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German Pages 289 Year 1997
JOHANNES MASING
Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 716
Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts Europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht
Von
Johannes Masing
Duncker & Humblot · Berlin
Die Deutsche Bibliothek - CEP-Einheitsaufnahme Masing, Johannes: Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts : europäische Impulse für eine Revision der Lehre vom subjektivöffentlichen Recht / von Johannes Masing. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften zum öffentlichen Recht ; Bd. 716) Zugl.: Freiburg (Breisgau), Univ., Diss., 1996 ISBN 3-428-08928-6 NE: GT
Alle Rechte vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-08928-6 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©
Meinen Eltern Magda Masing, geb. Casper , und Peter Masing zum Gedenken
Vorwort Der Einfluß des Europarechts auf die nationalen Rechtsordnungen nimmt ständig zu. Angesichts der immer differenzierteren und ausgreifenderen Regelungen kann dieser Einfluß nicht äußerlich bleiben. Unweigerlich eigene Rechtsstrukturen transportierend, wirkt er vielmehr auch auf Grundlagen der einzelnen Rechtsordnungen ein. Das stellt diese zum einen vor schwierige Probleme und bringt Friktionen mit sich. Es birgt aber zugleich auch die Chance, spezifische Strukturen der eigenen Rechtsordnung neu bewußt zu machen, ihre Begrenztheit deutlicher erkennen zu können und damit neue Perspektiven zu öffnen. In diesem Sinne greift die vorliegende Arbeit Impulse des Europarechts auf, um die deutsche Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht neu zu hinterfragen. In Gegenübersetzung zu dem europarechtlich erkennbaren Konzept, Bürger nicht nur in Blick auf ihren Privatschutz, sondern auch in Blick auf das öffentliche Interesse an der effektiven Durchsetzung des Gemeinschaflsrechts mit individuellen Befugnissen auszustatten, steht hierbei die Privatbezogenheit des subjektiv-öffentlichen Rechts im Mittelpunkt, die in der deutschen Lehre vom Prinzip her als ausschließendes Kriterium verstanden wird. Woher rührt dieses für das tradierte Verständis essentielle Begriffsmerkmal, wieweit prägt es die Beziehungen zwischen Verwaltung und Bürger bewußt oder unterschwellig - noch heute und wieweit bleibt seine Begründung tragfähig? Die Untersuchung sucht insoweit historisch bedingte, aber aktuell fortwirkende Engführungen des deutschen Verwaltungsrechts aufzudecken und damit die Grundlage für eine vorsichtige, funktionellen Sichtweisen Raum gebende Erweiterung des Staat-Bürger-Verhältnisses im Bereich der Verwaltung vorzubereiten. Die Arbeit ist in den Jahren 1994-1996, ganz überwiegend während meiner Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter am Bundesverfassungsgericht, entstanden. Im Sommersemester 1996 hat sie die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg als Dissertation angenommen. Sie befindet sich auf dem Stand von Juni 1996. Sehr herzlich danke ich meinem akademischen Lehrer und Doktorvater Herrn Richter des Bundesverfassungsgerichts i.R. Prof. Dr. Dr. Dr. h.c. ErnstWolfgang Böckenförde. Er hat mir in Karlsruhe großzügig ermöglicht, in einem äußerst belasteten Dezernat Dienstaufgaben und wissenschaftliche Tä-
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Vorwort
tigkeit zu verbinden. Vor allem aber habe ich als Seminarteilnehmer, Hilfskraft und Assistent an seinem Lehrstuhl in vielen Jahren von ihm eine juristische Schulung erhalten, die mich wissenschaftlich wie persönlich prägt. Besonders erwähnt seien nur die allwöchentlichen Lehrstuhlgespräche, zu denen Herr Prof. Dr. Böckenförde mit Herrn Prof. Dr. Rainer Wahl und den zugehörigen Mitarbeitern zusammentrifft und in denen freimütig-offen, dabei aber nie in Beliebigkeit entgleitend um richtige Lösungen und Positionen gerungen oder auch gestritten wird. Ohne die Erfahrung solch wahrhaft wissenschaftlichen Geistes hätte sich mir die geistige Vielschichtigkeit des öffentlichen Rechts wohl nie erschlossen und wäre vorliegende Arbeit nicht entstanden. Mein herzlicher Dank gilt weiterhin Herrn Prof. Dr. Thomas Wlirtenberger, bei dem ich als Wissenschaftlicher Assistent die Arbeit beenden konnte und der das Zweitgutachten erstellt hat. Auch ihm verdanke ich wesentliche Anregungen und nachdrückliche Förderung in einer freundlichen und toleranten, stets um die Sache bemühten Atmosphäre, sowie nicht zuletzt eine großzügige Freistellung für die eigene Arbeit. Besonderen Dank möchte ich weiterhin meinen Freunden aussprechen, die das Entstehen der Arbeit begleitet haben. Zuerst ist hier Jochen Wieland zu nennen, der meine Entwürfe als erster und einziger schon im Rohzustand kritisch gegengelesen hat und mir durch ermutigende und weiterführende Hinweise Ruhe und Sicherheit vermittelte, die Arbeit in der eingeschlagenen Richtung zu Ende zu bringen. Namentlich danken möchte ich aber auch Martin Brandt, Christoph Enders, Georg Hermes, Bettina Limperg, Ute Sacksofsky und Bernd Schütze, die zu der Arbeit in intensiven Diskussionen und durch kritische Lektüre erheblich beigetragen haben. Für die Mithilfe bei der Erstellung des Stichwortverzeichnisses danke ich Lutz Siebert; für kurz entschlossene Hilfe bei der technischen Durchführung bin ich Susanne Graf zu Dank verpflichtet. Die Schreibarbeiten wurden äußerst zuverlässig von Frau Margit Lambach, Karlsruhe, durchgeführt. Frau Gudula Diesch, Freiburg, hat die Arbeit zügig in druckfertige Form gebracht. Zu danken ist schließlich Herrn Prof. Dr. Norbert Simon, der die Arbeit in das Verlagsprogramm aufgenommen hat und es ermöglichte, daß sie - betreut von Frau Heike Frank - innerhalb kürzester Zeit veröffentlicht werden konnte. Freiburg im Breisgau, den 29. Juli 1996 Johannes Masing
Inhaltsverzeichnis Einleitung
13 Teil 1
Die Mobilisierung des Bürgers durch das Europarecht
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I. Die Einbeziehung des Bürgers in die Verwaltung 1. Die Kontrolle der Verwaltung durch den Bürger als Teil der Öffentlichkeit a) Die Öffentlichkeitsbeteiligung in der UVP-Richtlinie b) Die Öffentlichkeit in der Öko-Audit-Verordnung c) Die Umweltinformationsrichtlinie 2. Die Pflicht zur Verleihung von Individualbefugnissen bei der nationalen Umsetzung von EG-Richtlinien 3. Rechtsschutzanforderungen der Gemeinschaft 4. Die Mobilisierung des Bürgers durch Ausweitung der Direktwirkung des EGRechts
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II. Die Mobilisierung des Bürgers als Prinzip
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Teil 2
Die Privatbezogenheit der deutschen Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht I. Geschichtliche Grundlagen 1. Die Abgrenzung von den jura quaesita 2. Die Privatnützigkeit subjektiv-öffentlicher Rechte a) Die Einbindung des subjektiv-öffentlichen Rechts in die moderne Staatlichkeit b) Die Beschränkung auf die Geltendmachung individueller Interessen 3. Das Problem der staatsbürgerlichen Rechte 4. Objektiv-rechtliche Ansätze a) Objektiv-rechtliche Konzeptionen in der Literatur b) Die Gesetzgebung in Preußen 5. Zusammenfassung und Ausblick auf die französische Rechtsentwicklung: Kraft und Grenze des subjektiv-rechtlichen Konzepts a) Das deutsche Konzept des Individualschutzes gegenüber dem französischen Konzept der Gesetzmäßigkeitskontrolle b) Praxisorientierte Dogmatisierung
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Inhaltsverzeichnis
II. Die Übernahme des subjektiv-öffentliche Rechts als Grundlage des heutigen Verwaltungsrechtsschutzes 89 1. Die ausgedehnte Reichweite des modernen Rechtsschutzes 91 a) Die mittelbare Geltendmachung objektiv-rechtlicher Normen 93 b) Erweiterung des Drittschutzes 101 c) Fazit: Die Relativierung des subjektiv-rechtlichen Konzepts in der Praxis 103 2. Die Individualbezogenheit als unveränderter Kern der Lehre des subjektivöffentlichen Rechts 105 a) Die Definitionen des subjektiv-öffentlichen Rechts 106 b) Die Schutznormtheorie 107 3. Entwicklungen in der rechtswissenschaftlichen Diskussion 111 a) Individualbezogenheit der Kritik an der Schutznormtheorie 111 b) Tendenzen zur Selbstauflösung des subjektiv-rechtlichen Konzepts 114 4. Objektiv-rechtliche Ansätze 117 a) Objektiv-rechtliche Elemente im deutschen Rechtsschutz 118 b) Die Diskussion um die Verbandsklage 121 III. Das subjektiv-öffentliche Recht als Grundlage der Beziehung von Verwaltung und Bürger überhaupt 1. Das Grundverhältnis von Bürger und Verwaltung a) Der Fundamentalcharakter des subjektiv-rechtlichen Prinzips b) Die subjektiv-rechtlichen Grundstrukturen im Verwaltungsverfahren 2. Rechte gegenüber der Verwaltung a) Informationsrechte b) Mitwirkungsbefugnisse im Vorfeld von Verwaltungsentscheidungen c) Exkurs: Die Drittbezogenheit der Amtspflichtverletzung 3. Die Grundrechte a) Die Grundrechte als Abwehrrechte b) Die objektiv-rechtlichen Grundrechtsgehalte 4. Das Petitionsrecht a) Der gemeinbezogene Charakter des Petitionsrechts b) Der schwache Inhalt des Petitionsrechts
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Teil 3
Die Herausforderung des Europarechts für das deutsche Verwaltungsrecht I. Konfrontation zweier Modelle 1. Die Unvereinbarkeit des europäischen und deutschen Konzepts im theoretischen Ansatz 2. Das große Konvergenzpotential in den praktischen Auswirkungen a) Rechtsdurchsetzung mittels eigener Rechte b) Individueller Rechtsschutz durch objektives Recht c) Die formale Bestimmung subjektiver Rechte 3. Eine sachliche Herausforderung a) Rückwirkungen einer instrumenteilen Versubjektivierung b) Der unbewältigte Rückgriff auf das formell bestimmte subjektive Recht c) Notwendigkeit einer Revision des subjektiv-öffentlichen Rechts
175 175 176 181 181 184 185 187 188 189 194
Inhaltsverzeichnis II. Die Mobilisierung des Bürgers vor dem Hintergrund der französischen Rechtstradition 196 1. Die objektiv-rechtliche Konzeption des Verwaltungsrechtsschutzes in Frankreich als Ausgangspunkt des europäischen Konzepts 196 2. Die Unterfangenheit des französischen Konzepts durch eine starke Exekutive..209 3. Die neue Dimension des Europäischen Modells 215 III. Die Relativierung des subjektiv-rechtlichen Prinzips - Resümee, Perspektiven, Ausblick 218 1. Verlust tradierter Gewißheiten 218 2. Dogmatische Perspektiven 221 a) Offenheit für gemeinbezogene Befugnisse 221 b) Der status procuratoris 225 3. Rechtspolitischer Ausblick: Ein neues Modell? 230 a) Chancen und Gefahren 231 b) Ein erweitertes Blickfeld 238 Literaturverzeichnis
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Sachverzeichnis
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Einleitung Verunsichert sieht sich die deutsche Verwaltungsrechtswissenschaft einer mittlerweile zum Konzept verdichteten Tendenz des Rechts der Europäischen Gemeinschaft gegenüber: Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts. Durch Verleihung individueller Befugnisse werden danach die Bürger befähigt, vor den staatlichen Behörden und Gerichten unmittelbar auf die Beachtung des europäischen Rechts zu pochen, um so dessen Umsetzungsschwächen und Vollzugdefizite zu mindern. Sie werden dabei weniger als eines Rechtsschutzes bedürftige Privatpersonen verstanden, denn als wirkmächtige Anwälte und Vollstrecker der gemeinschaftlichen Interessen bei der Durchsetzung des Rechts: Die Effektivierung des unter Umsetzungsmängeln leidenden Gemeinschaftsrechts, nicht der Schutz individueller Belange des jeweiligen einzelnen, bestimmt vorrangig die Herleitung und Zielrichtung solcher Befugnisse und ist Motor der Entwicklung. Im deutschen Schrifttum spürte man schnell, daß das Europarecht hiermit in Spannung zur Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht gerät. Die tieferen Gründe zu erfassen, ist indessen noch nicht gelungen und wurde kaum auch nur unternommen. Man bemerkt, daß das Europarecht eine großzügigere Anerkennung subjektiver Rechte verlange als die Schutznormtheorie, und sieht zum Teil sogar die Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht überhaupt als gefährdet an, bleibt dabei aber, überwiegend auf Ergebnisse in der Praxis fixiert, an der Oberfläche hängen. Vorliegende Arbeit sucht hier tiefer zu greifen und die Auseinandersetzung auf eine grundsätzliche Ebene zu führen. Sie zielt nicht auf praktische Adaptionsprobleme bei der Umsetzung dieses Konzepts, sondern will dahinterliegende Strukurunterschiede offenlegen und diese vor dem historischen Hintergrund des deutschen Verwaltungsrecht verstehen. Erst von hier aus ist es dann möglich, die Entwicklung des Europarechts kritisch zu beurteilen und Perspektiven für eine konstruktive Umsetzung und Aufnahme zu entwerfen. Gegenstand der Arbeit ist dabei vor allem eine Vergewisserung über die theoretischen Grundlagen der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht. Es gilt insofern, den oft latent bleibenden, aber umso folgenreicheren materiellen Kern der deutschen Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht näher herauszuarbeiten und unter Aufweis seiner geschichtlichen Grundlagen bewußt zu machen. Im
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Einleitung
Mittelpunkt steht hierbei die Privatbezogenheit und die damit verbundene Begrenzung des subjektiv-öffentlichen Rechts, die sich als antagonistisches Moment gegenüber der Funktionalisierung des Rechtsschutzes durch das Europarecht erweist: Nach deutschem Verständnis rechtfertigt grundsätzlich nur der Schutz der individuellen Interessen des je einzelnen die Anerkennung subjektiver Rechte. Erwägungen zur allgemeinen Durchsetzung des Rechts werden demgegenüber als Kriterium gerade ausgeschlossen. Erstaunlicherweise ist diese innere Beschränkung der Lehre vom subjektiv-Öffentlichen Recht auf den Privatschutz bisher kaum aufgearbeitet. Das subjektiv-öffentliche Recht wird regelmäßig nur unter der Perspektive der schrittweisen Entfaltung der Subjektstellung des Bürgers gegenüber der Staatsgewalt thematisiert und von daher insbesondere gerichtet gegen die Schutznormtheorie - zum Teil auch als unzureichend kritisiert, jedoch wird es kaum je auf die beschränkende Kehrseite dieses Ausgangspunkts hin befragt. Daß der Individualschutz nach subjektivrechtlicher Tradition nicht nur ein wichtiges, sondern grundsätzlich auch das einzige Kriterium ist, das subjektive Rechte legitimieren kann, blieb so in seiner Bedeutung noch weitgehend unreflektiert. Gerade hierin liegt jedoch letztlich der materielle Kern der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht und zeigt sich, daß diese Lehre, weit mehr als ein prozessrechtliches Kriterium zur Realisierung der Subjektstellung des einzelnen, eine grundsätzliche Aussage zu dem Verhältnis von Bürger und Verwaltung bzw. Staat trifft. Zugleich spiegelt sich eben hierin auch eine spezifische deutsche Tradition. Wenn das Europarecht durch die Funktionalisierung individueller Befugnisse für die Durchsetzung des Gemeinschaftsinteresse hieran rührt, reißt es folglich einen weiten Horizont auf: Das Modell der Mobilisierung des Bürgers für die Effektivierung des Gemeinschaftrechts verlangt nicht nur nach einer Besinnung auf das Staat-Bürger-Verhältnis im Bereich des Gemeinschaftrechts und nach Transformation der diesbezüglichen Vorgaben in das deutsche Recht, sondern enthält zugleich eine Anfrage an das deutsche Verwaltungsrecht selbst. Wieweit trägt die Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht mit ihrer Grundbestimmung des Staat-Bürger-Verhältnisses noch? Kann die Mobilisierung des Bürgers als allgemeines Modell für eine effektivere Rechtsdurchsetzung auch in das deutsche Verwaltungsrecht aufgenommen werden? Die Arbeit gliedert sich in drei Hauptteile. In einem knappen ersten Hauptteil wird die zum Ausgang genommene europarechtliche Entwicklung, Bürger als Sachwalter des Gemeinschaftsrechts zu funktionalisieren bzw. zu mobilisieren, genauer nachgewiesen. Zu zeigen ist, daß hierbei schon das allgemeine Interesse an der Effektivität des Gemeinschaftsrechts die treibende Kraft bei der Zuerkennung individueller Befugnisse darstellt und gegenüber dem Anliegen, einzelnen Bürgern den Schutz ihrer Individualbelange zu gewährleisten, verselbständigt ist. Die hierbei in den Blick zu nehmenden Bereiche liegen
Einleitung dabei dogmatisch freilich auf ganz verschiedenen Ebenen und sind für sich betrachtet politisch wie rechtlich von je eigenen Problemlagen dirigiert. Eine Würdigung dieser verschiedenen Rechtskomplexe als solcher ist vorliegend weder möglich noch sinnvoll. Der Analyse geht es allein darum zu zeigen, welche Funktion im Europarecht den Individualbefugnissen beigemessen wird und welche Vorstellung von der Stellung des Bürgers gegenüber der Exekutive sich hierin verbirgt. Diesbezüglich aber macht gerade der Querschnitt durch die verschiedenen Bereiche in einer über die gängigen Darstellungen hinausgehenden Weise erkennbar, daß sich die verschiedenen Einzelaspekte zu einer kohärenten und als Konzept zu begreifenden Entwicklung zusammenfügen. Der zweite Hauptteil wendet sich der deutschen Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht zu. Die zentrale Fragestellung gilt dabei, wie dargelegt, deren Individualbezogenheit, mit der sie einen vom Europarecht grundsätzlich verschiedenen Ausgangspunkt im Verständnis individueller Befugnisse bezieht. Ein wesentlicher Schwerpunkt der Untersuchung liegt hier zunächst darin, die - trotz zahlreicher historischer Abrisse bisher noch nicht herausgearbeitete Bedeutung der prinzipiellen Individualbezogenheit unter den geschichtliche Bedingungen des deutschen Konstitutionalismus zu verstehen (I.). Mit ihr nämlich fügte man das subjektiv-öffentliche Recht, wie zu zeigen sein wird, in das konstitutionelle Schisma von Krone und Bürgertum paßgerecht ein: Die Bürger beanspruchten nur die Sicherheit ihrer individuellen Sphäre, während die Realisierung der öffentlichen Interessen demgegenüber als Sache allein der Exekutive und damit der Krone hingestellt werden konnte, die die Bürger nichts anzugehen hatte. Eine Grundstruktur des 19. Jahrhunderts gerann so zu verwaltungsrechtlicher Dogmatik. Unabweislich war damit der Individualbezug auch mehr als ein rechtspraktisches Kriterium für die Einforderbarkeit von Gesetzen, sondern bildete den substantiellen Kern der Figur des subjektiv-öffentlichen Rechts, die mithin auch für den Gesetzgeber als maßgeblich angesehen wurde. Die ihr zugrundeliegende Grundbestimmung zum Staat-BürgerVerhältnis Schloß gerade eine Anerkennung des Bürgers als Anwalt des Rechts gezielt aus. Im Anschluß an diese historischen Darlegungen ist in knapper Form aufzuzeigen, daß dieses Grundverständnis bis heute die Dogmatik des subjektivöffentlichen Rechts prägt und ein zwar weithin nicht voll bewußtes, aber in den Emanationen doch bestimmendes Begriffselement geblieben ist (II.). Trotz erheblicher Weiterungen in praktischer Hinsicht wird bis heute - und zwar ganz überwiegend auch in der gegenüber der Rechtsprechung oft kritischen Literatur - allein der Individualschutz als legitimes Kriterium subjektiver Rechte angesehen und die allgemeine Funktion der Rechtsverwirklichung als verbotene, zumindest aber irrelevante Perspektive ausgeschieden. Daß sich hierbei freilich auch Brüche ergeben, kann nicht verwundern. Auch sie sind
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Einleitung
vielfach bereits im 19. Jahrhundert grundgelegt, und bereits G. Jellinek mußte die Spannungen, die seiner Lehre anhafteten, mit der Hilfskonstruktion des bloß formell subjektiven Rechts überbrücken. Die subjektivrechtlich tradierte Definition des Staat-Bürger-Verhältnisses ist dabei, ihrem Fundamentalcharakter entsprechend, weit tiefer im heutigen Verwaltungsrecht verwurzelt, als die überwiegend der Rechtsanwendung geltenden Kontroversen zum subjektiv-öffentlichen Recht glauben lassen; sie bestimmt - was freilich nur exemplarisch gezeigt werden kann - durchgehend schon die positivrechtliche Ausgestaltung des Verwaltungsrechts selbst (III.). Greifbar wird dies insbesondere in den überwiegend individualzentrierten Vorschriften der Verwaltungsverfahrensgesetze, die auch anderweitig regelmäßig nicht durch Sachwalterbefugnisse ergänzt werden und die Beziehung der Bürger zur Verwaltung insgesamt prägen. Sie hinterläßt darüberhinaus ihre Spuren in Form suchender und zum Teil gewundener Diskussionen aber auch dort, wo sich Befugnisse mit der Alternative von Privatschutz und demokratisch-legitimationsstiftender Mitwirkungsbefugnis nicht mehr angemessen erfassen lassen. Die Auseinandersetzungen um die Bürgerbeteiligung im Planungsrecht oder um das Petitionsrecht erhalten so ein neues Schlaglicht. Darzulegen ist hier auch, daß die Grundrechtsdogmatik - bei allen Neuerungen und trotz der Annahme sogenannter „objektiv-rechtlicher" Grundrechtsgehalte - gleichfalls dem subjektivrechtlichen Prinzip, wie es hier verstanden ist, verpflichtet bleibt. Der dritte Hauptteil führt dann die europarechtlichen und die dem deutschen Recht geltenden verwaltungsrechtswissenschaftlichen Stränge zusammen und vertieft sie durch einen auf Frankreich bezogenen rechtsvergleichenden Teil. Zunächst werden dabei der deutsche und der europarechtliche Ansatz gegenübergestellt und ihre Differenz - trotz des in praktischer Hinsicht erheblichen Konvergenzpotentials - als eine grundsätzliche Herausforderung an das deutsche Verwaltungsrecht deutlich gemacht (I.). Die anschließende Untersuchung zum französischen Verständnis der Stellung des Bürgers gegenüber der Verwaltung soll hierbei zu einem präziseren Verständnis des europäischen Konzepts und seiner Herkunft führen (II.). Sie erweist zugleich, daß mit dem Verweis auf Frankreich der Herausforderung deren Spitze nicht genommen ist. Denn das französische Verständnis ist in dem hierbei entscheidenden Punkt, der Stellung der Exekutive, von historisch gewachsenen und verfassungsstrukturell fortdauernden Grundlagen unterfangen, die weder in Deutschland noch auf europäischer Ebene gegeben sind. Die Arbeit schließt mit einem kurzen Aufriß theoretisch-dogmatischer Perspektiven für die Aufnahme der europäischen Impulse in das deutsche Verwaltungsrecht und einem rechtspolitischen Ausblick (III.). Es erscheint an der Zeit, die - in praktischer Hinsicht längst aufgebrochene - Enge des subjektivrechtli-
Einleitung chen Prinzips auch theoretisch abzuarbeiten und die Stellung des Bürgers gegenüber der Verwaltung nicht allein mehr vom Individualschutz her zu bestimmen. Denkbar ist heute insoweit auch die Anerkennung eines status procuratori des Bürgers. Der damit freiwerdende Weg, der freilich nur in Wechselwirkung von Rechtswissenschaft und Gesetzgebung beschritten werden kann, eröffnet rechtspolitisch erhebliche Möglichkeiten. In manchen Bereichen wird er der Verwaltungswissenschaft neue, funktionsadäquate Lösungsansätze bieten können, um die Geltungskraft des Rechts zu stärken. Es darf dabei aber nicht übersehen werden, daß hier an einer empfindlichen Schraube gedreht wird: Mit der Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Rechts steht nicht zuletzt der Grad der Politisierung der Gesellschaft in Frage.Verstanden als bedenkenlos einzusetzendes Patentrezept ist einer Mobilisierung der Bürger gegenüber insofern Skepsis angezeigt. Es bedarf vielmehr differenzierender Entscheidungen, die auf den jeweiligen Sachzusammenhang bezogen sind. Dann allerdings birgt die durch das europäische Recht notwendig gewordene Perspektivenerweiterung neue Chancen.
2 Masing
Teil 1 Die Mobilisierung des Bürgers durch das Europarecht „Le droit sans l'État" 1 lautet provokant der Titel, auf den sich Cl.-D. Ehlermann, Sprecher und ehemaliger Generaldirektor des Juristischen Dienstes der Kommission der Europäischen Gemeinschaft, bezieht, wenn er sein Konzept zur dezentralen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in den Mitgliedstaaten erläutert 2. Tatsächlich läßt sich in der Widersprüchlichkeit dieses Titels ein Problem europäischen Rechts spiegeln: Die Europäische Gemeinschaft setzt einerseits Rechtsnormen, die ihrem Umfang wie ihrer Differenziertheit nach eine hohe Regelungsintensität aufweisen und - ausgehend vom Wirtschaftsrecht - für immer weitere Lebensbereiche Geltung beanspruchen. Anderseits verfügt sie für deren Um- und Durchsetzung nur über ein sehr schwaches Instrumentarium. Der Gemeinschaft fehlt vom Grundsatz her ein eigener Exekutivapparat, und insbesondere auch die Kommission ist weder in der Lage noch dazu bestimmt, die Anwendung des Gemeinschaftsrechts auch nur annähernd sicherzustellen. Zuständig sind insoweit vielmehr die Mitgliedstaaten. Diese aber sind von ganz verschiedenen Traditionen und Voraussetzungen geprägt, die durch eine bundesstaatliche Homogenität zur Zeit nicht überwölbt sind, und haben daher ein im Einzelfall sehr unterschiedlich ausgeprägtes Interesse an der Durchsetzung dieser Normen. Das Vollzugsdefizit ist ein ständiges Problem des europäischen Rechts. Angesichts dieser Schwierigkeiten hat die Europäische Union einen neuen Weg entdeckt. Um mit ihren Regelungen und Direktiven in die Rechtswirklichkeit der verschiedenen Mitgliedstaaten vorzudringen und so die Steuerungsund Durchsetzungsfähigkeit der Gemeinschaft zu stärken, setzt sie auf die Gemeinschaftsbürger als einzelne. Durch ihre Mobilisierung soll eine effektivere Umsetzung des Gemeinschaftsrechts sichergestellt werden. Selbstverständlich wird das Recht dabei nicht zum Recht ohne Staat. Die Mobilisierung der Bürger setzt vielmehr effektive staatliche Strukturen voraus, die zum einen
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L. Cohen-Tanugi, Le droit sans l'État.
Cl.-D. Ehlermann, Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts durch die Mitgliedsstaaten, Festschrift für P. Pescatore, S. 205, 217; es handelt sich bei diesem Aufsatz, worauf Ehlermann hinweist, freilich nur um eine private wissenschaftliche Äußerung.
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Teil 1 : Die Mobilisierung des Bürgers durch das Europarecht
den kanalisierenden Rahmen abgeben und zum anderen auch Entscheidsinstanzen bereitstellen, welche die Beanstandungen der Bürger aufnehmen und verbindlich umsetzen können. Jedoch versucht man, durch die Verleihung bzw. Einforderung individueller Einzelbefugnisse des Bürgers die Hemmnisse und Widerstände, die sich auf gesamtstaatlicher Ebene bei der Umsetzung des Rechts in den Mitgliedstaaten ergeben, zu reduzieren. Indem unmittelbar der einzelne Bürger direkt in bezug auf die konkrete Rechtsanwendung die Beachtung des europäischen Rechts einfordern können soll, soll das bremsende Potential, das die Einzelstaaten als national radizierte politische Handlungs- und Entscheidungseinheiten bei der Umsetzung noch einmal entwickeln, unterlaufen werden. In Fragen, die europarechtlich entschieden sind, soll die Möglichkeit staatlich-zentraler Steuerung zu Lasten des Gemeinschaftsrechts durch eine dezentral und im Einzelfall wirkende Einforderung des Rechts seitens einzelner Bürger abgeschnitten werden. Die Relativierung nationalstaatlicher Steuerung durch Dezentralisierung bzw. Privatisierung ist dabei sicher überhaupt ein übergreifendes Merkmal des europäischen Rechts wie, weiter noch, europäischer Politik. Sie entspricht der Genese der Europäischen Union und ihrer Ausrichtung an den Regeln des freien Marktes als weithin maßgeblichem Prinzip. Dies soll im folgenden freilich nicht schon als solches Gegenstand der Betrachtung sein. Die Mobilisierung der Bürgers für die Durchsetzung des Rechts, wie sie hier von Interesse ist und für das subjektivrechtliche Verständnis des deutschen Verwaltungsrechts Bedeutung hat, betrifft allein die gezielte Einbindung der Bürger in die Durchsetzung des Rechts durch Verleihung individueller Befugnisse und das hierin zum Ausdruck kommende Verhältnis von Bürger und Verwaltungsbehörden 3. Zuerst werden dabei die - ganz verschieden ausgeprägten - Entwicklungen dargestellt 4, in denen solche Ansätze Platz greifen oder zumindest erkennbar 3 Außer Betracht bleiben in vorliegender Arbeit daher insbesondere auch Ansätze, die eine Heranziehung Privater zur Gewährleistung effektiverer Normdurchsetzung dergestalt vorsehen, daß private Unternehmen zu Maßnahmen der Selbstkontrolle animiert bzw. angehalten werden wie etwa durch Vorgaben zur betriebsinternen Organisation (z.B. die Verpflichtung zur Bestellung eines Betriebsbeauftragten für den Immissionsschutz gem. § 53 ff. BImschG); vgl. hierzu M. Reinhardt, Die Überwachung durch Private, AöR 118 (1993), S. 617 ff. m.w.N.; auch die Übertragung konkreter Aufgaben der staatlichen Verwaltung auf einzelne ist nicht Gegenstand der vorliegenden Untersuchung; vgl. hierzu etwa F. Ossenbühl und H.-U. Gallwas, Die Erfüllung von Verwaltungsaufgaben durch Private, VVDStRL 29 (1971), S. 137 ff. bzw. 211 ff. 4
Die Darstellung dieser Entwicklungen steht allein unter der Perspektive der Funktionalisierung und Mobilisierung der Bürger für die Durchsetzung des Rechts. A u f eine Würdigung der hierbei in den Blick zu nehmenden europarechtlichen Figuren daraufhin, ob sie (z.B. die Direktwirkung von Richtlinien oder die Grundsätze der Staatshaftung) von Kompetenzen der Gemeinschaft gedeckt und auch sonst überzeugend begründet sind, kommt es nicht an und muß vorliegend verzichtet werden.
I. Die Einbeziehung des Bürgers in die Verwaltung
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sind (I.). Anschließend ist zu zeigen, daß sich hierhinter ein auch in der Literatur ausdrücklich befördertes Konzept verbirgt (II.).
I. Die Einbeziehung des Bürgers in die Verwaltung 1. Die Kontrolle der Verwaltung durch den Bürger als Teil der Öffentlichkeit Auf einer ersten Ebene werden die Bürger als Öffentlichkeit in den Vollzug des Verwaltungsrechts einbezogen. In allgemeiner Form ist dies seit jeher Praxis. Informationen über den Zustand insbesondere der Umwelt sowie über die diesbezüglich ergriffenen bzw. zu ergreifenden Maßnahmen gehören seit langem zu den Selbstverständlichkeiten europäischer Politik. Eingeführt ist hierbei insbesondere das zweistufige Verfahren, wie es zum Beispiel in der Richtlinie über die Qualität der Badegewässer vorgesehen ist 5 : Die Mitgliedstaaten leiten der Kommission bestimmte Informationen zu, die später von dieser in Form eines Berichtes, der zuvor der Zustimmung der Mitgliedstaaten bedarf, der Öffentlichkeit unterbreitet werden. Mit der Verordnung zur Errichtung einer Europäischen Umweltagentur und eines Europäischen Umweltinformationsund Umweltbeobachtungsnetzes ist dieses Verfahren für die Umweltpolitik generalisiert worden, wobei hier die Agentur alle drei Jahre auch eigene Berichte zu fertigen hat 6 . Auch eine Berichtspflicht der einzelnen Mitgliedstaaten selbst kennt das Europarecht, wie etwa in Art. 12 Abs. 2 der Richtlinie über giftige und gefährliche Abfälle zu finden. In all diesen Fällen soll die Publizierung der entsprechenden Sachverhalte diese als ein von der Politik erkanntes Problem ausweisen und der öffentlichen Diskussion zur Stellung- und Einflußnahme unterbreitet werden 7. 5
Art. 13 der RiL des Rates vom 8. 12. 1975 (76/160/EWG), AB1EG vom 5.2.1976 Nr. L 31/1; ähnlich etwa Art. 16 der RiL 78/659/EWG, AB1EG 1978 L 222,1; Art. 7 f. der RiL 80/779/EWG, AB1EG 1980 L 229/30 (eine Sammlung der europäischen Normen zum Umweltrecht findet sich in Storm/Lohse (Hg.), EG-Umweltrecht); vgl. hierzu auch Ch. Demmke, Die EG-Informationsrichtlinie, in: Umweltschutz durch Umweltinformation, S. 33, 57 ff.; M. von Schwanenflügel, Das Öffentlichkeitsprinzip, DVB1. 1991, S. 93, 96. 6 Art. 2 Abs. 6 und Art. 6 der Verordnung des Rates vom 7. 5. 1990 (1210/90/ EWG), AB1EG 1990 L 120/1. 7
Damit sind Ziel und Funktion solcher Publizierungen selbstverständlich nicht erschöpft; sie dienen gleichermaßen und unter Umständen auch primär etwa der zwischenstaatlichen Verständigung, schlichtweg der Transparenz der Verwaltung oder auch als programmatische Vorgabe. A u f solche Aspekte kommt es vorliegend jedoch nicht an.
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Teil 1 : Die Mobilisierung des Bürgers durch das Europarecht
In dieser Form ist das allerdings noch nicht besonders erwähnenswert und selbstverständlich auch dem deutschen Recht vertraut. Auch dieses kennt Berichte und Berichtspflichten staatlicher Stellen und hat insbesondere in den mit einer gewissen Behördendistanz verfaßten Berichten des Wehrbeauftragten oder des Datenschutzbeauftragten ein wirksames Instrument zur Sensibilisierung der Öffentlichkeit geschaffen. Das Europarecht legt auf eine solche Einbeziehung der Öffentlichkeit möglicherweise - nicht selten vielleicht nur aus Mangel an weiterreichenden Handlungskompetenzen - einen größeren Akzent 8 , fügt sich dabei aber zunächst nur in die elementaren Strukturvoraussetzungen moderner Staatlichkeit9: Angestoßen wird ein Kommunikationsprozeß zwischen politisch Handelnden und dem Volk in bezug auf allgemeine Zustände und die insoweit einzuschlagende Politik, der die Bürger in ihrer Allgemeinheit als demokratische Öffentlichkeit anspricht 10 . Letztlich geht es insoweit um das Gelingen demokratischer Repräsentation 11, um „responsiveness" 12 im politischen Prozeß 13 . Tendenziell anders und in vorliegendem Zusammenhang von Interesse wird dies jedoch dann, wenn Informationen nicht mehr nur der generellen Publizierung allgemeiner Problembereiche, sondern der differenzierten Offenlegung auch von Umständen der einzelnen Verwaltungsentscheidungen dienen und unter Umständen mit individuellen Auskunftsansprüchen verbunden werden 14 . Hier geht es nicht mehr nur um die demokratischallgemeinpolitisch bezogene Auseinandersetzung zwischen Repräsentanten und Repräsentierten um die richtige Politik, sondern um Einfluß auch auf die Verwaltung bei der Umsetzung der politischen Grundentscheidungen im Einzelfall. Den Bürgern - und nun nicht mehr allen in gleicher Weise, sondern entsprechend der jeweiligen Näheverhältnisse - wird hierdurch eine Kontrollfunktion
8 Vgl. hierzu demnächst W. Kahl, Der europarechtlich determinierte Verfassungswandel, in: Herausforderungen an das Recht der Informationsgesellschaft (noch nicht erschienen). 9
Vgl. hierzu nur H. Hill, Staatskommunikation, JZ 1993, S. 330 ff. m.w.N.
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A u f die Frage, ob insoweit von einer europäischen Öffentlichkeit die Rede sein kann oder ob es insoweit jedenfalls bisher nur die separaten Öffentlichkeitsstrukturen auf der Ebene der Nationalstaaten gibt, kommt es vorliegend nicht an. 11
Vgl. nur E.-W. Böckenförde, HbStR, Bd. 2, § 30, Rn. 19 ff.
Demokratische Willensbildung und Repräsentation,
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So etwa H. Elau/P.D. Karps, The Puzzle of Representation, in: Legislative Studies Quarterly 2 (1977), S. 233 ff.; vgl. auch H. Uppendahl, Repräsentation und Responsivität, ZParl. 1981, S. 123 ff. 13
Vgl. ähnlich auch die Diskussion um den Akzeptanzbegriff, Th. Würtenberger, Akzeptanz durch Verwaltungsverfahren, NJW 1991. S. 257 ff.; ders., Die Akzeptanz, S. 64 ff.; zur Rückkopplung der Rechtserzeugung vgl. weiter auch ders., Zeitgeist und Recht, S. 192 ff. 14
Zu dieser Unterscheidung siehe auch unten Teil 2 III. 1. a) und Teil 3 III. 2. b).
I. Die Einbeziehung des Bürgers in die Verwaltung
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zugeschrieben, die eigene Beachtung verdient. Neben den nur kurz zu erwähnenden Ansätzen in der Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung (a) und der Öko-Audit-Verordnung (b) ist hier besonders die Umweltinformationsrichtlinie in den Blick zu nehmen (c).
a) Die Öffentlichkeitsbeteiligung
in der UVP-Richtlinie
Für die Einbeziehung der Bürger in die Verwaltung ist zunächst die Richtlinie über die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP-Richtlinie) zu erwähnen 15 . In Art. 6 der Richtlinie ist für alle umweltbedeutsamen Planungs- bzw. Genehmigungsverfahren, die die Richtlinie einer Umweltverträglichkeitsprüfung unterstellt, unter anderem eine obligatorische Öffentlichkeitsbeteiligung vorgesehen. Danach sind die Bürger i m Rahmen des Prüfungsverfahrens über die in Frage stehenden Projekte zu informieren und mit etwaigen Einwendungen zu hören. Primärer Zweck ist dabei weniger ein vorgelagerter Individualrechtsschutz 1 6 , sondern die bessere Absicherung der Entscheidung als solcher, das heißt deren Optimierung und Effektivierung 17 . Der Öffentlichkeit soll Gelegenheit gegeben werden, „ihre Meinung zu äußern und konstruktiv an der Aktion der Behörde teilzunehmen" 18 . Die Bürger werden hier in einem advokatorischen Sinne als Beteiligte an einer guten Verwaltung verstanden. Eine nähere Auseinandersetzung mit diesen Vorschriften ist hier nicht erforderlich, sondern es kann mit einigen Hinweisen sein Bewenden haben. Denn es handelt sich insoweit nicht um eine Eigenheit des Europarechts, und strukturelle Schwierigkeiten, wie sie die UVP-Richtlinie dem deutschen Recht ander-
15 Richtlinie des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (85/337/EWG), AB1EG 1985, L 175/40. 16 Vgl. J. Cupei, Umweltverträglichkeitsprüfung, Erl. Art. 6 Rn. 11; W Erbguth/ A. Schink, Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung, § 9 Rn. 10; vgl. auch unten, zu den Modalitäten der Öffentlichkeitsbeiteiligung im Sinne der Richtlinie; das Gewicht der individualschützenden Funktion der Richtlinie ist dabei umstritten, vgl. insoweit auch Th. Bunge, Umweltverträglichkeitsprüfung, S. 27. 17 J. Wagner, in: Hoppe (Hg.), UVP-Gesetz, § 9 Rn. 5; A. Weber, Die Umweltverträglichkeitsrichtlinie, S. 198 f.; für die Bedeutung der Vorschriften im deutschen Recht auch Th. Bunge, a.a.O, S. 27; skeptisch gegenüber der Wirksamkeit solcher Öffentlichkeitsbeteiligung R. Steinberg, Die Einfügung einer Umweltverträglichkeitsprüfung, NuR 1983, S. 169, 176; zum Verständnis der Beteiligungsvorschriften im deutschen Verwaltungsrecht siehe unten Teil 2 III. 1. b). 18
Begründung des EG-Richtlinienentwurfs, BR-Drs. 413/80, S. 13 f.
