Die Minderheiten zwischen den beiden Weltkriegen: Mit einer Einführung von Manfred Alexander [1 ed.] 9783428491018, 9783428091010

Der Ausgang des Ersten Weltkriegs zwang die internationale Gemeinschaft insgesamt und ihre einzelnen Staaten dazu, sich

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German Pages 230 Year 1997

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Die Minderheiten zwischen den beiden Weltkriegen: Mit einer Einführung von Manfred Alexander [1 ed.]
 9783428491018, 9783428091010

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Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Institus in Trient Band 10

Die Minderheiten zwischen den beiden Weltkriegen Herausgegeben von

Umberto Corsini Davide Zaffi mit einer Einführung von

Manfred Alexander

Duncker & Humblot · Berlin

Die Minderheiten zwischen den beiden Weltkriegen

Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient Band 10

Die Minderheiten zwischen den beiden Weltkriegen

Herausgegeben von

Umberto Corsini Davide Zaffi mit einer Einführung von

Manfred Alexander

Duncker & Humblot · Berlin

Italienisch-Deutsches Historisches Institut in Trient Die Minderheiten zwischen den beiden Weltkriegen Internationale Tagung Trient, 2.-4. Juni 1993 Leiter der Studienwoche Umberto Corsini Italienische Ausgabe Le minoranze tra le due guerre (Annali dell'Istituto storico italo-germanico in Trento. Quaderno 38), i l Mulino, Bologna 1994 Übersetzung der italienischen Texte Roberto Kuck

Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Die Minderheiten zwischen den beiden Weltkriegen : [internationale Tagung, Trient, 2. - 4. Juni 1993] / hrsg. von Umberto Corsini ; Davide Zaffi. Mit einer Einf. von Manfred Alexander. [Übers, der ital. Texte Roberto Kuck]. - Berlin : Duncker und Humblot, 1997 (Schriften des Italienisch-Deutschen Historischen Instituts in Trient ; Bd. 10) ISBN 3-428-09101-9

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 1997 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fotoprint: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0939-0960 ISBN 3-428-09101-9 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©

Vorwort Die Aktualität des internationalen Schutzes der Minderheiten ist in den letzten Jahren noch dramatischer geworden 1 . Augenfällig ist die Verwirrung u n d die Unentschlossenheit, die in diesem Zusammenhang die Außenpolitik aller Staaten, in Europa u n d auf der ganzen Welt, kennzeichnet; in bezug auf die Maßnahmen zum Schutz unterdrückter Minderheiten, aber vorab auch schon in bezug auf die Beendigung der Massenmorde. Als Historiker u n d Juristen erheben w i r natürlich nicht den Anspruch, präzise Handlungsanleitungen zu geben w i r sind keine Politiker u n d Staatsmänner - , aber w i r halten es für unsere Pflicht, zum Verständnis beizutragen u n d in gewisser Weise vorab die Analysen vorzunehmen, die etwa die Biologen i m Hinblick auf den Eingriff der Kliniker u n d der Chirurgen durchführen, derjenigen also, die über die chirurgische Therapie oder Operation zu entscheiden haben. Diese Tagung ist als erste Etappe eines Forschungs- u n d Diskussionsprojektes geplant worden; es soll sich weiterentwickeln auch dank der Initiative der Region Trentino-Südtirol (die aufgrund ihrer Beschaffenheit dem Problem des friedlichen u n d für beide Seiten bereichernden Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen u n d Ethnien besondere Aufmerksamkeit schenkt) und i n den nächsten Jahren zu einem Dauerprojekt werden. Ausgangspunkt dieser ersten historischen Vertiefung ist der nach dem Ersten Weltkrieg i m Rahmen des Völkerbundes gemachte u n d gescheiterte Ansatz zum Minderheitenschutz. Ich gehe auf die einzelnen Initiativen hier nicht näher ein, sie werden Gegenstand der einzelnen Beiträge sein. Ich beschränke mich darauf, den völkerrechtlichen Rahmen nachzuzeichnen, der die Eingriffe des Völkerbundes definierte. Damit möchte ich zum Verständnis u n d zur Begrenzung der hier zur Diskussion stehenden Tagung beitragen. Einerseits müssen die politischen Motivationen, die den Initiativen des Völkerbundes Grenzen setzten, in den politischen Gründen gesucht werden, die auf den Friedensvertrag das A b k o m m e n zur Gründung des Völkerbundes i m Jahr 1919 folgen ließen. Der Vorrang der Siegermächte blieb dabei gewahrt, denn der Oberste Rat der Alliierten, der die Entwicklungslinie bis hin zum Friedensvertrag bestimmt hatte, fand i m Völkerbund seine Fortsetzung. Die Weigerung 1

Herr Prof. Umberto Corsini, Mitglied des wissenschaftlichen Beirats und des Exekutivausschusses unseres Instituts, hat diese Tagung geplant und ihre Organisation verfolgt. Er hat jedoch nicht an ihr teilnehmen können, da er wenige Tage vor ihrem Beginn von der Krankheit befallen worden ist, die ihn dann binnen kurzer Zeit unserem Kreis und der Forschung entrissen hat. Wir haben uns deshalb entschlossen, ihn als Herausgeber dieses Tagungsbandes zu führen. Es ist dies nicht die Widmung an einen Verstorbenen, sondern das sichtbare Zeichen, daß sein Werk und seine Intelligenz noch lebendig sind. Ein besonderer Dank an Herrn Dr. Davide Zaffi, der Herrn Prof. Corsini bei der Organisation unterstützt hat und auch weiterhin seinen Beitrag zur Erforschung des Minderheitenproblems leisten wird.

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Vorwort

der Vereinigten Staaten v o n Amerika, dem Völkerbund beizutreten, bedeutete einen Riß, eine erste wichtige Grenze, die der Interventionsfähigkeit des Völkerbundes gesetzt wurde. Auf der tieferen Ebene der politischen Doktrinen u n d der Rechtslehre sind die Gründe komplexer, denn im Rahmen des Völkerbundvertrages bleibt der Staat das einzige völkerrechtlich anerkannte Subjekt. Ich beziehe mich auf Art. 10, u m den sich dieser ganze Problemkomplex dreht. Dieser Artikel enthält die Verpflichtung der Mitglieder des Völkerbundes, die territoriale Integrität u n d die politische Unabhängigkeit aller Mitgliedsstaaten des Völkerbundes gegen jedwede Aggression v o n außen zu schützen. Diese N o r m impliziert also, daß alle Mitgliedsstaaten in diesem völkerrechtlichen Rahmen unverletzliche Subjekte darstellen. Auch auf der Ebene der Rechtslehre bricht also der Widerspruch auf zwischen einer aufkommenden universalistischen Auffassung (der erste Ansatz zur Bildung einer zwischenstaatlichen Gesellschaft, einer Gesellschaft also, die überstaatliche Interventionsmöglichkeiten bietet) mit dem Ziel eines kollektiven Sicherheitssystems einerseits u n d dem Fortbestehen des Staates als alleinigen Trägers der internationalen Politik andererseits. Der Widerspruch spiegelt sich in den anderen Artikeln des Völkerbundvertrages wider: insbesondere i m Artikel 16, der die Möglichkeit einer kriegerischen Intervention behandelt. Ich möchte darauf hinweisen, daß gerade die Diskussion dieses Aspektes auf der Ebene der Rechtslehre zur Bildung zweier unterschiedlicher Denkrichtungen führt: Einerseits wird, vor allem v o n Seiten der französischen Juristen, der Einsatz einer internationalen Polizei zum Schutz der Menschenrechte u n d der in den einzelnen Sektoren gefährdeten Minderheiten für möglich gehalten; andererseits ist man, vor allem auf Seiten der deutschen Rechtslehre, gegen einen solchen Einsatz u n d spricht sich für eine defensive Konzeption des Staates als des einzigen Subjekts u n d Objekts des Völkerrechts aus. U n d gerade wegen dieses Widerspruchs waren die Ergebnisse enttäuschend. Es wurde der hier v o n mehreren Beiträgen beschriebene Weg regionaler A b k o m m e n beschritten, w i e etwa des i m Oktober 1925 geschlossenen Vertrags v o n Locamo. Aber es handelte sich dabei gewissermaßen u m sekundäre Initiativen, die keinen Erfolg haben sollten, eben aufgrund dieses grundlegenden Widerspruchs zwischen einem herbeigesehnten „Überstaat" des Völkerbundes u n d der Unantastbarkeit der staatlichen Souveränität. Die i m Oktober 1945 in Kraft getretene Uno-Charta versucht im Zuge der tragischen Erfahrung des Zweiten Wektkriegs diesen Engpaß zu überwinden. Zur Zeitgeschichte kann man, eben w e i l sie hier nicht behandelt wird, allgemein feststellen: Die Widersprüche haben sich in den Jahren nach der Gründung der Uno u n d seit der Charta v o n 1945 vervielfacht u n d verschärft. Der Grund dafür ist der wachsende Gegensatz zwischen einem allmächtigen Sicherheitsrat (dessen Vetogewalt zum Angelpunkt der Völkergemeinschaft geworden ist) u n d die wachsende Sensibilität für die Menschenrechte der Minderheiten. Mit Blick auf diese wurde eine steigende Anzahl v o n Interventionsprinzipien einzelner Organe formuliert, auf der Grundlage spezifischer Konventionen, die das immer noch bestehende Haupthindernis der Unantastbarkeit der staatlichen Souveränität umgehen sollten. I n der Tat ist die Souveränität der Staaten nicht zur Diskussion gestellt worden. U n d paradoxerweise hat sich die Lage in den letzten Jahrzehnten gerade

Vorwort

deshalb nicht drastisch verschlechtert, w e i l sie durch die Existenz zweier Blöcke u n d zweier Supermächte eingefroren w o r d e n ist. Diese Konstellation hat nicht nur zum kalten Krieg, sondern auch zu einem allgemeinen, die zwischenstaatlichen Beziehungen übergreifenden Kontrollsystem geführt, das zwar die allen bekannten negativen Folgen gehabt, gleichzeitig aber den neuerlichen Ausbruch jener Spannungen verhindert hat, die die erste Nachkriegszeit gekennzeichnet hatten. Es hat sich jedoch nur u m einen Aufschub gehandelt. Die Ereignisse v o n 1989, der Zerfall des Sowjetreiches, der Supermacht des östlichen Blocks, hat nicht nur Hoffnungen genährt, sondern auch wieder diese Probleme in den Vordergrund geschoben, die für uns bereits Teil einer lange zurückliegenden Vergangenheit waren. I n gewisser Weise hat i n den letzten Jahren eine Annäherung an die fernere Vergangenheit stattgefunden: Wir stehen der Lage der ersten Nachkriegszeit viel näher, als w i r es noch vor wenigen Jahren für möglich gehalten hätten. Z u m Schluß möchte ich auf die These eines italienischen Denkers u n d Politikers aus dem 19. Jahrhundert eingehen, dem das Institut vor einigen Jahren sein Interesse zugewandt hat: Pasquale Stanislao Mancini. Er schrieb 1851 einen provozierenden Satz, der bis vor kurzem v o n den großen Völkerrechtlern als eine Art Häresie zurückgewiesen wurde: „Die Nationen, nicht die Staaten sind Subjekte des Völkerrechts". Zur Zeit der Nationalstaatsbildung, der italienischen Einheitsbestrebungen, des Risorgimento blieb Mancinis Stimme ungehört; aber was bis vor kurzem eine Häresie war, kann heute, i n einer neuen internationalen Lage, ein Denkanstoß sein. Vielleicht handelt es sich heute nicht mehr u m eine Häresie. Vor diesem Hintergrund scheint uns das für die Tagung entworfene Programm angemessen zu sein. Die Beiträge werden uns vor allem über die Aspekte informieren, die das Problem in den Jahren vor u n d während des Ersten Weltkriegs aufwies, u n d Überlegungen zur Idee der nationalen Minderheit i n ihrer damaligen allgemeinen Form anstellen. Besondere Bedeutung k o m m t m.E. i n diesem Zusammenhang B ö h m e n zu, einem regelrechten Experimentierfeld für die Möglichkeit zwischenethnischen Zusammenlebens innerhalb eines Staates, der sich als multinational bezeichnete. Sodann werden die Grundzüge des v o n den Vereinten Nationen garantierten internationalen Minderheitenschutzsystems näher untersucht: seine Rechtsgrundlage, die sogenannten Minderheitenverträge, einige Aspekte seiner Funktionsweise. Da Forscher aus jenen Ländern anwesend sind und hier sprechen, die seinerzeit diese Verträge unterzeichnen mußten, werden Erkenntnisse darüber möglich sein, welchen Einfluß die Normen auf die jeweilige innere Gesetzgebung ausgeübt haben, die sich, i m Prinzip jedenfalls, diesen Normen anpassen mußte. Andere Beiträge schließlich beschäftigen sich, genau besehen, mit Fällen, die außerhalb dieses Systems liegen, die aber den Gesamtzusammenhang der politischen Frage »Minderheiten' zwischen den Weltkriegen ergänzen. So w i r d das zwielichtige sowjetische Experiment beleuchtet, das damals beispiellos war. Interessant können auch nähere Informationen über die Alternative zum System der Verträge sein: die Zwangsverlegung v o n Völkerschaften zur Herstellung der nationalen Homogenität des Staates. Ohne die Ergebnisse der Tagung vorwegnehmen zu wollen, scheint mir, daß die Untersuchungen über die Beziehungen zwi-

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Vorwort

sehen nationalen Mehrheiten u n d Minderheiten einen grundlegenden Aspekt deutlich machen. Es handelt sich u m den unvollständigen, w e n n man will, aber trotzdem unbestreitbaren Wandel w e g von einer mehr oder weniger ausgeprägten Toleranz, die nationalen Minderheiten entgegengebracht wurde als einem unvermeidlichen Übel, als einem zur absoluten Nationalität, w i e sie durch die Identität v o n Staat u n d Nation gegeben ist, i m Gegensatz stehenden Element, hin zur Anerkennung der Minderheiten als Träger eigener Rechte, eigener Werte, die der Staat nicht verliehen hat, die v o m Staat vielmehr nur anerkannt werden. Die anderssprachigen nationalen Gruppen sind in dieser veränderten Lage keine bloß Tolerierten mehr - oder sollen es wenigstens nicht sein - , sondern eine Gemeinschaft v o n Bürgern, die nicht bloß Bürger im vollen Rechtssinne sind, sondern in diesem Bereich des Staates aufgrund der Kulturpluralität, die in ihnen zum Ausdruck kommt, Träger eines größeren Reichtums sind. Sicherlich hat sich das System unter schwierigen Umständen bewähren müssen: In den zwanziger u n d dreißiger Jahren dieses Jahrhunderts ist Europa v o n einer Krise in die andere geraten, u n d die dazwischen liegenden Entspannungsmomente sind sporadisch. Zu den besonders hoffnungsvollen Unterbrechungen zählte der i m September 1926 erfolgte Eintritt Deutschlands in den Völkerbund. Die Rückkehr Deutschlands in die internationale Gemeinschaft schien eine Entschärfung der auf den Ersten Weltkrieg zurückgehenden Spannungen anzuzeigen. Ein neues Gleichgewicht in Europa schien möglich, eine kurze Hoffnung, die bald enttäuscht werden sollte. Diese Hoffnung gibt das Bild wider, das auf dem Anzeigeblatt unserer Tagung zu sehen ist, das Bild der Genfer Konferenz. Von Genf aus interpretierte Stresemann die Hoffnungen jenes Zeitpunktes richtig, indem er erklärte: „Es kann nicht der Plan einer göttlichen Vorsehung sein, daß die Menschen ihre besten nationalen Errungenschaften gegeneinander kehren". Das sind die Hoffnungen, an die w i r in unserer Tagung anknüpfen wollen. Paolo Prodi

Inhaltsverzeichnis

Manfred

Alexander

M i n d e r h e i t e n als N o r m a l f a l l u n d als Sprengsatz - Eine E i n f ü h r u n g Felix

11

Ermacora

M i n d e r h e i t e n als B r ü c k e n u n d G r ä b e n Staaten u n d V ö l k e r n Carlo

zwischen 19

Ghisalberti

D i e Lage der M i n d e r h e i t e n i m i t a l i e n i s c h e n N a t i o nalstaat Ester

27

Capuzzo

D i e Stellung der M i n d e r h e i t e n i m italienischen Staatsrecht v o n der Krise des l i b e r a l e n Staates bis zur G r ü n d u n g der R e p u b l i k Andrej

39

Zubov

Nationale Minderheiten und dominante tät i m s o w j e t i s c h e n Staat (1918-1939)

Nationali51

Tore Mo de en D i e Lage der s c h w e d i s c h e n V o l k s g r u p p e i n F i n n l a n d i n der Z w i s c h e n k r i e g s z e i t Jerzy

Kozenski

D i e n a t i o n a l e n M i n d e r h e i t e n i n P o l e n i n der Z w i s c h e n k r i e g s z e i t (1919-1939) Jifi

67

77

Kofalka M i n d e r h e i t e n s t a t u s als N o t a u s w e g . G r u n d s ä t z e der Rechtslage u n d des M i n d e r h e i t e n s c h u t z e s i n d e n b ö h m i s c h e n L ä n d e r n v o r 1914 u n d i n der Tschechos l o w a k i s c h e n R e p u b l i k n a c h 1918

Manfred

Alexander

D i e D e u t s c h e n i n der Ersten T s c h e c h o s l o w a k i s c h e n Republik: Rechtsstellung u n d Indentitätssuche Francesco

95

117

Leoncini

N a t i o n u n d M i n d e r h e i t i m D e n k e n v o n T.G. Masaryk

133

Inhaltsverzeichnis

10

Zoltàn

Szàsz

D i e M i n d e r h e i t e n r e c h t e u n d die N a t i o n a l i t ä t e n p o l i t i k v o r u n d n a c h 1918 i n der K a r p a t e n r e g i o n Làszló

Szarka

Der Minderheitenschutz u n d die ungarische ß e n p o l i t i k z w i s c h e n 1920 u n d 1929 Simion

Au-

Dimitro

157 167

ν

Der griechisch-bulgarische und griechisch-türkische B e v ö l k e r u n g s a u s t a u s c h i n d e n z w a n z i g e r Jahren Davide

9

Pirjevec

D i e p o l i t i s c h e T h e o r i e u n d T ä t i g k e i t Josef W i l f a n s Teodor

l 4

Retegan

D i e Gesetze ü b e r d i e n a t i o n a l e n M i n d e r h e i t e n i n R u m ä n i e n w ä h r e n d der Z w i s c h e n k r i e g s z e i t : e i n i ge A s p e k t e Joze

141

175

Zaffi

Die Minderheitenpetition des V ö l k e r b u n d e s Ursula-Maria

i m R a h m e n der

Politik 197

Ruser

A k t e n zur M i n d e r h e i t e n f r a g e i m A r c h i v des V ö l k e r bundes

221

V e r z e i c h n i s der A u t o r e n

229

Minderheiten als Normalfall u n d als Sprengsatz - Eine Einführung Von Manfred Alexander

Minderheiten hat es in der Geschichte Europas immer gegeben: ethnische, religiöse oder soziale Gruppen, die an eine andere Lebensweise als die Mehrheitsbevölkerung gewöhnt waren; auf manche Minderheit treffen mehrere Kriterien zu. Dies ist das Produkt einer komplizierten Entwicklung, die Landnahme u n d Vertreibung, Überschichtung, Kolonisation, Flucht u n d Ansiedlung, Binnenmigration u n d Rückzug in unzugängliche Gegenden kennt. Der dynastische Staat Alteuropas gründete auf der Legitimation des Herrschers vor Gott u n d besaß Grenzen, die aus Erbfällen u n d Kriegen hervorgegangen waren, also v o m W i l l e n der sie b e w o h n e n d e n Bevölkerung v ö l l i g unabhängig waren. Die ständische Gesellschaft kannte keine Gleichheit der Menschen, sondern hielt Unterschiede durch Geburt und Herkunft für gottgegeben und weitgehend für unwandelbar. Die Menschen lebten in ihren Gruppen nebeneinander, gewissermaßen jeweils Minderheiten mit verschiedenem Recht u n d eigenen Rechten, mit unterschiedlichen Pflichten; sie waren in dieser Verschiedenheit auch oft zu erkennen: in ihrer Kleidung u n d i m Aussehen, in der Lebensweise u n d in den Wohngebieten; in Siebenbürgen waren noch in den sechziger Jahren unseres Jahrhunderts nach sechs Jahrhunderten des Zusammenlebens im Lande die Dörfer v o n Sachsen, Magyaren u n d Walachen (Rumänen) deutlich voneinander zu unterscheiden. Die Stadt in dem Teil Europas östlich der geschlossenen deutschen Sprachgrenze ist - seit w i r schriftliche Belege haben - immer durch Bewohner mit mehreren Sprachen, u n d was die Gesellschaft tiefer trennt, mit mehreren Religionen u n d Kulturen bewohnt: in der polnischen Adelsrepublik waren dies z.B. Polen, Litauer, Deutsche, Ostslawen, Juden, Rumänen, Tataren; v o n den Religionen waren die römisch-katholische, die russisch-orthodoxe, die griechisch-katholische (die Uniierte Kirche), Protestanten, Juden u n d selbst Moslems vertreten. Die Sprachenvielfalt u n d die religiöse Gemengelage etwa des Buchenlandes (Bukowina) hat ihren Niederschlag in der Literatur gefunden u n d kann - w e n n auch nicht immer so extrem - als der Normalfall gelten. Dieses bunte Bild bedeutete keine Idylle, denn die Literatur beschreibt auch die kleinlichen Schikanen und Demütigungen des Alltags, Anmaßung u n d Beleidigungen, Ausgrenzungen, gar Verfolgungen u n d Pogrome, u n d dieses Wort kann seine Herkunft aus dem Russischen nicht leugnen; aber im Normalfall galt ein spannungsreiches Nebeneinander i m Dorf oder auf dem Marktplatz. Geleb-

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Manfred Alexander

ter u n d manchmal erlittener Pluralismus charakterisiert die Gesellschaften i m östlichen Teil Europas stärker als i m Westen oder in der Mitte des Kontinents. Die Sprache war unter diesen Bedingungen ein Kommunikationsmittel, auch ein Erkennungssymbol, manchmal Herrschaftswissen u n d ein Zeichen sozialer Abgrenzung. Die Gebildeten u n d Geistlichen benutzten oft überregionale Sprachen, die als Fremdsprachen gelernt wurden (Latein, Französisch, Deutsch, Hebräisch), der Adel unterschied sich durch seine Sprache „nach Herrenart" („po parisku") - sei dies z.B. französisch oder polnisch - v o n den Bauern, die eben auf Bauernart („po chtopsku") oder „auf unsere Art" („po naszemu") redeten, auch w e n n die moderne liguistische Unterscheidung etwa für die Adelsrepublik hier litauisch, weißrussisch, ukrainisch, tatarisch, jiddisch oder Dialekte der Hochsprache nennen würde. Vielsprachigkeit der „Herren" oder der Gebildeten war normal, u n d der Gebrauch einer bestimmten Sprache situationsbedingt oder gesellschaftlich determiniert, manchmal auch eine freie Wahl oder erzwungen. Diese vormoderne Welt, in die der Nationalismus nur langsam Eingang fand, herrschte in manchen Teilen des östlichen Europa bis in den Zweiten Weltkrieg hinein; u n d auf dem Marktplatz in Taschkent sollen noch heute 100 Sprachen i m Gebrauch sein.

Der Einbruch des modernen Denkens bedeute für diese Welt einen radikalen Wandel u n d langfristig die Auflösung, auch w e n n dieser Prozeß mehr als ein Jahrhundert dauerte u n d - w i e es scheint - noch immer nicht abgeschlossen ist. Herder u n d die politische Romantik, die der Sprache einen besonderen Wert beimaßen, in der „Muttersprache" die Grundlage der gottgegebenen Einheit des „Volkes" sahen u n d damit „Sprache" aus der Ebene des Kommunikationsmittels (das man erlernen kann) zu einem überhöhten Wert an sich machten, legten einen Sprengsatz mit Folgewirkung. Wenn jede Sprache ein Gedanke Gottes ist, dann ist jede Sprache mit gleichen Rechten ausgestattet u n d bewahrenswert; der Wechsel einer Umgangssprache w i r d zum Verrat an der Muttersprache, erzwungener Sprachgebrauch zum Verbrechen und das Verschwinden einer Sprache zu einer Gotteslästerung. Der tschechischen Gesellschaft u m die Mitte des 19. Jahrhunderts stand das Verschwinden des Irischen zugunsten des Englischen als ständige Drohung vor Augen. Diese Überhöhung der Sprache verband sich mit der revolutionären Entdekk u n g der Gleichheit aller Menschen. Wenn alle Sprachen vor Gott gleich sind, müssen sie auch die gleichen Rechte haben; die Menschen derselben Muttersprache sollen diese in der Gesellschaft nach freier Wahl gebrauchen dürfen; niemand soll zum Erlernen einer anderen Sprache oder zu deren Gebrauch gezwungen werden. Wo aber Sprache als Herrschaftswissen galt u n d soziale Unterschiede signalisierte, bedeutete die Forderung nach Gleichheit eine Herausforderung der politischen Ordnung, die i m vormodernen Staat auf Ungleichheit u n d ständischen Privilegien gegründet war. Dieser letztlich politische Kampf lag etwa der tschechischen Forderung nach der Gleichstellung v o n deutsch u n d tschechisch i m Königreich Böhmen zugrunde, u n d ähnliche Konflikte lassen sich auch i m modernen Staat, z.B. in Südtirol oder in Polen, auffinden. Hieran

Minderheiten als Normallfall und als Sprengsatz

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zeigt sich auf der anderen Seite, daß die Ablehnung einer Sprache als „gleich" eben die Behauptung eines Herrschaftsverhältnisses darstellte (die Deutschen i m Königreich Böhmen, die Polen in der Zweiten Republik, die Italiener i m Königreich Italien) u n d die Sprache hier für mehr stand, nämlich für die Gleichheit u n d die gleichen Rechte aller Staatsbürger. Wenn aber alle Menschen rechtlich gleich sind, müssen sie auch in ihren Gesellschaften politisch tätig sein dürfen, sich organisieren u n d sich mit dem Gewicht ihrer Zahl an der Politik beteiligen dürfen. Damit ist der Konflikt u m die Einführung der modernen Gesellschaft genannt, die gegen die traditionelle Herrschaft i n dynastischen Staaten letztlich die Demokratie forderte. Wenn man die Böhmischen Länder als „normalen Staat" betrachtete, dann mußte das „Mehrheitsvolk" der Tschechen an der Macht beteiligt werden, ja, die eigentliche Macht ausüben. Die Abwehr der Gleichstellung des Tschechischen, die v o n deutscher Seite in der Habsburger Monarchie bis in den Ersten Weltkrieg hinein verweigert wurde, war ein Kampf u m die Macht i m traditionellen Staat. Noch eine Ebene tiefer geht der Streit dann, w e n n an die Stelle der traditionellen dynastischen Staaten die Forderung des eigenen Staates trat. Dieser konnte auf zweierlei Weise den modernen Ansprüchen genügen: zum einen konnten die dynastischen Staaten v o n der Mehrheit der Bevölkerung als ihr „Nationalstaat" proklamiert werden, dann wurde aus den Ländern der Böhmischen Krone der Kern der Tschechoslowakei, zum anderen konnten alle Sprecher einer Sprache ihren eigenen Staat fordern, also die dynastischen Grenzen durchbrechen. I m Habsburger Reich war das kompakte Siedlungsgebiet der Slowenen auf vier Kronländer aufgeteilt (Steiermark, Kärnten, Krain u n d Küsterland); ein Staat des slowenischen Volkes bedeutete also deren Zerschlagung oder Gebietsminderung, was nicht ohne Konflikte mit der übrigen Bevölkerung ablief (vgl. Kärnten bis heute). Neben der Konkurrenz v o n Sprachgruppen oder Völkern innerhalb dynastischer Staaten ist die Konkurrenz der Forderung nach eigenen Staaten nach dem Zerfall der alten Großreiche auf internationaler Ebene zu sehen. Die Polen forderten mit gutem historischen Recht die Beseitigung des Unrechts der Teilungen der alten Adelsrepublik u n d die Wiederherstellung ihres Staates in den Grenzen v o n 1772; auf Teile dieses Territoriums erhoben aber andere Völker Anspruch zur Einrichtung eines eigenen Staates (Ukrainer, Weißrussen, Litauer), u n d die Befriedigung der Ansprüche der einen Seite mußte die Ansprüche der anderen negieren. Dieser Streit u m die Staatsgrenzen wurde am Ende des Ersten Weltkrieges mit politischen (die Pariser Vorortverträge) u n d militärischen Mitteln (Kämpfe zwischen den neuen Staaten) auf internationaler Ebene entschieden; der Konflikt wurde aber nun in die neuen Staaten verlagert. Neben der Forderung nach Gleichheit u n d der Beteiligung an der Herrschaft entsprechend der Mehrheit war die Forderung nach Nationalstaaten die dritte moderne Komponente, die die alte Welt zerstörte, denn was für Italien u n d für Deutschland noch hatte verwirklicht werden können, nämlich die Kerngebiete des jeweiligen Siedlungsgebietes eines Volkes in einem Staat zu vereinigen,

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Manfred Alexander

mußte unter den Bedingungen der Gesellschaften Ostmittel- u n d Osteuropas eine Utopie bleiben. Die ländlichen Siedlungsgebiete griffen ineinander u n d konnten nach ethnischen Grundsätze nicht voneinander getrennt werden; die Streusiedlungen u n d die soziale- ethnische Stratifikation innerhalb der Städte, sowie das ethnische Ungleichgewicht zwischen Stadt- u n d Landbevölkerung erlaubte praktisch keine Verwirklichung des Nationalstaatsgedankens. Da die neuen Staaten die polyethnische Struktur der untergegangenen Habsburger Monarchie u n d des Zarenreiches in ihrem Innern fortsetzten, wäre eine föderale politische Lösung (das vielfach mißverstandene Modell der Schweiz w u r d e in diesem Zusammenhang angeführt) vielleicht konfliktmindernd gewesen; in der politischen Praxis führte man aber das Modell des französischen Nationalstaates als eines zentralistischen Gebildes ein u n d verschärfte damit die Probleme.

Die „Weltrevolution" v o n 1918 (Masaryk) zerstörte die politische Ordnung des alten Europa in seinem östlichen Teil; es begann die Epoche der Nationalstaaten, ihr Streit untereinander, u n d die Leidensgeschichte der Minderheiten, deren radikalste Lösung immer wieder die „ethnische Säuberung" zu sein scheint: der griechisch-türkische „Bevölkerungsaustausch", die Maßnahmen v o n „Endlösung" u n d „Umvolkung" der Nationalsozialisten, der „Transfer" der Deutschen nach 1945, „ethnische Säuberung" i m ehemaligen Jugoslawien, „Binnenwanderung" v o n Russen u n d anderen i m ehemaligen Sowjetreich - alles dies sind Euphemismen, die die Brutalität der Aktionen, die Grausamkeit u n d die unzähligen menschlichen Tragödien nicht treffen. Dabei war der Grundgedanke einmal logisch u n d einfach gewesen: „svuj k svému" sagten die Tschechen i m 19. Jahrhundert u n d meinten, daß jedes Volk für sich leben sollte. Wenn dies unter den Siedlungsbedingungen nur möglich gewesen wäre. I n Wirklichkeit fand seit der Mitte des 19. Jahrhunderts ein ethnischer Machtk a m p f statt, der durch keine klassische Regel der Konfliktlösung traditioneller Ärt gebremst wurde. Dabei ist für die Betrachtung u n d Bewertung dieses Konfliktes entscheidend, o b man die Seite der Sieger oder die der Besiegten in das Zentrum stellt. Die Magyaren, die i m Königreich Ungarn kaum die Hälfte der Bevölkerung stellten, versuchten durch ein nationales Bildungssystem die Eliten der anderen Ethnien ins Magyarentum zu locken u n d sie - bei Widerstand notfalls durch Gewaltmaßnahmen zu disziplinieren; dies endete 1918 mit der Zerschlagung des Königreiches u n d dem „Verlust" eines Drittels der magyarischsprechenden Bevölkerung an die Nachbarstaaten. Das Ungarntum wurde dadurch zutiefst getroffen u n d verletzt: das heutige Verhältnis zu Rumänien u n d der Slowakei ist noch durch diese Vergangenheit belastet. Auch die Sieger konnten sich nicht überall ihres Triumphes erfreuen: der Aufstieg der Tschechen aus sozialer Unterdrückung u n d nationaler Unmündigkeit zu Anfang des 19. Jahrhunderts zu einem anerkannten Kulturvolk Europas ist eine Erfolgsgeschichte ohne Beispiel: hier wurden die „modernsten" Formen des „Nationalitätenkampfes" erfolgreich angewandt, eine nationale tschechische Elite ersetzte die traditionell deutschgeprägte Elite der Habsburger Monarchie, die Integrationsideologie des „Tschechoslowakismus" schuf die scheinbar über-

Minderheiten als Normallfall und als Sprengsatz

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zeugende Brücke zu dem slawischen Nachbarvolk der Slowaken, nirgendwo sonst i n Mittel- u n d Osteuropa war i n der Zwischenkriegszeit die Demokratie so fest verankert u n d erfolgreich; der Kampf gegen die deutsche Kultur konnte nach dem demütigenden Zwischenspiel der Protektoratszeit - mit der Vertreib u n g des deutschen Bevölkerungsteiles siegreich beendet werden. Aber war der Sieg über die unbotmäßige u n d ungeliebte Minderheit der Sudetendeutschen nicht ein Pyrrhussieg, u n d haben die Slowaken gegenüber den überlegenen u n d Hilfe bringenden Tschechen mit der Auflösung des gemeinsamen Staates 1992 nicht dieselbe „Undankbarkeit" gezeigt, w i e einst die Tschechen gegenüber den Deutschen, w i e dies die Zeitgenossen empfunden haben? Auch die größeren Staaten hatten ihre Probleme mit den Minderheiten. Die zweite polnische Republik „der vielen Völker" (Tomaszewski) hat diesen Tatbestand innerlich nie akzeptiert: hinter dem moralischen Anspruch auf Beseitigung des Unrechtes v o n 1772, 1793 u n d 1795 mußten die anderen ethnischen Gruppen eben zurücktreten. Es galt als Zeichen nationalen Stolzes, daß Polen mit der Ausnahme Rumäniens - mit allen Nachbarn verfeindet war, u n d alle Nachbarn hatten Konnationale in Polen, die als Gefahr wahrgenommen werden konnten. Schien da eine harte Linie nicht erfolgversprechend zu sein, w e n n man sich auf die internationale Hilfe Frankreichs u n d des v o n i h m faktisch lange beherrschten Völkerbundes stützen konnte? Deutschland hatte auf der anderen Seite das größte Problem mit den Konnationalen i m Ausland, denn einerseits war das besiegte Deutschland zu schwach, u m lange überhaupt etwas für die Deutschen in anderen Staaten tun zu können; als es dann dem Völkerbund beitrat, konnten vorsichtige Interventionen i m Interesse der Deutschen i m Ausland auch in der Öffentlichkeit vorgenommen werden. Als das „Dritte Reich" dann endlich - w i e viele Auslandsdeutsche glaubten - stark genug war, die Interessen der deutschen Minderheiten zu vertreten, da mußten diese nach einiger Zeit erkennen, daß sie instrumentalisiert, gebraucht u n d mißbraucht wurden. „Heim ins Reich" hieß nicht nur die Abtretung des Sudetenlandes, sondern während des Zweiten Weltkrieges auch die Aussiedlung aus dem Baltikum u n d die (geplante) Umsiedlung der Südtiroler ins besetzte Posener Land.

Die ethnischen Minderheiten sind als politisches Problem ein Phänomen des 20. Jahrhunderts, u n d dies ist die andere Seite der Münze, die i m Triumph des Nationalstaates zu eben dieser Zeit zu sehen ist: aus den Trümmern des Habsburger Reiches u n d des Zarenreiches entstand das neue Staatensystem Ostmitteleuropas; aus den Trümmern des Sowjetreiches enstand u n d entsteht eine neue Staatenwelt in Osteuropa. Föderale Lösungen (Sowjetunion, Tschechoslowakei, Jugoslawien) nationaler Probleme haben keinen Bestand gehabt, w e i l es - unter jeweils anderen Bedingungen - keinen wirklichen Föderalismus gegeben hat. Der Sieg des Nationalstaatsgedankens beruht aber letztlich auf einem Mißverständnis, das in der Gleichsetzung der Bevölkerung mit dem Begriff „Nation" besteht. Der klassische Nationsbegriff französischer Prägung versteht „la nation"

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Manfred Alexander

als Willens- u n d Wertegemeinschaft, die auf der gemeinen Vergangenheit beruht u n d v o n ethnischer u n d anderer Vielfalt völlig absieht. I h m steht das Verständnis v o n Herder entgegen, der die Abstammungs- u n d Sprachgemeinschaft als „Volk" zu einem politischen Begriff machte, der dann ebenfalls als „Nation" bezeichnet wurde. Dieses Verständnis v o n „Volksnation" ist aber in Mittel-, Südu n d Osteuropa prägend geworden u n d hat überall zu denselben Fehlern geführt, nämlich die innere Vielfalt der Staatsbevölkerung als Mangel zu sehen u n d nach Möglichkeit - notfalls mit Gewalt - zu beseitigen. Entgegenkommen gegenüber den Minderheiten wurde als Schwäche ausgelegt, Wünsche nach regionalen Sonderregelungen oder Autonomie v o n vornherein als Abspaltungstendenzen diffamiert u n d bekämpft. A m Ende des Jahrhunderts sehen w i r den Triumpf des Nationalstaates vor uns, w o b e i der Zweite Weltkrieg für einige Staaten Ostmitteleuropas eine Homogenisierung der Bevölkerung mit sich gebracht hat. Es scheint aber eine Ironie der Geschichte, daß sich der homogene Nationalstaat als ein Durchgangsphänomen erweist: die Gesellschaften West- u n d Mitteleuropas w u r d e n unter den Bedingungen des wirtschaftlichen Aufschwungs nach dem Zweiten Weltkrieg u n d der europäischen Integration ethnisch so bunt w i e nie zuvor; zugleich hat der Regionalismus in einigen Ländern eine innere Umgestaltung gebracht (Belgien, Spanien), in anderen w i r d er diskutiert (Italien). I n Ostmitteleuropa hofft die Bevölkerung auf einen Anschluß an die Entwicklung des Westens, ist sich aber w o h l kaum bewußt, daß damit der homogene Nationalstaat zur Disposition gestellt wird; in Osteuropa schließlich erleben w i r nach dem Zerfall der Sowjetunion einen neuen Aufschwung des Nationalstaates u n d zugleich neue Formen der Unzufriedenheit u n d manchmal Diskriminierung v o n Minderheiten (die Russen i m Baltikum u n d überhaupt i m „nahen Ausland"). Der blutige Zerfall Jugoslawiens steht als Drohung über der Entwicklung i n anderen Teilen des östlichen Europa. Der vorliegende Sammelband verdeutlicht die Problematik der Minderheiten in der Zwischenkriegszeit an einigen Stellen Europas, ohne damit den Anspruch einer flächendekenden Beschreibung zu erheben. Nach einer Übersicht über Regelungen des Völkerrechts, die als zwischenstaatliche A b k o m m e n nur den Rahmen für innerstaatliche Konflikte setzen konnten, stehen Einzelfälle i m Zentrum der Betrachtung. Italien galt vielen Beobachtern oft als ein Beispiel einer gelungenen Nationalstaatsgründung, die nur mit dem Makel der Erwerb u n g Südtirols 1918/19 belastet schien. Der Blick auf die französisch- sprachige Bevölkerung des Aostatales u n d auf die meist vergessenen Slowenen in JulischVenetien u n d Triest lehrt indes, daß dieses Land v o n einer ethnischen Homogenität weit entfernt war u n d ist; die gegenwärtige Diskussionen u m „Padanien" oder eine Föderalisierung hat ihre lange Vorgeschichte. I n der Sowjetunion w u r d e dekretiert, daß der nationale Konflikt ideologisch überwunden sei; die dominante Stellung der Russen schien eine Klammer des Vielvölkerreiches zu sein, bis der Zerfall der Sowjetunion zeigte, daß dies ein Trugschluß gewesen war. Nirgendwo - mit Ausnahme Jugoslawiens - sind die nationalen Kräfte so virulent u n d geschichtsmächtig geworden, w i e eben i m letzten Vielvölkerreich

Minderheiten als Normallfall und als Sprengsatz

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Europas, u n d die Russen müssen in vielen neuen Nationalstaaten erst ihre Rolle finden. I m Zentrum des Bandes steht die Konfliktzone des östlichen Zentraleuropas, w o b e i der Blick v o n der vergleichsweise geordneten Situation i n Finnland über das spannungsreiche Polen in das Herz des Kontinentes geht. Das Verhältnis v o n Tschechen u n d Deutschen w i r d in drei Beiträgen v o n unterschiedlichen Seiten betrachtet, was darin gerechtfertigt erscheint, daß hier der beste „klinische" Untersuchungsgegenstand vorliegt. Das Königreich Ungarn hat lange als besonderes Beispiel einer „Unterdrückung v o n Minderheiten" gegolten, u n d die Härte des „Paradigmenwechsels" v o n 1918/19 ist hier am deutlichsten nachvollziehbar. Teil dieser Problematik ist auch das Beispiel Rumäniens, dessen Mehrheitsbevölkerung auf lange Jahrhunderte v o n Unterdrückung u n d Mißachtung zurückblicken konnte, ehe der rumänische Nationalstaat die Chance zur Gleichberechtigung - u n d Revanche - erhielt. Der angeblich gelungene Bevölkerungsaustausch zwischen Griechen und Türken, sowie zwischen Türken u n d Bulgaren war der erste Fall der Trennung v o n Volksgruppen, u n d er bleibt bis heute ein Beispiel der Vergeblichkeit dieses Unterfangens, da die Spannungen auch am Ende des Jahrhunderts nicht behoben sind. Der Völkerbund galt nach dem Ersten Weltkrieg als neues Organ überstaatlicher Zusammenarbeit, konnte aber de facto die Einzelkonflikte nur hörbar machen, ohne sie zu lösen; sein Archiv verwahrt viele Belege vergeblicher Hoffnungen zu Studienzwecken. Das hier gezeichnete Bild ließe sich verbreitern, sowohl u m gelungene Lösungen (wie das deutsch-dänische Minderheitenabkommen), w i e u m schwelende Konflikte (Belgien) oder gesteuerte Ausbrüche v o n Gewalt zur „ethnischen Säuberung" i m ehemaligen Jugoslawien. Festzuhalten bleibt indes: Minderheiten waren, sind u n d bleiben ein Problem der modernen Gesellschaft. Eine Regelung v o n außen, wie sie i m Völkerbund versucht wurde, kann ohne einen Mechanismus des Zwangs kaum erfolgreich sein; i m Umgang mit Minderheiten zeigt sich die Reife u n d Toleranz einer Gesellschaft; das Aushalten v o n Spannungen kennzeichnet den modernen Staat als Wertegemeinschaft u n d Bestandteil übernationaler Organisationen. Die Minderheiten werden v o m Streitobjekt u n d Sprengsatz zum Testfall für die politische Kultur.

2 Corsini / Zaffi

Minderheiten als Brücken u n d Gräben zwischen Staaten u n d V ö l k e r n Von Felix Ermacora

L Die mir i m Thementitel gestellte Frage nach der Brückenfunktion v o n Minderheiten in der Zwischenkriegszeit kann nur nach einer völkerrechlichen u n d staatsrechtlichen Analyse beantwortet werden. Der Themenkreis ist so angelegt, daß Fakten ermittelt werden müssen, u m daraus neue Erkenntnisse ziehen zu können. Da mein Thema den Gegenstand anderer Vorträge berührt, möchte ich eine Doppelbehandlung möglichst vermeiden u n d mich so allgemein w i e möglich halten. Die Existenz v o n Volksgruppen u n d Minderheiten sei vorausgesetzt. Sie ergibt sich einerseits aus offiziellen Statistiken, die zum Beispiel v o n W. Winkler zusammengestellt w u r d e n u n d aus den Informationen über jene Staaten, die zwar keine Statistiken führten, die aber die Zeitschrift „Nation u n d Staat" besorgte. Dazu gehörten insbesondere die Informationen über Italien u n d Frankreich.

Π. Eine Brückenfunktion der Minderheiten zwischen angrenzenden Staaten dem neuen Staat, dem sie angehören, u n d dem alten Vaterland - könnte nur entstehen, w e n n Minderheiten nicht gezwungen sind, einen Identitätskampf zu führen, ihre Identität durch den Staat, i n dem sie leben, nicht gefährdet ist, die Minderheit nicht unterwandert w i r d u n d ohne Furcht ihre Wünsche - bis z u m Selbstbestimmungsrecht hin - artikulieren dürften. Wenn also die Minderheit in ihren Rechten, die selbstverständlich ihre Grenzen haben, zufriedengestellt sind. Von einer solchen Minderheit kann erwartet werden, daß sie loyal ist u n d daß sie gelebte „Grenzverbindung" ist. Mit dieser Vorbemerkung darf ich in das Thema eintreten.

ΙΠ. Das Minderheitenschutzsystem der Zwischenkriegszeit ist in der Forschung v o m volkstumswissenschaftlichen, staatsrechtlichen u n d völkerrechtlichen Stand2*

Felix Ermacora

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punkt eingehend analysiert worden. Ich verweise auf die Übersicht in meinem Buch „Menschenrechte in der sich wandelnden Welt", Bd. I, S. 352 ff. 1. D i e nachstehenden v ö l k e r r e c h t l i c h e n Instrumente zählten zu diesem Minderheitenschutzsystem: a)

Minderheitenschutzverträge, die auf der Pariser Friedenskonferenz unterzeichnet w o r d e n sind:

-

Vertrag zwischen den Alliierten u n d Assoziierten Mächten u n d Polen v o m 28. Juni 1919;

-

Vertrag zwischen den Alliierten u n d Assoziierten Mächten u n d dem Königreich der Serben, Kroaten u n d Slowenen, unterzeichnet in St. Germain am 10. September 1919;

-

Vertrag zwischen den Alliierten u n d Assoziierten Mächten u n d der Tschechoslowakei, unterzeichnet i n St. Germain am 10. September 1919;

-

Vertrag zwischen den Alliierten u n d Assoziierten Mächten u n d Rumänien v o m 9. Dezember 1919, unterzeichnet in St. Germain;

-

Vertrag zwischen den Alliierten u n d Assoziierten Mächten u n d Griechenland, unterzeichnet in Sèvres am 10. August 1920.

b)

Sonderbestimmungen in Friedensverträgen, u n d zwar:

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Friedensvertrag (Staatsvertrag) mit Österreich, unterzeichnet am 10. September 1919 in St. Germain (Teil III, Abschnitt V, Artikel 62 bis 69);

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Friedensvertrag mit Bulgarien, unterzeichnet in Neuilly/Seine am 27. November 1919 (Teil III, Abschnitt IV, Artikel 49 bis 57);

-

Friedensvertrag mit Ungarn, unterzeichnet in Trianon v o m 4. Juni 1929 (Teil III, Abschnitt VI, Artikel 54 bis 60);

-

Friedensvertrag mit der Türkei, unterzeichnet in Lausanne am 24. Juli 1923 (Teil I, Abschnitt III, Artikel 37 bis 45).

c)

Spezialkapitel innerhalb anderer Verträge:

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Deutsch-polnischer Vertrag über Oberschlesien v o m 15. Mai 1922 (Teil III);

-

Konvention über das Memel-Gebiet v o m 8. Mai 1924 (Art. 11 u n d Art. 26, 27 des als Annex der Konvention angeschlossenen Statuts);

-

Österreichisch-tschechoslowakischer Vertrag (Brünner Vertrag) v o m 7. Juni 1920;

-

Polnisch-tschechoslowakischer Vertrag v o m 23. April 1925;

-

Vertrag zwischen Rußland u n d der Türkei v o m 16. März 1921;

Minderheiten als Brücken und Gräben zwischen Staaten und Völkern

-

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Vertrag zwischen Danzig u n d Polen v o m 9. November 1920, dann v o m 24. Oktober 1921, v o m 26. November 1932 u n d 18. September 1933,

sowie Verträge zwischen Litauen u n d Lettland, Jugoslawien u n d Italien, Griechenland u n d Italien, Jugoslawien u n d Rumänien, welche Einzelaspekte auf dem Gebiete des Minderheitenschutzes betrafen. d)

Erklärungen vor dem Völkerbundsrat:

-

Erklärung Albaniens v o m 2. Oktober 1921;

-

Erklärung Estlands v o m 17. September 1923;

-

Erklärungen Finnlands hinsichtlich der Aland-Inseln v o m 27. Juni 1921;

-

Erklärung Lettlands v o m 7. Juli 1923;

-

Erklärung Litauens v o m 12. Mai 1922.

2. Der Inhalt der aufgezeigten völkerrechtlichen Instrumente läßt sich in zwei Gruppen untergliedern. Die verschiedenen unter a) aufgelisteten Verträge waren nach demselben Muster aufgebaut. Die einseitigen Erklärungen vor dem Völkerbundsrat waren hingegen der jeweiligen Situation angepaßt; die Verträge enthalten Bestimmungen über die Staatsangehörigkeit v o n Personen, die auf dem Gebiete der neu entstandenen Staaten leben wollten. Diese hatten eine Optionsmöglichkeit. Grundsätzlich aber stand ihnen der Erwerb der neuen Staatsbürgerschaft offen, w e n n sie auf dem Territorium ihren ordentlichen Wohnsitz hatten oder w e n n sie v o n Eltern abstammten, die zum Zeitpunkt der Geburt des Bewerbers u m die Staatsbürgerschaft auf dem fraglichen Gebiete ihren Wohnsitz hatten; die Verträge enthielten alle die Bekräftigung des Prinzips des „jus soli", d.h. w e n n Personen keine andere Staatsbürgerschaft nachweisen konnten, so erhielten sie die des neuen Staates, falls sie auf dessen Gebiet geboren waren. Die Verträge enthalten dann die Verpflichtung, allen Einwohnern vollen u n d vollständigen Schutz des Lebens u n d der Freiheit zu sichern. Die volle öffentliche Religionsausübung w i r d zugesichert, sofern diese nicht „public order" u n d „public morals" widerstreitet. Die Verträge enthalten eine Diskriminierungsschutz- u n d Privilegierungsverbotsklausel. Diese Klausel beinhaltet: die Gleichheit aller Staatsbürger vor dem Gesetz; die Gleichheit hinsichtlich der zivilen u n d politischen Rechte sowie die faktische u n d juristische Gleichbehandlung. Besondere Minderheitenschutzbestimmungen bezogen sich auf den Zugang zu öffentlichen Ämtern u n d auf die Berufsausübung; den Minderheiten w i r d eine gewisse Kultur- u n d Sprachautonomie zugesichert. Vor allem w i r d die Freiheit hinsichtlich des Gebrauchs der Sprache i m privaten Leben, i m Wirtschaftsleben, in der Religion, in der Presse garantiert. Auch die Sprachautonomie vor Gerichten u n d Ämtern w i r d ausgesprochen; der Unterricht in der Muttersprache gewährleistet. Subventionsverpflichtungen für den Staat gegenüber Schulen v o n Minderheitsangehörigen werden begründet.

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Felix Ermacora

3. Die Verträge berücksichtigten auch spezielle Minderheiten besonders. So i m Falle Griechenlands, Polens u n d Rumäniens die jüdischen Minderheiten; gegenüber Griechenland die Walachen des Pindos u n d außerdem die nichtgriechischen Mönchsgemeinschaften auf dem Berg Athos; gegenüber Albanien, Griechenland u n d dem Königreich SHS sollten die muslimischen Minderheiten geschützt werden; gegenüber Rumänien standen die Szekler u n d Sachsen in Siebenbürgen unter besonderem Minderheitenschutz; die Karpathoruthenen wurden gegenüber der Tschechoslowakei unter speziellen internationalen Schutz genommen.

4. Albanien, Litauen, Lettland, Estland u n d Finnland haben dem Völkerbunde gegenüber anläßlich ihrer Aufnahme besondere Erklärungen abgegeben. Albanien gab in seiner Erklärung v o m 17. Februar 1922 die Rechte bekannt, die es den Minderheiten einzuräumen gedenkt, sie waren gleichlautend mit jenen der Minderheitenverträge; sie w u r d e n unter den Schutz des Völkerbundes gestellt. Litauen gab eine entsprechende Erklärung am 12. Mai 1922 ab u n d ergänzte diese Erklärung durch die Konvention über das Memelland v o m 8. Mai 1921. Nach der lettischen Deklaration v o m 7. Juli 1923 hatte der Völkerbund das Recht, mit der lettischen Regierung Verhandlungen über die Stellung der Minderheiten dann aufzunehmen, w e n n die Stellung der Minderheiten nicht jener i n den Minderheitenverträgen vorgeschriebenen entsprach. Estland gab am 17. September 1923 eine der Litauischen ähnliche Erklärung ab. Finnland gab, nachdem die Frage des Selbstbestimmungsrechtes negativ entschieden w o r d e n war, eine Erklärung zugunsten der Autonomie der Àland-Inseln am 27. Juni 1921 ab. Hinsichtlich Oberschlesien ist auf den deutsch-polnischen Vertrag zu verweisen, der i n seinen ersten Teil jene Bestimmungen aufnahm, die i n d e m Vertrag v o m 28. Juni 1919 enthalten sind. I m zweiten Teil des Vertrages sind für einen bestimmten Zeitraum detailliertere Rechte niedergelegt, der dritte Teil des Vertrages begründet ein echtes bilaterales Minderheitenschutzsystem.

5. Wenn man dieses gesamte Werk zum Minderheitenschutz überblickt, das i n mehr als 50 völkerrechtlichen Maßnahmen niedergelegt war, so zeigt eine juristische Analyse, daß die Vorschriften in der Regel den Individuen direkt keine Rechte zuerkannten. Solche wurden auf Grund v o n staatlichen Durchführungsbestimmungen effektiv. Die Verträge u n d sonstigen Abmachungen begründeten Rechte u n d Pflichten nur unter den Vertragspartnern (eine Ausnahme scheint der polnisch-deutsche Vertrag gebildet zu haben), das aber waren die Staaten. Erst w e n n ein Staat, der in die politisch heikle Rolle der „Schutzmacht" gedrängt wurde, sich der Schutzbefohlenen Minderheit annahm, kamen die Rechte zum Tragen. Die Formulierungen der einzelnen völkerrechtlichen Abmachungen

Minderheiten als Brücken und Gräben zwischen Staaten und Völkern

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stellten prinzipiell auf das Individuum ab, setzten aber die Minderheit als Kollektivum voraus. Der wissenschaftliche Streit, o b die Minderheit als Kollektiv unter völkerrechtlichem Schutze steht, ist bis heute nicht geklärt. Sofern manche Stipulationen über die allgemeinen Menschenrechte hinaus kulturelle oder sprachliche Selbstverwaltung zugestanden, hat die Wissenschaft für diese Verwaltungen den Begriff der Autonomie geprägt. War diese Verwaltung nach territorialen Gesichtspunkten vorgesehen, so sprach man v o n einer Autonomie auf territorialer Grundlage, sonst v o n einer Autonomie auf personeller Grundlage. Auch das aus der Volksstämmediskussion in der österreichisch-ungarischen Monarchie bezogene Personalitätsprinzip bzw. Territorialitätsprinzip w u r d e i n der Zwischenkriegszeit wissenschaftlich thematisiert. Die Wirksamkeit des Systems hing zunächst v o n der Umsetzung der Staatsverträge in das innerstaatliche Recht ab u n d sodann v o n der Ausführung der vertraglichen oder sonst völkerrechtlichen Stipulationen. Das ist das klassische Verhältnis v o n Völkerrecht zu Landesrecht. Das Minderheitenschutzsystem betrat jedoch insofern Neuland, als es einer völkerrechtlichen Garantie oder, besser, einer solchen, die die Verantwortung v o n einer Gemeinschaft v o n Staaten beinhaltete, unterworfen wurde. Diese Garantie besonderer Art war während der Pariser Friedensvertragsverhandlungen mehrfach erörtert worden. Sie wurde in dem Schreiben Clemenceaus an den polnischen Vertreter Paderewski politisch gemünzt. U n d zwar bemerkte der Präsident der Friedenskonferenz in seinem Schreiben v o m 24. Juni 1919 unter anderem: „Under the older system the guarantee for the execution of similar provisions was vested in the Great Powers. Experience has shown that this was in practice ineffective, and it was also open to the criticians that it might give to the Great Powers, either individually or in combination, a right to interfere in the internal constitutions of the State affected, which could be used for political purposes. Under the new system, the guarantee ist entrusted to the League of Nations".

Diese Garantie durch den Völkerbund war der Angelpunkt i m Minderheitenschutzsystem der Zwischenkriegszeit. Sie drückte sich zuerst einmal in einer so bezeichneten Bestandsgarantie aus: Einzelne Bestimmungen der Verträge konnten nur mit Zustimmung der Mehrheit des Völkerbundsrates abgeändert werden. Daneben gab es aber auch eine Durchführungsgarantie: Jedes Mitglied des Völkerbundsrates hatte das Recht, dem Rat jede Übertretung oder die Gefahr einer Übertretung irgendeiner Bestimmung eines Minderheitenschutzvertrages oder eines sonstigen Abkommens, der den Schutz v o n Minderheiten zum Gegenstand hatte, mitzuteilen. Minderheiten u n d ihre Angehörigen hatten ein Petitionsrecht. Form u n d Inhalt der Mitteilungen oder Petitionen, ihre Behandlung u n d ihre Wirkung wurden bald Gegenstand politischer u n d wissenschaftlicher Kontroversen. Schücking-Wehberg, Wintgens u n d Mandelstam waren bedeutende Analytiker des Systems. Der Ständige Internationale Gerichtshof konnte angerufen werden, Meinungsverschiedenheiten über Rechts- oder Tatfragen durch Entscheidung zu klären.

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7. Für die Auslegung der Vertragsbestimmungen bezüglich der Minderheiten galt als authentisch der Bericht des mit Ratsbeschluß v o m 7. März 1929 eingerichteten Komitees, das sich mit dem Minderheitenschutz durch den Völkerb u n d auseinandersetzte. Lord Balfour wäre schon i m Oktober 1920 bereit gewesen, die Verantwortung für den Minderheitenschutz v o n den Großmächten abzuwälzen; auf Grund seiner Bedenken schlug der belgische Botschafter eine Verfahrensordnung vor, nach der Dreierkomitees eingesetzt werden sollten, die jeweils eine eingegangene Petition vorzuprüfen hatten. Eine Resolution des Rates v o m 25. Oktober 1920 bestätigte dies. I m Jahre 1921 schaltete man dann das Mitteilungsverfahren ein, w o n a c h jede angenommene Petition dem betroffenen Staat zur Stellungnahme zugeleitet werden sollte. I m Jahre 1923 wurde eine Verfahrensordnung darüber beschlossen, anhand v o n welchen Kriterien ein Komitee über die Zulässigkeit einer Beschwerde zu entscheiden hatte. I m Jahre 1925 wurde das Dreierkomitee zu einem Minority Committee umgewandelt. Neben diesem Minority Committee wurde eine Verwaltungssektion, die Minority Section des Sekretariats, eingerichtet. Das Verfahren, das bis zum Jahre 1938 durchgehalten w o r d e n ist, rollte w i e folgt ab: Annahme der Beschwerde, Mitteilung der Beschwerde an die betroffene Regierung, Mitteilung der Beschwerde an die Ratsmitglieder, Prüfung der Beschwerde durch das Komitee, Antwort an den Petenten. A n dem Verfahren wurden immer wieder Verbesserungen angebracht, VB-Mitgliedsstaaten nahmen dazu Stellung.

IV. Dieses System ist auf den ersten Blick imponierend. Es entsprach dem völkerrechtlichen Zeitgeist: durch Recht völkerrechtliche Probleme zu lösen.

V. Aber das System krankte in sich und es krankte an verschiedenen Umständen der Zeit.

VI. Das System „krankte in sich", w e i l es auch nach damaligen Begriffen nicht universell war u n d w e i l i h m - auch entsprechend der Situation der Zeit - die nötigen Rahmenbedingung fehlten. Was heißt dies? Es war nicht universell heißt, es hat nicht für jeden Staat gegolten, die Siegermächte waren an es überhaupt nicht gebunden. Rußland

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war sich selbst überlassen u n d es ist nicht allen Minderheiten gleichmäßig zugute gekommen. Es fehlten die Rahmenbedingungen heißt, daß es in der Zwischenkriegszeit kein wie immer geartetes Menschenrechtssystem gab, u n d daher daß die Wahl der Staatsform in Europa u n d die daraus folgenden Auswirkungen auf das Menschenrechtssystem vollkommen in die domaine reservé des Staates fielen (Art. 15/8 der Völkerbundssatzung). Es fehlte ferner jede wirtschaftspolitische Rahmenbedingung, die den Minderheiten ohne Diskriminierungen einen Mindeststandard sozialer u n d wirtschaftlicher Rechte hätte geben können. Das blieb so, o b w o h l die Friedensverträge v o n Versailles u n d v o n St. Germain durch die Aufnahme der Bestimmungen über die International Labour Organisation einen Grund für wirtschaftliche u n d soziale Rechte gelegt hatten. I n diesem Zusammenhang sei daran erinnert, daß gerade die sudetendeutschen Arbeiter v o r allem v o n der Wirtschaftskrise der endzwanziger u n d Anfang dreißiger Jahre erfaßt w o r d e n waren u n d schwerer getroffen wurden als die tschechoslowakischen Arbeitnehmer.

vn. Das Minderheitenschutzsystem krankte aber, w i e gesagt, auch an den Umständen der Zeit. Schon 1938 hat der Argentinier J.P.A. François die Gründe, w a r u m das System nicht funktionierte, analysiert. Noch zeitnäher, u n d v o n allgemeinem Blickwinckel, ist die Analyse v o n Inis Claude. Als Gründe, w a r u m das System versagte, wurde Folgendes angeführt: -

die mangelnde Bereitschaft der betroffenen Staaten, alle diesbezüglichen Verpflichtungen zu erfüllen,

-

die Verantwortungslosigkeit der seinerzeitigen Siegermächte für die Aufrechterhaltung des Systems,

-

die Bewegungen, die sich als Ziel gesteckt hatten, die ihnen verweigerte Selbstbestimmung (damals ausschließlich als jus secessionis zu verstehen), doch noch zu erreichen u n d

-

die schwankende Politik der Völkerbundorgane, die noch immer die Souveränität der Mitgliedstaaten als Tabu ansahen, so daß der Mechanismus der Komitees des Völkerbundes nicht funktionieren konnte.

Alles trug dazu bei, daß der Wunsch, die Minderheit könne eine Brückenfunktion haben, ein leeres Wort bleiben mußte. O b w o h l in rein ideellem Sinn die These richtig ist, scheiterte sie aus den Gründen, die ich eben skizziert habe.

Vffl. Es wäre nützlich, aus den Lehren der Zwischenkriegszeit in Europa die nötigen Schlüsse zu ziehen, u m alles das, was zum Scheitern des Anliegens

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Felix Ermacora

geführt hat, die Minderheit könne Brücke zwischen den Staaten u n d Völkern werden, heute zu vermeiden. Solche Ansätze gibt es, ihnen stehen jedoch die Ereignisse i n Ex-Jugoslawien w i e ein wiederauferstandener Geist der Zwischenkriegszeit entgegen.

Die Lage der Minderheiten i m italienischen Nationalstaat Von Carlo Ghisalberti

Jenseits der Diskussionen, die die umfassende historische Reflexion über die Idee der Nation begleitet haben u n d die sich an der Wende v o m 19. zum 20. Jahrhundert vor allem u m den naturhaften bzw. voluntaristischen Charakter der Nation drehten, war man sich i n Italien, das über das Nationalitätenprinzip zum Einheitsstaat fand, über lange Zeit kaum bewußt, welche Rolle die Minderheiten innehatten u n d welche Rechte sie besitzen konnten 1 . Über die Emanzipation, Integration u n d Assimilation religiöser Minderheiten wurden i m Verlauf des Risorgimento zwar zahlreiche Debatten geführt, u n d die Säkularisierung des öffentlichen Lebens sowie die Laizisierung der Rechtsordnung brachten für die Juden u n d Waldenser mit dem Recht der freien Religionsausübung auch die rechtliche Gleichstellung, so daß die Natio Hebraica u n d in einem gewissen Maße auch die piemontesischen Protestanten nicht mehr v o m politischen Gefüge ausgeschlossen blieben, dem sie seit Jahrhunderten angehörten - doch die komplexe Frage der nationalen Minderheiten, die es, obzwar i n geringer Zahl auf italienischem Staatsgebiet durchaus gab, blieb faktisch unberührt 2 . I n der Tat widmete die politische u n d kulturelle Führungsschicht den nationalen Minderheiten vor u n d nach der Gründung des Einheitsstaates - w e n n überhaupt - nur geringe Aufmerksamkeit. Weder die Gemäßigten, die das Staatsgebiet des piemontesischen, dann italienischen Staates erklärtermaßen eher aus einem savoyisch-dynastischen Blickwinkel betrachteten, noch die Demokraten, die überwiegend der Idee einer einheitlichen, unteilbaren Republik nach dem Muster der Französischen Revolution anhingen, stellten sich jemals ernsthaft dem Minderheitenproblem. Selbst die Anhänger föderativer bzw. konföderativer Lösungen w i e Cattaneo, der für regionale Problemstellungen oder Sonderaspekte noch am empfänglichsten war, schienen sich für die nationalen Minderheiten Bis in die jüngere Zeit hinein hat die Geschichtsschreibung dem Minderheitenproblem im Einheitsstaat nur wenig Aufmerksamkeit geschenkt; erst nach dem Zweiten Weltkrieg und der Entstehung der Republik wurde das historiographische Interesse daran wach. Vgl. zu den rechtlichen Aspekten den immer noch grundlegenden Band von A. Pizzorusso, Le minoranze nel diritto pubblico interno, Milano 1967. 2 Zur Entwicklung und Gleichstellung der religiösen Minderheiten im Einheitsstaat gibt es eine umfangreiche geschichtswissenschaftliche Literatur; vgl. zuletzt C. Ghisalberti, Stato nazionale e minoranze tra XIX e XX secolo, in: F. Sofia / M. Toscano (Hrsg.), Stato Nazionale ed emancipazione ebraica, Roma 1992.

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Carlo Ghisalberti

u n d ihre Lebensbedingungen nur am Rande zu interessieren. Höchstens das Thema der Sprache, die Fragen des Verhältnisses v o n Sprache u n d Dialekt w u r d e n zuweilen erörtert, ohne daß es zu einer vertieften Diskussion über die sprachlichen Rechte der politisch als Teil der staatlichen Ordnung betrachteten Minderheiten gekommen wäre; es ging dabei u m die komplexe u n d heißdiskutierte Frage der Grundlegung u n d der Natur der Nationalsprache, die man für das tragende Element i m Aufbau des Einheitsstaates hielt u n d die, mit amtlichem Charakter versehen, den lokalen Sprachgebräuchen keinenfalls nachgeordnet werden durfte 3 . I n den Rechtsordnungen der Einzelstaaten vor der Einigung waren derartige Minderheiten weitgehend berücksichtigt. Man denke nur an das Königreich Sardinien mit seinen v o n französisch-sprachigen Savoyarden bewohnten transalpinen Gebieten, oder an die venetianische Republik, zu der Ende des 18. Jahrhunderts noch das östliche Friaul, das Isonzo-Gebiet u n d die dalmatinische Küste gehörten, w o es slawische, zumeist slowenisch oder serbokroatisch sprechende Volksstämme gab. Diese Minderheiten waren auch noch i m Einheitsstaat vorhanden, allerdings in beträchtlich verringerter Zahl u n d daher bis 1918 weniger relevant. Nizza u n d Savoyen kamen nämlich nach dem Krieg v o n 1859 an Frankreich, während die italienische Hegemonie i m gesellschaftlichen u n d kulturellen Leben Dalmatiens mit dem Niedergang der venezianischen Republik u n d dem Aufstieg der österreichischen Macht in der östlichen Adria zerfiel. Allerdings lag es nicht an der zahlenmäßigen Schwäche oder an dem geringen Gewicht der Minderheiten, daß ihre Eigentümlichkeiten u n d Besonderheiten nicht anerkannt wurden. I n der damaligen Idee v o n Nationalstaat u n d Staatsbürgerschaft selbst gründete diese fehlende Anerkennung darin, daß das alleinig ausschlaggebende Staatsbürgerprinzip das Verhältnis v o n Individuum u n d Staat bestimmte. Hinzu kam, daß dieses Prinzip zum wesentlichen Element einer staatlichen Ordnung wurde, deren Einheitsstreben innerhalb der Staatsbevölkerung keinerlei Sonderstatus dulden konnte oder wollte; daher blieben ethnische Differenzierungen, die in mehreren Provinzen Italiens durchaus präsent waren, unberücksichtigt 4 . Die nationale Identität, die der Staatsbürgerschaft zugrunde lag u n d die den Kern des risorgimentalen Einheitsstaates ausmachte, wurde damit zu einem grundlegenden Wert u n d zu einem ideellen Motiv, d.h. sie stellte etwas dar, was sich annäherungsweise u n d mit einer gewissen begrifflichen Dehnung als .italienische Ideologie' i m absoluten u n d selektiven Sinne bestimmen läßt. 3 Vgl. die mittlerweile klassischen Studien zur Geschichte der italienischen Sprache von B. Migliorini , Storia della lingua italiana, Firenze I960; G. Devoto , Profilo di storia linguistica italiana, Firenze I960; T. De Mauro , Storia linguistica dell'Italia unita, Bari 1970. Nützlich sind auch C. Dionisotti , Per una storia della lingua italiana, in: Geografia e storia della letteratura italiana, Turin 1967; A. Stussi, Lingua, dialetto, letteratura, in: Storia d'Italia, Torino 1972, 1, S. 677 ff. 4 Das spiegelt sich in der Rechtsliteratur der Zeit wider, wo die Staatsbürgerschaft engstens mit der Nationalität verknüpft war; vgl. z.B. C. Bisocchi, Acquisto e perdita della nazionalità nella legislazione comparata e nel diritto internazionale, Milano 1907.

Nationalstaat und Minderheiten

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Damit verneinte man letztendlich nicht nur die politische u n d rechtliche Relevanz, sondern auch die Andersartigkeit selbst der auf dem Staatsgebiet lebenden Minderheiten, deren Zahl nach der Abtretung Nizzas u n d Savoyens an Frankreich allerdings entschieden abgenommen hatte. In der Tat soll man bedenken, daß diese entschiedene Verneigung auch jene Gruppen betraf, deren Mitglieder durch die Zugehörigkeit zu einem bestimmten kulturellen System oder Umfeld gekennzeichnet waren, das sich in der Regel durch den Gebrauch einer eigenen Sprache identifizierte. In einer Umwelt u n d für eine Ideologie, i n denen die Rolle der Nation als historisches Subjekt betont u n d i m Namen eines voluntaristischen Grundansatzes gerechtfertigt wurde, war für die rein kulturelle Individualität der kleinen ethnisch-sprachlichen Gruppen kein Platz, u n d zwar u m so weniger, als ihre Repräsentanten kaum für die Wahrung der für sie typischen Lebensformen eintraten u n d auch nicht ihre Förderung v o n Seiten des Staates verlangten, mit dem sie sich voll u n d ganz zu identifizieren schienen. Solche Gemeinschaften waren in der Tat fest eingebunden in die Nation, der sie sich ihrerseits aufgrund der gemeinsamen Staatsbürgerschaft als zugehörig betrachteten; denn die Staatsbürgerschaft war i m Rahmen der staatlichen Rechtsordnung Quelle u n d Grundlage für die Gleichheit der Bedingungen, die keinerlei Unterscheidung oder gar Diskriminierung zwischen den Staatsbürgern des Königreichs erlaubte. Diese Tatsache erschien implizit zugleich als Ursache u n d W i r k u n g der fehlenden öffentlichen Anerkennung; das Kollektivbewußtsein, das sich schwertat, selbst die gewiß noch gravierenderen Probleme der nationalen Minderheiten auch nur wahrzunehmen, betrachtete die Andersartigkeit als ein völlig untergeordnetes Problem 5 . I m italienischen Staat, der - w e i l v o n einer einzigen Nation gebildet - als i n ethnischer Hinsicht v o l l k o m m e n homogener betrachtet wurde, schien es also kein Minderheitenproblem zu geben. Außerdem hatten die französischsprachigen Bevölkerungsteile i m Aostatal, sowie die Slawen am Natisone u n d i n einigen anderen Gemeinden am Isonzo (letztere insbesondere bei der Volksabstimm u n g über die Annektion Venetiens nach dem Krieg v o n 1866), für Italien optiert u n d dadurch die voluntaristische Nationalitätsidee bekräftigt. Von nationalen Minderheiten sprach man nur i m Zusammenhang mit der Irredenta-Bewegung, die das Risorgimento mit der Annexion der v o n Italienern bewohnten, aber noch unter österreichisch-ungarischer Herrschaft stehenden Gebiete des Trentino u n d Julisch-Venetiens vollenden wollte. Dabei handelte es sich jedoch u m ein anderes Problem, das mit dem Wiederaufleben der Nationalitäten i m 19. Jahrhundert u n d folglich mit jener Antithese zusammenhing, die - versehen mit einem präzisen ethisch-politischen Gehalt - die Idee eines ethnisch geschlossenen Nationalstaats der Idee eines übernationalen, v o n verschiedenen Völkern bewohnten Staates gegenüberstellte.

5 Dieses Thema wird heute in der Geschichtswissenschaft, die gegenüber den sprachlichen Minderheiten sehr viel feinfühliger geworden ist, lebhaft diskutiert; vgl. z.B. M. Olmi , Italiani dimezzati. Le minoranze etnico-linguistiche, Napoli 1986.

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I n der damals in Italien vorherrschenden Kultur u n d in der »italienischen Ideologie', die deren politischer Ausdruck war, zeigte sich der Nationalstaat als Fortschritt, der übernationale Staat hingegen als ein Vermächtnis der Vergangenheit: Dieser breche zusammen, sobald der Herausbildungsprozeß der einzelnen ihn konstituierenden Nationen abgeschlossen sei - w i e sich auch an ÖsterreichUngarn, nicht zuletzt vorangetrieben durch den italienischen Irredentismus, zu erweisen schien. Dies war der Grund, weshalb während des Risorgimento sowie später die politische Debatte u n d die Rechtslehre dazu neigten, die mit der Einigung u n d der Gründung des Königreiches verwirklichte Identifizierung v o n italienischem Staat u n d italienischer Nation nachdrücklich zu preisen. Die Nation, d.h. eine durch dieselbe historische Individualität konstituierte Gemeinschaft, u n d der Staat, d.h. eine durch dasselbe Rechtsverhältnis charakterisierte Gemeinschaft, w u r d e n als identisch gesetzt. Verknüpft w u r d e n Staat u n d Nation eben durch den Begriff der Staatsbürgerschaft, der den einzelnen Angehörigen des Nationalstaates einen einheitlichen Status verlieh. Jede Möglichkeit der Differenzierung u n d Diskriminierung, die auf anderen, rechtlich nicht vorgesehenen Motiven beruhten, wurde mit der Zuordnung gleicher Rechte u n d Pflichten verbaut. Zugleich wurde denjenigen jede Anerkennung verweigert, die sich aufgrund einer anderen Volkszugehörigkeit nicht als Italiener fühlten, obgleich sie auf italienischem Staatsgebiet lebten 6 . Ein derartiger Ansatz war altherkömmlich u n d ging auf das Modell u n d den Sprachgebrauch aus dem revolutionären Frankreich zurück, die i n politischrechtlicher Hinsicht v o m „jakobinischen Triennio" (1796-1799) u n d während der napoleonischen Herrschaft übernommen wurden; das Verhältnis v o n Individ u u m u n d Staat war hier wesentlich durch die Staatsbürgerschaft bestimmt, die zur unerläßlichen Bedingung gemacht wurde, u m die gegenseitigen Pflichten u n d Rechte festzulegen. Über die Staatsbürgerschaft wurde i m Einheitsstaat (1861) die Zugehörigkeit der Individuen zum Staat nach rein nationalen Gesichtspunkten geregelt. Daraus ergab sich eben jene Identifikation v o n Staatsbürgerschaft u n d Nationszugehörigkeit, die sich in Frankreich Ende des 18. Jahrhunderts vollzogen hatte u n d die den französischen Staatsbürgern, die sich nicht dem französischen Volk zurechneten, theoretisch und praktisch jegliche Autonomie versagte 7 . Diese Identifikation, die auf Rechtsebene die Verneinung der bloßen Existenz v o n nationalen Minderheiten im Staatsgebiet mit sich brachte, lag auch nach Gründung des italienischen Einheitsstaates den Bestimmungen des BürgerVgl. dazu V. Peri , Two Ethnic Groups in the Modern Italian State: 1860-1945, in: Comparative Studies on Governments and non Dominant Ethnic Groups in Europe 18501945, Dartmouth 1991. 7 Über den im revolutionären und napoleonischen Frankreich entwickelten Begriff der Staatsbürgerschaft vgl. C. Nicolet , Citoyenneté française et citoyenneté romaine: essai de mise en perspective, in: La nozione di „romano" tra cittadinanza e universalità. Atti del II seminario internazionale di studi storici „Da Roma alla Terza Roma", 21-23 aprile 1982, Napoli 1984, S. 145 ff.

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liehen Gesetzbuches v o n 1865 zur Staatsbürgerschaft zugrunde, die dann durch das Gesetz v o m 13. Juni 1912, Nr. 555, ergänzt u n d vervollständigt wurden 8 . Wer einen strengeren theoretischen Maßstab anlegte u n d ein ausgeprägteres Rechtsgefühl besaß, gelangte allerdings zu dem Schluß, daß die Frage der Staatsbürgerschaft verfassungsrechtlichen Gehalt besaß u n d deshalb zu den Materien gehörte, die i m „Statuto", d.h. i n der 1848 v o n Karl Albert für das Königreich Sardinien oktroyierten Verfassung hätte geregelt werden müssen 9 . Warum kam es nicht dazu? Abgesehen v o n Überlegungen, die das „Statuto" v o n den französischen Verfassungen aus den Jahren 1814 u n d 1830 herleiten, die keine Bestimmungen zur Staatsbürgerschaft enthalten, ist hervorzuheben, daß die Zeitumstände unter denen das „Statuto" zustandekam, u n d die besondere geographische Lage der Territorien des sardischen Königreiches keine differenziertere Lösung des Problems der Staatsbürgerschaft erlaubten. Es ist kein Zufall, daß die Verfassungsurkunde zwar sehr w o h l ein Kapitel über die ,Rechte u n d Pflichten des Staatsbürgers' enthielt, hier aber schon i m ersten Artikel den ungenauen Terminus „Reichsbewohner" verwandte, sich also allein auf das bloße Wohnen oder, besser vielleicht, auf den Wohnsitz i m Königreich bezog und weitere Bestimmungen unterließ. I m Jahr 1848 hätte auch keine klarere Regelung getroffen werden können, denn die territorialen Grenzen des sardischen Staates deckten sich nicht mit den Siedlungsgebieten der Volksgruppen u n d deren Sprachgrenzen diesseits u n d jenseits der Alpen. Nach Gründung des Einheitsstaates u n d nach Abtretung der v o n frankophonen Bevölkerungsteilen bewohnten Gebiete jenseits der Alpen hätte man den verfassungsmäßigen Zusammenhang v o n Nationalität u n d Staatsbürgerschaft in anderer Weise angehen können. D o c h zu einem Zeitpunkt, da die Hoffnungen des Risorgimento soeben in Erfüllung gegangen waren u n d die nationalen Ideale, die sie genährt hatten, Triumphe feierten, weckte das Minderheitenproblem notwendigerweise nur w e n i g Interesse, zumal der neue Staat seine Legitimität auf die Geschlossenheit u n d ethnische Einheitlichkeit des Volkes zu gründen versuchte. Deshalb ließ selbst Mancini, der bedeutendste italienische Theoretiker des Nationalitätenrechtes, der ein neues Ordnungsmodell zwischenstaatlicher Beziehungen auf der Basis dieses Rechtes entwickelte, das Minderheitenproblem i m wesentlichen unberücksichtigt; i m geeinten Italien sah er offensichtlich einen in nationaler Hinsicht homogenen Staat u n d i n den Volksabstimmungen, mit denen die aufeinanderfolgenden Annexionen gebilligt w u r d e n u n d die auf diese Weise den Staat mitbegründeten, sichere Beweise seiner ethnischen Identität.

