Vortheile, die sich jedem Mitgliede unsrer erhabenen Zunft bieten, sind so zahlreich, und liegen eigentlich so klar vor, daß es mir jetzt unbegreiflich ist, wie ich sie so lange habe übersehen können. Die zärtliche Theilnahme, die ich stets für Sie empfunden, und die Besorgniß für [315] Ihre Zukunft, veranlassen mich, Sie einige Blicke in das Wesen unsrer Verbindung thun zu lassen. Ich hoffe alsdenn und wünsche feurigst, daß Sie meinem schönen und politischen Beispiel folgen, und sich ebenfalls als Mitglied melden werden. Für die einstimmige Aufnahme bei der Ballotage2 stehe ich Ihnen, denn Redakteure von Journalen sind uns sehr willkommen und werden durch vorzügliche Ehren und Vortheile ausgezeichnet. Sie wissen so gut als ich, wie schwer es ist, von realen Dingen der Vergangenheit und Gegenwart, über die schon so unendlich viel geschrieben worden ist, in unsrer Zeit noch etwas Bedeutendes und Neues vorzubringen. Versucht man dennoch etwas dergleichen, so hat man stets zu gewärtigen, von Beleseneren und Gelehrteren des Irrthums nicht blos geziehen – das hätte so viel nicht auf sich – sondern auch durch Fakta überwiesen und dem Gelächter oder der Verachtung preisgegeben zu werden. Diese Schwierigkeiten und Gefahren verschwinden vollständig für Jeden, der sich nur der Verkündigung zukünftiger Dinge widmet. Denn da kein Sterblicher die Zukunft besuchen kann, so steht mir ein ganz neues und schlechthin unerschöpfliches Reich von Vermuthungen sowohl als Behauptungen zur Ausbeutung offen; ich kann stets und ununterbrochen mit der größten Leichtigkeit darüber schreiben
1 Gemeint sind hier Lobes anonym verfasste Fliegende Blätter für Musik, die in einzelnen Heften von über sechzig Seiten Umfang im Zeitraum von 1855 bis 1857 unregelmäßig erschienen und 1857 in Buchform gesammelt veröffentlicht wurden (vgl. Brandt 2002 Johann Christian Lobe, S. 98). 2 (Frz.) Kugelung. Geheimes Wahlverfahren mit schwarzen und weißen Kugeln, welches seit dem Mittelalter bekannt ist und noch heute etwa bei den Freimaurern angewendet wird.
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und zwar ohne die geringste Besorgniß, daß mich irgend ein einfältiger Verstand mit realen Gründen widerlegen könnte. Angenommen, Sie reden von der Nothwendigkeit, an die Stelle der alten, abgethanen Formen neue zu bringen. Sie prophezeihen, in der Zukunft werden Eltern, welche genial genug sind, die Fortschrittsnothwendigkeit zu empfinden, ihren Kindern ein Bein abschneiden und ein Auge ausschlagen lassen, um an die Stelle der bisherigen antiquirten Menschenform eine dem vorgeschrittenen modernen Bewußtsein genügendere neuere und schönere zu bringen, – wer kann Ihnen beweisen, daß das niemals geschehen werde? Wohl aber können Sie sich bei diesem Falle sogar auf eine Art Beweis einlassen, indem Sie etwa hinzufügen: daß das Bewußtsein von der Nothwendigkeit dieser menschlichen Formverbesserung bereits vorhanden, ja daß der erste Schritt zur Verwirklichung des Neuen auf diesem Gebiete in der That gethan worden, ist ja unwiderleglich an vielen Zuaven3 dargethan, die in solchen von den genialen Russen ihnen besorgten neuen Formen aus der Krim zurückgekommen. Der zweite Vortheil ist, daß man, in diese Zunft eingetreten und eingeweiht, über alle Dinge dieser und jener Welt urtheilen kann und darf, auch über solche, die man nur den Namen nach, im Uebrigen aber gar nicht kennt und nicht das Geringste davon versteht. In allen diesen Fällen, eröffnete mir nach meiner Aufnahme der Meister vom Stuhle der Zukunft, schreiben Sie nur vorsichtig in den allerweitesten und abstraktesten Allgemeinsätzen, mit Vermeidung aller Spezialitäten. Bringen dann unsre Gegner dergleichen konkrete Fakta, um [316] uns ad absurdum zu führen, so halten Sie ihnen nur die beiden Worte entgegen: „Mißverständniß oder Gehässigkeit“. Sagen Sie z. B. jedem, der sich gegen Sie zu erheben wagt: „Soweit ich diese Angriffe kennen lernte, habe ich darin immer nur ganz unglaubliche Mißverständnisse, oder die entschiedenste Gehässigkeit gefunden.“4 Weiter setzen Sie nichts hinzu, keinen einzigen Beweis etwa. Denn lassen Sie sich auf einen ein, so könnten die Adversaires5 alle verlangen, und Sie begreifen, daß nicht Alles, was gegen uns und unsre Zukunftsprophezeihungen vorgebracht wird, unter die unglaublichen Mißverständnisse oder die entschiedenste Gehässigkeit eingezwängt werden kann, wenn wir auch hierin thun was möglich. Uebrigens gebrauchen wir die Politik, uns nur selten selber zu vertheidigen. Wird einer von uns angegriffen, so treten sogleich einige Andere aus dem Bunde für ihn
3 Angehörige
von Söldnertruppen aus Nordafrika, die vor allem in französischen Diensten u. a. im Krimkrieg (1853 –1856) standen und für ihre Tapferkeit bekannt waren. 4 Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 126. Im Original ist der Satz gegen die Rheinische Musik-Zeitung gerichtet. Im darauffolgenden Abschnitt heißt es bei Brendel über den „Wohlbekannten“, alias Lobe: „Von Haus aus ein talentvoller Mann, liefert dieser ‚Wohlbekannte‘ einen traurigen Beleg, über die Beschaffenheit der früheren, jetzt glücklich beseitigten Musikschriftstellerei. Es ist die entschiedenste Confusion, die wir vor uns haben, die ausgesprochenste Unklarheit im Princip. Das subjective Meinen, die Willkür der Ansichten, die Halbheit hat hier ihre Spitze erreicht, und es erklärt sich hieraus die ergötzliche Vermischung von Zopfthum und Frivolität, die überall sich kundgiebt. Keine der ausgesprochenen Ansichten ist ganz verkehrt, aber auch keine ganz richtig, charakterlose Gestalten bewegen sich in verschwimmenden Umrissen bunt durcheinander“ (ebd., S. 126 f.). 5 (Frz.) Gegner.
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in die Schranken, und wie wir die Gegner durchzuhauen verstehen, können Sie ja aus unsrer bekannten Polemik leicht ersehen. Unser Grundprinzip in dieser Beziehung ist, Alle, die nicht für uns sind, als verächtliche Dummköpfe zu denunciren. Um dieses Grundthema immer neu und pikant variiren zu können, haben wir aus dem Wörterbuch der deutschen Sprache alle diejenigen Ausdrücke ausgezogen, welche unter die Rubriken „Spott“ und „Hohn“ zu bringen waren. Es ist ein ansehnliches Heftchen geworden, das wir auswendig lernen müssen, damit wir den kräftigen Inhalt desselben jederzeit gegenwärtig haben und überall hinschleudern können. Sie glauben nicht, welche Gewalt wir durch dieses energische Mittel schon über die Männer der elenden Gegenwart gewonnen haben. Selbst manche Gegner, die durch unsre Kunst zu spotten und zu verhöhnen für ihren Schriftsteller- oder Komponistenruhm fürchten, sind wenigstens scheinbar zu unsrer Partei übergetreten, wagen sich mit ihren alten Ansichten nicht mehr hervor, oder wickeln sie so dicht und dick in unsre Zukunftsphrasen ein, daß die gewöhnliche Lesewelt sie für Unsresgleichen nimmt, und nur die Schärfersehenden ihre ängstlichen und ärgerlichen Windungen unter unsern Füßen bemerken. Ein unschätzbarer Vortheil ist vor Allem der, daß Jeder, der Mitglied unsres Bundes geworden, augenblicklich auf die höchste Staffel des Ruhmes, als unsterblicher Schriftsteller oder Componist der Zukunft getragen, oder besser gesagt, geschnellt wird. Die früheren gewöhnlichen Genies mußten erst viele mühsame Kunstthaten verrichten, dann erst und sehr spät schlich die Schnecke Ruhm langsam mit ihrem Kranze heran. Wir neuern Dichter oder Komponisten machen blos bekannt, daß wir Unerhörtes und Erstaunenswürdiges leisten wollen, – sogleich verkündet unser Bund, das geehrte Mitglied werde es sicher in Kurzem vollbringen und der Welt zeigen.6 Bleibt das Versprochene auch aus, oder zeigt es sich als etwas ganz Anderes, ja gänzlich Mißlungenes, wir rühmens als Zukunftliches fort und fort, und den Ruhm hat der Gefeierte einmal weg. [317] Aber nicht allein positive Lobesartikel werden für unsre Mitglieder mit energischer und ununterbrochener Emsigkeit fort und fort in alle zugänglichen Journale geworfen, wir ergreifen auch jede Gelegenheit negativ dadurch für sie zu wirken, daß wir alle Bestrebungen uns nicht Angehöriger herunterziehen, verächtlich und lächerlich machen. Ist in irgend einer Stadt ein Konzert, eine Oper früherer oder wenn auch neuerer, doch nicht dem Bunde eingeschworener Künstler bei vollem Hause und mit glänzendem Beifall gegeben worden, so wird eine solche Stadt wegen ihres antiquirten, unzukunftlichen Geschmacks unter die Abderiten7 einrangirt. Ja, wo wir es für nützlich halten, sprechen wir den Bann der Verachtung über ganze Provinzen aus, die von unsren Leuten nichts wissen wollen.8
6 Der
Autor spielt hier möglicherweise auf solche Berichte aus Weimar an, in welchen die gegenwärtigen und zukünftigen Werke der Weimarer Liszt-Schüler aufgezählt werden (siehe etwa Pohl 1856 Vertrauliche Briefe aus Weimar). 7 Bezeichnet ursprünglich Einwohner der antiken Stadt Abdera, die als ‚Schilda‘ Griechenlands zweifelhaften Ruhm genoss. Seit Christoph Martin Wielands Roman Die Abderiten. Eine sehr wahrscheinliche Geschichte von Herrn Hofrath Wieland (ED 1774 –1780) war der Begriff auch in Deutschland ein Synonym für einen Einfaltspinsel. 8 Vgl. etwa die Streitigkeiten im Anschluss an das Karlsruher Musikfest (siehe hierzu etwa Pohl 1853 Briefe aus C arlsruhe IV,
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Eines der vortrefflichsten, wirksamsten politischen Mittel, unsre Gegner unschädlich zu machen, besteht darin, daß wir sie sämmtlich für unbedeutend und vollständig abgethan erklären. Die Hauptformel, welche wir dazu verwenden ist ganz kurz: „Schon jetzt sehen wir diese Stimmen (gegen die Propheten) zum Schweigen gebracht.“9 Obgleich das nicht wahr ist, dieselben in ihren verdammten Blättern immerfort raisonniren, so glauben doch alle diejenigen daran, die überhaupt an uns glauben, und wir dürfen die Behauptung jetzt umsoweniger unterlassen und aussetzen, als sich hie und da einige Lauheit gegen unsre Zukunftsbestrebungen zu zeigen scheint. Es gibt leider noch immer viele schwache und gemeine Seelen, die lieber ein miserables Gericht der Gegenwart genießen, als sich mit der bloßen Aussicht auf die idealsten Mahlzeiten der Zukunft vertrösten und abspeisen lassen wollen. In der Kunst, unsre Bundesbrüder in den hellsten Glanz des Tages, alle anderen Künstler in die dunkelsten Schatten der Nacht zu placiren, erhält jeder Neueintretende förmlichen und gründlichen Unterricht. Da aber unsre Mitglieder nicht gleicher Natur sind und nicht gleichen Bildungsgang durchgemacht haben, so kann es vorkommen und kommt vor, daß man dieselben Eigenschaften an dem Einen lobenswürdig an dem Andern tadelnswürdig darstellen muß. Meine erste Uebung, welche mir darin aufgegeben wurde, bestand darin, an Y. das Hinterderschuleweglaufen und die Faulheit, alsdann an Z. den regelmäßigen Schulbesuch und den Fleiß als geniale Eigenschaften zu perlustriren. Gleich die Lösung dieser Doppelaufgabe wurde als ziemlich gelungen anerkannt. Sie werden mir die kleine Eitelkeit nicht übelnehmen, die mir erlaubt, Ihnen diese Probe meines Talentes hier in einem kurzen Auszuge mitzutheilen.
Y. „Jene philiströse, bei den gewöhnlichen Menschen stets anzutreffende maschinenhafte Abwickelung aller Schulaufgaben, jener lächerliche Eifer, welcher jede verschwänzte Lektion für einen unersetzlichen Verlust, für ein nie wieder zu [318] sühnendes Verbrechen hält, jene blinde Ehrfurcht vor der Autorität des verknöcherten, zäh am Alten klebenden Lehrers, besaß unser erhabener Mitbruder Y. freilich und glücklicherweise nicht. In ihm brütete bereits das Genie der Zukunft. Er ging gleich an den Umsturz aller Regeln, welche ihm als verschimmelter Brei eingegeben werden und seinen genialen Magen verderben sollten. Er hörte zwar nicht darauf und kannte sie folglich nicht, aber er mißbilligte sie vollständig. Und so gelang es ihm, seine Originalnatur von dem Schmu[t]z gemeinen Wissens unbefleckt, und von dem Schweiß des Fleißes unermattet in schöpferischer Frische zu erhalten.“
in: NdS 1 Nr. 51), welches eine polemische Auseinandersetzung um die ‚Rückschrittlichkeit‘ des Musiklebens in Süddeutschland im Verhältnis zum ‚fortschrittlicheren‘ Norden nach sich zog (siehe Bülow 1853 Die Opposition in Süddeutschland, in: NdS 1 Nr. 54 sowie J. B. 1854 Die Opposition Süddeutschlands, in: NdS 1 Nr. 60). 9 Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart, S. 127.
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Z. „Jener leider bei so vielen Kunsttalenten anzutreffende Glaube, daß regelmäßiger Schulbesuch, Eifer und Fleiß im Lernen, daß die Benutzung der Erfahrungen des Lehrers dem ächten Genie nicht nur nicht förderlich, sondern der freien und frischen Entwickelung seiner ursprünglichen Originalität eher hinderlich sei, diesen eben so falschen als lächerlichen Glauben theilte unser erhabener Mitbruder Z. freilich und glücklicherweise nicht. Er brütete nicht über den Umsturz von Regeln, die er noch nicht kannte, blos weil es Regeln seien, sondern er wußte aus der Geschichte, daß gerade die größten Genies auch die fleißigsten gewesen waren, und er sah ein, daß er erst vollständig das kennen und nachmachen lernen müsse, was die Besten vor ihm gemacht hatten, bis er daran gehen könne und dürfe, sie in irgend etwas zu verbessern und zu übertreffen. Er wußte, daß Mozart seine Vorgänger, Beethoven Mozart durch und durch studirt und zuerst fast sklavisch nachgeahmt hatten, ehe diesen Meistern die Kraft und der Muth gekommen, weiter und über ihre Vorbilder hinaus neue Schritte zu wagen.“ U. s. w. Auf diese Weise sehen Sie wohl ein, können wir bei allen denen, die wir erheben wollen, so verschiedenartig naturt10 sie sein mögen, wenn sie nur zu unsrer Fahne schwören, niemals in Verlegenheit kommen, und die Apotheose ist für Jeden leicht zu finden. Auch in der Kunst, die musikalische, dichterische, malerische u. s. w. Zukunft zu prophezeihen, erhalten die neuen Mitglieder, wie die Kinder der Zigeuner, Unterricht. Es werden ihnen zuerst kleine Aufgaben leichter Art in einfachen Fragen vorgelegt, welche sich noch in der Gegenwart erfüllen können oder auch nicht, z. B. habe ich als erste Aufgabe die Frage erhalten: „Aus welcher Tonart wird gehen, aus wieviel Sätzen wird bestehen, und welche neue Form wird haben die erste Sinfonie von Brahms?“11 Als zweite Prophezeihungsübung wurde mir diktirt: „Wie wird heißen, wo und in welchem Jahre wird geboren werden der Komponist, der die erste durchaus nur in Recitativen gehaltene Oper schafft? In welchem Lebensjahre wird er sie anfangen – (es sind Tag und [319] Stunde genau anzugeben), in welchem vollenden? Wie wird sie heißen? Welcher Maler wird die Dekoration malen, welcher Baumeister die Architektur, welcher Dichter die Worte besorgen? An welchem Orte wird sie zuerst aufgeführt werden? Wie wird das Publikum sie aufnehmen? Es sind Name und Charakter jedes Einzelnen genau zu bestimmen. Wie wird sie in den nothwendigen Entwickelungsgang einrangirt?“ u. s. w.12 – Ich habe in der Beantwortung
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naturen (Verb): natürlich schaffen, bilden, eine Natur verleihen. 11 Nachdem Robert Schumann in seinem berühmten Artikel „Neue Bahnen“ (Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49) Brahms als „Berufenen“ angekündigt hatte, und von ihm die Komposition von Orchesterwerken angemahnt hatte, wartete die musikalische Öffentlichkeit auf die erste Symphonie des jungen Künstlers, welche das kompositorische Erbe Beethovens antreten solle. Letztlich beendete Brahms seine Symphonie Nr. 1 c-Moll op. 68 erst 1876, welche auch im selben Jahr uraufgeführt wurde. 12 Wohl eine Anspielung auf die Aussagen Wagners in dessen Eine Mitteilung an meine Freunde, seine bisher komponierten Opern seien nicht mit seinen in Oper und Drama (ED 1852) entwickelten Theorien zu identifizieren, sowie die ebenfalls in der Schrift veröffentlichte Ankündigung des Komponisten, seinen Ring des Nibelungen „[a]n einem eigens dazu bestimmten Feste […]
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dieser Fragen allerdings noch einige Versehen gemacht, z. B. den Namen des Komponisten „Fitzliputzli“13 genannt, während mein Meister ihn als „Ferdinand Unbestimmt“ bezeichnet.14 Indessen bin ich auch zur Zeit nur noch Lehrling, und – kein Meister wird geboren, äußerte neulich mein Lehrherr, um mich zu trösten. Ich tröstete mich. Nachschrift. Wenn Sie Mitglied werden wollen, sollen Sie nächstens eine gediegene Zukunftsarbeit von mir für Ihre fl. Bl. f. M. erhalten.
Kommentar Nachdem Johann Christian Lobe kurz zuvor in seinen Fliegenden Blättern emphatisch darauf hingewiesen hatte, es sei die „Pflicht eines jeden, der es treu mit seiner Kunst meint“, „unablässig“ vor den „falschen Propheten“15 zu warnen, so kann die vorliegende Satire gleichsam als Erfüllung dieser Aufforderung verstanden werden. Konkreter Anlass für den vorliegenden Beitrag dürften (überwiegend positive) Besprechungen von Werken junger Komponisten wie Joachim Raff16 und Rudolph Viole17 in der NZfM durch mit diesen zum Teil freundschaftlich verbundene Kritiker18 gewesen sein, welche die rezensierten Künstler als Vertreter der ‚weimarischen Schule‘ oder der musikalischen ‚Fortschrittspartei‘ dem Publikum anempfehlend präsentiert hatten. Das in diesen Rezensionen erkennbare Schwanken in der Beurteilung zwischen historischem Gattungsrückbezug und kompositorischer Innovation bot bereits zuvor anderen Zeitschriften wiederholt Anlass zu kritischen Äußerungen über diese Art der ‚parteiinternen‘ Musikkritik.19 Auch wenn Lobe im vorliegenden fiktiven Anwerbungsversuch für die ‚Zukunftsmusik‘ einige seiner in früheren Artikeln veröffentlichten Positionen erneut aufgreift, wie etwa sein Vorwurf gegenüber den Akteuren Brendel, Liszt, Wagner und deren Mitstreitern, sich im
dereinst im Laufe dreier Tage mit einem Vorabende jene drei Dramen nebst dem Vorspiele aufzuführen“ (Wagner 1852 Drei Operndichtungen nebst einer Mittheilung an meine Freunde, in: Wagner-Schriften 4, S. 343 f.). Die Uraufführung des Werkes fand jedoch erst im Jahr 1876 statt. 13 „Fitzliputzli“ ist der in Europa gebräuchliche, verballhornte Name des aztekischen Gottes Huitzilopochtli, der als Empfänger von Menschenopfern die Phantasie der Menschen des 19. Jahrhunderts beschäftigte. 14 Lobe spielt hier möglicherweise auf die unter dem Pseudonym „K. Freigedank“ in der NZfM erfolgten Veröffentlichung von Wagners Aufsatz „Das Judenthum in der Musik“ (Wagner 1850 Das Judenthum) an. 15 Lobe 1856 Woher ist das Reden, S. 300. 16 Siehe Klitzsch 1855 Joachim Raff’s Compositionen. 17 Siehe Bülow 1855 Rudolf Viole. 18 So habe sich Hans von Bülow gegenüber Joachim Raff „bei Ehrenwort verpflichten müssen nie Etwas gegen mich [Raff] abzudrucken“ (Brief von Raff an seine Verlobte Doris Genast vom 29. Oktober 1853, Quelle: De-12, Raffiana II, unkatalogisiert, unpaginiert, 4 S., S. 1). 19 Siehe etwa Anonym 1855 Moderne Kritik, in: NdS 2 Nr. 71.
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Medium der Musikjournale als ‚Partei‘ zu inszenieren, um dadurch propagandistisch für ihre Positionen einzutreten, so gelingt es Lobe hier zugleich, bislang weniger thematisierte ambivalente Positionen der Gruppierung aufzuzeigen. Hierzu zählen etwa die immer wieder betonte Individualität und Subjektivität des jeweiligen Komponisten und die gleichzeitige Existenz einer „Schule“20 sowie die erkennbar ambivalente Haltung gegenüber dem (unreflektiert angewendeten) kompositorischen Handwerk, das zuweilen als „Zopf“ abqualifiziert,21 dessen Beherrschung aber auch wieder dezidiert für sich in Anspruch genommen wurde.22 Die im Text angeführten Anspielungen auf die Freimaurerei, wie etwa die Erwähnung des „Meisters vom Stuhle der Zukunft“23, der die „Bundesbrüder“24 führt, oder auch die verwendete Hell-Dunkel-Symbolik tragen in ihrer Gleichsetzung der ‚Schule‘ mit Geheimbünden zu einer weiteren polemischen Diskreditierung der ‚Fortschrittspartei‘ bei. Vor allem aber ist es die geschichtsphilosophisch fundierte Musikkritik Brendels und dessen hegelianisch und jungdeutsch beeinflusste Terminologie, wie etwa das im vorliegenden Text zitierte „modernste Bewußtsein“25, die Lobe in ironischer Überzeichnung attackiert. So hatte Brendel in seinen Aufsätzen wiederholt eine Abkehr von einem unreflektierten Schaffen zugunsten eines geschichtsphilosophisch geschulten Komponierens gefordert, welche die jeweilige Individualität der Künstler zu Tage treten lasse. In einem nächsten Schritt würde diese gesteigerte Subjektivierung aber dialektisch zur Überwindung der Vereinzelung und gesellschaftlichen Isolation der Komponisten und der Musik insgesamt führen. So hieß es bei Brendel in einem Artikel aus dem Jahre 1849 etwa: „Das immer tiefere Hinabsteigen in den Schacht des Inneren, in die Tiefen der Subjektivität ist der Gang der modernen Entwicklung. Das Ziel dieses Weges ist jetzt, so weit wir ermessen können, erreicht durch diese tiefste Besinnung und Einkehr des Subjekts in sich selbst. Trotz dieser Innerlichkeit ist indeß hierdurch zu gleich die Stufe erreicht, welche eine Hingebung an das Allgemeine, ein Leben im Ganzen, eine Sympathie mit den Bewegungen der Gegenwart […] im erhöhteren Grade, als es früher der Fall war, möglich macht“26. Lobe griff eine solche, von ihm als dilettantisch abgelehnte,27 spekulative Musikkritik und -Publizistik nicht nur im Falle der Schriften Brendels, sondern auch in denen des Wiener Kritikers Leopold Alexander Zellner wiederholt an.28 So heißt es etwa in einem seiner letzten Beiträge für die Fliegenden Blätter aus dem Jahre 1857: „Um der Phrase ‚modernes Bewußtsein‘ in dem Sinne von höherer Kunsteinsicht in Bezug auf Musik einen Funken Vernunft übrig zu lassen, müßte man annehmen, daß bis vor dem letzten Decennium unseres Jahrhunderts kein Komponist über seine Kunst nachgedacht habe. Es gibt jetzt in der Welt gewisse Leutchen, welche sich steif und fest einbilden, daß ihre Einsichten den größten früheren Meistern böhmische Dörfer gewesen seien“29. Damit ist der vorliegende Artikel ein weiteres Beispiel für die ambivalente Haltung Lobes gegenüber der ‚Zukunftsmusik‘, da er scharf zwischen den Künstlern selbst – wie Liszt, Wagner und Berlioz –, deren Schaffen
etwa Brendel 1857 Betrachtungen beim Jahreswechsel, S. 2, in: NdS 2 Nr. 101, S. 1246. 21 Siehe etwa Cornelius 1854 Concertmusik, in: NdS 2 Nr. 69. 22 Siehe etwa Draeseke 1856 Richard Wagner, in: NdS 2 Nr. 87; vor allem aber Weitzmann 1857 Zukunftsmusik, in: NdS 2 Nr. 113. 23 Vorliegender Artikel, S. 1153 [315]. 24 Ebd., S. 1155 [317]. 25 Ebd., S. 1152 [314]. 26 Brendel 1849 Das Bewußtsein der Neuzeit, S. 239. 27 Vgl. zu Lobes Kunstansichten insgesamt Brandt 2002 Johann Christian Lobe, S. 200 – 296. 28 Siehe Lobe 1856 Das Gespenst der Zukunft, in: NdS 2 Nr. 98. 29 Lobe 1857 Revue der Zeitphrasen, S. 460. 20 Siehe
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er wiederholt mehr oder weniger positiv besprach,30 unterschied und den vor allem oder ausschließlich schriftstellerisch für die Komponisten eintretenden Autoren, welche er wiederholt in polemischer Schärfe attackierte.
30 Siehe etwa Lobe 1845 Malende Instrumentalmusik, in: NdS 1 Nr. 2 sowie Lobe 1856 Briefe über Liszt’s Symphonische Dichtungen, in: NdS 2 Nr. 99.
Nr. 94 | Louise Otto, „Das Ewig-Weibliche in dem neuen Kunststreben“, in: Anregungen 1 (1856), Nr. 5 [September/Oktober], S. 216 – 220.
Das Ewig-Weiblichein dem neuen Kunststreben.
„Das Unbeschreibliche Hier ist es gethan, Das Ewig-Weibliche Zieht uns hinan.“1 Göthe. Sowol der Herausgeber dieser Blätter wie seine Mitarbeiter haben es wiederholt ausgesprochen, daß „eine möglichst allseitige Betheiligung“ an den Anregungen2 wünschenswerth sei, weil nur dadurch ihr Zweck der Vermittlung und Verständigung erreichbar. Es möge daher nicht befremden – noch denke ich daß es in einem Kreise der mit den alten Anschauungen vergangener Zeiten gebrochen hat und nach neuen Formen für seine neugestaltenden Ideen sucht, einer Entschuldigung bedarf – wenn auch eine weibliche Stimme in die Discussion der hier angeregten Fragen sich mischt, und vom speciell weiblichen Standpuncte ein, wenn auch immerhin subjectives Gutachten abgiebt. Mannichfache Gründe könnt’ ich für diese Betheiligung anführen: dem Herausgeber wie seinen Freunden und Mitarbeitern gegenüber: meine frühere Mitarbeiterschaft an der „Neuen Zeitschrift für Musik“3 und ein langjähriges Begreifen und Sympathisiren mit seinem Standpunct; – den Wagnerianern: eine Zuschrift Richard Wagner’s an mich, nachdem er meine Broschüre „die Kunst und unsere Zeit“4 gelesen, wie sehr er sich freue daraus gesehen zu haben, daß ich „ganz von selbst“ zu den gleichen
Wolfgang von Goethe, Faust II, 5. Akt, „Bergschluchten“, Schlussverse aus dem „Chorus mysticus“, V. 12104 –12111. 2 Siehe Anonym [**] 1856 Das epische Gedicht und die Musik, S. 77. 3 Die persönliche Bekanntschaft Louise Ottos mit Franz Brendel geht auf das Jahr 1842 zurück, als sie seine vielbeachteten musikgeschichtlichen Vorträge in Dresden besuchte und dabei auch Lysinka (Elisabeth) Trautmann (1814 –1866), ab November 1844 Brendels Ehefrau, kennenlernte. Nachdem der Plan Brendels, 1844 in Dresden eine Frauenakademie zu gründen, zu der er auch Otto als Dozentin gewinnen wollte, an seiner Übersiedelung nach Leipzig im November 1844 gescheitert war, veröffentlichte Brendel in der NZfM ab 1845 mehrere, zum Teil umfangreiche Aufsätze der Autorin. Siehe etwa Otto 1845 Die Nibelungen als Oper sowie Otto 1847 Parteien – Cliquen, in: NdS 1 Nr. 6. Vgl. hierzu insgesamt Ludwig 2007 Das Nibelungenlibretto von Louise Otto-Peters, S. 213. 4 Otto 1852 Die Kunst und unsere Zeit. In der bereits 1847/1848 verfassten Schrift forderte 1 Johann
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Anschauungen über die Kunst der Gegenwart gekommen;5 – den Göthianern: [217] außer dem gewählten Motto auch: „wollt Ihr erfahren was sich ziemt, fragt nur bei edlen Frauen an“6 – den Tonkünstlern die Erinnerung an einen auf der Leipziger Tonkünstlerversammlung 1847 von mir, damals gewagten Toast: „Wer Etwas will und strebt, bekenn’ es frei! Recht’ oder link’! – es lebe die Partei!“7 – und so Vieles noch für Viele; – Allen aber und fern von allem Persönlichen, eignen wie fremden, daß es Einseitigkeit ist, wenn in dem großen Entwicklungsproceß der Kunst das EwigWeibliche keine Stimme hätte, und daß es nicht das Vorrecht einer von seiner Bedeutung durchdrungenen Frauenseele, sondern die Pflicht derselben ist über diese Bestrebungen auf dem Gebiete der Kunst sich klar zu werden und die eignen Anschauungen Andern klar zu machen. Auch das führt zur Verständigung. Es ist wahrhaftig noch kein Zugeständniß an die viel verdrehte Idee der Frauenemancipation, wenn man es unbestreitbar findet, daß sowol das „Volk“ als das „Publicum“ aus Männern und Frauen besteht, ja daß oft, wenn nicht in den Theatern, doch in den Concertsälen die Frauen der überwiegende Theil sind; daß mithin nicht gleichgültig sein kann, was diese eine Hälfte von dem Kunstwerk urtheilt und versteht – oder dabei empfindet – um mit diesem Ausdruck all Denen Rechnung zu tragen, welche wollen, daß Frauen Nichts beurtheilen und verstehen, sondern nur in Empfindungen weben und schweben sollen. Im Grunde haben die Anregungen an mir nur ihren Zweck erfüllt. Wenn in dem Aufsatz: „Richard Wagner’s Operntexte“ (Heft II.) der Verfasser sagt: „daß jedes noch so kleine Gedankenkörnchen freier Unbefangenheit und wahrhafter Ueberzeugung doch auch der Wahrheit dienen hilft“8, so kann ich das ohne Weiteres als ein Motto für mich brauchen. Zugleich aber erschien es mir wie eine Verpflichtung demselben Verfasser gegenüber, Wagner’s Frauencharaktere zu vertheidigen und vom Standpunct des Ewig-Weiblichen aus zurückzuweisen was hier gesagt worden9 –
Otto eine „Kunst für Alle“ und die Öffnung der „Kunsttempel“ (ebd., S. 199) für die finanziell Unbemittelten. 1853 hatte die Autorin das Buch dem im Schweizer Exil lebenden Wagner durch ihre Schwester Antonie Dennhardt zukommen lassen (vgl. Ludwig 2007 Zu Louise Otto-Peters’ Auffassung von Kunst und zu ihrem künstlerischen Schaffen, S. 198). 5 Richard Wagner in einem Brief an Louise Otto vom 26. September 1853, in: Wagner-Briefe 5, S. 439. Darüber hinaus beglückwünschte Wagner die Autorin für ihre „Kühnheit“ und ihr „Sichselbstgetreusein“ (ebd.). 6 Im Original heißt es: „Willst du genau erfahren was sich ziemt, / so frage nur bei edlen Frauen an“ (Goethe, Torquato Tasso, 2. Aufzug, 1. Auftritt, V. 10013 f.). 7 Auf Initiative Franz Brendels hatten sich am 13. und 14. August 1847 rund 150 Musiker, Komponisten und Musikschriftsteller in Leipzig zusammengefunden, um im dortigen Gewandhaus eine sogenannte „Tonkünstlerversammlung“ abzuhalten (siehe Brendel 1847 Ein Vorschlag). Dazu hatte Brendel Otto aufgefordert, eine „poetische Begrüßung“ zu verfassen (Otto 1847 Den versammelten Tonkünstlern, S. 81). Vgl. insgesamt hierzu Ludwig 2007 Das Nibelungenlibretto von Louise Otto-Peters, S. 215. 8 Schloenbach 1856 Richard Wagner’s Operntexte, S. 69. 9 Arnold Schloenbach hatte kritisiert, Wagners Opernhelden seien „keine Menschen, sondern Schemen, Allegorien, idealische Nebelbilder“ (ebd., S. 72). Dies gelte insbesondere für dessen weibliche Charaktere: „So kann uns denn nun auch die Aufopferung Senta’s für einen solchen ‚Helden‘ [den Holländer] kein tragisches Interesse abgewinnen und da diese Liebe und Opferung außerdem noch sehr unmotivirt bleibt, so ist uns dieselbe weit mehr ein krankhaftes Gelüste, als eine organisch bedingte und wachsende That“ (ebd.).
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die Rückweisung von anderm Standpunct Andern überlassend. Auch die zwei ** in Heft III. sind darauf nicht vollständig eingegangen,10 wenn schon mit allem dort Ausgesprochenen meine Ansichten harmoniren. Ich will nicht breit und langweilig werden durch Wiederholung des früher hier Gesagten: die Leser werden schon selbst herausfinden, welche Anregungen die meinigen gefördert. – Zuerst zur Verständigung des Titelwortes. Mann und Weib sind aus der Hand der Gottheit oder der Schöpfung – wie man es nennen will – als zwei ebenbürtige Geschöpfe hervorgegangen; aber die Verschiedenheit der physischen Eigenthümlichkeit macht sich auch im Seelenleben geltend. Die Ausgleichung dieser Verschiedenheit ist gegeben in der Vereinigung [218] beider. Der Mann an sich, und das Weib an sich sind gleich bedeutende Einzelheiten; erst wenn beide vereinigt bilden sie ein Ganzes. So wollte es die Weisheit der Schöpfung. Bei den Bestrebungen dem weiblichen Geschlecht zu seinen Rechten zu verhelfen, kommt es gerade darauf an: das wahrhaft Weibliche zu wollen, frei zu machen von einem einseitigen Verstandesdespotismus, wie er nach und nach von den Männern ausgebildet worden, und worunter nun das weibliche Geschlecht nicht allein, sondern der ganze bessere Theil der Menschheit leidet. Was dem Weibe von der Gottheit als Erbe übergeben worden in seiner ganzen Macht und Heiligkeit zur Geltung zu bringen, gegen die Uebermacht einer entweder kalten oder brutalen Kraft – das sollte kein vergebliches Streben sein bei der allgemeinen Entwicklung. – Dies Ewig-Weibliche, das jetzt nur in der Liebe der einzelnen Individuen, in der wahren Liebe des Mannes zum Weibe, von jenem in diesem erkannt, den liebenden und geliebten Mann „hinanzieht“ zu höherer Veredlung, dies Ewig-Weibliche muß in den Frauen zum Bewußtsein und in der Menschheit zur Geltung gebracht werden, damit es nicht nur die Einzelnen, sondern die ganze Menschheit „hinanziehe“ zu höheren Standpuncten, zum Ziel der Vollendung. – Das Ewig-Weibliche an sich ist der Kunst verwandt. Darum hat es mit ihr auch das gemein für die Oberflächlichen – und sollten sie sich auch Philosophen nennen – für viele abstracte Denker – für die Verstandesmenschen – für die Profanen, die vor lauter Realismus nicht zum Begriff des Schönen kommen können, – für die Nüchternen, für die es keinen Unterschied giebt zwischen dem Wahren und dem Wirklichen – für alle diese und viele ihres Gleichen eine terra incognita zu sein, oder ein nebelhafter Schemen, oder doch ein überflüssiges Element. Daher ist jene Versündigung an der Menschennatur gekommen, die Kunst als ein verweichlichendes Element im Leben der Völker bei Seite schieben zu wollen, so wie durch einseitige Verstandesbildung das Wesen des Ewig-Weiblichen, die Bildung der Begeisterung des Herzens zu vernachlässigen, wodurch man denn allerdings erreichte, daß die Kunst wirklich herabsank zur unwürdigen Künstelei, und daß statt des Ewig-Weiblichen nur sein Zerrbild das Endlich-Weibische zur Erscheinung kam – und das führt wieder als eine Schraube ohne Ende und ein Rad im Kreise zur Entschuldigung für Jene, welche die Kunst und das Weibliche verwerfen, weil sie nicht im Stande sind
Anonym [**] 1856 Richard Wagner’s Operndichtungen. In dem Artikel ist der Verfasser darum bemüht, die Kritik Schloenbachs zu entkräften, Wagners Opernhelden hätten den Boden des „Reinmenschlichen“ verlassen. Die Frauenfiguren werden dabei aber ausgespart. 10 Siehe
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aus dem widerwärtigen Zerrbild die göttliche Gestalt des Urbildes herauszubilden, oder nur heraus zu construiren. – Wenn ich in Richard Wagner den Genius der Zukunft erkenne, so finde ich eine Bürgschaft dafür auch darin: daß er das Ewig-Weibliche er-[219]kannt hat, daß er es in seinen Werken zur Verklärung bringt und es selbst diese verklärt – und dies ist es was mich besonders trieb in dieser Sache die Feder zur Hand zu nehmen. Sehr treffend finde ich es, wenn der Herausgeber dieser Blätter in den Anmerkungen zu dem schon beregten Artikel in Heft II. sagt: daß „Wagner’s Opern bei der übergroßen Mehrzahl bereits ein sicheres Gefühlsverständniß gefunden.“11 Ich will hier auch nur von einem solchen reden und im Namen eines solchen. – Von allen Frauen der verschiedensten Bildungs- und Lebensphären, die ich kenne, wüßte ich kaum ein Zehntel herauszufinden, die Wagner’s Opern gehört und sie nicht allen andern vorzögen, nicht für dieselben schwärmten. Und jenes Zehntel besteht aus blasirten Berlinerinnen – wenn auch nicht in Berlin heimisch, doch dieser Gattung durch Verbildung und Gefühlsarmuth angehörend – aus einer älteren Generation, die durch italienischen Ungeschmack verdorben – oder aus conservativen Anhänge rinnen musikalischer Zöpfe12, die über Weber und Mozart nicht hinauskommen oder nur gehorsam nachsprechen was jene geurtheilt. – Von den andern neun Zehnteln haben die Wenigsten nur Wagner’s Schriften gelesen, noch haben sie einen Begriff von dem „Kunstwerk der Zukunft“, noch überhaupt davon gehört, daß es auf dem Gebiet der Kunst zu einem ernsten Kampf gekommen und Wagner zum Bannerträger der Zukunft geworden. Ohne an Partei und Zukunft zu denken sind sie Wagner’s Jüngerinnen und lauschen und huldigen dem Genius mit allen andächtigen Empfindungen vorurtheilsfrei bewahrter Herzen. Allein durch unverfälschtes Gefühl und rein bewahrten Sinn fühlen sie sich zu einem Kunstwerk hingezogen und durch dasselbe begeistert, dessen Schöpfer selbst im Heiligthum der Kunst als Hoherpriester begeistert einen reinen Cultus begeht. Sie fühlen sich selbst geweiht und hinangezogen. – Es war immer so in der Geschichte, was man auch von gewissen Seiten hat in neuester Zeit dagegen sagen mögen: die Frauen sind immer mit unter den Ersten gewesen, die den Genius, der neue Bahnen brach und wandelte, damit auch ihnen die Menschheit nachkomme, erkannten und folgten, und sei es nur weil sie, wie Göthe sagt: „ahnungsvoll sind, daß man erschrickt.“13 Seit jenem leuchtendsten Vorkämpfer in der Geschichte der Menschheit, Jesus Christus, bei dem die Frauen allein ausharrten, wo ihn der eine Jünger verrieth, ein zweiter verleugnete,
11 Das
Zitat findet sich in einer Anmerkung Brendels zu Schloenbachs Artikel (Schloenbach 1856 Richard Wagner’s Operntexte, S. 68). 12 Der Zopf galt seit der Französischen Revolution sowohl in Frankreich, wo die Zopfperücke nur noch in konservativen Kreisen getragen wurde, als auch in Deutschland als Ausdruck konservativer Gesinnung und wurde in diesem Sinne häufig als Symbol für einen konservative musikalische Haltung auf Seiten der ‚Zukunftsmusik‘ zur Charakterisierung ihrer Gegner verwendet. Siehe hierzu auch etwa Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67 sowie H – L. 1857 Der Zopf als Schreckbild, in: NdS 2 Nr. 103. 13 Goethe, Die Wahlverwandtschaften (ED 1809), 1. Teil, 1. Kapitel. Das Zitat lautet im Zusammenhang: „Auf diese Weise wäret Ihr Frauen wohl unüberwindlich, versetzte Eduard: erst verständig, daß man nicht widersprechen kann, liebevoll, daß man sich gern hingibt, gefühlvoll, daß man Euch nicht weh tun mag, ahndungsvoll, daß man erschrickt“, in: Goethe-Werke 8, S. 277.
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die andern schliefen und dann davon liefen – weshalb er – tief bedeutsam – auch ihnen zuerst als der Erstandene erschien14 – waren die Frauen die ersten und treuesten Anhängerinnen aller großen Geister, der Künstler und Meistersänger, der Reformatoren, der Heroen der deutschen Literatur, Schiller und Göthe und [220] Jean Paul. Darum erscheint es mir auch nicht bedeutungslos, ihr Verhalten zu Wagner kennen zu lernen. – Wie aber sollten sie sich nicht begeistern für den Schöpfer einer Irene – Senta – Elisabeth – Elsa?15 Unter diesen verschiedenen Frauencharakteren treffen wir in jeder Oper Wagner’s die edle Gestalt, in der sich das Ewig-Weibliche manifestirt. In Senta’s Aufopferung für den „fliegenden Holländer“16 ein „krankhaftes Gelüst“ zu finden,17 wird einer weiblichen Zuschauerin undenkbar sein. In Senta zeigt sich mir die barmherzige edle Frauenseele, die den Gedanken der Verdammniß eines Geschöpfes nicht ertragen kann, – die auch, wenn der Geliebte ein fluchbeladener wäre, darin kein Hinderniß ihrer Liebe findet, sondern das Werk der Erlösung als Aufgabe ihrer Liebe erkennt. Jedes weibliche Herz wird ihr im Echo die Worte nachrufen: „Ach, wenn Erlösung ihm zu hoffen bliebe – Allewiger, durch mich nur sei’s!“18 Und wenn sie dann, da sie ihn nicht lebend erlösen kann, für und mit ihm untergeht – so erscheint mir das so einfach im Wesen eines liebenden Weibes begründet, daß ich kaum begreife, wie ein gewöhnlicher Mann, viel weniger aber wie ein Dichter in ihrer Aufopferung keine organisch bedingte That finden kann. Wahrlich! Wenn Wagner’s Helden, wie A. Schloenbach sagt „Außerhalb seiner Sehweite“19 liegen – seine Frauen liegen nicht außerhalb der meinen – und wenn Wagner Nichts weiter geschaffen hätte als diese Senta, die Elisabeth und Elsa, so würde ich ihn verehren als tiefen Kenner der Frauennatur, als ihren Verherrlicher, als einen Hohenpriester am Altar des Ewig-Weiblichen. – In Elisabeth manifestirt es sich am Herrlichsten. Sie ist das Ewig-Weibliche selbst, das den Geliebten nicht verdammt; selbst wo er gesündigt, wo ihn Alle verdammen und von ihm fliehen, darf die reine Jungfrau zu aller Schrecken sich ihm nahen und Worte voll Trost und Vergebung haben – und wenn nicht im Leben, so kann sie ihn im Sterben erlösen, und statt mit dem Braut-, mit ihrem Todtengeläute ihn hinwegziehen von der Höhle der Versuchung – ihm ist vergeben, da ein Engel für ihn betet: das Ewig-Weibliche zieht ihn hinan. Auch Elsa ist kein „wesenloser Schemen“20, auch sie ist ein Spiegel schöner Weiblichkeit und wenn sie durch ihr gebrochenes Gelöbniß reines Herzens als dessen Opfer sinkt, so kann am Schluß, sollt’ ich meinen, wenigstens kein liebendes Herz den Eindruck haben, als sei Lohengrin nicht zugleich ein Opfer des tragischen Conflictes – der Liebe Glück ist vernichtet – was geht uns die weitere Existenz ohne Liebe an? – Louise Otto.
9 f. 15 Frauenfiguren aus Opern Wagners. 16 Wagner, Der Fliegende Holländer (UA 1843). 17 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 9. 18 Wagner, Der Fliegende Holländer, 2. Aufzug, 3. Szene. 19 Bei Schloenbach heißt es: „Er [Wagner] verließ das Gebiet des Reinmenschlichen, fuhr umher im Nebelland des Ueberirdischen, Uebersinnlichen und brachte uns abstracte Motive, die außerhalb unserer Sehweite liegen“ (Schloenbach 1856 Richard Wagner’s Operntexte, S. 72). 20 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 9. 14 Mt 28,
Otto 1856 Das Ewig-Weibliche
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Kommentar Mit dem vorliegenden Artikel der Schriftstellerin und Begründerin der deutschen Frauenbewegung Louise Otto (1819 –1895, ab 1858 verheiratete Otto-Peters) begegnet nicht nur das rare Beispiel eines Beitrags aus der Feder einer unter ihrem Klarnamen publizierenden Frau; darüber hinaus liegt hier innerhalb des damaligen musikalischen Parteienstreits der seltene Fall vor, dass dezidiert von einem „speciell weiblichen Standpuncte“ aus Stellung zu Fragen der damaligen musikalischen Gegenwart bezogen wurde. Mit ihrem Text – dem zweiten von insgesamt 16 Beiträgen in den bis 1861 erschienenen Anregungen21 – reagierte die Autorin auf die verschiedentlich (von männlicher Seite) vorgebrachte Kritik an der Charakterdarstellung in den von ihr schon früh22 bewunderten Bühnenwerken Wagners. Als Anknüpfungspunkt diente vor allem ein Aufsatz des Schriftstellers Arnold Schloenbach, welcher zuvor in den Anregungen insbesondere die Opferbereitschaft der Protagonistinnen Wagners als „sehr unmotivirt“23 und wenig nachvollziehbar kritisiert hatte. Dem stellt Otto eine in emphatischer Sprache gehaltene Apologie Wagners entgegen, welche explizit auf der Andersartigkeit des weiblichen Charakters als vorwiegend gefühlsgesteuert besteht und den Komponisten auch deshalb als einen „Genius der Zukunft“ bezeichnet, weil er das „Ewig-Weibliche“ erkannt habe und in seinen Werken zur Verklärung bringe. Der im Text exponierte Hauptgedanke Ottos, wonach der Gegensatz von Mann und Frau keineswegs negiert werden dürfe, vielmehr der dadurch verkörperte Gegensatz von Verstand und Gefühl auf höherer Ebene idealerweise harmonisch vereinigt werden solle, da beide nur in ihrer lebendigen Vereinigung den ganzen Charakter der Menschheit repräsentierten, entspricht sowohl dem emanzipatorischen Gedankengut des „Jungen Deutschlands“, welches jedoch weniger auf eine berufliche Gleichstellung der Frau als vielmehr auf Teilhabe an höherer Bildung sowie größerer politischer Mitbestimmung abzielte. Zugleich spiegelt sich in den Positionen Ottos jedoch auch ein bürgerlich-konservatives Frauen-Verständnis vieler Vertreter dieser Bewegung wie etwa des Schriftstellers Theodor Mundt (1808 –1861) wider, mit welchem sich Otto bereits 1842 intensiv auseinandergesetzt hatte. So findet sich in einer von ihr angelegten Zitatensammlung24 die Abschrift einer Passage aus einem 1841 entstandenen Aufsatz Mundts, in welchem es in deutlicher Übereinstimmung mit dem hier kommentierten Artikel heißt: „Die weibliche Natur in ihrer innersten Beschaffenheit muß daher dieselbe bleiben, welche Anerkennung ihr auch in ihrer äußern Stellung zum Staat und zur Gesellschaft zu werden vermag, und nur um diese Anerkennung, welche die Socialisten eine Emancipation genannt haben, kann es sich handeln. Eine naturwidrig aufgedrungene Entwickelung vermag sich weder in der geistigen noch in der materiellen Welt zu halten, und darum kann die sociale Stellung der Frauen nie in einem Widerspruch mit dem einen und einfachen Ideal der Weiblichkeit sich befinden.“25
hierzu insgesamt Pradel 2004 Louise Otto-Peters als Mitarbeiterin in den Anregungen. 22 Otto hatte am 20. Oktober 1842 den Rienzi, am 2. Januar 1843 den Fliegenden Holländer mit SchröderDevrient als Senta und den Tannhäuser am 22. Oktober 1845 in Dresden kennengelernt (siehe Ludwig 2007 Das Nibelungenlibretto von Louise Otto-Peters, S. 219). 23 Schloenbach 1856 Richard Wagner’s Operntexte, S. 72. 24 Vgl. Hundt 2004 Louise Ottos unveröffentlichte Notizen, S. 36 f. 25 Mundt 1841 Ueber Tieck’s Vittoria Accorombona, S. 203 f. 21 Vgl.