24
Teil 1 : Die Mobilisierung des Bürgers durch das Europarecht
weitig bereitet 19 , etwa ein neues Verständnis der Stellung des Bürgers gegenüber der Verwaltung, liegen hierin nicht. Eine Einbeziehung der Öffentlichkeit im Vorfeld von Entscheidungen mit großflächigen Auswirkungen, insbesondere von den gesetzlich nur grob determinierten Planungsentscheidungen ist vom Prinzip her dem deutschen Verwaltungsrecht wohlbekannt. Bemerkenswert ist aber doch, daß die Europäische Gemeinschaft mit dieser Richtlinie immerhin Vorgaben macht, die in ihrer Art, eben weil sie die Bürger als advokatorische Sachwalter nicht nur privater, sondern auch öffentlicher Belange in konkrete Verwaltungentscheidungen einbeziehen, als Ausdruck der Modernität des Verwaltungsrechts gelten und deren Einordnung in das klassische Verwaltungsrecht in Deutschland mühsame Diskussionen verursacht hat 2 0 . Gerade diesbezüglich holt die Gemeinschaft mit einem Schlag nicht nur einen Großteil dieser Errungenschaften ein, sondern läßt sie zum Teil noch als ungenügend erscheinen. Anders als man zunächst nämlich meinte 21 , waren bei Erlaß der Richtlinie noch keineswegs all die Bereiche, in denen die UVP-Richtlinie eine Öffentlichkeitsbeteiligung fordert, durch entsprechende Vorschriften des deutschen Verwaltungsrechts abgedeckt. In manchen Bereichen mußte durch Umsetzungsgesetz22 den europarechtlichen Anforderungen erst genüge getan werden. Beispiele hierfür sind etwa die bedeutsamen Änderungen des Wasserhaus-
19 Für einen Überblick vgl. etwaA Bleckmann, Die Umweltverträglichkeitsprüfung von Großvorhaben im Europäischen Gemeinschaftsrecht, WiVerw 1985, S. 86 ff.; W. Erbguth, Das UVP-Gesetz des Bundes, Die Verwaltung 24 (1991), S. 283 ff.; U. Hellmann/A. Weber, UVP-Gesetz, NJW 1990, S. 1625; HD. Jarass, Die Umsetzung der EG-Richtlinie, KritV 1991, S. 7 ff.; zu Problemen etwa im Bereich des Immissionschutzes vgl. etwa W. Erbguth/A. Schink, Die Umweltverträglichkeitsprüfung, DVB1. 1991, S. 413 ff.; H.D. Jarass, Umweltverträglichkeitsprüfung, S. 29 f f ; M. Rebentisch, Die Neuerungen im Genehmigungsverfahren, NVwZ 1992, S. 926 ff.; zu Problemen im Baurecht G. Gaentzsch, Bauleitplanung und Baugenehmigungspraxis, NuR 1990, S. 1 ff.; J. Schroer, Umweltverträglichkeitsprüfung im Bauplanungsrecht, S. 90 ff.; als Beispiel für die grundsätzlich-strukturellen Probleme der Einwirkung des Europarecht auf das deutsche Verwaltungsrecht thematisiert die UVP-Richtlinie eindringlich R. Breuer, Entwicklungen des europäischen Umweltrechts, S. 51 ff. Insgesamt ist die Literatur zu den mit der Richtlinie verbundenen Problemen kaum überschaubar - allein an unselbständiger Literatur geben die Juris-Datenbanken schon 320 Titel zum Schlagwort „Umweltverträglichkeitsprüfung" an. 2 0
Siehe unten Teil 2 III. 2. b).
21
Hierzu J. Cupei, Umweltverträglichkeitsprüfung, S. 236 ff., 272; H.D. Jarass, Grundstrukturen, NuR 1991, S. 201. 2 2 Vgl. das Gesetz zur Umsetzung der Richtlinie des Rates vom 27. Juni 1985 über die Umweltverträglichkeitsprüfung bei bestimmten öffentlichen und privaten Projekten (85/337/EWG) vom 12. Februar 1990, BGBl. I, S. 205, das als Artikelgesetz nicht nur das Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung (Art. 1) eingeführt hat, sondern auch zahlreiche andere Bestimmungen geändert hat; zur Entstehungsgeschichte vgl. etwa W Erbguth/A. Schink, Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung, S. 21 ff.
I. Die Einbeziehung des Bürgers in die Verwaltung
25
haltsgesetzes in bezug auf die Erteilung wasserrechtlicher Zulassungen 23 , die den Anwendungsbereich der Öffentlichkeitsbeteiligung erheblich erweitern. R. Wahl kommentiert die Wirkung der Richtlinie - seinerseits bezogen vor allem auf die Konsequenzen für das Raumordnungsrecht 24 - insoweit: „Die Vorschriften über die Öffentlichkeitsbeteiligung der Richtlinie treffen auf ein differenziertes Arsenal des deutschen Verwaltungsrechts über Betroffenen-, Interessenten- und Jedermannsbeteiligungen .... Es ist ein höchst bemerkenswerter Umstand, daß das deutsche Verwaltungsrecht aus seinem Selbstverständnis und vielleicht aus seiner Selbstzufriedenheit über den erreichten ... Gesamtzustand bei diesen Vorschriften ... aufgeschreckt und aufgestört worden ist." 2 5 Auch in einzelnen Modalitäten läßt die Richtlinie erkennen, daß das europäische Konzept eher ein weites ist und sich unbedenklicher als das deutsche von der individualbezogenen privatschützenden Funktion der Bürgerbeteiligung gelöst hat. So sieht Art. 6 Abs. 2 der Richtlinie vor, daß jedenfalls die erste Stufe der Bürgerbeteiligung, die Veröffentlichung der Genehmigungsanträge nebst zugehöriger Informationen, der Kenntnisnahme nicht nur der Betroffenen sondern der Öffentlichkeit überhaupt gilt. Die Vorschriften zur Auslegung im Planfeststellungsverfahren, wie sie in den deutschen Verwaltungsverfahrengesetzen als Grundmuster geregelt sind 2 6 , gelten demgegenüber allein der Einsichtnahme der Betroffenen 27 . Für die zweite Stufe der Einwendungsbe2 3 Vgl. Art. 5 UVP-UG; § 7 Abs. 1, §§ 9, 18c, 19 b Abs. 3 und § 31 Abs. 1 WHG; hierzu W. Habel, Wasserrecht und Umweltverträglichkeitsprüfung, BWVPr 1990, S. 97 ff.; HD. Jarass, Grundstrukturen, NuR 1991, S. 201, 202; G.-M. Knopp, Die Umweltverträglichkeitsprüfung, NuR 1993, S. 401 ff. 2 4 Vgl. hierzu auch W. Erbguth, Thesen zur Einbindung der Umweltverträglichkeitsprüfung, DVB1. 1987, S. 827 ff.; ders., Die Regelung des Raumordnungsverfahrens, UPR 1992, S. 287 ff.; M Krautzberger, Die Berücksichtigung der Forderungen nach Umweltverträglichkeitsprüfung, UPR 1992, S. 1 ff.; A. von Mutius, Umweltverträglichkeitsprüfung, BayVBl. 1988, S. 641 ff. und 678 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Thesen zur Einbindung der Umweltverträglichkeitsprüfung, DVB1. 1987, S. 826 f.; R. Steinberg, Rechtsfragen der raumordnerischen Umweltverträglichkeitsprüfung, DÖV 1992, S. 321 ff.; R. Wahl, Das Raumordnungsverfahren am Scheideweg, Festschrift für H. Sendler, S. 199 ff.; S. Wickrath, Die Öffentlichkeitsbeteiligung, DVB1. 1992, S. 998 ff. 2 5 R. Wahl, Thesen zur Umsetzung der Umweltverträglichkeitsprüfung, 1988, S. 86.
DVB1.
2 6
Vgl. § 73 Abs. 3 VwVfG; dies ist freilich nur das Grundmuster; in manchen Bereichen kennt auch das deutsche Verwaltungsrecht eine Popularbeteiligung, siehe hierzu näher unten Teil 2 III. 2. b). 2 7 HJ. Bonk, in: Stelkens/Bonk/Leonhardt, VwVfG, § 73 Rn. 24; F.O. Kopp, VwVfG, § 73 Rn. 17. Das Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung hat diese Unstimmigkeit nicht, jedenfalls nicht ausdrücklich beseitigt; insofern ist zumindest eine
26
Teil 1 : Die Mobilisierung des Bürgers durch das Europarecht
fugnis dann stellt zwar auch die UVP-Richtlinie nur auf die „betroffene Öffentlichkeit" a b 2 8 . Aber auch insofern soll nach verbreiteter Ansicht von einem weiten, nicht über Rechtsbeziehungen definierten Verständnis auszugehen sein, das etwa Naturschutz- und Umweltverbände einschließt 29 . Sicher, dies sind Details, und es bleibt festzuhalten, daß die Öffentlichkeitsbeteiligung der UVP-Richtlinie nicht neuartig ist. Insbesondere bleibt sie auf ein Genre von Entscheidungen beschränkt, dem eine Bürgerbeteiligung nach deutschen Recht vertraut ist. Sichtbar wird aber doch schon hier, daß den europarechtlichen Vorstellungen eine Einbeziehung von Bürgern in Verwaltungentscheidungen auch unabhängig von deren Individualschutz geläufig und unproblematisch zu sein scheint. Wie selbstverständlich etabliert das Europarecht hier die Bürger als kritisch teilhabende Öffentlichkeit an einzelnen, freilich hier nur bestimmten großflächig bedeutsamen, Entscheidungen der Verwaltung.
b) Die Öffentlichkeit
in der Öko-Audit-Verordnung
Begleitet von einer eingehenden Diskussion im Schrifttum hat der Rat im Juni 1993 als neues Instrument des Umweltschutzes die lang erwartete ÖkoAudit-Verordnung verabschiedet 30 . Erreicht werden soll mit dieser Verordnung eine eigenverantwortliche, ausdrückliche Festlegung einer betrieblichen Umweltpolitik durch die dem System angeschlossenen Unternehmen, die Bewertung dieser Politik bzw. ihrer Umsetzung in Form einer regelmäßigen europarechtskonforme Auslegung des § 73 Abs. 3 iVm. § 9 UVPG geboten, vgl. W. Erbguth/A. Schink, Gesetz über die Umweltverträglichkeitsprüfung, § 9 Rn. 9; krit. auch W. Erbguth, Der Entwurf eines Gesetzes über die Umweltverträglichkeitsprüfung, NVwZ 1988, S. 969, 974; H.D. Jarass, Auslegung und Umsetzung, S. 52; ders., Grundstrukturen, NuR 1991, S. 201, 205; H. Spiecker, UVP-Gesetz, BayVBl. 1988, S. 557, 558. 28 Sogenannte „Trichterfunktion", vgl. J. Cupei, Umweltverträglichkeitsprüfung, DVB1. 1985, S. 813, 818; A. von Mutius, Umweltverträglichkeitsprüfung, BayVBl. 1988, S. 678; A. Weber, Zur Umsetzung der Umweltverträglichkeitsrichtlinie, UPR 1988, S. 206,211. 29 J. Cupei, Umweltverträglichkeitsprüfung, Erl. Art. 6 Rn. 11; A. von Mutius, Umweltverträglichkeitsprüfung, BayVBl. 1988, S. 678, 680; A. Weber, ebd., S. 224 ff.; G. Winter, Die Vereinbarkeit des Gesetzentwurfs, NuR 1989, S. 197; a.A. J. Wagner, in: Hoppe (Hg.), UVP-Gesetz, § 9 Rn. 20; U. Hellmann/A. Weber, UVP-Gesetz, NJW 1990, S. 1625, 1630; eng zum Begriff des Betroffenen auch N. Kollmer, Die verfahrensrechtliche Stellung der Beteiligten, NVwZ 1994, S. 1057,1058. 30
Verordnung des Rates vom 29. Juni 1993 über die freiwillige Beteiligung gewerblicher Unternehmen an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung (1836/93/EWG), AB1EG 1993, Nr. L 168/1.
I. Die Einbeziehung des Bürgers in die Verwaltung
27
„Umweltbetriebsprüfung" sowie die Bereitstellung von entsprechenden Informationen für die Öffentlichkeit (Art. 1 Abs. 2 ) 3 1 . Die Grundsätze, nach denen sich sowohl die Festlegung der Umweltpolitik als auch deren Bewertung zu richten haben, sind dabei in Anhängen zu der Verordnung spezifiziert und standardisiert. In vorliegendem Zusammenhang interessant ist weniger die mit dieser Verordnung verfolgte und oft hervorgehobene Strategie, Unternehmen durch Anreize zu einer freiwilligen Optimierung ihrer Umweltpolitik zu animieren. Bedeutsam ist auch hier wieder nur die Einbeziehung der Öffentlichkeit, die das Öko-Audit-System enthält. Sowohl über die Umweltprüfung nämlich, die gemäß Art. 3 b) bei Eintritt eines Unternehmens in das Überprüfungssystem erstellt wird, als auch über die gemäß Art. 4 dann regelmäßig durchzuführenden späteren Betriebsprüfungen - in reduzierter Form im übrigen auch davon unabhängig einmal im Jahr (Art. 5 Abs. 5) - muß eine Umwelterklärung für die Öffentlichkeit abgegeben werden (Art. 5). Diese Erklärung, die von einem unabhängigen externen Umweltgutachter für „gültig" erklärt werden muß, soll dabei gemäß Art. 5 Abs. 3 unter anderem eine Beschreibung der Tätigkeiten des Unternehmens an dem betreffenden Standort sowie eine Beurteilung von deren Umweltrelevanz erhalten; insbesondere muß es auch eine „Zusammenfassung der Zahlenangaben über Schadstoffemissionen, Abfallaufkommen, Rohstoff-, Energie- und Wasserverbrauch und gegebenenfalls über Lärm und andere bedeutsame umweltrelevante Aspekte, soweit angemessen" umfassen 32. Als Information, die an die Öffentlichkeit adressiert ist, ist dies vom Ansatz her vergleichsweise detailliert. Gegenstand ist nicht - auch nicht im Sinne einer pars pro toto - die Situation der Umwelt als allgemeiner Gegenstand der Umweltpolitik wie in allgemeinen Umweltberichten, sondern die spezifische Situation des jeweiligen konkreten Betriebes. Die Publikation dieser Daten ist ihrem Inhalt nach damit nicht, und jedenfalls nicht primär, darauf angelegt, den Kommunikationsprozeß zwischen Volk und Regierung um die Richtlinien der Umweltpolitik oder eine guten Verwaltung zu unterfüttern; sie gilt vielmehr schon und gerade der Beurteilung der Umweltrelevanz des je einzelnen Unternehmensstandortes. Die Öffentlichkeit wird hier als Ergänzung des Verwaltungsvollzuges herangezogen: Kontrolle durch öffentliche Anteilnahme und
31
Vgl. einführend etwa M. Klopfer, Umweltinformationen durch Unternehmen, NuR 1993, S. 353, 355 ff.; W. Köck, Umweltschutzsichernde Betriebsorganisation, JZ 1995, S. 643 ff.; G. Lübbe-Wolff, Umwelt-Audit, DVB1. 1994, S. 361 ff. 3 2 Zu weitergehenden Vorgaben in Vorentwürfen zur Verordnung vgl. A. Wiehe, Umweltschutz durch Wettbewerb, NJW 1994, S. 289, 293.
28
Teil 1 : Die Mobilisierung des Bürgers durch das Europarecht
Wachsamkeit 33 . Sie wirkt dabei in doppelter Weise auf die umweltrelevanten Entscheidungen ein. Zum einen wirkt sie unmittelbar auf die jeweiligen Unternehmen, die nun nicht umhinkommen, sich vor der Öffentlichkeit in bezug auf die Umweltbelange unternehmenspolitisch zu verantworten, zum anderen auf die Verwaltung, die sich im Rahmen ihrer Überwachungsaufgaben nun auch in bezug auf Einzelentscheidungen öffentlichem Rechtfertigungsdruck ausgesetzt sieht und die Wahl ihrer Maßnahmen auch insoweit bedenken muß. Strukturell angelegt ist dabei zugleich freilich auch, daß die „Öffentlichkeit" der Sache nach nur ein abgegrenzter Kreis von Anteilnehmenden ist, die sich je im Einzelfall nach eher zufälligen Kriterien zur Teilöffentlichkeit formieren. Allerdings ist mit der Einbeziehung der Öffentlichkeit als kritischer Kontrollinstanz nur ein Teilaspekt der Öko-Audit-Verordnung extrapoliert. So deutlich dieser angelegt ist, so schwach ist er doch realisiert und so sehr wird er durch andere Aspekte überlagert. Die anderweitige, zum Teil unentschiedene Ausgestaltung des Öko-Audit-Systems droht vielmehr dieses letztlich doch zahnlos werden zu lassen 34 . Wesentliches Element der Gesamtkonzeption ist nämlich die Idee der Selbststeuerung der Wirtschaft und dabei das Prinzip der Freiwilligkeit 35 . Insofern wird nicht nur die Teilnahme überhaupt an dem ÖkoAudit-System in die freie Entscheidung der Unternehmen gelegt, sondern zu einem weiten Teil letztlich auch der Kontakt zwischen Unternehmen und Öffentlichkeit. So werden sowohl die Betriebsprüfung als auch die Umwelterklärung durch interne Prüfer erstellt, die durch unabhängige Umweltgutachter nur auf die Einhaltung der Entscheidungskriterien hin validiert werden 36 . Die Umwelterklärungen sollen dabei auch nur in „knapper, verständlicher Form"
3 3
Siehe auch W. Köck, Umweltschutzsichernde Betriebsorganisation, JZ 1995, S. 643, 647; 1 Scherer, Umwelt-Audits, NVwZ 1993, S. 11, 15; A. Wiehe, ebd., S. 294. 3 4
Zu den Schwächen der Verordnung vgl. M. Führ, Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung, N V w Z 1993, S. 858, 860 f.; B. Peter, Deutschland - Öko-Audit Papiertiger mit Biß?, PHI 1995, S. 82 ff.; zurückhaltend zu den erhofften Wirkungen auch G. Lübbe-Wolff, Umwelt-Audit, DVB1. 1994, S. 361, 372 ff. 3 5
1 Falke, „Umwelt-Audit"-Verordnung, ZUR 1995, S. 4 ff.; W. Köck, Die Entdeckung der Organisation, ZUR 1995, S. 1 ff.; ders., Umweltschutzsichernde Betriebsorganisation, JZ 1995, S. 643 ff.; H. Wagner, Effizienz des Ordnungsrechts?, N V w Z 1995, S. 1046, 1050 ff. 3 6 Die Aufgaben der Umweltgutachter ergeben sich aus der Verordnung nur undeutlich; streitig ist insbesondere, ob sie nur eine Systemprüfung vorzunehmen haben; vgl. hierzu H. Falk/St Frey, Die Prüftätigkeit des Umweltgutachters, UPR 1996, S. 58 ff.; W Köck, Umweltschutzsichernde Betriebsorganisation, JZ 1995, S. 643, 648; G. Lübbe-Wolff, Das Umweltauditgesetz, NuR 1996, S. 217, 219 ff.; J.-P. Schneider, Öko-Audit, Die Verwaltung 28 (1995), S. 361, 377 ff.; A. Wiebe, Umweltschutz durch Wettbewerb, NJW 1994, S. 289, 292; zur Zulassung der Umweltgutachter siehe etwa W. Ewer, Öko-Audit, N V w Z 1995, S. 457 ff.
I. Die Einbeziehung des Bürgers in die Verwaltung
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(Art. 5 Abs. 2) abgefaßt werden, während die Beifügung technischer Unterlagen lediglich fakultativ ist. Eine effektive Kontrolle der Richtigkeit der Angabe bzw. effektive Sanktionen für Falschangaben sind nicht vorgesehen. Die Öffentlichkeitsfunktion ist somit letztlich eher als affirmativ-motivierende vorgestellt: Die Unternehmen sollen in institutionalisierter Form m i t einer U m w e l t politik werben können und sich dabei auch die standardisierte, m i t den Weihen der A m t l i c h k e i t versehenen Teilnahmeerklärung 3 7 zu nutze machen dürfen. V o n hieraus soll ein Anreiz zur marktmotivierten Verbesserung der U m w e l t politik ausgehen 3 8 . A u c h sollen die Haftungsrisiken der Unternehmen für Organisationsfehler durch die rechenschaftlegende Offenlegung gemindert werd e n 3 9 . Ob dieses Konzept zum Schutze der U m w e l t viel ausrichten wird, bleibt abzuwarten 4 0 ; für eine Einbeziehung der Bürger in den Verwaltungsvollzug läßt sich die Öko-Audit-Verordnung insofern jedenfalls nur m i t Einschränkungen nennen. Ein gewisser Ansatz aber ist m i t ihr doch grundgelegt 4 1 . U n d immerhin sah die Kommission anfänglich auch die obligatorische Teilnahme von
3 7
Vgl. die entsprechenden Teilnahmeattestate in Anhang IV der Verordnung.
3 8
Auch ein solches rein marktwirtschaftlich ansetzendes Konzept kann - so wie die Einfuhrung auch von Umweltzeichen zur Auszeichnung besonderer Produkte - vom Grundsatz her selbstverständlich eine Möglichkeit sein, Umweltschutzbelange mit anderen als den tradierten Ordnungsinstrumentarien zu implementieren. Dies hängt jedoch mit dem hier allein interessierenden Problem nur noch mittelbar zusammen und bleibt hier ausgeblendet: Der Bürger erhält hier nämlich nicht die Funktion eines Kontrolleurs, wird also nicht in die Vollzugskontrolle eingespannt, sondern beeinflußt das (umweltrelevante) Produktionsgeschehen über die Nachfrage als Konsument. Dies hat als indirekte Steuerung - kybernetisch - zwar eine Nähe zu der Mobilisierung des Bürgers für die Umsetzung des Rechts, teilt aber nicht dessen spezifische Eigenheiten. Zu Umweltlabels vgl. etwa K. Delbrück/H.-W. Schiffer, Kennzeichnung, DB 1991, S. 1002, 1005 f.; L. Diederichsen, Ein neues Umweltzeichen, RIW 1993, S. 224 ff.; M Kisseler, Wettbewerbsrecht und Umweltschutz, WRP 1994, S. 149 ff.; G. Roller, Der „Blaue Engel" und die „Europäische Blume", EuZW 1992, S. 499 f f ; R. Steinberg, Probleme der Europäisierung, AöR 120 (1995), S. 549. 3 9 Vgl. hierzu J. Schmidt-Salzer, Öko-Audit, WiB 1996, S. 1, 8 ff.; J.-P. Schneider, Öko-Audit, Die Verwaltung 28 (1995), S. 361, 380 ff.; A. Turiaux/W. Henry, Ökonomische Gestaltung des Umwelt-Audit, WiB 1996, S. 109 ff. 4 0 Skeptisch G. Lübbe-Wolff 1993, S. 217, 219.
Vollzugprobleme des Umweltverwaltungsrecht, NuR
4 1 Die Verordnung wird in diesem Sinne auch als Ergänzung zur Umweltinformationsrichtlinie verstanden, vgl. R. Antes/J. Clausen/Kl. Fichter, Die guten Managementpraktiken, DB 1995; S. 685, 691 f.; M. Eifert, Umweltinformation, DÖV 1994, S. 544, 549 f.; J. Scherer, Umwelt-Audits, N V w Z 1993, S. 11, 15.
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Teil 1 : Die Mobilisierung des Bürgers durch das Europarecht
Unternehmen am Öko-Audit-System vor 4 2 . Es ist nicht auszuschließen, daß die jetzige Form der Verordnung nur ein erster Schritt ist 4 3 .
c) Die Umweltinformationsrichtlinie Signifikant für die europarechtliche Einbeziehung der Bürger in die Verwaltung und für das deutsche Recht ungewohnt ist die viel beachtete Richtlinie über den freien Zugang zu Informationen über die Umwelt (Umweltinformationsrichtlinie) 44 . Nicht zufällig wurde diese Richtlinie in Form des Umweltinformationsgesetzes denn auch erst mit anderthalbjähriger Verspätung in deutsches Recht umgesetzt 45 und wird auch dieses von Seiten des Europarechts her weithin noch als halbherzig, auslegungsbedürftig und zum Teil sogar als gemeinschaftwidrig kritisiert 46 . Nach den Vorgaben der Richtlinie ist jeder natürlichen oder juristischen Person der Anspruch einzuräumen, von allen Behörden über die ihnen zur Verfügung stehenden Umweltinformationen Auskunft zu verlangen (Art. 3 Abs. 1 und Art. 4). Zu den „Umweltinformationen" zählen dabei nicht nur alle Daten über den Zustand von Wasser, Luft, Boden usw., sondern auch über Tätigkeiten oder Maßnahmen, die diesen Zustand beeinträchtigen bzw. Gefahren hervorrufen können, und über hierzu ergangene Maßnahmen im weitesten Sinne (vgl. Art. 2 a]). Die - gegebenenfalls auszugsweise - Übermittlung aller insoweit einschlägigen Daten muß gerichtlich eingefordert werden können, und Ausnahmen von der Auskunftspflicht sind nur in tatbestandsmäßig eng begrenzten und begründeten Fällen zuzulassen.
4 2 Vgl. J. Scherer, ebd., S. 12; D. Sellner/J. Schnutenhaus, Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung, N V w Z 1993, S. 928, 929 (mitNw. in Fn. 15). 4 3 M. Führ, Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung, N V w Z 1993, S. 858, 860 f.; M. Klopfer, Umweltinformationen durch Unternehmen, NuR 1993, S. 353, 357; R. Kramer, Umweltinformationsgesetz, S. 66; J. Scherer, ebd., S. 12, 15; abl. G. LübbeWolff Umwelt-Audit, DVB1. 1994, S. 361, 373. 4 4
RiL des Rates vom 7. Juni 1990, AB1EG 1990 Nr. L 158/56.
4 5
Materialien zur Entstehung des Gesetzes bei E. Meyer-Rutz, Das neue Umweltinformationsgesetz, S. 9 ff.; vgl. auch D. Hegele, Der lange Weg der Umsetzung, in: Umweltschutz durch Umweltinformation, S. 101 ff. 4 6 A. Faber, Die Bedeutung des Umweltinformationsgesetzes, DVB1. 1995, S. 722, 726 ff.; R. Roger, Zum Begriff des „Vorverfahrens", UPR 1994, S. 216; A. Scherzberg, Freedom of information, DVB1. 1994, S. 733, 738 ff.; Ch. Schräder, Kostenerhebung, ZUR 1994, S. 221 ff.; F. Stollmann, Umweltinformation im Verwaltungsverfahren, N V w Z 1995, S. 146 ff.; A. Turiaux, Das neue Umweltinformationsgesetz, NJW 1994, S. 2319, 2323; E. Wegener, Umsetzung der EG-Richtlinie, InfUR 1992, S. 211, 215 f.
I. Die Einbeziehung des Bürgers in die Verwaltung
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Solche Auskunftspflichten sind mehr als eine Verbesserung der Öffentlichkeitsarbeit der Behörden. Öffentlichkeitsarbeit, wie sie sonst bekannt ist und wie sie ergänzend etwa auch in Art. 7 der Richtlinie vorgesehen ist 4 7 , versorgt die Öffentlichkeit mit Berichten über die Tätigkeit der Verwaltung und gibt die Sicht der politischen Problemlage seitens der Verwaltung wieder 48 . Sie ist behördlich aufgearbeitete Darstellung und damit als Interpretation vom Prinzip her gefärbt. Über Zeitpunkt und genaueren Gegenstand entscheiden grundsätzlich die Behörden, oder es handelt sich um Tätigkeitsberichte in bezug auf längere Zeiträume. Ihre Informationen erstrecken sich typischerweise auf allgemeinere Verhältnisse, nicht aber auf Einzelvorgänge als solche. Die Information der Öffentlichkeit betrifft das Verhältnis der Bürger untereinander kaum und ist weitgehend Selbstdarstellung der Verwaltung. Mit ihr geht es vom Prinzip her um Akzeptanzwerbung repräsentativen Verwaltungshandelns. Hierüber gehen die genannten Vorschriften der Informationsrichtlinie weit hinaus. Sie bewirken eine aktive Einbeziehung des interessierten Bürgers in die Verwaltung selbst. Gewährleistet ist ein Anspruch auf Übermittlung der Informationen selbst und unmittelbar und so ein Zugangsrecht. Mit ihm erhält der einzelne Einsicht bereits in das Rohmaterial an Daten, noch bevor es einer behördlichen Bewertung unterzogen ist 4 9 . Dabei kann er selbst bestimmen, wann ihn welche Daten interessieren und übermittelt werden sollen. Er kann selbst die Ausschnitte festlegen, die seiner Auffassung nach interessant oder untersuchungswürdig sind, und kann sich dabei einer vorfestlegenden Einbindung in eine behördliche Gesamtdarstellung entziehen. Dabei ist ihm - im Prinzip beliebig - auch der Zugriff auf Einzelvorgänge eröffnet, denn die Informationspflicht der Behörden ist nicht auf allgemeine Umweltbeschreibungen beschränkt. Auch Einleitungen und Immissionen einzelner Unternehmen oder Personen können hin bis zu einzelnen Lärmmessungen erfragt werden. Zwar setzt insoweit der Ausnahmetatbestand der „Vertraulichkeit personenbezogener 4 7
Ebenso auch das Konzept der Europäischen Umweltagentur, siehe oben I. vor a).
4 8
Zur Öffentlichkeitsarbeit der Bundesregierung vgl. BVerfGE 44, 125, 147 ff.; 63, 230, 243 ff.; die Öffentlichkeitsarbeit ist dabei zutreffenderweise wieder von Warnungen zu unterscheiden, vgl. Tk Discher, Mittelbarer Eingriff, Gesetzesvorbehalt, Verwaltungskompetenz, JuS 1993, S. 463, 468; R. Gröschner, Öffentlichkeitsaufklärung, DVB1. 1990, S. 619, 620 ff.; M. Heintzen, Hoheitliche Warnungen, NJW 1990, S. 1448, 1449 f.; anders hingegen BVerwGE NJW 1991, S. 1770, 1771 f. 4 9
Dies ist vom Prinzip her unbestritten; streitig ist lediglich, ob insoweit ein unmittelbares Akteneinsichtsrecht besteht oder ob die entsprechende Information auch durch diesbezügliche präzise Auskunft der Behörde übermittelt werden kann, vgl. hierzu nur R.-D. Drescher, Die EG-Richtlinie über den freien Zugang, VR 1991, S. 18, 20; H.-U. Erichsen/A. Scherzberg, Zur Umsetzung der Richtlinie, S. 54; R. Roger, UIG, § 4, Rn. 14 f f ; M. Schröder, Auskunft und Zugang in bezug auf Umweltdaten, N V w Z 1990, S. 905, 908; A. Turiaux, Umweltinformationsgesetz, § 4, Rn. 15 ff.
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Teil 1 : Die Mobilisierung des Bürgers durch das Europarecht
Daten" eine gewisse Grenze 50 , jedoch darf daraus eine Reduktion der Auskunftspflicht auf allgemeine Zustände oder auf lediglich unpräzise abstrahierende Beschreibungen umweltbelastender Tätigkeiten nicht gefolgert werden. Grundsätzlich umfaßt die Auskunftspflicht Informationen über jede umweltbelastende Tätigkeit. Man wird freilich gespannt sein können, inwieweit man mittels von Ausnahmetatbeständen versuchen wird, den grundsätzlichen Informationsanspruch zu entschärfen oder sogar zu unterlaufen 51 . Der § 7 Abs. 4 und der unscharf gebliebene § 8 Abs. 1 UIG bieten hierfür einiges Material 52 . Im Sinne der Richtlinie, die nach Auffassung des Europäischen Parlaments Ausnahmen nur zulassen wollte, wenn eine „Veröffentlichung schwerwiegende Interessen unangemessen beeinträchtigt" (AB1EG 1989 C 120/232), wäre es jedenfalls sicher nicht, jede Weitergabe individualisierbarer Daten - gar bezogen auf juristische Personen - zu unterbinden 53 . Die von der Richtlinie statuierten Informationspflichten übersteigen damit das Verhältnis von Staat und informationssuchendem Bürger. Der Bürger erhält durch sie nicht nur Einblick in die Arbeit der Verwaltung, sondern auch in den Umweltverbrauch der benachbarten Betriebe, in die Bodenbelastung durch die Düngung der umliegenden Felder und die genaueren Lärmquellen störender Betriebe. Beeinträchtigungen der Umwelt werden transparenter für jedermann, der Blick von Bürger zu Bürger wird geschärft. Ziel solcher Tranparenz ist eine „offene Umweltdiskussion" und eine „starke Beteiligung der Öffentlichkeit am umweltpolitischen Entscheidungsprozeß", insbesondere eine „verbesserte Zusammenarbeit mit Umweltverbänden, Nicht-Regierungsorganisationen und
5 0
Hierzu kritisch E. Kremer, Umweltschutz durch Umweltinformation, N V w Z 1990, S. 843 f. 51
Besorgt um einen ausreichenden Geheimschutz etwa St. Eilers/Th. Schröer, Der Schutz der betrieblichen Informationssphäre, BB 1993, S. 1025, 1027; R. Engel, Der freie Zugang zu Umweltinformationen, NVwZ 1992, S. 111 ff.; J. Fluck, Der Schutz von Unternehmensdaten, N V w Z 1994, S. 1048 ff.; N. Kollmer, Klage auf Umweltinformation, N V w Z 1995, S. 858, 863; Th. Schomerus, Anspruchsvoraussetzungen, ZUR 1994, S. 226 ff. 5 2 Krit. etwa Cl. Arzt, Entwurf vorgelegt, ZRP 1993, S. 18, 20; A. Scherzberg, Freedom of information, DVB1. 1994, S. 733, 740 ff.; E. Wegener, Umsetzung der EGRichtlinie, InfUR 1992, S. 211, 216 f.; zur Auslegung von § 8 UIG vgl. insoweit Ch. Schräder, in: Th. Schomerus/Ch. Schrader/B.W. Wegener, Umweltinformationsgesetz, § 8, Rn. 6 ff. 53
Auch das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung, das gesetzliche Einschränkungen durchaus erlaubt, gebietet eine solche Handhabung nicht, vgl. nur H.-U. Erichsen, Der Zugang des Bürgers zu staatlichen Informationen, Jura 1993, S. 180, 186; allgemein etwa D. Murswiek, in: Sachs (Hg.), GG, Art. 2, Rn. 121 ff. m.w.N.
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sonstigen B e t e i l i g t e n " 5 4 . Der freie Zugang zu den Umweltdaten soll „ d i e Beteiligung der Bürger an den Verfahren zur Kontrolle der Umweltverschmutzung und zur Verhütung von Umweltbeeinträchtigung verstärken und ... damit wirksam zur Erreichung der Ziele der Gemeinschaftsaktion i m Bereich des Umweltschutzes... beitragen" 5 5 . Das damit verfolgte Konzept ist deutlich. Umsetzung und Ausgestaltung des gemeinschaftlichen Umweltrechts sollen nicht in das A r k a n u m nationaler Verwaltungsbehörden gehüllt werden können, sondern durch die Beteiligung wachsamer Bürger öffentlich gemacht w e r d e n 5 6 . M a n w i l l die Verantwortung nicht allein dem staatlichen Exekutivapparat überlassen, sondern die Bürger selbst als Sachwalter der U m w e l t mobilisieren 5 7 . A u c h sie sollen auf ihre U m welt aufpassen. Durch die Öffentlichkeit der Umweltdaten rücken so Bürger und Verwaltung näher zusammen: N i c h t nur die Verwaltung wacht, sondern auch der Bürger. N i c h t nur die öffentliche Hand überlegt und ergreift Initiativen, sondern auch private V e r b ä n d e 5 8 .
5 4 Vgl. die Stellungnahme des Wirtschafts- und Sozialausschusses vom 31. März 1989, AB1EG 1989, Nr. C 139/49. 55
So die Begründung der Kommission, AB1EG 1988, Nr. C 335/5.
5 6
Vgl. nur H.-U. Erichsen, Das Recht auf freien Zugang zu Informationen, N V w Z 1992, S. 409, 419; ders., Der freie Zugang zu Informationen über die Umwelt, in: UPR 1992, S. 48 f.; A. Scherzberg, Freedom of information, DVB1. 1994, S. 733, 734; M. von Schwanenfliigel, Das Öffentlichkeitsprinzip, DVB1. 1991, S. 93 ff.; ders., Die Richtlinie über den freien Zugang zu Umweltinformationen, DÖV 1993, S. 95 f.; ebenso ders., Freier Informationszugang, VR 1994, S. 236.; R. Steinberg, Probleme der Europäisierung, AöR 120 (1995), S. 549, 562 ff. 5 7
Vgl. auch K. Kindler, Umweltinformationen, in: Umweltschutz durch Umweltinformation, S. 63, 77: „Interessengruppen, hier in der Ausprägung von Umweltverbänden - den 4selbsternannten Blockwarten der Nation', artikulieren Ansprüche und Bedürfnisse gegenüber Staat und Verwaltung (als Ordnungsinstanzen) und gegenüber der freien Wirtschaft"; auch F. Zeller, Staatliche Umweltberatung, in: ebd., S. 83, 100 („Grundlagen für eine zukünftige ökologische Selbststeuerung der Gesellschaft"). 5 8 Fraglich ist angesichts dieses Konzepts in der Tat, ob der weitgehende Ausschluß des Umweltinformationsanspruchs, den der deutsche Gesetzgeber in § 7 Abs. 1 Nr. 2 für laufende verwaltungsbehördliche Verfahren vorsieht, mit der Richtlinie - dort Art. 3 Abs. 2, tiret 3 (der Ausnahmemöglichkeit für „Vorverfahren") - in Einklang steht. Die Literatur hierzu ist kritisch und hält dies überwiegend für gemeinschaftsrechtswidrig, vgl. A. Faber, Die Bedeutung des Umweltinformationsgesetzes, DVB1. 1995, S. 722, 726 f.; R. Roger, Zum Begriff des „Vorverfahrens", UPR 1994, S. 216 ff.; A. Scherzberg, Freedom of information, DVB1. 1994, S. 733, 738 f.; Ch. Schräder, in: Th. Schomerus/Ch. Schrader/B.W. Wegener, Umweltinformationsgesetz, § 7, Rn. 15 ff.; F. Stollmann, Umweltinformation im Verwaltungsverfahren, NVwZ 1995, S. 146, 147 f.; A. Turiaux, Das neue Umweltinformationsgesetz, NJW 1994, S. 2319, 2323; E. Wegener, Umsetzung der EG-Richtlinie, InfUR 1992, S. 211, 215 f.; a.A. J. Fluck/A. Theuer, Kein Zugang zu Umweltinformationen?, VR 1995, S. 361 ff.; R. Kramer, Umweltin-
3 Masing
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Von daher ist es konsequent, daß die Umweltdaten für jedermann zugänglich sind. Wenn Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie insoweit ausdrücklich klarstellt, daß die Auskunft nicht von dem Nachweis eines Interesses abhängig gemacht werden darf, wird damit unterstrichen, daß die Öffentlichkeit der Umweltdaten nicht im Blick auf irgend geartete individuelle Interessen oder Betroffenheiten, sondern im Blick auf das allgemeine Interesse an einem effektiven Umweltrecht hergestellt wird. Nicht die Wahrung eigener Belange, sondern - davon gerade unabhängig - die Durchsetzung umweltschützender Normen bzw. umweltpolitischer Belange ist Ziel der Richtlinie. Eines individuell begründeten Interesses bedarf es von daher nicht: Das allgemeine Interesse an dem Zustand der Umwelt und vor allem an der Einhaltung (1er Umweltvorschriften reicht. Der Bürger soll auch aus staatsbürgerlicher Verantwortung heraus an den Verwaltungsentscheidungen teilhaben können, und hierzu ist jeder, quivis ex populo , berechtigt 59 . Die Europäische Gemeinschaft geht offenbar davon aus, so kommentiert zusammenfassend H.-U. Erichsen die Richtlinie, „daß sich die parlamentarische und gerichtliche Kontrolle im Bereich des Umweltschutzes und damit einhergehend die Verwirklichung der rechtlich geronnenen supranationalen und nationalen Umweltpolitik als unzulänglich erwiesen haben ... Werden dem Bürger nunmehr Informationen über den Zustand der Umweltmedien und der umweltrelevanten Verhaltensweisen der Verwaltung zugänglich, wird dies Defizite der Gesetzgebung und des Gesetzesvollzugs ... offenlegen und eine vermehrte Mobilisierung der öffentlichen Meinung und ihrer Medien für Angelegenheiten des Umweltschutzes auslösen können" 60 . K. Hansmann führt dieses Konzept sogleich weiter: Die Öffentlichkeit der Informationen könne nur der erste Schritt sein. Im weiteren komme es darauf an, „daß die einzelnen Bürger die zuständigen Behörden zum Einschreiten gegen Rechtsverstöße
formationsgesetz, Anm. 12 zu § 7 UIG (S. 40); A. Schink, Zur Entwicklung des Umweltrechts, Z A U 1995, S. 1,5; A. Theuer, Der Zugang zu Umweltinformationen, N V w Z 1996, S. 326, 330 f. 5 9 Zu dem damit verbundenen Verwaltungsaufwand vgl. krit. N. Kollmer, Umweltinformationsgesetz und Gewerbeaufsicht, GewArchiv 1995, S. 46, 50; B. Stockburger, „Gläsernen Unternehmerumwelt", WUR 1991, S. 315, 317; dagegen aber F. Meininger, Die EG-Umweltinformationsrichtlinie, NVwZ 1994, S. 150 ff.; vgl. dazu auch A. Turiaux, Umweltinformationsgesetz, Vor § 1, Rn. 16 ff. 6 0 H.-U. Erichsen, Das Recht auf freien Zugang zu Informationen, N V w Z 1992, S. 409,419.
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zwingen" könnten 61 . Die Umweltinformationsrichtlinie ist insoweit nur ein erster Schritt 62 .