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Dieses Gesetz wurde damals von verschiedenen Juristen begrüßt, u.a. von S. Gemma, Legge 13 giugno 1912 sulla cittadinanza, Roma 1913; G.C. Buzzatti, La legge sulla cittadinanza 13 giugno 1912, in: Rivista di diritto civile, 6, 1914, S. 289 ff. und 441 ff.; G.B. Moraglia , La cittadinanza italiana secondo la legge 13 giugno 1912, n. 555: precedenti storici, fonti, testo e commento, legislazioni straniere, Forlì 1913. 9 Zum Verhältnis zwischen der Staatsbürgerschaft im Sinne der einschlägigen Gesetze einerseits und des Gleichheitsprinzips andererseits gibt es in der zeitgenössischen rechtswissenschaftlichen Diskussion interessante Ausführungen; vgl. z.B. V. Miceli , Diritto costituzionale, 2. Aufl., Milano 1913, S. 948 ff.

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Auf der anderen Seite gab es in den Grenzgebieten des Königreichs Italien abgesehen v o n der relativ geschlossenen slowenischen Bevölkerung an der Ostgrenze den Isonzo entlang bis zum Natisonetal, die sich recht gut i n das gesellschaftliche u n d kulturelle Leben des 1866 annektierten Venedig integriert hatte - keine bedeutsamen nichtitalienischen Volksgruppen. Das Fehlen eines anti-italienischen Irredentismus u n d die Bereitschaft der Slowenen, den italienischen Staat nach der Annexion umstandslos anzuerkennen, hing w o h l damit zusammen, daß es jenseits des Isonzo-Flusses keinen slawischen Staat gab, der als Bezugspunkt hätte dienen u n d eventuelle nationale Forderungen hätte nähren können. Seit langem hatten sich die Slowenen an den Kontakt mit der friulanischen bzw. venetianischen Bevölkerung gewöhnt. Daher übte das unter habsburgischer Herrschaft stehende Krain auf sie schon deshalb keine große Anziehungskraft aus, w e i l es weder wirtschaftlich noch kulturell sehr entwickelt war. Außerdem bestand für dieses Gebiet keinerlei Aussicht auf eine politische Selbstverwaltung, w e i l die Doppelmonarchie die slawischen Bevölkerungsteile keinesfalls den Deutschen u n d Ungarn gleichstellte, sondern häufig als gesellschaftlich minderwertig betrachtete 10 . Aus einem allgemeineren Blickwinkel ergibt sich, daß nur die Existenz eines ethnisch einheitlichen Staates, oder zumindest das Vorhandensein einer politisch u n d verwaltungsmäßig selbständigen Körperschaft innerhalb eines übernationalen, aus mehreren Volksgruppen zusammengesetzten Verbandes, eine starke Anziehungskraft auf die nationale Minderheit jenseits der Grenzen hätte ausüben können; nur unter dieser Voraussetzung hätte es bei der Minderheit zu Verweigerung u n d zu Protest gegenüber der herrschenden politischen Gewalt k o m m e n können, insbesondere dann, w e n n ihren Angehörigen zugleich die Ausübung der bürgerlichen u n d politischen Grundrechte versagt w o r d e n wäre. A u f die kleine slowenische Minderheit traf dies nicht zu: Sie hatte jenseits der Ostgrenze keinen Nationalstaat als Bezugspunkt, u n d sie war auch i n ihren Rechten keineswegs beschränkt, da die italienischen Gesetze allen Bürgern auf der Basis des Gleichheitsprinzips denselben Status verliehen. Dasselbe Prinzip rechtfertigte auch i m damaligen politischen Bewußtsein u n d nach der damaligen Rechtslehre auch die Assimilation an das italienische Element der Slowenen am Natisone, der Bewohner des Aostatals i m Nordwesten Piemonts, der Albaner u n d Griechen in Süditalien u n d auf Sizilien, deren ethnische u n d sprachliche Sonderkultur nicht anerkannt wurde, zumindest aber keinen normativen Niederschlag fand. Als Signal einer vollständigen rechtlichen 10 Über die Slowenen im Natisone-Gebiet und, allgemeiner, über die Slawen in Friaul nach der Annexion Venetiens vgl. F. Musoni , Usi e costumi degli Sloveni veneti, in: Archivio per la Storia delle tradizioni popolari, 9 (1980); ders., La vita degli Sloveni, Palermo 1983; ders., Sulle condizioni economiche, sociali, politiche degli Slavi in Italia, in: Atti del II Congresso geografico italiano, Roma 1986; ders., Tra gli Sloveni di Montefosca, Udine 1898; C. Podrecca , Slavia italiana, I, Cividale 1884; ders., Slavia italiana: Polemica, Cividale 1885; ders., Slavia italiana. Le vicinie, Cividale 1887; ders., Homologia, Cividale 1892; 5. Rutar, Le colonie slovene in Friuli, Udine 1887; G. Trinko, Gli Slavi del Friuli, Cividale 1892.

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Assimilation der Fremdsprachigen kann auch der faktische Verfall v o m Artikel 62 des albertinischen „Statuto" gewertet werden, der zwar für die Parlamentsversammlungen Italienisch als Amtssprache festgelegt, zugleich aber die französische Sprache in Rede u n d Antwort für diejenigen zugelassen hatte, die aus französischsprachigen Orten stammten; insbesondere nach der Abtretung Savoyens u n d Nizzas, w o das Gefühl für die Rechte der sprachlichen Minderheiten sehr lebendig war, fielen solche Spezifizierungen kaum noch ins Gewicht 1 1 . Die rechtliche Assimilation der Fremdsprachigen bedeutete aber nicht, daß ihre Sprache zugunsten der nationalen Sprache völlig aufgegeben u n d nicht mehr unterrichtet oder daß die italienische Sprache aufgezwungen wurde, w i e es zuweilen die entschiedensten Verfechter einer i m Gegensatz zu den liberalen Grundlagen des risorgimentalen Staates stehenden nationalen Einheit vorschlugen, die auch als streng kulturelle Hegemonie zu verstehen war. Das Gesetz Casati v o m November 1859 über das öffentliche Schulwesen hatte den Französischunterricht i m Aostatal abgeschafft, doch ein Umdenken der politischen Macht, das höchstwahrscheinlich v o n den Protesten der lokalen Kräfte herbeigeführt wurde, kam ein Kompromiß zwischen dem Ministerium u n d dem Gemeinderat v o n Aosta über dessen Wiedereinführung u n d Modalitäten zustande 12 . Das Aostatal, dessen Bevölkerung - abgesehen v o n einigen dialektalen Formen i n den umliegenden kleinen Tälern - Französisch sprach, war integraler Bestandteil des alten piemontesischen Staates. Französisch war auch noch nach Gründung des Einheitsstaates die gängige Sprache am H o f u n d innerhalb der piemontesischen Führungsschicht. So lag es nahe, daß sie sich für den Erhalt der französischen Sprache zumindest i m schulischen Bereich einsetzten - auch in dem Bewußtsein, daß sie für die internationalen Beziehungen eine wichtige Vermittlerrolle spielte u n d auch v o n einigen piemontesischen Intellektuellenkreisen auf breiter Ebene gesprochen wurde. Eine andere offizielle Haltung nahm die Regierung den übrigen Minderheiten u n d ihren Ansprüchen auf Anerkennung ihrer sprachlichen Rechte gegenüber ein. A m deutlichsten w i r d dies w o h l an den albanischen Gemeinden i n Süditalien. Die Albaner stellten zweifellos eine relativ homogene ethnisch-sprachliche Minderheit v o n einem gewissen kulturellen Gewicht dar. Nicht selten bildete sie für die Bevölkerung i n ihrem Mutterland jenseits der Adria angesichts des gesellschaftlichen u n d intellektuellen Niedergangs während der harten osmanischen Herrschaft einen wichtigen Bezugspunkt 1 3 . Ihre Integration u n d die ge-

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Zu der Tatsache, daß die französische Sprache in den parlamentarischen Debatten nach I860 ganz einfach außer Gebrauch kam, vgl. M. Mancini / U. Galeotti , Norme ed usi del Parlamento italiano, Roma 1887, S. 141 f. 12 Vgl. Ν. Gros , Lotte e polemiche; entusiasmi, delusioni e recriminazioni; questioni dibattute e attività svolte ad Aosta negli anni attorno al 1848 in relazione alle riforme albertine e al movimento liberal-nazionale, in: La valle d'Aosta, Torino 1966, 2, S. 542 ff. 13 Nützliche Anregungen in V. Giura , Storie di minoranze: ebrei, greci e albanesi nel Regno di Napoli, Napoli 1984, S. 157 ff.

3 Corsini / Zaffi

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meinsam mit der süditalienischen Bevölkerung durchlebte Geschichte nahm man als Beweis für ihre erfolgreiche Assimilierung, so daß man eine vollständige rechtliche Anerkennung ihrer sprachlichen Rechte sowie eine differenzierte Schulordnung auf einer spezifischen sprachlichen Grundlage für überflüssig hielt. Die offensichtliche Bestätigung dieser Einstellung auf Regierungsebene war w o h l die Verstaatlichung ihrer einzigen, ursprünglich unter religiöser Leitung stehenden u n d privat betriebenen Schule. Diese Maßnahme wurde später gerade wegen der Mißachtung der sprachlichen Rechte kritisiert u n d als illiberal bezeichnet, doch konnte man sie zu jenem Zeitpunkt mit dem Hinweis auf die Erfordernisse der Gleichbehandlung rechtfertigen 14 . Derartige Probleme mit Minderheitensprachen i m Schulbereich mögen i m weiteren Zusammenhang der Geschichte des öffentlichen Unterrichtswesens in Italien v o n geringer Bedeutung sein; noch weniger wichtig erscheinen sie vielleicht i m Hinblick auf die staatsbürgerliche u n d politische Entwicklung zu Beginn des graduellen Umwandlungsprozesses, der dem streng elitären Staat einen tendenziell demokratischen Charakter verlieh. Denn w o sowohl die Parlaments- als auch die Provinz- u n d Gemeindewahlen auf der Basis eines eingeschränkten Wahlrechts erfolgten, vermochten sich bestimmte sprachlich-ethnische Sonderformen kaum Geltung zu verschaffen, obgleich sie in ihren praktischen Wirkungen vorrangig, w e n n nicht ausschließlich, für die unteren Bevölkerungsschichten an den Grenzen des Staatsgebietes bedeutsam waren. Zu groß war der dem ethnischen Substrat der Nation homogenen Anteil der Bevölkerungsmehrheit, der durch die Kriterien v o n Bildung u n d Zensus v o n der Teilnahme am politischen Leben u n d an der Verwaltung des Staates ausgeschlossen war u n d deshalb der Zentralgewalt kaum in den Blick geriet, als daß die Staatsbürger noch nach Sprachminderheiten u n d -mehrheiten hätten unterschieden werden können, u m ihnen dann eine differenzierte Behandlung i m Schulwesen zu gewähren. Eine solche Maßnahme hätte paradoxerweise fast schon eine Verletzung des bürgerlichen Gleichheitsprinzips bedeutet, mit dem der bevorstehende Übergang v o n der liberalen zur demokratischen Ordnung begründet wurde. Das Problem bestand i m wesentlichen nicht darin, den Bewohnern des Aosta tais u n d den Albanern mit der Einrichtung v o n eigenen Schulen die Möglichkeit zur Vertiefung ihrer muttersprachlichen Kenntnisse zu bieten. Vorrangiges Ziel war vielmehr, allen Italienern bis in die untersten Klassen hinein ein M i n i m u m an Grundbildung sicherzustellen, u m den Analphabetismus auszurotten, der eine Erbschaft vieler, ja fast aller italienischen Einzelstaaten war u n d v o m liberalen Staat, beginnend mit dem Gesetz Casati, bekämpft wurde 1 5 . 14

M.L. Azzinari, La cattedra di lingua e letteratura albanese a S. Demetrio Corone e gli insegnanti che la ressero, in: Shêjzat, (1970), 4-6 und 7-9, S. 165 ff. und 262 ff.; M.F. Cucci , Il Collegio di S. Adriano e le comunità italo-albanesi di Calabria 1820-1945, in: Aspetti e problemi di storia della società calabrese in età contemporanea. Atti del I Convegno di studio (Reggio Calabria, 1-4 novembre 1975), Reggio Calabria 1977. 15

Vgl. dazu V. Peri , Two Ethnic Groups in the Modern Italian State, S. 139 ff.

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Die damalige Losung lautete »Wohlstand u n d Kultur', auf deren Grundlage Silvio Spaventa die noch schwache nationale Einheit konsolidieren wollte. Darin drückte sich ein politisches Programm aus, das auf das Wachstum der italienischen Gesellschaft u n d auf eine stärkere Mitsprache des Volkes zielte. ,Kultur' meinte offensichtlich, daß alle Klassen des italienischen Volkes eine Grundschulbildung erhalten sollten, damit sie bei gleichzeitiger Verbesserung ihres Lebensstandards die Vorteile des liberalen Staates zu würdigen u n d durch ihre politische Teilnahme dessen Fundamente zu stärken vermochten. Dies war also das schulpolitische Ziel der ,Destra Storica' ('Historischen Rechte') u n d der Führungsschicht, die ihr in der Regierungsverantwortung gefolgt ist. Es ist später auf breiter Ebene angefochten worden, w e i l sich in i h m nach Meinung der Kritiker des liberalen Staates eine elitäre Auffassung v o n den öffentlichen Angelegenheiten ausdrückte. Vorrangig sei es darum gegangen, mittels der staatlichen Schule eine kulturelle Hegemonie der Führungsschichten aufzubauen, die die nationale Revolution durchgeführt hatten. Diese Führungsschichten brachten i m übrigen recht w e n i g Verständnis für jegliche Form eines sprachlich-ethnischen Pluralismus auf u n d waren kaum geneigt, den innerhalb der Staatsgrenzen lebenden besonderen Volksgruppen Autonomieräume zuzugestehen, denn sie standen eindeutig unter dem Bann der Zentralität der Nation, aus der ja der italienische Staat hervorgegangen war. Aber die später so sehr bekämpfte kulturelle Hegemonie diente in der Konzeption der bedeutendsten Schulreformer i n Italien - v o m Gesetz Casati bis z u m Gesetz Daneo Credaro - dazu, den Standard der öffentlichen Bildung mit dem intellektuellen Niveau des Volkes zu heben; das Volk erhielt wachsende Bildungsangebote in der Sprache der allumfassenden politischen Gemeinschaft, die eben v o n allen, auch v o n den Angehörigen fremdstämmiger Minderheitengruppen mit eigenen Idiomen übernommen werden sollte. Dergestalt würde die Festigung der nationalen Einheit, die der Schule als wesentliches Ziel zugewiesen wurde, auch über die Verbreitung des Italienischen erfolgen, das i m liberalen Staat als alleiniges Sprachkommunikationsmittel anerkannt w u r d e 1 6 . Für die Gegner dieses politischen Planes, mit dem auch eine sprachliche Einheit der i m Staat organisierten Nation angestrebt wurde, negierten die Zentralisierungstendenzen i m schulischen Bereich der liberalen Führung zunehmend die Seins- u n d Lebensweise der kleinen lokalen Gemeinschaften, die mit ihrer jeweiligen Kultur u n d Sprache über eigene Geschichte u n d eigene Traditionen verfügten. Die Verteidigung dieser „amputierten Sprachen", die öffentlich nicht anerkannt u n d wegen politischen Verbots in den Gemeindeschulen nicht unterrichtet werden durften, war eines der zahlreichen Motive, w a r u m sich die Kritiker gegen die v o m risorgimentalen Staat in allen Bereichen des nationalen Lebens vorangetriebene Zentralisierung wandten 1 7 . I n dieselbe Kerbe schlug 16 Vgl. A. Ara, Scuola e minoranze nazionali in Italia: 1861-1940, in: Studi Trentini di Scienze Storiche, 69 (1990), S. 457-488.

* 7 Einen Überblick bietet S. Salvi , Le lingue tagliate. Storia delle minoranze linguistiche in Italia, Milano 1975. 3*

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selbstverständlich oft auch der Klerus der Volks- u n d Sprachminderheiten, u m aufzuzeigen, w i e weit sich die liberale Regierung v o m Volk u n d dessen Grundbedürfnissen entfernt hatte. Damit verfolgte man auch das Ziel, das freilich nicht zugegeben wurde, die jeweilige Volksgruppe an ihre Kirche gebunden zu halten, die seit Jahrhunderten faktisch allein für die Bedürfnisse u n d die Forderungen der Schwachen eingetreten war. Die gleichzeitige Verteidigung des Französischunterrichts u n d des Katechismus gegen eine Regierungspolitik, die den Schulunterricht vereinheitlichen u n d in den Gemeindeschulen Italienisch als einzige Unterrichtssprache eingeführt wissen wollte, kam in dem Vorwurf des Klerus gegen die Liberalen zum Ausdruck, diese wollten die Bevölkerung des Aostatals „de sa langue et de sa foi" berauben. Die Proteste des Klerus waren neben der Verteidigung der v o m Volk gesprochenen Sprache erkennbar v o n einem weiteren Motiv beherrscht, d.h. in ihnen drückte sich auch die Abwehr eines Modernisierungsprozesses aus, den die sprachliche Vereinheitlichung als Konsequenz der nationalen Einheit auslösen würde. Die lokale Kirche fürchtete ihn aufgrund der möglichen Auswirkungen auf die soziale Ordnung, w o d u r c h die Kontrolle über die bis zu diesem Zeitpunkt eng an ihre Pfarreien gebundene Bevölkerung gefährdet war. Baccelli, der als Minister die Zweisprachigkeit in den Schulen des Aostatals wiederherstellte, hob i n einer berühmt gewordenen Rede zugleich die aus der Vereinigung u n d mehr noch aus dem Fortschritt der Nation hervorgegangene Zirkulation v o n Menschen u n d Ideen positiv hervor u n d drückte damit den eigentlichen Sinn der liberalen Politik i n diesem Zusammenhang aus. Zur Ausbreitung des Italienischen u n d zur abnehmenden Verwendung der anderen Sprachen meinte er, daß „Straßen u n d Dampf viel mehr vermögen als Professoren u n d Lehrer", u n d i m Vertrauen darauf erlaubte er für die Grundschulen neben dem Italienisch- auch den Französischunterricht 18 . Bei einem solchen sprachpolitischen Programm u n d bei einer solchen Haltung der Regierung des liberalen Italien blieb für die Forderungen der lokal verwandten Sprachen u n d Idiomen wenig Raum. Gefördert wurde hingegen der Gebrauch des Italienischen, soweit es der damalige schultechnische u n d finanzielle Rahmen erlaubte. Das Italienische allein war als Verkehrssprache der Bürger untereinander i m öffentlichen Leben anerkannt; es sollte eine größere Integration der Bevölkerung bewirken sowie ihre Wachstums- u n d Fortschrittsperspektiven verbessern. Der stark zentralisierte Staat war ein entschiedener Gegner jedes seine Einheit bedrohenden oder negierenden Partikularismus bzw. Regionalismus oder Lokalpatriotismus. A n diesem sprachpolitischen Programm orientierte sich die liberale Führungsschicht konsequent bis zum Ersten Weltkrieg. Bestrittenen Autonomien oder „amputierten Sprachen" weinte sie kaum eine Träne nach, war sich vielmehr der einheitsstiftenden Wirkung der Zentralisierung u n d der einigenden

18 M. Cuaz, Alle frontiere dello Stato: la scuola elementare in Valle d'Aosta dalla restaurazione al fascismo, Milano 1988, S. 69 ff.

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Funktion der Einsprachigkeit in einem Nationalstaat bewußt. Die Probleme der sprachlich-ethnischen Minderheitengruppen erwiesen sich vielleicht auch deshalb v o n geringer Bedeutung, w e i l der weitverbreitete Gebrauch lokaler Dialekte die Minderheitenposition der Nichtitalienisch-Sprachigen weniger deutlich hervortreten ließ u n d fast neutralisierte. In der Tat war das Italienische nur offiziell u n d statistisch die Mehrheitssprache, während die Italiener i n ihren alltäglichen Beziehungen untereinander auf einen der zahlreichen italienischen Dialekte zurückgriffen. Erst der Weltkrieg mit seiner langen Dauer u n d seinen tiefgreifenden Folgen schuf völlig neue Rahmenbedingungen, insofern die gesamte Staatsbevölkerung v o n ihnen betroffen war u n d sich die ethnisch-territorialen Grenzen des Staates verschoben. Nach innen begünstigte der Krieg aufgrund der Bevölkerungsbewegungen, welche die generelle militärische u n d industrielle Mobilisierung hervorrief, eine größere Durchmischung u n d stärkere Integration der verschiedenen Teile des Staatsvolkes. Menschen, die bisher zwar nicht völlig isoliert i m Umfeld ihres Geburtsortes gelebt hatten, aber doch nur geringe Kontakte zu den Bewohnern anderer gesellschaftlicher u n d kultureller Räume besessen hatten, kamen mit diesen n u n weit entfernt v o n ihrem Geburtsort u n d v o n ihrem engen Lebensumfeld in den Streitkräften u n d Industriebetrieben zusammen. Die Verschiebung v o n Millionen Menschen i n die nordöstlichen Landesgebiete, ihre Zuordnung zu Militäreinheiten, deren Komponenten aus den unterschiedlichsten Regionen kamen, das Leben in der Gemeinschaft, die Gemeinsamkeit v o n Bedürfnissen u n d Interessen, Hoffnungen u n d Ängsten bewirkten, w e n n auch zwangsweise, die Integration v o n Menschen, die früher in ihrem engen Lebensumfeld verharrt hatten u n d n u n mit einer sehr viel umfassenderen, differenzierteren gesellschaftlichen Welt konfrontiert wurden. Die lange Trennung v o m Geburts- u n d Heimatort sowie v o n den ihnen i n Mentalität, Gewohnheiten, Sprache u n d Traditionen nahestehenden Personen stellten für manche eine traumatische Erfahrung dar, für andere, vielleicht für die Mehrheit, hingegen - w e n n auch unter den erschwerten Bedingungen u n d Einschränkungen der momentanen Lage die erste wirkliche Gelegenheit der Integration in ein größeres Umfeld u n d der Herausbildung jener Gesamtheit an kollektiven Gefühlen u n d Bindungen, i n denen sich für alle Kriegsteilnehmer das Bewußtsein v o n einem gemeinsamen Schicksal ausdrückte. Gebirgsjäger aus dem Aostatal oder aus der Gegend des Natisone-Flusses, Infanteristen aus den griechisch-albanischen Siedlungen Süditaliens durchlebten zusammen mit anderen Soldaten aus entfernten u n d ebenfalls isolierten Regionen zwangsläufig den v o m Krieg als einem fürchterlichen Gleichmacher hervorgerufenen, bis in die Gefühlswelt hineinreichenden Assimilierungsprozeß. U n d auch jene Männer u n d Frauen, welche die industrielle Mobilisierung in den Kriegsindustrien zusammengezogen hatte, erfuhren an sich einen ähnlichen, w e n n auch nicht identischen Nationalisierungs- u n d Sozialisierungsprozeß, der die für die Seins- u n d Lebensweise der Herkunftsgruppe als konstitutiv erlebten Bindungen notwendigerweise lockerte oder gar zerschnitt.

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Der mit den Annexionen siegreich beendete Krieg veränderte aber auch die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung. Volksgruppen kamen hinzu, die eine völlig andere Nationalität u n d Sprache besaßen. Sie waren überhaupt nicht an ein Zusammenleben mit den Italienern eines Staates gewohnt, w o das Minderheitenproblem völlig fremd war. Während aber der durch den Kriegserfolg gestärkte liberale Staat das Problem des Zusammenlebens mit den Deutschen in Südtirol an der Nordgrenze u n d mit den Slowenen u n d Kroaten i n JulischVenetien an der Ostgrenze zu lösen versuchte, indem er ihnen gewisse Autonomien i m administrativen u n d sprachlichen Bereich gewährte (wie sich an den Maßnahmen der militärischen Vertreter u n d Zivilbeamten zeigt, denen die Verwaltung der neuen Provinzen zunächst übertragen worden war) 1 9 , führte das faschistische Regime tragischerweise eine Zwangsitalianisierung unter zentralistischem u n d nivellierendem Vorzeichen durch, indem es die ursprünglichen Grundmerkmale der Volksgruppen zu „entnationalisieren" versuchte. Die Furcht, daß die Anziehungskraft Österreichs u n d Deutschlands Anziehungskraft i n Südtirol eine Irredenta-Bewegung separatistischer Zielrichtung hervorrufen würde, u n d daß die Slowenen u n d Kroaten, die jenseits des Isonzo u n d in Istrien lebten, i m neuen Jugoslawien einen früher nicht vorhandenen politischen Bezugspunkt für ihre eigenen nationalen Forderungen fänden, veranlaßte den Faschismus zu einer repressiven Politik gegenüber diesen Minderheiten. Grobe Fehler i m Auftreten schufen jedoch schwerwiegende Probleme des nationalen Zusammenlebens in den annektierten Provinzen u n d begünstigten jene separatistischen Bestrebungen, die nach der italienischen Niederlage i m Zweiten Weltkrieg hervorbrachen. Aber das ist eine andere Geschichte.

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Vgl. zur Politik des liberalen Staates in den annektierten Gebieten E. Capuzzo, Dal nesso asburgico alla sovranità italiana: legislazione e amministrazione a Trento e a Trieste (1918-1928), Milano 1992.

Die Stellung der Minderheiten i m italienischen Staatsrecht v o n der Krise des liberalen Staates bis zur Gründung der Republik Von Ester Capuzzo

Wer die auf Schutzmaßnahmen gegründete u n d v o n entsprechenden Bestimmungen abgedeckte Stellung der sprachlich-ethnischen Minderheiten in der italienischen Rechtsordnung 1 verstehen will, muß über das Verfassungsgebot u n d die dazugehörigen Ausführungsgesetze hinausgehen u n d bedenken, daß diese heute i m Vergleich zur Vergangenheit recht günstigen Bedingungen aus einer langen, intensiven historisch-politischen Erfahrung hervorgegangen sind 2 . I m vereinigten Italien wurden die sprachlichen Minderheiten, deren zahlenmäßiges Gewicht i m übrigen nicht sehr groß war 3 , bis 1918 nahezu ignoriert, 1 Aus der umfangreichen Literatur zum Thema vgl. die Arbeiten allgemeiner Natur A. Pizzorusso, Le minoranze nel diritto pubblico interno, 2 Bde., Milano 1967; E. Costa , Le minoranze nel diritto costituzionale italiano, Sassari 1968; A. Pizzorusso , Il pluralismo linguistico tra Stato nazionale ed autonomie regionali, Pisa 1975; ders., Minoranze etnicolinguistiche, in: Enciclopedia del Diritto, 26, Milano 1976, S. 527 ff.; ders., Problemi giuridici delle lingue in Italia (con particolare riferimento alla situazione delle minoranze linguistiche non riconosciute), in: Le Regioni, 5 (1977), S. 1030-1039; ders., La tutela delle minoranze linguistiche nell'ordinamento giuridico italiano, in: S. Meghnagi (Hrsg.), Lingua, cultura, educazione, Roma 1982, S. 179 ff.; P. Carozza, Lingue (uso delle), in: Novissimo Digesto Italiano. Appendice, 4, Torino 1983, S. 976 ff.; S. Battole, Minoranze nazionali, in: Novissimo Digesto Italiano. Appendice, 5, Torino 1984, S. 44 ff.; G. Vedovato, In tema di minoranze linguistiche, Firenze 1986; M. Stipo, Minoranze etnico-linguistiche, I, in: Enciclopedia Giuridica, 20, Roma 1990. 2 Vgl. u.a. M. Orlando, I rapporti tra italiani e slavi, in: Nuovi Studi Politici, 8 (1978), 1, S. 91-106; V. Peri, Two Ethnic Groups in the Modem Italian State. 1860-1945, in: Comparative Studies on Governments and non Dominant Ethnic Groups in Europe. 1850-1940, 2: Religion, State and Ethnic Groups, edited by D.A. Kerr in collaboration with M. Breuer, S. Gilley and E.C. Suttner, Dartmouth 1990, S. 139-179, insbesondere bezüglich der Slawen in der Provinz Udine und bezüglich der Albaner. Eine Beschreibung und Analyse der sprachlichen Minderheiten in Italien vgl. in S. Salvi, Le minoranze linguistiche in Italia, in: U. Bernardi, Le mille culture. Comunità locali e partecipazione politica, Roma 1976, S. 138 ff.; B. De Marchi (Hrsg.), Boundaries and Minorities in Western Europe, Milano 1982; A. Melucci / M. Diani , Nazioni senza Stato. I movimenti etnico-nazionali in Occidente, Torino 1983; M. Olmi, Italiani dimezzati. Le minoranze linguistiche assediate, Torino 1988; M. Tessarolo, Minoranze linguistiche e immagine della lingua. Una ricerca sulla realtà italiana, Milano 1991. 3 Die Volkszählung von 1861 ergab folgende Zahlen: 42.113 Albaner, 7.036 Katalanen, 20.268 Griechen, 3-649 Deutsche. Nicht erfaßt wurden die Franzosen aus dem

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während die Existenz der nationalen Minderheiten mit der nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erfolgten Annexion v o n früheren österreichischen Territorien aufgrund ihrer weitreichenden politischen u n d kulturellen Implikationen eine umfassende Bedeutung erlangte 4 . Tatsächlich hatte der italienische Sieg die traditionelle Zusammensetzung der Bevölkerung verändert. Entlang der neuen Grenzen, die anderssprachige Minderheiten einschlossen, d.h. in den Grenzgebieten u n d i n den sich unmittelbar anschließenden Territorien kam es zu beträchtlichen Bevölkerungsbewegungen, insofern das nichtitalienische Personal der früheren Österreich-ungarischen Monarchie freiwillig das Land verließ oder der unmittelbar nach der militärischen Besetzung erfolgten politischen Säuberung z u m Opfer fiel. Die Möglichkeit der Option, die die Friedensverträge in Fragen der Staatsbürgerschaft vorsahen, trug ebenfalls zu dieser Entwicklung bei 5 . Aostatal, die Sarden, die Okzitanier, die Kroaten im Molise und die Frankoprovenzalen in Apulien. Mit der Volkszählung von 1901 wurden die Familien und nicht mehr die Einzelpersonen erfaßt: 21.554 albanische Familien, 2.055 katalanische Familien, 1.047 kroatische Familien, 18.958 „französische" Familien, 7.362 griechische Familien, 5 734 slowenische Familien, 2.272 deutsche Familien. Die nach denselben Kriterien durchgeführte Volkszählung von 1911 ergab ungefähr dieselben Daten: 19.091 albanische Familien, 2.552 katalanische Familien, 1.069 kroatische Familien, 19.646 „französische" Familien, 6.905 griechische Familien, 6.250 slowenische Familien, 2.201 deutsche Familien. Vgl. dazu S. Salvi, Le lingue tagliate. Storia delle minoranze linguistiche in Italia, Milano 1975, S. 69-71. 4 Über die Probleme der verschiedenen damals in den italienischen Staat einbezogenen Minderheiten vgl. u.a. C. Errera, Italiani e Slavi nella Venezia Giulia, Roma / Novara / Milano 1919; C. Muratti, Cenni sugli alloglotti delle provincie orientali di confine, Rom 1928; M. Toscano, Le minoranze di razza, di lingua e di religione nel diritto internazionale, Torino 1931; L. Cermelj, Life and Death Struggle of a National Minority, Ljubljana 1936; O.E. Marzadro, Alloglotti, in: Nuovo Digesto Italiano, I, Torino 1937, S. 352-353; C. Schiffrer ; Sguardo storico sui rapporti tra italiani e slavi nella Venezia Giulia, Trieste 1946; P. Fiorelli, I diritti linguistici delle minoranze, in: Archivio per l'Alto Adige, 42 (1948), S. 392-432; G. Chiarelli, La tutela delle minoranze nazionali, ebd., 43 (1949), S. 249-292; A. Marazzi, L'autonomia dell'Alto Adige e la sua rilevanza internazionale, in: Rassegna di Diritto Pubblico, 13 (1958), S. 90 ff.; P. Alatri, La questione storica dell'Alto Adige, Einleitung zu E. Vallini, La questione dell'Alto Adige, Firenze 1961, S. 67-72; A. Tamborra, L'idea di nazionalità e la guerra 1914-1918, in: Atti del XLI Congresso di Storia del Risorgimento Italiano, Trento 9-13 ottobre 1963, Trento 1963, S. 1-115; E. Sestan, Venezia Giulia. Lineamenti di storia etnica e culturale, Einleitung von C. Violante, 2. Aufl., Roma 1965, S. 104-113; M. Kacin-Wohn, Primorski slovenci pod italiansko Zased bo 1918-1922, Ljubljana 1972; E. Apih, Minoranza e storia nella Venezia Giulia, in: Bollettino dell'Istituto Regionale per la Storia del Movimento di Liberazione nel Friuli-Venezia Giulia, II (1974), 2, S. 9-12; U. Corsini, Storia dei rapporti tra la comunità trentina e la comunità altoatesina, in: Mondo Ladino, 114 (1977), S. 65-99; A. Ara, Fra Austria e Italia. Dalle cinque giornate alla questione altoatesina, Udine 1987. 5 Schutzcharakter hatten die Bestimmungen zur Staatsbürgerschaft in den Artikeln 64 und 65 des Vertrages von Saint-Germain. Über die Voraussetzungen und Modalitäten zum Erwerb der italienischen Staatsbürgerschaft durch Option, Wahl oder Verleihung nach den im Königreich geltenden Bestimmungen vgl. C.G. Buzzati, Sull'acquisto della cittadinanza per annessione territoriale, in: Rivista di Diritto civile, 10 (1918), S. 472-480; G. Semeraro , La cittadinanza italiana nelle Nuove Provincie, in: Rivista di Diritto Pubblico, XIII (1912), S. 403 ff. ; F. Degni, Della cittadinanza. Appendice: Istruzione ministeriale sulla naturalizzazione per decreto regio, sulla cittadinanza in Tripolitania e su modifiche

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Die Eingliederung der deutschsprachigen Südtiroler u n d der kroatisch- oder slowenischsprachigen Slawen 6 in den italienischen nationalen Verband führte sowohl auf sprachlich-ethnischer Ebene, vor allem aber auf politischer Ebene zu schwerwiegenden Problemen, denn diese Volksgruppen, die der Annexion ablehnend gegenüberstanden, betrachteten nicht Italien, sondern einen anderen Staat als ihr Vaterland. Diese Probleme belasten noch heute die politische Realität Italiens. Sie w u r d e n durch die offensichtliche Unerfahrenheit der politischen Führungsklasse mitverursacht, denn der italienische Staat war bis zu jenem Zeitpunkt in nationaler Hinsicht beinahe völlig homogen: Die Minderheiten stellten in i h m nur eine statistische Größe dar, u n d auch Gruppen v o n einem gewissen Umfang w i e z.B. die Albaner in Süditalien besaßen kein Gewicht i m öffentlichen Leben 7 . Die Frage der fremdsprachigen Gruppen wurde auf der Grundlage v o n Entscheidungen der eigenen Verfassungsorgane geregelt, da Italien aufgrund seiner besonderen Stellung als Großmacht der Pflicht zur A n w e n d u n g des „internationalen Minderheitenrechts" enthoben war 8 . Obgleich man i m Verlauf des rechtlichen Vereinheitlichungsprozesses in den sogenannten „neuen Provinzen" lokale Bräuche und Gewohnheiten, Sondertraditionen u n d Althergebrachtes zu wahren suchte, wurden keine Ausnahmeregelungen getroffen, die überdies mit der Einheitlichkeit der italienischen Staatsordnung unvereinbar gewesen wären. Das politische Selbstverständnis des italienischen Königreiches ruhte auf der Gleichsetzung v o n Staat u n d Nation u n d hatte die auf italienischem Staatsgebiet lebenden kleinen Minderheitengruppen v o n Anfang an w i e die übrigen Staatsbürger behandelt, die amtliche Verwendung anderer Muttersprachen also nicht

ai registri di cittadinanza e norme relative al Trattato di San Germano, Torino 1921; A. Fabbri , Effetti giuridici delle annessioni territoriali con particolare riguardo alle annessioni di Fiume e della Dalmazia nei rapporti italo-jugoslavi, Padova 1931; M. Udina , Sull'acquisto della cittadinanza italiana di pieno diritto in base al Trattato di St. Germain, in: Rivista di Diritto Internazionale, 24 (1932), S. 102 ff.; A. Vacca (Hrsg.), Le leggi sulla cittadinanza italiana con speciale riguardo ai Trattati di Pace con le disposizioni ministeriali e i richiami amministrativi, o.O. 1936; F. Degni , Cittadinanza, in: Nuovo Digesto Italiano, III, Torino 1938, S. 189 ff.; S. Gatteschi , Commentario delle leggi sulla cittadinanza, präsentiert von E. Guicciardi, Brescia 1958, S. 98 ff. Vgl. auch E. Capuzzo, Dal nesso asburgico alla sovranità italiana: legislazione e amministrazione a Trento e a Trieste (1918-1928), Milano 1992, S. 154-159. 6 Nach der Volkszählung von 1921 gab es in Italien 208.179 Deutsche, von denen ungefähr 190.000 in Südtirol lebten, 292.876 Slowenen vor allem im nördlichen Teil Julisch-Venetiens, 96.343 Serbokroaten im östlichen Istrien und in Dalmatien. 7 Die meisten Arbeiten über die Albaner haben einen ethnographisch-anthropologischen Charakter; vgl. neben V Peri, Two Ethnic Groups in the Modern Italian State, 1860-1940, u.a. G. Cafiero, Considerazioni antropologiche sugli albanesi d'Italia, in: Rivista di Etnografia, 25 (1971), S. 1-25 (Sonderdruck); M. Olmi, Italia insolita e sconosciuta: curiosità, storia, tradizioni della realtà meno nota del nostro paese e dei gruppi che da secoli vi hanno conservato un'identità diversa, Roma 1991; A. Rognoni / M. Arcioni, Altre Italie: tradizioni e costumi delle minoranze etniche italiane, Milano 1991. 8

A. Pizzorusso, Minoranze etnico-linguistiche, S. 542.

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erlaubt 9 ; deshalb handelte es sich für den italienischen Staat u m völlig neuartige Probleme, die sich aus dem Zusammenstoß mit ganz anders gearteten institutionellen, rechtlichen u n d sprachlichen Zusammenhängen ergaben 10 . Die Regierung, der Generalstab, die provisorischen Militärverwaltungen u n d später die lokale Zivilverwaltung waren sich dieser Besonderheiten bewußt u n d achteten i n fast allen Fällen die ethnischen Merkmale u n d örtlichen Traditionen der fremdstämmigen Minderheiten; man sah in dieser Politik das geeigneteste Mittel, u m sie i n den neuen Staat einzugliedern 1 1 . Verständnis für die Anliegen der deutschsprachigen Südtiroler, der Slowenen u n d der Kroaten hatten die Proklamationen gezeigt, die die Gouverneure v o n Trient u n d Triest bei ihrem kurz nach dem Waffenstillstand erfolgten Amtsantritt in den beiden früheren österreichischen Städten erlassen hatten 1 2 u n d mit denen versucht wurde, auch auf sprachlicher Ebene ein verträgliches Zusammenleben der verschiedenen Volksgruppen herbeizuführen. I n der unmittelbaren Nachkriegszeit erlangte die Sprachenfrage in der Tat eine tiefgreifende politische Bedeutung. Sie verband sich engstens mit den Forderungen nach einer Gesetzgebungs- u n d Verwaltungsautonomie, für die die gemischtsprachigen Bevölkerungen i m Tridentinischen Venetien u n d i n JulischVenetien eintraten. Ebenso Schloß sich auch die französischsprachige Minderheit i m Aostatal zur Verteidigung ihrer Muttersprache zusammen u n d trat dafür ein, daß „aux populations de race et de langue française enclavées dans l'Etat" dieselben Sprach- u n d Verwaltungsrechte eingeräumt würden, welche der Bevölkerung italienischer Nationalität u n d Sprache zustanden 13 . Selbstverständlich handelte es sich dabei u m völlig verschiedene Zusammenhänge. Auf der einen Seite hatte man mit deutschen, slowenischen u n d kroa9 Vgl. dazu C. Ghisalberti, Storia costituzionale d'Italia 1865/1942, Roma / Bari 1985, S. 2l6. Über die sprachlichen Rechte in der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie vgl. W. Schliessleder, Die Rechte der Nationalitäten in Österreich und Ungarn 1848-1918, Salzburg 1974, S. 205 f.; A. von Egon, L'uso delle lingue nazionali presso i tribunali nell'Impero asburgico e in particolare della lingua italiana nel Tirolo e nell'Impero, in: Studi Trentini di Scienze Storiche, 57 (1978), S. 467-474; G. Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs, Wien 1985. 10 Über die sprachlich-ethnischen Minderheiten in der Donaumonarchie vgl. U. Corsini , Le minoranze italiane nell'impero austro-ungarico, in: U. Corsini/E. Morelli { Hrsg.), Da Caporetto a Vittorio Veneto, Trento 1970, S. 143-257. 11 Vgl. dazu P. Ziller ; Franceso Luigi Ferrari, il nazionalismo e la grande guerra, in: G. Campanini (Hrsg.), Atti del convegno nazionale di studi su Francesco Luigi Ferrari a cinquant'anni dalla morte, Modena 27-28 maggio 1983, Roma 1983, S. 403-407. 12 Zur Proklamation von Pecori-Giraldi siehe Β. Rizzi , La Venezia Tridentina nel periodo armistiziale. Relazione del primo Governatore (1919) ampliata di note e di allegati, Anhang I, Trento 1963, S. 102 f.; die Proklamation von Petitti di Roreto vgl. in S.F. Romano (Hrsg.), Trieste, ottobre-novembre 1918. Raccolta di documenti del tempo, II, Milano 1968, Dok. 159. 13

M. Cuaz, Alle frontiere dello Stato. La scuola elementare in Valle d'Aosta dalla restaurazione al fascismo, Milano 1988, S. 129.

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tischen Volksgruppen zu tun, welche sich in eine staatliche Ordnung eingegliedert sahen, die ihrer Nationalität nicht entsprach; sie empfanden sich auch deshalb nicht als ,erlöst', w e i l sie bis zu diesem Zeitpunkt in einem multinationalen, ihre sprachlichen Rechte weitestgehend anerkennenden Staat gelebt hatten u n d w e i l die Verteidigung ihrer Sprache für sie fest mit jahrhundertealten Erfahrungen v o n Autonomie i m Kaiserreich verknüpft war. Auf der anderen Seite waren die Valdostaner, denen die politische Zugehörigkeit zu Italien demgegenüber nicht i n Frage stand, aber für ihre frankophone Identität war die Anerkennung ihrer Umgangssprache u n d ihrer kulturellen Charaktereigenschaften nicht weniger fruchtbar u n d wichtig 1 4 . Von Nitti bis Giolitti versuchten die italienischen Regierungen das Minderheitenproblem zu lösen, indem sie den neuen Provinzen eine gewisse Verwaltungs- u n d Gesetzgebungsautonomie gewährten; als Modell standen in diesem Zusammenhang die früheren österreichischen Provinziallandtage, die als Repräsentativorgane i m neuen politisch-institutionellen Rahmen sowohl eine direkte Beteiligung der Bürger an der Lokalverwaltung als auch einen besseren Schutz der neuen in den Staat eingegliederten Minderheiten sicherstellen sollten. Grundsätzlich blieb die A n w e n d u n g der jeweiligen Sprachen i n den Ämtern, den Schulen u n d Gerichten während des Waffenstillstands erlaubt, w o b e i das Italienische als offizielle Sprache allerdings eine Vorrangstellung erhielt 1 5 . Man ging bei seiner Einführung schrittweise vor, u m eine abrupte Beeinträchtigung der Interessen der neuen Staatsbürger zu vermeiden. Vor allem aber stellte das Schulwesen das Feld dar, auf dem man normativ u n d praktisch den Minderheitenschutz mit den damals i m Land geltenden pädagogischen u n d didaktischen Kriterien in Einklang bringen wollte 1 6 . Die italienischen Behörden verpflichteten sich seit Kriegsanfang u n d später während des Waffenstillstands, das i n den neuen Provinzen bestehende Schulsystem zu erhalten, versuchten aber gleichzeitig, das weitere Vordringen der italienischen Sprache u n d Kultur in den v o n Minderheitengruppen bewohnten Gebieten zu fördern 1 7 . So w u r d e n vor allem in den gemischtsprachigen Gebieten u n d i n den 14 Über die französische Minderheit im Aostatal während des Faschismus vgl. u.a. W. Adler; La politica del fascismo in Valle d'Aosta, in: Bollettino storico-bibliografico subalpino, 78 (1980), S. 223-275. 15

Tatsächlich wurde der Gebrauch des Italienischen bei den öffentlichen Behörden bereits in der unmittelbaren Nachkriegszeit eingeführt. Vgl. die Proklamation von Pecori Giraldi an die Südtiroler Bevölkerung in: B. Rizzi , Relazione al primo governatore, S. 103. Zwar durften die Gerichte und Verwaltungsbehörden danach auch deutsch verfaßte Aussagen und Dokumente entgegennehmen, zugleich jedoch wurde die italienische Sprache alleinige Amtssprache. Auf lokaler Ebene riefen die Bestimmungen der Regierungsproklamation heftigen Widerstand hervor, so beispielsweise bei Ettore Tolomei. Vgl. von ihm „Manifesto base", in: Archivio per l'Alto Adige, 13 (1918), S. 420-427. 16 U. Corsini , Die Zeit der Militärregierung und des zivilen Generalkommissariats: November 1918 bis Oktober 1922, in: U. Corsini / R. Lill, Südtirol 1918-1946, Bozen 1988, S. 72. 17 Zur Lage der Schulen in der Kriegszeit vgl. La scuola e la guerra. L'opera dell'esercito italiano nei territori rivendicati, hrsg. vom Segretario Generale per gli Affari Civili

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bis zu diesem Zeitpunkt ausschließlich deutschsprachigen Teilen, in denen sich eine größere Zahl v o n Italienern niederließ, aber auch in den größeren Gemeinden Südtirols mit einer bedeutenden italienischen bzw. ladinischen Minderheit (die ladinische Gruppe hatte einen Entnationalisierungsprozeß auf der Wende v o m 19. zum 20. Jahrhundert erfahren u n d wurde v o n der deutschen Gruppe weitgehend assimiliert) neben den deutschen Einrichtungen oder an ihrer Stelle italienische Schulen gegründet. Große Aufmerksamkeit erregten Fälle w i e Laag bei Salurn i m Unterland, w o Kinder v o n Familien, die sich selbst als Deutsche bezeichneten, nur Italienisch sprachen. Dementsprechend kam es i m südlichen Teil Südtirols u n d den ladinischen Tälern häufig dazu, daß deutsche Schulen durch italienische ersetzt wurden. Zuweilen wurden auch Schulen mit deutscher Unterrichtssprache wieder eingerichtet (so in den Gemeinden Truden u n d Altrei mit überwiegend deutscher Bevölkerung) 1 8 . Derselbe Widerstand, auf den die Erlassung derartiger Maßnahmen stieß, zeigte sich später auch gegenüber dem umstrittenen Gesetzesdekret Corbino. Es zielte darauf, den Italienern in den Südtiroler u n d ladinischen Gebieten ihren „sprachlich-nationalen" Ursprung zurückzugewinnen u n d setzte fest, daß schulpflichtige Kinder in den Schulen einzuschreiben waren, in denen i n der Sprache der Herkunftsfamilien unterrichtet wurde. Viele sahen darin eine Beeinträchtigung der elterlichen Gewalt, über die Schul- u n d Erziehungsart für ihre Kinder frei entscheiden zu können, u n d die vorgesehenen Kriterien, mit denen die nationale Zugehörigkeit festgestellt werden sollte, hielt man auf lokaler Ebene für einen ersten Schritt zur Veränderung der ethnischen Zusammensetzung der Region 1 9 . presso il Comando Supremo, Milano o.J. [1917], und G. Ferretti , La scuola nelle terre redente. Relazione a S.E. il Ministro (giugno 1915-novembre 1921), Firenze 1923, S. 3460. Einige Monate nach dem Waffenstillstand modifizierte das Oberkommando mit dem Rundschreiben vom 12. Januar 1919 unter Beibehaltung der österreichischen Schulgesetzgebung die Grundschulprogramme vor allem in Bezug auf italienische Geschichte und Geographie, während in den Schulen mit einer anderen Unterrichtssprache Italienisch als zweite Vehikularsprache eingeführt wurde; vgl. ebd. S. 90 f. 18

U. Corsini , Die Zeit der Militärregierung und des zivilen Generalkommissariats,

S. 72. 19 Vgl. das Gesetzesdekret RDL vom 28. August 1921, Nr. 1627, zur Einrichtung von italienischen Grundschulen in gemischtsprachigen Gebieten. Schon diese Bezeichnung, die in der Tat nicht ganz korrekt war, wurde so ausgelegt, als ob sie ein Vorzeichen der Entnationalisierungsmaßnahmen, die der Faschismus bald darauf gegenüber den Deutschen und Slawen durchführen sollte, gewesen sei. Insbesondere zur Schulpolitik des zivilen Generalkommissars Luigi Credaro im Tridentinischen Venetien, die auf dem risorgimentalen Prinzip der „an der Sprache gebundenen Nationalität" und „an Familie und Schule gebundenen Sprache" ruhte und die bezüglich des Grundschulunterrichts von der Notwendigkeit ausging, die Kinder in der Muttersprache zu unterrichten, vgl. U. Corsini , L'opera del Commissario Generale Civile per la Venezia Tridentina, in: P. Guarnieri (Hrsg.), Luigi Credaro nella scuola e nella storia. Atti del Convegno internazionale, Sondrio 15-16 settembre 1979, Sondrio 1986, S. 96-102; A. Ara , Scuola e minoranze nazionali in Italia 1860-1940, in: Studi Trentini di Scienze Storiche, 69 (1990), 1. Sektion, S. 470 f. Eine Maßnahme von Credaro betreffend die Einführung der italienischen Sprache in den Volksschulen des Grödner Tals und des Gadertals mit überwiegend ladinischer Bevölke-

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I n Julisch-Venetien, w o auch aufgrund der schwierigen Beziehungen zum neu entstandenen Königreich der Serben, der Kroaten u n d der Slowenen eine komplexere politische Situation bestand, zielten die italienischen Behörden auf einen Abbau der öffentlichen slowenischen u n d kroatischen Schulen. Die Zahl der Bildungsanstalten in den größeren städtischen Zentren der Region (Triest, Görz, Pula), in den vorwiegend italienischsprachigen istrischen Küstenorten sowie in den gemischtsprachigen Orten Zentralistriens wurde ziemlich reduziert, während man die v o n der Gesellschaft „Kyrill u n d Method" finanzierten Privatschulen ganz auflöste 20 . Neben einem Umbau des Schul- u n d Erziehungswesens für die slawischen Minderheiten in Julisch-Venetien, der nicht immer gelassen vonstatten ging u n d nicht immer die Minderheitenrechte achtete, ergriff der liberale Staat - dies sei hervorgehoben - auch solche Maßnahmen, die weniger bedeutsamen u n d zahlenmäßig kleineren Minderheiten w i e den Albanern in Dalmatien u n d den Rumänen in Istrien einen größeren Schutz gewährten 2 1 . Nach dem neuen Schulgesetz, das auch in den neuen Regionen eingeführt wurde, durften die Deutschen Südtirols den größten Teil der Grundschulen u n d der v o n dem italienischen Schulsystem vorgesehenen weiterführenden Schulen beibehalten. Es entsprach vollständig dem Tenor v o n Benedetto Croces Gesetzesentwurf über den Gebrauch der Muttersprache in den französischsprachigen Alpentälern, den die Regierung i m März 1921 annahm, der aber aufgrund der i m selben Monat erfolgten Auflösung des Parlaments verfiel (den Französischunterricht hatte das Gesetz Daneo-Credaro nur als „zusätzliche Stunden" zum regulären Stundenplan vorgesehen). Croces Entwurf, der v o n einem grundsätzlichen Sprachliberalismus geprägt war, sah vor, daß die Lehrer an den Grundschulen i m Aostatal ein Staatsexamen ablegen u n d über gute Französischkenntnisse verfügen sollten; i m Aostatal, i m Susatal u n d i n der Gegend v o n Pinerolo verbreitete er für kurze Zeit Optimismus, hatte doch ein Dekret v o m Juli 1919 den Fortbestand der Dorfschulen aus Wirtschaftlichkeits- u n d Funktionalitätsgründen in Frage gestellt, obgleich sie trotz all ihrer Mängel vor allem in den Bergzonen sehr zur Verminderung des Analphabetismus beigetragen hatten 2 2 . rung einzuführen, wurde 1921 von den Gemeinden St. Ulrich, St. Christina, Wolkenstein und Corvara angefochten, und sie legten bei der 6. Sektion des Staatsrates, zuständig für die angegliederten Gebiete, Berufung ein; vgl. E. Capuzzo, Dal nesso asburgico alla sovranità italiana, S. 99-100, Nr. 131. Zu den Reaktionen in Julisch-Venetien bezüglich des Gesetzesdekretes vgl. E. Apih, Italia, fascismo, antifascismo nella Venezia Giulia (1918-1943), Bari 1966, S. 150. 20

A. Ara , Scuola e minoranze nazionali in Italia 1860-1940, S. 468 f.

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So wurde die Einrichtung einer italo-albanischen Schule in Borgo Erizzo in der Nähe von Zara beschlossen, die jedoch den Betrieb nie aufnahm, weil es an muttersprachlichen Lehrern oder an Lehrern mit Kenntnissen der albanischen Sprache fehlte; für eine gewisse Zeit gab es ferner eine italo-rumänische Schule in Frascati im Bezirk Pisino. Um den Lehrermangel in diesen Gebieten zu beheben, schlug G. Ferretti in: La scuola nelle terre redente, 103, Anm. 2, vor, in den Ausschreibungen der Wettbewerbe für die Stellen in den neuen Provinzen als unerläßliche Bedingung oder als bevorzugte Qualifikation die Kenntnis der albanischen Sprache anzugeben. 22 Dieses Gesetzesdekret vom 6. Juli 1919, Nr. 1239, hatte tiefgreifende Befürchtungen hervorgerufen. Es stellte den Fortbestand der alten, bisher von pädagogischem

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Für den liberalen Staat löste sich das Problem der zahlenmäßig oder aufgrund ihres politischen Gewichtes bedeutsameren sprachlich-ethnischen Minderheiten d.h. abgesehen v o n den heute so genannten „Sprachinseln" - durch einen langsamen Assimilierungsprozeß, der sich unter Wahrung der Legalität in Formen vollzog, die den Zusammenhalt zwischen den Minderheiten u n d dem Nationalstaat stärkten. A u f der anderen Seite fehlte es nicht an vereinzelten Stimmen, die den muttersprachlichen Unterricht für Kinder aus den verschiedenen in Italien lebenden Minderheitengruppen befürworteten 2 3 ; davon hätten auch die oft vernachlässigten „Sprachinseln" profitiert, u n d der Polemik in den neuen Provinzen über die Sprachenfrage wäre vielleicht die Schärfe genommen w o r d e n 2 4 . Nachdem 1923 mit der Einrichtung der Provinzen Triest, Pula u n d Udine, w o die Slawen jeweils eine Minderheit darstellten, u n d der Provinz Trient, der die Südtiroler zugeordnet w u r d e n , jede H o f f n u n g auf die G e w ä h r u n g einer Gesetzgebungs- u n d Verwaltungsautonomie geschmolzen war, verringerten sich für die Minderheitsgruppen nach u n d nach auch die Möglichkeiten einer sprachlichen Autonomie. Die Abschaffung der französischen Sprache in den Grundschulen des Aostatals war die Folge eines Konfliktes zwischen Frankreich u n d Italien, der begann, als die Franzosen die Zugeständnisse für die in Tunis lebenden Italiener widerriefen (Übertragung der italienischen Staatsbürgerschaft auf die i m afrikanischen Protektorat geborenen Kinder u n d Unterhalt italienischer Schulen) sowie auf Korsika u n d i n Nizza eine Entnationalisierungspolitik einsetzte (Verbot des Italienischunterrichts an Grundschulen). Hier liegen auch die ersten Anfänge jener Verknüpfung v o n Außenpolitik u n d Behandlung der nationalen Minderheiten, die später eine Konstante der faschistischen Politik werden sollte. Für Südtirol und Julisch-Venetien hingegen sollte der endgültige Verlust der Sprachautonomie zu einer fortschreitenden Assimilierung ihrer Bevölkerung führen, i m Sinne eines sich mit dem „Regierungsinteresse" identifizierenden Nationalismus. Ergebnis dieser Entwicklung war die 1923 v o n Giovanni Gentile eingeleitete Reform der italienischen Grundschule, die Italienisch als Unterrichtssprache in allen Schulen des Königreiches festlegte. Allerdings enthielt sie einen eigentümlichen Widerspruch, infolge dessen die Sprachen der größeren Minderheitengruppen unter dem Mantel lokaler Sprachgebräuche zumindest für kurze Zeit Hilfspersonal geführten Dorfschulen in Frage, denn es verlangte von den Lehrern Staatsexamen und ordnete sie in dieselbe Gehaltsstufe wie die Volksschullehrer an den öffentlichen Schulen ein, so daß sich Lehrer aus allen italienischen Regionen auch ohne Französischkenntnisse um eine Stelle an den écoles de village bewerben konnten; vgl. dazu W. Adler, La politica del fascismo in Valle d'Aosta, S. 239. Um die Wende 1923/1924 wurden viele Schulen in subventionierte Schulen umgewandelt, d.h. aus ihnen wurden Privatschulen, die aber von der Provinz anerkannt wurden und staatliche Unterstützungsleistungen erhielten. Im Oktober 1938 gingen die subventionierten Schulen, die sogenannten „Landschulen", von den autonomen Behörden in staatliche Hände über. Vgl. dazu M. Cuaz, Alle frontiere dello Stato, S. 118-139. 23

G. Ferretti , La scuola nelle terre redente, S. 102 f.

24

A. Ara , Scuola e minoranze nazionali, S. 471.

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zu überleben vermochten 2 5 . Einerseits sollte mit der Reform mittels der fortschreitenden Abschaffung der Schulen fremdstämmiger Minderheiten eine staatliche Einheitsschule geschaffen werden, in der Italienisch die einzige Unterrichtssprache war. Andererseits schuf sie Freiräume für das Erlernen v o n Dialekten u n d lokalen Traditionen, denn der gebürtige Sizilianer Gentile lehnte auf der Grundlage der v o n i h m vertretenen Prinzipien der neoidealistischen Philosophie einen „mechanischen" Unterricht ab, war vielmehr darauf bedacht, die Erziehung der Kinder auch durch einen zumindest verdeckten sprachlichen Liberalismus zu vervollkommnen 2 6 . Einer der eigentümlichen Züge der v o m Minister Gentile durchgeführten Reform, die pädagogischen Orientierungen folgte, für welche das Schulwissen mit der dem Kind vertrauten Welt in Einklang zu bringen war, d.h. mit den lokalen Lebensweisen u n d Traditionen, bestand darin, daß sie versuchte die deutsche, slowenische u n d kroatische Sprache in den Grundschulen der neuen Provinzen zu retten, indem sie nach dem Muster der auf das Aostatal bezogenen Bestimmungen des Gesetzes Daneo-Credaro ihren Unterricht i n zusätzlichen Schulstunden ermöglichte. Damit ergab sich auch für das Aostatal die Gelegenheit, den Französischunterricht wiederaufzunehmen, der in den Monaten zuvor v o n Mussolini abgeschafft worden war. Für Mussolini erschöpfte sich im letztgenannten Fall der Assimilierungsprozeß der fremdsprachigen Minderheit faktisch in der Herausbildung einer „Aosta italianissima", d.h. eines durch u n d durch italienischen Aostatals, das dem Irredentismus der Südtiroler, Slowenen und Kroaten gegenübergestellt und wegen seiner Loyalität zum Staat bevorzugt behandelt werden sollte. Das bewahrte es aber nicht davor, i m sprachlichen Bereich denselben Einschränkungen zu unterliegen, denen die Südtiroler u n d Slawen unterworfen wurden 2 7 . Mit der autoritären Wende v o n 1925 verschlechterte sich die schon recht bedenkliche Lage der Minderheitengruppen noch weiter. Neue, vielfach an Ettore Tolomeis nationalistischen Vorstellungen orientierte Maßnahmen wurden ergriffen, die den Prozeß der Zwangsassimilierung beschleunigen sollten. So wurde zum Beispiel beschlossen, daß für die Ausstellung amtlicher Dokumente, für die Ortsbezeichnungen sowie für den Bildungs- u n d Ausbildungsbereich allein das Italienische gelten sollte, die Nachnamen u n d Adelsprädikate der Minderheitenangehörigen italianisiert werden sollten 2 8 . Die effektive Durchsetzung dieser 25

Das Dekret vom 1. Oktober 1923, Nr. 2185, bestimmte, daß mit dem Schuljahr 1923/24 Italienisch in der ersten Grundschulklasse die einzige Unterrichtssprache sein sollte. Die Kinder, die in ihrer Muttersprache schon begonnen hatten, brauchten sich nicht umzustellen. Die neue Unterrichtssprache sollten die Kinder in zusätzlichen Stunden außerhalb des regulären Stundenplans erlernen. Über die Auswirkungen der GentileReform auf das Schulsystem der sprachlich-ethnischen Minderheiten vgl. u.a. M. Cuaz, Alle frontiere dello Stato, S. 108 ff. 26

W. Adler ; La politica del fascismo in Valle dAosta, S. 244.

27

Ebd., S. 273 f.

28 Zu Ettore Tolomei und seinem berühmten Programm von 1923, das den Südtirolern jegliche Wurzel und nationale Eigenschaft zu nehmen gedachte, vgl. u.a. M. Ferrandi,

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Maßnahmen schärfte das Bewußtsein der erst kürzlich Italien eingegliederten Südtiroler, Slowenen u n d Kroaten dafür, daß sie unterdrückte Minderheiten waren 2 9 . Für die Minderheiten i n den alten Provinzen des Königreiches, die bereits in der Vergangenheit einem langsamen, aber nachhaltigen nationalen Integrationsprozeß unterworfen waren, blieb die Lage hingegen nahezu unverändert 3 0 . Bedeutsame Veränderungen i m Status der südtiroler Minderheit erfolgten später i m Zusammenhang mit dem italienisch-deutschen A b k o m m e n v o m Juni 1939 u n d mit dem Zweiten Weltkrieg, denn n u n sollten diejenigen, die für die deutsche Staatsangehörigkeit optiert hatten, nach Deutschland umgesiedelt werden. Die Ausführungsmodalitäten w u r d e n mit den „Richtlinien für die Rückwanderung der Reichsdeutschen u n d Abwanderung der Fremdstämmigen deutscher Sprache aus dem Alto Adige in das Deutsche Reich" v o m Oktober desselben Jahres festgelegt, während die langsam vorangetriebene effektive Umsetzung des Abkommens i m September 1943 v o n der militärischen Besetzung des Gebietes durch Deutschland u n d der Einrichtung der Operationszone Alpenvorland, w o r i n sich die annexionistischen Bestrebungen des Nationalsozialismus ausdrückten, abgebrochen wurde 3 1 . Mit der Umsiedlung der Minderheiten in einen national homogenen Staat fand das Problem seine extremste Lösung, doch wurde dadurch der Begriff der Nation, w i e ihn der Risorgimento verstanden hatte, durch den Begriff der Rasse ersetzt. A n die Stelle eines ideellen Konzepts trat ein biologischer Faktor, der das enge Band zwischen einer Bevölkerung u n d ihrem Territorium auflöste, indem er den ganzen Bestand an historischen, kulturellen u n d menschlichen Werten zerstörte. Zwischen 1943 u n d 1945, in Folge der militärischen Besetzung Südtirols u n d eines Teiles v o n Julisch-Venetien sowie nach der Entstehung einer deutschEttore Tolomei. L'uomo che inventò l'Alto Adige, Trento 1986; G. Framke, Im Kampf um Südtirol: Ettore Tolomei (1865-1952) und das Archivio per l'Alto Adige, Tübingen 1987. 29

A. Pizzorusso, Minoranze etnico-linguistiche, S. 543. Zu den verschiedenen einschränkenden Maßnahmen gegenüber den fremdsprachigen Minderheiten vgl. L. Cermelj, Life and Death Struggle of a National Minority: the Yugoslavs in Italy, S. 39-52; D.I. Rusinow, Italy's Austrian Heritage 1919-1946, Oxford 1969, S. 170 ff.; G. Salvemini Le minoranze sotto il regime fascista, Anhang zu: Mussolini il diplomatico, Bari 1952, S. 432 ff.; P. Alatri, La questione storica del Trentino e dell'Alto Adige, S. 82 ff. 30 31

A. Pizzorusso, Minoranze etnico-linguistiche, S. 544.

Vgl. C. Battisti, Opzioni, riopzioni e separatismo nell'Alto Adige, Firenze 1954; R. De Felice, Il problema dell'Alto Adige nei rapporti italo-tedeschi dall'„Anschluß" alla fine della seconda guerra mondiale, Bologna 1973; A. Ara , Spirito pubblico e politica italiana in Alto Adige dal plebiscito della Saar all'Anschluß: premesse storiche ad una ricerca, Parma 1974; A. Ara, Note sullo spirito pubblico in Alto Adige nel periodo delle opzioni, in: Römische Historische Mitteilungen, 19 (1977), S. 129 ff.; A. Gruber, Südtirol unter dem Faschismus, Bozen 1978; U. Corsini, L'Alpenvorland e l'atteggiamento delle popolazioni nelle tre provincie di Bolzano-Trento-Belluno, in: Tedeschi, partigiani e popolazioni nell'Alpenvorland, Venezia 1984, S. 11-56; ders., La ,zona d'operazioni Alpenvorland', in: U. Corsini / R. LUI, Südtirol 1918-1946, S. 333-354.

Die Stellung der Minderheiten im italienischen Staatsrecht

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Tiroler (das Alpenvorland) bzw. einer deutsch-Kärnter Verwaltungseinheit (das Adriatische Küstenland), ergriff man i m sprachlichen u n d kulturellen Bereich kurzlebige Maßnahmen, die natürlich den Erfordernissen militärischer Besatzung gehorchten u n d den weitreichenden Germanisierungsplänen entsprachen 32 . Als 1941 mit der vorübergehenden Annexion der Provinz Ljubljana (Laibach) eine kompakte Bevölkerungsgruppe slowenischer Abstammung dem italienischen Staat eingegliedert wurde, erließ die faschistische Regierung Sondergesetze, die angesichts „der ethnischen Eigenschaften der Bevölkerung, der geographischen Lage u n d der besonderen lokalen Bedürfnisse" auf einige Instrumente des Minderheitenschutzes zurückgriff 3 3 . Dasselbe gilt für die besetzten dalmatinischen Gebiete v o n Trogir, Sibenik, Split u n d Kotor, in denen traditionell Slaw e n unterschiedlicher Herkunft lebten. Der Fall des faschistischen Regimes brachte auch für die sprachlich-ethnischen Minderheiten eine völlige Veränderung ihrer Lebensbedingungen. D e m Schutz ihrer Rechte öffneten sich neue Möglichkeiten, die i n einigen gegen Ende 1945 ergriffenen Maßnahmen zugunsten der französischen Minderheit i m Aostatal u n d der deutschen Minderheit in Südtirol zum Ausdruck kamen u n d der Abschwächung der in diesen Gebieten aufgetretenen separatistischen Bestrebungen dienen sollten 3 4 . Der Schutz der französischen Minderheit i m Aostatal wurde auf der Basis des nationalen Rechtes geregelt 35 ; die Südtirolfrage wurde hingegen, w i e bekannt, mit dem A b k o m m e n zwischen Degasperi u n d Gruber 3 6 auf internationaler Ebe32 Vgl. E. Collotti , L'amministrazione tedesca dell'Italia occupata 1943-45, Milano 1963; K. Stuhlpfarrer, Die Operationszonen „ A l p e n v o r l a n d " und „Adriatisches Küstenland" 1943-1945, Wien 1969. 33

Dekret RDL vom 3. Mai 1941, Nr. 291.

34

Vgl. die Gesetzesdekrete des Gouverneurs vom 7. September 1945, Nr. 545 und 546, für das Aostatal, und die Gesetzesdekrete des Gouverneurs vom 27. Oktober 1945, Nr. 775, und vom 22. Dezember 1945, Nr. 825, für Südtirol. 35 Vgl. U. Corsini , La tutela delle minoranze linguistiche, in: Nuovi Studi Politici, 14 (1984), 4, S. 45. Die 1945 für das Aostatal erlassenen Verordnungen erlaubten es, daß man sich auf französisch an die politischen Instanzen sowie an die Verwaltungs- und Gerichtsbehörden wenden konnte; außerdem durften amtliche Dokumente mit Ausnahme der Gerichtsurteile in französischer Sprache abgefaßt werden, und auch der Französischunterricht sowie der Unterricht in französischer Sprache wurden gewährleistet. Später wurde mit dem Gesetzesdekret vom 11. November 1946, Nr. 365, die Zuständigkeit für die Grund- und Sekundärschulen aller Stufen und Zweige auf die autonome Region Aostatal übertragen. Das in diesen beiden Dekreten festgelegte Prinzip der absoluten Zweisprachigkeit ging auch in das regionale Sonderstatut (Art. 38) ein. 36 Vgl. zum Inhalt dieses Abkommens neben: L'accordo De Gasperi-Gruber per l'Alto Adige dalle sue premesse storico-politiche all'attuazione nell'ordinamento interno italiano, hrsg. von der Presidenza del Consiglio dei Ministri, Ufficio Regioni, Roma 1958, auch U. Corsini , La genesi degli accordi De Gasperi-Gruber nella politica interna italiana, in: Regione Trentino-Alto Adige, Sondernummer vom Dezember 1976, S. 53-74; ders ., Gli accordi Degasperi-Gruber, in: Il Veltro, Sondernummer: Le relazioni tra Austria e Italia, 21 (1977), 2, S. 200-240; A. Pizzorusso, Il contenuto normativo degli accordi De GasperiGruber, in: Studi in memoria di Andrea Torrente, Milano 1968, S. 947-964.

4 Corsini / Zaffi

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ne gelöst, dessen Regelungen das italienische Staatsrecht bald darauf zum Schutz der deutschsprachigen Südtiroler übernahm. Der Aufbau eines Minderheitenschutzsystems in Julisch-Venetien kam hingegen langsamer voran. Konkrete Garantien erhielten die Minderheiten hier erst aufgrund der internationalen Verpflichtungen, die Italien 1954 durch das Abkommen mit der Föderativen Republik Jugoslawien eingegangen war (es handelt sich u m das sogenannte 'Memorandum'); sie bezogen sich aber nur auf einen Teil der slowenischen u n d der kroatischen Volksgruppen, d.h. auf den Teil, der in der Zone A des nie zustandegekommenen Freistaates Triest lebte. Aufgrund der Verzögerungen bei der Lösung der Probleme, die die frühere Zone A u n d Zone Β betrafen, kam es in der autonomen Region Friaul/JulischVenetien mit ihren Provinzen Udine, Görz und Triest zu unterschiedlichen Schutzmaßnahmen für die slawischen Minderheiten 3 7 , w o b e i man einen analogen rechtlichen Schutz für die in Slowenien u n d mehr noch in Kroatien verbliebenen Italiener verlangte. Somit haben internationale Abkommen, Verfassungsbestimmungen, Durchführungsgesetze u n d statutarische Vorschriften der einzelnen autonomen Regionen die Durchsetzung v o n Schutzmaßnahmen für die verschiedenen Minderheiten in Italien ermöglicht; heute wäre de jure condendo die Erzielung eines globalen Rechtsschutzes wünschenswert, der den verschiedenen Minderheitengruppen unter Wahrung der ihnen jeweils eigentümlichen besonderen Eigenschaften allgemein u n d in einheitlicher Weise eine gesetzliche Garantie gibt 3 8 .

37

Zur slowenischen Minderheit in Friaul/Julisch-Venetien vgl. u.a. S. Bartole , Profili della condizione giuridica della minoranza slovena nell'ordinamento italiano, in: Studi in onore di Manlio Udina, II, Milano 1975, S. 133-137; ders., Tutela della minoranza linguistica slovena ed esecuzione del Trattato di Osimo, in: Rivista di Diritto Intemazionale, (1977), S. 50 ff.; D. Bonamore , Disciplina giuridica delle istituzioni scolastiche a Trieste e a Gorizia, Milano 1979; E. Petric, La posizione giuridica internazionale della minoranza slovena in Italia, Trieste 1981; R. Fusco , La Regione Friuli-Venezia Giulia, Milano 1982; G. Mor, L'uso ufficiale della lingua di una .minoranza' riconosciuta: il caso della minoranza slovena, in: Le Regioni, 1982, S. 389 ff. ; A. Pizzorusso , Postilla in tema di tutela della minoranza slovena, in: Foro Italiano, 3 (1982), S. 455 ff.; F. Micelli , Minoranze al confine nordorientale, in: Rivista di demografia storica, (1990), S. 11-117. 38 Vgl. dazu E. Capuzzo, Minoranze nazionali-Diritto, in: Enciclopedia Italiana, 5. Anhang, 3, im Druck.

Nationale Minderheiten u n d dominante Nationalität i m sowjetischen Staat (1918-1939) Von Andrej Zubov

Unter den zahlreichen Staaten, die nach dem Ersten Weltkrieg in Europa entstanden sind, stellt das sowjetische Rußland zweifellos eine Ausnahme dar, da es nicht dem damals universell anerkannten Prinzip des Nationalstaates entsprach. Die i m Europa des 19. Jahrhunderts gängige Vorstellung, nach der sich in der Nation der „Staatsgeist"1 ausdrückt, war der kommunistischen Ideologie völlig fremd. Nicht die Volksgruppe, sondern die internationale Vereinigung der Arbeiter stellte das Grundprinzip der Kommunisten dar, deren Losung ja lautete: „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!" Lenin hatte in seinen „Kritischen Bemerkungen zur nationalen Frage" geschrieben: „Marxism cannot be reconciled with nationalism, be it even the ,most just', .purest', most refined and civilised brand. In place of all forms of nationalism Marxism advances internationalism, the amalgamation of all nations in the higher unity... Therefore, the general .national culture' is the culture of the landlords, the clergy and the bourgeoisie ... The place of those who advocate the slogan of national culture is among the nationalist petty bourgeois, not among the Maxists ... The slogan of national culture is a bourgeois (and often also a ... clerical) fraud. Our slogan is: the international culture of democracy and of the world working-class movment". Lenin u n d seine Mitkämpfer in der Kommunistischen Partei betrachteten Rußland nicht als Nationalstaat, auch nicht als Hauptziel ihrer politischen Aktivitäten, sondern vielmehr als Exerzierplatz für die internationale proletarische Revolution. Strategisches Ziel der Kommunisten war die Entstehung einer sozialistischen Weltrepublik 2 . 1913 änderte Lenin dem nationalistischen Phänomen gegenüber seine Haltung grundlegend. In Auseinandersetzung mit dem menschewistischen Programm bezüglich der „kulturell-nationalen Autonomie" der Minderheiten in multinationalen Staaten sprach er den Völkern grundsätzlich das Recht zur Sezession u n d zur Gründung unabhängiger Staaten auf ethnischer Grundlage zu, w o m i t er seine eigenen Parteigenossen überraschte. Der das Problem der nationalen Selbstbestimmung betreffende Artikel des Parteiprogramms könne nicht anders ver1 2

A. Toynbee , A Study of History, Oxford 1962-63.

W.H. McNeill , Polyethnicity and National Unity in World History. Toronto 1986, S. 29-35. *

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standen werden, denn als politische Selbstbestimmung, d.h. als Recht zur Sezession u n d zur Schaffung eines unabhängigen Staates3. Dieses Recht wurde in alle sowjetischen Verfassungen aufgenommen. Die kommunistischen Ideologen sahen darin eine demokratische Errungenschaft erster Ordnung, u n d 1990-91 stellte es jedoch den formalen Hebel zur Auflösung der Sowjetunion dar. Es war allerdings nicht im Sinne Lenins, daß es dazu diente, dem Nationalgefühl zur Wiedergeburt zu verhelfen. Nach Eric Goldhagen proklamierte Lenin das Selbstbestimmungsrecht gerade deshalb, u m i m Verlaufe derselben Generation das Bestreben zu seiner Verwirklichung zu neutralisieren 4 . Richard Pipes erklärt dieses Paradox ein w e n i g genauer: „Lenin was convinced that once the minorities were assured of a right to separate and to form independent states, they would cast off the suspicious which he considered the primary cause of national movements. Then and only then could economic factors have a free field to accomplish their centralizing, unifying task, unopposed by nationalism. The minorities would find it advantageous to remain within the larger political unit, and thus a lasting foundation for the emergence of large states and an eventual united states of the world would be created" 5. Lenin selbst betonte, daß Sezessionen für i h n nicht i n Frage kamen u n d v o n i h m i n keiner Weise u n d Form unterstützt werde 6 . I n einem anderen Beitrag erklärte er, daß seine Partei das Selbstbestimmungsrecht fordere, d.h. das Recht zur Unabhängigkeit, d.h. das Recht der unterdrückten Völker, nicht w e i l sie ökonomische Parzellisierung oder Kleinstaaten anstrebe, sondern w e i l sie i m Gegenteil die Bildung großer Staaten u n d die Annäherung, ja die Verschmelzung unterschiedlicher Völker wollte. Dies habe allerdings auf einer wahrhaft demokratischen u n d w i r k l i c h internationalistischen Ebene zu geschehen, was ohne das Recht auf Sezessionsfreiheit nicht denkbar sei 7 . Noch aus anderen Gründen machte sich Lenin die Idee der Selbstbestimm u n g zu eigen u n d räumte sogar ein, daß eine völlige Sezession v o m multinationalen Staat zulässig sei. Die radikalen ethnischen Bewegungen fanden i m zweiten Jahrzehnt des Jahrhunderts w i e in ganz Europa so auch in Rußland relativ großen Anklang, u n d eine gewisse taktische Zusammenarbeit mit ihnen war den Bolschewiken erwünscht. Nach dem vollständigen Sieg der „proletarischen Demokratie" hätten die nationalistischen Bewegungen einen völlig anderen, d.h. internationalistischen Charakter annehmen oder sich auflösen sollen. I n einer beschränkteren Perspektive konnten sie hingegen Verbündete i m Zer3

Vgl. V. Lenin, Critical Remarks on the National Question, Moscow 1985, S. 12-14,

4

E. Goldhagen (Hrsg.), Ethnic Minorities in the Soviet Union, New York 1968,

23. S. VIII. 5 R. Pipes , The Formation of the Soviet Union. Communism and Nationalism 19171923, New York 1968, S. 44 f. 6

Vgl. V. Lenin, Socinenja [Werke], XVII, S. 90.