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Nr. 94 (1856)
Noch in ihrer 1861 veröffentlichten Schrift Die Mission der Kunst griff Otto auf Passagen und Gedanken aus dem hier abgedruckten Aufsatz zurück und unterstrich damit dessen Bedeutung für ihr Kunstverständnis, welches untrennbar mit der von ihr zeitlebens angestrebten Regeneration der Gesellschaft verbunden war. Dieses Ideal Ottos wurde in seinem Kern von Susanne Schötz als „die Vervollkommnung der Menschheit durch die Förderung der Künste neben den Wissenschaften und durch das Zusammenwirken weiblicher und männlicher Menschen, von Herzens- und Verstandesbildung“26 beschrieben. Damit dokumentiert sich zugleich die gedankliche Nähe zwischen den künstlerisch-gesellschaftlichen Reformbestrebungen der frühen Frauenbewegung in Deutschland und den auch nach 1849 proklamierten Ideen Brendels, dessen Wirken zeitlebens von jungdeutscher Zivilisationskritik durchdrungen war und der selbst ein Jahr später in einem längeren Aufsatz zur „Gegenwart und Zukunft des weiblichen Geschlechts“ ähnliche Positionen wie Otto vertreten sollte.27
2007 Louise Otto-Peters – Über Kunst und Künstlertum, S. 212. Gegenwart und Zukunft des weiblichen Geschlechts.
26 Schötz
27 Siehe
Brendel 1857
Nr. 95 | Anonym [John Sullivan Dwight], „Musical Party Warfare“, in: Dwight’s Journal of Music, Bd. 9 (1856), Nr. 18 (2. August), S. 142 f.
Musical Party Warfare
On another page we copy some curious articles about the recent performance of Robert Schumann’s Paradise and the Peri1, in London.2 Those from the Musical World3, like the articles in the same journal last year about Richard Wagner,4 manifest a disposition to find nothing good in any music emanating from certain recent German composers, whom it is pleased to sweep together into one category, called sarcastically the “Music of the Future.” Mr. Chorley5, of the Athenæum, is equally bitter and systematically opposed to whatsoever hails from that quarter. So is the musical critic of the Times6, and so are most of the musical oracles of England; while at the same time they claim Mendelssohn to themselves, set him up as the model and ne plus ultra of a musician, and abuse the Germans for not publishing every MS7. work or sketch he left behind him, good, bad, or indifferent.8
1 Robert Schumann, Das Paradies und die Peri op. 50 (UA 1843). 2 Das Werk wurde am 23. Juni 1856 unter der Leitung des englischen Komponisten, Dirigenten und Pianisten William Sterndale Bennett (1816 –1875) in der Londoner Philharmonic Society erstaufgeführt. Dem vorliegenden Artikel sind Ausschnitte aus verschiedenen (überwiegend negativen) Rezensionen der Londoner Aufführung des Werkes aus anderen Zeitungen vorangestellt, wie etwa dem Satire-Magazin Punch (siehe Anonym 1856 Paradise, or Purgatory?) sowie die beiden Kritiken James William Davisons aus der von ihm in den Jahren 1844 bis 1885 geleiteten Londoner Musical World (siehe Davison 1856 Philharmonic Society sowie Davison 1856 „Robert Schumann“, in: NdS 2 Nr. 92). 3 Siehe Davison 1856 Philharmonic Society sowie Davison 1856 „Robert Schumann“, in: NdS 2 Nr. 92. 4 1855 waren in der Musical World anlässlich der acht von Richard Wagner dirigierten Konzerte in London mehrere überaus negative Kritiken Davisons veröffentlicht worden (siehe Davison 1855 „As our readers“ sowie Davison 1855 „Richard Wagner“, in: NdS 2 Nr. 75). Vgl. hierzu insgesamt Reid 1984 Music Monster, S. 39 – 41 sowie S. 189 –197. 5 Henry Fothergill Chorley (1808 –1872) wirkte in den Jahren 1830 bis 1868 als leitender Musikkritiker des Londoner Athenæum und stand, ebenso wie sein einflussreicher Kritikerkollege Davison, insbesondere der Musik Wagners und Schumanns ablehnend gegenüber (siehe Chorley 1853 Schumann and Wagner, in: NdS 1 Nr. 40). Vgl. hierzu insgesamt Bledsoe 1998 Henry Fothergill Chorley. 6 Davison fungierte sowohl von 1846 bis 1878 als leitender Musikkritiker der zu dieser Zeit meistgelesenen Londoner Tageszeitung The Times als auch in den Jahren 1844 bis 1885 als Herausgeber und Chefredakteur der Musical World. Vgl. hierzu insgesamt Kitson 2006 Musical World. 7 „MS“: Manuskript. 8 Vgl. Anonym 1856 Ein englisches Urtheil, in: NdS 2 Nr. 96. Die herausragende Stellung, welche Mendelssohn Bartholdy im englischen Musikleben zu dieser Zeit einnahm, lag nicht zuletzt in der glühenden Verehrung des Komponisten durch die beiden einflussreichsten Londoner Musikkritiker Chorley und Davison begründet, welche beide in freundschaftlichem Verkehr mit Mendelssohn standen (vgl. Bledsoe 1998
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Of the particular merits or demerits of Paradise and the Peri, the three hours long cantata, we cannot speak, since we are not familiar with the work. We only know that in Germany, where there are as good judges of music as there are in England, the work has been over and over brought out with acceptance,9 and spoken of with admiration in the best critical journals.10 As to the utter lack of melody complained of, the “three hours of organized sound without a single tune,”11 those of our readers who were so fortunate as to be present at a certain private concert held in Chickering’s Rooms12 last winter13, and to hear the “Chorus of Houris”14 from the work in question, will be slow to chime in with the complaint so far [143] as that piece is concerned, and remembering that experience, will be apt to take the English report with some grains of allowance. Moreover we have heard more than one intelligent German say, that in musical ideas Schumann is rich to overflowing, that his chief short-coming has been in the art of using them to the best advantage;15 that, given half the ideas found in Paradise and the Peri, Mendelssohn, by his consummate treatment, would have produced a wonder of the world. But this we do know. We have come in contact with Robert Schumann’s creative genius at enough points to know that he is not to be set aside as nought by any dictum of an English or an old-school prejudice. We have heard and have enjoyed, and been inspired by – and so have not a few of our readers – a symphony of his,16 a piano quintet17 of his, a great variety of his compositions for the piano alone,18 which, if they were in some respects strange, have yet left a deep impression, and
Henry Fothergill Chorley, S. 92 –116), während die Anhängerschaft Davisons auf eine ins Jahr 1836 zurückreichende persönliche Bekanntschaft mit Mendelssohn Bartholdy beruht (vgl. Reid 1984 Music Monster, S. 15). 9 Das Werk war bis 1855 rund 50 Mal aufgeführt worden (vgl. Nauhaus 1985 Schumanns Das Paradies und die Peri). 10 Vgl. etwa die lobenden Besprechungen in der AmZ durch Eduard Krüger (Krüger 1845 Das Paradies und die Peri) sowie Johann Christian Lobe (siehe Lobe 1847 „Leipzig“). 11 Davison 1856 „Robert Schumann“, S. 408, in: NdS 2 Nr. 92, S. 1148. 12 Jonas Chickering (1798 –1853), Bostoner Klavierbauer, trug maßgeblich finanziell zum Bau der Bostoner Music Hall im Jahre 1852 bei, nachdem die 1837 von ihm und seinem Geschäftspartner John Mackay (1774 –1841) eröffnete kleinere Konzerthalle an der Washington Street Nr. 334 am 20. Dezember 1852 bei einem Feuer vernichtet worden war. 13 Um welche Aufführung es sich hierbei handelt, bleibt unklar. Bereits im Dwight’s Journal vom 19. Mai 1855 wurde von einer zurückliegenden privaten Amateuraufführung von Ausschnitten aus Das Paradies und die Peri mit Klavierbegleitung in Boston berichtet (vgl. Anonym 1855 Musical Clubs and Parties, S. 54). Die erste nachweisbare Gesamtaufführung des Werkes in Boston, wenngleich wiederum nur mit Klavierbegleitung, fand unter Leitung von James Cutler Dunn Parker am 25. April 1863 statt (siehe Dwight 1863 Paradise and the Peri). 14 Schumann, Das Paradies und die Peri, Chor Nr. 18 „Schmücket die Stufen zu Allah’s Thron“. 15 Möglicherweise ist hier vor allem der in Boston wirkende deutschstämmige Pianist und Komponist Otto Dresel (1826 –1890) gemeint, der bei der amerikanischen Erstaufführung der Peri 1848 in New York mitgewirkt hatte und großen Einfluss auf die musikästhetischen Positionen John Sullivan Dwights ausübte. 16 Die Bostoner Erstaufführung von Schumanns Symphonie Nr. 1 B-Dur op. 38 Frühlingssymphonie (UA 1841) datiert auf den 15. Januar 1853. 17 Schumann, Klavierquintett Es-Dur op. 44 (ED 1843). Das Werk erklang in Boston erstmals am 7. Januar 1853. 18 Von den Klavierwerken Schumanns waren in Boston bis dahin u. a. Andante und Variationen B-Dur op. 46 für 2 Klaviere (ED 1844) am 28. März 1853 sowie am 2. April 1855 Carnaval op. 9 (ED 1837) aufgeführt worden.
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a desire, which grows by every hearing, to listen to them again. He has composed songs surely, which are among the most beautiful and full of melody and feeling that we know, and which “appeal,” (to use the Musical World’s expression,) to both ear and heart.19 Therefore the wholesale condemnation of the London critics makes us suspect there may be something of these qualities in Paradise and the Peri. To take a somewhat analogous case in literature, such abuse is probably worth just about as much as some of the slashing criticisms upon Robert Browning20. But the most striking folly and injustice of this partisan warfare is the absurd way in which it confounds together composers who are most essentially unlike. New School and Old School become mere catch-words, mutual bugbears, and whatever is not wholly of the one is set down as wholly of the other, whose is not for us is against us, and so the thorough-going partisan sees only one indefinite level in all his adversaries, and has but one name for the host of them. “Wagner, Schumann, Brahms, Franz, and Co.!” There is a combination for you! “Music of the Future!”21 It is mere calling names. It is like the blind and absurd way of calling people “Transcendentalists”22 in this country when they show any individuality of thought. For Schumann is no more like Wagner, than Mendelssohn is like Wagner. Their adventurousness, their Beethoven-like unwillingness to be mere copyists, is about all they have in common. Of the young Brahms we know but little; but we presume it is enough for the London critics’ purpose, that Schumann happened to admire him and anticipate great things of him.23 As to Robert Franz, he surely is not in any way of kindred tendency with Wagner. His songs are entirely sui generis, as much remarkable for their even classical perfection of form and harmony, as for their peculiar genius.24 And when he has written for many voices, as hymns, a kyrie, etc.,25 there is no master with whom he seems so kindred as with the most classic of the classics – old Sebastian Bach!
19 Vgl.
die Bemerkung: „There is no melody, no form – nothing that ‚appeals‘ to the ear – nothing that touches the heart“ (Davison 1856 Philharmonic Society, S. 406). 20 Robert Browning (1812 –1889), englischer Dichter und Lyriker, dessen Werke, wie die Gedichtsammlung Men And Women aus dem Jahre 1855, wiederholt Gegenstand kontroverser ästhetischer Debatten waren. 21 Vgl. Davison 1856 Philharmonic Society, S. 408. 22 Die amerikanische TranszendentalistenBewegung hatte sich in den 1840er Jahren maßgeblich unter dem Einfluss der Philosophie Kants mit dem Ziel gegründet, an Stelle der in ihren Augen vorherrschenden rationalistisch-materialistischen Denkweise eine idealistischere Lebensführung zu propagieren, welche in ‚romantischer‘ Anschauung auf Freiheit, Selbstverantwortlichkeit und Naturzugewandtheit beruhte. Von dieser Bewegung gingen nicht zuletzt wesentliche Impulse für die spätere Sklavenbefreiung sowie die nordamerikanische Frauen- und Naturschutzbewegung aus. 23 Wohl eine Anspielung auf Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49. 24 Das Bostoner Publikum hatte am 27. Februar 1856 im Rahmen der Soireen Otto Dresels die Gelegenheit, sechs Lieder von Robert Franz kennenzulernen. Darüber hinaus erschien im Dwight’s Journal zu dieser Zeit eine englische Übersetzung (siehe Liszt 1856 Robert Franz) des dem Komponisten gewidmeten Artikels von Franz Liszt aus der NZfM (siehe Liszt 1855 Robert Franz). 25 Gemeint ist hier wohl Franz’ im Geist der Bach- und Palestrina-Rezeption des 19. Jahrhunderts geschriebene Vokal-Messe in Es-Dur (EZ ca. 1850).
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Kommentar Der vorliegende Artikel ist Teil einer spätestens seit 1853 nachweisbaren26 publizistischen Auseinandersetzung zwischen dem Bostoner Dwight’s Journal of Music und den in London erscheinenden Zeitschriften Athenæum und Musical World.27 Im Zentrum stand dabei die ablehnende Haltung der englischen Musikkritik gegenüber den Werken (und Schriften) von Liszt, Wagner, Brahms und Schumann. Gerade die Musik Schumanns war es, welche zur Entstehungszeit des Artikels allmählich Eingang ins Bostoner Musikleben fand und welche in den britischen Besprechungen anlässlich der Londoner Erstaufführung von Robert Schumanns Das Paradies und die Peri in der Royal Philharmonic Society am 23. Juni 1856 vehemente Ablehnung erfuhr. Vor allem die Behauptung Davisons in der Musical World, Schumann, Wagner, Liszt, Brahms und Franz seien aufgrund ihrer angeblich unsanglichen, unmelodiösen und schwer verständlichen Musiksprache allesamt Mitglieder der „Music of the Future“ wird in dem vorliegenden, sehr wahrscheinlich von Dwight stammenden,28 Artikel kritisiert und mit – selbst im Vergleich mit den damaligen musikästhetischen Auseinandersetzungen im deutschsprachigen Kulturraum – bemerkenswerter Deutlichkeit als sachlich vollkommen unbegründet zurückgewiesen. Die Auseinandersetzung zwischen den Blättern war damit jedoch noch nicht beendet: So wurde die hier abgedruckte Stellungnahme des Dwight’s Journal kurz darauf am 23. August in der Londoner Musical World in Gänze abgedruckt,29 nicht ohne jedoch dabei in einem separaten Artikel die Gelegenheit zu einer polemisierenden Reaktion ungenutzt zu lassen.30 In diesem heißt es bezüglich des Vorwurfs im Dwight’s Journal, die Musical World fasse willkürlich so ungleiche Komponisten wie Brahms und Wagner als Mitglieder einer musikalischen Gruppierung zusammen: „We never said there was any relationship among the styles of his [Dwight] favourite composers. First, we do not admit them to possess what the term style is supposed to represent. A want of style indeed is among their various deficiencies. Secondly, we object to their music generally and individually because, according to our belief in what constitutes good in art, their music is essentially bad. Surely we may denounce several bad things together without being open to the charge of not knowing the difference between one and another. Lohengrin is a bad thing, Paradise and the Peri is a bad thing, and the sonata of Brahms31 is a (very) bad thing; but at the same time they have nothing in common but this badness for which they are condemned. Mr. Dwight finds that Wagner and Schumann have
Anonym 1853 A Specimen of London Criticism sowie Dwight 1854 Our Wagnerism, in: NdS 1 Nr. 59. 27 Siehe Davison 1856 Philharmonic Society sowie Davison 1856 „Robert Schumann“, in: NdS 2 Nr. 92. 28 Richard Kitson zufolge stammen sämtliche nicht namentlich gekennzeichneten Artikel, welche sich grundsätzlicheren Fragen oder Geschehnissen des Bostoner Musiklebens innerhalb des Dwight’s Journal widmen, von dessen Herausgeber und Leiter Dwight selbst (vgl. Kitson 1991 Dwight’s Journal, S. X). 29 Siehe Dwight 1856b Musical Party Warfare. 30 Davison 1856 „We have inserted“. Diese sehr wahrscheinlich von Davison stammende Replik der Musical World wurde den amerikanischen Lesern kurz darauf unter dem Titel „A Word from the Anti-Schumann-ites“ im Dwight’s Journal zugänglich gemacht und mit kritischen Bemerkungen nun wiederum seitens der Bostoner Redaktion versehen (siehe Dwight 1856 A Word). 31 Welche der drei Klaviersonaten von Brahms hier gemeint ist, bleibt unklar. 26 Siehe
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nothing in common but their ‚Beethoven-like unwillingness to be mere copyists.‘ May the Muses pardon our contemporary his sacrilegious application of the mightiest name in music! We cannot.“32 Mit der eindeutigen Parteinahme seitens des Bostoner Blattes für die ‚Zukunftsmusik‘ – ohne dass deren Kompositionen bis dahin dort tatsächlich in größerem Umfang zur Aufführung gelangt waren33 – erfüllte sich zugleich die bereits 1853 von Richard Pohl in der NZfM geäußerte Hoffnung, die amerikanische Zeitschrift werde „mit Schärfe und überzeugender Kraft den reaktionären Bestrebungen der [Londoner] Stillstandspartei entgegen treten“34. Dies verdeutlicht einmal mehr das internationale Ausmaß der ursprünglich im deutschsprachigen Raum ausgelösten musikalischen Kontroverse und dokumentiert zugleich die Transformationen, die diese im Zuge ihrer britisch-nordamerikanischen Außenwahrnehmung durchlief.
32 Anonym
und 24.
1856 „We have inserted“, S. 536. 33 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 16, 17, 18 1853 Ein Blick nach dem „fernen Westen“, S. 269, in: NdS 1 Nr. 46, S. 488.
34 Pohl
Nr. 96 | Anonym, „Ein englisches Urtheil über die musikalische Zukunftsparthei in Deutschland“, in: Neue Wiener Musik-Zeitung 5 (1856), Nr. 47 (30. Oktober), S. 187 f.; Nr. 48 (6. November), S. 191.
Ein englisches Urtheilüber die musikalische Zukunftsparthei in Deutschland
Die in London erscheinende Musikzeitung „The Musical World“ bringt in ihrem Blatte vom 18. Oktober 1856 folgendes bemerkenswerthe Schreiben an den Herausgeber:1 „Mein Herr! Ein Kunstfreund, der die Musik um ihrer selbst willen liebt, und nicht nach Vorschrift und Regel, oder in Unterthänigkeit gegen die Grundsätze und Theorien der Dogmatiker von was immer für einer Kategorie, fand vieles was ihm mißfällt und noch mehr, was ihn verblüfft, als er im Aufsuchen neuer Thatsachen und Zeichen, die mit seinen Lieblingsforschungen zusammenhängen, einen ReiseAusflug durch gewisse Gegenden Deutschlands unternahm. Das jetzige System ist: viel mehr über Musik zu schwätzen als Musik zu machen, und dieses Sistem [sic] herrscht in einer Ausdehnung vor, daß man, wo man sich immer hinbegeben mag, sicher ist, jungen Leuten zu begegnen, die anstatt besser kontrapunktische Uebungen vorzunehmen, sich in leere Abstrakzionen verlieren und über Dinge sofistisieren, die entweder in der Natur gegründet sind oder nicht, und im ersteren Falle keiner Theorie bedürfen, die sie auseinandersetzt. Zwei Dinge sind erforderlich, um einen großen Tonsetzer zu bilden – Genie und Kunst. Das erstere ist ein Geschenk von oben, und kann durch kein Aufgebot an Arbeit ersetzt werden; die letztere ist das Ergebniß der Arbeit allein, obwol allerdings die Organisation einen großen Antheil an der leichteren oder schwereren Erwerbung derselben hat. Wie die Dinge jetzt stehen, wird die mechanische Grundlage, die zur Erkenntniß der geheiligten Springfedern der Kunst führt, und die Methode ihrer Anwendung vernachläßigt oder ganz bei Seite gesetzt. Der stufenweise Fortschritt in der Erkenntniß der Mittel, durch welche gute Musiker gebildet wurden, wird von anderen bei Seite gesetzt. Anstatt mit dem Anfange zu beginnen, halten die Studirenden es für besser, über den Schluß zu theoretisiren, und das Ergebniß davon ist, daß sie Komposizionen einer höheren Abstufung anstreben, bevor sie die Grundzüge der Harmonie bemeistert haben, oder
1 Siehe Anonym 1856 To the Editor. Bei dem Herausgeber der Zeitschrift handelt es sich um den Londoner Musikkritiker James William Davison (1813 –1885), der die Musical World von 1844 bis 1885 leitete. Vgl. hierzu Kitson 2006 Musical World, S. XI.
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mit ihren unausweichlichen Gesetzen überhaupt bekannt geworden sind. Was würden die alten italienischen Meister zu einem solchen Stande der Dinge gesagt haben! Die gefährliche Lehre einer Partheigängerschaar, die man mit Unrecht Musiker nennen würde, gießt nach allen Richtungen Gift über das musikalische Deutschland aus. Ich sage absichtlich das musikalische Deutschland, da man in England nicht glauben soll, daß die Erzeugnisse dieser sich zu ihren eigenen Richtern aufwerfenden Schaar volksthümlich seien. Im Gegentheile – das Volk fragt diese marktschreierischen Prahler um die Früchte.2 Doch ist es peinvoll zu beobachten, wie der Kunstsinn eines Landes, das gleich Deutschland so viel für die Musik gethan hat, in der Art ausschweifen kann, daß er die gänzliche Vertilgung aller Kunst als ein unabhängiges Ausdrucksmittel hinstellt. Beinahe alle irgend hervorragenden (rising) Musiker, selbst jene, von welchen man besseres erwarten konnte – sind in größerem oder geringeren Grade hiervon ergriffen. Die älteren der Profession, deren Ruf, obwol auf feste Grundlage gestellt, nichtsdestoweniger in Gefahr ist, sind es allein, die sich bemühen Stand zu halten. Die neue Schule blickt mit Verachtung auf jeden lebenden Tonsetzer, der eine Wirksamkeit außerhalb ihrer Richtung anstrebt. Was die bloßen Schmetterlinge3 anbelangt, deren Erzeugnisse zu Tausenden verkauft werden, und überall bekannt sind – so wird ihr Dasein gar nicht anerkannt und doch bin ich so kühn zu behaupten, daß einige unter ihnen besser geschulte Praktiker sind, als manche Anhänger der „Zukunft“. Einer der Wege, auf dem die „Zukunft“ ihre Ansichten durchzubringen suchte, ist der Angriff auf große Männer, welche das Ohr und die Simpathien der gebildeten Welt errungen haben – Männer, die unter ihnen selbst gelebt haben und der Ansteckung entgangen sind. Unter diesen sind Mendelssohn, der bereits die Erde verlassen hat, und Meyerbeer, der lebt und [188] ihnen zum Trotze fortschreitet, die ersten auf der Zielscheibe. Der arme Meyerbeer[,] er erhält kein Quartier. Mendelssohn wird mit etwas mehr Rücksichten behandelt, aber doch in einer nachgerade unwürdigen Weise. In Hannover bat ich – nachdem ich einige Stücke von Haydn, Mozart und Beethoven auf dem Pianoforte gehört hatte – den Vortragenden um etwas von Mendelssohn. Er schien verlegen zu sein, und da er meinem Wunsche nicht willfahrte, so schloß ich, daß er nichts von diesem Meister in Bereitschaft habe. Doch ich war nicht wenig überrascht, als ich ihn zu einem seiner Genossenschaft (in Deutschland) in Bezug auf meine Bitte die Bemerkung machen hörte: „O, er ist ein Engländer und die Engländer lieben Mendelssohn“. In derselben Stadt hörte ich die abgeschmacktesten Ansichten in Bezug auf Mendelssohn. Unter anderem: „Mendelssohn war kränklich als er den ‚Elias‘4 schrieb, welcher die Hoffnungen nicht verwirklichte, die sein ‚Heiliger Paul‘5 anregte.[“] „Halten Sie St. Paul für ein großes Werk?“ Auf diese Frage erhielt ich zur Antwort:
2 Anspielung
auf einen Satz aus der Bergpredigt: „An ihren Früchten sollt ihr sie erkennen“ (Mt 7, 16). 3 Wahrscheinlich eine Anspielung auf die zu dieser Zeit beliebten Salon-Alben „Papillons“. 4 Felix Mendelssohn Bartholdy, Elias op. 70 (UA 1846). 5 Mendelssohn Bartholdy, Paulus op. 36 (UA 1836).
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Keineswegs, doch ist es besser als „Elias“. „Haben Sie aber „Elias“ gehört?“ „Nein, ich habe ihn gelesen“ war die Antwort.6 Ich habe diese Thatsache damals bezweifelt und bezweifle sie noch. Diese Absurditäten rühren übrigens von einem „Ultra“ der „Zukunft“ her;7 doch andere, eben so unerklärliche, stammen aus verschiedenen Quellen. Die nachgelassenen Werke Mendelssohn’s werden eines mit allen verurtheilt. Die Sinfonie in A-dur8 ist hübsch – das Andante vor allem – doch sonst schwach, nicht im Sinfonien-Stile gehalten (Schumann ist Beethovens Nachfolger). „Die Fragmente des Oratoriums ‚Christus‘9 werden ganz ignorirt;“ es ist für Mendelssohn’s Ruf in der That ein Glück, daß dieses dritte Oratorium unvollendet blieb. Das Finale zur „Lorelei“10 ist schwach und ein Gemeinplatz; es war für seinen Ruf gut, daß er nicht so lange lebte, um das Werk vollenden zu können. Selbst das Quartett, Nr. 6, (das gigantische F-minor11) wird mit aller Art unverständlichem Kauderwälsch geschmäht. [191] Auf diese Art dahin gebracht, die späteren Erzeugnisse preiszugeben, ist der unglücksel’ge Engländer, der Mendelssohn liebt, gezwungen, auf seine früheren zurückzugehen. Als Antwort auf die befremdliche Behauptung, daß Mendelssohn kein Genie sei, und nichts Neues in seiner Kunst hervorgebracht habe, weist der Engländer triumphirend auf die Musik zum „Sommernachtstraum“12 und die Scherzi hin. „Der ‚Sommernachtstraum‘ ist gut aber er ist nicht Shakespearisch. (Die Deutschen von der ‚Zukunft‘ kennen Shakespeare besser als wir Engländer, die wir Mendelssohn’s Musik ausgezeichnet Shakespearisch finden). Shakespeare’s Sprößlinge sind, sagen sie, mehr körperlich u. s. w.13 Die ‚Scherzi‘ sind nichts Neues, weil Beethoven diese Form erschöpft, und Mendelssohn lediglich anstatt des drei Viertl[sic] den vier Viertltakt angewendet hat.“ So geht es in’s Endlose fort, bis der in Sophismen nicht Bewanderte, der glaubt, daß Musik gefühlt und geliebt werden müsse, ohne viel nach dem wie und warum zu fragen, von solchen neuen Kundgebungen zurückgescheucht, den Gegenstand der Erörterung mit einem Achselzucken verläßt. Die beklagenswertheste Folge dieses modernen Standes musikalischer
6 Kompositionen nur durch Studium eines Klavierauszugs zu beurteilen, war in dieser Zeit ein durchaus verbreitetes Phänomen unter Musikkritikern. So gab etwa der Kritiker Eduard Krüger in seiner ausführlichen Besprechung des Elias von Mendelssohn Bartholdy aus dem Jahre 1848 zu, das Werk lediglich „aus dem Clavierauszug zu referiren“ (Krüger 1848 Elias, S. 276). 7 Möglicherweise spielt der Autor hier auf entsprechende Bemerkungen Franz Brendels an. So heißt es etwa in dessen Musikgeschichte von 1855: „Mendelssohn wurde durch seinen ‚Paulus‘ für die Neuzeit Epoche machend“ (Brendel 1855 Musikgeschichte, S. 279). Über den Elias hingegen äußert Brendel in diesem Zusammenhang: „das Wunderbare besteht darin in leeren Aeusserlichkeiten, mit denen wir uns nicht zu befreunden vermögen“ (ebd.). Siehe hierzu auch Brendel 1848 Mendelssohn’s Elias. 8 Mendelssohn Bartholdy, Symphonie Nr. 4 Italienische A-Dur op. 90 (UA 1833). 9 Mendelssohn Bartholdy, Rezitative und Chöre zum unvollendeten Oratorium Christus op. 97 (EZ 1847). 10 Mendelssohn Bartholdy, Loreley op. 98 (Fragment). 11 Mendelssohn Bartholdy, Streichquartett Nr. 6 f-Moll op. 80 (EZ 1847). 12 Gemeint ist hier wahrscheinlich nicht die Ouvertüre zu Shakespeares Sommernachtstraum E-Dur op. 21 von Mendelssohn Bartholdy, sondern dessen spätere Bühnenmusik zum Schauspiel op. 61 (ED 1844). 13 Im Original heißt es: „Shakspere’s sprites are more substantial“ (Anonym 1856 To the Editor, S. 664). Der Bezug ist hier unklar.
Anonym 1856 Ein englisches Urtheil
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Mißkennung ist der Einfluß, den sie auf das von der Natur nachdenkliche Gemüth der jungen Deutschen übt, die in manch’ anderen Beziehungen Proben ablegen, daß sie zu einer gesünderen Geschmacksrichtung geboren sind. Wie die Sachen jetzt stehen, bringen sie ihre besten Jahre, anstatt sie den Studien und der praktischen Entwicklung zu widmen, in Betrachtungen zu und sprechen immer, anstatt zu handeln, zu wirken. Ein Streifen Musikpapier, wohl bedeckt mit kontrapunktischen Übungen, würde mehr Werth haben, als jahrelanges Wiederkäuen der alten Faseleien über die „Posthumus-Quartette“14, über Liszt und Robert Schumann. Indessen ist noch Zeit für einen oder zwei, die anders begannen, zu ihren premiers amours15 zurückzukehren und die Talente, womit sie begabt sind, besser zu ehren. Sie werden dann bald dahin gelangen zu sehn und anzuerkennen, daß das Aburtheilen von „Neu-Weimar“ besser seinen Absichten gedient hätte, wenn es logisch gewesen wäre, anstatt als die wahre Wunder-Essenz von Caprice16 aufzutreten. Wo die Folgerungen den Voraussetzungen in der Art entgegenstehn, wie es bei der „Zukunft“ eben so oft der Fall ist als nicht, und wo die sein wollenden Reformatoren in einer Kunst mit ihren ersten Grundsätzen ganz unbekannt sind, kann die Stellung nicht lange behauptet werden. Wenn immer eine falsche Beredtsamkeit durch einige Zeit vorhalten, wenn immer eine affektirte Abgeschlossenheit und ein mysteriöses Wesen für Tiefe gelten mag, wird doch der Tag einst kommen, wo das Trugbild weicht. Eines hat sich bereits erwiesen; die „Zukunft“ vermag nichts als zu predigen; ihre Anhänger sind unvermögend, Musik zu schreiben. Wie bedauerlich ist es aber für ein Land, welches Händl [sic], Mozart und Beethoven erzeugte, auch nur vorübergehend der Schauplatz eines solchen schimpflichen Treibens zu sein. Es ist jedes aufrichtigen Musikers Pflicht, gegen diesen Unfug Stand zu halten – nicht bloß um die Bekanntesten der „Zukunftparthei“ in ihr rechtes Licht zu stellen, sondern um mit Ernst auf alle jungen Künstler einzuwirken, die aus Uebermaß von Bescheidenheit oder durch eine augenblickliche Verblendung ihres geistigen Gesichts die Opfer dieser Sophisterei geworden sind, und sie als Fußstapfen zu ihrem Vorschreiten zu nehmen denken. Vielleicht wird dann, wenn das große Fest zur Erinnerung an Händel in Halle gefeiert wird,17 in mancher Beziehung die beste Gelegenheit geboten sein, Weimar und Gotha18 und Leipzig zu reinigen. Man bedenke, daß der Geburtsort Händls in unmittelbarer Nähe dieser Querköpfe von Philistern sich befindet.
14 Wahrscheinlich sind hier die späten Streichquartette Ludwig van Beethovens gemeint, die zum Teil erst nach dem Tode des Komponisten im Druck erschienen. Gerade im Spätwerk Beethovens sahen etwa Schumann, Liszt und Wagner, aber auch Brendel einen kompositorisch-ideellen Anknüpfungspunkt für ihr eigenes Schaffen und Wirken. 15 (Frz.) erste Liebe. 16 (Frz.) Laune, Stimmung. 17 Wahrscheinlich ist hiermit die am 1. Juli 1859 in Halle begangene Händel-Zentenarfeier gemeint, bei welcher u. a. das Händel-Standbild auf dem Marktplatz (nach einem Entwurf von Hermann Heidel) eingeweiht wurde. Für die Finanzierung des Denkmals war zuvor am 1. Mai 1856 ein Spenden-Aufruf des Hallischen Händel-Comités erfolgt, der auch in Londoner Zeitungen abgedruckt wurde (siehe etwa Anonym 1856 Centenary of the Day of Handel’s Death), woraufhin sich das Britische Königshaus zu einem Drittel an der Finanzierung des Denkmals beteiligte. 18 Aufgrund von engeren Kontakten zu dem der Musik Liszts und Wagners enthusiastisch gegenüberstehenden Herzog Ernst II. von Sachsen-Coburg und Gotha, dem Schwager Königin Viktorias,
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Kommentar Der vorliegende Artikel, die deutsche Übersetzung des kurz zuvor in der Londoner Musical World erschienenen Berichts eines ungenannten „English Musician“19, ist ein Beispiel für die spezifische britische Sichtweise auf den zu dieser Zeit an Schärfe gewinnenden musikalischen Parteienstreit in Deutschland. Diese Rezeption ist nicht zuletzt durch die in der Metropole London kaum vorhandenen Möglichkeiten gekennzeichnet, sich durch Konzertaufführungen selbst ein unmittelbareres Urteil über die Werke der in Rede stehenden ‚Zukunftsmusiker‘ bilden zu können.20 Darüber hinaus existierte in dem von den dezidiert konservativen21 Musikkritikern Henry Fothergill Chorley und James William Davison dominierten damaligen britischen Musikdiskurs kein der Leipziger NZfM oder der Wiener Blätter für Musik und Theater vergleichbares Organ.22 Dies erklärt zumindest teilweise den scharfen, polemischen Tonfall, mit dem der hier zitierte Anonymus die „Zukunftsmusiker“ bzw. die synonym verwendete „Zukunftparthei“ sowie die „neue Schule“ bzw. „Neu-Weimar“ beschreibt, deren Ziel eine „gänzliche Vertilgung aller Kunst“ durch die Verbreitung ihres „Giftes“ sei.23 Den dabei neben aller Polemik bereits aus der deutschsprachigen Kontroverse bekannten und wiederholt geäußerten Vorwürfen, die „Zukunftsmusiker“ würden lediglich theoretisieren, statt traditionellen Kontrapunkt zu studieren, das ‚Alte‘ würde von ihnen nicht gelten gelassen usw., wird durch deren angebliche Ablehnung namentlich in England besonders verehrter Komponisten wie Felix Mendelssohn Bartholdy und Georg Friedrich Händel eine Art anti-britische Komponente eingeschrieben. Zugleich werden hierdurch chauvinistische Ressentiments angesprochen, wie sie insbesondere für die von Davison geleitete Musical World typisch waren.24
dirigierte Liszt wiederholt die Hofkapelle in Gotha und leitete dort 1854 sogar die Uraufführung der von Ernst II. komponierten Oper Santa Chiara. 19 Siehe Anonym 1856 To the Editor. Es ist aufgrund der Wortwahl und der relativen Länge des Artikels möglich, dass es sich bei dem Verfasser um Davison selbst handelt. 20 Während Hector Berlioz im Zeitraum von 1847 bis 1855 mit insgesamt fünf von ihm geleiteten Konzerten im Londoner Musikleben vertreten war (vgl. Glanz 1950 Berlioz in London), hatte das englische Publikum erstmals im April und Juni 1854 die Gelegenheit, die Tannhäuser-Ouvertüre Richard Wagners bzw. die B-Dur-Symphonie Robert Schumanns zu hören, nachdem bereits ein Jahr zuvor, am 2. März 1853, dessen Ouverture, Scherzo und Finale op. 52 aufgeführt worden war. Die Gelegenheit, eine Oper Wagners auf der Bühne zu erleben, bot sich für das Londoner Publikum erstmals 1870. 21 Während Chorley seine musikalische Ausbildung u. a. am Leipziger Konservatorium erhalten hatte und in der Folge zeitlebens einen an Haydn, Mozart, Beethoven und Mendelssohn Bartholdy orientierten Musikgeschmack vertrat, hatte sein Konkurrent und „notorious enemy“ (Reid 1984 Music Monster, S. 22), Davison, nur kurzzeitig privaten Musikunterricht genossen. Die ebenfalls glühende Anhängerschaft Davison gegenüber Mendelssohn Bartholdy entsprang hingegen einer persönlichen Bekanntschaft mit dem Komponisten aus dem Jahre 1836 (vgl. ebd., S. 15.) 22 Vgl. hierzu insgesamt Sessa 1979 Wagner and the English sowie Reid 1984 Music Monster. 23 Vorliegender Artikel, S. 1173, [187]. 24 Vgl. Reid 1984 Music Monster, S. IXf.
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Ein reziprokes Element25 erhielt dieser kulturelle Transferprozess u. a. durch die rasche Übersetzung der englischen Berichte über die ‚Zukunftsmusik‘ für deutschsprachige (meist konservative) Musikzeitschriften, um diese vermeintlich objektiven Stimmen aus dem Ausland zur Stützung der eigenen Positionen zu instrumentalisieren,26 wie die Wiederabdrucke des vorliegenden Korrespondentenberichts sowohl in der hier zitierten Neuen Wiener MusikZeitung als auch in der Niederrheinischen Musik-Zeitung27 belegen.
25 Umgekehrt
lassen sich zahlreiche englische Übersetzungen von Aufsätzen kontinentaleuropäischer Autoren etwa für die Musical World ausmachen, u. a. von François-Joseph Fétis, Alexander Ulibischew, Hector Berlioz, Ferdinand Hiller, Ludwig Bischoff, Oscar Commettant, Otto Jahn und Ferdinand Rahles. Vgl. hierzu Kitson 2006 Musical World, S. XXIV. 26 Siehe Anonym 1855 Englische Urtheile. 27 Siehe Anonym 1856 Bemerkungen eines Engländers.
Nr. 97 | Anonym, „Fétis über die Lehre vom Fortschritt in der Musik“, in: Neue Wiener Musik- Zeitung 5 (1856), Nr. 49 (13. November), S. 195 f.
Fétis über die Lehre vom Fortschrittin der Musik
Die süddeutsche Musikzeitung bringt in Nr. 441 die nachstehende Stelle aus dem Vorworte, welches Fétis (Vater)2 der neuen in Paris veranstalteten Ausgabe der bekannten „Allgemeinen Biographie der Musiker“3 voranschickt, und der man nur die allgemeinste Verbreitung wünschen kann. Denn obgleich die darin vertretene Ansicht über das was die Lehre vom Fortschritt in der Kunst, namentlich der Musik, zu bedeuten habe, für jeden mit einem gesunden Blicke in das Wesen jeder Kunst eindringenden Mann von Bildung eine Grundwahrheit enthält, über die jedes weitere Wort überflüssig erscheint, so gibt es doch Viele, die sich durch Phrasen blenden, durch kombinirte Kunstgriffe irreführen lassen, und für solche hat der Ausspruch eines als Autorität geltenden Musikers, Musikkenners und musikalischen Kritikers wie Fétis immer ein besonderes Gewicht und eine belehrende Kraft, zumal wenn er so scharf, kräftig und überzeugend den Nerv der Frage trifft. Die bemerkte Stelle lautet: „Die Lehre vom Fortschritt, so gut und wahr sie auch für Wissenschaften und Industrie ist, hat nichts mit den Künsten der Imagination und noch weniger mit der Musik, als mit jeder anderen, zu schaffen. Sie kann keine giltige Regel für die Würdigung der Werke und des Talents eines Künstlers abgeben. In dem Gegenstande dieser Werke, in dem Gedanken und in der Empfindung, welche sie dictirt haben, muß man ihren Werth suchen. Mit wenig ausgedehnten Entwickelungen, mit einfachen und seltenen Modulationen, endlich mit einer Instrumentation, welche auf die Elemente des Quartetts beschränkt war, hat Alexander Scarlatti den Namen eines großen Künstlers seit den letzten Jahren des 17. Jahrhunderts sich erworben. Mozart, welcher seinen ‚Don Juan‘ 70 Jahre vor dem Momente componirte, in dem ich diese Zeilen niederschreibe, ist der größte der modernen Musiker geblieben, weil er Das
1 Siehe Anonym 1856a Ein ausländisches Urtheil. 2 François-Joseph Fétis (1784 –1871), belgischer Komponist, Musiktheoretiker und Musikbiograph wirkte u. a. ab 1833 als Direktor des Brüsseler Konservatoriums. Daneben war er von 1827 bis 1833 Leiter und Hauptredakteur der Pariser Revue musicale, die 1835 mit der Gazette musicale zur Revue et Gazette musicale verschmolz, für welche er ebenfalls zahlreiche Aufsätze verfasste. Den Beinamen „père“ (Vater) erhielt er, um ihn von seinem ältesten Sohn Eduard (1812 –1909) zu unterscheiden, welcher ab 1833 bis 1835 als Herausgeber der Zeitschrift wirkte. 3 Trotz der Ankündigung in der RGMP vom 14. September 1856, der Pariser Verleger Didot beginne derzeit mit dem Druck der zweiten Auflage des bereits 1837 erstmals erschienenen Werkes (siehe Fétis 1837 Biographie universelle), erfolgte diese erst in den Jahren 1860 bis 1865 (siehe Fétis 1860 Biographie universelle).
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besaß, was nicht fortschreitet, d. h. das reichste, ergiebigste, geschmeidigste, verschiedenartigste, zarteste und leidenschaftlichste Genie, dem sich der reinste Geschmack zugesellte. Indessen hat sich seit einigen Jahren eine Partei gebildet, welche sich vermessen als die Schöpfer wahrer und vollendeter Kunst hinstellt, so, als ob Alles, was vor ihr dagewesen, nur erst die Bahn bezeichnet, auf welcher vorgeschritten werden solle! Was den Koryphäen dieser Partei fehlt, sind gerade die Fähigkeiten der Imagination oder des Gedankens. Für sie ist das von ihnen Adoptirte die Idee, die Dunkelheit des Gedankens die Tiefe. Die Geringschätzung, welche sie für die Form affektiren, geht aus der Schwierigkeit hervor, sich ihr zu fügen, ohne die Armuth ihres Grundgedankens bloszulegen. Der Wirrwarr und die roh und ohne Zusammenhang hingeworfenen Phrasen sagen ihnen am liebsten zu, weil Nichts peinigender ist als die Logik der Ideen für die dürftigen oder trägen Imaginationen. Die Anhänger dieser Partei machen es dem geduldigen Publikum glauben, daß dieser Wirrwarr das Resultat der freien und originellen Inspiration sei. In Deutschland haben sie sich gewisser Journale bemächtigt, um ihrem revolutionären Versuch zum Triumph zu verhelfen; in denselben Blättern herrscht aber eine Todtenstille über die Erzeugnisse von Künstlern, welche andere Wege betreten. Einige ernste Männer haben versucht, die öffentliche Meinung durch eine vernünftige Kritik dieser schmählichen Kotterie [sic] aufzuklären; aber sie haben sich nicht Gehör verschaffen können. Es würde hier zu weit führen, alle die Mittel und Wege anzugeben, welche von den Geistesverwandten und Freunden zur Verherrlichung der Werke ihres Hauptes (Richard Wagner) angewendet worden, sowie alle Manöver, um sich der Theater zu vergewissern, ihre Unwahrheiten, um die Wahrheiten zu ersticken, ihre Uebereinstimmung von Anschwärzungen und Verleumdungen gegen alle Diejenigen, welche nicht mit ihnen sind. Aber trotz ihrer Anstrengungen oder vielmehr durch diese Anstrengungen selbst zeigen sie, daß sie kein Vertrauen zu Dem haben, was sie erzeugen und was sie zum Himmel erheben. Die großen Männer, deren Werke und Namen in der musikalischen Welt allgemein verehrt sind, haben niemals ihre Zuflucht zu diesen Mitteln der Seiltänzerei und der Charlatanerie genommen. Als [196] einfache Männer und unbekannt mit der Reclame und der Association, lebten sie isolirt; sie schufen ihre Werke aus dem Bedürfnisse des Schaffens und nach den Inspirationen ihres Genius, und überließen ihre Werke dem freien Urtheile ihrer Zeitgenossen und der Nachwelt. In der That bleibt auch für den von der Natur begabten Künstler, dessen ernste und erfolgreiche Studien seine glücklichen Fähigkeiten vervollkommnet haben, nichts Anderes übrig. Ist die Kühnheit seiner Inspirationen nicht alsogleich erfaßt oder begriffen, weil sie einen neuen, bis dahin unbekannten Ideengang, eine neue Verfahrungsweise erschließen, so wird die Zeit doch niemals ausbleiben, wo ihre Schönheiten zu Tage gelegt werden: die Bewunderung, die ihnen gebührt, ist nur verzögert. Obgleich das Haupt der Partei, von der ich rede, Nichts vernachlässigt, um die Vortheile der Gegenwart zu sammeln, so appellirt es doch an die Zukunft zum Verständniß seiner Werke. Dieses simulirte Vertrauen in das Urtheil der künftigen Generationen hat die Wirkung hervorgebracht, welche es davon erwartete; denn sie hat Begierde nach Ausschreitungen erweckt, welche anfänglich nur Ekel und Langeweile eingeflößt hatten. Die Zukunft, in welche Wagner sein Vertrauen zu setzen scheint, wird für ihn das Nichts sein; denn die politischen Interessen, welche heutzutage seine Anhänger um ihn sammeln,
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werden dann Andern Platz gemacht haben. Sollte die Zukunft sich je dieser Dinge erinnern, dann wird sie sie dem Lächerlichen weihen. Aber zur Ehre der Gegenwart ist es nothwendig, daß auch die Zukunft wisse: da, wo noch Geschmack und gesunde Vernunft herrschen; da, wo sich Empfindung für die reine Kunst erhalten, haben diese Negationen der idealen Musik nur Verdammung gefunden. Im Interesse der gegenwärtigen Generation, um die öffentliche Meinung vor den Abwegen zu wahren, in welche man sie hineinzuziehen sucht; um junge Talente vor den Täuschungen zu schützen, die ihnen Coterie-Erfolge einflößen könnten, ist es die Pflicht einer aufgeklärten Kritik, ihre Stimme zu erheben, ohne Unterlaß Das in’s Gedächtniß zu rufen, was das Gebiet des Schönen ausmacht, das Andenken der Künstler, die ihm treu geblieben, zu ehren und die Verirrungen zu bekämpfen, die dahin streben, dasselbe aus den Augen verlieren zu lassen. Diese Pflicht glaubt der Verfasser der ‚Allgemeinen Biographie der Musiker‘ nicht verabsäumt zu haben.“
Kommentar Am 14. September 1856 erfuhren die Leser der Pariser Revue et Gazette musicale durch den vollständigen Vorabdruck des Vorwortes4 von der geplanten zweiten, erweiterten Auflage der bereits 1837 erschienenen Biographie universelle, einer umfangreichen Sammlung von Musikerbiographien, des belgisch-stämmigen Musikgelehrten François-Joseph Fétis. Dass dieser Vorabdruck der letztlich erst ab 1860 erscheinenden Neuauflage keinesfalls nur als werbewirksame Maßnahme oder Gefälligkeit der Zeitschrift gegenüber ihrem langjährigen Mitarbeiter, sondern gleichsam als programmatisches Bekenntnis Fétis’ aufgefasst wurde, zeigt nicht zuletzt die hohe Zahl der Wiederabdrucke vor allem im deutschsprachigen Raum, aber auch in der ‚neuen Welt‘, etwa in der Süddeutschen Musik-Zeitung5, der Rheinischen Musik-Zeitung6, in der hier zitierten Neuen Wiener Musik-Zeitung und noch 1857 in der Berliner Musik-Zeitung Echo7 sowie im Bostoner Dwight’s Journal of Music8. Bemerkenswerterweise beschränkten sich all diese Übersetzungen stets auf einen kurzen, dem Wirken Wagners gewidmeten Abschnitt9. Ein wesentlicher Grund hierfür dürfte weniger in der inhaltlichen Originalität der gegenüber der ‚Fortschrittspartei‘ bzw. dem als ihr „Haupt“ postulierten Wagner erhobenen Vorwürfe (Formlosigkeit, Gedankenarmut, innere Zusammenhanglosigkeit, Cliquenwesen usw.) begründet sein als vielmehr in der über die Grenzen Frankreichs hinausreichenden fachlichen Autorität Fétis’, der sich bereits 1852 ausführlicher und ablehnend in einer Artikelserie über den Komponisten und Schriftsteller Wagner geäußert hatte.10
Fétis 1856 Préface. 5 Siehe Anonym 1856a Ein ausländisches Urtheil. 6 Siehe Anonym 1856b Ein ausländisches Urtheil. 7 Siehe Fétis 1857 Ein ausländisches Urtheil. 8 Siehe Anonym 1856 Fétis versus Wagner. 9 Fétis 1856 Préface, S. 294 f. 10 Siehe Fétis 1852 Richard Wagner. 4 Siehe
Anonym 1856 Fétis über die Lehre vom Fortschritt
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Dass die Wagner-kritischen Stimmen im deutschen Musikleben es als willkommene Stärkung ihrer eigenen Positionen begrüßt haben, wenn der der ‚Parteizugehörigkeit‘ – aber auch der eingehenderen Kenntnis der von ihm angegriffenen Kompositionen gleichermaßen – als unverdächtig geltende Fétis sich in derart scharfem Ton zu dem damals ihrem Höhepunkt zustrebenden musikästhetischen Auseinandersetzungen in Deutschland von jenseits des Rheines Stellung zugunsten der „reinen Kunst“ bezog und die neuartige Einheit von Werk und schriftstellerischer (Selbst-)Reflexion sowie die Forderung nach ‚Fortschritt‘ in der Kunst bei Wagner und seinen Anhängern so dezidiert ablehnte, geht nicht zuletzt aus den 1872 erschienenen Bunten Blättern August Wilhelm Ambros’ hervor, worin es innerhalb eines alttestamentarischen Vergleichs rückblickend heißt: „Die musikalischen Zukunftsleute in Deutschland, welche in den Fünfziger-Jahren ihren ohnehin langen Fortschrittsbeinen noch obendrein Siebenmeilenstiefeln angezogen hatten, haßten freilich Fétis mit dem bittersten Hasse. Diese Herren hatten, wie weiland König Nebukadnezer im Thale Dura, ein goldenes Bild, genannt Zukunfts-Kunstwerk oder auch Richard Wagner, setzen lassen und riefen aus in alle Welt: ‚Schicket euch, ihr Völker und Zungen! – Wenn ihr hören werdet den Schall der Lauten, Geigen, Psalter, Flöten, Cymbeln und allerlei Saitenspiel, so sollt ihr niederfallen und anbeten, das goldene Bild, welches wir haben setzen lassen.‘ Wer nicht niederfiel und anbetete, kam in den Feuerofen. Fétis hatte nicht nur nicht angebetet, sondern gelegentlich nach dem Götzen wol gar mit Steinen geworfen.“11
11 Ambros
1872 Bunte Blätter, S. 143 f.
Nr. 98 | Anonym [Johann Christian Lobe], „Das Gespenst der Zukunft“, in: Fliegende Blätter für Musik 2 (1855 – 57), Nr. 7 [nach dem 17. Juni 1856], S. 440 – 447.