2. Die Pflicht zur Verleihung von Individualbefugnissen bei der nationalen Umsetzung von EG-Richtlinien Ein auf ganz anderer Ebene angesiedelter Beitrag zu dem Bestreben, die einzelnen Gemeinschaftsbürger stärker für die Sicherung des Rechtsvollzugs einzusetzen, findet sich auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zu den Anforderungen an die Umsetzung von Richtlinien. Aufschlußreich ist hier namentlich die Entscheidung zur TA-Luft 6 3 . In dieser Entscheidung erklärte der Gerichtshof die Umsetzung von in einer Richtlinie vorgegebenen Grenzwerten für Luftverschmutzungen in Form von Verwaltungsvorschriften für gemeinschaftsrechtwidrig. Interessant ist dabei die Begründung. Deren Grundlinie fand sich, nicht ungewöhnlich, schon in den Schlußanträgen des Generalanwalts: Die entscheidende Frage sei, ob die Umsetzung der Richtlinie geeignet sei, Rechte zu begründen, auf die einzelne sich berufen könnten 64 . Aus den Begründungserwägungen der Richtlinie gehe hervor, daß durch sie „nicht nur die Umwelt, sondern auch die menschliche Gesundheit geschützt und die Lebensqualität verbessert werden soll". Dann aber ergebe sich aus der Umsetzungsverpflichtung der Mitgliedstaaten „als logische Folge das Recht der einzelnen, sich auf diese Qualitätsnormen zu berufen, wenn gegen diese entweder tatsächlich oder durch hoheitliche Maßnahmen verstoßen w i r d " 6 5 . Genau diese Erwägungen finden sich dann auch in der Entscheidung des Gerichtshofs: Weil die Richtlinie „insbesondere zum Schutz der menschlichen Gesundheit" geschaffen sei, müßten „die Betroffenen in allen Fällen, in denen die Überschreitung der Grenzwerte die menschliche Gesundheit gefährden könnte, in der Lage sein ..., sich auf zwingende Vorschriften zu berufen,
61
Kl. Hansmann, Die Umsetzung von EG-Umweltschutzrichtlinien, JbUTR 1992, S. 21, 26. 6 2 Bemerkenswert ist freilich, daß sich die Institutionen der Europäischen Gemeinschaft selbst nur sehr zögernd einer Kontrolle durch Öffentlichkeit unterwerfen, vgl. hierzu etwa M. Schwanenflügel, Freier Informationszugang, VR 1994, S. 236, 238; siehe hierzu auch EuGH EuZW 1996, S. 152. Im weiteren Sinne gehört dies zur der von F. Schock (Die Europäisierung des Allgemeinen Verwaltungsrechts, JZ 1995, S. 109, 118) beobachteten „kompetentiellen Eindimensionalität" der Gemeinschaft.
3*
6 3
EuGH Slg. 1991, S. 2567.
6 4
EuGH Slg. 1991, S. 2567, 2587, Tz. 8 f.
6 5
EuGH Slg. 1991, S. 2567, 2591, Tz. 23.
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um ihre Rechte geltend machen zu können" 66 . Außer Betracht kann in vorliegendem Zusammenhang bleiben, ob Verwaltungsvorschriften wegen ihrer Rechtsqualität insoweit tatsächlich einen hinreichend verbindlichen Schutz nicht gewährleisten können 67 . Wichtig ist hier nur das ausschlaggebende Kriterium des Gerichtshofs: Der einzelne Bürger muß sich auf Vorgaben der Richtlinien berufen können. Leitend ist die Vorstellung, eine effektive Umsetzung würde erst durch eine Einbeziehung der Bürger hinreichend gewährleistet 68 . Diese sollen die Beachtung der Grenzwerte einfordern und so in Vollzug des Gemeinschaftsrechts einer indulgenten Verwaltung Beine machen können. Anliegen dieser Rechtsprechung ist die Vollzugsverbesserung des Gemeinschaftsrechts. Es soll das „Überwachungs- und Durchsetzungspotential der Gemeinschaftsbürger mobilisiert werden" 69 . Insofern hat die Entscheidung auch nicht so sehr die Grenzen staatlichen Handelns bei der Verwirklichung des Richtlinienprogramms vor Augen, sondern in erster Linie das Problem der effektiven Umsetzung des Gesamtanliegens der Richtlinie. Sie ist nicht vom Individualschutz oder gar von der Eingriffsabwehr her begründet, sondern vom Regelungsziel. Der Gesundheitsschutz der Allgemeinheit soll gewährleistet werden, und gerade in bezug auf ihn sei zu verlangen, daß den Bürgern außenwirksame Befugnisse zur Durchsetzung der entsprechenden Standards eingeräumt werden 70 . Die Rechtssicherheit einzelner (wie etwa der Emittenten) vor durch Richtlinien gesteuerten Eingriffen wird demgegenüber nur ergänzend („im übrigen") erwähnt 71 .
6 6
EuGH Slg. 1991, S. 2567, 2601, Tz. 16.
6 7
Vgl. hierzu R. Breuer, Entwicklungen des europäischen Umweltrechts, S. 12 ff., 76 ff.; Th. von Danwitz, Normenkonkretisierende Verwaltungsvorschriften, VerwArchiv 84 (1993), S. 73, 86 ff.; Ch. Langenfeld/S. Schlemmer-Schulte, Die TA Luft, EuZW 1991, S. 622, 623 f.; H.H. Rupp, Anmerkung (zu EuGH Slg. 1991, S. 2567), JZ 1991, S. 1034 f.; R. Steiling, Mangelnde Umsetzung, N V w Z 1992, S. 134,.136; A. Weber, Zur Umsetzung von EG-Richtlinien, UPR 1992, S. 5, 8; zum Stand der deutschen Dogmatik bezüglich der „normkonkretisierenden Verwaltungsvorschriften" vgl. nur die Nachweise bei Th. von Danwitz, ebd., S. 85 mit Fn. 77. Zu ähnlichen Problemen bei der Umsetzung der Vergaberichtlinien siehe unten 3. 6 8
Siehe auch Kl. Hansmann, Die Umsetzung von EG-Umweltschutzrichtlinien, JbUTR 1992, S. 21, 25 f. 6 9
Kl. Hansmann, Schwierigkeiten bei der Umsetzung, NVwZ 1995, S. 320, 321.
7 0
U. Everling, Durchführung und Umsetzung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, N V w Z 1993, S. 209, 214; R. Steinberg, Probleme der Europäisierung, AöR 120 (1995), S. 549, 583 f f ; M. Zuleeg, Umweltschutz, NJW 1993, S. 31, 37; vgl. auch Ch. Vedder, Die TA Luft, EWS 1991, S. 298. 71
EuGH Slg. 1991, S. 2567, 2601, Tz. 16.
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Wenn in diesem Sinne der Bürger schon wegen der allgemeinen Schutzwirkung für die Gesundheit überhaupt zur Geltendmachung der Grenzwerte befugt sein soll, geht es nicht um die Wahrung spezifisch ihm als einzelnen verliehener Rechte, sondern die Sicherung der Allgemeininteressen, die die Richtlinie überhaupt erstrebt. Auf einen von der Allgemeinheit abgrenzbaren Personenkreis kommt es nicht an, sondern es reicht die allgemeine Schutzrichtung der Gesundheit des Menschen 72 oder auch - wie in den Schlußanträgen des Generalanwalts angedeutet73 - das Interesse an einem unverzerrten Wettbewerb. Damit verlangt die Entscheidung die Einräumung von Beteiligungs- bzw. Klagrechten, die mit den Kriterien der deutschen Schutznormtheorie 74 nicht zu begründen sind und über diese deutlich hinausgehen75. Vom Anliegen der Vollzugsverbesserung her ist das konsequent: Wird der Bürger als Hilfsperson für die effektive Umsetzung des Gemeinschaftsrechts und somit auch als Sachwalter von Rechten der Allgemeinheit verstanden, rücken individuelle Befugnisse und objektives Recht notwendig enger zusammen 76 .
3. Rechtsschutzanforderungen der Gemeinschaft Die Funktionalisierung individueller Befugnisse für die Gewährleistung einer effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts spiegelt sich auch in den Vorgaben der Gemeinschaft an den nationalen Rechtsschutz gegenüber gemeinschaftsrechtswidrigen Maßnahmen. Deren Quintessenz liegt in der Bemühung, den Bürgern in möglichst weitem Umfang individuelle Klagebefugnisse
7 2 Vgl. U. Everling, Durchführung und Umsetzung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, N V w Z 1993, S. 209, 214: „Dem Gerichtshof reicht offenbar aus, daß ein wesentliches Schutzgut der RiL den einzelnen zugute kommen soll und daß die RiL deutliche Vorgaben für die Art des Schutzes macht". 73
EuGH Slg. 1991, S. 2567, 2590, Tz. 21.
7 4
Vgl. hierzu näher unten Teil 2 II. 2. b).
7 5
Th. von Danwitz, Normenkonkretisierende Verwaltungsvorschriften, VerwArchiv 84 (1993), S. 73, 88 f.; vgl. auch Ch. Langenfeld/S. Schlemmer-Schulte, Die TA-Luft, EuZW 1991, S. 622, 625. 7 6 In concreto bleibt die Entscheidung für die Umsetzung der TA Luft insoweit jedoch weitgehend interpretationsbedürftig: Was soll ein Bürger machen können, wenn etwa, unabhängig irgendeines Genehmigungsverfahrens, in seinem Wohngebiet die Grenzwerte überschritten sind? Vgl. zu den verschiedenen Möglichkeiten bzw. Problemen, individuelle Befugnisse einzurichten, etwa Cl.D. Classen , Zur Bedeutung von EWG-Richtlinien für Privatpersonen, EuZW 1993, S. 83, 85; U. Everling, Umsetzung von Richtlinien, RIW 1992, S. 379, 384 ff.; Kl. Hansmann, Die Umsetzung von EGUmweltschutzrichtlinien, JbUTR 1992, S. 32; R. Steinberg, Probleme der Europäisierung, AöR 120 (1995), S. 549, 586.
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zu verleihen, mit denen sie vor den nationalen Gerichten die Beachtung des Gemeinschaftsrechts einfordern können. Zu nennen sind insoweit zum einen die zahlreichen, insbesondere in Richtlinien enthaltenen Bestimmungen, nach denen die Mitgliedstaaten ausdrücklich verpflichtet werden, eine Anrufung des Gerichts zu ermöglichen 77 . In der Regel deckt sich dabei das Ziel, die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts zu sichern, mit dem Ziel, die insoweit begünstigten Individualbelange zu schützen, und sollen nach diesen Vorschriften die „beschwerten" oder „benachteiligten" Personen klagebefugt sein. Jedoch ist der Motor für solche Vorschriften - wie oft deren weite Formulierungen andeuten - nicht allein der Schutz individueller Interessen, sondern unabhängig davon die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts überhaupt. Greifbar wird dies insbesondere bei der - gegen heftigen deutschen Widerstand durchgesetzten Überwachungsrichtlinie 78 . Nach dieser Richtlinie sollen „zumindest" alle Wettbewerber, die „ein Interesse an einem bestimmten öffentlichen Lieferoder Bauauftrag" 79 haben, die Vergabe von öffentlichen Aufträgen im Blick auf die Einhaltung der gemeinschaftsrechtlichen Vergabebestimmungen anfechten und gegebenenfalls Aufhebung bzw. Erlaß einer einstweiligen Verfügung verlangen können. Auch wenn insoweit nicht beliebig jedermann klagebefugt ist, liegt hierin eine Ausweitung der Klagebefugnisse, die dem deutschen, vom subjektiven Recht ausgehenden Verständnis bisher fremd war 8 0 .
7 7 Z. B. RiL vont 10. Februar 1975 (75/117/EWG), AB1EG 1975 Nr. L 45/19, Artikel 6; RiL vom 24. Juli 1986 (86/378/EWG), AB1EG 1986 Nr. L 225/40, Artikel 10; RiL vom 9. Februar 1976 (76/207/EWG), AB1EG 1976 Nr. L 39/40, Artikel 6. 7 8
RiL vom 21. Dezember 1989 (89/665/EWG), AB1EG 1989 Nr. L 395/33; vgl. hierzu G. Lampe-Helbig, Praxis der Bauvergabe, Rn. 101 ff. 7 9 8 0
Art. 1 Abs. 3 der RiL.
Die Umsetzung dieser Richtlinie in das deutsche Recht verlief denn auch nur zögerlich und ist dabei gerade in der Frage nach der Reichweite der einzuräumenden Individualbefugnisse bis heute höchst umstritten. Zentral und erbittert umkämpft ist dabei das Problem, ob die Verfahrensregelungen der Vergaberichtlinien als vor den regulären Gerichten einklagbare Individualrechte der konkurrierenden Bieter ausgestaltet werden müssen oder ob die nun als „haushaltrechtliche Lösung" eingeführten Vergabeprüfstellen und Vergabeüberwachungsausschüsse gem. §§ 57b und 57c HGrG den Anforderungen der Richtlinie genügen; vgl. einerseits (bejahend): K. Hailbronner, Vergabe öffentlicher Aufträge, RIW 1992, S. 553, 559 ff.; ders., Die Vergabe öffentlicher Aufträge nach europäischem Gemeinschaftsrecht, WiVerw. 1994, S. 173, 229 f f ; / Seidel, Öffentliches Auftragswesen, EuR 1990, S. 158 ff., insbes. S. 173; vgl. auch dies., Öffentliches Auftragswesen, in: Handbuch des EG-Wirtschaftsrechts, H IV, Rn. 187 ff.; siehe auch KG EuZW 1995, S. 645 und - insoweit zustimmend H. Eidenmüller, Einstweiliger Rechtsschutz, EuZW 1995, S. 633 f f ; J. Gröning, Die Rechte der Bieter, WuW 1995, S. 985 ff.; anderseits (verneinend): M. Dreher, Anmerkung (zu EuGH EuZW 1995, S. 635), EuZW 1995, S. 637 f.; U. Jasper, Anmerkung (zu KG EuZW 1995, S. 645), WiB 1996, S. 39 ff.; W. von Meibom/J Byork, Notwendigkeit eines Vergabegesetzes, EuZW 1995, S. 629 ff.; G. Nicolaysen, Ein Binnenmarkt
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Allein die „wettbewerbsschützende Intention" 81 der Richtlinie soll Grund genug sein, um einem betroffenen Wettbewerber Klagebefugnisse zuzubilligen. Nicht ohne Grund läßt etwa J. Pietzcker dahinstehen, „ob diese Position auf EG-Ebene als 'subjektive Rechte' im Sinne der deutschen Dogmatik zu verstehen sind" 8 2 . Denn die Europäische Gemeinschaft begründet die Richtlinie gerade nicht mit dem Individualschutz, sondern allein mit dem objektiven Interesse an einer effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts 83. Im nationalen Bereich soll, so die treffende Formulierung von G. Lampe-Helbig, „das Interesse der am Verfahren tatsächlich oder potentiell Beteiligten an einer ordnungsgemäßen Handhabung als Mittel zum Ingangsetzen der Nachprüfung genutzt werden" 84 . Die Vorstellung des Bürgers als mit Klagebefugnissen ausgestatteter Kontrollinstanz der Verwaltung zeigt sich nicht nur in den Rechtssetzungsakten der Gemeinschaft, sondern prägt auch die Rechtsprechung des Europäischen Gefür öffentliche Aufträge, Festschrift für B. Börner, S. 345, 349 ff.; Μ. Ν otthoff, Konsequenzen mangelhafter Umsetzung, WiB 1995, S. 902, 903; J. Pietzcker, Änderung des Rechtsschutzes, Festschrift für K. Redeker, S. 501 ff.; ders., Die deutsche Umsetzung, NVwZ 1996, S. 313 ff.; H.-J. Prieß, Das Öffentliche Auftragswesen, EuZW 1994, S. 487, 492; zu Unstimmigkeiten der jetzigen Regelung siehe auch A. Faber, Drittschutz bei der Vergabe öffentlicher Aufträge, DÖV 1995, S. 403 ff.; zu dem Ganzen vgl. auch F. Rittner, Das deutsche Öffentliche Auftragswesen, NVwZ 1995, S. 313 ff. (S. 315: „eine gewisse Halbherzigkeit, die jedem unbefangenen Betrachter sogleich auffällt"); Die Kommission hält die deutsche Lösung für gemeinschaftsrechtswidrig. Eine erste gemäß Art. 169 EGV erhobene Klage hatte vor dem EuGH auch Erfolg (EuGH EuZW 1995, S. 635 ff.). Diese Entscheidung bezieht sich dabei aber nur auf die Rechtslage vor Änderung des Haushaltsgrundsätzegesetzes. Eine weitere, diesbezügliche Klage der Kommission ist angekündigt. 81 J. Pietzcker, Änderung des Rechtsschutzes, Festschrift für K. Redeker, S. 501, 503; vgl. auch H.-J. Prieß, Das Öffentliche Auftragswesen, EuZW 1994, S. 487: „zur effektiven Durchsetzung des Grundsatzes der Nicht-Diskriminierung". 82 J. Pietzcker, ebd.; den Unterschied zwischen den europäischen Vorstellungen von Individualbefugnissen und dem subjektiv-deutschen Recht betont ausdrücklich l Brinker, Anmerkung (zu EuGH EuZW 1995, S. 635), JZ 1996, S. 89 ff. (der Sache nach liegt diese Unterscheidung - mehr oder weniger ausdrücklich - jedenfalls der Ansicht zugrunde, die die haushaltsrechtliche Lösung für ausreichend hält). 83 Vgl. nur deren Präambel: „... Die auf einzelstaatlicher Ebene und auf Gemeinschaftsebene derzeit vorhandenen Mechnanismen zur Durchsetzung dieser Regeln sind nicht immer ausreichend, um die Einhaltung der Gemeinschaftsvorschriften zu gewährleisten, vor allem dann, wenn Verstöße noch beseitigt werden können...."; vgl. auch D. Carl, Europäische Normen, EuZW 1994, S. 173, 176; K. Hailbronner, Vergabe öffentlicher Aufträge, WiVerw. 1994, S. 173, 187 ff.; G. Nicolaysen, Ein Binnenmarkt für öffentliche Aufträge, Festschrift für B. Börner, S. 345, 346; H.-J. Prieß, Das Öffentliche Auftragswesen, EuZW 1994, S. 487. 84 G. Lampe-Helbig, Praxis der Bauvergabe, Rn. 103.
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richtshofs 85 . Rückgreifend auf den Auslegungsgrundsatz des „effet utile" heißt es schon in Gend & Loos, „die Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten einzelnen stellt eine wirksame Kontrolle dar, welche die durch die Kommission und die Mitgliedstaaten ... ausgeübte Kontrolle ergänzt" 86 . Zwar wird dem Bürger diese Kontrollfunktion in erster Linie durch die Möglichkeit, sich auf eigene Rechte und Interessen zu berufen, eröffnet, jedoch darf auch hier die spezifische Begründung nicht übersehen werden. Das vom Europäischen Gerichtshof verfolgte Konzept zielt insoweit, wie in der Literatur zu recht bemerkt wird, „nicht allein auf Individualrechtsschutz, sondern steht im Dienst auch des objektiven Interesses an einer wirksamen Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts" 87. Sowohl in der Entscheidung Johnston**, in der der Grundsatz des effektiven Rechtsschutzes erstmals aufgestellt wurde, als auch in den neueren Entscheidungen, in denen die Anforderungen zum vorläufigen Rechtsschutz näher entwickelt werden 89 , ist dies unverkennbar 90 . Ausgangspunkt ist die effektive Umsetzung des Gemeinschaftsrechts, die „auch dann abgeschwächt"91 würde, wenn aus dem Gemeinschaftsrecht hergeleitete Rechte nicht vorläufig gesichert werden könnten. Folgerichtig wird in der Entschei85
Vgl. hierzu bereits M. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 173 ff., 182 f.; aus jüngerer Zeit ders. Der rechtliche Zusammenhalt, ZEuP 1993, S. 475, 484 ff. 8 6
Van Gend & Loos, EuGH Slg. 1963, S. 1, 26.
87
E. Schmidt-Aßmann, Deutsches und Europäisches Verwaltungsrecht, DVB1. 1993, S. 924, 934. 8 8
Johnston, EuGH Slg. 1986, S. 1651, 1682, Tz. 17.
8 9
Factortame, EuGH Slg. 1990, S. 2433, 2473, Tz. 20 („Hindernis für die volle Wirksamkeit der Gemeinschaftsnormen"); Zuckerfabrik Süderdithmarschen, EuGH Slg. 1990, S. 417, 543, Tz. 18 ff.; Gemeinsame Marktorganisation für Wein, EuGH Slg. 1990, S. 2881, 2903, Tz. 13 ff. 9 0 Daß die Grundlage dieser Rechtsprechung vor jedem subjektiven Bezug auf den einzelnen Bürger in dem objektive Interesse an der effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts gesucht wird, wird sowohl von den Kritikern als auch den Anhängern dieser Rechtsprechung so gesehen; vgl. (krit.): W. Dänzer-Vanotti, Der Gerichtshof beschränkt vorläufigen Rechtsschutz, BB 1991, S. 1016 ff.; ders., Unzulässige Rechtsfortbildung, RIW 1992, S. 739 f f ; G. Gornig, Anmerkung (zu EuGH Slg. 1990, S. 417), JZ 1992, S. 39 ff.; H.-W. Rengeling/A. Middecke/M. Gel 1er mann/M. Ch. Jakobs, Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 984 ff.; S. Schlemmer-Schulte, Gemeinschaftlicher vorläufiger Rechtsschutz, EuZW 1991, 307, 309 ff.; F. Schoch, Vorläufiger Rechtsschutz, SGb 1992, S. 118 ff.; Ch. Tomuschat, Völkerrechtliche Grundlagen der Verwaltungsgerichtsbarkeit, Festschrift für K. Redeker, S. 273, 288 f. vgl. (zust.): G.C.R. Iglesias , Der Gerichtshof, EuR 1992, S. 225, 238; J. Schwarze, Vorläufiger Rechtsschutz, Festschrift für B. Börner, S. 389, 397 ff.; D. Triantafyllou, Zur Europäisierung des vorläufigen Rechtsschutzes, NVwZ 1992, S. 129 ff.; wohl auch E. Klein/ A. Haratsch, Neuere Entwicklungen, DÖV 1994, S. 133, 140. 91
Factortame, EuGH Slg. 1990, S. 2433, 2474, Tz. 21.
I. Die Einbeziehung des Bürgers in die Verwaltung
41
dung „Gemeinsame Marktorganisation für Wein", die den deutschen Behörden die Anordnung des sofortigen Vollzugs zur Überwindung des Suspensiveffekts von eingelegten Widersprüchen auferlegt, die Sicherung der sofortigen Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts dann auch ausdrücklich vor die geltend gemachten subjektiven Rechte derjenigen, die Widerspruch eingelegt hatten, gestellt 92 . Der Gerichtshof beantwortete weiterhin auch den Streitfall darüber, ob sich Bürger vor den nationalen Gerichten auf Art. 93 Abs. 3 EGV berufen können, allein vom Gesichtspunkt der effektiven Umsetzung des Gemeinschaftsrechts her: Nicht die Frage, wie weit die dort vorgesehene Unterrichtung der Kommission vor der Einführung von Beihilfen gerade dem Schutz der Bürger dient, sondern die Frage nach einer wirksamen Sanktionierung dieser Vorschrift leitet die Entscheidung, nach deren Ergebnis ein Verstoß gegen diese Unterrichtungspflicht - selbst bei späterer Genehmigung der Beihilfe durch die Kommission - zur Nichtigkeit der Beihilfe Vorschriften führt 9 3 . Die Einleitung des Plädoyers des Generalanwalts hatte insoweit die das Verfahren bis zum Schluß beherrschende Problemsicht zusammengefaßt: „Den Hintergrund dieses Verfahrens bildet der anhaltende Widerwille einiger Mitgliedstaaten, ihre Verpflichtungen ... zu erfüllen" 94 . Die - auf wiederum anderem Gebiet ergangene - Entscheidung, mit der der Europäische Gerichtshof den Grundsatz der richtlinienkonformen Auslegung erfand 95 und dabei für die Berechnung von Schadensersatzansprüchen wegen Diskriminierung verlangt, daß die Schadenshöhe als „Sanktion" der Diskriminierung eine „abschreckende Wirkung" gegenüber dem Arbeitgeber haben muß 9 6 , rundet das Bild: Die europarechtlichen Vorgaben zum nationalen Rechtsschutz haben ihre innere Begründung nicht primär und spezifisch im Schutz individueller Belange, sondern in der Sicherung der effektiven Umsetzung der Gemeinschaftsrechtsordnung überhaupt. Dieses Verständnis der Gerichtsbarkeit bedeutet freilich nicht, daß deshalb jeder Bürger zu einem mit Klagebefugnissen ausgerüsteten Exekutor des Gemeinschaftsrechts ausgestattet würde. Eine Popularklagebefugnis kennt das Europarecht nicht, und hierfür läßt sich auch aus der Rechtsprechung des Eu9 2 Gemeinsame Marktorganisation für Wein, EuGH Slg. 1990, S. 2881, 2903, Tz. 13 ff. 9 3 Fédération nationale du commerce extérieur, EuGH Slg. 1991, S. 5505, 5527, Tz. 8 ff. 9 4
Fédération nationale du commerce extérieur, EuGH Slg. 1991, S. 5505, 5513,
Tz. 1. 9 5
Sabine von Colson, EuGH Slg. 1984, S. 1891, vgl. hierzu nur H-W. Daig/ G. Schmidt, in: von der Groeben/Theising/Ehlermann (Hg.), EWG-Vertrag, Art. 189, Rn. 40 (jeweils m.w.N.); M. Schweizer/W. Hummer, Europarecht, S. 83. 9 6
Sabine von Colson, EuGH Slg. 1984, S. 1891, 1908, Tz. 23.
42
Teil 1 : Die Mobilisierung des Bürgers durch das Europarecht
ropäischen Gerichtshofs nichts herleiten 9 7 . Deutlich ist aber, daß der Bürger durch dieses Verständnis eine Funktion erhält, die über die Wahrung der eigenen Interessen hinausgeht. W e i l diese Funktion, mehr als ein bloß faktischer Reflex, das eigentliche movens der europarechtlichen Anforderungen an den nationalen Rechtsschutz bildet, erhält sie rechtliche Qualität und Bedeutung. Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hat dies deutlich gemacht. Überlegungen zur Einführung von Verbandsklagen aus der M i t t e der K o m m i s sion können hieran anknüpfen 9 8 .
4. Die Mobilisierung des Bürgers durch Ausweitung der Direktwirkung des EG-Rechts
I n einem weiteren Sinne ist die Mobilisierung des Bürgers der Modus überhaupt, m i t dem der Europäische Gerichtshof einem Großteil seiner Rechtsprechung die Durchschlagskraft verliehen hat. Sowohl die Rechtsprechung zum Vorrang des Gemeinschaftsrechts als auch die Rechtsprechung zur unmittelbaren Geltung des Primärrechts sowie anderen Vertragsrechts der Gemeinschaft beruhen auf diesem Prinzip, und gleichfalls die Rechtsprechung zur unmittelba-
9 7
W. Kahl, Umweltprinzip und Gemeinschaftsrecht, S. 145; M. Zuleeg, Umweltschutz, NJW 1993, S. 31, 37. Soweit die Frage beantwortet werden muß, ob Normen des europäischen Rechts individuell einforderbare Befugnisse vermitteln, und sich dies nicht aus den Normen selbst ergibt, muß dementsprechend - das gebieten insoweit schon praktische Gründe - auch hier auf ein Näheverhältnis zwischen Befugnisträger und Regelungsinhalt abgestellt werden. Die deutsche Literatur sucht insoweit Abgrenzungen, die sich im Ergebnis mehr oder weniger der Schutznormtheorie annähern, vgl. insbes. W. Frenz, Subjektiv-öffentliche Rechte aus Gemeinschaftsrecht, DVB1. 1995, S. 408, 409 ff.; H.-W. Rengeling/A. Middecke u.a., Rechtsschutz in der Europäischen Union, Rn. 1083 ff., 1089 ff.; siehe auch M. Burgi, Verwaltungsprozeßrecht und Europarecht, S. 52 ff., 54; B. Goebel, Gemeinschaftsrechtlich begründete Staatshaftung, UPR 1994, S. 361 ff.; H.D. Jarass, Folgen der innerstaatlichen Wirkung, NJW 1991, S. 2665, 2667; W. Kahl, ebd., S. 145 ff.; Ch. Langenfeld, Zur Direktwirkung von Richtlinien, DÖV 1992, S. 955, 962; D.H. Scheuing, Europarechtliche Impulse, in: Innovation und Flexibilität, S. 289, 314 f.; G. Winter, Direktwirkung von Richtlinien, DVB1. 1991, S. 657, 662; ders., Rechtsschutz gegen Behörden, die Umweltrichtlinien der EG nicht beachten, NuR 1991, S. 453, 455; M. Zuleeg, Das Recht der Europäischen Gemeinschaften, S. 177 ff. Zu Recht wird hierbei jedoch - mit verschiedenen Akzenten im einzelnen - stets betont, daß insoweit nicht ohne weiteres die diesbezüglichen Engführungen der deutschen Lehre übernommen werden können, da insoweit die gedanklichen Voraussetzungen eben andere sind. Die „Betroffenheit" etwa als Kriterium ist hier dann nur noch ein heuristisches Prinzip (zu der praktischen Konvergenz von objektiv-rechtlichen und subjektivrechtlichen Konzepten siehe näher unten Teil 3 I. 2. und 3.). 9 8 Cl.-D. Ehlermann, Ein Plädoyer für die dezentrale Kontrolle, Festschrift für P. Pescatore, S. 205, 220.
I. Die Einbeziehung des Bürgers in die Verwaltung
ren Anwendbarkeit von Richtlinien sowie zur Schadensersatzpflicht
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wegen
mangelnder Umsetzung des Gemeinschaftsrechts bezieht hieraus ihre K r a f t " . Der insoweit maßgebliche erste Schritt lag in der zu Recht als „ k ü h n " 1 0 0 bezeichnete Entscheidungssequenz, m i t der dem E WG-Vertrag unmittelbare W i r k u n g auch gegenüber dem einzelnen zugesprochen und ihm dabei absoluter Vorrang auch vor nationalem Recht eingeräumt w u r d e 1 0 1 . Die Möglichkeit, auch als Bürger die Beachtung des Gemeinschaftsrechts einfordern zu können, wurde m i t dieser Rechtsprechung grundgelegt. Aus traditionell völkerrechtlicher Sicht hätte sich der Bürger auf den Vertrag, der als Vereinbarung z w i schen Staaten zunächst nur für diese Rechten und Pflichten begründet, unmittelbar nicht berufen k ö n n e n 1 0 2 . Ausdrücklich sah der Vertrag eine Ausnahme nur für die Verordnungen vor, und auch insoweit klärt der Wortlaut des Vertrags das Vorrangproblem nicht. Durch die These von Vorrang und unmittelbarer Geltung änderte sich die Stellung des Bürgers grundlegend: Nunmehr kann 9 9
A u f den ersten Blick parallel scheint auch die These von J. Coppel/A. Ο 'Ne ill, Taking Rights seriously?, CMLRev. 29 (1992), S. 669 ff., nach der der Europäische Gerichtshof die Grundrechte nicht um ihrer selbst Willen schütze, sondern sie zunehmend als Mittel zur Verstärkung des Gemeinschaftsrechts gegenüber dem Recht der Mitgliedstaaten benutze. Letztlich betrifft diese Analyse jedoch ein anderes Problem. Ihr Gegenstand ist eine Kritik einer unzulässigen Ausweitung der Prüfungsbefugnisse und damit Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofs mittels Rückgriffs auf ungeschriebene Grundsätze bzw. -rechte. Eine solche Kritik läßt sich zwar sicher auch vielen der vorliegend in den Blick zu nehmenden Entwicklungen vorhalten, soll hier aber gerade nicht Gegenstand der Untersuchung sein: Hier geht es allein um die Erfassung der Funktionalisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts durch Verleihung individueller Befugnisse ( - und hierzu wiederum ergibt sich aus der von J. Coppel/A. O'Neill kritisierten Rechtsprechung nichts). 10 0
Th. Oppermann, Europarecht, Rn. 529.
101
Van Gend & Loos, EuGH Slg. 1963, S. 1; Costa, EuGH Slg. 1964, S. 1251; Luetticke, EuGH Slg. 1966, S. 257; vgl. hierzu nur B. Beutler/R. Bieber/J. Pipkorn/ J. Streil, Die Europäische Union, S. 206 ff.; A. Bleckmann, Europarecht, Rn. 827 ff.; R. Geiger, EG-Vertrag, Art. 5, Rn. 8; E. Grabitz, in: ders./M. Hilf, EGV, Art. 189, Rn. 23 ff.; H.P. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, § 10, Rn. 29 ff. und 36 ff., 295 ff.; G. Ress, Die Auswirkungen des europäischen Gemeinschaftsrechts, in: Der Beitrag des Rechts, S. 43, 51 ff. 102
Das schließt nicht aus, daß - in Deutschland etwa unter Rückgriff auf das verfassungsrechtlich erforderliche Zustimmungsgesetz - innerstaatlich unter bestimmten Bedingungen auch einzelnen die Möglichkeit zuerkannt wird, sich auf Bestimmungen völkerrechtlicher Verträge zu berufen (etwa BVerwG 87, 11, 13 f.; hierzu J. Masing, Methodische Grundlagen, Festschrift für E.-W. Böckenförde, S. 51, 53 f.). Grundsätzlich ist das aber eine Frage der jeweiligen nationalen Rechtsordnung und deren Umsetzungsregeln; vgl. zutreffend A. Bleckmann, Europarecht, Rn 809 ff. Im einzelnen ist hier freilich vieles streitig; vgl. nur Th. Maunz; in: ders./Dürig, GG, Art. 59 (Bearbeitung 1971), Rn. 24 ff. m.w.N.; zur völkerrechtlichen Rechtslage etwa A Verdross/ B. Simma, Universelles Völkerrecht, §§ 863 ff.
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Teil 1 : Die Mobilisierung des Bürgers durch das Europarecht
er Gemeinschaftsrecht nicht nur unter Berufung auf ihm Befugnisse verleihende Verordnungen geltend machen, sondern kann sich gegen jedwede nationale Regelung, insbesondere auch gegen Akte der Gesetzgebung, wenden und auf die Vereinbarkeit mit dem EG-Vertrag vor den nationalen Gerichten prüfen lassen 1 0 3 . Treibende Kraft schon dieser frühen und grundlegenden Judikatur des Europäischen Gerichtshofs, mit der er das Gemeinschaftsrecht als eigene Rechtsordnung etabliert, war nicht zuletzt die Sorge um eine zu geringe Durchsetzungskraft der gemeinschaftsrechtlichen Normen, wenn diese nach den üblichen Grundsätzen von den Vertragsparteien innerstaatlich erst umgesetzt werden müßten. Das Argument der mangelnden Wirksamkeit, wenn nicht auch der Bürger dezentral für die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts sorgen könnte, hat deshalb bereits in diesen Entscheidungen erhebliches Gewicht. Befugnisse des Bürgers waren insoweit von vornherein nicht zuletzt Mittel zum Zweck, Instrumentarium zur Kontrolle: Ausdrücklich stellt der Europäische Gerichtshof die Klage des Bürgers auf die gleiche Ebene wie die Aufsichtsklage der Kommission 1 0 4 . Später wurde diese unmittelbare Anwendbarkeit völkervertaglicher Texte noch weiter ausgedehnt. Auch die Assoziierungsabkommen der Europäischen Gemeinschaft mit Drittstaaten gemäß Art. 238 E G V 1 0 5 , und schließlich überhaupt Verträge der Gemeinschaft mit anderen Staaten könnten gegenüber Gemeinschaftsbürgern unmittelbar anwendbar sein, wenn die Abmachungen mit dem Drittstaat ihrem Gegenstand nach hinreichend klar und unbedingt gefaßt sind. Wenn „eine unbedingte und eindeutige Verpflichtung" als Gegenstand des Abkommens in Frage stehe 106 , stehe der völkerrechtliche Charakter des Abkommens einer unmittelbaren Wirkung nicht grundsätzlich entgegen 107 . Denn 103 Im Effekt bedeutete dies zugleich eine erhebliche Verstärkung der Bedeutung des Art. 177 EGV und damit eine deutliche Erweiterung der Kompetenzen des Europäischen Gerichtshofs. 104 Van Gend & Loos, EuGH Slg. 1964, S. 3, 26 („Die Wachsamkeit der an der Wahrung ihrer Rechte interessierten einzelnen stellt eine wirksame Kontrolle dar, welche die durch die Kommission und die Mitgliedstaaten gemäß den Art. 169 und Art. 170 ausgeübte Kontrolle ergänzt"); vgl. dazu auch oben 3. 105 Bresciani, EuGH Slg. 1976, S. 129, 139, Tz. 12 ff.; Demirel, EuGH Slg. 1987, S. 3719; 3752, Tz. 13 ff. 106 107
Kupferberg I, EuGH Slg. 1982, S. 3641, 3664, Tz. 20.
Kupferberg I, EuGH Slg. 1982, S. 3641 ff. Die unmittelbare Berufung auf völkerrechtliche Verträge der Gemeinschaft wird dabei freilich von einer genaueren Interpretation des jeweiligen Vertrages abhängig gemacht und zurückhaltender angenommen als in bezug auf das interne Gemeinschaftsrecht; hinsichtlich der Bestimmungen des GATT etwa hat der Europäische Gerichtshof eine Direktwirkung - die sich dort unter Umständen freilich gegen eine Verordnung der Gemeinschaft selbst gerichtet hätte abgelehnt (International Fruit Company, EuGH Slg. 1972, S. 1219). Im einzelnen ist
I. Die Einbeziehung des Bürgers in die Verwaltung
45
nach den allgemeinen Regeln des Völkerrechts müsse jedes Abkommen nach Treu und Glauben erfüllt werden, und die Erfüllung einer solchen Verpflichtung sei nicht hinreichend gesichert, wenn sich nicht auch der einzelne Wirtschaftsteilnehmer auf sie berufen könne 1 0 8 : Der Bürger ist Garant der Effektivität der gemeinschaftsrechtlichen Vorgaben. Maßgeblich entwickelten dann vor allem aber die Entscheidungen zur unmittelbaren Wirkung von Entscheidungen 109 und Richtlinien 1 1 0 die Ausstattung des Bürgers mit Kontrollrechten weiter. An ihrem Anfang stand der Ärger über die oft flagrante Säumigkeit und Unwilligkeit der Mitgliedstaaten bei der Umsetzung von Richtlinien, die bis heute ein bedrückendes Bild von der tatsächlich erreichten politischen Einheit abgibt 1 1 1 . Weil die Kontrollmechanismen der Europäischen Gemeinschaft versagen und insbesondere eine zentrale Kontrolle durch die Kommission das Vollzugsdefizit nicht beseitigen kann, soll nun die Umsetzung der Richtlinien durch Befugnisse der Bürger gesichert werden und auch hier eine Kontrolle dezentral, quasi „guerillamäßig", sichergestellt werden. Diese zunächst politische Begründung, die auch in der Literatur stets betont und zur Rechtfertigung der unmittelbaren Wirkung von Richtlinien herangezogen w i r d 1 1 2 , hat sich folgerichtig auch in der dogmatischen hier noch vieles ungeklärt; vgl. hierzu B. Beutler/R. Bieber/J. Pipkorn/J. Streil, Die Europäische Union, S. 543 f.; vgl. näher auch G. Bebr, Gemeinschaftsabkommen, EuR 1983, S. 128 ff. 108
In der zitierten Entscheidung konnte sich dementsprechend ein Importeur unmittelbar auf ein Freihandelsabkommen berufen, in dem sich die Gemeinschaft und Portugal, das damals noch nicht Mitglied war, gegenseitig versprachen, keine diskriminierenden Maßnahmen oder Praktiken steuerlicher Art hinsichtlich von Ursprungserzeugnissen der jeweils anderen Partei anzuwenden. Gegenüber den zuständigen Behörden bzw. im nachfolgenden Gerichtsverfahren soll der Importeur folglich die Nichtanwendbarkeit entgegenstehender deutscher Vorschriften geltend machen können. 109
Leberpfennig, EuGH Slg. 1970, 825.
110
Van Duyn, EuGH Slg. 1974, 1337; Nederlandse Ondernemingen, EuGH Slg. 1977 S. 113; Becker, EuGH Slg. 1982, 53; Marschall, EuGH Slg 1986, 723 - std. Rspr.; weitere Nw. bei E. Grabitz, in: ders./M. Hilf, EGV, Art. 189, Rn. 60. 111 Vgl. hierzu etwa£ Breier, Umweltschutz, NuR 93, S. 457, 465 f.; Cl.-D. Ehlermann, Ein Plädoyer für die dezentrale Kontrolle, Festschrift für P. Pescatore, S. 205, 206 ff.; M Hilf, Die Richtlinie der EG, EuR 1993, 1, 16 f.; U. Sacksofsky, Europarechtliche Antworten auf Defizite, in: A u f dem Wege, S. 91, 92 f A . Scherzberg, Freedom of information, DVB1. 1994, S. 733 f. 112 W. Haneklaus, Direktwirkung, DVB1. 1993, S. 129, 131 („Sanktionsinstrument, mit dessen Hilfe verhindert werden soll, daß der Vertragsbrüchige Staat im Verhältnis zum rechtsunterworfenen Bürger von der Nichterfüllung seiner Umsetzungspflicht profitiert"); H.-J. Papier, Direkte Wirkung von Richtlinien, DVB1. 1993, S. 809 f.; G. Winter, Direktwirkung von Richtlinien, DVB1. 1991, S. 657, 665 („daß man auf das Instrument des Vertragsverletzungsverfahrens setzt oder, weil dies erfahrungsgemäß nicht scharf genug ist, eben Direktwirkung hinzunimmt").