7

Ebd., XVIII, S. 328.

Nationale Minderheiten und dominante Nationalität

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setzungskampf gegen die „bürgerliche Ordnung" werden. Die politische Selbstbestimmung der unterdrückten Nationalitäten w i e auch die Losung, das eigene Land möge i m Krieg unterliegen, erschien den bolschewistischen Strategen nur als Mittel, u m die Auflösung des „Ausbeuterstaates" voranzutreiben u n d die Übernahme der Macht durch die Arbeiterklasse vorzubereiten. Der Zusammenschluß aller Nationalitäten in einem einzigen sozialistischen Weltstaat war das grundlegende Ziel Lenins u n d seiner Mitkämpfer. Das Selbstbestimmungsrecht erwies sich somit als bloße taktische Losung, mit der jenes strategische Ziel durchgesetzt werden sollte. Einige Kommunisten begriffen Lenins Absichten nicht, u n d in Auseinandersetzung mit i h m lehnten sie sogar die bloße Möglichkeit einer politischen Selbstbestimmung der Nationalitäten ab (unter ihnen Karl Radek, Grigorij Pjatakov, Nikolaj Bucharin, Felix Dzerginski, Michail Pokrovski). Andere glaubten hingegen, daß es sich dabei nicht u m einen bloßen taktischen Schachzug, sondern u m einen echten Bestandteil der kommunistischen Lehre handeln würde, der sowohl zur sozialen als auch zur nationalen Befreiung beitrüge (unter ihnen die (borotbisti u n d die ukrainischen Sozialdemokraten, die georgischen Kommunisten w i e Macharadge, Mzivanin, Enver Pascia u n d seine pantürkischen Anhänger in Turkestan, die Mitglieder der muslimischen kommunistischen Partei v o m Sultan Galiev). Mit der Oktoberrevolution ging die kommunistische Theorie in die Praxis über. Die deutsch-österreichischen Truppen hielten i m Oktober 1917 einige Regionen des alten russischen Kaiserreiches besetzt u n d arbeiteten darauf hin, diese Territorien v o m russischen Staat abzulösen, indem sie den separatistischen Gruppen unter den nationalen Eliten u n d in der jeweiligen einheimischen Bevölkerung halfen u n d sie bewaffneten. Formell unabhängig, faktisch aber Vasallen des deutschen Kaisers, sollten die so entstandenen Nationalstaaten aus der Sicht der deutschen politischen Führungskräfte auch nach Kriegsende ausschließlich i m deutschen Einflußbereich verbleiben. Der größte Teil dieser neuen Staaten schickte sich an, auch dynastische Bindungen zu Deutschland einzugehen. I n Finnland, Weißrußland, Estland u n d i n der Ukraine sah die Lage bis zu einem gewissen Punkt anders aus. Diese Territorien mit mehrheitlich nichtrussischer Bevölkerung waren zum größten Teil unbesetzt. Dennoch versuchten nach der Revolution v o m Februar 1917 zahlreiche ukrainische, finnische, estische, weißrussische u n d lettische Politiker, für ihre Völker Rußland gegenüber einen Autonomiestatus, ja die vollständige politische Unabhängigkeit durchzusetzen. Als die kommunistische Diktatur in Petrograd u n d Moskau siegte u n d die verfassunggebende Versammlung, an deren Wahl sich alle Nationalitäten der russischen Republik beteiligt hatten, aufgelöst wurde, rückte man i n den nichtrussischen Randgebieten möglichst schnell v o n den Ereignissen in den russischen Hauptstädten ab. Finnland erklärte am 6. Dezember seine Unabhängigkeit, Litauen folgte einige Tage später (11.12.), Weißrußland am 27. Februar, Estland am 24. Februar. I m April/Mai 1918 schlossen sich Armenien, Georgien u n d Aserbaidschan an. D o c h zu den Plänen der neuen kommunistischen Regierung i n Moskau gehörte es keineswegs, das v o n den Bolschewisten vertretene Prinzip der nationalen

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Selbstbestimmung in die Tat umzusetzen. Sie hielt die staatliche Ablösung der Randvölker für einen klugen Schachzug des lokalen Bürgertums, das an der Macht bleiben u n d die lokale Arbeiterschaft v o m russischen revolutionären Proletariat isolieren wollte. Die Moskauer Kommunisten zögerten nicht, ihren „Klassenbrüdern" direkt zu helfen. I n Finnland versuchten die örtlichen Sozialdemokraten i m Januar 1918 einen bewaffneten Aufstand zu organisieren, der direkt von sowjetrussischen Behörden sowie v o n den Revolutionsanhängern unter den russischen, seit dem Weltkrieg in Finnland stationierten Soldaten unterstützt wurde. A m 1. März 1918 unterzeichnete Sowjetrußland sogar ein A b k o m m e n mit der sozialistischen Republik Finnland, doch die bürgerlichen Nationalisten wandten sich an die deutsche Armee, mit deren Hilfe der Bürgerkrieg beendet wurde. Zu fast ähnlichen Entwicklungen kam es in Estland, w o nur der deutsche Eingriff die Einmischung Sowjetrußlands zum Stillstand brachte. Die v o n der Armee der Moskauer Kommunisten bereits besetzten Hauptstädte Weißrußlands u n d der Ukraine, Minsk u n d Kiew, eroberten die deutschen Truppen Anfang März zurück. Transkaukasien, durch Kornilows u n d Denikins „weiße" Armeen v o n Sowjetrußland getrennt, blieb bis zur vollständigen Niederlage, die die „weiße" Bewegung in Südrußland im November 1919 erlitt, unabhängig. I m April 1920, kurz nach dem Vernichtungsschlag in Novorossijsk, besetzte die Rote Armee Aserbaidschan u n d sechs Monate später, im November, Armenien. I m Februar 1921 verlor der letzte transkaukasische Staat, die Republik Georgien, seine Unabhängigkeit. 1920 besetzte die Rote Armee die beiden größten russischen Protektorate in Zentralasien, das Khanat v o n Chiwa u n d das Emirat v o n Buchara. Es wäre jedoch töricht, mit den Autoren des Buches „Smena Vech" („Die Wende des Jahrhunderts") anzunehmen, die Moskauer Kommunisten hätten die revolutionären Losungen einfach nur in Erfüllung ihrer „staatlichen Verantwortung" benutzt, d.h. zur Wiederherstellung der politischen Einheit des in Auflösung begriffenen russischen Reiches. Die Idee eines Teilreiches lag Lenin und seinen Mitkämpfern zweifellos vollkommen fern. Rußland war für sie bloß Ausgangspunkt der universellen Revolution. Sie setzten sich für die Wiedereroberung der Ukraine, Finnlands bzw. Estlands nicht deshalb ein, w e i l sie diese als Teile eines wiederherzustellenden russischen Reiches, sondern als Bestandteile der sozialistischen Weltrepublik betrachteten. Es sei hervorgehoben, daß ein nicht unbeträchtlicher Teil der jeweiligen Landesbevölkerung die phantastischen Pläne der Kommunisten voll u n d ganz teilte. Die noch v o n nichtkommunistischen Wahlkommissionen organisierten Wahlen zur allrussischen verfassungsgebenden Versammlung v o m Dezember 1917 zeigten, daß die Kommunisten u n d andere radikale Revolutionäre in vielen der von nationalen Minderheiten bewohnten Gebieten großen Anklang fanden. In Estland (d.h. im früheren estnischen Gouvernement zusammen mit dem Teil des livländischen Gouvernements, in dem estnisch gesprochen wurde) stimmten 40% der Wähler für die Bolschewiken, während die national-demokrati-

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sehen estnischen Parteien, die Demokratische Partei und die Partei der Arbeit mit 44,3% nur w e n i g mehr Stimmen erhielten 8 . I n dem Teil Lettlands, der i m Dezember nicht v o n den Deutschen besetzt worden war (der lettische Teil Livlands mit Ausnahme v o n Riga), gelang den Bolschewiken mit 97.781 v o n insgesamt 136.080 Stimmen ein eindrucksvoller Erfolg über die Nationalisten. Das bedeutet, daß 72% der Stimmen der lettischen sozialdemokratischen Partei, d.h. der baltischen Sektion der allrussischen kommunistischen Partei zuflössen. In Livland erlangten die Nationalisten nur 22,8% der Stimmen 9 . Bei der Beurteilung dieser Ergebnisse muß überdies berücksichtigt werden, daß die mehrheitlich russischsprachige, aber in nationaler Hinsicht nicht homogene Armee in diesen Gebieten v o n der Zivilbevölkerung getrennt abstimmte; außerdem gehörten damals in Estland 88% u n d i m lettischen Livland 93% Einwohner der einheimischen Nationalität an. In Weißrußland blieben die nationalistischen Parteien unbedeutend. I m Gouvernement Vitebsk erlangten die weißrussischen Nationalisten nur 1,6% der abgegebenen Stimmen, die Bolschewiken hingegen 51,2% u n d die Sozialrevolutionäre 26,8%. I m Gouvernement Minsk im Herzen Weißrußlands erlangten die Nationalisten weniger als 0,3% der Stimmen 1 0 . In der Ukraine sah die Lage wesentlich anders aus. Die ukrainischen Nationalparteien fanden durchweg einen größeren Anklang als die gemäßigten Parteien u n d die Parteien der allrussischen Linken. Gleichwohl setzte sich die Mehrheit der ukrainischen Parteien i m Dezember 1917 nicht für die vollständige politische Unabhängigkeit ihres Landes, sondern nur für einen Autonomiestatus innerhalb des russischen Staates ein. In vielen Teilen der Ukraine bildeten die mit ihren russischen „Kollegen" verbündeten revolutionären Sozialisten den einflußreichsten politischen Block. 1917 war der ukrainische Nationalismus weder schwach noch ein Kunstgebilde, sondern eine ernstzunehmende politische Realität; allerdings unterschied er sich v o n anderen, radikaleren Strömungen u n d zielte nicht auf eine staatliche Ablösung. Erst nach einem Monat Krieg gegen das bolschewistische Rußland erklärte die ukrainische Regierung die politische Unabhängigkeit. Insgesamt kann also geschlossen werden, daß Ende 1917 weite Teile der fremdstämmigen Bevölkerung des zerstörten russischen Reiches den Bolschewisten zuneigten. In ihrer Begeisterung für die internationalistischen Ideen kommunistischer Prägung kaum v o n nationalistischen Vorbehalten gebremst, waren sie zum Zeitpunkt der großen russischen Revolution politisch stark radikalisiert; dies gilt insbesondere für den europäischen Teil des früheren Zaren-Reiches. Der Krieg, den Sowjetrußland in den mehrheitlich von fremdstämmiger Bevölkerung bewohnten Randgebieten des früheren Zarenreiches führte, betrach8

Pravda vom 5. Dezember 1917, Nr. 206.

9

Izvestja Vserossijskoj po delam ο vyborach ν uëreditelnoe sobranje komissii [Nachrichtenblatt der allrussischen Kommission für die Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung], Nr. 24, 16.12.1917, S. 1. 10 O.H. Radkey , The Elections to the Russian Constituent Assembly of 1917, Cambridge 1950, Anhang 1.

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tete man damals nicht als einen Krieg zwischen Russen u n d Nichtrussen. Trotz der nationalistischen Propaganda der örtlichen Regierungen erfuhr die Mehrheit der betroffenen Bevölkerungen den Krieg als einen Krieg zwischen Klassen, als einen Krieg der Armen gegen die Reichen, der Proletarier gegen die Privilegierten, als einen Krieg zwischen denjenigen, die den Reichtum besaßen, u n d denjenigen, die sich seiner bemächtigen wollten. Der Internationalismus stellte keine bloße ideologische Losung der kommunistischen Führer dar, sondern war in die Überzeugungen v o n Millionen Einwohnern des unermeßlichen Zaren-Reiches eingegangen. Nur so läßt sich der Sieg der Bolschewiken in der russischen Revolution erklären, zu dem die fremdstämmigen Bevölkerungsgruppen w i e die Litauer, die Juden, die Ungarn, die Georgier, die Ukrainer, die kaukasischen Bergbewohner nicht w e n i g beigetragen haben. Eine Untersuchung der Frage, weshalb der internationale Kommunismus i m damaligen Rußland den Nationalismus geschlagen hat, würde den Rahmen des vorliegenden Beitrages bei weitem überschreiten. U m aber den wirklichen Gehalt der v o n den russischen Kommunisten i n der Folge betriebenen Nationalitätenpolitik zu begreifen, muß man die Geisteshaltung der Mehrheit der russischen Staatsbürger in der Revolutionsepoche berücksichtigen. U m den Kampf gegen die Weltbourgeoisie für sich zu entscheiden u n d u m einen gut funktionierenden, prosperierenden sozialistischen Staat aufzubauen, benötigten die Bolschewiken eine effektive, vollständige Integration aller Kräfte u n d Mittel jener Länder, in denen die Proletarier bereits gesiegt hatten. Die v o n der neuen kommunistischen Regierung kontrollierten Territorien beschränkten sich auf die Grenzen des russischen Reiches, was für sie einen allenfalls unglücklichen Umstand darstellte. Den Bolschewiken schwebte als strategisches Ziel der Aufbau einer Gesellschaft freier Arbeiter ohne Klassen u n d ohne Staaten vor, zu dessen Durchsetzung sie aber taktisch den rohesten Klassenterror anwandten u n d eine Staatsdiktatur errichteten. Die Kommunisten erklärten dieses Paradox „dialektisch". U n d gleichermaßen dialektisch gestaltete sich auch das Verhältnis der Bolschewiken zu den Minderheiten. Als Endziel strebten sie die Aufhebung aller nationalen u n d sogar sprachlichen Unterschiede an, in taktischer Hinsicht aber wollten sie die nationalen Kulturen u n d Sprachen entwickeln u n d bereichern - unter der Voraussetzung allerdings, daß die proletarische Weltrevolution dadurch nicht beeinträchtigt würde. Praktisch hatten sich damit die verschiedenen proletarischen Nationalstaaten einer einheitlichen politischen Führungsinstanz unterzuordnen, die v o n der russischen kommunistischen Partei der Bolschewiken eingenommen wurde. So hieß es i m Programm der kommunistischen Partei v o n 1919 11 : „Die Ukraine, Litauen, Lettland und Weißrußland bestehen gegenwärtig als eigenständige Sowjetrepubliken. Das Problem ihres politischen Status ist heute auf diese Weise gelöst. Was jedoch keineswegs heißen muß, daß die russische kommunistische 11 Rossijskaja kommunistifceskaja part'ja ν resolucjach ee sezdov i konferencii [Die Kongresse und Konferenzen der rußländischen komunistischen Partei ], Moskau / Leningrad 1923, S. 253 f.

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Partei sich ihrerseits als eine Föderation unabhängiger kommunistischer Parteien versteht. Der 8. Kongreß der KPR bestimmt, daß es eine einzige zentralisierte kommunistische Partei mit einem einzigen Zentralkomitee geben soll, dem die gesamte Parteiarbeit auf dem ganzen Staatsgebiet der russischen föderativen Republik obliegt. Jede Entscheidung der KPR und ihrer Leitungsorgane bindet uneingeschränkt alle lokalen Parteiorganisationen ohne Rücksicht auf ihre nationale Zusammensetzung. Die Zentralkomitees der ukrainischen, lettischen und litauischen Kommunisten verfügen über dieselben Kompetenzen wie die lokalen Parteiorganisationen, und sind dem Zentralkomitee der KPR vollständig untergeordnet". Diese quasi-klerikale Struktur der kommunistischen Partei hielt sich unter verschiedenen Bezeichnungen über mehr als sieben Jahrzehnte u n d löste sich erst i m Verlaufe der Perestroika, faktisch also mit der ganzen Sowjetunion auf. I n den Jahren 1920-22 unternahmen die kommunistischen Parteien der Ukraine, Weißrußlands u n d Georgiens w i e auch die muslimische kommunistische Partei der Tartaren tatkräftige, doch vergebliche Versuche, den jeweiligen sozialistischen Republiken die Unabhängigkeit oder zumindest den nationalen kommunistischen Parteien eine Form v o n Autonomie zu erhalten. Der Druck der absoluten Parteidisziplin sorgte dafür, daß Moskau der Zusammenschluß der sozialistischen Republiken in eine Konföderation gelang. Selbst diejenigen, die Führungspositionen innehatten, konnten zum Zeichen des Protestes allerhöchstens ihre Staats- u n d Parteiämter niederlegen. Einige sehr bedeutsame nationale Führer w i e z.B. Buda Mzivanmj u n d Filip Iacharadze in Georgien, Micola Skripnik u n d Christian Rakovskji in der Ukraine, die an der Spitze der jeweiligen Republik standen, unternahmen nicht einmal den Versuch, sich den Moskauer Anschlußbestrebungen zu widersetzen, auch nicht unter A n w e n d u n g der in diesen Fällen üblichen staatlichen Mittel. Pipes merkte i n diesem Zusammenhang zu Recht an: „If in 1917 Lenin had accepted state federalism so readily, it was because he knew that the existence of a unified, centralized Communist party with authority over political institutions throughout the Soviet territories made possible the retention of unalloyed centralized political power" 12 . Die Haltung gegenüber den nationalen Minderheiten unterschied sich i n diesen Jahren wesentlich v o n den allgemeinpolitischen Zielsetzungen eines unbedingten Zentralismus, die sonst zu beobachten waren. Nach Ende des Bürgerkrieges 1917-21 begann Moskau die Programme zur Förderung der i m früheren russischen Reich unterdrückten Nationalitäten in die Tat umzusetzen. Für einen Nationalisten, der einen Staat auf ethnischer Grundlage anstrebte, war diese Politik der Moskauer Kommunisten gegenüber den Nationalitäten unverständlich, da das Zentrum eine vollständige politische Kontrolle über Sowjetrußland u n d die gesamte Union ausübte. Der dritte Teil der Abschlußresolution des 10. Kongresses der KPR (März 1921) enthält einen Beschluß über die Notwendigkeit, die nationalen Kulturen zu entwickeln, die Rechtsprechung in der jeweiligen Nationalsprache sicherzustellen, die örtlichen sowjetischen Behörden entsprechend der jeweiligen nationalen Mehrheit zu besetzen, nationale 12

R. Pipes , The Formation, S. 246.

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Führungsgruppen auszubilden u n d die russischen Kommunisten, die in den Randgebieten mit fremdstämmiger Bevölkerungsmehrheit eingesetzt werden sollten, mit den jeweiligen örtlichen Sprachen, Gebräuchen und Traditionen vertraut zu machen. Ein weiterer Beschluß bestimmte als Ziel die Herstellung „des wirtschaftlichen Gleichgewichts durch Förderung der Produktivkräfte in den verschiedenen Regionen"; zugleich sollten „Maßnahmen zur Ausgrenzung der örtlichen Ausbeutergruppen und -klassen, des Klerus u n d der Feudalherren" ergriffen werden. Nach Punkt vier des dritten Teils der Abschlußresolution sollte den kleinen u n d rückständigen Volksgruppen jede nur erdenkliche Hilfe gewährt werden, die ihnen eine schnellere Entwicklung ermöglichen würde. Der 12. Kongreß v o m April 1923 unterstrich erneut die grundlegende Bedeutung, die die Lösung der nationalen Frage für die Kommunisten hatte. I m Gegensatz zu der Anfang des 20. Jahrhunderts vorherrschenden Auffassung, daß ein Volk nur mittels der Idee der Nation erfolgreich zu einem Staat zusammengeschlossen werden könne, legten die russischen Kommunisten in den 20er Jahren den Akzent nicht auf die nationale Konsolidierung des Staates unter der hegemonialen Stellung der russischen Nation, sondern vielmehr auf die entschiedene Entwicklung des ethnischen Pluralismus; zugleich bekämpften sie die Idee einer natürlichen Überlegenheit des russischen Volkes in dem v o n ihnen beherrschten Land. Beide obenerwähnten Kongresse erklärten, daß der großrussische Chauvinismus für die Sowjetunion gefährlicher sei als die örtlichen Nationalismen. Die Resolution des 10. Parteitages der KPR unterstrich überdies die Notwendigkeit des Kampfes gegen die Kolonisierungspolitik der zaristischen Regierung: Während den russischen Pächtern der qualitativ beste Ackerboden zugewiesen worden sei, habe man die jeweilige örtliche Bevölkerung in unfruchtbare Wüsten abgedrängt. Weiterhin vermerkte die Resolution zustimmend, daß den Kulaken unter den russischen Bauern u n d unter den Kasachen entlang des Terek u n d in Turkistan bereits der Boden weggenommen und den Einheimischen zurückgegeben werde. Der Parteitagsdelegierte Grigorij Safarov berichtete, daß ganze Kulakensiedlungen niedergerissen w ü r d e n und die Zahl der aus Zentralasien vertriebenen Kulaken in die Hunderttausende gehe 1 3 . Damit wurde praktisch allen Europäern, die in Turkistan die Kolonisationsbevölkerung stellten u n d die als Kulaken registriert waren, durch Beschluß der KPR, die sich 1922 zu 72% aus Russen zusammensetzte, die Basis zur Gewinnung ihres Lebensunterhaltes entzogen. Die Nationalitätenpolitik der Kommunisten unterschied sich also grundlegend v o n der Politik aller anderen Staaten, u n d u m so mehr v o n der späteren rassistischen Politik der Achsenmächte. Bis 1917 besaß Rußland, vielleicht mit Ausnahme Finnlands und des Baltikums, keine autonomen Regionen auf nationaler Grundlage. Finnland war dabei i m übrigen fast das gesamte 19. Jahrhundert über eher schwedisch als finnisch geprägt, während i m Baltikum nicht die jeweilige örtliche Volksgruppe, sondern 13 M. PavloviC, X Sezd RKP i nacionaln'ij vopros [Der 10. Parteitag und die nationale Frage], Moskau 1921.

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die Baltendeutschen die Führungsschicht stellten. Zwischen 1918 u n d 1922 schufen die russischen Bolschewiki eine große Zahl autonomer Republiken u n d Regionen, ja benannten ihren Staat in eine föderative Republik (RFSSR) um. Nationalbewegungen, die allerdings wenig Anhang besaßen u n d relativ schwach waren, gab es damals nur in der Wolgaregion, i m Ural, i m nördlichen Kaukasus u n d in Turkistan. Autonome Regionen auf nationaler Basis w u r d e n allerdings nicht nur in diesen Gebieten, sondern auch dort geschaffen, w o die einheimische Bevölkerung einen solchen Status nicht i m entferntesten anstrebte, so z.B. i m fernen Orient, i n Siberien u n d i m Norden. Die Nationalbewegungen v o n einer gewissen Bedeutung w u r d e n brutal unterdrückt, doch den Bevölkerungen, in deren Namen sie sprachen, wurde eine umfassende kulturelle Autonomie mit Elementen einer wirklichen Selbstregierung gewährt. 1926 trat i n der RSFSR ein eigenes Gesetz über die Organisation der Provinzen u n d der Dorfsowjets in Kraft. Andere der U n i o n angeschlossene Republiken folgten ihr nach. So gab es 1932 in der Sowjetunion 19 autonome Republiken u n d 17 autonome Regionen, dazu 10 nationale Bezirke, 250 nationale Kreise u n d 5300 nationale Dorfsowjets. Der größte Teil der Volksgruppen, die auf diese Weise einen Autonomiestatus erlangten, hatte unter der Zarenherrschaft keine national-territoriale Selbständigkeit u n d noch weniger die Unabhängigkeit angestrebt. „With the possible exceptions of Poland and Finland, none of the border peoples of the Empire were considered either w i l l i n g or ready to separate themselves from Russia", konstatiert Pipes 14 . Bei ihrer vorübergehenden „Unabhängigkeit" während der Revolutionsperiode handelte es sich zumeist u m ein recht unbeliebtes abenteuerliches Unternehmen v o n Führungsgruppen, die oftmals keinerlei Einfluß auf das eigene Volk besaßen. Fünf Jahre nach der Revolution hingegen erhielten fast alle Nationalitäten der Sowjetunion - von den Russen i n nichtrussischen Gebieten bis hin zu den kleinsten siberischen Volksgruppen (Tofalaren, Oroken, Korjaken, Aleuten usw.) - praktisch eine Form v o n national-territorialer Autonomie. Für die Ukraine z.B. ergab sich 1931 bezüglich der nationalen Dorfsowjets u n d Kreise das folgende Bild 1 5 : Nationalität Russen Deutsche Juden Bulgaren Griechen Polen Tschechen Weißrussen Albaner 14 15

Provinzen 8 7 3 3 3 1 0 0 0

Dorfsowjets 450 254 156 45 30 151 12 4 3

R. Pipes , The Formation, S. 43.

L.F. Boltenkova, Opyt sovetskovo gosudarstvenno-nacionalnovo strojtel'stva na Ukraine, 1919-1934 gg. [Versuch der Bildung eines sowietischen ukrainischen Nationalstaates in den Jahren 1919-1934], Charkov 1990, S. 27.

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Darüber hinaus gehörte zur Ukraine auch die autonome Moldaurepublik. Neben der beschriebenen national-territorialen Reorganisation schufen die Bolschewiki auch Forschungszentren für das Studium v o n Sprache u n d Kultur der Nationalitäten, die innerhalb der Sowjetunion lebten. Über 60 Volksgruppen erhielten auf der Grundlage dieser Forschungen ein eigenes Alphabet. „Well over sixty languages began to be used in primary schools and some of them past that level. Books and periodicals publications in the minority tongues was enthusiastically supported", schreibt G. Ornstein, der die Sprachenpolitik Sowjetrußlands i n jener Zeit analysiert hat 1 6 . 1934 erschienen in der Sowjetunion Schulbücher in 104 verschiedenen Sprachen, Zeitungen in 87 verschiedenen Sprachen. I n Weißrußland z.B., w o die Mehrheit der einheimischen Bevölkerung das Weißrussische als „Bauernsprache" u n d das Russische als die Gebildetensprache der Stadtkultur betrachtete, begann man 1924 mit einem Programm der Aufwertung des Weißrussischen. Die Intellektuellen setzten sich in völliger Übereinstimmung mit den kommunistischen Führern nachhaltig für den Aufbau eines nationalen Schulsystems u n d für die Verbreitung der weißrussischen Sprache unter den Massen ein. Die 1927 verabschiedete neue Verfassung der Weißrussischen Sozialistischen Sowjetrepublik sah mit Weißrussisch, Russisch, Jiddisch u n d Polnisch vier Amtssprachen vor. 88% der weißrussischen Schüler besuchten 1930-31 Schulen, in denen der Unterricht auf weißrussisch erfolgte. Zugleich w u r d e n in Weißrußland 23 jüdische, 19 polnische, l 6 russische, 5 lettische, 2 ukrainische u n d 2 deutsche Dorfsowjets gebildet; 1932 schließlich entstand ein nationaler polnischer Bezirk 1 7 . Ähnlich sah es in den 20er u n d zu Beginn der 30er Jahre auch in den anderen Republiken der Sowjetunion aus. Der 12. Parteitag der KPdSU beschloß, daß „die Leitung der nationalen Republiken u n d Gebiete hauptsächlich bei Personen aus der einheimischen Bevölkerung liegt, die die örtlichen Sprachen u n d Gepflogenheiten kennen" 1 8 . Diese Bestimmungen wurden tatsächlich ausgeführt. I n der autonomen Republik Kasachstan gehörten dem Zentralkomitee, dem höchsten republikanischen Regierungsorgan, i m Jahr 1927 12 Kasachen, 2 Russen, ein Usbeke u n d ein Karakalpake an. In der Regierung der Republik waren 11 kasachische Minister, u n d 5 stammten aus einer anderen Volksgruppe. Sogar in den russischen Provinzen mit gemischter Bevölkerung versuchte man Führungspersönlichkeiten aus den unterschiedlichen Volksgruppen heranzuziehen. So stellten die Russen in der Schwarzmeerprovinz, die zur nordkaukasischen Region gehörte, 1930 nur 45% der Leiter der Dorfsowjets. Die übrigen waren Ukrainer, Griechen, Armenier, Deutsche, ja sogar Esten u n d Polen. 16 J. Ornstein , Soviet Language Policy: Continuity and Change, in: E. Goldhagen (Hrsg.), Ethnic Minorities, S. 121. 17 P.B. TereskoviC, Sovremennaja etnopolitiCeskaja situaca ν Belorussii [Die gegenwärtige ethnopolitische Situation in Weißrußland], Moskau 1991, S. 15318 KPCC ν resolucijach ee konferencii i sezdov [Die KPdSU in den Resolutionen ihrer Konferenzen und Kongresse], Moskau 1953, S. 716.

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Man darf nicht vergessen, daß i n der Sowjetunion in den zwanziger u n d dreißiger Jahren eine Kulturrevolution stattgefunden hat. „The mass eradication of illiteracy is recognized even by those most suspicious of the motives of Soviet nationality and cultural policy as one of the major achievements of the early period ... It is difficult in the first place to imagine that so much could have been achieved without the introduction of Latin alphabets, or without the extensive work on the production of primers and other textbooks in the national languages ... And on a more general level it is hard to concieve that such progress could have been made without the atmosphere of commitment to the national languages as the primary vehicle of culture and progress for theirt speakers which we have seen to be characteristic of this early period ..." 19 . Vor dem Hintergrund des bisher Gesagten w i r d auch die Erklärung des Zentralkomitees der Kommunistischen Partei v o m 5. Dezember 1929 verständlich: „Zum selben Zeitpunkt, in dem im kapitalistischen Lager der nationale Haß und die Ungleichheit, die koloniale Ausbeutung und der Chauvinismus fortbestehten, herrscht hier in der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken, im sozialistischen Lager, das gegenseitige Vertrauen und der Frieden, die Gleichheit zwischen den Nationalitäten, der friedliche Fortschritt und die brüderliche Zusammenarbeit zwischen den Völkern". Klar, w e n n auch nicht in brillanter Formulierung, drückt sich darin der Grundgedanke der sowjetischen Nationalitätenpolitik aus. Eric Goldhagen bemerkt dazu: „Yet whatever the intentions of the regime may have been, the cultural institutions it created among the non-Russian peoples, together with the symbols of autonomy it conferred upon them had the unintended effect of strengthening their national consciousness especially among the nationalities in whom it had been but feebly developed" 20 . U n d kurz vorher schreibt er: „The Soviet dictatorship surrounded the nationalities with an iron hedge, ruthlessy supressing all endeavor for independence, but within these confines the national identity was given considerable freedom of scope" 21 . Selbst der Sowjetunion sehr ablehnend gegenüberstehende Beobachter, w i e der ukrainische Nationalist Roman Smol-Stocki erkannte dies an: „In this period the Russian Communist party permitted the so-called ,nationalization'. That was a real time of the ,Let a Hundred Flowers Bloom and a Hundred Schools of Thought Contend'. Left wing national splintergroups were permitted to join the Communist Party and the native intelligentsia got relative freedom in the fields of language, literature, art, philological and historical research" 22. 19 S. Crisp , Soviet Language Planning, 1917-1953, in: M. Kirkwood (Hrsg.), London 1989, S. 36. 20

E. Goldhagen (Hrsg.), Ethnic Minorities, Einleitung, S. X.

21

Ebd., S. IX.

22

R. Smol-Stocki , The Captive Nations. Nationalism of the Non-Russian Nations in the Soviet Union, New York I960, S. 55 f.

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Woran lag es, daß die Nationalitätenpolitik der jungen Sowjetunion in der Zwischenkriegszeit v o n der der europäischen Länder abwich, u n d w a r u m setzte zu Beginn der dreißiger Jahre langsam ein Prozeß der Diskriminierung der Nationalitäten, der Unterdrückung der nationalen Sprachen u n d Kulturen ein, der w e n i g später in einer bewußt betriebenen nachhaltigen Russifìzierung der Minderheiten gipfelte? Zunächst ist festzuhalten, daß die „liberale" Nationalitätenpolitik der Bolschewiki sich fast ausschließlich auf die Sprache beschränkt hatte. Die Gebiete mit einem Autonomiestatus verfügten über kein wirkliches Instrumentarium der Selbstregierung 23 . Nicht einmal ein kulturelles, politisches u n d ökonomisches Leben nach eigenen Vorstellungen vermochten sie zu entwickeln. Die streng zentralistisch aufgebaute Kommunistische Partei kontrollierte alle Lebensbereiche u n d Aktivitäten überall in der Sowjetunion. Die Entwicklung der nationalen Kultur, d.h. Sprachforschungen u n d Historiographie, bildende Künste u n d Philosophie, w u r d e n nur insoweit zugelassen, als sie für die „proletarische Kultur" nutzbringend waren. Ansonsten blieb jede nationale Betätigung im politischen oder kulturellen Bereich strengstens verboten; wer dem nicht Folge leistete, w u r d e sofort zum „Volksfeind" erklärt und erbarmungslos verfolgt. In den zwanziger Jahren waren die Konzentrationslager u n d die Gefängnisse der Sowjetunio n voll v o n „bürgerlichen Nationalisten". Andere nationalistische Führer wurden verurteilt, ins Exil getrieben oder zum Selbstmord gedrängt. Nach dem 12. Parteitag der KP durfte innerhalb der Partei über nationale Fragen nicht mehr diskutiert werden. Seit der Oktoberrevolution war Rußland ein totalitärer Staat, in dem freiheitliche Verhältnisse zwischen den Volksgruppen in den Erfordernissen der proletarischen Erziehung u n d der kommunistischen Kultur ihre entschiedene Grenze fanden. Soweit erkennbar, ging es den Kommunisten in den zwanziger Jahren nicht darum, ihrem Staat eine nationale Grundlage zu geben. Ihr größtes Anliegen war die Herausbildung eines Arbeiterweltbundes. Sie glaubten, daß innerhalb eines solchen Bundes mit der Zeit alle ethnischen oder kulturellen Schranken fallen, die verschiedenen Sprachen sich vermengen, die Rassen sich vermischen würden. Wir alle w ü r d e n „ein w e n i g braun" sein, w i e eine der Hauptfiguren i n Scholochows Roman „Neuland unterm Pflug" sagte. So sah die Zukunft ihrer Meinung nach aus, doch gegenwärtig galt es, die Völker für die Sache der internationalen Brüderlichkeit unter den Arbeitern zu gewinnen u n d alle noch bestehenden Bindungen der Arbeiter an das jeweilige nationale Bürgertum aufzulösen. Aus diesen Gründen kam es innerhalb der politischen Diktatur zugleich auch zu einer offiziellen liberalen Sprachenpolitik. I n den Jahren 1929-1930 vollzog sich innerhalb des Sowjetkommunismus eine grundlegende ideologische Wende. Gerhard Simon verweist auf zahlreiche 23

B.D. Pletnev, Gosudarstvennaja struktura PC I PC. Pravo i 2izn' [Die staatliche Struktur der RSSFR. Recht und Wirklichkeit], Moskau 1922, S. 29 f. Nach Pletnevs Ansicht stand die sowjetische Republik in ihrer Rechtsordnung dem vorrevolutionären „Zemstvo" näher als einem wirklich eigenständigen föderativen Gliedstaat.

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wichtige Kennzeichen der neuen sowjetischen Nationalitätenpolitik in den dreißiger Jahren, auf die verschärften Säuberungsaktionen gegen die Nationalisten, auf die Verbreitung der Losung v o n „Sowjetpatriotismus", auf die gewaltsame Kollektivierung, die einen Großteil der traditionellen Wirtschaftsstrukturen grundlegend erschütterte, auf die forcierte Industrialisierung u n d die damit verbundene Migration, welche tiefgreifende Folgen für die ethnische Zusammensetzung der Bevölkerung in zahlreichen Regionen hatte 24 . Wie aber die Kollektivierung der russischen Landwirtschaft im Kriegskommunismus der Jahre 1918-1921 mit seinen Zwangsrequirierungen landwirtschaftlicher Produkte u n d der Eliminierung reicher Großgrundbesitzer angelegt war, bereitete sich auch Stalins repressive Nationalitäten- u n d Russifizierungspolitik in den Jahren des Sprachliberalismus vor. U m die verschiedenen Volksgruppen auf die Verschmelzung einzustimmen, entwickelten die Kommunisten ein fein aufeinander abgestimmtes Instrumentarium. Zu nennen ist in erster Linie der bis zur Eliminierung reichende Kampf gegen alle Nationalisten, die sich ihnen nicht anschlossen, u n d in zweiter Linie die Einrichtung autonomer Republiken und Gebiete auf national-territorialer Basis, die zunächst, zwischen 1920 u n d 1923, in der russischen Sowjetrepublik, später auch in den anderen Sowjetrepubliken erfolgte. Bei dem Prinzip der territorialen Autonomie handelte es sich dem Anschein nach u m eine demokratische Einrichtung, doch in der Praxis förderte sie nicht die Entwicklung der Nationalitäten, sondern die Assimilierung der Minderheiten. Schon 1913 hatté sich Lenin gegen die Ansichten der österreichischen Sozialdemokraten Otto Bauer u n d Karl Renner zur Frage der Errichtung v o n Nationalstaaten in Ostmitteleuropa gewandt. Die österreichischen Sozialisten vertraten das Prinzip der national-kulturellen Autonomie, das v o n Lenin entschieden abgelehnt wurde, w e i l es die Arbeiter der verschiedenen Nationalitäten einander entfremde, sie spalte u n d „künstlich" mit der Bourgeoisie ihrer eigenen Volksgruppe verbinde. Lenin war überdies davon überzeugt, daß sich das strategische Ziel der Kommunisten, d.h. die Bildung eines internationalen Staatsgefüges u n d die Verschmelzung der Nationalitäten einfacher über eine national-territoriale Autonomie durchsetzen lasse. Denn i m Prinzip gab es in jeder Region eine Vielfalt v o n Volksgruppen, deren Vermischung zudem im Zuge einer raschen Industrialisierung praktisch unvermeidlich war. Jede Industriestadt war ein „melting pot for nationalities" 25 . Die später in der Sowjetunion sich vollziehenden ethno-demographischen Prozesse bezeugen die absolute Richtigkeit v o n Lenins Voraussagen. Ein drittes Instrument der kommunistischen Nationalitätenpolitik der zwanzig Jahre bestand in der Ablösung der nationalen Kultur v o n ihren historischen Wurzeln durch die Einführung eines neuen Alphabets. 24 G. Simon, Nationsbildung und .Revolution von oben'. Zur neuen sowjetischen Nationalitätenpolitik der dreißiger Jahre, in: Geschichte und Gesellschaft, 8 (1982), S. 233-257. 25 Vgl. R. Smol-Stocki, The Captive Nations, S. 57.

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Viele Sprachen mit langer Schrifttradition u n d einer hochentwickelten Literatur w i e die tartarische, die mongolische, die tuwinische, die tadschikische, die usbekische u n d die aserbaidschanische w u r d e n latinisiert. Für die Völker ohne Schriftsprache w u r d e n ebenfalls auf der Basis des Lateinischen neue Alphabete geschaffen. Wissenschaftliche u n d technische Begriffe w u r d e n in der Regel einfach aus dem Englischen oder Deutschen transliteriert u n d nicht nach den herkömmlichen Sprachregeln gebildet. Der Minister für öffentliche Bildung Lunaciarskji versuchte Anfang der zwanziger Jahre sogar für die russische Sprache die lateinische Schreibweise einzuführen. Das neue „revolutionäre" Alphabet sollte die Sprachen v o n ihrer „bürgerlich-klerikalen" Vergangenheit abtrennen: Die arabischen Buchstaben der zentralasiatischen Sprachen seien der Vergangenheit zugewandt, die lateinischen Buchstaben verwiesen auf die kommunistische Zukunft. Neben der Kollektivierung der Landwirtschaft u n d der atheistischen Kulturrevolution der Gesellschaft sollte auch die „nationale Revolution" den Grund für die zukünftige kommunistische Ordnung der Sowjetunion legen. „Die Entwicklung der nationalen Sprachen u n d Kulturen kann während der Phase der Diktatur des Proletariats i n einem einzigen Land zugelassen werden, aber nur unter der Voraussetzung, daß die Bedingungen für die zukünftige Verbrüderung u n d Verschmelzung i m Rahmen einer einzigen gemeinsamen Sprache geschaffen werden, was geschieht, w e n n der Sozialismus in der ganzen Welt seinen vollständigen Sieg errungen hat", betonte Stalin auf dem 14. Parteitag v o n 1930. Die erste Phase der kommunistischen Nationalitätenpolitik neigte damit ihrem Ende zu. I n den Jahren zwischen 1930 u n d 1937 wurde der Versuch unternommen, auf schnellstem Wege eine sowjetische Gesellschaft zu errichten u n d ein homogenes Volk zu schaffen. D o c h die streng internationalistische Basis der sowjetischen Staatsideologie erwies sich i m Wettbewerb mit dem „Weltkapitalismus" u n d den neuen autoritären Regierungen in Europa als eine ziemlich künstliche Konstruktion. Stalin gab sie notgedrungen wieder auf u n d zog sich auf den natürlichen, weniger umfassenden Boden des Ethnozentrismus zurück. Ende der dreißiger Jahre trat die Russifizierungspolitik an die Stelle des ursprünglichen Internationalismus. Die erst kurz zuvor eingeführten lateinischen Alphabete w u r d e n jetzt durch das kyrillische ersetzt. I n allen Schulen der Sowjetunion wurde Russisch Pflichtfach. Mehr u n d mehr nahm die Sowjetunion den Charakter normaler Nationalstaaten an u n d begann in wachsendem Maße dem früheren Zarenreich zu gleichen. Die kommunistische Ideologie, zunächst ernstzunehmende Grundlage einer politischen Theorie, schlug u m in ein System v o n Losungen, Zerimonien u n d magischen Leerformeln, an die man zwar glauben mochte, mit denen sich aber die neuen Bedingungen des gesellschaftlichen Zusammenlebens nicht schaffen ließen. I m Wandel der sowjetischen Nationalitätenpolitik spiegelte sich dieser allgemeine Umschlag wider. Die 1990-1991 erfolgte Auflösung der Sowjetunion läßt sich als direkte Folge u n d als Ergebnis dieses „dialektischen", zwischen Förderung u n d Unterdrük-

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Nationale Minderheiten und dominante Nationalität

kung schwankenden Verhältnisses der Kommunisten gegenüber den nationalen Minderheiten betrachten. Die nationalen Minderheiten, die sich nach Jahrzehnten der national-territorialen Autonomie als wirkliche politische Einheiten verstanden, entzogen sich nach dem Zusammenbruch des totalitären kommunistischen Staates der erzwungenen Entnationalisierung, der künstlichen Verschmelzung u n d Russifizierung, indem sie n u n ihre eigenen unabhängigen Staaten gründeten. So sieht die Schlußbilanz der sowjetischen Nationalitätenpolitik aus.

Nationalitäten in Mittel- und Osteuropa zwischen den Weltkriegen

Weißrussen Ukrainer Ungarn Rumänen Tschechen Slowaken

5 Corsini / Zaffi

Bosniaken. Ρ Pomaken. Se

BuBulgaren. Serben. So

Κ

Kroaten,

Sorben. T.: Türken

M

Mazedonier.

Die Lage der schwedischen Volksgruppe i n Finnland i n der Zwischenkriegszeit Von Tore Modeen

1. Allgemeiner Rahmen - Die historische Entwicklung Finnland besaß seit je eine ethnisch homogene Bevölkerungsstruktur. Neben den beiden großen Volksgruppen der Finnen u n d Schweden nahmen sich die anderen Nationalitäten verschwindend klein aus. Obgleich i m Mittelalter in fast allen baltischen Städten Deutsche w o h n t e n u n d noch i n der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Wiborg i m Osten Finnlands deutsch geprägt war, erklärten 1930 nur 3.719 finnische Staatsbürger, deutschsprachig zu sein. Über ein Jahrhundert (1809-1917) stand ganz Finnland, u n d der östliche Landesteil bereits seit 1721, unter russischer Herrschaft, und doch belief sich die Zahl der russischsprachigen finnischen Staatsbürger nur auf 8.216. Von den Lappen, den Ureinwohnern i m finnländischen Norden, gab es noch weniger (1930: 2.113). Eine Untersuchung der ethnischen Struktur Finnlands kann sich also auf die schwedische u n d die finnische Volksgruppe beschränken 1 . Finnland gehörte für lange Zeit zum Königreich Schweden, mit dem Schwedischen als einziger Amtssprache. Nach der Eroberung durch Rußland i m Jahr 1809 w u r d e Finnland ein selbständiges Großfürstentum, dessen Bevölkerungsmehrheit finnisch sprach, während die Führungsschicht schwedischer Muttersprache war. Da die Sprache der Mehrheit sich nicht als Kultursprache entwikkelt hatte u n d in den herrschenden Kreisen nur w e n i g bekannt war, konnte sie nicht sofort als Amtssprache anerkannt werden, obgleich der größte Teil der Führungsschicht u n d der russische Kaiser selbst einen derartigen Schritt befürworteten. Bis dahin dauerte es noch viele Jahre, u n d zwischenzeitlich blieb Schwedisch die einzige Amtssprache. Erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts kam Finnisch als zweite Amtssprache hinzu. Allerdings hatte das Schwedische bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in der finnischen Gesellschaft noch eine starke Stellung inne.

1 Der Terminus „schwedisch" bezieht sich hier auf den finnländischen Bürger schwedischer Muttersprache und Kultur. Der Terminus „finnisch" meint den Bürger finnischer Muttersprache und Mentalität; „Finnländer" (finnländisch) heißen schließlich die Staatsbürger des Landes unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit.

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Mit dem 20. Jahrhundert u n d vor allem nach den Wahlen v o n 1906, die auf der Basis des allgemeinen, das Gewicht der finnischen Mehrheit erheblich stärkenden Wahlrechts erfolgten, schritt die Entwicklung rasch voran, insofern das politische Leben, die Justiz- u n d Staatsverwaltung zunehmend finnisch durchsetzt wurden. Die finnische Schriftsprache hatte sich zu jenem Zeitpunkt bereits konsolidiert u n d viele neue Wörter in sich aufgenommen. Die Umwandlung der schwedisch geprägten in eine finnisch beherrschte Gesellschaft vollzog sich sehr rasch. Zwar war Finnland zu Beginn der Zwischenkriegszeit noch kein vollkommener finnischer Nationalstaat, doch überwog in i h m bereits die finnische Komponente. Die schwedische Minderheit besaß in der Folge nur beschränkte Einwirkungsmöglichkeiten auf die finnländische Politik u n d Verwaltung.

2. Die früheren Bestimmungen zum Sprachgebrauch Die Lage der russischen Sprache Die Verordnungen v o n 1883 u n d 1902 über den Gebrauch der Amtssprachen machten Finnisch zur nationalen Amtssprache, ließen aber i n Verwaltung, Gesetzgebung u n d Rechtsprechung auch das Schwedische selbst in den ausschließlich v o n Finnen bewohnten Regionen bestehen. Zar Nikolaus II. führte i m Jahr 1900 mit seinem Manifest Russisch als weitere Amtssprache ein. Obgleich diese Initiative nur eine geringe Bedeutung besaß, w e i l die russische Bevölkerung in Finnland seit je nur eine verschwindende Minderheit darstellte, rief sie in den patriotischen Kreisen des Landes eine heftige Opposition hervor. Infolge der Russifizierung des Senats u n d einiger anderer Staatsämter in der Endphase der russischen Herrschaft rückte die russische Sprache zur internen Amtssprache der höchsten staatlichen Organe auf. Russisch war Pflichtfach in den höheren Schulen u n d Gymnasien, fand allerdings keinen großen Anklang. Nach der Unabhängigkeitserklärung v o n 1917 schaffte die finnische Regierung Russisch als Amtssprache sofort ab. In der Zwischenkriegszeit wurde Russisch an den Schulen nur w e n i g - u n d auf jeden Fall nur als Wahlfach - unterrichtet.

3. Die finnische Nationalbewegung — Die allgemeine Entwicklung vor dem Ersten Weltkrieg Die finnische Nationalbewegung ging aus den akademischen Kreisen v o n Helsingfors hervor, die Schwedisch sprachen u n d die zuweilen des Finnischen nicht einmal mächtig waren. Ursprünglich gab es nur schwedische Schulen. Vor 1843 w u r d e finnisch an den höheren Schulen u n d Gymnasien nicht unterrichtet. Erst 1851 wurde ein Universitätslehrstuhl für Finnisch eingerichtet. 1856 wurde Finnisch an einigen

Die Lage der schwedischen Volksgruppe in Finnland

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Schulen als Unterrichtssprache eingeführt. Das erste finnische Gymnasium entstand 1858; 1865 fand zum ersten Mal eine finnische Reifeprüfung an einer Schule in Zentralfinnland statt. Doch bereits 1887 überragte die Zahl der Universitätsstudenten, die ihre Reifeprüfung an einer finnischen Schule abgelegt hatten, die Zahl der Studenten, die eine schwedische Schule besucht hatten. Einige staatliche Schulen wurden in dieser Periode in finnische Schulen umgewandelt. Zugleich kam es zur Gründung vieler neuer schwedischer u n d finnischer Privatschulen. Die Schulorganisation blieb deshalb in sprachlicher Hinsicht geteilt. Es gab voneinander getrennte schwedische u n d finnische Volkschulen, i n denen die jeweils andere Nationalsprache nicht unterrichtet wurde. In den privaten Kultur- und Wirtschaftsbeziehungen der finnländischen Bürger herrschte die schwedische Sprache etwas länger vor als im öffentlichen Leben, obgleich die finnische Nationalbewegung sich aktiv für eine entsprechende Änderung eingesetzt hatte; in der Zwischenkriegszeit gelang es ihr dann, den Gebrauch des Finnischen auch in den persönlichen Beziehungen zwischen Schweden u n d Finnen durchzusetzen.

4. Die Zwischenkriegszeit - Statistik - Allgemeiner Rahmen Nach der Volkszählung v o n 1920 gab es 2.754.228 Finnen („finnischsprachige Bevölkerung") u n d 340.963 Schweden („schwedischsprachige Bevölkerung"); 1930 beliefen sich die Zahlen auf jeweils 3.022.257 u n d 342.916. Die beiden Kategorien bedürfen einiger Erläuterungen zu ihrem korrekten Verständnis. I n dem hier angesprochenen Zeitraum kam die Mehrheit der schulisch gebildeten Bevölkerung mündlich u n d zum Teil auch schriftlich mit der zweiten „einheimischen Sprache" (wie die andere Nationalsprache in Finnland genannt w i r d ) gut zurecht. Für diese Bevölkerungsgruppe bedeutete die Angabe der Sprache beim Eintrag ins Melderegister oder bei Volkszählungen oftmals nur, daß sie sich der einen oder der anderen Volksgruppe zugehörig fühlten. Die Entscheidung gehorchte in diesen Fällen subjektiven, nicht objektiven Kriterien. Während in anderen europäischen Staaten die Mehrheitsgruppe kaum die Sprache der Minderheit konnte, die Zwei- oder Mehrsprachigkeit vielmehr zumeist bei den Minderheitsangehörigen auftrat (diese Situation begann sich in den 90er Jahren langsam auch in Finnland abzuzeichnen), war die gebildete Schicht i m Finnland der Zwischenkriegszeit generell zweisprachig. Selten war diese Zweisprachigkeit Resultat eines effizienten Sprachunterrichts in den finnländischen Schulen. Die Finnen alteingesessener Familien benutzten oftmals trotz ihrer finnischen Orientierung Schwedisch als Verkehrssprache. Aber auch viele Finnen ohne schwedische Vorfahren lernten Schwedisch, als sie sahen, daß seine Kenntnis nützlich war. Selbstverständlich gab es regionale Unterschiede. Verbreiteter war die Zweisprachigkeit unter den gebildeten Finnen in Helsingfors, Àbo, Vasa u n d in

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anderen Küstenstädten mit nachhaltigen schwedischen Traditionen, weniger ausgeprägt in den Städten, die in Regionen mit einer Bevölkerung rein finnischer Abstammung lagen. I m finnischen Finnland gab es auf jeden Fall viele alteingesessene bürgerliche Familien u n d (evangelische) Pfarrerfamilien mit schwedischen, i m Osten Finnlands auch mit deutschen Traditionen, denen das Schwedische i n der Zwischenkriegszeit noch nicht zur Fremdsprache geworden war. Nicht immer bedeutete die Zweisprachigkeit der finnländischen Familien jedoch, daß man sich der Verwendung des Schwedischen i m öffentlichen Leben u n d der schwedischen Schulorganisation gegenüber tolerant verhielt. So vertraten die finnischen Studenten i n den 30er Jahren großenteils radikale nationalistische Ideen u n d forderten lautstark, daß an der staatlichen Universität nur Finnisch als Unterrichtssprache zugelassen werden sollte (in der Zwischenkriegszeit gab es nur i n Helsingfors eine staatliche Universität; bei den beiden anderen Universitäten, der schwedischen Àbo Akademi u n d der finnischen Turun Yliopisto, beide in Àbo, handelte es sich u m private Einrichtungen). Die Schweden waren sich ihrerseits bewußt, daß sie sich ohne Kenntnis des Finnischen keine großen Zukunftshoffnungen in einem v o n Finnen beherrschten Finnland machen durften. Die schwedischen Siedlungen waren zu klein u n d zu arm, u m zahlreiches Verwaltungspersonal oder viele Wirtschaftskräfte unterhalten zu können. Deshalb konzentrierten sich die Schüler der schwedischen Gymnasien nachhaltig auf die Erlernung der finnischen Sprache. Bereits in der Zwischenkriegszeit war die Mehrheit der gebildeten Schweden also mehr oder weniger zweisprachig. Noch 1930 lebte die große Mehrheit der finnländischen Bevölkerung auf dem Land, allerdings verhältnismäßig mehr Finnen (83%) als Schweden (64%). I n der Stadt war die Zweisprachigkeit weiter verbreitet als auf dem Land, w o die Bevölkerung nur eine Grundbildung (ohne Unterricht in der zweiten Amtssprache) erfahren hatte.

5. Die innen- und außenpolitische Situation Finnlands zu Beginn der Zwischenkriegszeit Nach der russischen Oktoberrevolution v o n 1917 erklärte das bis zu diesem Zeitpunkt autonome russische Großfürstentum Finnland einseitig die Unabhängigkeit. D o c h erst nach dem Unabhängigkeitskrieg v o n 1918 stabilisierten sich die innenpolitische Lage in Finnland u n d dessen Beziehungen zu Rußland. Ein Friedensvertrag mit Sowjetrußland wurde 1920 in Dorpat abgeschlossen. Während Finnland eine eigene Verfassung ausarbeitete, kam es zu Auseinandersetzungen über den Rang der beiden Amtssprachen. Die finnischen Nationalisten (K.J. Stählberg u n d seine „liberale" Fortschrittspartei; die Agrarpartei) waren gegen detaillierte Bestimmungen über die Zweisprachigkeit in Finnland. Ihrer Meinung nach reichte es, den Bürgern im Verkehr mit den öffentlichen Behörden den Gebrauch der eigenen Sprache, d.h. des Finnischen oder Schwe-

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dischen, zu gewähren. Die schwedische Volkspartei verlangte hingegen zahlreiche Bestimmungen zum Schutz der Zweisprachigkeit in Finnland, bis hin zu der Forderung, beide Sprachen nach dem Modell der Schweizer Verfassung als Nationalsprachen anzuerkennen. Die Verfassung v o n 1919 wurde in einer v o n den Schweden gewünschten Form v o m Parlament verabschiedet u n d v o m Reichsverweser Gustaf Mannerheim unterzeichnet. Die Verfassung bestimmte die Parität beider Sprachen u n d damit auch beider Volksgruppen. Verschiedene Faktoren trugen zu diesem Ergebnis bei, darunter Finnlands schwache außenpolitische Stellung. Finnland strebte an, als souveräner Staat anerkannt zu werden. Da der Völkerbund ein wichtiges Organ für die internationale Zusammenarbeit zu sein schien, setzte sich Finnland energisch für den Beitritt ein. Der Völkerbund förderte den Schutz nationaler Minderheiten in den neuen Mitgliedsstaaten. So hob die finnländische Regierung während der Aufnahmeverhandlungen nachhaltig hervor, daß die finnländische Verfassung die schwedische Minderheit der finnischen Mehrheit gleichstellte. A m Ende wurde Finnland aufgenommen, ohne ein Sonderabkommen zum Minderheitenschutz abschließen zu müssen, w o z u hingegen der größte Teil der neuen Mitgliedsstaaten verpflichtet wurde. Man sah darin einen Erfolg der finnländischen Diplomatie. Zur selben Zeit hatte der Völkerbundsrat über einen Konflikt zwischen Finnland u n d Schweden bezüglich der Zugehörigkeit der Aland-Inseln zu befinden. Schweden begründete seinen Anspruch auf die Inseln damit, daß sie unter dem Gesichtspunkt der Volkszugehörigkeit vollständig schwedisch waren. Die Inselbewohner selbst befürworteten einen Anschluß an Schweden, denn sie befürchteten eine durchgehende Finnisierung Finnlands u n d damit auch ihrer Inseln. Die v o n der neuen finnischen Verfassung bekräftigte freizügige Haltung des Staates gegenüber der schwedischen Volksgruppe war ein wichtiges Argument für die Beibehaltung der finnischen Oberhoheit (Entscheidung des Völkerbundsrates v o n 1921), da auf der Grundlage des Prinzips der Zweisprachigkeit keine Finnisierung der v o n den Schweden bewohnten Gebiete drohte. Innenpolitische Gründe trugen ebenfalls zur verfassungsmäßig festgelegten Zweisprachigkeit bei. Die schwedische Volkspartei war für eine monarchische Verfassung eingetreten, wodurch sie die Partei der finnischen Rechten für sich einnahm. Daran änderte sich auch nichts, nachdem die republikanische Verfassung sich durchgesetzt hatte. Die Sozialdemokraten, die nach dem Unabhängigkeitskrieg wieder eine starke Stellung i m Parlament innehatten, stimmten unter der Führung v o n Exponenten w i e A.J. Ryömä u n d Väinö Tanner, die für ihre liberalen Ideen in Fragen des Zusammenlebens der beiden Volksgruppen bekannt waren, für die Zweisprachigkeit u n d damit auch für den Schutz der Bürger schwedischer Abkunft. Die Sozialdemokraten verteidigten Finnlands Zweisprachigkeit in der gesamten Zwischenkriegszeit. Ohne ihre Hilfe wäre es der kleinen schwedischen

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Volkspartei wahrscheinlich nicht gelungen, die Rolle der schwedischen Sprache in der Verwaltung u n d in der Universität zu wahren.

6. Das Sprachengesetz von 1922 Das mit zahlreichen Änderungen noch heute gültige Sprachengesetz v o n 1922 ging w i e die Verfassung v o n der Existenz der finnischen u n d der schwedischen Volksgruppe und deren Rechtsgleichheit aus. In einigen Fällen spürte man jedoch das Übergewicht der finnischen gegenüber der schwedischen Volksgruppe. Dies gilt insbesondere für den Bereich der Staatsbürokratie, ebenso aber ( w e n n auch nicht in formaler Hinsicht) für die Beziehungen der Staatsbürger zu den Behörden. I m vorliegenden Zusammenhang interessiert die für die 20er u n d 30er Jahre gültige Fassung des Gesetzes. Welche Rechte den beiden Sprachgruppen in den Provinzialregierungen, in den Verwaltungs- u n d Gerichtsbezirken sowie in den Gemeinden zustanden, hing v o n ihrer alle zehn Jahre zu überprüfenden zahlenmäßigen Größe ab. Diese „Sprachstatistik" kam unter A n w e n d u n g eines subjektiven Kriteriums zustande, indem die finnländischen Bürger befragt wurden, welcher Volksgruppe sie u n d ihre minderjährigen Kinder zugehören wollten. Sie bot die Grundlage für die „sprachliche" Klassifikation der Bezirke u n d Gemeinden, die für die nächsten zehn Jahre gültig blieb. Die Klassifikation der Bezirke nahm der Staatsrat (die Regierung) vor, und seine diesbezüglichen Entscheidungen wurden im amtlichen Gesetzesblatt veröffentlicht. Nach den Gesetzesbestimmungen war ein Bezirk als zweisprachig einzustufen, w e n n die Minderheit mindestens 10% der Bevölkerung betrug. In diesem Fall standen beide Sprachen gleichberechtigt nebeneinander, beide waren Verkehrssprachen der Behörden. In einem Bezirk mit einer einzigen Amtssprache galt hingegen ausschließlich die Sprache der Mehrheit, w e n n man v o n einigen wenig bedeutsamen Ausnahmen zugunsten der Minderheitengruppe absieht. Ein wenig anders sah es bei den kommunalen Organen aus. Stellte eine Volksgruppe weniger als ein Drittel der Bevölkerung, besaßen ihre Mitglieder nur ein eingeschränktes Recht, amtliche Dokumente in ihrer eigenen Sprache zu verlangen. Die staatlichen Zentralbehörden mußten selbstverständlich zweisprachig verfahren, allerdings mit Finnisch als der Mehrheitssprache. Ein Gesetz v o n 1921 setzte die Sprachkenntnisse fest, über die die verschiedenen Kategorien v o n Staatsbediensteten verfügen mußten. Von den Beamten forderte es eine perfekte Kenntnis der Mehrheitssprache u n d eine hinreichende Kenntnis der Minderheitssprache. Die Gemeinden hingegen konnten den Grad der Sprachkenntnisse für ihre Angestellten völlig frei festlegen. Aufgrund der weitverbreiteten Zweisprachigkeit unter den Finnländern, deren Schul- u n d Ausbildungszeit in die Zwischenkriegszeit fiel, konnten die Gesetzesbestimmungen über die Sprachkenntnisse im wesentlichen korrekt ange-

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wandt werden. So gab es in dieser Hinsicht auch keine Klagen darüber, daß die Behörden den Gesetzesbestimmungen nicht nachkämen. Zu bedenken ist dabei aber, daß das Mitglied einer Minderheit aus persönlichen Gründen häufig auf die eigenen Rechte verzichtet, w e n n die Mehrheitssprache ihm keine Schwierigkeiten bereitet.

7. Die Lage in der Zwischenkriegszeit Die öffentliche Verwaltung - Die Schulorganisation Die staatlichen Zentralbehörden waren unterschiedslos für beide Volksgruppen zuständig. Deshalb betrachtete man es als eine wichtige Neuerung, als 1920 bei der zentralen Schulverwaltung eine schwedische Abteilung geschaffen wurde. Ebenso wichtig war 1923 die Einrichtung eines evangelischen Bischofsstiftes für die Schweden. Ansonsten benutzten alle Ministerien u n d Zentralbehörden Finnisch als Amtssprache, die ihre Angestellten perfekt beherrschen mußten. In allen Provinzialverwaltungen überwogen die Finnen. Die Gemeindeverwaltungen waren für die finnländischen Staatsbürger insofern höchst wichtig, als v o n ihnen ein Großteil der sozialen Dienstleistungen abhing. Für die drei w i c h t i g s t e n Städte m i t schwedischer B e v ö l k e r u n g (Helsingfors, Àbo, Vasa) garantierte das Sprachengesetz die A n w e n d u n g beider Sprachen unabhängig v o n den zahlenmäßigen Größenverhältnissen. 1935 wurde diese Garantie aufgehoben. Die schwedische Sprache wurde in den Verwaltungen der Gemeinden benutzt, deren Bevölkerung sich ausschließlich oder mehrheitlich aus der schwedischen Volksgruppe zusammensetzte. In Finnland verfügten die Gemeinden über eine beträchtliche Verwaltungsautonomie. Allein die Aland-Inseln besaßen als Region ein besonderes Autonomiestatut. Einige schwedische Kreise versuchten zwischen 1917 u n d 1923 erfolglos, mehrheitlich v o n Schweden bewohnte Regionen mit einem Autonomiestatut auszustatten. Nicht nur die finnische Mehrheit lehnte solche Maßnahmen ab, sondern auch ein Großteil der finnländischen Staatsbürger schwedischer Abstammung, die sich nicht „in schwedischen Enklaven isolieren" wollten. I n den 20er Jahren unseres Jahrhunderts waren v o n den insgesamt 542 Gemeinden u n d Städten 47 Landgemeinden u n d die Stadt Marieham auf den Àland-Inseln schwedisch. Von den zweisprachigen Gemeinden besaßen 27 eine schwedische u n d 7 eine finnische Mehrheit. In den 30er Jahren lauteten die entsprechenden Zahlen bei insgesamt 592 Gemeinden 46, 25 und 11. Die wichtigsten Städte besaßen schon damals u n d zwar auch in den schwedischen Regionen eine finnische Mehrheit. 1928-1929 gab es insgesamt 67 staatliche Gymnasien; in 52 v o n ihnen galt Finnisch, u n d in 15 Schwedisch als Unterrichtssprache. Daneben bestanden 40 finnische und 18 schwedische Priva tschulen.

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8. Schlußbetrachtungen D e n Bewohnern der Àland-Inseln wurden besondere, v o m internationalen Recht garantierte Schutzbestimmungen zur Beibehaltung einer einzigen Amtssprache auf den Inseln gewährt. Für die übrigen schwedischen Gebiete in Finnland fehlten hingegen derartige Maßnahmen, so daß die zunehmende Ansiedlung v o n Finnen die schwedischen Wohngebiete, insbesondere die Städte entlang der Küste, i n nationaler Hinsicht bedrohte. Das Prinzip der Gleichbehandlung stellte noch keinen besonderen Schutz für die Minderheit dar. Die Schweden lebten großteils in Einzelsiedlungen, was die Erhaltung ihres Volkscharakters erschwerte. Obgleich einige finnische Nationalisten in den 30er Jahren versuchten, Finnland i n einen Nationalstaat mit einer einzigen Amtssprache umzuwandeln, sind die Verfassungsbestimmungen bezüglich der nationalen Minderheiten nicht abgeändert worden. Die in den 30er Jahren besonders heftigen Angriffe der finnischen N a t i o n a l i s t e n rief b e i d e n S c h w e d e n ebenso e n t s c h i e d e n e Verteidigungsbemühungen hervor. Diese sahen sich angesichts der damals besonders weit verbreiteten Intoleranz einem starkem Druck ausgesetzt. Obgleich sich Ende der 30er Jahre die finnländische Außenpolitik Skandinav i e n gegenüber öffnete, änderte sich dadurch noch nicht die Haltung der finnischen Mehrheit gegenüber den Schweden. Dazu bedurfte es des Zweiten Weltkrieges u n d der schwierigen Nachkriegszeit, die eine gewisse Abschwächung des finnischen Nationalismus bewirkten. Der Nationalismus lebt aber bis heute i n einigen Kreisen fort, obgleich der Umfang der schwedischen Volksgruppe in Finnland zurückgegangen ist.

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Die nationalen Minderheiten i n Polen i n der Zwischenkriegszeit (1919-1939) Von Jerzy Kozehski

D e m seit dem Mittelalter u n d insbesondere seit dem 16. Jahrhundert weiträumigen polnischen Staat wurde 1795 durch die Verschwörung seiner drei Nachbarstaaten Preußen, Österreich u n d Rußland ein Ende bereitet. Die während der napoleonischen Epoche geweckten Hoffnungen auf seine Wiederherstellung erfüllten sich nicht; tatsächlich bot das 1815 geschaffene „Kongreßpolen" der polnischen Gesellschaft keine angemessenen Möglichkeiten für ihre ökonomische u n d gesellschaftliche Entwicklung. Die nationalen Erhebungen v o n 1830 u n d 1863, denen es nicht gelang, die nationale Unabhängigkeit durchzusetzen, trugen immerhin die nationalen Ideen u n d Traditionen in breite gesellschaftliche Schichten. Wie i m übrigen Europa entwickelte sich also auch i n den besetzten polnischen Gebieten eine moderne polnische Nationalidee 1 . Kaum flammte während des Ersten Weltkrieges die Hoffnung auf Vergeltung gegenüber den Besatzungsmächten auf, eroberte sich das in Literatur, Kunst u n d unter den Intellektuellen sehr lebendige Unabhängigkeitsstreben eine breite gesellschaftliche Basis. Die Anstrengungen der polnischen Nation erreichten 1918 mit der Einrichtung eines unabhängigen Staates ihr Ziel. A m 11. November 1918 übernahm der große Patriot u n d Kommandant der polnischen Legion Josef Piisudski die Leitung des ein Jahr zuvor v o n den Mittelmächten eingerichteten Regentschaftsrats, u n d drei Tage später w u r d e er zum Staatschef ernannt. Die kurz zuvor in Lublin eingerichtete Provisorische Volksregierung unterwarf sich seiner weithin anerkannten Autorität. Gleichzeitig verließen die österreichischen Truppen Galizien u n d das oberschlesische Teschen, d.h. die Gebiete mit national gemischter Bevölkerung, doch der Plan, dort eine warschaufreundliche Regierung zu bilden, wurde nicht v e r w i r k l i c h t . Das konservative Lager, die sogenannte Nationaldemokratie, widersetzte sich energisch Pilsudski; an ihrer Spitze stand Roman Dmowski, der das Polnische Nationalkomitee gegründet hatte und sich seit 1915 im Ausland aufhielt. Diese Kreise, die auf die Gunst der Siegermächte zählen konnten, bereiteten sich auf die Übernahme der Regierung i m befreiten Polen vor. Unter Ausnut1

Eine gute Einführung in die polnische Geschichte vgl. u.a. in: G. Rhode, Geschichte Polens. Ein Überblick, Darmstadt 1980; H. Roos, Geschichte der polnischen Nation 1916-1985, 4. Aufl., Stuttgart 1961; aus den unzähligen polnischen Arbeiten sei verwiesen auf die Monographie von J. Pajewski, [Wiederaufbau des polnischen Staates 1914-1918], Warschau 1978.

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zung v o n nationalen u n d nationalistischen Losungen ignorierten sie die Interessen der zahlreichen nationalen Minderheiten i m neuen polnischen Staat, die bereits in der Zeit der Teilung schlechte Erfahrungen i m Zusammenleben gerade mit den Polen gemacht hatten 2 . Pilsudskis auch i m Ausland anerkannte Autorität 3 führte schließlich zur Bild u n g einer Regierung der Mitte-Rechts-Koalition unter der Leitung des international bekannten Pianisten Ignacy Paderewski, die auf das sozialistische Kabinett v o n Jedrzej Moraczewski folgte. Die Regierung entwickelte keine eigenen Strategien, u m die Minderheiten für sich zu gewinnen, sondern überließ die Frage dem Parlament, das den ethnischen u n d religiösen Minderheiten Sonderrechte gewähren sollte 4 . Durch allgemeine bürokratisch-administrative Bestimmungen begann sie mit dem Aufbau einer zentralisierten Verwaltung, was u m so mehr beunruhigte u n d u m so größeren Widerspruch hervorrief, da i m wiedererrichteten Polen aufgrund der Ereignisse der Vergangenheit u n d aufgrund eines weitgehend erfolgreichen „Kampfes u m die Grenzen" zahlreiche Minderheiten lebten 5 . Programm u n d Ziele dieses Kampfes legte Roman D m o w s k i am 28. Februar u n d am 3. März 1919 der Versailler Konferenz vor. Ganz Galizien, das mehrere Millionen Ukrainer zählte, die Zips, ferner Orava u n d Teschen mit einer großen Zahl slowakischer Einwohner, die gesamte Region Posen u n d Oberschlesien, die Teile, die zur Regentschaft W r o d a w u n d O p p e l n gehörten, schließlich Westpreußen u n d das gesamte Ermland sollten annektiert werden. Nach Osten wollte man die Grenze bis Polock, Minsk, Rowne u n d Kamieniec Podolski vorschieben. Außerdem wurde der Fluß Dniestr als Grenze nach Rumänien angegeben. Diese Forderungen standen i n Zusammenhang mit dem Friedensprogramm des Präsidenten der Vereinigten Staaten Woodrow Wilson, dem das polnische Problem am Herzen lag u n d der in seinem 14-Punkte-Programm v o m 8. Januar erklärt hatte, der neue polnische Staat solle „die v o n unbestritten polnischen Bevölkerungen bewohnten Gebiete einschließen" 6 . 2 Es handelt sich hier vor allem um die größeren Minderheitengruppen, d.h. um die Juden und die Ukrainer; vgl. dazu E. Mendelsohn , [Die Juden in Ostmitteleuropa in der Zwischenkriegszeit], Warschau 1992, S. 31-122, und eine Reihe von Arbeiten von D. Beauvois, darunter auf polnisch [Die Polen in der Ukraine 1831-1863. Der polnische Adel in Volyn, Podole und Kiew], Paris 1988. 3

Vgl. dazu neuerdings Kessler, Gesichter und Zeiten. Erinnerungen, Frankfurt a.M. 1988, S. 297-305, 332-334; J. Pajewski, [Wiederaufbau des polnischen Staates]. 4 Dziennik Ustaw [Amtsblatt] RP 1921, Nr. 44, Pos. 267; [Gründung der 2. Republik. Ausgewählte Dokumente], hrsg. von H. Jonowska / T. Jedruszczak, Warschau 1981, Dok. 312, S. 622-633. 5 [Kampf um die Grenzen] lautet das bekannte Kapitel aus dem Buch von PobógMalinowski, [Die politische Zeitgeschichte Polens, II: 1914-1939], London 1961, S. 284380. Vgl. ferner A. Garlicki (Hrsg.), [Zur Geschichte der 2. Republik. Sammelwerk], Warschau 1986, Beitrag von J. Osica, S. 34-72; M.K. Kamiùski / M.J. Zacharsias, [Die Außenpolitik der 2. Republik 1918-1939], Warschau 1987, S. 9-61. 6

In: Die siebenundzwanzig Punkte des Präsidenten Wilson, Berlin 1918, S. 3.

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Noch bevor aber der Oberste Rat der Friedenskonferenz zu den polnischen Forderungen Stellung nehmen konnte, u n d noch bevor sie präzisiert werden konnten, kam es am 27. Dezember 1918 in Poznan zum Aufstand, u n d nach zahlreichen Zusammenstößen wurde Großpolen Ende Februar 1919 v o n der deutschen Herrschaft befreit, auch w e n n die Kämpfe noch bis zum Juni, d.h. bis zur Unterzeichnung des Versailler Friedensvertrages mit Deutschland, anhielten. Der Gedanke, i m Zuge der großpolnischen Tendenzen auch Danzig zu besetzen, wurde nicht verwirklicht, da die Führung des Volksrates zu Recht befürchtete, daß die Westmächte eine derartige Aktion mißbilligen würden 7 . I m übrigen hatte der amerikanische Präsident den Polen unter Punkt 13 seinem erwähnten Programm einen freien u n d sicheren Zugang zum Meer zugesagt, den sie dann auch erhielten. Danzig allerdings wurde zur „Freien Stadt" erklärt, was die Polen ebenso enttäuschte w i e die Festlegung der ostpreußischen u n d südpolnischen Grenzen, obgleich auf diese Weise die Zahl der deutschen Bevölkerung i m neuen polnischen Staat verhältnismäßig begrenzt blieb. Die späteren Volksabstimmungen in Oberschlesien, im Ermland u n d in den Masuren erhöhten die Zahl der Deutschen in Polen. Doch die deutsche Minderheit in den letztgenannten Gebieten stellte für die Zweite Republik kein Problem dar, während u m die Bevölkerungsgruppen, die innerhalb der Grenzen der Zeit vor den Teilungen wohnten, ein regelrechter Kampf einsetzte, dessen Spuren noch in der heutigen Literatur zu finden sind. Die Initiative zum Kampf u m die Grenzgebiete w i r d i m allgemeinen dem Staatschef Piisudski zugeschrieben, der sofort nach der Erlangung der Unabhängigkeit offen erklärte, Polen sei praktisch ohne Grenzen. Alles das, was man nach Westen hin erobern könne, hänge v o n den Alliierten ab, während nach Osten hin die Lage anders aussehe. So betonte er im Februar 1919, daß die Türen i m Osten sich öffnen u n d schließen u n d daß alles davon abhänge, auf welche Weise u n d mit wessen Hilfe es gelinge, sie zu öffnen 8 . A u f der Grundlage dieser Einschätzung versuchte man ein möglichst starkes polnisches Heer aufzubauen, das sowohl der Verteidigung als auch dem Angriff dienen konnte. I m November 1918 belief sich die Stärke der polnischen Streitkräfte auf ungefähr 6.000 Mann, i m Januar 1919 auf 110.000. Gegen Ende des Sommers wuchs sie bis auf 600.000 Mann an, v o n denen 350.000 in vorderster Linie standen. Später übernahmen die Streitkräfte auch Aufgaben nach innen, doch unmittelbar nach Kriegsende wurden sie im Osten entlang der früheren Grenzen der Republik der „Zwei Nationen" stationiert, die 1569 unter den Jagiellonen mit der Lubliner U n i o n entstanden war. Zu jener Zeit lebten in der Republik verschiedene Volksgruppen w i e die zuweilen Weißrussen genannten Litauer und die Juden. Die Ruthenen schließlich bildeten eine Nation für sich, die als solche bereits in den damaligen Akten 7

Von den zahlreichen marxistischen Studien, die nach dem Zweiten Weltkrieg erschienen sind, sei hier nur der Sammelband von Z. Grot (Hrsg.), [Der Aufstand Großpolens, 1918-1919], Poznan 1968, erwähnt. 8 M.K. Kamiriski, [Außenpolitik], S. 12.