Das Gespenst der Zukunft
„Fantasten und Philister sind mir gleich verhaßt.“ E. J. Hähnel, Bildhauer1 Einen neuen Beleg zu der Krankheit unsrer Zeit, einerseits längst bekannte Wahrheiten für Entdeckungen neuer Prinzipien auszugeben, andererseits der musikalischen Kunst neue Wege anzuweisen, die sie nur ins Unglück führen können, brachte C. A. Zellner2 vor Kurzem unter obigem Titel in seinen „Wiener Blättern für Musik und Kunst“3. Daß der Begriff „Zukunftsmusik“ nachgerade lächerlich geworden, fühlen bereits Viele, die sich im Anfange von ihm blenden ließen. Herrn Zellner’s Aufsatz soll offenbar für Liszt wirken. Weil man diesem Künstler aber mit dem Namen „Zukunftsmusiker“ in dem Sinn unserer Hyperästhetiker eher einen Tort als eine Ehre anthut, so setzt Herr Zellner dafür „neue Fortschrittslehre“ und „Weimar’sche Schule“4. Auch hier muß man, wie bei so vielen anderen Journalexpektorationen über Liszt in dessen wahrem Interesse ausrufen: „Gott bewahre ihn vor seinen Freunden, mit seinen Feinden wird er schon selbst fertig werden!“ Der Verf. versetzt zuerst dem Zukunftsgeschwätz einige treffende Schläge. „Das Zukünftige“ – sagt er u. a., – „das Nochnichtexistirende, dieses aber ist das Neue. Jede originelle Produktion ist ein Zukunftswerk, so jeder Komponist, der neue, ursprüngliche Gedanken in origineller Form ausspricht, ein Zukunftsmusiker.“5 Es versteht sich, daß wir ihm zutrauen, er habe zu origineller Produktion, origineller Form, das Prädikat „wohlgefällig“ nur als selbstverständlich nicht mit angeführt.
1 Ernst
Julius Hähnel (1811–1891), deutscher Bildhauer, ab 1848 Professor an der Dresdner Kunstakademie, schuf u. a. 1845 das Bonner Beethovendenkmal. Das Zitat konnte nicht nachgewiesen werden. 2 Hier ist die Rede von (Carl) Leopold Alexander Zellner, dessen Name sonst im Allgemeinen mit L. A. Zellner abgekürzt wurde. 3 Am 20. Mai veröffentlichte Zellner seine „Musikalische Wochenlese“ mit dem Untertitel „Ein probates Mittel für Skeptiker. – Vom Gespenst der Zukunftsmusik. – Der Geist des Fortschritts. – In was besteht er, und was verlangt seine Lehre? – Die Reformpartei und ihre Thätigkeit. – Die Oper. – Rossini’s ‚Mathilde di Schabran‘. – Von der Ausführung“ (Zellner 1856 Musikalische Wochenlese, S. 161, in: NdS 2 Nr. 89). 4 Zellner 1856 Aus der neuern Musikliteratur, S. 189, in: NdS 2 Nr. 91. 5 Zellner 1856 Musikalische Wochenlese, S. 162, in: NdS 2 Nr. 89, S. 1105.
Lobe 1856 Das Gespenst der Zukunft
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„Man kann es sein im Verhältniß zum Allgemeinen wie zu sich selbst.“6 [„]Rossini ist Zukunftsmusiker in seinem ‚Tell‘7 im Vergleiche zu seiner ‚Italienerin in Algier‘8, nicht aber in der ‚diebischen Elster‘9, denn zwischen den beiden letzteren bestehen keine Merkmale eines Fortschrittes. Beethoven ist in jeder seiner Symphonien Zukunftsmusiker gegen sich, in der neunten gegen das Gesammte, und bleibt es so lange, bis nicht über dieselbe hinaus ein Fortschritt stattfindet.“10 [441] „Eine Musik der Zukunft ist ein absurder Begriff, und zwar einfach aus dem Grunde, weil jede Schöpfung in dem Augenblick, als sie entsteht, der Gegenwart und im nächsten schon der Zukunft angehört. Eine Musik für die Zukunft aber, eine Musik nämlich, die den Moment ihrer Entstehung überdauert, ist zu allen Zeiten geschaffen worden, und wird auch künftighin nicht ausbleiben. Es wären daher die Bestrebungen der Fortschrittspartei ganz überflüssig, wenn nicht eine Epoche des Stillstands in der Produktivität eingetreten, die, ob sie nun von der Schwierigkeit, die höchsten Ausläufer der Kunstentwickelung noch zu übertreffen, bedingt, oder auf welch’ immer für eine andere Weise erklärt werde, verderbliche Neigung zur Reproduktion, ja zum Rückgreifen zu antiquirten Standpunkten nährte.“11 Mit dem obigen „Wenn“ schlägt der Verf. in seinem Denken um, und was er als Zukunftsmusik für ein Phantom erklärt, stellt sich ihm nun als „neue Fortschrittslehre“ und „weimar’sche Schule“ als eine reale Erscheinung vor. An welchen Tonkünstlern nach Beethoven hat sich denn die verderbliche Neigung zum Rückgreifen zu antiquirten Standpunkten gezeigt? An den verstorbenen C. M. v. Weber, Schumann, an den lebenden Berlioz, Liszt etwa? Von den gewöhnlichen Talenten kann doch jetzt ebensowenig wie zu irgend einer andern Zeit die Rede sein. Die Wahrheit ist, die großen Talente sind in jeder Zeit selten, und die großen Talente unserer Zeit greifen nicht zurück, sondern wollen vorwärts. Die Bestrebungen der Fortschrittspartei, die es mit Worten zu können sich einbildet, sind daher in der That ganz überflüssig, und sie werden sehr schädlich der Kunst im Allgemeinen, wenn sie neue falsche Kunstprinzipien erfinden und verbreiten, lächerlich, wenn sie alte Wahrheiten für neue ausgeben, und sehr schädlich im Besondern dem Durchbruch wirklich origineller Werke, wenn sie den Schöpfern derselben abgeschmackte Grundsätze vindiziren, die diese gar nicht haben und nicht haben können, eben weil sie wirklich originelle Geister sind, die nicht ohne gesunden Menschenverstand zur ächten Künstlerschaft gelangen können. Von allen diesen schädlichen und lächerlichen Dingen bringt auch der vor uns liegende Aufsatz Pröbchen. Ein Postulat der „neuen Fortschrittslehre“ oder „weimar’schen Schule“ soll darin bestehen, daß sie in Bezug auf Instrumentalkomposition absolut musikalische Kundgebungen in ein gedrängtes Bild zusammenfasse. Es ist zunächst komisch, wenn man an die bereits einige Jahre her verwendete Mühe der Partei denkt, wo sie Wagner zu Liebe das Gesammtwerk der Zukunft predigte, welches in der Oper zu verwirklichen sei, die absolute Musik als Sonderkunst
6 Ebd. 7 Gioachino Rossini, Guillaume Tell (UA 1829). 8 Rossini, L’Italiana in Algeri (Die Italienerin in Algier, UA 1813). 9 Rossini, La gazza ladra (Die diebische Elster, UA 1817). 10 Zellner 1856 Musikalische Wochenlese, S. 162, in: NdS 2 Nr. 89, S. 1106. 11 Ebd.
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für nunmehr abgethan dekretirte, die Instrumentalmusik und namentlich die Symphonie als erschöpft bezeichnete.12 Da kommt unglücklicherweise in dieses Gerede eine That, die symphonischen Dichtungen Liszt’s, und nun werden „absolut musikalische Kundgebungen“ plötzlich wieder erlaubt, freilich nur unter einem überraschend neuen, noch von keinem früheren Komponisten geahnten Grundsatze: „des Zusammenfassens der absolut musikalischen Kundgebungen nämlich in ein gedrängtes Bild.“13 Damit ist zuerst die äußere Form der Liszt’schen Dichtungen gemeint. Ich habe bereits ausgesprochen, daß mir darin das Verdienst Liszt’s nicht zu liegen scheint.14 Wenn die neue Fortschrittslehre in der Zusammendrängung des musikalischen Bildes läge, so wäre die neunte Symphonie von Beethoven ein Monstrum, ein Zurückgreifen und Ueberschreiten sogar eines verwerflichen antiquirten Formstandpunktes. Aber kaum eine Spalte vorher in dem in Frage stehenden Aufsatze15 erklärt Herr Zellner, daß die neunte Symphonie ein Fortschrittswerk gegen die gesammte vorhandene Musik sei und bleibe, bis nicht über dieselbe hinaus ein Fortschritt stattfinde.16 [442] Herr Zellner könnte mich des Mißverständnisses jenes Satzes beschuldigen, indem ich den Akzent auf „gedrängtes“ (Bild) lege, während er ihn auf „ein“ (zusammengedrängtes Bild)17 legt. Allein ein Merkmal der Liszt’schen Symphonieform ist die Gedrängtheit oder Kürze derselben gegen die früheren, und ich will Liszt vorerst nur gegen die Meinung schützen, als wolle er mit seiner zusammengezogenen Form eine neue Fortschrittslehre, eine besondere „weimar’sche Schule“ gründen. Nehmen wir nun die zweite Lesart vor. Hier beginnt jenes politisch-unpolitische Spiel, welches die neuere Zeit erfunden hat, Grundsätze, welche alle Aesthetiker von Aristoteles bis Vischer anerkennen, als neue Entdeckungen anzupreisen, die geschicktesten Ausprägungen derselben aber durch unsere größten früheren Meister als kindisch schwache Versuche zu bezeichnen. Wem, der nur einen flüchtigen Blick in das Wesen der Kunst gethan, wäre mit dem folgenden Satze etwas Neues gesagt: „Größte Mannichfaltigkeit bei größter Einheit gilt als die oberste Bedingung des Kunstwerks.“18 Das haben nicht nur alle früheren Meister, sondern überhaupt alle gebildeten Kunstfreunde längst gewußt. Aber in der Musik soll außer Liszt noch keiner die
Äußerungen finden sich bei Brendel 1853 Die bisherige Sonderkunst, in: NdS 1 Nr. 42 sowie vor allem bei Brendel 1854 Die Musik der Gegenwart. 13 Zellner 1856 Aus der neuern Musikliteratur, S. 189, in: NdS 2 Nr. 91, S. 1136. 14 Das Heft, in dem auch der vorliegende Artikel publiziert wurde, eröffnete Lobe mit seiner umfassenden, recht wohlgesonnenen Abhandlung über die sechs bis dahin gedruckten Symphonischen Dichtungen Liszts (Lobe 1856 Briefe über Liszt’s Symphonische Dichtungen, S. 388, in: NdS 2 Nr. 99, S. 1198). 15 Entgegen der Aussage Lobes bezieht sich der vorliegende Beitrag in seinen zahlreichen Zitaten auf zwei Artikel Zellners (siehe Zellner 1856 Musikalische Wochenlese, in: NdS 2 Nr. 89 sowie Zellner 1856 Aus der neuern Musikliteratur, in: NdS 2 Nr. 91). 16 Siehe Zellner 1856 Musikalische Wochenlese, S. 162, in: NdS 2 Nr. 89, S. 1106. 17 Ebd., S. 1136 [189]: „[…] so möchte ein Versuch, die Grundsätze der Fortschrittslehre mit Bezug auf Instrumental-Compositionen oder – um einen kunstphilosophischen Ausdruck zu gebrauchen – absolut musikalische Kundgebungen in ein gedrängtes Bild zusammen zu fassen, uns hier wohl nicht am unrechten Orte dünken“. 18 Zellner 1856 Aus der neuern Musikliteratur, S. 189, in: NdS 2 Nr. 91, S. 1136. 12 Angedeutete
Lobe 1856 Das Gespenst der Zukunft
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rechte Ausprägung dieses Grundsatzes gefunden haben? Kann diesem verständigen Künstler, der, wie seine Aufsätze beweisen, alle exklusiven Urtheile verachtet, eine solche Erhebung dienen? und kann sie ihm durch Gründe, wie die folgenden, Freunde unter Denen erwerben, die seine neuesten Werke noch nicht kennen? Viele, das ist eine unläugbare und traurige Erfahrung, wollen sie nicht einmal ansehen, viel weniger aufführen, weil sie nach jenen Expektorationen in Liszt nichts als einen excentrischen Zertrümmerer aller guten Kunstprinzipien erwarten. Man höre. „Der Zusammenhang der verschiedenen, eine größere musikalische Komposition bildenden Haupt- und Nebengedanken wurde bisher (!) zunächst durch das Ineinandergreifen, Verschmelzen, Versetzen, gegenseitige Ablösen dieser Gedanken bewirkt, woraus das ‚sogenannte‘ (!) aus einem Gusse geformte ‚Kunstwerk‘ entstand.“19 Diese Grundsätze sollen, nach Herrn Zellner’s Versicherung, der „weimar’schen Schule“ nicht mehr genügen. Dieser Ausdruck müsse „als eine conventionelle Formel der Aesthetik angesehen werden, welche damit die innere Verwandtschaft der aufeinanderfolgenden Motive zu bezeichnen beabsichtigt, womit im Grunde aber doch nur eine Anerkennung der Geschicklichkeit im Ein- und Durchführen der Motive ausgesprochen und folglich nicht dem schöpferischen, sondern dem formenden, komponirenden (zusammensetzenden) Talente des Tonsetzers ertheilt wird.“20 Was soll man von Liszts Tondichtungen nach solchen ihm angedichteten Kunstansichten erwarten? Wenn die „Geschicklichkeit im Ein- und Durchführen der Motive, das „formende Talent“ der weimar’schen Schule wirklich nur für eine „conventionelle Formel der Aesthetik“ gälte, die schöpferischen Talenten nicht mehr würdig sei? Was vermag die schöpferischste Kraft ohne das vollständig ausgebildete formende Talent? Hat die „Geschicklichkeit im Ein- und Durchführen der Motive, das formende Talent“ etwa Beethoven’s schöpferische Kraft gelähmt? Der Leser könnte glauben, ich habe Herrn Zellner’s Meinung mißverstanden. Der folgende Passus wird mich davor schützen: „Es können zwei, ja mehrere Hauptmotive, wie solche den Inhalt ausgeführterer Kompositionsgattungen (Sonate, Ouverture, Symphonie) zu bilden pflegen, aus einer und derselben Stimmung hervorgegangen erscheinen, das Gefühl kann sie als solche erkennen (oder auch nicht), einen Beweis ad oculos [443] jedoch vermag kein Aesthetiker zu führen. Zeigen diese Motive aber eine heterogene Gestaltung, welche des nothwendigen Kontrastes und der bedingten Mannichfaltigkeit wegen der Tonsetzer in der Regel grundsätzlich anstrebt, so wird es höchstens dem Poeten möglich sein, da von einer inneren Einheit zu träumen, womit dem analysierenden Musiker jedoch durchaus nicht Genüge geschieht.“21 Ich habe im Verlaufe meines Lebens mit vielen der bedeutendsten Musiker Umgang gepflogen, aber keinen einzigen darunter gefunden, der die innere Einheit in den Sätzen der Beethoven’schen Symphonien vermißt hätte, obgleich jeder zwei oder mehrere Hauptmotive enthält, die in ihrer äußeren Gestalt heterogen erscheinen.
19 Ebd.,
Hervorhebungen im Original. vorhebungen im Original.
20 Ebd.,
Hervorhebungen im Original.
21 Ebd.,
Her-
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Alle diese wirklichen Musiker kannten die Natur der Gefühle und Leidenschaften; sie wußten, daß innerhalb einer bedeutenden Stimmung der Seele verschiedene Vorstellungen und daraus fließende verschiedene Nüancen der Hauptstimmung abwechseln, ja daß sich in gewissen Seelenzuständen entgegengesetzte Regungen miteinander streiten, trotzdem aber die Einheit der Hauptstimmung nicht verloren geht. Wenn Herr Zellner blos analysirender Musiker ist, und er überall da keine innere Einheit empfinden kann, wo seine Augen Heterogenität in der äußeren Gestalt der Gedanken erblicken, so mache er den Grundsatz der durchgängigen Herrschaft eines Motivs, d. h. der thematischen Aehnlichkeit aller Gedanken in einem Tonstücke nur nicht zu dem Grundsatze Liszt’s und einer neuen Fortschrittslehre, denn diesen Grundsatz hat Liszt nicht. Seinem „Tasso“22 spricht Herr Zellner die innere Einheit doch wohl nicht ab? So vergleiche er doch folgende zwei Gedanken miteinander.
Den Augen des blos analysirenden Musikers erscheinen sie sehr heterogen. Können sie ihm darum nicht genügen, und hält er darum Die für höchstens träumende Poeten, die trotzdem eine innere Einheit im ganzen Tasso fühlen und erkennen,23 so erhebt er Liszt nicht, sondern erniedrigt ihn, durch Zuschreibung von Grundsätzen, an die er nicht denkt. In der Kunst, einer sogenannten neuen Idee zu Liebe, durch Substituirung verächtlicher Begriffe alles Vernünftige in sein Gegentheil zu verwandeln, aus dem Wahren das Falsche, aus dem Edeln das Gemeine, aus dem Schönen das Häßliche, aus den gelungensten Thaten ächter Genies grasse [sic] Irrthümer zu machen, und das alles, wo man’s braucht, auch vice versa, haben es manche Federn unserer Zeit
hierzu insgesamt die Besprechung Lobes von Liszts Symphonischer Dichtung Tasso, in welcher Lobe darauf abzielt, das Werk mit Hilfe traditioneller Kompositionsprinzipien wie der thematischen Arbeit zu analysieren (Lobe 1856 Briefe über Liszt’s Symphonische Dichtungen, in: NdS 2 Nr. 99). 23 Vgl. Zellner 1856 Aus der neuern Musikliteratur, S. 189, in: NdS 2 Nr. 91, S. 1136: „Zeigen diese Motive aber eine heterogene Gestaltung, welche des nothwendigen Contrastes und der bedingten Mannigfaltigkeit wegen der Tonsetzer in der Regel grundsätzlich anstrebt, so wird es höchstens dem Poeten möglich sein, da von einer inneren Einheit zu träumen, womit dem analysirenden Musiker jedoch durchaus nicht Genüge geschieht“. 22 Vgl.
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in der That zu einer bewundernswerthen Fertigkeit gebracht. Auch unser Autor schreitet von Satz zu Satz in dieser Kunst vorwärts. Man höre weiter. [444] „Ein Widerspruch gegen die Einheit liegt schon darin ausgedrückt, daß man in Kompositionen, von welchen hier die Rede ist“ – (das heißt von Haydn’schen, Mozart’schen, Beethoven’schen, Spohr’schen, etc. Kompositionen?) „die Form vom Inhalte getrennt betrachten kann. Erstere erscheint – unwesentliche Modifikationen, Erweiterungen durch eingeschobene Theile, Verkleinerungen durch gedrängtere Fassung der Themen, kürzere Durchführungssätze u. s. w. abgerechnet – als ein theoretisch normirtes Schema, welches jedem Gedanken seinen bestimmten Platz und Wirkungskreis anweist, ja sogar bis in’s Minutiöse beimißt. So lautet z. B. die Regel für die Konstruktion des ersten Theiles eines ersten Sonatensatzes: Hauptthema (welchem nach Belieben eine freie Einleitung vorangehen kann) – Seitensatz (?)– Durchführungssatz (??) – zweites Thema – Durchführung (?) – Passage (?) – Schlußsatz mit Rückmodulation zur Haupttonart.“24 Der Verfasser hätte das unerträgliche Uebel bestimmter Formen aus anderen Künsten noch viel schlagender anschaulich machen können. An welche unvernünftigen stereotypen Gesetze haben sich nicht bis heute noch die Dramatiker gehalten. Exposition, Verwickelung, Auflösung u. s. w., jedem dieser Dinge ist unwiderruflich „sein bestimmter Platz und Wirkungskreis angewiesen“25. Blicken wir aber gar auf die spezielleren Gesetze dichterischer Formen. Von der Stanze heißt es z. B. „sie besteht aus acht elfsilbigen jambischen Versen mit weiblichen Reimen, von denen die ersten sechs mit zwei regelmäßig wechselnden Reimen einander folgen, die zwei letzten aber, miteinander reimend, dem Ganzen einen gefälligen Schluss geben und die Stanze zu einer leicht fortschreitenden, in sich abgeschlossenen Periode runden.“ Wäre die oben gegebene Erklärung der Sonatenform auch verständlich und richtig, was sie leider nicht ist, sie wäre doch hundertmal freier als die der Stanze. Indessen haben Ariost26, Tasso27, Goethe doch ganz erträgliche Dichtungen darin geliefert. „Da haben wir eine vollständig triangulirte28 und nivellirte Schablone, die nichts weiter erfordert, als daß man für die verschiedenen Abtheilungen passende Motive erfindet, sie geschickt in die fertige Form hineinpaßt und wo sie aneinanderstoßen, mit modulatorischem Kitt verbindet, der wiederum sauber abgeschliffen werden muß, damit die Leimfuge für das Auge verschwinde. Und ein solches Mosaikgebilde, ein solches Gedankenkaleydoskop soll innere Einheit besitzen? – Mannichfaltig wird es allerdings sein, aber nur mannichfaltig. Was man bisher unter Einheit versteht, ist nur ein Resultat der größten Geschicklichkeit im Handhaben der Form.“29
24 Ebd.,
Hervorhebungen durch Lobe. 25 Ebd. 26 Ludovico Ariosto (auch Ariost, 1474 –1533), italienischer Dichter, dessen Hauptwerk, das in Stanzen gehaltene Versepos Orlando furioso (Der rasende Roland, ED der erweiterten zweiten Fassung in 46 Gesängen 1532), in ganz Europa rezipiert wurde. 27 Torquato Tasso (1544 –1595), italienischer Dichter, der vor allem durch sein Stanzen-Epos La Gerusalemme liberata (Das befreite Jerusalem, ED 1575) bekannt wurde. 28 Dreischneidig. Hier im Sinne von geometrisch-abgezirkelt. 29 Zellner 1856 Aus der neuern Musikliteratur, S. 189, in: NdS 2 Nr. 91, S. 1137. Hervorhebungen durch Lobe.
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Und das schreibt Herr Zellner hin, im Angesicht aller Beethoven’schen Werke! Nur die Resultate der größten Geschicklichkeit im Handhaben der Form wären Beethoven’s zahlreiche Sonaten, Trios, Quartette, Ouverturen und Symphonien? Und kein tiefer Geist und keine psychologisch geschilderten Gemüthsstimmungen wären da hinein mit schöpferisch originaler Kraft geschaffen? Alle die Wunderwirkungen auf jedes empfängliche Tongemüth wären Phantome, Täuschungen? Ja wohl – denn – „Sie“ – diese Form – „gestattet dem Tonsetzer blos (vom Verf. gesperrt) die Freiheit des Erfindens seiner Motive, hinsichtlich ihrer Verwendung ist er durch das eiserne Formgesetz gefesselt. Mag sein Thema noch so gestaltungsreich sein, er muß es, bei einem gewissen Punkte angelangt, fallen lassen, denn nach der Geschäftsordnung der Form ist der Moment gekommen, wo einem zweiten Thema das Spruchrecht gebührt.“30 Kennt Herr Zellner keine Sonate, kein Quartett, keine Symphonie von Haydn, Mozart, Beethoven, wo diese Meister sich nicht an diese Geschäftsordnung gebunden, wo sie z. B. an der Stelle des zweiten Thema das erste wieder gebracht haben? „Das aber heißt die künstlerische Freiheit in Bande schlagen, ver-[445]nichten, die Individualität in den Bock31 legen, die Einheit des Stoffes zersplittern, den Künstler zum gewöhnlichen Handwerker herabdrücken.“32 Also: Haydn’s, Mozart’s, Beethoven’s künstlerische Freiheit war in Banden geschlagen, vernichtet; ihre Individualität hat im Bock gelegen; sie sind gewöhnliche Handwerker gewesen?! Und durch solche Tiraden glaubt man Liszt zu erheben und ihm seine Laufbahn als Komponist zu ebnen! „Erzeugen soll er den Stoff, ihn aber nach seiner Eingebung zu gestalten, zu verwerthen und zu ordnen, soll ihm jedoch verwehrt sein?“33 Mein Gott, wer hat es denn diesen Meistern verwehrt? Wo ist denn die unendliche Varietät ihrer Werke hergekommen? – Jetzt hat der Verf. solche Leser, deren Augen durch Worte vollständig blind für die Thatsachen zu machen sind, gehörig vorbereitet, um die folgenden prachtvoll erhabenen Tiraden für die neue Fortschrittslehre mit Effekt aufprasseln lassen zu können. „Diese sklavische Unterthänigkeit, diese drückende Tyrannei der Form mußte endlich dem Gefühle einer den idealsten Zielen zustrebenden Künstlernatur (der Beethoven’schen) unerträglich werden. Mit seinen gewaltigen, von göttlicher Kraft geschwellten Armen faßte er den Götzen (d. h. seine acht früher geschriebenen Symphonien nebst allen seinen früheren Werken), hob ihn erst zu unendlicher Höhe, und schleuderte ihn zu Boden, wo er krachend zerschellte, so daß die Memmen erbebten und Philister zitterten, der ächte Musensohn aber hoch aufjubelte.“34 Bedankt euch alle ihr Musiker und Musikfreunde, die ihr heute noch Genuß an Beethoven findet. „Das war die That des Großen, Ludwig Beethoven’s, im letzten Satze der neunten Symphonie. Ob er sie in Folge tieferer Einsicht, im Bewußtsein der Nothwendigkeit künstlerischer Erlösung, oder im Augenblick der großen Spannung künstlerischen Freiheitsdranges, unbewußt beging, mag unentschieden bleiben. Gewiß aber ist, daß Beethoven mit dem Zerbrechen der Form den Anfang, nicht aber – wie grau gewordene Aesthetiker zu demonstriren sich bemühen (es freut uns bei dieser Gelegenheit zu erfahren, daß
30 Ebd.,
zweite Hervorhebung durch Lobe. 31 Bei Zellner heißt es abweichend: „die Individualität in den Block legen“ (ebd.). 32 Ebd., Hervorhebungen durch Lobe. 33 Ebd. 34 Ebd., Klammerbemerkung und Hervorhebungen durch Lobe.
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Herr Zellner vermuthlich noch schwarze Haare hat) – das Ende einer That beging, die eine neue Aera herbeizuführen, einer herrlichen Zukunft entgegenzureisen berufen, jedem wahren und vollwichtigen Künstler die Pflicht auferlegt, ihr innerstes Wesen zu erforschen, festzustellen und zum Ausgangspunkte für künftiges Gestalten zu nehmen, denn nur von diesem Standpunkte ist noch ein Fortschritt möglich.“35 Die neunte Symphonie erst der Ausgangspunkt. Gott! welch ein armseliger Geist der Komposition waltet denn noch bis heute auf unserer Erde! Denn über die neunte Symphonie ist ja bis heute nach Herrn Zellner noch kein Fortschritt gethan worden. „Auf dieses Erkennen fußt das Gebäude der Fortschrittslehre. Sie hebt die Zollschranken zwischen Inhalt und Form auf, und ermöglicht dadurch den freiesten gegenseitigen Verkehr; sie löst der geknechteten Individualität des schaffenden Künstlers die Bande, er darf den Eingebungen seines Genius nunmehr folgen; dieser allein sei sein Führer; sie setzt den bisherigen Lehensmann in volles Herrenrecht ein, was er hervorbringt ist sein, er darf damit schalten nach seinem Gutdünken, es formen, ordnen, verwenden, wie er will; sie schließt endlich den klaffenden Spalt des Widerspruchs zwischen Einheit und Mannichfaltigkeit, der nach den bisherigen Prinzipien ewig unausgefüllt geblieben wäre, sie lehrt uns diese anscheinend schreienden Gegensätze aufs Innigste zu verbinden.“36 Ich frage wiederholt: was sind unsere größten bisherigen Meister gegen die, welche nun kommen werden? „Wird diese schrankenlose Freiheit den Jünger – wissentlich oder unwissentlich – nicht zu Ausschreitungen verleiten“, höre ich engherzige Seelen befürchtend fragen. „Weg mit dieser Angst, sie ist unbegründet. Das ewige unverrückbare Ziel ist festgesetzt. Es lautet: Einheit und Mannichfaltigkeit in [446] vollendetster Vermählung. Der Weg ist gebahnt durch eine schon weit entwickelte Theorie, zu der auch die Praxis bereits viele Belege geliefert hat (Aber der letzte Satz der neunten Symphonie soll ja der erste Versuch, und die neunte noch nicht übertroffen worden sein?!) Wenn sonach der Jünger die ihm gegebene Freiheit der Selbstbewegung zu ziel- und planlosem Umhervagiren mißbraucht, so liegt einerseits doch gewiß an der Lehre nicht die Schuld, andererseits aber – und dies möge zum Trost gereichen – ist an solchen Individuen selten viel gelegen.“37 – Wenn eine richtige Lehre zur rechten Praxis führen kann, so kann eine falsche Lehre auch zu einer falschen Praxis verführen. Daß aber herrliche Talente durch falsche Grundsätze verdorben werden können, beweist jede Kunstgeschichte, und an solchen verführten Talenten ist für die Kunst allerdings etwas verloren. „Um Mannichfaltigkeit zu erzielen, war der formgefesselte Tonsetzer gezwungen, eine Reihe verschiedener Gedankengruppen einzuführen, deren Wirksamkeit von der Stärke des gegenseitigen Kontrastes abhing. Bei diesem Verfahren mußte die Erfüllung der zweiten Bedingung ‚Einheit‘ unmöglich werden (?); was dafür gehalten wurde, war und konnte nicht mehr sein, als ein Ergebniß der Formgewandtheit.“38
35 Ebd., 37 Ebd.
S. 189 f., Hervorhebungen durch Lobe. 36 Ebd., S. 190, Hervorhebungen durch Lobe. Klammerbemerkung und Hervorhebungen durch Lobe. 38 Ebd., Klammer durch Lobe.
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Was ist nun endlich der Kern der neuen Fortschrittslehre? Hier ist er: „Der Jünger der neuen Lehre stellt einen Gedanken hin. Es ist das Thema, von dem Alles ausgeht, auf welches Alles zurückkehrt, es ist Keim, Saat, Blüthe und Frucht zugleich, die Sonne, die alles befruchtet, die alles beleuchtet, die allhin mit ihren wärmenden, belebenden Strahlen dringt. So nur entsteht Einheit, erweisliche, unbestreitbare Einheit. Durch sie zur Mannichfaltigkeit vorzudringen, bildet die Aufgabe einer Kunst, die man ‚thematische Arbeit‘ nennt. Sie gewinnt dem absolut herrschenden Thema die verschiedenartigsten Gestalten, die mannichfaltigsten Stimmungen ab, die der Komponist nach bisheriger Art durch, ihrem innern Wesen nach ganz heterogene Motive darzustellen angewiesen war. Ueber welch einen Reich thum von Mitteln, als: Zeitmaß, Takt, Rhythmus, Tonart, Tongeschlecht, Modulation, Figuration, Erweiterung, Verengung, Verkehrung, Vollstimmigkeit, Einfachheit, Lage, Nachahmung, Widerschlag u. s. w. aber die thematische Kunst verfügt, wie dem Prisma ähnlich, den Strahl des fixen leuchtenden Punktes (Thema) im reichsten Farbenspiele erscheinen macht, ist jedem Musiker bekannt.“39 Wohl. Jeder Musiker weiß aber auch alsdann, daß diese neue Fortschrittslehre, Wort für Wort dürfte man beinahe sagen, die sehr alte Fugenlehre ist. Das ist nun freilich Herrn Zellner auch aufgefallen, wie wir später sehen werden. Hier wollen wir erst seine Konsequenzen aus obigem Passus kennen lernen. „Hieraus aber geht hervor: die Unmöglichkeit eines Formzwanges, da bereits fertige Formen nicht benutzt werden können, indem der Inhalt sich dieselbe jedesmal nach Bedarf konstruiren muß.“40 Wenn das Thema absolut herrschen, überall erscheinen muß, ist das nicht der tyrannischeste Formzwang, der dekretirt werden kann? „Es geht hervor: die höchste individuelle Freiheit des Gebahrens mit dem selbstgeschaffenen Material, die aber zugleich in ihrem Kourse geregelt wird durch einen Kompaß, welcher stets unverrückt die Richtung zeigt, die der Segler im Tonmeer einhalten muß, um zum Ziel zu gelangen. Dieser Kompaß ist das Gesetz, welches dem Thema centrale Gewalt verleiht.“41 Wie einer, der nach Kompaß, Gesetz nach einer unverrückbaren Richtung segeln muß, zugleich die höchste individuelle Freiheit haben will, begreife ich nicht. Wen ich z. B. zwingen kann, von Weimar nach Leipzig zu [447] gehen, und noch dazu nach der neuen Fortschrittslehre, in nicht zu langer Zeit (in gedrängter Form), ohne nur einmal auszuruhen (alle Tonsätze miteinander verbunden), und endlich auf dem ganzen Wege sich nur mit einem Gedanken zu beschäftigen (Thema), mag er ihn auch drehen und wenden dürfen wie er will (thematische Umwandlung), der wäre ein freies Individuum! Wie unterscheidet sich nach Herrn Zellner die neue Fortschrittslehre von der alten Fugenlehre, der sie wie ein Ei dem andern zu gleichen scheint? „In der Fuge“ sagt unser Autor, „liegt der Arbeit ein nahezu mathematisches Vorgehen zu Grunde“.42 In der, nach dem Begriff der sogenannten strengen Fuge, ja, nahezu. Aber findet Herr Zellner dieses nahezu mathematische Vorgehen auch in der Ouverture zur 39 Ebd.,
Hervorhebungen durch Lobe. 40 Ebd., Hervorhebungen durch Lobe. ner 1856 Aus der neuern Musikliteratur, S. 193, in: NdS 2 Nr. 91, S. 1140.
41 Ebd. 42 Zell-
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Zauberflöte43, oder in dem letzten Satz der Mozart’schen C-dur-Symphonie44? In diesen Stücken ist der Formzwang aufgehoben, und er ist durch das aufgehoben, was die neue Fortschrittslehre verwirft, durch zeitweises Verlassen des Hauptthema und Einführung von äußerlich heterogenen Zwischengedanken. Und hat Herr Zellner bedacht, daß seine neue Fortschrittslehre dem künftigen Komponisten die Erlaubniß abschneidet, zwei scheinbar heterogene Gedanken später zusammenzubringen, eine Erscheinung der Polyphonie von so großem Reiz für den musikalischen Hörer? Und hat Herr Zellner ferner bedacht, daß, wenn ein Tonstück vernünftigerweise nur ein Thema verarbeiten darf, eines der größten Meisterwerke der Polyphonie und des musikalischen Genies zugleich, das Finale der Mozart’schen C-dur-Symphonie für das unvernünftigste erklärt wird, da es fünf äußerlich von einander verschiedene, also heterogene Themas als freie Quintupelfuge verarbeitet? Bringt Herr Zellner alle bisher erschienenen Trios, Quartetten, Ouverturen, Symphonien deshalb unter den Allgemeinbegriff triangulirte und nivellirte Schablone45, weil sie einige Hauptzüge der Form miteinander gemein haben, so ist durch die angebliche Form der neuen Fortschrittslehre nichts als wieder eine Schablone und zwar eine viel beschränktere als die vorige aufgestellt, da eine Form, die mehrere Themas zu einem Ganzen verbinden darf, doch offenbar mehr freie Gestaltungsweisen erlaubt, als eine, die absolut und überall nur die Aufstellung und Verarbeitung eines Themas zuläßt. Die Freiheit in der thematischen Behandlung aber, welche Herr Zellner dem einen Thema seiner Fortschrittsmusik zuschreibt, haben unsere großen früheren Meister sich längst selbst genommen, und ich wüßte keinen Komponisten der Welt zu nennen, der Beethoven in der unerschöpflichen Verschiedenheit und dem wunderbaren fantastischen Reiz seiner thematischen Umwandlungen übertroffen hätte. Läge die Schablone in der frühern Form, so sind schon die fünf anderen symphonischen Dichtungen Liszt’s nach der Schablone der ersten gemacht. Denn so große Verschiedenheiten sie gegeneinander zeigen, eine gemeinsame Form haben sie ebenfalls, sie bestehen anstatt aus getrennten Sätzen, aus verbundenen Gruppen und führen ein Hauptthema aus, doch keineswegs ohne alle Nebengedanken, wie die neue Lehre verlangt. Welcher Mannichfaltigkeit aber die alte Schablone fähig ist, zeigt der flüchtigste Blick über die sämmtlichen Kompositionen Beethoven’s. Nicht zwei sind sich in Gestalt und Wesen ganz gleich, viele aber sehr von einander verschieden. Herr Zellner halte, um nur ein Beispiel anzuführen, die Cis-mollSonate46 und die neunte Symphonie zusammen. Was fängt denn aber die neue Fortschrittslehre mit Berlioz an? Er hat ja Symphonien mit getrennten Sätzen und mehreren Themas gemacht. Will Herr Zellner konsequent sein, so muß er sie unter die alten Schablonenarbeiten werfen und verwerfen. Was fängt die neue Fortschrittslehre mit Wagner an? Seine Tannhäuser47- und Faustouverture48 verarbeiten ebenfalls mehrere Themas.
43 Wolfgang Amadeus Mozart, Die Zauberflöte (UA 1791). 44 Mozart, Symphonie Nr. 41 JupiterSymphonie C-Dur KV 551 (EZ 1788). 45 Zellner 1856 Aus der neuern Musikliteratur, S. 189, in: NdS 2 Nr. 91, S. 1137. 46 Ludwig van Beethoven, Klaviersonate Nr. 14 Mondscheinsonate cis-Moll op. 27/2 (ED 1802). 47 Wagner, Tannhäuser (UA 1845). 48 Wagner, Eine Faust-Ouvertüre d-Moll WWV 59 (UA 1844).
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[448] Kann die Zellner’sche Fortschrittslehre die Liszt’sche sein? Letzterer würfe ja in die Rumpelkammer die Werke zweier Männer die er am meisten liebt, und für die er mit so großer Energie und Beharrlichkeit durch That und Schrift gewirkt hat und fortwirkt. Weiter! „Der neue Gestaltungsprozeß ist ein ausschließlich psychologischer.“49 Ausschließlich psychologischer Gestaltungsprozeß! Wollte uns doch der Verfasser nur an einem Beispiel nachweisen, welche Bewandtniß es damit hat. Zuerst irgend eine Leidenschaft nennen, und deren Wesen in allen ihren Regungen, in ihrem ganzen Lebensprozeß, von ihrem ersten Lebenshauche bis zu ihrem letzten Todeshauche entwickeln. Wenn er dies versuchen wollte, würde er zuerst auf die Erkenntniß stoßen, daß das keinem Menschen möglich sei. Wir haben wohl eine Art innerer Anschauung von den Erscheinungen im Gemüth, aber sie ist doch eigentlich sehr dunkler Art und weniger mit dem Verstande als mit dem unmittelbaren Gefühl, das aber in jedem Menschen Modifikation erleidet, zu erfassen. Zweitens würde der Verfasser weiter erkennen, daß von der bezüglichen Leidenschaft, soweit wir sie innerlich anschauen können, nur ein Stück, ein Fragment für die Kunstdarstellung herausgenommen werden kann. Wir vermögen den jahrelangen Schmerz von seinem ersten Aufleben bis zu dem Momente, wo die letzte leichte Regung hinwegschwindet, nicht durch eine jahrelange fortzuspielende symphonische oder irgend eine andere musikalische Form psychologisch wahr darzustellen, sondern wir müssen ein Abbild davon dem Hörer vortäuschen, das von der Wirklichkeit himmelweit absteht. Daraus würde er drittens ersehen, daß von einem ausschließlich psychologischen Gestaltungsprozeß nicht die Rede sein kann, sondern daß der psychologische Prozeß einschließlich der musikalischen Kunstform geschehen muß. Daraus würde viertens fließen, daß die musikalische Kunstform für sich gewisse bestimmte Gesetze hat, die mit dem psychologischen Inhalt beobachtet werden müssen, wenn sie dem menschlichen Ohre faßbar und dem menschlichen Geiste wohlgefällig erscheinen sollen. Oder sind Herrn Zellner noch keine Stellen in der Musik vorgekommen, denen er psychologische Wahrheit, soweit sie Musik nur vorzutäuschen vermag, zusprechen mußte, die ihm aber trotzdem wegen ihrer schlechten konstruktiven oder instrumentalen Form ganz und gar nicht gefielen? Wäre aber die psychologische Erscheinung im Menschengemüthe ganz hell und sicher wie etwa ein äußerer sichtbarer Gegenstand anzuschauen, so hätte sie eine ganz bestimmte, feste Form, und wo bliebe alsdann die schrankenlose Freiheit, der freie Gestaltungsprozeß von Zellner’s neuer Fortschrittslehre? Würden denn alle die mannichfaltigen Erscheinungen des Gemüths sich dem Gesetz fügen: Ein Hauptgedanke nur, und dieser eine mit seinen thematischen Umgestaltungen überall im ganzen Tonstücke? Doch genug von dieser neuen Fortschrittslehre! Ich werde später auch zu zeigen suchen, was man in unserer Zeit von dem Worte „Schule“ in der Kunst zu halten hat.50
49 Zellner 1856 Aus der neuern Musikliteratur, S. 193, in: NdS 2 Nr. 91, S. 1140, Hervorhebung durch Lobe. 50 Ein Artikel Lobes, welcher sich speziell der Frage nach einer „Schule“ in der Kunst widmet, ist entgegen der Ankündigung nicht erschienen.
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Kommentar Mit dem vorliegenden Text reagierte Johann Christian Lobe auf zwei Artikel des Wiener Musikkritikers Leopold Alexander Zellner aus dessen Blättern für Musik, Theater und Kunst aus dem Jahr 1856, in denen dieser öffentlich sein Bekenntnis zur ‚Zukunftsmusik‘ abgelegt hatte.51 Die im vorliegenden Aufsatz zu beobachtende Vorgehensweise Lobes, längere Zitate aus den Originalartikeln abzudrucken und sie mit kommentierenden Einschüben zu versehen, ist dabei ein zeittypisches Verfahren der inhaltlichen Auseinandersetzung. Auch der Titel von Lobes Artikel ist dem ersten der beiden Aufsätze Zellners entnommen. Ausgangspunkt der Argumentation Lobes ist die von ihm als „Krankheit“ bezeichnete Tendenz auf Seiten der musikalischen ‚Fortschrittspartei‘, „einerseits längst bekannte Wahrheiten für Entdeckungen neuer Prinzipien auszugeben, andererseits der musikalischen Kunst neue Wege anzuweisen, die sie nur in’s Unglück führen“ könne.52 Insbesondere die Aussagen Zellners, wonach die „Weimarer Schule“ in der Musik die bisherige Form-Inhalt-Dichotomie überwinde53, musste den Widerspruch Lobes provozieren, der seinerseits stets von einer evolutionär auf Mozart, Haydn und Beethoven beruhenden Kunstentwicklung tradierter Formen und Ausdrucksmittel überzeugt war.54 Insbesondere das kompositorische Erbe Beethovens steht in der Auseinandersetzung zwischen Lobe und Zellner im Vordergrund, welches zu dieser Zeit auf klassizistischer Seite vor allem in einer speziell die ersten acht Beethoven-Symphonien fortführenden symphonischen Tradition gesehen wurde. Wie so oft in der damaligen Zeit wird der Wiener ‚Klassiker‘ dabei von der einen Seite als Beleg für ein nur noch epigonales Komponieren in der Gegenwart,55 von der anderen zugleich für die Lebensfähigkeit der klassischen Prinzipien, die nur durch ein Genie mit neuem Leben gefüllt werden müssten, in Anspruch genommen.56 Ein weiterer inhaltlicher Schwerpunkt der Auseinandersetzungen zwischen beiden Autoren ist die Frage nach dem Verhältnis von Form und Inhalt der Musik, die nach dem Erscheinen von sechs Symphonischen Dichtungen Liszts im Mai 1856 wieder an Intensität gewonnen hatte. Während Zellner die neuartige Einsätzigkeit als Ergebnis der konsequent betriebenen (mono-)thematischen Arbeit an einem Kerngedanken als Hauptprinzip der „neuen Schule“57 proklamiert hatte, musste dem an Mozart, Haydn und Beethoven sowie musiktheoretisch an den Schriften Friedrich Wilhelm Marpurgs, Johann Georg Sulzers und Ferdinand Hands autodidaktisch gebildeten Lobe58 diese vermeintliche Vernachlässigung
51 Siehe Zellner 1856 Musikalische Wochenlese, in: NdS 2 Nr. 89 sowie Zellner 1856 Aus der neuern Musikliteratur, in: NdS 2 Nr. 91. 52 Alle Zitate des Satzes in vorliegendem Artikel, S. 1183 [440]. Siehe hierzu auch Lobe 1856 Woher ist das Reden. 53 Siehe Zellner 1856 Aus der neuern Musikliteratur, S. 189, in: NdS 2 Nr. 91, S. 1136. 54 Siehe hierzu auch Lobe 1848 Fortschritt, in: NdS 1 Nr. 7. Zu Lobes Kunstansichten insgesamt vgl. Brandt 2002 Johann Christian Lobe, S. 200 – 296. 55 Siehe etwa Cornelius 1854 Concertmusik, in: NdS 2 Nr. 69. 56 Vgl. etwa Bischoff 1853 Noch einmal: Was wir wollen; sowie Wolzogen 1857 Musikalische Leiden. Vgl. hierzu insgesamt Schröter 1999 „Der Name Beethoven ist heilig in der Kunst“. 57 Siehe Zellner 1856 Aus der neuern Musikliteratur, S. 190, in: NdS 2 Nr. 91, S. 1139: „Der Jünger der neuen Lehre stellt einen Gedanken hin. Es ist das Thema, von dem Alles ausgeht, auf welches alles zurückkehrt, es ist Keim, Saat, Blüthe und Frucht zugleich. Die Sonne die alles beleuchtet, die allhin mit ihren wärmenden, belebenden Strahlen dringt.“ 58 Vgl. Brandt 2002 Johann Christian Lobe, S. 301.
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der Form möglicherweise als Verstoß gegen die Grundgesetze der Musik erscheinen. Diese Verteidigung tradierter Formen bei Lobe darf jedoch nicht mit einer bloßen Formalästhetik gleichgesetzt werden.59 Lobe bestand darauf, dass das durch die Form Erklingende dem Rezipienten Vergnügen bereiten müsse.60 Wie sehr zu dieser Zeit innerhalb des musikbezogenen Diskurses – besonders in den Musikjournalen – ein Kampf um die Deutungshoheit über ein und denselben Begriff ausgefochten wurde, zeigt das Beispiel der sowohl bei Lobe als auch bei Zellner ausführlich angesprochenen Idealvorstellung einer ‚Organizität‘ des Kunstwerks. So hatten bereits Herder, Kant und Goethe das Organische zu einem zentralen Maßstab für ‚echte‘ Kunstwerke erhoben,61 worunter die organisch-logische Entwicklung eines Werkes aus einem einzigen thematischen ‚Samen‘ verstanden wurde. Diese Vorstellung wird auf der einen Seite von Lobe als Charakteristikum für Beethoven und die musikalische Klassik in Anspruch genommen, von Zellner hingegen – in dem ebenfalls von Lobe kritisierten Beitrag – mit Blick auf die ersten beiden Opera des Liszt-Schülers Rudolph Viole als exklusives Merkmal der Neuartigkeit von Werken der „neuen Schule“ angeführt.62 Insgesamt zeigt sich an dem vorliegenden Aufsatz Lobes ambivalente Haltung gegenüber den Zukunftsmusikern, die er deutlich in Komponisten und parteipolarisierende Kritiker trennt: Während er den von ihm anerkannten Köpfen der ‚neuen Musik‘, zu denen er Liszt, Wagner und Berlioz zählte, vorwiegend Anerkennung bis hin zu enthusiastischem Lob zollte,63 konnte er andererseits eine scharfsinnig-polemische Haltung an den Tag legen, wenn es seiner Meinung nach galt, auf musikalische Lagerbildung abzielende Journalbeiträge sowie musikkritischen Trittbrettfahrern der ‚Zukunftsmusik‘ – Lobe spricht im Zusammenhang von Zellner von einem „blos analysirende[n] Musiker“64 – ihre Grenzen innerhalb der musikästhetischen Auseinandersetzung aufzuzeigen.65
hierzu auch die ablehnende Rezension Lobes auf Hanslicks Ästhetik (Lobe 1857 Gegen Dr. Hanslick). 60 Siehe Brandt 2002 Johann Christian Lobe, S. 289. 61 Vgl. hierzu insgesamt Thaler 1984 Organische Form; Köhler 1996 Natur und Geist sowie Noeske 2012 Musik als Organismus. 62 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 57. 63 Siehe etwa Lobe 1845 Malende Instrumentalmusik, in: NdS 1 Nr. 2; Lobe 1853 Hektor Berlioz, in: NdS 1 Nr. 43 sowie Lobe 1856 Briefe über Liszt’s Symphonische Dichtungen, in: NdS 2 Nr. 99. 64 Vorliegender Artikel, S. 1186 [443]. 65 Siehe hierzu etwa Lobe 1856 Ein neuer Prophet, in: NdS 2 Nr. 93. 59 Siehe
Nr. 99 | Anonym [Johann Christian Lobe], „Briefe über Liszt’s Symphonische Dichtungen“, in: Fliegende Blätter für Musik 2 (1855 –1857), Nr. 7 (1856), S. 385 – 416.
Briefe über Liszt’s symphonische Dichtungen.