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Teil 1 : Die Mobilisierung des Bürgers durch das Europarecht
Herleitung und Ausfaltung dieser Judikatur niedergeschlagen. Maßgeblich und letztlich allein tragender Gesichtspunkt ist hier - wie auch schon in den zuvor genannten Entscheidungen - der überhaupt zum Standardrepertoire des EuGH avancierte Auslegungstopos des „effet u t i l e " 1 1 3 : Die „praktische Wirksamkeit" der Richtlinie würde „abgeschwächt, wenn die einzelnen sich vor Gericht hierauf nicht berufen" könnten 1 1 4 . Ziel der dem Bürger verliehenen Befugnisse ist die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts 115. Auch die später hinzutretende zweite Begründungslinie 116 , nach der ein Staat dem einzelnen nicht entgegenhalten könne, er - der Staat - habe seine Verpflichtungen nicht erfüllt 1 1 7 , bekräftigt nur diese Funktion des Bürgers als Kontrolleur: Die unmittelbare Anwendung einer Richtlinie durch das Gericht ist die auf Antrag des Bürgers verhängte Sanktion gegen den vertragsuntreuen Staat. Stützt sich die Begründung ganz auf das Ziel der effektiven Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts, hat demgegenüber die Gewährleistung eines effektiven Individualschutzes keine eigenständige oder jedenfalls nur nebengeordnete Bedeutung. Die Durchsetzung des Rechts soll selbstverständlich auch die Durchsetzung individueller Rechtspositionen umfassen, aber hierin liegt keine besondere Qualität und schon gar keine inhaltlich-restringierende K r a f t 1 1 8 . Nähere Ausführungen zu den Voraussetzungen einer subjektiven Rechtsposition finden sich dementsprechend nicht. Die Einforderbarkeit einer Richtlinie wird - anknüpfend an die Entscheidung zur unmittelbaren Geltung des Primär-
113
R. Streinz, Der „effet utile", Festschrift für U. Everling, S. 1491 ff.; vgl. auch P. Fischer/H.F. Köck, Europarecht, S. 407; KP. Ipsen, Europäisches Gemeinschaftsrecht, § 10 Rn. 40 ff.; W. Möschel, Wird die effet-utile Rechtsprechung inutile?, NJW 1994, S. 1709 f.; G. Nicolaysen, Europarecht I, S. 47 ff.; Th Oppermann, Europarecht, Rn. 441 ff.; J. Schwarze, Funktionen des Rechts, in: Gesetzgebung in der Europäischen Gemeinschaft, S. 9,11 ff. 1 1 4
Nederlandse Ondernemingen, EuGH Slg. 1977 S. 113, 126, Tz. 20/29.
115
So etwa auch M Burgi, Verwaltungsprozeßrecht und Europarecht, S. 52.
116
Zu den verschiedenen Begründungslinien vgl. Ch. Langenfeld, Zur Direktwirkung von Richtlinien, DÖV 1992, S. 955, 957 f.; U. Sacksofsky, Europarechtliche Antworten auf Defizite, in: Auf dem Wege, S. 91, 102 f f , G. Winter, Direktwirkung von Richtlinien, DVB1. 1991, S. 657, 659 ff. 117 118
Ratti, EuGH Slg. 1979, S. 1629, 1642, Tz. 22 f.
Zu undifferenziert ist es insoweit, die Lehre von der unmittelbaren Wirkung der Richtlinien schlichtweg als eine Ausprägung des Rechtsschutzgedankens hinzustellen, der gerade der deutschen Rechtsordnung einleuchten müsse; so aber U. Everling, Zur direkten innerstaatlichen Wirkung der EG-Richtlinien, Festschrift für K. Carstens, S. 95, 108; V. Götz, Europäische Gesetzgebung durch Richtlinien, NJW 1992, S. 1849, 1855; zu einfach ist es insoweit auch, von einem mittlerweile erreichten „Gleichklang" von subjektivem und objektiven Rechtsschutz zu sprechen, so E. Schmidt-Aßmann, System des Rechtsschutzes, JZ 1994, S. 832, 834.
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rechts - allein an die objektiven Voraussetzungen geknüpft, daß sie inhaltlich unbedingt und hinreichend klar ist. Ihre Geltendmachung durch jeden „Betroffenen" scheint für den Gerichtshof damit hinreichend b e g r ü n d e t 1 1 9 . A u c h die v o m Gerichtshof ohne großen Argumentationsaufwand vorgenommene Beschränkung der unmittelbaren Anwendbarkeit auf Fälle, in denen die richtliniengestützten Ansprüche keine belastende W i r k u n g für Dritte h a b e n 1 2 0 , zeigt, daß nicht der Schutz individueller Rechte, sondern die
Sanktionswirkung
gegenüber dem Mitgliedstaat das entscheidende Kriterium i s t 1 2 1 . Ginge es u m den Individualschutz, so wäre die These, daß dieser Schutz nur gegenüber dem Mitgliedstaat gewährleistet werden müsse, zumindest begründungsbedürftig.
1 1 9 Die insoweit aus praktischen Gründen erforderliche Bestimmung derjenigen, die sich unmittelbar auf eine Richtlinie berufen können, hängt im Ergebnis damit zwangsläufig auch nach der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs von einem qualifizierten Näheverhältnis zwischen dem einzelnen und dem Regelungsinhalt ab; wenn es dabei in irgendeiner Weise auf „Betroffenheit" ankommt handelt es sich dabei aber nur um einen heuristischen Begriff; mit dem inhaltlichen Anspruch der deutschen Schutznormtheorie hängt dies nicht zusammen (siehe hierzu - mit Nw. zur diesbezüglichen Literatur - auch oben 3. mit Fn. 97). 1 2 0 Marshall, EuGH Slg. 1986, S. 723, 749, Tz. 48; O. Traen, EuGH Slg. 1987, 2141, 2159 f., Tz. 23 ff.; Kolpinghius Nijmegen, EuGH Slg. 1987, 3969, 3985, Tz. 9; Marleasing, EuGH Slg. 1990, 4135, 4158, Tz.6; Faccini Dori, EuGH Slg. 1994, 3325; zustimmend etwa A Bach, Direkte Wirkungen, JZ 1990, S. 1108, 1115 f.; U. Everling, Zur direkten innerstaatlichen Wirkung der EG-Richtlinien, Festschrift für K. Carstens, S. 97, 108 f.; E. Klein, Unmittelbare Geltung, S. 25 f.; A. Oldenbourg, Die unmittelbare Wirkung, S. 259 ff.; H.-J. Papier, Direkte Wirkung von Richtlinien, DVB1. 1993, S. 809 ff.; St.U. Pieper, Die Direktwirkung von Richtlinien, DVB1. 1990, S. 684, 686 f.; R. Streinz, Europarecht, Rn. 399 ff. 121
A m ehesten läßt sich diese Beschränkung - mit all ihren Schwierigkeiten - in der Begründungslinie der Treuwidrigkeit her verorten; vgl. deutlich etwa auch bei H.-J; Papier, Direkte Wirkung von Richtlinien, DVB1. 1993, S. 809 f.: „Richtlinien wirken grundsätzlich nicht unmittelbar zu Lasten der Gemeinschaftsbürger. Denn ihnen kann ersichtlich nicht der Einwand des Rechtsmißbrauchs entgegengehalten werden. Das bedeutet zum einen, daß Richtlinien keine direkte Wirkung zwischen Privatpersonen entfalten können ..."; ähnl. W. Haneidaus, Direktwirkung, DVB1. 1993, S. 129, 132 f. Mit dem „effet utile" hingegen ließe sich - Dank der strukturellen Unbegrenztheit dieses Topos - über die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs hinaus ohne weiteres auch horizontal die unmittelbare Wirkung begründen; vgl. P.-Ch. MüllerGraff, Gemeinschaftsrecht und Privatrecht, NJW 1993, S. 13, 20 f.; U. Sacksofsky, Europarechtliche Antworten auf Defizite, in: A u f dem Wege, S. 91, 102 ff.; G. Winter, Direktwirkung von Richtlinien, DVB1. 1991, S. 657, 665 f.; ebenfalls für eine umfassende Direktwirkung etwa A. Bleckmann, Zur unmittelbaren Anwendbarkeit, RIW 1984, S. 774 ff.; E. Grabitz, in: ders./M. Hilf, EGV, Art. 189, Rn. 61a; L. Krämer, Zur innerstaatlichen Wirkung von Umweltrichtlinien, WiVerw. 1990, S. 138, 152 f.; G. Nicolaysen, Keine horizontale Wirkung, EuR 1986, S. 370, 371; St. Richter, Die unmittelbare Wirkung, EuR 1988, S. 394 ff.
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Teil 1 : Die Mobilisierung des Bürgers durch das Europarecht
Daß gegenüber der Wahrung allein der individuellen Rechtspositionen der Aspekt der objektiven Kontrollfunktion der dominierende ist, zeigt schließlich auch die Rechtsprechung des Gerichtshofs zu Klagen gegen gleichheitswidrige Versagungen von Sozialleistungen: Obwohl die geltend gemachten Richtlinien lediglich zur Gleichbehandlung verpflichteten, nicht aber auch Ansprüche auf irgendwelche Sozialleistungen einräumten, verlangte der Europäische Gerichtshof im Ergebnis doch die Gewährung der entsprechenden Leistung selbst 1 2 2 und zwar im übrigen selbst dann, wenn für den einzelnen die einschlägigen Fristen zur Geltendmachung bereits abgelaufen waren 1 2 3 . Maßgeblich war auch hier, daß die Berufung auf die Richtlinie spürbare Wirkung entfalten und gegenüber dem säumigen Mitgliedstaat eine Sanktion darstellen sollte. Daß aus der Sicht eines eng subjektiv-rechtlichen Verständnisses der formale Anspruch auf Gleichbehandlung mangels materialen Substrats leerlaufen könnte 1 2 4 , wurde von dem Gerichtshof demgegenüber ernsthaft nicht in Betracht gezogen. Von der Kontrollfunktion, die dem Bürger im Rahmen solcher Klagen zugesprochen wird, schied eine solche Überlegung von vornherein aus. Die Rechtsprechung zur Schadensersatzpflicht 125 treibt den Ausbau der Kontrollfunktion des Bürgers schließlich noch ein weiteres Stück voran: Kann die Durchsetzung einer Richtlinie selbst durch deren unmittelbare Anwendbarkeit nicht erzwungen werden, soll der Bürger zumindest Schadensersatzforderungen stellen können 1 2 6 . Auch hier wird die Entscheidung in erster Linie mit der vollen Wirksamkeit der gemeinschaftsrechtlichen Bestimmungen (effet 122
McEmmott I, EuGH Slg. 1987, S. 1453, 1466 f , Tz. 10 ff.
123
McEmmott II; EuGH Slg. 1991, S. 4269, 4298, Tz. 16 ff. Der Sanktionscharakter, der durch den Gerichtshof erstrebt wird, wird auch in dieser Entscheidung nochmals deutlich. Für die Nachforderung von Sozialleistungen, für die wegen Nichtumsetzung einer Richtlinie keine nationale rechtliche Grundlage bestand, werden in ihr auch die allgemein geltenden, nationalen Klagefristen, die versäumt wurden, außer Kraft gesetzt. Auch wenn also ein Bürger es versäumt hat, sich im Rahmen der allgemeinen Fristen rechtzeitig um die sich aus Gemeinschaftsrecht (in diesem Fall: mittelbar) ergebenden Sozialleistungen zu kümmern, soll er diese gegenüber dem gemeinschaftswidrig untätigen Staat später noch geltend machen können. 124
Eine zwingende Konsequenz ist dies freilich auch bei einem subjektiv-rechtlichen Ansatz nicht in jedem Fall; zur Problematik des Gleichheitssatzes im Leistungsbereich vgl. nur H. von Mangoldt/F. Klein/Ck Starck, BGG, Bd. 1, Rn 100 ff. m.w.N. 125 Francovich, EuGH Slg. 1991, S. 5357; Wagner Miret, EuGH Slg. 1993, S. 6911; Brasserie du Pêcheur, EuGH EuZW 1996, S. 205 ff.; zu früheren, vorbereitenden Ansätzen in der Rechtsprechung vgl. Ch. Tomuschat, Das Francovich-Urteil, Festschrift für U. Everling, S. 1585, 1588 ff. 126
J. Ukrow, Unmittelbare Wirkung von Richtlinien, NJW 1994, S. 2469, 2470: „... unmittelbare Wirkung und gemeinschaftsrechtlicher Staatshaftungsanspruch kommunizierende Röhren im System der dezentralen Kontrolle der Anwendung des Gemeinschaftsrechts ...".
I. Die Einbeziehung des Bürgers in die Verwaltung
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utile) und i m übrigen m i t der Pflicht der Staaten zur Gemeinschaftstreue (Art. 5 E G V ) b e g r ü n d e t 1 2 7 . A u c h wenn insoweit der Schutz der durch die Richtlinie begründeten Rechte vergleichsweise deutlich als eigenständiges Begründungsmoment hinzutritt, so bleibt doch der Gedanke der Sanktion wirkmächtige Triebfeder: „ D e r Mitgliedstaat w i r d sich beeilen, seine Pflichten zu erfüllen, u m der Haftung zu e n t g e h e n " 1 2 8 . Schadensersatz ist insofern mehr als Wiedergutmachung. Er soll „ A n r e i z " und „ B e l o h n u n g " 1 2 9 für die dezentrale Kontrolle durch den Bürger sein und Strafsanktion gegenüber dem säumigen S t a a t 1 3 0 . Geht es zuvörderst u m die Kontrolle der Mitgliedstaaten, ist es auch nicht verwunderlich, daß die Rechtsprechung zur Schadensersatzpflicht gerade an dem Fall entwickelt wurde, der in einem sehr durch den Individualschutz geprägten Schadensersatzsystem w i e der Bundesrepublik die größten prinzipiellen Probleme aufwirft: dem Fall des legislativen Unrechts, bewirkt in der Form des Unterlassens 1 3 1 . 127
Zur Interpretation dieser Entscheidungen als konsequente Fortsetzung und Lükkenschließung der „Effektivitäts-Rechtsprechung" vgl. - zum Teil auch kritisch - : Th. von Danwitz, Zur Entwicklung der gemeinschaftsrechtlichen Staatshaftung, JZ 1994, S. 335, 336; HG. Fischer, Staatshaftung nach Gemeinschaftsrecht, EuZW 1992, S. 41, 42 f.; J. Geiger, Die Entwicklung eines europäischen Staatshaftungsrechts, DVB1. 1993, S. 465, 467 ff.; K. Hailbronner, Staatshaftung, JZ 1992, S. 284, 286; KD. Jarass, Haftung für die Verletzung von EU-Recht, NJW 1994, S. 881; H.-J. Prieß, Die Haftung der EG-Mitgliedstaaten, N V w Z 1993, S. 118, 119 f.; S. Schlemmer-Schulte/J. Ukrow, Haftung des Staates, EuR 1992, S. 82 ff.; F. Schockweiler, Der Schadensersatzanspruch, Festschrift für U. Everling, S. 1315, 1317 ff.; R. Streinz, Staatshaftung, EuZW 1993, S. 599, 601. Äußerst kritisch, aber in der Analyse ebenso: F. Ossenbühl, Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch, DVB1. 1992, S. 993 f.; 128
M. Zuleeg, Die Rolle der rechtsprechenden Gewalt, JZ 1994, S. 1, 6.
129
Cl.-D. Ehlermann, Ein Plädoyer für die dezentrale Kontrolle, Festschrift für P. Pescatore, S. 205, 220. 130
Vgl. auch H.-J. Prieß, Die Haftung der EG-Mitgliedstaaten, N V w Z 1993, S. 118, 120: „Inhaltlich stellt sich diese Begründung als eine Bezugnahme auf den 'effet utile' dar, die ohne weiteres nachvollziehbar und auch im Ergebnis zu billigen ist. Denn es unterliegt keinem Zweifel, daß finanzielle Sanktionen dem Gemeinschaftsrecht effektiver zur Durchsetzung verhelfen, als das Vertragsverletzungsverfahren." Siehe ähnlich B. Goebel, Gemeinschaftsrechtlich begründete Staatshaftung, UPR 1994, S. 361; R. Streinz, Anmerkungen, EuZW 1992, S. 201, 204. Ebenso, jedoch kritisch F. Ossenbühl, Staatshaftung, Festschrift für U. Everling, S. 1031, 1046: „... in der Form, die ihm der EuGH gegeben hat, ist der Staatshaftungsanspruch zu einem neuen Sanktionsinstrument für die Umsetzung und Geltungssicherung des Europarechts gediehen". 131 Vgl. hierzu St. Detterbeck, Staatshaftung für die Mißachtung von EG-Recht, VerwArchiv 85 (1994), S. 159, 163 ff.; K. Hailbronner, Staatshaftung, JZ 1992, S. 284, 286; M. Nettesheim, Gemeinschaftsrechtliche Vorgaben, DÖV 1992, S. 999 f f ; St. Kopp, Staatshaftung, DÖV 1994, S. 201, 202 und 205 f.; R. Streinz, Auswirkungen, Jura 1995, 6, 11.
4 Masing
50
Teil 1: Die Mobilisierung des Bürgers durch das Europarecht
In einer Gesamtsicht hat der Europäische Gerichtshof so insbesondere durch die Instrumentalisierung der Gemeinschaftsbürger seiner Rechtsprechung ihre Durchschlagkraft gegeben. Befugnisse der Bürger sollen gewährleisten, was durch die Institutionen der Gemeinschaft gegenüber den Mitgliedstaaten nicht gewährleistet werden kann: Die allgemeine Durchsetzung der Gemeinschaftsrechts. Ch. Tomuschat resümiert treffend: „Ursprünglich war gewiß das Verfahren nach Art. 169 EGV als das Hauptinstrument zur Korrektur von Vertragsverstößen angelegt worden. Schrittweise hat dann der EuGH, beginnend bei Van Gend & Loos über Costa/ENEL und Simmenthai bis jetzt hin zu Francovich eine Palette von Mechanismen entwickelt, die geeignet sind, durch den Appell an das Eigeninteresse des Rechtsunterworfenen und die Einschaltung des nationalen Richters die Einhaltung des Gemeinschaftsrechts sehr viel wirksamer zu sichern." 1 3 2
II. Die Mobilisierung des Bürgers als Prinzip Die Ausstattung des Bürgers mit individuellen Befugnissen zur Überwindung von Widerständen bei der Umsetzung des Gemeinschaftsrechts ist aus einer weiteren Perspektive freilich nichts anderes als die Durchsetzung einer segmentweise - zentral gesteuerten Rechtsordnung. Nationale Zwischengewalten, die sich vertragsuntreu zeigen und der genauen Umsetzung des Gemeinschaftsrechts widersetzen, werden durch sie gezielt unterlaufen und ausgeschalt e t 1 3 3 , und an ihre Stelle tritt unmittelbar die Europäische „Rechtsgemeinschaft", die sich zwar der je einzelstaatlichen Institutionen noch bedient, diese aber in bezug auf das Gemeinschaftsrecht aus den jeweiligen politischen Einheiten herauslöst. Von daher könnte man dazu neigen, die dargestellte Instrumentalisierung des Bürgers zur Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts in ihrer Bedeutung zu minimalisieren: Dem Bürger werden nunmehr seine Befugnisse statt von seinem Nationalstaat eben von der Europäischen Gemeinschaft eingeräumt. Und bisher unterscheiden sich diese Befugnisse auch in ihrem praktischen Ergebnis meistens doch nur in Einzelaspekten von den Befugnissen, die nach nationalem Recht auch sonst bekannt sind. Mit einer solchen Sichtweise würde man jedoch Kraft und Dynamik des europarechtlichen Begründungswegs solcher Befugnisse verkennen. Indem die Durchsetzung der Europäischen Rechtsordnung durch eine gezielte Instrumen132
Ch. Tomuschat, Das Francovich-Urteil, Festschrift für U. Everling, S. 1585, 1593 f. 133 Ygj j n diesem Sinne auch die Entscheidungen Simmenthai, EuGH Slg. 1978, S. 629 und Fratelli Costanzo, EuGH Slg. 1989, S. 1839.
II. Die Mobilisierung des Bürgers als Prinzip
51
talisierung der Bürger erst hergestellt wird und hierbei die Kontrollwirkung nicht nur Reflex sondern Ziel der Einräumung individueller Befugnisse ist, erhalten diese einen eigenen Bezugspunkt und damit eine spezifische Qualität. Diese kann sich nicht nur für die Auslegung und Zuerkennung solcher Befugnisse im einzelnen auswirken, sondern ist geeignet, die Stellung des Bürgers im Staat überhaupt mit eigenen Konturen zu versehen: Ist der Bürger nicht nur Adressat und Träger von Individualansprüchen, sondern auch Teil der Verwaltung? Hat er als „eine Art Organ" 1 3 4 an deren Aufgaben Teil? In der Literatur, angeführt nicht zufällig von Wissenschaftlern, die der Praxis Europäischer Institutionen entstammen, ist dies längst zu einem weite Perspektiven bietenden Programm geworden. Dem Gemeinschaftsbürger wird prinzipiell die öffentliche Aufgabe zugeordnet, für einen effektiven Vollzug des Gemeinschaftsrechts zu sorgen. Da die Vorstellung einer zentralen Kontrolle durch die Kommission, wie in Art. 155 EGV vorgesehen, nur als absurd bezeichnet werden könne, käme dieser Aufgabe für die Zukunft des Gemeinschaftsrechts geradezu eine Schlüsselrolle z u 1 3 5 . In Ergänzung und Kompensation der geringen Präsenz einer öffentlichen Meinung auf gesamteuropäischer Ebene 1 3 6 müsse die jeweilige Bereichsöffentlichkeit bzw. der einzelne Bürger „über die konkrete Anwendung der Regeln des Gemeinschaftsrechts vor Ort wachen" 1 3 7 und so eine Kontrolle dezentral sicherstellen. Nur wenn die Privaten in die Lage versetzt würden, „mit eigenen Mitteln für die Durchsetzung ihrer Rechte zu sorgen" 1 3 8 und „zur Beförderung des öffentlichen Interesses subjektive öffentliche Rechte eingeräumt" bekommen 139 , sei die Umsetzung des Gemeinschaftsrechts technisch möglich und könne es auf Akzeptanz hoffen. Die Funktion des Bürgers, auf eine effektive Umsetzung des Rechts hinzuwirken, und die daraus fließenden Befugnisse werden andeutungsweise auch als Ausdruck eines besonderen Status verstanden. In Anlehnung an P. Häberle 1 4 0 bezeichnet ihn I. Pernice als „status activus processualis" 141 . Er 134 135
/.
So P.-M. Huber, Gemeinschaftsrechtlicher Schutz, EuR 1991, S. 31, 34. Pernice, Gestaltung und Vollzug des Umweltrechts, N V w Z 1990, S. 414,
420. 136
Cl.-D. Ehlermann, Ein Plädoyer für die dezentrale Kontrolle, Festschrift für P. Pescatore, S. 205, 216. 137 1. Pernice, Gestaltung und Vollzug des Umweltrechts, N V w Z 1990, S. 414, 423 (Hervorhebung nicht im Original). 138 Cl.-D. Ehlermann, Ein Plädoyer für die dezentrale Kontrolle, Festschrift für P. Pescatore, S. 205, 217. 139
P.-M. Huber, Gemeinschaftsrechtlicher Schutz, EuR 1991, S. 31, 34.
140
P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43, 86 ff.
141
1.
424. 4*
Pernice, Gestaltung und Vollzug des Umweltrechts, N V w Z 1990, S. 414,
52
Teil 1 : Die Mobilisierung des Bürgers durch das Europarecht
zieht diesen Begriff dabei ausdrücklich aus seinem ursprünglich grundrechtlichen Kontext heraus und versteht ihn - freilich noch ohne dies theoretisch näher auszuzeichnen - allgemein als Mitwirkung „im privaten und öffentlichen Interesse" 142 . Letzte Basis dieses Status ist die staatsbürgerliche Einbindung des Bürgers in die Europäische Gemeinschaft: Der dem Bürger verliehene status activus processualis „nimmt ihn als Staats- und Gemeinschaftsbürger ernst" und „materialisiert seine Mitveranwortung im Gemeinwesen" 143 . Ist die Tendenz, „die Vollzugsüberwachung letztlich in die Hände der betroffenen Bürger" zu legen 1 4 4 , nicht nur der rote Faden der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs 145 , sondern auf einer Grundsatzbestimmung ruhendes Programm, so weist dies für die Gestaltung des Gemeinschaftsrechts in die Zukunft 1 4 6 . Zunächst ist von diesem Konzept die Forderung unausweichlich, das Gemeinschaftsrecht - insbesondere die Richtlinien - so zu fassen, daß sich aus ihnen möglichst unabhängig von nationaler Umsetzung Rechte und Pflichten einzelner ergeben und die Normen quasi „seif executing" werden 1 4 7 . Betroffenen müssen Möglichkeit und unter Umständen auch positive Anreize oder Belohnungen 148 geboten werden, die Behörden zum Einschreiten zu zwingen bzw. gegen rechtswidrige Maßnahmen vorzugehen, insbesondere zu klagen 1 4 9 . Daß insoweit der Kreis der „Betroffenen" - gerade angesichts der Wirtschafisgegründetheit der Europäischen Gemeinschaft - weit gefaßt werden kann, zeigt etwa der für das Umweltrecht gegebene Hinweis darauf, daß „in jeder Nichteinhaltung beschlossener Vorschriften zum Schutz der Umwelt eine Subventionierung der Emittenten" liege 1 5 0 . Auch die Forderung nach einer stärkeren Kontrolle durch Verbände und Fachkreise, welchen unter Umständen Klagebe-
142
I. Pernice , ebd., S. 414, 424 mit Fn. 109 (Hervorhebung im Original).
143
I. Pernice , ebd., S. 424; vgl. auch Cl.-D. Ehlermann, Ein Plädoyer für die dezentrale Kontrolle, Festschrift für P. Pescatore, S. 205, 217. 144
Kl. Hansmann, Die Umsetzung von EG-Umweltschutzrichtlinien, JbUTR 1992, S. 21,26. 145 U. Everling, Durchführung und Umsetzung des Europäischen Gemeinschaftsrechts, N V w Z 1993, S. 209, 215. 146 Vgl. auch M. Hilf, Die Richtlinie der EG, EuR 1993, S. 1, 17 f.: Die Möglichkeiten dezentraler Kontrolle seien insoweit „noch keineswegs ausgeschöpft"; ebenso R. Steinberg,, Probleme der Europäisierung, AöR 120 (1995), S. 549, 580 ff. 147
/.
Pernice , Gestaltung und Vollzug des Umweltrechts, N V w Z 1990, S. 414,
425 f. 148 Cl.-D. Ehlermann, Ein Plädoyer für die dezentrale Kontrolle, Festschrift für P. Pescatore, S. 205, 220. 1 4 9
Hierzu Kl. Hansmann, Die Umsetzung von JbUTR 1992, S. 21, 24 ff. 15 0
EG-Umweltschutzrichtlinien,
L. Krämer, Das Verursacherprinzip, EuGRZ 1989, S. 353, 359.
II. Die Mobilisierung des Bürgers als Prinzip
53
fugnisse einzuräumen seien, schließt hier an. Da es sich insoweit um eine öffentliche Aufgabe im allgemeinen Interesse handelt, stellt sich insoweit auch die Frage, „wie eventuelle Musterprozesse zu finanzieren sind" 1 5 1 . Ein weiterer Vorschlag ist - zunächst für den Bereich des Umweltrechts - die Einführung eines Beschwerdeverfahrens, in dem „der betroffene Bürger, der eine Verletzung von Vorschriften des Umweltrechts, einschließlich der Richtlinien der Gemeinschaft feststellt oder vermutet" eine nationale Behörde dazu zwingen können soll, „in angemessener Frist eine selbständige Sachverhaltsermittlung [zu] betreiben, Stellungnahme der betreffenden Behörde ein[zu]holen und über die Berechtigung der Beschwerde sowie eventuelle Abhilfemaßnahmen einen abschließenden Bescheid [zu] geben" 1 5 2 . Die Mobilisierung des Bürgers für die Durchsetzung des Gemeinschaftsrechts steht so erst am Anfang. Die Schritte, die die Praxis bisher insoweit gegangen ist, sind noch klein und haben sich lautlos vollzogen. Das Prinzip aber eröffnet weite Perspektiven. Wie verhält sich dies jedoch nun zu dem hergebrachten Verständnis des deutschen Verwaltungsrechts zu der Stellung des Bürgers bei der Durchsetzung des Rechts? Ist es gegenüber diesem Konzept aufgeschlossen und aufnahmebereit? Von kritischer Seite wird hier nachdrücklich gewarnt: „Der nationale Richter und der Bürger sind damit jene Stationen, über die der Integrationsprozeß angekurbelt werden soll, wenn sich die regulären Organe der Mitgliedstaaten 'sperren'. Wie wirksam diese Ersatzschiene funktioniert, hängt unter anderem davon ab, wie stark man die subjektiven Rechte in Europa ausbaut. Ein verstärkter Ausbau hätte grundlegende Auswirkungen auch auf die nationalen Verwaltungsrechtsordnungen ..." und wäre geeignet, „eine Erdbewegung nicht vorhergesehenen Ausmaßes ... auszulösen" 153 . Wo rührt solche Skepsis her? Gerät das europäische Modell - mehr als eine bloße rechtspolitische Neuerung - in Konflikt auch mit Grundvorstellungen des deutschen Verwaltungsrechts? Welche Rolle spielt hierbei die in bezug genommene Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht und welche Kraft enthält sie heute noch?
151
Cl.-D. Ehlermann, Ein Plädoyer für die dezentrale Kontrolle, Festschrift für P. Pescatore, S. 205, 223. 152 1. Pernice , Gestaltung und Vollzug des Umweltrechts, N V w Z 1990, S. 414, 424; äußerlich knüpft dies an die Praxis der Bürgerbeschwerden gegenüber der Kommission an, deren informative Bedeutung für die Kommission als erheblich angesehen wird und diese gelegentlich auch zu einem Einschreiten veranlassen, vgl. hierzu etwa Ch. Demmke, Die EG-Informationsrichtlinie, in: Umweltschutz durch Umweltinformation, S. 33, 43 ff.; R. Steinberg, Probleme der Europäisierung, AöR 120 (1995), S. 549, 591 f; R. Wägenbaur, Die Rechtsprechung des EuGH, in: Föderalismus und Europäische Gemeinschaften, S. 161, 163 f. 153
1046 f.
F. Ossenbühl, Der gemeinschaftsrechtliche Staatshaftungsanspruch, S. 1031,
Teil 2 Die Privatbezogenheit der deutschen Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht Im deutschen Verwaltungsrecht richtet sich die Frage, welche Rechtsnormen der einzelne Bürger geltend machen und zur Durchsetzung bringen kann, nach der Lehre vom subjektiv-öffentliche Recht. Das subjektiv-öffentliche Recht ist dabei ein Schlüsselbegriff des deutschen Verwaltungsrechts. An ihm entscheidet sich die Stellung des Bürgers gegenüber der Verwaltung insgesamt. Konkrete Befugnisse und, allgemeiner noch, eine rechtlich definierte Subjektstellung überhaupt, werden dem einzelnen gegenüber der Exekutive traditionell nur nach Maßgabe der ihm verliehenen subjektiv-öffentlichen Rechte zugesprochen. Außerhalb solcher Rechte bleiben Normen, die die Verwaltung binden, für den einzelnen rechtlich irrelevant. Ihre Beachtung mag ihn zwar vielfach betreffen oder interessieren, jedoch sind sie als bloß objektives Recht inappellabel. A u f die Einhaltung dieser Vorschriften kann sich der Bürger nicht berufen, ihre Beachtung im Einzelfall geht ihn nichts an. Was ist nun genauerer Inhalt dieser Konzeption? Von welcher Vorstellung zum verwaltungsrechtlichen Staat-Bürger-Verhältnis ist sie getragen? Wie verhält sie sich zu der oben beschriebenen Konzeption der Europäischen Gemeinschaft? Erweist sich das subjektiv-öffentliche Recht gegenüber deren Programm der Mobilisierung des Bürgers für die Rechtsumsetzung als neutrales und ohne weiteres nutzbares Institut, das lediglich eine Rechtstechnik vorgibt? Oder bringt sich in ihm eine inhaltliche Vorstellung von dem Verhältnis zwischen Bürger und Verwaltung zur Geltung, die mit einer Indienstnahme des Bürgers als Garant effektiver Rechtsumsetzung nicht zusammenpaßt? Mit diesen Fragen ist letztlich das Problem des materiellen Gehalts der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht aufgeworfen: Was bedeutet die Subjektbezogenheit des subjektiv-öffentlichen Rechts? Hat sie einen maßgebenden Inhalt oder ist sie nur Form? Der Stand der Lehre ist hierzu merkwürdig unentschieden. Trotz einer breit gefächerten Literatur bleibt der gedankliche Ausgangspunkt des subjektiv-öffentlichen Rechts in der Regel in ihr mehr vorausgesetzt als reflektiert. Diesen Ausgangspunkt und seine geschichtliche Bedingtheit gilt es im folgenden freizulegen.
56
Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
I. Geschichtliche Grundlagen Die deutsche Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht entwickelte sich unter den besonderen Bedingungen des deutschen Konstitutionalismus und hat von dort ihr Gepräge erhalten. Eingebunden in eine Zeit, in der das Staatsrecht von dem politisch noch nicht entschiedenen Spannungsverhältnis zwischen monarchischem und demokratischem Prinzip beherrscht wurde, war sie eng verwoben mit der Frage nach der Teilhabe des Bürgers an der Staatsgewalt: Von ihr hatte sie sich abzugrenzen, von ihr aus wurde sie angegriffen. Die Erörterung des materialen Gehalts dieser Lehre für das Staat-Bürger-Verhältnis kann folglich an einer Auseinandersetzung mit dem 19. Jahrhundert nicht vorbeigehen. Die zahlreichen Abhandlungen in der Literatur über die Entstehung des subjektivöffentlichen Rechts1 machen dies nicht entbehrlich. Denn ihre Perspektive bleibt in der Regel beschränkt auf die Nachzeichnung der schrittweisen Anerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte, verstanden als die in die Moderne führende, den Obrigkeitsstaat zurückdrängende Entfaltung der Subjektstellung des Bürgers. Man hat dabei die Entwicklung zum Teil als unzureichend beurteilt oder etwa die Gesetzesabhängigkeit der subjektiven Rechte als obrigkeitsstaatliches Relikt kritisiert, jedoch wurde damit die Figur des subjektiven Rechts nicht auch inhaltlich auf die Strukturen des deutschen Konstitutionalismus rückbezogen. Was bedeutete es, daß der einzelne seine und nur seine Rechte geltend machen können sollte? Welche Art von Subjektstellung sollte ihm damit zuerkannt werden? Liegt in dem Konzept des subjektiv-öffentlichen Rechts auch eine innere, prinzipielle Beschränkung der dem einzelnen zuzuerkennenden Subjektstellung? Gerade insoweit liegt im deutschen Konstitutionalismus ein Schlüssel für die Lehre des subjektiv-öffentlichen Rechts, der noch wenig Beachtung gefunden hat.
1. Die Abgrenzung von den jura quaesita Das bekanntermaßen zentrale Problem, das das 19. Jahrhundert zunächst zu lösen hatte, war die rechtsfundamental gestellte Frage: Kann es gegenüber dem Staat überhaupt subjektive öffentliche Rechte geben? Dies wurde von vielen für grundsätzlich unmöglich gehalten. „Der Zustand der unbedingten Untertänigkeit unter die Herrschaftsgebote der Staatsgewalt", führt etwa C. Bornhak
1 H. Bauer, Geschichtliche Grundlagen, S. 43; W. Henke, Das subjektive öffentliche Recht, S. 4 ff.; P.-M. Huber, Konkurrenzschutz, S. 100 ff.; R. Schmidt, Öffentliches Wirtschaftsrecht, Allg. Teil, S. 448 ff.; J. Wieland, Die Konzessionsabgaben, S. 99 ff.
I. Geschichtliche Grundlagen
57
aus, „kann nimmermehr die Quelle subjektiver Berechtigungen sein" 2 . Ähnlich hatte C. F. von Gerber die Diskussion um die öffentlichen Rechte 1852 eröffnet 3 , und entsprechend wurde die Möglichkeit subjektiver Rechte auch in der Folgezeit immer wieder diskutiert. Zu undifferenziert wird diese Sichtweise heute oft nur als rückständige Festschreibung obrigkeitlicher Unterdrückung abgetan4. Denn ihr Gegenstand war zunächst nicht primär die Freistellung der Exekutive von Rekursmöglichkeiten des Bürgers, sondern die Auseinandersetzung mit dem alten Begriff der „wohl erworbenen Rechte" und deren Transformation in die Struktur des modernen Staates5. Schon sprachlich ist dies aus der immer wieder anzutreffenden Verwendung des Begriffs der, jura quaesita" zu ersehen. Bei C. F. von Gerber, der der Diskussion um die öffentlichen Rechte einen initialen Impuls gegeben hat, ist diese Anknüpfung an die alte Begrifflichkeit exemplarisch. Seine grundsätzliche Verneinung öffentlicher Rechte der Untertanen beruht auf einer Begrifflichkeit, die von dem ursprünglichen Verständnis der „Rechte" als Herrschaftsrechte noch geprägt ist. Zwar unterscheidet er die öffentlichen Rechte ausdrücklich von den privaten und trägt der Umbildung der alten Herrschaftsordnungen in die Form moderner Staatlichkeit durch ihre Ablösung von den Einzelpersonen und ihre Beziehung auf einen „gesonderten Rechtskreis" des Staates6 vom Ansatz her Rechnung. Gerade wegen seiner diesbezüglichen Konsequenz gilt C.F. Gerber sogar als wesentlicher Neuerer 7 bzw. wird in seinen Arbeiten kritisch ein perspektivenverengender Wendepunkt gesehen8. Dennoch sind auch in dieser neuen Sichtweise die „öffentlichen Rechte" für C.F. von Gerber primär noch als Herrschaftsbefugnisse gedacht. Sie wollen nach „dem Bedürfnisse der Gesamtheit"9 ausgeübt
2
C. Bornhak, Preußisches Staatsrecht, S. 268 f.
3
C.F. von Gerber, Über öffentliche Rechte, S. 62 ff.
4
Vgl. etwa H. Bauer, Geschichtliche Grundlagen, S. 43 ff.
5
Vgl. hierzu die grundlegende Darstellung von W. Henke, Das subjektive öffentliche Recht, S. 9 ff. 6
C.F. von Gerber, Über öffentliche Rechte, S. 27 ff.
7
So wird er von W. Henke, Das subjektive öffentliche Recht, S. 27 f. als Wegbereiter eines neuen Verständnisses der subjektiven Rechte angeführt. Die dabei verbleibende Verhaftung C.F. von Gerbers an der alten Begrifflichkeit darf demgegenüber jedoch nicht übersehen werden; insoweit gerät die Darstellung von C.F. Gerber bei W. Henke etwas schief. 8
D . Grimm, Die Entwicklung der Gundrechtstheorie, in: Grund- und Freiheitsrechte, S. 235, 249 ff. 9
C.F. von Gerber, Über öffentliche Rechte, S. 26.
58
Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
sein und sind - ein Pflichtmoment stets in sich tragend 10 - auch nicht ohne weiteres verzichtbar 11 . Dementsprechend kann er als „öffentliche Rechte" nicht einfach schon Normativbestimmungen zu Gunsten des Bürgers anerkennen, sondern grundsätzlich nur solche Rechte, wie sie idealtypisch die Rechte des Monarchen verkörpern und mit denen C. F. von Gerber, da sie nach seiner Ansicht „vollständig den Charakter der öffentlichen Rechte" 1 2 tragen, die Aufzählung der öffentlichen Rechte beginnt 1 3 . In seinem Lehrbuch definiert er folgerichtig: „Staatsrechtliche Individualrechte sind Rechte staatsrechtlichen Inhalts, welche einem individuellen Subjekte mit dem Charakter erworbener Rechte zustehen - im Gegensatze des bloss aus der Anwendung allgemeiner Gesetze abgeleiteten Rechtszustands einer Person." 14 Für einzelne Individuen hält er dementsprechend öffentliche Rechte dann für möglich, wenn einer Person - etwa qua Adelstitel - eine erbliche oder sonst nach allen Seiten bestimmte und auf Dauer angelegte „staatsrechtliche Befugnis", etwa zur Mitgliedschaft in der Ständeversammlung, zugeordnet i s t 1 5 . Für die Bürger als Bürger hingegen kann es Rechte in diesem Sinne im modernen Staat, der die Herrschaftsgewalt monopolisiert für sich in Anspruch nimmt, nicht geben: Ihre Befugnisse sind im Rahmen der staatlichen Rechtsordnung gestaltete und gestaltbare Positionen, nicht aber eigene Herrschaftsbefugnisse, die den Staat, bei C. F. von Gerber verstanden als lebendiger Organismus 16 , erst in die Wirklichkeit treten lassen und die in diesem weiteren Sinne mit den wohlerworbenen Rechten noch in Zusammenhang zu bringen waren. Konservativ ist die Lehre C. F. von Gerbers insoweit also nicht in der Ablehnung subjektiv-öffentlicher
10 " N u r bei d e n j n meinen Rechtskreis völlig ausgeschiedenen Privatrechten bin ich in bezug auf die Art ihrer rechtlichen Ausübung gänzlich unabhängig; die öffentlichen Befugnisse muß ich in der Weise ausüben, wie sie nach dem fortdauernden objektiven Grunde ihres Zustehens, nämlich dem Bedürfnisse der Gesammtheit, von dem sie sich niemals abtrennen lassen, ausgeübt sein wollen" (C.F. Gerber, ebd., S. 26; Hervorhebungen im Original). 11
C.F. von Gerber, ebd., S. 25 ff.
12
C.F. von Gerber, ebd., S. 42 ff., 53.
13
Vgl hierzu auch W. Pauly, Der Methodenwandel, S. 117 ff.; die gedankliche Rückbindung des Rechtsbegriffs bei C.F. von Gerber an die alten Herrschaftsrechte wird - ungeachtet der sonst eingehenden Analyse - dort allerdings nicht gesehen. 14 C.F. von Gerber, Grundzüge des deutschen Staatsrechts, S. 201; vgl. hierzu auch W. von Niederhäusern, Zur Konstruktion des subjektiven öffentlichen Rechts, S. 58 f. 15 Ebd., S. 75 ff., 82. 16 C.F. von Gerber, Über öffentliche Rechte, S. 17 f.; vgl. auch W. Pauly, Der Methodenwandel, S. 109 ff.; allgemein hierzu E.-W. Böckenförde, Organ, Organismus, in: Geschichtliche Grundbegriffe, Bd. 4, Stuttgart 1978, S. 519, 587 ff.