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des ukrainischen Parlaments erwähnt worden waren. Polen hatte sie jedoch für lange Zeit nicht anerkannt, was weitreichende Folgen haben sollte. Polen besetzte weite Gebiete des früheren litauisch-ruthenischen Fürstentums, schlug die Feinde nach Norden zurück, übernahm die Herrschaft über die Ukraine u n d teilte sich deren Territorium mit Rußland. So blieb es bis zu den eingangs erwähnten Teilungen. Die oberen Gesellschaftsschichten wurden rasch polonisiert, u n d infolgedessen wurde die Entwicklung des ukrainischen Nationalbewußtseins geschwächt u n d verzögert. Die tiefgreifende Russifizierung im zaristischen Teil der Ukraine hatte ihre Früchte gezeitigt, so daß sich wie in Polen trotz verschiedener Aufstände erst 1918 die Möglichkeit zur Gründung eines ukrainischen Staates bot. Auch die Litauer nutzten die Gelegenheit, und Weißrußland regte sich ebenfalls, vermochte das Interesse der Weltöffentlichkeit jedoch nicht in ebenso hohem Maße auf sich zu lenken. Das ukrainische Problem gestaltete sich noch schwieriger. Das gesamte alte, später Ostgalizien genannte Rotreußen befand sich seit der Teilung v o n 1772 unter österreichischer Herrschaft, welche die freie Entwicklung des Nationalbewußtseins nicht behinderte, so daß es sich auch bei den Juden u n d Ukrainern festigen konnte. I m Anschluß an die russische Oktoberrevolution v o n 1917 u n d den Zusammenbruch der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie v o n 1918 entstanden zwei ukrainische Staaten. In Kiew wurde die ukrainische Volksrepublik ausgerufen u n d in Lemberg die westukrainische Volksrepublik. Die beiden Staaten vereinigten sich zwar schon bald, jedoch ohne die Zustimmung Rotrußlands u n d Weißrußlands. Ein blutiger Kampf war die Folge, während die Unabhängigkeitserklärung durch den Ukrainischen Nationalrat in Lemberg einen Konflikt mit Polen hervorrief. Zu diesem Zeitpunkt begann Pilsudski nach Osten die Grenzgebiete der alten Republik zu besetzen. Die Ukraine befand sich zwischen zwei Feuern, dem bolschewistischen Rußland auf der einen Seite u n d dem demokratischen Polen auf der anderen Seite, u n d mußte nachgeben 9 . I n den Gebieten entlang des Dniestr setzte v o n neuem die Russifizierung ein, der viele Millionen Menschenleben kostete, während die ukrainischen Massen in den Gebieten zwischen San und Zbrucz, enttäuscht über den Verlust der Unabhängigkeit, auf deren Wiederherstellung hofften 1 0 . Die Regierung blieb weiterhin i m Amt, allerdings i m Exil; es wurden zwar ukrainische Wissenschafts-, Erziehungs- u n d Kulturzentren gegründet, die jedoch keine Verbindung zu den Besatzungsmächten eingingen 1 1 . 9 Neue Überlegungen zum polnisch-ukrainischen Verhältnis, das auch die späteren historischen Darstellungen beeinflußte vgl. in: M. Koziowski, [Zwischen San und Zbrucz. Kämpfe für Lemberg und Ostgalizien 1918-1919), Krakau 1990. Erinnert sei auch an einen älteren Band von M. Demkowycz-Dobrianskyj, Die ukrainisch-polnischen Beziehungen im 19. Jahrhundert, München 1969. 10 Vgl. die umfassende Bibliographie zum Thema in: N. Polanska-Vasylenko, schichte der Ukraine. Von den Anfängen bis 1923, München 1983.

Ge-

11 Weitere Fragestellungen, die noch vertiefter Untersuchung bedürfen, weil die den Ukrainern feindlich gesinnte Presse ein falsches Bild entworfen hat, vgl. in: M. Hanusiak,

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A u c h in Ostgalizien festigte sich die Idee der nationalen Unabhängigkeit der Ukrainer. Sie gewann hier auch deshalb an Kraft, w e i l nach der 1921 i n der Wojewodschaft Stanislaw durchgeführten Volkszählung die Ukrainer, auch w e n n sie i n Lemberg, w o Polen u n d Juden in der Überzahl waren, nur 35,9% der Bevölkerung ausmachten, doch in dem v o n Polen annektierten Wolhynien die Mehrheit v o n 68,4% stellten 12 . Undenkbar ist ferner, daß die ukrainischen Nationalisten nichts v o n den Zielsetzungen der polnischen Minderheitenpolitik wußten, denn sie w u r d e n i n der Presse ausführlich diskutiert. Eine gleichberechtigte Zusammenarbeit i n einem gemeinsamen Staat war nicht vorgesehen, vielmehr sollten sich alle Nationalitäten sowohl politisch-ökonomisch als auch kulturell der polnischen Oberhoheit unterwerfen. Die Nichtpolen galten nach den veröffendichten Programmen polnischer Parteien als Bürger zweiter Klasse, die kein Recht auf eine eigene nationale Entwicklung besaßen. Konkret ging es darum, die Ukrainer u n d Weißrussen zu polonisieren, indem man ihnen jegliche ethnische Besonderheit den Polen gegenüber absprach. Die Juden dagegen sollten v o n der polnischen Bevölkerung völlig isoliert, die wirtschaftliche u n d politische Rolle der deutschen Bevölkerung sollte geschwächt werden; das Ziel war, die v o n ihnen bewohnten Gebiete wieder polnisch i m nationalen Sinne zu machen 1 3 . Gleichwohl unterzeichneten die polnischen Vertreter auf der Pariser Konferenz den Minderheitenschutzvertrag, den sogenannten „Kleinen Versailler Vertrag", w o d u r c h Polen sich verpflichtete, den in der Republik lebenden Minderheiten die Ausübung ihrer bürgerlichen Freiheiten zu garantieren. Dieser Vertrag räumte internationalen Organisationen w i e dem Völkerbund Eingriffsmöglichkeiten für den Fall ein, daß Polen seinen Verpflichtungen gegenüber den Minderheiten nicht nachkam. Sowohl der Minderheitenschutzvertrag w i e auch der Friedensvertrag w u r d e n v o m polnischen Parlament am 31. Juli 1919 ratifiziert, u n d das ermutigte für eine Weile die Vertreter der Minderheiten zu einer loyalen Zusammenarbeit mit der polnischen Staatsverwaltung. I m übrigen versuchte das einflußreiche sozialistische Lager (zuweilen auch Pilsudski-Block genannt), alle Kräfte auf den Staatsaufbau zu lenken; u m die Minderheiten v o m Nutzen eines dauerhaften Bündnisses mit dem polnischen Staat zu überzeugen, w u r d e n die günstigsten Bedingungen für ihre ökonomische, kulturelle u n d schließlich nationale Entwicklung geschaffen. Es ging vor Ukrainischer Nationalismus. Theorie und Praxis, Wien 1979. Wenig objektiv sind auch zwei polnische Bücher: R. Torzecki, [Die ukrainische Frage in der Politik des 3. Reiches 1933-19451, Warschau 1972; K. Lewandowski, [Die ukrainische Bewegung in der Außenpolitik der Tschechoslowakei in den Jahren 1918-1931], Warschau 1974. 12 Genaue statistische Angaben vgl. in: M. Papierzyùka-Turek , [Die ukrainische Bewegung in der Zweiten Republik 1922-1926], Krakau 1979, S. 19 ff. 13

Vgl. zum Thema A. Chojnowski, [Die politische Auffassung der polnischen Regierung bezüglich der Nationalitätenfrage in den Jahren 1921-1939], Wroclaw 1979, mit detaillierter Bibliographie. 6 Corsini / Zaffi

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allem darum, die Ukrainer in Galizien u n d in Wolhynien zu gewinnen, so daß man sich ihren Forderungen u n d denen der Weißrussen nach einem eigenen Staat nicht widersetzte - allerdings nur unter der Voraussetzung, daß damit keine territorialen Einbußen für Polen verbunden waren 1 4 . Nicht einmal der Pilsudski-Block ließ nähmlich Änderungen an der Ostgrenze zu, u n d dies u m so weniger nach dem Sieg i m polnisch-russischen Krieg u n d nach dem in Riga 1920 unterzeichneten Vertrag mit Sowjetrußland. Angesichts der zahlenmäßigen Stärke der nationalen Minderheiten lag es i m Staatsinteresse, w e n n die Regierung anfangs versuchte, sich bis zu einem gewissen Grade ihrer Loyalität zu vergewissern. Ein allgemeines Bild läßt sich entwerfen, auch w e n n die statistischen Angaben nicht immer völlig übereinstimmen 1 5 . Nach den Volkszählungen v o n 1921 u n d 1931 u n d nach den Einschätzungen v o n Fachleuten ergibt sich für die Zwischenkriegszeit folgende Bevölkerungsstruktur: 1921 Polen Ukrainer Juden Weißrussen Deutsche Litauer Russen Tschechen Andere

18 3 2 1 1

814 239 898 000 110 000 060 000 059 000 68 667 56239 49 628 78 634

Schätzungen von Tomaszewski

1931 69,2% 14,3% 7,8% 3,9% 3,9% 0,3% 0,2% 0,1% 0,4%

21 993 000 4 442 000 2 733 000 990 000 741 000 83 000 139 000 38 000 757 000

68,9% 13,9% 8,6% 3,1% 2,3% 0,3% 0,2% 0,1% 2,4%

20 5 3 1

644 000 114 000 114 000 954 000 780 000 83 000 139 000 38 000 keine Angaben

Fachleute geben zu bedenken, daß in den Darstellungen die Schätzungen der weißrussischen u n d litauischen Bevölkerung zu gering u n d die der Juden zu hoch ausfallen. Auf jeden Fall aber überstiegen die Ukrainer die Zahl v o n 5 Millionen, u n d daß sie in allen Darstellungen als die größte Volksgruppe behandelt werden, auch w e n n die überkommenen Denkmuster heute noch spürbar sind 1 6 . Entstanden sind derartige Denkmuster zu Ende des 19. Jahrhunderts, als Kontraste i n den v o n Österreich besetzten Gebieten die polnisch-ukrainischen Beziehungen stark belasteten. Die 1867 im österreichischen Staat durchgeführ14 Die wichtigsten Vertreter dieser Richtung sind Leon Wasilewski und Tadeusz Hotówko, deren Artikel mit entsprechender Bibliographie enthalten sind in: A. Chojnowski, [Politische Auffassung]; vgl. auch E. Koko, [Die Polnische Sozialistische Partei gegenüber der ukrainischen Frage in den Jahren 1918-1939], in: W. Wrzesinski (Hrsg.), [Polen, die Polen, nationale Minderheiten], Wroclaw 1992, S. 343-356. 15 Zuverlässige Daten zu 1931 vgl. in: J. Tomaszewski, [Die Vielvölkerrepublik], Warschau 1985, S. 35; sie sind durch die Angaben aus M. Papierzydska-Turek, [Die ukrainische Frage], S. 19, zu ergänzen. 16

Gemeint sind hier nicht nur die Journalisten, sondern auch W.A. Serczyk, [Geschichte der Ukraine], dessen 2. Aufl., Warschau 1990, allerdings verbessert und ergänzt worden ist.

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ten Reformen machten Galizien sowohl für die Ukrainer als auch für die Polen zur einzigen Region, in der ihre kulturelle Entwicklung freien Ausdruck finden konnte. Die beiden Volksgruppen vermochten sich die gewährten Freiheiten jedoch nicht gleichermaßen zunutze zu machen. Die Polen, die i m österreichischen Heer u n d in der österreichischen Verwaltung hohe Stellungen einnahmen u n d eine einflußreiche Schicht v o n Großgrundbesitzern stellten, zogen aus der damals geltenden Gesetzgebung große Vorteile, nicht aber die Ukrainer, die fast ausschließlich zur Bauernschaft u n d zum armen Kleinbürgertum gehörten. Konflikte waren unter diesen Umständen v o n daher unvermeidlich. Als sich schließlich unter den Ukrainern eine eigene Intelligenzschicht herausbildete, die ein System v o n Grund- u n d Sekundärschulen aufbaute, die außerschulische Bildung entwickelte u n d Einfluß auf die Vereinsbewegung gewann, wurde der Polonisierungsprozeß unterbrochen. Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde die charakteristische Formel „gente Rutheni-natione Poloni" immer seltener. Bei d e m Versuch, die eigene Macht i m wirtschaftlichen, kulturellen (indem sie sich z.B. für eine eigene Universität einsetzte) oder auch politischen (indem sie ein demokratisches Wahlrecht anstrebte) Feld in Galizien zu erhöhen, ging die ukrainische Nationalbewegung mehr u n d mehr zum Angriff über. Sie hatte jedoch keinen Erfolg, u n d i n den ukrainischen Kreisen blieb die Furcht lebendig, daß die polnische Kultur einen negativen Einfluß auf die ukrainische Kultur ausüben u n d damit ihre nationale Identität gefährden w ü r d e - w i e es i n Wolhynien geschah, w o die Russen jede ukrainische Spur auszulöschen versuchten. Nach dem Zusammenbruch des ukrainischen Staates wurde in den v o n Polen besetzten Gebieten der Kampf für die nationalen Rechte wiederaufgenommen. Die ukrainische Gesellschaft besaß weiterhin einen sehr uneinheitlichen Charakter, was sich daran zeigt, daß in Wolhynien, das dem wiedererrichteten polnischen Staat angegliedert wurde, nur 9% der Bevölkerung lesen konnte. Diese Probleme mußten unter den neuen Rahmenbedingungen angegangen werden, indem man z.B. damit begann, die Lehren der griechisch-katholischen Kirche, den Autonomiegedanken u n d die anderen Errungenschaften der unter österreichischer Herrschaft entstandenen politischen Parteien zu verbreiten. 1897 war die Ukrainische Sozialdemokratische Partei gegründet worden, die sich der bereits bestehenden „Nationaldemokratischen Fraktion" u n d der „Bauernunion" (Sel-Sojuz) angeschlossen u n d das 1873 v o n der Lemberger wissenschaftlichen Gesellschaft „Shevchenko" entwickelte patriotische Gedankengut angenommen hatte. A l l dies mündete in die Aktivitäten der „Ukrainischen Nationaldemokratischen Union" (Undo) ein, die 1925 entstanden war u n d einige kleinere Organisationen vereinigte. Sie operierte in völliger Legalität, veröffentlichte mit der „Dilo" eine wichtige Tageszeitung, war mit eigenen Abgeordneten im Parlament vertreten u n d leitete die Bildungsvereine „Prosvita" u n d „Ridna Skola". Ebensow e n i g vernachlässigte sie den wirtschaftlichen Sektor, indem sie für Kooperati6

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ven w i e „Silskyj Hospodar", „Centrosojuz" u n d „Narodna Torgovla" verantwortlich zeichnete. Das endgültige Parteiprogramm wurde auf dem Kongreß v o m 19.-20. November 1926 verabschiedet; es postulierte die territoriale Integrität der Ukraine u n d sah die Gründung eines unabhängigen ukrainischen Staates mit Parlament, einem demokratischen Wahlrechtssystem u n d politischen Bürgerrechten vor. A n erster Stelle standen die entschädigungslose Aufteilung des Großgrundbesitzes an die Bauern, die Nationalisierung der großen Industrieanlagen u n d die Förderung der Kooperativen. Ferner sah das Programm die Einführung der Schulpflicht mit ukrainischer Unterrichtssprache vor; geistiger Horizont des ukrainischen Volkes sollte die christliche Morallehre sein. Trotz der Annahme dieses Programmes kam es innerhalb der „Undo" zu Konflikten, denn es bildeten sich Strömungen heraus, die auf Widerstand gegenüber dem polnischen Staat verzichten, die Annexion Galiziens durch Polen hinnehmen u n d den Autonomiegedanken aufgeben wollten. I n den v o n der „Undo" geleiteten Einrichtungen fanden sogar jene ukrainischen Intellektuellen Arbeit, die ihre staatliche Anstellung verloren hatten, w e i l sie entschieden für die Unabhängigkeit eingetreten oder in Komplotte verwikkelt gewesen waren. Von der liberaldemokratischen Bewegung, die einen modus vivendi mit der polnischen Regierung zu finden versuchte, w u r d e n sie ausgeschlossen. I n der Folge bildeten sie eine streng nationalistische Strömung unter der Führung v o n Janusz Korczak, die 1929 den Namen „Organisation Ukrainischer Nationalisten" (Oun) annahm 1 7 . I n den dreißiger Jahren verließ sie eindeutig den Boden der Legalität u n d unterstützte den bewaffneten Kampf, der auf die Befreiung u n d Vereinigung der Ukraine zielte; die erhebliche Zunahme des polnischen Nationalismus hatte an dieser Entwicklung keinen geringen Anteil 1 8 . Festzuhalten bleibt, daß sich Pilsudskis Versprechen nicht bewahrheitete, die Lebensbedingungen der Ukrainer würden sich nach der Eroberung Ostgaliziens durch die Polen nicht verschlechtern 19 . Das genaue Gegenteil trat ein: die Ukrainer w u r d e n regelrechten Diskriminierungen ausgesetzt, v o n öffentlichen Stellen entlassen u n d in andere polnische Gebiete zwangsumgesiedelt. Den Jugendlichen wurde der Zutritt zu den polnischen Universitäten verwehrt, die Einrich17 J. Holzer; [Das politische Mosaik], nennt Dutzende von Parteien in der Ukraine, deren politische Aktivitäten er auf der Grundlage der üblichen Periodisierung der zwanzigjährigen polnischen Herrschaft in zwei Zeitabschnitte unterteilte: der erste reicht von 1918-1926 (Pitsudski Staatsstreich), S. 241-184, und der zweite von 1926-1939, S. 531-550. 18 Der polnische Nationalismus richtete sich vor allem gegen die Juden und fand seinen Höhepunkt in einer Zugangsbeschränkung zu den Universitäten, die für sie nach 1930 sogar vollständig gesperrt wurden. Das am 15. April 1934 gegründete „Nationalradikale Lager" (ONR) erklärte öffentlich, daß nur die Polen, Ukrainer und Weißrussen, die sich als Teil der polnischen Volksgruppe verstanden, in den Genuß der bürgerlichen Rechte kommen sollten; vgl. dazu Sz. Rudnicki, [Die Nationale Demokratie 1893-1939] und [Aus der Geschichte der Zweiten Republik], S. 243; / Holzer; [Die nationalistische Bewegung 1934-1939], S. 373-396. 19 Wl. Pobóg-Malinowski , [Politische Geschichte], S. 620.

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tung einer eigenen ukrainischen Hochschule nicht erlaubt. Diese Tatsachen w u r d e n i n der ganzen Welt bekannt 2 0 . Bei der Aufteilung des Großgrundbesitzes w u r d e n die ukrainischen Bauern gegenüber den Polen benachteiligt, v o n denen viele, zumeist demobilisierte Soldaten, auch w e n n sie nicht aus Galizien oder Wolhynien stammten, zur Stärkung der polnischen Volksgruppe i n diesen Regionen angesiedelt wurden. Selbstverständlich widersetzte sich der 1931 gewählte Abgeordnete der „Undo", Vasyl Mudryl, derartigen Praktiken. Seine Bemühungen i m wirtschaftlichen Bereich w i e auch sein Versuch, Quantität u n d Qualität der Grundschulbildung zu erhöhen, blieben erfolglos. So hatte es in Galizien unter österreichischer Herrschaft 2.450 ukrainische Schulen gegeben, deren Zahl unter den neuen Verhältnissen jedoch mit 1.279 i m Schuljahr 1925/26 u n d nur 496 i m Schuljahr 1936/37 drastisch zurückging 2 1 . Diese Angaben werden v o n umfangreichen Dokumentationen bekräftigt. Zudem versuchte man das unter großen Schwierigkeiten erworbene Nationalbewußtsein der Ukrainer zu zerstören, indem man ihre ukrainische Herkunft negierte, sie bewußt mit den Ruthenen verwechselte oder als nichtukrainische Volksgruppen den Hozulen, Lemken u n d Bojken zuordnete, die den Polen in ethnischer Hinsicht nahestanden. Die Abgeordneten aus den betreffenden Bergregionen protestierten gegen eine solche Politik. Viele Ukrainer hielten es gleichwohl für notwendig, sich auf ein Zusammenleben mit den Polen einzurichten; auf allzu fruchtbaren Boden fielen derartige Ideen jedoch nicht, denn sie wurden v o n den nationalistischen Strömungen auf beiden Seiten abgelehnt.

20 A. Chojnowski, [Die Auffassung der Politik hinsichtlich der Minderheiten], S. 5767, beschreibt diese Entwicklungen genauestens; vgl. auch M. Papierzydska-Turek, [Die ukrainische Frage], S. 261-274. Unter den jüngsten Veröffentlichungen zeichnet sich die Arbeit von R. Torzecki aus, [Die ukrainische Frage in Polen zwischen 1923-19291, Warschau 1989. Sofort nach der Befreiung nahm die polnische Regierung die Lage in Lemberg zum Anlaß, die ukrainischen Fakultäten der dortigen Universität zu schließen, ohne die Einrichtung einer ukrainischen Universität zu erlauben. Zur selben Zeit gründeten die ansässigen Intellektuellen eine eigene, staatlich zu keinem Zeitpunkt anerkannte Universität, an der sich im akademischen Jahr 1922-23 ungefähr 1500 Studenten eingeschrieben hatten. Der von polnischer Seite entwickelte Plan, in Warschau oder Krakau, wo es keine Ukrainer gab, eine ukrainische Hochschule mit drei Fakultäten zu gründen, schlug fehl. Zunächst war die Frage einer ukrainischen Universität nur unter Polen erörtert worden; erst im Herbst 1924 wurden auch die Ukrainer herangezogen. Diese schlugen Stanisìawóv oder PrzemySl vor, während Lemberg ausgeschlossen wurde. Obgleich sich jedoch das Zentralkomitee der „Undo" am 31. Dezember 1925 mit der Frage befaßt hatte, kam es zu keiner Entscheidung. Püsudskis Staatsstreich änderte nichts an dem Klima des Mißtrauens, und 1926 wurde nur der Plan verabschiedet, „die ruthenischen Einrichtungen in der Tschechoslowakei in die Heimat zurückzuführen", doch die Ukrainische Universität blieb in Prag und die Agrarwissenschaftliche Akademie in Podiebrad (Podebrady). Diese Einrichtungen wurden nach dem 15. März 1939 von den Deutschen geschlossen. 21 Die Angaben sind durch zahlreiches Quellenmaterial belegt; vgl. 5. Mauersberg, [Die Grundschulbildung für die nationalen Minderheiten in Polen in den Jahren 19181939], S. 60; J. Tomaszewski, [Die Republik der zahlreichen Nationen], S. 92-94.

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Von ukrainischer Seite (Oun) kam es zu regelrechten, auch gefährlichen terroristischen Aktionen, denen 1931 Tadeusz Holowka, der sich für eine dauerhafte Schlichtung der Streitfragen eingesetzt hatte, u n d i m Juni 1934 der Minister Bronislaw Pieracki zum Opfer fielen. Die Täter wurden natürlich nach den geltenden Gesetzen verurteilt. Der Regierung war dies allerdings nicht genug: sie verschärfte die Repression, indem sie die griechisch-katholischen Kirchen Schloß u n d auf der Grundlage des heute nicht mehr geltenden Prinzips der Kollektiwerantwortung ganze Dörfer besetzt hielt. I m Gegenzug verbreiteten sich in ganz Galizien Losungen zur Vertreibung der Polen, die unvorhersehbare Wirkungen haben konnten. Diese Gefahr war u m so größer, als der Völkerbund, den die auf den Schutz ihrer eigenen Minderheit bedachte deutsche Vertretung beim Völkerbund eingehend über die Situation in Polen auf dem Laufenden hielt, trotz des Protestes der Brester Oppositionsgruppe, die sich mehrheitlich aus Ukrainern zusammensetzte u n d der alle Abgeordneten des am 29. August 1930 aufgelösten Parlaments angehörten, nicht aktiv w u r d e 2 2 . Kurz nach diesen Ereignissen gelangten aus der UdSSR Nachrichten nach Polen, in denen v o n unmenschlichen Blutbädern gleich jenseits der polnischen Ostgrenze die Rede war, v o n Deportationen v o n Millionen Ukrainern u n d Weißrussen in die Lager Kasachistans u n d Siberiens, v o n der schrecklichen Hungersnot entlang des Dniepr, die Millionen Opfer forderte, v o n der völligen Russifizierung aller Schultypen, der Universitäten, der wisseaschaftlichen Vereinigungen u n d Kulturinstitute, v o n physischen u n d psychischen Foltern, denen die Völker ausgesetzt waren. Diese Nachrichten wirkten nachhaltig auf die Ukrainer u n d Weißrussen in Polen. In der Tat wandten sie sich unter diesem Eindruck mit zahlreichen Petitionen u n d Protestbriefen an den Völkerbund u n d betrachteten ihre Lage in Polen mit anderen Augen, was bewirkte, daß die Spannung i m Sommer 1935 abnahm. Der positiven Haltung der Ukrainer wurde keine große Bedeutung zugemessen u n d nach dem Tod Pilsudskis in jenem Jahr kam es zu schweren inneren Unruhen, die bereits 1937 zu einer erneuten Verschärfung der Gegensätze führten. Nur der Wojewode Henryk Józefski in Wolhynien bewies, daß eine Übereinkunft möglich war; dazu reichten schon kleine Zugeständnisse w i e die Einführung des Ukrainischen als Pflichtsprache an denjenigen polnischen Schulen, die auch v o n Ukrainern besucht wurden. Ansonsten vermochte nicht einmal die nach dem Tod v o n Piisudski beschlossene Befreiu n g der ukrainischen Gefangenen aus den Lagern v o n Brest die Aussöhnung voranzubringen.

22 Am 10. September versammelten sich in Brest alle polnischen Demokraten, die die Regierung bekämpften: H. Libermann, A. Pragier, N. Barlicki, St. Dubois, W. Witos, WL Kiernik, K. Popiel; nach den Quellen waren es insgesamt sechs Sozialisten, fünf Angehörige der Volkspartei, ein Linker, ein Rechter und fünf frühere ukrainische Abgeordnete. Vgl. Wt. Pobóg-Malinowski, [Die politische Geschichte], S. 71, wo es außerdem heißt: „Einige Tage später wurden 50 weitere frühere Abgeordnete und politische Aktivisten verhaftet, die zum größten Teil den Minderheiten angehörten (darunter 25 Ukrainer aus dem östlichen Kleinpolen)"; vgl. Wt. Pobóg-Malinowski , [Die politische Geschichte], S. 71.

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So blieb es bis 1939, als für das ukrainische Volk in Galizien u n d Wolhynien w i r k l i c h tragische Entwicklungen einsetzten, die v o n den Historikern noch nicht ausreichend untersucht worden sind 2 3 . Andererseits ist auch das Schicksal des jüdischen Volkes v o n der polnischen Geschichtsschreibung noch nicht erschöpfend behandelt worden, u n d dies, o b w o h l bei den Historikern der gute Willen durchaus vorhanden war. Abgesehen v o n einigen Analysen, die in dem jüdischen Bulletin des seit 1950 bestehenden Polnischen Historischen Instituts erschienen sind, muß man auf die Studie v o n Jerzy Tomaszewski „Über die Republik der vielen Nationen" zurückgreifen. Auch w e n n Tomaszewski keine umfassende wissenschaftliche Synthese leistet, ist sein Beitrag wertvoll u n d hält einem Vergleich mit der jetzt ins Polnische übersetzten Arbeit v o n Ezra Mendelsohn stand 24 . Die i m Ausland erscheinenden Nachrichten über die starken nationalistischen Strömungen in Polen konnte man leicht für übertrieben halten. U n d doch hat Tomazewski bereits für den beschränkten Zeitraum, den er untersucht, eine bestürzend hohe Anzahl v o n Pogromen ausfindig gemacht 2 5 . Das geschah, obgleich die Juden die i n Frage kommenden Gebiete seit dem frühen Mittelalter bewohnten, entscheidend an deren ökonomischen u n d gesellschaftlichen Entw i c k l u n g mitgewirkt u n d damit den Staat in jeder Hinsicht reicher gemacht hatten. Beispielhaft nur seien die Namen Kronenberg, Natanson, Toeplitz, Hemar, Slonimski, Perl u n d Rubinstein genannt. Jahrhundertelang stellten die Juden in ihrem Kern eine geschlossene, isolierte Gesellschaft dar, die auf konfessionellen, nicht nationalen Grundlagen ruhte u n d sich stets gegen äußere Einflüsse zu verteidigen hatte. Das Schicksal der polnischen Juden war v o n den Teilungen Polens angefangen bis z u m Ende des Ersten Weltkrieges engstens v o n der Politik der jeweiligen Besatzungsmacht abhängig, die sich des jüdisches Volkes i m Rahmen der Germanisierungs- bzw. Russifizierungspolitik zur Durchsetzung ihrer eigenen Interessen bedienten. I m Verlauf des 19. Jahrhunderts änderte sich die Struktur des jüdischen Volkes beträchtlich. I n polnische Regionen strömten massenhaft russische Juden, die aufgrund der i m Zarenreich einsetzenden Kolonisierungsprozesse aus ihren Siedlungen vertrieben worden waren. Das führte dazu, daß zum Beispiel allein 23 Der ukrainisch-polnische Antagonismus wurde bis in die sowjetischen Lager hineingetragen, in denen nach 1939 neben den Ukrainern eben auch viele Polen interniert wurden; vgl. die Erinnerungen von A. Popiawski, [Zwölf Jahre im Lager], Paris 1987, passim. In heutigen Umfragen erscheinen die Ukrainer neben den Zigeunern als das unbeliebteste Volk, während die Deutschen, die in dieser Klassifizierung stets die ersten Plätze einnahmen, auf den vierten Platz zurückfallen; vgl. dazu „Zycie Warszawy", 13.11.1992. 24 J. Tomaszewski, [Die Republik der zahlreichen Nationen]; E. Mendelsohn , [Die Juden des mittelöstlichen Europa in der Zwischenkriegszeit], Warschau 1992; über Polen vgl. S. 31-122. 25 J. Tomaszewski, [Das jüdische Volk und die Polen während der 2. Republik], in: [Polen, das polnische Volk, die Minderheiten], S. 115 f.

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in den beiden Städten Bialystok u n d Lodz die Juden mehr als die Hälfte der Bevölkerung ausmachten u n d die Rivalitäten mit dem polnischen Bürgertum politische u n d ethnische Spannungen erzeugten, die i n der unglücklichen Zwischenkriegszeit ihren Höhepunkt erreichten. In dieser Periode der Unabhängigkeit hätten alle Polen nach langen Jahren der Knechtschaft erstmals zufrieden sein müssen, doch nur wenige waren es, denn i m Land herrschte Armut, Analphabetentum u n d Arbeitslosigkeit. So ließ sich das i m Elend versinkende polnische Kleinbürgertum in den Provinzstädten leicht v o n der nationalistischen Propaganda beeinflussen, u n d seine Unzufriedenheit fand ein Ventil i m Antisemitismus. Einer ähnlich feindseligen Haltung sahen sich auch die Ukrainer u n d die Deutschen ausgesetzt. Ein Teil der Juden versuchte der Verfolgung durch Integration i n die polnische Gesellschaft zu entgehen; andere, ungefähr 200.000, wanderten nach Westen aus. Allerdings war damals fehlende Arbeit der vorrangige Auswanderungsgrund, u n d tatsächlich lag die Zahl der polnischen Emigranten noch höher. I m politischen Spektrum der Juden stellte die orthodoxe, der Weltorganisation der „Alliance Israélite Universelle" angehörende Bewegung „Aguda" die Rechte dar. Sie verhielt sich dem polnischen Staat gegenüber loyal, trat für den konfessionellen Unterricht ein, verteidigte die wirtschaftlichen Interessen der Juden u n d arbeitete mit den Zionisten zusammen. I m Juli 1925 kam es zu einem Wahlabkommen zwischen der Regierung u n d dem Jüdischen Parlamentarischen Zirkel, der an den ersten Wahlen v o n 1919 teilgenommen hatte; v o n den 47 jüdischen Kandidaten für die Kammer u n d den Senat w u r d e n allerdings nur 8 gewählt. Die Presse dieser Bewegung erschien sowohl auf Jiddisch als auch auf Hebräisch. Etwas kleiner war die Jüdische Volkspartei; sie trat für einen demokratischen u n d unabhängigen Staat ein, der die Rechte der Minderheiten, darin eingeschlossen auch das Recht auf kulturelle u n d nationale Autonomie, in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens gewährleisten sollte. A b 1916 übte die aus der Zionistischen Weltorganisation hervorgegangene zionistische Bewegung den größten Einfluß auf die jüdische Bevölkerung aus. Sie gehörte zu den Begründern des Blocks der nationalen Minderheiten u n d erlangte i n den Wahlen v o n 1922 i m Bündnis mit drei verwandten Parteien insgesamt 32 Sitze; 1926 ging sie zur radikalen Opposition über. In dieser Bew e g u n g wirkte Janusz Korczak, der sich der Bildung der jüdischen Jugend annahm u n d sie auf den Kampf für die Befreiung Palästinas vorbereitete. D o c h nur wenigen Juden - u n d nicht Korczak u n d seiner Gruppe v o n Anhängern w a r es vergönnt, vor dem Krieg auszuwandern u n d damit der Vernichtung zu entgehen. Ebenso stark war die jüdische sozialistische Bewegung, die sich 1897 v o m polnischen Sozialismus abgelöst hatte, i m wiedererstandenen Polen mit der „Polnischen Sozialistischen Partei" (PPS) zusammenarbeitete u n d ideologisch den Kommunisten nahestand. Die größte Kraft innerhalb dieses kommunistischen Lagers war der mit den Gewerkschaften verbundene „Bund", der einen beträchtlichen Einfluß auf die autonomistischen Organisationen ausübte. Der „Bund" lehnte die Auswanderung der Juden u n d folglich den Zionismus ab - es

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ließ sich ja auch nicht voraussehen, welches Leid das Dritte Reich über die Juden bringen sollte 2 6 . Die Weißrussen in Polen, die nach den statistischen Daten eine zusammenhängende Gruppe v o n ungefähr 2 Millionen Personen bildeten, fühlten sich in ethnischer Hinsicht nicht bedroht. Einer eventuellen deutschen Herrschaft standen sie bis zu einem gewissen Grad positiv gegenüber, da während des Ersten Weltkrieges Deutschland als erstes Land auf der Welt ihre Nationalität, ihre Gleichberechtigung u n d ihre sprachlichen Rechte anerkannt, beim Aufbau eines weißrussischen Schulsystems geholfen und schließlich ihre Unabhängigkeitsbestrebungen unterstützt hatte. Nach der Besetzung der weißrussischen Ostgebiete durch Rußland u n d der Westgebiete durch Polen änderten sich die früheren Verhältnisse; das Schicksal der Vertreter der weißrussischen Bewegung w i r d in Marian Brandys' Roman „Das weißrussische Reich" dargestellt 27 . Die Weißrussen waren ein durch u n d durch bäuerliches Volk u n d litten unter einem Analphabetismus, der eine Folge der langen absolutistischen Herrschaft der Zaren war. Gleichwohl bildete sich auch bei ihnen eine kleine Intelligenzschicht heraus, der es zu Beginn des 20. Jahrhunderts gelang, in Wilna ein weißrussisches Kultur-, Wissenschafts- u n d Politikzentrum aufzubauen. Dieses Zentrum veröffentlichte die Zeitschrift „Nasza Niwa", in der alle wichtigen Vertreter des weißrussischen kulturellen Lebens der Zwischenkriegszeit debütierten. Die Bauern lebten i m Elend, aber auch die überwiegend v o n Juden, Russen u n d Polen bewohnten weißrussischen Kleinstädte waren so arm, daß sich moderne Strukturen i m weißrussischen Volk nur langsam zu entwickeln vermochten. Gleichwohl wurden die Hoffnungen auf einen schnellen u n d problemlosen Polonisierungsprozeß enttäuscht, denn w i e i m übrigen Europa reifte bei den Minderheiten auch hier ein Nationalbewußtsein heran. Es drücke sich in erster Linie in einer Kritik an den polnischen Institutionen aus, die zunahm, nachdem die Regierung 1927 die weißrussische Bauern- u n d Arbeiterorganisation „Hromada" aufgelöst hatte; obgleich nur zwei Jahre zuvor gegründet, hatte sie sich bereits in verschiedener Hinsicht verdient gemacht. Geringe Spuren hinterließen Parteien w i e die 1920 gegründete Christlich-Demokratische Union. Adam Stankiewicz stand an ihrer Spitze, der für das Selbstbestimmungsrecht eintrat u n d ein autonomes Bildungssystem forderte, das weiterhin stark vernachlässigt bzw. schrittweise v o n der polnischen Schule verdrängt wurde; auch dies sollte zum Polonisierungsprozeß in den Grenzgebieten beitragen. Alle entstehenden u n d rasch wieder untergehenden kleinen weißrussischen Parteien verfolgten ein ähnliches sozialpolitisches Programm, indem sie eine gerechte Agrarreform u n d die Beibehaltung der weißrussischen Sprache forderten. 26 Erschöpfende Informationen über die jüdischen politischen Parteien vgl. in: J Holzer, [Das politische Mosaik], S. 262 und S. 252. 27

Im Band [Meine Abenteuer mit der Geschichte], Warschau 1990, S. 5. Über die spärlichen Forschungsergebnisse in diesem Bereich vgl. J. Tomaszewski, [Studien zur jüngsten Geschichte der Weißrussen in Polen], in: [Polen, das polnische Volk, die Minderheiten], S. 225-231; bereits früher hatte er zwei Beiträge in: [Die Republik der zahlreichen Nationen], S. 81-118, veröffentlicht.

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Nach einer Reihe v o n Mißerfolgen der Nationalbewegung bildeten sich faschistische Orientierungen gegen die sich i m Untergrund ausbreitende kommunistische Bewegung heraus. Ab 1917 gab es die Kommunistische Partei der Westlichen Weißrussen; sie stellte eine Konkurrenz für die Sozialdemokratische Partei dar, die für die Vereinigung mit Polen eintrat. I m allgemeinen erlangten die weißrussischen Parteien zahlreiche Parlamentssitze, angefangen v o n den 11 Sitzen i m Jahr 1922. Wir wissen heute, daß weder die Kommunisten noch die faschistischen Nationalisten i m westlichen Weißrußland sehr populär waren, u n d genau aus diesem Grunde war dem deutschen Plan zur Einrichtung eines ukrainischen Einheitsstaates v o m Kriegsanfang 1941 nicht derselbe Erfolg beschieden w i e i m Ersten Weltkrieg 2 8 . Obgleich die Linke nach dem 17. September 1939 kräftig anwuchs, vermochte sie nicht die Bevölkerung vor den tragischen Ereignissen zu schützen, für die der Name des Dorfes Kuropata symbolisch steht. Ein ähnliches Schicksal erlitt die deutsche Minderheit in Polen nach 1945. D o c h schon vorher verfügten die Historiker über zahlreiche, w e n n auch recht einseitige schriftliche Quellen, die die Lage der deutschen Minderheit nach 1918 beleuchten. Diese Quellen informieren über die Haltung, die die Deutschen dem polnischen Staat gegenüber einnahmen, über ihre politischen Parteien, über das Schulsystem, das kulturelle Leben, die wachsenden nationalsozialistischen Tendenzen u n d über die unerwartete Tragödie, der gegenüber das Versailler Diktat auch in den Augen seiner heftigsten Kritiker als das geringere Übel erscheint. Selbstverständlich änderten der Versailler Vertrag u n d die Neugründung des polnischen Staates die Lage der deutschen Bevölkerung grundlegend 2 9 . Früher hatte sie Privilegien besessen und konnte auf zahlreiche staatliche Unterstützungsmaßnahmen rechnen, doch plötzlich fand sie sich in den v o n Preußen seinerzeit annektierten, nunmehr der polnischen Republik angegliederten Territorien als eine Minderheit wieder, die der Mehrheit, v o n der sie regiert wurde, bis zu diesem Zeitpunkt mit Ablehnung u n d Mißachtung gegenübergestanden hatte. Dies gilt allerdings nicht für die Deutschen, die vor dem Ersten Weltkrieg i n den v o n Rußland annektierten Gebieten wohnten, da sie bereits an den Status einer Minderheit gewöhnt waren. Dementsprechend entwickelten sie nach Wiedererrichtung des polnischen Staates Kooperationsprogramme mit der polnischen Mehrheit, z.B. über die Clubs der deutschen Abgeordneten in Lodz. Auch die unter der Zarenherrschaft äußerst schwierige Lage der deutschen Bauern in Wolhynien besserte sich merklich. Ebensowenig wurden die Deutschen in Ga28 Vgl. dazu zuletzt J. Turonek, [Weißrußland unter deutscher Besatzung], Warschau 1993, der die Zwischenkriegszeit ausführlich behandelt. 29 Die jüngste polnische Studie zur deutschen Minderheit mit wertvoller Bibliographie auch zur Vorkriegsliteratur stammt von P. Hauser; [Die deutsche Minderheit in Polen in den Jahren 1918-1939], in: [Polen, das polnische Volk, die Minderheiten], S. 3152. Die Tabelle auf S. 33 gibt für die deutsche Minderheit in Polen folgende Zahlen an: 1.076.809 nach der Volkszählung von 1921 (nach anderen Berechnungen 1.345.000), 741.095 nach der Volkszählung von 1931 (nach anderen Berechnungen 1.160.000).

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lizien nach dem Abzug der Österreicher u n d nach dem Sturz der ukrainischen Regierung behelligt. Nur i m Teschener Schlesien bemerkte man eine gewisse Unruhe, hervorgerufen durch die tschechisch-polnischen Grenzstreitigkeiten. Der übergroße Teil der Deutschen lebte jedoch in den ehemals v o n Preußen annektierten Territorien, u n d für sie wirkte es sich nachteilig aus, daß sie jetzt zu Polen kamen. Sie lehnten die in Versailles festgelegten Grenzen als höchst ungerecht ab. Für sie stellte sich die Frage, ob sie in Polen bleiben oder emigrieren sollten. Für die Emigration entschieden sich, d.h. zur Emigration gezwungen w u r d e n die Angehörigen des preußischen Verwaltungsapparates, die Angestellten, die Offiziere, die Polizisten u n d die Richter. Viele Lehrer zogen weg, da sich die Zahl der deutschen Schulen verringerte. Ferner verließen einige Großgrundbesitzer sowie einige Unternehmer das Land, w e i l sie befürchteten, sie w ü r d e n sonst den deutschen Markt verlieren. U m 1923 brach dieser Auswanderungsstrom ab. Die Berliner Regierung war der Meinung, er w ü r d e dem v o n ihr entwickelten Programm einer deutschpolnischen Grenzberichtigung abträglich sein. Je kleiner die Zahl der Deutschen in Polen, desto geringer waren die Erfolgsaussichten dieses Programmes. Ferner hatten die gefühlsbetonten Reaktionen aus der unmittelbaren Nachkriegszeit nachgelassen, u n d die zahlenmäßig noch starke deutsche Minderheit begann sich den neuen politischen u n d sozio-ökonomischen Verhältnissen anzupassen. Eine Folge dieses Einstellungswandels war die Gründung des „Deutschtumsbundes zur Wahrung der Minderheitenrechte i n Polen" am 8. Mai 1921 in Bromberg, die auf eine Initiative der Deutschnationalen Volkspartei, der Deutschen Volkspartei, der Deutschen Demokratischen Partei u n d des Zentrums zurückging. Daneben gab es die sozialdemokratische Partei, v o n der sich am 19. Januar 1919 die „Deutsche Arbeiterpartei Polens" (Dap) abspaltete. I n Schlesien wurde 1922, nachdem die Grenzstreitigkeiten endgültig beigelegt w o r d e n waren, der „Volksbund" gegründet, der sich aus einigen nationalistischen Parteien unter Ausschluß der Sozialdemokraten zusammensetzte. I n der Folge v o n Konflikten mit der staatlichen Zentralverwaltung entstand i n Großpolen u n d Pommern die „Deutsche Vereinigung" u n d in Lodz zur selben Zeit der „Deutsche Volksverband". Bereits 1925 war offensichtlich, welche deutschen Parteien v o n Berlin aus zur Erhaltung des alten Schulsystems, zur Schaffung eines neuen privaten Schulsystems, zur Entwicklung der Presse, zur Organisation der Theateraktivitäten u n d allgemein zur Förderung des deutschen Kulturlebens unterstützt w u r d e n 3 0 . Bei den freien Wahlen v o n 1928 erlangten die Deutschen 19 Sitze i n der Abgeordnetenkammer u n d 5 Senatssitze. Insgesamt führten die v o n Berlin gesteuerten Initiativen, insbesondere zugunsten der deutschen Bauern u n d Studenten nicht zu einer Verbreitung u n d Konsolidierung des Nationalismus, w e i l die pol30

Zu diesem Thema vgl. insbesondere St. Mauersberg, Das deutsche Schulwesen im unabhängigen Polen 1918-1939, in: Nordwest-Archiv, 1 (1992), S. 487-500; W. Kotowski, [Das Theater „Deutsche Bühne" in Großpolen und in Pommern 1919-19391, Poznan 1985.

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nische Kultur eine große Anziehungskraft auf sie ausübte u n d die Zusammenarbeit mit den polnischen Institutionen enger wurde. Die grundsätzlichen Kontraste nahm der Normalbürger in ihrer kulturellen Tiefendimension jedenfalls nicht wahr. Anfang der 30er Jahre zeigte sich der Gemeinschaftssinn der deutschen Minderheit, der Berlin so hohe Kosten verursacht hatte, weniger kompakt. Die Entwicklung der deutschen Minderheit in Polen verlief also anders als i n Österreich, in der Tschechoslowakei, in Ungarn u n d in Jugoslawien. Die sogenannte Gleichschaltung war eben kein eigenständiger historischer Prozeß, so daß die auf diese Staaten verteilten Deutschen nicht insgesamt beschuldigt werden können. Viele v o n ihnen ergriff eine nationalistische Euphorie, andere verhielten sich opportunistisch oder schlossen sich w i e i m Reich der nationalistischen oder nationalsozialistischen Terrorbewegung an. Diese Bewegung soll hier nicht behandelt werden. Sie ist Gegenstand zahlreicher, auch älterer Veröffentlichungen v o n hohem wissenschaftlichen Wert, v o n denen hier nur die auf deutsch erschienenen Studien v o n Th. Bierschenko, R. Breyer, C. Heike, u n d die polnischen Arbeiten v o n R.W. Stankierwcz u n d P. Hauser erwähnt seien. Neben den hier genannten vier Völksgruppen der Ukrainer, der Juden, der Weißrussen u n d der Deutschen gab es in der Zweiten Republik andere kleine Volksgruppen: eine litauische Minderheit v o n 100.000 Personen, eine ungefähr ebenso große russische Minderheit u n d noch kleinere Gruppen v o n Tataren u n d Tschechen i n Wolhynien. Sie schufen keine Probleme, so daß sie i m vorliegenden Zusammenhang weniger interessieren 31 . Genannt werden müssen sie aber, denn die zuweilen geschickt, zuweilen rücksichtslos betriebene Polonisierungspolitik - die gleichwohl nicht zu den Ergebnissen führte, die sich die Vertreter der Losung „Polen dem polnischen Volk" erwarteten - betraf auch kleinste Minderheitengruppen. Glücklicherweise gab es v o n diesen Nationalisten vor dem Krieg nicht sehr viele, u n d heute sind sie vollständig verschwunden, nachdem die Ereignisse v o m März 1968 eine bestimmte Epoche endgültig abgeschlossen haben. Die heutigen Historiker können allein nach Maßgabe der verfügbaren Quellen ihre Forschungen betreiben, Themen aufgreifen u n d vertiefen. Die bisher gewonnenen Erkenntnisse lassen vermuten, daß das Minderheitenproblem in der Zweiten Republik mit zu den schwierigsten gehörte. Die Ukrainer u n d Weißrussen kämpften für die Anerkennung ihrer nationalen Eigenheit, für die Beibehaltung ihrer Sprache u n d ihrer Schulen; allgemeiner strebten sie einen Status der Rechtsgleichheit an, w e i l sie berechtigterweise fürchteten, ihre nationale Identität u n d damit das Ideal eines eigenen Staates zu verlieren. Die Deutschen hingegen versuchten, ihre frühere privilegierte Positio n zurückzugewinnen, u n d sie zeigten sich w e n i g überzeugt v o n den Fähigkeiten der Polen, einen Staat zu verwalten. Die Juden stellten die territoriale Integrität des polnischen Staates nicht in Frage u n d glichen sich der polnischen

31

J. Tomaszewski, [Die Republik der zahlreichen Nationen], S. 237-257, über „Die vergessenen und die fast unbekannten Minderheiten".

Die nationalen Minderheiten in Polen

93

Kultur an; trotzdem gelang es ihnen nicht, Konflikte zu vermeiden die darin Ausdruck fanden, daß sie fortlaufend psychologischen u n d wirtschaftlichen Diskriminierungen ausgesetzt blieben. A l l diese Probleme vermochte der polnische Staat nicht zu lösen, da er die wachsenden Forderungen der Ukrainer, Weißrussen u n d Deutschen nicht ohne territoriale Verluste hätte erfüllen können. Ein für alle annehmbares politisches Programm w u r d e nicht entwickelt, während man bis zu einem gewissen Grad dem in ganz Europa sich ausbreitenden Nationalismus nachgab. Dementsprechend versuchte die polnische Regierung sowohl die wirtschaftliche Stellung als auch die politisch-kulturelle Identität der deutschen Minderheit zu schwächen. Die Judenfrage ließ sich in ihren Augen in der zweiten Hälfte der 30er Jahre nur durch Emigration wirklich lösen. Die Ukrainer u n d Weißrussen versuchte sie einfach zu polonisieren u n d zu assimilieren. Da die anfänglichen Zugeständnisse ihr Verhältnis zum Staat nicht besserten, ging dieser seinerseits zu einer rücksichtslosen Beschränkung ihrer Bewegungsfreiheit über. Diese undemokratische Politik schlachteten die Nachbarländer nach 1939 propagandistisch gegen Polen aus 32 .

32 Diese Schlußfolgerungen beruhen auf der hervorragenden, immer noch aktuellen Analyse von A. Chojnowski, [Die politische Konzeption der polnischen Regierung gegenüber den Minderheiten in den Jahren 1921-19391, Wroclaw 1979; vgl. Anm. 13.

M i n d e r h e i t e n s t a t u s als N o t a u s w e g Grundsätze der Rechtslage und des Minderheitenschutzes in den böhmischen Ländern vor 1914 und in der Tschechoslowakischen Republik nach 1918 Von Jiri Koralka

Die Länder der böhmischen Krone, das heißt das Königreich Böhmen, die Markgrafschaft Mähren u n d der österreichische Anteil an Schlesien, entwickelten sich während der fast hundert Jahre v o n 1848 bis 1945 zu klassischen Gebieten der Zweisprachigkeit u n d des Nationalitätenkampfes in Mitteleuropa. Historische Erfahrungen aus den jahrzehntelangen Verhandlungen in Böhmen u n d Mähren vor 1914 wirkten in der Zwischenkriegszeit als ein Beispiel für verschiedene Lösungsmöglichkeiten eines Nationalitätenkonfliktes zwischen zwei ethnischen Gruppen innerhalb eines Landes. Das Beispiel der böhmischen Länder zeigt, daß dieselben Bevölkerungsteile in der Lage einer nationalen Majorität oder Minorität sein konnten, je nachdem die unterschiedliche Größe des Territoriums eines Staatenverbandes oder Staates, einer Ländergruppe oder eines Landes, beziehungsweise einer regionalen Verwaltungseinheit in Betracht kam. Allgemein kann gesagt werden, daß in allen Verfassungskonflikten u n d Ausgleichsverhandlungen die grundsätzliche Angst vor einer eventuellen Minderheitenlage der betroffenen Bevölkerungsteile vorherrschte. Der möglichst günstige Minderheitenstatus wurde v o n dem jeweils schwächeren Bevölkerungsteil angestrebt, nachdem der Kampf für die Zugehörigkeit zu einer nationalen Mehrheit oder für die Erlangung einer nationalpolitischen Mehrheitsposition erfolglos geblieben war. In der wechselreichen Entwicklung bestätigte sich die Ansicht, die in den 1860er Jahren zum Beispiel v o m alttschechischen Politiker Frantisek Ladislav Rieger 1 oder v o m Wiener Demokraten A d o l p h Fischhof 2 vertreten wurden, daß das Verhältnis zwischen zwei ethnischen Gruppen in einem Lande mit den gewöhnlichen Spielregeln der parlamentarischen Demokratie nicht zu lösen wäre, w e i l eine nationalpolitische Minderheit mit demokratischen Methoden ohne Änderung der administrativen Grenzen nie zu einer nationalpolitischen Mehrheit werden könne. 1 F.L. Rieger im böhmischen Landtag am 10. März 1863: „... daß alle Gesetze, die für die umstrittenen Nationalitätenfragen von Bedeutung sind, nicht von einer nationalen Majorität entschieden werden sollen". J. Kalousek (Hrsg.), Reti Dra FrantiSka La dislava Riegra a jeho jednâni ν zâkonodârnych sborech [Reden von F.L. Rieger und seine Tätigkeit in den gesetzgebenden Körperschaften], 3, Praha 1887, S. 63. 2

A. Fischhof, Österreich und die Bürgschaften seines Bestandes, Wien 1869, S. 70.

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1. Minderheitenprobleme im österreichischen Vielvölkerstaat bis 1914 Keine statistische Erhebung der ethnisch-sprachlichen Verhältnisse i m Kaisertum Österreich, nach 1867 i n der österreichisch-ungarischen Monarchie, basierte auf dem Prinzip der subjektiven Deklaration der nationalen Zugehörigkeit oder der Nationalität. Vor der Mitte des 19. Jahrhunderts wurde eine ethnographische Methode grober Schätzungen auf Grund der Mitteilungen v o n Pfarrämtern u n d privaten Personen angewandt, die Volkszählung v o n 1869 w i c h aus politischen Gründen jeder Ermittlung der nationalen Zugehörigkeit aus, u n d in den Volkszählungen v o n 1880 bis 1910 führten die österreichischen Statistiker die Erhebung der Sprache des täglichen Umganges, der Umgangssprache, ein. Wenn auch mancherorts ein Druck auf ethnische Minderheiten zugunsten der Mehrheitssprache ausgeübt wurde, bedeutete die Angabe der Umgangssprache infolge steigender nationaler Agitation in den meisten Fällen ein nationalpolitisches Bekenntnis 3 . Tabelle 1 Anteil der Tschechen und Deutschen an der Bevölkerung der höhmischen Länder (in Prozenten) 1846-1910 A Territorium

Nationalität

Schätzung 1846 1880 (Sprache)

Volkszählung 1890 1900

1910

Böhmen

tschechische deutsche andere

59.77 38.62 1.6l a)

62.78 37.17 0.05

62.79 37.20 0.01

62.67 37.27 0.06

63.19 36.76 0.05

Mähren

tschechische deutsche andere

70.23 27.65 2.12 b)

70.41 29.38 0.21

70.34 29.37 0.29

71.35 27.91 0.74

71.75 27.62 0.63

Schlesien

tschechische deutsche polnische andere

20.08 47.77 31.52 0.63 c)

22.95 48.91 28.13 0.01

22.02 47.76 30.21 0.01

22.04 44.68 33.22 0.06

24.33 43.90 31.72 0.05

Länder der böhmischen Krone

tschechische deutsche andere

59.80 36.30 3.90

62.10 35.92 1.98

61.98 35.87 2.15

62.03 35.37 2.60

62.54 34.92 2.54

a) Insgesamt Juden. b) Davon 2.08 % Juden. c) Insgesamt Juden. 3 Dazu E. Brix, Die Umgangssprachen in Altösterreich zwischen Agitation und Assimilation. Die Sprachenstatistik in den zisleithanischen Volkszählungen 1880 bis 1910 (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österrreichs, 72), Wien / Köln / Graz 1982, S. 430. 4 Berechnet nach den Angaben von J. Hain, Handbuch der Statistik des österreichischen Kaiserstaates, 1, Wien 1852, S. 224, 231 und 234; P. Urbanitsch, Die Deutschen

Minderheitenstatus als Notausweg

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Für die Tschechen war es vorteilhafter, ihre unbestrittene Bevölkerungsmehrheit i n Böhmen, i n Mähren oder auch i m Komplex der drei Länder der böhmischen Krone i n den Vordergrund zu stellen. Demgegenüber lehnten die Deutschen in Böhmen, Mähren u n d Österreichisch-Schlesien jede Autonomie der Länder der böhmischen Krone ab, w e i l sie dort zu einer nationalen Minderheit gesunken wäre, während sie i n ganz Zisleithanien nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich v o n 1867, bzw. in den i m Reichsrat vertretenen Königreichen u n d Ländern, eine relative Mehrheit gegenüber den übrigen Nationalitäten besaßen. Noch günstiger für sie wäre die Lage i n dem v o n den österreichischen Deutschnationalen beanspruchten 5 , sogenannten theresianischen Staatskern, das heißt in Zisleithanien ohne Galizien, die B u k o w i n a u n d Dalmatien, w o sich i n der Zeit v o n 1880 bis 1910 die knappe absolute Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung allmählich vergrößerte. Tabelle 2 Anteil der Tschechen und Deutschen an der Bevölkerung der im Reichsrat vertretenen Königreiche und Länder 1880-1910 6 Nationalität (Sprache)

1880

Volkszählung 1890 1900

Zisleithanien

tschechische deutsche andere

23.77 36.75 39.48

23-32 36.05 40.63

23.23 35.78 40.99

23.02 35.58 41.40

Zisleithanien ohne Galizien, die Bukowina und Dalmatien

tschechische deutsche andere

34.92 51.11 13.97

34.74 51.48 13.78

34.89 51.63 13.48

34.63 52.22 13.15

1910

Von der Revolution v o n 1848/49 an bildete sich zwischen den Tschechen u n d den Deutschen i n den böhmischen Ländern ein äußerst verwickeltes Mehrheits-Minderheits-Verhältnis heraus, das jede Verständigung zwischen den beiden ethnischen Gruppen sehr erschwerte 7 . Während die Tschechen an einer möglichst weitgehenden Autonomie des Königreichs Böhmen oder der Länder der böhmischen Krone interessiert waren, lehnten die politischen Vertreter der

in Österreich. Statistisch-deskriptiver Überblick, in: A. Wandruszka /P. Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, III/l, Wien 1980, Tab. 1 zwischen S. 38 und 39. 5 Vgl. B. Sutter ; Die politische und rechtliche Stellung der Deutschen in Österreich 1848 bis 1918, in: A. Wandruszka / Ρ Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, I I I / l , S. 214, 233, 268, 320-321. 6

Berechnet nach P. Urbanitsch, Die Deutschen in Österreich, Tab. 1.

7

Dazu ausführlich/. Kofalka, Tschechen im Habsburgerreich und in Europa, 18151914 (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts, 18), Wien / München 1991, S. 133-138. In Ansätzen bereits ders., La nazione ceca e il problema delle minoranze nazionali nell'Impero asburgico, in: Studi Trentini di Scienze Storiche, 63 (1984), S. 231-246. Corsini / Zaffi

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J i Koïalka

Deutschen Böhmens jede Lockerung der Verbindung Böhmens mit dem österreichischen Kaiserstaat u n d bis 1866 mit dem Deutschen B u n d ab, w e i l sie nur gemeinsam mit den übrigen Deutschen in Österreich oder in ganz Deutschland die Tschechen majorisieren konnten. Als die Tschechen in den Wahlen in den nachher nicht einberufenen böhmischen Landtag v o m Anfang Juni 1848 8 , ebenso w i e dann i m Landtag des Königreichs Böhmen 1870/71 u n d seit 1883 die Mehrheit der Abgeordnetensitze errangen 9 , traten die meisten Politiker aus den deutschsprachigen Grenzgebieten West- u n d Nordböhmens mit der Forderung eines geschlossenen deutschen Sprachgebiets in Böhmen oder sogar mit dem Vorschlag zur Errichtung eines selbständigen Kronlandes Deutschböhmen a u f 0 , aber damit waren wieder die Deutschen in Prag u n d in anderen Bezirken mit eindeutiger tschechischer Mehrheit nicht einverstanden. Das am 21. Dezember 1867 angenommene u n d i n den i m Reichsrat vertretenen Königreichen u n d Ländern bis zur Auflösung des Habsburgerreiches i m Herbst 1918 geltende Gesetz über die allgemeinen Rechte der Staatsbürger, das heißt der wichtigste Kern der sogenannten Dezemberverfassung v o n 1867, enthielt den bedeutenden Nationalitätenartikel 19, der zum meistgenannten u n d am häufigsten debattierten Bestandteil der österreichischen Verfassung w u r d e 1 1 . Der erste Absatz dieses Artikels verkündete den allgemeinen Grundsatz der Gleichberechtigung „aller Volksstämme des Staates" als Kollektivrecht. Jeder Volksstamm sollte ein unverletzliches Recht auf Wahrung u n d Pflege seiner Nationalität u n d Sprache haben. I m zweiten Absatz wurde dieses Recht allerdings durch die Bestimmung beschränkt, daß sich die staatliche Anerkennung der Gleichberechtigung der Sprachen „in Schule, Amt u n d öffentlichem Leben" ausdrücklich auf „landesübliche Sprachen" beziehen sollte. I n Böhmen u n d Mähren galten Deutsch u n d Tschechisch als landesübliche Sprachen, in Schlesien trat noch die polnische Sprache dazu, aber zum Beispiel in Niederösterreich u n d vor allem in der Reichshauptstadt Wien wurde der jahrzehntelange Widerstand der Behörden gegen die Errichtung öffentlicher Schulen für die zahlenmäßig starke tschechische Minderheit mit dem Hinweis abgelehnt, daß die tschechische Sprache in Niederösterreich nicht landesüblich sei 12 .

8 J. Heidler; Cesky snëm ustavodârny 1848 [Der konstituierende böhmische Landtag von 1848], in: Cesky Casopis historicky, 13 (1907), S. 36-59; S.Z. Pech, The Czech Revolution of 1848, Chapell Hill 1969, S. 101-105. 9 Vgl. J. Kof-alka, Tschechische bürgerliche Landtagsabgeordnete in Böhmen, 18611913, in: E. Bruckmüller/ U. Döcker/H. Stekl/P. Urbanitsch (Hrsg.), Bürgertum in der Habsburgermonarchie, Wien / Köln 1990, S. 211-221. 10 Vgl. O. Urban, Cesi spoleCnost. 1848-1918 [Die tschechische Gesellschaft 18481918], Praha 1982, S. 359-361. 11 G. Stourzh, Die Gleichberechtigung der Nationalitäten in der Verfassung und Verwaltung Österreichs 1848-1918, Wien 1985, S. 53-57. 12

M. Glettler; Die Wiener Tschechen um 1900. Strukturanalyse einer nationalen Minderheit in der Großstadt (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum 28), München / Wien 1972, S. 277-283, 299-310.

Minderheitenstatus als Notausweg

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I m Unterschied zum Königreich Ungarn gab es in den i m Reichsrat vertretenen Königreichen u n d Ländern nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich v o n 1867 keine führende Staatsnation u n d auch keine gesetzlich verankerte Staatssprache. Folglich bestand auch kein dringender Bedarf an irgendeinem Minderheitenschutz i m gesamtstaatlichen Rahmen, w e i l keine Nationalität in Zisleithanien eine zahlenmäßige Mehrheit hatte. Die Dominanz der deutschen Sprache in der Staatsverwaltung der meisten Kronländer (mit Ausnahme Galiziens mit polnischer Verwaltungssprache u n d der südlichen Territorien, w o das Italienische zur A n w e n d u n g kam) schien noch lange nach 1867 als gesichert. Vom Minderheitenschutz war zu jener Zeit in Österreich nur i n denjenigen Fällen die Rede, w o die Deutschösterreicher in einem Kronland, einem Bezirk oder einer Stadt ihre frühere privilegierte Stellung verloren oder den bevorstehenden Verlust dieser Position befürchteten. So setzten die deutschliberalen Abgeordneten aus Böhmen i n den Artikel 19 der österreichischen Dezemberverfassung v o n 1867 noch einen dritten Absatz durch, der die obligatorische Erlernung einer zweiten Landessprache in den Ländern mit verschiedenen Volksstämmen verbot 1 3 . Der Bericht des betreffenden Verfassungsausschusses begründete diese sonst für eine Verfassung ungewöhnliche Bestimmung damit, „daß für die nationalen Minoritäten ein der wahren Gleichberechtigung entsprechender Schutz gegen den Sprachenzwang i m Unterrichtswesen grundgesetzlich geschaffen werden müsse" 14 . Es ist klar, daß die deutschliberalen u n d deutschnationalen Parteien in Österreich eine bessere Stellung für deutsche Minderheiten in Kronländern u n d Städten mit nichtdeutscher Bevölkerungsmehrheit forderten, verglichen mit der Lage der nichtdeutschen Minderheiten i n den ü b e r w i e g e n d deutschsprachigen Kronländern, Bezirken u n d Städten. Als Argumente dienten unter anderem der höhere deutsche Bildungsgrad, die größere deutsche Steuerkraft u n d nicht zuletzt auch die vermeintlichen Interessen des Gesamtstaates u n d seiner deutschsprachigen Verwaltung. Was in Ungarn, Galizien u n d den meisten italienischen Territorien des Habsburgerreiches nicht gelungen war, sollte wenigstens gegen die Tschechen und die Slowenen i m sogenannten theresianischen Staatskern aufrechterhalten werden 1 5 . Der verhältnismäßig schnelle Aufstieg der tschechischen Gesellschaft in Böhmen u n d mit kleinerem Rückstand auch in Mähren machte die Erhaltung der deutschen Vorherrschaft in den österreichischen Territorien mit nichtdeutscher Bevölkerungsmehrheit immer schwieriger u n d führte zu jahrzehntelangen Verhandlungen.

13 H. Fischer/ G. Silvestri (Hrsg.), Texte zur österreichischen Verfassungs-Geschichte. Von der Pragmatischen Sanktion zur Bundesverfassung (1713-1966), Wien 1970, S. 93. 14 15

G. Stourzh, Die Gleichberechtigung, S. 58.

Vgl. B. Sutter , Die Badenischen Sprachenverordnungen von 1897, ihre Genesis und ihre Auswirkungen vornehmlich auf die innerösterreichischen Alpenländer (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs, 46), Graz / Köln I960, 1, S. 83-127.

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2. Vorschläge zum Minderheitenschutz in Böhmen D i e tschechische staatsrechtliche O p p o s i t i o n gegen die zentralistische Dezemberverfassung v o n 1867 u n d gegen die Benachteiligung der Länder der böhmischen Krone i m Vergleich mit Ungarn führte in den Jahren 1870-1871 zu den ersten Ausgleichsverhandlungen in Böhmen. Das Kurienwahlsystem für den böhmischen Landtag versetzte die politische Führung der nichtaristokratischen Tschechen sowie auch der Deutschböhmen in die Abhängigkeit v o n den Abgeordneten der privilegierten Großgrundbesitzerkurie. Jede Verschiebung der Besitzverhältnisse, zumeist unter dem Einfluß der Wiener Regierung u n d der böhmischen Statthalterei, konnte entweder dem mit den Deutschböhmen verbundenen verfassungstreuen Adel oder dem mit den Tschechen verknüpften böhmischen historischen Adel zum Sieg i n den Landtagswahlen verhelfen. Dadurch wurde auch die tschechische Mehrheit i m böhmischen Landtag v o m August 1870 bis November 1871 ermöglicht 1 6 . Die politische Führungsspitze der Tschechen u n d der böhmischen Aristokratie trat in den Verhandlungen mit der Wiener Regierung als ermächtigter Repräsentant der politischen Nation des Königreichs Böhmen auf. Zu den gleichberechtigten Mitgliedern dieser zweisprachigen böhmischen Nation sollten theoretisch auch die Deutschen Böhmens gehören, aber die Mehrheit der politisch aktiven Deutschböhmen lehnte diese Auffassung ab u n d zog eindeutig das deutschösterreichische oder deutschnationale Bewußtsein vor. Die deutschböhmischen Abgeordneten nahmen dementsprechend an d e n Ausgleichsverhandlungen v o n 1870-1871 nicht teil und blieben auch den böhmischen Landtagssitzungen v o m 16. September bis zum 8. November 1871 fern. I n Abwesenheit der deutschböhmischen Abgeordneten nahm der Prager Landtag am 10. Oktober 1871 einen bedeutenden Gesetzentwurf zum Schutz der Rechtsgleichheit der tschechischen u n d deutschen Nationalität i n Böhmen an 1 7 . I m autonomen Königreich Böhmen sollten den beiden Volksstämmen oder Nationalitäten nicht nur die üblichen individuellen, sondern auch die kollektiven Rechte gewährleistet werden. Angehörige eines Volksstammes durften wegen ihrer Abstammung u n d Sprache nicht ungünstiger behandelt werden, als Angehörige des anderen Volksstammes unter gleichen Umständen. Dies galt besonders für das aktive u n d passive Wahlrecht für alle Vertretungskörper, für die gleichmäßige Zulassung zu öffentlichen Ämtern u n d Würden bei gleicher Befähigung, für die gleichmäßige Gewährung öffentlicher Mittel u n d Anstalten zur Schulausbildung. Die Verwaltungs-, Gerichts- u n d Wahlbezirke sollten möglichst aus Gemeinden ei-

16 Vgl. K. Kazbunda, Pokusy rakouské vlâdy ο ceské vyrovnâni [Versuche der österreichischen Regierung um den böhmischen Ausgleich], in: Cesky Casopis historicky, 27 (1921), S. 94-134, 353-412; R. Wierer, Das böhmische Staatsrecht und der Ausgleichsversuch des Ministeriums Hohenwart-Schäffle, in: Bohemia, 4 (1963), S. 54-173, hier S. 100. 17

Vgl. Α.Ο. Zeithammer; Zur Geschichte der böhmischen Ausgleichsversuche (18651871), 2: Ministerium Hohenwart, Praha 1913, S. 98-99; B. Sutter, Die Badenischen Sprachenverordnungen, 1, S. 291-293.

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ner Nationalität bestehen. I n der Gemeinde sollte die Amtssprache durch die Gemeindevertretung, i m Zweifelsfall durch Abstimmung der wahlberechtigten Gemeindemitglieder festgelegt werden. Die andere Landessprache sollte i n den Amtsgebrauch treten, w e n n in einer Gemeinde eine andersnationale Minderheit v o n wenigstens 20 Prozent der Wahlberechtigten anzutreffen war. Mit der Anw e n d u n g desselben Prinzips v o n 20 Prozent oder mit Rücksicht auf das Vorhandensein auch nur einer Gemeinde mit der anderen Sprache im Bezirk sollte die Amtssprache in den Bezirken geregelt werden. Das Prinzip der Zweisprachigkeit sollte in vollem Umfang bei den staatlichen Zivilbehörden, beim autonomen Landesausschuß u n d für die Rechtsprechung in höheren Instanzen zur Geltung gebracht werden. „In einem Worte: ,eine monarchische Schweiz' ist in kürzester Fassung die Art und Weise ausgesprochen, wie ich mir die Ordnung der Sprachen- und Nationalitätenfrage in Böhmen gedacht und befürwortet habe, also die gesetzliche Normierung der nationalen Gleichberechtigung, wie sie in der Schweiz unter drei Nationalitäten praktisch durchgeführt ist, bei vollem materiellem Gedeihen des Landes in wahrer Freiheit und Autonomie" 18 , erklärte der politische Führer der Alttschechen, FrantiSek Ladislav Rieger, in einem Brief an Ludwig Oppenheimer v o m 9. März 1869. Unter Voraussetzung der staatsrechtlichen Autonomie des Königreichs Böhmen oder der Länder der böhmischen Krone 1 9 sollte die deutsche Minderheit in Böhmen ein weitgehendes Mitspracherecht in allen Angelegenheiten des autonomen Staates u n d ihre eigene Selbstverwaltung in Gemeinden und Bezirken besitzen. Eine wichtige Bestimmung des Nationalitätenschutzgesetzes v o m 10. Oktober 1871 betraf die Einteilung des böhmischen Landtags in zwei nationale Kurien, die in grundsätzlichen Fragen das Vetorecht erhalten sollten. Es wurde vorausgesetzt, daß Abgeordnete der Städte u n d der Landgemeinden der Kurie der Nationalität ihrer Wahlbezirke angehören werden. Die Vertreter der sprachlich gemischten Bezirke, der Großindustrie, der Kirche u n d der Universität sollten beim Eintritt i n den Landtag erklären, welcher nationalen Kurie sie angehören wollten. Die Institution der nationalen Kurien hätte einen Ansatz zur finanziellen Autonomie der beiden Nationalitäten bieten können, u n d zwar auch im Schulwesen einschließlich der Minderheitenschulen. Bei der Wahl der böhmischen Landtagsabgeordneten in den österreichischen Reichsrat und in die Delegation für auswärtige Angelegenheiten müßte mindestens ein Drittel der Gewählten der tschechischen u n d mindestens ein Viertel der deutschen nationalen Kurie entnommen werden 2 0 .

18 A.O. Zeithammer; Zur Geschichte der böhmischen Ausgleichsversuche (18651871), 1: Von Belcredi zu Hohenwart, Praha 1912, S. 61-62. 19 Der mährische Landtag unterstützte zwar den böhmischen Ausgleichsversuch, aber er hob wiederholt die mährische Eigenständigkeit hervor und erörterte im September 1871 auch nicht das Verhältnis zwischen den beiden Nationalitäten in Mähren. R. Wierer; Das böhmische Staatsrecht, S. 154; H. Glassi , Der Mährische Ausgleich (Veröffentlichung des Sudetendeutschen Archivs), München 1967, S. 40-41. 20

Zusammengefaßt bei / . Kofalka,

Tschechen im Habsburgerreich, S. 150.

102

Jtfi Koïalka

O b w o h l das v o m böhmischen Landtag angenommene, aber v o m österreichischen Kaiser nicht sanktionierte Nationalitätenschutzgesetz als ausgewogen galt, war es als Bestandteil der böhmischen Autonomiepläne aus innen- und außenpolitischen Gründen nicht annehmbar 2 1 . Die deutschböhmischen Liberalen w o l l ten ihre langjährige Herrschaftsstellung in Böhmen nicht kampflos aufgeben, u n d nachdem sich v o m Jahre 1883 an eine klare Mehrheit der bürgerlichen Tschechen u n d des staatsrechtlichen Adels i m böhmischen Landtag kristallisiert hatte, orientierten sie sich immer mehr auf die Forderung nach einem geschlossenen deutschen Sprachgebiet in Böhmen. Wenn nicht mehr i m ganzen Kronland, so wenigstens in den als deutschsprachig erklärten Verwaltungsbezirken Böhmens sollte das durch die österreichische Verfassung verbürgte Prinzip der Zweisprachigkeit nicht gelten. Wenigstens in einem Teil Böhmens sollten die Deutschböhmen alleinherrschend gegenüber der tschechischen Minderheit bleiben. Diese Vorstellung setzte sich in den neuen böhmischen Ausgleichsverhandlungen durch, die auf Initiative der Wiener Regierung u n d der beiden Fraktionen des böhmischen Adels i m Januar 1890 in Wien stattfanden 22 . Noch eindeutiger als i m Herbst 1871 wurde in den sogenannten Wiener Punktationen v o n 1890 das Prinzip der Trennung zwischen Tschechen u n d Deutschen in Böhmen angewandt. Wo immer diese Trennung auf der Grundlage der Gleichberechtigung der beiden Nationalitäten beabsichtigt u n d durchgeführt wurde, erwies sie sich als zweckdienlich. Die Zweiteilung des böhmischen Landesschulrates u n d des für die Landwirtschaft zuständigen Landeskulturrates mit gemeinsamen Präsidialkollegien trug zu einer weitgehenden Beruhigung des Nationalitätenkampfes bei u n d blieb bis zum Ende der Tschechoslowakischen Republik i m Herbst 1938 bestehen. Demgegenüber bedeutete die Zustimm u n g der Alttschechen u n d des konservativen Adels zu den Forderungen der Deutschböhmen eine deutliche Abkehr v o m Gleichberechtigungsprinzip. Während in den deutschsprachigen Bezirken die inzwischen eingeführte Zweisprachigkeit bei Ämtern u n d Gerichten entfernt worden wäre, sollte in den tschechischen Bezirken die innere deutsche Amtssprache in vollem Umfang, auch beim Verkehr zwischen zwei unteren tschechischen Behörden, beibehalten werden. Da die Realisierung der Ausgleichsvereinbarungen v o m Januar 1890 eine Zweiteilung Böhmens in ein deutschsprachiges u n d ein zweisprachiges Gebiet bedeutet hätte, lehnte die jungtschechische Opposition die Wiener Punktationen ab u n d besiegte die Alttschechen bei den nächsten Wahlen 2 3 . In den böhmischen Ausgleichsversuchen v o n 1871 u n d 1890 konfrontierten sich zwei scharf ausgeprägte, miteinander schwer vereinbare Auffassungen. Die 21 Vgl. H. Lutz, Österreich-Ungarn und die Gründung des Deutschen Reiches. Europäische Entscheidungen 1867-1871, Frankfurt a.M. / Berlin / Wien 1979, S. 416-437. 22 Dazu vgl. M. Menger; Der böhmische Ausgleich, Stuttgart 1891; K. Kazbunda, Krize ieské politiky a videnskâ jednâni ο tzv. punktace roku 1890 [Die Krise der tschechischen Politik und die Wiener Verhandlungen um die sogenannten Punktationen im Jahre 1890], in: Cesky iasopis historicky, 40 (1934), S. 80-108, 310-346, 491-528; 41 (1935), S. 41-82, 294-320, 514-554. 23 O. Urban, Ceskâ spoleCnost, S. 399-400.

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Tschechen in Böhmen fühlten u n d offenbarten ihre eigene nationalpolitische Identität auf allen Gebieten des gesellschaftlichen Lebens. Sie wollten nicht mehr ein Volksstamm i m Sinne der unpolitischen ethnisch-sprachlichen Gruppe, sondern eine Nation i m politischen Sinne, gleichwertig den übrigen europäischen Nationen, sein. Als solche wollten sie die Länder der böhmischen Krone beherrschen, w o m ö g l i c h auch die mehrheitlich deutschsprachigen Bezirke u n d die deutsch verwalteten Städte, w o sie - w i e vielfach betont wurde - die tschechischen Minderheiten in Nord- u n d Nordwestböhmen schützen wollten. Auch in der jungtschechischen Partei setzte sich nach 1894 gegenüber der Wiener Regierung der sogenannte Positivismus durch, der einen stärkeren Einfluß der tschechischen Politiker, Beamten u n d Wirtschaftsleute in den Zentralstellen der österreichischen Reichshälfte dem direkten Kampf mit den Deutschen in den böhmischen Ländern vorzog 2 4 . Die tschechische politische Führung lehnte ursprünglich die österreichische Dezemberverfassung v o n 1867 ab u n d nahm an ihrer Entstehung überhaupt nicht teil, aber binnen drei Jahrzehnten fand sie sich mit ihr ab und nutzte jede für sie vorteilhafte Bestimmung aus 25 . Die administrative Unteilbarkeit des Königreichs Böhmen und die Einführung der tschechischen Sprache i n einigen wichtigen Sphären der Staatsverwaltung durch die Sprachenverordnungen für Böhmen v o m 5. April 1897 u n d für Mähren v o m 22. April 1897 schienen die Anerkennung der Tschechen als eine der staatstragenden Nationen Österreichs zu bestätigen 26 . Die überwältigende Mehrheit der Deutschen in Böhmen u n d Mähren wollte sich allerdings mit der Position einer nationalen Minderheit gegenüber den Tschechen i n den beiden Kronländern nicht abfinden. Immer weniger auf den Wiener Zentralismus u n d immer mehr auf die machtpolitische Erstarkung des Deutschen Reiches in der unmittelbaren Nachbarschaft gestützt, bemühten sich die führenden deutschböhmischen Politiker wenigstens u m die unbeschränkte Beherrschung in den deutschen Siedlungsgebieten Böhmens. Es ist bezeichnend, daß dieselben deutschösterreichischen Politiker, die eine Zweiteilung Böhmens befürworteten, diese Lösung für andere Kronländer, vor allem für Mähren, Österreichisch-Schlesien, die Steiermark u n d nicht zuletzt Tirol, mit Entschiedenheit ablehnten. I m Gegensatz zu den Gleichberechtigungsbestrebungen wehrten sich die deutschböhmischen u n d deutschmährischen Politiker sowie ihre nationalen Schutzvereine gegen die Verbreitung der Zweispra-

24

Ebd., S. 428-437; / Kren, Konfliktni spolecenstvi. Cesi a Nëmci 1780-1918 (Eine Konfliktgemeinschaft. Tschechen und Deutsche 1780-1918), Praha 1990, S. 248-256. 25 Als anregend vgl. K.J. Freeze , The Progressive Youth of the 1890s. Children of the December Constitution, in: H. Lemberg / Κ. Litsch / R.G. Plaschka / G. Rànki (Hrsg.), Bildungsgeschichte, Bevölkerungsgeschichte, Gesellschaftsgeschichte in den böhmischen Ländern und in Europa (Schriftenreihe des Österreichischen Ost- und SüdosteuropaInstituts 14), Wien / München 1988, S. 275-285. 26

Nach der Ansicht von B. Sutter ; Die Badenischen Sprachverordnungen, 1, S. 106, mußte allerdings jede Befriedigung der Forderungen der Tschechen oder der Deutschböhmen die Begehrlichkeit auch der national gemäßigteren Nationalitäten, besonders der Slowenen in der Steiermark, erwecken.