Erster Brief. Nachdem das Publikum lange vorher auf Liszt’s symphonische Dichtungen auf merksam gemacht worden, sind jetzt sechs derselben gleichzeitig in Partitur erschie nen (Leipzig, bei Breitkopf und Härtel, „Tasso“, „Les Préludes“, „Festklänge“, „Mazeppa“, „Prométhée“, „Orphée“)1 und man ist in den Stand gesetzt, von den Berichten Anderer abzusehen. Zwar habe ich diese Werke bis jetzt nur mit den Augen gehört. Bedeutende Kompositionen sollten jedoch, meiner Erfahrung nach, anfänglich gar nicht anders geprüft werden dürfen. Kein Eingeweihter wird be streiten, daß das geübteste Ohr nicht im Stande ist, dem Geiste nach der ersten Auf führung flüchtig vorübereilender Tonwerke so ausführliche und treue Nachrichten über den technischen Bau und den geistigen Inhalt derselben mitzutheilen, als das Auge des Kenners schon nach einer sorgfältigen Durchsicht der Partitur zu liefern vermag. Die langjährige Zurückhaltung, welche Liszt bei seinen symphonischen Dichtun gen Behufs einer sorgsamen Feile beobachtet,2 durfte eine gute Meinung für diesel ben erwecken. „Jahre lang bildet der Meister, und kann sich nimmer genug thun.“ Zu dem „genialen Geschlecht, dem es im Traume beschert wird“3, rechnet er sich nicht. Ich will indessen nicht verhehlen, daß ich aus einem anderen Grunde die Par tituren auch mit einer schlimmen Erwartung aufschlug. Die hundert Variationen,
1 Die
genannten sechs Symphonischen Dichtungen waren Anfang Mai 1856 bei Breitkopf & Härtel in Leipzig publiziert worden. Die spätere Reihenfolge der Symphonischen Dichtungen wurde erst 1857 mit der Veröffentlichung aller neun Symphonischer Dichtungen festgelegt; hinzu kamen: Nr. 1 Ce qu’on entend sur la montagne S 95, Nr. 8 Héroïde funebre S 102 und Nr. 9 Hungaria S 103. 2 Das erste Werk, das Liszt als „Symphonische Dichtung“ betitelt aufführte, war Mazeppa und erklang erstmals am 19. April 1854 in Weimar. Im gleichen Jahr folgten am 9. November als Einleitung zu Schillers Huldigung der Künste die Symphonische Dichtung Festklänge sowie am da rauffolgenden Tag Orpheus. Die Aufführungen des Tasso fand am 28. August 1849 als Konzert ouvertüre anlässlich von Goethes Tasso in Weimar statt, die der ersten Fassung von Ce qu’on entend sur la montagne im Februar 1850 und Prometheus am 24. August 1850 als Ouvertüre zu den Chören zu Herders Der entfesselte Prometheus. 3 Beide Zitate aus Schillers Xenie „Die Sonntagskinder“: „Jahre lang bildet der Meister und kann sich nimmer genug thun, / Dem genialen Geschlecht wird es im Traume bescheert!“ (Schiller-Werke 1, S. 349).
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welche viele seiner Verehrer in den Journalen über das unglückselige Thema auf spielten: „Der geniale Komponist kann seine Anerkennung erst von der Zukunft erwarten“, hatten mich stutzig gemacht. Doch habe ich nach dem genauesten Stu dium nicht die geringste Spur von Dingen entdecken können, welche zu hören die Gegenwart unwürdig, welche zu verstehen die Gegenwart unfähig sein sollte. Wenn diese Werke nicht im Augenblick vollständig wirken, so hat das sehr natürliche Ursachen, welche in jeder Gegenwart liegen, die aber auch jede Gegenwart beseitigt, wie ich weiter unten auszuführen Gelegenheit [386] haben werde. Vorerst will ich nach meiner Weise durch in die Augen fallende Thatsachen zu beweisen versuchen, daß diese symphonischen Dichtungen eines Passes auf die Reihe in die Zukunft hinein ganz und gar nicht bedürfen. Ich nehme vorerst den „Tasso“4 vor.
Zweiter Brief. Technische Konstruktion. Meine erste Frage an diese Partitur war: Hat Liszt die wesentlichen Konstruktions gesetze der musikalischen Perioden und Gruppen verletzt? Verzerrte, mißgestaltete Gedankenzeichnungen, welche der Kenner für ein Zeichen von Schülerhaftigkeit und mangelnden Sinn für wohlgefällige Verhältnisse erkennt, werden jetzt zuweilen für zukünftliche Originalitätsoffenbarungen wirklich gehalten oder doch dafür er klärt. Ich suche nicht, sondern fange mit dem Anfange an, und setze zunächst die Zeichnung der ersten Periode her. Beispiel 1.5
Daß diese Periode einen vollkommen klaren und begreiflichen Organismus hat, sieht jeder Musikverständige. Sollte Liszt den alten Gesetzen im Anfang blos eine Kon zession gemacht, sie weiterhin aber in Genialität verletzt, oder wie man sich jetzt so gern ausdrückt, „zertrümmert“ haben?
Symphonische Dichtung Tasso S 96. 5 Ebd., T. 1– 7. Die Taktnachweise sämtlicher Noten beispiele erfolgen Lobes eigenhändigen Auszügen entsprechend durch die Partitur. 4 Liszt,
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Hier stehe nun die ganze erste Gruppe. Beispiel 2.6
[387]7 Dieses kleine Gemälde ist in seiner melodischen Konstruktion aus wenigen Mo tiven und durchgängig klar, symmetrisch und faßlich gebildet. Ich habe die Kon struktion aller Gedanken des Werkes aufs Genaueste untersucht, und bin auf keinen einzigen gestoßen, der durch Mißgestalt beleidigen, durch Verkünstelung verwirren könnte. Alle treten als originelle, aber zugleich als vollkommen regelrechte Gestalten vor den Sinn. Wenn es darauf ankäme, so wären aus der letzten Periode Beethoven’s künstlichere und schwerer zu fassende Kombinationen aufzuführen, als in Liszt’s symphonischen Dichtungen sich zeigen.
Dritter Brief. Form. Die Form des „Tasso“ weicht von der bisher gebräuchlichen Gestaltungsweise der Symphonie ab. Sie besteht aus einer Anzahl größerer und kleinerer Gruppen, die ohne Unterbrechung aufeinander folgen. In jeder erscheint derselbe Hauptgedanke, eine venetianische Volksmelodie8, thematisch verarbeitet. Hier liegt also ein Beispiel vor, an welchem wir uns klar machen können, wie ein verständiger Künstler neue Formen schafft. Das große Geheimniß, ich sage nicht Verdienst, liegt in der Formel: neue Kombination des Alten. Hieße die Formel: Auf stellung von absolut noch nicht Dagewesenem, so sähe es mit Liszt’s wie mit jeder
6 Ebd., T. 8 – 26. 7 Der Seitenumbruch erfolgt in den Fliegenden Blättern nach Takt 8 des Noten beispiels. 8 Liszt entlehnte das Hauptthema seines Tasso einem traditionellen Gesang veneziani scher Lagunenschiffer. Diese Melodie, auf die die beiden Anfangsverse von Torquato Tassos Epos Gerusalemme Liberata (Das befreite Jerusalem, vollendet 1574) gesungen wurden, hörte Liszt 1838 in Venedig.
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wahren Originalität schlimm aus. Im Sinn der letztern Formel ist an dem vorliegen den Werke gar nichts Neues. Die ununterbrochene Folge der Sätze haben Mendels sohn, Spohr, Schumann in Symphonien gebracht9; die Durchführung eines Themas in verschiedenen Sätzen ist in Berlioz’s „Sinfonie fantastique“ zu finden. Ouverturen von Schneider, C. M. v. Weber, Littolf10 [sic] behandeln Volksmelodien thematisch. Was die An-[388]einanderfügung kleinerer Gruppen, anstatt großer selbständiger, von einander getrennter Sätze betrifft, so lasse man ein Mozart’sches Finale, das erste zu Don Juan11 z. B., ohne Worte aufführen, oder denke an Beethovens Musik zu Egmont12, wie sie im Konzertsaale unmittelbar verbunden zu hören ist, so hat man fast Spiegelbilder der äußeren Liszt’schen Form des Tasso. Es liegt in derselben freilich an sich nichts, was ihre Wirksamkeit auf Herz und Geist des Hörers schlechthin über die Wirksamkeit der bisherigen Symphonieform erheben müßte. Es wird auch kein unbefangener Musiker behaupten wollen, daß die Zustände aber z. B. Beethoven in seiner symphonischen Dichtungsweise durchaus nicht hätte gelingen können. Liszt hat sie zur Versinnlichung seiner Idee zweck mäßig befunden, und so kann und wird sie Jedem erscheinen, der nicht jede Ab weichung von dem Gewohnten schlechthin für einen Irrweg ansieht. Jede Form ist gut, welche bedeutende und schöne Gedanken in musikalischlogischer Gestalt vo rüberführt. Die Liszt’sche Form wird dem Talentlosen keine genialen, die Beetho ven’sche dem Talentvollen keine gemeinen Gedanken zuführen. Die wahre Genia lität liegt in anderen Dingen.
Vierter Brief. Worin liegt die Originalität der Tonwerke? In nichts Anderem, als in neuen Kombinationen des Dagewesenen. Sind neue Gegenstände für die musikalische Schilderung aufzufinden möglich? Das glaubt kein vernünftiger Musiker. Seine Objekte sind und bleiben die Affekte, Gefühle und Leidenschaften des menschlichen Herzens, und wie dieses in Ewigkeit sich nicht ändert, so auch niemals seine Empfindungsprodukte. Alle Arten von Gemüthserscheinungen sind bereits musikalisch dargestellt worden. Den Titel: „Tasso“ hat vielleicht noch kein Tonwerk getragen; die neunte Symphonie Beethoven’s erzählt uns davon. Beethoven’s Charakter und Lebensereignisse bieten manche Aehnlichkeit mit denen Tasso’s.
sind Felix Mendelssohn Bartholdy, Sinfonie Nr. 3 Schottische a-Moll op. 56 (UA 1842); Robert Schumann, Symphonie Nr. 4 d-Moll op. 120 (UA 2. Fassung: 1853), Louis Spohr, Sym phonie Nr. 3 c-Moll op. 78 (UA 1828). 10 Friedrich Schneider, Ouvertüre zu Die Braut von Messina op. 42 (1817), Polnische (1818), zu God save the King op. 43, Dessauer Marsch op. 50 (1822), Jagd-Ouvertüre Nr. 1 und 2 op. 66 und 67 (1826), Akademische op. 84 (1829), Festouvertüre (1848); Carl Maria von Weber, Ouvertüre zu Peter Schmoll op. 8 (EZ 1807), Ouvertüre zum Beherrscher der Geister op. 27 (ED 1813), Jubel-Ouvertüre op. 59 (UA 1818). Henry Litolff, Ouverture heroique op. 99, Ouverture dramatique op. 101. 11 Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni (UA 1787). 12 Lud wig van Beethoven, Egmont op. 84 (ED 1810/1812). 9 Gemeint
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Ist die Originalität in der äußeren Form der einzelnen musikalischen Gedanken zu geben? Sucht in welchem neuesten Werke ihr wollt, ihr werdet sie nicht finden. Ob das Gerippe einer Periode aus sechs, acht, zehn, elf, zwölf Takten besteht, macht den Gedanken, der darin erscheint, weder neu noch alt, [389] weder schön noch häßlich. Ebensowenig ist absolut Neues durch die Zahl und Mischung der einzelnen Motive in derselben zu erzeugen. Vom durchgeführten einzigen Motivgliede an, bis zu sieben verschiedenen Motiven in der achttaktigen Periode sind alle Gestaltungsweisen bereits vorhanden. Diese Gesetze der logischen Bildung der einzelnen Gedanken sind aus der Musik, wenn man nicht wesentliche Glieder derselben verstümmeln, verrenken und dadurch den musikalischen Körper verhäßlichen will, ebensowenig zu beseitigen als die Gesetze des Satz- und Periodenbaues aus der Sprache. Auch im ganzen „Tasso“ wird man keine einzige Periode und Gruppe nachweisen können, die in den ange gebenen Beziehungen absolut neue Dinge enthielte. Da das Werk ein originelles ist, so muß die Originalität weiter gesucht werden. Ist sie in der tonischen und rhythmischen Gestalt der einzelnen Motive noch zu zeigen? Ich will die Unmöglichkeit davon nicht absolut behaupten, das aber ist gewiß, daß, wo man auch in den neuesten Werken auf den Toninhalt der einzelnen Stimme des einzelnen Taktes blickt, man wenigstens äußerst selten ein Motiv finden wird, das im strengsten Sinn ein wirklich neuerfundenes zu nennen wäre. Sie sind zum aller größten Theil schon dagewesene, reproduzirte. Die sogenannte Originalität in dieser Beziehung besteht im besten Falle darin, daß die moderneren Motive überwiegen. Nicht schwer kann es dem Musikbelesenen werden, aus den Beethoven’schen, Ber lioz’schen, Liszt’schen u. s. w. Tondichtungen einzelne Motive vorzulegen, deren Zwillingsbrüder wie in Gluck’s, Händel’s, Bach’s, so auch in Kauer’s13, Wenzel Mül ler’s14 u. s. w. Partituren und sonstigen Werken schon der damaligen Welt sich vor gestellt haben. Bis hierher also, was nämlich die Form der Zeichnung der Tonwerke betrifft, kann, wenn nicht geflunkert, sondern empirisch deducirt werden soll, von schlechthin Neuem, noch nie Dagewesenem, die Rede nicht sein. Die musikalische Komposition ist in der That, was das Wort bedeutet, Zusammensetzung vorhandenen Materials zu neuen Mischungen und Verbindungen.
13 Ferdinand Kauer (1751–1831), österreichischer Komponist und Dirigent, lebte in Wien und schuf über 200 Opern und Singspiele, beispielsweise Das Donauweibchen (UA 1798) oder auch die Musik zum Schauspiel Das Faustrecht in Thüringen (UA 1796), sowie etwa über 20 Messen, Re quiems, Symphonien, Quartetten und Konzerte. Der Großteil seiner kompositorischen Aufzeich nungen wurde beim Donauhochwasser 1830 zerstört. 14 Wenzel Müller (1759 –1835), österrei chischer Komponist und Theaterkapellmeister, war einer der populärsten Komponisten des AltWiener Volkstheaters und komponierte etwa 250 Werke nahezu aller Gattungen des zeitgenössischen deutschsprachigen Musiktheaters, dabei insbesondere volkstümliche Bühnenwerke und Singspiele sowie zahlreiche Wiener Kasperl- und Zauberopern. Mehrere seiner Werke, wie die Opern Das Sonnenfest der Braminen (UA 1790), Der Fagottist oder Die Zauberzither (UA 1791), Das neue Sonntagskind (UA 1793) und Die Schwestern von Prag (UA 1794) waren nicht zuletzt durch die Ver wendung traditioneller Volkslied- und Tanzformen durchschlagende, in den folgenden beiden Dezennien je bis zu 100 Mal aufgeführte Werke. Die Qualität seiner für den Tagesbedarf des Theaters bestimmten Kompositionen war jedoch recht ungleich und hat in späterer Zeit stark nachgelassen.
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Diese Kunst ist, wenn man die ächten, festgestellten Gesetze nicht respektiren, sondern nach freiester Willkühr kombiniren will, die allerleichteste, wenn aber jene Gesetze beibehalten werden sollen, sehr schwer, und wird, wegen der stets zuneh menden Masse von Musikproduktionen für jeden nachkommenden schaffenden Tonkünstler immer schwerer. Und hier zeigt sich der für den Eingeweihten und sine ira et studio15 Betrach tenden unverkennbar der Unterschied zwischen dem originellseinwollenden Talent und dem wirklich originellen Genie. Dem musikalisch kenntnißlosen ästhetischen Phrasenmacher, wie dem oberflächlich Betrachtenden oder nur einmal Hörenden werden neue musikalische Kombinationen entweder gleich verwirrt oder gleich genial vorkommen, nachdem es ihm so oder so durch fanatische Lob- oder Ver-[390] ächtlichkeitsphrasen vorgesagt wird. Auf solche Rechtsverdreher ist Macaulay’s16 Fabel von dem Brahminen gemünzt, die ich im vorigen Hefte zum Besten gege ben.17 Hier stehe auch die Moral des englischen Denkers. „Der Dichter will uns augenscheinlich gegen die Lobhudler warnen, also gegen eine Menschenklasse, die mehr als einmal das Publikum in die einfältigsten Irrthümer hineingeredet haben.“18 Die zwei aufgezeigten Beispiele aus dem „Tasso“ beweisen schon, daß Liszt hinsichtlich der Zeichnung seiner Perioden und Gruppen sich streng an die musika lisch-logischen Gesetze hält. Und ob alles gleich in meinem Sinn neue Kombination des Vorhandenen ist, wie es das höchste Kunstgenie nicht anders machen kann, so wird man dennoch jenen Gedanken wie allen seinen symphonischen Dichtungen die wahre Originalität und Eigenthümlichkeit im eminentesten Grade nicht ab sprechen können. Nicht einen einzigen Gedanken vermag ich aufzufinden, und man glaube mir, daß ich danach gesucht habe, der mit irgend einem Gedanken früher oder gleichzeitiger Meister in Reminiscenzverhältniß stände. Habe ich daher zu beweisen gesucht, und werden die folgenden Briefe weiter zeigen, daß Liszt ebensowenig wie jemals irgend ein ächter Komponist unerhört Neues produzirt, so geschah und geschieht das nicht, um seine Arbeiten herabzuziehen, sondern um den durch unverständige Lobhudeleien hervorgerufenen, für sein Wir ken so schädlichen Glauben zu beseitigen, als suche er die Originalität in Dingen, die außerhalb der Grenzen unserer Kunst liegen.
15 (Lat.) Ohne Zorn und Eifer. Überliefert als Maxime des römischen Historikers und Senators Cornelius Tacitus (1. Jh. nach Chr.) im Sinne einer Geschichtsschreibung frei von Wertung und Parteilichkeit. 16 Anfang der 1850er Jahre wurden etliche historische und literarische Essays und Schriften des englischen Historiker, Dichters und Politikers Thomas Babington Macaulay (1800 –1859) ins Deutsche übersetzt. Bis 1863 waren seine gesammelten historischen und literari schen Schriften innerhalb von zehn Jahren dreimal neu aufgelegt worden. 17 Lobe 1856 Eine Fabel. 18 In der ersten 1853 erschienen deutschen Übersetzung von Macaulay’s 1830 entstander Fabel Robert Montgomery heißt es etwas länger als oben zitiert: „Der Dichter will uns augen scheinlich gegen die Lobhudler warnen, also gegen eine Menschenklasse, die mehr als einmal das Publikum in die einfältigsten Irrthümer hineingeredet, aber sicherlich niemals eine merkwürdigere und schwierigere Rolle spielte, als da sie Herrn Robert Montgomery der Welt als einen großen Dichter aufschwatzte“(Macaulay 1853 Robert Montgomery, S. 133 f.). In einer Rezension Hanslicks wird ebenfalls auf Macaulay verwiesen (siehe Hanslick 1857 Les Préludes, in: NdS 2 Nr. 104).
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Fünfter Brief. Grundstoff und thematische Behandlung. Das Hauptthema zum „Tasso“ liefert, wie bemerkt, eine Melodie, welche die vene tianischen Gondoliere noch heutzutage über Strophen des „befreiten Jerusalems“ singen.19 Sie muß, Behufs weiterer Entwickelung des Werkes zuvörderst in ihrer Zeichnung dem Leser vor Augen gebracht werden. Beispiel 3.20
[391]21 Außer diesem Gesang tritt eine zweite Melodie auf, die wir als eine selbständige betrachten können, obgleich auch sie thematischen Herkommens ist, wie sich wei terhin zeigen wird. Beispiel 4.22
Der Leser merke sich noch folgende Figur aus der ersten Gruppe,23
so kennt er das Hauptmaterial, aus welchem diese ganze symphonische Dichtung geschaffen worden ist. vorliegender Artikel, Anm. 8. 20 Liszt, Tasso, T. 62 – 75; T. 91– 98 (T. 62 – 75, Bkl.; T. 91– 98, Hr. und 1. Vc.). 21 Der Seitenumbruch erfolgt in den Fliegenden Blättern nach Takt 12 des Notenbeispiels. 22 Ebd., T. 165 –174 (T. 165 –174, Vc. und Fg.). 23 Ebd., T. 6 f. (T. 6 f., Ob.). 19 Siehe
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Es ergibt sich hieraus, daß kein Vorwurf unbegründeter, mithin ungerechter sein würde, als der, daß Liszt neue Gedanken an neue Gedanken reihe, und seinen Kom positionen deshalb der kunstgemäße Organismus abgehe.24 Von dieser Maxime ist Niemand weiter entfernt als Liszt. Die Oekonomie in seinem „Tasso“ ist vielmehr eine so strenge, wie sie nur in dem strengsten Haydn’schen, Beethoven’schen Quar tett- oder Symphoniesatze gefunden werden mag. In der thematischen Arbeit folgt Liszt durchaus keinen anderen Grundmaximen, als die besten Meister vor ihm gefolgt sind. Er greift entweder einzelne Motive aus dem Hauptgedanken heraus, und ent wickelt daraus neue Gestalten, oder: er wiederholt das ganze Thema, verleiht diesem aber durch anderes Akkompagnement, andere Kolorirung, ja zuweilen andere Taktund Tempoart, neue Charakterweisen, oder er bringt endlich auch zwei Haupt themas in unerwarteten Kombinationen zusammen. Die Beweise dafür werde ich weiter unten beizubringen eine geeignetere Gelegenheit finden.
[392]
Sechster Brief. Modulation. Keinem Theile der musikalischen Theorie hat die Praxis lange schon solche Schnipp chen geschlagen, wie der Lehre von der Modulation. Und bis zu einem gewissen Grade mit vollem Recht. Die psychologischen Gesetze der Natur und die Paragra phen unserer Lehrbücher über erlaubte und nicht erlaubte Ausweichungen und Ak kordverbindungen haben wenig miteinander zu schaffen. Nicht jeder Wechsel von Vorstellung und Gefühl in Kopf und Herz geht aus der Dur-Tonika in die Quinte, aus der Moll-Tonika in die kleine Oberterz, und sofort in die sogenannten ver wandten Tonarten. Daß Liszt sich in den Schilderungen der wechselvollen Vorstel lungen und Regungen, welche die leidenschaftliche Seele Tasso’s durchwogen, nicht nach den bisher aufgestellten Verwandtschaftsschemen und Zirkeln gerichtet hat, ist sehr natürlich. Auch sind die harmonischen und modulatorischen Freiheiten be kanntlich nicht blos das Verdienst der neuesten Komponisten. Vielmehr sind die auch hierin nur die Nachfolger älterer Meister. Schon Bach zeigt Dinge, wovon sich die Philosophie unserer heutigen Theorien noch nichts träumen läßt, und was Haydn, Mozart, Beethoven hierin gethan, wissen wir alle. Die erste Periode in der ersten Gruppe des „Tasso“ geht aus C-moll25; die zweite wiederholt jene in Gis- moll26. Ist das nicht eine unerhörte und schreckliche Neuerung? Ich glaube kaum. In dem Ein leitungs-Adagio der B-dur-Symphonie von Beethoven wird ein Theil der ersten B-moll-Periode unmittelbar darauf in H-moll wiederholt.27 Ich erinnere mich nicht, 24 Hanslick monierte beispielweise, dass in Les Préludes „Bestandtheile oft mosaikartig an einander gereiht, oft chaotisch durch einander gemengt erscheinen“ (Hanslick 1857 Les Préludes, S. 91, in: NdS 2 Nr. 104, S. 1278). 25 Liszt, Tasso, T. 1– 7. 26 Ebd., T. 8 –14. 27 Ludwig van Beethoven, Symphonie Nr. 4 B-Dur op. 60, 1. Satz Adagio, T. 6 –13 („B-moll-Periode“) und 18 – 25 („H-Moll“).
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daß diese Verachtung aller verwandtschaftlichen Tonbande irgend einem Hörer selbst bei der ersten Aufführung schrecklich vorgekommen wäre. Damit will ich indessen die jetzt gepredigte schrankenlose Freiheit der Modulation keineswegs billigen. Wie durch zu beschränkte wird man auch durch zu freie Behandlung der Kunstregeln unwirksam. Wem kann der verminderte Septimenakkord etwas Besonderes sagen, seitdem er auf jeder Musikzeile seine Kapriolen schneidet? „Si tout est permis, rien ne peut produire un grand effet.“28 Dies Wort der Staël wird wol seine Wahrheit für alle Künste behalten. Die älteren Meister standen in der Kühnheit ihres künstlerischen Gebahrens keinem neueren und neuesten nach, wenn sie einem großen Effekt damit erreichen wollten. Sonst aber erkannten sie das Maßhalten in dem Gebrauch aller Kunstmittel für eine wesentliche und unumstößliche Kunstmaxime an. Und hierin liegt der Unterschied zwischen der neuesten Kühnheit im Gebrauch der Modulation vor der älteren Kühnheit. Was früher als Ausnahme zulässig erschien, soll jetzt zur Regel erhoben werden. So beschränkt, wie sie die alten Theorien darstellen, ist sie ohne allen Zweifel nicht; so unbeschränkt, wie sie die neue Fortschrittslehre machen will, ganz gewiß [393] ebensowenig. Da Niemand, der das Wesen der Gemüthser scheinungen auch nur oberflächlich hat, läugnen kann, daß jede Stimmung, die sich charakteristisch benennen läßt, eine Einheit ist, da man durch Takt, Tempo, Figura tureninhalt, Kolorit u. s. w. diese Einheit in der Musik analogisch darzustellen sucht, so wäre es höchst sonderbar, wenn die Modulation hiervon allein eine Ausnahme machen und nur die unbedingteste Mannichfaltigkeit zu vertreten hätte. Wenn in jedem Takte eine andere Tonart erscheinen darf, warum nicht auch in jedem Takte eine andere Taktart, ein anderes Tempo, u. s. w.? Warum alsdann überhaupt ein Hauptgedanke? Ich bin weit entfernt, diese Philippika29 speziell an Liszt zu richten. Er vagirt keineswegs so planlos hin und her, wie die neueste Schule es verlangt; wo Lage und Stimmung seines Helden Konsistenz gewinnen, erhält im „Tasso“ auch die Tonart Grenze und Verstand. Nicht läugnen will ich jedoch, daß er diesen Theil unserer Kunst für mein individuelles Gefühl hie und da noch zu frei behandelt. Wie Rousseau eine ganz gute Melodie aus nur drei Tönen gebildet hat,30 so ist sicher eine Periode, ja ganze Gruppe der ausdrucksvollsten Art auch einmal mit nur drei leitereigenen Akkorden zu schaffen. Das freilich sollte der Talentlose wol bleiben lassen, während mancher Talentlose jetzt so kühn modulirt wie das höchste Genie. Wenn irgend eine Vermuthung auf die Zukunft einige Wahrscheinlichkeit für sich hat, so ist es die, daß man von der unbedingten Freiheit des Modulirens zurückkommen und bei einfache ren Objekten auch wieder einfachere Harmonien anwenden wird. 28 (Frz.)
Wenn alles erlaubt ist, kann nichts einen großen Effekt hervorrufen. Der Ausspruch stammt aus der 1800 publizierten politisch-soziologischen Hauptschrift Germaine de Staëls (1766 –1817) und wurde insbesondere wiederholt in Argumentationen zitiert, die sich gegen einen zu starken Bruch mit der künstlerischen Tradition wandten (Staël 1800 De la littérature considérée dans ses rapports avec les institutions sociales, S. 373). 29 Bestrafung. 30 Das Lied von Jean-Jacques Rousseau, L’Air de trois notes, dessen Melodie tatsächlich auf einen Tonvorrat von nur drei verschiedenen Tönen zurückgreift und mit sechs Textstrophen unterlegt ist, wurde 1781 im Rahmen seiner Liedersamm lung Les Consolations des misères de ma vie, ou Recueil d’airs veröffentlicht. In Frankreich waren die Lieder lange Zeit sehr beliebt und stießen auch in Deutschland auf große Nachfrage. Die Air de trois notes wurde in Leipzig sogar mit deutschem Text gedruckt (Gerber 1813 Art. „Rousseau“). Dass dieses Lied gerade aufgrund seiner einfachen Anlage „zum Inbegriff der Kunstlosigkeit“ wurde
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Siebenter Brief. Instrumentation. Liszt benutzt im „Tasso“ das Orchester, welches die neueste Zeit dem Instrumental komponisten bietet. Außer dem Streichquartett und den gewöhnlichen Holzblas instrumenten noch Piccoloflöte, Baßklarinette, vier Hörner, vier Trompeten, zwei Tenorposaunen, Baßposaune, Pauken, Tuba, Triangel, Militärtrommel, Becken, große Trommel und Harfe. An Schallmaterial fehlt es also nicht; mit vierundzwanzig Notenzeilen kann man das Ohr nöthigenfalls binnen einer Viertelstunde zu Tode martern. Nur müssen alsdann auch alle Linien tüchtig mit Noten bemalt sein. Wer nun die Kraft des Genies in immerwährenden Tonspektakel setzt, der wird sich wundern, wenn er den größeren Theil dieser Partitur in zwei Accoladen getheilt, und innerhalb derselben noch so viele leere Linien findet. Fast lächerlich mag es den Kraftliebhabern vorkommen, daß Liszt für jedes jener kostbaren Tonwerkzeuge, durch welche der geniale Schwung und begeistertste Ausdruck so sicher bewirkt werden kann, Triangel, Militärtrommel, Becken und große Trommel – eine be sondere Linie, [394] also vier Linien hingesetzt, aber fast nichts als – Pauken darauf geschrieben hat. Auf den sechsundvierzig ersten Seiten der Partitur kommen diese Instrumente nur in vierzehn Takten zur Aeußerung ihres Daseins; erst im letzten Tempo der letzten Gruppe reden sie in einundvierzig Takten mit31, aber selten alle zugleich sondern getheilt und überhaupt höchst bescheiden, nur als Bekräftiger der Hauptakzente. Der alte, abgethane Standpunkt Mozart hat die Janitscharenmusik in seiner kurzen Ouverture zur „Entführung aus dem Serail“32 in viel mehr Takten verwendet, als Liszt in seinem vielleicht sechsmal so langen „Tasso“ gethan. Man blicke auf die Zeichnung der ersten Gruppe. Die Fortissimo- und Fortebe zeichnungen des Anfangs der beiden ersten Perioden dürfte den Jupiter tonans gleich erwarten lassen. Hier die Instrumentation dieser Gruppe.
und „zum Träger bedeutungsvoller Visionen werden kann, ist dabei nichts weniger als ungewöhn lich, sondern erzähltechnische Folge der durch Rousseau und die Vertreter der Berliner Lieder schule gepflegten Ästhetik des Natürlichen, die das Kunstlos-Einfache bis zur Mystifikation favo risiert“ (Cloot 2001 Jean Paul und die Musik, S. 75). 31 Liszt, Tasso, T. 533 (Moderato pomposo) bis T. 584 (Schluss). 32 Mozart, Die Entführung aus dem Serail (UA 1782).
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Beispiel 533
33 Ebd.,
T. 1– 26.
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Um es kurz zu sagen: der Stellen, in welchen alle Instrumente zu dem stärksten Orchesterdruckern benutzt werden, sind nur wenige, und diese wenigen kann das Ohr der Gegenwart vollkommen ertragen und fassen. Wir werden weiter unten auf diesen Punkt zurückkommen. Wie ich schon bemerkt, ist in keinem Elemente der Musik absolut Neues zu bringen. Den auffallendsten Vorschritt in der Instrumentation hat ohne Zweifel Berlioz gezeigt. Doch wären in Gluck, C. M. v. Weber u. A. viele Keime und An regungen dazu nachzuweisen. Auch in diesem Punkte bringt Liszt nichts absolut Neues, Unerhörtes. Er bildet ein neues Glied in der Kette Meyerbeer, Berlioz, Wagner. [399] Dennoch sind die vielen, theils mächtigen, theils reizenden Instru mentaleffekte in seinen symphonischen Dichtungen überall keine Nachahmungen, sondern durchaus eigenthümliche, dem Liszt’schen Geiste wirklich entsprungene Gebilde, oft überraschend neue Kombinationen vorhanden gewesener Elemente. So wird z. B. Niemand mehr in unserer Zeit den Gebrauch der getheilten Violinen oder der Harfe in Instrumentalwerken für Ausflüsse eines besonders erfinderischen Geis tes erklären. Es gehört zu dem Gedanken, sie anwenden zu wollen, so wenig Genie als zur Wahl der Flöten, Hörner oder irgend eines anderen Orchesterinstrumentes. Aber die Kombinationen, welche Liszt mit jenen Instrumenten hervorbringt, sind keine Nachahmungen seiner Vorgänger, sondern neue, seiner und keiner anderen Phantasie entquollene. Es wäre noch ein Brief über die Melodie in dem Liszt’schen Werke zu schreiben. Ich habe jedoch meine Meinungen über die beiden Arten derselben, der Volks- und Kunstmelodie in den fliegenden Blättern bereits öfters, namentlich bei Gelegenheit der Berlioz’schen Ouverture zu den „Vehmrichtern“ ausgesprochen,34 und darf, um Raum zu weiteren Bemerkungen zu sparen, darauf hinweisen. Daß das melodische Element in beiden Beziehungen dem „Tasso“ nicht fehlt, sieht man ja schon an den vorliegenden Beispielen.
Achter Brief. Ausgleichung eines Zwiespalts. Man wird fragen: wenn alles in den symphonischen Dichtungen so gesetzmäßig hergeht, woher die Eingenommenheit so Vieler gegen Liszt als schaffenden Künst ler? Denn wir wollen es nicht verhehlen: wenn Liszt verkleidet und unerkannt die Musikwelt durchziehen und die Ansichten derselben über sich als Komponisten erforschen könnte, so würde er, wenn nicht erschrecken, doch erstaunen über die Entdeckung, wie äußerst gering zur Zeit noch die Zahl Derjenigen ist, die ihm wirkliches Talent zu höheren Komposition zutrauen.
34 Siehe Lobe 1853 Hektor Berlioz, in: NdS 1 Nr. 43. In seiner Prüfung des Genies Berlioz’ durch den Vergleich mit Werken Haydns, Mozarts und Beethovens nimmt Lobe eine Differenzierung zwischen einer Volks- und einer Kunstmelodie vor und scheidet dabei die „ächt musikalischen Gedanken“ einer Kunstmusik von den „populär-melodischen“, die sich „in Tänzen, Märschen, Volksund anderen einfachen Liedern“ zeigten (ebd., S. 450 [90]).
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Wie ist dieses Vorurtheil entstanden? Hierüber muß ich meine Gedanken aus sprechen, wenn meine vorangegangenen Briefe nicht als die Arbeit eines advocatus diaboli erscheinen sollen. Die Hauptschuld trägt das kleine Häuflein Derer, die ihn theils wirklich erkannt haben, theils nur in gemachtem Enthusiasmus über ihn flunkern, um sich als An hänger von ihm ein Ansehen zu geben. Die Art, wie seine ächten und falschen Ver ehrer bisher für seine Anerkennung kämpften, ist in der That mit geringen Ausnahmen eine durchaus verkehrte. Der neidische Gegner könnte [400] ihm nicht so schaden, als die Streiter für ihn durch die Presse geschadet haben. Was soll z. B. die musikalische Welt von Liszt’s Kompositionen erwarten, wenn bei allen Gelegenheiten das Wort „Ohrenschmaus“ als etwas hingestellt wird, das nur der rohe Haufe von der Tonkunst verlangen könne? Entbehren die Mozart’schen, Beethoven’schen Werke des ächten geistigen Saftes und Markes, weil sie dem Ohre den herrlichsten Schmaus bereiten? Das Bedürfnis des Schmauses ist von der Natur so diktatorisch in das menschliche Ohr gelegt, daß es niemals weggespottet werden kann. Es wird stets von angenehmen Klängen angezogen, von unangenehmen abgestoßen werden. Es wird den Gesang der Nachtigall in alle Ewigkeit lieber hören als das Gequake der Frösche. Armer Liszt! Wenn du nichts vermagst, als geistreiche und originelle Tonkombinationen in die Partitur zu schreiben, die im Orchester auflebend, dem Hörer anstatt Ohrenschmaus nur Ohrenqual bereiten, so lege die Kompositionsfeder aus der Hand; denn wie auch deine sonderbaren Freunde für dich in das Publikum hineinschimpfen mögen, du mühest dich umsonst ab. Die ganze gebildete Musikwelt, vom geringsten Laien bis zum höchsten Kenner, hat von jeder Musik ohne alle Ausnahme als erste Bedingung Wohlklang verlangt, – (denn dieser Begriff steckt hinter dem Worte „Ohrenschmaus“ bei allen vernünftigen Menschen) – und wird zu keiner Zeit den Mißklang an dessen Stelle gesetzt wünschen. „Lorsque l’on veut louer, on ne doit pas être absurde.“35 Die Ursachen, welche sich bei den ersten Aufführungen dem vollen Verständniß und der vollen Wirkung der Liszt’schen Komposition hinderlich entgegensetzen, sind keine anderen, als wie sie sich stets solchen Tonschöpfungen entgegengestellt haben, die dem Ohre der Hörer und der Festigkeit der ausführenden mehr zu muthen, als beide im Augenblick, nicht absolut und für immer, zu hören und aus zuführen gewohnt waren. Ich will in der Artikulirung der anfänglich sich bietenden Schwierigkeiten gegen den reinen Genuß der Liszt’schen Tondichtungen mit der Instrumentation anfangen. Mehr, als irgend eine frühere Zeit, geht die jetzige bei der Instrumentation vor Allem auf Bereitung des Ohrenschmauses aus. Wenn daher dem Hörer „Ohrenschmaus“ bereiten wollen, ein verächtliches Unternehmen ist, so hat man damit auch Liszt verurtheilt. Denn in allen seinen
35 (Frz.)
Wenn man ihn loben will, darf man nicht in’s Ungereimte verfallen. Diesen Satz formu lierte Louis Antoine Fauvelet de Bourienne im Vorwort seiner Memoiren über Napoleon (Bour rienne 1829 Mémoires de M. de Bourienne sur Napoléon, Bd. 1, S. 6) als Mahnung, trotz der bedeu tenden Taten Napoleons nicht ins grundlose Schwärmen zu verfallen. Deutsche Übersetzung nach der Stuttgarter Ausgabe desselben Jahres (Bourienne 1829 Der Staatsminister. Oder geheime Mission über Napoleon, Bd. 1, S. 9).
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Partituren ist kein einziger Takt nachzuweisen, dessen Instrumentation die Absicht zeigte, dem Ohre keinen Schmaus bieten zu wollen. Laß dich, unbefangene Musikwelt, nicht durch Worte gegen Liszt einnehmen. Er will, wie jeder vernünftige Komponist seiner Musik neben allen anderen ächten Erfordernissen auch durchgängig den Zauber des Wohlklanges verleihen. Ich behaupte nicht, daß es ihm mit jeder Note gelungen ist. Ich kenne auch keinen Komponisten, dem man dieses Verdienst absolut zusprechen [401] könnte. In der Instrumentirungs kunst lernt Keiner aus. Aber im Ganzen sind seine symphonischen Dichtungen auch mit den wohlklingenden Tonbildern erfüllt. Daß einzelne dergleichen schon bei der ersten Aufführung daraus zu vernehmen sind, geben alle Hörer, Kenner wie Laien zu. Das sind diejenigen, welche wegen ihrer einfacheren Kombinationen und leich teren Spielbarkeit von dem Orchester leicht begriffen und gleich gut ausgeführt worden sind. Es gibt aber andere darin, denen diese beiden Eigenschaften abgehen, die das Orchester nicht gleich begreifen und noch weniger gleich vollkommen nach der Intention des Komponisten ausführen kann. Nicht aus genialthuerischer Anmaßung, sondern aus trauriger Erfahrung bemerkt Liszt in der Vorrede zu seinen Werken: „In der geistigen Auffassung des Dirigenten liegt der Lebensnerv einer symphoni schen Produktion, (in jeder musikalischen!) vorausgesetzt, daß im Orchester die geziemenden Mittel zu denen Verwirklichung sich vorfinden.“36 Es ist eine alberne Verleumdung, den Dirigenten die Fähigkeit oder den guten Willen zur richtigen Auffassung der Intention irgend eines Komponisten, dessen Werke nicht gleich allgemein ansprechen wollen, abzusprechen. Die allermeisten sind sicherlich vollkommen befähigte und redliche Männer. Auch werden von den or dentlichen Orchestern keine zu nennen sein, in welchen die „geziemenden Mittel“ nicht vorhanden wären. Aber mit aller Fähigkeit, gutem Willen und geziemenden Mitteln ist Beethoven’s neunte Symphonie eine längere Zeit hindurch nicht so gehört worden, wie Beethoven sie in seinem Geiste gehört hat, und wie sie vom Publikum erst dann gehört wurde, als die Orchester sie mehr gespielt hatten, vertrauter mit den Inten tionen des Komponisten geworden und alle, auch die schwersten Stellen in vollkom menem Zusammenspiel auszuführen vermochten. Alle genialen Komponisten haben erhöhtere Anforderungen an die Orchester gemacht. Liszt hat die Kühnheit hierin allerdings sehr weit getrieben. Zuweilen scheint es, als halte er das Orchester für einen Virtuosen, wie er auf dem Klavier ist. Die oft sehr schweren Figuren für die meisten Instrumente; die Kombinationen mehrerer solcher schweren Figurenpartien in einem Bilde, wovon jede in einem anderen bestimmt abgewogenen Stärkegrade gehalten werden muß, wenn nicht eine die andere vernichten und das Ensemble wie ein unklar durcheinander gährender Ton- und Klangprozeß erscheinen soll; die un gewohnteren Tonarten, in welchen selbst leichtere Figuren nicht gleich von mehre
36 In
seinem Vorwort, das Liszt dem Abdruck der ersten publizierten Partitur seiner Symphonischen Dichtung Tasso 1856 bei Breitkopf & Härtel voranstellte, äußert er gegenüber künftigen Dirigen ten seiner Werke Bedenken und den Wunsch einer genauen und hochqualitativen Erarbeitung seiner Werke durch die Orchesterstimmen sowie eine ‚reproduzierende‘ musikalisch niveauvolle Interpretation. In diesem Zusammenhang steht das obige Zitat, welchem sich der folgende Satzteil anschließt: „andernfalls möchte es rathsamer erscheinen, sich nicht mit Werken zu befassen, welche keineswegs eine Alltags-Popularität beanspruchen“ (Liszt-Werke 1, Abt. 1, Teil 1/2, Vorwort).
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ren Spielern rein auszuführen sind; die oft äußerst delikate und verschiedenartige Akzentuirung, welche Liszt überall verlangt: alle diese Dinge können bei aller Fähig keit und allem guten Willen der Dirigenten und Orchester nicht nach einigen Proben und Aufführungen vollkommen herauskommen. Ist es zu verwundern, wenn Das, was von dem besten Orchester nicht gleich vollständig verstanden und makellos aus geführt werden kann, dem Publikum unverständlich erscheint? [402] Diese Neuheit und Kühnheit im Gebrauche der Orchestermittel ist ein wirklicher Fortschritt in der Kunst der Instrumentation, der im Anfang seine Wi derwärtigkeiten für den Komponisten mit sich führt, später seine Verdienste erhöht, der dem Orchester im Anfang unbequem ist, später seine Leistungen steigert und verklärt, der dem Publikum im Anfang Unruhe und Mißbehagen, später neue Ge nüsse schafft, der die Kunst des Ausdrucks steigert, indem er die Mittel dazu ver vielfältigt und vervollkommnet, der neue Gestaltungen über die alten Gesetze möglich macht, den Haydn, Mozart, Beethoven, C. M. v. Weber u. s. w. in früherer Zeit bewirkt, dafür sie im Anfang gescholten und später belobt worden sind. Ohne diesen berechtigten Fortschrittsgeist ächter Tonmeister hätten wir heute noch die Ton figuren und Instrumentation, wie sie vor hundert Jahren in die Partituren geschrie ben wurden, und von den damaligen Orchestern und Hörern ebenfalls für schwer erklärt wurden. Eine zweite Schwierigkeit, welche sich gegen das augenblickliche Verständniß dieser Kompositionen erhebt, liegt gerade in einem großen Verdienst derselben: in ihrer originellen und äußerst mannichfaltigen thematischen Arbeit. Nehmen wir vor der Hand die erste Periode der ersten Gruppe (s. Beisp. 1) als das Hauptthema an, und vergleichen den Inhalt der ganzen Gruppe damit, wie sie in Beisp. 2 vor Augen liegt, so sieht jeder Kenner, daß darin kein Takt vorkommt, dessen Motiv nicht schon in der ersten Periode läge. Gleich thematisch, als organi sche Einheit in sich ist jede Gruppe, und ist wieder das Ganze konstruirt. Aber in letzterem Umstande eben liegt die Schwierigkeit des augenblicklichen Verständ nisses. Ist ein Hörer zu schelten, der Gedanken wie die folgenden für fremde hält, zumal die meisten derselben nicht unmittelbar auf einander, sondern in verschiede nen Gruppen erscheinen?
37
37 Liszt,
Tasso, T. 27.
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38
[403]
39
40
Nun vergleiche man aber a (1) mit b (2) und c (4) und blicke alsdann auf den ersten oder zweiten Takt der Anfangsperiode (Beisp. 1). Man vergleiche ferner b (3) mit dem sechsten und siebenten Takte der Anfangsperiode; man vergleiche hierauf (2) und (3) in b miteinander; man untersuche endlich den tonischen Gang der beiden Melodien von c und d, so wird man den Ursprung aller dieser Gedanken aus dem Anfangsmotiv der ersten Periode und die Verwandtschaft aller miteinander nicht verkennen. Ich sagte oben: nehmen wir vor der Hand die erste Periode der ersten Gruppe als Hauptthema an. In der That aber ist diese Anfangsperiode schon anticipirte thema tische Arbeit. Das eigentliche Hauptthema bildet, wie schon bemerkt, das venetia nische Volkslied, welches erst in der dritten Gruppe vorgeführt wird, und die hier aufgezeigten Gestaltungen sind mit Ausnahme von b (3) alle aus dem Motive des sechsten, oder wenn man will des zwölften Taktes gebildet.
41
Man kann sagen: gewiß ist der Hörer nicht zu schelten, der solche Beziehungen der Gedanken nicht bemerkt; aber ist ein Komponist zu loben, der solche Beziehungen in seine Werke bringt? Der sogar thematische Arbeit eher einführt als das Thema, aus dem jene gesponnen? 38 Ebd.,
T. 50 f.
39 Ebd.,
T. 397 – 400.
40 Ebd.,
T. 165 –174.
41 Ebd.,
T. 67 und T. 73.
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Nein, antworte ich, sämmtliche hier vorgezeigte thematische Gestaltungen sind durchaus verwerflich, wenn – Tasso eine Gelegenheitsmusik ist, die nur einmal und nie wieder aufgeführt werden soll, oder wenn das Gesetz Allgemeingültigkeit ge wonnen hat, daß kein Kunstwerk etwas taugt, dessen technischer und geistiger Organismus nicht mit der ersten Beschauung vollständig zu erfassen ist. Ob solche Instrumentalwerke höherer Gattung möglich sind, weiß ich nicht, [404] gesehen und gehört habe ich noch keines. Von keiner einzigen Symphonie, keinem einzigen Quartett unserer größten Meister ist die thematische Arbeit gleich vollständig erkannt worden, namentlich diejenigen Gestaltungen darunter nicht, welche die interessantesten, weil originellsten sind. Liszt’s kühnste und wenn man will versteck teste thematische Gestaltungen sind nicht kühner und nicht versteckter als viele Haydn’sche, Mozart’sche, Beethoven’sche, Berlioz’sche. Hätte Liszt eine symphonische Dichtung über „God save the King“ oder über die „Marseillaise“ in der Weise geschrieben, wie im „Tasso“ über das venetianische Volkslied, so würde zunächst kein Hörer über Unverständlichkeit klagen, weil jene Melodien als Ganzes sowol wie jedes einzelne Motiv derselben in dem Gedächtniß aller Musikkenner leben. Man denke sich jene ganzen Melodien noch so originell mit anderen Figuren von dem Orchester umspielt, es würde sie jeder nur einiger maßen gebildete Musikhörer leicht als die alten Bekannten erkennen. Ebenso wür den die neuen Gedankenbildungen aus den einzelnen Motiven, als z. B. aus „God save the King“
oder aus der „Marseillaise“
sich bald als Keime des Ganzen zu erkennen geben. Dann würde man aber auch sogleich die proteusartige Verwandlungskunst Liszt’s zu würdigen wissen, welche aus dem gewöhnlichsten, längst vorhanden gewesenen MotivFigurenmaterial die wundersamsten, noch niemals dagewesenen, neuen, originellen, dazu stets geistig ausdrucksvollen Tonkombinationen hervorzuschaffen vermochte. Man würde den Unterschied zwischen der armen Behandlung jener Melodien durch C. M. v. Weber, Schneider und Littolf [sic] sehen, und Liszt’s überlegene Kunst in dieser thematischen Beziehung mit Bewunderung zugeben. Die venetianische Melodie ist in Deutschland unbekannt, und das Verdienst Liszt’s in ihrer Behandlung durch den ganzen „Tasso“ deshalb nicht sogleich schlagend zu erfassen.