I. Geschichtliche Grundlagen
59
Rechte des Bürgers, sondern vielmehr in deren partieller Anerkennung 17 . Diese liefert ihm dann auch die Grundlage, in politischen Vorrechten - unter Bezugnahme auf England - die Grundlage eines „organischen" Staatsaufbaus zu sehen 18 . Als weiteres Beispiel für die begriffliche Parallelisierung der subjektiv-öffentlichen Rechte mit den wohlerworbenen Rechten, aus dem die fortdauernde Bedeutung dieser Sichtweise auch in der späteren, von anderen theoretischen Grundlagen ausgehenden Diskussion deutlich wird, läßt sich die Auseinandersetzung P. Labands mit dem Wahlrecht anführen. Nach P. Laband kann insoweit von einem subjektiven Recht keine Rede sein. Denn „das Wahlrecht ist kein jus quaesitum, es folgt allen Wandlungen des Verfassungsrechts und verändert sich mit ihm wie ein Schatten desselben ohne Rücksicht auf die Zustimmung des einzelnen 'Wahlberechtigten'. Es kann nicht zum Gegenstand irgend einer Privatverfügung gemacht werden; es ist unübertragbar, unveräußerlich, unvererblich. Auch kann der 'Wahlberechtigte' nicht verlangen, daß Hindernisse, welcher seiner Stimmabgabe entgegenstehen, beseitigt werden ..." 1 9 . Vor der mit dieser Argumentation zugrundegelegten Begriffsfolie mußten subjektiv-öffentliche Rechte des einzelnen in der Tat unannehmbar scheinen 2 0 . Denn die Überwindung vorstaatlicher Einzelrechte war ja gerade die Errungenschaft des modernen Staats21. Orientiert an der Vorstellung der alten „wohlerworbenen Rechte" 22 war die Zurückweisung eigener Rechte der Bürger 17 Die Kritik von D. Grimm, Die Entwicklung der Gundrechtstheorie, in: Grundund Freiheitsrechte, S. 235, 249 ff. an C.F. Gerber darf richtigerweise nicht auf die dogmatische Konstruktion als solche bezogen werden, sondern trifft vielmehr die von C.F. Gerber eingeleitete, in der Folgezeit wirkmächtig werdene Methodik, durch die die Legitimitätsgrundlagen des Staates mehr und mehr aus dem Blickfeld staatsrechtlicher Betrachtung gedrängt wurden. Vgl. hierzu auch M. Stolleis, Verwaltungsrechtswissenschaft, Die Verwaltung 15 (1982), S. 45 ff. 18
C.F: von Gerber, Über öffentliche Rechte, S. 88 ff.
19
P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd.l, 2. Aufl., § 34 VII, S. 308 f. (Hervorhebung im Original); ebenso 5. Aufl. 1911, S. 332. 2 0
Zu diesbezüglichen Widersprüchlichkeiten bei P. Laband vgl. K.F. von Stengel, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, Verw.Archiv 3 (1895), S. 177, 183 ff. 2 1 Auch wenn O. Mayer, der grundsätzlich ein von Frankreich geprägtes objektivrechtliches Konzept vertritt (siehe näher unten 4. a)), die „Konzession" im Gegensatz zur Gewerbeerlaubnis als echtes subjektives öffentliches Recht anerkennt, weil mit ihr ein Teil der materiellen Verwaltung auf einen Privaten übertragen wird (vgl hierzu J. Wieland, Die Konzessionsabgaben, S. 90 ff.), dürfte hier die Vorstellung von Rechten als Herrschaftsbefugnissen noch mitschwingen. 2 2 Vgl. auch noch F. Klein, Tragweite der Generalklausel im Art. 19 Abs. 4 des Bonner Grundgesetzes, VVDStRL 8 (1950). S. 67, 114 f., der zwischen der Verletzung „subjektiver, öffentlicher ... Individualrechte und „echter, subjektiver öffentlicher, insbesondere wohlerworbener Rechte" unterscheidet.
60
Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
stringent und keineswegs per se obrigkeitsstaatliche Mißachtung der Subjektstellung des Bürgers. Die Auseinandersetzung um die Existenz von Rechten im Sinne der jura quaesita hatte damals - zumindest zunächst - durchaus auch politische Aktualität. Denn als Privilegien lebten die alten jura quaesita auch im 19. Jahrhundert, insbesondere im frühkonstitutionellen Staat vielfach noch weiter und waren jedenfalls im Bewußtsein noch präsent. Die langen Listen über die Abschaffung der verschiedenen Privilegien in der preußischen allgemeinen Gewerbeordnung von 1845 23 oder in dem „Gesetz betreffend die Ablösung der Reallasten und die Regulirung der gutsherrlichen und bäuerlichen Verhältnisse" von 1850 24 geben hiervon ein anschauliches Bild. Und in diesem Sinne werden auch heute keine öffentlichen Rechte des Bürgers anerkannt 25 2 6 . Andersherum hatte die Verneinung von so verstandenen „öffentlichen Rechten" auch nicht die Konsequenz, daß sich der Bürger auf die - dann als objektives Recht bezeichneten - Vorschriften gegenüber der Verwaltung von vornherein nicht berufen können sollte. So ist es für C. F. von Gerber unzweifelhaft, daß es ein „Recht auf Zurücknahme einer Verfügung" 27 geben kann. Ebensowenig stellt P. Laband eine Kontrolle der Verwaltung im Rahmen von Rechtsstreitigkeiten vor Gerichten - insbesondere auch Verwaltungsgerichten -
2 3
Gesetz vom 17. Januar 1845, GS 41; vgl. dort §§ 1 bis 13.
2 4
Gesetz vom 2. März 1850, GS 77; dieses Gesetz bestätigt freilich zum Teil auch nur die schon vorausgegangenen Reformen seit 1811 (vgl. § 1), regelt aber dabei noch erhebliche Restbestände und auch die Fragen der Entschädigung. 2 5
Vgl. die kuriose, noch 1988 erforderliche Entscheidung des Bundesverwaltungsgerichts zur Abschaffung der Kaminfegerreallast, BayVBl. 1988, S. 501. 2 6 Zu dem Versuch einer Konstruktion von „öffentlichen-Rechten" unter den Bedingungen des modernen Staats vgl. - unter den Maßgaben der Weimarer Verfassung R. Thoma, Das System der subjektiven öffentlichen Rechte und Pflichten, HbDStR, Bd. 2, § 102, S. 607 ff. Unter dem Grundgesetz hat sich Interesse und Zielrichtung und damit der Gegenstand der Diskussion - grundlegend verschoben; hierzu und zu den Arbeiten von W. Henke und H.H. Rupp siehe unten II. 3. a); vgl. aber auch Z. Giacometti, Allgemeine Lehren, S. 295 ff., der noch 1960 eine grundsätzliche Kritik an der quasi privatrechtlichen Konstitution subjektiv-öffentlicher Rechte übt, und der Sache nach von den Grundlagen des modernen Staates ausgehend eine neue Begrifflichkeit fordert. 2 7 C. F. von Gerber, Über öffentliche Rechte, S. 66. Die Terminologie ist insoweit allerdings unklar; ein solcher Anspruch wird zunächst zwar als „Berechtigung (ein Recht im subjektiven Sinne)" bezeichnet, dann aber sogleich doch nur als Modifikation des allgemeinen Begriffs „Unterthanenrecht" bezeichnet, womit nach ihm ein öffentliches Recht, wie er es allgemein entwickelt, verneint werden soll; vgl. auch die deutliche Trennung zwischen einerseits der Frage nach dem Vorliegen von „Rechten" und anderseits der Frage nach Rechtsschutz in Gerbers, Grundzüge des deutschen Staatsrechts, S. 207 ff.
I. Geschichtliche Grundlagen
61
in Frage 28 . Selbst C. Bornhak, der die Existenz von subjektiv-öffentlichen Rechten wohl am rigorosesten ablehnt, erkennt den individuellen Rechtsschutz durch die Verwaltungsgerichte ausdrücklich an 2 9 . Die Verneinung subjektivöffentlicher Rechte beruhte eben nur auf einer ganz spezifischen Begrifflichkeit 3 0 , erledigte aber die Frage der Einforderbarkeit von rechtlichen Bindungen ihrem Anspruch nach - jedenfalls abschließend - noch nicht. Freilich war mit dem Wegfall der jura quaesita für den Rechtsschutz doch das bis dahin maßgebende Kriterium verlorengegangen. Eine neue Kategorie aber, die den Strukturen des modernen Staates Rechnung trug, war noch nicht gefunden 31 . Von daher stand die Ablehnung öffentlicher Rechte mit der Frage nach Rechtsschutz gegenüber der Staatsgewalt doch in enger Berührung. Hatte die frühere Unterscheidung des öffentlichen vom privaten Recht nicht zuletzt dazu gedient, über die wohlerworbenen Rechte durch Ausschaltung der Gerichte hinwegzukommen und damit der auf dem Prinzip der Rechtsgleichheit beruhenden Ordnung zur Durchsetzung zu verhelfen 32 , so drohte nun das durch Abschaffung der unvordenklichen Rechte entstandene Vakuum den Bürger überhaupt schutzlos werden zu lassen 33 . Über ihren gegen die jura quaesita gerichteten dogmatischen Gehalt hinaus wurde so die Ablehnung öffentlicher Rechte zum Teil zum Argument für die Zurückweisung einer rechtlichen Kontrolle oder eines individuellen Rechtsschutzes gegenüber der Staatsgewalt überhaupt. Bei namhaften Autoren geriet sie zum postabsolutistischen Aus2 8
P. Laband, Deutsches Reichsstaatsrecht, S. 160 (§ 19 IV).
2 9
C Bornhak, Grundriß des deutschen Staatsrechts, 6. Aufl. 1921; S. 182 (§ 43 II); ebenso bereits in der 2. Aufl., Leipzig 1910, S. 127 (§ 33 Abs. 2). 3 0 Vgl auch C.E. Leuthold, Öffentliches Interesse, in: Annalen des Deutschen Reichs 1884, S. 321, 364 f., der als öffentliche Rechte primär das Monarchenrecht einerseits und das aktive und passive Wahlrecht anderseits anführt; darüberhinaus gäbe es in gewissem Umfang auch Rechtsansprüche wie etwa auf Zugang zu öffentlichen Einrichtungen oder auf Erteilung von Genehmigungen; ob dies aber subjektiv-öffentliche Rechte sind läßt er offen: „Eine allgemeine Bezeichnung für die Gesammtheit der bezüglichen Berechtigungen fehlt daher zur Zeit" (S. 364). 31
Vgl. W. Henke, Das subjektive öffentliche Recht, S. 18 ff.
3 2
Vgl. M. Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, S. 49 ff.; D. Grimm, Zur politischen Funktion der Trennung von Öffentlichem und privatem Recht in Deutschland, Festschrift für H. Coing, S. 224 ff.; W. Henke, Das subjektive öffentliche Recht, S. 49 f f ; zur Entwicklung in Frankreich, wo die Ausschaltung der ordentlichen Gerichte gegenüber der Verwaltung als wesentliche Maßnahme zur Sicherung der neuen Ordnung gegenüber der großen Macht der Gerichte im vorrevolutionären Frankreich angesehen wurde, siehe unten 5. a). 33 M Bullinger, ebd., S. 52 schreibt insofern: „Erwägungen verschiedenen Ursprungs, vom Staatsdenken des fürstlichen Absolutismus bis zum liberalen Reformstreben, trafen sich also in rechtspolitischer Zufallsgemeinschaft (Hervorhebung im Original).
62
Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
druck obrigkeitsstaatlichen Denkens, das generalisierend praktisch jegliche Infragestellung behördlicher Maßnahmen für mit dem Untertanenstatus unvereinbar erklärte 34 . In dem Maße, in dem die Schlacht um die jura quaesita geschlagen und die Rechtsgleichheit der bürgerlichen Ordnung hergestellt war, bekam die Frage nach subjektiv-öffentlichen Rechten eine andere Stoßrichtung: Wie weit kann sich der einzelne den staatlichen Behörden gegenüber auf Recht und Gesetz berufen? Die Frage nach den subjektiv-öffentlichen Rechten wurde so eine Frage nach der Stellung des Bürgers im konstitutionellen Staat.
2. Die Privatnützigkeit subjektiv-öffentlicher Rechte Die Frage nach der Rechtsstellung des einzelnen gegenüber der Verwaltung hatte unter den Bedingungen des deutschen Konstitutionalismus aber auch unabhängig von dem Problem der unvordenklichen Herrschaftsrechte im modernen Staat Fundamentalbedeutung und konnte wohl nur deshalb so nachhaltig mit diesem vermengt werden: Sie berührte mit dem Verhältnis von Bürger und Exekutive die Legitimationsgrundlagen des konstitutionellen Staates und traf dessen blinden Fleck. Wurde nämlich die Exekutive grundsätzlich als originäre Sache der Krone gedacht, die sich in keiner Weise vom Volk ableiten lassen mußte, so warf jede Behauptung von gegen sie gerichteten Untertanenbefugnissen prinzipielle Bedenken auf. Umgekehrt bedeutete die Leugnung von individuellen Rechten im Sinne einer Freistellung der Exekutive von jeglicher Einzelfallkontrolle in seiner Konsequenz ein bedingungsloses Untertanenverhältnis, das den Befugnissen der Volksvertretung nicht Rechnung trug und deren Gesetzgebungsbefugnisse für die Praxis die Bedeutung nehmen konnte. Der Kampf um die Anerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte stand somit in dem seinerzeit unausgetragenen Spannungsfeld von Monarchie und Volkssouveränität. Mit ihm ging es um die Durchsetzung der Teilhabe an der staatlichen Macht. Unter diesen Bedingungen erhielt das subjektiv-öffentliche Recht in Deutschland eine Bedeutung, die ihm in anderen Ländern, wie insbesondere in Frankreich nicht zukommen konnte und brauchte, und die die Kraft wie die Grenzen dieses Rechtsinstituts bis heute beeinflußt: Bezogen auf die Stellung des Bürgers gegenüber der Exekutive wurde das subjektiv-öffentliche Recht das maßgebliche Vehikel der Entwicklung des Untertanen zum Bürger.
3 4 Vgl. etwa F. J. Stahl, Rechts- und Staatslehre, S. 446 ff., 458 f f und seine Reduktion des Individualschutzes auf „exemte Rechte"; dagegen kritisch O. Bähr, Der Rechtsstaat, S. 77 ff.
I. Geschichtliche Grundlagen a) Die Einbindung des subjektiv-öffentlichen in die moderne Staatlichkeit
63 Rechts
Erster Schritt und Voraussetzung hierfür war zunächst - in Erledigung der Einwände gegen die jura quaesita - die Einbindung des Rechtsbegriffs in die Strukturen des modernen Staats. Die hierfür wie für das spätere maßgebende Verständnis des subjektiv-öffentlichen Rechts bis heute grundlegende Theorie lieferten insoweit die Arbeiten von G. Jellinek 35 , der damit eine längere, zu diesem Zeitpunkt in der rechtspolitischen Wirklichkeit freilich schon weitgehend abgeschlossene Entwicklung begrifflich auf den Punkt brachte und der Lehre von den subjektivöffentlichen Rechten endgültig zur Anerkennung verhalf 36 . In Umkehrung des Dogmas, ein Recht könne nicht gegeben sein, wenn eine Seite - der Staat dieses beliebig entziehen könne, erklärte er die freie Selbstbindung des Staates in den Formen des Rechts erst zur Voraussetzung von Rechtsstaatlichkeit: Von Rechten könne erst dann die Rede sein, wenn sich der Staat in Formen des Rechts organisiert und sich an dieses auch gebunden sieht 37 . Durch die Herleitung der Rechte aus der freiwilligen Selbstverpflichtung des Staates war zugleich eine wesentliche Folge grundgelegt: Nicht jeder staatlichen Bindung entspricht eine subjektive Berechtigung. Rechte des Bürgers und Pflichten des Staates sind voneinander entkoppelt 38 . Maßgeblich für die weitere Ausformung der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht war dann vor allem der Rückgriff auf das Zivilrecht. Schon für die Einbindung des Rechtsbegriffs in die Staatlichkeit war die Möglichkeit privater 3 5
G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, 2. Aufl. 1905, (1. Aufl.: Freiburg 1892); dann auch Allgemeine Staatslehre, S. 416 ff. 3 6 Die etwa zeitgleich in Wien erschienene Schrift von Th. Ritter Dantscher von Kollesberg, Die politischen Rechte der Unterthanen (1. Lieferung 1888, 2. Lieferung 1894, 3. Lieferung 1892) war nicht in vergleichbarer Weise grundsätzlich-theoretisch gehalten und jedenfalls für die weitere Entwicklung des subjektiv-öffentlichen Rechts nur von untergeordneter Bedeutung. 3 7 3 8
G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 81 ff., 86.
G. Jellinek, ebd., S. 195 ff. Zur fehlenden Reziprozität als maßgebliches Charakteristikum überhaupt der Figur des subjektiven Rechts und zu der darin gründenden Elastizität, die dieses zu einem maßgeblichen Funktionselement des sich ausdifferenzierenden Rechtssystems befähigt vgl. N. Luhmann, Subjektive Rechte, in: Gesellschaftsstruktur und Semantik, Bd. 2, S. 45 ff.; siehe auch ders., Zur Funktion der „subjektiven Rechte", JbRSoz 1 (1970), S. 321 ff. (Der Blick ist hierbei freilich nicht speziell auf das öffentliche Recht gerichtet, sondern gilt den subjektiven Rechten allgemein; im Vordergrund steht dabei schon die privatrechtliche Funkion).
64
Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
subjektiver Rechte, deren Existenz trotz der Machtfülle des Staats von niemandem bestritten wurden, ein wichtiges Argument für die Möglichkeit auch von öffentlichen Rechten 39 . Erst recht wurde das Zivilrecht dann die Brücke für die nähere Definition solcher Rechte. Bei G. Jellinek - und er steht insoweit stellvertretend für die ganz überwiegende Anzahl der Autoren 40 - liegt in ihm der weittragende Ausgangspunkt der Argumentation überhaupt. Allem voran steht dabei der Rückgriff auf den dort entwickelten Begriff des subjektiven Rechts. Verstanden als in sich stehender, quasi apriorischer Rechtsbegriff, dessen Erfassung sich ohne Politisierung allein aus juristischer Sachgesetzlichkeit ergebe, ist er die Grundlage aller Überlegungen. Auf ihm aufbauend unternimmt G. Jellinek seine weitere Differenzierung zwischen Dürfen und Können bzw. Recht und Status und gibt dabei auch im einzelnen das Privatrecht als Abstraktionsfolie und Referenzpunkt nie auf. Nachhaltigen Niederschlag finden in G. Jellineks Begründung dabei vor allem die Willenstheorie B. Windscheids und die Interessentheorie R. von Jherings 41 . In deren Definitionen des subjektiven Rechts sieht er die zwei maßgebenden, sich ergänzenden Elemente des Rechtsbegriffs überhaupt: die Willensmacht als das formale, und das geschützte Interesse des Individuums als das materiale Element 42 . Verstanden als Wesensbestandteile jeglichen subjektiven Rechts führt er diese für das öffentliche Recht in seiner bekannten Definition zusammen: Das subjektiv-öffentliche
3 9
G. Jellinek, ebd., S. 194; vgl. deutlich auch K. Frh. von Stengel , Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, VerwArchiv 3 (1895), S. 177, 192. 4 0
Die zivilrechtliche Prägung findet sich bei der ganz überwiegenden Anzahl der Autoren, die damit auf die bis dahin überlieferte Tradition juristischer Begriffsbildung zurückgreifen; vgl. etwa O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 92 f f , 63 ff.; C.F. Gerber, Über öffentliche Rechte, S. 24 ff.; F. Giese, Die Grundrechte, S. 62 ff.; O. von Sarwey, Das öffentliche Recht und die Verwaltungsrechtspflege, S. 56 ff.; M. von Seydel, Grundzüge einer allgemeinen Staatslehre, S. 33 ff., 38 ff.;, siehe auch die ansonsten in einem eigenen, hier nicht interessierenden Kontext stehenden Ausführungen zu den subjektiven Rechten des öffentlichen Rechts bei E. Bernatzik, Begriff der juristischen Person, AöR 5 a.F. (1890), S. 169, 193 ff.; vgl. aber auch Th. Ritter Dantscher von Kollesberg, Die politischen Rechte der Unterthanen (1. Lieferung 1888, 2. Lieferung 1894, 3. Lieferung 1892), der mit seinem eher systematisierend-beschreibenden Ansatz dem Zivilrecht gegenüber freier ist. Daß diese Entleihung zivilrechtlicher, scheinbar aus sich selbst begründeter Rechtsbegriffe vielfach zu unfruchtbaren und die Sachprobleme eher verdeckenden Fragestellungen und Konstruktionen führte, ist verschiedentlich bemerkt worden, vgl. etwa E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 218. Gerade für das subjektiv-öffentliche Recht gilt dies in besonderer Weise. 41 G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 41 ff.; vgl. ebenso O. Bühler, ebd., S. 42 ff., O. von Sarwey, ebd., S. 79 f. 4 2
G. Jellinek, ebd., S. 45.
I. Geschichtliche Grundlagen
65
Recht ist „die Fähigkeit, Rechtsnormen im individuellen Interesse in Bewegung zu setzen" 43 .
b) Die Beschränkung auf die Geltendmachung individueller
Interessen
Von grundlegender Bedeutung und von der Lehre bis heute in seinem historischen Kontext kaum hinreichend erklärt ist hierbei das Begriffsmerkmal „im individuellen Interesse". Wie schon durch die zivilrechtliche Ableitung als solche vorgezeichnet, untermauert der in diesem Merkmal manifeste Rückgriff auf R. von Jhering das Wesen des subjektiv-öffentlichen Rechts endgültig: Es ist streng individualbezogen, es dient speziell den Interessen des einzelnen. Hierin liegt das entscheidende materiale Element des subjektiv-öffentlichen Rechts, das - in der Folge von O. Bühler dann pragmatisch-dogmatisch festgeschrieben 44 - bis heute dessen Verständnis entscheidend prägt. Ungeachtet seiner scheinbar unpolitischen, primär begriffstheoretisch begründeten Herleitung, hatte dieses Wesensmerkmal des subjektiv-öffentlichen Rechts unter den Bedingungen des deutschen Konstitutionalismus eine besondere politische Bedeutung. aa) Zum einen konnte durch den Bezug auf das individuelle Interesse an die alte Unterscheidung zwischen privaten und öffentlichen Interessen angeknüpft werden, die zuvor schon der Unterscheidung des öffentlichen vom Privatrecht gedient hatte, und sie nun umgekehrt fruchtbar machen, um - jetzt innerhalb des öffentlichen Rechts - doch wieder privatrechtsähnliche Positionen zu behaupten 45 . Waren Normen zum Schutz spezifischer individueller Interessen erlassen, erwuchsen aus ihnen Ansprüche und wurde die Forderung nach Rechtsschutz unabweisbar. Daß sich folgerichtig das Vorliegen eines subjektiven Rechts prinzipiell unabhängig von der tatsächlichen prozessualen Durchsetzbarkeit nach dem materiellen Gehalt der Norm bestimmen sollte 46 , war essentiell und verlieh der Lehre ihre entscheidende Kraft: Sie legitimierte die
4 3
G. Jellinek, ebd., S. 51.
4 4
O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 42 ff.; auch Th. Ritter Dantscher von Kollesberg, Die politischen Rechte der Unterthanen (1. Lieferung 1888), S. 83 und 86, kennt das Kriterium des individuellen Interesses; bei ihm ist es jedoch eher auflistend in die Beschreibung des subjektiven Rechts hineingenommen und nicht - insbesondere nicht unter genauerer Auseinandersetzung mit Jhering - als begriffsnotwendig entwickelt. Es hat insofern für seine Systematisierung nicht die grundsätzliche Dimension wie bei G. Jellinek. 4 5
Vgl. auch M. Bullinger, Öffentliches Recht und Privatrecht, S. 53.
4 6
G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 349 ff.
5 Masing
66
Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
Forderung nach Rechtsschutz gegenüber der monarchischen Exekutive und erzeugte damit Druck auf eine Rationalisierung, Mäßigung und Begründung obrigkeitlicher Entscheidungen. Die Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht war Programm und bildete mit ihrem Kriterium des „individuellen Interesses" den Ausgangspunkt für eine weittragende Dynamik 4 7 . Andererseits ließ sich mit dem Kriterium des „individuellen Interesses" aber die heikle Frage nach der Verantwortung für das öffentliche Interesse aus der Diskussion um den Rechtsschutz herausnehmen. Mit der Privatbezogenheit war - staatsrechtlich passend - jedenfalls der Form nach klargestellt, daß mit der Forderung nach subjektiv-öffentlichen Rechten nicht ein Einfluß der Bürger auf die Gestaltung des allgemeinen Wohls prätendiert wurde. Die Wahrnehmung der „öffentlichen" Interessen konnte nach wie vor als ausschließliche Angelegenheit der Exekutive verstanden werden, wie es dem Staatsmodell zumindest in monarchischer Interpretation entsprach. Als Sache allein der Krone und der von ihr ernannten Regierung ging sie den Bürger nichts an. Das Kriterium des individuellen Interesses fügte sich damit in die Verhältnisbestimmung von Krone und Parlament. Dort hatte es seine Parallele in dem Gesetzesvorbehalt für Eingriffe in Freiheit und Eigentum. So wie die Volksvertretung primär 4 8 nur dann zuständig war, wenn es um den Schutz der Individualsphäre der Bürger ging 4 9 , sollte sich mit der individualbezogenen Definition des subjektiv-öffentlichen Rechts auch der einzelne nur auf den Schutz seiner individuellen Interessen berufen. G. Jellinek hatte damit eine Theorie geschaffen, die sich nahtlos in die damalige Staatsrechtslehre einpaßte und so zugleich dem Selbstverständnis des Bürgertums entsprach 50. Die politische Bescheidung 4 7
Zur Zeit von G. Jellinek war die Möglichkeit individuellen Rechtsschutzes dabei freilich in der Praxis vom Prinzip her bereits längst anerkannt. G. Jellinek fügte diesen nunmehr aber in eine der Zeit entsprechende Theorie und legte damit zuleich das geistige Fundament für seine folgende Ausweitung. Die Strukturen des subjektiv-öffentlichen Rechts und deren politische Kraft zeichneten sich dabei freilich auch vorher schon ab, vgl. unten bb). 4 8 Daß man weder die Figur der Ministerverantwortlichkeit noch das Budgetrecht zu einer stärkeren Parlamentarisierung nutzte, ist dabei freilich weniger auf die rechtlichen Befugnisse als vielmehr auf die politische Schwäche des deutschen Bürgertums zurückzufuhren, vgl. hierzu E.-W. Böckenförde, Der Verfassungstyp der konstitutionellen Monarchie, in: Moderne deutsche Verfassungsgeschichte, S. 146, 152 und 157 f.; E.R. Huber, Deutsche Verfassungsgeschichte, Bd. 3, S. 937. 4 9 Vgl zu den verschiedenen Rechtssatzdefinitionen, die für die Abgrenzung der Gesetzgebung maßgeblich sein sollten, insbesondere zu den Kriterien „Abgrenzung von Willenssphären" und „Eingriff in Eigentum und Freiheit", E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, insb. S. 226 ff. und 271 ff. und D. Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 12 ff., 108 f f und 117 ff. 5 0
Vgl. hierzu D. Grimm, Die Entwicklung der Gundrechtstheorie, in: Grund- und Freiheitsrechte, S. 235, 249: „Das Bestreben, den Staat in eigene Hände zu nehmen und
I. Geschichtliche Grundlagen
67
der Volksvertretungen auf die Verteidigung der bürgerlichen Rechte unter Verzicht auf eine Mitverantwortung auf die „politischen" Fragen wurde nun auch auf der konkret-praktischen Ebene des Verhältnisses von Verwaltung und Bürger 51 , quasi auf Mikroebene, zum Ausdruck gebracht. Man baute, dem Sicherheitsbedürfhis des Bürgers Rechnung tragend, dessen Rechtsstellung aus, verwahrte sich jedoch gegenüber jedem Zugriff auf die Ausübung der Staatsgewalt als solche 52 - auch in Form gerichtlicher Kontrolle. Subjektiv-öffentliches Recht und Freiheits- und Eigentumsformel waren dementsprechend auch in der Praxis eng verbunden. Vorangetrieben insbesondere durch die Rechtsprechung des preußischen Oberverwaltungsgerichts 53 wurde der tatsächliche Schutz der subjektiv-öffentlichen Rechte maßgeblich in Entfaltung und Durchsetzung dieser Formel bzw. des hinter ihr stehenden Prinzips zur Geltung gebracht 54 . Deren Ausweitung zum allgemeinen Gesetzesvorbehalt gegenüber Eingriffen aller Art und die sich anschließende Forderung nach gesetzlichen Ermächtigungen ließen die Frage nach der Rechtsqualität der einzelnen Grundrechte - ausgehend von der Gewißheit, daß es einen Schutz vor dem Gesetzgeber nicht gibt - aus verwaltungrechtlicher Sicht mehr und mehr akademisch erscheinen. Die Beschränkung auf die Verteidigung des individuellen Interesses hatte ihre größte praktische Bedeutung von Anfang an bei der Auslegung einzelner Normen in bezug auf deren Schutzwirkung: Entscheidend für das Vorliegen eines subjektiv-öffentlichen Rechts war insoweit, ob eine Norm auch dem Schutz gerade individueller Interessen galt. Die Abgrenzung zwischen Recht und bloß tatsächlichem Rechtsreflex, für die man im Zivilrecht eine Parallele kannte, war damit von Beginn an ein zentrales Problem. Dabei hatte dieses Kriterium - ähnlich wie die Freiheits- und Eigentumsklausel - zugleich einen nach den Bedürfnissen der Gesellschaft einzurichten, war vorerst aufgegeben. Das monarchische Prinzip, das dem Staat ein originäres Herrschaftsrecht sicherte, wurde hingenommen. Die Gegenleistung bestand in einer vom Staat freigegebenen Sphäre bürgerlicher Interessenverfolgung, die ihren rechtlichen Ausdruck in einem auf Privatautonomie gegründeten Zivilrecht fand und auf deren Sicherung sich nunmehr das bürgerliche Bemühen konzentrierte; Bürger und Bourgeois trennten sich." Vgl. auch ders., Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 209 f. 51
Auch diese Beschränkung war selbstverständlich rechtslogisch nicht notwendig; wenigstens zur Beachtung der erlassenen Gesetze hätte man sicher auch eine Kontrolle, die sich auf das gesamte objektive Recht bezieht, systemgerecht behaupten können. Dies entsprach jedoch nicht dem individuellen, gegenüber der Politik defensiven Selbstverständnis des damaligen Bürgertums. 5 2
Vgl auch Ü.K. Preuß, Die Internalisierung des Subjekts, S. 123 ff., 131 f.
53
Zu den nebenher laufenden, aber schnell in den Hintergrund geratenen objektivrechtlichen Elementen des preußischen Verwaltungsrechtsschutzes siehe unten 4. b). 5 4
*
Vgl. nur Ο. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 81 f f und 261 ff.
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Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
großen Vorteil: Es war elastisch und beinhaltete, worauf G. Jellinek ausdrücklich hinwies 5 5 , eine große Dynamik. Welche bürgerlichen Interessen Anerkennung genossen, konnte und mußte sich im Zuge der gleitenden Kräfteverhältnisse schnell verschieben. Das materiale Element des subjektiv-öffentlichen Rechts war, entsprechend seiner politischen Implikationen im deutschen Konstitutionalismus, aber nicht nur ein Abgrenzungskriterium bei der Auslegung bestehenden Rechts. Da es die Substanz des subjektiv-öffentlichen Rechts ausmachte, sollte die Erkenntnis, daß subjektiv-öffentliche Rechte stets der Wahrung allein eines individuellen Interesses gelten, selbstverständlich auch für die rechtspolitische Frage der Anerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte maßgeblich sein 56 und damit auch de lege ferenda gelten. Ausdruck findet dies vor allem in der Auseinandersetzung G. Jellineks mit der Möglichkeit, daß Gesetze Individualbefugnisse anerkennen könnten, die nicht der Wahrung eines spezifisch individuellen Interesses dienen. G. Jellinek entwickelt hierfür eigens eine gesonderte Kategorie. Wohl nicht zufällig in Parallele zum doppelten Gesetzesbegriff 57 bezeichnet er solche Befugnisse als bloß formelle subjektive Rechte 58 . In seiner kritischen Beurteilung dieser Kategorie ist die politische Bedeutung der Individualbezogenheit deutlich ausgesprochen: Sachlich rechtfertige allein ein anerkennenswertes individuelles Interesse die Zuerkennung subjektiver Rechte. Insoweit präponderiere das materiale Element. Gehe das positive Recht dennoch darüber hinaus, so sei das zwar nicht zu verhindern, führe aber „zu bedenklichen Resultaten" 5 9 . Schon G. Jellinek beschwört insofern die Gefahr der Popularklage. Ihre Gefahr sieht er, seiner Theorie entsprechend, nicht in pragmatischen Erwägungen wie etwa der Überlastung der Gerichte, sondern sein Einwand gegen sie ist substantiell: Dem Individuum würde dann eine Fähigkeit beigelegt, welche richtigerweise nur den zur Wahrung der Rechtsordnung berufenen Staats-
55
G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 71.
5 6
G. Jellinek, ebd., S. 70, vgl. auch S. 99 ff.
5 7
G. Jellinek, Gesetz und Verordnung , S. 226 f f ; hierzu E.-W. Böckenförde, Gesetz und gesetzgebende Gewalt, S. 242 ff.; allgemein zum doppelten Gesetzesbegriff ders., ebd., S. 226 ff.; D. Jesch, Gesetz und Verwaltung, S. 9 ff. 5 8
G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 70 f. Dieser Begriff wird auch von O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 158 ff., 161 verwendet. Dort hat er allerdings einen etwas anderen Sinn. Er bezeichnet hiermit Rechte, die wie etwa das Petitionsrecht - nicht Anspruch auf ein bestimmtes inhaltliches Ergebnis verleihen, sondern nur den Anspruch auf eine formelle Verbescheidung. Wichtig wird das für Bühler in bezug auf die Kontrolle von Ermessensentscheidungen. 5 9
G. Jellinek, ebd., S. 71.
I. Geschichtliche Grundlagen
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Organen zukomme 60 . Ein „Gesetzvollziehungsanspruch" 61 des Bürgers hatte aus seiner Sicht schon aus prinzipiellen Gründen auszuscheiden. bb) Wenn G. Jellinek die Lehre des subjektiv-öffentlichen Rechts im Jahre 1892 zu einer bis dahin erstmaligen, auf hohem theoretischem Niveau ansetzenden Geschlossenheit brachte, war dies nur möglich, weil er an eine in Praxis und Lehre längst Platz greifende Entwicklung anknüpfen konnte. Die Einbettung der Lehre des subjektiv-öffentlichen Rechts in den deutschen Konstitutionalismus und ihre hiermit eng verknüpfte Beschränkung auf den Schutz spezifisch individueller Interessen zeigt sich dabei gerade auch bei den Wegbereitern G. Jellineks. Zu nennen sind hier freilich nur in zweiter Linie die Autoren, die - zunächst insbesondere im Vormärz 62 , z.T. aber auch noch danach 63 Rechte einzelner allein als verfassungsmäßige Grundrechte dachten und sie dabei in Zusammenhang mit dem Staatsbürgerschaftsrecht, quasi als vertragliches Gegenstück zur Einräumung der Herrschaftsgewalt, thematisierten. Sofern hier nicht noch die Vorstellung originärer Einzelrechte, die durch Verfassungsvereinbarung in eine Ordnung der Gegenseitigkeit gebracht sind, mitschwingt, fehlte bei ihnen jedenfalls eine dogmatische Durchdringung des Rechtsbegriffs. Von „Rechten" war hier in einem weiteren und durchgehend untechnischen Sinne die Rede. Politische und bürgerliche Rechte 64 wurden zwar ohne weite-
6 0
G. Jellinek, ebd., S. 72.
61
So der Ausdruck bei F. Fleiner, Institutionen, S. 172; bemerkenswert ist allerdings, daß der Schweizer Rechtskultur entstammende F. Fleiner, ebd., S. 176 f., den allgemeinen Gesetzvollziehungsanspruch durchaus zunächst als „umfassendes subjektives Recht" charakterisiert. Er sei nun kein subjektives Recht „im eigentlichen Sinne". Mit dieser Sichtweise geht F. Fleiner deutlich über G. Jellinek hinaus und schafft sich die Grundlage, aufgrund der er die Zuerkennung subjektiver Rechte positivistisch als inhaltlich nicht vorstrukturierte Entscheidung des Gesetzgebers begreifen (siehe unten 3.) und somit auch objektiv-rechtliche Momente zur Geltung kommen lassen kann (vgl. auch S. 178). 6 2
J.-Ch. Frhr. von Aretin, Staatsrecht, Bd. 1, S. 228 f. und 232; C. von Rotteck, Lehrbuch des Vernunftrechts, §§35 ff., S. 132 f f ; H.A. Zachariä, Deutsches Staatsund Bundesrecht, 1. Teil, S. 435 ff.; H. Zoepfl, Grundsätze des allgemeinen und des constitutionell-monarchischen Staatsrechts, §§52 und 130 f f ; siehe hierzu näher H. Boldt, Deutsche Staatslehre im Vormärz, S. 215 f f ; D. Grimm, Die Entwicklung der Gundrechtstheorie, in: Grund- und Freiheitsrechte, S. 235 ff.; W. Rimscha, Die Grundrechte, S. 83 ff. 6 3 L. von Roenne, Das Staatsrecht der preußischen Monarchie, Band 1, 2. Abteiig., S. 1 f f ; H. von Schulze, Das preußische Staatsrecht, Bd, 1, S. 365 ff.; vgl hierzu F. Giese, Die Grundrechte, S. 35 ff. 6 4
Bezeichnenderweise konnten hier die politischen Rechte noch an erster Stelle genannt werden, vgl. L. von Roenne, ebd., S. 3; auch J. Ulbrich, Lehrbuch des Oesterreichischen Staatsrechts, S. 82 f.; zu den begrifflichen Problemen, die demgegenüber G. Jellinek mit den politischen Rechten hatte, siehe unten 3.
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Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
res als möglich vorausgesetzt und als Rechte des einzelnen, der Volksvertretung, des Monarchen oder der Beamten - die Stellung der verschiedenen Staatsglieder erklärend bzw. postulierend - nebeneinander beschrieben. Jedoch war damit weder die Frage, ob diese eo ipso oder nur nach Maßgabe weiterer normativer Umsetzung gelten, angegangen, noch eine Lehre über Vorrang, Einforderbarkeit und Durchsetzbarkeit verbunden 65 . Zum Problem begrifflich definierter, auf Anwendung zielender subjektiver Rechte war es von hier noch ein erheblicher Weg. Wichtiger war demgegenüber die Entstehung der Verwaltungsgerichtsbark e i t 6 6 und das sie begleitende, vorantreibende und systematisierende Schrifttum. Indem zunächst in den süddeutschen67, schon bald aber auch in Preußen 68 und den ihm nachfolgenden norddeutschen Staaten69 (zumindest teilweise) auf die Geltendmachung von Rechtsverletzungen abgestellt wurde, wurde die Entwicklung eines präzisereren Begriffsverständnisses, das nun auch unmittelbar praktische Bezüge bekam, angestoßen. Auch in den Gerichtsordnungen allerdings waren die „Rechte" 70 , die dem einzelnen zustehen müßten, zunächst kein dogmatisch aufgearbeiteter und durchstrukturierter Rechtsbegriff, sondern nicht mehr als eine Anlehnung an überlieferten Sprachgebrauch und (zivil)gerichtliche Tradition. Auf die staatstheoretische Grundfrage nach Exi6 5 Vgl. zur Bedeutung der Grundrechte und deren Verwiesenheit auf eine gesetzliche Umsetzung etwa R. Wahl, Grundrechte im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, Der Staat 18 (1979), S. 321 ff.; siehe aber auch D. Grimm, Die Entwicklung der Gundrechtstheorie, in: Grund- und Freiheitsrechte, S. 235 ff. 6 6
Vgl. hierzu nur den Überblick bei W. Rüfner, Die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.3, S. 909 ff. 6 7
Art. 13 Württbg. Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege vom 16.12.1876, RegBl. S. 485; Art. 8 Bay. Gesetz über die Errichtung eines Verwaltungsgerichtshofes und das Verfahren in Verwaltungsrechtssachen vom 8.8.1878, GVB1. S. 369; Art. 13 Bad. Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege vom 14.6.1884, GVB1. S. 197. 6 8 § 127 Abs. 3 Preuß. Gesetz über die Zuständigkeit der Verwaltungs- und Verwaltungsgerichtsbehörden vom 1.8.1883, GS S. 237. 6 9 Vgl. etwa § 9 Braunschw.Gesetz über die Verwaltungrechtspflege vom 5.3.1895, GVSlg. S. 79; weitere Nw. bei O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 489 ff. und W. Rüfner, Die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.3, S. 909, 926. 7 0
Eine ausgebildete Begrifflichkeit ist schon sprachlich nicht erkennbar; etwa in Bayern ist lediglich von „Rechtsanprüchen" und Verbindlichkeiten die Rede; in Württemberg muß der Beschwerdeführer „in einem ihm zustehenden Recht verletzt oder mit einer ihm nicht obliegenden Verbindlichkeit belastet" sein; die Rede von „Rechten" entsprach insofern nur hergebrachter Terminologie, die sich ungeachtet der staatstheoretischen Diskussion seit jeher forttrug, vgl. etwa den „Anspruch auf Heimatrecht und Ortsbürgerrecht", der im Enumerativkatalog (§ 5) des Bad. Gesetzes über die Organisation der innern Verwaltung vom 5. Okt. 1863 (RegBl. S. 399) in Bezug genommen ist.