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chigkeit in den vorwiegend deutschen Bezirken u n d Städten Böhmens u n d i n den deutsch beherrschten Städten Mährens, besonders in der Landeshauptstadt Brünn, w o nach der Volkszählung v o n 1880 die Tschechen fast vierzig Prozent der Bevölkerung ausmachten 27 . Andererseits bestanden die meisten deutschböhmischen Politiker auf einer Wiederherstellung der offiziellen Zweisprachigkeit der böhmischen Landeshauptstadt Prag, insbesondere nachdem die Prager Stadtvertretung i m Jahre 1892 nur tschechische Straßenbezeichnungen eingeführt hatte, obgleich die tschechische Minderheit in Brünn verhältnismäßig dreimal so groß war w i e die deutsche Minderheit in Prag 28 . Alle österreichischen Regierungen nach 1897 setzten die Bemühungen u m die Lösung des Nationalitätenkampfes in Böhmen fort. Der Kompromißversuch v o m Februar 1898 mit der Dreiteilung Böhmens in tschechische, deutsche u n d sprachlich gemischte Amtbezirke schlug fehl ebenso w i e die Bemühungen führender Industrie- u n d Handelsfirmen 2 9 u n d der modernisierenden österreichischen Staatsbürokratie unter dem Ministerpräsidenten Ernest v o n Koerber, den akuten Nationalitätenkampf durch die Hervorhebung der gemeinsamen wirtschaftlichen Interessen abzuschwächen 3 0 . I m Februar/März 1900, Oktober 1902, Januar 1903, Mai/Juni 1905, Juni/Juli 1909 u n d dann mit Unterbrechungen v o m September 1910 bis zum Februar 1914 fanden auf verschiedenen Ebenen sogenannte Verständigungs- oder Ausgleichskonferenzen tschechischer u n d deutschböhmischer Politiker unter Teilnahme der Vertreter des böhmischen Großgrundbesitzes u n d der österreichischen Regierung statt 31 . Von einem rein technischen Standpunkt her gesehen, wurde in den wochen- u n d monatelangen Verhandlungen an der Lösung v o n vielen Problemen des Sprachengebrauchs u n d des Minderheitenschutzes in einem v o n zwei hochentwickelten Nationalitäten bew o h n t e n Land gearbeitet. Es wiederholte sich allerdings die Situation, daß die v o n den Unterhändlern mühevoll erzielte Zustimmung auf Drängen der radikalnationalen Organisationen wieder in Frage gestellt wurde. Nach der politischen Krise v o n 1897-1899 setzten die deutschböhmischen Politiker ihren Standpunkt durch, daß in Böhmen - anders als in Mähren - jedes 27 Österreichische Statistik, 1/2, Wien 1882, S. 80. Vgl. die Angaben über Prag und Berlin bei J. Kofalka, Tschechen im Habsburgerreich, S. 158-159, Anm. 100. 28

Vgl. G.B. Cohen, The Politics of Ethnic Survival. Germans in Prague, 1861-1914, Princeton 1981, S. 148. 29 A. Srb, Politické dëjiny nâroda ceského od roku 1861 [Politische Geschichte der böhmischen Nation seit 1861], 2, Praha 1901, S. 513-514. 30 Vgl. A. Ableitinger; Ernest von Koerber und das Verfassungsproblem im Jahre 1900. Österreichische Nationalitäten- und Innenpolitik zwischen Konstitutionalismus, Parlamentarismus und oktroyiertem allgemeinem Wahlrecht (Studien zur Geschichte der österreichisch-ungarischen Monarchie, 12), Wien / Graz / Köln 1973; O. Urban, Ceskâ spolecnost, S. 506-515. 31 Vgl. die bisher beste Übersicht bei Z. Tobolka, Politické dëjiny ceskoslovenského nâroda od roku 1848 az do dnesni doby [Politische Geschichte der tschechoslowakischen Nation von 1848 bis zur Gegenwart], III/2, Praha 1936, S. 247-260, 324-334, 388391, 502-507, 515-522, 542-554, 564-566, 573-579, 590-593.

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Experiment mit der Zweisprachigkeit zu einer Verschärfung des Nationalitätenkonflikts beitragen würde. Die alten Vorschläge v o n 1871 u n d 1890, sowie auch die guten Erfahrungen mit der nationalen Zweiteilung des Landesschulrates in Böhmen, w u r d e n zur Begründung der Vorteile der Einsprachigkeit der i m ethnisch-sprachlichen Sinne einheitlichen Territorien verwendet. Alle Vorschläge betreffend den Sprachengebrauch bei den unteren staatlichen Behörden in Böhmen mußten die faktische Verbreitung der tschechischen Sprache bei den Gerichten, in der Finanz- u n d Postverwaltung i m tschechischen Siedlungsgebiet respektieren, aber andererseits konnten sie vor der entschiedenen Opposition der Gerichte u n d der Lokalbehörden in den vorwiegend deutschen Bezirken Böhmens gegen die Zweisprachigkeit nicht die Augen schließen. Auch die Organisation des sprachlich getrennten Mittel- u n d Hochschulwesens in Böhmen ohne Lernzwang der anderen Landessprache erschwerte die Heranbildung v o n Beamten, die der beiden Landessprachen gleich mächtig gewesen wären. Eine weitgehende Übereinstimmung wurde i m Fall der Minderheitenschulen erzielt. Grundsätzlich sollte eine Minderheitenschule in jeder Gemeinde errichtet werden, w o mindestens vierzig schulpflichtige Kinder der Sprachminderheit fünf Jahre lang oder mehr in der Gemeinde wohnten. Sowohl der tschechische als auch der deutschböhmische Landesfonds sollte finanziell für die Schulen der eigenen Nationalität, auch für die Minderheitenschulen, aufkommen. Der Prozentsatz der nationalen Minderheit, aufgrund dessen eine Gemeinde oder ein Bezirk in beiden Sprachen mündlich u n d schriftlich amtieren sollte, wurde auf deutschböhmisches Drängen v o n 20% auf 25% erhöht, und nach dem Vorschlag v o m Juli 1912 sollte nur eine Minderheit v o n 35% berücksichtigt werden 3 2 , aber dieser Forderung stimmten die tschechischen Unterhändler in den Ausgleichskonferenzen nicht zu. Z w e i wichtige auswärtige Faktoren beeinflußten nachteilig die Möglichkeit eines nationalpolitisch ausgewogenen böhmischen Ausgleichs, der sowohl für die Tschechen als auch für die Deutschböhmen einigermaßen annehmbar gewesen wäre. Der österreichische Thronfolger, Erzherzog Franz Ferdinand, erhob mehrmals seine Einwände gegen einen weitgehenden tschechisch-deutschen Kompromiß, der in die Privilegien des österreichischen Kaisers eingreifen könnte. Man setzte voraus, daß Franz Ferdinand als eine der ersten Maßnahmen nach seiner begierig erwarteten Thronbesteigung den böhmischen Ausgleich aufgrund der vorläufigen Vereinbarungen v o n 1910 und 1912 sanktionieren wollte 3 3 . Noch stärker wirkte der fortwährende Einfluß des Deutschen Reiches auf die innenpolitischen Verhältnisse der Habsburgermonarchie. Von der Berliner Regierung u n d v o m deutschen Botschafter in Wien kamen wiederholte Äußerungen dahingehend, daß nur die Vorherrschaft der Deutschen in Zisleithanien d e m Geist des Bündnisses zwischen Deutschland u n d Österreich-Un32 33

Ebd., S. 576.

RA. Kann, Der Thronfolger Franz Ferdinand und seine Einstellung zur böhmischen Frage, in ders., Erzherzog Franz Ferdinand Studien (Veröffentlichungen des Österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts, 10), Wien 1976, S. 127-156, hier S. 153.

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garn entspreche 34 . Es war kein Zufall, daß die deutschböhmischen Teilnehmer an den Ausgleichverhandlungen in den Jahren 1910 bis 1914 ihre Forderungen immer mehr steigerten u n d schließlich i m Februar 1914, in der Aussicht auf eine machtpolitische Expansion des Deutschen Reiches, jeden Kompromiß ablehnten 35 .

3. Erfolgreicher Versuch zum Minderheitenschutz in Mähren Die Ausgangspositionen, die gegenseitigen Forderungen u n d die Resultate der mährischen Ausgleichsverhandlungen an der Wende des 19. zum 20. Jahrhundert waren v o n denjenigen in Böhmen wesentlich verschieden. Aufgrund des inselartigen Charakters der deutschen Städte in den tschechischen Gebieten Mährens verlangten die deutschmährischen Politiker nicht eine territoriale Zweiteilung des Landes, w i e die Deutschen in Böhmen, sondern eine Garantie ihres nationalen Besitzstandes, vor allem die Aufrechterhaltung ihrer privilegierten Stellung in allen größeren Städten Mährens. Trotz der klaren tschechischen Bevölkerungsmehrheit i m Lande war die wirtschaftliche Macht der mährischen Tschechen, anders als in Böhmen, noch verhältnismäßig gering. Nur i n den Wahlkreisen der Landgemeinden gewannen die tschechischen Abgeordneten ständig 22 bis 23 Mandate, während alle Sitze für die zwei Handels- und Gewerbekammern in Brünn u n d Olmütz u n d fast zwei Drittel der Mandate für die städtischen Wahlkreise den deutschmährischen Kandidaten zufielen. In den Jahren 1890-1896 u n d 1896-1902 war die Zahl der tschechischen u n d der deutschen Abgeordneten i m mährischen Landtag, die nicht den Großgrundbesitz vertraten, völlig gleich, 34 auf beiden Seiten 36 . I m Unterschied zu Böhmen wirkte i m mährischen Landtag eine Mittelpartei des Großgrundbesitzes, die weder zum verfassungstreuen noch zum konservativen Adel gehörte u n d als Vermittler zwischen den beiden Nationalitäten Mährens auftrat 37 . Jahrelang andauernde Verhandlungen über die Reform der mährischen Landesverfassung u n d des Wahlsystems w u r d e n intensiviert, nachdem die

34

Vgl. J. Kofalka, Deutschland und die Habsburgermonarchie 1848-1918, in: A. Wandruszka / P. Urbanitsch (Hrsg.), Die Habsburgermonarchie 1848-1918, VI/2: Die Habsburgermonarchie im System der internationalen Beziehungen, Wien 1993, S. 1-158, hier S. 109-114, 134-137. 35 Vgl. Z. Samberger; Sprâvni predzvëst rozpadu habsburské monarchie. Ke zruseni ùstavnosti zemë ieké tzv. Anenskymi patenty ζ 26. cervence 1913. Komentâr k rukopisu Karla Kazbundy [Verwaltungsvorzeichen des Zerfalls der Habsburgermonarchie. Zur Aufhebung des Verfassungswesens des Landes Böhmen durch die sogenannten Annenpatente vom 26. Juli 1913. Kommentar zum Manuskript von Karel Kazbunda], in: Sbornik archivnich praci, 39 (1989), S. 221-254. 36 37

H. Glassi , Der Mährische Ausgleich, S. 38 und 54.

Vgl. R.R. Luft, Die Mittelpartei des mährischen Großgrundbesitzes 1879 bis 1918. Zur Problematik des Ausgleichs in Mähren und Böhmen, in: F. Seibt (Hrsg.), Die Chance der Verständigung. Absichten und Ansätze zu übernationaler Zusammenarbeit in den böhmischen Ländern 1848-1918, München 1987, S. 187-243.

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deutschmährischen Parteien in den Landtagswahlen v o m Oktober 1902 zwei Abgeordnetensitze in den städtischen Wahlkreisen u n d ein weiteres Mandat in der Landgemeindenkurie verloren hatten. Andererseits gelang es den Tschechen nicht, die erwünschte absolute Mehrheit i m mährischen Landtag i m Bündnis mit dem konservativen Großgrundbesitz zu erlangen. I m Plenum des mährischen Landtags u n d i m Wahlreformausschuß wurden verschiedene, oft gegensätzliche Reformanträge vorgelegt. Die deutschmährischen Politiker waren bereit, durch eine Änderung der Wahlordnung eine sichere tschechische Mehrheit i m mährischen Landtag zu gewähren, w e n n als Gegenleistung die Bildung v o n nationalen Kurien mit Vetorecht in allen Fragen der Landesverfassung u n d der Wahlordnung zugestanden worden wäre. Positive Erfahrungen brachte die Errichtung des für die Landwirtschaft zuständigen Landeskulturrates, der nach dem böhmischen Vorbild in eine tschechische u n d eine deutsche Sektion mit dem Zentralkollegium für gemeinsame Angelegenheiten aufgeteilt wurde. Unter dem Einfluß der anwachsenden Bewegung für das allgemeine, gleiche u n d direkte Wahlrecht während des Jahres 1905 einigten sich die konservativen u n d rechtsliberalen tschechischen u n d deutschen Politiker in Mähren unter Vermittlung des Großgrundbesitzes auf die Beibehaltung der Interessenvertretung mit Zensuswahlrecht, ergänzt durch eine allgemeine Wählerklasse. Vier Landesgesetze v o m 27. November 1905, die Landesverfassung, die Landtagswahlordnung, den Sprachengebrauch bei den autonomen Behörden u n d das Schulwesen der beiden Nationalitäten betreffend, insgesamt als der Mährische Ausgleich bekannt 3 8 , wurden i m Brünner Landtag angenommen u n d v o m Kaiser Franz Joseph unverzüglich sanktioniert. A n die Stelle des territorialen Abgrenzungsprinzips trat in der politischen Praxis des alten Österreich zum ersten Mal das Personalitätsprinzip, kombiniert mit der Zweisprachigkeit der Staatsbehörden u n d des mährischen Landesausschusses i m Verkehr mit den autonomen Gemeinden. Nicht erst die gewählten Landtagsabgeordneten, w i e es in den böhmischen Vorschlägen v o n 1871 u n d 1890 der Fall war, sondern alle Wähler in den Kurien der Städte, der Landgemeinden u n d der neu gebildeten allgemeinen Wählerklasse w u r d e n entsprechend ihrer nationalen Zugehörigkeit in zwei nationale Wahlkataster eingeteilt, welche sich auf das Territorium des ganzen Kronlandes Mähren erstreckten. Die Eintragung der Wähler in die tschechische oder deutsche Liste wurde den Gemeindevertretungen nach Maßgabe der ihnen bekannten persönlichen Verhältnissen anvertraut. Der in eine Liste Eingetragene konnte die Eintragung i n die andere Liste verlangen, doch konnte diese O p t i o n durch das sogenannte behördliche Richtigstellungsverfahren bis zum Reichsgericht in Wien annulliert werden. Dabei wurde zum Beispiel untersucht, in welche Schule, tschechische oder deutsche, die betreffende Person ihre Kinder schickt, i n welchen Vereinen sie Mitglied ist, in welchem Gasthaus

38 Dazu H. Glassi , Der Mährische Ausgleich, S. 193-226; / . Malif, Pokus ο souziti. Cesko-nëmecké nârodnostni vyrovnâni na Morave ζ roku 1905 [Versuch des Zusammenlebens. Der tschechisch-deutsche Nationalitätenausgleich in Mähren von 19051 in: Proglas, Brno 1990, Nr. 9, S. 3-11; J. Kofalka, Tschechen im Habsburgerreich, S. 159-164.

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sie verkehrt 3 9 . Durch die nationale Trennung der Wählerlisten wurde fast jede nationalpolitische Agitation v o m Wahlkampf ferngehalten u n d auf die Eintragung der Wähler i n den tschechischen oder den deutschen Wahlkataster beschränkt. Mit diesem Verfahren wurde in Zisleithanien zum erstenmal die Nationalität des Staatsbürgers rechtlich festgestellt, während in den Volkszählungen oder i m Minderheitenschulwesen bloß die Umgangssprache ermittelt wurde 4 0 . Diese obligatorische nationale Trennung wirkte sich nachteilig auf die traditionelle Zweisprachigkeit u n d die ethnisch-nationale Unbestimmtheit eines Teils der mährischen Bevölkerung aus, w e i l auch die überwiegend regional fühlenden Mährer zu „Muß-Tschechen" oder „Muß-Deutschen" gemacht w u r d e n u n d die Möglichkeit einer zweisprachigen Zugehörigkeit amtlich nicht zugelassen war. Nach dem Vorbild Böhmens wurde auch der mährische Landesschulrat in eine tschechische u n d eine deutsche Sektion geteilt, u n d national getrennte Ortsschulräte w u r d e n auch für sprachlich gemischte Gemeinden vorgesehen, ohne jedoch den finanziellen Aufwand für Errichtung u n d Erhaltung der Minderheitenschulen unabhängig v o n den Gemeinden zu sichern. Diese Bestimmung verursachte große Schwierigkeiten für tschechische Schulen i n einigen Städten mit einem hohen Prozentsatz v o n tschechischer Bevölkerung u n d mit einem deutsch beherrschten Rathaus. Deutschmährische Sozialdemokraten machten darauf aufmerksam, daß zum Beispiel i m Kohlenbergbaugebiet u m MährischOstrau nicht wenige deutsche Unternehmer v o n ihnen abhängige Arbeiter in deutsche Wahllisten eintragen ließen, die der deutschen Sprache nicht mächtig waren, sodaß sich die Landtagskandidaten bei der Wahlpropaganda für den deutschen Wahlkataster auch der tschechischen u n d der polnischen Sprache bedienen mußten 4 1 . Nach den Ausgleichsgesetzen v o n 1905 gliederte sich der mährische Landtag i n die tschechische Kurie, die deutsche Kurie u n d die Kurie des großen Grundbesitzes. Diese Kurien wurden nur für die Wahlen i n die Landtagsausschüsse benutzt u n d hatten kein Vetorecht, das in den böhmischen Ausgleichsvorschlägen v o n 1871 u n d 1890 vorgesehen war. Dieser ursprünglichen Forderung der deutschmährischen Politiker wurde dadurch Rechnung getragen, daß zur Änderung der Ausgleichsgesetze i m mährischen Landtag die Anwesenheit v o n mehr als vier Fünftel der Abgeordneten u n d die Zustimmung v o n zwei Dritteln der Anwesenden erforderlich war. Das Verhältnis zwischen den beiden Nationalitäten i m mährischen Landtag wurde fest bestimmt: für die Städte gab es 10 tschechische u n d 10 deutsche Wahlkreise, für die Landgemeinden 39 tschechische u n d 14 deutsche Wahlkreise, i n der allgemeinen Wählerklasse 14 tschechische 39 G. Stourzh, Die Gleichberechtigung, S. 224-228. Vgl. dazu L. Höbelt, Iustitia und der § 19, in: Bohemia, 28 (1987), S. 360-363. 40

Κ. G. Hugelmann , Das Nationalitätenrecht nach der Verfassung von 1867. Der Kampf um ihre Geltung, Auslegung und Fortbildung, in: K.G. Hugelmann (Hrsg.), Das Nationalitätenrecht des alten Österreich, Wien / Leipzig 1934, S. 79-286, hier S. 232. Vgl. J. Malft, Pokus ο souziti, S. 10, Anm. 19. 41

J.W. Brügel, Zeitgenössische Kritik am Mährischen Ausgleich, in: Bohemia, 28 (1987), S. 364-368, hier S. 365.

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u n d 6 deutsche Wahlkreise. Die Einteilung ganz Mährens in national getrennte Wahlkreise bedeutete zweifellos einen Vorteil für Minderheiten in überwiegend andersnationalen Gebieten, w e i l nach dem früheren Wahlsystem die Stimmen der Minderheiten i m nationalen Sinne verlorenzugehen schienen 4 2 . Allerdings kann der Mährische Ausgleich v o n 1905 nicht als ein allgemein gültiges Lösungsmodell betrachtet werden. Er kam in einer einzigartigen historischen Situation zustande, als die bis dahin herrschende nationale Minderheit ihre privilegierte Stellung i m Lande nicht mehr aufrechtzuerhalten imstande war u n d sich bereit erklärt hatte, einen Teil ihrer bisherigen Position gegen die vertragliche Sicherung des übrigbleibenden Teils der Machtposition abzutreten. Dasselbe galt auch für die südböhmische Stadt Budweis (Ceské Budëjovice), w o die mehrheitlich deutsche Stadtverwaltung mit den konservativen Vertretern der tschechischen Bevölkerungsmehrheit in der Stadt im Februar 1914 eine Übereinkunft über die nationale Trennung der Wählerlisten, der Verzeichnisse der Steuerpflichtigen u n d der Schulgemeinden sowie über Garantien für die politische Vertretung der Budweiser deutschen Minderheit erzielte 43 . I n denjenigen Fällen, w o die nationale Minderheit keine aus der Vergangenheit stammende, sozial privilegierte Stellung ausnutzen konnte oder w o die führende Stellung einer knappen nationalen Mehrheit v o n einer anderen Nationalität nicht bedroht war, zeigte sich die Bereitschaft zu einer Kompromißlösung als äußerst gering u n d meistens fehlte sie zur Gänze.

4. Staatsnation und Minderheiten in der Tschechoslowakischen Republik nach 1918 Die Niederlage des Deutschen Reiches u n d der mit i h m verbündeten österreichisch-ungarischen Monarchie i m Ersten Weltkrieg war mit einer grundlegenden Veränderung des Staatensystems u n d des Verhältnisses zwischen nationalen Mehrheiten u n d Minderheiten verbunden. Die neuen Grenzziehungen respektierten nur w e n i g die ethnisch-sprachlichen Gegebenheiten u n d den nationalpolitischen Mehrheitswillen der Bevölkerung in den umstrittenen Grenzgebieten. Strategische, wirtschafts- u n d verkehrspolitische Bedürfnisse der Siegermächte u n d der mit ihnen verbundenen neuen Staaten auf den Trümmern der ehemaligen multinationalen Monarchien hatten bei weitem mehr Gewicht. Das galt auch für die am 28. Oktober 1918 entstandene Tschechoslowakische Republik, die den nationalpolitischen Wünschen der überwältigenden Mehrheit der tschechischen Bevölkerung entsprach u n d auch für die Slowaken eine große Chance zur Entfaltung ihres eigenen gesellschaftlichen Lebens darstellte. Es war jedoch überhaupt nicht einfach, die Loyalität der andersnationalen Gruppen der Bevölkerung des neuen Staates, die sich plötzlich in der Minderheitenposition befanden, zu gewinnen. 42 43

In diesem Sinne H. Glassi, Der Mährische Ausgleich, S. 228.

E. Brix, Der böhmische Ausgleich in Budweis, in: Österreichische Osthefte, 24 (1982), S. 225-248.

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Die Tschechoslowakei entstand als eine auf dem Mehrparteiensystem gegründete parlamentarisch-demokratische Republik. Als einziger unter den Nachfolgestaaten Österreich-Ungarns war sie imstande, den ungeschmälerten politischen Pluralismus u n d die bürgerlichen Freiheiten bis zum Untergang durch einen auswärtigen machtpolitischen Druck i m Herbst 1938 zu bewahren. Zur innenpolitischen Stabilität der Tschechoslowakei nach 1918 trug neben der guten wirtschaftlichen Ausgangsstellung auch die weitgehende Kontinuität der Rechtsordnung und des Behörden- und Beamtenapparates mit dem alten Österreich bei 4 4 . Tabelle 3 Anteil der Tschechen, Slowaken, Deutschen und der anderen Nationalitäten an der Bevölkerung der Tschechoslowakischen Republik (in Prozentsatz) 1921-1930 45 Nationalität

Volkszählung 1921 1930

Böhmen

tschechische slowakische deutsche jüdische andere

66.54 0.10 33.04 0.17 0.15

66.76 0.43 32.38 0.18 0.25

Mähren und Schlesien

tschechische slowakische deutsche jüdische polnische andere

72.12 0.28 24.67 0.59 2.23 0.11

73.72 0.40 22.85 0.49 2.27 0.27

Slowakei

tschechische slowakische deutsche jüdische ungarische russische/ruthenische andere

2.43 65.69 4.73 2.39 21.48 2.90 0.38

3.72 68.37 4.53 2.01 17.58 2.80 0.99

Karpatorußland

tschechische slowakische deutsche jüdische ungarische russische/ruthenische andere

1.59 1.72 1.73 13.33 17.35 62.32 1.96

2.92 1.87 1.87 12.87 15.44 63.02 2.01

Es gab allerdings einen grundsätzlichen Unterschied zur nationalpolitischen Situation i m österreichischen Teil der Habsburgermonarchie bis 1914, w o sich 44 H. Slapnicka, Der neue Staat und die bürokratische Kontinuität, in: K. Bosl (Hrsg.), Die demokratisch-parlamentarische Struktur der Ersten Tschechoslowakischen Republik, München / Wien 1975, S. 121-147, hier S. 123-124. 45 Ceskoslovenskâ statistika [Tschechoslowakische Statistik], 9, Praha 1924, S. 61 und 43; 98, Praha 1934, S. 47.

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kein Volksstamm, nicht einmal die Deutschösterreicher (und noch weniger die Deutschböhmen) mit dem Staat völlig identifizieren konnten. In der Tschechoslowakischen Republik nach 1918 fühlten sich die Tschechen eindeutig als die Staatsnation, u n d neben ihnen beteiligte sich ein großer Teil der Slowaken (die sich als Tschechoslowaken fühlten), die Mehrheit der Juden (die - anders als i m alten Österreich - als eine Nationalität anerkannt wurden) sowie auch liberal u n d demokratisch eingestellte Einzelpersönlichkeiten anderer Nationalitäten v o n Anfang an am Aufbau des neuen Staatswesens. Die äußerst bunte sprachlichnationale Zusammensetzung des tschechoslowakischen Staates der Zwischenkriegszeit wirkte allerdings in vieler Hinsicht hemmend u n d störend auf die Herausbildung einer gemeinsamen Staatsidee u n d einer modernen politischen Kultur 4 6 . Die Rechtslage der nationalen Minderheiten in der Tschechoslowakischen Republik nach 1918 stützte sich auf die Bestimmungen des internationalen Minderheitenschutzvertrags v o n Saint Germain v o m 10. September 1919, die dann in das sechste Kapitel, §§ 128 bis 132, der Verfassungsurkunde v o m 29. Februar 1920 eingebaut wurden. Allen Staatsbürgern ohne Rücksicht auf Rasse, Sprache u n d Religion wurde die Gleichheit vor dem Gesetz, in bürgerlichen und politischen Rechten, ein freier Zutritt zum öffentlichen Dienst, zu den Ämtern u n d Würden, eine freie Ausübung des Gewerbes oder Berufes, zur Benutzung jeder beliebigen Sprache (nicht nur der Mutter- oder Staatssprache, beziehungsweise der landesüblichen Sprache) i m privaten u n d geschäftlichen Verkehr, i n Angelegenheiten der Religion u n d der Presse, in öffentlichen Reden u n d Versammlungen, angemessene Möglichkeiten der Benutzung der eigenen Sprache, das Recht zur Gründung u n d Verwaltung humanitärer, religiöser u n d sozialer Anstalten u n d Schulen in eigener Sprache, nicht zuletzt auch angemessene Möglichkeiten des öffentlichen Unterrichtes der Kinder der Staatsbürger anderer Nationalitäten samt der Finanzierung dieses Unterrichtes auf Staats- u n d Gemeindekosten gewährt 4 7 . Zeitgenössische Kritiker bemängelten, daß einige Bestimmungen v o n Saint Germain in der tschechoslowakischen Verfassung abgeschwächt oder modifiziert w u r d e n 4 8 , aber tschechische Juristen betonten ihrerseits dagegen, daß die §§ 130 u n d 134 eine Erweiterung des Minderheitenschutzes bedeuteten u n d vor allem das Verbot jedweder gewaltsamen Entnationalisierung festlegten 49 .

46 Vgl. J. Malypetr / F. Soukup / J. Kapras (Hrsg.), Die Tschechoslowakische Republik. Ihre Staatsidee, 1-2, Praha 1937. 47 Sbirka zâkonu narizeni statu ceskoslovenského [Sammlung der Gesetze und Verordnungen des tschechoslowakischen Staates], (1920), S. 266-267. 48 Vgl. H. Slapnicka, Recht und Verfassung der Tschechoslowakei 1918-1938, in: K. Bosl (Hrsg.), Aktuelle Forschungsprobleme um die Erste Tschechoslowakische Republik, München / Wien 1969, S. 93-111, hier S. 99. 49

V. Perek, Ochrana mensin narodnostnich die mirovych smluv a skutecné pomëry ν nasi republice [Der Schutz der nationalen Minderheiten nach den Friedensverträgen und die wirklichen Verhältnisse in unserer Republik], Praha 1922.

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Das mit der tschechoslowakischen Verfassung eng verbundene Sprachengesetz v o m 29. Februar 1920 bestimmte die tschechoslowakische Sprache (in tschechischer Version für die Länder der böhmischen Krone, in slowakischer Version für die Slowakei) als die offizielle Sprache der Republik, das heißt die Sprache aller Gerichte, Behörden, staatlichen Anstalten, Betriebe u n d Organe sowie auch Dienstsprache des Heeres; i m Verkehr mit den der Staatsprache unkundigen Soldaten konnte auch deren Muttersprache benutzt werden. Der Minderheitenschutz betraf diejenigen Gerichtsbezirke, in denen nach der letzten Volkszählung mindestens 20% anderssprachiger Staatsbürger den Wohnsitz hatten. Autonome Behörden u n d Vertretungskörper bestimmten nach w i e vor ihre Verhandlungssprache, aber zugleich mußten sie mündliche u n d schriftliche Eingaben auch in der Staatssprache annehmen u n d erledigen 5 0 . Vertreter tschechischer Minderheiten in den mehrheitlich deutschsprachigen Gemeinden u n d Bezirken beschwerten sich oft über ihre Benachteiligung v o n Seiten der deutschsprachigen autonomen Organe 5 1 . Vom alten Österreich wurde die weitgehende Selbstverwaltung der Nationalitäten in der Form der Zweiteilung des Landesschulrates u n d des Landeskulturrates in Böhmen u n d Mähren sowie auch der Ärztekammer in Böhmen beibehalten; darüber hinaus sorgte das tschechoslowakische Büchereigesetz v o m 22. Juli 1919 für die in ganz Europa sonst ungew ö h n l i c h e Dichte u n d die national kulturelle A u t o n o m i e der Gemeindebibliotheken 5 2 . Das änderte allerdings nichts an der psychologisch tief wirkenden Tatsache, daß die Deutschen in Böhmen u n d Mähren ihre privilegierte Stellung aus dem alten Österreich verloren hatten u n d zu einer nationalen Minderheit herabgesunken waren. Es half wenig, daß das deutsche Schulwesen in der Tschechoslowakei - trotz der Schließung einiger Kleinschulen - sehr ausgedehnt war u n d v o n den Kindergärten bis zu den Hochschulen aller Art reichte. Trotz der Entlassung v o n fast der Hälfte der deutschsprachigen Staatsbeamten i n den 1920er Jahren lag der deutsche Anteil am Staatsdienst in der Tschechoslowakischen Republik nach 1930 noch immer knapp über dem tschechischen Anteil u n d w u r d e verhältnismäßig nur v o m jüdischen übertroffen 53 . Das weitverzweigte deutsche Vereins- u n d Büchereiwesen war in der Tschechoslowakei nach I 9 I 8 noch ausgedehnter u n d mannigfaltiger als vor 1914. Für die Karpatendeutschen i n der Slowakei bedeutete das parlamentarisch-demokratische Regime der Zwischenkriegszeit in vieler Hinsicht eine Rettung vor der fortschrei50

Sbirka zâkonu narizeni, (1920), S. 268-269.

51

Vgl. A. Seifert, Vzpominky na Libérée ζ doby nëmeckého ùtlaku [Erinnerungen an Reichenberg aus der Zeit der deutschen Unterdrückung], Libérée 1946. 52 Dazu vgl. Z. Peska, Kulturni samosprâva narodnich mensin [Die kulturelle Selbstverwaltung der nationalen Minderheiten), Praha 1933, S. 18-25; R. Luft, Das Bibliothekswesen in Böhmen und Mähren während der nationalsozialistischen Herrschaft 19381945, in: Bohemia, 30 (1989), S. 295-342, hier S. 295-296. 53 Nach Α. Oberschall, Die berufliche Gliederung der Deutschen in der Tschechoslowakei, 1937, S. 31, zitiert von F. Seibt, Deutschland und die Tschechen. Geschichte einer Nachbarschaft in der Mitte Europas, München / Zürich 1993, S. 279.

Minderheitenstatus als Notausweg

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tenden Magyarisierung 54 . I n der Praxis kam ein Großteil der Deutschen in der Tschechoslowakei nur selten in Berührung mit der Staatssprache. Die Wahrnehm u n g der politischen u n d gesellschaftlichen Veränderungen nach 1918 wurde allerdings durch verschiedene Mißgriffe der tschechoslowakischen Bürokratie u n d durch eine tatsächliche Benachteiligung einiger sozialer Gruppen unter den Sudetendeutschen negativ beeinflußt. Was das Verhältnis zu den jüdischen Mitbürgern betrifft, so war die Tschechoslowakische Republik der Zwischenkriegszeit zweifellos das liberalste Land unter den Nachfolgestaaten der österreichisch-ungarischen Monarchie 5 5 . In den Volkszählungen v o n 1921 u n d 1930 wurde den Juden die Möglichkeit gegeben, die jüdische Nationalität anzugeben. Unter den Staatsbürgern israelitischen Religionsbekenntnisses bekannten sich i m März 1921 nur 14,1% in Böhmen, aber 41,97% in Mähren u n d Schlesien, 51,89% in der Slowakei u n d sogar 85,77% in Karpatorußland zur jüdischen Nationalität 56 . Während in Böhmen u n d Mähren die absolute Zahl der Israeliten nach dem Religionsbekenntnis weiterhin sank (diese Tendenz war seit dem Jahre 1890 zu beobachten), stieg der Anteil der Staatsbürger jüdischer Nationalität 1930 in Böhmen auf 16,69% u n d i n Karpatorußland auf fast 89%; dagegen kam es zu einem geringen Rückgang dieses Anteils in Mähren-Schlesien u n d einem größeren (auf 47,82%) in der Slowakei 5 7 . I n den Auseinandersetzungen zwischen den Assimilationstendenzen u n d dem Zionismus gewann zwar die nationaljüdische Bewegung immer mehr an Boden, aber in den böhmischen Ländern war sie nicht stark genug, u m sich bei Wahlen durchsetzen zu können. Die polnische Minderheit i n der Tschechoslowakei war i n den östlichen Bezirken des ehemaligen österreichischen Schlesien konzentriert, aber ihre Stärke verminderte sich durch die Abtretung eines Teiles des Teschener Gebietes an Polen i m Juli 1920 u n d dann durch die administrative Reform mit der Bildung des Landes Mähren-Schlesien i m Juli 1927 58 . Das tschechoslowakisch-polnische A b k o m m e n über den gegenseitigen Minderheitenschutz v o m 23. April 1925 deklarierte die Absicht der beiden Regierungen, unter der Voraussetzung der Loyalität zum Staat ihren Minderheiten mehr Rechte u n d größere Betätigungsfelder zu gewähren, als ihnen in den internationalen Verträgen zugestanden w o r d e n war. I m gut funktionierenden parlamentarisch-demokratischen System spalteten sich die polnischen Parteien in der Tschechoslowakei, ähnlich w i e die tschechischen oder die sudetendeutschen politischen Parteien, in vier oder fünf 54 Vgl. E. Jahn, Die parteipolitische Vertretung der Deutschen in der Slowakei, in: K. Bosl (Hrsg.), Die Erste Tschechoslowakische Republik als multinationaler Parteienstaat, München / Wien 1979, S. 203-216. 55 L. Lipscher; Die soziale und politische Stellung der Juden in der Ersten Republik, in: F. SeibtiHrsg.), Die Juden in den böhmischen Ländern, München / Wien 1983, S. 269280. 56

Berechnet nach Ceskoslovenskâ statistika, 9, S. 89.

57

Ebd., 98, S. 51. Sbirka zâkonu a naìizeni, (1927), S. 1449-1461.

58

8 Corsini / Zaffi

Jtfi Koïalka

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Lager. Gegen die gelegentlich auftauchenden Beschwerden hoben tschechische Nationalitätenexperten hervor, daß die Lage des polnischen Schulwesens i n der Tschechoslowakei wesentlich besser sei als die i m alten österreichischen Schlesien oder i n der zeitgenössischen Deutschen Republik, w e i l 92,1% der polnischen Kinder i m Jahre 1930 u n d 92,5% i m Jahre 1933 die Möglichkeit hatte, polnische (nicht zweisprachige) Volks- u n d Bürgerschulen zu besuchen 5 9 . Die Nationalitätenproblematik der Slowakei war noch mehr dadurch kompliziert, daß sich ein immer größerer Teil der politisch aktiven Slowaken mit der Auffassung einer tschechoslowakischen Staatsnation nicht identifizierte. Die pluralistische Demokratie nach 1918 gewährte günstige Bedingungen für den nationalen Emanzipationsprozeß der Slowaken, der allerdings v o n der politischen Führungsspitze der Tschechen allzu spät oder überhaupt nicht begriffen wurde. Die meisten v o n den Zehntausenden i n der Slowakei lebenden Tschechen fühlten u n d betätigten sich als aufrichtige Tschechoslowaken, nicht als Angehörige einer nationalen Minderheit, u n d sie wurden i n ihrer Überzeugung v o n einem Teil der slowakischen Bevölkerung bestärkt. Ein weitaus größeres Problem als die deutsche Minderheit in mehreren slowakischen Städten u n d i n der Zips stellte die kompakte ungarische Minderheit i m südlichen Teil des Landes dar. Der sichtbare Niedergang des Anteils der ungarischen Bevölkerung sowohl in der Slowakei als auch in Karpatorußland beim Vergleich der beiden Volkszählungen v o n 1921 u n d 1930 wurde nicht zuletzt dadurch verursacht, daß infolge einer strengen Handhabung des Heimatrechtes die Anzahl der Ausländer ungarischer Sprache in der Slowakei erheblich anstieg, aber daß auch das slowakische Bewußtsein einiger Bevölkerungsgruppen viel ausgeprägter wurde 6 0 . Die Verschmelzung der Angaben betreffend die russische, ruthenische u n d ukrainische Nationalität in den tschechoslowakischen Volkszählungen widerspiegelte schließlich die Tatsache der eigentlich bis heute ungeklärten nationalen Identität eines großen Teiles der Bevölkerung der Ostslowakei u n d Karpatorußlands. Unter den 14,7 Millionen der anwesenden Bevölkerung in der Tschechoslowakischen Republik w u r d e n nach der Volkszählung v o m 1. Dezember 1930 etwa eine Viertelmillion Ausländer u n d 14.479.565 tschechoslowakische Staatsbürger festgestellt. Davon waren 7.406.493 Tschechen, 2.282.277 Slowaken, 3.231.688 Deutsche, 691.923 Ungarn, 549.169 Ruthenen, Russen u n d Ukrainer, 186.642 Staatsbürger jüdischer Nationalität (von 356.830 Staatsbürgern israelitischen Religionsbekenntnisses), 81.737 Polen 6 1 . Solange die wirtschaftliche Lage der Tschechoslowakei bis Ende der 1920er Jahre günstig war, solange auch die internationale Situation stabil zu sein schien, erfreuten sich die Tschechoslowakische Republik u n d ihre Regierung eines guten Rufes, w e n n auch Beschwerden gegen die Prager Minderheitenpolitik den internationalen Gremien vorge59 J. Chmelär, Polskâ mensina ν Ceskoslovensku [Die polnische Minderheit in der Tschechoslowakei], Praha 1935, S. 57-60. 60 61

Vgl. die Analyse in: Ceskoslovenskâ statistika, 98, S. 45-46. Ebd., S. 47, 47 und 80.

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legt wurden. „In jedem Falle ist es Aufgabe der Majorität, die nach dem demokratischen Mehrheitsprinzip dem Staat ihren Charakter verleiht, die Minoritäten für den Staat zu gewinnen" 6 2 , erklärte Präsident T.G. Masaryk zum zehnten Jahrestag der Staatsgründung am 28. Oktober 1928. Die tiefe Weltwirtschaftskrise nach 1929, die nationalsozialistische Machtergreifung in Deutschland u n d das Anwachsen autoritärer Regime in allen Nachbarländern bekräftigte unter anderem die Abneigung einflußreicher politischer Strömungen unter der nichttschechischen Bevölkerung gegen die tschechoslowakische parlamentarische Demokratie. Nicht einmal weitgehende Zugeständnisse i m Minderheitenschutz, die v o n der Prager Regierung i n den Jahren 1937-1938 angeboten wurden, konnten diese Entwicklung aufhalten 63 . Der Minderheitenstatus zeigte sich bloß als Notausweg, der gegen die machtpolitischen u n d territorialen Ansprüche Deutschlands nicht standhalten konnte.

62 Poselstvi presidenta republiky T.G. Masaryka k 28. rijnu 1928 [Die Botschaft des Präsidenten der Republik, T.G. Masaryk, zum 28. Oktober 1928], Praha 1928, zitiert von Z. Solle, Kontinuität und Wandel in der sozialen Entwicklung der böhmischen Länder 1872 bis 1930, in: K. Bos/(Hrsg.), Aktuelle Forschungsprobleme um die Erste Tschechoslowakische Republik, München / Wien 1969, S. 46. 63 Dazu vgl. die neueste Zusammenfassung bei V. Kural, Konflikt misto spolecenstvi? Cesi a Nëmci ν Cekoslovenském state 1918-1938 [Konflikt anstatt Gemeinschaft? Tschechen und Deutsche im tschechoslowakischen Staat 1918-1938], Praha 1993, S. 179-191.

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Die Deutschen i n der Ersten Tschechoslowakischen Republik: Rechtsstellung u n d Identitätssuche Von Manfred Alexander

Seit Gründung des neuen Staates der Tschechoslowakei am 28. Oktober 1918 haben die Deutschen in diesem Staat, die nach der Volkszählung v o n 1921 immerhin 3,123 Millionen Menschen oder etwa 23% der Gesamtbevölkerung zählten, u m eine Definition ihrer Identität gerungen. Während einige Vertreter der Wirtschaft die alte Gemeinsamkeit mit den Tschechen auch auf der Grundlage der neuen Machtverhältnisse entsprechend der Bevölkerungsmehrheit fortzusetzen gewillt waren u n d dafür auch Opfer bringen wollten, hatte die Mehrheit der deutschsprachigen Bevölkerung - soweit man dies sehen kann - , jedenfalls aber die Mehrheit der deutschen Politiker, Vorbehalte geäußert oder gar mit der Ausrufung v o n eigenen Staatswesen als Bestandteil der Republik Deutschösterreich einen Sezessionsversuch unternommen. Der Streit darüber, ob die Deutschen ein zweites Staatsvolk, eine Minderheit oder Teil der tschechoslowakischen Staatsnation seien, hat die gesamte Zeit der ersten Republik angedauert, u n d in Kreisen der Sudetendeutschen Landsmannschaft w i r d dieser Streit mit den alten Schlagworten bis heute weitergeführt. Das Problem besteht darin, daß sich i n der Fragestellung juristische u n d politische Frageansätze mit psychologischen Kategorien verbinden; anders gesagt, die Frage nach dem, was w i r k l i c h war, ist v o n der zu trennen, was man eigentlich wahrgenommen oder gefühlt hat. Es genügt nicht, nur eine Auflistung v o n Rechten nach der Verfassung zu liefern, u m die Lage der Deutschen in der Tschechoslowakei zu beschreiben. Ihre eigene Identitätssuche war eher v o n dieser Frage der Wahrnehmung u n d der Gefühle belastet, als durch juristische Kategorien bestimmt. Nimmt man hinzu, daß Wahrnehmung u n d Gefühle durch die jeweiligen historischen Ereignisse - w i e die Staatsgründung, die Erfahrung der Wirtschaftskrise, das Münchner Abkommen, die Protektoratszeit, durch Flucht u n d Vertreibung - noch einmal geprägt worden sind, so w i r d deutlich, daß die Frage nach der Identität der Deutschen auf ein vielfältiges Geflecht v o n Einzelmotiven u n d Einzelantworten stößt, w o b e i festzustellen ist, daß man einmal bestimmte historische Phasen der Identitätssuche aufzeigen kann, andererseits aber fast alle möglichen Antworten nebeneinander findet; einer historischen Stratifikation auf der einen Seite entspricht also eine Gleichzeitigkeit v o n Unzeitgemäßem auf der anderen Seite. Die Diskussion dieser Problematik soll i m folgenden i m Zentrum der Ausführungen stehen.

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Manfred Alexander

Z u m ersten ist es eine Abstraktion, v o n der deutschen Minderheit in der Tschechoslowakei zu sprechen. Die regionalen Unterschiede reichen v o n der kompakten Siedlung deutscher Bevölkerung in Nord- u n d Nordwestböhmen, über Streu- u n d Inselsiedlung einiger Gebiete bis zu jenen Deutschen, die durch Abtrennung v o n ehemaligem Reichsgebiet neu zu den Territorien der Böhmischen Länder u n d der Slowakei gekommen waren (Hultschiner Ländchen). Diese regionale u n d soziale Vielfalt prägte viele Lebensäußerungen, w i e Dialekt, Verhalten zur anderssprachigen Umwelt, politische Einstellung. Während etwa in den kompakten Siedlungsgebieten Nordböhmens (Reichenberg) u n d i m Egerland eine der tschechischen Seite ähnliche Einstellung zum Sprachenkampf u n d zur zugespitzten politischen Kontroverse zu finden war, so fehlte diese in den deutschen Inselsiedlungen der Slowakei, w i e Beobachter wiederholt festgestellt haben, fast vollständig. Und schließlich sind die Hauptstädte Prag u n d Brünn wegen der sozialen Schichtung (Bürgertum, Intelligenz, hoher Anteil der Juden an der deutschen Sprachgruppe) kaum repräsentativ für das politische Verhalten der Mehrheit der Deutschen gewesen. Die prekäre Situation der Deutschen ist i n der dortigen Presse viel offener diskutiert u n d in ihren positiven w i e negativen Aspekten behutsamer artikuliert worden als in den Randgebieten, während in der nationalen Debatte an der deutschen Universität in Prag hingegen extreme u n d antisemitische Stimmen häufig waren. Diese Feststellung führt zu der nächsten Beobachtung, daß die lokale Ebene als Lebens- u n d Erlebnisort die Wahrnehmung der Situation der Deutschen i m tschechoslowakischen Staat viel mehr geprägt hat als die gesamtstaatliche Ebene. So ist die Tatsache, daß mit der Staatsgründung neue politische u n d soziale Rechte erreicht wurden, kaum je gewürdigt worden; der Streit über die Sprache v o n Vereinssatzungen dagegen hat die Gemüter nachhaltig erregt. Polemisch ausgedrückt hat der „tschechische Briefträger in einem deutschen Dorf" die Wahrnehmung der Minderheitensituation deutlicher gekennzeichnet als die urbane Atmosphäre oder der Zwang zum Miteinander in Prag oder Brünn. Der größte Unterschied i m Selbstverständnis u n d in der politischen Artikulation war zwischen den beiden Siedlungsgebieten der Zips u n d in Hultschin zu finden. I n der Zips fehlte eine strikte nationale Abgrenzung: es herrschte eine Tradition ungarländischer Zusammenarbeit zwischen deutschen u n d magyarischen Bauern u n d Städtern, die eine gewisse Abgrenzung gegenüber Slowaken u n d Juden einschloß. Demgegenüber war die Situation in Hultschin v o m Trauma der politischen Unterdrückung geprägt: die Zuordnung zur Tschechoslowakei wurde v o n großen Teilen des deutschen Bürgertums abgelehnt u n d i m alltäglichen Leben demonstrativ in Frage gestellt. Diese unterschiedliche Einstellung u n d Wahrnehmung zwischen den einzelnen Siedlungsgebieten der Deutschen ist in der Zwischenkriegszeit nur in der letzten Phase ansatzweise vereinheitlicht worden; aber auch dann prägte die lokale Ebene die Wahrnehmung mehr als der Gesamtstaat. Dazu tritt die Tatsache, daß die Wahrnehmung der Lage als einer Minderheit eine Mischung v o n aktueller u n d historischer Erfahrung ist, die durch Reflexion eine Verstärkung oder Verminderung gewisser Problemfelder erfährt. Gebrochen w i r d dies durch das Auftreten v o n Interessen in der Politik, in der Wirt-

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schaft u n d in der Kultur. Dies bedeutet, daß eine Person oder eine Gruppe die Probleme unterschiedlich akzentuierte, je nachdem welche der genannten Verhaltensmöglichkeiten überwog. I n der Praxis konnte ein Industrieller die Zusammenarbeit mit den Tschechen i m wirtschaftlichen Bereich loben, die Ingerenz des Staates in die Geschäftsführung beklagen u n d i m privaten Leben nationalistische Einstellungen pflegen. Dies mag eine banale Aussage sein, bedeutet aber, daß i n dem Nebeneinander verschiedener Möglichkeiten die jeweils aktuelle v o n Faktoren abhing, die bei der nachträglichen Betrachtung nicht immer deutlich voneinander zu trennen sind. Dies beruht darauf, daß in der aktuellen Lebenssituation die Wahrnehmung, zu einer „unterdrückten Minderheit" zu gehören, eher eine abstrakte Formulierung denn eine wirkliche Sachaussage war. I n vielen Gebieten des Landes herrschte eher ein Nebeneinander, andererseits haben Verwandtschaftsbeziehungen i m Positiven jene Gräben überbrückt, die in der politischen Sphäre festzustellen sind. Daraus folgt aber für den Historiker, daß eine „objektive" Beurteilung nachträglich k a u m mehr möglich ist. Selbst unbestreitbar positive Züge der tschechoslowakischen Demokratie - immerhin besaßen die Deutschen in der Tschechoslowakei bis zu deren Ende alle politischen Rechte, die in den anderen Ländern Mitteleuropas bereits nicht mehr galten - werden in der sudetendeutschen Literatur nach dem Schema des „ja, aber" u n d i m Stile der gegenseitigen Aufrechnung behandelt: zwar gab es ein deutsches Schulwesen, das dem im Deutschen Reich überlegen war, aber die Bevorzugung tschechischer Schulen in deutschen Gemeinden machte eine positive Würdigung unmöglich. Manchmal wächst bei der Lektüre späterer Darstellungen der Verdacht, daß eine positive Wahrnehmung - bewußt oder unbewußt - abgeblockt wurde. Hier kann eine andere Beobachtung anschließen, daß nämlich das Wechselspiel v o n „challenge and response", also das Zusammenspiel v o n Mehrheit u n d Minderheit i m Staate, das politische Verhältnis charakterisierte u n d dabei die Extreme oft die Oberhand gewannen. Es fällt bei den Darstellungen zur behandelten Problematik auf, daß neutrale Zonen u n d eine tatsächliche Zusammenarbeit i m Alltag kaum überliefert sind, geleugnet oder verzerrt werden. Dies betrifft etwa die Kenntnis der jeweils anderen Sprache oder gar das Auftreten v o n echter Zweisprachigkeit. Was sich für Außenstehende oder spätere Betrachter als fast unübersteigbare Barriere darstellt - hier tschechisch, da deutsch - , war vor dem Hintergrund der böhmischen Tradition eher die Ausnahme, w e n n man in die Heiratsbeziehungen u n d das normale Leben schaut. Es scheint, als habe die Polarisierung w i e eine Zwangsvorstellung alte Gemeinsamkeiten überdeckt oder zurückgedrängt. Wenn die Intellektuellen oder die Professoren der Universitäten in Prag zum Beispiel keinerlei Kontakte miteinander haben durften, w e i l die nationalistische Grundeinstellung dies so erforderte, dann durfte es zum Beispiel eine gegenseitige Hilfe v o n Musikern bei Konzerten oder ein Treffen v o n Journalisten schlicht nicht gegeben haben. Wohlgemerkt, es handelt sich hier nicht darum, hinter der berichteten nationalen Abgrenzung eine Idylle ausfindig zu machen, sondern u m die Frage, ob die Ausgrenzung tatsächlich total u n d umfassend war oder dies nur - aus einer bestimmten Interessenlage heraus - so dargestellt oder verstanden wurde. Ein Aufbrechen dieses Syndroms

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des Verstummens durch Einzeluntersuchungen, die auf die Ebene des Alltags zielt, ist bisher jedenfalls noch nicht vorgenommen worden; u n d jene Kräfte, die - w i e einige jüdische Journalisten zum Beispiel - diese Traditionslinie fortzusetzen bestrebt waren, sind oft der Diffamierung v o n beiden Seiten zum Opfer gefallen. Hierbei spielt offenbar eine entscheidende Rolle, daß der Dialog u n d die Wahrnehmung der tatsächlichen Lage in hohem Maße durch Schlag- oder Reizworte geprägt w o r d e n ist u n d geprägt bleibt. Es ist vielleicht nicht unerheblich, daß in den ersten Wochen der Existenz des neuen Staates jene Reizwörter auftauchten, die die Betrachtung des deutschen Bevölkerungsteiles bis heute bestimmt: RaSins angebliche Äußerung „Mit Rebellen verhandeln w i r nicht", Masararyks Wort v o n den „Immigranten und Kolonisten", das „Selbstbestimmungsrecht" als Forderung an das Weltgewissen u.a. I n diesen Formulierungen ist eine Wahrnehmung festgeschrieben, die in der aufgewühlten Zeit nach dem Weltkrieg ihre Berechtigung haben mochte, aber in der bis heute mit ähnlicher Dramatik ständig vorgebrachten Weise doch nachdenklich machen muß: es scheint sich hier u m einen psychologischen Komplex zu handeln, der eine Entwicklung u n d Differenzierung des Denkens unmöglich machte u n d eine traumatische Situation bezeugt. Für bestimmte Kreise des rechten deutschen Parteienspektrums kann man aber w o h l noch einen Schritt weiter gehen u n d behaupten, daß diese Schlagworte damals u n d heute zur Disziplinierung von Anhängern u n d zur Ausgrenzung v o n Andersdenkenden instrumentalisiert worden sind. Dies läßt sich etwa am Beispiel der Forderung nach dem Selbstbestimmungsrecht aufzeigen: in der unmittelbaren Nachkriegszeit bedeutete dies die Forderung nach Gleichbehandlung mit den Tschechen u n d einen moralischen Appell an die Friedenskonferenz, der durch andersartige Äußerungen nicht beschädigt oder entwertert werden sollte. Konnte man darin i m Jahre 1919 eine gewisse taktische Berechtigung sehen, die allerdings die Zeitumstände u n d die Interessen der Sieger völlig außer acht ließ, so ist das fortgesetzte Argumentieren damit bis heute zu einer unhistorischen Verkürzung des Denkens geworden, das Alternativen nicht wahrnimmt oder leugnet, die Konsequenzen dieser Forderungen ausklammert u n d Andersdenkende stigmatisiert. Die Suche nach einer nationalen Einheit gegen das erlittene oder vermeintlich erlittene Unrecht gewinnt vor diesem Hintergrund den Charakter eines moralischen Auftrags, der außer jedem Zweifel steht. I n der politischen Praxis bedeutete dies aber, daß sich in den ersten Jahren der neuen Republik die Vertreter einer fundamentalistischen Kritik (die „Negativisten") als Gralshüter der deutschen Interessen ausgaben u n d andere (die „Aktivisten") als „Verräter" zu brandmarken versuchten. Die Befreiung der „Aktivisten" v o n dieser Bevormundung war ein mühseliger Prozeß, ehe i m Jahre 1926 - nach der Niederlage der Fundamentalkritiker in der Wahl v o n 1925 eine Regierungsbeteiligung der bürgerlichen deutschen Interessenparteien an der Regierung des Gesamtsstaates möglich wurde. Auch diese Tatsache, daß dann fast bis zum Untergang des Staates durch Gewalt v o n außen die Deutschen an der Regierung beteiligt blieben, hat in der sudetendeutschen Literatur

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bis heute kaum eine positive Würdigung gefunden, stört es doch die beabsichtigte Empörung über die „Vergewaltigung" der deutschen Minderheit. Es sollen i n diesem Zusammenhang gar nicht die mancherlei kleinlichen Schikanen oder Ungerechtigkeiten v o n tschechischer Seite geleugnet oder verniedlicht werden, die i n anderem Zusammenhang wiederholt erwähnt wurden, es bleibt aber festzuhalten, daß die Erfahrung der Vertreibung nachträglich eine pseudohistorische Rechtfertigung für die moralische Empörung über die Anfangszeit geliefert hat. Auch namhafte Historiker haben leichtfertig ein Gleichheitszeichen zwischen 1918 u n d 1945 gezogen u n d dabei die große Zäsur der Protektoratszeit unterbewertet; neuere sudetendeutsche Betrachtungen erwähnen Hitler u n d seine Instrumentalisierung der Sudetendeutschen kaum, u n d es w i r d eher eine metahistorische Gerechtigkeit angeführt, daß die über die Deutschen siegreichen Tschechen dann i m u n d nach dem Prager Putsch v o m Februar 1948 für ihre Handlungsweise „bestraft" worden seien. Ähnliches gilt dann für die Aufspaltung der Tschechoslowakei in eine tschechische u n d eine slowakische Republik i m Jahre 1992. Die Verlagerung der Argumentation auf die moralische Ebene hat im Konflikt zwischen Deutschen u n d Tschechen die Tatsache verstellt, daß es sich dabei u m einen Machtkampf i m Bereich v o n Politik, Wirtschaft u n d Kultur gehandelt hat, der eine Tradition aus dem 19. Jahrhundert unter den Bedingungen veränderter politischer Rahmenbedingungen fortsetzte. Die Ausklammerung aller Hinweise darauf, daß die Vertreter des tschechischen Volksteiles in der Habsburger Monarchie oft u n d vergeblich die Gleichberechtigung ihrer Sprache u n d Kultur eingefordert hatten, ihre Teilerfolge (Teilung der Universität, Wahl eines Gemeinderates mit tschechischer Mehrheit in Prag) mühsam erstreiten mußten u n d angesichts des Vordringens deutschnationalen Gedankengutes während des Weltkrieges einer unsicheren Zukunft entgegengegangen wären, verkürzt die gesamte Argumentation auf unzulässige Weise. Es handelte sich 1918/19 eben u m dieselben Tschechen, die während des Weltkriegs für ihre berechtigten Forderungen verfolgt w o r d e n waren; u n d daß manche tschechische Maßnahme gegen den deutschen Bevölkerungsteil nur die spiegelbildliche Umkehr vorheriger gegen die Tschechen gerichteter Bestimmungen gewesen waren, w i r d schlicht ausgelassen. Die Entstehung des neuen Staates brachte aber eine neue Elite tschechischer Sprache an die Macht u n d bewies der unterlegenen deutschen Elite - u n d dies mag psychologisch entscheidend gewesen sein - , daß sie für den Aufbau eines erfolgreichen Staatswesens nicht gebraucht wurde. Der Kampf u m Einfluß u n d auch u m die Existenz verknüpfte sich mit der Forderung nach der historischen Gerechtigkeit. Nur hatte ein großer Teil der deutschen Intelligenz unter dem Habsburger Regime die Zweisprachigkeit der Böhmischen Länder noch geleugnet, die sie unter den Bedingungen des tschechoslowakischen Staates dann für sich reklamierten. Die Verlagerung des Machtkampfes aus der Ebene der politischen u n d ökonomischen Interessen auf die Ebene moralischer Kategorien v o n Recht u n d Gerechtigkeit hat aber aus einem gewöhnlichen Streit innerhalb einer demokratisch verfaßten Gesellschaft einen metahistorischen Streit gemacht, der dann mit theologischen

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Kriterien bewertet wurde. Für den Betrachter i n heutiger Zeit mag dies weniger eine bewußte Verwechslung der Denkkategorien, denn ein Beleg für die tiefe Verwundung des Selbstverständnisses des deutschen Bevölkerungsteils in Böhmen gewesen sein, der die Stimmführerschaft für alle Deutschen in der Tschechoslowakei für sich beansprucht hatte. Über die tiefgehenden Streitigkeiten beider Bevölkerungsteile ist zudem vergessen worden, w i e ähnlich sie einander i m Denken waren. Tschechisches w i e deutsches politisches Denken war zu Beginn des 19. Jahrhunderts durch die Gedanken Herders geprägt worden, der i m „Volk", d.h. in der Sprachgemeinschaft, das eigentliche Subjekt der Geschichte gefunden zu haben glaubte. Was Herder aber für die zersplitterten deutschen Kleinstaaten i m Kampf gegen die abstrakten Ideen der französischen Revolution mit ihrer Formulierung des staatsbürgerlichen Bekenntnisses formuliert hatte, gewann i n der Folgezeit eine eigene Dynamik. Wenn sich in der Sprache die „Seele" eines Volkes verkörperte (vgl. die Konnotationen v o n „Volkslied", „Volksmärchen" u.a.), dann mußte der Verlust dieser „Seele" nicht nur ein Verbrechen gegenüber dem Volk sein, sondern auch ein Verbrechen an der Menschheit, die sich aus der Vielzahl solcher „Volksseelen" zusammensetzte. Hatte unter den Bedingungen einer zweioder mehrsprachigen Gesellschaft die Sprache ihren Wert aus der Kommunikationsfähigkeit bezogen - vor dem Hintergrund einer europäischen Tradition des Lateinischen als Gelehrtensprache war dies eher das „Normale" - , so gewann Sprache nach Herder einen Wert an sich, wurde zum eigentlichen Identitätssymbol. Der Zweisprachige hatte dann keine eindeutige „Seele", der Wechsel der Sprache bedeutete den Verlust der „Seele". So abstrus dies heute erscheinen mag, so erhellt erst dieser philosophisch-moralische Bezug auf Herder die Dramatik, mit der die tschechische Sprache i m 19. Jahrhundert auf den Stand einer modernen u n d leistungsfähigen Verkehrssprache gehoben wurde, zugleich versteht man die Befürchtungen, die etwa am Beispiel des Irischen, das i n zwei Generationen fast verschwunden war, für die tschechische Sprache geäußert w o r d e n ist. Mit einer gewissen Verspätung scheint dieses Denken die bis dahin i m Sprachenkampf dominierenden Deutschen nach der Gründung des tschechoslowakischen Staates erfaßt zu haben; nur vor diesem Hintergrund scheint eine Äußerung verständlich, die der deutsche Gesandte Koch in Prag in diesem Zusammenhang berichtet. Auf seine einfache u n d überzeugende Formel „tschechisch lernen u n d deutsch bleiben" erhielt er die Antwort: „Wenn w i r erst tschechisch lernen, dann werden w i r auch Tschechen". Ist der Streit u m die Sprache aber erst einmal auf dieser Abstraktionsebene angelangt, dann ist er mit den Kategorien v o n Vernunft u n d Logik kaum mehr zu fassen; der Kampf u m die „Seele" des böhmischen Volkes kann dann letztlich nur mit dem Sieg der einen oder anderen Seite beendet werden. Die deutsche w i e die tschechische Sprache hält aber noch einen anderen Fallstrick bereit, der die Kommunikation erschwerte: i n beiden Sprachen w i r d der Begriff „Volk"/„narod" in gleicher Weise für die Sprachgemeinschaft (ethnos) w i e für die politische Gesellschaft (vgl. den französischen Begriff der „nation" nach Ernest Renan als „un plébiscite de tous les jours") der Staatsbürger verwen-

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det. Diese ambivalente Bedeutung macht es möglich, nicht nur v o n einem „tschechischen Volk" (ëesky narod) als einem Ethnikum, das auch die Mährer u n d die Schlesier umfaßt, zu sprechen, sondern auch v o n einer „tschechoslowakischen Nation" („ieskoslovensky narod"), o b w o h l es zugestandenermaßen ein „tschechoslowakisches Volk" i m ethnischen Sinne nie gegeben hat. Konnte dann nicht auch das „deutsche Volk" in der Tschechoslowakei ein Bestandteil des „tschechoslowakischen Volkes" (bezogen auf die Staatsbürger) sein? Wie angedeutet, war dies eben ausgeschlossen, denn die deutsche Seite verstand darunter schlicht den Zwang zur Tschechisierung, der Aufgabe der eigenen Sprache. Ein weiteres Problem liegt in der Ambivalenz des tschechischen Wortes „Cesky" begründet, bedeutet es doch sowohl die Sprache („tschechisch") w i e die Bezeichnung für das Land („böhmisch"). Für die Tschechen ist „Böhmen" („Cechy") also schlicht mit „tschechisch" gleichzusetzen. Die Deutschen sind dann „tschechische Deutschen", n o c h i n der englischen Variante „Czech Germans", was v o n deutscher Seite natürlich vehement bestritten wurde. I m Deutschen hingegen w u r d e i m Laufe des 19. Jahrhundert die Trennung zwischen „böhmischer Sprache" (gleich „tschechisch") u n d „tschechischer u n d deutscher Sprache" i m Lande Böhmen erst eingeführt, u m den Unterschied zwischen Volk und Land zu bezeichnen u n d zugleich den deutschen Anspruch auf Führung i m Lande (gegen die Gleichsetzung v o n Tschechen u n d dem Lande Böhmen) zu unterstreichen, während die Tschechen i m Gedanken des „Böhmischen Staatsrechts" ( d e m institutionellen Zusammenhalt der B ö h m i s c h e n Kronländer) ihren historischen Anspruch auf die Führung einforderten. Vor d e m Hintergrund dieser linguistischen Probleme erst w i r d verständlich, daß Masaryks Wort v o n den Deutschen als den „Immigranten u n d Kolonisten" mehr ansprach als das Erstgeburtsrecht der Ansiedlung, über das unter nationalen Historikern i n anderem Zusammenhang heftig gestritten worden ist. Ist der Begriff „national" aber erst einmal zu einem Wert an sich geworden, dann w i r d jedes Problem unter diesem Vorzeichen gesehen u n d damit Gegenstand eines erbitterten Sprachenkampfes, in dem ein Kompromiß ausgeschlossen erscheint. Aus den Ausführungen sollte deutlich geworden sein, daß die nationale Auseinandersetzung in der Tschechoslowakei nicht einfach ein „normaler Streit" in einer pluralistischen Demokratie gewesen ist, sondern - in den führenden Vertretern zumindest - die Dimension einer klassischen Tragödie erreichte. Beide Seiten hatten Recht, besser gesagt, konnten für ihre Auffassung gute Gründe anführen: die Deutschen verlangten die Anerkennung als zweites Staatsvolk, das sie vor der „Zumutung" befreit hätte, die tschechische Sprache erlernen zu müssen (oder die Tatsache anzuerkennen, daß weite Teile der Deutschen bereits ausreichende Kenntnis dieser Sprache besaßen oder i m Laufe der Zeit erwarben), die Tschechen erwarteten die Gleichberechtigung ihrer Sprache, u m die sie in der Habsburger Zeit erbittert gestritten hatten. Die Ungleichgewichtigkeit beider Sprachen - die Deutschen stellten in Böhmen etwa ein Drittel der Bevölkerung u n d waren dort die Minderheit, die Tschechen hingegen als Mehrheit i n Böhmen waren fast vollständig v o n Sprechern der deutschen Sprache umgeben erschwerte zusätzlich die Verständigung.

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Die tschechischen Politiker, die den Staat u n d seine Institutionen einrichteten, waren durch die vorangehende Epoche des nationalen Kampfes geprägt, u n d bei allem guten Willen, einen modernen Staat nach dem Vorbild der französischen Nation einzurichten, verstanden viele v o n ihnen die Institutionen der Verfassung als Instrumente für die Fortsetzung und Vollendung dieses nationalen Kampfes. Bei aller Würdigung der demokratischen Strukturen des Staates war doch nie auszuschließen, daß sie i m Sinne der tschechischen Mehrheit auch eine undemokratische Komponente enthielten oder - besser gesagt - in diesem Sinne instrumentalisiert werden konnten. Das klassische Beispiel hierfür ist die Bodenreform, deren erklärtes Ziel war, nicht nur die Ungleichheit in den Besitzverhältnissen zwischen dem Adel u n d den Bauern auszugleichen (als dem einzigen Land in Ostmittel- u n d Osteuropa ist dieses Problem in der Tschechoslowakei erfolgreich angegangen worden), sondern auch erklärtermaßen die „historische Ungerechtigkeit" nach der Schlacht am Weißen Berge 1620 umzukehren, als nach der Niederlage der Stände (der tschechischen u n d der deutschen!) der konfiszierte Boden an fremdländischen österreichischen Reichsadel verteilt worden war. O b eine solche Instrumentalisierung tatsächlich durchgeführt worden ist oder nur als Verdacht über allem hing, ist im Einzelfall zu untersuchen; die Ablehnung, die österreichische Kriegsanleihe als Staatsschuld anzuerkennen, traf eindeutig die deutsche Seite. Bei der Verteilung des Bodens ist eine Bevorzugung der Tschechen zu belegen; die Verstaatlichung der Bäder, des Ständetheaters in Prag u n d andere Maßnahmen waren nationalpolitisch begründet, w i e die gesetzlichen Bestimmungen, die Wirtschaft auf Prag hin zu orientieren u n d das tschechische Bankwesen zu fördern. Andere Fragen sind schwerer zu entscheiden, w i e etwa die Problematik der Wirtschaftskrise u n d der Bevorzugung der tschechischen Schwerindustrie durch staatliche Finanzhilfe. Bei der Betrachtung der entsprechenden Vorwürfe einer nationalpolitischen Manipulation w i r d man indes den Verdacht nicht los, daß es manchen Autoren gar nicht u m einen wissenschaftlich einwandfreien Beweis für die eine oder andere Entscheidung gegangen ist, sondern u m eine pauschale Anklage u n d eine Stimmungsmache: wer so viele Belege für eine Benachteiligung der Deutschen beibringen kann, muß nicht auch noch jeden Einzelfall ausführlich begründen. So reicht schon der Verdacht allein, u m die Tschechoslowakische Republik als einen undemokratischen Staat darzustellen, dessen politisches System zu diffamieren u n d generell v o n einer Vergewaltigung der Deutschen zu sprechen. Daß die Deutschen mit dem Münchner A b k o m m e n endlich ihren nationalpolitischen Wunsch einer „Heimkehr ins Reich" erfüllt erhielten, wiegt dann viel schwerer als die Tatsache, daß sie damit zugleich ihre demokratischen Rechte u n d ihren Wohlstand verloren. U n d vielleicht steckt manchmal doch ein klein w e n i g v o n dieser Erkenntnis in der Tatsache, daß es so wenig Lob für die demokratischen Strukturen des Staates gab. Wo alles schlecht war, braucht man nichts zu bedauern; w e n n man aber zu dem Schlechten selbst mit beigetragen hat, müßte man sich auch selbst besinnen oder kritisch prüfen.

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Objektiv gesehen - u n d das w i r d auch allgemein zugegeben - besaßen die Deutschen i m Lande w i e die Staatsbürger anderer Sprachen alle politischen Rechte u n d die Möglichkeiten der politischen, ökonomischen u n d kulturellen Betätigung. Die Verfassung machte in dieser Frage keine Aussage zur gesellschaftlichen Differenzierung der Staatsbürger. Gerade dies wurde den Verfassungsvätern aber immer wieder vorgehalten: es reiche nicht, die Rechte eines Staatsbürgers zu besitzen, sondern man müsse auch Gruppenrechte erhalten. Es ist niemals genau geklärt worden, was diese Gruppenrechte eigentlich sein sollten: eine Art v o n Personenverbandsstaat innerhalb des Staatsterritoriums z.B. oder eine territoriale Autonomie - das könnte in dem oft beschworenen Begriff der „Schweiz" mit einer Gliederung nach nationalen „Kantonen" gemeint sein oder i n Form v o n einer personalen Autonomie, über die Karl Renner noch in österreichischer Zeit nachgedacht hat. Dies hätte in der Praxis die Gleichberechtigung der Sprachen bedeutet, anders gesagt, es hätte die zwei- oder mehrsprachige Organisation des Staates auf allen Ebenen vorausgesetzt. Eine deutsche Eingabe an die Behörden hätte dann also überall in deutscher Sprache beantwortet werden müssen, was die Verhältnisse in österreichischer Zeit fortgesetzt u n d das Erlernen der tschechischen Sprache durch die Vertreter anderer Sprachen unnötig gemacht hätte. Aber genau dies scheint der Grund für die ständige Wiederholung des Arguments gewesen zu sein: die Abwehr des Tschechischen steht m.E. hinter all diesen oft gewundenen juristischen Formulierungen, die über die Individualrechte hinaus Gruppenrechte einforderten. Kochs Wort: „tschechisch lernen u n d deutsch bleiben" traf den Kern der Auseinandersetzungen. Wenn den tschechischen Verfassungsgebern ein Vorwurf mangelnder Berücksichtigung der gesellschaftlichen Verhältnisse gemacht werden kann, dann betraf dies den staatlichen Zentralismus. Dieser berührte gleichweise die Deutschen w i e die Slowaken, u n d es ist letztlich dieser Zentralismus, bzw. die mangelnde Bereitschaft, eine echte Föderalisierung des Landes vorzunehmen, die i m Jahre 1937 den Vorwand für die zugespitzte Polemik der Deutschen, i m Jahre 1939 den inneren Anlaß für die Ausrufung des selbständigen Staates der Slowakei lieferte u n d schließlich i m Jahre 1992 den Zerfall des Staates bewirkt hat. Vergessen w i r d dabei oft die Karpatenukraine, der in der ganzen Zwischenkriegszeit eher der Status einer v o n Prag geleiteten Kolonie denn eines Landesteiles mit autonomer Struktur eigen war. Das Gegenargument, daß die Böhmischen Länder bereits eine Binnengliederung besaßen u n d eine Einteilung in sprachlich definierte „Gaue" unhistorisch gewesen wäre, trifft nicht, da die alten Ländergrenzen noch dynastische Grenzen waren, die gegenüber den Erfordernissen der modernen Gesellschaft überholt waren. Unausgesprochen bleibt auf tschechischer Seite oft der Anspruch, daß man den Erfolg der tschechischen Nationalbewegung durch den tschechischen Stempel auf das ganze Land besiegeln wollte; der slowakische Juniorpartner wurde gewissermaßen in das tschechische Element inkorporiert u n d der Begriff „tschechoslowakisch" zu einem Ersatzbegriff für ein „großtschechisch".

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Erinnert werden soll in diesem Zusammenhang auch an die oft kleinliche Handhabung v o n Verwaltungsvorschriften durch tschechische Beamte, was zu einer ständigen Reizung der anderen Seite führte. Die Festlegung des Sprachgebrauchs i n den Gerichtsbezirken z.B., die für Gebiete mit 20 u n d mehr Prozent v o n anderssprachiger Bevölkerung die Benutzung v o n deren Sprache vor Gericht vorsah, folgte einer Regelung aus österreichischer Zeit. Gerüchte oder tatsächliche Versuche, diese Gerichtsbezirke nachträglich zu verändern, u m i n möglichst vielen die Zahl der Nichttschechen unter diese Marke v o n 20% zu drücken, schufen eine ständige Irritation; dies erinnert an die Eingemeindungen nach der Staatsgründung, als z.B. aus der deutschen Kernstadt Brünn durch die administrative Neuordnung eine mehrheitlich tschechische Großstadt wurde. Solche Umgestaltungsaktionen mochten rational begründbar u n d verwaltungstechnisch sinnvoll sein, enthielten aber jeweils auch eine nationalpolitische Komponente. Eben diese wurde v o n der deutschen Seite als vorrangig gesehen u n d bekämpft, während auf tschechischer Seite diese Argumentation als Übertreibung oder Überempfindlichkeit abgewiesen wurde. Wieder ist festzuhalten, daß auf beiden Seiten mangelnde Aufrichtigkeit u n d fehlendes Vertrauen das Verhältnis zueinander belasteten. Die Phasen der Identitätssuche der Deutschen in der Tschechoslowakei, u n d darüber hinaus jene der Sudetendeutschen außerhalb deren Grenzen, hingen u n d hängen v o n politischen Umständen ab, die diesen Prozeß beeinflußten oder eine Reaktion darauf darstellten. Bei der Betrachtung der einzelnen Phasen kann man jeweils ein Überwiegen einer bestimmten Haltung feststellen, ohne daß diese die jeweils ausschließliche gewesen wäre; vielmehr muß betont werden, daß nebeneinander u n d einander oft beeinflussend mehrere Einstellungen möglich waren, daß also „Zeitgemäßes u n d Unzeitgemäßes" nebeneinander feststellbar sind. Die erste Phase des Selbstfindungsprozesses der Deutschen in der neu gegründeten Tschechoslowakei war durch eine Lähmung gekennzeichnet. Mit der Ausrufung eines tschechoslowakischen Staates u n d der militärischen Inbesitznahme des ganzen Gebietes durch tschechische Truppen war das alte Verhältnis v o n Herrschenden u n d Beherrschten i m Lande plötzlich umgekehrt worden. Nicht nur alte deutsche Städte w u r d e n besetzt, sondern durch Eingemeindungen v o n umliegenden tschechischen Dörfern verloren deutsche Städte ihren rein deutschen Charakter oder wurden mehrheitlich tschechisch (Brünn/Brno). Das Gefühl, daß die Heimat fremd geworden sei, wurde durch die politische Zurücksetzung verstärkt, denn die Deutschen waren weder an der Staatsgründung noch an der Grundlegung der Verfassungsgesetze beteiligt. Nicht allein die Tatsache schmerzte, daß die Tschechen auf die Deutschen verzichten zu können glaubten, sondern noch mehr, daß sie damit auch schlicht Erfolg hatten. Waren die traditionellen Fäden nach Wien aber einmal durchtrennt, dann verband die Bewohner v o n Reichenberg und Eger, Iglau u n d Znaim untereinander k a u m mehr, als das Leiden an der neuen Situation, sich i m neuen Staate als Bürger zweiter Klasse zu fühlen.