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[405] Wenn sie daher in der Gruppe (D) in folgender Kleidung auftritt, Beispiel 6.42
42 Ebd.,
T. 131–136.
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[406]
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oder in der letzten Gruppe in folgender Weise: [407] Beispiel 7.43
43 Ebd.,
T. 475 – 483.
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[408]
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so können diese originellen Erscheinungsweisen natürlich erst klar erfaßt werden, [409] wenn jene Grundmelodie ebenso fest im Gedächtniß sitzt, wie unsere allbe kannten Volksmelodien. Dann wird man sich aber auch wundern, wie man die vielen Wiederholungen zwei so einfacher Motive,44
trotz ihrer allerdings stets originellen Um- und Verkleidungen je nur einen Augen blick hat verkennen können. Ich muß, um meine Anssagen [sic] zu bewahrheiten, wenigstens noch eine grö ßere Stelle den Lesern in vollständiger Partitur vor Augen bringen. Blickt also auf vorstehendes erstes Motiv, und seht, was zwanzig Takte hindurch daraus gemacht worden. S. Beispiel 8 unten. Ist dieses Bild nicht ein schönes, ausdrucksvolles, sich mächtig steigerndes, und durchaus originelles? Trotzdem kann man im Sinne unserer Zukunftsschwärmer sagen, daß es ein absolut neues ohne alle Stütze auf Vorgängerschaft erreichtes Ton bild sei? Untersucht jede Stimme einzeln, und seht, ob ihr überall in irgend einer Stimme für sich betrachtet, ein einziges Motiv, einen einzigen Takt findet, der eine Figur enthält, welche nicht schon ihre Vorgänger gehabt hat? Unter die interessantesten musikalischen Kombinationen ist unstreitig das Zu sammenbringen zweier Melodien zu zählen, die vorher einzeln gehört worden, und in keinem Bezug zu einander zu stehen schienen. S. Beispiel 9, S. 413. Beispiel 845
44 Ebd.,
T. 1 und T. 6 f.
45 Ebd.,
T. 145 –164.
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[410]
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[411]
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[412]
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[413] Beispiel 946
46 Ebd.,
T. 271– 283.
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[414]
[415] Solche Gestaltungen sind unter Umständen sehr leicht, unter anderen Um ständen sehr schwer zu erkennen. Wenn Aennchen im Duett47 des Freischütz ihr „Grillen sind mit böse Gäste“, darauf Agathe ihr „Wer bezwingt des Busens Schla 47 Carl
Maria von Weber, Der Freischütz, 2. Aufzug 1. Auftritt, Nr. 6 „Duetto“.
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gen“ singt, und zu dieser Melodie nun Aennchen die ihrige gleich wieder hören läßt, so wird dieses Zusammentreffen beider Melodien von Niemand überhört werden. Die Liszt’sche Gestaltung ist nicht so leicht gleich zu erkennen. Einmal, weil die venetianische Melodie überhaupt nicht bekannt ist, sodann, weil sie hier im Dreivierteltakt erscheint, und endlich auch, weil die Ausführung derselben dem Orchester erst nach mancher Wiederholung vollkommen gelingen kann. Liszt sagt zu dieser Stelle in einer Anmerkung: „Hier nimmt der Vortrag des Orchesters einen doppelten Charakter an: – die Bläser leicht und flatterhaft; die singenden Streich instrumente sentimental und graziös.“48 Ein Beweis, daß der Komponist die Schwie rigkeit dieser Aufgabe für das Orchester selbst gewußt und erfahren. Ein weiteres Hinderniß gegen die vollständige Wirkung dieses Werkes gleich bei seiner erstmaligen Erscheinung liegt in seiner Form. Die Sätze der bisherigen Sym phonie waren getrennt; jeder hatte ein eigenes thematisches Material, das in einem und demselben Tempo unter einer und derselben Taktart, so wie einer Haupttonart breit und erschöpfend ausgeführt wurde. Der Hörer kannte im Voraus jedes Gefäß mit seinen Abtheilungen, und konnte seine Aufmerksamkeit mit Bequemlichkeit nur auf die Gedanken richten, die ihm darin vorgetragen wurden. Liszt’s sympho nische Dichtung hat nur kleinere und größere Gruppen, die ohne Unterbrechung und Ruhepausen an dem Ohr und Geiste vorüberziehen. Jede bildet zwar eine kleinere Einheit in sich selbst, aber erst alle zusammengenommen enthüllen die Einheit des Ganzen, die auf einem Hauptthema beruht. Es wechseln die Vorstellun gen und Gefühle schneller mit einander ab, welchem öfteren Wechsel sich der Hörer nach dem bekannten Gesetz der Trägheit im Anfang schwer hingibt. Erst wenn er diese Form öfter gehört, und dadurch jede einzelne Erscheinung eine bereits erwartete und ebenfalls gewohnte worden, wird er sie alle und somit das Ganze rein genießen können. Endlich mag eine Schwierigkeit gegen die gleich allgemeine Theilnahme an diesem Werke, als einem der Programmmusik angehörenden, in dem Stoffe zu su chen sein. Je näher unsern Kenntnissen und unserm Herzen ein Gegenstand liegt, je schneller darf eine schöne und wahre Kunstschilderung desselben auf unmittelbar günstige Aufnahme und volle Wirkung zählen dürfen. Ein „Gang aufs Land“, eine „Scene am Bache“ – „Bauerntanz, von einem Gewitter unterbrochen“, ein „Zu stand nach dem Gewitter“ sind Dinge,49 deren äußere Erscheinung jedes Menschen auge gesehen, deren dadurch wachgerufene Gefühle jede Menschenbrust empfunden hat. Die Wahrheit und Schönheit der musikalischen Schilderung in Beethoven’s „Pastoralsymphonie“ muß darum sogleich [416] das allgemeinste Interesse und Ver ständniß für sich haben. Um die Lagen und Gefühle des italienischen Dichters „Tasso“ in der musikalischen Darstellung erkennen und sich für dieselben interessi ren zu können, ist eine spezielle Kenntniß dieser vergangenen und fremden Zustände nöthig, welche in einem Konzertsaal nur bei einem sehr kleinen Theile des Publi kums vorauszusetzen ist. Die Musik kann hier erst nach und nach das allgemeine Interesse für den Gegenstand in den Seelen erwecken, was diese für einen Stoff wie den zur „Pastoralsymphonie“ gleich Alle im Voraus mitbringen. 48 Diese Fußnote Liszts findet sich in der Partitur zu Tasso bei T. 270. 49 Titel der vier Sätze der Symphonie Nr. 6 Pastorale F-Dur op. 68 (ED 1809) von Ludwig van Beethoven.
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Hier wäre nun von dem Geist des Werkes zu reden, wie der Tondichter seinen Gegenstand aufgefaßt und zum musikalischen Ausdruck gebracht habe. Darum ist es mir aber nicht zu thun. Das[s] Liszt fähig sei, mit seinem Verstande ein Objekt klar zu erfassen, sich dasselbe in seiner Einbildungskraft aufs Lebendigste vorzu stellen, und in seinem Gemüthe alle damit verbundenen Affekte und Leidenschaften nachzuempfinden, braucht nicht bewiesen zu werden, weil Niemand daran zweifelt. Daß aber der musikalische Ausdruck des Vorgestellten und Empfundenen voll kommen gelungen sei, wird von Allen so lange bezweifelt werden, als sie die Ton dichtung anders hören, wie der Tondichter sie in die Partitur gelegt hat. Nicht an den oben genannten Eigenschaften der Phantasie und des Herzens zweifelt man bei Liszt, wol aber zur Zeit noch an seiner Macht über die musikalischen Darstellungs mittel, oder wenn nicht daran, an dem rechten ächten künstlerischen Gebrauch derselben. Unter den letzteren Zweiflern war ich selbst. Es war mir daher für jetzt darum zu thun, den Irrthum, welchen ich durch ein genaues Studium der Partitur erkannt, wie es die Gerechtigkeit verlangt, soviel mir möglich, auch bei Anderen zu verbannen, und vorerst zu zeigen, daß Liszt kein einziges bisher als wesentlich er kanntes musikalisches Kunstgesetz verläugnet und verletzt, sondern alle ebenso treu befolgt habe, wie irgend ein anderer ächter Meister der Tonkunst. Und so spreche ich schließlich die Ueberzeugung aus: von dem Augenblicke an, wo man Liszt’s symphonische Dichtung so vollkommen hört, wie Liszt sie gedacht hat, und der Kenner sie im Geiste aus der Partitur heraushört, wird man sie auch als ächte Musik erkennen und genießen. Ich hoffe, weitere Muße zu finden, auch den anderen Dichtungen zuweilen Briefe widmen und auf das hier Gesagte weiter bauend noch manches Nöthige aussprechen zu können.
Kommentar Die vorliegende Besprechung von Liszts Symphonischer Dichtung Tasso folgt der Systematik, die Johann Christian Lobe in seinen musikpädagogischen Schriften und für seine eigene Lehre in der Komposition angewendet hatte.50 Dieser Hintergrund zeigt Lobe als professionellen Musiker, Lehrer und Komponisten,51 gleichermaßen vermittelt er ein Bild seines Erwartungshorizonts, wenn er beispielsweise Haydn, Mozart, Beethoven und Berlioz mit größter Selbstverständlichkeit in einer Reihe nennt, letzterem an anderer Stelle aber auch Meyerbeer und Wagner zur Seite stellt.52
Lobe 1850 Lehrbuch der musikalischen Komposition sowie Lobe 1855 Die Lehre von der Instrumentation. 51 Nach seiner Pensionierung als Instrumentalist des Weimarer Hoforchesters und seiner Ernennung zum Professor konzentrierte er sich auf die Lehrtätigkeit, vor allem den Kom positionsunterricht. 52 Siehe vorliegender Artikel, S. 1215 [404] bzw. S. 1210 [398]. 50 Siehe
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Lobe im Kontext des sogenannten Parteienstreits entweder dem konservativen oder fortschrittlichen Lager eindeutig zuschreiben zu wollen, muss grundsätzlich fehlschlagen, da er der einzige war, der eine eigene und gänzlich unabhängige Publikationsreihe – die Fliegenden Blätter für Musik. Wahrheit über Tonkunst und Tonkünstler – erfolgreich durchgesetzt hatte und sich somit der jeweils politischen Färbung einer Musikzeitschrift von vornherein entzogen bzw. widersetzt hatte.53 Dieses Ziel verfolgte er auch innerhalb seiner Schriften mit Nachdruck und mit höchstem Anspruch auf Objektivität. Lobe hatte den ‚Fortschritt‘ bereits zum Gegenstand früherer Artikel54 gemacht, wo er seine Position programmatisch zwischen „Trägheit, Neigung, an dem Hergebrachten festzuhalten“ und dem Entgegengesetzten, „blindlings immer weiter und weiter zu gehen“ geäußert hatte: „Der, welcher sich und andere vor beiden Abwegen zu bewahren sucht, wandelt gewiß auf dem allein richtigen Wege, und auf diesem suche ich mich und meine Leser mit aller Anstrengung zu erhalten. Wir werden so wirklich für den Fortschritt wirken, wie ich in einigen Artikeln zeigen will.“55 Dementsprechend bildet parteiische Unabhängigkeit auch den Rahmen der vorliegenden Rezension. Diese ist der dritte Artikel innerhalb von insgesamt vieren, die wahrscheinlich in der zweiten Hälfte des Jahres 1856 von ihm verfasst wurden,56 sich dem Thema ‚Zukunft‘ widmen und gemeinsam mit zwei interagierenden Artikeln Leopold Alexander Zellners auch Teil der vorliegenden Edition sind.57 Noch vor Erscheinen der Partitur verteidigte als erster Hans Bronsart von Schellendorff Liszts Tasso gegen „den Vorwurf der Formlosigkeit und des Mangels an Thematischer Einheit“58 anhand einer ausführlichen und am Notentext orientierten Analyse. Diese Motivation der Verteidigung teilte grundsätzlich auch Lobe. Inhaltlich knüpft sein Vorgehen tendenziell an jenes konservativer Vertreter des Fachs an, indem Vorstellungen von musikalischer Organizität und klassischer Form die Kriterien seiner Bemessung ausmachen. Doch liegt sicherlich gerade darin auch die Stärke Lobes, dass er ohne beispielsweise einen Kritiker der fortschrittlichen Seite anzugreifen, ausschließlich von der Musik her argumentiert, und das, ohne die Notwendigkeit ‚fortschrittliches‘ Vokabular oder vermeintlich neue Methoden anzuwenden. Das Unverständnis gegenüber Liszts Symphonischen Dichtungen erkennt er in völlig pragmatischen Gründen wie einem sehr hohen spieltechnischen Schwierigkeitsgrad und dem Umstand, dass Neues stets eine gewisse Zeit des ästhetischen ‚Verstehens‘ auch bei erfahrenen Orchestermusikern und Dirigenten benötige. Monothematik, die thematische Verarbeitung von Volksweisen, das später Transformation genannte variative Verfahren sowie der Verzicht auf einzelne Sätze – all diese zuweilen als fortschrittlich bewerteten Verfahren belegt Lobe an Früherem. Wenngleich nicht ohne Kritik, kehrt er Liszts Vermögen
53 Von 1846 bis zur Einstellung der ersten Serie der Zeitschrift 1848 war Lobe Chefredakteur der Allgemeinen musikalischen Zeitung. Zu den Publikationsorganen, in welchen Lobe außerhalb seiner eigenen Reihe veröffentlichte, siehe das „Verzeichnis der Schriften Johann Christian Lobes“ in: Brandt 2002 Johann Christian Lobe, S. 317 – 330. 54 Siehe u. a. Lobe 1855 Für den Fortschritt; Lobe 1855 Revue der Zeitphrasen sowie Lobe 1856 Woher ist das Reden. 55 Lobe 1855 Für den Fortschritt, S. 162 f. 56 Siehe dazu das „Verzeichnis der Schriften Johann Christian Lobes“ in: Brandt 2002 Johann Christian Lobe, S. 317 – 330. 57 Lobe 1856 Woher ist das Reden; Lobe 1856 Ein neuer Prophet, in: NdS 2 Nr. 93; Lobe 1856 Briefe über Liszt’s Symphonische Dichtungen, in: NdS 2 Nr. 99; Lobe 1856 Das Gespenst der Zukunft, in: NdS 2 Nr. 98; Zellner 1856 Musikalische Wochenlese, in: NdS 2 Nr. 89; Zellner 1856 Aus der neuern Musikliteratur, in: NdS 2 Nr. 91. 58 Bronsart 1856 Franz Liszt’s Torquato Tasso, Beilage, A.
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deutlich als meisterhaft heraus, insbesondere dessen neuartige Instrumentierung wie auch allgemein die „Originalität“ des Werks, die „in neuen Kombinationen des Dagewesenen“ bestünde.59 Trotz freundschaftlicher Bande zu Liszt macht Lobe sich keinesfalls der Parteinahme verdächtig, obschon seine Analyse mehr einer Beweisführung gleicht und daher diesen Anschein erwecken mag. Der letzte Punkt seiner Besprechung, der „Ausgleichung eines Zwiespalts“, ist es, der dem Vorherigen den Charakter einer Werkbesprechung um seiner selbst wegen entzieht und den eigentlichen Bezug zur Fortschrittsdebatte offenbart: „Der neidische Gegner könnte ihm [Liszt] nicht so schaden, als die Streiter für ihn durch die Presse geschadet haben.“60 Die deutlich kritische Haltung gegenüber dem Weimarer Kreis äußerte Lobe schon früher, wobei zum Ausdruck kommt, dass er den ‚Zukunfts-Journalismus‘ allgemein als problematische Entwicklung der Zeit betrachtete: „So gering nun die geistigen Mittel solcher Leutchen sind, so groß ist doch der Ehrgeiz, sich als ‚Journalist‘ auszeichnen zu wollen, und kein Mittel für diesen Preis ist so einladend und so vielversprechend als der Eintritt in den Chor der Propheten und das Mitreden über die Zukunft.“61 Lobes abschließender Kommentar zu Liszts Programm des Tasso ist bemerkenswert: „Hier wäre nun von dem Geist des Werkes zu reden, wie der Tondichter seinen Gegenstand aufgefaßt und zum musikalischen Ausdruck gebracht habe. Darum ist es mir aber nicht zu thun.“62 Im 30. Kapitel seiner Kompositionslehre zum „Geistigen Inhalt der Tonstücke“ heißt es: „Der Komponist aber thut jedenfalls gut, wenn er beim Ausdruck eines Gefühls die bestimmte Veranlassung desselben mit vor die Einbildungskraft ruft. Es wird dadurch viel stärker und lebendiger erregt […]. Gar viele Andeutungen der grossen Tonmeister beweisen, dass sie das sehr oft, bei ihren bedeutenderen Instrumentalwerken wahrscheinlich immer gethan haben.“63 Seine Ansicht zu programmatischen Werken ist innerhalb der Frage zur Gattungsproblematik der Symphonie seit Mitte der 1840er Jahre zu verorten und bei Lobe einem zunehmendem Wandel unterworfen. Nach seinem Verständnis von musikalischem Ausdruck betrachtete er Programmmusik als Stufe zwischen reiner Instrumentalmusik und Vokalmusik.64 So weit wie Liszt selbst, Brendel oder später Felix Draeseke65 ist Lobe bezüglich der Bedeutung und vor allem der Konkretion eines poetischen Gedankens in der Musik nie gegangen. Dennoch trat er als Fürsprecher der Symphonischen Dichtungen von rein musikalischer Seite ein. Dass dies offenbar auch einen fachlich versierten und etablierten Musiker wie Lobe zur „Ausgleichung eines Zwiespalts“ genötigt hatte, verdeutlicht abermals die allgegenwärtige und übermächtige Wirkkraft, welche der schwelende Disput „solcher Leutchen“ auszulösen vermochte.
59 Vorliegender Artikel, S. 1198 [388]. 60 Lobe 1856 Briefe über Liszt’s Symphonische Dichtungen, S. 399 f., in: NdS 2 Nr. 99, S. 1211. 61 Lobe 1856 Woher ist das Reden, S. 298. 62 Vorliegender Artikel, S. 1227 [416]. 63 Lobe 1850 Lehrbuch der musikalischen Komposition, S. 368. 64 Zu Lobes diesbezüglicher Entwicklung siehe Brandt 2002 Johann Christian Lobe, S. 262 – 265. 65 Draeseke 1857 Liszt’s neun symphonische Dichtungen, in: NdS 2 Nr. 107.
Nr. 100 | Anonym [Franz Brendel], „Fr. Liszt, Symphonische Dichtungen für großes Orchester. Leipzig, Breitkopf u. Härtel“, in: NZfM 23 (1856), Bd. 45, Nr. 22 (21. November), S. 225–228.
Fr. Liszt, Symphonische Dichtungenfür großes Orchester.Leipzig, Breitkopf u. Härtel.1 Vorwort.
In Abwesenheit des Herausgebers dieser Blätter sind mir von der wohllöblichen Handlung, ob aus Versehen oder mit Absicht, weiß ich nicht zu sagen, zwei Recensionen eines und desselben Werkes, die eine vom Rheine2, die andere von der Spree3 her datirt, zum Drucke übersandt worden. Da ich nun nicht gern mit einem der Herren Verfasser derselben anbinden wollte, so wußte ich mir nicht anders zu helfen, als beide, wie mir schien, ziemlich ähnliche Kritiken ganz friedlich neben einander zu setzen, muß aber im voraus den sehr geehrten Leser um Entschuldigung bitten, wenn er mich deshalb der Papierverschwendung anklagen sollte. Gehorsamst der Setzer.
1 Im
Mai 1856 waren bei Breitkopf & Härtel in Leipzig die ersten sechs Symphonischen Dichtungen, Tasso S 96, Les Préludes S 97, Orpheus S 98, Prometheus S 99, Mazeppa S 100 und Festklänge S 101, publiziert worden. Die spätere Reihenfolge und Zählung der Symphonischen Dichtungen wurde erst 1857 mit dem gesammelten Erscheinen der neun Werke festgelegt, nachdem auch Nr. 1 Ce qu’on entend sur la montagne S 95, Nr. 8 Héroïde funebre S 102 und Nr. 9 Hungaria S 103 veröffentlicht waren. 2 Angespielt wird hier wohl auf die von Ludwig Bischoff in Köln herausgegebene Niederrheinische Musik-Zeitung (1853–1867). 3 Hier ist entweder die Berliner Musik-Zeitung Echo (1851–1879) oder die von Gustav Bock herausgegebene Neue Berliner Musikzeitung (1846–1896) gemeint.
Brendel 1856 Fr. Liszt, Symphonische Dichtungen
Welche durchaus unmusikalische Aufgaben der als Clavierspieler so hochgefeierte Componist sich in den oben genannten Tonstücken gestellt habe, geht schon aus den von ihm darin behandelten Sujets genügend hervor. Diese augenscheinlich bei Beethoven’s neunter Symphonie anknüpfenden Compositionen hätten, um den offenbar mit jeder Nummer zunehmenden Fortschritt anzudeuten, füglich mit 10, 11, 12 etc. bezeichnet werden können, ein Fortschritt, der ja auch in der zunehmenden Sprachverwirrung des babylonischen Thurmbaues, wie z. B.: Ce qu’on entend sur la montagne, Lamento e trionfo, Festklänge, Hungaria, etc. nicht zu verkennen ist. Ihrer äußeren Form nach wissen wir nicht, wohin diese Orchesterstücke zu bringen seien, so eifrig wir auch in den vorhandenen Compositionslehren deßhalb geforscht haben. Da ist kein erstes Alle gro, kein Scherzo, Andante und Rondo in der von Marx gelehrten klassischen Form der Symphonie vorhanden,4 sondern bald ein Allegro, unterbrochen von einem ebenfalls unter brochenen Adagio, [226] bald eine wild dahinrauschende Passage oder ein sich durch das ganze Stück hinziehender sehnsüchtig klagender Gesang, nirgend aber eine ansprechende, durch rhythmische und harmonische Cäsuren gegliederte, leicht nachzupfeifende Melodie anzutreffen. Ebenso begreifen wir nicht, wie der Componist so häufig gegen die musikalische Grammatik sündigen konnte; wozu wurde uns gelehrt: man löse den
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Welche durchgängig großartigen Vorwürfe der Componist der oben genannten Tondichtungen sich gesetzt habe, geht schon aus den von ihm gewählten charakteristischen Bezeichnungen derselben deutlich hervor. Diese in der für das Schicksal der Symphonie so bedeutungsvollen Zahl 9 erscheinenden Orchesterstücke, von denen bereits sechs vor uns liegen, rollen nämlich, neben anderen ergreifenden und Interesse erweckenden Tongemälden,5 die mit Meisterhand ausgeführten Bilder der geistigen Kämpfe eines Tasso, Orpheus, Prometheus und Mazeppa in deren verhängnißvollsten Lebensmomenten vor uns auf. Das Aeußere dieser Tondichtungen bindet sich an keine der bisher üblichen Formen, es sind keine Symphonien in drei oder vier für sich abgeschlossenen Sätzen, sondern im Großen und Ganzen angelegte Musikstücke, deren einzelne Theile harmonisch ineinander greifen, um die vom Tondichter beabsichtigte Idee in einer selbstgeschaffenen neuen Weise zur Aeußerlichkeit zu bringen. [226] Ebenso bi[n]det sich der Componist auch nicht an die in musikalischen ABC-Büchern allein als regelrecht vorgeschriebenen stereotypen Accordfolgen, Dissonanzauflösungen und Modulationen. Er durchbricht die morschen Schranken jener grundlosen Vorschriften, schafft sich selbst eine allen empfindungsfähigen Herzen verständliche Sprache, und überläßt es späteren Grüblern, die Grammatik derselben in einer neuen, umfassenderen
1837 Die Lehre von der musikalischen Komposition. 5 Dass hier von Tongemälden und in der linken Spalte vom babylonischen Turmbau die Rede ist, legt eine Anspielung auf die während dieser Zeit noch immer sehr umstrittene Gestaltung der Wandgemälde Wilhelm von Kaulbachs im Treppenhaus des Neuen Museums in Berlin nahe (vgl. dazu N. Z. 1857 Allcompositionsskizze, in: NdS 3 Nr. 130). 4 Marx
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Hauptseptimenaccord jederzeit in den Hauptdreiklang auf, man modulire stets aus der Tonica in die Dominante und zurück, wenn der Tonsetzer sich nicht daran zu kehren brauchte? Wir befinden uns in der ängstlich aufgeregten Zeit des Kampfes für die Alleinherrschaft unseres classischen Triumvirats: Haydn, Mozart und Beethoven, und rathen dem Componisten dringend, den übel gewählten revolutionären Standpunct gegen den gemüthlicheren konservativen zu vertau schen, denn „Wo rohe Kräfte sinnlos walten, Da kann sich kein Gebild gestalten.“6 Alle diese neuesten Compositionen Liszt’s leiden an kränkelnder Gebrechlichkeit; sie sprechen in keiner heimathlich befreundeten, sondern in einer fremden, unverständlichen Sprache zu uns, und in allen zeigt sich ein stetes Suchen nach neuen Tonverbindungen und Effecten, welche Abnormitäten aber nicht im Stande sind, die dem Tonsetzer mangelnde Erfindungsgabe zu ersetzen.
Theorie für künftige Kunstjünger aufzustellen. Wir leben in der muthig bewegten Zeit des Kampfes für den Fortschritt und die Erweiterung unserer Kunst, wir glauben nicht mehr an die Unfehlbarkeit der bisher ausschließlich als classisch aufgestellten Muster, denn nicht der Unberufene, aber „Der Meister kann die Form zerbrechen Mit weiser Hand, zur rechten Zeit!“7 Durch alle diese vor uns liegenden Tondichtungen weht ein frischer, poetischer Hauch, aus allen spricht ein edler, ergreifender Gedanke in gewählten, alltägliche Gemeinplätze vermeidenden Tonverbindungen zu uns, aus allen leuchtet der schöpferische Erfindungsgeist des genialen Tonsetzers lebensprudelnd und glänzend hervor.
6 Friedrich von Schiller, Das Lied von der Glocke (ED 1799). wie in vorliegendem Artikel, Anm. 6.
7 Ebd.,
Anfang derselben Strophe
Brendel 1856 Fr. Liszt, Symphonische Dichtungen
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Tasso. Lamento e Trionfo nennt sich die erste der das Leben dieses Dichters veranschaulichenden Ton malereien. Wenn wir nun auch gegen die schneidenden Klagelaute des Gefangenen, gegen die in Menuettform ausge drückte Erinnerung an seine glänzende Erscheinung am Hofe von Ferrara nichts einwenden wollten, so müßten wir doch das bei der Krönung der Leiche des unglücklichen Sängers erschallende Trompetengeschmetter als durchaus unpassend, un poetisch und unästhetisch bezeichnen.
ist das erste der uns warm entgegen tretenden Lebensbilder. Wir hören die Klagen des im Gefängnisse schmachtenden Dichters des befreiten Jerusalems, wir erheben uns mit ihm bei den Tönen, mit welchen sein Volk noch heute die Stanzen dieses seines Meisterwerkes singt, und jubeln endlich mit auf in dem Triumphe, welchen sein der Erde entschwundener Geist noch heute in seinen der höchsten Begeisterung entsprungenen unsterblichen Schöpfungen feiert.
Les Préludes (nach Lamartine). Aus einem ton- und rhythmenschwankenden Andante in C entwickelt sich nach und nach ein gefälliger Satz in E. Kaum aber wollen wir uns behaglich desselben erfreuen, so erscheint wieder das erste, friedenstörende Motiv und steigert sich zu einem das Sausen des Sturmes treu genug nachahmenden Stretto. Dies geht sodann in ein ruhigeres Pastorale über, aus welchem abermals jener erquickende Satz, erst in A, dann in C hervorbricht. Wild rollende Passagen leiten dann wieder in ein feurig bewegtes Marziale, dessen Motive an die bereits erwähnten erinnern, bis endlich das Thema des ersten Andante die Oberhand gewinnt und das Stück befriedigend und glänzend zu Ende führt.
Das gleich anfangs mahnend auftretende und das ganze Tonstück tragende und verbindende Motiv erinnert bei seinem jedesmaligen Erscheinen daran, daß der Mensch nicht geschaffen sei, unthätig im Schoße der Liebe zu träumen oder im ungetrübten Genusse einer heiteren Naturanschauung sein Glück zu finden, sondern daß sein irdisches Dasein nur das Vorspiel eines höheren Lebens sei, zu welchem sein Geist erst, durch ernstes Ringen und Kämpfen gekräftigt, siegreich eingehen könne. Selbst der Laie wird sich unwillkürlich durch dieses in herrlichster Farbenpracht der Instrumentirung glühende Tongemälde angezogen fühlen.
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[227]
Orpheus. Wenn man die Hoheit, den Ernst und die Würde des Gluck’schen Orpheus8 in das günstigste Licht stellen will, so lasse man diese von zukünftiger Musik ganz erfüllte Ouvertüre dazu ausführen.
Ein reicher aus einem Gusse köstlich gearbeiteter Rahmen um das vom Meister Gluck ausgeführte classische Gemälde des der Menschheit den Himmel erschließenden Orpheus.
Prometheus. Offenbar das verworrenste und formloseste Stück der bisher erschienenen Orchesterphantasien. Dumpfe Drohlaute, unauflösbare Dissonanzen und leidenschaftliche Tempi wechseln mit recitativischen Sätzen, und nur selten wird uns ein Lichtblick, wie der bei S. 26 beginnende, und im letzten Stretto wiederkehrende schöne Gesang zutheil. Ein in der Mitte (S. 32)9 anhebender fugirter Satz bringt es nur in drei Stimmen zum Einsatze des Themas, während bald nachher sogar Vergrößerungen und Verkleinerungen desselben, freilich mehr harmonisch als contrapunctisch bearbeitet, erscheinen. In der gekünstelten Modulation und in der zerrissenen rhythmischen Eintheilung ist diese Composition schwerlich jemals rein und vollkommen auszuführen.
Der Erretter der Menschen, Prometheus, schmachtet, an den Kaukasus geschmiedet, und herzdurchschneidende Jammerlaute entringen sich seiner qualdurchschütterten Brust. Immer brennender und heftiger wird der Schmerz, bis er sich endlich in einer von Hoffnung durchschimmerten, ergreifenden Klage Luft verschafft. Aber der Erlöser des heldenmüthigen Dulders naht, und aus den blutigen Thränen entsprießen die ewigen Lorbern des Wohlthäters der Menschheit. Die Ausführung dieser großartig ausgeführten Composition verlangt auch große, derselben gewachsene Kräfte, und die ganze Liebe und Sorgfalt eines in den Geist der Dichtung eindringenden kunstsinnigen Diri genten.
8 Christoph Willibald Gluck, Orfeo ed Euridice (UA 1762). Abschnitt G Allegro moderato.
9 Abschnitt E
bis zum Doppelstrich;
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Mazeppa. Ein gellender Peitschenknall! – und die geängstete Mähre flieht schnaubend über Stock und Stein, nur zuweilen die Carrière10 mit dem Galopp vertauschend, bald von chromatisch heulenden Wölfen verfolgt, bald durch die vom pizzicato und col legno begleiteten Klagelaute Mazeppa’s angetrieben, bis sie endlich, zur großen Beruhigung des Zuhörers, athemlos niederstürzt. Wiederum Jammer und Seufzer neben dem sterbenden Rosse, bis schließlich ein brillanter Triumphmarsch uns zeigt, daß der Componist auch menschliche Gefühle in sich trage und in seinen Zuhörern vermuthe.
Ein lauter Schmerzensschrei! – und der Genius zerreißt die beengenden Bande kleinlicher Erdensorgen, er entflieht den hämischen Anfeindungen der alles Große verfolgenden Pygmäen und schwingt sich auf in die freieren Regionen des nur ihm geöffneten sonnigen Kunsthimmels. Umgeben von den gigantischen Bildern seiner erhitzten Phantasie schafft er, unverstanden von der Menge, rastlos arbeitend Werk um Werk, bis endlich sein Körper den Anstrengungen des Geistes zu erliegen droht. Doch der Tag der Vergeltung naht! Die Freunde erheben sich, die Feinde weichen, und aus dem Staube erhebt sich triumphirend ein König!
Festklänge. Der Componist läßt sich in dieser letzten Nummer herab, uns ein fröhliches Fest zu arrangiren, doch kann er es nicht unterlassen, auch dabei seine sonderbaren harmonischen und rhythmischen Wendungen anzubringen. So ertönt gleich anfangs zu dem klaren C dur Accorde die fragende Septime B als Freudestörerin in den Bässen, und dieser Secundenaccord geht, statt nach F, regelloser Weise so lange nach G moll mit der kleinen Septime, bis endlich die Pauke sich unserer erbarmt, und die Auflösung desselben ganz allein übernimmt.
10 Galoppsprung,
Pauken, Hörner, Hoboen und schmetternde Trompeten laden zum Freudenfeste, dem jedoch auch die ernste Weihe nicht fehlen darf. Immer reger wird das Leben, Volksklänge werden wach, die feierliche Polonaise ertönt und alle Instrumente mischen ihre Töne zu den glänzendsten Accorden, um jubelnd den Pomp des großartigen Festes zu erhöhen. Beide zuletzt erwähnten Werke werden sich noch besonders durch den klaren Fluß ihrer Gedanken, und durch eine minderen Schwierigkeiten unterworfene Ausführbarkeit viele Freunde erwerben.
bei dem sich das Pferd mit beiden Hinterläufen gleichzeitig abstößt.
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Wir haben in diesem Aufsatze die genannten symphonischen Dichtungen vollständig charakterisirt; damit es aber niemand wage, eine von der unseren abweichende [228] Meinung über diese, gänzlich der neueren Richtung angehörenden Musikstücke auszusprechen, so erklären wir hiermit öffentlich, daß in dieser ganzen Richtung „subjective Verhimmelung und zeugungsunfähige Reflexion für Idealität und zuchtlosester Mißbrauch aller Kunstmittel für Genialität gelten“ und schließen mit der schlagenden Sentenz unseres, keineswegs einer unkünstlerischen Rohheit oder einer Rodomontade fähigen, geistreichen Gesinnungsgenossen: „Zwischen einem geistreichen Manne – und einem Zukunftsmusiker – welch ein Abstand!“ O. Lindner. Vossische Zeitung vom 13. Sept. 1856. Nr. 215. Erste Beilage.11
Wir wollten in diesen wenigen Zeilen nur die Existenz der oben genannten symphonischen Dichtungen anzeigen, ohne tiefer in die originale Form und den genialen [228] Inhalt derselben einzugehen, und sind überzeugt, daß dieselben, trotz alles bedenklichen Kopfschüttelns so mancher musikalischen Philister, sich Bahn brechen werden. Sie werden aber auch nicht den Anfeindungen der um ihr zukünftiges Schicksal besorgten erfindungslosen Nachahmer entgehen, denn: »Il faudroit surmonter tant d’obstacles, réunis non par la raison, mais par l’habitude et les prèjugés bien plus forts qu’elle, qu’il ne paroit pas possible de forcer de si puissantes barrières: ›N’avoir que la raison pour soi, ce n’est pas combattre à armes égales!‹« J. J. Rousseau. Dissertation sur la musique moderne.12
1856 Orgelkonzert, S. 3. 12 Im Original lautet der Anfang des Vorworts: «D’ailleurs, il faudroit surmonter tant d’obstacles, réunis non par la raison, mais par l’habitude & les préjugés bien plus forts qu’elle, qu’il ne paroît pas possible de forcer de si puissantes barriers; n’avoir que la raison pour soi, ce n’est pas combattre à armes égales, les préjugés sont presque toujours sûrs d’en triompher, & je ne connois que le seul intérêt capable de les vaincre à son tour» (Rousseau 1781 Dissertation sur al musique moderne, Préface, S. 25 f.). 11 Lindner
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Kommentar Die vom anonymen „Setzer“ eingangs erwähnte Papierverschwendung, deren Verursachung dieser sich für schuldig bekennt, ist gewiss nicht primär auf die eine oder andere unbeschriebene Zeile zu beziehen. Vielmehr entlarvt der Autor damit den nachfolgenden Text als scherzhafte Parodie, was jedoch viele Leser aufgrund des schwelenden Konflikts um die Symphonischen Dichtungen Liszts dennoch von einer ernsthaften Lesart nicht abbringen konnte. Dieses Missverständnis setzte sich bis in die neuere Musikwissenschaft fort, indem u. a. der Verfasser des abschließenden Zitats in der linken Spalte, Ernst Otto Lindner, als Autor der darüber abgedruckten ‚Rezension‘ angesehen wurde.13 Brendel hatte jedoch schon ein viertel Jahr nach Erscheinen des obigen Artikels für Aufklärung gesorgt: „Eine Doppelrecension in Nr. 22 des vor. Bandes war natürlich nur etwas ganz Vorläufiges, war ein Scherz, der die Absicht hatte, die voraussichtlich in extremster Weise auseinandergehenden Urtheile zu persifliren. Ich erwähne dies beiläufig, weil man den wahren Sinn dieses selbstverständlich nur aus der Feder eines Einzigen geflossenen Artikels mehrfach mißverstanden hat.“14 Nachdem der Versuch im Berlin des vergangenen Dezembers, die Symphonischen Dichtungen Liszts einem Großstadtpublikum zu präsentieren, trotz wohlwollender Vorbereitung zu einem musikkritischen Debakel führte,15 wirkte die erste darauf folgende Aufführung Symphonischer Dichtungen im August 1856 in Sondershausen wie ein Rückzug in die sichere Provinz. Zwar waren die anschließenden Konzerte wieder in Großstädten, doch mit Pest und Wien im September 1856 war Liszt in gewisser Weise auf ‚heimischem‘ Boden, nicht zuletzt, da er in Pest seine Hungaria zur Aufführung brachte, die frenetisch bejubelt wurde – möglicherweise war aber auch Liszt selbst Grund dieses Jubels.16 Obgleich die nächsten Aufführungen auf deutschem Gebiet wiederum in der Provinz – Sondershausen und Ballenstedt – veranschlagt waren, sah sich Brendel im Zusammenhang der jüngst erfolgten Drucklegung offenbar genötigt, wenngleich in ironischer Weise, potentiell negativen Besprechungen vorab den Wind aus den Segeln zu nehmen. Dementsprechend bezeichnen Keith Johns und Michael Saffle den vorliegenden Artikel als „an important piece of propaganda for the recently-published set of Liszt’s symphonic poems“.17 Darüber hinaus vermittelt der Artikel gerade durch seine überzeichnete Betrachtung ein Bild all jener Vorbehalte, die den musikkritischen Diskurs auch tatsächlich bedingten, so ist die klassizistisch konservative Seite dargestellt, indem sie die Instrumentierung und harmonische Regelbrüche moniert, die um 1850 längst nicht mehr ungewöhnlich waren, ähnlich verhält es sich mit den formalen Ansprüchen, die an ältere musikalische Formvorstellungen
13 Johns/Saffle 1997 The Symphonic Poems of Franz Liszt, S. 98. Das Zitat Lindners ist der letzte Teilsatz einer Besprechung von Orgelbearbeitungen, in welcher Lindner als Reaktion auf einen Artikel Hans von Bülows (Bülow 1856 Alexander Winterberger) abschließend über die NZfM als „Firma: Liszt-Wagner“ herzieht und die Anmaßung Bülows wiedergibt, Johann Sebastian Bach als „Zukunfts-Musiker“ bezeichnet zu haben (Lindner 1856 Orgelkonzert, S. 3). Die Symphonischen Dichtungen finden keine Erwähnung, auch schließt Lindner die Kompositionen für Orgel von Liszt explizit aus. 14 Brendel 1857 Franz Liszt in Leipzig, S. 101. 15 Engel 1855 Berliner Briefe [Das Liszt-Concert], in: NdS 2 Nr. 82. 16 Zudem handelte es sich in beiden Fällen um Wohltätigkeitskonzerte (vgl. dazu allgemein Johns/Saffle 1997 The Symphonic Poems of Franz Liszt, S. 98 f.). 17 Ebd., S. 98.
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aus der Zeit Haydns oder Mozarts erinnern. Interessant ist freilich die jeweils darauf reagierende ‚fortschrittliche‘ Gegenseite, die sich hier versuchsweise selbst persifliert hat und bezüglich der einzelnen Kompositionen ausschließlich in poetischen Metaphern spricht. Am aufschlussreichsten ist sicherlich der jeweilige Anfang, der auf der einen Seite FortschrittsGehabe, Beethoven-Nachfolge, den Sturz des „classischen Triumvirats“ und babylonische Sprachverwirrung18 anklagt, wogegen in der rechten Spalte das symphonische Erbe Beethovens in der Tat beansprucht und das Prinzip der Einsätzigkeit als Durchbrechen alter Formen, als der notwendig frische Hauch charakterisiert wird. Es ist auffällig, dass Brendel zwei ausführliche und positive Besprechungen der Symphonischen Dichtungen – jene Hans Bronsart von Schellendorffs19 und Johann Christian Lobes20 – auch in seiner Rezension des Leipziger Konzerts nicht anführt. Obgleich er die spätere Gelegenheit dazu nutzte, den Spaß der Persiflage aufzudecken, erfüllt er gleichermaßen die zuvor gezeichneten Klischees und offenbart die Selbstpersiflage als wenig geglückt. Entgegen dem nicht erwähnten Lobe, stellt Brendel bezüglich der Symphonischen Dichtungen den Höreindruck in den Vordergrund, denn die „Grundlage jedes Kunsturtheils [ist] das Gefühl“, da das Kunstwerk sonst zum „Object für theoretische Streitfragen“ verkomme21 – ein sich auf Friedrich Theodor Vischer beziehendes Urteil, das den Disput um Liszts Symphonische Dichtungen, und mehr noch, die Wende in Brendels Ästhetik nachhaltig beeinflusste.
18 Da
die musikalische Fortschritts-Bewegung aus jener um eine nationalstaatliche Einheit hervorging, sicherlich ein massiver Vorwurf. Der Turmbau zu Babel galt seit dem gleichnamigen Wandgemälde Wilhelm von Kaulbachs im Neuen Museum in Berlin auch als ein ‚fortschrittliches‘ Pendant in der bildenden Kunst zur ‚Zukunftsmusik‘ (siehe den Kommentar zu N. Z. 1857 Allcompositionsskizze, in: NdS 3 Nr. 130). 19 Bronsart 1856 Franz Liszt’s Torquato Tasso. 20 Lobe 1856 Briefe über Liszt’s Symphonische Dichtungen, in: NdS 2 Nr. 99. 21 Brendel 1857 Franz Liszt in Leipzig, S. 101 und 102.
Der Einzug in die Metropolen, neue Akteure und die Transformation der Kontroverse Die Jahre 1857 bis 1858
Als am Abend des 26. Februar 1857 die Klänge von Franz Liszts Les Préludes und Mazeppa das damals schon traditionsreiche, ursprüngliche Gewandhaus erfüllten, hatte das Leipziger Publikum nicht nur die Gelegenheit, sich erstmals selbst ein Urteil über die Symphonischen Dichtungen des Weimarer Hofkapellmeisters zu bilden; zugleich vermag dieses Ereignis am symbolträchtigen Ort stellvertretend für eine Entwicklung zu stehen, welche in mehrerer Hinsicht als wichtige Wegmarke der schon seit Jahren andauernden Auseinandersetzungen um die sogenannte Zukunftsmusik gedeutet werden muss: die systematische Verbreitung der Werke Liszts durch Aufführungen in den damaligen musikalischen Metropolen im deutschsprachigen Raum.
Liszts Symphonische Dichtungen als „Seitenstück“ des Wagner’schen Gesamtkunstwerks Nachdem Liszts Symphonik und Klavierkonzerte bis Ende 1855 vor allem1 in der Provinz wie dem relativ ‚geschützten‘ Weimar oder Sondershausen erklungen waren, folgten 1857 neben dem Leipziger2 Konzert noch Aufführungen in Pest, Wien, Prag und Dresden.3 Flankiert wurden diese Konzerte durch eine umfangreiche, um musikgeschichtliche Einordnung bemühte Berichterstattung sowohl in der NZfM als auch den Anregungen, zu der häufig noch Aufsätze in den jeweiligen lokalen Tageszeitungen hinzukamen.4 Ziel dieser Publizistik war es, bereits im zeitlichen Vorfeld der Aufführungen deren Stilisierung zu „kunsthistorischen Ereignissen“5 und zugleich
1 Die ersten Konzerte außerhalb Thüringens fanden in Braunschweig und Berlin statt (siehe dazu Corvin 1855 Orphée et Prométhée, in: NdS 2 Nr. 85 sowie Engel 1855 Berliner Briefe [Das LisztConcert], in: NdS 2 Nr. 82). In Wien wurde am 15. September 1856 Mazeppa und Tasso aufgeführt (vgl. hierzu Johns/Saffle 1997 The Symphonic Poems of Franz Liszt, S. 96). 2 Siehe hierzu Brendel 1857 Franz Liszt in Leipzig sowie als Gegenstimme Anonym 1857 Aus Leipzig, in: NdS 2 Nr. 102. 3 Siehe dazu Bülow 1857 Das Literatenthum; Winkler 1857 Franz Liszt in Dresden; Weitzmann 1857 Zukunftsmusik, in: NdS 2 Nr. 113; Damrosch 1857 Correspondenz sowie als Gegenstimmen Banck 1857 Aufführung von Liszt’s Werken, in: NdS 2 Nr. 112. Anonym 1857 Franz Liszt „mit Gewalt“ in Dresden. 4 Siehe den Kommentar zu Engel 1855 Berliner Briefe [Das Liszt-Concert], in: NdS 2 Nr. 82; vgl. außerdem die exemplarische Darstellung der Berichterstattung zu Liszts Konzert im Leipziger Gewandhaus vom 26. Februar 1857 bei Johns 1990 Liszt at the Gewandhaus. Vgl. auch Deaville 2006 Die neudeutsche Musikkritik. 5 Siehe etwa Pohl 1852 Dresdner Musik III, S. 210. Im Vorfeld der Aufführung hieß es bei Pohl: „Seit Wochen, ja Monaten ist der Tannhäuser in Aussicht. Man hofft darauf, wie auf die Erlösung, man bestellte seit Wochen die Plätze, man spricht davon
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Einleitung
die musikhistorische Deutungshoheit innerhalb des musikbezogenen Diskurses zu erzielen. Während dieses ‚Parteiergreifen‘ für die Musik und Schriften Richard Wagners bereits im Neujahrsartikel für das Jahr 1852 in der NZfM proklamiert worden war, machte die Fürsprache im Falle der Werke Liszts eine Abkehr von zuvor vertretenen Positionen notwendig. So stellte sich für Brendel und seine publizistischen Mitstreiter die Aufgabe, den zuvor wiederholt verkündeten,6 teleologisch auf Wagners Gesamtkunstwerk ausgerichteten musikgeschichtlichen Fortschrittsbegriff 7 zu modifizieren und diesen nun auch auf die Symphonischen Dichtungen Liszts auszudehnen. Diese mit dem Neujahrsartikel 1857 einsetzende Wende, hin zum publizistischen Eintreten für Liszts Idee einer programmatischen Instrumentalmusik,8 wurde jedoch bemerkenswerterweise nicht durch den Verweis auf durchaus vorhandene kompositionsästhetische Gemeinsamkeiten wie etwa einer an Berlioz orientierten Orchesterbehandlung, einem zunehmend chromatischen Tonsatz oder einer neuartigen Ausdrucksästhetik betont, sondern vielmehr im Hinblick auf die zugrundeliegenden außermusikalischen Stoffe begründet: „Aeußerst glücklich gewählt wie Wagner’s Operntexte, im verwandten Geiste erfunden, sind die symphonischen Dichtungen schon nach dieser Seite hin als ein Seitenstück und Gegenbild auf dem Gebiete der Instrumentalmusik zu Wagner’s Opern zu betrachten. So wie Wagner durch seine Dichtungen der Oper ein neues Ideal aufgeschlossen hat, so auch Liszt durch seine Programme, durch die Gegenstände derselben, durch die er der Musik neue Stoffe zuführte.“9 Unterstützung erfuhr diese Konstruktion Brendels nicht zuletzt durch den am 10. April in der NZfM10 veröffentlichten offenen Brief Wagners über Liszts Symphonische Dichtungen, der noch im selben Jahr auch als Separatdruck erschien und zusammen mit einem Bericht über das gemeinsame Auftreten Liszts und Wagners bei einem Konzert in St. Gallen11 Ende November 1856 zu einer Stilisierung beider Künstler als Repräsentanten einer von selben Prinzipien und Idealen geleiteten künstlerischen Bewegung beitrug. Zugleich führte diese Entwicklung – nicht zuletzt aufgrund des „Harold“-Aufsatzes Liszts12 aus dem Jahre 1855 – auch zu einer Neubewertung der Musik Hector Berlioz’, der nun stärker als bislang als historisches ‚Bindeglied‘ zwischen Beethoven und Liszt dargestellt und zugleich in seiner musikgeschichtlichen Bedeutung für die nach-Beethoven’sche Symphonik gewürdigt wurde, was wiederum zu einer ab 1856
in allen Kreisen – der beste Beweis, wie arm die Gegenwart sein muß! Die Aufführung des Tannhäuser ist allerdings an sich schon ein Ereigniß, aus vielen Gründen. Aber für uns ist es noch eine besondere Epoche, weil wir hören, daß doch wieder Etwas einstudirt wird!“ (Pohl 1852 Dresdner Musik II, S. 188). 6 Siehe Brendel 1856 Franz Liszt; Brendel 1857 Betrachtungen beim Jahreswechsel, in: NdS 2 Nr. 101; Brendel 1857 F. Liszt’s neueste Werke, in: NdS 2 Nr. 108 sowie Brendel 1858 F. Liszt’s symponische Dichtungen. 7 Siehe Brendel 1853 Die bisherige Sonderkunst, in: NdS 1 Nr. 42. 8 Brendel 1857 Betrachtungen beim Jahreswechsel, in: NdS 2 Nr. 101. 9 Brendel 1858 F. Liszt’s symphonische Dichtungen, S. 86. 10 Wagner 1857 Ein Brief von Richard Wagner über Franz Liszt, in: NdS 2 Nr. 105. Siehe als Reaktion darauf Hm. 1857 Der offene Brief Richard Wagner’s über Franz Liszt, in: NdS 2 Nr. 111. 11 Anonym 1857 Musikalische Briefe aus der Schweiz. 12 Siehe Liszt 1855 Berlioz und seine Haroldsymphonie, in: NdS 2 Nr. 76.
Der Einzug in die Metropolen, neue Akteure und die Transformation der Kontroverse 1241
zu beobachtenden verstärkten Differenzierung in der Diskussion um die ‚Zukunftsmusik‘ führte.13 Während zwar – bemerkenswerterweise gerade von konservativer Seite – weiterhin die Trias Liszt, Wagner und Berlioz, zum Teil auch Schumann und gar Brahms, als Vertreter dieser Richtung in der Musik gesehen wurden, wiesen mehrere Autoren nicht nur aus dem Brendel-Liszt-Kreis vermehrt auf die grundlegenden ästhetischen Divergenzen zwischen den einzelnen Komponisten hin.14 Insbesondere der ‚Fall‘ Berlioz führte dabei wiederholt zu Unstimmigkeiten, die – ähnlich wie zuvor die Auseinandersetzung zwischen Joachim Raff und Wagner sowie Brendel um die zukünftige Existenzberechtigung der Instrumentalmusik neben dem Musikdrama – eine Deutung als geschlossen auftretende und in ihren Mitgliedern konstante ‚Partei‘ eindeutig widerlegen.