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Stenz bzw. Konstruktion „öffentlicher Rechte", wie sie etwa C.F. Gerber gestellt hatte, waren sie noch kaum rückbezogen 71 . Nun jedoch wurde der Begriff des subjektiv-öffentlichen Rechts zunehmend mit dogmatischen Strukturen versehen und in die konstitutionelle Staatslehre eingeholt. Besondere Beachtung verdient hierbei O. von Sarwey 72 , der - von den Verhältnissen in Württemberg geprägt - besonders die süddeutsche Verwaltungsgerichtsbarkeit stark beeinflußt hat 7 3 . Zwar geht es O. von Sarwey nicht in gleicher Grundsätzlichkeit um eine theoretische Erfassung des Begriffs des subjektiv-öffentlichen Rechts, sondern primär um ein Verständnis der Verwaltungsrechtspflege. Dabei legt er jedoch bereits ein weit entwickeltes Verständnis des subjektiv-öffentlichen Rechts zugrunde. Auch O. von Sarwey nimmt dabei im Zivilrecht, namentlich auch bei R. von Jhering, seinen Ausgangspunkt und beschränkt demzufolge das Klagrecht - das er, dem zivilrechtlichen Ansatz entsprechend, allein in den Entschluß des potentiell Verletzten legt 7 4 - streng auf die Verteidigung subjektiver Rechte. Als subjektive Rechte zeichnen sich auch bei O. von Sarwey nur die Verwaltungsrechtsnormen aus, die speziell die individuelle Freiheit des einzelnen schützen bzw. - durch Verleihung von Ansprüchen - „erweitern" 75 und damit die exklusive Verantwortung der staatlichen Beamten für das gemeine Wohl unberührt lassen. Das subjektive Recht bezeichnet insofern - allein einem liberalen Modell verbunden - die Grenze der monarchischen Alleinverantwortung gegenüber dem individuellen Freiheitsan71
Dies wurde und wird in der Literatur oft übersehen. Bei Ο. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 466 wird insoweit sogar - ganz beherrscht durch die ex-post Perspektive - falsch zitiert: Während in § 1 Abs. 4 des Bad. Gesetzes über die Organisation der innern Verwaltung von „Streitigkeiten über öffentliches Recht" die Rede ist, werden hieraus bei Bühler „Streitigkeiten über öffentliche Rechte" (S. 466). Tatsächlich ist in das badische Recht ausdrücklich erst 1884 auf die Verletzung individueller Rechte abgestellt worden (Nw. in Fn. 67); vgl. hierzu M. Rapp, 100 Jahre Badischer Verwaltungsgerichtshof, in: Staatsbürger und Staatsgewalt, Bd. 1, S. 3, 12 f.; A. Schühly, Ursprung und Weg der Verwaltungsrechtspflege in Baden, DÖV 1953, S. 613, 616 f. Zur Aufnahme des Kriteriums der Rechtsverletzung in Württemberg , die im wesentlichen nur die Kontinuität der verwaltungsrichterlichen Tätigkeit des Geheimen Rats sichern sollte, vgl. m.w.N. O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 324 ff. Deshalb war das Abstellen auf „Rechtsverletzungen" in den entsprechenden Gesetzen nicht inhaltslos: Es knüpfte an das durch das althergebrachte, und dann vom Zivilrecht geprägte Verständnis von gerichtlichen Aufgaben an und hob sich von den Aufgaben der aktiven, auch nach Zweckmäßigkeitsgesichtspunkten handelnden Verwaltung ab. 7 2
O. von Sarwey, Das öffentliche Recht und die Verwaltungsrechtspflege, Tübingen 1880. 7 3
W. Rüfner, Die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.3, S. 909, 912. 7 4
O. von Sarwey, Das öffentliche Recht und die Verwaltungsrechtspflege, S. 58 f.,
7 5
O. von Sarwey, ebd., S. 66.
78.
72
Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
spruch des einzelnen: „Es gilt der allgemeine Grundsaz, daß über den Interessen des einzelnen das öffentliche Interesse steht. Aber es ist eine der vorzüglichen Aufgaben des Verwaltungsrechts, festzustellen, wo dieser Grundsaz seine Grenze hat oder, da die Wahrung des öffentlichen Interesses die Aufgabe der verwaltenden Organe des Staats ist, dem individuellen Wollen dieser, ihrer Willkühr in der Thätigkeit für die öffentlichen Interessen, durch Normen die Schranke zu ziehen, innerhalb welcher jener Grundsaz zu verwirklichen ist. Dies ist gleichbedeutend mit der Feststellung der Rechte und Pflichten der einzelnen gegenüber dem Staat ,.." 7 6 . Das Grundmodell ist bei O. von Sarwey damit klar expliziert: Für das gemeine Wohl sind allein die staatlichen Beamten zuständig. Deren Superiorität und Unabhängigkeit gegenüber Gesellschaft und Bürgern zeichnet sie hierfür gerade aus. Soweit es um die öffentlichen Interessen geht, müssen diese deshalb auch über bestehende rechtliche Bindungen selbst und abschließend entscheiden. Eine Kontrolle der Rechtmäßigkeit wäre ein Einbruch in die ausschließliche Kompetenz der monarchisch legitimierten Entscheidungsträger, an deren Überlegenheit und prinzipieller Rechtschaffenheit angesichts der „zahlreichen Cautelen" 77 bei der Beamtenernennung kein Zweifel bestünde. Der Bürger kann für die öffentlichen Interessen allenfalls als Teil der Staatsgewalt - nämlich im Rahmen von Ehrenämtern - Verantwortung übernehmen 78. Jede Einmischung mittels der Anrufung von - durch nichts als sittlich überlegen ausgewiesenen - Richtern würde „ohne jede Berechtigung sein und den ganzen Staatsorganismus umkehren" 79 . Dem entsprach freilich auch die Vorstellung von der Struktur des Verwaltungsrechts überhaupt: Entweder ist es „Instruktion", d. h. allgemeine, weitgehend unbestimmte Vorgabe zur Verwirklichung öffentlicher Interessen, die schon von ihrer Rechtsnatur her ausfüllungsbedürftig und kaum justitiabel sein konnte 80 . Oder aber es ist „Verwaltungsrecht im engeren Sinne" und legt möglichst genau die Schranken für den Vollzug im Einzelfall fest, womit es als präzise begrenzte exceptio der gerichtlichen Prüfung unterliegt, insofern aber die Umsetzung der öffentlichen Interessen als solche auch nicht in Frage stellt. Daß die Gestaltung der öffentlichen Interessen selbst in bestimmten Fragen rechtlich klar vorgezeichnet sein könnte, lag einem solchen Verständnis, das
7 6
O. von Sarwey, ebd.
7 7
O. von Sarwey, ebd., S. 67 f.
7 8
O. von Sarwey, ebd.
7 9
Ο. von Sarwey, ebd., S. 68.
8 0
Ο. von Sarwey, ebd., S. 65, 69.
I. Geschichtliche Grundlagen
73
das Verwaltungsrecht allein von einem liberalen und vorgeblich unpolitischen Standpunkt zu erfassen suchte, fern. Die Beschränkung des Rechtsschutzes auf die Verteidigung subjektiver Rechte, respektive auf die Wahrung der individuellen Freiheit und des individuellen Vorteils, garantierte für O. von Sarwey damit genauso wie für G. Jellinek den Ausgleich, den der deutsche Konstitutionalismus überhaupt leisten sollte. Durch sie würde „der Kampf des Individualismus gegen den Staat überwunden, ohne dem ersteren ... sein Recht zu verkümmern" 81 . Da der den Individualismus bändigende Staat seine Kraft nach konstitutioneller Vorstellung aus der vom Volk unabhängigen Krone bezog, sollte so die Balance zwischen Unabhängigkeit der Exekutive und Einwirkungsmöglichkeiten der Bürger gewahrt werden. Forderungen nach Rechtsschutz, die auch auf die Durchsetzung von Normen im öffentlichen Interesse zielten, schienen demgegenüber für dieses Gleichgewicht gefährlich. Sie hätten ihre Wurzel „in Zeiten oder in Staaten, in welchen die königliche Gewalt, die sich gegen die Beschränkungen durch Verfassungsgesetze, indem sie sie verweigert oder sie umgeht, zu behaupten sucht" 82 und dem damit verbundenen Mißtrauen gegenüber der Befolgung der Gesetze durch die Exekutive. Ein solches Mißtrauen aber sei in der konstitutionellen Ordnung nicht begründet.
3. Das Problem der staatsbürgerlichen Rechte Besondere Schwierigkeiten warfen von dem Ausgangspunkt des Schutzes individueller Interessen die staatsbürgerlichen bzw. „politischen" Rechte auf. Waren diese unter der Perspektive der Herrschaftsrechte bezeichnenderweise am ehesten als diskussionswürdig angesehen worden 83 , so ließen sie sich nun am wenigsten erklären. Mit einem Ansatz, der die Möglichkeit subjektiver Rechte - quasi im Wege einer Reprivatisierung des öffentlichen Rechts - zentral mit dem Individualschutz begründete, wurde die Bedeutung aktivbürgerschaftlicher Rechte, mit denen der Bürger an der Ausübung der Staatsgewalt teilhat, schwer. Nicht zufällig stellt G. Jellinek den status activus, in dem solche Rechte ihren systematischen Ort haben sollen, dann auch an das Ende seiner Statuslehre. Er setzt dabei auch sogleich mit dem Problem des fehlenden Individualbezugs solcher Rechte ein und stellt fest, „eine Beziehung auf indivi81
O. von Sarwey, ebd., S. 121.
8 2
O. von Sarwey, ebd., S. 132.
83
Vgl. nur C.F. Gerber, Über öffentliche Rechte, S.67 f f ; P. Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, S. 308 f.; C.E. Leuthold, Öffentliches Interesse, in: Annalen des Deutschen Reichs 1884, S. 321, 364.
74
Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
duelles Interesse scheint ihnen auf den ersten Blick nicht einzuwohnen" 84 . Dennoch soll es nach G. Jellinek bei diesem Ergebnis nicht bleiben. Die zentralen Rechte, mit denen die Bürger an der Ausübung der Staatsgewalt teilhaben konnten, konnten aus dem Rechtsbegriff nicht gegen jeden Sprachgebrauch ausgeschlossen werden. Dementsprechend wurden sie auch später stets als subjektiv-öffentliche Rechte anerkannt. Die Bemühungen, dies mit dem individualbezogenen Ansatz in Einklang zu bringen, zeigen jedoch nur, daß das Kriterium des „individuellen Interesses" insoweit gerade nicht paßte. G. Jellinek verdeckt das zwar schnell, indem er das Problem des individuellen Interesses auf dasjenige des - vom Staatswillen zu unterscheidenden - individuellen Willens verschiebt. Jedoch war es damit nicht behoben. Am Beispiel des von G. Jellinek - wie überhaupt im Schrifttum des 19. Jahrhunderts eingehend diskutierten Wahlrechts soll dies näher gezeigt werden. Während in Frankreich das Wahlrecht unter den Überschriften „Les organs de l'État" - "La composition du corps des citoyens" diskutiert wurde und dabei die „souveraineté nationale" im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stand 85 , mußte es in Deutschland also in die Rechte der Bürger zur Wahrung ihrer individuellen Interessen eingeordnet werden. Daß das Wahlrecht jedoch gerade nicht - und sicher nicht vorrangig - zur Wahrung der je individuellen Interessen, sondern im „eminent staatlichen Interesse" 86 gegeben ist, ließ sich kaum leugnen. Konsequenterweise sprach G. Jellinek denn dem Wahlrecht als Wahlrecht den Rechtscharakter auch ab: „Jeder Anteil an einer staatlichen Wahl ist Ausübung einer staatlichen Funktion ... Die Wahlhandlung selbst kann daher niemals Inhalt éines individuellen Rechtes sein ... Der Berechtigte wird im Augenblick der Wahl staatlicher Funktionär ... Das Wahlrecht besteht daher, so paradox dies klingen mag, keineswegs in dem Recht zu wählen" 8 7 . Um das Wahlrecht nun dennoch auch individuell begründen zu können, konstruierte Jellinek - unter Rückgriff auf seine Statuslehre - eine dem Wahlakt vorgelagerten Anspruch „auf Anerkennung des einzelnen in seiner Eigenschaft als Wähler" 8 8 . Damit war das Problem des fehlenden spezifisch individuellen Interesses, das sich nun für einen solchen Anspruch stellte, aber nicht gelöst. Zwar war damit eine Unterscheidung zwischen dem Bürger als Staatsorgan und dem Bürger als Privatperson gefunden 89 , jedoch die Frage, inwiefern die Anerken8 4
G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 136.
85
Vgl. nur L. Duguit, Traité de droit constitutionnel II, S. 440 ff.
8 6
G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 136.
87
G. Jellinek, ebd., S. 159 f.
8 8
G. Jellinek, ebd., S. 161.
8 9
Bezogen hierauf hat seine Unterscheidung zwischen organschaftlicher Wahlausübung und individuellem Anspruch auf Anerkennung der Wahlberechtigung durchaus Erklärungswert.
I. Geschichtliche Grundlagen
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nung als Wähler gerade dem Schutz des einzelnen bzw. seiner spezifisch eigenen Interessen dient, nur verschoben. Dieses Problem ließ sich definitionsgemäß auch nicht lösen. Die diesbezüglichen Versuche G. Jellineks sind dafür nur Beleg 9 0 . So argumentiert er, der politische Kampf um das allgemeine Wahlrecht zeige, daß „das mächtigste individuelle Interesse hinter den Wahlrechten" stehe 91 . Damit jedoch gibt er im Grunde seine eigene Begrifflichkeit auf und läßt das „individuelle Interesse" zu einer formalen Hülse werden 92 : Das individuelle Interesse an der Mitbestimmung des öffentlichen Interesses hängt mit dem, was G. Jellinek zuvor als materielles Element des subjektiven Rechts bestimmt hat, nicht mehr zusammen. Nicht weniger hilflos ist sein Verweis auf das Maß an „sozialer Ehre und Wertschätzung" 93 , welche politische Rechte vermittelten. Ganz sicher liegt die Schutzrichtung des Wahlrechts nicht in der sozialen Ehre! Die Überlegungen O. von Sarweys sind gleichfalls nicht überzeugender. Weder das Interesse, „welches die einzelnen ... an dem Wahlergebn i s haben, noch das Recht, „keinen anderen als berufen zur Ausübung der öffentlichen Thätigkeit anzuerkennen, als denjenigen, welcher durch eine gesezmäßige Wahl hiezu berufen i s t " 9 4 begründen ein spezifisch individuelles Interesse im materiellen Sinne. Auch die Folgeliteratur führte hier nicht weiter. O. Bühler etwa kann insofern nur appellierend anführen, man könne für das Wahlrecht „doch kaum leugnen, daß hier Interessen der einzelnen Angehörigen des Volks geltend gemacht" würden. Bei K. Frh. von Stengel wird das Scheitern dann vollends offenkundig. Mit seinem Bemerk, es könne doch nicht darauf ankommen, ob eine Norm im Interesse der Gesamtheit oder im Interesse der Berechtigten eingeräumt sei 9 5 , gibt er die gerade zuvor von ihm selbst noch proklamierten Kriterien 96 für das Wahlrecht der Sache nach auf und nimmt dieses - von ihm selbst unbemerkt - aus seinem allgemeinen Begriff des subjektiven Rechts heraus 97 . 9 0
Kritisch bereits F. Tezner, Besprechung der Schrift von G. Jellinek, in: Zeitschrift für das Privat- und öffentliche Recht der Gegenwart, 21 (1894), S. 107, 155 ff. 91
G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 140.
9 2
Zutreffend weist W. von Niederhäusern, Zur Konstruktion des subjektiven öffentlichen Rechts, S. 20 ff., 23 darauf hin, daß hier das normative „Interesse" zu einem bloß faktischen „Interesse" changiert. 93
G. Jellinek, ebd., S. 141.
9 4
O. von Sarwey, Das öffentliche Recht und die Verwaltungsrechtspflege, S. 483.
9 5 K. Frh S. 177, 199. 9 6 9 7
von Stengel, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, VerwArchiv 3 (1895),
K. Frh von Stengel, ebd., S. 191.
Auch Th. Ritter Dantscher von Kollesberg, Die politischen Rechte der Unterthanen (1. Lieferung 1888), S. 80 ff. legt nicht dar, wo das individuelle Interesse beim Wahlrecht liegt. Da bei ihm das individuelle Interesse aber nicht die begrifflich-konstruktive und damit auch begrenzende Bedeutung hat wie bei G. Jellinek und später
76
Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
Im Zuge einer zunehmend positivistischen oder zum Teil auch einfach pragmatisch orientierten Sichtweise konnten solche Diskrepanzen im folgenden überdeckt werden. Was der Gesetzgeber als Befugnis des einzelnen bestimmte, wurde danach unproblematisch zu den subjektiv-öffentlichen Rechten gezählt, ohne daß man nach dem materialen Element noch weiter fragte 98 . Waren Befugnisse anerkannt, besaß die Frage ihrer Schutzrichtung auch keine politische Brisanz mehr. Insofern spielte auch der Jellinek'sche Begriff der bloß formalen subjektiv-öffentlichen Rechte in der Literatur keine weitere Rolle. Insbesondere nach H. Kelsen - der insoweit schon die primär auf das Zivilrecht bezogenen Kriterien von R. von Jhering und B. Windscheid zurückweist - kann es auf einen wie auch immer gearteten Inhalt nicht mehr ankommen: Ist Recht nicht Inhalt, sondern Form, so ist ein subjektives Recht „nicht ein Interesse das geschützt wird, sondern selbst Schutzmittel dieses Interesses" 99. Die innere Ausrichtung und die Frage des substantiellen Gehalts des subjektiv-öffentliche Rechts konnte mit dem nun rechtstechnisch verwendeten Begriff ausgeblendet bleiben. Weniger grundsätzlich aber ähnlich begnügen sich etwa E. Loening oder F. Fleiner damit, auf die Möglichkeiten des Staats zu verweisen, einen Anspruch auf „bestimmte" 1 0 0 bzw. „konkrete" 1 0 1 Leistungen und damit subjektive Rechte einzuräumen. Die Frage nach dem subjektiven Recht konzentrierte sich dabei angesichts der sich herausbildenden Verwaltungsgerichtsbarkeit mehr auf praktische Fragen des Rechtsschutzes und ließ die materielle
O. Bühler, fällt es hier weniger ins Gewicht, wenn er hierüber schlicht hinweggeht (möglicherweise soll die Rede vom Juristischen" Interesse hier etwaigen Bedenken vorbeugen). Er führt die politischen Rechte im engen Sinne - er bezeichnet die subjektiven öffentlichen Rechte überhaupt als „politische Rechte" - vielmehr sogar als erste Gruppe auf: Sie seien eine persönliche Einwirkung auf den Staat, zu deren Duldung sich die Staatspersönlichkeit verpflichtet habe; er erläutert so ihre politische Dimension in konstitutioneller Terminologie. 9 8
W. Henke, Das subjektive öffentliche Recht, S. 33 ff. weist insofern auch auf die sich hierin spiegelnden Traditionen aktionenrechtlichen Denkens hin. 9 9 H Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, S. 623; nach seiner Definition ist dementsprechend das subjektive Recht „der Rechtssatz in seinem Verhältnis zu derjenigen Person, von deren Verfügung die Realisierung des im Rechtssatze ausgesprochenen Willens des Staates zur Unrechtsfolge abhängig gemacht ist" (S. 625); ihm folgend L. Richter, Das subjektive öffentliche Recht, in: AöR 8 (1925), S. 1, 32 ff. und 41 f.; vgl. zuvor der Sache nach auch schon Th. Ritter Dantscher von Kollesberg, Die politischen Rechte der Unterthanen (1. Lieferung 1888), S. 75 f f , der - wie dargelegt (siehe Fn. 97) - die politischen Rechte mit größerer Freiheit in seiner Systematik verorten kann. 100
E. Loening, Lehrbuch des Deutschen Verwaltungsrechts, S. 11.
101
F. Fleiner, Institutionen, S. 176 f.
I. Geschichtliche Grundlagen
77
Grundbestimmung zurücktreten 102 . Inhaltlich war damit aber weder für Klarheit gesorgt noch das Konzept von G. Jellinek verlassen. Nicht zufällig blieb das Kriterium des „individuellen Interesses" für die Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht auch weiterhin elementar.
4. Objektiv-rechtliche Ansätze a) Objektiv-rechtliche
Konzeptionen in der Literatur
Neben der Bestimmung des Verhältnisses von Bürger und Verwaltung durch das subjektive Recht gab es allerdings auch objektiv-rechtliche Ansätze, die den Rechtsschutz nicht in Abgrenzung von der Verantwortung für das öffentliche Interesse spezifisch vom Individualschutz her begründeten. Freilich ist insoweit oft schon die Bedeutung des Begriffs „objektiv-rechtlich" vieldeutig und nicht selten auch verwirrend. Vielmals stand das Insistieren auf einem rein „objektiv-rechtlichen" Charakter des Rechtsschutzes nur in Abwehr der alten jura quaesita: Sofern - wie von vielen Autoren 1 0 3 - subjektive Rechte mit den jura quaesita identifiziert und deshalb grundsätzlich geleugnet wurden, konnten Rechtspositionen der Bürger prinzipiell nur „objektiv-rechtlich" verstanden werden. Objektiv-rechtliche Ansätze in diesem Sinne aber standen nicht von vornherein in einem inneren Gegensatz zu der Entwicklung der subjektiven Rechte als privatnützige Befugnisse, wie sie oben beschrieben wurde 1 0 4 . Zu der These der Beschränkung jeglicher Individualbefugnisse auf den Privatschutz verhielten sich solche Ansätze aus sich heraus nicht. Jedoch gab es darüber hinaus durchaus auch Konzepte, deren objektivrechtliche Fundierung weitertrug und bewußt über den auf die Einzelperson
102 Ygj Q MüH e r ^ Dte Begriffe der Verwaltungsrechtspflege und des Verwaltungsstreitverfahrens, S. 67: „Jedes Recht, was auch sein Inhalt sein mag, zu welcher Zeit, an welchem Orte es auch Geltung habe, vermag Menschen einen Zuwachs ihrer Macht zu gewähren. Dieser Zuwachs, diese von der Rechtsordnung verliehene Macht ist das subjektive Recht. Verhältnismäßig gleichgültig ist dabei, ob man die Macht als Willensmacht, Willensherrschaft oder anders näher charakterisiert; und unerörtert kann hier ebenfalls bleiben, zu welchen Zwecken die Macht dienen soll". 103 1 0 4
Siehe oben I. 1.
In Bezug hierauf relativiert W. Henke, Das subjektive öffentliche Recht, S. 26 ff., den Unterschied zwischen subjektiv-rechtlichen und objektiv-rechtlichen Positionen zunächst zu Recht.
78
Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
konzentrierten Individualschutz hinauszielte 105 . Diese wurden, was heute verwundern mag, insbesondere im Zusammenhang mit der Entstehung und Deutung der Verwaltungsgerichtsbarkeit entwickelt. Zu nennen sind hier vor allem zwei Autoren, die - wohl nicht zufällig - ihre Leitvorstellungen ausländischen Rechtsordnungen entnahmen: R. von Gneist und O. Mayer. R. von Gneists vehementer Einsatz für eine Verwaltungsgerichtsbarkeit beruhte auf einem dezidiert objektiv-rechtlichen Konzept. Er betont das Verwaltungsrecht als „eine objective Rechtsordnung, welche auch unabhängig von Parteianträgen um des öffentlichen Rechts und Wohles willen zu handhaben ist. Folgeweise sind alle Controlen der Staatsverwaltung gleichzeitig zum Schutz der Gesamtheit wie des einzelnen bestimmt" 1 0 6 . Es sei ein Irrtum und „eine civilistische petitio principii", jede Rechtsprechung „nur zu denken als einen Schutz 'subjektiver Rechte',, 107 . Die „deutsche Grundneigung", „die sich immer nur für 'eigene Rechte' erwärmt und begeistert" 108 , verkenne, daß der Beteiligte gerade auch im öffentlichen Interesse die Verwaltung kontrolliere und somit „zu einer imploratio officii judicis oder Extrajudicialappellation im kanonischen Sinne legitimirt" 1 0 9 sei. Die wesentliche Funktion des verwaltungsgerichtlichen Schutzes liege in der Kontrolle der Verwaltung als solcher, insoweit ergänzten die Verwaltungsgerichte die Kontrolle durch das Parlament 110 . Der Schutz individueller Rechte sei demgegenüber sekundär und dürfe nicht zur Grundlage des Verwaltungsrechts und der Verwaltungsjurisdiction gemacht werden 1 1 1 . Ähnlich soll nach Otto Mayer die Verwaltungsrechtspflege „auch dem objektiven Rechte dienen, der aufrechtzuerhaltenden Rechtsordnung und dadurch mittelbar den durch diese geschützten Interessen, die nicht notwendig die bestimmte Form von subjektiven Rechten an sich tragen" 1 1 2 . In bezug auf diesen objektiv-rechtlichen Ausgangspunkt stehen R. von Gneist und O. Mayer noch nicht einmal in Widerspruch zu O. Bähr, der mit seiner Justizstaatlichen" Konzeption sonst in vieler Hinsicht das Gegenmodell zu dem Entwurf eines 105 Dieses übersieht W. Henke, ebd., und rückt damit die objektiv-rechtlichen und subjektiv-rechtlichen Argumentationsstränge des 19. Jahrhunderts im Ergebnis doch zu sehr zusammen. Die wesentliche Bedeutung des „individuellen Interesses" in der damaligen Diskussion über die öffentlichen Rechte und den öffentlichen Rechtsschutz entgeht ihm dabei. 10 6
R. von Gneist, Der Rechtsstaat, S. 270 (Hervorhebungen im Original).
107
R. von Gneist, ebd., S. 271.
108
R von Gneist , Verhandlungen des 12. DJT 1875, Bd. 3, S. 221, 231.
10 9
R. von Gneist, e bd., S. 233.
110
R, von Gneist, ebd., S. 226.
111
R. von Gneist, ebd., S. 233; ihm folgend Ph. Zorn, Kritische Studien zur Verwaltungsgerichtsbarkeit, VerwArchiv 2 (1894), S. 74, 98. 112
nal).
O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, S. 132 (Hervorhebung im Origi-
I. Geschichtliche Grundlagen
79
spezifisch verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes vertrat. Auch O. Bähr nämlich begründete - seinerseits von einem genossenschaftsrechtlichen Staatsbegriff ausgehend - die Notwendigkeit eines Rechtsschutzes objektiv-rechtlich vom Wesen des Rechts h e r 1 1 3 . R. von Gneists Vorstellungen, die bekanntermaßen die Preußischen Gesetze zum verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutz weithin prägten, zielten insbesondere auch auf eine Beteiligung der Bürger an der Verwaltung. Gerichtet „gegen die Mißbräuche der constitutionellen Parteiverwaltung und gegen die Corruption des Beamtentums durch die Parteien" 114 sollte eine gemischte Besetzung der Entscheidungskörper mit ehrenamtlichen Bürgern und Berufsbeamten nach dem Muster des Self-Government ein ausgleichendes Gegengewicht schaffen. Dementsprechend war R. von Gneists Verständnis der „Verwaltungsjurisdiction" w e i t 1 1 5 . Die Verwaltungsjurisdiction sollte nicht nur die nachträgliche Rechtskontrolle über Verwaltungsentscheidungen sicherstellen, sondern zugleich den Erlaß bestimmter primärer Verwaltungsentscheidungen umfassen und auch zur Reformation von Ermessenserwägungen berechtigt sein 1 1 6 . Der objektiv-rechtliche Ansatz wie ihn R. von Gneist vertrat stand damit ebenso wie der subjektiv-rechtliche in unmittelbarem Bezug zu den verfassungsrechtlichen Kräfteverhältnissen des deutschen Konstitutionalismus - nur in genau umgekehrter Stoßrichtung. Gerade entgegen dem subjektiv-rechtlichen Konzept zählte er auf eine verstärkte Teilhabe „der Gesellschaft" an dem Staat. Die politische Selbstbeschränkung des subjektiv-rechtlichen Ansatzes läßt er bewußt nicht gelten und macht so, in der Negation, diese selbst noch einmal deutlich.
113 Vgl. α Bähr, Der Rechtsstaat, S. 52 ff.; vgl. hierzu auch H.-U. Erichsen, Grundlagen der Lehre vom fehlerhaften belastenden Verwaltungsgsakt, S. 270 ff.; W. Kohl, Das Reichsverwaltungsgericht, S. 17 ff. 114
R. von Gneist, Der Rechtsstaat, S. 272.
115
Ähnlich weit war auch das von Frankreich her beeinflußte Verständnis O. Mayers von der „Verwaltungsrechtspflege", vgl. Ο. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, S. 131 ff. 116 R. von Gneist, Verhandlungen des 12. DJT 1875, Bd. 3, S. 221, 234 ff.; die berühmte Kontroverse zwischen R. von Gneist und O. Bähr hatte in diesen Fragen, und nicht in der vordergründigen Frage, ob die ordentlichen Gerichte oder spezielle Verwaltungsgerichte zuständig sein sollten, ihren Gegenstand. In Blick auf die längerfristige Entwicklung des Verwaltungsrechtsschutzes ist die gängige Darstellung, R. von Gneist habe sich gegenüber O. Bähr durchgesetzt, folglich nur mit erheblichen Einschränkungen zutreffend.
80
Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts b) Die Gesetzgebung in Preußen
Die Konzeption R. von Gneists spiegelte sich zunächst in Preußen, und von dort aus fortwirkend auch in anderen Ländern vielfach in der Gesetzgebung wider. Die zwischen 1876 und 1883 ergangenen Gesetze, die weithin vorbildgebend eine preußische Verwaltungsgerichtsbarkeit errichteten, gingen weitgehend auf R. von Gneist und zunächst auch auf sein objektiv-rechtliches Grundkonzept zurück 1 1 7 . Eine Beschränkung der Klagmöglichkeiten auf die Geltendmachung eigener Rechte gab es - im Gegensatz zu den Vorschriften einiger süddeutscher Staaten - nicht, gewisse Verwaltungsentscheidungen (ζ. B. die Entziehung von Gewerbekonzessionen) konnten von vornherein nur als Gerichtsentscheidungen ergehen, und zum Teil entschieden die gleichen Entscheidungsgremien sowohl im - eher verwaltungsförmigen - Beschlußverfahren als auch im förmlichen Verwaltungsstreitverfahren 118. Die Vornahme eigener Ermessensentscheidungen war nicht stets von vorneherein ausgeschlossen und auch Klagbefugnisse von Behördenleitern und Gerichtspräsidenten waren anerkannt 119 . Im Straßen- und Wegerecht kannte man gegen bestimmte Entscheidungen sogar eine Popularklage 120 . Ausgehend von diesen Grundlagen wurde denn die Verwaltungsgerichtsbarkeit bis in die Weimarer Republik hinein auch in der Lehre immer wieder objektiv-rechtlich gedeutet 121 . Auf Dauer allerdings konnte sich das objektiv-rechtliche Verständnis nicht durchsetzen. So vertrat von Anfang an die überwiegende Literatur eine streng subjektivrechtliche Konzeption der Verwaltungsgerichtsbarkeit 122. Maßgeblich geprägt 117
Vgl nur Ch.-F. Menger, Verfassung und Verwaltung, DÖV 1963, S. 726 f.; W. Rüfner, Die Entwicklung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, in: Deutsche Verwaltungsgeschichte, Bd.3, S. 909, 922 ff.; die von R. von Gneist angestrebte Beteiligung von Bürgern und Laien blieb dabei in ihrer Bedeutung freilich begrenzt, vgl. U. Stump , Preußische Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 83 ff. 118
Zu den verfahrensrechtlichen Strukturen des Verwaltungsstreitverfahrens vgl. etwa K. Friedrichs, Die Besonderheiten des preußischen Verwaltungsstreitverfahrens, VerwArchiv 6 (1898), S. 358 ff. 119 Ο. Müller, Die Begriffe der Verwaltungsrechtspflege und des Verwaltungsstreitverfahrens, S. 138 ff.; G. Anschütz, Verwaltungsgerichtsbarkeit, HwbKW, Bd, 4, S. 326, 337; vgl. hierzu näher W. Kohl, Das Reichsverwaltungsgericht, S. 30 ff.; U. Stump , Preußische Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 130 ff. 120 Ygj g 57 z u s t G (vgl. Fn. 68); siehe hierzu M von Brauchitsch (Begr.), fortgeführt von Studt/Braunbehrens, Die neuen preußischen Verwaltungsgesetze, Anm. 22 zu § 57 ZustG, S. 340; kritisch zur praktischen Bedeutung dieser Vorschrift F. Weyreuther, Verwaltungskontrolle durch Verbände, S. 71, Fn. 261. 121
So etwa F. Fleiner, Institutionen, S. 256 f.
122 v g l hierzu H.-U. Erichsen, Grundlagen der Lehre vom fehlerhaften belastenden Verwaltungsgsakt, S. 211 ff.; Ch.-F. Menger, System des verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes, S. 17 ff.; G.-Ch. von Unruh, Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 53 ff.
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durch die vorbildgebende Tradition der Gerichtsbarkeit, in jüngerer Zeit der Zivilgerichtsbarkeit, und unter Verallgemeinerung der Kriterien der zum Teil schon älteren Verwaltungsgerichtsbarkeit in den süddeutschen Staaten wie ζ. B. Baden, Württemberg, Bayern oder Thüringen, wurde die Aufgabe der Verwaltungsgerichte allein oder jedenfalls hauptsächlich in der Wahrung subjektiver Rechte gesehen 123 . Hinsichtlich der Verwaltungsgerichtsbarkeit in Preussen war insoweit schon äußerst streitig, wie weit die objektiv-rechtlichen Elemente hier überhaupt reichten 124 . Darüber hinaus wurden die spezifisch objektivrechtlichen Elemente des preußischen Systems vielfach als unwesentliche Akzidenzien verstanden, die für den Begriff der Verwaltungsgerichtsbarkeit nicht maßgeblich seien. Kompetenzen, die über die Wahrung subjektiver Rechte hinausgingen, interpretierte man als Verwaltungsgerichtsbarkeit „im weiteren S i n n " 1 2 5 , die eigentlich über die Natur einer Gerichtsbarkeit hinausgingen 126 . Dies war umso leichter deshalb möglich, weil sich die verfahrensrechtlichen Konsequenzen, die R. von Gneist für die Praxis aus seinem objektiv-rechtlichen Ansatz zog und die im preußischen Recht auch Niederschlag gefunden hatten, auf zwei Aspekte konzentrierten: Die gerichtliche Befugnis zur Überprüfung von Ermessensentscheidungen und die Zuständigkeit der Gerichte auch zum Ersterlaß bestimmter Verwaltungsentscheidungen. Insoweit aber konnte die Differenz zwischen objektiv-rechtlichem und subjektiv-rechtlichem Konzept auch als Differenz zwischen aktiver Verwaltung und nachträglich kontrollierender Rechtsinstanz aufgefaßt und dahin verschoben werden. Das insoweit vorrangige Problem der Ermessensüberprüfung wurde dabei dann gleichzeitig mit der Praxis der Verwaltungsgerichte - durch die Entwicklung einer Ermessensfehlerlehre eingefangen und so in das subjektiv-rechtliche
123 Ο. Bühlen Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 261 ff.; O. Gluth, Genehmigung und subjectives Recht, AöR 3 a.F. (1888), S. 569, 570; G.A. Grotefend, Die Organisation, S. 58; O. Sarwey, Das öffentliche Recht und die Verwaltungsrechtspflege, S. 71 ff. und passim; Κ. Frh. von Stengel, Die Verwaltungsgerichtsbarkeit, VerwArchiv 3 (1895), S. 177 f f ; ders.', Die Organisation der Preußischen Verwaltung, Leipzig 1884, S. 488. 124
Vgl. O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 274 ff.; O. Müller, Die Begriffe der Verwaltungsrechtspflege und des Verwaltungsstreitverfahrens, S. 7 f f , 71 f f , 138 f f ; siehe auch G. Anschütz, Verwaltungsgerichtsbarkeit, HwbKW, Bd. 4, S. 326, 337; erschwerend kam bei dieser Auseinandersetzung hinzu, daß die Frage objektiv-rechtlich/subjektiv-rechtlich entsprechend den partizipativen Vorstellungen R. von Gneists mit der Frage materieller Verwaltungstätigkeit/gerichtsförmige Rechtsprüfung weitgehend zusammenfiel. 125 126
O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 267.
Die Beschlußverfahren der Preußischen Verwaltungsgerichtsbarkeit wurden dabei ohnehin als reine Verwaltungsverfahren angesehen; zum Unterschied von Verwaltungsstreit- und Beschlußverfahren vgl. nur U. Stump, Preußische Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 120 f f 6 Masing
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Konzept eingebaut 127 . Die Primärzuständigkeit der Verwaltungsgerichte hingegen war ohnehin sehr begrenzt und war im übrigen gleichfalls mit einem nicht zu eng verstandenen - subjektiv-rechtlichen Konzept kompatibel. Daß in dieser Diskussion die politische Beschränkung des subjektiv-rechtlichen Ansatzes eine erhebliche Rolle spielte, ist oben dargelegt. Gerade für die praxisbezogene Frage nach den Aufgaben der Verwaltungsgerichtsbarkeit ist O. von Sarwey, der, von der Württembergischen Rechtslage geprägt, ein entschiedener Verfechter der subjektiv-rechtlichen Lehre war, ein wichtiger Zeuge. Seine Zurückweisung des objektiv-rechtlichen Konzepts galt insbesondere der - jedenfalls formellen - Sicherung der Eigenständigkeit der monarchisch legitimierten Exekutive. Greife man in deren Zuständigkeit zur Durchsetzung des gemeinen Wohls ein, überfordere man die Gerichte. Ein solcher Übergriff erfolge nur „in Zeiten oder in Staaten, in welchen ... die Freiheit der einzelnen mit der Staatsgewalt im Kampfe l i e g t " 1 2 8 , aus dem in solcher Lage berechtigten Mißtrauen gegenüber der Befolgung der Gesetze durch die Exekutive. Ein solches Mißtrauen aber sei in der konstitutionellen Ordnung nicht mehr begründet. Im übrigen würden gerichtliche Entscheidungen, die auch vor einer Rechtsprüfung bei der Wahrnehmung öffentlicher Interessen nicht Halt machten, im politischen Streitfall von der Exekutive dann letztlich doch nur ignoriert. Unter dem Eindruck der wissenschaftlichen Diskussion und getragen von der tiefwurzelnden politischen Beschränkung des Bürgertums auf die Wahrung individueller Freiräume, baute dann auch die Rechtsprechung des Preußischen Oberverwaltungsgerichts 129 nicht die in der von Gneist'sehen Konzeption liegenden objektiv-rechtlichen Elemente aus, sondern tendierte in Zweifelsfällen zu einem subjektiv-rechtlichen Verständnis der Verwaltungsgerichtsbarkeit. Bereits 1877 verneinte das Oberverwaltungsgericht die Klagebefugnis eines Nachbarn, weil das Verwaltungsstreitverfahren „wie jedes andere gerichtliche Streitverfahren" seinem Wesen nach darauf beschränkt sei „dem Schutz solcher Interessen zu dienen, deren Verletzung zugleich eine Verletzung subjektiver Rechte in sich schließt" 130 . Dem Gesetzeswortlaut war zu diesem Zeitpunkt -
127 Ygi insbesondere W. Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung, S. 201 f f ; O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 162 ff. 128 129
O. von Sarwey, Das öffentliche Recht und die Verwaltungsrechtspflege, S. 132 f.
Das Preußische Oberverwaltungsgericht bestand allein aus Berufsrichtern. Daß insoweit eine Laienbeteiligung nicht vorgesehen war, war bereits ein Kompromiß, auf den sich R. von Gneist hatte einlassen müssen; vgl. hierzu G.Ch. von Unruh, Vom Gesetzesstaat zum Rechtsstaat, DVB1. 1975, S. 838, 839. 130 prOVG, Bd. 2, S. 351.
I. Geschichtliche Grundlagen
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anders als etwa in Württemberg - ein solches Kriterium der Rechtsverletzung nicht zu entnehmen. In Bezug auf den Rechtsschutz gegenüber Polizeiverfügungen griff dann schon 1883 auch der Gesetzgeber auf dieses Erfordernis zurück und schrieb die Rechtsprechung fest. Gemäß § 127 Abs. 3 LVG konnten diesbezügliche Klagen nur mit der Behauptung erhoben werden, daß der angefochtene Bescheid „den Kläger in seinen Rechten verletze". Für den praktisch wichtigsten Bereich der preußischen Rechtsprechung war damit das subjektiv-rechtliche Konzept vorgegeben. Wie in den süddeutschen Ländern entwickelte sich so auch in Preußen die Verwaltungsgerichtsbarkeit in den Kategorien des subjektiv-öffentlichen Rechts.