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Der Phase der Lähmung ging parallel u n d folgte dann die Phase der Auflehnung, die zunächst in der Ausrufung der Länder „Deutschböhmen", „Sudetenland", „Deutsch-Südmähren" u n d „Böhmerwaldgau" als Provinzen der Republik Deutschösterreich i n Wien bestand, wofür dann auf der internationalen Ebene unter dem Stichwort des „Selbstbestimmungsrechtes" eine Anerkennung gesucht wurde. Wie ein Blick auf die Landkarte zeigt, hätte eine solche territoriale Lösung nur Sinn gemacht, w e n n die so geplanten Provinzen Österreichs dem geschlagenen Deutschland angegliedert worden wären; innenpolitisch kulminierte die Auflehnung gegen die Einbeziehung in den tschechoslowakischen Staat mit dem Aufruf zu öffentlichen Demonstrationen gegen das Verbot, an den österreichischen Wahlen teilnehmen zu können. Die wegen einer Überreaktion des tschechischen Militärs in Kaaden zu beklagenden Todesopfer (4. März 1919) w u r d e n zu Märtyrern des deutschböhmischen Selbstbestimmungsrechtes hochstilisiert u n d müssen diese Rolle bis heute spielen. Die dritte Phase folgte i n fließendem Übergang in den Maximalismus der negativ gegen den Staat eingestellten Politiker der Deutschböhmen. Aus der Tatsache, daß die Tschechen u n d Slowaken ohne Beteiligung der Deutschen u n d der anderen Nationalitäten i m Lande die „Revolutionäre Nationalversammlung" gebildet u n d dort die Verfassung geschaffen hatten, folgerten die Maximalisten, daß dieser Geburtsfehler des Staates zunächst grundsätzlich behoben werden müsse, ehe man v o n einer politischen Zusammenarbeit v o n Deutschen u n d Tschechen i m neuen Staaten reden könne. So logisch u n d grundsätzlich diese Position auch war, so hatte sie doch zwei Nachteile: einmal mußten sich auch die Negativisten trotz prinzipieller Ablehnung des Staates an den Wahlen beteiligen, u m überhaupt für ihre politische Richtung ein Mandat zu erhalten (damit akzeptierten sie aber die v o n den Tschechen geschaffenen Grundtatsachen), zum anderen zählt in einer Demokratie n u n einmal die Mehrheit i n den gesetzgebenden Institutionen. Solange also die Tschechen u n d Slowaken bei allen politischen Kontroversen untereinander - i n der Ablehnung der Forderungen der deutschen Maximalisten einig waren, so lange bestand keine Chance zu einer Veränderung der Verhältnisse auf demokratischem Wege. N u n hat es neben den Maximalisten, die in der öffentlichen Diskussion zunächst den Ton angaben u n d andere Meinungen als politischen Verrat diffamierten, schon zu Anfang u n d auch in späterer Zeit Personen gegeben, die eine Zusammenarbeit mit den Tschechen auch unter den Bedingungen des neuen Staates bejahten. Zählen dazu 1918 zunächst nur Vertreter der Wirtschaftskreise, so standen die deutschen Sozialdemokraten in einer vorsichtigen Oppositionshaltung gegenüber den Maximalisten, u n d seit 1924 befanden sich auch die deutschen Christlich-sozialen u n d der Bund der Landwirte auf dem Wege i n eine aktivistische Politik. Ihre Vorstellung war, daß erst über eine politische Mitbestimmung der Deutschen an der Gesetzgebung u n d an der Verwaltung eine allmähliche Änderung der psychologischen Situation und, darauf fußend, der politischen Bedeutung des deutschen Anteils an der Bevölkerung des Staates folgen müsse. Gegen eine nationalistische Presse auf Seiten der Tschechen u n d der Deutschen hatte die Politik der Interessenparteien lange Zeit w e n i g

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Chancen gehabt. Erst als mit dem Locarno-Vertrag 1925 die Hoffnung auf eine v o n außen kommende Lösung erloschen war, als die tschechischen u n d slowakischen Parteien untereinander infolge ideologischer Fehden oder v o n Interessengegensätzen gespalten u n d die deutschen Nationalisten durch eine Wahlniederlage i m Herbst 1925 geschwächt waren, ergab sich die parlamentarische Notwendigkeit u n d die Bereitschaft, die Deutschen an der Regierung zu beteiligen (Herbst 1926, Kabinett Svehla). Der Eintritt der aktivistischen deutschen Parteien in die Regierung des Staates beschloß die Kampfphase der Entstehung der Tschechoslowakei; hinfort sollten - fast bis zur Zerstörung des Staates v o n außen - deutsche Minister in der Regierung der Tschechoslowakei vertreten sein. Die nächste Phase wurde durch den Einbruch der Weltwirtschaftskrise in die Tschechoslowakei (ab 1932) u n d fast parallel dazu i m Beispiel des Nationalsozialismus in Deutschland erreicht; sie läßt sich mit den Begriffen „Sammlungsbewegung" u n d „Auslandsdeutschtum" charakterisieren. Während der ganzen Zeit der Existenz der Tschechoslowakei hat es Stimmen gegeben, die einen politischen Zusammenschluß aller Deutschen in einer Partei oder i n einer überparteilichen Organisation („Deutscher Parlamentarischer Verband") gefordert hatten, u m dann massiv die deutschen Forderungen vorbringen zu können. D e n Vertretern der Interessenparteien ist immer wieder vorgeworfen worden, daß sie durch ein angeblich national unwürdiges Verhalten die Durchsetzung der Maximalforderungen verhindert hätten, u n d übersehen wurde bei dieser Argumentation, daß allein die Vielfalt v o n Interessen über die Sprachgrenzen hinweg zu Koalitionen führen konnte. I m Gefolge der Weltwirtschaftskrise gew a n n die Forderung einer nationalen Sammlung wieder an Gewicht u n d in Konrad Henlein die Führungsfigur. Eine solche Sammlung mußte nicht unbedingt zur Entstehung einer Irredenta führen u n d hätte bei einer „normalen" Entwicklung auch die Einbindung in das demokratische System nicht ausgeschlossen, aber diese Bewegung kreuzte sich mit einer anderen auf der internationalen Ebene. Die Bezeichnung „Sudetendeutsche" war zwar älter u n d hatte bereits seit 1924 in der Öffentlichkeit an Boden gewonnen u n d das ältere „Deutschböhmen" verdrängt, ihre eigentliche Bedeutung erhielt sie aber erst durch das Verständnis der Sudetendeutschen als „Auslandsdeutsche". Ausgehend v o n der Forderung, daß möglichst alle Deutschen in einem Staate leben sollten, war die Idee eines großdeutschen Staates bereits lange vor Hitler entstanden; dies war - ohne daß dies klar ausgesprochen wurde - auch i m Jahre 1918 die Hoffnung der deutschböhmischen Separatisten gewesen. In unterschiedlichem Maße sind die „deutschen Volksgruppen" während der Weimarer Republik Gegenstand v o n offizieller oder inoffizieller „Volkstumsarbeit" gewesen, u n d auch umgekehrt haben Vertreter der Deutschen aus der Tschechoslowakei i n Berlin Rat u n d Hilfe gesucht. Solange dies unter dem Stichwort der „Deutschtümelei" nur ein Anhängsel der reichsdeutschen Außenpolitik gewesen war, blieb eine solche A k t i o n nur ein Ärgernis für den jeweiligen Nationalstaat mit deutschsprachiger Bevölkerung. Als aber das „Dritte Reich" an politischer Macht gewann u n d den Ein-

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satz v o n Propaganda u n d v o n Machtmitteln nicht scheute, u m den Auslandsdeutschen dort, w o es genehm schien, politisch zu „helfen", da mußten diese Deutschen als „fünfte Kolonne" zu einer Gefahr für die innenpolitische Stabilität der Nationalstaaten werden. Verstand sich eine deutsche Sprachgruppe aber erst einmal als „Auslandsdeutsche", dann mußte die Forderung „Heim ins Reich" die letzte Konsequenz dieses Gedankens sein. Aber die Erfüllung dieser Hoffnung w a r unter den Bedingungen einer jahrhundertealten Mischsiedlung i m östlichen Teil Europas an vielen Stellen schlicht unmöglich, w e n n man nicht an massenhafte Umsiedlungsaktionen dachte; auf jeden Fall war dieser Gedanke unhistorisch, w e i l dadurch die lokalen Traditionen negiert wurden. Die brutale Durchsetzung des deutschen Anspruchs - ob v o n den Auslandsdeutschen befürwortet oder nicht mußte zur Zerstörung der jungen Staaten u n d der alten Gesellschaftsstrukturen führen. Es verdient festgehalten zu werden, daß jene Mehrheit der Sudetendeutschen, die die Losung „Heim ins Reich" bejubelten, u n d erst recht jene Minderheit, die dagegen opponierte u n d nur geringe Konzessionen an den Zeitgeist zu machen bereit war, letztlich in ihren eigenen Wünschen betrogen w o r d e n sind. Beide Gruppen mußten nach dem Münchener A b k o m m e n v o m 28. September 1938 die Einverleibung i n das „Dritte Reich" mit dem Verlust der Rechtssicherheit, der politischen Selbstbestimmung u n d des Wohlstandes bezahlen. Viele verstanden lange nicht, daß ihre Vorstellungen v o m „Führer" selbst bereits verraten w o r d e n waren, der an einer besonderen „Lösung der sudetendeutschen Frage" i m Sinne der Tradition des Bohemismus überhaupt nicht interessiert war. So w u r d e das „Protektorat Böhmen u n d Mähren" zu einer Halbkolonie des Reiches, in dem die einheimische Bevölkerung kaum über die mittlere Verwaltungsebene aufsteigen konnte, aber in den Augen der tschechischen Mehrheit w u r d e n alle Deutschen mit den Verbrechen der großdeutschen Rassenpolitik identifiziert. Obgleich die Sudetendeutschen selbst zu Opfern geworden waren, blieben sie mit dem O d i u m der deutschen Gewaltherrschaft belastet u n d bezahlten dafür am Ende des Krieges mit Flucht oder der Vertreibung. Erst die Vertreibung als gemeinsam erlittenes Unrecht hat das Gefühl der Gemeinsamkeit der Deutschen der Böhmischen Länder begründet, die sich i m Exil n u n gleichermaßen - ob Anhänger oder Gegner Henleins u n d Hitlers - als „Sudetendeutsche" erkannten u n d sich auch so bezeichneten. Die letzte Phase der Identitätsfindung war also - als Ironie der Geschichte - mit der Auflösung eben dieser Identität verbunden, denn als Sudetendeutsche in der Emigration in der neu entstehenden Bundesrepublik Deutschland oder i n Österreich ( i n der DDR war eine politische Organisation nicht möglich) waren sie zu einer Gruppe geworden, die sich ökonomisch u n d sozial an die neue Umgebung anpaßte, w e n n auch einige aus Nostalgie oder aus politischem Kalkül an einer sudetendeutschen Identität festhielten u n d festhalten. Überblickt man den Gesamtkomplex des tschechisch- sudetendeutschen Verhältnisses i n den letzten hundert Jahren, so scheint es sich dabei u m den Zusam9 Corsini / Zaffi

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menprall eines vormodernen politischen Verhaltens der großen Masse mit dem nationalen Denken u n d dem Machtkampf einer Minderheit der Bevölkerung zu handeln. Die Kriterien einer nationalen Denkweise wurden v o n einer aufstiegsorientierten tschechischen jungen Elite gegen die traditionelle böhmische Gesellschaft benutzt, u n d der daraus resultierende Machtkampf führte leider - nach dem Eingreifen auswärtiger Mächte - zunächst zur Unterdrückung der Mehrheit u n d endete dann mit der Vertreibung der Minderheit. Diese radikalen Lösungen verdecken aber wiederum, daß sich im Laufe der Existenz der Ersten Tschechoslowakischen Republik auch die Belege für eine wachsende Toleranz in der Gesellschaft mehrten, die Sprachkenntnisse zunahmen u n d die Menschen sich an die neuen Mehrheitsverhältnisse gewöhnten. Die Zeit einer „normalen" Entwicklung war indes zu kurz, denn in den Zeiten der Not nach der Weltwirtschaftskrise gewannen die Scharfmacher auf beiden Seiten wieder die Oberhand. Es gehört zu den manchmal bedrückenden Erkenntnissen des Historikers, daß die Probleme der Gesellschaften nicht vergehen, sondern nach Zeiten der scheinbaren Lösung in veränderter Form wieder an die Oberfläche zurückkehren. Die Tschechen haben sich nach dem Zweiten Weltkrieg nacheinander v o n den Deutschen, dem kommunistischen Regime u n d v o n den Slowaken „befreit", u m n u n zu entdecken, daß in einer Welt zunehmender Verflechtung keine nationale Inselexistenz möglich ist, daß die Notwendigkeit einer internationalen Aufbauhilfe u n d Kooperation das Gewicht des deutschen Nachbarn wieder gestärkt hat. Manche Stimmen auf tschechischer w i e auf sudetendeutscher Seite in den vergangenen vier Jahren seit der „samtenen Revolution" erinnern zwar an schrille Töne des alten Streites, aber das Umfeld hat sich radikal geändert. A n die Stelle der alten bilateralen Rivalität ist die Einbettung in größere Zusammenhänge getreten, i n denen größere u n d kleinere Staaten ihren Platz haben. Dies mag bedeuten, daß auch die Suche nach einer nationalen Identität der Tschechen, die in den vorstehenden Überlegungen mitgedacht wurde, i n eine neue Phase tritt, in der die Anerkennung der zweisprachigen Vergangenheit der Böhmischen Länder ihren Platz besitzt, die Zeit der ethnisch einheitlichen Bevölkerung vielleicht nur eine Durchgangsphase war u n d die Kooperation über Sprachgrenzen hinweg zu einer neuen Normalität wird, die an die Tradition Mitteleuropas anknüpft.

literaturhinweise Da der Text die Form eines Essays hat, wurde auf Anmerkungen verzichtet. Die Überlegungen sind aus der Arbeit an der Aktenedition entstanden: Deutsche Gesandtschaftsberichte aus Prag. Innenpolitik und Minderheitenprobleme in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, Teil I: Von der Staatsgründung bis zum ersten Kabinett BeneS 1918-1918, ausgewählt, eingeleitet und kommentiert von M. Alexander; (Veröffentlichungen des Collegium Carolinum, 49/1), München / Wien 1983; Teil II: Vom Kabinett BeneS bis zur ersten übernationalen Regierung unter Svehla, 1922-1926, München / Wien im Druck; Teil III: (1926-1933) ist in Arbeit.

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Vorüberlegungen und Literaturhinweise finden sich in anderen Veröffentlichungen des Verfassers, z.B.: -

Leistungen, Belastungen und Gefährdungen der Demokratie in der Ersten Tschechoslowakischen Republik, in: Bohemia, 27 (1986), S. 72-87.

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Phasen der Identitätsfindung der Deutschen in der Tschechoslowakei, 1918-1945, in: H. Klueting (Hrsg.), Nation - Nationalismus - Postnation. Beiträge zur Identitätsfindung der Deutschen im 19. und 20. Jahrhundert. Festgabe für Leo Haupt, Köln / Weimar / Wien 1992, S. 123-132.

-

Schwierige Vergangenheiten. Die tschechische Diskussion über die Vertreibung der Deutschen aus der Tschechoslowakei und deren Folgen, in: Bohemia, 28 (1994).

Vgl. zum 19. Jahrhundert mit ähnlichen Überlegungen und der maßgebenden Literatur: Kofalka, J.: Tschechen im Habsburger Reich und in Europa 1815-1919: sozialgeschichtliche Zusammenhänge der neuzeitlichen Nationsbildung und der Nationalitätenfrage in den böhmischen Ländern (Schriftenreihe des österreichischen Ost- und Südosteuropa-Instituts, Band 18), München 1991. -

CeSi a Nëmci ν novodobé stfedni Evropë: rozdilné dimenze jejich vztahu [Tschechen und Deutsche im modernen Mitteleuropa: verschiedene Dimensionen ihrer Beziehungen], in: Slovogermanica II. Cechy a Sasko ν promënâch dëjin [Sachsen und Böhmen im Wandel der Geschichtel, LJsti nad Labem 1993, S. 23-48. Vgl. zum 20. Jahrhundert:

Leoncini , F.: Die Sudetenfrage in der europäischen Politik. Von den Anfängen bis 1938, Essen 1988.

Nation u n d Minderheit i m D e n k e n v o n T.G. Masaryk Von Francesco Leoncini

„Die Nation, diese eigentümliche Gestalt, kehrt zurück. Wer hätte dies geglaubt nach einem fast fünfzigjährigen Niedergang, der von der Gegenwart der gaullistischen Begeisterung nur gering berührt worden war? ... Die Nation war zu einem alten mythologischen Anhang geworden". So beginnt eine jüngst erschienene Studie v o n Alain Mine, einem hervorragenden französischen Politologen, über „La vengéance des nations" 1 . Zweifellos haben das Ende des Warschauer Paktes, die deutsche Vereinigung u n d das Auseinanderfallen der Sowjetunion selbst nicht nur die Idee der Nation neu belebt, sondern insgesamt eine Lage geschaffen, die jener gleicht, die auf die Auflösung der Habsburgermonarchie folgte. Ein für das europäische Gleichgewicht entscheidender Bündnisblock zerbrach, u n d mit i h m ging ein großes multinationales Reich zugrunde. I m einen w i e i m anderen Fall taten sich die westlichen Großmächte schwer anzuerkennen, daß mit dem politisch-militärischen Bündnis (Mittelmächte bzw. Warschauer Pakt) auch eine ganze Staatsformation zusammenbrach (Österreich-Ungarn bzw. Sowjetunion) v o n der man glaubte, sie könne weiterhin als Aggregationsfaktor unterschiedlicher ethnischer, sozialer u n d religiöser Gemeinschaften wirken u n d deshalb auch i m internationalen Zusammenhang eine klar bestimmte Rolle spielen. Vier Jahre dauerte es, bevor die Ententemächte einsahen, daß die Habsburgermonarchie nicht mehr weiterbestehen konnte; noch weniger hingegen zog die Sowjetunion unter Gorbatschow das westliche Interesse auf sich 2 . Zweifellos stellte sich hier das Problem der Selbstbestimmung der Völker und, damit zusammenhängend, die Frage der nationalen Minderheiten, wieder i n ihrer ganzen Bedeutung. Die Gedanken eines TomâS Garrigue Masaryk, der die europäische Nachkriegsordnung entscheidend mitgestaltete, dürften deshalb äußerst nützlich sein. Außerdem besitzen sie auch einen unbestreitbaren kulturellen Wert. Bereits einleitend sei das negative Bild, das man sich noch heute v o n den Beschlüssen der Pariser Friedenskonferenz macht, zurückgewiesen: nicht sie

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Paris 1991.

Auch deshalb, weil man nicht die Tragweite der Krise erkannte, die das Land erfaßt hatte. Dies ergibt sich aus den Protokollen des Londoner Weltwirtschaftsgipfels in London vom Juli 1991, wo Gorbatschow auf internationaler Bühne zum letzten Mal als Präsident der Sowjetunion auftrat; vgl. La Stampa, 13. Juni 1993, S. 10.

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haben den Zweiten Weltkrieg verursacht, sondern die Westmächte mit ihrer nachgiebigen, i n München ihren höchsten Ausdruck findenden Haltung gegenüber Hitler. Von wegen die vermeintlichen Fehlentscheidungen v o n Versailles! Die Gründung der Tschechoslowakei u n d der übrigen neuen Staaten Ostmitteleuropas w i e Polen oder Jugoslawien beruhten nicht auf künstlichen Beschlüssen, die am grünen Tisch der so verrufenen Friedenskonferenz gefaßt wurden, sondern war notwendige Folge eines genau bestimmbaren historischen Prozesses. Damals befanden sich vor allem die slawischen Völker der Donaumonarchie i n einer Aufstiegsphase. Ihnen brachte der Krieg die Anerkennung der nationalen Individualität, sie standen vor der Vollendung ihrer nationalen Wiedergeburt, während das deutsche Volk, das Einheit u n d Unabhängigkeit bereits i m letzten Jahrhundert erlangt hatte, der imperialistischen Wende zum Opfer gefallen war 3 , die in der Folge seine Politik gekennzeichnet hatte. Während das Selbstbestimmungsrecht sich 1919 aber w i e i m Falle der Südslaw e n bzw. der Tschechen und Slowaken auf den Zusammenschluß mehrerer kleiner Nationen in einen Staat entsprechend ihrer eigenen Bestrebungen bezog, gilt es nach der Erfahrung des Kommunismus u n d nach dem gescheiterten Versuch der Entwicklung harmonischer Verhältnisse i m Rahmen jener Staaten für jede einzelne Volksgruppe, d.h. für die Slowenen, Kroaten, Slowaken sowie selbstverständlich für die verschiedenen Völker der ehemaligen Sowjetunion. Die Frage ist, w i e das erneuerte nationale Selbstbewußtsein sowohl nach innen, d.h. gegenüber denjenigen, die nicht derselben Volksgruppe angehören, als auch i m internationalen Zusammenhang ausgestaltet werden soll. Hilfreich ist dabei zweifellos Masaryks Schrift „Das neue Europa. Der slawische Standpunkt", w o er sein politisches Programm am klarsten formuliert hat. Die erste Fassung des Buches schrieb Masaryk 1917 in Rußland. Seine ursprüngliche Absicht bestand zunächst darin, den tschechischen u n d slowakischen Soldaten, die an der russischen Front eingesetzt worden waren, dann aber desertiert u n d gegen die Mittelmächte gekämpft hatten, die grundlegenden Probleme des Krieges zu erklären (diese Soldaten stellten später den ersten Kern der westlichen antibolschewistischen Kräfte dar). Endgültig fertiggestellt wurde das Manuskript im Oktober 1918 in den USA, u n d noch i m selben Jahr erschien es auf französisch u n d auf englisch in Paris u n d Washington; 1920 kam es in Prag heraus 4 . Masaryk knüpfte hier an Überlegungen an, die er bereits 1905 in dem Aufsatz „Problém malého nâroda" [Das Problem des kleinen Volkes] u n d in dem Vortrag „Das Problem der kleinen Völker in der europäischen Krisis", gehalten i m Oktober 1915 am King's College der Universität London, angesprochen hatte. Dieselben Themen griff er dann in dem Band „Svetova revoluce. Za vâlky a ve So der Grundgedanke meiner Studie: La questione dei Sudeti 1918-1938, 2. Aufl., Padua 1979; deutsch: Die Sudetenfrage in der europäischen Politik. Von den Anfängen bis 1938, Essen 1988. 4

Im folgenden wird nach der deutschen Übersetzung, Das Neue Europa, Berlin 1991, zitiert.

Nation und Minderheit im Denken von T.G. Masaryk

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vâlce 1914-1918 zpominâ a uvaZuje T.G. Masaryk" [Die Weltrevolution 19141918. Während des Krieges und i m Krieg] wieder auf; obgleich 1925 erschienen, läßt es sich in sachlicher Hinsicht auch als Einleitung zum „Neuen Europa" lesen, eben i n der Folge „Weltrevolution" u n d „Neues Europa". D e n verschiedenen, immer stärker rassistisch u n d imperialistisch bestimmten Mitteleuropaideen jener Zeit hatte Masaryk seit dem Herbst 1916 in der Zeitschrift „The New Europe", die er zusammen mit seinen englischen Freunden Henry Wickham Steed u n d Robert William Seton-Watson in London gegründet hatte, sein eigenes Europabild gegenübergestellt, das v o n einer liberalen u n d demokratischen Ordnung geprägt, auf das Selbstbestimmungsrecht aller Völker u n d die Minderheitenrechte gegründet, von der deutschen u n d zaristischen Übermacht befreit u n d als übernationales Gemeinwesen organisiert war. Diese Aspekte erfahren i m Werk „Das neue Europa" eine vertiefte Erörterung. Ein zentraler u n d m.E. sehr wichtiger Punkt i m Denken Masaryks ist die demokratische Ausdeutung des nationalen Selbstbewußtseins, das seinerseits i n den Idealen der Humanität, Demokratie u n d Toleranz gründet 5 . Seine gesamte Argumentation kreist u m diesen Kern. Bereits auf den ersten Seiten betont er:" Einer der mächtigen Hebel der Demokratie ist das nationale Streben" 6 , u n d ganz i m Herderschen Sinne hielt er die Nation u n d nicht den Staat für das natürliche Organ der Menschheit. So schrieb er in „Problém malého nâroda": „Die Menschheit ist der Baum, die einzelnen Nationen sind die Zweige. Die Menschheit manifestiert sich in den einzelnen Nationen, die Teil des Ganzen sind, u n d darin gründet das Recht einer jeden Nation" 7 . Gerade aus diesem Grunde, so hatte er bereits in seinem Vortrag i m King's College hervorgehoben, dürfe es kein „Herrenvolk" geben, sondern müsse Gleichheit zwischen den Nationen herrschen. Die Prinzipien der Liberté , Egalité , Fraternité , die seit der Französischen Revolution das Verhältnis der Individuen untereinander regele, sollten auch für die Beziehungen zwischen den Nationen gelten. Innerhalb der einzelnen Nationen stellten sie die Basis für die Demokratie dar, aber sie sollten auch zum Fundament für die internationalen Beziehungen werden 8 . In diesem Zusammenhang fallen mir die Worte des großen italienischen Vertreters des Europagedankens Altiero Spinelli ein, der angesichts des Fehlens geeigneter föderativer Einrichtungen auf europäischer Ebene feststellte:

5

Diesen Aspekt hat kürzlich auch der tschechische Historiker Milan Otâhal hervorgehoben: „Das ,Tschechentum' verband er in seinen Überlegungen nicht mit dem ethnischen Nationalismus, sondern mit einem universellen Humanismus"; vgl. M. Otâhal, Revolution der Intellektuellen? Die tschechischen Intellektuellen und der Totalitarismus, in: Wissenschaftskolleg-Jahrbuch, 1991/92, S. 259. Vgl. auch ders., Alcuni aspetti del pensiero ceco moderno, in: Fondazione Agnelli (Hrsg.), Democrazie da inventare. Culture politiche e stato in Ungheria e Cecoslovacchia, Torino 1991, S. 21-36. 6

Das neue Europa, S. 55.

7

3. Aufl., Prag 1947, S. 10.

8

Vgl. die deutsche Ausgabe: Das Problem der kleinen Völker in der europäischen Krisis, Prag 1922, S. 28.

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„Die Demokratie ist regelnde Norm für das Innenleben der Einzelstaaten geblieben, aber nicht zum Organisationsprinzip jenes großen und entscheidenden Territoriums geworden, das Europa h e i ß t . A u c h das Recht eines jeden Volkes auf die eigene Sprache gewinnt i n diesem Zusammenhang einen eigenen Charakter. Die Pflege der jeweiligen Nationalsprache u n d Kultur ist ein Faktor v o n Demokratie, kein Selbstzweck, sondern ein Mittel zur Akkulturation der Massen, zur Wiederaneignung der eigenen Identität. „Wir sind das Volk v o n Comenius", hatte er in seiner Studie v o n 1905 geschrieben u n d dabei betont: „Es ist vor allem unsere Aufgabe, uns um die Erziehung und Selbsterziehung zu kümmern ... Die Schule muß unsere Sorge sein, wenn wahr ist, was Comenius gesagt hat, daß nur durch Bildung der Mensch zum Menschen wird" 1 0 . Hier zeigt sich als ein zweiter Zug v o n Masaryks Denken, daß er der Erziehungsarbeit eine herausragende Bedeutung beimißt. Nur durch die Verbreitung einer Kultur, die sich der Freiheit u n d der Verantwortung öffnet, u n d durch deren tiefgreifende Wirkung kann es für Masaryk einen Bürger geben, der selbständig ist gegenüber der Welt u n d gegenüber dem Nächsten, der aus moralischer Überzeugung u n d nicht aufgrund v o n Zwang für die Demokratie eintritt, deshalb am Leben des Staatswesens aktiv teilnimmt 1 1 . Es sei an dieser Stelle darauf hingewiesen, w i e sehr die angelsächsische Tradition Masaryks gesamte Geistesbildung durchzieht. Seine bevorzugten Philosophen w a r e n H u m e , Locke, Stuart Mill, daneben allerdings auch Auguste Comte. Indem er der Schule u n d Erziehung eine herausragenden Rolle in der Gesellschaft zuwies, zeigt sich bei Masaryk eine tiefgreifende Übereinstimmung mit einem der Gründungsväter der Vereinigten Staaten, d.h. mit Thomas Jefferson, aus dessen Feder die Unabhängigkeitserklärung stammt u n d dessen 250. Geburtstag sich kürzlich jährte. Nach Jefferson garantierte nicht so sehr eine starke Regierung als vielmehr eine gesunde Gesellschaft das höchstmögliche Maß an öffentlichem Wohl, u n d eine gesunde Gesellschaft bedurfte für ihn einer energischen Erziehung, die den seiner Meinung nach eingeborenen moralischen Sinn des Menschen entwickeln würde. Eine tiefgreifende u n d mutige öffentliche Bildungspolitik war für Jefferson der Angelpunkt eines geordneten u n d friedlichen gesellschaftlichen Zusammenlebens 1 2 . Andererseits umriß Masaryk in seiner Washingtoner Erklärung v o m 18. Oktober 1918 die geistigen Grundlagen der Politik des neuen tschechoslowakischen Staates, der die Ideale der modernen Demokratie übernehmen u n d sich 9 Vgl. A. Spinelli , La crisi degli stati nazionali. Germania, Italia, Francia, Bologna 1991, S. 125. 10

Problém malého nâroda, S. 26.

11

M. Otàhal, Alcuni aspetti, S. 30 f.

12

Vgl. A. Aquarone (Hrsg.), Antologia degli scritti politici di Thomas Jefferson, Bologna 1961, und hier insbesondere die Einleitung des Herausgebers. Vgl. auch M. Sylvers , Il pensiero politico e sociale di Thomas Jefferson. Saggio introduttivo e antologia dei testi, Manduria / Bari / Roma 1993.

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insbesondere am amerikanischen Modell orientieren würde. Damit knüpfte er also nicht nur an Comenius u n d die kulturell-geistigen Traditionen der Böhmischen Brüder, sondern auch an die Ideale der nordamerikanischen Unabhängigkeitserklärung, an Lincolns Prinzipien u n d an die Menschenrechtserklärung der Französischen Revolution an 1 3 . A u f jeden Fall sollte das Nationalitätsprinzip nicht v o m Internationalismus getrennt werden: „In dem Maße, als sich die europäischen Völker individualisieren, bemühen sie sich auch um einen wirtschaftlichen, verkehrstechnischen Zusammenschluß und nähern sich überhaupt einander, soweit die technische Kultur in Betracht kommt; aber die Individualisation und die Zentralisation werden auch geistig durch Austausch der Ideen und der gesamten Kultur vertieft (Kenntnis fremder Sprachen, Übersetzungen). Europa, die Menschheit, werden immer mehr zu einer Einheit" 14 . Gerade deshalb hielt er auch eine gemeinsame Sprache für notwendig, die einen derartigen Austausch erleichtern sollte; i m Mittelalter habe das Lateinische diese Funktion ausgefüllt, u n d n u n würde die englische Sprache diese Aufgabe übernehmen 1 5 . Die wiedergewonnene Freiheit der Nationen zwinge überdies die kleinen Völker, sich entsprechend ihren wirklichen Bedürfnissen auf freiwilliger Basis zusammenzuschließen; dergestalt könnten neue Föderationen nach dem Beispiel der Schweiz oder der Vereinigten Staaten entstehen, die auf dem Willen ihrer Mitglieder beruhten 1 6 . I n einem solchen Zusammenhang verlieren die nationalen Minderheitenprobleme einen Großteil ihrer Konfliktträchtigkeit, u n d die Gefühlsspannungen, die mit dem Begriff der „Minderheit" selbst verbunden sind, lösen sich auf. Bei einem grundlegenden Wiederaufbau Europas hielt es Masaryk aber für nötig, die Zahl der Minderheitengruppen möglichst gering zu halten, deren bürgerliche Rechte auch auf internationaler Ebene durch ein Statut u n d die Einrichtung eines Schiedsgerichts gewährleistet werden sollten. Wie der amerikanische Präsident Wilson, der die Völkerbundsidee gerade deshalb entwickelt hatte, u m diese Veränderungen einzuleiten u n d zu lenken, hielt er Grenzberichtungen gemäß der ethnischen Gegebenheiten für möglich, w e n n sich der „Kriegssturm" erst einmal gelegt u n d das neue Staatensystem stabilisiert hätte 17 . Innerhalb des neuen tschechoslowakischen Staates beunruhigte ihn die deutsche Minderheit am meisten, denn „gut 11 europäische Staaten sind kleiner als unsere deutsche Minderheit" 1 8 . U n d nicht nur u m ein zahlenmäßiges Pro13 Vgl. den vollständigen Text in: Kde domov muj? 72 let Ceskoslovenska [Wo ist mein Vaterland? 72 Jahre der Tschechoslowakei], Prag 1992, S. 279 f. 14 15 16

Das neue Europa, S. 73. Ebd., S. 74. .Ebd., S. 70-72.

17

Ebd., S. 78-81.

18

Vgl. Svètovâ revoluce, 2. Aufl., Prag 1930, S. 524.

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blem handelte es sich dabei, stellte sie doch einen kulturell hochentwickelten sowie wirtschaftlich, industriell u n d finanziell starken Bevölkerungsteil. Die Probleme, die sich aus der Präsenz der deutschen Volksgruppe in Böhmen ergaben, werden i m vorliegenden Band v o n Manfred Alexander u n d Jiri Koralka ausführlich erörtert. Deshalb mag es hier genügen, auf einige spezifische Überlegungen Masaryks hinzuweisen. Vor allem bestritt er, daß den Deutschen in Böhmen (den Sudetendeutschen) das Selbstbestimmungsrecht, das sie unter Berufung auf Wilson auch für sich einforderten, wirklich zustehe. Nach Masaryk ist nur ein Volk i n seiner Gesamtheit u n d nicht eines seiner Teile Träger eines solchen Rechtes, u n d eine noch so ansehnliche Minderheit ist eben kein Volk. Das „Selbstbestimmungsrecht" bedeute nicht automatisch Recht auf politische Unabhängigkeit, u n d die Stellung „unserer Deutschen" - w i e er sie nannte innerhalb der Tschechoslowakei entspreche der Position der Deutschen in der Schweiz. Auf jeden Fall aber sollte die Politik des neuen Staates gegenüber dieser u n d allen anderen Minderheiten „durchdacht, abgewogen und, w i e Havliëek forderte, vernünftig u n d aufrichtig" sein 19 . Eine besondere Bedeutung u n d einen spezifischen Aktualitätsbezug besitzen seine Äußerungen zum Problem, welche Sprache in einem mehrsprachigen Staatsgebilde in den alltäglichen bürgerlich-gesellschaftlichen Beziehungen anzuwenden sei. Eine Amtssprache müsse es aufgrund praktischer Verwaltungserfordernisse geben, auf keinen Fall aber eine Staatssprache. Darüber hatte er bereits anläßlich des entsprechenden Verfassungsgesetzes harte Auseinandersetzungen mit den tschechischen Nationalisten geführt, u n d der schließlich ausgehandelte Kompromiß erklärte eine inexistente Sprache (das Tschechoslowakische) zur „amtlichen Staatssprache". Masaryk vertrat jedoch eine völlig eindeutige Position: „Der Charakter des Volkes erschöpft sich nicht in seiner Sprache; der nationale Charakter unseres Staates muß sich aus der Qualität unseres kulturellen, mit entschiedenem Einsatz und konsequent durchgeführten Programmes ergeben" 20. Gegen Ende seiner programmatischen Schrift „Das neue Europa" präzisierte Masaryk seinen Demokratiebegriff sowohl unter gesellschaftlichem als auch unter nationalem Aspekt 2 1 . Masaryk definierte hier die Demokratie auf eine sehr charakteristische u n d originelle Weise, die u m so deutlicher hervortritt, w e n n man sie mit den i n den letzten Jahrzehnten i m Westen entwickelten Vorstellungen vergleicht, innerhalb derer das Kapital, das Geld eine absolute Vorrangstellung einzunehmen scheint. Für i h n hingegen meinte Demokratie „die Organisation der Gesellschaft, welche auf Arbeit beruht; in ihr gibt es keine Individuen und Klassen, welche die Arbeit der anderen ausbeuten" 2 2 . Gemeint ist eine Gesellschaft, in der Diskussionen 19

Ebd., S. 524-527.

20

Ebd., S. 528.

21

Vgl. Das neue Europa, S. 186-187.

22

Ebd., S. 186.

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stattfinden, in der die Menschen mit Argumenten u n d nicht auf der Grundlage v o n Willkür oder Gewalt regiert werden, in der schließlich die Wissenschaft eine grundlegende Rolle spielt. „Die demokratischen Staaten sehen ihr Hauptziel in der Verwaltung, nicht i m Herrschen" 23 . Masaryk greift hier einerseits auf die Auffassung zurück, daß die Nationen die natürlichen Organe der Menschheit seien, betont aber andererseits, daß das Nationalitätsprinzip die beste Garantie für die Internationalität darstelle, auf deren Verwirklichung sich die europäische Entwicklung ebenso hinbewege w i e auf die Durchsetzung der Nationalität. „Es handelt sich nicht bloß u m die Freiheit der Nationen, sondern u m ihre Vereinigung" 2 4 . Diese Entwicklung soll sich auf das Gleichheitsprinzip gründen, das für den „kleinen Mann" w i e für die kleinen Nationen gilt. „Die Demokratie beruht w i e die Nationalität u n d der Sozialismus auf dem Humanitätsprinzip: kein Mensch darf einen andern als Mittel seiner Ziele benutzen" 2 5 . Die Demokratie bedeutet für Masaryk also Humanismus, sie stellt für ihn mit den Worten des tschechischen Philosophen Erazim Kohâk vor allem „eine Lebensweise", eine „Demokratie in unf dar; die „Freiheit, die durch sie möglich wird, gründet in der moralischen Disziplin eines jeden Individuums, das die Freiheit nicht zum Nachteil seines Nächsten mißbraucht und folglich nicht die Notwendigkeit einer auf gewalttätigen Zwang gegründeten Disziplin entstehen läßt" 26 . Anläßlich der Verleihung des Ehrendoktortitels der Universität Bologna hat Alexander Dubcek in seiner Rede über die geistigen Grundlagen des Prager Frühlings zu Recht auf diese humanistische Tradition hingewiesen 2 7 . Können w i r all dies nach zwei Weltkriegen u n d nach dem Zusammenbruch des Kommunismus noch als Utopie u n d Idealismus abtun? Die tragischen Entwicklungen in den Ländern zwischen der Adria u n d dem Kaspischen Meer verpflichten uns meiner Meinung nach, Masaryks Erbschaft ernsthaft zu würdigen. Sie läßt sich dahingehend zusammenfassen, was ich als die .qualitative Idee der Nation' bezeichnen möchte. Sie geht davon aus, daß eine Nation u m so stärker ist, als sie sich kulturell, moralisch und wirtschaftlich durchzusetzen vermag; weniger wichtig ist nach ihr die Größe des Gebietes u n d 23

Ebd.

24

Ebd., S. 187.

25

Ebd.

26

E.V. Kohâk , Il significato filosofico della .Primavera di Praga', in: F. Leoncini (Hrsg.), Che cosa fu la „Primavera di Praga"? Idee e progretti di una riforma politica e sociale, Manduria / Bari / Roma 1989, S. 109. 27 Vgl. den vollständigen Text in: L'Unità, 13- November 1988, S. 6. Er wurde wiederabgedruckt in: Transizione, 1988, S. 11-12, S. 223-232, und in: Pensare il mondo nuovo, Beilage zu Nr. 139 von L'Unità, 15. Juni 1989, S. 85-95. Vgl. die Rede zusammen mit den anderen Dokumenten zur Eröffnung des akademischen Jahres 1988/89 auch in: Bollettino - Università degli Studi di Bologna, 3 (1988), 12 (Beilage), S. 45-51.

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der Bevölkerung, über die eine Nation verfügt. Sie richtet sich schließlich auf die Identifikation der Synergien sowohl bei den verschiedenen Völkern als auch innerhalb der Einzelstaaten u n d nicht auf die Verschärfung der Antagonismen; jede gesellschaftliche u n d nationale Komponente bewahrt auf diese Weise den ihr eigenen geistigen Reichtum u n d schöpft neue Kraft für einen weiteren wirtschaftlichen Entwicklungsschub.

Die Minderheitenrechte u n d die Nationalitätenpolitik vor u n d nach 1918 i n der Karpatenregion Von Zoltân Szâsz

Die Zeitschrift „Magyar Kisebbség" [„Magyarische Minderheit"], die in der Zwischenkriegszeit regelmäßig in Siebenbürgen erschien, besaß eine feste Rubrik, i n der anhand konkreter Beispiele aus der Zeit vor 1914 illustriert wurde, u m wieviel besser die Lage der Minderheiten i m alten ungarischen Staat im Vergleich zur Situation der magyarischen Minderheiten in den sogenannten Nachfolgestaaten gewesen sei. Politiker u n d Journalisten aus dem Umfeld der Minderheiten wiederholten, daß diese sich gern mit den Rechten zufriedengeben würden, die die verschiedenen Nationalitäten i m früheren ungarischen Staat besessen hatten. Eine Generation später klagten die magyarischen Minderheiten in den nunmehr kommunistisch regierten Ländern, daß sie nicht einmal mehr über so viel Rechte verfügten w i e in der Zwischenkriegszeit. Ein Vergleich der Minderheitenpolitik u n d der entsprechenden Gesetzgeb u n g vor u n d nach 1918 gehört zweifellos nicht zu den einfachsten Aufgaben der Geschichtsschreibung. Die aktuellen nationalen Spannungen in der Karpatenregion regen die Forschung zwar an, erschweren aber zugleich die neutrale wissenschaftliche Behandlung der Ereignisse in letztlich nicht einmal sehr weit zurückliegenden Zeiten. Z u m Zwecke des angestrebten Vergleichs möchte ich einige Aspekte thesenhaft herausstellen. I m historischen Ungarn hatte das Zusammenleben v o n Magyaren u n d Nichtmagyaren sehr stabile organische Strukturen geschaffen. Die verschiedenen Gruppierungen der ungarischen politischen Führungsschicht, gleich welcher politischen Richtung sie angehörten u n d unabhängig v o n ihren nationalen Zielsetzungen, mußten in der neueren Geschichte immer berücksichtigen, daß die Nationalitäten seit langem organisch zusammenlebten. U n d obgleich die Sozialstruktur bei den fünf größten ungarischen Volksgruppen (Rumänen, Slow a k e n , Deutsche, Serben, Ruthenen) weniger entwickelt w a r als bei den Magyaren, lebten sie gewöhnlich in zahlreichen, relativ geschlossenen Gruppen; insgesamt stellten sie die Hälfte der Staatsbevölkerung. Diese Situation setzte der Minderheitenpolitik u n d -gesetzgebung enge Grenzen.

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Eine lange Friedensperiode, konsolidierte Staatsgrenzen, eine dynamische Entwicklung der Wirtschaft, eine solide Verfassung, traditionsreiche lokale Strukturen und stabile internationale Beziehungen kennzeichneten für Ungarn den Zeitraum vor 1914. Die politischen Eliten der nationalen Minderheiten waren jedoch ganz anderer Ansicht. Für sie ging die mit dem Ausgleich v o n 1867, der den modernen ungarischen Staat begründete, die traditionelle, alle Bürger umfassende natio hungarica zu Ende, insofern die magyarische Volksgruppe privilegiert wurde. Eine derartige Vorrangstellung schienen sie nicht zuletzt in einem Teil der nach 1867 in Kraft getretenen Gesetze zu erkennen. Das Nationalitätengesetz v o n 1868 (Nr. XLIV), das in erster Linie den Sprachgebrauch im öffentlichen Leben regelte, stellte sie nicht zufrieden, w e i l es die v o n ihnen gewünschte Föderalisierung des Landes nicht begünstigte. Die Serben, die Rumänen und die Sachsen verfügten über selbständige Nationalkirchen und entsprechende Schuleinrichtungen, doch zu einer direkten staatlichen Unterstützung ihrer Schulnetze kam es ebensow e n i g w i e zur Errichtung auch nur einer einzigen Minderheitenschule. 1879 w u r d e Magyarisch Pflichtfach, ab 1883 verlangte man v o n den Lehrern der Sekundärschule den Nachweis ungarischer Sprachkenntnisse, 1891 w u r d e beschlossen, Ungarisch schon i m Kindergarten zu unterrichten. 1907 schließlich w u r d e das Erlernen dieser Sprache für weitere Bereiche zur Pflicht gemacht. Als Grund für all diese Maßnahmen gab man die angestrebte Modernisierung des Landes an. Das Unrecht, das sich aus dieser zum Teil auf nationalistischen Tendenzen beruhenden Gesetzgebung ergab, verband sich mit der traditionellen, die Mehrheit der Volksgruppen kennzeichnenden gesellschaftlichen Rückständigkeit. Hingegen kam es zu keiner „positiven Diskriminierung", obgleich sie vielfach gefordert wurde. Selbstverständlich waren die Volksgruppen jedoch nicht der völligen Schutzlosigkeit preisgegeben. Die Selbständigkeit der Nationalkirchen beispielsweise hielt der Staat unabhängig v o n politischen Divergenzen und in Übereinstimmung mit seiner Verfassung für wichtig, und zur Erfüllung dieses Zweckes leistete er in vielen Fällen auch finanzielle Unterstützung. Ferner bestanden kulturelle Organisationen wie die „Matica Srpska" und die rumänische ,Astra", die bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Funktion von Kulturzentren ausübten. Schließlich garantierte das 1868 verabschiedete Nationalitätengesetz indirekt auch einige Kollektivrechte, insofern es den Aufbau nationaler Organisationen erlaubte, die die Kultur u n d die wirtschaftlichen Aktivitäten der jeweiligen Volksgruppe stärkten u n d damit nationalen Zwecken dienten. Insgesamt gesehen aber gewährleistete die moderne ungarische Gesetzgebung, die zum Großteil einen entschieden liberalen Charakter besaß, nur individuelle Freiheitsrechte, während die Tradition und - mit einigen Ausnahmen auch die alten Gesetze den Volksgruppen überdies die Ausübung v o n Kollektivrechten sicherstellten. Nach dem geltenden Wahlrecht beispielsweise hätten Nationalparteien nicht zur Wahl zugelassen werden dürfen. Doch sogar die

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Parteien v o n Volksgruppen, die den Dualismus ablehnten u n d deshalb verfassungswidrig waren, wurden v o n der Regierung inner- und außerhalb des Parlamentes (abgesehen v o n zwei vorübergehenden Fällen) geduldet; in den Jahren vor dem Ersten Weltkrieg kam es sogar zu regelrechten Verhandlungen mit den Parteien der rumänischen u n d der slowakischen Volksgruppe. 1918-20 haben nicht bloß Grenzverschiebungen stattgefunden. Ein Drittel der Magyaren fand sich in den Nachfolgestaaten als Minderheit wieder, nachdem sie sich für lange Zeit in der Rolle eines staatstragenden Elementes gesehen hatten. Allein schon deshalb fiel es ihnen schwer, die neuen Staaten anzuerkennen. Den neuen Führungsschichten der Nachfolgestaaten fehlte es i m allgemeinen an der notwendigen politischen Erfahrung, u m das Minderheitenproblem zu lösen, u n d außerdem wollten sie so schnell w i e möglich einen zentralisierten Nationalstaat errichten. Die Politiker der Nachfolgestaaten betrachteten die Angehörigen der Minderheiten faktisch als Ausländer (Fremde), auch w e n n sie dies nicht öffentlich erklärten. Die unendlichen Diskussionen, die die Gewährung der neuen Staatsbürgerschaft an mehrere Hunderttausend Personen auslöste, verstärkte bei den Minderheiten diesen Eindruck, denn ein solches Problem hatte es vor 1918 nicht gegeben. Ähnlich wirkte die Einführung in den politischen Diskurs des für die Magyaren ungewohnten Begriffs v o n "Minderheit". Für die magyarischen Minderheiten bestand das größte Unglück darin, daß ihr kultureller u n d wirtschaftlicher Entwicklungsgrad unter den neuen Bedingungen nicht nur beeinträchtigt, sondern aufgrund der Auflösung eines Großteils ihrer Organisationen sogar unter das Vorkriegsniveau gedrückt wurde. Das sich in der Muttersprache vollziehende kulturelle Leben der breiten magyarischen Bevölkerungsschichten wurde durch diskriminierende Gesetzesbestimmungen (wie auch durch die Aufsplitterung der Siedlungen eines großen Teils der magyarischen Volksgruppe) eingeschränkt. Zugleich waren die magyarischen Führungskreise einem Deklassierungsprozeß unterworfen, der ebenfalls mit der Veränderung der politischen Rahmenbedingungen zusammenhing. Die Regierungsverantwortlichen u n d politischen Kommentatoren der Nachfolgestaaten versuchten diese Nachteile folgerichtig zu erklären, w o b e i sie sich im wesentlichen auf zwei Punkte konzentrierten: 1. Einerseits betonten sie, es sei ein Akt „historischer Gerechtigkeit", die „alte Unterdrückungsordnung", d.h. die Vorherrschaft der magyarischen Beamten, die magyarische Mehrheit in den Städten, das übergroße Gewicht des magyarischen Schulsystems usw. abzuschaffen (obgleich auch einige Rumänen die Auffassung vertraten, daß die magyarische Universität in Cluj [Klausenburg] nicht geschlossen, sondern vielmehr eine rumänische Universität gegründet werden sollte, ließ man sich v o n der strengsten nationalistischen Logik leiten). 2. Andererseits bezogen sie sich auf die notwendige allgemeine Demokratisierung des Landes. Man dachte, w i e in allen osteuropäischen Ländern, in

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erster Linie an die Agrarreform. Diese Reformen trafen aufgrund der traditionellen Grundbesitzstrukturen i m Karpatenbogen vor allem die Magyaren, das große u n d mittelgroße Grundeigentum u n d das - auch w e n n es hauptsächlich kulturelle Zwecke erfüllte - Kircheneigentum. Die Agrarreform war zugleich Teil einer staatlichen Wirtschaftspolitik, die vor dem Krieg aufgrund der ungebrochenen Hegemonie des Wirtschaftsliberalismus in der Zeit v o n 1848 bis 1914 schon v o n der Idee her kaum bekannt war. Außerdem bemerkten die Minderheiten sehr bald, w i e z.B. in Rumänien, daß man in den alten Landesteilen („Regat") sehr viel behutsamer gegen die Großgrundbesitzer vorging als i m kürzlich annektierten Siebenbürgen, w o die Grundbesitzer Magyaren waren. Ein derartiges Problem gab es vor 1914 nicht. Die Auflösung der feudalen Bindungen in den Jahren 1848 bis 1854 stellte trotz gelegentlicher sozialer Ungerechtigkeiten einen wichtigen Fortschritt für die Nationalitäten dar. So nahm der Grundbesitz der nicht-magyarischen Bauern bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts leicht zu. Allgemein läßt sich sagen, daß das Fehlen demokratischer Reformen in einem multinationalen Staat Spannungen zwischen den Volksgruppen schafft, aber auch bestimmte Reformmaßnahmen derartige Konflikte ebenfalls vergrößern. Vor dem Krieg blieb die nationale Frage im wesentlichen ein innenpolitisches Problem der betroffenen Einzelstaaten. Zwar fehlte es seit dem 17. Jahrhundert nicht an internationalen Schutzabkommen für religiöse Minderheiten, u n d die Polen erhielten schon 1815 ein Recht auf nationale Repräsentation, doch einen rechtlichen Minderheitenschutz auf internationaler Ebene - allerdings ohne bemerkenswerte Ergebnisse - gab es nur in der Balkanregion und auch dort erst seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Für die Habsburgermonarchie handelte es sich formell u m eine innenpolitische Angelegenheit, doch faktisch bestanden auch Wege und Möglichkeiten für Eingriffe v o n außen. Wie aus den vertraulichen Instruktionen für das deutsche Konsulat in Budapest hervorgeht, hatte Bismarck z.B. wiederholt den Gedanken zurückgewiesen, die deutsch-ungarische Minderheit zu unterstützen. Gleichwohl setzte sich Deutschland gegen Ende des Jahrhunderts aus außenpolitischen Gründen für die Rumänen in Siebenbürgen ein. Ebenso haben das Königreich Rumänien u n d Serbien diplomatische Initiativen ergriffen, ohne jedoch nennenswerte Resultate zu erzielen. Mit den Pariser Verträgen v o n 1919-20, die den Völkerbund begründeten, w u r d e der zunächst auf die Balkanregion beschränkte internationale Minderheitenschutz auf die übrigen osteuropäischen Ländern ausgedehnt. Die Spannungen zwischen den Nationalitäten in diesen Staaten einerseits u n d die diskriminierende Entscheidung der Friedenskonferenz, die Pflicht zum Minderheitenschutz nur auf bestimmte Staaten zu beschränken, beeinträchtigten v o n Anfang an die Wirksamkeit des Systems. Nach einem Urteil des tschechoslowakischen Verwaltungsgerichtes stellten jene internationalen Verträge keine Rechtsquellen dar, w e i l für den einzelnen

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Staatsbürger nur das Gesetz seines Staates entscheidend sei. Abgesehen v o m tschechoslowakischen Gesetz über den Sprachgebrauch fanden die Bestimmungen der internationalen Verträge bis 1930 keinerlei A n w e n d u n g in staatlichen Gesetzen, konnten also nicht geltend gemacht werden. U n d obschon es in Osteuropa überall völkerrechtliche Bestimmungen bezüglich der Minderheiten gab, blieben sie v o n dem, was sich die Friedenskonferenz unter „Minderheitenschutz" vorstellte, weit entfernt. I m allgemeinen gab es in den Nachfolgestaaten keine Form positiver Minderheitenschutzgesetzgebung. Clemenceau schrieb 1919 i m Namen des Obersten Rates der Pariser Friedenskonferenz an den Chef der polnischen Delegation Paderewski, daß das frühere Garantiesystem der Großmächte versagt habe, die Probleme der Minderheiten folglich der Politik entzogen und einem unparteiischen Gericht überantwortet werden müßten. Ein internationales Gericht wurde jedoch nicht eingerichtet; der Fortbestand des Völkerbundes wäre nämlich gefährdet gewesen, hätte er sich zu sehr mit den Minderheitenproblemen befaßt. Zweck des Völkerbundes sei es nicht, in einem Konflikt zwischen Parteien Entscheidungen zu treffen, hieß es 1929 i m Bericht der v o m Völkerbundsrat ernannten Kommission Adatci-Chamberlain-Quinones de Leon, die eine authentische Interpretation der Minderheitenverträge geben sollte. Aus den Minderheiten durften demnach keine Rechtssubjekte werden. So unterschied sich das neue System in seiner Rechtsstruktur i n nichts v o n dem System, w i e es seinerzeit der Berliner Kongreß geschaffen hatte. Das tschechoslowakische Sprachengesetz u n d die Tätigkeit des Prager Verwaltungsgerichtes beweisen jedoch, daß es auch i m Rahmen des innerstaatlichen Rechts konkrete Möglichkeiten zum Minderheitenschutz gab. Beispiele unparteiischer Urteilsfindung über Probleme, v o n denen die Minderheiten betroffen waren, bot auch das rumänische Verfassungsgericht ( i n Rumänien klagte man allerdings darüber, daß die Entscheidungen nicht ausgeführt wurden). I m Herbst 1927 erklärte ein rumänischer Abgeordneter i m Parlament in Bukarest, immer mehr setze sich die Meinung durch, daß zur Regelung der Rechtsverhältnisse der Minderheiten die innenpolitische Lösung den internationalen Verträgen vorzuziehen sei, u n d die sächsischen Abgeordneten schlossen sich dieser Auffassung an. Der Versuch, das Minderheitenproblem innenpolitisch zu regeln, war zwischenzeitlich also weit vorgedrungen u n d veränderte schließlich endgültig und i m Kern die Tragweite der internationalen diesbezüglichen Bestimmungen. Dies hieß jedoch, daß man zu der Ordnung zurückkehrte, die vor 1914 in der Habsburgermonarchie bestanden hatte. G l e i c h w o h l kann die Ansicht geteilt werden, daß der V ö l k e r b u n d i m Konsolidierungsprozeß der neuen Staaten eine wichtige Rolle spielte, indem er auf die Lage der Minderheiten einen entscheidenden Einfluß ausübte. In Einzelfällen ist die Klage durchaus berechtigt, der Völkerbund habe nichts ausgerichtet, doch darf ein anderer Aspekt des Problems nicht vernachlässigt werden. Der Völkerbund zwang die Regierungen der betroffenen Länder mitunter zu politischer Rücksichtnahme u n d zu einem besonneren Vorgehen, w o m i t er ver10 Corsini / Zaffi

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hinderte, daß die Staatsgewalt v o n der nationalistischen Politik vereinnahmt wurde. Hinzufügen ließe sich, daß die internationale Situation den ungarischen Staat vor dem Weltkrieg davon abgehalten hatte, eine so forcierte nationalistische Politik gegenüber den Minderheiten zu betreiben. War die Lage der Minderheiten vor oder nach 1914 besser? Ich meine, daß sie vor 1914 besser war. Die Minderheiten wurden immer „unterdrückt" u n d w e r d e n auch heute mehr oder weniger benachteiligt. Gleichwohl bestehen zwischen der Vorkriegs- u n d Nachkriegszeit erhebliche Unterschiede. Vor dem Krieg lebten die Minderheiten in multinationalen Monarchien konservativer, zum Teil sogar archaischer Prägung, deren Struktur in gewisser Hinsicht die politische Entwicklung der damaligen Nationalitäten (bzw. der Minderheiten) hemmte, während die nationalistische Politik der Regierungen zur selben Zeit zweifellos die sogenannten „staatstragenden Nationen" begünstigte. Nach 1918 w u r d e n die neuen Minderheiten nicht nur benachteiligt, sondern zwangsweise auf ein niedrigeres Entwicklungniveau herabgedrückt. Nach 1945 bzw. 1948 verloren die Minderheiten jede politische Rolle, u n d die Staats- u n d Parteiorgane versuchten, aus ihnen rein ethnische Minderheiten bzw. folkloristische Attraktionen zu machen. Derartige Gesamturteile besitzen allerdings kein solides wissenschaftliches Fundament, da die Zeit des Ersten Weltkrieges eigentlich nicht ausgeschlossen werden darf, während andererseits Friedens- u n d Kriegszeiten unterschiedlicher Maßstäbe bedürfen. Tatsächlich verändert der Krieg die Verhältnisse auf entscheidende Weise u n d vergrößert die Unterschiede derart, daß eine vergleichende Beurteilung i n historischer Perspektive nicht mehr durchführbar ist. Die einzelnen Rechtsbestimmungen können zwar miteinander verglichen werden, doch lassen sie sich nicht aus dem Gesamtzusammenhang der Rechtsordnung u n d noch weniger aus dem internationalen politischen Rahmen herauslösen. Z u m gegenwärtigen Zeitpunkt vermögen w i r das, was w i r aufgrund subjektiver Eindrücke behaupten, wissenschaftlich nicht zu untermauern, auch w e n n w i r über unzählige Einzeldaten verfügen. Gleichwohl drängt sich uns dieses Problem auf, das über Generationen hinweg leidenschaftlich diskutiert wurde u n d auch heute noch erörtert wird.

Literaturhinweise Aldermann , G. (Hrsg.): Ethnic Groups and Political Representation, New York 1992. Buza, L.: A kisebbségek jogi helyzete a békeszerzôdések és mas nemzetközi egyezmények értelmében [Die rechtliche Lage der Minderheiten auf der Grundlage der Friedensverträge und anderer internationaler Abkommen], Budapest 1930. Ermacora, F.: Der Minderheitenschutz in der Arbeit der Vereinten Nationen, Wien / Stuttgart 1964. Ermacora, F. / Veiter; dert, Wien 1977.

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10*

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Zoltân Szâsz

Der Minderheitenschutz und die ungarische Außenpolitik zwischen 1920 und 1929 Von Laszló Szarka

„Für den Fall, daß uns territoriale Veränderungen auferlegt werden, fordern wir außerdem einen wirkungsvolleren und gewissenhafteren Schutz der nationalen Minderheiten, als in dem uns vorgelegten Friedensvertragsentwurf vorgesehen ist. Wir sind in der Tat davon überzeugt, daß die in diesem Entwurf enthaltenen Garantien keineswegs ausreichen. Wir wünschen uns umfassendere Garantien, die wir unsererseits den fremdsprachigen Gruppen, die sich auf ungarischem Gebiet befinden, zu gewähren bereit sind". So drückte sich der Chef der ungarischen Delegation Albert A p p o n y i i n seiner Rede v o m 16. Januar 1920 vor dem Obersten Rat der Pariser Friedenskonferenz aus 1 . A p p o n y i ging auch auf die Frage der Verantwortung für die drei Millionen Magyaren ein, die in den Nachbarländern zu nationalen Minderheiten zu w e r d e n drohten, unterstrich das vitale Interesse der Magyaren an einer Ausweitung der Minderheitenrechte u n d bekräftigte, daß Ungarn die vorgesehenen territorialen Veränderungen in Mitteleuropa ablehnte. Die ungarische Außenpolitik richtete sich in der Zwischenkriegszeit konkret auf dieses doppelte Ziel des Schutzes der magyarischen Minderheiten u n d der friedlichen Grenzberichtigung, indem sie für den rechtlichen Minderheitenschutz u n d zugleich für die Möglichkeit v o n Grenzveränderungen eintrat. Der vorliegende Beitrag w i l l die in den 20er Jahren i m Rahmen der offiziellen ungarischen Außenpolitik ergriffenen Maßnahmen anhand der beim Völkerbund eingereichten Minderheitenpetitionen sowie anhand der Beurteilung des internationalen Minderheitenschutzsystems kurz erörtern. I n einer Note v o m 20. Februar 1920 schlug die ungarische Friedensdelegation die Einrichtung eines rechtlich u n d institutionell abgesicherten Minderheitenschutzsystems vor, das über die zaghaften Vorstellungen der Siegermächte weit hinausging. Nach der ungarischen Note sollten den Minderheitengruppen die ursprünglichen, mit ihrem Mutterland gemeinsamen religiösen Einrichtungen unabhängig v o n den neuen Staatsgrenzen erhalten bleiben. Zur Erhaltung der Schulen u n d kulturellen Institutionen w i e auch in Fragen des Sprachgebrauchs u n d der Religionsausübung sollten „die Bürger, die sprachlich-ethnischen Min-

1 A magyar béketârgyalâsok. Jelentés a magyar béjekûldôttség mûkôdésérôl, Neuilly s/S. 1920. januârius - mârcius havâban, I, 1920, S. 279.

Laszló Szarka

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derheiten angehörten, eine mit besonderen Autonomierechten ausgestattete Körperschaft bilden" 2 . Überdies sah die Note der ungarischen Friedensdelegation sehr umfangreiche Rechte hinsichtlich des Sprachgebrauches innerhalb der Verwaltungsbehörden, der gesetzgebenden Organe sowie der Lokalverwaltungen vor u n d sprach sich für das Verbot einer Veränderung der Grenzen der Verwaltungseinheiten aus, w e n n sie sich nachteilig auf das zahlenmäßige Gewicht der Minderheiten auswirken sollte. Ferner forderte die ungarische Delegation administrative oder rechtliche Garantien, die juristische u n d natürliche Personen aus Minderheitengruppen vor Enteignung schützen sollten. Zugleich erklärte sie, Ungarn werde die auf seinem Staatsgebiet lebenden Minderheiten entsprechend diesen Prinzipien behandeln. Die alliierten u n d assoziierten Mächte betonten i m Begleitschreiben zu ihrer Antwort v o m 6. Mai 1920, daß die Übernahme derartiger Regelungen unüberwindbare Komplikationen hervorrufen würde, u n d sie erklärten kategorisch, die v o n Rumänien u n d dem Reich der Serben, Kroaten u n d Slowenen unterzeichneten u n d v o n der Tschechoslowakei bereits ratifizierten Minderheitenschutzverträge garantierten voll u n d ganz die unter die Hoheit eines anderen Staates gefallenen magyarischen Inseln 3 . A n zahlreichen Maßnahmen, die den magyarischen Minderheiten einige ihrer wirtschaftlichen, politischen u n d kulturellen Rechte nahmen oder stark beschnitten, zeigte sich allerdings bereits v o m Beginn der 20er Jahre an, daß Ungarns Befürchtungen über die schwache Wirkungskraft des Minderheitenschutzes alles andere als übertrieben waren. I m Anschluß an die Annullierung der früheren ungarischen Staatsbürgerschaft u n d i m Zusammenhang mit der Übertragung der neuen Staatsbürgerschaft kam es tausendfach zu Willkürmaßnahmen, u n d das Eigentum der Minderheiten bzw. der sogenannten Optanten wurde während der gesamten Zwischenkriegszeit in Mitteleuropa zu einem Hauptproblem für das internationale Recht. Die v o n den neuen Staaten durchgeführten Vertreibungen, die zehntausendfache Ablehnung v o n Anträgen auf Staatsbürgerschaft u n d die damit verbundenen materiellen, moralischen u n d rechtlichen Nachteile waren oftmals Anlaß für die ungarische Regierung u n d die magyarischen Minderheiten zugleich, ihre Bemühungen u m völkerrechtlichen Schutz zu verstärken. Aus den Gebieten des historischen Ungarn w u r d e n i m Verlaufe der 20er Jahre insgesamt 208 Minderheitenpetitionen eingebracht; in 199 Fällen ging es dabei u m Verletzungen der Minderheitenrechte in den Nachfolgestaaten, u n d in 9 Fällen forderten in Trianon-Ungarn verbliebene Minderheiten die Wahrung ihrer Rechte ein.

2

Ebd., II, S. 77-89.

3

A magyar béketârgyalâsok, Budapest 1920, S. 3·

Der Minderheitenschutz und die ungarische Außenpolitik

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Die magyarischen Minderheiten faßten in diesem Zeitraum 33 Petitionen ab, v o n denen die Minderheitenkomitees 18 für annehmbar erklärten - was bedeutete, daß man sich mit ihnen auch inhaltlich auseinandersetzte 4 . Die ungarische Regierung bemühte sich beständig u m die Einhaltung der magyarischen Minderheitenrechte. Der Botschafterkonferenz, die die Arbeit der Friedenskonferenz fortsetzte, legte Ungarn vier Petitionen vor, deren jede die vollständige Einhaltung der v o n den Nachfolgestaaten unterzeichneten Minderheitenschutzverträge verlangte. I m Mai 1922 wandte sich die ungarische Regierung anläßlich der Weltwirtschaftskonferenz v o n Genua mit einer Denkschrift über die Minderheiten an die Großmächte, die sie an den Völkerbundsrat weiterleiteten. Überdies richtete die ungarische Botschaft in London am 18. Juli 1922 eine Note an den Generalsekretär des Völkerbundes, die die Vertreibung v o n Magyaren aus den früher ungarischen, nach dem Krieg aber ans Königreich der Südslawen abgetretenen Gebieten zum Gegenstand hatte. Die ungarische Diplomatie hat die Vollversammlung des Völkerbundes immer dazu genutzt, u m eine wirksamere Ausgestaltung des internationalen Minderheitenschutzes zu erreichen. I m September 1922 forderte der Außenminister Miklós Bânffy u n d ein Jahr später der Chef der ungarischen Delegation beim Völkerbund Albert A p p o n y i eine vorurteilsfreiere u n d objektivere Haltung des Rates gegenüber den Minderheitenpetitionen; ferner verlangten sie, daß die Organisationen der M i n d e r h e i t e n uneingeschränkt als Rechtssubjekte i m Minderheitenschutzverfahren anerkannt würden 5 . U m den nationalen Minderheiten, die i m damaligen Europa nach einigen Einschätzungen 40.000.000 Personen umfaßten, größere Sicherheit zu bieten, hielt A p p o n y i es für vordringlich, die Wirkungskraft der Mitteilungen u n d Stellungnahmen des v o m Völkerbund eingerichteten Ständigen Internationalen Gerichtshofes zu erhöhen u n d ein Netz v o n lokalen Beobachtern zu knüpfen. Die ungarischen Minderheitengruppen u n d die ungarische Regierung haben also sofort erkannt, w i e wichtig die unter der Ägide des Völkerbundes u n d i m Rahmçn der Völkerbundsvereinigungen, der interparlamentarischen Union u n d v o n anderen internationalen Organisationen einsetzenden Bestrebungen zum Minderheitenschutz sein konnten. Die v o n magyarischen Kreisen abgefaßten u n d dem Völkerbund zugestellten Petitionen bremsten die Versuche in Rumänien, i n der Tschechoslowakei u n d in Jugoslawien, die darauf zielten, in den v o n magyarischen Volksgruppen bewohnten Gebieten in Folge der Agrarreform Mitglieder der vorherrschenden Nationalität anzusiedeln. Insbesondere in dem Rumänien zugesprochenen Banat gelang es, die Interessen der ursprünglichen Grundbesitzer erfolgreich zu verteidigen. Die ungari4 Z. Baranyai, A kisebbségi jogok védelmének kézikônyve, Budapest 1925, S. 127136; I. Mikó y A nemzetiségi jog és a nemzetiségi politika, Kolozsvâr 1944 (Neuausgabe Pécs 1989), S. 282-289; A. Baloch , A kisebbségek nemzetközi védelme. A kisebbségi szerzôdések és a békeszerzôdések alapjân, Berlin 1928, S. 271-277. 5

Z. Baranyai , A kisebbségi jogok, S. 173 f.

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Laszló Szarka

sehe Delegation beim Völkerbund u n d die verschiedenen in Ungarn für den Minderheitenschutz eintretenden Gruppen ersetzten mit ihren Petitionen die auf diesem Gebiet zunächst fehlenden Initiativen v o n Seiten der eigentlichen Minderheitenparteien u n d -Organisationen. Die erste Petition über die Lage der siebenbürgischen Magyaren wurde beispielsweise von der Vereinigung „Bocskay" mit Sitz in Budapest abgefaßt. Auch die ungarische Delegation beim Völkerb u n d reichte ununterbrochen Petitionen zu Fällen ein, in denen die Rechte magyarischer Minderheiten verletzt w o r d e n waren 6 . Die Parteien dieser Minderheiten verfaßten eine erste Denkschrift über die Lage der deutschen u n d magyarischen Minderheiten i n der Slowakei u n d in der Karpatho-Ukraine, die in erster Linie die abweisende Haltung der tschechoslowakischen Verwaltung u n d der statistischen Ämter gegenüber den Minderheiten i m Bereich v o n Bildung, Ausbildung u n d Wirtschaft kritisierte 7 . Der Völkerbund legte diese Petition der tschechoslowakischen Regierung zur Stellungnahme vor. Prag wies die in der Petition enthaltenen Anschuldigungen entschieden zurück, w e i l die Beschwerden zum Teil vollkommen unbegründet seien, zum Teil in die Zuständigkeit der innerstaatlichen Rechtsprechung fielen u n d sich z u m Teil auf die Lage vor der Unterzeichnung der Minderheitenschutzverträge bezogen. Die Prager Antwortnote ist typisch für die Stellungnahmen seitens der beschuldigten Regierungen, welche auch objektiven, klar belegbaren Rechtsverletzungen u n d Versäumnissen amtliches Material gegenüberstellten, u m auf keinen Fall Fehltritte in ihrer Minderheitenpolitik eingestehen zu müssen 8 . Obgleich - w i e oben gesagt - beim Völkerbund bereits seit den frühen 20er Jahren zahlreiche Petitionen zur Lage der magyarischen Minderheit in Rumänien eingereicht wurden, wurde die erste, die direkt aus ihrer Mitte kam, am 18. Februar 1925 v o n den magyarischen Großgrundbesitzern aus Siebenbürgen u n d aus dem Banat abgefaßt, w o r i n sie eine Überprüfung der diskriminierenden Tendenzen der rumänischen Agrarreform forderten. Zwischen 1925 u n d 1937 legte die magyarische Minderheit in Rumänien dem Völkerbund 28 weitere Petitionen vor; 12 gingen v o n Privatpersonen aus, 2 v o n den magyarischen Kirchen in Rumänien u n d 15 v o n der Magyarischen Partei Rumäniens. Die Petitionen der Privatpersonen bezogen sich in erster Linie auf Eigentumsfragen, die Petitionen der Kirchen galten insbesondere der Beeinträchtigung des Rechtes auf Unterrichtsfreiheit, während der größte Teil der Petitionen der Magyarischen Partei konkrete Fälle v o n Verletzungen des v o n Rumänien unterA. Balogh, A Nemzetek Szôvetsége és a româniai magyar kisebbség (Magyar Kisebbség Nemzetpolitikai Szemle, 18-19, 1940, Lugoj 1940, S. 8. 7 La situation des minorités en Slovaquie et dans la Russie Subcarpatique, Preßburg 1923. Über die außenpolitische Tätigkeit der ungarischen Minderheitenparteien in der Tschechoslowakei vgl. P. Balla , A felvidéki magy rsâg külpolitikai tevékenysége, in: H. Laszló (Hrsg.), Mit élt ât a Felvidék?, Budapest 1940, S. 17-18. 8 Vgl. die offiziellen tschechoslowakischen Antwortnoten im Archiv des tschechoslowakischen Ministerpräsidentenamtes, Ministerké predsednietvo, MenSiny - 1923. Statni usffedni archiv Ceské republiky, Praha.

Der Minderheitenschutz und die ungarische Außenpolitik

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zeichneten Minderheitenschutzvertrages ansprach. 1930 beispielsweise befaßten sich zwei Petitionen jeweils mit dem Problem der sogenannten Namensanalyse (diejenigen, deren Name rumänisch klang, wurden automatisch der rumänischen Volksgruppe zugeordnet) u n d dem Problem der „Kulturzone" 9 . I n den Denkschriften der ungarischen Partei aus der Mitte der 30er Jahre standen ferner einige Bestimmungen der rumänischen Verwaltungsordnung i m Zentrum der Kritik, so die Entlassung v o n Postangestellten magyarischer Nationalität oder die fortgesetzte A n w e n d u n g der Namensanalyse. Gegen die Rumänisierungspolitik richteten sich schließlich die Petitionen betreffend die Verwendung der Ortsbezeichnungen in der Presse u n d die Zweisprachigkeit der Geschäftsschilder, den ethnischen Proporz für die Angestellten in den Privatunternehmen u n d die finanzielle Unterstützung der Konfessionsschulen 10 . Drei Petitionen der Magyaren in Rumänien hatten Erfolg; zwei Fälle berührten Eigemtumsfragen 11 , die bis zur Verhandlung i m Völkerbundsrat kamen u n d dort entschieden wurden. I n der dritten Petition ging es u m den Widerstand der magyarischen Kirchen i n Siebenbürgen gegen eine die Unterrichtsfreiheit beschränkende Bestimmung, die nach einer Intervention des Völkerbunds v o n der rumänischen Regierung abgeändert wurde12. I n zwölf weiteren Fällen löste die rumänische Regierung aus eigenem Antrieb die in den Petitionen angesprochenen Probleme, nachdem sie v o m Generalsekretär des Völkerbundes aufgefordert worden war, zumindest partiell Abhilfe zu schaffen 13 . Der relative Erfolg der v o n der magyarischen Minderheit in Rumänien an den Völkerbund gerichteten Petitionen zeigt sich daran, daß sie in nur fünf Fällen v o l l k o m m e n erfolglos blieben. Neben den drei bzw. zwölf genannten Fällen kam es nämlich noch zu neun weiteren Prüfungsverfahren durch Minderheitenkomitees, doch nach Empfang der jeweiligen Stellungnahmen der rumänischen Regierung hielten die Komitees die Einleitung weiterer Schritte nicht mehr für nötig 1 4 . Nach den v o m Völkerbund zusammengestellten statistischen Daten w u r d e n zwischen 1921 u n d 1936 insgesamt 867 Petitionen bezüglich der Minderheitenprobleme eingereicht, aber nur 471 w u r d e n für annehmbar befunden. Von diesen kamen vor den Völkerbundsrat lediglich fünf Petitionen. Die Zahl der v o n den magyarischen Minderheiten eingereichten u n d angenommenen Petitionen be-

Bei der „Kulturzone" handelt es sich um die gemischtsprachigen Gebiete in Siebenbürgen, wo ab 1924 Sonderbestimmungen für die Schule galten (Anm. des Übers.). 10

1. Mikó , Huszonkét év. Az erdélyi magyarsâg tôrténete 1918. december 1-jétôl 1940. augusztus 30-ig, Budpest 1941, S. 178-195; A. Baloch, A Nemzetek Szövetsége, S. 9-14. 11

Ebd., S. 16 f.

12

Ebd.

13

Ebd., S. 23 f.

14

Ebd., S. 25.

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Laszló Szarka

lief sich i m selben Zeitraum auf 43, unter denen waren all die Petitionen der in Rumänien lebenden magyarischen Minderheiten. Zwei wurden dann Gegenstand v o n Verhandlungen i m Völkerbundsrat. Hinsichtlich der 1930 v o n der Magyarischen Partei Rumäniens zur Namensanalyse eingebrachten Petition wandte sich das entsprechende Minderheitenkomitee für weitere Informationen nicht, w i e üblich, an die rumänische Regierung, sondern vielmehr an die Petitionäre selbst 15 . Der Kampf u m rechtlichen Schutz seitens der in der Tschechoslowakei, in Rumänien u n d i n Jugoslawien lebenden magyarischen Minderheiten beschränkte sich offensichtlich nicht auf die internationale Ebene, obgleich die Initiativen der Liga für den Völkerbund u n d der Interparlamentarischen Union sowie die Minderheitenkongresse dazu bedeutsame Gelegenheiten boten. Fragen des Minderheitenschutzes machten vielmehr auch einen Großteil der parlamentarischen Arbeit der magyarischen Abgeordneten in der Tschechoslowakei u n d i n Rumänien aus. Es wirkte sich entscheidend auf die Orientierungen der Minderheiten aus u n d verlieh ihnen überdies ein gewisses Gefühl rechtlicher Sicherheit, daß die Reden u n d Interpellationen der magyarischen Abgeordneten i n den Presseorganen der Minderheitengruppen zensurfrei erscheinen konnten. Die ungarische Außenpolitik versuchte in jenen Jahren bei jeder Gelegenheit u n d auf jede mögliche Weise die Aktionen, die auf den völkerrechtlichen Schutz der magyarischen Minderheiten zielten, wirksam zu unterstützen. Allerdings bestand ihr eigentliches Ziel darin, die grundsätzlich für ungerecht gehaltenen Staatsgrenzen abzuändern, und diesen Revisionsversuchen ordnete sie den Minderheitenschutz unter. Unmittelbar nach dem Friedensvertrag v o n Trianon versuchte die ungarische Regierung für kurze Zeit, mit den Nachbarstaaten bilaterale Minderheitenschutzverträge abzuschließen u n d sondierte bei dieser Gelegenheit auch, inwieweit bilaterale Grenzberichtigungsabkommen möglich wären. Sehr bald mußte Ungarn aber einsehen, daß nicht einmal die Tschechoslowakei, die sich theoretisch zu jeder Art v o n A b k o m m e n bereit erklärt hatte, einen bilateralen Minderheitenschutzvertrag zu unterschreiben bereit war. Das Haupthindernis zu solchen Verträgen bestand darin, daß es i n Folge der Territorialbestimmungen des Trianon-Vertrages auf ungarischem Staatsgebiet - abgesehen v o n den 500 000 Deutschen - keine umfangreiche nationale Minderheit mehr gab, die in geschlossenen Siedlungen lebte u n d deren Zahl der der zumeist in den Grenzgebieten geschlossen siedelnden magyarischen Minderheitengruppen gleichkam, welche ein ausgeprägtes Nationalbewußtsein besaßen, gleichkam 1 6 . So setzten sich i n der ungarischen Außenpolitik zwischen 1923 u n d 1928 zwei parallele Orientierungen durch. Auf der einen Seite kam es zur sogenann15 16

Ebd., S. 31-33.