Neue Schauplätze und Akteure Eine ähnliche Entwicklung wie anfangs im Falle der Symphonischen Dichtungen lässt sich für diese Jahre auch bezüglich der Opern Richard Wagners ausmachen, bei denen es vor allem die Berliner Erstaufführung des Tannhäuser im Januar 1856 sowie die Erstaufführungen des Tannhäuser und Lohengrin im August 1857 bzw. Herbst 1858 in Wien waren, welche durch Wiederabdrucke in anderen Journalen ein weit über die Grenzen der Donaumonarchie hinausreichendes Presseecho auslösten und zu einer Verschärfung der Auseinandersetzungen um die ästhetische Legitimation seiner Werke beitrug. Wieder ist auch in diesen Fällen das Phänomen zu beobachten, dass diese Aufführungen durch Aufsätze in Wiener Musikzeitungen im Vorfeld gefordert und flankiert wurden, wodurch die bis dahin vom musikalischen Parteienstreit in ‚Norddeutschland‘ relativ unberührte „gemüthliche“15 Metropole Wien nun auch zu einem Schauplatz der Auseinandersetzungen wurde.16 Hierzu trug auch der dort wirkende Musikschriftsteller und Komponist Leopold Alexander Zellner bei, der in den von ihm geleiteten Blättern für Musik, Theater und Kunst ab 1856 in Wien erstmals offen für Liszt und Wagner sowie die Positionen Brendels eintrat.17 Dieses ‚Bekenntnis‘ Zellners musste auf konservativer Seite als Provokation aufgefasst werden und rief neben dem schon länger gegen die „moderne[n] Kunstbestrebungen“ in der Neuen Wiener Musik-Zeitung polemisierenden Autor „H – l.“18 auch den Musikkritiker und Ästhetiker Eduard Hanslick auf den Plan. Dieser ergriff erstmals anlässlich der Wiener Erstaufführung von Liszts Symphonischer Dichtung Les Préludes19 sowie Wagners Tannhäuser20 direkt das Wort,
13 Siehe dazu u. a. Lobe 1856 Briefe über Liszt’s Symphonische Dichtungen, in: NdS 2 Nr. 99. 14 Siehe Bruyck 1857 Wiener Federstriche, in: NdS 2 Nr. 110. 15 H – L. 1857 Der Zopf als Schreckbild, S. 45, in: NdS 2 Nr. 103. 16 Siehe Kolland 1995 Die kontroverse Rezeption von Wagners Nibelungen-Ring, S. 71– 73. 17 Zellner 1856 Musikalische Wochenlese, in: NdS 2 Nr. 89. 18 H – l. 1853 Musikalische Charakteristiken V, in: NdS 1 Nr. 52; H – l. 1854 Musikalische Charakteristiken VIII; H. – L. 1855 „Vom Musikalisch-Schönen“; H – L. 1856 Das Mozart-Festkonzert; H – L. 1857 Der Zopf als Schreckbild, in: NdS 2 Nr. 103; H – L 1858 Lohengrin. 19 Hanslick 1857 Les Préludes, in: NdS 2 Nr. 104. 20 Hanslick 1857 „Tannhäuser“ von Richard Wagner sowie Hanslick 1857 Ein Vorwort zu R. Wagners „Tannhäuser“.
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Einleitung
wodurch dieser durch Wiederabdrucke seiner ursprünglich in der Wiener Freien Presse erschienenen Aufsätze zu Liszt und Wagner auch überregional alsbald als Wortführer des konservativen Lagers wahrgenommen wurde.21 Wie sehr diesem eine Figur wie Hanslick gegen die Publizistik der ‚Zukunftsmusiker‘ gemangelt hatte, wird schon durch die begeisterte Rezeption seiner musikästhetischen Abhandlung Vom Musikalisch-Schönen22 etwa in der Rheinischen23 sowie der Niederrheinischen Musik-Zeitung24 deutlich. Dass Hanslick die ihm zugedachte Rolle als Antipode Wagners und Liszts auch alsbald für sich annahm, belegt dessen auf den 9. November 1857 datiertes Vorwort zur 1858 erschienenen 2. Auflage von Vom Musikalisch-Schönen, in welchem der Autor Wagner und Liszt explizit erwähnt und damit seine ursprünglich gegen die „verrottete Gefühlsästhetik“ gerichtete Schrift nunmehr auch gegen deren Schaffen bezieht;25 eine folgeschwere Beiläufigkeit, die Hanslick zukünftig – wie auch historiographisch rückwirkend – zum Feindbild der ‚Neudeutschen‘ stilisierte und wesentlich zum nach wie vor kolportierten Geschichtsbild einer auf diese Polarität reduzierten Sichtweise des musikalischen Parteienstreits beitrug.
Ausweitung der Kampfzone und Überdruss an der Polemik Eine weitere Folge der zunehmenden Verbreitung der Werke Wagners und Liszts ist neben den zu dieser Zeit wieder verstärkt aufflammenden, polemischen Auseinandersetzungen um die ‚Zukunftsmusik‘ ein Hinaustreten der Kontroverse aus den engen Schranken der Musikzeitschriften in die auflagenstärkeren Tageszeitungen. Neben den bereits erwähnten Feuilleton-Artikeln Hanslicks in der Wiener Freien Presse ist hier vor allem der über mehrere Monate geführte, durch Alfred von Wolzogen initiierte Disput zu nennen. Dieser nutzte die Spalten der zu dieser Zeit vor allem in Süddeutschland und Österreich verbreiteten Augsburger Allgemeinen Zeitung, um dort anonym gegen die „Musikalischen Leiden“ der Gegenwart, vertreten vor allem durch Liszt und Wagner, zu Felde zu ziehen. Für die Angegriffenen trat der Liszt-Schüler Hans Bronsart von Schellendorff mit dessen „Musikalischen Pflichten“ in den musikjournalistischen Ring.26 Diese 1857 zu beobachtende Ausbreitung der bislang zumeist in den Musikzeitschriften ausgetragenen Auseinandersetzungen in die Tagespresse rief jedoch neben
21 Schon
zwei Jahre zuvor war innerhalb einer Sammlung von Kritiken auch Hanslicks Meinung über Wagner in einem Wiederabdruck zu lesen (siehe Bischoff 1855 Stimmen der Kritik über Richard Wagner). 22 Hanslick 1854 Vom Musikalisch-Schönen, in: Strauß 1990 Hanslicks Vom MusikalischSchönen. 23 Anonym 1855 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen. Siehe auch den Kommentar zu Brendel 1855 Hanslick, Vom Musikalisch-Schönen, in: NdS 2 Nr. 72. 24 Bischoff 1855 Eduard Hanslick, in: NdS 2 Nr. 73. 25 „Nun, wo ich die 2. Auflage zu veranstalten habe, sind zu Wagners Schriften noch Liszt’s Programm-Symphonien hinzugekommen, welche vollständiger, als es bisher gelungen ist, die selbstständige Bedeutung der Musik abdanken, und diese dem Hörer nur mehr als gestaltentreibendes Mittel eingeben“ (Hanslick 1858 Vom Musikalisch-Schönen, in: Strauß 1990 Hanslicks Vom Musikalisch-Schönen I, S. 10). 26 Siehe Philotechnus 1858 Musikalische Pflichten, in: NdS 3 Nr. 116.
Der Einzug in die Metropolen, neue Akteure und die Transformation der Kontroverse 1243
zahlreichen polemischen Reaktionen27 zugleich einen allmählichen Überdruss an der nun schon seit Jahren andauernden Kontroverse hervor.28 Neben der Tatsache, dass sich Werke der ‚Zukunftsmusiker‘ im Repertoire bereits etabliert hatten, ist diese Entwicklung nicht zuletzt durch die Redundanz nachvollziehbar, mit der etwa zu dieser Zeit wiederholt die Debatte um den bereits zehn Jahre zuvor diskutierten „überwundenen Standpunkt“ geführt wurde, welcher angeblich eine generelle Geringschätzung der ‚Fortschrittlichen‘ gegenüber den Werken der Vergangenheit ausdrücke. Aufschlussreich ist nicht zuletzt die Reaktion Brendels, die der einstigen Auseinandersetzung mit den Grenzboten im Ansatz vergleichbar ist.29 Seine Besorgnis, die Meinungshoheit über das musikalische Geschehen der Gegenwart nicht mehr beeinflussen zu können, findet u. a. darin Ausdruck, „daß unsere Gegner ein weit größeres Terrain beherrschen, als uns möglich ist. Natürlich wenn die größten deutschen (und zum Theil auch ausländischen) Blätter alle gegen uns Front machen, so kommen sie damit Tausenden von Lesern in die Hände, die sich um Musik gar nicht bekümmern, und die daher, weil sie stets nur jene Stimmen vernehmen, zu einer richtigen Einsicht gar nicht zu gelangen vermögen.“30 Brendels Anspruch einer breiteren Wahrnehmung der zeitgenössischen Musik in der Öffentlichkeit – wie er ihn nachdrücklich in den Anregungen vertrat – wäre mit dem neuen Schauplatz der Tageszeitungen zwar erfüllt, das damit einhergehende Einbüßen jeder Machtposition artikuliert er mit dem vermeintlichen Verlust fachlicher Kompetenz.
‚Fortschrittliche‘ Musikkritik oder zurück zum Eigentlichen Sind Ausweitung der Debatte und Überdruss ein nach außen festzustellendes Kennzeichen, so kann auch – wenngleich mit sehr viel geringer wirkender Kraft – eine nach innen zielende Entwicklung exemplarisch an zwei inhaltlichen Aspekten verdeutlicht werden. Die ab 1857 in den Anregungen erscheinenden Besprechungen der kurz zuvor im Druck veröffentlichten Symphonischen Dichtungen Liszts durch Felix Draeseke31 belegen wie die von Liszt darin angestrebte Schilderung von Seelenzuständen und Charakterbildern anstelle einer vorrangigen Illustration der zugrunde liegenden außermusikalischen Sujets die Suche nach einer neuen Art der musikalischen Kritik mit sich brachten. Vor allem im Vergleich mit der durch Liszt angeregten Besprechung seins Tasso von Johann Christian Lobe32 offenbaren die
1857 Ein neuer Prophet der Zukunft, in: NdS 2 Nr. 93; Anonym 1857a Entstehung der sogenannten Zukunftsmusik, in: NdS 2 Nr. 106; Lobe 1857 Das Gespenst der Zukunft, in: NdS 2 Nr. 98; H – L. 1857 Der Zopf als Schreckbild, in: NdS 2 Nr. 103; Nitzsche 1857 Zur Würdigung der so genannten Zukunfts-Musik, in: NdS 2 Nr. 109; Anonym 1858 Zeitgemäße Betrachtungen. 28 Siehe Bagge 1858 Zur gegenwärtigen Parteistellung, in: NdS 3 Nr. 118 sowie Bagge 1858 Die neue Zeitschrift für Musik. 29 Siehe Anonym 1854 Die Grenzboten als Neueste Zeitschrift für Musik, in: NdS 1 Nr. 62. 30 Brendel 1858 Zeitgemäße Betrachtungen [9. April], S. 161. 31 Draeseke 1857 Franz Liszt’s symphonische Dichtungen, in: NdS 2 Nr. 107. 32 Lobe 1857 Briefe über Liszt’s Symphonische Dichtungen, in: NdS 2 Nr. 99. 27 Lobe
Einleitung
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Aufsätze des erst 22-jährigen Draeseke den neuartigen Versuch einer Musikkritik, die in ihrer Darstellung den Spagat zwischen einer konsequent auf das zugrundeliegende Programm bezogenen Beschreibung und einer vorrangig den Kenner ansprechenden musikalischen Detailanalyse vollzieht, welche die innermusikalische Qualität und den vorhandenen Traditionsbezug der Werke abseits des zugrundeliegenden Sujets betont. Bemerkenswert ist das zu dieser Zeit wieder einsetzende Bemühen Brendels um die seit dem Scheitern der Revolution 1848 nur nachlässig betriebene Forderung einer Reform des Musiklebens, die jedoch nunmehr ‚realpolitisch‘ auf eine konkrete Umsetzung samt einer realistischen Finanzierbarkeit angegangen wurde.33
33 Siehe
Brendel 1857 Thesen über Theaterreform sowie Brendel 1857 Die Tonkunst.
Nr. 101 | Franz Brendel, „Betrachtungen beim Jahreswechsel“, in: NZfM 24 (1857), Bd. 46, Nr. 1 (1. Januar), S. 1– 7.
Betrachtungen beim Jahreswechsel
Es ist am Ort, beim Jahreswechsel einmal wieder nicht allein eine blos formelle Begrüßung an unsere Leser zu richten, sondern nach längerer auf ein bestimmtes Ziel gerichteter Thätigkeit betrachtend zu verweilen, und sowol das Erreichte, als auch das, was weiterem Streben vorbehalten bleibt, ins Auge zu fassen. Die Aufgabe, welche wir uns vor einigen Jahren zunächst zu stellen hatten, ist erledigt. R. Wagner’s Opern sind gegeben worden, soweit die deutsche Sprache reicht,1 und eine begeisterte Anerkennung ist dieser Einführung gefolgt. Von Städten von Einfluß und Bedeutung blieb allein Wien noch übrig, und auch dort beginnt ein neues Leben sich zu regen, und alle Zeichen deuten darauf hin, daß man bestrebt ist, aus der unwürdigen Erschlaffung sich emporzuarbeiten, in die man in dem Vierteljahrhundert seit Beethoven’s Tode verfallen war.2 Wenn im Allgemeinen hier und da noch vereinzelt gegnerische Stimmen laut werden, so ist das völlig gleichgiltig, denn es ist auf anderen Gebieten nicht anders, und die größten Thaten des Geistes, die größten Erscheinungen der Weltgeschichte finden nach Jahrhunderten und Jahrtausenden immer noch einzelne Gegner. Auch das ist kein Beweis gegen den Fortschritt im Ganzen und Großen, daß es noch immer eine Anzahl von Städten giebt, in denen, ganz abgesehen jetzt von der Reform der Oper, die neuere Kunstrichtung überhaupt, in denen z. B. R. Schumann, noch nicht anerkannt und durchgedrungen ist. Denn es darf nicht übersehen werden, daß diese Städte nicht mit einemmale einen Sprung aus ganz verrotteten Zuständen bis zur Höhe der Gegenwart thun können, sondern den durch die Geschichte bereits zurückgelegten Weg nachträglich erst noch durchlaufen müssen. Gleichzeitig ist im Gefolge der Wagner’schen Bewegung auch ein anderer, bis jetzt verkannter Meister dem Verständniß näher gerückt worden: H. Berlioz. Daß diesem großes Unrecht geschehen, beginnt den Urtheilsfähigen mehr und mehr einzuleuchten, und ein erfreulicher Beweis für den sich vollendenden Umschwung
1 So wurde allein der Tannhäuser u. a. 1852 in Breslau, Schwerin, Wiesbaden und Dresden, 1853 in Riga, Leipzig, Posen, Frankfurt a. M., Düsseldorf, 1855 in Lübeck, München und Hannover sowie 1856 in Berlin erstaufgeführt. Der Lohengrin wurde nach der Uraufführung 1850 in Weimar erstmals u. a. 1853 in Breslau und Leipzig (Auszüge, konzertant), 1854 in Darmstadt und 1856 in Hannover gespielt. 2 Tatsächlich erfolgte die Wiener Erstaufführung des Tannhäuser im August 1857 am dortigen Thaliatheater, während die Erstaufführung des Lohengrin in Wien erst im folgenden Jahr stattfand (siehe Anonym 1858 Lohengrin in Wien, in: NdS 2 Nr. 120).
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in dieser Beziehung ist das Erscheinen zahlreicher Werke von ihm in Deutschland.3 Die Kunstgeschichte ist reich an Beispielen unglaublicher Verkennung, und man muß an dieselben wiederholt erinnern, um zu zeigen, welcher Werth den Urtheilen dieser Vertreter der Classicität beizulegen ist, daran erinnern, um zu beweisen, daß diese Herren stets nur ein ganz erfolgloses Geschrei erhoben haben. Keinem aber ist es schwerer gemacht worden, als Berlioz. Um freilich die wahrhaft eminente Größe in den Leistungen dieses Mannes zu erkennen, genügt nicht die Bekanntschaft nur mit wenigen seiner Werke, und vielleicht nicht einmal den wirklich entscheidenden. Man muß mit einer größeren Anzahl derselben vertraut sein, um diesen Geistesreichthum, diese Charaktergewalt in Erfahrung zu bringen, um zugleich dann auch bereitwillig die Concessionen zu machen, die man seiner Nationalität entgegen bringen muß. Endlich fällt in das verflossene Jahr das Erscheinen der „Symphonischen Dichtungen“ F. Liszt’s,4 es fällt in dasselbe der große Fortschritt in der Anerkennung seiner gegenwärtigen Componistenlaufbahn. In jenen erstgenannten Werken ist der Weg betreten, der meines Erachtens zunächst einzig noch übrig war, der Weg aus den bisherigen formellen Schranken der Instrumentalmusik heraus zu freier Dichtung in Tönen, es ist darin [2] mit Bestimmtheit jenes Ziel ergriffen und verwirklicht, welches auch R. Schumann in der ersten Epoche seines Schaffens ahnte, dem er sich aber später, als er das Gebiet der Pianofortecomposition verließ, entfremdete. Die Zeit war damals noch nicht reif, um auf kürzestem Wege dasselbe zu erfassen, und es mußte erst das neue Kunstideal eine bestimmtere Gestalt erlangt haben, bevor die erforderliche Grundlage für diese Aufgabe gewonnen werden konnte.5 Was ferner sehr erfreulich erscheint, und von uns als ein Gegenstand specieller Aufmerksamkeit betrachtet wird, ist die neue Schule jüngerer Talente, deren Entstehung ebenfalls als ein Resultat der Bewegung der letzten Jahre zu betrachten ist. Es ist insbesondere die allgemeinere Bildung, welche die Mitglieder dieser Schule charakterisirt, und sie befähigt, auch schriftstellerisch ihre Kunst zu vertreten; – in gewissem Sinne also schon ein Heraustreten aus den Schranken der Sonderkunst6, – es ist die höhere Anschauung von der Sache, der zufolge man nicht mehr glaubt, ein
3 Im Druck erschien 1854 La Damnation de Faust op. 24, die Weimarer Fassung des Lélio op. 14 1857 in Leipzig, 1855 L’Enfance du Christ op. 25. Konzerte von Berlioz in Deutschland: Nach der sogenannten Berlioz-Woche 1852 in Weimar kehrte Berlioz auf Einladung Liszts in den Jahren 1855 und 1856 dorthin zurück, um eigene Werke zu dirigieren. 1855 und 1856 folgten ebenfalls Konzerte in Hannover, Dresden und Braunschweig, ab 1856 wirkte Berlioz bis 1863 auf Einladung des dortigen Operndirektors Édouard Bénazet als Dirigent eigener und fremder Werke in BadenBaden. 4 Bis 1857 lagen bei Breitkopf & Härtel in Leipzig fast alle Partituren der bis dahin entstandenen Symphonischen Dichtungen Liszts mit Ausnahme von Nr. 1 Ce qu’on entend sur la montagne S 95, Nr. 8 Hungaria S 102 und Nr. 9 Héroïde funèbre S 103, welche allesamt im Jahre 1857 veröffentlicht wurden, im Druck vor. 5 Brendel hatte sich 1845 von Schumann die Fortführung des geistigen Erbes Ludwig van Beethovens in der Symphonie und die Schaffung einer deutschen Nationaloper erhofft (siehe hierzu Brendel 1845 Schumann und Mendelssohn), spätestens nach dem Erscheinen von dessen Genoveva sich aber enttäuscht von Schumann abgewendet (siehe Brendel 1850 Genoveva). 6 Die Bezeichnung „Sonderkunst“ findet sich schon bei Wagner (Wagner 1852 Ein Brief an den Redacteur, in: NdS 1 Nr. 29) und bezeichnet jenes Musikschaffen, welches nicht Teil des von ihm angestrebten Gesamtkunstwerks ist.
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Kunstwerk geschaffen zu haben, wenn man Phrasen zusammengeleimt hat, es ist ein strengeres künstlerisches Gewissen, überhaupt aber ein geistreicheres Element, welches sie auszeichnet. Neue durch Talent berechtigte Bestrebungen zu fördern, ist, was das Praktische betrifft, Princip dieser Schule, und es erhält auf diese Weise seine Fortsetzung, was ich früher in den Tonkünstler-Vereinen zu erreichen bemüht war.7 Wenn daneben immer noch eine große Anzahl liederlicher und talentloser Modeproducte Absatz findet, so darf man sich darüber nicht allzusehr ereifern. Der Grund dieser Erscheinung liegt in der Natur unserer künstlerischen Verhältnisse, und es kann sich dies nicht eher ändern, als bis die Kunst aufgehört hat, ein Luxusartikel zu sein, nicht eher, als bis dieselbe eine ihrer geistigen Bedeutung entsprechende äußere Stellung erhalten hat, bis sie anerkannt ist, als eine mit Religion und Wissenschaft gleichberechtigte Macht. Daß dies geschehe, ist das Ziel unseres Strebens, und die Grundbedingungen sind gegeben durch die Richtung, welche wir verfolgen. Aber der erfreulichen Erscheinungen, hervorgerufen durch die Thätigkeit der letzten Jahre, sind noch viele namhaft zu machen, und ich will nicht unterlassen, darauf hinzuweisen, damit das Gute nicht verkannt werde, neben dem, was zu wünschen übrig bleibt. Man betrachte das außerordentlich zahlreiche Erscheinen von Schriften über Musik in unserer Zeit. Welch ein Abstand, wenn man damit die Zustände noch vor einem Decennium vergleicht! Diese Literatur ist ein Beweis, daß jene soeben bezeichnete klägliche Stellung der Tonkunst ihre Endschaft erreicht, der zufolge sie für die große Mehrzahl nichts war, als ein flüchtiges Unterhaltungsmittel; ein Beweis, daß man Bewußtsein gewinnen will über die geistige Bedeutung derselben, daß jene ästhetisch-kritische Entwickelung zum Durchbruch kommt, auf die wir, als auf eine der wichtigsten Aufgaben unserer Zeit für die Kunst, seit Jahren hinarbeiten. Nicht eine Kunst der Reflexion, wie da und dort noch immer einige meinen, soll auf diese Weise erzielt werden, im Gegentheil eine Kunst, welche als Entwickelungsmoment, als Grundlage für künftiges Schaffen, diese Seite in sich aufgenommen hat. – Es ist in diesem Zusammenhange ferner des außerordentlich gesteigerten Interesses für Geschichte der Musik hier zu gedenken. Noch vor einer nicht allzulangen Reihe von Jahren mußte man froh sein, einzelne spärliche Proben von den Werken älterer Meister zu erhalten. Jetzt drängen sich die Ausgaben, und mehr und mehr wird von jenen alten Schätzen veröffentlicht.8 Die nähere Bekanntschaft mit der Geschichte hat die Nachfrage nach jenen Werken hervorgerufen, und es liegt auch hierin ein Beweis für eine geistvollere Auffassung der Tonkunst, indem man nicht mehr künstlerisch in den Tag hineinlebt, sondern den Schritt vollbracht hat aus der Naivität früherer Zustände zu bewußter Orientirung.
7 Brendel spielt damit auf die von ihm initiierten Tonkünstler-Versammlung in den Jahren 1847 (siehe Brendel 1847 Die erste Versammlung deutscher Tonkünstler) und 1848 in Leipzig (Brendel 1848 Tonkünstler-Versammlung zu Leipzig) an. Auf diesen hatte er u. a. die verstärkte Förderung junger Komponisten durch Aufführungen ihrer Werke gefordert (siehe Brendel 1848 Erklärung des Leipziger Tonkünstler-Vereins). 8 Ab 1851 wurde die Gesamtausgabe der Werke Johann Sebastian Bachs von der ein Jahr zuvor gegründeten Leipziger Bach-Gesellschaft herausgegeben, 1853 waren in Regensburg (Musica divina bei Proske) und in Berlin (Musica Sacra I – II bei Schlesinger) Neuausgaben ausgewählter Werke Giovanni Pierluigi da Palestrinas erschienen.
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In der That, man kann mit solchen Zeichen im hohen Grade zufrieden sein, sobald man nicht Wunder verlangt, sondern bedenkt, daß eben nur allmählich von der Menge das höhere Ziel erreicht werden kann. Wenden wir jetzt unsere Blicke auf das, was weiterem Streben vorbehalten bleibt. Die erste Frage ist hier, wie es um die Verfolgung des von R. Wagner betretenen Weges steht? Offenbar ist hier, wie ich schon einmal an einem anderen Orte sagteI, ein auffallender Stillstand vorhanden. Man wagt sich zur Zeit noch nicht heraus. Daß es mit der alten Oper nicht mehr geht, das sieht jetzt wol der Befangenste ein. Es ist allzuoffenbar, und die stets nutzlos verschwendete Zeit und Mühe, die kärglichen Erfolge aller derartigen Werke mußten endlich die Augen öffnen. Aber ebensowenig geschieht bis jetzt etwas auf dem neuen Wege. Man fühlt sich noch zu unsicher, und es sind zur Zeit zuwenig feste Grundlagen vorhanden, um darauf jetzt schon weiter fortbauen zu können. Weiter gekommen sind wir indeß auch hier. Man hat sich im Allgemeinen mit den Principien vertrauter gemacht, und was das wirklich Erreichte betrifft, so ist die neue Einsicht insbesondere die, daß man erkannt hat, wie die Operndichtung eine würdige Aufgabe für den Dichter sei.10 Jetzt aber stellt sich das Verhältniß der beiden Hauptelemente im Vergleich mit früheren Zuständen fast in umgekehrter Weise dar. Wenn früher die Componisten vergeblich befähigte Dichter suchten, so sind jetzt die Dichter bereitwillig, aber wählerisch im Anschluß an die Tonsetzer, da sie es nicht mit dem ersten besten Neuling versuchen wollen, sondern schon bewährte Kräfte wünschen. Was die Art des Zusammenwirkens betrifft, so ist soviel als festgestellt zu betrachten, daß das bisherige [3] äußerliche Verhältniß zwischen Dichter und Tonsetzer aufhören muß. Der erste Schritt hierzu besteht darin, daß beide mehr als bisher von einander Notiz zu nehmen anfangen, die Musiker sich um die poetische Literatur und die Dichter sich um die musikalische soweit als möglich bekümmern, um zu erfahren, zu welchen Individualitäten sie sich besonders hingezogen fühlen. Das Weitere ist alsdann, daß Einer der Betheiligten das Uebergewicht erhält, von Einem das Wesentliche der Erfindung ausgeht. Man kann sich einen Dichter denken, der musikalisch gebildet, den Musiker in sein Interesse zieht, aber auch das Umgekehrte ist ebenso berechtigt und jetzt sogar bei weitem näher liegend. Auch ist nicht das Geringste dagegen einzuwenden, wenn der Musiker zugleich der Dichter ist, vorausgesetzt, daß er das Zeug dazu hat, und nur eine unberufene Einmischung der Tonsetzer in die dichterische Thätigkeit, hervorgerufen durch Wagner’s verführerisches Beispiel, würde als entschiedener Abweg zu bezeichnen sein. Ein Hauptpunct, auf den es bei aller Gesangsmusik, insbesondere aber im musikalischen Drama ankommen wird, ist die Behandlung der Singstimme, die Art der Vereinigung von Poesie und Musik namentlich im Sologesang. Ich verweise in dieser Beziehung auf das, was ich in dem schon erwähnten ersten Heft der „Anregungen“ vom vorigen Jahre über „Melodie und Sprache“ gesagt habe.11 Es muß sich I Im
ersten Heft der „Anregungen“ vom vorigen Jahre.9
ist hier Brendel 1856 Kunstwerk der Zukunft gemeint. 10 Vgl. Draeseke 1856 Der Dichter und der Componist. 11 Siehe Brendel 1856 Melodie der Sprache. Brendel beschreibt darin eine Stufenfolge der Entwicklung innerhalb der Sprachvertonung, vom „Bravourgesang der alten Italiener“ hin zum Deklamationsstil Wagners, der als zukünftiges Ideal anzustreben sei. 9 Wahrscheinlich
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zunächst die Einsicht in die gräuliche Unnatur der bisherigen Textbehandlung, namentlich in der Opernarie, mehr und mehr verbreiten, damit man klar werde über das schiefe Verhältniß, in denen Poesie und Musik bisher zueinander standen, und den Leuten die Schuppen endlich von den Augen fallen. Nicht viel größer, als in der Sphäre des musikalischen Dramas, war bisher die Thätigkeit auf dem Gebiet des Concertoratoriums und der Concertcantate. Und doch wäre dies der Weg der Annäherung für Dichter und Musiker und zugleich diejenige Sphäre, in der es am leichtesten sein würde, etwas zu leisten, theils weil hier eine Menge geeigneter Stoffe sehr bald sich finden würde, theils auch, weil man die gewohnten Bahnen nicht allzu weit zu verlassen genöthigt wäre. Hier freilich liegt ein großer Theil der Schuld an unseren Concertinstituten. Bedarf es immer so langer Anstrengungen vonseiten der Componisten, um endlich eine Aufführung zu ermöglichen, so ist ihnen nicht zu verdenken, wenn sie die Lust verlieren. Man kommt zur Zeit neuen erfindungslosen Symphonien immer noch mit größerer Bereitwilligkeit entgegen, und trägt auf diese Weise der bisherigen Gewohnheit Rechnung, unbekümmert darum, ob es der Mühe lohnt, solche Werke aufzuführen, und ob überhaupt in der Symphonie, sobald dieselbe an der bisherigen Form festhält, noch ein weiterer Fortschritt der Kunst sich offenbaren kann. Gar nichts ist geschehen zur Zeit, was die Mitwirkung der übrigen Künste beim musikalischen Drama betrifft. Ich habe schon früher bemerkt, daß ich hierbei nicht eine Mitwirkung im Sinne habe, derzufolge die Vertreter der anderen Künste in einer solchen ihre einzige Aufgabe erblicken müssten.12 Dem bisherigen Extrem eines in sich verhärteten Egoismus würde eine derartige Auffassung das andere einer Auflösung, eines Aufgehens im Ganzen gegenüber stellen. Nun ist es zwar ohne weiteres zuzugestehen, daß die letztgenannte Seite die uns fehlende ist, und in ihrer Erreichung die große Aufgabe der Zukunft besteht, aber es darf nur nicht das eine Extrem an die Stelle des anderen treten, es darf das Berechtigte des Früheren nicht verloren gehen. Dem entsprechend kann auch die Sonderkunst nicht aufhören. Unter dieser Einschränkung jedoch eröffnet sich ein unübersehbares Feld der Thätigkeit für die Vertreter der anderen Künste beim Gesammtkunstwerk, und auch jenes Hinderniß wird beseitigt, welches bisher jedenfalls einer Vereinigung vor allem anderen im Wege stand: die Befürchtung nämlich für Maler und Bildhauer, in gleicher Weise wie Schauspieler, Sänger und Virtuosen nur dem Augenblick dienen und in ihm seine Befriedigung finden zu müssen, während sie bisher für die Dauer zu arbeiten gewohnt waren. Das aber wird durchaus nicht von ihnen verlangt, im Gegentheil nur eine Betheiligung am gemeinschaftlichen Werk neben ihrer Thätigkeit als Sonderkünstler. Ich habe seit einer Reihe von Jahren größere Bühnen nicht gesehen, und es ist mir unbekannt, wie weit man bei denselben in Bezug auf scenische Ausstattung gekommen ist. Soviel aber ist richtig, daß zwischen dem, was gemeinhin geleistet wurde in scenischer Ausstattung und theatralischer Darstellung überhaupt, und dem, was als möglich gedacht werden kann, ein ebenso großer Abstand ist, wie
12 Siehe Brendel 1853 Die bisherige Sonderkunst, in: NdS 1 Nr. 42. Darin räumt Brendel im Gegensatz zu Wagner den Einzelkünsten eine eigenständige Existenzberechtigung neben dem anzustrebenden Gesamtkunstwerk ein.
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zwischen dem Gegenwärtigen und der Bühne Shakespeare’s Princip ist: Darstellung des Wirklichen, Naturtreue, denn wäre dies nicht der Fall, so würde alle scenische Ausstattung überhaupt überflüssig sein, und wir könnten uns mit der bloßen Bezeichnung der Scene, wie zu Shakespeare’s Zeiten, begnügen. Wieweit ist man aber davon noch entfernt, und wie dürftig sind die Mittel, welche eine solche Täuschung bewirken sollen! Ich erinnere, um zu verdeutlichen, was ich meine, und diejenigen, die über diese Gegenstände noch nicht gedacht haben, darauf hinzulenken, beispielsweise nur an einiges Derartige. Man ist noch immer genöthigt, den ganzen Raum der Bühne offen zu lassen, auch wenn das kleinste Zimmer dargestellt werden soll, geschlossene Zimmer aber sieht man auf gewöhnlichen Theatern gar nicht. Ein Mißverhältniß ferner entsteht, wenn nur der äußerste Vordergrund der Bühne benutzt, durch einen Vorhang von dem weiter zurückliegenden Raum abgeschnitten wird, und doch die ganze Breite und Höhe derselben sichtbar bleibt! Bedeutendes wird zum Theil geleistet in [4] Garten- und Waldlandschaften, und doch denkt man nicht daran, daß jede Illusion zerstört werden muß, solange die Bretter des Podiums sichtbar bleiben! Derartige Beispiele ließen sich in Menge aufstellen, und wenn man unter diesen Gesichtspuncten das auf den meisten Theatern Gebotene betrachtet, so ergiebt sich als Resultat, daß man auf halbem Wege stehen geblieben ist. Ebensowenig unterliegt es einem Zweifel, daß die Theater, d. h. die Gebäude an sich selbst, weit künstlerischer gestaltet, zu wirklichen Kunstschöpfungen erhoben werden könnten, wenn man von äußeren, zufälligen Rücksichten, die jetzt die maßgebenden sind, absehen wollte. Solange z. B. die Absperrung in Logen ihre Geltung behauptet, kann von einer künstlerischen Gestaltung des Zuschauerraumes nicht die Rede sein. Es geht hiermit, wie mit unseren protestantischen Kirchen, die auch zum Theil durch die hineingebauten Emporkirchen und Capellen verunstaltet worden sind. Am wenigsten erfreulich gestaltet sich das Urtheil, sobald wir die äußeren Kunstverhältnisse ins Auge fassen. Auch hier zwar ist zunächst von Gutem, welches erreicht wurde, zu berichten, solange wir auf speciell musikalischem Gebiet verweilen. Die Nothwendigkeit einer Reform unserer Concerte ist mehr und mehr zum Bewußtsein gekommen, und die zahlreichen Berichte über veränderte Einrichtung, die wir im vorigen Jahrgang dies. Bl. mitgetheilt haben,13 legen ein günstiges Zeugnis ab für die vorhandene Einsicht. Was jedoch die theatralischen Verhältnisse betrifft, so stehen wir noch ganz auf dem bisherigen Punct. Wagner’s Opern haben, wie vorauszusehen war, allein nicht vermocht, aus der Versunkenheit emporzureißen; man hat die Werke gegeben, so gut oder so schlecht es eben gehen wollte, und das einzige Resultat ist gewesen, daß man die vorhandenen Mängel deutlicher erkannt hat. Um diese Mängel jedoch zu beseitigen, geschah bisher soviel wie nichts. Betrachten wir zunächst die Leistungen der darstellenden Künstler, der Sänger. Nur zu gerechtfertigt sind die Klagen über den Verfall der Gesangskunst in der Gegenwart. Es ist hier nicht der Ort, näher auf die sehr verschiedenartigen Ursachen dieser Erscheinung einzugehen. Dieselben sind zunächst rein körperlicher Natur. Das gegenwärtige Geschlecht besitzt nicht mehr die Gesundheit der vorangegangenen
13 Siehe
Brendel 1856 Thesen über Concertreform sowie Bülow 1856 Ein Lohconcert.
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Generationen, und infolge davon nicht die frühere Ausdauer, nicht die zähe Kraft, welche die Grundlage sein muß für längere Studien, für eine viele Jahre umfassende Entwickelung; es giebt weniger naturwüchsige, kerngesunde Menschen. Hierzu kommen die Zeiterscheinungen, welche theils Ursache, theils Wirkung dieser Wendung sind, – die Hast und Eile, die Unruhe und darum schneller absorbirte Lebenskraft, die größere Genußsucht u. s. w. – und demnach ebenfalls die in Rede stehenden Kunstleistungen beeinträchtigen. In speciell künstlerischer Sphäre ist an die Stelle des früheren Ernstes Frivolität der Gesinnung getreten. Man will nur Geld verdienen, und dies so schnell als möglich, und nimmt sich daher keine Zeit zu gründlichen Studien. Als nächstliegende Ursachen endlich hat man schon oft jene Uebelstände bezeichnet, die in hinaufgetriebener Stimmung, massenhafter Instrumentirung, ungeschickter Behandlung der Singstimme liegen. Wenn nun schon hier fast alles zu wünschen übrig bleibt und man zurückblickt auf frühere Leistungen als auf etwas nicht wieder zu Erlangendes, wieviel weniger, möchte man ausrufen, konnte geschehen, um neugestellte Forderungen der Verwirklichung näher zu bringen! In der That, es ist gar nichts gethan worden. Die neue Richtung verlangt ein durchaus verändertes Verfahren. Es kommt für den dramatischen Sänger in unserem Sinne bei weitem weniger auf Kehlfertigkeit an. Hier liegt der Accent, die stets nothwendige Gesangstechnik natürlich vorausgesetzt, einerseits auf Erzielung einer besseren Aussprache, anderseits ist es die schauspielerische Bildung, welche neu hinzukommen muß. Hin und wieder zwar haben auch jetzt schon hervorragende Sänger die deutliche Aussprache nicht vernachlässigt, aber diese war doch nur eine gute Eigenschaft neben anderen, sie wurde nicht principiell an die Spitze gestellt, und es konnte daher geschehen, daß die große Menge der Sänger sie als eine Nebensache fast ganz außer acht ließ. Die Kunst deutlicher und correcter Aussprache ist überhaupt bei uns eine außerordentlich vernachlässigte, und man braucht, ohne auf die Erfahrungen, die man im täglichen Leben und in anderen Berufskreisen, wo öffentlich gesprochen wird, machen kann, hinzuweisen, nur die Leistungen unserer Schauspieler als Beleg anzuführen. Die Wenigsten sind im Stande deutlich zu sprechen, und es charakterisiert einzelne ausgezeichnete Künstler, daß sie dies vermögen, daß sie in dieser Beziehung gründlichere Studien gemacht haben. Die Meisten verschwenden eine große Klangfülle auf den Vocalen und verschlucken die Consonanten, sie schreien und poltern, ohne daß man ein Wort versteht. Ich wiederhole: wie konnte, möchte man zunächst fragen, in dieser Beziehung etwas geschehen, wenn es nicht einmal gelingen wollte, das schon Erreichte festzuhalten! Allerdings wird das Bedürfnis nach einer Verbesserung in der Gegenwart lebhaft empfunden, und die zahlreichen theoretischen Bestrebungen, die Herausgabe von wissenschaftlichen Arbeiten über die Kunst des Gesanges sind ein Beleg dafür.14 Aber gerade diese Bestrebungen beweisen, daß man die richtige Erklärung für jene Thatsache noch nicht gefunden hat, den Fingerzeig, der darin liegt, nicht zu benutzen verstand. Soll ich meine Ansicht offen aussprechen, so muß ich sagen, daß ich in dem Verfall der
etwa die Gesangsschule Manuel Garcias, Die Kunst des Gesanges (ED 1841) oder AugusteMathieu Panserons Neueste, vollständige Gesang-Schule: zum Selbst-Unterrichte vom ersten Anfange bis zur hoechsten Ausbildung fortschreitend in zwei Theilen (ED 1841).
14 Vgl.
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früheren Gesangskunst ein Zeichen der Zeit erblicke, eine durchaus nicht zufällige, mit der Kunst selbst in keinem Zusammenhang stehende Erscheinung, im Gegentheil einen Fingerzeig, daß der Fort-[5]schritt auf anderen Wegen zu suchen ist, in der bezeichneten mehr dramatischen Wendung, nicht mehr in der Sphäre des alten Kunstgesanges, der sich zu überleben beginnt, dessen höchste Blüthe sicher in der Vergangenheit liegt. Auch hier, wie überall, liegt die Verbesserung nicht in der Wiederbelebung des Alten, sondern in der Gewinnung eines Neuen. Ein zweiter Mangel bezüglich unserer theatralischen Zustände ist die noch immer andauernde Unlust unserer Directionen, bisher nicht Aufgeführtes zur Aufführung zu bringen. Es fehlt an neuen Werken, das Bedürfniß ist da und zwar in dringendster Weise, und doch entschließt man sich nicht, im Hinblick auf diesen Mangel, mindestens einige der ungerechterweise vernachlässigten, bedeutenderen Werke von den bereits vorhandenen aufzuführen: so namentlich „Benvenuto Cellini“15 von Berlioz, Schumann’s Musik zu „Manfred“16. Auch Wagner’s „Fliegender Holländer“17 ist verhältnismäßig immer nur auf wenigen Bühnen erst gegeben worden. Spohr’s „Faust“18 mit den neuen Recitativen19 würde ebenfalls eine würdige Bereicherung des Repertoires sein, sowie Schumann’s „Genoveva“20. Trotz des Erfolges der Wagner’schen Opern, der früher bezweifelt wurde, trotz der Einnahmen, welche diese gewährt haben, will man noch immer nicht glauben, daß einige der genannten Werke wenigstens sich halten, daß mit „Cellini“ sogar etwas zu machen sein würde. In dieser Oper würde allein das mächtige, große zweite Finale auch bei der Menge durchschlagen, wenn die Bühne nur einigermaßen den nöthigen Raum bietet und auf die Ausstattung etwas verwendet werden kann. Was endlich den Geist betrifft, der unsere theatralischen Verhältnisse beherrscht, so ist darin jedweder Fortschritt zu vermissen. Noch immer ist der alte Standpunct der Unterhaltung für Gelangweilte, der Ergötzung eines blasirten Publicums der maßgebende. Wenn ich beispielsweise zunächst die hohen Honorare zur Sprache bringe, welche Sänger und Sängerinnen beziehen, so geschieht dies natürlich unter anderen Gesichtspuncten, als die sind, unter denen ehrliche Spießbürger gewöhnlich diese Angelegenheit zu betrachten pflegen. Den letzteren scheinen derartige Summen zu hoch, weil sie weder den Aufwand, den diese Künstler zu machen genöthigt sind, noch auch die Anstrengungen ermessen können, denen sich dieselben unterziehen müssen. Aber dennoch sind diese Summen ein Uebelstand, solange sie in einem Mißverhältniß stehen zur gesammten Einnahme und Ausgabe, zu den gesamten pecuniären Verhältnissen eines Landes, mag man auch dieselben den Empfängern persönlich herzlich gern gönnen. Sie sind ein Uebelstand, weil um ihretwillen alles Andere, Wichtigere vernachlässigt werden muß, die künstlerische Auffassung und Darstellung des Ganzen einem exclusiven, aristokratischen Gelüst geopfert wird.
Benvenuto Cellini (UA 1838). 16 Schumann, Manfred op. 115 (UA 1852). 17 Wagner, Der Fliegende Holländer (UA 1843). 18 Louis Spohr, Faust (UA 1816). 19 Für die 1852 im Londoner Covent Garden geplanten Aufführungen unterzog Spohr das Werk einer Umarbeitung, bei der u. a. die ursprünglich gesprochenen Dialoge durch auskomponierte Rezitative ersetzt wurden. 20 Schumann, Genoveva (UA 1850). 15 Berlioz,
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Es ist eine schöne Sache um eine prächtige Stimme und die virtuosenhafte Bildung derselben. Aber so wichtig ist dies alles keineswegs, daß man ihn zuliebe das Uebrige opfern sollte, im Gegentheil, die etwas größere oder geringere Virtuosität des Sängers muß verschwinden vor der entsprechenden Darstellung des Ganzen und Virtuosenleistungen sind in diesem Sinne nur ein unkünstlerischer Luxus. Jetzt freilich geht man von der entgegengesetzten Ansicht aus. Die Leistungen einzelner Gesangstalente müssen die übrigen Blößen decken, und nur an einzelnen besonders bevorzugten Bühnen, wie z. B. in Weimar unter Liszt, kann man eine Anschauung von der außerordentlich größeren Wirkung gewinnen, welche eine künstlerische Darstellung des Ganzen vor dem allgemein verbreiteten Verfahren voraus hat. Dasselbe gilt, um noch eines zweiten Beispiels zu gedenken, vom Ballet. Die Tanzkunst gehört ganz wesentlich in das musikalische Drama und ist geeignet, die Wirkung desselben im hohen Grade zu steigern. Man kann diese Beobachtung machen in Opern mit und ohne Ballet. In Werken freilich, wie „Fidelio“21 wird dasselbe nicht vermißt, des übergewaltigen Pathos wegen, welches darin herrscht. Schumann’s „Genoveva“ aber z. B. erhält dadurch etwas Tristes und die früheren deutschen Opern etwas Dürftiges und Hausbackenes. Im „Freischütz“ entschädigt der Reichthum der Scenerie, im „Tannhäuser“ und „Lohengrin“ treten die prächtigen Aufzüge an die Stelle des Ballets. Jetzt freilich befindet sich die Tanzkunst auf der Stufe tiefster Entartung, und man vermag nur ausnahmsweise hin und wieder einmal einen annähernd künstlerischen Eindruck zu erhaschen und in Erfahrung zu bringen, was dieselbe eigentlich zu leisten im Stande ist. Jetzt ist dieselbe in einem noch höheren Grade als die Gesangsvirtuosität ein Luxus, der kaum noch auf irgend welche künstlerische Bedeutung Anspruch machen kann. Aus solchen Elementen aber ist die Oper zusammengesetzt, sie sind es, die auf Kosten des Höheren ausschließlich protegirt werden. Erwägt man das hier nur flüchtig Berührte, überblickt man, was damit in näherem oder entfernterem Zusammenhange steht, so muß man die Ueberzeugung gewinnen, wie in allen diesen Dingen zur Zeit von ernsterem Streben, von einem Kunstbewußtsein, welches zugleich das sittliche Moment in sich schließt, nicht die Rede sein kann. Natürlich ist hierbei nicht einzig und allein die Schuld auf unsere Theaterverwaltungen zu wälzen. Vieles wirkt zusammen, und es muß darum auch vieles vorbereitet, vieles anders gestaltet werden, es müssen viele Kräfte sich vereinigen, bevor eine Aenderung möglich ist. Das Nächste ist die Einsicht in alle diese Dinge, welche theils in sich selbst erstarken, theils auch in weiteren Kreisen sich verbreiten muß. Bis jetzt fehlt es daran nach den beiden bezeichneten Seiten hin. Wir sind [6] noch nicht zu rechter Klarheit gediehen, und vermögen die zunächst zu stellenden Forderungen nicht bestimmt genug zu formuliren. Will man einen Einblick in die grenzenloseste Confusion gewinnen, so darf man nur die Ansichten betrachten, welche über diese Gegenstände laut werden. Die frühere musikalische Kritik trägt einen Theil der Schuld, indem sie Unpraktisches, Unausführbares verlangte und dadurch einen Dualismus hervorrief zwischen Theorie und Praxis, hohlem Idealismus
21 Beethoven,
Fidelio (UA 1814).