5. Zusammenfassung und Ausblick auf die französische Rechtsentwicklung: Kraft und Grenze des subjektiv-rechtlichen Konzepts a) Das deutsche Konzept des Individualschutzes gegenüber dem französischen Konzept der Gesetzmäßigkeitskontrolle Bereits zum Ende des Kaiserreichs lag damit die Lehre des subjektiv-öffentlichen Rechts somit weitgehend ausgefaltet vor. Entstanden unter den verfassungspolitisch labilen Kräfteverhältnissen des deutschen Konstitutionalismus, war sie, wie die Untersuchung gezeigt hat, von diesen nachhaltig geprägt. In dem diese Zeit bestimmenden Zwischenzustand zwischen Monarchie und Demokratie lag in der Auseinandersetzung um das subjektiv-öffentliche Recht das Pendant zum Kampf des Parlaments um seine Befugnisse. Das subjektivöffentliche Recht war gegenüber der im Einzelfall tätig werdenden Exekutive das Vehikel für die Entwicklung des Untertans zum Bürger. Von dieser Bedeutung her hatte die Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht einerseits ihre besondere Kraft. Unter Verzicht und zugleich in Kompensation politischer Teilhabe entfaltete sich unter ihren Vorzeichen ein schnell an Differenzierungen gewinnendes Rechtsschutzsystem, das die bürgerlichen Interessen der einzelnen immer wirksamer und genauer zu sichern wußte. Bis heute steht die Lehre des subjektiv-öffentlichen Rechts in Deutschland daher für die Garantie der Subjektstellung gegenüber der Staatsgewalt und ist Grundlage eines Verwaltungsrechtsschutzes geworden, der hinsichtlich der Intensität der Kontrolle seinesgleichen sucht. Von daher versteht sich zugleich, daß die hervorragende Bedeutung der Lehre des subjektiv-öffentlichen Rechts eine Besonderheit des deutschen Ver-
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Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
waltungsrechts ist und in anderen Ländern, wie insbesondere in Frankreich 131 , nicht eine annähernd vergleichbare Rolle gespielt hat, geschweige denn spielt. In Frankreich war im Unterschied zu Deutschland die Entwicklung maßgeblich von der Französischen Revolution mitbestimmt, in der auf einen Schlag die alten Legitimationsstränge gesprengt und das Prinzip der Volkssouveränität zur Durchsetzung gebracht wurde. Es war damit umfassend und wegweisend die Rtickbindung der gesamten Staatsgewalt, einschließlich der Exekutive, zu Wirksamkeit gelangt. Zwar folgten dem auch in Frankreich zunächst noch einmal restaurative Phasen, die diese Umwälzungen zurückzunehmen suchten und dabei im übrigen teilweise auch zu verfassungsrechtlich ähnlichen Problemlagen und Konstruktionsversuchen führten wie in Deutschland 132 . Jedoch prägte die Realität der vergangenen Ereignisse den Fortgang der politischen Entwicklung und konnte dort - bei allen schnellebigen Wechseln in der politischen Geschichte im einzelnen - schon vergleichsweise früh nicht mehr als zweifelhaft gelten, daß auch die Exekutive ihre Legitimation vom Volk her beziehen muß. Insoweit konnte und brauchte diese jedenfalls zu dem Zeitpunkt, zu dem der Rechtsschutz gegenüber der Verwaltung nähere Konturen bekam, nicht mehr wie in Deutschland als von den Bürgern losgelöst und von Kontrolle exemt aufgefaßt werden. Für die Entstehung der französischen Verwaltungsrechtspflege ergab sich daraus ein ganz anderer Hintergrund. So konnte durch die politische Rückbindung der Exekutive die Ausschaltung einer rechtsförmigen Kontrolle zunächst ganz ungebrochen als Errungenschaft der Revolution und damit auch der Demokratie verstanden werden 1 3 3 . Die hierfür maßgebliche französische Lehre der Gewaltenteilung, nach der grundsätzlich jegliche Kontrolle der ordentlichen Gerichte über die Verwaltung ausgeschlossen i s t 1 3 4 , erhielt ihre besondere Stringenz gerade aus der revolutionären Umwälzung der staatlichen Legitimationsgrundlagen und richtete ihre Spitze gegen 131
Zu Belgien, Griechenland und Italien, die sich an das französische Modell weitgehend anlehnen, vgl. etwa W. Skouris, Verletztenklagen und Interessentenklagen, S. 120 ff.; weitere Nw. siehe unten Teil 3 III. 2. 132
So entstand das in Deutschland so lange wirkmächtige „monarchische Prinzip" zunächst in Frankreich; vgl. D. Grimm, Deutsche Verfassungsgeschichte, S. 114; G. Jellinek, System der subjektiven öffentlichen Rechte, S. 469 ff.; E. Kaufmann, Studien zur Staatslehre des monarchischen Prinzips, S. 3 f f ; diese Einsicht war freilich für das deutsche Schrifttum ein Politikum und zum Teil schwer hinzunehmen, vgl. KO. Meisner, Die Lehre vom monarchischen Prinzip, S. 203 ff. 133
Entsprechende Bestimmungen waren demzufolge schon im Dekret vom 22. Dezember 1789 (Art. 7) und in der Verfassung von 1791 (Art. 3) enthalten; vgl. näher J. Laférrière, Les raisons de la proclamation, in: Mélanges P. Negulesco, S. 427 ff. 134 ρ p ߣnoit, Les fondements de la justice administrative, in: Mélanges M. Waline, Bd. 2, S. 283 ff.; A. de Laubadère/J.-Cl. Venezia/Y. Gaudemet , Droit administratif, Bd. 1, Rn. 431 und 436; G. Vedel/P. Delvolvé , Droit administratif, Bd. 1, S. 97 ff.
I. Geschichtliche Grundlagen
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die Macht der parlements im ancien régime 1 3 5 . Freilich entsprach dies zugleich französisch-etatistischer Tradition und sicherte im folgenden auch die obrigkeitliche Handlungsfreiheit der Exekutive unter den restaurativen Regimes. Forderungen nach Rechtsschutz kamen dann zwar unvermeidlich auch bald auf. Sie hatten unter diesen Vorzeichen aber nicht die politische Schubkraft, die der Lehre des subjektiv-öffentlichen Rechts in Deutschland mit ihrem politischkompensatorischen Freiheitsanspruch innewohnte. Vielmehr blieben sie inhaltlich durch die - dann wieder zunehmende - politische Rückbindung der Exekutive an das Volk und die damit verbundene Legitimation konterkariert, wodurch in Anknüpfung zugleich an die zentralistisch absolutistischen Strukturen der Intensität rechtlicher Kontrollen von vorneherein auch andere Grenzen gesetzt waren. Dem Dogma der Trennung von Justiz und Verwaltung entsprechend entwickelte sich so die französische Verwaltungsrechtspflege an der zentralen Spitze der Verwaltung selbst, nämlich durch die allmähliche Herausbildung der gerichtsähnlichen Funktionen des Conseil d'Etat 1 3 6 . Hierbei gab es im französischen Verfassungskontext dann aber auch keine prinzipiellen Gründe mehr, die Extension des Rechtsschutzes auf individuell gegründete subjektive Rechte zu beschränken. Theoretische Bedenken dagegen, daß Bürger die Rechtmäßigkeit der Verwaltung auch bei deren Wahrnehmung öffentlicher Interessen geltend machen können bestanden nicht. Weder stand dem ein Postulat der prinzipiellen Unverantwortlichkeit der Exekutive im Wege, noch ließ sich hiergegen ein Legitimationsdefizit oder die sachliche Inkompetenz der rechtssprechenden Entscheidungsinstanz einwenden. Dementsprechend wurde den Bürgern stets - und in zunehmendem Umfang - die Möglichkeit eingeräumt, sich unabhängig von der Verteidigung subjektiver Rechte auch auf allgemein die Verwaltung bindende Rechtsnormen berufen zu können. Als maßgebliche Zielrichtung solcher Verfahren kristallisierte sich dabei allein die légalité, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung heraus, in deren Sicherstellung insoweit die primäre Aufgabe des Conseil d'État gesehen wurde. Verfahrensmäßig ausgeformt war eine solche objektive Rechtskontrolle im recours pour excès de pouvoir. Zunächst nur eröffnet, wenn incompétence oder vice de forme, später dann auch détournement de pouvoir gerügt wurden, wuchs seine Bedeutung rasch und ermöglichte schließlich die Geltendmachung von Gesetzesverletzungen überhaupt. Dank prozessualer Erleichterungen gegenüber 135
F. P. Benoit , ebd., S. 283, 284 f.; A. de Laubadère/J.-CL ebd., Rn. 430.
Venezia/Y.
Gaudemet,
136 Ausgangspunkt war die Theorie de l'administration-juge und der Grundsatz „Juger l'administration, c'est aussi administrer" (vgl. P. Sandevoir, Études sur le recours de pleine juridiction, S. 63 f f , 297 ff.). Wichtige weitere Etappen waren der Übergang von der justice retenue zur justice déléguée im Jahre 1872 und später die Aufgabe der Theorie des ministrer juge im Jahre 1889 (vgl. hierzu nur J. Chevallier , Séparation de la jurisdiction administrative et de l'administration active, S. 199 ff. und 219 ff).
Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
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anderen Rechtsbehelfen 137 ist er in dieser objektiv-rechtlichen Prägung das bis heute wichtigste Rechtsmittel des französischen Verwaltungsrechts geworden. Einzige Voraussetzung, die den recours pour excès de pouvoir deutlich von einer Popularklage unterscheidet, ist allerdings auch hier das Vorliegen eines „intérêt froissé" 138 . Mit der grundsätzlich und materiell ansetzenden Individualbezogenheit des subjektiven Rechts kann das aber nicht gleichgesetzt werden. Es ist lediglich eine pragmatisch steuernde und im übrigen von der Rechtsprechung äußerst großzügig gehandhabte Zugangshürde auf Zulässigkeitsebene und bestimmt den materiellen Prüfungsmaßstab nicht 1 3 9 . Den dezidiert objektiven Charakter des recours pour excès de pouvoir kann es nach dem heute einhelligen Verständnis der französischen Lehre 1 4 0 nicht in Frage stellen. Auch in Frankreich war der Begriff des subjektiven Rechts allerdings nicht ganz ohne Bedeutung für die Entwicklung des Verwaltungsrechtsschutzes. Der recours de pleine juridiction war - und ist in gewissem Sinne bis heute 1 4 1 - an die Geltendmachung subjektiver Rechte gebunden, so daß auch die französische Lehre mit den „droits subjectifs" oder, wie es in ähnlicher Unsicherheit wie in Deutschland zunächst auch hieß, den „droits acquis" umzugehen hatte. Bedeutung hatte dies - wohl nicht zufällig in einer frühen Anfangsphase verwaltungsgerichtlichen Rechtsschutzes - inbesondere bis zur Aufwertung des recours pour excès de pouvoir durch die Reform von 1864 bzw. zunächst auch noch danach, wenn (nun in dessen Rahmen) die Rüge der „violation de la loi et des droits acquis".erhoben wurde 1 4 2 . Jedoch brachte sich auch insoweit die 1 3 7 Wichtig war hier insbesondere die Reform von 1864, vgl. A. de Laubadère/ J.-Cl Venezia/Y. Gaudemet, Droit administratif, Bd. 1, Rn. 661 ff., 663. 138
Vgl. nur A. de Laubadère/ J.-Cl Venezia/Y. Gaudemet, ebd., Bd. 1, Rn. 686 ff.; G. Vedel/P. Delvolvé , Droit administratif, S. 258 ff.; näher siehe unten Teil 3 II. 1. 139 A. de Laubadère/J.-Cl. Venezia/Y. Gaudemet , ebd., Bd. 1, Rn. 686: „Cette notion d'un intérêt froissé est très différente d'un droit dont l'action en justice serait la mise enjeu. Elle est simplement l'expression de cette idée que l'on n'a pas voulu, pour des raisons pratiques, ouvrir le recours à tout individu indifféremment."; Verwendung findet auch der Begriff "intérêt pour agir", siehe näher unten Teil 3 II. 1.
140 Ygi a ber auch die andere, offensichtlich durch Rechtsvergleichung inspirierte Sichtweise von R. Bonnard, Les droits publics subjectifs, RDP 1932, S. 695 ff.; ders., Le contrôle juridictionnel, S. 51 ff. und insbes. S. 66 ff. 141
Die Vorstellung von subjektiven Rechten bleibt dabei freilich weitgehend unscharf und hat keine dogmatische Bedeutung mehr (vgl. sogleich). Mit den subjektivöffentlichen Rechten, wie sie in der deutschen Lehre bekannt sind, steht dies in keinerlei Zusammenhang mehr. Zur Rechtsnatur des recours de pleine juridiction (bzw. recours de plein contentieux) vgl. nur Α. de Laubadère/J.-Cl. Venezia/Y. Gaudemet, Droit administratif, Bd. 1, Rn. 617 f f ; G. Vedel/P. Delvolvé , Droit administratif, Bd. 2, S. 30. 142 Das Erfordernis des droit acquis hatte in diesem Zusammenhang nur eine kurze Zeit eine Bedeutung gehabt, vgl. A. Georgin, La violation de la loi, S. 324 ff. Formell wurde dieses Erfordernis durch eine Entscheidung im Jahre 1906 aufgegeben (C. E., 1. Juni 1906, Ree., 506).
I. Geschichtliche Grundlagen
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gegenüber Deutschland grundverschiedene politische Ausgangslage schnell zur Geltung. Statt der Ausgrenzung spezifisch bürgerlich-individueller Interessen gegenüber allgemein-öffentlichen Interessen entstand hier in Rückgriff mit der Rechtsprechung des Conseil d'État zum recours pour excès de pouvoir bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die „théorie du droit subjectif à l'observation de la l o i " 1 4 3 , die im Ergebnis die weitere Entwicklung bestimmte. Letztlich führte dies dazu, daß im Rahmen des recours pour excès de pouvoir dann ebenso wie die anderen Rügen auch die Rüge der „violation de la loi" ohne weiteren Nachweis subjektiver Rechte erhoben werden konnte und der Begriff der subjektiven Rechte völlig an den Rand gedrängt wurde. Heute findet er sich noch nicht einmal mehr im Stichwortverzeichnis der Standardlehrbücher des Verwaltungsrechts. Auch der als subjektiv-rechtliches Verfahren geltende recours de pleine juridiction, dessen praktische Bedeutung schnell auf die Durchsetzung von Geldforderungen reduziert wurde, verlangt heute, ohne insofern noch eine Dogmatik des subjektiven Rechts zu benötigen, lediglich eine „situation juridique individuelle subjective" 144 und meint damit im wesentlichen nur die Geltendmachung von vertraglichen Forderungen oder Schadensersatzansprüchen. Eine grundsätzliche Bedeutung wie in Deutschland hat das subjektiv-öffentliche Recht in Frankreich nie gewinnen können 1 4 5 . In Gegenüberstellung der skizzierten französischen Rechtsentwicklung wird nun kontrastierend die zweite Bedeutung des konstitutionellen Entstehungskontextes für die Lehre des subjektiv-öffentlichen Rechts in Deutschland nochmals sehr deutlich: Er war nicht nur die Bedingung für ihre Kraft, sondern bestimmte auch ihre Grenze 146 . Anders als in Frankreich und entsprechend den politischen Kräfteverhältnissen in Deutschland zielte man mit dieser Lehre dem Anspruch nach ausschließlich auf den Schutz der je einzelnen. Nicht eine mit breiten Handlungsvollmachten, dabei aber gegenüber jedermann für die Beachtung der gesetzlichen Vorgaben verantwortliche Exekutive, sondern eine freie 143
So die Bezeichnung damaligen Lage bei A. Georgin, La violation de la loi, S. 321 ff., 329; wie weit diese These der damaligen Lehre tatsächlich zugrunde lag ist im einzelnen umstritten; vgl. auch J. Chevallier , Séparation de la jurisdiction administrative et de l'administration active, S. 132 ff.; R. de Lacharrière , Cormenin, RDP 1940/41, S. 151 ff., 333 ff., 351; aus dem deutschen Schrifttum vgl. M.Rott, Das verwaltungsrechtliche subjektive öffentliche Recht, S. 176 ff. (die von ihm - S. 180 mit Fn. 132 - benannten Quellen für die Anerkennung eines „droit à la légalité" sind allerdings falsch, vgl. A. Chauveau, Principes de compétence, Bd. 1, S. 97; A. Batbie, Droit public et administratif, Bd. 1, S. 420; G. Dufour, Droit administratif, Bd. 2, S. 280). 144
A. de Laubadère/J.-Cl.
Venezia/Y.
Gaudemet, Droit
administratif,
Rn. 617. 145
Siehe unten Teil 3 II. 1. 146 Ygj a u c h F. Scharpf, Die politischen Kosten des Rechtsstaats, S. 38 ff.
Bd.
1,
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Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
Exekutive, die allein in bezug auf die Wahrung der je individuellen Interessen der Bürger zur Verantwortung gerufen werden konnte, war ihr Leitbild. Die Abgrenzungen zwischen individuellem und öffentlichem Interesse bzw. zwischen subjektivem Recht und bloßem Reflex gehören in Deutschland daher zum Essentiale des subjektiven Rechts. Seine Konturen gewinnt das subjektivöffentliche Recht substantiell erst in der Gegenüberstellung zum objektiven Recht, das vom Bürger gerade nicht eingefordert werden darf. Mit dem Institut des subjektiv-öffentlichen Rechts beschränkte sich das Bürgertum so erneut auf die Sicherung seiner Stellung als Bourgeois. Folgerichtig enden die Rechtsschutzansprüche des Bürgers, auch wenn sie hinsichtlich der Intensität der Kontrolle im einzelnen oft weiter reichen, abrupter als etwa in Frankreich 147 . Mit dem subjektiv-öffentlichen Recht macht der Bürger eben nicht die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, sondern seinen Anspruch auf Privatheit geltend.
b) Praxisorientierte
Dogmatisierung
Wie dargelegt wurde allerdings bereits zum Ende des deutschen Konstitutionalismus die Diskussion um das subjektiv-öffentliche Recht mehr und mehr durch pragmatische Fragen bestimmt, die solche prinzipielle Bestimmungen in den Hintergrund drängten. In dem Maße, in dem der prinzipielle Widerstand gegen die Anerkennung subjektiv-öffentlicher Rechte abnahm, wandte man sich nun - methodisch oft unter Rückendeckung des Positivismus - nur noch den Fragen der Konsequenzen für die Rechtspraxis zu. Insoweit rückte angesichts der sich herausbildenden Verwaltungsgerichtsbarkeit mehr und mehr kasuistisch die Einklagbarkeit von behördlichen Rechtshandlungen und die gerichtliche Überprüfungsdichte in den Vordergrund. Schon O. Bühler verweist auf dieses verwaltungspraktische Anliegen und versucht in erster Linie, subsumtionsfähige Kriterien zu entwickeln, die bei der Anwendung bestehender Rechtsnormen einen handhabbaren Maßstab für die Praxis bilden 1 4 8 . Wohl nicht zuletzt diese praxisorientierte Dogmatisierung führte dazu, daß die Lehre von den subjektiv-öffentlichen Rechten ohne prinzipielle Neugrundlegung in die Weimarer Republik übernommen werden konnte. Dort griff man unverändert auf deren Grundbestimmungen zurück. Zwar gab es Entwicklungen hinsichtlich der Folgen und Abgrenzungen im einzelnen, an die dann auch
147 y g i z u diesem Zusammenhang etwa Cl.D. Classen , Die Europäisierung der Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 7 f., 189 ff.; näher hierzu unten Teil 3 II. 1. und 2. 148
Vgl. O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 3 ff. und 21.
II. Grundlage des heutigen Verwaltungsrechtsschutzes
89
nach 1945 angeknüpft werden konnte 1 4 9 , jedoch stellten diese den Ausgangspunkt nicht in Frage 1 5 0 . Der Identität der Persönlichkeiten 151 , die die Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht vor wie nach 1918 forttrugen, entsprach die Identität der Definitionen. Maßgeblich blieb insbesondere auch die „Privatnützigkeit" des subjektiv-öffentlichen Rechts. Das subjektiv-öffentliche Recht ist Willensmacht, die dem Willensträger „in seinem eigenen Interesse" 152 bzw. „um seines Vorteils w i l l e n " 1 5 3 eingeräumt ist. Mit dieser Grundbestimmung hielt man an G. Jellinek fest. Und mit dieser Grundbestimmung tradierte man das subjektiv-öffentliche Recht auch in das Verwaltungsrecht der Bundesrepublik.
II. Die Übernahme des subjektiv-öffentliche Rechts als Grundlage des heutigen Verwaltungsrechtsschutzes O. Bühler errichtete die Brücke, auf der die Lehre des subjektiv-öffentlichen Rechts vom Kaiserreich über die Weimarer Republik in die heutige Bundesrepublik passierte. Der Sache nach unverändert griff er in der Gedächtnisschrift für W. Jellinek 1955 seine wissenschaftlichen Erkenntnisse von 1914 und 1927 1 5 4 auf und machte sie, getragen durch die Tradition, zur Grundlage auch des heutigen Verwaltungsrechts 155 . Seine Definitionsbestandteile: zwingender Rechtssatz - Schutz des Individualinteresses - Rechtsmacht 156 bildeten 149 v g l . (ji e Annäherung von Gewerbeerlaubnis und Konzession etwa Wieland, Die Konzessionsabgaben, S. 108 ff.; soweit diese Neuerungen heute von Interesse sind, werden sie im Rahmen der Darstellung der Lehre des subjektiv-öffentlichen Rechts in der Bundesrepublik berücksichtigt und brauchen hier nicht vertieft zu werden. 150 Ygi hierzu nur H. Bauer, Geschichtliche Grundlagen, S. 84 ff. und 94 ff. 151
Etwa O. Bühler, F. Fleiner, F. Giese, G. Jellinek, W. Jellinek, O. Mayer.
15 2
W. Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 201; E. Tatarin-Tarnheyden, Recht der Berufsverbände in: Grundrechte und Grundpflichten, Bd. 3, 1930, S. 519, 520. Vgl. auch R. Thoma Das System der subjektiven öffentlichen Rechte und Pflichten, HbDStR, Bd. 2, S. 607, 616; auch er nennt den Individualbezug als materielles Element des subjektiv-öffentlichen Rechts, wobei dieser für ihn allerdings keine entscheidende Rolle spielt; das formelle, von positivrechtlicher Setzung abhängige Element der Durchsetzbarkeit drängt bei ihm das materielle Moment vielmehr ganz in den Hintergrund und lassen dieses mehr als ein mitgeschlepptes Gepäckstück der Tradition erscheinen. 153
O. Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, S. 104.
15 4
O. Bühler, Zur Theorie des subjektiven öffentlichen Rechts, Festgabe für F. Fleiner, S. 26 ff. 155 O. Bühler, Begriff und Bedeutung der subjektiven öffentlichen Rechte, Gedächtnisschrift W. Jellinek, S. 269 ff. 15 6
O. Bühler, ebd., S. 274 ff.
90
Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
so den Ausgangspunkt der bundesrepublikanischen Lehre und prägen Theorie wie Praxis bis heute. Demgegenüber verschwanden objektiv-rechtliche Ansätze, die sich in einer Anfangsphase der Orientierung durchaus noch vernehmbar machten 1 5 7 , schnell aus der Diskussion. Der Rückgriff auf die Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht legte sich in der Tat auch nahe. Schon das Grundgesetz knüpft mit Art. 19 Abs. 4 an die subjektiv-rechtliche Tradition an und verspricht einen effektiven Schutz gerade von subjektiven Rechten 158 . Die Gerichtsbarkeit wie die Gesetzgebung führten dieses Konzept fort. Insbesondere in § 42 Abs. 2 und § 113 Abs. 1 Satz 1 VwGO ist für das verwaltungsgerichtliche Verfahren ausdrücklich festgelegt, daß Gerichtsschutz grundsätzlich nur der Sicherung individueller Rechte gilt. Die Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht wurde so die Grundlage des gesamten Rechtsschutzsystems gegenüber der Verwaltung. In dieser Funktion unterlag die Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht naturgemäß erheblichen Entwicklungen. Die nicht umsonst vielzitierte Prophezeihung O. Bühlers, die Ära der subjektiv-öffentlichen Rechte habe erst jetzt richtig begonnen 159 , verweist darauf, daß die Übernahme der subjektiv-rechtlichen Tradition nur der Grundstein für eine in verschiedener Hinsicht erst in Gang zu setzende Dynamik war. Wie verhalten sich diese Entwicklungen nun zu der im 19. Jahrhundert entstandenen Begrifflichkeit des subjektiv-öffentlichen Rechts? Ist die spezifische Rückbindung dieser Lehre an „individuelle Interessen" dabei aufgehoben oder grundsätzlich verändert worden? Gilt auch für den heutigen Rechtsschutz noch die Leitidee, der einzelne hat sich allein um 15 7
W. Meiss, Die gesetzliche Abgrenzung, S. 28 ff. („... den Verwaltungsgerichten übertragen, die in erster Linie nicht allein den Rechtsschutz subjektiver öffentlicher Rechte wahrzunehmen haben, sondern gleichzeitig und vornehmlich auch objektives Recht der Verwaltung wahren.", S. 28); W. Niese, Uber den Streitgegenstand, JZ 1952, S. 353 ff. („... darf auch nicht dazu verleiten, als Streitgegenstand ein vom Kläger geltend gemachtes 'subjektives Anfechtungsrecht' zu betrachten... Vielmehr ist das Hauptanliegen der Verwaltungsgerichtsbarkeit, ... zum Wohle und Gedeihen des Rechtsstaats selbst, im öffentlichen Allgemeininteresse die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die rechtmäßige Hoheitsausübung als solche zu gewährleisten"; S. 355); H.-J. Schlochauer, Fragen zur Neuordnung, AöR 79 (1954), S. 185, 187 ff. - unter Bezugnahme insbesondere auf das französische Recht - ; vgl. auch die frühen Forderungen nach Verbandsklagen bei H. Krüger, Die Aktivlegitimation, MDR 1953, S. 518, 519 f.; R. Naumann, Klagebefugnis von Verbänden, DÖV 1971, S. 378, 379. Ein letztlich objektiv-rechtliches Konzept steht auch hinter den - auch mit anderen Traditionen brechenden - Vorstellungen von A. Görlitz, Verwaltungsgerichtsbarkeit, S. 243 ff. 158
Daß „Rechte" nur als „subjektive Rechte" zu verstehen sind verstand sich angesichts der Tradition von selbst und entsprach in der Terminologie nur der überkommenen Begrifflichkeit. 15 9 O. Bühler, Zur Theorie des subjektiven-öffentlichen Rechts, Festgabe für F. Fleiner zum 60. Geburtstag, S. 269, 273.
II. Grundlage des heutigen Verwaltungsrechtsschutzes
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das je Seine zu kümmern, die Rechtmäßigkeit der Verwaltung als solche hingegen geht den Bürger nichts an? Es reicht eine knappe Betrachtung nur der wichtigsten dieser Entwicklungen, um festzustellen, daß die Beziehung und Begrenzung der subjektiven Rechte auf den Individualschutz wenigstens im Kern bis heute beibehalten wurde. Zwar haben sich die Vorstellungen von dem, was zum „individuellen Interesse" zu zählen ist, verschoben, so daß sich ihre praktischen Konsequenzen vielfältig gewandelt haben (1.). Jedoch ist damit ihr gedanklicher Ausgangspunkt nicht in Frage gestellt worden (2.). Auch die rechtswissenschaftliche Diskussion zeigt trotz verbreiteter und zum Teil grundsätzlicher Kritik an dogmatischen Lehrsätzen zum subjektiv-öffentlichen Recht im einzelnen, daß die Sicherung individueller Interessen als alleiniger Maßstab für die Zuerkennung von Rechten einzelner auch heute noch im ganz überwiegenden Schrifttum Anerkennung findet (3.). Dies hindert freilich nicht, daß das deutsche Verwaltungsrecht dennoch vereinzelt auch objektiv-rechtliche Rechtsschutzelemente enthält (4.). Die folgende Darstellung beschränkt sich darauf, insoweit einige wesentliche Grundlinien herauszugreifen. Eine umfassende Aufarbeitung der vielfältigen, im Schrifttum größtenteils bereits eingehend aufgearbeiteten aktuellen Einzelprobleme des subjektiv-öffentlichen Rechts ist damit schon vom Ansatz her nicht angestrebt. Sie würde an der hier interessierenden Fragestellung vorbeiführen. Diese zielt, ausgehend von den europarechtlichen Begründungen für die Verleihung individueller Befugnisse, allein auf die in vieler Hinsicht fast selbstverständlich scheinenden, aber dabei oft unreflektiert gebliebenen Grundstrukturen: Was trägt die deutsche Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht inhaltlich?
1. Die ausgedehnte Reichweite des modernen Rechtsschutzes Wie seit jeher liegt die Stoßrichtung der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht auch in der Bundesrepublik in der Stärkung des Bürgers gegenüber der Verwaltung. Sie zielt auf einen möglichst starken Schutz des einzelnen als Privatperson 160 . Indem es den einzelnen in seinen individuellen Interessen 160 Vgl. schon BVerwGE 1, 159 (161): Der einzelne „wird vielmehr als selbständige sittlich verantwortete Persönlichkeit und deshalb als Träger von Rechten und Pflichten anerkannt"; aus der Literatur siehe nur W. Henke, Das subjektive öffentliche Recht, S. 57 ff.; H Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, § 8, Rn. 4 ff.; H.H. Rupp, Grundfragen der heutigen Verwaltungsrechtslehre, S. 151 f f ; E. Schmidt-Aßmann, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 19 Abs. 4 (Bearbeitung 1985), Rn. 117; rechtsphilosophisch
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Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
schützt, nimmt es ihn als privates Subjekt ernst und stärkt ihn gegenüber der Exekutive bzw. nunmehr, unter dem Grundgesetz, auch gegenüber dem Gesetzgeber 161 . Es verleiht ihm Ansprüche und befähigt ihn, sich gegen behördliche Entscheidungen gegebenenfalls zur Wehr zu setzen. Von dieser Stoßrichtung her bezieht das subjektiv-rechtliche Konzept seine Anerkennung, und in ihrer Realisierung liegt der manifeste Erfolg der Lehre. Unter ihrer Ägide entwickelte sich in Deutschland ein ausdifferenziertes Rechtsschutzsystem, das insbesondere in bezug auf die Intensität gerichtlicher Kontrolle seinesgleichen sucht 1 6 2 . Im Zuge der Stärkung des Individualschutzes und auf der Grundlage einer nun voll ausgebauten Verwaltungsgerichtsbarkeit erfuhr die Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht praktisch wie theoretisch erhebliche Weiterungen. Die Elastizität ihrer Begriffsbestimmungen, wie sie insbesondere mit dem Kriterium des rechtlich geschützten Individualinteresses gegeben war, erlaubte und beförderte eine erhebliche Ausweitung subjektiv-rechtlicher Positionen. Sie verlieh ihr dabei eine Dynamik, die für die Praxis die Grenzen zwischen (bloß) objektivem und (zugleich) subjektivem Recht verschob. Einerseits durch Festigung und Ausbau bereits der älteren Lehre und Rechtsprechung, andererseits durch deutliche Neuerungen kann sich der Bürger heute in erheblichem Umfang auch auf Normen berufen, die für sich betrachtet einem spezifischen Individualinteresse nicht dienen oder die nach früherem Verständnis als für die Betroffenen rechtlich irrelevant galten. Herausgegriffen seien insoweit nur zwei, heute im Kern für selbstverständlich genommene Bestandteile subjektiven Rechtsschutzes: Die mittelbare Geltendmachung objektiv-rechtlicher Normen und die Ausweitung des Drittschutzes 163 . hierzu die (vom Privatrecht her argumentierende) Arbeit von F. Kasper, Das subjektive Recht (seine Zusammenfassung beginnt: „Das 'subjektive' Recht versinnbildlicht die Behauptung des Individuellen und seines Eigengewichts im Recht" [S. 176]). Grundsätzlich kritisch gegenüber diesem bürgerlichen Ausgangspunkt U.K. Preuß, Die Internalisierung des Subjekts, S. 115 f f (hierzu unten, Fn. 239); aus soziologischer Sicht auch N. Luhmann, Subjektive Rechte, in: Gesellschaftstruktur und Semantik, S. 45, 96 ff. 161 Vgl. Art. 1 Abs. 3 GG; hierzu nur G. Dürig, in: Maunz/Dürig, GG, Art. 1 (Bearbeitung 1958), Rn. 103 ff.; H. von Mangoldt/F. Klein/Ch. Starck, BGG, Bd. 1, Art. 1, Rn. 122 f. i.V.m. 141. 162
Zum Überblick über die verschiedenen Verwqltungsrechtsordnungen in Europa vgl. J. Schwarze, Europäisches Verwaltungsrecht, S. 95 f f ; zur verschiedenen Intensität der Verwaltungskontrolle ebd., S. 198 f f , 246 ff. und 663 f f ; zu den Grundlagen der verschiedenen Verwaltungsrechtsschutzsysteme siehe auch unten Teil 3 II. 163 Nicht eingegangen wird auf die Entwicklung vom Kriterium des „zwingenden Rechtssatzes" zur heutigen Ermessenskontrolle durch die Gerichte. Zwar haben sich auch insoweit die ursprünglichen Vorstellungen der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht - freilich zurückgehend schon auf sehr frühe Ansätze (vgl. einerseits bereits:
II. Grundlage des heutigen Verwaltungsrechtsschutzes
a) Die mittelbare
Geltendmachung
objektiv-rechtlicher
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Normen
aa) V o m Grundsatz her nicht neu, aber in seinen Folgen vor dem Hintergrund eines ausdifferenzierten Rechtssystems m i t einer ausgebauten Verwaltungsgerichtsbarkeit von gewachsener praktischer Bedeutung ist die M ö g l i c h keit der Inzidentkontrolle von für sich betrachtet rein objektiv-rechtlichen V o r schriften i m Rahmen der Eingriffsabwehr. Es ist allgemein anerkannt und entspricht ständiger Ü b u n g in der verwaltungsgerichtlichen Praxis, daß der einzelne als Adressat einer ihn belastenden Verfügung deren Rechtmäßigkeit in jeder
Hinsicht überprüfen lassen k a n n 1 6 4 . Der Bürger hat einen subjektiv-
rechtlich anerkannten Anspruch darauf, daß Einschränkungen seiner Freiheit nur aufgrund und nach Maßgabe aller diese Freiheit einschränkenden Gesetze vorgenommen werden. Verfassungsrechtlich entspricht dem seit der ElfesE n t s c h e i d u n g 1 6 5 die Verbürgung der allgemeinen Handlungsfreiheit in Art. 2
W. Jellinek, Gesetz, Gesetzesanwendung und Zweckmäßigkeitserwägung, S. 157 f f ; andererseits: O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 158 ff.) - erheblich geändert und findet in ganz anderem Umfang eine Rechtskontrolle statt als dieses zunächst vorstellbar schien. Jedoch betrifft diese Entwicklung nicht die - hier allein interessierende - Definition der Rechtsstellung des einzelnen durch das Kriterium der Individualbetroffenheit und das so bestimmte Ausmaß von Rechtsverleihung und Rechtsschutz, sondern die Intensität des Rechtsschutzes. Dabei stehen freilich, was hier nicht näher ausgeführt werden kann, Intensität und Ausmaß des Rechtsschutzkonzeptes nicht beziehungslos nebeneinander. Die traditionell hohe Intensität des subjektiv-rechtlichen Rechtsschutzes bildet vielmehr den Kontrapunkt zu dessen gegenständlich engem Ausgangspunkt; vgl. hierzu und - im Vergleich zu Frankreich - oben I. 5. a) und unten Teil 3 II. 1. und 2. Gleichfalls nicht zum Thema gehörig ist die implizite Herleitung subjektiv-öffentlicher Rechte aus Verwaltungsvorschriften über die Hilfskonstruktion von Art. 3 Abs. 1 GG (vgl. hierzu nur F. Ossenbühl, Autonome Rechtssetzung der Verwaltung, HbStR, Bd. 3, § 65, Rn. 44 ff.). Auch insoweit ist die durch die europarechtlichen Impulse initiierte Frage nach dem Privatschutz als Substanz des subjektiv-öffentlichen Rechts prinzipiell nicht berührt; zur Veröffentlichungspflicht von Verwaltungsvorschriften vgl. aber auch unten III. 2. a). 164
Verfahrenspraktisch führt man insoweit im Rahmen der Klagebefugnis regelmäßig die „Adressatentheorie" an und sieht damit - bei objektiver Rechtswidrigkeit auch die Frage der Rechtsverletzung als beantwortet an; vgl. N. Achterberg, Allgemeines Verwaltungsrecht, §24, Rn. 87 ff.; U.G. Berger, Grundfragen umweltrechtlicher Nachbarklagen, S. 214; F. Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, Rn. 282, 537 ff.; S. König, Drittschutz, S. 34 f.; H.-W. Laubinger, Der Verwaltungsakt mit Doppelwirkung, S. 115; Κ Redeker/H.-J. von Oertzen, VwGO, § 42, Rn. 15; W. Schmitt Glaeser, Verwaltungsprozeßrecht, Rn. 146; C. H Ole, Verwaltungsprozeßrecht, § 33 IV; in jüngster Zeit erhebt sich gegen die Adressatentheorie in der Literatur allerdings auch deutliche Kritik, vgl. E. Gurlit, Die Klagebefugnis des Adressaten im Verwaltungsprozeß, Die Verwaltung 28 (1995), S. 449 ff.; R. Wahl, in: Schoch u.a. (Hg.), VwGO, Vor § 42 Abs. 2, Rn. 115 f.; R. Wahl/P. Schütz, ebd., § 42 Abs. 2, Rn. 48 f., 70. 165
BVerfGE 6, 32.
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Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
Abs. 1 GG und das daraus folgende Abwehrrecht gegen jeden Eingriff, der nicht durch eine formell wie materiell verfassungsmäßige Rechtsnorm gerechtfertigt ist. Soweit es um gezielte Eingriffsakte der Verwaltung geht, spielt damit die Unterscheidung von subjektivem und bloß objektivem Recht keine Rolle mehr. Der Bürger kann sich im bipolaren Verwaltungsverhältnis auf jede Rechtsnorm berufen, ohne daß es insoweit weiterer schutzzweckbezogener Qualifizierungen bedürfte. Während er etwa im Nachbarstreit für jede gerügte Vorschrift einzeln geltend machen können muß, daß ihre Regelung auf eine spezifisch ihn als Dritten schützende Wirkung zielt 1 6 6 , reicht es im Rahmen der Eingriffsabwehr, auf die Rechtswidrigkeit als solche zu verweisen. Das insoweit geltend gemachte subjektive Recht, letztlich die - speziell oder allgemein - geschützte persönliche Freiheit, versubjektiviert alle Vorschriften des Außenrechts, die für den entsprechenden Eingriff objektiv-rechtlich maßgeblich sind. Freiheit ist, der alten Formel entsprechend, Freiheit vor ungesetzlichem Zwang. Eine Unterscheidung zwischen Bestimmungen, die spezifisch die Freiheit des einzelnen schützen sollen und solchen, die allgemein im öffentliche Interesse ergangen sind, wird nicht versucht. Bereits das Preußische Oberverwaltungsgericht kassierte Verfügungen allein wegen Verfahrensfehlern, Unzuständigkeit der entscheidenden Behörde oder wegen unzulässiger Delegation von Befugnissen auf eine andere Behörde 167 , obwohl die Zuständigkeits- und Verfahrensvorschriften für sich betrachtet der Ordnung der Behörde, nicht aber Individualinteressen des Bürgers zu dienen bestimmt waren 1 6 8 . Möglicherweise brachten sich hierin die bei der Entstehung der Verwaltungsgerichtsbarkeit vorhandenen objektiv-rechtlichen Linien und insbesondere das weitgehend präsente französische Vorbild zur Geltung 1 6 9 . Heute jedenfalls gilt dies wie selbstverständlich
166 Insoweit wird von der Literatur in kritischer Auseinandersetzung mit der Rechtsprechung des Bundesverwaltungsgerichts (BVerwGE41, 58 [64 f.]; 44, 235 [239 f.]; 61, 256 [262]; BVerwGE DÖV 1980, S. 516 ff.) gerügt, die Schutznormtheorie werde sogar in verschärfter Form angewandt, vgl. A. Bey , Begleitende Verwaltungskontrolle, S. 60 ff.; F. Geist-Schell, Verfahrensfehler und Schutznormtheorie, S. 63 f f , 170 ff.; F. Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, Rn. 555 ff., jeweils m.w.N.; zur Schutznormtheorie siehe näher auch unten 2. b) m.w.N. 167
PreußOVGE 11, 293; 14, 384; 30, 412.
168
Siehe hierzu auch W. Henke, Das subjektive öffentliche Recht, S. 65.