Darüber vgl. L. Szarka , Kisebbségvédelem, réciprocités, revizió. Megeyzési kiséerletek a nemzetiségi kérdés terén, in: Békélten évtizedek 1918-1938. Tanulmânyok és dokumentumok a magyar-cseh-szlovâk kopcsolatok tôrténetébôl a két vilâghâhoru között, Budapest 1988, S. 47-53.

Der Minderheitenschutz und die ungarische Außenpolitik

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ten Strategie der Totalrevision, die v o n Anfang an selbst nach ungarischer Einschätzung unmöglich verwirklicht werden konnte u n d nur dazu diente, sich eine vorteilhafte Verhandlungsposition zu verschaffen. Auf der anderen Seite wurde eine revisionistische Politik unter ethnischem Vorzeichen entwickelt, die nur auf Wiederangliederung jener Gebiete abzielte, die mehrheitlich v o n magyarischer Bevölkerung bewohnt waren. Deshalb hielten viele ungarische Politiker den Völkerrechtsschutz der in geschlossenen Gebieten siedelnden magyarischen Minderheiten für besonders wichtig 1 7 . Gegenüber dem Minderheitenschutzsystem des Völkerbundes herrschte i n Ungarn starke Unzufriedenheit, u n d u m gegen dessen Wirkungslosigkeit zu protestieren, dachte Ministerpräsident Istvan Bethlen Mitte der 20er Jahre sogar an einen Austritt aus der Genfer Organisation 18 . Ende der 20er Jahre unterschied die offizielle ungarische Außenpolitik bereits zwischen einer Total- u n d einer ethnisch begründeten Revision, obgleich der Unterschied ausschließlich i m Grad u n d in den Ausführungsmitteln lag, d.h. man bestand für die Grenzgebiete mit mehrheitlich magyarischer Bevölkerung auf die direkte Wiederangliederung, während man für die anderen Regionen eine Volksabstimmung forderte 19 . Diese offizielle Einschätzung des Minderheitenschutzsystems seitens der ungarischen Regierung hat über lange Zeit auch das historische Urteil beeinflußt. Marxistische w i e bürgerliche Historiker sprachen v o m Scheitern u n d der Wirkungslosigkeit des v o m Völkerbund entwickelten Minderheitenschutzsystems, w o b e i sie nicht erkannten, welch außergewöhnliche Bedeutung den internationalen Garantien u n d Minderheitenschutzbestimmungen zukam. Nach 1945 allerdings beklagten auch die Marxisten die vollständige Abschaffung des Minderheitenschutzsystems, w i e es in der Zwischenkriegszeit bestanden hatte, doch reichte das Fehlen eines internationalen Forums u n d internationaler Garantien zu einer zumindest partiellen Aufwertung des Systems durch die ostmitteleuropäischen Historker nicht hin. A n diesem Überblick über die v o n Ungarn u n d den Magyaren gemachten Erfahrungen bezüglich des Minderheitenschutzes zeigt sich also abschließend, daß die internationalen Garantien der Zwischenkriegszeit eine wichtige Quelle für die Rechtssicherheit der Minderheiten darstellten, dem Kampf der Minderheiten u m rechtlichen Schutz innerhalb des Staates, dem sie angehörten, einen tragfähigen Ausgangspunkt boten u n d die Parteien bzw. politischen Organisationen der ungarischen Minderheiten dazu brachten, sich klare Ziele zu ihrem bestmöglichen Schutz zu stecken. Die revisionistische Tendenz in der ungarischen Außenpolitik hat natürlich den internationalen Schutz der ungarischen Minderheiten erschwert, denn die

17 Über diese Alternative der ungarischen Außenpolitik vgl. I. Romics, Bethlen Istvan. Politikai életrajz, Budapest 1991, S. 246-251, S. 270 f. 18

Bethlen Istvan grof beszesei es irasai, Budapest, 1933, Bd. II, 34.

19

L. Szarka , Kisebbségvédelem, S. 52 f.

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Laszló Szarka

Nachbarstaaten sahen in jeder ihrer Initiativen den ungarischen Staat am Werk, w o v o n sie auch die internationale öffentliche Meinung zu überzeugen versuchten. Gleichwohl sahen sich Ungarns Nachbarstaaten oftmals zu zumindest formalen Zugeständnissen genötigt. Und w i e das 1937-38 v o n Hod2a in der Tschechoslowakei eingeführte Nationalitätenstatut zeigt, war man in der zweiten Hälfte der 30er Jahre endlich bereit, zumindest partielle Selbstberichtigungen vorzunehmen.

Die Gesetze über die nationalen Minderheiten in Rumänien während der Zwischenkriegszeit: einige Aspekte Von Simion Retegan

Mit der rumänischen Gesetzgebung der Zwischenkriegszeit betreffend die nationalen Minderheiten i m allgemeinen u n d die magyarische Minderheit i m besonderen hat man sich in Rumänien u n d Ungarn in zahllosen Monographien, Aufsätzen, Studien, Broschüren, Vorträgen und Zeitungsartikeln befaßt. Der größte Teil dieser Beiträge erschien bezeichnenderweise zwischen 1936-1940, als das Problem der Revision der nach dem ersten Weltkrieg unterzeichneten internationalen Verträge auf der Tagesordnung stand. Die Häufigkeit, mit der das Minderheitenproblem auf internationalen Veranstaltungen, in öffentlichen Versammlungen u n d in der Presse diskutiert wurde, zeigt bereits, w i e gespannt die Beziehungen zwischen Rumänen u n d Ungarn waren. Das Schicksal hat die beiden Völker nicht nur zu Nachbarn gemacht, in Siebenbürgen haben sie sich auch gegenseitig tief durchdrungen. I n einem derartig spannungsgeladenen Zusammenhang betrieb Ungarn eine offensive revisionistische Politik u n d Propaganda, während Rumänien eher zurückhaltende Positionen einnahm. Der erste Eindruck, den man bei der Lektüre dieser umfangreichen Literatur gewinnt, ist, daß sie einen in nationaler Hinsicht offen parteilichen Standpunkt einnimmt. I n Arbeiten, die das Thema insgesamt abhandeln w i e in Studien, die einzelne Bereiche w i e Wirtschaft, Politik u n d Kultur aus einer zentralen oder lokalen Perspektive untersuchen, beeinträchtigt das politische Leitinteresse deren wissenschaftliche Objektivität oder verdrängt sie ganz. Anstatt mit neutralen u n d objektiven Analysen einer umfangreichen, komplexen u n d sich beständig verändernden Realität hat man es sehr oft mit einer verkürzten Darstellung der Tatsachen, die zudem aus ihrem historischen Kontext herausgelöst werden, oder mit einer Verabsolutierung v o n Teilaspekten zu tun. Beide Lager schöpfen aus d e m gemeinsamen Arsenal der Ableugnung u n d der undifferenzierten bloßen Behauptung, der Unterstellungen u n d Ambiguitäten. Einige dieser unzähligen Texte, die seltener v o n Historikern oder Soziologen, sondern häufiger v o n Journalisten oder Politikern, Protagonisten i m hartnäckigen Kampf zwischen Rumänen u n d Ungarn, geschrieben wurden, sind v o n nationaler Leidenschaft tief durchdrungen. Zweifellos durchlebten die Magyaren, die 1918 Siebenbürgen verließen u n d damit ein über Generationen hinweg vererbtes Eigentum aufgaben, eine Phase tiefgreifender persönlicher Tragik, die aufrichtiges Mitleid hervorruft, doch ebenso selbstverständlich drängt sich die Frage auf, inwieweit

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Simion Retegan

man sich auf ihr Zeugnis wirklich verlassen kann. Einige Texte sprechen den Rumänen nicht nur jeden Willen zur Durchführung auch nur einer einzigen effektiven Maßnahme zum Minderheitenschutz ab, sondern bezweifeln sogar ihre Fähigkeit, den Zustand der Untätigkeit u n d Willkür zu überwinden sowie die Grundstrukturen eines demokratischen Staates zu schaffen u n d zu respektieren. Derselbe Argwohn ist auch einigen rumänischen Politikern gegenüber angebracht; hinter den gegen Diskriminierungen gerichteten Erklärungen v o n 1918, 1919 u n d 1923, die dem europäischen Standard entsprachen u n d Verfassungsrang hatten, verbargen sich zahlreiche einfache Gesetze zu Wirtschafts-, Religionsu n d Schulfragen, deren Bestimmungen zum Teil den i n den Karlsburger Beschlüssen v o n 1918, in dem 1919 i n Paris unterzeichneten Minderheitenschutzvertrag u n d i n der Verfassung v o n 1923 anerkannten demokratischen Prinzipien widersprachen. Man wollte das Bild einer idyllischen, friedsam-einträchtigen Gesellschaft zeichnen, die allen Gesellschaftsgliedern dieselben Freiheitsgarantien, Entwicklungsmöglichkeiten u n d Zukunftsperspektiven gewährte, also v o n einer Liberalität u n d Toleranz geprägt war, w i e sie nur wenige europäische Staaten kannten. Gemeinsam war dem magyarischen u n d rumänischen Lager, daß sie sich mit ihren Argumenten u n d Gegenargumenten nicht an den Gegner oder an die jeweilige öffentliche Meinung wandten, sondern an die europäischen Großmächte, bei denen sie Beschuldigungen vorbrachten oder vor denen sie sich verteidigten. Das Minderheitenproblem, so schwerwiegend es auch war, w u r d e also nicht u m seiner selbst w i l l e n gestellt, sondern diente als Agitationsmittel, u m außenpolitische Vorteile zu erzielen, d.h. eine Revision bzw. die Erhaltung der bestehenden Grenzen. I n dieser Hinsicht hat Ungarn mit dem bekannten Wiener Diktat v o m 30. August 1940 den Sieg davongetragen. A u c h w e n n es vielleicht wünschenswert wäre, i m Rahmen dieses kurzen Beitrages w i r d es nicht möglich sein, die Minderheitenbestimmungen in den rumänischen Verfassungen sowie all die Sondergesetze zur persönlichen Freiheit, zur Vereins- u n d Versammlungsfreiheit, zur Religions- u n d Sprachfreiheit, zur Presse- u n d Petitionsfreiheit, zur wirtschaftlichen u n d politischen Freiheit der Minderheiten vollständig abzuhandeln. Nur die wichtigsten Gesetzestexte k ö n n e n hier erörtert, einige einführende Überlegungen angestellt u n d schließlich einige bruchstückhafte Bemerkungen gemacht werden. Besondere Berücksichtigung soll dabei die Schul- u n d Wirtschaftsgesetzgebung finden, denn die Kritik der ungarischen Minderheiten bezog sich am häufigsten, u n d in schärfster Form, gerade auf diese Bereiche. Z u m Abschluß w o l l e n w i r die allgemeine Gesetzgebungsebene verlassen u n d einige Momente des konkreten Zusammenlebens zwischen Rumänen u n d Magyaren in den siebenbürgischen Dörfern u n d Städten beleuchten, d.h. insbesondere das friedlich-bescheiden ablaufende Arbeitsleben betrachten, das immer vergessen wird, w e n n isolierte Unzufriedenheitsausbrüche u n d Konflikte die öffentliche Meinung in ihren Bann ziehen.

Die Gesetze über die nationalen Minderheiten in Rumänien

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Zu bedenken ist, daß die Zwischenkriegszeit nur eine Phase in der Entwicklung des komplexen Nationalitätenproblems in Siebenbürgen darstellt: es war die Zeit, w o die magyarische Minderheit die politische Hegemonie über die rumänische Mehrheit in der Region verlor. Wenn im Gegensatz zur magyarischen Volksgruppe, die sich in einer Haltung permanenter Herausforderung gefiel, die deutsche Minderheit i n Rumänien während der gesamten Zwischenkriegszeit zu einer konstruktiven Zusammenarbeit mit dem Staat bereit war, so findet das seine Erklärung eben in der Dialektik v o n Vergangenheit u n d Gegenwart. Die aus Bürgertum u n d Bauern zusammengesetzte sächsische Volksgruppe in Siebenbürgen wurde w i e die Rumänen bis 1918 diskriminiert, so daß es keinerlei Gemeinsamkeit zwischen ihr u n d der magyarischen Minderheit bestand. A n der Spitze der Magyaren stand nämlich eine reiche, gebildete u n d politisch erfahrene Aristokratie mit vielfältigen kulturellen Ausdrucksmöglichkeiten, die über zahlreiche Kontakte zum Ausland verfügte u n d seit Jahrhunderten zu regieren gewohnt war; nicht herrschen konnte für sie nur heißen, beherrscht zu werden. Gegenüber dem rumänischen Staat, der w i e Österreich-Ungarn vor 1918 über mächtige Strukturen verfügte u n d alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens durchdrang, fand sie sich zweifellos in einer untergeordneten Position wieder; aber der heutige, selbstverständlich für die Schwachen gegen die Mächtigen, für die Minderheit gegen die Mehrheit Partei ergreifende Historiker kann v o n den vorigen Umständen nicht absehen. Die Entwicklung der rumänischen Gesetzgebung über die nationalen Minderheiten läßt sich in die zwei klar voneinander unterscheidbaren Phasen, 19181937 u n d 1938-1940, unterteilen; zwischen ihnen bestanden zweifellos Kontinuitäts-, aber auch offensichtliche Bruchlinien. I n der ersten Phase versuchte Rumänien sich den diesbezüglich in Europa geltenden demokratischen Normen anzupassen. I m übrigen hieß es bereits in den Karlsbader Beschlüssen v o m 1. Dezember 1918, der rumänische Staat wolle die vollständige nationale Freiheit aller „mitwohnenden Völker" achten 1 : „Bildung und Ausbildung, Verwaltung und Rechtsprechung eines jedes Volkes soll in den Händen von aus seinem Kreis gewählten Personen ausgeführt werden und sich in seiner eigenen Sprache vollziehen, und jedem Volk steht das Recht auf Vertretung in den gesetzgebenden Körperschaften und in der Landesregierung ensprechend seinem Anteil an der Gesamtbevölkerung zu". Obgleich es sich bei diesen Grundsätzen nicht schon u m Bestimmungen eines staatlichen Organs handelte, wurden sie insofern zu einer rechtsgestaltenden Quelle, als sie in die spätere rumänische Gesetzgebung eingingen. 1 /. Clopofel, Revoluta de la 1918. Unirea Ardealului eu România [Die Revolution von 1918. Die Vereinigung Siebenbürgens mit Rumänien], Cluj 1936, S. 121-123; L. Nagy, A kisebbségek alkotmânyos jogi helyzete Nagyromâniâban [Die Lage der Minderheiten im großrumänischen Verfassungsrecht], Kolosvâr 1944, S. 208; T. Drägan, Les décisions d'Alba Iulia et leur interpretation pour les minorités nationales de Roumanie, in: Revue de Transylvanie, X (1944), 3-4, S. 52-73. Der Begriff „mitwohnende Völker" bezieht sich in der rumänischen Rechtsprechung, Publizistik und Historiographie auf die nichrumänischen Nationalitäten in Siebenbürgen.

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Ferner verpflichtete sich Rumänien in den Friedensverträgen mit Österreich u n d Ungarn sowie mit der Unterzeichnung des Minderheitenschutzvertrages v o m 9. Dezember 1919, keine ihnen widersprechenden Gesetze, Dekrete oder Amtsverfügungen zu erlassen. Der rumänische Staat verpflichtete sich dazu, erklärte, das Leben, die Freiheit u n d die Religionsfreiheit zu wahren, jedem Bewohner des Landes bzw. jedem, der auf Österreich-ungarischem, dann Rumänien zugeordneten Gebiet geboren wurde, die Staatsbürgerschaft zu verleihen sowie den Juden aus gleich welchen Landesteil, w e n n sie keine andere besaßen; schließlich die Gleichheit vor dem Gesetz zu garantieren. Ferner räumte Rumänien den sächsischen u n d szekler Minderheiten i n Siebenbürgen die Möglichkeit einer staatlich kontrollierten lokalen Selbstverwaltung i m Schulu n d Religionsbereich ein. Die Garantie für die Minderheitenrechte oblag aber nicht nur dem nationalen Verfassungsrecht, sondern, da sie als völkerrechtliche Frage galt, auch dem Genfer Völkerbund. A u f der Grundlage dieses Geistes der Versöhnung garantierte also die allseits wegen ihres demokratischen Inhalts begrüßte Verfassung v o n 1923 die Gleichheit aller Rumänen, d.h. aller rumänischen Staatsbürger ohne Ansehung ihrer nationalen Zugehörigkeit, Religion u n d Sprache i n allen Lebensbereichen, i n Gesellschaft u n d Wirtschaft, i n Politik u n d Kultur. Die Umsetzung dieser allgemeinen Grundsätze in die Tat durch ordentliche Gesetzgebung bedurfte zweifellos eines langen Prozesses, i n dessen Verlauf Konzessionsbereitschaft u n d eher unnachgiebige Haltung, Toleranz u n d Unzugänglichkeit oder gar nationale Abschließung einander ablösten. Dies hing v o n der jeweiligen politischen Konjunktur bzw. v o n psychologischen Faktoren ab, die bei der Lösung v o n Nationalitätenproblemen eine entscheidende Rolle spielen. Das vielleicht beste Beispiel bietet in dieser Hinsicht das weite Feld der Schulpolitik; es handelt sich dabei u m einen sehr wichtigen Bereich, denn der Unterricht in der eigenen Sprache stellt für die Minderheiten eines der wichtigsten Mittel zur Wahrung ihrer nationalen, sprachlichen und religiösen Identität dar. Der Minderheitenschutzvertrag v o n 1919 garantierte den Minderheiten grundsätzlich das Recht, daß der Unterricht i n ihrer eigenen Sprache erfolgen sollte, u n d enthielt entsprechende Schutzbestimmungen. Wie sah die rumänische Gesetzgebung zu diesem Problem aus? Bis zum Schulgesetz v o n 1924 folgte man vorübergehend dem traditionellen Prinzip, nach dem die Unterrichtssprache i n den Konfessions- u n d Privatschulen v o n ihren finanziellen Trägern bestimmt wurde. Zugleich gingen die früher v o m ungarischen Staat finanzierten Schulen auf den rumänischen Staat über, der n u n sicherstellen mußte, daß der Unterricht i n der Sprache erfolgte, die in der jeweiligen Gemeinde v o n der Bevölkerungsmehrheit gesprochen wurde. Die zahlenmäßigen Verhältnisse der Schulen der Nationalitäten änderten sich gewaltig. Die Anzahl der magyarischen Grundschulen verringerte sich, während die rumänischen u n d deutschen Grundschulen zunahmen. Allerdings bedeutete diese Umverteilung auf die verschiedenen Volksgruppen noch lange nicht, daß sie dem jeweiligen Prozentsatz der letzteren an der Gesamtbevölkerung vollkommen entsprochen hätte. A n den Sekundärschulen

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trat an die Stelle der ungarischen selbstverständlich die rumänische Geschichte u n d Geographie 2 . Die Lehrer sollten dem rumänischen Staat einen Treueid leisten, der sie zur korrekten Ausübung ihrer Funktionen zwingen sollte. Während bis 1918 in allen öffentlichen Schulen nur auf magyarisch unterrichtet w o r d e n war, verpflichtete sich der rumänische Staat mit dem Schulgesetz v o n 1924, i n den Ortschaften, w o die Bevölkerung einer nichtrumänischen Sprache war, Grundschulen zu errichten, in denen die Minderheitensprache als Unterrichtssprache galt. So gab es 1932 248 öffentliche Schulen mit magyarischer Unterrichtssprache; der prozentuale Anteil lag mit 5,77% aller Schulen zwar immer noch unter d e m magyarischen Anteil an der Gesamtbevölkerung (7,9% i m Jahr 1930), stellte jedoch i m Vergleich zur Lage der Minderheiten aus der Zeit vor 1918 einen ganz beträchtlichen Fortschritt dar 3 . U m die magyarischen Kinder v o n den öffentlichen Schulen fernzuhalten, auch w e n n der Unterricht i n ihrer Muttersprache erfolgte, beschlossen die Führer der magyarischen Minderheit i n Siebenbürgen, möglichst viele Konfessionsschulen zu gründen, u n d in der Hoffnung, die Angliederung Siebenbürgens an Rumänien würde nicht lange dauern, versuchten sie überdies, das gesamte magyarische Schulsystem beizubehalten u n d es dem staatlichen Einfluß zu entziehen, indem sie die Schulen i n Konfessionsschulen umwandelten. Zugleich ist festzuhalten, daß die Gründung einer Schule gleich welcher Art ab 1924 der Bewilligung durch das Unterrichtsministerium bedurfte u n d die Zielbestimmung sowie die Kontrolle des gesamten Grundschulwesens in die Zuständigkeit des Staates fiel. Man sah darin zu Recht eine Beeinträchtigung der Minderheitenrechte. Ferner verpflichtete das Schulgesetz die Bürger rumänischer Herkunft, die ihrer Muttersprache nicht mehr mächtig waren, ihre Kinder - je nach Wunsch auf eine private oder öffentliche - rumänischsprachige Schule zu schicken. D e n Unterricht an den Sekundärschulen regelte hingegen ein Gesetz v o n 1928, dem man häufig kaum verhüllte Rumänisierungstendenzen vorwarf. Tatsächlich bestimmte das Gesetz, daß hier der Unterricht an den staatlichen mittleren Schulen auf rumänisch zu erfolgen hatte. In den mehrheitlich v o n Minderheiten bewohnten Gebieten durften die staatlichen Gymnasien magyarische oder deutsche Abteilungen einrichten, doch für die Fächer Rumänische Sprache, Rumänische Geschichte, Rumänische Geographie u n d Staatsbürgerkunde blieb auf jeden Fall Rumänisch als Vehikularsprache vorgeschrieben. Die Mehrheit der magyarischen Schüler besuchte - w i e bereits in der Grundschule konfessionelle Gymnasien, obgleich es auch staatlich finanzierte mittlere Lehranstalten gab, i n denen auf magyarisch unterrichtet wurde. Was die magyarische Minderheit i n Siebenbürgen am meisten empörte, waren die in der Tat sehr 2 A. Caliani , L'enseignement minoritaire en Transilvanie, in: Revue de Transylvanie, I (1934), 2, S. 153-179; A. Pteancu, Invâtâmîntul particular §i minoritar din Transilvania [Der Privat- und Minderheitenunterricht in Siebenbürgen], in: Transilvania, Banatul, Cri§ana, Maramuresul, 1918-1928, II, Bukarest 1929, S. 1107-1127. 3 Anuarul Inväjämintului primär [Annalen der Grundschule], 28 (1933), Bucarest 1933, und Anuarul statistic, 1937/38, S. 62.

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harten Bedingungen für die Reifeprüfung, insofern sie ausschließlich auf rumänisch abzulegen waren, u n d zwar auch in konfessionellen Gymnasien. Die Zusammensetzung der Prüfungskommissionen gab auch oft Grund zu Beanstandungen. Ein späteres Gesetz bestimmte auch für die Privatschulen Rumänisch als Pflichtsprache für einige Fächer u n d verlangte v o n den Lehrern, die dieser Sprache nicht mächtig waren, daß sie innerhalb v o n fünf Jahren eine Sprachprüfung ablegen sollten. Das Hochschulgesetz v o n 1923 schließlich ermächtigte den Staat zur Gründung neuer Universitäten, doch die ungarische Universität von Cluj (Klausenburg) und die deutsche Universität von Cernauti (Czernowitz) waren bereits auf der Grundlage v o n Sondergesetzen in rumänische Universitäten umgewandelt worden 4 . D e n größten Widerstand hat die rumänische Sondergesetzgebung vielleicht i m wirtschaftlichen Bereich hervorgerufen, obgleich sie hier in unvergleichlich höherem Maß den in den Verfassungsgesetzen niedergelegten Prinzipien der Nichtdiskriminierung entsprach. Insbesondere die Frage der Enteignung der Großgrundbesitzer, für die die ungarische Staatsbürgerschaft optiert hatten, wurde mit großer Aufmerksamkeit in ganz Europa verfolgt u n d zog langwierige Rechtsstreitigkeiten zwischen Rumänien u n d Ungarn nach sich. Der Streitfall kam vor den Völkerbundsrat, vor dem die Budapester Regierung Entschädigungsleistungen in Höhe v o n 33 Milliarden Lei verlangte, während der damalige rumänische Staatshaushalt insgesamt nur 13 Milliarden Lei umfaßte 5 . Die das Wirtschaftsleben, d.h. das Privateigentum u n d die Arbeit betreffenden Verfassungsbestimmungen waren allgemein gehalten u n d betrafen alle Staatsbürger unabhängig v o n ihrer nationalen Zugehörigkeit. So hat die Verfassung v o n 1923 die Unverletzlichkeit des Privateigentums u n d die Gleichheit aller Bürger bezüglich des Rechts auf Arbeit festgeschrieben. Zur Förderung des rumänischen Bevölkerungsanteils in den 1918 annektierten Gebieten wurde jedoch eine Sondergesetzgebung erlassen, die die individuelle Freiheit i m wirtschaftlichen Bereich in einigen Punkten einschränkte. Auf die Einzelheiten der Agrarreform u n d die Siebenbürgen betreffenden Bestimmungen, welche tatsächlich v o n denen für die anderen Landesteile abwichen, soll hier nicht eingegangen werden 6 . Genannt seien hier hingegen die sogenannten Kolonisie4

Legea oentru transformarea Universitätii maghiare din Cluj în Universitate romänescä [Gesetz über die Umwandlung der ungarischen Universität von Klausenburg in eine rumänische Universität], in: Monitorul oficial, Nr. 126 vom 23.12.1919; Legea pentru transformerea Universität germane din Cernäuji in Universitate romänescä [Gesetz über die Umwandlung der deutschen Universität von Czernowitz in eine rumänische Universität], ebd. 5

N. Titulescu, La réforme agraire en Roumanie et les optants Hongrois de Transylvanie dévant la Société des Nations, mars-avril 1923, Paris 1924, S. 49. 6 Dazu gibt es eine umfangreiche rumänische und ungarische Forschungsliteratur: G. Ionescu-Siseßti / N. Cornatianu, La réforme agraire en Roumanie et ses conséquences, Bucarest 1937; M. Georgescu, Reforme agrare. Principii §i metode în legiuririle romane §i sträine [Agrarreformen. Prinzipien und Methoden der rumänischen und ausländischen Gesetzgebung], Bukarest 1943; A. Frunzänescu, Evolujia chestiunii agrare în România.

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rungsgesetze v o n 1930-1936, die ausschließlich die Rumänen einseitig begünstigten, das Bergbaugesetz v o n 1924, nach dem 75% des technischen u n d Verwaltungspersonals der Bergbauunternehmen rumänischer Nationalität sein mußte 7 , die Gesetze zur Organisation der Anwaltsvereinigung u n d das Gesetz v o n 1937 zur Einziehung des Gemeineigentums der sächsischen Universität u n d zur Einrichtung der Stiftung „Mihai Viteazul". Die genannten Gesetze beschränkten die wirtschaftliche Handlungsfreiheit der Minderheiten u n d damit auch der Magyaren in Handel u n d Industrie sowie i m Kreditwesen aber nur theoretisch. Tatsächlich kann man nicht v o n einer wirtschaftlichen Unterdrückung der ungarischen Minderheit sprechen, weder auf dem Gebiet des Handels u n d der Industrie noch auf dem des Kreditwesens. Die Statistiken des Handels- u n d Industrieministeriums für 1937 zeigen, daß v o n den insgesamt 173.145 Handelskompanien nur 83.821 (48,4%) in rumänischen Händen lagen, während 89-324 (51%) v o n Minderheiten kontrolliert wurden, darunter zeichneten sich die Juden mit 32,7%, aus 8 . I n Cluj (Klausenburg), dem größten siebenbürgischen Wirtschaftszentrum, hatten 1937 v o n den 2.373 registrierten Handelskompanien 1.101 jüdische, 684 magyarische, 487 rumänische, 51 deutsche u n d 44 anderen Minderheiten angehörende Eigentümer 9 . Obgleich i n zahlreichen für ein ausländisches Publikum bestimmten Publikationen ständig behauptet wurde, die Großindustrie i n den alten rumänischen Gebieten werde zum Nachteil Siebenbürgens bevorzugt, blieben zwischen 1919 u n d 1929 die hier ansässigen industriellen Aktiengesellschaften mit Ausnahme derjenigen, die sich in deutscher Hand befanden, nicht nur v o n einer Nationalisierung verschont, sondern konnten ihr Kapital i m Verlaufe dieses Jahrzehnts noch verdoppeln 1 0 . Eine ebenso starke Stellung w i e i m Handel nahmen die Minderheiten auch in der Industrie ein. 1937 befanden sich v o n insgesamt 29.077 privaten Industriebetrieben 14.860 (51%) in der Hand v o n Minderheiten u n d nur 14.217 (48,9%) gehörten Rumänen (bei einem rumänischen Anteil v o n 71,1% an der Gesamtbevölkerung i m Jahr 1930) 11 . Privirea istoricä. Aspecte actuale, Tendinje [Die Entwicklung der Agrarfrage in Rumänien. Historischer Abriß. Aktuelle Aspekte. Tendenzen], Bukarest 1939; D. Sandru, Reforma agrarä din 1921 în România [Die Agrarreform von 1921 in Rumänien], Bukarest 1975;/.G. Oberding, Az Erdélyi föld reform [Die Agrarreform in Siebenbürgen], Kolozsvâr 1930; M. Moritz, Az Erdélyi föld sorsa [Die Entwicklung des Grundbesitzes in Siebenbürgen], Budapest 1932; J. Venczel, Az Erdélyi roman földbirtokreform [Die rumänische Reform des Grundbesitzes in Transilvanien], Kolozsvâr 1943. 7

Monitorul oficial, Nr. 161 vom 16.7.1934.

8

N. Dascälu , The Economic and Political-Cultural Life of the Coinhabiting Nationalities in Romania between the two World Wars, in: Nouvelles Etudes d'Histoire, 2, Bucarest 1980, p. 196. 9 10

Ο. Buzea, Clujul, 1919-1939, Cluj 1939, S. 219.

A. Olteanu , Le mouvement économique hongrois en Transylvanie, in: Revue de Transylvanie, IV (1938), 1-2, S. 67 f. 11 N. Dascälu, The Economic and Political-Cultural Life, S. 196; Recensàmîntul general al populajiei României din 29 decembrie 1930 [Allgemeine Volkszählung der rumänischen Bevölkerung vom 29. Dezember 1930], Bukarest 1938, II, S. 780. 11*

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Selbstverständlich brachten derart umfangreiche industrielle Aktivitäten eine ebenso lebendige Kredittätigkeit mit sich, wodurch die damals auch i m Ausland verbreitete These widerlegt wird, die magyarische Minderheit in Rumänien sei gewaltsam all ihrer ökonomischen Mittel beraubt worden. Es sei nur daran erinnert, daß v o n den i m Jahr 1934 bestehenden 411 siebenbürgischen Banken 174 einen rumänischen, 116 einen magyarischen, 75 einen deutschen u n d 45 einen jüdischen Eigentümer hatten 12 . Diese bedeutsame ökonomische Rolle der Minderheiten i m Rumänien der Zwischenkriegszeit hat sich auch positiv auf ihre Beteiligung am politischen Leben sowohl auf lokaler als auch auf nationaler Ebene ausgewirkt. I m Gegensatz zu dem düsteren Bild, daß v o n der magyarischen revisionistischen Propaganda i m Westen verbreitet worden ist, sei hervorgehoben, daß Rumänien in jenen Jahren ein demokratischer Staat war, w o sich die Minderheiten auf der Grundlage der Verfassungsbestimmungen v o n 1923 u n d des Wahlgesetzes v o n 1926 w i e die Rumänen zu politischen Parteien zusammenschließen u n d am politischen Leben des Staates, an den Wahlen u n d an der Parlamentsarbeit teilnehmen konnten. So entstand i m Januar 1921 die Magyarische Union (Magyar Szôvetség) u n d i m Januar 1922 die Magyarische Volkspartei (Magyar Néppârt). Diese schlossen sich zur Magyarischen Nationalpartei zusammen (Magyar Nemzeti Part), die sich an den Parlamentswahlen gemeinsam mit der Magyarischen Agrarpartei (Magyar Agrârpârt), i m Bündnis mit anderen politischen Formationen w i e auch - häufiger - allein beteiligte. 1926 erreichte die Magyarische Nationalpartei 12 Mandate für die Abgeordnetenkammer u n d 13 Mandate für den Senat 13 . Auch w e n n keine der Minderheiten in Rumänien aufgrund der für sie ungünstigen Verwaltungsgliederung, an der sich auch die Einteilung der Wahlbezirke orientierte, ihrem Bevölkerungsanteil entsprechend i m Parlament vertreten war, hatte ihre politische Repräsentation, verglichen mit der Lage der Minderheiten in Ungarn vor 1918, i n der Zwischenkriegszeit erheblich zugenommen. Eine gewisse Zwiespältigkeit läßt sich auch in der Gesetzgebung über die Religionsausübung der Minderheiten nicht leugnen. Die Verfassungsbestimmungen v o n 1923 u n d 1938 gewährten ihnen zwar einen beträchtlichen Freiraum, doch die Vorrangstellung gebührte eindeutig dem orthodoxen u n d griechischkatholischen Bekenntnis 1 4 . Mit dem Religionsgesetz v o n 1928 w u r d e das „siebenbürgische katholische Statut" praktisch abgeschafft. Spätere Gesetze bevorzugten die rumänischen Konfessionen (d.h. den orthodoxen u n d griechisch-

12

N. Dascälu, The Economic, and Political-Cultural Life S. 197; G.N. Leon, La Transylvanie et la politique économique de la Roumanie, Bucarest 1943, S. 32-34. 13 /. Mikó, Huszonkét év. Az Erdélyi magyarsâg politikai tôrténete 1918 december 1-töl 1940 augsztus 30-ig [Zweiundzwanzig Jahre. Politische Geschichte der magyarischen Volksgruppe in Siebenbürgern vom 1. Dezember 1918 bis zum 30. August 1940], Budapest 1941. 14 S. Dragomir, La Transylvanie roumaine et ses minorités ethniques, Bucarest 1934, S. 97; Z. Sträjanu, Cultele minoritare în Transilvania [Die konfessionellen Minderheiten in Siebenbürgen], in: Transilvania, Benatul, S. 835.

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katholischen Glauben) bei der Verteilung u n d Rückgabe des Grundeigentums, was zu berechtigten Protesten seitens der nationalen Minderheiten führte. Die zweite Phase der rumänischen Minderheitengesetzgebung, in der sich der Staat nachgiebiger zeigte, begann in den Jahren 1938-1939 in einem allgemeinen, für Rumänien immer bedrohlicher werdenden politischen Zusammenhang. Ausgangspunkt war die Einrichtung des allgemeinen Minderheitenkommissariats am 1. Mai 1938, d.h. noch vor der tschechoslowakischen Krise 15 . Der Zweck des neuen Organs, das die A n w e n d u n g aller in Geltung befindlichen Gesetzesbestimmungen, die die Minderheiten betrafen, überwachen sollte, bestand darin, die Interessen der Minderheiten u n d die des rumänischen Staates miteinander in Einklang zu bringen. Daß dieses Kommissariat v o n einem der wichtigsten Vertreter des kulturellen Lebens des Landes [Silviu Dragomir, Professor für Geschichte an der Universität Cluj; Anm. des Übers.], geleitet wurde, belegt ebenfalls den aufrichtigen Willen zur Aussöhnung seitens der Behörden. Zu einem weiteren Schritt in diese Richtung kam es i m August 1938 mit der Veröffentlichung des Minderheitenstatuts, das eine Reihe grundsätzlicher Klärungen u n d praktischer Hinweise zur Lösung einiger Streitpunkte zwischen der rumänischen Regierung u n d den Minderheiten enthielt 1 6 . I n diesem Geist der Annäherung w u r d e n alle Streitigkeiten mit der deutschen Minderheit insbesondere bezüglich der Auslegung einiger Gesetze beigelegt 17 . Die Verhandlungen des rumänischen Ministeriums für die Nationalitäten mit magyarischen Abgeordneten haben - w i e eine summarische Bilanz zeigt - sow o h l i m kirchlichen (Anerkennung der reformierten Diözese Oradea [Großwardein], Recht auf Versammlungsfreiheit der Kirchenorgane trotz des verhängten Ausnahmezustands, Zugeständnisse an die römisch-katholischen Glaubensgemeinden) w i e i m schulischen Bereich zu wichtigen Ergebnissen geführt. D e n konfessionellen Grundschulen wurde beispielsweise eine finanzielle Unterstützung v o n jährlich 20 Millionen Lei gewährt, u n d nach dem neuen Grundschulgesetz konnten die Eltern selbst über die ethnische Zugehörigkeit ihrer Kinder entscheiden u n d die Schule frei wählen. Dasselbe Gesetz berücksichtigte bei der Organisation der Sekundärschulen auch die berechtigten Beschwerden bezüglich der Reifeprüfung u n d andere Forderungen v o n Seiten der Magyaren 1 8 . Ungelöst blieben die Probleme der politischen Betätigung (nach Errichtung der 15

P. Bänescu, Le nouveau régime des minorités en Roumanie, in: Revue de Transylvanie, IV (1938), 3-4, S. 335-346. 16 1. Mikó , A roman kisebbségi Statutum [Das rumänische Minderheitenstatut], Cluj / Kolozsvâr 1930, S. 14-16. 17

V. Lorenz, Die Rechtslage der deutschen Volksgruppe in Rumänien. Vom Weltkrieg bis 1940, in: Volk in Osten, (1941), 1-2, S. 2-9; C.R. Zach, Schwerpunkte siebenbürgisch-sächsischer Beziehungen zum rumänischen Staat, 1920-1930, in: Ungarn Jahrbuch, XVI (1988), S. 72-81. 18

S. Dragomir, La politique de la Roumanie à l'égard des minorités ethniques. Discours prononcé à la Chambre des députés le 18 avril 1940, in: Revue de Transylanie, VI (1940), 3, S. 145-159.

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„Königsdiktatur" i m Februar 1938), der Kooperativen, der Enteignung des Grundbesitzes i n der Ciuc-Gegend u n d in anderen Gebieten. I m Gegensatz zu diesen direkten Zugeständnissen führte die neue Verfassung v o n 1938, die das parlamentarische System in Rumänien faktisch aufhob, zwei Kategorien v o n Bürgern ein. Sie unterschied nämlich zwischen mit umfangreichen Rechten ausgestatteten Volksrumänen u n d rumänischen Staatsbürgern, zu denen selbstverständlich die Angehörigen der nationalen Minderheiten zählten. Abgesehen v o n diesen Beschränkungen u n d diskriminierenden Bestimmungen i n den Verfassungsgesetzen u n d in der einfachen Gesetzgebung verlief der Alltag der rumänischen, magyarischen u n d deutschen Bevölkerung normal u n d ohne außergewöhnliche Spannungen, w i e die überraschend hohe Zahl v o n Mischehen in Stadt u n d Land 1 9 u n d das friedsame Zusammenleben i n Hunderten v o n Gemeinden mit rumänisch-magyarischer, rumänisch-deutscher oder rumänisch-deutsch-magyarisch-jüdischer Bevölkerung beweist. Es handelte sich dabei u m häufig sehr kleine Dörfer mit weniger als 600 Einwohnern u n d mit vier oder fünf Kirchen unterschiedlicher Konfession, w o das Gemeindeland in harmonischer Übereinstimmung gemeinsam verwaltet wurde u n d man die unterschiedlichen Festtage u n d Traditionen gegenseitig respektierte. Dieser grundlegende Aspekt des gesellschaftlichen Zusammenlebens in Siebenbürgen darf ebensowenig vergessen werden w i e die konkreten, schwerwiegenden Probleme zwischen den Völksgruppen, mit denen sich die rumänische Gesetzgebung in der Zwischenkriegszeit auseinanderzusetzen hatte u n d die sie bei allem unvermeidlichen Zögern erfolgreich oder weniger erfolgreich zu regeln versuchte. Wir sind fest davon überzeugt, daß die Antwort des rumänischen Staates auf dieses Problem, auch unter Beachtung der veränderten Zeitumstände, großzügiger gewesen ist, als die des ungarischen Staates gegenüber der rumänischen Mehrheit Siebenbürgens vor 1918. Womit nicht gesagt sein soll, daß die rumänischen Maßnahmen i m Vergleich zu den in den westlichen Demokratien geltenden Bestimmungen nicht verbesserungsbedürftig waren oder dies aus der Perspektive eines gemeinsamen europäischen Hauses, dessen Errichtung unserer Generation obliegt, in einem u m so stärkeren Maße sind.

19 Zwischen 1920-1937 haben in den siebenbürgischen Städten 69,1% der rumänischen Männer rumänische Frauen geheiratet; 23,3% haben magyarische und 5,8% deutsche Frauen geheiratet. Der Prozentsatz der magyarischen Männer, die Frauen einer anderen Nationalität geheiratet haben, liegt bei 17,7%, der Prozentsatz der deutschen Männer bei 28,9%. Für die Frauen ergeben sich folgende Zahlen: 17,6% der rumänischen Frauen haben Männer einer anderen Nationalität geheiratet, von den magyarischen Frauen waren es 28,9% und von den deutschen Frauen 29,9%. Vgl. P. Rämneam}u, Problema cäsätoriilor mixte in orasele din Transilvania în perioada de la 1920-1937 [Die Frage der Mischehen in den siebenbürgischen Stäten zwischen 1920 und 1937], Cluj 1939; Gh. Iancu, Vorläufige Betrachtungen hinsichtlich Rumäniens und der Frage der nationalen Minderheiten (1918-1928), in: Transylvanian Review, 1 (1992), S. 60-86.

Die politische Theorie und Tätigkeit Josef Wilfans Von Jo2e Pirjevec

Josef Wilfan begann mit seiner politischen Tätigkeit 1906 i m Alter v o n nur 28 Jahren, als er zum Sekretär der Vereinigung Edinost (Union) gewählt wurde, in der sich das reiche kulturelle, wirtschaftliche u n d politische Leben der Slow e n e n in Triest widerspiegelte. Zu Beginn des Jahrhunderts hatte er an der Universität W i e n in Jurisprudenz promoviert u n d in Pula u n d Triest in einigen bekannten Rechtsanwaltbüros mit der Anwaltslaufbahn begonnen. Aufgrund des väterlichen Berufs hatte er nicht nur das Küstenland, sondern auch Krain u n d Dalmatien kennengelernt, so daß er v o n seiner Jugend an fließend Slowenisch, Serbokroatisch, Italienisch u n d Deutsch sprach 1 . Es handelte sich bei i h m also u m einen typischen Vertreter der slawischen Intelligenz zur Zeit der Habsburgermonarchie, in der bei aller Unzulänglichkeit die Sicherheit des Rechts als ein wichtiges soziopolitisches Element gegeben war. Seine mit dem Volkszählungskonflikt v o n 1910 in Triest zusammenhängenden Initiativen, die mit diesem Aspekt der politischen Kultur in der Habsburgermonarchie verbunden waren, gehören mit zu seinen wichtigsten Aktivitäten aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Vor dem Hintergrund der heftigen nationalen Konflikte i n der Hafenstadt bot die Volkszählung offensichtlich eine wichtige Gelegenheit, u m sich der ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung in der Stadt u n d in seinem Hinterland zu vergewissern. Der v o n den Behörden vorbereitete Fragebogen war i m übrigen nicht eindeutig, sollte der Befragte doch nicht seine Nationalität, sondern seine Umgangssprache angeben. Daraus ließen sich natürlich willkürliche Schlüsse ziehen, da vieles v o n der Interpretation der Behörden abhing. Weil die Triester Stadtverwaltung aufgrund des dort gültigen Wahlgesetzes v o m irredentistischen Großbürgertum beherrscht war, konnte es passieren, daß die Antworten v o n Slowenen, die in einem italienischen Umfeld arbeiteten, amtlicherseits unter dem Vorwand korrigiert wurden, Slowenisch könne nicht ihre Verkehrssprache sein. I m Namen v o n Edinost verfaßte Wilfan gegen diese Verfahrensweise einen so wirkungsvollen Protest, daß die staatlichen Behörden eine Revision der Volkszählung gewährten. Die Ergebnisse waren ermutigend, denn

1 S. Arenko, Ob stoletnici rojstva dr. Josipa Vilfana, Jadranski koledar, 1978, Zalo2niStvo trôaSkega tiska (im folgenden ZTT), Triest 1978, S. 65-74; Spomini dr. Josipa Vilfana, Jadraski koledar, 1980, ZTT, Triest 1980, S. 169-189.

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n u n zeigte sich, daß in Triest fast 60.000 Slowenen lebten, während die städtischen Behörden nur 37.000 angegeben hatten 2 . Für Wilfan war dies ein persönlicher Erfolg, der sein Vertrauen in den Rechtsstaat bestätigt sah. Bereits zu dem Zeitpunkt, zu dem man sich Triest noch zu Recht als eingebunden in sein slowenisches Hinterland vorstellen konnte, meinte er, daß sich unter Anerkennung der kulturellen u n d politischen Identität der Minderheiten die Beziehungen zwischen ihnen u n d der Mehrheit auf gerechte u n d zivile Weise regeln ließen. Wilfan leugnete nicht den entschieden italienischen Charakter der Stadt, wandte sich aber gegen die Irredentisten, indem sie alleine über sie herrschen wollten u n d damit die Rechte des zweiten einheimischen Elements, d.h. der Slowenen, mißachteten 3 . Als gegen Kriegsende deutlich wurde, daß der unvermeidliche Zusammenbruch des Habsburgerreiches das Problem der Staatsgrenzen zwischen Italien u n d Slawien aufwerfen würde, beteiligte sich Wilfan selbstverständlich an den aufkommenden Debatten. Er war der Ansicht, Triest müsse aufgrund seiner geographischen Lage dem künftigen jugoslawischen Staat angehören, der sich jedoch seinerseits verpflichtet hätte, die Rechte der italienischen Minderheiten zu garantieren. Wilfan hielt daran auch nach dem 13. November 1918 fest, nachdem die Stadt u n d das Küstenland v o m italienischen Heer besetzt worden waren u n d die römische Regierung sie auf der Basis des Londoner Vertrages v o n 1915 für Italien einforderte. I n den folgenden Monaten, als auf der Pariser Friedenskonferenz zu dieser Frage ein heftiger diplomatischer Streit zwischen Italienern u n d Jugoslaw e n ausbrach, strebten die Slowenen in dem umstrittenen Gebiet, das zwischenzeitlich den neuen Namen Julisch-Venetien erhalten hatte, eine Volksabstimmung an, denn sie waren überzeugt, daß sie zusammen mit den Kroaten eine zumindest knappe zahlenmäßige Mehrheit erlangen würden. Es handelte sich dabei selbstverständlich u m illusorische Hoffnungen, die das ungleiche Kräfteverhältnis zwischen Italien u n d dem neuen Königreich der Serben, Kroaten u n d Slowenen nicht gebührend berücksichtigten u n d auch nur recht vage u n d ohne wirklichen Einsatz ausgedrückt wurden, w e i l man meinte, der Streitfall müsse v o n den „zuständigen Stellen", d.h. v o n den Regierungen i n Rom u n d Belgrad, entschieden werden. Als somit i m November 1920 der Vertrag v o n Rapallo die Grenze zwischen Italien u n d dem Reich der Serben, Kroaten u n d Slowenen zum klaren Nachteil für die Slowenen festlegte, fügten sich Wilfan u n d die anderen in Italien verbliebenen Führer der Volksgruppe widerspruchslos in dieses Ergebnis. Wilfan betonte nur, daß Rapallo zwar den Adria-Konflikt, aber nicht das Adria-Problem gelöst habe, u n d daß es nunmehr darauf ankäme, sich für den Erhalt der nationalen Identität der in Italien verbliebenen Slowenen u n d Kroaten (insgesamt ungefähr 400.000) einzusetzen - in der Hoffnung, daß die Normalisierung der Beziehungen zwischen Italienern u n d Slawen u n d eine Bewußtseinsreifung in einer nicht näher bestimmten Zukunft zur Festlegung

2 B. MaruSiö , Ζ zlatini Crkami. Zivjljenske usode in delo velikih primordkih moi, ZTT, Triest 1987, S. 133; Spomini, S. 179. 3 Ebd.

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einer gerechteren Grenze zwischen den beiden Staaten führen würde 4 . Solche Überlegungen abstrahierten auf jeden Fall völlig v o n der schwierigen Lage, in der sich die Slawen in Julisch-Venetien befanden. Die Besatzungsbehörden verhielten sich ihnen gegenüber mißtrauisch, w e n n nicht gar feindselig; sie versuchten die Intelligenz zu isolieren u n d ihren Einfluß unschädlich zu machen, während sie den nationalistischen u n d faschistischen Kräften, die in Triest bereits 1919 auf ein für sie sehr günstiges Umfeld stießen, weitreichende Handlungsfreiheit ließen. Daß diese Kräfte damals ungestört agieren konnten, zeigte sich i m Juni 1920, als faschistische Kommandos das sogenannte Balkan-Hotel, d.h. das i m Stadtzentrum errichtete „slowenische Volkshaus", in Brand setzten. Wilfan, der i m Volkshaus seine Wohnung u n d sein Büro hatte u n d sich am fraglichen Tag nicht in Triest befand, verlor hier nicht nur seine persönlichen Gegenstände, sondern auch das gesamte Achiv der Edinost. Dieses unbestraft gebliebene Verbrechen vermochte sein Vertrauen in die Möglichkeit eines respektvollen, aber offenen Dialogs mit den staatlichen Behörden allerdings nicht zu erschüttern. Nachdem Wilfan i m Mai 1921 mit vier anderen Slowenen ins römische Parlament gewählt w o r d e n war, ergriff er hier als ihr Sprecher zum ersten Mal am 21. Juni mit einer programmatischen Rede das Wort. Er betonte, daß der Staat die Kollektivrechte der v o n Italien gegen ihren Willen annektierten Slowenen u n d Kroaten zu achten u n d zu garantieren habe; die Slowenen w ü r d e n sich ihrerseits, ohne allerdings auf ihre Irredenta-Forderungen zu verzichten, dem Staat gegenüber loyal verhalten, indem sie, „soweit es ihre Kräfte u n d ihre Sonderstellung zulassen, an der Verwirklichung der Ideale der Humanität, der Kultur, des moralischen u n d materiellen Fortschritts mitwirkten" 5 . Diese Rede, bei der Wilfan auch die während der militärischen Besetzung gegen die slowenische Bevölkerung begangenen Gewalttaten ansprach, gefiel den italienischen Abgeordneten insbesondere auf der Rechten überhaupt nicht, u n d der Ministerpräsident Giolitti beschuldigte ihn der Verunglimpfung der Streitkräfte. A n diesem Punkt versuchte Wilfans Parlamentskollege u n d Priester Virgilij Siek aus Görz die Gemüter zu beschwichtigen, indem er die Minderheit diplomatisch als eine Brücke bezeichnete, die die beiden Völker u n d Staaten miteinander verbände. Diese Stellungnahme verzieh Wilfan dem Görzer Abgeordneten für lange Zeit nicht, denn er meinte, dieser sei i h m damit i n den Rücken gefallen. Den beiden politischen Orientierungen der Slowenen in Italien, d.h. der liberalen i n Triest u n d der katholischen in Görz, gelang es trotz der schlechten Lebensbedingungen der Volksgruppe nicht, in einer einzigen politischen Bewegung zusammenzuarbeiten. So spaltete sie sich bereits ein Jahr später in zwei auch territorial geteilte Strömungen auf, die sich durch die unterschiedliche Persönlichkeitsstruktur ihrer Führer, durch ideologische Meinungsverschiedenheiten u n d durch ihre taktischen Vorstellungen hinsichtlich des Verhältnisses zum Staat auszeichneten. Während die eher pragmatischen Görzer den Dialog,

M. Kacin-Wohinz, Primorski Slovenci pod italijansko zasedbo, Zaloiba Obzorja, Maribor, ZTT, Triest 1972, S. 388. 5 Ebd.

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ja eine Zusammenarbeit mit den politischen Kräften Italiens und vor allem mit dem Partito popolare v o n Luigi Sturzo für zweckmäßig hielten, waren die Triestiner der Meinung, daß die Minderheit sich nicht auf das politische Spiel der italienischen Parteien einlassen, sondern für sich bleiben u n d den Staat zum einzigen Gesprächspartner wählen solle. U m Utopie handelte es sich in beiden Fällen, denn weder die staatlichen Behörden noch die verschiedenen politischen Kräfte (abgesehen v o n der Linken) sahen in der Minderheit ein mit spezifischen Rechten auszustattendes politisches Subjekt. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang die Sichtweise des Unterrichtsministers Anile u n d Mitglied des Partito popolare , der i m April 1921 in einem Gespräch mit Wilfan folgende Bemerkung gemacht hatte: „Ihr Slowenen seid zu einer höheren Kultur, also nicht zum Schlechten, sondern zum Guten verurteilt, u n d deshalb gebt's auf". 6 Gegenüber dieser Denkungsart verwies Wilfan seinerseits auf die Überlegenheit der Slowenen, die unter dem Einfluß der i m Vergleich zu Italien weiter entwickelten österreichisch-ungarischen Kultur gestanden hätten. I m übrigen warfen i h m die Faschisten häufig eine „österreichische Mentalität" vor, denn sie ertrugen seine Hartnäckigkeit nur schlecht, mit der er sich inner- u n d außerhalb des Parlaments für die auf lokaler Ebene zahlreichen Willkürmaßnahmen unterworfene slowenische Minderheit einsetzte. I m März 1922 untersagten die triestinischen Richter beispielsweise den Gebrauch des Slowenischen bei Gerichtsverhandlungen, wogegen Wilfan erregt, aber vergeblich protestierte. Nach Mussolinis Machtergreifung vermeinte er irrtümlicherweise bei einer starken Zentralregierung den Schutz finden zu können, den die Lokalbehörden nicht garantieren konnten oder wollten. A m 17. November 1922 brachte er i m Parlament einen Antrag ein, w o r i n er unter dem Hinweis, daß die bisherige Politik den Staatsinteressen widersprochen habe, die Regierung aufforderte, „ihre Gesetze einzuhalten u n d deren Einhaltung zu verlangen". Auf andere Weise, mit Brandlegungen, Mißhandlungen u n d Rizinusöl mache man aus den Slowenen keine guten Staatsbürger. Mussolini antwortete lapidar: „Wir sind auf dem Schneeberg u n d werden dort auch bleiben", doch ansonsten schien er nicht ganz unempfänglich für Wilfans Appell gewesen zu sein 7 . Einige Tage später empfing er Wilfan zu einem Gespräch, das dieser in einem Anflug v o n Optimismus als „historisch" bezeichnete, w e i l er aus den Worten seines Partners das Versprechen einer gerechteren Behandlung herauszulesen vermeinte. Wilfan legte bei dieser Gelegenheit kurz seine Vorstellungen darüber, w i e eine Minderheit behandelt werden sollte, dar: Die sprachlichen u n d kulturellen Rechte sowie die Vereinigungsfreiheit seien zu wahren, u n d denjenigen, die man zur Emigration gezwungen habe, sei die Rückkehr zu ermöglichen. All dies faßte er unter dem lateinischen Motto „nihil de nobis sine nobis" zusammen. Der Minderheit als einem politischen Subjekt u n d einem gleichberechtigten Gesprächspartner des Staates stellte Mussolini ein bescheideneres Konzept gegenüber, dem Wilfan

6 M. Kacin-Wohinz, Narodnoobrambno gibanje primorskih Slovencev ν letih 192128, Zalofcba Lipa, Köper, ZTT, Triest 1977, S. 118. 7

Ebd., I, S. 235.

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angesichts der äußerst schwierigen Lebensbedingungen der Slowenen in JulischVenetien eine gewisse Perspektive abzugewinnen vermochte. Mussolini hielt die Assimilation für unvermeidlich, w o b e i er betonte, daß „unsere dreitausendjährige Kultur alle besiegt hatte, abgesehen v o n den Juden, die gerade deshalb 2000 Jahre lang leiden mußten". Aber gerade w e i l Italien sich stark fühle, habe es keine Angst vor den Slawen; deshalb, aber auch aus außenpolitischen Gründen wünsche es sich keine gewaltsame Assimilation 8 . Trotz dieser halben Zusagen änderte sich in Julisch-Venetien nichts, so daß sich Wilfan verbittert u n d enttäuscht auch i m Parlament dem faschistischen Regime gegenüber immer ablehnender verhielt. Während der parlamentarischen Debatte über das Gesetz Acerbo, das im Juli 1923 verabschiedet wurde u n d mit dem Mehrheitswahlrecht die faschistische Partei bevorteilte, brachte er einen Antrag ein, der gewisse Garantien für die Minderheiten vorsah, damit sie in jedem Fall eine parlamentarische Vertretung bekommen. Was er v o n dem Regime hielt, zeigt sich an seiner mutigen Äußerung, daß man sich v o n keiner Regierung, die durch Gewaltanwendung an die Macht gelangt sei u n d sich durch sie an der Macht halte, gewaltfreie Wahlen eiwarten dürfe. Trotz dieser offenen Kritik zog sich Wilfan auch im Juni 1924, als die Matteotti-Krise das Regime tief erschütterte, mit den Oppositionskräften nicht auf den Aventin zurück. Er blieb zusammen mit seinem Görzer Kollegen Besednjak u n d den Abgeordneten der deutschen Minderheit i m Parlament, einerseits und vor allem, w e i l er die Krise für eine inneritalienische, die Minderheiten nicht berührende Angelegenheit hielt, andererseits aber aus Protest gegen die Oppositionsparteien, die ihre „fremdsprachigen" Kollegen vorher nicht über ihren Schritt unterrichtet hatten. Hinzu traten rein taktische Gründe: „Uns, kleinen Minderheiten steht die Rolle des Esels zu, der sich erlauben kann, dem Löwen einen Tritt zu versetzen, erst w e n n dieser i m Sterben liegt". Seiner Meinung nach war es sogar noch besser, w e n n dieser bereits tot war 9 . Diese opportunistische Haltung hinderte ihn jedoch nicht daran, während der Matteotti-Krise die Anklagen des sozialistischen Abgeordneten gegen das Regime wiederaufzugreifen, wobei er die These bekräftigte, daß Italien i m Namen der Zivilisation, aber auch aufgrund seines guten internationalen Rufes die Minderheiten gerechter behandeln müsse. I n einer Resolution v o m 13. Juni forderte Wilfan die Regierung auf, zugunsten der slawischen u n d deutschen Minderheit jene Maßnahmen zu ergreifen, die zwei Konferenzen der Internationalen Union für den Völkerbund bzw. der Interparlamentarischen Union 1922 in Prag u n d 1923 in Kopenhagen den v o n den internationalen Minderheitenschutzverträgen nicht gebundenen europäischen Ländern empfohlen hatten 1 0 . Die Resolution gelangte nicht zur Abstimmung, w e i l der Präsident der Abgeordnetenkammer sie der Versammlung nicht vorlegte u n d Wilfan in jener wirren u n d spannungsreichen Situation es nicht für angebracht hielt, auf ihr zu beste8

Ebd.

9

Ebd., II, S. 400.

10

Ebd., II, S. 395.

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hen. Sie ist allerdings insofern interessant, als sie zeigt, w i e sehr er nunmehr davon überzeugt war, daß es sich bei dem Minderheitenproblem nicht nur u m ein italienisches, sondern u m ein europäisches Problem handelte, das folglich auf internationaler Ebene zu diskutieren und zu lösen sei. I m Jahr 1925 setzte sich Wilfan nachhaltig für die Einberufung eines Kongresses der nationalen Minderheiten nach Genf ein u n d wurde zum Präsidenten des Exekutivkomitees gewählt. Er blieb zwölf Jahre in diesem Amt u n d entfaltete dabei eine unermüdliche publizistische u n d organisatorische Tätigkeit. Nicht nur bereitete er die jährlichen Kongresse vor, vielmehr arbeitete er auch eine Reihe v o n Richtlinien zum Minderheitenschutz aus, mit denen er die europäische Rechtslehre bereicherte. Er ging v o n der typisch romantischen Vorstellung aus, die europäische Kultur sei vielstimmiger Ausdruck der verschiedenen Völker, denen über die sie trennenden Staatsgrenzen hinweg ermöglicht werden sollte, sich frei u n d vollständig auszudrücken. Sein weitgespanntes Konzept der „Volksgemeinschaft" umfaßte alle Teile des Volkskörpers, d.h. auch diejenigen, die in fremdnationalen Staaten lebten, u n d sah Organisationsstrukturen vor, die ihr politisches, wirtschaftliches u n d kulturelles Wachstum förderten. Er ermahnte die Minderheiten, gegenüber den Staaten, in denen sie lebten, Loyalität zu üben, forderte v o n diesen aber auch, die Minderheiten zu respektieren. Zu diesem Zweck befürwortete er die Errichtung eines internationalen Organs, der die Regierungen kontrollieren u n d gegebenenfalls zur Ordnung rufen sollte, u m auf diese Weise in Europa ein Klima des gegenseitigen Vertrauens u n d des wirklichen Friedens zu schaffen 11 . Seine Überlegungen zu den Minderheitenrechten waren zweifellos durch die negativen Erfahrungen in Italien bestimmt, w o sie mit zunehmender Festigung des Regimes immer mehr mißachtet wurden. Die Behörden begannen die Familiennamen zu italianisieren, die Schulen zu schließen, die Kulturvereinigungen aufzulösen u n d die Zeitungen zu verbieten, bis 1927 schließlich die Edinost behördlich aufgelöst wurde. I n einem derart spannungsgeladenen Klima - auf Wilfan selbst w u r d e ein Attentat ausgeübt, u n d er wurde zweimal verhaftet gab es in Italien nunmehr keinen legalen Handlungsspielraum mehr. Ein letztes heftiges Gespräch führte er mit Mussolini am 25. September 1928; einige Tage später wanderte er endgültig nach Wien aus, w o er seine Arbeit i m Minderheitenkongreß weiterführte 1 2 . Trotz allem bewahrte er sein Vertrauen in die Kräfte der Vernunft, denen der Aufbau einer öffentlichen Meinung in Europa gelingen würde, die fähig wäre, die einzelnen Regierungen und ihre Politik zu beeinflussen. I n slowenischen Kreisen Julisch-Venetiens traten jedoch schon seit längerem Gruppen v o n Jugendlichen gegen ihn auf, w e i l sie davon überzeugt waren, daß man auf die faschistische Gewalt mit Gewalt antworten müsse. Ende der 20er Jahre entstand eine Untergrundorganisation, die Terroranschläge - zumeist

11 J. Wilfan, Die Organisierung der Volksgemeinschaft, in: Nation und Staat, VII (1932), S. 445-464. 12 M. Kacin-Wohinz , Narodnoobrambno gibanje primorskih Slovencev, II, S. 458.

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demonstrativer Natur - gegen das Regime verübte. Die Geheimpolizei kam ihr jedoch i m Frühjahr 1930 auf die Spur. I m September 1930 fand in Triest vor einem Sondergericht für die Staatsverteidigung, dem „Tribunale speciale per la difesa dello Stato", ein spektakulärer Prozeß statt, der unter anderem mit vier Todesurteilen endete. Die jungen Verurteilten w u r d e n am 6. September als Verräter i m unweit v o n der italienisch-jugoslawischen Grenze gelegenen Basovizza u n d zur Mahnung an die gesamte slawische Bevölkerung Julisch-Venetiens durch einen Schuß in den Rücken hingerichtet. „Wir haben weiteres Blei für weitere Rücken", kommentierte Mussolini 1 3 . I n jenen Tagen befanden sich Wilfan u n d sein Görzer Kollege Besednjak i n Genf auf einer Tagung der europäischen Minderheiten. Obgleich Wilfan vereinzelte Kontakte zu Gruppen des bewaffneten Widerstands hatte, betrachtete er die Gewaltanwendung zu keinem Zeitpunkt als ein geeignetes Mittel zur Lösung der Minderheitenprobleme; allenfalls hielt er sie für nützlich, u m die Aufmerksamkeit der öffentlichen Meinung auf besonders unerträgliche Situationen zu lenken. I n einer aus diesem Anlaß zusammen mit Besednjak verfaßten Denkschrift blieb er seinen Überzeugungen treu, versuchte allerdings zu erklären, w a r u m die Slowenen, die in der Vergangenheit niemals auf Gewaltaktionen zurückgegriffen hatten, n u n zum bewaffneten Kampf übergegangen seien. Nicht nur hob er hier die Verzweiflung eines auf bisher beispiellose Weise unterdrückten Volkes hervor, sondern führte auch die seit einem Jahrzehnt systematisch ausgeübte Gewaltherrschaft des Faschismus an. „Eine vergiftete Atmosphäre, in der die Grenze zwischen Recht und Unrecht, zwischen verdienstvoller Tat und Verbrechen verschwunden ist, herrscht schon seit zehn Jahren in Julisch-Venetien. Muß es also verwundern, wenn die These von der Legitimität des ethnisch begründeten Verbrechens auch bei einzelnen Individuen aus der jugoslawischen Bevölkerung auf fruchtbaren Boden gefallen ist ...?"14. Trotz allem blieb Wilfan seinem Konzept des legalen Kampfes zur Verteidigung der Minderheiten treu. Er war davon überzeugt, daß ein solcher Kampf nur wirkungsvoll sei, w e n n sich in Europa das Bewußtsein über dieses Problem ausbreitete. Bis 1938 arbeitete er i m Rahmen des Minderheitenkongresses weiter u n d drückte in Artikeln, Beiträgen u n d Vorträgen seine Meinung aus, die jedoch angesichts der Verletzung elementarster Menschenrechte durch die totalitären Staaten immer abstrakter oder, w i e er selbst einmal meinte, „akademischer" wurde. Als Kind einer anderen Zeit, in der Recht u n d Rechtsstaatlichkeit noch keine leeren Wörthülsen waren, verstand er den neuartigen Charakter der zeitgenössischen Barbarei nicht mehr. I n der Überzeugung, daß man langfristig denken u n d der graduellen Entwicklung der europäischen Gemeinschaft vertrauen müsse, Schloß er sich immer mehr in seine Welt ein u n d zog sich in seine

13 M. Kacin-Wohhinz, Prvi antifaSizem ν Evropi, Primorska 1925-1934, Zalo2ba Lipa, Köper 1990, S. 311; J. Pirjevec, Pagine di storia dell'antico fascismo sloveno. I fucililati di Basovizza del settembre del '30, in: Qualestoria, IX (1. Februar 1981), S. 45-60; C. Gatterer; Im Kampf gegen Rom, Wien / Frankfurt / Zürich 1968, S. 538-541. 14

M. Kacin-Wohinz, Prvi antifaSizem ν Evropi, S. 313.

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Studien zurück. Seine Gedanken über die alle Staatsgrenzen überschreitende Würde des Menschen auch als Mitglied einer sprachlichen-ethnischen Familie, ferner über die Notwendigkeit einer für den Minderheitenschutz offenen Kultur, über die Nützlichkeit einer Charta der Minderheitenrechte u n d eines internationalen Organismus, der ihre Anwendung auf dem gesamten europäischen Kontinent kontrolliert, bleiben auch in unseren Tagen äußerst aktuell.

Der griechisch-bulgarische und griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch in den zwanziger Jahren Von Teodor Dimitrov

Die Minderheiten lassen sich sowohl als Brücke w i e auch als Klüfte zwischen den Staaten u n d Völkern betrachten. Sie gehören mit zu den wichtigsten Gründen, aus denen die Kriege des 20. Jahrhunderts hervorgegangen sind. Zu den Typologien, die dieses komplexe Phänomen konstituieren, gehört auch der Bevölkerungsaustausch, der v o n angrenzenden Ländern als Mittel der ethnischen Säuberung benutzt wurde. In dieser Hinsicht sind die Ereignisse der Zwischenkriegszeit in der Balkanregion sehr bedeutsam. Der Bevölkerungsaustausch führte das Prinzip des Minderheitenschutzes einer radikalen Lösung zu, insofern er auf die nationale Homogenität mittels der Verschiebung der Minderheitengruppen abzielte. Unter all den „Lösungen" der Minderheitenfrage, so die Assimilierung, die Kolonisierung, der Genozid, schien der gegenseitige Bevölkerungsaustausch bzw. die einseitige Rückführung vor allem in der unmittelbaren Nachkriegszeit noch am „annehmbarsten" zu sein. Die Idee eines Bevölkerungsaustausches unter angrenzenden Ländern scheint türkischen Ursprungs zu sein. Die v o n Abdül Hamid u n d den Jungtürken eingeleitete Osmanisierungspolitik kam erstmals i m türkisch-bulgarischen Vertrag v o n Konstantinopel v o m 16.-29. September 1913 zur Anwendung; der Austausch betraf Muslims u n d Bulgaren, die einen 15 Kilometer breiten Streifen entlang der türkisch-bulgarischen Grenze bewohnten. Allseits wurde diese als „freiwillig" bezeichnete Emigration allerdings als „Zwangsemigration" verstanden. Insgesamt zogen 9.472 bulgarische Familien (49.000 Personen) aus dem östlichen Thrakien nach Bulgarien u n d 9.714 türkische Familien (ungefähr 49.000 Personen) in die Türkei. Eine gemischte türkisch-bulgarische Kommission mit Sitz i n Adrianopel (Edirne) sollte die Evakuierung u n d die Auszahlung des verlassenen Eigentums überwachen. Insbesondere interessiert hier jedoch der Bevölkerungsaustausch, der auf multilateraler diplomatischer Ebene entschieden und dessen Durchführung v o n einer internationalen Organisation, in diesem Fall dem Völkerbund, übernommen wurde. Zwei rechtliche Instrumente regelten diesen Vorgang in der Balkanregion: 1. die am 27. November 1919 in Neuilly-sur-Seine unterzeichnete Konvention zwischen Griechenland u n d Bulgarien über die gegenseitige freiwillige Emigration der ethnischen Minderheiten;

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2. die am 30. Januar 1923 in Lausanne unterzeichnete griechisch-türkische Konvention über den Bevölkerungsaustausch mit dem dazugehörigen Protokoll. Es sei daran erinnert, daß die albanesische Erklärung v o m 2. Oktober 1920 z u m Minderheitenschutz ebenfalls einen Bevölkerungsaustausch vorsah. Die Idee des Bevölkerungsaustausches wurde mit der schlechten, für die Minderheiten unerträglichen Behandlung u n d mit den bestehenden Spannungen zwischen den Staaten begründet, die den jeweiligen Minderheiten i n ethnischer Hinsicht nahestanden. Der Wunsch nach nationaler Homogenität besaß einen Zug v o n Rationalität, der aufgrund seiner unbedingten Absolutheit fürchterliche Folgen zeitigte. Es ist das Denken in quantitativen Größen, das i m 20. Jahrhundert - angewandt auf die nationalen Minderheiten - zum Genozid u n d zum Bevölkerungsaustausch geführt hat. Lebensnotwendigkeiten u n d Lebensqualität, Lebensformen u n d ihre Strukturen blieben in einem solchen Zusammenhang unberücksichtigt. Wilhelm Röpke hat die Verheerungen des auf die Außenpolitik angewandten Rationalismus w i e folgt charakterisiert: „Wie in der inneren Politik, so hat der Rationalismus auch in der äußeren seine weithin sichtbaren Verheerungen angerichtet. Hier ist unter anderem sein Unvermögen auffällig, den lebendigen Wert der Nation aus jenen Untergründen zu erkennen, deren Entdeckung wir der Romantik und ihren Vorläufern (Vico, Montesquieu und Herder) verdanken. Daher die unverbesserliche Neigung des Rationalisten zu Staatenkonstruktionen mit Atlas und Lineal, seine Verachtung für nationale Sprach- und Kulturunterschiede und für die Kleinstaaten im besonderen und schließlich auch sein mangelhaftes Verständnis für die nationale Vielfalt Europas" 1. Der Bevölkerungsaustauch vollzog sich: a) auf freiwilliger Basis, w i e i m griechisch-bulgarischen Fall; b) obligatorisch als erzwungene ethnische Säuberung w i e i m Fall der griechisch-türkischen Bevölkerungsgruppen unmittelbar i m Anschluß an den griechisch-türkischen Konflikt v o n 1922. Unabhängig v o n der Art des Bevölkerungsaustausches bedurfte die Verhandlungsaufnahme einiger Voraussetzungen: a) die Zahl der auszutauschenden Bevölkerungsteile mußte annähernd gleich sein; b) die beiden Länder mußten über genug Land vefügen, w o die Einwanderer angesiedelt werden konnten; c) mußten ausreichende finanzielle Mittel zur Verfügung stehen, u m die Ansiedlung der Einwanderer sicherzustellen u n d u m ihre Verluste abzugleichen; d) sollte ein internationales Organ den Austausch i n rechtlicher, wirtschaftlicher u n d humanitärer Hinsicht kontrollieren. 1

W. Röpke, Die Gesellschaftskrisis der Gegenwart, 5. Aufl., Erlenbach / Zürich 1948, S. 86.

Der griechisch-bulgarische und griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch

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Die griechisch-bulgarische Auswanderungskommission war unter der Kontrolle des Völkerbundes v o n 1920 bis 1930 tätig. Die erklärtermaßen „unabhängige" griechisch-türkische Kommission war ebenfalls zehn Jahre lang, v o m 30. Januar 1923 bis zum Oktober 1934, aktiv. Existenz u n d Tätigkeit der beiden Kommissionen fielen nicht genau mit der Phase des Bevölkerungsaustausches zusammen. So begann der griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch i m November 1923 u n d endete im Dezember 1924. Die beiden ethnischen Säuberungsprozesse (auf freiwilliger Basis i m griechisch-bulgarischen Fall u n d obligatorisch i m griechisch-türkischen Fall) unterschieden sich sowohl hinsichtlich der Grundsätze als auch der Abkommensbestimmungen. Die Optionsmöglichkeit zum Beispiel, die den Angehörigen der bulgarischen Minderheit in Griechenland offenstand, gab es nicht für die Griechen in Kleinasien. Kriterium für die Vertreibung aus der Türkei u n d aus Griechenland war die Religions- und nicht die ethnische Zugehörigkeit, d.h. ausgetauscht w u r d e n eigentlich griechisch-orthodoxe Christen gegen Muslims. Dieses Prinzip ließ sich schwerlich auf Bevölkerungsteile mit einer komplexen Struktur anwenden. So waren die Pomaken Muslims bulgarischer Abstammung u n d Muttersprache, die Muslims v o n Kreta hingegen sprachen griechisch u n d waren hellenischer Abstammung. Das ist der Grund, weshalb man auch versucht hat, die Vertreibung der Muslims aus Westthrakien u n d der Muslims albanischer Abstammung zu vermeiden. Die Einwohner v o n Chamouria i m Bezirk Epirus stellten ein besonders schwieriges Problem dar, insofern sie v o n den epirotischen Griechen abstammten, albanisch sprachen, Muslims waren u n d politisch mit den Türken sympathisierten 2 .

I. Die ethnische Säuberung in Griechenland und in Bulgarien: Tätigkeit der griechisch-bulgarischen Kommission für den Bevölkerungsaustausch Die Ergebnisse der gemischten Kommission für den griechisch-bulgarischen Bevölkerungsaustausch haben zur Herausbildung eines internationalen Modells der freiwilligen Auswanderung beigetragen. Sie sind unter folgenden Gesichtspunkten interessant: a) den Angehörigen der bulgarischen u n d griechischen Minderheiten war ein Optionsrecht vorbehalten; b) die Migration begann parallel zum Inkrafttreten des Minderheitenschutzvertrages in Griechenland; c) das griechisch-bulgarische Protokoll v o m 29. September 1924 (Kalfoff-Politis) übertrug der gemischten Kommission zusätzliche Aufgaben, so die Garantie für eine gerechte Behandlung der Minderheiten u n d die Kontrolle über die A n w e n d u n g des Minderheitenschutzvertrages; 2 A.A. Pallis, Exchange of Populations in the Balkans, in: The Nineteenth Century and After, (März 1925), S. 5.

12 Corsini / Zaffi

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d) schließlich ermöglichte die Stellungnahme des Ständigen Internationalen Gerichtshofes zu einigen Bestimmungen bezüglich griechischer u n d bulgarischer Gemeinschaften, den Rechtsbegriff v o n „Minderheit" zu definieren u n d auszudeuten. Die Kommission setzte sich aus zwei neutralen Mitgliedern (dem neuseeländischen Oberst A.C. Corfe u n d dem belgischen Major Marcel de Roover, auf den später der schweizerische Oberst James de Reynier folgte) u n d je einem Vertreter Griechenlands u n d Bulgariens zusammen. Die Kommission verfügte über ein Sekretariat u n d ein 40köpfiges Hilfspersonal. Alle Ausgaben der Kommissio n w u r d e n v o n Griechenland u n d Bulgarien bestritten. 1922 w u r d e n Unterkommissionen gebildet, die sich der vorliegenden Fälle in technisch-administrativer Hinsicht annehmen sollten. 1926 gab es 11 Unterkommissionen, vier i n Bulgarien u n d sieben i n Griechenland. 1928 wurde die Zahl der Unterkommissionen auf zwei reduziert 3 . Die Kommission erledigte aufgrund der Ausweitung ihres Mandates auf das v o n Griechenland annektierte Westthrakien u n d aufgrund der dreimaligen Verschiebung des Stichtages für die Auswanderung ein unermeßliches Arbeitspensum. Die Propaganda der politischen Parteien, die den Flüchtlingen v o n der Auswanderung abrieten, anstatt sie zur Rückkehr zu bewegen, das Desinteresse der bulgarischen Regierung, die jedem Flüchtling freistellte, ob er sich den Immobilienbesitz v o n der Kommission auszahlen lassen oder die A n w e n d u n g des i n Griechenland noch nicht i n Kraft getretenen Minderheitenschutzvertrages abwarten wollte, die griechische Niederlage in Kleinasien mit dem i m Sommer u n d Herbst 1922 erfolgten Zufluß v o n ungefähr anderthalb Millionen Griechen aus jener Region erschwerten die Lage der bulgarischen Bevölkerung i n Westthrakien u n d Südmakedonien. Der Gastgeberstaat übte einen konsequenten administrativen, politischen u n d psychologischen Druck aus, damit die Minderheiten für die Auswanderung optierten. Die griechischen Flüchtlinge w o l l t e n sich ihrerseits in Athen oder Südgriechenland niederlassen, doch zum Großteil w u r d e n sie gezwungen, die v o n den Bulgaren verlassenen Häuser u n d Ländereien zu übernehmen. Die militärischen Organe u n d die Polizei internierten zahlreiche bulgarische Familien auf Inseln in der Ägäis. Die gesamte griechische Regierungspolitik zielte darauf ab, die bulgarische Bevölkerung zur Auswanderung zu zwingen. Die gemischte Kommission entschied erst nach acht Sitzungen, am 22. September 1923, sich auch der in Westthrakien internierten Bulgaren anzunehmen u n d eine Untersuchung über die Ereignisse in Tarlis einzuleiten. Die Versuche der bulgarischen Regierung, in Dedeagatch u n d Thessaloniki Konsulate einzurichten, lehnte die griechische Regierung ab. 3 Rapports sur les travaux de la Commission mixte d'émigration réciproque et volontaire gréco-bulgare, 1921-1931, in: League of Nations Archives (in der Folge: LNA), C. 186-194.