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und gemeiner Theaterroutine. Die gewöhnlichen Theaterdirectoren sind in dieser Trennung von Theorie und Praxis erzogen, und haben sich darum gewöhnt, von der ersteren keine Notiz mehr zu nehmen. Jedwede ruhige Belehrung bleibt aus diesem Grunde völlig wirkungs- und erfolglos. Nur im Fall man den Leuten entschiedener auf den Leib geht, kann man hoffen, sie aus ihrer Lethargie aufzurütteln, und es liegt hierin zugleich die so oft mißverstandene Ursache, weshalb man, gegen Wunsch und Neigung, häufig gezwungen ist, sich einer Sprache zu bedienen, die man gern mit einer anderen vertauschen würde, wenn auf diese Weise etwas erreicht werden könnte. Es wäre die schönste und freudigste Wirksamkeit, anzuregen und sich anregen zu lassen, zu geben und zu empfangen, und dies alles in einer Weise, die, jedwede Gehässigkeit ausschließend, wechselseitiges Entgegenkommen zur Voraussetzung hätte. Aber wie Wenige giebt es, die solcher Einwirkung fähig sind. „Die Weltgeschichte bezeichnet jeden ihrer Fortschritte mit unzähligen Grabhügeln“, wurde kürzlich im 1. Heft der „Anregungen“ gesagt,22 und auch aus unserem friedlichem Terrain gilt, daß nicht der geringste Fortschritt möglich ist ohne Schmerz und Kampf. – Endlich trägt auch das Publicum einen Theil der Schuld, wenn wir noch nicht weiter gekommen sind als wir sind, obschon ich durchaus nicht einstimme in den Tadel, der so oft gegen dasselbe erhoben wird, einen Tadel, der es allein verantwortlich machen will für alle die Gebrechen, die soeben erwähnt wurden. Gegenwärtig habe ich dieselben nur berührt, da ich die Absicht habe, demnächst näher darauf einzugehen und meinen „Thesen über Concertreform“23 ähnliche über Theaterreform an die Seite zu stellen.24 Es wurde im Vorstehenden mehrfach der von mir herausgegebenen „Anregungen“ gedacht, und ich nehme deshalb Gelegenheit, hier mich noch etwas näher über dieselben und ihr Verhältniß zu dies. Bl. auszusprechen. Schon beim Erscheinen des 1. Heftes zu Anfang des vorigen Jahres theilte ich in dies. Bl. (Bd. 44, Nr. 4)25 die betreffende Einleitung mit, um über den Zweck der „Anregungen“ zu orientiren, es läßt sich aber dem dort Gesagten jetzt noch Mehreres zur Ergänzung beifügen. Die Erwägung, daß vieles zur Sprache gebracht werden müsse, was in dies. Bl. ihrer Bestimmung zufolge nicht gehöre, und doch nicht übersehen werden dürfe, war für mich das nächste Motiv der Herausgabe. Denn es ist nicht möglich, oder bleibt doch stets etwas Halbes, für die musikalische Reform zu wirken, und alles Uebrige, was damit in näherer oder entfernterer Berührung steht, unberücksichtigt zu lassen. Eine gleich wichtige Veranlassung lag in dem Wunsche, ein Organ zu besitzen, welches,
Büchner 1857 Kreislauf des Lebens, S. 31. 23 Siehe Brendel 1856 Thesen über Concertreform. Brendel 1857 Thesen über Theaterreform. 25 Siehe Brendel 1856 Anregungen. Der Artikel ist ein Abdruck der Einleitung Brendels zu den von ihm herausgegebenen und von 1856 bis 1861 erschienenen Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft (siehe Brendel 1856 Einleitung). Deren Aufgabe sei, so Brendel dort, „die Fragen nach einem engern Anschluß der Künste [zu] erörtern, zunächst insbesondere Dichter und Musiker einander näher [zu] bringen, damit das vereinzelte Schaffen derselben in Fällen, wo es ein gemeinschaftliches sein muß, aufhöre. Sie haben weiter die Aufgabe, theils dem allgemeinen, damit in engster Verbindung stehenden geistigen Umschwunge zu dienen, theils auch – mehr dem Praktischen zugewendet – die schon längst und ganz abgesehen von den Wagner’schen Grundsätzen als nothwendig erkannte Kunstreform zu unterstützen“ (ebd., S. 1). 22 Siehe
24 Siehe
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unbehindert durch andere Interessen, die durch Wagner angeregten Fragen debattiren könne. Poesie und Musik einander näher zu bringen, mußte nach dieser Seite hin insbesondere Ziel des Strebens sein. Zugleich wurde damit die Lösung einer zweiten Aufgabe angebahnt. Die Mehrzahl unserer Tonkünstler beschränkte sich bisher allzuausschließlich auf ihre Kunst. Zeigen auch gerade diejenigen, welche in neuester Zeit das Hervorragendste geleistet haben, sich nicht in solcher Weise abgeschlossen, so hatte die große Mehrzahl doch nur selten Gelegenheit, aus dem ihr zunächstliegenden Kreise herauszutreten. Auch nach dieser Seite hin zu wirken, erschien daher als eine Aufgabe für die „Anregungen“. Für diese Blätter aber hoffte ich, könne eine solche Trennung nur zum Vortheil gereichen, indem dieselben dadurch ihre eigentliche Bestimmung fester ins Auge zu fassen im Stande wären. Man vergleiche in diesem Sinne, was beide, die Zeitschrift sowol als die „Anregungen“, gegeben haben, und ich glaube, daß sich das eben Gesagte bewahrheitet. Was dies. Bl. betrifft, so verweise ich auf die zahlreichen Besprechungen der Werke jüngerer Tonsetzer, welche der vorige Jahrgang gebracht hat. Wie viele hat in demselben allein H. v. Bülow26, anderer Mitarbeiter nicht zu gedenken, gegeben! Der gewonnene Raum ferner hat uns in den Stand gesetzt, eine größere Zahl von Correspondenzen aufzunehmen, und so allen wichtigsten musikalischen Ereignissen zu folgen. In den „Anregungen“ dagegen kamen Gegenstände zur Sprache, die in diese Bl. gar nicht gehören, und doch auch für den Musiker von großer Wichtigkeit sind. So z. B., um an das oben über die Bildung der Aussprache beim Sänger und Schauspieler gesagte anzuknüpfen, ein Artikel im 6. Heft „Ueber dramatischen Unterricht“ von Frau Schloenbach27, die als praktische Künstlerin unter dem Einfluß großer Vorbilder gereift (sie ist die Tochter von Frau Sophie Schröder28 und Schwester der SchröderDevrient29), mir vorzugsweise berufen schien, in dieser so sehr vernachlässigten Sache ein Wort zu sprechen; von Arnold Schloenbach Revuen über die neuesten Erscheinungen auf dem Gebiete der Literatur und Kunst,30 um die Musiker in diese Gebiete einzuführen, u. s. w. Dabei wurde in diesen Blättern nicht vernachlässigt, was uns in den vorangegangenen Jahrgängen vorzugsweise beschäftigt hat, und ich kann als Beleg u. a. F. Dräseke’s Artikel über Wagner im 44. Band,31 sowie die zahlreichen Mittheilungen über F. Liszt anführen.32 Die Erwähnung dieses letzteren Umstandes giebt mir schließlich noch zu einer Be merkung Veranlassung, welche für die mit der Richtung dies. Bl. näher Ver-[7]trauten
26 Siehe etwa Bülow 1856 Rudolf Viole sowie Bülow 1856 Compositionen. 27 Siehe Schloenbach 1856 Ueber dramatischen Unterricht. Die Autorin, Auguste Schloenbach (1811–1874), Sängerin am Coburger Hoftheater, fordert darin eine ausführliche und nicht auf bloße Nachahmung des Lehrers abzielende Ausbildung der Schauspieler und prinzipiell auch Opernsänger, welche auf inneren Nachvollzug der zu interpretierenden Rolle beruhen solle. 28 Sophie Luise Schröder, geb. Bürger (1781–1868), Sängerin und Schauspielerin, die vor allem wegen ihrer idealistischen Darstellungskunst berühmt war und darin stilbildend wirkte. 29 Wilhelmine Schröder-Devrient (1804 –1860), eine der bedeutendsten Opernsängerinnen des 19. Jahrhunderts, die u. a. die erste Senta in Wagners Fliegendem Holländer und die Venus der Uraufführung im Tannhäuser verkörperte. 30 Siehe Schloenbach 1856 Revüe über Kunst und Literatur. 31 Siehe Draeseke 1856 Einiges zur Erwiderung sowie Draeseke 1856 Richard Wagner. 32 Siehe Brendel 1856 Franz Liszt sowie Pohl 1856 Vertrauliche Briefe aus Weimar.
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zwar überflüssig, für einige Andere aber – eben bei gegebener Veranlassung – nicht ganz nutzlos ist und deshalb hier eine Stelle finden mag. Dann und wann nämlich wird noch immer hier und da eine Stimme laut, welche uns eine einseitige Hinneigung zu der von den letztgenannten Koryphäen vertretenen Richtung, eine allzuentschiedene Parteinahme vorwirft.33 Ich habe hierauf Folgendes zu erwidern: Wenn gesagt wird, es werde von uns nur das anerkannt, was zu unserer Richtung gehöre, so ist dies sehr richtig, sobald man darunter versteht, daß wir nicht unseren Standpunct festhalten und zugleich auch anerkennen können, was wir bekämpfen, nicht eine Sache und zugleich ihr Gegentheil gutheißen können. Grundfalsch aber ist es, wenn damit gemeint sein soll, daß wir so verrannt in unsere Principien sind, um das Gute, was auf anderen noch berechtigten Standpuncten geleistet wird, zu verkennen, grundfalsch, wenn man damit ausdrücken will, daß wir zugunsten weniger Persönlichkeiten andere vernachlässigen, denn fast jede Nummer unserer Zeitschrift liefert den Beweis des Gegentheils. Dasselbe gilt von dem Parteistandpunct, welchen wir einnehmen. Wir sind Partei, insofern das Streben nach dem Besseren und die Wahrheit Parteisache sind, dem trägen Beharren und dem Irrthum gegenüber; wir sind es nicht, insofern man darunter eine mit Absicht und Bewußtsein festgehaltene, oder aus Mangel an Ueberblick hervorgegangene Einseitigkeit versteht. Diese Blätter haben seit ihrer Begründung durch R. Schumann stets es als ihre wichtigste Aufgabe betrachtet, der fortschreitenden Entwickelung der Kunst als Organ zu dienen, und dem entsprechend neu auftretenden Talenten die Bahn zu ebnen und die Anerkennung und das Verständniß derselben beim Publicum zu vermitteln. Sie entstanden zu einer Zeit, als die neueste Epoche der Tonkunst sich vorbereitete, als einer der Ersten, Chopin, auftrat, vonseiten der Freunde und Bekenner des Alten aber die heftigsten Anfeindungen, ja, von Rellstab z. B., geradezu eine verächtliche Behandlung seiner Werke erdulden mußte.34 Solcher Verkennung entgegen zu treten, war das nächste Motiv ihrer Gründung. Die Zeitschrift ist seit dieser Zeit auf ihrer Bahn consequent fortgeschritten, und meine Aufmerksamkeit mußte sich demnach zuerst auf R. Schumann selbst wenden, der damals zwar als Schriftsteller, als geistvoller Kritiker anerkannt war, als Componist aber nur noch einen sehr kleinen, auf die nächste Umgebung beschränkten Kreis von Verehrern hatte. In solcher Unterstützung der Zeitgenossen besteht die erste und wichtigste Aufgabe einer musikalischen Zeitung, und es ist auch in dem Streben nach diesem Ziele die Erklärung für meine gesammte Verfahrungsweise zu suchen. In diesem Sinne geschieht es daher auch, wenn ich den Wunsch ausspreche, daß man diesen Blättern auch für die Folgezeit die bisher geschenkte Theilnahme bewahren möge. Fr. Br.
etwa Lobe 1856 Ein neuer Prophet, in: NdS 2 Nr. 93. 34 Ludwig Rellstab (1799 –1860), Journalist, Musikkritiker und Schriftsteller, hatte in der von ihm seit 1830 herausgegebenen Musikzeitschrift Iris die Werke Chopins, insbesondere seine Mazurkas, in mehreren Artikeln des Jahres 1833 vehement kritisiert (siehe Rellstab 1833 Chopin Mazurkas). 33 Siehe
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Kommentar Überblickt man die zwischen 1845 und 1868 entstandenen Neujahrsartikel Brendels in der NZfM,35 so wird deutlich, dass diese überwiegend von grundsätzlich-programmatischem Charakter geprägt sind und daher besondere Aufmerksamkeit für den Versuch beanspruchen dürfen, die Entwicklung des musikalischen Parteienstreits Mitte des 19. Jahrhunderts nachzuzeichnen. Die Absicht, Bilanz zu ziehen und zugleich in die Zukunft zu blicken, begegnet in erheblichem Maße auch im vorliegenden Artikel. Um die Jahreswende 1856/57 trat der musikalische Parteienstreit allmählich in ein neues Stadium. Festzumachen ist dies etwa am Einzug der Opern Wagners in das Repertoire deutschsprachiger Bühnen von Riga bis Düsseldorf, Lübeck bis München oder an der Drucklegung von sechs Symphonischen Dichtungen Liszts und ihren vermehrten Aufführungen in musikalischen Zentren außerhalb Weimars. Wohl nicht zufällig begegnet in diesem Kontext die zunehmend selbstbewusste Stilisierung als „Schule“, wie es sich auch im vorliegenden Fall in dem mehrmaligen Hinweis auf die „neue Schule jüngerer Talente“ ausdrückt, welche aus den bisherigen Bestrebungen entsprungen sei,36 und letztlich Brendel 1859 zur Verwendung des Terminus „neudeutsche Schule“37 führte. Zugleich diente der vorliegende Text Brendel dazu, den Lesern in gedrängter Form die Bandbreite seiner Reformbemühungen vor Augen zu führen. Diese umfassten beispielsweise die Frage nach einem zeitgemäßen Ballett, einer dramatischeren Gesangstechnik, dem an zeitgenössischen Werken mangelnden Repertoire der Bühnen, bis hin zur Rolle der Kritik und der Bildung der Musiker – eine Reduzierung Brendels auf ein geschichtsphilosophischästhetisch gegründetes Propagieren der Werke Wagners, Liszts und Berlioz’ muss demnach als unzulässige Verengung betrachtet werden. Anhand der zu Beginn des Jahres 1856 gegründeten und hier ausführlich erwähnten Anregungen für Kunst, Leben und Wissenschaft dokumentiert sich darüber hinaus, dass Brendel und die von ihm publizistisch vertretene ‚Fortschrittspartei‘ sich in ihrem reformerischen Streben keineswegs auf den Bereich der Musik und des Musiklebens beschränkten. Wie vor allem seine gegenwartskritischen Äußerungen bezüglich der Rolle der Musik als bloßem „Luxusgut“, dem körperlichen Verfall der gegenwärtigen Generation und der Stellung der Musiker in der Gesellschaft im vorliegenden Beitrag eindrucksvoll bezeugen, blieb Brendel seinen bereits im Vormärz und in zeitlicher Vorläuferschaft38 zu Wagners sogenannten
35 Siehe etwa Brendel 1845 Zur Einleitung, in: NdS 1 Nr. 1; Brendel 1847 Ein Vorschlag; Brendel 1850 Zum Beginn; Brendel 1852 Zum neuen Jahr, in: NdS 1 Nr. 27; Brendel 1853 Zum neuen Jahr; Brendel 1859 Zur Eröffnung des 50. Bandes; Brendel 1861 Zum neuen Jahr; Brendel 1866 Zur Lage sowie Brendel 1867 Beim Jahreswechsel, in: NdS 3 Nr. 158. 36 Siehe hierzu auch Klitzsch 1855 Joachim Raff’s Compositionen; Zellner 1856 Aus der neuern Musikliteratur, in: NdS 2 Nr. 91 sowie Bülow 1856 Rudolf Viole. 37 Siehe Brendel 1859 Zur Anbahnung einer Verständigung, in: NdS 3 Nr. 126. 38 Auf diesen Sachverhalt wies Brendel im März 1857 selbst hin, wenn er anlässlich eines Konzerts mit Werken Liszts im Leipziger Gewandhaus schrieb: „Die gesammte Auffassung der Gegenwart in diesem Sinne war bei mir fertig, bevor noch von Wagner’s Reformen die Rede war, und ich darf zum Beleg dafür nur an meine Aufsätze über Schumann und Mendelssohn (siehe Brendel 1845 Schumann und Mendelssohn) und über ‚Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper‘ in dies. Bl. (siehe Brendel 1848 Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft der Oper, in: NdS 1 Nr. 4)
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„Zürcher Reformschriften“ der Jahre 1849 bis 1852 geäußerten ‚jungdeutschen‘ Positionen39 grundsätzlich verhaftet. Zentrale Bedeutung kam dabei seiner Überzeugung zu, Fortschritt in der Kunst und letztlich auch in der Gesellschaft, sei nur durch ein „modernes“, d. h. geschichtsphilosophisch geprägtes Bewusstsein der Musiker, Komponisten, Musikkritiker und vor allem des Publikums zu erzielen. Dies wiederum sei die Grundlage zur Überwindung der wiederholt beklagten Dichotomie von Kunst und Leben, aber auch zur individuellen Freiheit, auf die alles wahre künstlerische Schaffen abziele.40
erinnern. Wagner hat als Künstler concreter gestaltet erschaut, was ich als Aesthetiker nur in abstracter Allgemeinheit erfaßte, er bestätigte, was ich ahnte, er festigte mich in meinen Bestrebungen, ohne mir jedoch einen veränderten Weg anzuweisen“ (Brendel 1857 Franz Liszt in Leipzig, S. 103). 39 Siehe etwa Brendel 1848 Fragen der Zeit II, in: NdS 1 Nr. 8; Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14 sowie Brendel 1848 Fragen der Zeit IV, in: NdS 1 Nr. 17. 40 Vgl. zu den geschichtsphilosophischen Vorstellungen Brendels insgesamt Ramroth 1991 Robert Schumann und Richard Wagner.
Nr. 102 | Anonym, „Aus Leipzig. (Liszt-Concert – 19. Abonnements-Concert – Euterpe – Kammermusik.)“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 5 (1857), Nr. 11 (14. März), S. 85 – 87.
Aus Leipzig. (Liszt-Concert – 19. Abonnements-Concert – Euterpe – Kammermusik.)
Der grosse Tag, der 26. Februar, ist vorüber. Das Concert zum Besten des Orchester-Pensions-Instituts ist verrauscht, aber „die Resultate desselben haben tiefe Wurzeln geschlagen, die Folgen werden unermesslich sein!“1 – Das möchte man uns gern glauben machen; aber es glaubt’s Niemand. Den bekannten kleinen Kreis von gescheiterten Componisten und unmusicalischen Literaten ausgenommen, haben höchstens einige Enthusiasten die Sache für Ernst gehalten; für die ganze übrige musicalisch gebildete leipziger Welt war es ein interessanter Spass, der weder kunstgefährliche noch kunstfördernde Folgen haben wird, sondern gar keine. Heutzutage ist bei den meisten Dingen der Rumor, der vorher gemacht wird, die Hauptsache; kommt das Ding endlich selbst zum Vorschein, so verpufft es, und einige Tage darauf weiss man kaum noch, dass es da gewesen. Auch bei uns waren die Leute weit mehr gespannt und bewegt, als die Sache verdient. Jetzt sind die Aufgeregten meist ernüchtert und haben sich von dem, was die Vernünftigen längst wussten, ebenfalls überzeugt, dass nämlich bei den Orchester-Compositionen von Franz Liszt von dem Aufleuchten einer neuen grossen Wahrheit, von dem Durchbruche einer die Tonkunst neu gestaltenden Idee gar keine Spur vorhanden ist. Was von seinen symphonischen Dichtungen bis jetzt gedruckt vorliegt,2 ist nichts Anderes als instrumentirte Claviermusik in Form der modernen so genannten Clavier-Phantasie, d. h. ungefähr eben so viel, als ohne alle Form. Wie man diesen Compositionen gegenüber mit scheinbarem Ernste von einem „ganz neuen Genre“, von „Erschaffung einer selbstständigen Form“, von einer „künstlerischen Erscheinung ersten Ranges“, von der „Gewalt des Genie’s“3 sprechen kann, ist einem Unbefangenen geradezu unbegreiflich. Es sind Transscriptionen, weiter nichts; der Verfasser ist des Uebertragens der Lieder-, Opern- und Sinfonie-Musik auf das Clavier überdrüssig und transscribirt nun am Clavier gedachte Musik für das Orchester.
1 Hier,
wie im Folgenden handelt es sich um Paraphrasierungen von Aussagen aus enthusiastischen Rezensionen des Leipziger Konzerts in der NZfM, wie sie etwa der Bericht Brendels vom 6. März 1857 (Brendel 1857 Franz Liszt in Leipzig) enthält. 2 Bis zum Frühjahr 1857 waren von den Symphonischen Dichtungen Liszts Ce qu’on entend sur la montagne (Nr. 1), Tasso (Nr. 2), Les Préludes (Nr. 3), Orphée (Nr. 4), Promethée (Nr. 5), Mazeppa (Nr. 6) und Festklänge (Nr. 7) bei Breitkopf und Härtel in Leipzig im Druck erschienen. 3 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 1.
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Wir hörten in dem Concert am 26. Februar die Préludes und den Mazeppa – zwei Compositionen, zu denen Gedichte von Lamartine4 und Victor Hugo5 den Verfasser begeistert haben. Dass die neue Schule den so genannten Inhalt ihrer Musik immer von aussen holt, sind wir schon gewohnt; der Verdacht, dass die innere Armuth an musicalischen Gedanken sie dazu nöthigt, liegt freilich nahe und wird leider sehr häufig durch die That bestätigt. Beide Dichtungen beruhen auf fremder, dem deutschen Gemüthe weder entwachsener, noch ihm zusagender Gefühls- und Empfindungs-Weise, und ohne über den poetischen oder sittlichen Werth derselben absprechen zu wollen, bemerken wir nur das Eine, dass in diesen Poesieen das Absonderliche den Grundton anschlägt, der durch das Ganze fortklingt. Und so ist es denn auch in der Musik Liszt’s; einen Strom von melodischer Lebenswärme, eine aus dem Innern quellende harmonische Befriedigung, einen musica-[86]lisch-logisch sich entwickelnden Ideengang suchen wir vergebens. Nur die Willkür, der Kunstgriff, nicht das Kunst-Genie, halten die Form nothdürftig zusammen, und der zügel- und flügellose Pegasus6 tummelt sich namentlich im Mazeppa wie seine Genossen im Renz’schen Circus7 auf der Erde herum, vermag nicht, sich irgendwo und irgendwie zu erheben, und begnügt sich, Staub aufzuwirbeln (pulverem collegisse)8. In den Préludes taucht wohl noch hier und da ein in etwa musicalisches Motiv auf, das dem Ausdruck einer menschlichen Regung ähnlich sieht; aber wie bald wird es erstickt und begraben von der Springflut des hereinbrechenden Tonmeeres! An künstlerisches Ebenmaass, an selige Beruhigung durch Anschauen der Schönheit und Wahrheit ist bei diesen fieberhaft athmenden Tongebilden nicht zu denken. Rein musicalisch betrachtet, ist ausser der wirklich auffallenden Gedanken-Armuth der gänzliche Mangel an thematischer Arbeit zu rügen. Man wird uns von der anderen Seite entgegen halten, thematische Arbeit sei alter Zopf 9, Liszt verschmähe sie. Um Verzeihung! müssen wir antworten, das Letzte ist so wenig wahr, wie das Erste: Liszt wie sein Freund Wagner – Berlioz steht in diesem Punkte höher – legen allerdings Themata’s zum Grunde und versuchen, sie durchzuführen; aber wie? Sie
4 Das
Gedicht „Les Préludes“ des französischen Dichters und Politikers Alfonse de Lamartine (1790 –1869) findet sich in der 1820 veröffentlichten Sammlung Méditations poétiques. Auf die Inspiration durch das Gedicht weist Liszt selbst in einem der Erstausgabe 1856 des Stückes beigegebenen Vorwort hin. 5 Die dem Werk zugrundeliegende Ode des französischen Schriftstellers Victor Hugos (1802 –1885) entstand im Mai 1828 und wurde 1829 als Nr. 34 in dessen Sammlung Les Orientales veröffentlicht. 6 Im zweiten Teil der Ode deutet Hugo selbst das zügellose Pferd Mazeppas, auf dem dieser nach dem Vorbild der titelgebenden historischen Gestalt Iwan Stepanovitsch Mazepa-Koledinsky (ca. 1640/44 –1709) zur Strafe nackt angebunden wurde, als dessen guten Genius und vergleicht es indirekt mit der mythologischen Figur des Pegasus. Die Ode Hugos sowie ihre deutsche Übersetzung von Peter Cornelius ist der Druckausgabe der Partitur vorangestellt. 7 Deutsches Zirkusunternehmen, welches 1842 in Berlin von Ernst Jakob Renz (1815 –1892) als Circus Olympic gegründet worden war und bis 1897 bestand. Berühmt war es nicht zuletzt für seine durch Renz etablierte Parforcereiterei in der Manege. 8 Hierbei handelt es sich um ein verkürztes Zitat aus Horaz’ erstem Buch der Gesänge, „Widmung an Maecenas“ (Carmen I), V. 3 f. 9 Die Gleichsetzung von „Zopf“ mit einer konservativen Gesinnung oder generellen Rückständigkeit geht auf die u. a. im Preußischen Heer seit 1713 durch Friedrich Wilhelm I. vorgeschriebene Haartracht zurück, welche erst im Zuge der militärischen Niederlage Preußens 1807 endgültig abgeschafft wurde.
Anonym 1857 Aus Leipzig
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bringen sie, nachdem allerlei Hokuspokus, der nicht im Geringsten damit zusammenhängt, dazwischen gebruddelt [sic] worden, ein oder ein paar Mal in verschiedenen Lagen wieder, transponiren sie in andere Tonarten, verbreiten sie durch rhythmische Dehnung, steigern sie durch Klangwirkungen und Lärm, nicht aber durch neue harmonische Unterlage; aber die eigentliche Entwicklung derselben als Grundgedanken; ihr sich ausbreitendes Emporwachsen und die organische Herausbildung des ganzen Beiwerkes (der Nebengedanken) aus ihnen – das ist nirgends zu finden. Sie wollen wohl thematisch arbeiten (sonst wäre ja auch der Gedanke, ein bestimmt Ausgesprochenes – ein Gedicht, eine Stimmung, eine Empfindung – ihrer Musik zum Grunde zu legen, ein wahrer Irrsinn), aber die können nicht; das Talent versagt ihnen, und da nun auch die Erfindung nicht genial ist, so kann diese Art, zu componiren, keinen Boden gewinnen auf dem Gebiete der Tonkunst, und wird nur ephemere Erscheinungen ans Licht fördern. Selbst die sonst bei wirklich tiefer Musik oft mit Recht, bei abstruser und überkünstelter mit Unrecht und nur zur Entschuldigung vorgebrachte Phrase: „Man kann solche Werke nicht auf der Stelle fassen, man muss sie studiren, ergründen, öfter hören“10 – passt hier keineswegs. Nichts ist leichter, als das Verständniss dieser symphonischen Dichtungen; das, was andere Compositionen, z. B. die meisten Schumann’schen schwer macht, die versteckte und complicirte thematische Arbeit, die Consequenz der Ideen-Durchführung, die contrapunktische Combination, das ist alles bei Liszt nicht vorhanden. Es ist kinderleicht, die Stücke und die Stückchen, die an einander gesetzt sind, zu sondern und zu gliedern; aber den rothen Faden zu entdecken, der sie alle durchzieht und zur Einheit verbindet, das ist nicht etwa mühsam, sondern unmöglich, weil eben keiner da ist. Ich bin mit meinem Berichte gleich in medias res hinein gerathen. Ich hole jetzt den Concert-Zettel und Notizen über Aeusseres nach. Das Concert hatte zwei Theile; im ersten dirigirte Rietz,11 im zweiten Liszt. Diese Verzichtleistung des Ersteren wurde von der Concert-Direction, wir wissen nicht, ob verlangt oder nur gebilligt, und war wohl mehr als blosse Höflichkeit, die sonst eben nicht die starke Seite derselben gegen fremde Künstler ist. Demjenigen, dem es um ein wirkliches Urtheil über die Liszt’schen Compositionen zu thun war, musste es lieb sein, dass er sie selbst dirigirte, weil ja nun, wie es ihre Vorreden verlangen, „dem periodischen Vortrage mit dem Hervortreten der besonderen Accente und der Abrundung der melodischen und rhythmischen Nuancirung durch die geistige Auffassung des Dirigenten, durch sympathisch schwungvolles Reproduciren“12 (!) sein volles Recht werden musste – mithin die Entschuldigung einer schlechten Ausführung eben so wegfiel, wie die eines schweren Verständnisses. Nicht lieb war uns dagegen das von Weimar mitgebrachte Gefolge der Adepten und Aspiranten13, welche, da viele Plätze
10 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 1. 11 Julius Rietz (1812 –1877), Dirigent und Komponist, der in den Jahren 1854 –1860 das Leipziger Gewandhausorchester leitete. 12 Das Zitat ist eine Zusammenfassung mehrerer Sätze aus dem allgemeinen Vorwort Liszts der Druckausgabe seiner Symphonischen Dichtungen bei Breitkopf & Härtel, Leipzig 1856. 13 Liszt hatte sich anstelle einer Aufwandsentschädigung lediglich zwölf Freikarten für seine mitgereisten Anhänger erbeten, so dass im Konzert, neben dem als Solisten tätigen Hans von Bülow an Vertretern der ‚Zukunftsmusik‘ u. a. Peter Cornelius, Felix Draeseke sowie das Ehepaar Pohl anwesend waren.
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leer geblieben, sich gleichmässig durch den Saal vertheilten, die Stimmung der Umsitzenden zu bearbeiten und missliebige Meinungs-Aeusserungen durch Schreien und Klatschen zu unterdrücken suchten. Dieses Manöver war unwürdig und rief Gegen-Demonstrationen hervor, die eben so wenig am Orte waren. Der besonnene Theil der Zuhörerschaft betrachtete die Komödie mit Lächeln und Schweigen. Im ersten Theile hörten wir eine kurze Ouverture von Rob. Schumann zu einem Singspiel „Hermann und Dorothea“, in welcher die Marseillaise das Haupt-Thema bildet. Sie wäre besser im Familienschrein geblieben, aus dem man sie als nachgelassenes Opus 136 hervorgezogen hat. Frau von Milde14 sang das Gebet aus Schumann’s Genovefa15 [sic] recht schön, worauf ein Herr Grün aus Pesth16, [87] ein noch junger, tüchtiger Geiger, das Adagio und Rondo aus Vieuxtemps’ E-dur-Concert17 spielte. Man sieht, der erste Theil war Nebensache. Im zweiten gab es ausser den bereits genannten zwei symphonischen Dichtungen noch ein Clavier-Concert in Es-dur mit Orchester18, vortrefflich gespielt von Herrn von Bülow19, und eine Romanze20, gesungen von Herrn von Milde21, ebenfalls von Liszt; dazwischen ein Duett aus dem „Fliegenden Holländer“ von Wagner22. Das Clavier-Concert steht auf einer etwas höheren Stufe, als der Mazeppa; eine besondere Bedeutung können wir ihm aber auch nicht zugestehen, es strotzt ebenfalls von Absonderlichkeiten und lässt keinen Total-Eindruck aufkommen. Das Duett von Wagner gehört seiner früheren Periode an; es wurde sehr schön gesunden und gefiel mit Recht. […]23
14 Das
Sängerehepaar Hans Feodor von Milde (1821–1899) und Rosa von Milde (geb. Agthe, 1827 –1906) wirkte unter Liszts Leitung am Weimarer Hoftheater an zahlreichen Erst- und Uraufführungen von Werken Wagners (u. a. Lohengrin), Berlioz’ (Benvenuto Cellini) mit. Liszt schätzte ihre Interpretationen so sehr, dass er das Ehepaar Milde bei verschiedenen der von ihm geleiteten Konzerte der 1850er Jahre außerhalb Weimars (Karlsruhe, Ballenstedt, Leipzig, Berlin usw.) als Solisten engagierte. 15 Robert Schumann, Genoveva, 2. Akt, Gesang der Genoveva „O du, der über alle wacht“. 16 Wahrscheinlich ist hier der Violinist Jakob Moritz Grün (1837 –1916), Schüler von Joseph Böhm (1795 –1876), gemeint. Grün wurde 1868 zum Konzertmeister der Wiener Philharmoniker berufen und blieb dort bis 1909 Mitglied im Orchester. 17 Henry Vieuxtemps, Violinkonzert Nr. 1 E-Dur op. 10 (EZ 1840). 18 Liszt, Klavierkonzert Nr. 1 Es-Dur S 124 (UA 1855, ED 1857). 19 Hans von Bülow (1830 –1896), deutscher Pianist, Komponist und Dirigent, Schüler von Liszt. 20 Liszt, Angiolin dal biondo crin (Englein hold im Lockengold) für Singstimme und Klavier S 269/1 (1839), welches in Leipzig aber sehr wahrscheinlich in der zweiten, überarbeiteten Fassung S 269/2 (1849?) erklang. 21 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 13. 22 Wahrscheinlich handelte es sich hierbei um das Holländer-Senta-Duett aus dem zweiten Akt (Wagner, Der Fliegende Holländer, 2. Akt, Nr. 5 „Bleib, Senta! Bleib“). Das Ehepaar Milde hatte dieses Stück schon zuvor unter Liszts Leitung am 22. und 23. Juni 1852 auf dem Musikfest in Ballenstedt vorgetragen. Ein weiteres Gastspiel mit diesem Duett bestritt das Sängerpaar in einem Konzert in der Berliner Singakademie unter Hans von Bülow am 14. Januar 1858. Vgl. Johns 1990 Liszt at the Gewandhaus, S. 39. 23 Der Artikel geht im Original noch kurz auf drei weitere Konzerte ein („Extra-Concert der Euterpe am 3. März“, „19. Gewandhaus-Concert am 5. März“ sowie „VI. Abend-Veranstaltung für Kammermusik am 16. Februar“), die Beschreibung geht über eine Wiedergabe der Mitwirkenden und das Programm kaum hinaus.
Anonym 1857 Aus Leipzig
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Kommentar Nachdem in den Jahren 1855/56 vereinzelte Aufführungen von Liszts Symphonischen Dichtungen mit Ausnahme je eines Konzerts in Berlin (am 6. Dezember 1855) und Wien (am 15. September 1856) eher in der musikalischen Peripherie – zu der neben Ballenstedt, Sondershausen, Braunschweig und St. Gallen auch Pest und Weimar zu zählen sind – stattgefunden hatten, verkörperte bereits der Aufführungsort des hier besprochenen Wohltätigkeitskonzerts vom 26. Februar 1857 geradezu den klassizistisch-konservativen Musikgeschmack in Deutschland: das Leipziger Gewandhaus. Dass es sich allein schon aufgrund dieses geschichtsträchtigen Ortes für die musikinteressierten Zeitgenossen keineswegs um ein gewöhnliches Konzert handeln konnte, geht eindrucksvoll aus den medialen Begleiterscheinungen hervor, in denen die Leipziger Aufführung durch zahlreiche Artikel und Aufsätze bereits im Vorfeld für die Zeitgenossen zu einem besonderen Ereignis stilisiert worden war. So finden sich Besprechungen nicht nur in den Leipziger Tageszeitungen und der überregionalen deutschen Musikpublizistik wie der Neuen Berliner Musik-Zeitung24, der Kölner Niederrheinischen Musik-Zeitung und der NZfM25, sondern sogar in der niederländischen Musikzeitschrift Caecilia26. So sehr in diesen Berichten ein Kampf um die Deutungshoheit über die geschichtliche Einordnung des Konzerts zu beobachten ist, überliefern die Berichte – trotz der stattlichen Einnahme von 650 Thalern zugunsten des Orchesterpensionsfonds – eine vorwiegend ablehnende Haltung des Leipziger Publikums. So schreibt Lina Ramann, Liszt selbst habe ihr gegenüber geäußert, seine Werke seien in Leipzig „ausgezischt und verkritisirt“27 worden. Einen Eindruck davon, wie radikalisiert die damalige Berichterstattung und Rezeption der Orchesterwerke Liszts war, gibt die vorliegende anonyme Rezension des Konzerts aus der Niederrheinischen Musik-Zeitung, die hier um die sich anschließenden Berichte über drei weitere Konzerte in Leipzig gekürzt abgedruckt wurde.28 Wie die zahlreichen indirekten Zitate nahelegen, reagiert der Korrespondent mit seiner Besprechung auf die zuvor erschienene, überaus enthusiastische Rezension des Konzertereignisses durch Brendel vom 6. März in der NZfM29. Inhaltlich bietet der Artikel eine beinahe exemplarische Auflistung nahezu sämtlicher gegen die Symphonischen Dichtungen Liszts auf konservativer Seite vorgebrachten Stereotypen und Vorbehalte während dieser Zeit: es handle sich um mangelhaft instrumentierte „Transscriptionen“ von Klaviermusik; das gänzliche Fehlen thematisch-motivischer Arbeit verursache ein unorganisches Dahinfließen, welches zudem mangelnde kontrapunktische Fähigkeiten des Komponisten verrate.30 Dies alles zeige letztlich, dass der Rückgriff auf Außermusikalisches, wie die beiden (den „deutschen
Damrosch 1857 Correspondenz. 25 Brendel 1857 Franz Liszt in Leipzig. 26 Whistling 1857 Leipzig, 26 Maart 1857. Zur Rezeptionsgeschichte in der damaligen Presse insgesamt, vgl. Johns/Saffle 1997 The Symphonic Poems of Franz Liszt, S. 84 – 86 sowie ausführlicher Johns 1990 Liszt at the Gewandhaus. 27 Ramann 1894 Franz Liszt, S. 275. 28 Siehe vorliegender Artikel, Anm. 23. 29 Siehe Brendel 1857 Franz Liszt in Leipzig. 30 Diese Vorwürfe finden sich in zum Teil beinahe wörtlich übernommener Form bereits bei Hanslick 1857 Les Préludes, in: NdS 2 Nr. 104; Banck 1857 Aufführung von Liszts Werken, in: NdS 2 Nr. 112 sowie Anonym 1857a Entstehung der sogenannten Zukunftsmusik, in: NdS 2 Nr. 106. 24 Siehe
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Gemüthe“ „fremde“) Gedichte Victor Hugos und Alphonse de Lamartines, nur dazu dienen solle, die künstlerische Erfindungsarmut Liszts zu kaschieren. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang vor allem die Aussage des anonymen Verfassers, die Werke der „neuen Schule“ und deren „Art, zu componiren“, könnten aufgrund der von ihm konstatierten mangelnden Erfindungskraft „keinen Boden gewinnen auf dem Gebiete der Tonkunst“, und würden „nur ephemere Erscheinungen ans Licht fördern“.31 Damit zieht der Autor gerade die u. a. vonseiten der NZfM statuierte historische Nachhaltigkeit der propagierten musikalischen Reformen in Zweifel.32 Auch hinter der rezeptionsästhetischen Bemerkung des anonymen Autors, es sei „kinderleicht“ die Werke Liszts beim ersten Hören „zu sondern und zu gliedern“ verbirgt sich ein publizistischer Seitenhieb auf den bereits mehrfach genannten Artikel Brendels, der einerseits mit Bezug auf Friedrich Theodor Vischer die Notwendigkeit des Höreindrucks bzw. des Gefühls für die Beurteilung der Symphonischen Dichtungen Liszts betont, andererseits gibt sich darin auch eine implizite Kritik an der Besprechung Johann Christian Lobes zu erkennen, der durch seine Analyse gerade den Notentext als Grundlage der Beurteilung hervorkehrte.33 Unabhängig jeder inhaltlichen Kritik, die durch Liszts Werke auf konservativer Seite hervorgerufen wurde, wird an diesem Artikel deutlich, dass Liszt zu dieser Zeit weniger als individueller Komponist, sondern vor allem aufgrund seines dirigentischen und publizistischen Wirkens in Weimar als Protagonist und Vorkämpfer der ‚Zukunftsmusik‘ und der von ihr ausgehenden „neuen Schule“ auf dem „Gebiete der Tonkunst“34 begriffen und angegriffen wurde – neben Liszt nennt der Autor explizit auch Berlioz und Wagner. Zu dieser Sichtweise dürfte nicht zuletzt die wenig später erfolgte Veröffentlichung des schon am 15. Februar von Wagner unterzeichneten öffentlichen Briefes über die Symphonischen Dichtungen Liszts in der NZfM beigetragen haben35, was zugleich weitere Stellungnahmen einer parteimäßig organisierten „Clique“ und „Partei“ beförderte.36
Artikel, S. 1261 [86]. 32 Siehe hierzu etwa Zellner 1856 Aus der neuern Musikliteratur, in: NdS 2 Nr. 91; Bülow 1856 Rudolf Viole; Klitzsch 1855 Joachim Raff’s Compositionen sowie später Pohl 1859 „Comala“, in: NdS 3 Nr. 122. 33 Siehe Brendel 1857 Franz Liszt in Leipzig, S. 101 sowie Lobe 1856 Briefe über Liszt’s Symphonische Dichtungen, S. 385, in: NdS 2 Nr. 99. 34 Anonym 1857 Aus Leipzig, S. 85, in: NdS 2 Nr. 102. 35 Siehe Wagner 1857 Ein Brief über Franz Liszt, in: NdS 2 Nr. 105. 36 Siehe etwa Lobe 1856 Ein neuer Prophet, in: NdS 2 Nr. 93. 31 Vorliegender
Nr. 103 | H – L., „Der Zopf als Schreckbild“, in: Neue Wiener Musik-Zeitung 6 (1857), Nr. 12 (19. März), S. 45 – 48.
Der Zopf als Schreckbild
(H – L.) Nichts ist denjenigen, die einer unhaltbaren Sache die Fahne vortragen, willkommener, als wenn sie ein Wort finden, das ihnen mit Spott und Hohn genügend durchätzt erscheint, um es gegen die Seichten und Gedankenlosen, die keine eigene Meinung haben und vor dem Popanze eines Wortes erschrecken, als Waffe gebrauchen zu können, um sich in diesen Kreisen Gewalt und Ansehen zu verschaffen. Ein solches Wort ist im lieben deutschen Vaterlande der Zopf.1 Wer erinnert sich nicht mit Entsetzen der Zeit, als das gemüthliche Wien, vom politischen Taumel erfaßt, vom staatlichen Reformtriebe gegeißelt, auf den harmlosen Zopf seinen zerstörerischen Grimm entlud,2 und diejenigen, die auf die ewigen Grundlagen der menschlichen Gesellschaft nicht verzichten mochten, es diesem harmlosen Blitzableiter mitunter zu verdanken haben mochten, wenn die unreifen Köpfe, die den Zukunftsstaat aus luftigen Phrasen aufbauen wollten, nicht blutdürstiger wurden. Wir leben, Gott sei Lob und Dank! nun wieder in geordneten Zuständen; aber das Schlagwort hat sich nicht so schnell verdrängen lassen, der Zopf ist nun der treue Bundesgenosse aller Anhänger des maßlosen Vorwärtsdrängens nach einer ideirten unvorbereiteten Zukunft auf dem Gebiete der Kunst geworden.
1 Seit der Französischen Revolution galt der Zopf, nicht nur in Frankreich, wo die Zopfperücke nur noch in monarchistischen Kreisen getragen wurde, sondern auch in Deutschland als Ausdruck reaktionärer Gesinnung. Eine 1713 erlassene Regelung Friedrich Wilhelms I. von Preußen, der per Dekret all seinen Soldaten vorgeschrieben hatte, einen „Soldatenzopf“ zu tragen, wurde erst 1807 abgeschafft. Wie sehr der Zopf ein regelrechtes Symbol des Feudalstaates war, zeigt sich schon daran, dass ein (hessischer) Soldatenzopf 1817 auf dem Hambacher Fest öffentlich verbrannt wurde. 2 Gemeint ist die Revolution von 1848, die auf österreichischem Boden im Wiener Oktoberaufstand gipfelte. Zahlreiche mit der Revolution sympathisierende Wiener, vor allem Arbeiter und Studenten und meuternde Soldaten, hatten am 6. Oktober versucht, den Abzug der zur Niederschlagung der aufständischen Ungarn bestimmten Truppen zu verhindern, woraufhin es zu Straßenkämpfen gekommen war. Nach der Ermordung des Kriegsministers Theodor von Latour durch aufgebrachte Revolutionäre verließ Kaiser Ferdinand I. fluchtartig die Stadt, die erst am 31. Oktober durch das Militär zurückerobert werden konnte, wobei rund zweitausend Aufständische ihr Leben verloren. Obwohl zu dieser Zeit längst aus der Mode gekommen, diente der Zopf den Revolutionären immer noch als Sinnbild der absolutistisch-reaktionären Ordnung. Dies schlug sich auch in Karikaturen nieder, die während der Revolution – etwa auf Flugblättern mit Titeln wie „Selbst die Hölle hasst den Zopf“ – in Wien kursierten.
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Nr. 103 (1857)
Diese Partheigänger der Kunstreform als Prinzip, diese Anhänger einer steten Umwandlung, nicht aus innerer Nothwendigkeit durch die Kraft des erforschenden und schaffenden Genie’s sondern um ihrer selbst willen, werden nicht müde, ihre Gegner, das ist: alle Jene, welche das Ewige in der Kunst, das wahrhaft Schöne, Große und Erhabene, wo es immer aus den unerschöpflichen Tiefen des Menschengeistes an das Licht der Erscheinung als sichtbarer Zeuge des göttlichen Ursprungs heraustritt, als Anhänger des Zopf ’s zu brandmarken, und haben in neuester Zeit noch eine andere Phrase zu Hilfe gerufen, um sich der unbesiegbaren Phalanx ihrer Gegner zu entledigen, nemlich den sogenannten „überwundenen Standpunkt.“3 In keiner Richtung aber hat die Kluft zwischen dieser Fortschrittspartei und ihren Gegnern sich so grell herausgestellt, als in den musikalischen Lebensfragen, was bei der Eigenthümlichkeit und materiellen Unfaßbarkeit der Tonkunst wohl begreiflich ist. Die unruhig Leidenschaftlichen, die in aller Kunst nur einen Abdruck ihres stürmisch bewegten Inneren, nur einen Widerhall der geistigen Strömungen finden wollen, in denen die Gegenwart nach dem unentbehrlich Ewigen ringt, denen es nicht darum zu thun ist, in Schöpfungen selig auszuruhen, die der Genius aus den besiegten Kampfeselementen hervorgerufen hat, sondern nur darum, die Sturmund Drangperiode des eig’nen Innern aus dem Spiegel des Kunstwerk’s in einer gewissen Verklärung zurückgestrahlt zu sehen, und durch die Zugeständnisse der Kunst an die Leidenschaft für diese eine Art höherer Berechtigung zu gewinnen. Diese Fortschrittsmänner kümmerten sich bald wenig mehr um die Kunst als solche; weder ihre sinnliche noch ihre geistige Schönheit ist für sie mehr etwas, sie schätzen die Musik nur mehr als eine freiere, ungebundenere Sprache, als ein stärkeres, reicheres Ausdrucksmittel für den himmelstürmenden Gedanken und für das von ihm beherrschte, rastlos umherschweifende, bald von der Höhe zur Tiefe herabsinkende, bald aus der Tiefe zur Höhe emporgehobene Gefühl. Diese Schaar stellte
3 Seit
1838 in junghegelianischen Schriften anzutreffendes Schlagwort, welches, auf der Geschichtsphilosophie Hegels fußend, vor allem durch die häufige Verwendung in den von Arnold Ruge herausgegebenen Hallischen Jahrbüchern im Vormärz Verbreitung erfuhr. Im Bereich der Musikzeitschriften tauchte es ab den späten 1840er Jahren auf und erlangte dort vor allem in den Artikeln Franz Brendels Bedeutung (siehe etwa Brendel 1845 Zur Einleitung, in: NdS 1 Nr. 1; Brendel 1848 Fragen der Zeit III, in: NdS 1 Nr. 14) und sich zunehmend etablierte (siehe beispielsweise Schucht 1848a Der überwundene Standpunkt, in: NdS 1 Nr. 13). So Brendel: „Was diese Blätter [NZfM] betrifft, so sprechen wir in unseren Recensionen häufig von den Forderungen der Neuzeit, von dem neuen Inhalt, der jetzt in die Welt eintritt, wir bezeichnen die früheren Stufen als überwundene Standpunkte“. „Die Mißverständnisse, welche uns entgegentreten, beruhen zumeist auf der nicht ausreichend erkannten oder mißverstandenen Bedeutung des Ausdrucks: ‚überwundener Standpunkt‘. Man versteht darunter etwas für Ungültig-Erklärtes, Beseitigtes, Veraltetes, während der Sinn einfach der ist, daß ein solcher Standpunkt nicht mehr der herrschende, in dem die Gegenwart ihren höchsten Ausdruck findet, genannt werden kann. Seine Berechtigung, seine ewige Geltung als Stufe der Entwicklung oder als einstiger Höhepunkt derselben wird ihm damit nicht entzogen. Wenn daher gesagt wird, der Standpunkt Bach’s, Mozart’s sei ein überwundener, so wird dieser dadurch nicht zur Bedeutungslosigkeit herabgesetzt. Es heißt allein, daß der Inhalt jener Werke nicht mehr das Wesen des gegenwärtigen Bewußtseins bildet“ (Brendel 1848 Fragen der Zeit III, S. 101 und S. 103, in: NdS 1 Nr. 14, S. 169 und S. 171).
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sich zuerst unbedingt unter die Herrschaft Beethovens, aber bald nicht mehr unter jene seiner lichthellen Schöpfungen, sondern unter jene seiner späteren Erzeugnisse, der 9. Sinfonie, der zweiten Messe4, der letzten Quartette5, und der Zopf wurde denjenigen unbarmherzig über das Gesicht geschlagen, die sich nicht zu dieser Fahne bekannten. Anhänger des Zopfes hießen bald alle Jene, die in der Paradiesesluft der Musik des Allvaters Haydn sich mit Lust und Liebe ergiengen, und selbst die Größe der Kunst Mozart’s, für welche die Sprache keinen Ausdruck hat, schützte seine Anhänger kaum mehr vor dem verunglimpfenden Zopfe. Wie in der Zeit der politischen Verwirrung vielleicht eben so Viele aus Furcht vor dem Terrorismus des Zopfes als vor jenem der materiellen Gewalt sich aus dem Geleise besserer Überzeugung hinaus drängen ließen, so gibt [46] es auch eine große Anzahl Kunstfreunde, die, von jenem Schreckbilde eingeschüchtert und irregeleitet, sich von ihrer ersten, wahren und echten, sie allein beseligenden Liebe, abwendig machen lassen, um im Schweiße ihres Angesichtes musikalisch-hierogliphischen Weisen eine willkührliche Deutung und Bedeutung abzuringen. Aber so lange es noch der Geist Beethovens war, der jene Huldigungen hervorrief, der gewaltige Geist, der auch dann noch durch seine Enthüllungen ergreift und hinreißt, wenn er sich in Formen spiegelt, die er nicht mehr künstlerisch auszufüllen, nicht mehr organisch zu durchdringen vermag, konnte man sich bescheiden, und diejenigen, die von der Kunst nicht ihre eigenthümliche Schönheit, von der Musik nicht echt musikalische Ideen, sondern nur die Vermittlung einer gewissen Stimmung, nur eine dem Gedankenkreise des Zeitgeistes entsprechende immer neue Anregung verlangen, diesen Geschmack lassen; die Offenbarungen des Beethoven’schen Geistes sind wohl auch in seinen letzten Werken von einer Art, daß sie uns stets mächtig anregen, so wie auch seine großartige musikalische Natur sich nie ganz verläugnet, und mancher Lichtblick echt musikalischer Schönheit uns auch aus dem Halbdunkel seiner letzteren Schöpfungen ergreift und beseligend auf uns eindringt. Als aber die neueste Zeit eine Parthei an das Tageslicht brachte, die – ein wahres Zerrbild der in so vielen Beziehungen verzerrten und verkehrten Zeit – mit der ganzen musikalischen Vergangenheit brechend, über die Erscheinungen eines Bach, Händel und Gluck, über jene der alten italienischen Kirchenmusik, über jene des goldenen Zeitalters der Tonkunst, worin Haydn, Mozart und Beethoven glänzten, und nun auch schon über jene des herrlichsten Meisters der Epigonenzeit, des kunstvollendeten Mendelssohn, den sie kurze Zeit selbst hochfeierten,6 hinüberschaut,
van Beethoven, Missa Solemnis D-Dur op. 123 (UA 1824). 5 Beethoven, Streichquartette Nr. 12 Es-Dur op. 127 (ED 1826), Nr. 13 B-Dur op. 130 (ED 1827), Nr. 14 cis-Moll op. 131 (ED 1827), Nr. 15 a-Moll op. 132 (ED 1827), Nr. 16 F-Dur op. 135 (ED 1827) und Große Fuge B-Dur op. 133 (ED 1827). 6 Da H – L. auch Schumann zur ‚Fortschrittspartei‘ rechnet, könnten hiermit durchaus dessen in der NZfM veröffentlichte positive Stellungnahmen zu Mendelssohn Bartholdy gemeint sein. So hatte er 1840 geschrieben: „[Mendelssohn] ist der Mozart des 19ten Jahrhunderts, der hellste Meister, der die Widersprüche der Zeit am klarsten durchschaut und zuerst versöhnt“ (Schumann 1840 Trio’s). Dass Mendelssohns Musik auch nach seinem Tod in den Kreisen der ‚Zukunftsmusiker‘ trotz aller Kritik noch durchaus in hohem Ansehen stand und er als 4 Ludwig
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und die lebendige Gegenwart mit der Anweisung auf eine noch ungeborne Zukunftsmusik abspeisen will, und das Hereinragen dieser Geisterwelt der Tonkunst in den Werken eines Berlioz, Richard Wagner, Liszt, Schumann und Anderen dieser Richtung als die nur für eingeweihte und der Zeit voraneilende Intelligenzen bestimmten und faßbaren Vorboten der künftigen Herrlichkeit begrüßte, so muß wohl jedem gesunden Sinne die Geduld ausgehen, und eine solche Verirrung muß mit der Entrüstung, die jede Entheiligung hervorruft, bekämpft werden, wenn sie gleich als das Ergebniß eines krampfhaften Auftretens der Zeugungs-Ohnmacht, als ein im Ganzen und Großen wirkungslos verhallendes Nothgeschrei einer kleinen selbstsüchtigen, vom Hochmuthe verblendeten Parthei ganz gefahrlos für den Kunstgeschmack ist. Weit sei es von uns, dem Fortschritte in der Kunst entgegenzutreten, wenn man darunter nur das versteht, was man vernünftiger Weise darunter verstehen kann, nemlich ihre ununterbrochene Wechselwirkung mit der Zeit, deren Stimmungen, geistigen Bewegungen und Errungenschaften. Wer könnte und möchte es dem Geiste wehren, sich in seinem Entwicklungsgange auch an die Kunst zu wenden, und in ihr das was ihm an Ideen, Ahnungen, Fantasien aus der Wechselwirkung mit dem Zeitgeiste zuströmt, das was von diesen geistigen Regungen bis in die Tiefe seines Gemüthes hinabreicht, zum Bilde auszuprägen, damit es lebendig heraustrete aus dem Ideenleben, als Zeuge des Zusammenhangs des Menschengeistes mit der großen, ewigen Natur. Ist es ein selbstständiger, fruchtbarer und reicher Geist, mit einer eigenthümlichen Richtung, und einem ungewöhnlichen Schwunge, ein Geist, der die Kunstformen, die er, um sie auszufüllen, seiner Weise gemäß umbilden, erweitern oder beschränken muß, so wird ihn die ganze kunstfreundliche Welt gewiß mit Freuden begrüßen, sobald er, Meister des Technischen, sich mit Leichtigkeit und Freiheit in den Kunstformen, und, als wahrhaft berufener Bildnergeist für seine Ideen Gestalt und Leben zu gewinnen weiß. Trifft diese geistige Kundgebung mit den vorwaltenden Ideen und Stimmungen der Zeit zusammen, so wird ihre Wirkung um so größer, und ausgedehnter sein – vorausgesetzt immer die künstlerisch bildende, stoffbeherrschende Kraft. Ein solches Fortschreiten ist dann aber nicht nothwendig ein Uebersteigen des Vorausgegangenen, eine stufenweise Entwicklung zur Höhe der Kunst; denn weder die Steigerung und Vervielfältigung der Ausdrucksmittel, die nicht im Wesen der Kunst selbst liegen, noch die neuen Formbildungen, die sich der nach Gestaltung ringende Geist, schafft, noch die Fülle dieses Geistes selbst und sein Drang, seine Intenzionen, wenn sie noch so hoch gehen und tief reichen, machen an und für sich
wichtiger Protagonist der jüngeren Musikgeschichte galt, belegt Brendels positives Urteil über die Ouvertüren: „Mendelssohn zeigt sich in seinen Ouverturen auch darin entschieden modern, dass hier, bei aller logisch verständigen Gestaltung und Ausarbeitung doch das Phantastische überwiegt. […] Was das Streben nach Bestimmtheit des Ausdrucks betrifft, so ist dies Element allen Tonsetzern der Gegenwart, die nicht, wie so Viele, leeres Stroh gedroschen, sondern im Dienst, der fortschreitenden Kunst gestanden haben, gemeinschaftlich. Mendelssohn steht darin sogar mit Berlioz ganz auf einem Boden“ (Brendel 1855 Geschichte der Musik, Bd. 2, S. 183 f.).