1 6 9
Tieferliegend dürfte ein Grund für diese von Anfang an mit aller Selbstverständlichkeit vollzogene Praxis auch in dem Fortwirken eines begrenzteren Verwaltungsrechtsverständnisses liegen (vgl. oben I. 2. b), bb)): Wird das Verwaltungsrecht überhaupt oder doch ganz überwiegend - und gerade auch in seinen formal-rechtsstaatlichen Formen - nur als Mäßigung einer politisch freien Exekutive zum Schutz des Individuums verstanden und wird dabei zentral nur die Bewahrung des einzelnen vor Eingriffen als schutzwürdig angesehen, ist es naheliegend, dann umgekehrt, wenn ein
II. Grundlage des heutigen Verwaltungsrechtsschutzes
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als T e i l der Lehre des subjektiv-öffentlichen Rechts selbst und w i r d i n seiner Spannung zu dem theoretischen Ausgangspunkt kaum mehr wahrgenommen: Innerhalb der Eingriffsabwehr setzt sich die Verletzung jeglicher Vorschrift h i n bis zur fehlenden internen M i t w i r k u n g einer anderen B e h ö r d e
170
-
- grund-
sätzlich als Verletzung auch der persönlichen Freiheit des einzelnen f o r t 1 7 1 . Schon dies führt zu einer umfassenden Kontrolle der angefochtenen Verwaltungsmaßnahmen: Ihre Rechtmäßigkeit w i r d hinsichtlich der gesetzlichen solche Eingriffsakt vorliegt, auch die entsprechenden Formvorgaben als individuell einforderbar und damit letztlich individualschützend anzusehen. Das allerdings besagt zugleich, daß die subjektiv-rechtliche „Filterwirkung" vor dem damaligen Verwaltungsrechtsverständnis wesentlich geringer und die Übereinstimmung von subjektivem und objektivem Recht inhaltlich größer war, als wenn diese Lehre in ein Verwaltungsrechtsverständnis übernommen wird, daß das Verwaltungsrecht im Rahmen eines in Funktionen gegliederten Staates als Steuerungsmittel in bezug auf den gesamten öffentlichen Gestaltungsauftrag der Verwaltung versteht. Das Verständnis des subjektiv-öffentlichen Rechts und des objektiven Rechts korrespondierten einander und hielt beide zusammen. Auch in diesem Sinne ist es richtig, wenn darauf hingewiesen wird, daß der „individualistische Ansatz" des subjektiv-rechtlichen Konzepts den Strukturen der herkömmlichen Ordnungsverwaltung entspreche (so etwa W. Brohm, Verwaltungsgerichtsbarkeit, DÖV 1982, S. 1, 3). 170 Vgl. BVerwGE 11, 195 [198 ff.]; 26, 145 [147 f.]; 62, 108 [111 f.]; vgl. auch F. Haueisen, Die Voraussetzungen der Rechtswidrigkeit, NJW 1960, S. 1881, 1883; H Hill, Das fehlerhafte Verfahren, S. 128. 171
BVerwG, Urt. v. 3. Nov. 1972, Buchholz 407.4, Nr. 9 zu § 8 FStrG; BVerfGE 30, 138 [145]; 66, 178 [182 f.]; vgl. auch P. Badura, Das Verwaltungsverfahren, in: Allgemeines Verwaltungsrecht, § 38, Rn. 30 ff.; P.-M. Huber, Konkurrenzschutz, S. 119; H.-J. Papier, Der verfahrensfehlerhafte Staatsakt, S. 10 f.; W. Skouris, Die Anfechtung von Ermessensverwaltungsakten, NJW 1981, S. 2727, 2729; D. Weinhardt, Die Klagebefugnis des Konkurrenten, S. 114; undeutlich: H. Hill, Das fehlerhafte Verfahren, S. 403 f f ; a.A. (in bezug auf Zuständigkeitsmängel): R. Mußgnug, Das Recht auf den gesetzlichen Verwaltungsbeamten?, S. 32 ff., 43 ff.; krit. hierzu neuestens auch R. Wahl/P. Schütz, in: Schoch u.a. (Hg.), VwGO, § 42 Abs. 2, Rn. 48 f , 70 die die Eingriffslage aber immerhin doch noch mit einer Vermutung für den Schutznormcharakter der für den Eingriff einschlägigen Normen privilegieren wollen. Hiervon zu unterscheiden ist freilich die Frage, wie weit im Laufe des weiteren Verfahrens formelle Fehler geheilt werden können (vgl. hierzu unten bb)) bzw. durch das Nachschieben von Gründen im Prozeß die Funktion des Gerichts im Ergebnis vielfach doch auf eine Ergebniskontrolle beschränkt werden kann (vgl. zu dem diesbezüglichen Streitstand nur P. Badura, Das Verwaltungsverfahren, in: Allgemeines Verwaltungsrecht, § 38, Rn. 39 ff.; F. O. Kopp, VwGO, § 113 Rn. 28 ff.). Nur scheinbar widersprüchlich ist insofern die Darstellung bei F. O. Kopp, ebd., § 113, Rn. 31, nach der Verfahrensfehler nur dann zur Aufhebung führten, wenn diese dem Klägerschutz dienten und nicht gemäß den §§ 45, 46 VwVfG unerheblich seien; die (eben nicht heilbaren) Zuständigkeitsfehler werden hiervon ausdrücklich ausgenommen und im übrigen wird die klägerschützende Wirkung dabei für Verfahrensfehler im Rahmen belastender Verwaltungsakte vorausgesetzt (vgl. ders., § 42, Rn. 46, 57 f f ; nichts anderes ergibt sich aus den insoweit angeführten Nachweisen).
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Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
und untergesetzlichen Voraussetzungen voll überprüft. Außer Betracht bleiben insofern nur Normen des reinen Binnenrechts, also Verwaltungsvorschriften; aber auch insofern wird über Art. 3 Abs. 1 GG ein Großteil der Vorschriften in die Kontrolle einbezogen 172 . Ergänzt wird dies durch die Möglichkeit der Inzidentkontrolle der zugrundeliegenden Normen selbst auf deren Gesetz- und Verfassungsmäßigkeit. Ausgehend von dem Gedanken der begrenzten Ermächtigung wurde eine solche Kontrolle für die Gesetzmäßigkeit von Rechtsverordnungen bereits seit Beginn der Verwaltungsgerichtsbarkeit anerkannt 173 . Verbunden mit der These von der ursprünglichen Nichtigkeit der Norm, wenn diese ihre Ermächtigungsgrundlage überschreitet und so in die Domäne des Gesetzgebers übergreift, folgt hieraus eine weitere Ausdehnung der Bestimmungen, die - ohne daß es auf ihren Schutzzweck selbst ankäme - Prüfungsmaßstab im Rahmen der Sicherung subjektiver Rechte sind. Wenn nämlich die Beachtung jeglicher gesetzlicher Maßgabe Voraussetzung schon der Wirksamkeit der eine Verfügung stützenden Verordnung ist, gibt es insoweit keine Bestimmung, die als rein objektiv-rechtlich irrelevant bleiben könnte. Eine Verletzung unterschiedslos jeder gesetzlichen Vorschrift nimmt der Rechtsverordnung ihre die Einzelverfügung tragende Kraft und wirkt als Verletzung subjektiven Rechts weiter. Im Verbund mit einer immer weiter ausgreifenden Dichte an Regelungen, hinsichtlich deren die Verwaltungsgerichtsbarkeit Beurteilungsspielräume kaum anerkennt, und in Übertragung dieses Modells auf die Überprüfung der Verfassungsmäßigkeit auch von formellen Parlamentsgesetzen 174 greift so der Rechtsschutz heute weit. Unter den Vorzeichen subjektiv-rechtlichen Rechtsschutzes ist in weitem Umfang die Berufung auf Normen möglich, die als solche nicht dem Schutz von Individualinteressen gelten und für sich betrachtet allein objektives Recht sind. So kann sich der Bürger auf der Verfassungsebene zum Beispiel nicht nur auf eine materielle Verletzung seines Grundrechts, etwa des Persönlichkeitsrechts, berufen, sondern anknüpfend hieran auch auf Fehler im Gesetzgebungsverfahren, auf Verstöße gegen Kompetenzvorschriften oder auf die mangelnde Berücksichtigung rechtsstaatlicher Anforderungen gemäß Art. 20 Abs. 3 GG. Im Verwaltungsrecht umfaßt etwa die Prüfung einer Abrißverfügung auch die Frage der Zuständigkeit der erlassenden Behörde oder -
172
BVerwGE 14, 307 (309); 18, 120 (123); 34, 278 (280); vgl. hierzu nur F. Ossenbühl, Autonome Rechtssetzung der Verwaltung, HbStR, Bd. 3, § 65, Rn. 44 ff. 173
PreußOVG 9, 337; 9, 367; vgl. auch H. Rosin, Das Polizeiverordnungsrecht, S. 298 ff. i. V. m. 282 ff.; R. Thoma, Der Polizeibefehl, S. 458 ff. Umstritten war freilich, wie weit die Rechtskontrolle reichte und ob sie insbesondere auch eine materielle Überprüfung der Verordnung erlaubte; hierzu O. Bühler, Die subjektiven öffentlichen Rechte, S. 184 ff. 174
Grundlegend, wie dargelegt, die Entscheidung BVerfGE 6, 32 (Elfes-Urteil).
II. Grundlage des heutigen Verwaltungsrechtsschutzes
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inzident - die Rechtmäßigkeit des Bebauungsplans, und zwar auch, wenn es insoweit etwa u m die Beachtung der Befangenheitsvorschriften oder die gebotene Entwicklung des Bauplans aus dem - selbst ohne jede Außenwirkung ergehenden - Flächennutzungsplan geht. Das subjektive Recht ist insofern stets nur der Einstieg, nicht aber der sich durchziehende Maßstab der Prüfung. bb) Allerdings hat man - bezogen vor allem auf Verfahrensfehler - den A n spruch auf gerichtliche Kontrolle i m L a u f der Zeit zurückgenommen. Während die alte Rechtsprechung und Lehre von einer grundsätzlichen Relevanz auch von Form- und Verfahrensvorschriften bei der Prüfung von Verfügungen ausg i n g e n 1 7 5 wurde dies zunehmend r e l a t i v i e r t 1 7 6 . Insbesondere durch die §§ 45, 46 V w V f G 1 7 7 und, für das Baurecht, durch die § § 2 1 4 , 215 B a u G B 1 7 8 versuchte man einer als dysfunktional und exzessiv empfundenen Kontrolle reiner Verfahrensvorschriften durch die Gerichte entgegenzuwirken. Leitender Gedanke solcher Vorschriften bzw. schon der entsprechenden Rechtsprechung ist die Überlegung, daß eine Verletzung von Vorschriften, die sich i m Ergebnis für den einzelnen nicht ausgewirkt hat, dessen Rechte auch nicht berühren k a n n 1 7 9 .
17 5
E. Forsthoff, Verwaltungsrecht, S. 229 ff.; W. Jellinek, Verwaltungsrecht, S. 268 ff., 279; vgl. hierzu näher F. Geist-Schell, Verfahrensfehler und Schutznormtheorie, S. 62 f f ; R. Mußgnug, Das Recht auf den gesetzlichen Verwaltungsbeamten?, S. 16 ff.; R. Stettner, Grundfragen einer Kompetenzlehre, S. 359. 176 Vgl. bereits F. Czermak, Behördenverfahren und Verwaltungsprozeß, NJW 1963, S. 703; O. Groschupf, Wie entscheidet das Verwaltungsgericht?, DVB1. 1962, S. 627 f f ; zu der folgenden Entwicklung dann F. Geist-Schell, ebd., S. 56 ff.; zur Rspr. Ch.-F. Menger, Höchstrichterliche Rechtsprechung, VerwArchiv 55 (1964), S. 73, 77 f.; VerwArchiv 56 (1965), S. 177, 190 ff.; Ch.-F. Menger/H.-U. Erichsen, VerwArchiv 61 (1970), S. 168, 178 ff.; krit. zu der restriktiven Rspr. vor Erlaß der Verwaltungsverfahrensgesetze H.J. Wolff/O. Bachof, Verwaltungsrecht, Bd. 1, (9. Aufl. 1974), § 51 IV e), S. 434. 177
Zur Funktion dieser Vorschriften vgl. R. Eibert, Die formelle Rechtswidrigkeit von Verwaltungsakten, Diss. Erlangen 1978, insbes. S. 152 ff.; F.Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, Rn. 595 ff.; H. Hill, Das fehlerhafte Verfahren, S. 96 ff., 324 ff.; auch F. Schoch, Der Verfahrensgedanke, in: Die Verwaltung 25 (1992), S. 24, 44 ff., jeweils m.w.N.; weitere Nw. zur Würdigung dieser Vorschriften bei M. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Leonhardt, VwVfG, § 45, Rn. 4; § 46, Rn. 2. 178
Zur kritischen Würdigung dieser Vorschriften vgl. etwa einerseits R. Breuer, Die Kontrolle der Bauleitplanung, N V w Z 1982, S. 273 ff.; F.-J. Peine, Zur verfassungskonformen Interpretation, N V w Z 1989, S. 637; H. Dürr, in: Brügelmann (Begr.), BauGB, Bd. 4, § 214, Rn. 15 f f ; andererseits - aus der Sicht der Praxis - G. Gaentzsch, Rechtsfolgen von Fehlern, Festschrift für F. Weyreuther, S. 249 f f ; H.K. Schmaltz, Verletzung von Verfahrens- und Form Vorschriften, DVB1. 1990, S. 77 ff.; F. Weyreuther, Das Bundesbaurecht, DÖV 1982, S. 575, 577 ff. 179 Sogenannte „dienende Funktion" des Verwaltungsverfahrens, vgl. W. Klappstein, in: Knack (Begr.), VwVfG, § 46, Rn. 2; F. Ossenbühl, Verwaltungsverfahren zwi-
7 Masing
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Vom Ansatz her kann man hierin eine Rückbesinnung auf das subjektiv-rechtliche Konzept erkennen: Rechtsschutz hat allein der Wahrung spezifisch geschützter Individualinteressen zu dienen. Können diese im Ergebnis nicht berührt sein, kommt eine Kontrolle des Verwaltungshandelns im Blick auf die Rechtmäßigkeit als solche nicht in Betracht. Es ist von einem strikt subjektivrechtlichen Ansatz insofern nur konsequent, wenn in dieser Diskussion die Unerheblichkeit von Verfahrensfehlern in Gerichtsverfahren auch damit begründet wurde, daß dem Verwaltungsprozeß eine allgemein edukatorische Funktion nicht zukomme 1 8 0 . Daß es um die Zurückdrängung eines von der subjektiv-rechtlichen Konzeption im strengen Sinne vielfach nicht mehr erfaßten Prüfungsmaßstabs ging, zeigen auch die Stimmen, die sich energisch gegen eine solche Rücknahme der Gerichtskontrolle wandten. Sie machten geltend, die Kontrolle innerhalb der Verwaltung 1 8 1 sei für eine Durchsetzung der Verfahrensvorschriften nicht ausreichend. Drohe nicht eine gerichtliche Sanktionierung von Verfahrensfehlern, werde die Verwaltung solche Vorschriften nicht hinreichend ernst nehmen. Eine diesbezügliche Rücknahme der gerichtlichen Kontrolle lasse sich, so die Kritik, einseitig „vom Gesichtspunkt des Rechtsschutzes des Bürgers leiten und vernachlässige darüber die Erfordernisse der objektiven Gesetzmäßigkeit, die für den modernen Staat nicht minder wichtig" seien 1 8 2 . Daß mit dieser Argumentation die gedanklichen Grundlagen der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht verlassen sind, liegt auf der Hand. Nicht weniger weit entfernt vom subjektiv-rechtlichen Ausgangspunkt sind die Versuche, Verfahrensfehler immer dann als „absolut" aufzufassen und damit durchschlagen zu lassen, wenn sich die Verfahrensposition im Einzelfall (auch) als Ausdruck eines öffentlichen Interesses verstehen lasse, zu dessen Wahrung ein einzelner Mitwirkender im Verfahren gegenüber der Behörde stellvertre-
schen Verwaltungseffizienz und Rechtsschutzauftrag, N V w Z 1982, S. 465, 471; M. Sachs, in: Stelkens/Bonk/Leonhardt, VwVfG, § 45, Rn. 5; R. Wahl/P. Schütz, in: Schoch u.a. (Hg.), VwGO, § 42 Abs. 2, Rn. 72 ff., jeweils m.w.N.; kritisch hierzu etwa F. Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, Rn. 584 ff. (siehe weiter auch die Nw. Fn. 176). 18 0 P. Badura, Die gegenwärtige Diskussion über das Verwaltungsverfahren, JA 1981, S. 33, 38; J. Martens, Die Rechtsprechung, NVwZ 1984, S. 556, 557; Der Rückgriff auf das subjektiv-rechtliche Konzept deutlich auch bei J. Held, Der Grundrechtsbezug, S. 230 ff. 181
Da die unbedingte Geltung der Verfahrensvorschriften als objektives Recht außer Frage steht, kann innerhalb der Verwaltung selbstverständlich auf die Einhaltung aller Vorschriften gepocht werden. In § 216 BauGB ist dieses auch ausdrücklich klargestellt. 182
F.O. Kopp, Die Heilung von Mängeln, VerwArchiv 61 (1970), S. 219, 228, deutlich auch S. 231.
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tend berufen i s t 1 8 3 . Wenn es insoweit heißt, „daß die Aufhebung der Entscheidung wegen der Verletzung des öffentlichen Interesses (sogenannte Subjektivierung öffentlicher Interessen)" erfolgen würde 1 8 4 , wird der Abstand zu einem allein im Individualinteresse stehenden Rechtsschutz augenfällig 185 . Ist die genannte Rücknahme des Rechtsschutzes ein Schritt in Richtung des subjektiv-rechtlichen Grundprogramms, so ist damit aber die prinzipielle Überschreitung des subjektiv-rechtlichen Ausgangspunkts, die überhaupt in der Kontrolle von allein im öffentlichen Interesse erlassenen Verfahrensvorschriften liegt, nicht aufgehoben. Denn abgesehen davon, daß bestimmte Fehler wie etwa die fehlende sachliche Zuständigkeit immer als erheblich anerkannt werd e n 1 8 6 , wird die Berufung auf Verfahrensfehler ohne weitere Schutznormerwägungen jedenfalls dann zugelassen, wenn diese sich im Ergebnis ausgewirkt haben können 1 8 7 . Daß damit die subjektiv-rechtlichen Grenzen streng genommen zurückgelassen sind, zeigen umso deutlicher die in der Literatur unternommenen Systematisierungsversuche, die für die Beurteilung von Verfahrensfehlern prinzipiell deren Schutzrichtung mit in den Blick nehmen und damit vom Ansatz her die subjektiv-rechtliche Schutznormtheorie zur Anwendung bringen 1 8 8 . Nach dieser Lehre ist zu unterscheiden: Werden individual183 Insbesondere I. Heberlein, Auswirkungen der Verwaltungsverfahrensgesetze, S. 220 f.; H Hill, Das fehlerhafte Verfahren, S. 214; W. Hoffmann-Riem, Selbstbindung der Verwaltung, VVDStRL 40 (1982), S. 187, 213 ff.; E. Schmidt-Aßmann, Der Verfahrensgedanke, in: Verfahren als staats- und verwaltungsrechtliche Kategorie, S. 1, 34; R. Scholz, VerwaltungsVerantwortung und Verwaltungsgerichtsbarkeit, VVDStRL 34 (1976), S. 145, 203 ff. 18 4
H Hill, Das fehlerhafte Verfahren, S. 114.
185
Bemerkenswert ist, daß solche objektiv-rechtlichen Argumentationen in der Diskussion nicht - wie entsprechende Argumentationen im Rahmen um die Einführung der Verbandsklage (siehe unten 4. b)) - als Angriff auf die Grundfesten des Verwaltungsrechts empört zurückgewiesen wurden, sondern als diskussionswürdig angesehen wurden. Dies hängt wohl damit zusammen, daß die Überprüfung von Verfahrens- und Form Vorschriften auch nach dem subjektiv-rechtlichen Konzept schon immer praktiziert wurde, und macht nochmals deutlich, daß diese Praxis im Grunde das Konzept von Anfang an konterkarierte. 186 Dies ergibt sich im Umkehrschluß aus § 46 VwVfG, vgl. VGH Bad.-Württ., DÖV 1978, S. 696; VGH Hess., DVB1. 1992, S. 725; siehe hierzu nur W. Klappstein, in: Knack (Begr.), VwVfG, § 46, Rn. 3.3; F. O. Kopp, VwVfG, § 46, Rn. 16. 187 188
Siehe oben, insbes. Fn. 164 und 171.
F. Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, Rn. 540 ff., 557 ff.; vgl. hierzu auch F. Geist-Schell, Verfahrensfehler und Schutznormtheorie, S. 160 ff.; H Hill, Das fehlerhafte Verfahren, S. 114, 403 ff.; auf die Rechtsprechung bzw. herrschende Lehre kann sich diese Unterscheidung im Rahmen der Eingriffsabwehr nicht berufen; die Heranziehung der Schutznormtheorie erfolgte in der Praxis grundsätzlich unter der Fragestellung, ob „dem Betroffenen Dritten in spezifischer Weise und unabhängig vom materiellen Recht eine eigene, nämlich selbständig durchsetzbare verfahrensrechtliche
7*
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Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
schützende Verfahrensvorschriften verletzt, soll der Verwaltungsakt grundsätzlich schon deshalb, also unabhängig davon, ob sich der Verfahrensfehler im Ergebnis ausgewirkt hat, aufzuheben sein 1 8 9 . Werden umgekehrt Verfahrensvorschriften verletzt, die nach der Schutznormtheorie einen eigenständigen Individualschutz nicht gewährleisten (ζ. B. bei manchen Mitwirkungspflichten anderer Behörden), werden Auswirkungen, die sich hieraus ergeben, aber dennoch nicht als rechtsunerheblicher Reflex behandelt. Vielmehr führt nach dieser Ansicht - und insofern beschreibt sie nur die anerkannte Rechtslage - „auch der Verstoß gegen nicht klägerschützendes Verfahrensrecht zur Aufhebung, soweit dem Fehler ein Beeinflussungs- - bzw. im Vergleich zu einem korrekten Verfahren - ein Änderungspotential" zukommt 1 9 0 . Im Rahmen der Eingriffsabwehr gelten solche Fehler - anders als nach herrschender Ansicht im Rahmen des Drittschutzes - grundsätzlich als Verletzung des mittelbar betroffenen (Freiheits-) Rechts. Zusammenfassend ist festzuhalten, daß der subjektiv-rechtlich begründete Rechtsschutz in der Praxis seit jeher über den gedanklichen Ausgangspunkt der strengen Lehre hinausreichte. Mit dem Eingriffsabwehrrecht und der Möglichkeit der Inzidentkontrolle schiebt sich das subjektiv-öffentliche Recht unter den heutigen Bedingungen mehr denn je weit in das Terrain der zunächst allein objektiv-rechtlichen Normen vor. Die gerichtliche Kontrolle konnte so auch unabhängig von der Zuerkennung neuer subjektiv-öffentlicher Rechte mit der Ausdifferenzierung des Rechtssystems mitwachsen 191 . Rechtsposition" gewährt wird und somit ζ. B. ein Anspruch auf die Durchführung eines Planfeststellungsverfahrens besteht (so etwa BVerwG DÖV 1980, S. 516, 517; weitere Nw. siehe oben Fn. 166). 189 Dadurch, daß gegenüber diesem „Grundsatz" §46 VwVfG als „Ausnahme" doch anerkannt wird (so F. Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, Rn. 558), erweist sich diese Systematisierung freilich als ein eher theoretisches Konstrukt, das die geltende Gesetzeslage nicht erfaßt - denn individualschützende Verfahrensvorschriften, die nicht unter § 46 VwVfG fallen, sind nicht ohne weiteres ersichtlich. Die Pointe der Argumentation F. Hufen's liegt denn auch nicht hierin, sondern in einer Harmonisierung von Adressaten- und Drittschutz bei der Behandlung von Verfahrensfehlern. 190 191
F. Hufen, Fehler im Verwaltungsverfahren, Rn. 564.
Noch ungeklärt ist, ob bzw. wie weit bei Eingriffen in Freiheitsrechte einerseits durch objektives Recht mäßigende Vorgaben gegenüber der Verwaltung statuiert werden können, andererseits diesen aber durch ausdrückliche gesetzliche Anordnung der Charakter als subjektive Rechte abgesprochen werden kann. Diese Frage berührt zum einen das Verständnis des Art. 19 Abs. 4 GG, der nach herrschender Meinung Rechte nicht begründet, sondern voraussetzt (vgl. nur W.-R. Schenke, Bonner Kommentar, Art. 19 Abs. 4 [Bearbeitung Dezember 1982], Rn. 287 ff.); zum anderen betrifft sie die materielle Reichweite des Grundrechtsschutzes sowie die Diskussion um die „verliehene Rechtsmacht" als Kriterium des subjektiv-öffentlichen Rechts (vgl. hierzu nur P.-M. Huber, Konkurrenzschutz, S. 104 f f ; M. Sachs, Unterlassungsansprüche, N V w Z 1988, S. 127, 129 f.).
II. Grundlage des heutigen Verwaltungsrechtsschutzes b) Erweiterung
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des Drittschutzes
Die praktisch weitgreifendsten Entwicklungen, die sich als Neuerungen aus der Lehre des subjektiv-öffentlichen Rechts unter der Geltung des Grundgesetzes vollzogen, liegen im Bereich des Drittschutzes. Hier weiteten sich die subjektiven Rechte in einer Weise aus, die zu früheren Zeiten vielerorts als Übergang in ein objektiv-rechtliches Regiment gebrandmarkt worden wäre. Zwar Schloß auch schon das Preußische Oberverwaltungsgericht die Möglichkeit einer Rechtsverletzung nicht allein deshalb aus, weil eine Verfügung einem anderen als dem Kläger gegenüber ergangen war und somit diesen nur mittelbar als Dritten betraf 1 9 2 . Jedoch waren solche Konstellationen nur in sehr begrenztem Umfang anerkannt. Grundsätzlich beherrschte das isoliert bipolare Verhältnis zwischen eingreifender Verwaltung und Verfügungsadressaten die öffentlich-rechtliche Sichtweise 193 . Probleme des Nachbarschutzes wurden demgegenüber grundsätzlich als Frage des privaten Ausgleichs angesehen. In Anknüpfung an die ursprüngliche Ausgrenzung des öffentlichen aus dem privaten Recht, die das öffentliche Recht über die Privatrechte der einzelnen heben und es als übergeordneten, allein im öffentlichen Interesse ergehenden Ausgleich zunächst überhaupt inappellabel machen sollte, wurde nun jedenfalls die Ausgleichsfunktion als solche der subjektiv-rechtlichen Einforderbarkeit entzogen erachtet. Eine subjektiv-rechtlich bewehrte Grenze wurde von daher prinzipiell nur in dem Verhältnis des isoliert betrachteten Adressaten zur eingreifenden Behörde erkannt. Von dieser Sichtweise her wurde in Preußen, im Prinzip gefolgt von Baden, Württemberg und Thüringen, die baurechtliche Nachbarklage bis zum Jahre 1933 konsequent abgelehnt 194 . Freilich war die Bestimmung subjektiv-öffentlicher Rechte seit jeher umstritten und die Rechtslage dementsprechend auch diesbezüglich uneinheitlich: In anderen Ländern, allen voran in Sachsen, war man der Zeit voraus. Hier wurden bereits seit der Jahrhundertwende in weitem Umfang Nachbarklagen zugelassen 195 . Die unter dem Grundgesetz einsetzende Entwicklung war daher nicht ohne Vorbild. In ihrem Zuge wurde die Nachbarklage schon bald im Grundsatz ein
192
Vgl. etwa den berühmten Trunkenbold-Fall, PrOVGE 1, 327; siehe auch PrOVGE 7,310; zu der diesbezüglichen Rechtsprechung siehe W.Roth, Faktische Eingriffe, S. 15 ff. 193
Vgl. hierzu P. Preu, Die historische Genese, S. 24 ff.
194
Vgl. das Grundsatzurteil PrOVGE 2, 351; zur Rspr. im NachbarR bis 1933 siehe P. Preu, Die historische Genese, S. 54 ff.; H.-U. Evers, Die Nachbarklage im Baurecht, JuS 1982, S. 87 ff. 195
Vgl. die Grundsatzentscheidung SächsOVGE 2, 304; dazu P. Preu, Die historische Genese, S. 59 ff.
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Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
selbstverständlicher Bestandteil des bundesdeutschen Baurechts 196 . Auch wenn im einzelnen oft erst diffizile Abgrenzungsfragen über die subjektiv-rechtliche Betroffenheit von Nachbarn im konkreten Falle entscheiden, so ist es heute Allgemeingut, daß baurechtliche Vorschriften in weitem Umfang auch subjektive Rechte der Nachbarn begründen und somit baurechtliche Entscheidungen in aller Regel Rechtsbeziehungen zu mehreren Personen entstehen lassen. Die behördliche Entscheidung wird als Gestaltung von interdependenten Rechtsbeziehungen aufgefaßt 197 , die als solche nicht nur rechtlich dirigiert, sondern auch subjektiv-rechtlich einforderbar sind. Die früher dem Privatrecht zugeordneten Beziehungen zwischen den Bürgern untereinander sind so in gewandelter Form unmittelbar Teil auch des öffentlichen Rechts geworden 198 . Diese Entwicklung konnte nicht auf das Baurecht beschränkt bleiben. Je mehr Verwaltungsentscheidungen als Bewirtschaftung knapper Güter, Zuteilung von Nutzungschancen und Gestaltung der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verstanden wurden, desto mehr fand - in Parallele zur Anerkennung der Grundrechte als (subjektiv einforderbare) objektive Prinzipiennormen und der damit verbundenen Dreiecksverhältnisse 199 - der subjektiv-rechtliche Nachbarschutz allgemeine Anerkennung. Selbstverständlich kennen heute auch das Gewerbe-, Immissionsschutz-, Kernenergie-, Wasser-, Straßen- oder Luftverkehrsrecht einen Nachbarschutz 200 . Und entsprechend erweiterte sich der 196 Vgl. beispielsweise BVerwGE 22, 129; 67, 334; N V w Z 1987, S. 409; siehe hierzu etwa R. Breuer, Baurechtlicher Nachbarschutz, DVB1. 1983, S. 431 ff.; H. Dürr, Das öffentliche Baunachbarrecht, DÖV 1994, S. 841 f f ; Ch. Enders, Neubegründung des öffentlich-rechtlichen Nachbarschutzes?, AöR 115 (1990), S. 610, 620 f f ; D. Mampe, Aktuelle Entwicklungen, DVB1. 1994, S. 1053 ff.; O. Schlichter, Baurechtlicher Nachbarschutz, N V w Z 1983, S. 641 ff.; R. Wahl, Der Nachbarschutz, JuS 1984, S. 577 f f ; zu deren geschichtlichen Entwicklung siehe auch U.G. Berger, Grundfragen umweltrechtlicher Nachbarklagen, S. 29 ff.; S. König, Drittschutz, S. 93 f f ; P. Preu, Die historische Genese, S. 82 ff.
197 Ygi eingehend M. Schmidt-Preuss, Kollidierende Privatinteressen, S. 84 ff.; grundsätzlich etwa auch P. Preu, Subjektiv-rechtliche Grundlagen, S. 59 f f ; R. Wahl, ebd., JuS 1984, S. 577 f. 198 Zur Unterscheidung von öffentlichem und privatem Nachbarrecht vgl. etwa U.G. Berger, Grundfragen umweltrechtlicher Nachbarklagen, S. 41 f f ; F.-J. Peine, Öffentliches und privates Nachbarrecht, JuS 1987, S. 169 f f ; zu der geschichtlichen Ausdifferenzierung etwa P. Preu, Die historische Genese, S. 51 ff. 199
Vgl. nur R. Wahl/J. Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, S. 553 ff.; allgemein hierzu E.-W. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Der Staat 29 (1990), S. 1 ff. 2 0 0 Eine Übersicht über verschiedene Fallgruppen findet sich etwa bei K.H. Friauf, Der Rechtsschutz des sogenannten Dritten, JurAnalysen 1969, S. 3 ff.; 1970, S. 652 f f ; P.-M. Huber, Nachbarklagen, in: Rechtsschutz im Wirtschaftsverwaltungsrecht, S. 72 f f ; P. Marburger, Ausbau des Individualschutzes, in: 56. DJT 1986, S. C 51 ff.;
II. Grundlage des heutigen Verwaltungsrechtsschutzes
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subjektiv-rechtliche Drittschutz auch sonst. Als „Konkurrentenschutz" spielt er im Berufszulassungs-, Beamten-, Subventions- und Wirtschaflsaufsichtsrecht eine erhebliche Rolle 2 0 1 , und auch im Ausländerrecht hat er seinen Platz 2 0 2 . Die Validierung subjektiver Rechtspositionen gegenüber Planungsentscheidungen auch unabhängig von Grundeigentum 203 oder in bezug auf Rechtsbindungen bei der Frage behördlichen Einschreitens gegen Dritte 2 0 4 runden die Erweiterung des Radius subjektiv-öffentlicher Rechte nur ab.
c) Fazit: Die Relativierung des subjektiv-rechtlichen
Konzepts in der Praxis
Durch die Entwicklungen der letzten 40 Jahre hat sich die praktische Reichweite der subjektiv-öffentlichen Rechte somit erheblich geändert. In weitem Umfang können auch „Dritte", d. h. Personen, denen eine Verwaltungsmaßnahme nicht unmittelbar gezielt gilt, von den Behörden die Beachtung der Gesetze verlangen. Der Kreis derjenigen, die den Behörden als Inhaber eigener Rechte gegenüberstehen und Rede und Antwort verlangen können, ist größer geworden. Vermittelt über den Eingriffsschutz können dabei vielfach auch Normen, die für sich betrachtet nicht dem besonderen Schutz spezifizierter einzelner dienen, den maßgeblichen Bezugspunkt bilden 2 0 5 . Nur für wenige Normen läßt sich heute von vornherein noch ausschließen, daß sie nicht irM. Schmidt-Preuss, Kollidierende Privatinteressen, S. 252 ff.; R. Wahl/P. Schütz, in: Schoch u.a. (Hg.), VwGO, § 42 Abs. 2, Rn. 110 ff.; H J. Wolff/O. Bachof/R. Stober, Verwaltungsrecht, Bd. 1, § 43, Rn. 18 ff.; R. Breuer, Individualschutz gegen Umweltbelastungen, DVB1. 1986, S. 849, 853 faßt die verschiedenen Gruppen unter dem Begriff „Umwelt-Nachbarrecht" zusammen. Vgl. übergreifend U. G. Berger, Grundfragen umweltrechtlicher Nachbarklagen, S. 131 ff.; W. Erbguth, Rechtssystematische Grundfragen, S. 300 ff.; S. König, Drittschutz, S. 53 ff.; P. Preu, Subjektiv-rechtliche Grundlagen, S. 19 ff.; M. SchmidtPreuss, Kollidierende Privatinteressen, S. 84 ff. 2 0 1 Vgl. hierzu umfassend und mit umfänglichen Nw. zu Rspr. und Literatur P-M. Huber, Konkurrenzschutz, S. 6 ff. 2 0 2
BVerwGE 42, 141 (142); 55, 8 (11); siehe auch BVerfGE 76, 1 (37); hierzu etwa K. Hailbronner, Ausländerrecht, Rn. 516 und 785; J. Schwarze, Die Klagebefugnis der Ehefrau, DÖV 1972, S. 273 ff. 2 0 3 Etwa BVerwGE 54, 211 (220 ff.); siehe hierzu J. Salzwedel, Straßen- und Verkehrsrecht, in: Besonderes Verwaltungsrecht, S. 761 ff. Rn. 64; U. Steiner, Straßen- und Wegerecht, in: Besonderes Verwaltungsrecht, S. 649 ff. Rn. 78. 2 0 4 BVerwGE 11, 95; 37, 112; 68, 82; aus der Literatur: B. Drews/G. Wacke/ Κ Vogel/W. Martens, Gefahrenabwehr, S. 402; H.-C. Sarnighausen, Zum Nachbaranspruch, NJW 1993, S. 1623 ff.; M. Schmidt-Preuss, Kollidierende Privatinteressen, S. 222 ff. 2 0 5
Siehe oben 1. a).
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Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts
gendwann auch im Zusammenhang mit subjektiven Rechten von einzelnen geltend gemacht werden können. Eine kategoriale Ausgrenzung von allein dem öffentlichen Interesse dienenden objektiv-rechtlichen Verpflichtungen der Behörden und solchen, die abgegrenzten Individualinteressen dienen, gibt es insofern nicht. Die Möglichkeit subjektiv-rechtlichen Schutzes wirkt von daher vor als weitreichende Kontrolle des Verwaltungshandelns überhaupt. Das subjektiv-rechtliche Konzept ist in seiner Handhabung damit fur wichtige Bereiche aus seiner gedanklichen Enge befreit. Gelegentlich wird die Frage nach subjektiven Rechten überhaupt nur noch pragmatisch verstanden und auf ein prozeßtechnisches Zulässigkeitsproblem des Verwaltungsstreitverfahrens reduziert. Es scheint dann von den Zulässigkeitshürden objektiv-rechtlicher Rechtsschutzsysteme in anderen Staaten kaum mehr unterschieden. Die zeitweilige Diskussion, ob zur Klage gegen Kernkraftwerke nur die Einwohner in 10 km oder auch die in 100 oder 240 km Entfernung befugt sind 2 0 6 , ist hierfür ein besonders deutliches Beispiel. Auch von der Motivation der Rechtssuchenden her wird der formal subjektiv-rechtlich begründete Rechtsschutz nicht selten zur Geltendmachung gerade öffentlicher Interessen benutzt und zu einer allein als objektiv-rechtlich gewollten Kontrolle instrumentalisiert. Insbesondere bei bedeutsamen Planungsentscheidungen, in denen zum Teil Grundeigentümer zum Zwecke des Rechtsschutzes von engagierten Verbänden erst gesucht und geworben wurden, wird vielfach eine Kontrolle erwirkt, die nicht oder jedenfalls nicht vorrangig von einem Begehren nach dem Schutz privater Belange geleitet ist. Deutlich ist dies insbesondere auch in den Fällen, in denen Grundstücke speziell als „Sperrgrundstücke" erworben werden, um Einfluß auf eine Planung nehmen und entsprechende Prozesse führen zu können. Zwar fehlt es für solche Fälle - und hier wird schlaglichtartig vorausgreifend die letztlich doch fortdauernde tiefe Verankerung der subjektiv-rechtlichen Lehre bereits sichtbar - nicht an Versuchen, die Wahrnehmung der aus dem Eigentum fließenden Klagebefugnis als rechtsmißbräuchlich hinzustellen 207 , jedoch hat 206 Vgl e t w a κ _p Winters, Zur Entwicklung des Atom- und Strahlenschutzrechts, DÖV 1978, S. 265, 268; aus der Rspr. vgl. etwa OVG Lüneburg, DVB1. 1975, S. 190, 192; kritisch hierzu: M. Kloepfer, Umweltrecht, §5, Rn. 25, §8, Rn. 77; P.Lerche, Kernkraft und rechtlicher Wandel, S. 29 ff.; zu den neueren Kriterien der Klagebefugnis vgl. BVerwG DVB1. 1981, S. 405 ff.; DVB1. 1986, S. 190, 196; OVG Lüneburg, DVB1. 1984, S. 887 ff.; siehe hierzu R. Breuer, Individualschutz gegen Umweltbelastungen, DVB1. 1986, S. 849, 856 f.; P. Marburger, Ausbau des Individualschutzes, in: 56. DJT 1986, S. C 87 f.; H.-W. Rengeling, Zulässigkeit atomrechtlicher Anfechtungsklagen, DVB1. 1981, S. 323 f f ; zu dem ganzen vgl. auch G. Winter, Bevölkerungsrisiko und subjektives öffentliches Recht, NJW 1979, S. 393 ff. 2 0 7 Immerhin war dies die Rechtsprechung zweier wichtiger Obergerichte, vgl. BayVGH N V w Z 1989, S. 684 f. und OVGNW N V w Z 1991, S. 387 („Die Klage ist jedenfalls unzulässig, weil das Vorgehen gegen den Planfeststellungsbeschluß unter Berufung auf das Eigentum mißbräuchlich ist. Der Kläger hat das Recht mit dem allei-
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sich diese Ansicht zumindest vor dem Bundesverwaltungsgericht nicht durchsetzen können 2 0 8 . In seiner tatsächlichen Bedeutung erschöpft sich so der subjektiv-rechtlich begründete Rechtsschutz heute keineswegs im Privatschutz des einzelnen Bürgers. De facto ist die - präventiv wie repressiv wirkende - objektive Kontrollfunktion gegenüber der Verwaltung ein wichtiges Resultat des Verwaltungsgerichtsschutzes geworden 209 .
2. Die Individualbezogenheit als unveränderter Kern der Lehre des subjektiv-öffentlichen Rechts Diese Entwicklungen haben dennoch am Kern des subjektiv-rechtlichen Ansatzes nichts geändert. An ihrem Ausgangspunkt steht nach wie vor das ganz auf den Individualschutz bezogene Konzept der tradierten Lehre und damit auch dessen prinzipielle Begrenzung: Die Anerkennung und der Schutz subjektiv-öffentlicher Rechte dienen allein dem Schutz individueller Einzelinteressen, nicht aber der Durchsetzung des Rechts als solchem. Subjekt gegenüber der Verwaltung ist der Bürger nur im Blick auf den Schutz seiner Privatinteressen. Mit der Übernahme der Lehre vom subjektiv-öffentlichen Recht ist ungeachtet aller praktischen Erweiterungen unweigerlich auch deren innere Begrenzung wirksam geworden. nigen Ziel erworben, eine Position zu erlangen, die ihm - nach seiner Ansicht - die Verhinderung der planfestgestellten Deponie im Klagewege ermöglicht. Ein solches Vorgehen stellt den Versuch dar, durch eine formale Rechtsposition faktisch eine sogenannte Verbandsklage zu führen, die eine Durchbrechung der gesetzlichen Grundentscheidung in § 42 Abs. 2 VwGO bedeutet ..."); ebenso H. Fliegauf, Rechtsmißbrauch durch „Sperrgrundstücke", N V w Z 1991, S. 387 f f ; zustimmend U.Steiner, Straßenund Wegerecht, in: Besonderes Verwaltungsrecht, Rn. 79 mit Fn. 116. 2 0 8
BVerwGE 72, 15 (16); BVerwG NVwZ 1991, S. 781; dort wird freilich relativierend ausgeführt, daß sich bei der Abwägung die Belange der Kläger verringern, wenn es von vornherein nicht um eine Nutzung geht, sondern ein Grundstück nur erworben wurde, um Einfluß auf die Planfeststellung zu nehmen. 2 0 9 In der Lehre wird dies - der subjektiv-rechtlichen Tradition entsprechend - bis heute nur selten thematisiert; vgl. aber W. Krebs, Subjektiver Rechtsschutz, Festschrift für O. Bachof, S. 191 ff.; R. Scholz, Wirtschaftsaufsicht, S. 59 f f ; M. Zuleeg, Subventionskontrolle durch Konkurrentenklage, S. 31 f f ; auch M. Herdegen, Objektives Recht und subjektive Rechte, in Heckmann/Meßerschmidt (Hg.), Gegenwartsfragen des öffentlichen Rechts, S. 161, 162 f., der den einzelnen bei der Geltendmachung subjektiver Rechte als „Funktionär der Gesamtrechtsordnung" charakterisiert; gerade hier wird aber deutlich, daß die in der Lehre fortschlummernde historische Dimension insoweit nur in Vergessenheit geraten, nicht aber auch sachlich bewältigt ist: eine inhaltliche Auseinandersetzung mit dem subjektiv-öffentlichen Recht bleibt insofern aus. Hierzu wie zu den sporadischen - an der Oberfläche bleibenden - Versuchen, diesen Aspekt zu funktionalisieren, siehe auch unten Teil 3 I. 3. b).
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Teil 2: Die Privatbezogenheit subjektiv-öffentlichen Rechts a) Die Definitionen des subjektiv-öffentlichen
Rechts
Zu ersehen ist dies schon aus den Begriffsbestimmungen des subjektiv-öffentlichen Rechts, die die strenge Individualbezogenheit der alten Defintionen getreulich übernehmen und übernehmen mußten, wollten sie nicht das Konzept selbst ändern. Schon nach O. Bachof, der der Lehre des subjektiv-öffentlichen Rechts gleich zu Beginn der Bundesrepublik besondere Triebkraft verlieh, sichern die subjektiven Rechte - wie bei O. Bühler 2 1 0 - die „