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die Kunst aus, sie sind noch nicht die Elemente einer höheren Kunst-Schönheit; nur das Genie, aus dem eine geistige Welt schöpferisch in die Kunstform tritt, Seele und Körper in Eins verschmolzen, organisch durchdrungen, als ein fest umrissenes, klares und vollendetes, nicht vag verschwommenes Nachbild der ewigen Schöpfung aus dem Menschengeiste; nur das Genie, das sie schuf, weist den Kunstschöpfungen ihren Rang, ihre Höhestellung an. Nichts ist daher irrthümlicher und bedarf einer eindringlicheren Zurechtweisung, als die Huldigung, die von gewissen Seiten den bloßen Intenzionen bezeugt wird, jene Verherrlichung des geistigen Strebens, dem das nötige bildende Talent, dem die Fähigkeit fehlt, den andringenden, Ausdruck und Gestalt suchenden Ideen und Gefühlen einen Ausdruck und eine Gestalt zu geben, welche mit jenen Reizen und mit jener Schönheit ausgestattet ist, die der gewählten Kunst eigenthümlich sind. Wer würde gegen die Schönheiten in den Werken Robert Schumann’s unempfindlich sein, wer seinen Tonwerken die Berechtigung bestreiten, in der musikalischen Welt zu leben und zu wirken, wer den Ausstrahlungen seines hochstrebenden Geistes, dem Ausdrucke seines tiefen Gemüths in den mannigfaltigen musikalischen Formen, worin er sich ausgesprochen, nicht mit Interesse und Theilnahme folgen! Selbst eine gewisse Eigenthümlichkeit mag man ihm gerne zugestehen, und einige seiner Lieder sind geradezu bezaubernd, so wie man in seiner Kammermusik musikalischen Ideen begegnet, die aus tiefer Empfindung erzeugt, und geistig vollgesättigt, das Wichtigste in jeder Kunst, die schöne Gestalt, doch auch nicht vermissen lassen. Wer würde Richard Wagners theoretische Bestrebungen zur Feststellung einer edleren Gestaltung des musikalischen Drama nicht würdigen und so hoch anschlagen als sie es verdienen, zumal dann wenn er das immer tiefere Versinken des Geschmacks in der trivialen und frivolen Weise des heutigen italienischen und französischen Opernunwesens in’s Auge faßt!7 [47] Wenn er zugleich alles Studium darauf verwendet, um durch Versinnlichung seiner Ansichten in Tonwerken sie der Welt deutlich zu machen und ihre Lebensfähigkeit thatsächlich zu bewähren, so zeugt dies von dem Ernste und der Wahrheit seines Strebens und man kann der edlen Richtung und dem schönen Talente, das sich darin ausspricht, die Anerkennung nicht versagen, wenn uns auch der Irrthum seiner Reformideen gerade aus diesen Werken meist recht deutlich wird.8 Wer wird nicht mit Interesse in der eigenthümlichen Tonwelt sich ergehen, die Berlioz durch ein tieferes Eindringen in die Bedeutung und die Wirkungen der Klangfarben, durch eine sinnvolle Benützung der erweiterten Ausdrucksmittel der Tonkunst, (wie der Fortschritt des Instrumentirungsapparats sie an die Hand gibt) geschaffen hat, wer wird nicht gerne auch der tondichterischen Gaben eines Rubinstein und Brahms,
Wagner 1852 Oper und Drama, 1. Teil, III –VI, in: Kropfinger 2008 Wagners Oper und Drama, S. 50 –108. 8 Wagners Kunsttheorien wurden zu dieser Zeit noch häufig auf seine vor den theoretischen Schriften entstandenen Opern bezogen, obwohl der Komponist dieses Vorgehen, das sich exemplarisch in der Lohengrin-Rezension Eduard Hanslicks zeigt (siehe Hanslick 1858a Die Oper ‚Lohengrin‘), bereits 1852 in Drei Operndichtungen nebst einer Mitteilung an meine Freunde deutlich missbilligt hatte. 7 Siehe
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welche von der neuen Schule so sehr hervorgehoben werden,9 als mehr oder weniger geist- und sinnvoller wenn gleich zum Theile verschrobener Gebilde sich erfreuen, und bei besonders großer Nachsicht sogar den sinfonis[ch]en Dichtungen Liszt’s als Versuchen in der Programm-Musik eine gewisse Berechtigung gelten lassen wollen. Rechnen wir hierzu noch einige andere dieser Richtung, (namentlich den hochbegabten Gade, dann Litolff 10) und erfreuen wir uns dessen, was ihnen wirklich gelungen ist – jener Werke nämlich, in welchen ihre Fantasie stärker als ihre Reflexion war, und bei deren Erzeugung die echte Muse der Tonkunst sie eines liebenden Blickes gewürdigt hat. Allein Wahnwitz ist es, alle diese neueren Erscheinungen im Gebiete der Tonkunst für Fortschritte nach der Höhe der Kunst zu erklären; die Kundgebungen eines noch so reichen und tiefen, mit den geistigen Errungenschaften der Zeit noch so innig verwobenen Geistes in Tönen sind ohne die schaffende und bildende Kraft noch keine Meisterwerke und die erweiterten Ausdrucksmittel mögen – abgesehen von der Grenze bis zu welcher sie eine ästhetische Berechtigung haben – wohl als allgemeine Entwicklung der Kunst gelten und so oft sie mit Geschmack und Geist in Anwendung kommen, auch ein höheres Interesse erwecken; allein die Originalität, die aus der musikalisch genialen Persönlichkeit entspringt, kann durch die geschickteste, wirksamste und geistreichste Benützung aller Hilfsmittel der Kunst nicht ersetzt werden, und die ganze riesige Machtentfaltung der neueren Musik vermag die Kraft innerlicher Wahrheit und genialen Ausdruckes, wie sie uns aus den Werken der großen heimgegangenen Meister entgegen tritt, nicht zu erreichen. Man denke nur an das „No“ der Wächter des Schattenreiches in Gluck’s „Orpheus“, auf das Flehen des Tongottes um Einlaß11 und an das „No“ des Don Giovanni, auf das „Pentiti!“ des Commendatore12 und man kann nicht mehr im Unklaren darüber sein, wie wenig all’ die hochgepriesenen
9 Möglicherweise
wird hier auf den wahrscheinlich von Karl van Bruyck verfassten Artikel „Brahms und Rubinstein“ (siehe Cs. 1857 Brahms und Rubinstein) Bezug genommen. In diesem Text, der im Februar 1857 in der NZfM erschienen war, heißt es: „Unter den jüngeren Talenten, welche in den letzten Jahren die Aufmerksamkeit der Kunstwelt auf sich gezogen haben, nehmen jedenfalls Brahms und Rubinstein die erste Stelle ein“ (ebd., S. 66). Die Zurechnung Brahms’ zur ‚Fortschrittspartei‘ geht wohl auf seine Empfehlung durch Schumann zurück (siehe Schumann 1853 Neue Bahnen, in: NdS 1 Nr. 49). Rubinstein war von Liszt gefördert worden, der 1854 in Weimar seine Oper Sibirskie ochotniki (Die sibirischen Jäger) zur Uraufführung gebracht hatte. 10 Niels Wilhelm Gade (1817 –1890), dänischer Komponist und Dirigent sowie Henry Litolff (1818 –1891), englischer Komponist, Klaviervirtuose und Musikverleger. Die gemeinsame Erwähnung beider liegt wahrscheinlich darin begründet, dass am 30. November 1856 in einem von Joseph Hellmesberger d. Ä. geleiteten Konzert der Gesellschaft der Musikfreunde nacheinander Litolffs Ouverture dramatique Chant de Belges op. 101 und Gades Elverskud (Erlkönigs Tochter) op. 30 als Wiener Erstaufführungen erklangen. Die NZfM hatte zuvor bereits angekündigt, dass Hellmesberger plane, in Wien neue Kompositionen Gades und Litolffs ebenso in seine Konzerte aufzunehmen wie Schumanns Symphonie Nr. 4 d-Moll op. 120 und zwei Symphonische Dichtungen Liszts (siehe Anonym 1856 Vermischtes, S. 115). 11 Christoph Willibald Gluck, Orfeo ed Euridice (UA 1762), 2. Akt, 1. Szene, T. 116 –145. 12 Wolfgang Amadeus Mozart, Don Giovanni (UA 1787), 2. Akt, Nr. 24, T. 523 – 548.
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Form-Erweiterungen, Klangschattirungen und musikalischen Ausdruckskünste der verschiedensten Art, auf die man im Wege der Kombinazion in neuester Zeit gelangt ist, zu bedeuten haben; denn nichts ist seither auf dem dramatischen Gebiete der Tonkunst geschaffen worden, das nur im entferntesten an die Wahrheit, Großartigkeit, Macht und erhabene Schönheit jener musikalischen Wunderwerke hinanreicht. So möge denn auch das Aufblähen der Ohnmacht, in gewissen musikalischen Kreisen Deutschland’s unbesorgt walten; der gesunde Sinn des kunstempfänglichen Publikums läßt sich nicht irre machen, wenn man auch einzelne Köpfe hinaufschrauben kann. Blieb doch der Kampf dieses musikalischen Jung-Deutschland’s bisher auf das liebe Vaterland beschränkt, indem nur bei dem Deutschen der Versuch gelingen kann, Utopien aufzudringen! Leider muß es gerade der herrliche tiefe Geist des Deutschen sein, der sich, in ewiger Unruhe dem Ideale auf dem Wege der Abstraktion nachjagend, in Filosofie, Politik und Kunst in so unfruchtbare Nebelregionen verliert! Welche Verblendung gehört dazu, das geistige Gepräge der jetzigen Zeit so hoch über jenes der Zeit Göthe’s, Schiller’s, Mozart’s und Beethoven’s zu stellen, in der jetzigen Zeitstimmung und Ideenentwicklung etwas so Neues und Überragendes zu erblicken, um alles das, was aus den früheren geistigen Strömungen sich künstlerisch verkörpert hat, gleichsam als abgethan, als veraltet, als nur mehr historisch interessant bei Seite schieben zu können. Und in der That! die Verblendung vieler geht wirklich so weit, und sie meinen, daß Werke der Gegenwart, in welchen der Zeitgeist nach künstlerischem Ausdrucke und künstlerischer Gestaltung ringt, deshalb schon höhere Kunstwerke seien, als die vollendeten Meisterbilder der vergangenen Zeit. Wahrhaft empörend und eckelerregend aber ist es, wenn eine befangene Kritik kein Mittel scheut, um ihre Götzenbilder der Verehrung der Welt aufzudringen, wenn sie sich nicht damit begnügt, sie unablässig zu beräuchern, sondern sogar die Thatsachen falsch münzt, um die Welt glauben zu machen, daß auch das Publikum bereits bekehrt sei, und zu den Fratzenbildern, die sie vergöttern, mit gleicher Verehrung emporblicke, wenn sie in ihrer Partheilichkeit so weit geht, um alle Jene, die nicht zu ihr halten, für gehäßig, neidisch, aufgeblasen, bornirt zu erklären. Wo die Gemeinheit einen Grad erreicht hat, um zu solchen Mitteln zu greifen, wird sie zum Selbstverräther der eigenen inneren Hohlheit, so wie der Ohnmacht ihrer Sache und man kann sie getrost ihrem Schicksale überlassen. Ähnliches haben wir jüngst aus Anlaß der Liszt’schen „Préludes“13 und seines Klavierkonzert’s14 hier erlebt, indem eines der hiesigen Blätter den Beifall, welcher dem meisterhaften Vortrage des Liszt’schen Konzertes durch Herrn Pruckner15 zu Theil wurde, und die, durch überwiegende Zeichen des Mißfallens paralisirten krampfhaften Anstrengungen des Beifalls einer Clique nach den unerquicklichen „Préludes“, für eine unfehlbare und
13 Liszt, Symphonische Dichtung Nr. 3 Les Préludes S 97 (UA 1854). 14 Liszt, Klavierkonzert Nr. 1 Es-Dur S 124 (UA 1855). 15 Dionys Pruckner (1834 –1896), deutscher Pianist und Dirigent, von 1851 bis 1855 Schüler Liszts in Weimar, dessen Werke er anschließend vor allem in Süddeutschland und Österreich maßgeblich zu verbreiten half.
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glänzende Anerkennung der Größe Liszt’s durch das hiesige Publikum erklärte, und die gesammte hiesige Kritik, die sich einstimmig gegen das Werk aussprach,16 mit Koth bewarf.17 Ihr aber, die ihr noch den Sinn bewahret habet für das wahrhaft Große, Schöne und Erhabene in der Kunst, die ihr noch nicht verlernt habet in Paradiesesluft zu athmen, die ihr an der modernen Tonquälerei keinen Gefallen zu finden vermöget, laßt Euch von dem Schreckbilde des Zopfes, den sie Euch vorhalten, nicht einschüchtern, und wenn Euch einige Phrasen in den älteren Werken Haydn’s und Mozart’s auch veraltet anmuthen, denkt an die „Jahreszeiten“18, diese ewig blühende, unvergängliche Schöpfung, und die reizenden Quartetten Haydns, denkt an „Don Juan“, die „Zauberflöte“19, das Requiem20, die G moll Sinfonie21 und das G moll Quintett Mozart’s22, diese größten Zeugen des Kunst-Geistes, und bemitleidet diejenigen, zum Glücke nur wenigen [48] Verirrten, die um einiger rococco gewordenen Formen in den Jugendwerken der genannten Meister willen, sich nicht entblöden, auch diese erhabenen Größen zu verunglimpfen.
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Vorfeld seiner Veröffentlichung im Wiener Verlag Haslinger war Liszts Klavierkonzert Es-Dur bereits am 1. Februar 1857 in einer vom Verleger veranstalteten Novitäten-Soiree erklungen. Anlässlich einer weiteren Aufführung am 2. März hieß es in der Neuen Wiener Musik-Zeitung: „Herr Pruckner spielte ein Konzert von Liszt, das, im Ganzen matt und ideenlos, einen pikanten Mittelsatz enthält, der in Berlioz’scher Manier gehalten und instrumentirt ist […]. Obwol man übrigens wie gesagt, dieser Parthie des Konzertsatzes eine große pikante Würze, eine geschickte instrumentale Behandlung nicht absprechen kann, so ist doch alles mehr äußerliche Künstelei und Kombinazion, wahre Klangfarbenspielerei, und man thut solchen Kundgebungen moderner Tondichterei kaum Unrecht, wenn man sie eine halbwegs künstlerisch organisirte Katzenmusik nennt“ (Anonym 1857 Erstes Concert spirituel, S. 38). Die Wiener Erstaufführung der Symphonischen Dichtung Les Préludes fand am 8. März 1857 statt. Dazu äußerte sich die Neue Wiener Musik-Zeitung: „[E]s ist gemacht nicht erzeugt, es spekulirt durchaus nur auf die pathologische Wirksamkeit der Musik, […] und verschmäht nebstbei auch derbe Äußerlichkeiten nicht. Die wenigen melodischen Anläufe aber sind platt und nichtssagend. Liszt ist ein geistreicher Mann, ein begabter Musiker, wenn gleich kein berufener Tondichter. Der Beifall, der von einer Clique ausging, wurde durch lebhafte Zeichen des Mißfallens zur Ruhe gebracht“ (Anonym 1857 Konzerte, S. 42). 17 Angespielt wird wahrscheinlich auf einen neun Tage zuvor in den Blättern für Musik, Theater und Kunst erschienenen Artikel Leopold Alexander Zellners, in dem es heißt: „Liszt, der verketzerte, verhöhnte, bei jedem Anlasse Verunglimpfte, geradezu mit dem Titel ‚Zukunftsnarr‘ beehrte Sündenbock der gesammten Wiener Tages-Journalistik, der Hälfte des Publikums und von zwei Drittheilen der Fachmusiker, hat mit zwei Orchesterwerken einen Triumph gefeiert, wie ihn eine Schaar von lauter unbedingten begeisterten Verehrern nicht glänzender hätte bereiten können. Der Sieg war umso vollständiger als die Opposition eine großartige war, nichtsdestoweniger aber – so oft sie ihre Stimme erhob, von dem fort und fort ausbrechenden Jubel zum Verstummen gezwungen wurde. Wir haben einen so anhaltenden fanatischen Beifall, wie er nach der Aufführung des ‚Clavierconcerts‘ und der ‚Préludes‘ losbrach, selten gehört. Das will viel sagen, ja das sagt ungeheuer viel, wenn man bedenkt, daß unter den Tausenden, die da versammelt waren, nicht zehn Menschen mit einer dem Componisten günstigen Meinung in’s Concert gingen“ (Zellner 1857 Musikalische Wochenlese, S. 1). 18 Joseph Haydn, Die Jahreszeiten (UA 1801). 19 Mozart, Die Zauberflöte (UA 1791). 20 Mozart, Requiem d-Moll KV 626 (UA 1793). 21 Mozart, Symphonie Nr. 40 g-Moll KV 550 (EZ 1788). 22 Mozart, Streichquintett Nr. 4 g-Moll KV 516 (ED 1789).
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Kommentar Nach den ersten Aufführungen von Liszts Symphonischer Dichtung Les Préludes und seines Klavierkonzerts Nr. 1 Es-Dur in Wien nutzte ein Autor, der unter dem Kürzel H – L. regelmäßig in der Neuen Wiener Musik-Zeitung veröffentlichte,23 die Gelegenheit zu einer allgemeinen Kritik der musikalischen ‚Fortschrittspartei‘, aus der die anfangs überwiegend ablehnende Haltung der Musikzeitungen Wiens – ausgenommen lediglich Leopold Alexander Zellners Blätter für Musik, Theater und Kunst24 – gegenüber Liszts Musik und den von der NZfM propagierten Ideen deutlich hervorgeht. Der Text vereint verschiedene Auffassungen, die für die mehrheitlich klassizistisch orientierten Wiener Kritiker typisch sind. Die Behauptung, auf Beethovens Tod sei lediglich eine Epoche der Epigonen gefolgt,25 gehört ebenso dazu wie die Bevorzugung der ‚Alten Meister‘ gegenüber den Vertretern der ‚Zukunftsmusik‘,26 welchen unterstellt wird, mit der musikalischen Vergangenheit gebrochen zu haben und sich mangels Genialität in gekünstelten – und damit ‚unnatürlichen‘ – Kombinationen zu ergehen.27 Das ästhetische Vokabular folgt häufig einer idealistisch-hegelianischen Färbung,28 wie es auch in den Schriften der ‚Fortschrittsmänner‘ zu finden ist. „Beide Seiten werfen sich wechselseitig Unmusikalität vor und berufen sich – verdeckt oder offen – in letzter Instanz auf eine ‚Natur‘ der Musik.“29 Da ebenfalls beide Seiten auf einem Geniekult aufbauen,30 sind Begriffe wie „Zopf“ und „zopfig“, deren Konnotation mit veralteten Konventionen von den politisch progressiven Kräften im allgemeinen Sprachgebrauch bereits durchgesetzt worden war,31 nicht nur bei Brendel, sondern auch bei Kritikern wie Eduard Hanslick negativ besetzt.32
beispielsweise die Artikelserie „Musikalische Charakteristiken“, darunter H – l. 1853 Musikalische Charakteristiken V, in: NdS 1 Nr. 52. 24 Siehe etwa Zellner 1856 Aus der neuern Musikliteratur, in: NdS 2 Nr. 91 sowie Zellner 1856 Musikalische Wochenlese, in: NdS 2 Nr. 89. 25 Siehe auch Karl van Bruycks Diktum: „Wir sind und bleiben, welchen Namen wir auch haben, Epigonen, grosse, kleine, begabte, unbegabte“ (Bruyck 1857 Wiener Federstriche, S. 314, in: NdS 2 Nr. 110, S. 1402), das später von Selmar Bagge regelrecht zum Leitsatz der Deutschen Musik-Zeitung erhoben wurde: „Das goldene Zeitalter der Tonkunst ist vorüber“ (Bagge 1860 Ueber den gegenwärtigen Stand der Tonkunst, S. 193). 26 So heißt es ein Jahr darauf bei Bagge: „Meine lieben Herren Zukunftsmusiker! Hättet Ihr nur Etwas von der Bescheidenheit und Pietät, die Ihr für Beethoven heuchelt, Ihr würdet wahrlich nicht wähnen, dem großen Meister auf einer Spur zu folgen, die er allein zu wandeln vermochte. Oder könnt ihr uns irgend einen Gedanken in euren Werken aufweisen, den man nach Recht und Billigkeit einem Beethoven’schen gleich setzten dürfte?“ (Bagge 1858 Zur gegenwärtigen Parteistellung, S. 300, in: NdS 3 Nr. 118, S. 1478). 27 Van Bruyck warf ihnen ein Wollen vor, dem kein entsprechendes Können gegenüberstünde: „Alle wollen sie das Ungeheuerste, das noch nie Dagewesene, und so entstehen dann auch in der That – noch nie dagewesene Ungeheuer“ (Bruyck 1857 Wiener Federstriche, S. 315, in: NdS 2 Nr. 110, S. 1405). 28 Siehe Bagge 1858 Zur gegenwärtigen Parteistellung, S. 300, in: NdS 3 Nr. 118, S. 1478 f. 29 Kolland 1995 Die kontroverse Rezeption von Wagners Nibelungen-Ring, S. 83. 30 „[N]ur das Genie, das sie schuf, weist den Kunstschöpfungen ihren Rang, ihre Höhestellung an“ (vorliegender Artikel, S. 1269 [46]). 31 Siehe Krüger 1854 Zöpfe und Coterieen, in: NdS 1 Nr. 67. 32 So hatte Hanslick im Februar 1856 in der Presse geschrieben: „[Mozarts Klarinetten-] Quintett in A [KV 581] entzückte mehr durch Herrn Kleins zauberhaften Vortrag der Clarinettpartie, als durch die Kraft der Composition, welche im Ganzen ziemlich zopfig und namentlich im melodiosen Theil stark abgetragen ist“ (Hanslick 1856 Concerte, S. 214). 23 Vgl.
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Der Vorwurf H – L.s, die ‚Fortschrittspartei‘ würde die Vertreter der klassizistischen Musikästhetik als ‚Zöpfe‘ bezeichnen und damit in Verruf bringen, lässt aufmerken, da sich 1856/57 weder in der NZfM, noch in den Blättern für Musik, Theater und Kunst entsprechende Belege in größerer Zahl finden lassen. Der Artikel des Autors erscheint angesichts dessen als vorbeugende Maßnahme, ähnlich den heftigen Polemiken, die die Wiener Presse aufgrund der Teilnahme Wagners an der Revolution von 1848 Anfang der 1850er Jahre gegen die theoretischen Schriften des Komponisten gerichtet hatte. „Damit war die Gegenposition zu Wagner in der Wiener Musikpublizistik bereits vorhanden, noch ehe überhaupt ein Ton von ihm in Wien erklungen war.“33 Da folglich die NZfM unter Wiener Kritikern wegen ihres Einsatzes für Wagner als ‚revolutionäre‘ Musikzeitung galt, wurden auch andere von ihr propagierte Komponisten skeptisch betrachtet. So erscheint beispielsweise deren ehemaliger Chefredakteur Schumann hier als Hauptvertreter der ‚Fortschrittspartei‘, gleichrangig neben Berlioz, Liszt und Wagner. Die Zuordnung Niels Wilhelm Gades und Henry Litolffs, Anton Rubinsteins und Johannes Brahms’ zeigt außerdem, dass H – L. offenbar weniger die Kompositionsstile der verschiedenen Tonsetzer, sondern vielmehr die jedem durch die NZfM zuteil gewordene Förderung bzw. gemeinsame Aufführungen ihrer Werke als Zugehörigkeitsmerkmale wertete. Dass sich daraus dennoch kein pauschales Urteil des Autors über die Musik selbst ergab, beweist seine differenzierte und teilweise anerkennende Bewertung der einzelnen Komponisten und Kompositionen. Insgesamt verdeutlicht der vorliegende Artikel, wie wenig im Jahre 1857 in der Außenwahrnehmung der musikalischen ‚Fortschrittspartei‘ ein Konsens hinsichtlich ihrer Zusammensetzung bestand und zugleich auch auf konservativer Seite erste Versuche aufkamen, das jeweilige Œuvre herausgehoben aus den anhaltenden Polemiken in seiner musikhistorischen Bedeutung zu würdigen.
33 Kolland
1995 Die kontroverse Rezeption von Wagners Nibelungen-Ring, S. 65.
Nr. 104 | Eduard Hanslick, „Les Préludes“, in: Niederrheinische Musik-Zeitung 5 (1857), Nr. 12 (21. März), S. 89 – 94.
„Les Préludes.“ Symphonische Dichtung für grosses Orchester von Franz Liszt (Aufgeführt von der Gesellschaft der Musikfreunde zu Wien am 8. März 1857.) Von Eduard Hanslick.1
Als der genialste Virtuose unserer Zeit, Franz Liszt, der Triumphe müde ward, die Europa seiner echten Kunst so gern noch länger bereitet hätte, schickte er sich bekanntlich an, durch eigene grosse Schöpfungen die Welt zu überraschen. Wer nicht bloss an geistige Thätigkeit, sondern eben so sehr daran gewohnt ist, dass ihm der Lorber auf dem Fusse folge, der vermag den Schauplatz der Oeffentlichkeit nicht zu verlassen, er wechselt ihn nur. Der Ruhm des Tondichters Liszt sollte den Ruhm des Virtuosen Liszt sofort verdunkeln. Es fanden sich enthusiastische Freunde und liessen sich auch gefällige Schriftsteller finden, welche diese Transfiguration Liszt’s als ein Ereigniss von unabsehbarem Gewinne für die Entwicklung der Tonkunst darstellten.2 Wir sind im Gegentheil der Ansicht, dass die musicalische Welt durch die Abdication3 des Virtuosen Liszt einen Verlust erlitten habe, welcher ihr durch den Componisten nicht entfernt ersetzt wird.
1 Der Aufsatz erschien erstmals am 12. März 1857 in der Wiener Neuen Presse. Der hier vorliegende Wiederabdruck in der Niederrheinischen Musik-Zeitung weicht vor allem hinsichtlich der redaktionellen Anmerkung und der im Anschluss an Hanslicks Aufsatz (im Original bis „muss sich zur öffentlichen Anerkennung dieser Leistung doppelt verpflichtet fühlen“) ausgewählten BrendelZitate (siehe Brendel 1857 Franz Liszt in Leipzig) ab. Zu den sonstigen, inhaltlich unbedeutenden Abweichungen vgl. Hanslick-Schriften 4, S. 53 – 55. Der Text findet sich, wiederum mit wenigen Lesartenabweichungen, auch in Hanslicks gesammelten Kritiken (in: Hanslick 1870 Aus dem Concertsaal II, S. 117 –121 unter dem Titel „Les préludes“). 2 Siehe etwa Brendel 1856 Franz Liszt, S. 69: „Zuletzt ist er [Franz Liszt] auch als Componist hervorgetreten, mit Werken, welche Zeugniß geben, daß er nun erst sich selbst in ganzer Kraft erfaßt hat.“ Das Zitat findet sich auch im zweiten Band der 1855 erschienenen Musikgeschichte Brendels (Brendel 1855 Geschichte der Musik, S. 315). 3 Kapitulation.
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Wer die künstlerische Individualität Liszt’s während der langen Dauer seines Virtuosenthums aufmerksam beobachtet hatte, durfte sich wohl von vorn herein einige Schlüsse auf den Charakter seiner neuen Compositions-Thaten erlauben. Die Clavier-Compositionen Liszt’s, die bekanntlich einen artigen Stoss bilden, waren durchaus von so mittelmässiger Erfindung und Ausführung, dass man auch nicht von Einer daraus hätte behaupten wollen, sie werde sich in der musicalischen Literatur erhalten. Eine grosse Kenntniss des Clavier-Effectes und hin und wieder ein interessantes Aperçu sind alles, was sich von Liszt’s Claviersachen rühmen lässt – bei einem Virtuosen von Geist selbstverständliche Dinge. Seiner äusserst dürftigen Erfindungskraft bewusst, pflegte Liszt meistens fremde Melodieen in Transcriptionen, Phantasieen u. dgl. zu verarbeiten. In diese Classe gehört ohne Ausnahme alles, was jemals von Liszt Beliebtheit errang. Ueberall, wo er hingegen aus eigenen Mitteln arbeitete, brachte Liszt ein wunderliches Gemisch von Gemeinplätzen und Bizarrerieen zuwege; man ertrug diese Compositionen, wenn er sie spielte. Noch in seinen letzten Clavier-Compositionen, dem „Album de pélérinage“4 u. dgl., kann man die ausschliessliche Herrschaft dieser beiden Factoren wahrnehmen, zugleich das zunehmende Bestreben, durch beigefügte Gedichte und sogar Bilder die Armut des musicalischen Inhalts zu bemänteln. Schrieb Liszt irgend einen Chor, so konnte man nach den ersten Tacten den Componisten an der gequälten Melodie, den unsangbaren Mittelstimmen, der zerfallenden Form erkennen. So verhielt es sich an 30 Jahre lang mit Liszt’s Compositionen, über die das Urtheil so gut wie einstimmig war. Nun nahm sich Liszt plötzlich vor, mit grossen, bedeutenden Schöpfungen hervor zu treten. Mit der ihm eigenen geistigen Regsamkeit und beneidenswerthen Energie ging er an die Aufgabe. Zu einsichtsvoll, um nicht die auffallendsten Lücken seiner Begabung zu kennen, musste er sich der Musik von jener Seite nähern, wo sie, an äussere Objecte gelehnt, vorzugsweise den vergleichenden Verstand beschäftigt und die poetische oder malerische Phantasie anregt. Er brachte beinahe mit Einem Wurf neun Sinfonieen zur Welt, die er „symphonische Dichtungen“ nannte und mit speciellen, den Inhalt dieser Musik erklärenden Pro-[90]grammen versah. Die Titel dieser Stücke sind: „Ce qu’on entend sur la montagne“, „Tasso“, „Les préludes“, „Orpheus“, „Mazeppa“, „Prometheus“, „Festklänge“, „Héroide funébre“ und „Hungaria“. Nimmt man dazu, dass Liszt gegenwärtig an einer musicalischen Uebertragung der „Ideale“ von Schiller, der „Göttlichen Komödie“ von Dante, des Göthe’schen Faust und ähnlicher Kleinigkeiten arbeitet, so wird man zugeben, dass der Componist geradezu die höchsten Ansprüche macht, die überhaupt in der Musik erhoben werden können. Er achtet seine Musik für fähig, die gewaltigsten Erscheinungen des Mythus und der Geschichte, die tiefsten Gedanken des Menschengeistes nachzugeigen und nachzublasen. Den Musiker muss diese Methode von vorn herein sehr bedenklich stimmen, indem sie klar genug ausspricht, dass es sich hier nur sehr nebenbei um Musik handle. Hauptsache ist der poetische Stoff, dieser soll durch musicalische Randzeichnungen geistreich illustrirt werden.
4 Liszt,
Années de pèlerinage I (Première année: Suisse) S 160 (ED 1855).
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Die Berechtigung der descriptiven Musik überhaupt angenommen, ist doch wieder ein grosser Unterschied zwischen den Stoffen, welche man ihr zumuthet. In der „Meeresstille und glückliche Fahrt“, im „Sommernachtstraum“, im Programm der Pastoral-Symphonie u. dgl. wird Niemand die Ungezwungenheit der musicalischen Anspielung verkennen: ein Mazeppa aber ist geradezu widermusicalisch; Charaktere wie Prometheus sind jeder musicalischen Beziehung so fern, dass solche Ueberschriften von Sinfonieen nur den Eindruck einer prahlhaften Spielerei machen können. Es ist kaum nöthig, hier die Frage über die Berechtigung der Programm-Musik von Anfang aufzunehmen. Niemand denkt mehr so engherzig, dem Tonsetzer jede poetische Anregung versagen zu wollen. Welche die Beziehung zu einem äusseren Stoffe ihm bietet. Die Musik wird zwar nimmermehr im Stande sein, das bestimmte Object auszudrücken oder dessen wesentliche Merkmale so darzustellen, dass man sie ohne Ueberschrift erkenne – allein sie mag immerhin die Grundstimmung davon nehmen und mit der deutlichen Benennung an der Stirn wenigstens anspielend, wenn auch nicht darstellend wirken. Die Hauptbedingung wird immer bleiben, dass die Musik allem Titel und Programm zum Trotz, denen sie ihre Färbung leibt, doch immer auf ihren eigenen Gesetzen ruhe, specifisch musicalisch bleibe, so dass sie auch ohne Programm einen in sich klaren, selbstständigen Eindruck mache. Dies nun ist die erste wichtige Einwendung, die man gegen Liszt erheben muss, dass er dem Sujet seiner Sinfonieen eine weit grössere missbräuchliche Mission auferlegt, nämlich den fehlenden musicalischen Inhalt entweder geradezu zu ersetzen oder dessen Atrocitäten5 zu rechtfertigen. Jeder Mensch mit gesunden Sinnen wird sich von dem dissonirenden Geheul, das einen so wesentlichen Theil der „Mazeppa-Symphonie“ bildet, abwenden. Durch diese Ueberschrift nun soll eben das, was uns an sich musicalisch abscheulich dünkt, als treffend und nothwendig aufdisputirt werden. „Der Componist wollte ja die schmerzlichen Zuckungen des geschleiften Mazeppa schildern“ u. s. f. – Man wird zugeben, dass bei solcher Ausdehnung des Programm-Princips es mit der Musik einfach zu Ende ist. Den „symphonischen Dichtungen“ sind, wie gesagt, erklärende Vorreden von Liszt vorgedruckt, die ganz in dem entsetzlichen, schwülstig-sentimentalen Tone Richard Wagner’s abgefasst sind. Ein eben so merkwürdiges Licht, wie diese speciellen Vorreden, die gleich einem Ballet-Programm den taubstummen Tanz erklären, wirft die sämmtlichen Partituren vorgedruckte gemeinsame Erklärung auf die falsche Methode Liszt’s. „Obschon ich bemüht war,“ heisst es darin, „durch genaue Anzeichnungen meine Intentionen zu verdeutlichen, so verhehle ich doch nicht, dass Manches, ja, sogar das Wesentlichste, sich nicht zu Papier bringen lässt.“ Ich überlasse es dem musikkundigen Leser, zu entscheiden, in wie fern man es noch mit Tonwerken zu thun habe, wo das „Wesentlichste“ desselben sich nicht in Noten wiedergeben lässtI. Dirigenten [91] und Spieler müssen demnach für Liszt’sche Com-
I Hier
thut der Verfasser Liszt Unrecht, wozu freilich die plumpe deutsche Uebersetzung, welche mit der französisch geschriebenen Vorrede der Partitur vorgedruckt ist, leicht verleiten kann. Die
5 (Aus
dem Lat.): Grausamkeiten.
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positionen mit einem besonderen Ahnungs-Vermögen ausgestattet sein – von den Zuhörern versteht sich die Schuldigkeit von selbst. Es war zu erwarten, dass Liszt in allen Aeusserlichkeiten neu sein werde. So ist die Form seiner symphonischen Dichtungen ein Mittelding zwischen der erweiterten Ouverturen-Form Mendelssohn’s und der mehrsätzigen Sinfonie. Liszt lässt die drei bis vier im Charakter scharf unterschiedenen Abtheilungen, aus denen seine Symphonieen bestehen, wie in freier Phantasie, zwanglos in einander übergehen, so dass das Ganze äusserlich als ununterbrochene Einheit aufgeführt wird. Das hindert freilich nicht, dass diese Bestandtheile oft mosaikartig an einander gereiht, oft chaotisch durch einander gemengt erscheinen. Die Form einsätziger Symphonie kann eine Zukunft haben, wenn sie von echt musicalischen Kräften gepflegt wird; man bedarf für Concert-Aufführungen Orchesterstücke, deren Ausdehnung etwa die Mitte zwischen der Ouverture und der Symphonie hält. Sämmtliche Liszt’sche „Dichtungen“ sind weislich kurz gehalten. Die „Präludien“ erscheinen charakteristisch durch die Methode, wie die Musik zu dem fertigen Programm rein auf dem Wege der Reflexion hinzugebracht wird. Es ist kaum mehr als ein witziger Gedanke, was den ganzen Stoff der Symphonie bildet: die Vergleichung des Menschenlebens mit einem „Präludium“ zu einem unbekannten jenseitigen Gesange. Die musicalische Bedeutung vom „Präludium“ liefert nun dem Componisten die nöthigen Guirlanden von Harfen-Arpeggien u. dgl. In der Lamartine’schen Dichtung werden „Liebesglück“, „Sturm“, „Ländliche Einsamkeit“ und „Siegreicher Kampf“ als rasch in einander fliessende Nebelbilder vorgeführt. Welche materielle Ueberstopfung damit in den engen Rahmen eines
wörtlichen Aeusserungen Liszt’s beziehen sich nur auf die Bezeichnung des Vortrages und des Zeitmaasses: „Ich habe mich bemüht, meine Intentionen in Bezug auf Schattirungen, auf Beschleunigungen und Zurückhaltung des Zeitmaasses u. s. w. durch eine detaillirte Anwendung der gebräuchlichen Zeichen und Ausdrücke so deutlich wie möglich zu machen; dennoch würde man sich täuschen, wenn man glaubte, dasjenige zu Papier bringen zu können, was die eigentliche Schönheit und den Charakter der Ausführung ausmacht.“ – Man sieht, dass der weimar’sche Uebersetzer6 das von uns Unterstrichene weggelassen und dafür im Nachsatze die Worte „ja, sogar das Wesentliche“ zugesetzt hat. – Eben so widersinnig ist der Schluss der Vorrede übersetzt, wo es im Deutschen heisst: „Dem Wohlwollen meiner Kunstgenossen sei es daher überlassen, das Meiste und Vorzüglichste an meinen Werken zu vollbringen“! – während Liszt, unmittelbar an die obige Stelle anknüpfend, sagt: „In dem Talente und der geistigen Auffassung der dirigirenden und ausführenden Künstler liegt allein das Geheimniss desselben (nämlich [91] dessen, was zu schöner und charakteristischer Ausführung gehört), und der Grad von Sympathie, welchen sie meinen Werken freundlich zuwenden wollen, wird für diese die beste Bürgschaft des Erfolgs sein.“7 – Nun, Liszt muss es wohl schon gewohnt sein, dass seine gegenwärtigen deutschen Freunde seine Gedanken übertölpeln. Die Redaction. 6 Wahrscheinlich
Peter Cornelius. 7 Im Erstdruck der Partitur (Leipzig: Kahnt 1856) lautet der Abschnitt: „Obschon ich bemüht war, durch genaue Anzeichnungen meine Intentionen zu verdeutlichen, so verhehle ich doch nicht, dass Manches, ja sogar das Wesentlichste, sich nicht zu Papier bringen lässt, und nur durch das künstlerische Vermögen, durch sympathisch schwungvolles Reproduziren, sowohl des Dirigenten als der Aufführenden, zur durchgreifenden Wirkung gelangen kann.“
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Musikstückes gebracht wird, ergibt sich von selbst, so wie die Unvermeidlichkeit einer Zerstreuung, welche das gerade Widerspiel jener geistigen Sammlung ist, die das echte Kunstwerk beabsichtigt. Vom rein musicalischen Standpunkte sind die „Präludien“ die klarste und gefälligste aus der Reihe der Liszt’schen metaphysischen Abhandlungen. Wir finden zwar kein Thema darin, das an sich originel[l] oder bedeutend heissen könnte, vielmehr unterlaufen sowohl in den pathetischen als in den sentimentalen Theilen Anklänge von bedenklicher Trivialität; noch weniger entdecken wir in diesem poetischen Vagabundiren der Phantasie jene musicalische Gedanken-Entwicklung, die wir als „thematische Arbeit“ in jeder grösseren Composition finden und finden wollen. Der ehrgeizige Drang, jeden Augenblick mit etwas Neuem, Unerhörtem, Genialem zu überraschen, bringt vielmehr eine Unruhe in das Ganze, welcher geradezu etwas Dilettantisches anklebt. Dessen ungeachtet vermögen die „Préludes“ den Hörer interessant anzuregen. Es zeigt sich darin ein sehr lebhafter Sinn für Zusammenstellungen der Klangfarben; wir erinnern nur an die Instrumentirung des an sich ziemlich gewöhnlichen Thema’s in E-dur, das (Seite 21 der Partitur),8 von vier Hörnern und getheilten Bratschen breit vorgetragen, von Violinen und HarfenAccorden leicht umspielt, von reizender Wirkung ist. Ebenso bringen (S. 32) die aufsteigenden chromatischen Sextengänge des StreichQuartetts, Anfangs nur von Fagotts und Clarinetten in der Tiefe, dann durch Oboen und Flöten verstärkt,9 eine wahrhafte Windsbraut hervor. Der letzte Satz ist nicht viel mehr als ein Parademarsch, mit allem Glanze lärmender Janitscharenmusik ausgestattet. Darauf verzichtet Liszt niemals; er weiss zu gut, wie solch rein sinnlicher Eindruck beim grossen Publicum immer seine Schuldigkeit thut; die „guten Freunde“ sorgen schon dafür, dass auch dieser Janitscharen-Lärm für reine Erhabenheit ausgelegt werde. Liszt bringt ihn aber nicht bloss in den „Préludes“ an, etwa um den „Kampf“ zu illustriren; auch im „Tasso“, im „Prometheus“, in den „Festklängen“ begegnen wir diesen Soldatenfreuden, sogar der arme „Mazeppa“ wird unter Begleitung von Triangel, grosser Trommel und Becken geschleift. Nächst diesem Talente für Instrumentirung fällt in den Préludes auch mitunter ein feiner Sinn für Figurirung auf (S. 24 u. m. a.),10 so wie endlich unter hässliche Accordenfolgen sich mitunter auch eine glückliche Entdeckung mischt. Die Hauptsache, an der die Kritik festhalten muss, bleibt aber doch immer, dass alles, was an den Liszt’schen Symphonieen das Publicum fesselt und den Musiker interessirt, nicht aus dem reinen Quell der Musik fliesst, sondern künstlich gebranntes Wasser ist. Die musicalische Schöpfung drängt sich bei Liszt nicht frei und ursprünglich ans Licht, er setzt sie auf dem Wege der Reflexion zusammen. Wer je über unsere Kunst nachgedacht hat, weiss, dass ein [92] geistreicher und phantasiebegabter Mensch, der sich das Aeusserliche der musicalischen Technik vollständig angeeignet hat, noch kein schöpferischer Tondichter ist.
8 „L’istesso
tempo“, 5 Takte nach Abschnitt C.
10 Abschnitt D.
9 „Allgegro
ma non troppo“, 6 Takte vor Abschnitt E.
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Denken wir uns einen Dichter wie V. Hugo, oder einen Maler wie Gallait11 im Besitze aller musicalischen Kenntnisse und gepeinigt von dem Drange, zu componiren – ihre Tonwerke würden ohne Zweifel den „symphonischen Dichtungen“ sehr ähnlich sein. Es wäre Geist, Poesie, Bilderpracht, Alles vielleicht beisammen, nur kein musicalischer Kern. Liszt gehört zu jenen genialen, aber unfruchtbaren Naturen, welche, von künstlerischem Ehrgeiz getrieben, Bedürfniss mit Beruf verwechseln. Wenn es ihm heute einfiele, als Tragödien-Dichter aufzutreten, so würde er wahrscheinlich auch in dieser Eigenschaft Geist und Bildung verrathen, ohne dass es desshalb Jemandem einfiele, ihn neben Shakespeare zu stellen. Oder vielmehr auch dazu würde sich einer oder der andere jener literarischen Lohndiener bereit finden, welche Macaulay12 „ein Mittelding zwischen Mensch und Pavian“13 nennt, und die leider überall vertreten sind. Für einen musicalischen Entdecker oder Reformator kann Liszt nur von Leuten gehalten werden, welche mit Berlioz’ und R. Wagner’s Werken nicht bekannt sind. Diese beiden Componisten sind für Liszt geradezu Vorbilder gewesen, und kaum dürfte sich bei diesem irgend ein Effect finden, dem nicht Aehnliches in den Werken jener bereits vorausgegangen wäre. Wo die guten wie die schlechten Seiten so auffällig vorliegen, wie es uns bei Liszt’s Symphonie der Fall zu sein scheint, dünkt uns auch die künstlerische Bilanz nicht schwierig. Das Interesse, welches geistreiche Einzelheiten, brillante Technik und das energische Verfolgen eines bestimmten Princips allzeit einflössen werden, sichert den Componisten Liszt’s eine höhere Stelle, als zahllosen Schularbeiten, die eine gleiche Ohnmacht regelrecht, aber ohne Geist ausarbeiten, namentlich also einen Vorrang vor den Werken seiner zahlreichen Clavier-Collegen. Diese relative Höhe jedoch zur absoluten zu erheben und Liszt’s Symphonieen als wahre musicalische Kunstschöpfungen, als Meisterwerke oder gar als Ausgangspunkte einer neuen Verjüngung der Tonkunst hinzustellen, kann nur gelingen, wenn wir zuvor jeden Begriff von reiner Instrumentalmusik und jede Erinnerung an das, was ein Haydn, Mozart, Beethoven und Mendelssohn darin geleistet haben, vollständig und für immer abthun. Ueber die Aufnahme der „Préludes“ können wir nicht endgültig berichten, da dieselbe in einem langen und unentschiedenen Kampfe zwischen Zischen und Klatschen sich äusserte. Die Aufführung war eine vortreffliche. Wer, wie wir, bei den Proben Zeuge war, mit welcher Unermüdlichkeit Director Hellmesberger14 dieses
11 Louis
Gallait (1810 –1887), belgischer Maler und Zeichner, der vor allem für seine Historienmalerei berühmt war. 12 Thomas Babington Macaulay (1800 –1859), englischer Historiker, Dichter und Politiker, dessen literarische Abhandlungen und Werke zur Geschichte Englands in acht Bänden auch ins Deutsche übersetzt wurden und innerhalb von zehn Jahren vier Auflagen erlebten (siehe Macaulay 1853 Ausgewählte Schriften). 13 Im Essay „Lord Bacon“ heißt es: „Every age produces those links between the man and the baboon“ (Macaulay 1850 Lord Bacon, S. 41). 14 Joseph Hellmesberger (1828 –1893), Wiener Dirigent und Violinist, fungierte von 1848 bis 1860 als künstlerischer Leiter der Wiener Gesellschaft der Musikfreunde und als Dirigent der Gesellschaftskonzerte. Hellmesbergers überragende Stellung im Musikleben seiner Heimatstadt doku-
Hanslick 1857 Les Préludes
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schwierige Werk einstudirte, muss sich zur öffentlichen Anerkennung die