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Andererseits hielt die griechische Niederlage in Kleinasien die griechische Minderheit i n Bulgarien d a v o n ab, auszuwandern. D i e k o l l e k t i v e n Auswanderungsanträge hörten i m November 1922 auf. I n den folgenden statistischen Daten spiegelt sich deutlich der Druck der Politik u n d der Ereignisse wider. Zahl der von der Kommission Jahr 1921 1922 1923 1924-1925

geprüften

Personen 1.312 1.450 2.695 13.535

Auswanderungsanträge

bulgarische Familien 5.495 6.877 11.962 60.662

Die Zahlen für 1924-25 stellen nach den großen, v o n den Balkankriegen u n d dem Weltkrieg ausgelösten Wanderungsbewegungen v o n 1913, 1919 u n d 1920 einen neuen Höhepunkt dar. Nach Ablauf des letzten für die Auswanderungsanträge gültigen Stichtages übermittelte die griechisch-bulgarische Kommission dem Völkerbundsrat am 1. Januar 1929 die gewissermaßen endgültigen Statistiken: a) 17.347 griechische Anträge, v o n denen 10.783 erledigt w u r d e n (63%); b) 28.660 bulgarische Anträge (11.889 aus Westthrakien u n d 16.771 aus Südmakedonien), v o n denen 19-487 erledigt wurden (68%). Von insgesamt 46.007 Anträgen bearbeitete die Kommission bis zu jenem Zeitpunkt 30.270, unerledigt blieben 15.737 4 . Nach einer auf Chamberlain zurückgehenden Aufforderung des Völkerbundsrats v o m 3. September 1927 klärte die griechisch-bulgarische Kommission i n einer Denkschrift v o m Mai 1929 alle technischen u n d finanziellen Aspekte ihrer Arbeit. Nach den genannten Statistiken nahmen 92.000 Angehörige der bulgarischen Minderheit i n Griechenland u n d 46.000 Angehörige der griechischen Minderheit in Bulgarien das Auswanderungsabkommen in Anspruch 5 . Nach der griechischen Volkszählung v o n 1928 belief sich die Zahl der in Griechenland verbliebenen Bulgaren auf 82.000. Mehrere Tausend Auswandernngsanträge (9.173 v o n bulgarischer u n d 6.564 v o n griechischer Seite) wurden abgelehnt, w e i l sie nicht rechtzeitig eingereicht w o r d e n waren. Die unerledigten Anträge sollten v o n der Kommission in der Zeit v o m Juli 1929 bis September 1931 bearbeitet werden. Der bulgarische Diplomat in Athen I w a n Dantchev schlug i n seinem Bericht v o m 30. April 1929 erfolglos vor, die unerledigten Anträge auf der Grundlage v o n Artikel 13 der Memorandum on the Mission and Work of the Mixed Commission on GrecoBulgarian Emigration, Mai 1929, S. 37. 5

12*

Ebd., S. 32-37.

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Völkerbundssatzung an den Ständigen Internationalen Gerichtshof i m Haag oder an den Völkerbundsrat zu überweisen. Bezüglich der Auszahlung in 50.000 Fällen (die 30.000 bulgarische u n d 20.000 griechische Flüchtlinge betrafen), legte die Kommission folgende Schätzungen vor: a) 21.197.287 Dollar zur Deckung des v o n bulgarischen Flüchtlingen zurückgelassenen Eigentums, b) 10.150.293 Dollar zur Deckung des v o n griechischen Flüchtlingen zurückgelassenen Eigentums. Artikel 19 der Vorschriften über die gegenseitige freiwillige Auswanderung (3. Abschnitt, Rechte u n d Pflichten, Immobilienbesitz der Auswanderer) legte die Grundsätze fest, nach denen der Schutz u n d die Auszahlung der Berechtigten zu erfolgen hatte. Die Auszahlung des v o n der gemischten Kommission festgesetzten Immobilienwertes erfolgte zum Teil in bar u n d zum Teil in Nominalobligationen, die v o n den beiden Regierungen eigens zu diesem Zweck ausgegeben wurden. Die Höhe des bar ausgezahlten Teils deckte i m allgemeinen 10% des Wertes der in Frage kommenden Immobilien. Die Obligationen warfen als Staatspapiere Zinsen ab, u n d zusätzliche Garantien ermöglichten es dem Auswanderer, sie sofort wieder abzustoßen u n d mit dem Erlös seine Ansiedlung i m Bestimmungsland zu finanzieren. Die Währungsumrechnung erfolgte dabei auf der Grundlage des amerikanischen Dollars. Aufgrund der Wertminderung der Obligationen während der Weltwirtschaftskrise erlitten die Auswanderer nachhaltige Verluste. D e n Schutz des Eigentums hatte Artikel 20 der Vorschriften festgelegt: „Aucun candidat-émigrant ne peut etre obligé de quitter le pays ou etre dépossédé de ses biens avant d'avoir reçu le paiement intégral de ceux-ci, dans les formes prévues à l'article précédent". Die Schätzung des Wertes der griechischen u n d bulgarischen Gemeingüter erfolgte auf bilateraler Basis. Daraus ergab sich eine Summe v o n 7.165.252 Dollar zugunsten Bulgariens. 1931, nach 11 jährigen Tätigkeit, legte die griechisch-bulgarische Kommissio n der Vollversammlung des Völkerbundes eine positive Bilanz vor, u n d zum Januar 1932 stellte die Kommission ihre Arbeit ein. Die beiden neutralen Mitglieder der Kommission erstellten einen Sonderbericht für die Minderheitensektion beim Sekretariat des Völkerbundes 6 . 6 PS. Ladas, The Exchange of Minorities: Bulgaria, Greece and Turkey, New York 1932; G.V. Dimitrov , Maltsinstveno-bezhanskiiat vapros ν bulgarsko-grutskite otnosheniia, 1919-1939 [Das Minderheiten- und Flüchtlingsproblem in den griechisch-bulgarischen Beziehungen. 1919-1939], Blagoevgrad 1982; A. Wurfoain, L'échange gréco-bulgare des minorités ethniques, Lausanne 1930; S. Séfériades , L'échange des populations, in: Academie de droit international. Recueil des cours, 1928, S. 311-437; League of Nations, Greek Refugee Settlement, Genf 1926; A. Deimezis, La situation sociale créé en Grèce à la suite de l'échange des populations, Paris 1927; A. Tounda-Fergadi , L'histoire de l'emprunt

Der griechisch-bulgarische und griechisch-türkische Bevölkerungsaustausch

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Π. Der Bevölkerungsaustausch in Verbindung mit dem Minderheitenschutz Die Tätigkeit des Völkerbundes u n d der griechisch-bulgarischen Kommission für die gegenseitige freiwillige Auswanderung ermöglichten Innovationen in der Frage des Minderheitenschutzes. Die alliierten u n d assoziierten Hauptmächte vertraten die Ansicht, daß die Auswanderung nationaler Minderheiten durch ein Sonderabkommen geregelt werden konnte, dessen Bestimmungen dann tatsächlich über einen Zeitraum v o n 11 Jahren angewandt wurden 7 . A n diesem Sonderabkommen erweist sich auf der Ebene internationalen Rechts, daß die Bevölkerung in Westthrakien u n d Südmakedonien, obgleich Griechenland zugeteilt, in ethnischer Hinsicht mehrheitlich aus Bulgaren bestand. Anders erging es den Makedonen in Vardar, einem den Serben zugeteilten Gebiet, denen dieser ethnische Charakter abgesprochen wurde. Für den serbischen Staat handelte es sich u m „Südserben", so daß er Verhandlungen über allgemeine Wanderungsbewegungen auf dem Balkan oder auch nur eine einfache Auswanderung nach Bulgarien ablehnte. Die mit Artikel 8 eingerichtete gemischte Kommission erleichterte die Auswanderung zwischen Bulgarien u n d Griechenland. Neben der Entschädigung für den zurückgelassenen Immobilienbesitz war die gegenseitige freiwillige Auswanderung vorgesehen. Die diesbezüglichen Akten, die Kommissionsprotokolle w i e auch die Denkschriften u n d die individuellen Vorgänge füllen nicht weniger als 60 Bände mit über 50.000 Seiten. Die individuellen Anträge hatten i m Prinzip nicht den Charakter einer Minderheitenpetition, denn sie beschränkten sich darauf, für die v o n einzelnen Individuen oder Familien erlittenen Verluste materielle Kompensationen zu verlangen. Die Anträge, die sich auf Minderheitenrechte bezogen, wurden an den Völkerbund in Genf gerichtet. Die Kommission sollte über die Bedingungen wachen, unter denen sich die Auswanderung vollzog, u n d sie so weit wie möglich erleichtern. Ferner zahlte sie den Besitz der Flüchtlinge aus; die dazu notwendigen Geldmittel erhielt sie v o n den betroffenen Staaten. Sie konnte den Flüchtlingen i m Rahmen der verfügbaren Summen den Gegenwert ihres Immobilienbesitzes in Geld oder Obligationen zur Verfügung stellen. Sie war ermächtigt, die i m A b k o m m e n vorgesehenen Maßnahmen zu ergreifen u n d über alle Probleme, die sich aus ihrer A n w e n d u n g ergaben, zu entscheiden 8 . Hingegen verfügte die Kommission hinsichtlich der Minderheitenpetitionen nicht über denselben Entscheidungsspielraum w i e die Minderheitensektion des Völkerbundes. Die griechisch-bulgarische Kommission sollte als juristische Einrichtung mit klar abgegrenztem accordé pour les réfugiés en 1924, in: Balkan Studies, 24 (1983), S. 89-105; L. Pasvolsky , Bulgaria's Economic Position, Washington 1930; Nansen Office for Refugees, LNA C. 1128-1135. 7 Commission mixte d'émigration réciproque et volontaire gréco-bulgare, 19201931. Procès verbaux, Genf / Athen / Sofia, I-XXXV, LNA C. 186-194. 8 LNA C. 147. Abkommen zwischen Griechenland und Bulgarien über die gegenseitige Auswanderung, Neuilly, 27.9· 1919, und Vorschriften für die gemischte Kommission.

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Kompetenzenbereich den Vorrang des Rechts vor der Politik sicherstellen. Sie setzte sich aus jeweils einem Vertreter der griechischen u n d bulgarischen Regierung u n d aus zwei v o m Völkerbundsrat ernannten Mitgliedern zusammen. Ihre erste Sitzung fand am 18. Dezember 1920 in Genf statt, die nachfolgenden traten an Ort u n d Stelle zusammen; bei Abschluß ihrer Arbeit kam sie auf die beachtliche Zahl v o n 625 Sitzungen 9 . 1. Auftrag

und Tätigkeit der

Kommission

Die erste Aufgabe der Kommission bestand in der Auslegung des griechischbulgarischen Abkommens über die gegenseitige Auswanderung. Dieses Abkommen setzte sich aus 16 Artikeln zusammen, w o b e i der sechste u n d zwölfte einige Interpretationsschwierigkeiten bereiteten. Tatsächlich hieß es i m zweiten Absatz v o n Art. 6: „Le droit d'émigration sera exercé par les membres de communautés (y compris les églises, couvents, écoles, hôpitaux ou fondations de quelque nature que ce soit) qui, de ce chef, devront être dissoutes; la Commission prévue à l'article 8 déterminera si, et dans quelles conditions, ces membres auront la faculté d'emporter librement ou de faire transporter les biens meubles qui appartiennent à cette communauté" 10 . Die Körperschaften besaßen eine derart komplexe Natur, daß es angebracht schien, zunächst die Probleme hinsichtlich der Einzelpersonen u n d ihres Privateigentums zu lösen. Erst danach konnte sich die Kommission der Interpretation u n d A n w e n d u n g dieses zweiten Absatzes widmen. Ebenso heikel gestaltete sich die Auslegung des zwölften Artikels, u n d seine A n w e n d u n g verlangte mehrere Vorsichtsmaßnahmen. Er lautete: „Les personnes qui, avant la mise en vigueur de la présente Convention, auraient quitté le territoire d'un des États contractants et se seraient déjà établies sur le territoire de l'État dont elles relèvent du point de vue ethnique, de la religion ou de la langue auront droit à la valeur des biens laissés par elles dans le pays qu'elles ont quitté telle que cette valeur résultera de la liquidation qui en sera faite par la Commission mixte". Alle anderen Artikel bezogen sich auf die zukünftige Auswanderung 1 1 . Nur dieser zwölfte Artikel handelte v o n den zahlreichen Bulgaren aus Makedonien Thanassis Aghnides riet dem Sekretär des Völkerbundes, die erste Sitzung der Kommission nach Genf einzuberufen: „Ne croyez-vous pas qu'il serait mieux de convoquer la Commission à Genève, étant donné que ces Messieurs - je veux dire les Membres de la Commission - auront le grand avantage de profiter du travail déjà fait par nous içi et de l'expérience acquise, pour ne rien dire des indications fort utiles que vous pourriez à la rigueur leur suggérer?". (LNA 41/8368/2095). 10

Communautés, correspondance avec la Société des Nations (1924-1931). LNA C.

163. 11 Vgl. den. von Bourgeois verfaßten und vom Völkerbundsrat am 20. September 1920 angenommenen Bericht, der die Rolle der Kommission und dessen Zusammensetzung festlegte sowie ihr die Vollmacht erteilte, die zur Anwendung des Abkommens notwendigen Maßnahmen zu ergreifen und über alle in diesem Zusammenhang auftretenden Probleme zu entscheiden.

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u n d Thrakien bzw. den Griechen aus Bulgarien, die aufgrund der politischen Umwälzungen u n d Kriege, die den Balkan seit Beginn des 20. Jahrhunderts pausenlos erschütterten, bereits vor diesem A b k o m m e n Haus u n d H o f verlassen u n d sich ihrem Volk bzw. ihren Glaubensbrüdern angeschlossen hatten. Die Frage stellte sich, o b auch diese Flüchtlinge (ihre Zahl ging i n die Zehntausende) sich auf diesen Artikel berufen konnten. Die bulgarischen Behörden schätzten die aus Thrakien u n d Makedonien stammenden Auswanderer auf über 200.000. Die griechischen Behörden ihrerseits hatten die Zahl der griechischen Flüchtlinge aus Bulgarien vor dem Ersten Weltkrieg auf 80.000 geschätzt. Einige meinten, Artikel 12 solle für alle Auswanderer ab 1903 gelten. Unter dieser Voraussetzung, mit der man den Rahmen des gemeinen Rechts verließ, mußte man i n einem zweiten Schritt den Gründen für die Konfiszierung des Eigentums der Flüchtlinge nachgehen. Dabei zeigte sich, daß das v o n Bulgaren u n d Griechen in Thrakien u n d Makedonien bzw. in Bulgarien zurückgelassene Eigentum sehr unterschiedlichen Enteignungsmaßnahmen unterworfen w o r d e n war. Einige Konfiszierungen erfolgten noch unter osmanischer Herrschaft. Später kamen die Gebiete, in denen sich das betreffende Eigentum befand, an Bulgarien oder Griechenland. Zur Lösung des Problems der Haftung beauftragte der Delegierte des Völkerbundes de Roover die Kommission, die Einzelfälle auf der Grundlage folgender Prinzipien zu untersuchen: a) Art. 12 sollte auf all diejenigen angewandt werden, die i n den 20 Jahren vor Inkrafttreten des Abkommens, d.h. zwischen dem 18. Dezember 1900 u n d dem 18. Dezember 1920, ausgewandert waren u n d die übrigen i m Artikel genannten Voraussetzungen erfüllten; b) diejenigen, die sie erfüllten, hatten Anspruch auf den Gegenwert des zurückgelassenen Eigentums, das ihnen nach den geltenden Gesetzen - u n d unabhängig v o n eventuellen Gerichtsurteilen bzw. administrativen oder gesetzgeberischen Sondermaßnahmen der Vertragsteile oder der osmanischen Regierung zur Bestrafung der Auswanderer - immer noch gehörte. Das erste Prinzip nahm die Kommission einstimmig, das zweite bei Enthaltung des griechischen Delegierten mehrheitlich an. Somit war die Interpretation des Artikels formal abgesichert. Er diente einem humanitären Zweck, denn die Angehörigen einer nationalen Minderheit konnten nun in einen ihnen ethnisch verwandten Staat auswandern, ohne materielle Verluste befürchten zu müssen. Zugleich handelte es sich u m ein praktisch-kluges Vorgehen, denn viele Gründe, die zu Unzufriedenheit u n d zu Reibungen zwischen Griechen u n d Bulgaren führen mochten, wurden aus der Welt geschafft. Eine solche Interpretation wirkte sich tatsächlich positiv für die Betroffenen aus. Bis zu einem gewissen Grad w u r d e n damit die Ungerechtigkeiten gegenüber den zahlreichen Flüchtlingen behoben, die Haus, Hof u n d Eigentum zurückzulassen gezwungen worden waren u n d sie nicht mehr zurückerlangen konnten. Diese Auslegung v o m Artikel 12 warf zugleich aber auch die Frage auf, w i e das v o n den Türken in Bulgarien aufgegebene Eigentum zu behandeln sei. Die Bulgaren waren aus dem damals osmanischen Thrakien geflüchtet u n d hatten ihr Eigentum zurückgelassen. Nach

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d e m Krieg v o n 1912 flohen ihrerseits die Türken aus den v o n Bulgarien annektierten Gebieten in das unter türkischer Herrschaft verbliebene Thrakien. In beiden Ländern übernahmen die Flüchtlinge oftmals den jeweils v o n den anderen verlassenen Grund u n d Boden. So kam eine Art nicht kodifizierter Eigentumsaustausch zwischen den beiden nationalen Minderheiten zustande. Artikel 12 bezog sich jedoch mit wenigen Ausnahmen nur auf das Eigentum, das die Bulgaren in Westthrakien zurückgelassen hatten, nachdem das Gebiet 1921 v o n Griechenland annektiert w o r d e n war. Nichts hingegen war vorgesehen für das v o n den Türken in Bulgarien aufgegebene Eigentum. U m diesem Mangel abzuhelfen, unterbreitete die Kommission der bulgarischen Regierung verschiedene Vorschläge. Ergebnis dieser Initiative war das Gesetz v o m 27. Juli 1921, mit dem die Türken in den v o n Bulgarien nach 1912 erworbenen Gebieten wieder in ihre Eigentumsrechte eingesetzt u n d den übrigen Grundbesitzern gleichgestellt wurden. Das hinderte den griechischen Vertreter in der Kommission nicht daran, zu behaupten, daß die Rückerstattung nicht hinreiche. Er versuchte vielmehr, die Kommission dazu zu bringen, daß sie selbst die türkischen Auswanderer für ihr zurückgelassenes Eigentum entschädigte. Ein derartiger Schritt war im A b k o m m e n allerdings nicht vorgesehen. Zu diesem Zeitpunkt war der Vertrag v o n Sèvres (wie auch der Vertrag zwischen den Alliierten u n d Griechenland über Thrakien) noch nicht ratifiziert worden, so daß die Kommission Thrakien nicht als Teil des griechischen Königreiches betrachtete. Dementsprechend erklärte sie, das A b k o m m e n über den griechisch-bulgarischen Bevölkerungsaustausch sei zu diesem Zeitpunkt hier zumindest nicht anwendbar. Die griechischen und bulgarischen Behörden hatten die Flüchtlinge, die ihr Eigentum bei der Auswanderung nach Griechenland, nach Bulgarien oder in damals osmanische, dann v o n Griechenland oder Bulgarien annektierte Gebiete zurückgelassen hatten, einfach enteignet. Die Anwendung v o n Artikel 12 hätte bedeutet, daß man alle Gesetze u n d Verwaltungsmaßnahmen, die dieser Enteign u n g zugrunde lagen, aufheben mußte. Die bulgarische Regierung handelte mit dem Gesetz v o m 27. Juli 1921 über den „Haus-, u n d Grundbesitz in den neuen Gebieten" in diesem Sinne. I n Griechenland hingegen blieben jene Gesetze weiterhin in Kraft u n d wurden auf das Eigentum der bulgarischen Auswanderer angewandt. Sie unterteilten sich in zwei Kategorien. Die erste umfaßte Gesetze u n d Maßnahmen w i e die Einziehung, die Beschlagnahme usw. für die vor dem Krieg bereits griechischen Gebiete erlassen wurden, die zweite all jene Gesetze u n d Bestimmungen über die Enteignung der Auswanderer, die sich in osmanischen, dann v o n Griechenland annektierten Gebieten niedergelassen hatten. Art. 12 konnte demnach erst nach vielen Jahren in Kraft treten. A m 11. August 1921 ermahnte allerdings die Kommission die griechische Regierung, die Gesetzgebungsmaßnahmen, zu denen sie sich i m Rahmen des Abkommens verpflichtet hatte, auch in die Tat umzusetzen 12 . Einschränkungen sollten dabei 12

Zur Auslegung des Abkommens vgl. Procès verbaux, I, S. 69-78, S. 87-106.

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zwar prinzipiell möglich sein, aber nur in Übereinstimmung mit dem Abkommen. Schließlich äußerte sie noch einige allgemeine Anliegen, denen Athen zweckmäßigerweise nachkommen sollte. Die Kommission konnte zwar einige Erfolge verzeichnen, doch in zahlreichen wesentlichen Punkten stießen die beiden Unterzeichnerstaaten mit ihrer jeweiligen Auslegung aufeinander. Oftmals schienen die Hindernisse unüberwindlich zu sein, so daß oft diplomatische Verhandlungen zur Auslegung und Anwendung des Abkommens von neuem aufgenommen, ja sogar neue juristische Instrumente ausgearbeitet w e r d e n mußten.

2. Das griechisch-bulgarisch e Protokoll vom 29. September 1924 (Protokoll Kalfoff-Politis) I n seinem Brief v o m August 1924 an den Generalsekretär des Völkerbundes verschwieg der Präsident der griechisch-bulgarischen Kommission nicht, daß die Lage auf dem Balkan zu jenem Zeitpunkt sehr kritisch schien. Häufig war es zu Zwischenfällen gekommen; Presse u n d öffentliche Meinung, die für die Opfer aus dem Kreis der nationalen Minderheiten in Bulgarien bzw. Griechenland Partei ergriffen, trugen ebenfalls zu dem Klima wachsender Spannung bei. Politische Morde unter den Minderheiten selbst taten ihr übriges. Alle Sitzungsprotokolle der Kommisison legen v o n dieser Situation Zeugnis ab. Oftmals konnten keine gemeinsamen Sitzungen abgehalten werden, vielmehr mußte der Präsident mit den Delegierten der zwei Staaten einzeln verhandeln u n d sie bitten, bei ihrer jeweiligen Regierung eine Vermittlerrolle zu übernehmen. Angesichts dieser sich ständig verschlechternden Lage sah sich der Völkerbundsrat zu einer außerordentlichen Sitzung gezwungen, die er am 29. September 1924 während der 30. Sitzungsperiode abhielt 1 3 . Die bulgarische Regierung war durch ihren Außenminister Christo Kalfoff vertreten, der am Tisch des Völkerbundsrats Platz nahm u n d eine Erklärung vorlas betreffend den Schutz der griechischen Minderheit in Bulgarien. Darin drückte er den Willen seiner Regierung aus, den Angehörigen dieser Minderheit eine gerechte Behandlung nach Maßgabe der Minderheitenschutzbestimmungen des Vertrages v o n Neuilly (Art. 49-57) zu gewährleisten. Er unterbreitete in diesem Sinne folgenden Vorschlag: a) die Mitglieder der griechisch-bulgarischen Kommission sollten die bulgarische Regierung bei ihren Bemühungen u m eine gerechte Behandlung der griechischen Minderheit unterstützen. Sie sollten dabei als Sonderbeauftragte des Völkerbundes für die gesamte Dauer ihres Mandates als Kommissionsmitglieder w i r k e n u n d ein Konsultativorgan zu jeder die griechische Minderheit betreffenden Frage bilden. Außerdem sollten sie das Recht erhalten, die bulgarische Regierung in bezug auf die wirksamste u n d schnellstmögliche Umsetzung der i m Vertrag v o n Neuilly enthaltenen Minderheitenschutzbestimmungen zu beraten; 13 15. Sitzung der 30. Sitzungsperiode des Rates vom 29. September 1924, in: Journal Officiel, (1924), S. 1349-1352.

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b) sie sollten dort, w o Minderheiten siedelten, Untersuchungen einleiten können, u m Informationen zu sammeln, insbesondere über die schulischen Bedingungen u n d über die Religionsausübung; c) das bulgarische Kommissionsmitglied sollte verpflichtet sein, die Aufgabe der Beauftragten in jeder Form zu erleichtern u n d v o n der bulgarischen Regierung in diese Richtung gehende Instruktionen und Vollmachten erhalten. Die Vertreter des Völkerbundes sollten überdies berechtigt sein, v o n der griechischen Minderheit individuelle oder kollektive Petitionen bezüglich der Verletzung ihrer durch den Vertrag v o n Neuilly garantierten Rechte entgegenzun e h m e n . D i e P e t i t i o n e n sollten a n n e h m b a r sein, insofern sie sich auf Minderheitenschutzbestimmungen bezogen, ohne die Staatssouveränität i n Frage zu stellen. Die Verfasser mußten identifizierbar sein, u n d aggressive oder beleidigende Ausdrücke waren untersagt. Nach Prüfung einer Petition sollten die örtlichen Vertreter des Völkerbundes nach Maßgabe der Vertragsbestimmungen u n d unter Berücksichtigung der rechtlichen und administrativen Beschwerdewege, über die die Petitionäre in Bulgarien verfügten, Vorschläge zur Beilegung des Streitfalles ausarbeiten u n d dem bulgarischen Mitglied in der gemischten Kommission übermitteln. Dieser sollte das Problem auf lokaler Ebene zu lösen versuchen u n d zu diesem Zweck die notwendigen Instruktionen u n d Vollmachten v o n seiner Regierung erhalten. Erwies sich dies als unmöglich, war der ganze Vorgang an die Regierung weiterzugeben, damit sie für die Ausführung der getroffenen Entscheidung sorge. Diese Vörgehensweise entsprach vollkommen dem Geist des v o m Völkerbundsrat festgelegten Petitionsverfahren. Jeder, der v o m Völkerbund entsandten Kommissionsmitglieder hätte den Auftrag bekommen, dem Generalsekretär in Genf regelmäßig Bericht zu erstatten. I m bulgarischen Vorschlag drückte sich ein aufrichtiger Wunsch aus, an der Ausführung der übernommenen internationalen Verpflichtungen mitzuwirken. Der Generalsekretär, seine Mitarbeiter u n d überhaupt die Mitglieder des Völkerbundsrates unterstützten ihn vorbehaltlos. Gilbert Murray, Berichterstatter des Rates zum vorliegenden Problem, hob die Bedeutung des v o n der bulgarischen Regierung unternommenen Schrittes hervor. Er erinnerte daran, daß die 6. Kommission auf der 3. Vollversammlung des Völkerbundes i n ihrem Bericht betont hatte, außergewöhnliche Umstände könnten eine direkte Vertretung des Völkerbundes an Ort u n d Stelle mit Billigung der betroffenen Regierung notwendig machen. Sie sei der Ansicht gewesen, daß eine derartige Präsenz sich positiv auf die Behandlung der Minderheitenfragen auswirken würde. Die Kommission habe diesen Vorschlag als durchaus angemessen bezeichnet, i h m jedoch nicht die Form einer offiziellen Entschließung geben wollen, da die Anwendungsfälle sehr unterschiedlich sein konnten u n d die umfassenden Kompetenzen des Rates unberührt bleiben sollten. Z u m ersten Mal, fuhr Murray fort, handelte es sich i m bulgarischen Fall u m die Initiative eines betroffenen Landes, das aus eigenem Antrieb u n d in seiner Eigenschaft als Mitglied des Völkerbundes diesbezügliche Anstrengungen unternehme.

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Die Vorschläge des bulgarischen Vertreters fanden die allgemeine Zustimm u n g der Genfer Behörden, zumal sie keine finanzielle Belastung darstellten u n d leicht umsetzbar zu sein schienen. Murray unterbreitete dem Rat folgende Entschließung: „Le Conseil accepte les propositions faites par le représentant de la Bulgarie et autorise son Président, comme son Secrétaire général, à signer avec ce représentant un document contenant ses propositions et leur agrément par la Société des Nations" 14 . Der griechische Außenminister Nicolas Politis legte dem Rat zur selben Zeit einen ähnlichen Vorschlag vor. Niemand in Europa dürfe das Minderheitenproblem auf die leichte Schulter nehmen, denn es rufe erstens menschliches Leid hervor u n d zweitens gefährde es den Frieden. Griechenland verurteile als erste Nation das eigene frühere, gewiß nicht tadellose Vorgehen u n d w o l l e Abhilfe schaffen. Doch könne man sich sehr w o h l vorstellen, w i e schwierig es für eine v o n den Wahlstimmen abhängige Regierung eines souveränen Staates sei, den internationalen Verpflichtungen zugunsten einer eingewanderten fremdsprachigen Bevölkerung nachzukommen, da zu diesem Zweck unpopuläre Maßnahmen ergriffen werden müßten 1 5 . In der Tat erklärte Murray in der erwähnten Ratssitzung, daß kein anderes Land jemals einen derartigen Schritt unternommen habe. Die bulgarische u n d griechische Regierung verdienten deshalb höchstes Lob für ihre überraschende Initiative, mit der sie eines der brennendsten politischen Probleme i m neuen Europa, d.h. den jahrhundertealten, durch beiderseitiges Leid verschärften Antagonismus zwischen den beiden Völkern zu lösen versuchten. Nun aber, fuhr Murray fort, kämen die Vertreter beider Völker auf überraschende u n d fast wundersame Weise Hand i n Hand vor den Völkerbundsrat, u m einen Lösungsvorschlag zu unterbreiten. Auf der anderen Seite hätten die Völkerbundsvertreter der gemischten Auswanderungskommission an der griechisch-bulgarischen Grenze durch ihre Tätigkeit völlig zu Recht das Vertrauen der beiden Bevölkerungsteile für sich gewonnen. I m Falle der Annahme ihres Vorschlages, faßte Murray zusammen, stimme die bulgarische Regierung der formalen Einsetzung v o n beratenden Kommissionen zu, die ihr helfen sollten, ihren Schutzverpflichtungen gegenüber der griechischen Minderheit nachzukommen. Die griechische Regierung hätte ihren Kommissionsmitgliedern zur Ausübung dieser Schutzfunktion gegenüber der bulgarischen Minderheit ebenfalls einen Beraterstatuts verliehen. Diese Initiative stellte ein Modell für Europa dar: Murray hoffte, weitere Regierungen, die ähnlichen Problemen gegenüberstanden, würden dem bulgarischen u n d griechischen Beispiel folgen, die Völkerfamilie damit auf eine höhere Zivilisationsstufe heben u n d folglich die Gefahr eines durch Minderheitenfragen heraufbeschworenen Krieges für immer bannen. Zahlreiche Danksagungen w u r d e n an den bulgarischen Minister Kalfoff gerichtet, u n d der Ratspräsident selbst drückte ihm gegenüber die allseitige Bewunderung aus. 14

Journal Officiel, (1924), S. 1352.

15

Vgl. G. Duhamel, Problèmes de l'heure, Paris 1957, S. 103-130.

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Ebenso hohes Lob erhielt der bekannte Volkerrechtsexperte Nicola Politis, der seine Fähigkeiten in zahlreichen Schiedsspruchverfahren unter Beweis gestellt hatte u n d n u n i m Rahmen des Völkerbundes neuen politischen Erfolg erlangte. Der oben genannte Beschluß wurde einstimmig angenommen u n d rief begeisterte Kommentare bezüglich der Zukunft u n d der Wirksamkeit des Völkerbundes hervor. Die Unterzeichnung des griechisch-bulgarischen Protokolls v o m 29. September 1924 markierte einen Wendepunkt in den Beziehungen zwischen den beiden Ländern. A m 6. August 1924 war der zwischen Griechenland u n d den alliierten u n d assoziierten Hauptmächten abgeschlossene Vertrag über die nationalen u n d religiösen Minderheiten in Kraft getreten. Mit dem Protokoll bestätigte Griechenland, eine internationale, v o m Völkerbund garantierte Schutzverpflichtung übernommen zu haben. Die Vertragsbestimmungen konnten nicht ohne Zustimmung der Mehrheit des Völkerbundsrates verändert werden. Die Hauptmächte verpflichteten sich ihrerseits, bei Modifikationen des Vertrages kein Veto einzulegen, w e n n sie v o n der Mehrheit des Völkerbundsrates gebilligt wurden. Griechenland erlaubte jedem Ratsmitglied, beim Rat jede tatsächliche oder potentielle Verletzung der übernommenen Verpflichtungen anzuzeigen. In einem solchen Zusammenhang konnte der Rat ein Verfahren nach seiner Wahl einleiten u n d geeignete Maßnahmen ergreifen, u m Abhilfe zu schaffen. Bei abweichender Rechtsauslegung oder Beurteilung eines Tatbestandes sollte daraus ein internationaler Streitfall werden, der unter Artikel 14 der Völkerbundssatzung fiel. Außerdem bestand die Möglichkeit, den Fall vor den Ständigen Internationalen Gerichtshof zu bringen; dieser hätte dann ein endgültiges Urteil gesprochen, das nach den Bestimmungen v o m Art. 13 der Völkerbundssatzung in Kraft getreten wäre. I n diesem Zusammenhang faßte der Rat folgenden Beschluß: „Les stipulations contenues dans les articles 1 à 15 du Traité entre les principales puissances et la Grèce, signé à Sèvres le 10 auot 1920, avec les modifications y apportées par le Protocole signé à Lausanne le 24 juillet, dans la mesure où elles affectent des personnes appartenant à des minorités de race, de religion ou de langue, seront placées par le présent acte sous la garantie de la Société des Nations". Es bestand die berechtigte Hoffnung, daß nach diesem Beschluß, nach dem griechisch-bulgarischen A b k o m m e n über Makedonien (von den Ministern Politis u n d Kalfoff am 29. September zum Ende der Sitzungsperiode der Vollversammlung unterzeichnet) u n d nach dem griechisch-bulgarischen Protokoll über den gegenseitigen Minderheitenschutz in der Balkanregion Ruhe eintreten würde. D o c h die Belgrader Regierung begann diesen Prozeß zu stören u n d Unfrieden zwischen den betroffenen Ländern zu säen.

3. Die Haltung

der jugoslawischen

Regierung

Es bestätigte sich die Regel, daß es bei jeglicher Art v o n bilateralen Verhandlungen oder Verständigungen unter Balkanstaaten immer ein drittes Land geben

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würde, das sich widersetzt oder zumindest negativ reagiert. I n diesem Fall handelte es sich u m die jugoslawische Regierung, die am 11. November 1924 in der Tageszeitung „Politika" eine wichtige Erklärung veröffentlichen ließ 1 6 . Die Regierung lehnte das Protokoll, mit dem Griechenland die bulgarische Abstamm u n g der slawischen Bevölkerung in Makedonien offiziell anerkannte u n d ihr die Möglichkeit einräumte, Schulen mit bulgarischer Unterrichtssprache u n d Kirchen mit bulgarischem Ritus zu errichten, mit aller Entschiedenheit ab. Bulgarien sah zweifellos mit Befriedigung, daß die bulgarische Minderheit in Griechenland wieder in ihre Rechte trat, schien dieses Ereignis an Wichtigkeit doch der Einrichtung des bulgarischen Exarchats in Konstantinopel gleichzukommen. Der bulgarische Premierminister hatte in diesem Zusammenhang erklärt, nunmehr herrsche die bulgarische Sprache in den bulgarischen Kirchen u n d Schulen v o n Edessa (Vodina) u n d Florina. Die jugoslawische Seite antwortete jetzt darauf, die Bulgaren hätten bereits ein durch Schulen u n d Kirchen, Steinen u n d Bomben bulgarisiertes griechisches Makedonien vor Augen. Die Jugoslawen hielten mit ihren Befürchtungen nicht zurück. Sie gaben sich überzeugt, daß das griechische Makedonien zu einem bestimmten, v o n den Bulgaren als günstig beurteilten Zeitpunkt dasselbe Schicksal w i e seinerzeit Ostrumelien ereilen würde. Sie meinten sogar, eine Anerkennung der bulgarischen Minderheit i m griechischen Makedonien stelle letztendlich eine Bedrohung für Jugoslawien dar, w e i l davon später auch das v o n Serbien annektierte Makedonien betroffen wäre. Die bulgarische Seite hoffte selbstverständlich, daß die Serben früher oder später dem Beispiel Griechenlands würden folgen müssen. Die jugoslawische Regierung sprach v o n den beharrlichen Versuchen Bulgariens, die Vorherrschaft i m Gebiet des Exarchats wiedergewinnen u n d die mit dem Vorfrieden v o n San Stefano geschaffenen Grenzen des großbulgarischen Staates wiederherstellen zu wollen. Unter den neuen Verhältnissen schien eine rein slawische Bevölkerung i m griechischen Makedonien zahlenmäßig u m die Hälfte geringer zu sein als vor dem Krieg, denn die griechischen Behörden hatten zahlreiche Slawen vertrieben u n d an ihrer Stelle viele Flüchtlinge aus Kleinasien angesiedelt. So konnte die jugoslawische Regierung behaupten, die slawischen Gruppen in Makedonien bildeten nur einige kleine Inseln. Ferner hob sie hervor, Ostrumelien u n d Bulgarien seien in der Periode des Exarchats territorial nicht voneinander getrennt gewesen, während nun Serbien zwischen Bulgarien u n d dem griechischen Makedonien liege. Die Serben waren einer vereinigten bulgarischen Nation immer feindselig gegenübergestanden. Bei der 1885 erfolgten Rückkehr Ostrumeliens an Bulgarien entfesselten die Serben an der Westfront einen Krieg, der mit einem bulgarischen Sieg endete. Die Serben fürchteten jedoch weiterhin, Bulgarien hoffe auf eine Erneuerung des Vorfriedens v o n San Stefano. Dabei ließen sie die Begeisterung, die die Unterzeichung des griechisch-bulgarischen Protokolls in Bulgarien auslöste, völlig außer acht. Während die Griechen den Zugeständnis16

Politika, (11. November 1924).

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sen keine „besondere Wichtigkeit" beimaßen u n d die Bulgaren i n ihnen keinen „nennenswerten Vorteil" sahen, sprachen die Serben v o n einem „spürbaren Verlust". So Schloß die zitierte jugoslawische Erklärung: „In Wircklichkeit ist dieses Zugeständnis trotz allem ein Erfolg für die Bulgaren, eine Gefahr für die Griechen u n d eine Niederlage für uns selbst". Diese Ansicht herrschte unter den Serben während der Zwischenkriegszeit hinsichtlich der politischen Verhältnisse in der Balkanregion vor, so daß es für sie unverständlich bleiben mußte, wieso die Griechen ihrem früheren Feind derartig weitreichende Zugeständnisse machten, die man in Beograd für gefährlich hielt u n d die den „wirklichen Freunden" Griechenlands Schaden zufügen könnten. Anderereits aber läßt sich fragen, w a r u m die jugoslawische Regierung nicht reagierte, als ein Teil der slawischen Bevölkerung aus dem griechischen Makedonien vertrieben wurde. Sie beanspruchte diese Gebiete doch mit der Begründung für sich, daß sie v o n „Südserben" bewohnt sei. Jugoslawien versuchte damals v o n den Griechen die Einrichtung einer Freizone i n Thessaloniki u n d weitestgehendste Freiheiten für „unsere nationalen Elemente in Griechenland" zu erlangen. Die Regierung fragte sich, ob sich die Griechen so sehr v o n einer serbischen Ausdehnung bedroht fühlten, daß sie die slawische Bevölkerung in Griechenland gegen Serbien aufbringen wollten, ind e m sie ihnen eine bulgarische Abstammung zuschrieben. Insofern die griechische Regierung den bulgarischen Forderungen nachgab, schien sie weniger die v o n Sofia als die v o n Belgrad ausgehende Gefahr zu fürchten. Vom jugoslawischen Standpunkt aus hatte Athen mit der Anerkennung des bulgarischen Charakters der Bevölkerung Makedoniens einen politischen Fehler begangen. Für sie beruhte das Protokoll v o m 29. September auf einem Fehlurteil der griechischen Regierung, die aus Furcht vor einer eingebildeten Gefahr ohne Not eine wirkliche Gefahr heraufbeschwört hatte. Ohne über den Mut oder die Weisheit eines Achilles mehr zu verfügen, ließen die Griechen ein trojanisches Pferd i n ihre Mauern ein, anstatt es hinauszuführen. Jugoslawien präsentierte sich als Retter Griechenlands, indem die Note mit dem Hinweis endete: „Wenn sich die Bulgaren eines Tages gegen die Ägäis bewegen, weil die Friedensverträge ihnen einen Zugang zum Meer verschaffen wollen, und wenn zugleich bewaffnete Kompanien aus dem »trojanischen Pferd' der schulischen und kirchlichen Selbstverwaltung heraustreten, dürfen die Griechen nicht auf unsere Hilfe zählen, die einzige, die sie retten könnte, während die Großmächte und der Völkerbund keinen Finger rühren werden". Die serbische Botschaft ließ vorsorglich dem griechischen Außenminister eine Vielzahl an Dokumenten zukommen, die die bulgarischen Minderheiten i m griechischen Makedonien belasteten. Diese Dokumente enthielten 17 Anträge aus den Bezirken Edessa (Vodina) u n d Kastoria zur Einrichtung v o n bulgarischen Schulen u n d Kirchen. Die griechische Regierung prüfte die Lage sofort an Ort u n d Stelle u n d stellte Nachforschungen über die Stimmung im griechischen Makedonien an. Der Verdacht schlich sich ein, die Bulgaren wollten tatsächlich die Verhältnisse aus der Zeit vor 1912 wiederherstellen. Außerdem war es zu schweren Konflikten zwischen den griechischen Flüchtlingen, die sich i n der Gegend niedergelassen hatten, u n d den bulgarischen Minderheiten

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gekommen. Kurz, antigriechische Propaganda u n d Umtriebe häuften sich u n d zielten darauf, das griechisch-bulgarische A b k o m m e n zu sabotieren. Die jugoslawische Erklärung u n d die entsprechenden diplomatischen Schritte bei der griechischen Regierung schlugen nicht nur in Athen, sondern auch i n Genf w i e eine Bombe ein. Unter Belgrads Druck lenkte Athen ein. Wie es das Protokoll v o m 29. September 1924 verlangte, übersandte der griechische Geschäftsträger in der Schweiz dem Generalsekretär des Völkerbundes am 22. Januar 1925 eine Denkschrift über den Schutz der bulgarischen Minderheiten i n Griechenland 1 7 . Die griechische Regierung, hieß es darin unter anderem, sei nach einer vertieften Prüfung des Protokolles zu dem Schluß gelangt, daß es zunächst noch v o m Parlament ratifiziert werden müsse. Diese Formalität hielt man für u m so notwendiger, als Bulgarien ebenso vorging. Auch die zum gleichen Zeitpunkt der Unterzeichnung in Genf abgegebene Erklärung sei zu ratifizieren. Eine unmittelbare Anwendung des Protokolls würde es der Regierung unmöglich machen, für dessen Ratifizierung i m Parlament einzutreten; überdies habe das Parlament bereits einhellig zu verstehen gegeben, es nicht billigen zu wollen. Anstatt die Ursachen der Spannungen zu beseitigen, drohte das Protok o l l neue zu schaffen u n d damit die freundschaftlichen Beziehungen Griechenlands zu seinen Nachbarn zu beeinträchtigen. Tatsächlich hatte man in der Presse u n d in offiziellen Verlautbarungen v o n bulgarischer Seite die Unterzeichnung des Abkommens als einen nationalen Erfolg betrachtet. Man hatte sogar zu verstehen gegeben, daß Bulgarien n u n die Möglichkeit hatte, die bulgarischen Minderheiten auf griechischem Gebiet unmittelbar zu schützen. Zugleich entfalteten die nationalistischen bulgarischen Gruppierungen vor allem i m Ausland umfangreiche Aktivitäten, während Kundgebungen u n d allzu einseitige Publikationen dem Protokoll eine Tragweite beimaßen, die es nicht besaß u n d auch nicht anstrebte. Die öffentliche Meinung in Griechenland zeigte sich beunruhigt, daß in Bulgarien wieder alte Forderungen aufkamen, die die bestehenden Verträge in Frage stellten. Das griechische Parlament wollte kein Protokoll verabschieden, daß zu neuen Konflikten Anlaß hätte geben können. Eine ablehnende Haltung gegenüber dem A b k o m m e n v o m 29- April drückte sich auch in der Sorge u m das Schicksal der griechischen Minderheiten in Bulgarien aus. Die Denkschrift der griechischen Regierung verwies auf zahlreiche Gewaltakte, die die öffentliche Meinung des Landes aufwühlten, während gleichzeitig die Entscheidung des Kriegsgerichts v o n Thessaloniki, das am 13. Januar 1925 den für den Massenmord an 17 bulgarischen Bauern i n Tarlis verantwortlichen Offizier zu 15 Jahren Zwangsarbeit verurteilt hatte, heftig diskutiert wurde. Die griechische Regierung bestätigte gleichwohl, die Rechte der Minderheiten ausschließlich auf der Grundlage des v o n ihr unterzeichneten Minderheitenschutzvertrags sicherstellen zu wollen. So hatten die religiösen u n d schulischen 17 Schutz der bulgarischen Minderheiten in Griechenland: Brief der griechischen Regierung vom 12. Februar 1925; LNA C.54. M.32 1925.1.

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Einrichtungen der Muslims i n Ostthrakien trotz des mageren griechischen Staatshaushaltes ohne Unterbrechung beachtliche staatliche Unterstützungsleistungen erhalten. Auch die Forderungen der rumänischen Minderheit waren befriedigt worden, indem rumänische Schulen eingerichtet u n d Gottesdienstfeiern in rumänischer Sprache ermöglicht wurden. Jeder Antrag dieser Art, hieß es in der Note, werde auch in Zukunft mit demselben Wohlwollen geprüft. Diese Argumente dienten dazu, die Kehrtwendung der griechischen Regierung zu begründen sowie ihre Weigerung, das A b k o m m e n v o m 29. September 1924 zu respektieren. Die endgültige Entscheidung lag damit beim Parlament, das am 3. Februar 1925 einstimmig folgenden Beschluß faßte: „La IVème Assemblèe nationale hellénique à l'issue des débats sur le Protocole signé à Genève le 29 septembre 1924, Considérant d'une part que le Protocole est contraire aux dispositions générales du Traité en vigueur relatif aux minorités, dispositions qui sont suffisantes pour leur protection et que la Grèce est fermement décidée à respecter pour toutes les minorités de langue, de race et de religion, Considérant d'autre part que les dispositions de ce Protocole créent une procédure incompatible avec le principe généralement reconnu que les dispositions concernant les minorités excluent toute ingérence dans les affaires intérieures de l'Etat, Considérant enfin que le susdit Protocole, bien loin d'assurer une période de paix, constitue une source de conflicts et de frottements continuels, Rejette le Protocole signé à Genève le 29 septembre" 18.

m . Die ethnischen Säuberungen in Griechenland und in der Türkei Die Debatte über den Zwangsaustausch griechischer u n d türkischer Bevölkerungsgruppen vollzog sich unter besonders schwierigen Bedingungen 1 9 . Man mußte den fait accompli zur Kenntnis nehmen, d.h. daß über eine Million griechischer Flüchtlinge Kleinasien bereits verlassen hatte. Außerdem mußte noch die Frage des auf beiden Seiten aufgegebenen Eigentums geregelt werden. Schließlich war das Problem der Umsiedlung der in der Türkei verbliebenen griechischen Bevölkerung u n d die Frage ihrer Sicherheit zu klären. Die kriegerischen Auseinandersetzungen v o m September-Oktober 1922 in Anatolien hatten sehr viel Blut gekostet u n d darüber konnte keine diplomatische Floskel hinwegtäuschen. Nansen wurde v o m Völkerbund beauftragt, mit den beiden betroffenen Regierungen über einen Bevölkerungstausch zu verhandeln, der auch i m Interesse der Großmächte lag. Die Trennung der beiden Völker i m Nahen Osten konnte zu einer Befriedung zwischen den beiden Ländern führen, doch sie warf mit der Verschiebung v o n mehr als einer Million Personen i n ein ihnen unbe18 19

LNA 41/4236; 41/42982.

Conférence de Lausanne sur les affaires du Proche-Orient, 1922-1923. Recueil des actes, 1: Procès verbal nr. 8, séance du 1er décembre 1922, S. 95-105.

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kanntes Land, mit der Registrierung, Schätzung u n d Auszahlung des persönlichen Eigentums sowie mit den Entschädigungsleistungen schwerwiegende Probleme auf. I n der Sitzung der Konferenz über die Lage im Nahen Osten v o m 1. Dezember 1922 führte Nansen die griechisch-bulgarische Auswanderungskommission als Beispiel dafür an, daß die technischen Fragen der Emigration nicht unlösbar waren. Zweifellos brachte der Bevölkerungsaustausch großes menschliches Leid mit sich u n d setzte viele Auswanderer der Armut aus, da die wirtschaftliche Lage Griechenlands u n d der Türkei keine Hilfsmaßnahmen zu ihrer Unterstützung erlaubte. Nansen betonte, der Austausch solle schnell vor sich gehen u n d vollständig ausgeführt werden, denn die tiefgreifende Krise, die die kriegerischen Auseinandersetzungen v o m Herbst 1922 ausgelöst hatten, könne eine neue Tragödie heraufbeschwören. Als Modell schlug er in diesem Zusammenhang das griechisch-bulgarische A b k o m m e n vor: „Un tel accord ne doit pas viser tous les détails qui peuvent être soulevés, et donc le règlement devrait etre renvoyé à un arrangement spécial qui serait conclu pour l'application du traité. C'est la procédure adoptée par la commission gréco-bulgare, et elle a donné d'excellents résultats; elle est rapide et efficace et elle sauvegarde entièrement les intérêts des deux parties". Nansen fuhr fort, er habe gesehen, w i e die griechisch-bulgarische Kommission arbeite, u n d wisse, daß ihr Erfolg auf die vollständige Unparteilichkeit der neutralen Mitglieder, die keiner Regierung gegenüber verantwortlich sind, zurückgeführt werden muß. Nansen sprach sich deshalb für die Einrichtung einer gemischten Kommission unter der Kontrolle des Völkerbundes aus, die mit der Ausführung des Bevölkerungsaustausches beauftragt werden sollte, auch w e n n die Türkei zu jenem Zeitpunkt noch nicht dem Völkerbund angehörte 20 . Mustafa Ismet Pascha (Ismet Inönü) referierte den türkischen Standpunkt, daß man so schnell w i e möglich ans Werk gehen solle. Er wies darauf hin, daß Ostthrakien den türkischen Behörden erst am 30. November 1922 zurückgegeben w o r d e n sei u n d sich deshalb noch nicht bestimmen lasse, wieviel Einwohner die verlassenen Dörfer aufnehmen können. Ferner forderte er, die griechische Bevölkerung in der gesamten Türkei, auch in Smyrna u n d Konstantinopel, in den Austausch miteinzubeziehen. Seiner Ansicht nach hatte die griechische Invasion i n Anatolien die ganze Region zerstört, während das v o n den Türken in Makedonien u n d in anderen Gebieten zurückgelassene Eigentum unversehrt geblieben sei. Ismet Pascha trat für einen vollständigen Austausch ein u n d lehnte es ab, Minderheitenschutzbestimmungen in den Friedensvertrag aufzunehmen, da die nationale Gesetzgebung voll u n d ganz ausreiche. Ein v o n außen garantierter Minderheitenschutz biete ausländischen Mächten nur die Gelegenheit zur Intervention, unter dem Vorwand, den Minderheiten zu Hilfe zu kommen. Regelrechte Sezessionsabsichten der Minderheiten u n d ihre Verbindung zu Griechenlands kleinasiatischen Expansionsplänen hätten sich bei den jüngsten Verwüstungen v o n 1922 bereits klar gezeigt 21 . 20

Ebd., S. 96-99.

21

Ebd., S. 99-101.

13 Corsini / Zaffi

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I m Namen Griechenlands sprach sich Venizelos ebenfalls für einen möglichst schnellen Bevölkerungsaustausch aus. Auf griechischem Gebiet lebten über eine Million Flüchlinge, darunter 200.000 aus Smyrna. Er betonte, daß es i n Ostthrakien u n d Anatolien genügend Wohnungen gebe, u m 800.000 Personen unterzubringen. Venizelos lehnte Zwangsmaßnahmen ab u n d schlug einen Austausch auf freiwilliger Basis vor. Konstantinopel betrachtete er als einen Sonderfall, u n d er widersetzte sich der Idee einer Zwangsauswanderung der dort lebenden Griechen. Er verteidigte das Minderheitenschutzsystem des Völkerbundes u n d hob hervor, daß der Bevölkerungsaustausch mit der Türkei nicht ausgeglichen sei, da die Türkei 1.600.000 Griechen abgeschoben und nur 350.000 Türken aufgenommen hätte 22 . Der Vorsitzende der Lausanner Konferenz Lord Curzon legte den Standpunkt der Großmächte dar. Die Dringlichkeit der Lage verlange eine energische Tat. Der Austausch auf freiwilliger Basis drohe sich über Jahre hinzuziehen. Curzon legte amerikanische Statistiken vor, aus denen hervorging, daß sich die Zahl der Griechen in der Türkei v o n 1.600.000 i m Jahr 1914 auf 500.000 i m Jahr 1922 verringert habe. I n Konstantinopel hingegen habe sich ihre Zahl v o n 300.000 (1914) auf 400.000 (1922) erhöht. Die Auswanderung dieser Griechen hätte für die Türkei einen empfindsamen ökonomischen Verlust bedeutet. Curzon übernahm das Anliegen der griechischen Delegation, die ungefähr 124.000 Muslims in Westthrakien nicht auszuweisen 23 . Tatsächlich wurden die Griechen in Konstantinopel u n d die Muslims in Westthrakien (die eigentlich bulgarischer Abstammung waren) nicht in den Austausch einbezogen. Der Zwangsaustausch zwischen türkischen Staatsbürgern g r i e c h i s c h - o r t h o d o x e n B e k e n n t n i s s e s u n d g r i e c h i s c h e n Staatsbürgern muslimischer Religion hatte somit folgendes Ergebnis: a) 348.000 Muslims wanderten nach Anatolien aus (ausgehandelte Zahl 380.000); b) aus Anatolien w u r d e n 94.000, aus Ostthrakien 18.000 u n d aus Konstantinopel 38.000, insgesamt also aus der Türkei 150.000 Griechen ausgewiesen (während die ausgehandelte Zahl 500.000 betrug) 2 4 .

Schlußfolgerungen Die Erfahrungen mit Bevölkerungsaustausch zwischen Griechenland u n d Bulgarien sowie zwischen Griechenland u n d der Türkei haben das Vertrauen i n die Wirkungskraft der Minderheitenschutzverträge auf dem Balkan erschüttert. Die beiden A b k o m m e n über die Bevölkerungsverschiebungen waren nämlich Bestandteil des v o m Völkerbund entwickelten Minderheitenschutzsystems. Für 22

Ebd., S. 100-102.

23

Ebd., 102-104.

24 Commission mixte pour l'échange des populations grecques et turques. Rapport final, Istanbul 1934.

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die Staaten bestand das absolute u n d unbedingte Ziel darin, eine in nationaler Hinsicht homogene Bevölkerung zu schaffen. Zwangsmaßnahmen begleiteten jeden Austausch oder jede Umsiedlung v o n Bevölkerungsteilen, auch w e n n sie auf freiwilliger Basis erfolgten. Unter dem Blickwinkel der Menschenrechte handelte es sich bei dem Bevölkerungsaustausch u m einen Gegenstand politischen Tauschhandels. Auswanderung erzeugte Leid, wirtschaftliches und moralisches Elend, Entwurzelung. Dabei wurden die Eigentums- u n d Freiheitsrechte v o n mehr als dreieinhalb Millionen Personen (1.500.000 Bulgaren, 1.500.000 Griechen, 500.000 Türken) verletzt. Die Beurteilung der Ergebnisse fällt widersprüchlich aus. Das Verhältnis zwischen den betroffenen Staaten verbesserte sich nur vorübergehend. Daß sich die Beziehungen zwischen der griechischen u n d der türkischen Regierung nach dem Bevölkerungsaustausch v o n 1924 kurzfristig entspannten, lag vor allem an ihrem gemeinsamen Ziel, Bulgarien politisch u n d diplomatisch zu isolieren. Die zum Islam übergetretenen Bulgaren (die Pomaken) in Westthrakien betrachtete man als „Türken", so daß die Konflikte zwischen den Griechen u n d Türken in dieser Region einen dauerhaften Charakter annahmen. Waren die Ergebnisse des „freiwilligen" Austausches besser? Auch in diesem Fall geriet die Bevölkerung unter einen systematischen ökonomischen und gesellschaftlichen Druck. Jede auf internationaler Ebene beschlossene territoriale Abtretung rief auf dem Balkan unvermeidlich Bevölkerungsbewegungen hervor. Nach Abschluß der Arbeit der gemischten griechisch-bulgarischen Kommission zeigte sich, daß die bulgarische Bevölkerung in Griechenland bezüglich der Rückwanderung geteilter Meinung geblieben war. Die 1932 v o n Mgr. Neophite u n d anderen kirchlichen Würdenträgern abgefaßte Petition an den Völkerb u n d w a r f offiziell die Frage der religiösen Rechte für die ungefähr 150.000 in Griechenland lebenden Bulgaren auf. Die griechische Regierung räumte nach Einleitung eines Untersuchungsverfahrens durch die Genfer Organisation ein, daß es auf griechischem Staatsgebiet noch 80.000 Bulgaren gäbe, stellte jedoch gleichzeitig die Annehmbarkeit der Petition in Frage, da die Petitionäre seinerzeit die Möglichkeit zur Auswanderung gehabt hätten. Der Bevölkerungsaustausch widersprach den Grundsätzen des Menschenrechts u n d den allgemeinen Bestimmungen des internationalen Rechtes. Politisch ließ er sich nur mit dem Hinweis auf eine Ausnahmesituation begründen. Allein ein wirksames, fest auf die Prinzipien des friedlichen Zusammenlebens gegründetes Minderheitenschutzsystem hätte den Gewalttaten zwischen Volksgruppen sowie Sprach- u n d religiösen Konflikten vorbeugen können.

13*

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Die Minderheitenpetition im Rahmen der Politik des Völkerbundes* Von Davide Zaffi

Die Geschichtsschreibung hat die Bedeutung der Petition i m Rahmen des internationalen, v o m Völkerbund garantierten Systems zum Schutz der nationalen u n d religiösen Minderheiten wiederholt hervorgehoben. So drückte sich Gütermann in seinem bereits klassischen Buch aus, daß es „ohne die Möglichkeit, Petitionen an den Völkerbund zu richten ..., nie einen effektiven Minderheitenschutz durch diese Organisation" hätte geben können 1 . Nicht anders urteilte später Schot, der zwar ein insgesamt weniger günstiges Bild zeichnete, i n der Petition aber ein Mittel sah, das den Minderheiten einen direkten Zugang zur internationalen Bühne gewährt habe 2 . Schon die Zeitgenossen waren sich i m klaren darüber, daß die Petition den Angelpunkt des Systems darstellte. Der Rechtsexperte für Minderheitenfragen Georg Bruns, v o n dem sich das deutsche Auswärtige Amt mehrfach beraten ließ u n d dem w i r mehrere ausgezeichnete Studien zum Thema verdanken, betonte gegen Ende der 20er Jahre: »... es darf nicht übersehen werden, daß die Verfahrensordnung für Minderheitsangelegenheiten sich nur auf die Behandlung v o n Petitionen ... bezieht" 3 . U n d der britische Außenminister Chamberlain, Genf vertrat, bestätigte einmal mit dem ganzen Autorität ebenfalls, daß der Völkerbundsrat „doit droit de recevoir une pétition d'une minorité qui

der sein Land wiederholt in Gewicht seiner politischen se réserver jalousement son se juge molestée" 4 .

Angesichts der Bedeutung, die der Petitionseinrichtung allgemein zugesprochen wurde (die Zahl der angeführten Stellungnahmen ließe sich leicht vermeh*

Die Genfer Konvention vom 15.5.1922 zwischen Deutschland und Polen, die durch Vermittlung des Völkerbundes zustande kam, sah für die Minderheitenpetitionen aus Oberschlesien ein Sonderverfahren vor, das hier nicht erörtert werden kann; vgl. zu dieser wichtigen Frage G. Kaeckenbeeck, The International Experiment of Upper Slesia, London 1942. 1 Ch. Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren des Völkerbundes, Berlin 1979, S. 270. 2 B. Schot, Nation oder Staat? Deutschland und der Minderheitenschutz, Marburg 1988, S. 9. 3 C.G. Bruns, Gesammelte Schriften zur Minderheitenfrage, Berlin 1932, S. 129. 4

Procès verbal du 10.6.1925, in: Journal Officiel, Juli 1925, S. 875.

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Davide Zaffi

ren) überrascht es auf den ersten Blick, daß die fünf Vertragswerke 5 , mit denen in der Zwischenkriegszeit der rechtliche Rahmen des internationalen Minderheitenschutzsystems definiert wurde, sie nicht vorsahen. In Wirklichkeit hatten die Großmächte während der langwierigen Verhandlungen über diese Verträge die Möglichkeit angesprochen, sie ausdrücklich zu erwähnen, waren aber zu keinem positiven Ergebnis gelangt. I n erster Linie gilt festzuhalten, daß es sich bei den Minderheitenschutzverträgen - weder einzeln noch in ihrer Gesamtheit - u m allgemeine Abkommen, sondern u m regelrechte bilaterale Verträge zwischen den alliierten u n d assoziierten Hauptmächten einerseits u n d den neuen Staaten andererseits handelte, die das gegenseitige Verhältnis der vertragschließenden Parteien für zahlreiche Teilbereiche festlegten. Die Verträge, auch damals gemeinhin als „Minderheitenverträge" bekannt, regelten durch besondere Artikel auch Fragen völlig anderer Natur, so z.B. den internationalen Handel der neuen Staaten u n d ihren Beitritt zu bereits bestehenden europäischen Konventionen. Bei derart umfassenden Verträgen, mit denen Staaten untereinander Verpflichtungen eingingen, hätte es in einem direkten Gegensatz zur damals w i e heute noch gültigen politisch-diplomatischen Tradition gestanden, hätte man Einzelpersonen oder Gruppen v o n Privatpersonen eine aktive Rolle bei ihrer A n w e n d u n g einräumen wollen. Die fehlende Erwähnung des Petitionsverfahrens in den Verträgen war darüber hinaus aber auch auf konkrete politische Bedenken zurückzuführen. Bereits zu Kriegszeiten hatten einige jüdische Gemeinden in Osteuropa auf die Notwendigkeit hingewiesen, bestimmte Garantien für Minderheitengruppen i m internationalen Recht zu verankern (insbesondere i m russischen Polen 6 ), u n d es gelang ihnen, in den Vereinigten Staaten bei einflußreichen jüdischen Kreisen wertvolle Verbündete u n d überzeugte Befürworter zu finden. Nachweislich hatten wichtige Exponenten des „American Jewish Congress" in diesem Zusammenhang zu Beamten der damals amtierenden demokratischen Administration u n d zum amerikanischen Präsidenten Wilson Kontakt aufgenommen. Seit Dezember 1918 versicherte Wilson nachdrücklich, er wolle sich auf der unmittelbar bevorstehenden Friedenskonferenz für internationale Minderheitenschutzmaßnahmen einsetzen 7 .

Gemeint sind die Verträge der alliierten und assoziierten Hauptmächte mit Polen (28.6.1919), mit der Tschechoslowakei (10.9.1919), mit dem Reich der Serben, Kroaten und Slowenen (10.9.1919), mit Rumänien (9.12.1919) und mit Griechenland (10.8.1920). Vgl. die Vertragstexte in H. Kraus, Das Recht der Minderheiten, Berlin 1927. Vgl. den ersten Teil des Vertrages mit Polen und Auszüge aus den übrigen vier Verträgen auch in dem leichter zugänglichen Band von A. Pizzorusso, Le minoranze nel diritto pubblico interno, Milano 1967, 2, S. 604-607. 6 Vgl. J. Fouques-Duparc, La protection des minorités de race, de langue et de religion, Paris 1922, S. l60. 7 R. Standard-Baker ; The Public Papers of Woodrow Wilson, New York / London 1922, 1, S. 306-307.

Die Minderheitenpetition

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Der erste Entwurf der Völkerbundssatzung, den der amerikanische Präsident in Paris vorlegte, enthielt einen Artikel, der alle neu gebildeten Staaten, die dem Völkerbund beitreten wollten, verpflichtete, jede diskriminierende Maßnahme „both i n fact and in law" gegen ihre jeweiligen ethnischen oder nationalen Minderheiten zu unterlassen. Selbst bei der amerikanischen Delegation rief dieser Artikel Verwirrung u n d bei den Engländern sogar offene Skepsis hervor; zu weitgehend schien er ihnen zu sein u n d seine Anwendbarkeit zu fragwürdig, so daß schließlich empfohlen wurde, ihn zu streichen. I n den späteren Satzungsentwürfen war ein derartiger Artikel über die nationalen Minderheiten nicht mehr zu finden 8 . Wahrscheinlich hätte die Friedenskonferenz ohne das hartnäckige Beharren v o n Vertretern jüdischer Vereinigungen in Paris keine weiteren Initiativen auf diesem Gebiet ergriffen. Die zuweilen auch dramatisierten Nachrichten über die Pogrome i n den ostpolnischen Gebieten verstärkten ihren Einfluß bei den angelsächsischen Delegationen, welche sich für die Probleme der osteuropäischen Juden sehr empfänglich zeigten. Die osteuropäischen Juden besaßen zwar ein starkes religiöses u n d nationales Bewußtsein, doch es war klar, daß sie unabhängig davon, w i e die Friedenskonferenz die neuen innereuropäischen Grenzen zog, als einzige umfangreiche Gruppe immer nur „Gäste" i n Staaten bleiben mußten, die in Besitz einer anderen Nationalität sein würden. Gleichwohl bedurften gerade die osteuropäischen Juden der Garantie eines internationalen Schutzes, w i e die jüngste Geschichte gezeigt hatte. Die Frage, w i e nicht nur das Prinzip eines derartigen Minderheitenschutzes konkret anerkannt, sondern auch einige grundsätzliche Bestimmungen durchgesetzt werden sollten, war für lange Zeit allein auf Expertenebene u n d informell verhandelt worden, erst spät aber bis zu den Spitzen der Friedenskonferenz vorgedrungen. Erst in der Sitzung v o m 1. Mai, d.h. sechs Tage bevor der Friedensvertrag Deutschland unterbreitet werden sollte, forderte Wilson den Obersten Rat direkt auf, zu erwägen, ob den polnischen u n d tschechoslowakischen Juden nicht bestimmte Sicherheiten geboten werden müßten 9 . Die bloße Existenz dieser beiden Länder verdanke sich dem Kriegseinsatz der Siegernationen u n d folglich den Entscheidungen der Friedenskonferenz, so daß diese durchaus berechtigt sei, eine Art Gegenleistung zu verlangen. Noch in derselben Sitzung entschied man die Einrichtung einer Ad hocKommission, die Kommission für die neuen Staaten, deren Aufgabe darin bestehen sollte, die Minderheitenschutzbestimmungen konkret auszuarbeiten. Die aus jeweils einem Vertreter der Großmächte bestehende Kommission griff in großem Umfang auf einen Vertragsentwurf zurück, den das Joint Jewish Comitee" einige Wochen zuvor ausgearbeitet u n d der amerikanischen Delegation auf informellem Wege zugeleitet hatte 10 . 8

Vgl. D.-HMiller, The Drafting of the Covenant, New York 1928, 2, S. 90 f., S. 129.

9

Papers on Foreign Policy, 5, S. 393.

10

N. Feinberg , La question des minorités à la Conférence de Paix e 1919-20 et l'action juive en faveur de la protection internationale des minorités, Paris 1929, S. 82-91.

Davide Zaffi

200

Man kann also davon ausgehen, daß es ursprünglich nicht u m den Schutz jener nationalen Gruppen ging, die sich nach den Beschlüssen der Friedenskonferenz u n d den durch sie bewirkten Gebietsveränderungen in die Lage einer Minderheit versetzt wurden. Daraus folgt, daß es sich bei den Verträgen zumindest in historischer Perspektive nicht u m eine Art Kompensation für die in bestimmten Fällen erfolgte Mißachtung des Selbstbestimmungsrechtes handelte. Die Artikel des ersten, mit Polen abgeschlossenen Minderheitenschutzvertrages, der den späteren Verträgen mit etlichen Abwandlungen Modell stand, brauchen hier nicht i m einzelnen erörtert zu werden. Erwähnt sei jedoch, daß i m Zusammenhang mit dem sogenannten „Garantieartikel" überlegt wurde, den Minderheiten i m Falle der Verletzung der ihnen zuerkannten Rechte Einspruchsmöglichkeiten vor einem neu einzurichtenden internationalen Schiedsgericht bzw. dem schon bestehenden Haager Gerichsthof, einzuräumen. Insbesondere das amerikanische u n d italienische Kommissionsmitglied unterstützten diesen Vorschlag - allerdings nicht mit besonderem Nachdruck. I m Vergleich zu anderen Fragen bezüglich der Minderheitenschutzverträge veranlaßte dieses Thema keine lebhaften Diskussionen, u n d überhaupt schien es, als o b es unter allgemeiner Erleichterung aufgegeben worden sei 11 . Für Wilson selbst bedeutete das in Aussicht gestellte Minderheitenpetitionsrecht keinen unverzichtbaren Bestandteil des Garantieartikels, denn „the Jews in the United States w o u l d be able to bring sufficient influence to bear to call the attention of the Council of the League of Nations to the matter" 12 . Er war davon überzeugt, daß die amerikanischen Repräsentanten offiziell u n d aus eigenem Antrieb i m zukünftigen Völkerbundsrat die Fälle aufgreifen würden, in denen die Vertragsbestimmungen verletzt u n d polnische Juden diskriminiert werden sollten. Wilson zählte dabei für die notwendige Informationsgewinnung zweifellos auf vertrauliche Mitteilungen durch die amerikanischen jüdischen Vereinigungen. Der Garantieartikel des Vertrages zwischen den Hauptmächten u n d Polen, der v o n den übrigen Verträgen wortwörtlich übernommen wurde, behielt also in seiner Endfassung den i m Völkerbundsrat vertretenen Ländern das ausschließliche Recht vor, effektive oder drohende Verletzungen der Minderheitenschutzbestimmungen vor dieses Organ zu bringen; der Rat sollte dann bei Erfüllung des Tatbestandes all jene Maßnahmen ergreifen, die den Rechtszustand wiederherzustellen vermochten. Bei Meinungsverschiedenheiten über die Auslegung bzw. A n w e n d u n g der Verträge sollte ferner nur der Rat als Kollektivorgan oder ein Mitglied des Rates den internationalen Gerichtshof im Haag anrufen dürfen. Die v o n den Hauptmächten dem Völkerbund übertragene Garantie w u r d e damit ausschließlich seiner höchsten politischen Instanz, d.h. dem Rat, anvertraut. Von Minderheitenpetitionen war dabei keine Rede. Wahrscheinlich wäre es den Großmächten, selbst w e n n sie es gewollt hätten, nicht gelungen, das Peti11

Papers on Foreign Policy, 6, S. 228-231.

12

Ebd., S. 530.

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tionsrecht i n den Verträgen festzuschreiben. I m Mai 1919 hatten die Länder, die für die Unterzeichnung v o n Minderheitenschutzartikeln bestimmt worden waren, bereits eine hinreichend starke Position erlangt, u m Entscheidungen des Obersten Rates, die nach ihrem Urteil ihre Souveränität gefährdeten, wirksam entgegenzutreten. Die Aussicht, in einem so wichtigen Bereich der Gesetzgeb u n g u n d Verwaltungspraxis international überwacht zu werden, führte bei den Delegationen dieser Länder, insbesondere bei den Polen u n d Rumänen, zu heftigen Protesten 13 . Tatsächlich unterzeichneten die fünf „Minderheitenstaaten", w i e man sie bald zu nennen begann, die Verträge in der endgültigen Fassung erst nach erheblichem ultimativen Druck seitens der Großmächte. Mehr war w o h l nicht zu erreichen, vielmehr hätte die Einfügung des Petitionsrechtes in den Vertragstext wahrscheinlich eine schwere politische Krise hervorgerufen, die sich nicht einmal Wilson zu jenem Zeitpunkt selbst bei nachhaltiger Unterstützung der wichtigsten europäischen Verbündeten (und sie war nicht vorhanden) erlauben konnte. Angesichts dieser Entwicklung der Idee des internationalen Minderheitenschutzes erscheint es fast als eine Ironie der Geschichte, daß das in der Folge v o m Völkerbund geschaffene System auf die Unterstützung der Vereinigten Staaten verzichten mußte, d.h. des Landes, das es am meisten befürwortet hatte. Tatsächlich traten sie dem Völkerbund nicht bei, so daß dieser eine kaum zu ersetzende Führungskraft verlor. Damit trat auch das jüdische Problem, obgleich es nicht gänzlich aus dem Aktionsbereich des Völkerbundes herausfiel, in den Hintergrund. So glaubte der englische Vertreter in der Kommission für die neu gebildeten Staaten Hadlam-Morley seine Kollegen noch i m Juni 1919 darauf aufmerksam machen zu müssen, daß neben den Interessen der osteuropäischen Juden auch die der anderen Minderheiten zu berücksichtigen seien 14 . Aber schon in den ersten Monaten nach Unterzeichnung der Verträge, wurde das Minderheitenschutzsystem fast ausschließlich mit Fragen konfrontiert, die sich aus den erzwungenen Gebietsabtretungen der besiegten Länder ergaben. U m so dringlicher stellte sich damit das Problem, w i e sich der Völkerbundsrat 13 K.N. Lundgreen, The Polish Problem at the Paris Peace Conference, Odensee 1979, und Gh. Brätianu, Acjiunea politicä §i militarä a României în 1919, Bukarest 1939. Bei der Vorbereitung eines Treffens mit Wilson am Rande der Konferenz äußerte sich der rumänische Delegationschef Brätianu folgendermaßen (vgl. ebd., S. 74): „Voi räspunde cä, hotäratä a acorda egalitate absoluta §i largì libertàri politice minoritätilor, ... România nu admite în nici un chip controlul altor State în afacerile ei läuntrice" [Ich werde antworten, daß Rumänien entschlossen ist, seinen Minderheiten absolute Gleichheit und weitreichende politische Freiheiten zu gewähren, ... aber keine Form von Kontrolle seiner inneren Angelegenheiten duch andere Staaten zulassen wird]. Aufgrund von Wilsons intransigenter Haltung zu diesem Punkt verließ die rumänische Delegation aus Protest die Pariser Konferenz. Von seiner Abreise erklärte Brätianu u.a. gegenüber einer Pariser Zeitung: „... plec pentru cä sînt convins cä România nu va putea acepta clausele cu privire la minorità!i, care vor limita suveranitatea ei" [Ich reise ab, weil ich überzeugt bin, daß Rumänien die Minderheitenschutzbestimmungen nicht annehmen kann, da sie seine Souveränität beeinträchtigen würden]; nach: Românii la 1918, Bukarest 1987, 5, S. 2. 14 E. Vießjaus, Die Minderheitenfrage und die Entstehung der Minderheitenschutzverträge auf der Pariser Konferenz, Marburg I960, S. 203.

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über Fälle kundig machen sollte, die nach der Ratifizierung der Schutzverträge zu möglichen Eingriffen v o n seiner Seite führen konnten. A u f die diplomatischen Vertretungen der Großmächte in den Minderheitenstaaten durfte er realistischerweise nicht zählen. Einerseits hätte ein derartiges Vorgehen zwangsläufig Erinnerungen an die frühere, an koloniale Arroganz grenzende Einmischung der westlichen Länder in die inneren Angelegenheiten des osmanischen Reiches geweckt. Andererseits konnte es nicht Aufgabe diplomatischer Vertretungen sein, Vergehen oder regelrechte Rechtsverletzungen v o n Regierungen anzuzeigen, bei denen sie akkreditiert waren; sie sollten die Beziehungen zum Gastland verbessern u n d eher dafür Sorge tragen, daß mögliche Spannungsmomente auf der Welt geschaffen würden - u n d das u m so mehr w e n n sie mit Fragen zusammenhingen, die ihre Länder nicht direkt betrafen. Aus dieser Sackgasse fand man mit der Einrichtung des Petitionsverfahrens relativ früh heraus. A m 20. Februar 1920 nahm der Rat eine Resolution an (den sogenannten „Tittoni-Bericht", nach dem Namen des Berichterstatters i m Rat), die die Grundsätze u n d Verfahrensweisen des Minderheitenschutzsystems festlegte, welche für die nächsten zwanzig Jahre im wesentlichen unverändert blieben. D i e Resolution erkannte, daß die Übertragung der Garantie über die Minderheitenschutzbestimmungen an den Völkerbund bedeutete, „que la Société doit s'assurer que les dispositions relatives à la protection des minorités sont constamment executées". Die Entscheidung darüber, o b der Garantiefall eintrat, gehörte zum ausschließlichen Vorrecht jeder einzelnen i m Rat vertretenen Macht, doch dies Schloß - „évidemment", wie es i m Rapport heißt - nicht aus, daß „les minorités elle-mêmes ou bien les États n o n représentés au Conseil ont la faculté de signaler à la Société des Nations toute infraction ou tout danger d'infraction ... Cet acte doit conserver le caractère d'une petition ou d'une information pure et simple" 1 5 . Die Petition trug also in erster Linie den Charakter eines Notbehelfs. Hätte man warten wollen, bis die diplomatische Vertretung eines i m Rat vertretenen Landes aus eigener Initiative Hinweisen auf Unrechtsmaßnahmen gegen eine vertraglich geschützten Minderheit nachging, wären die Schutzbestimmungen höchstwahrscheinlich nie zur Anwendung gelangt. Zugleich aber ist es nicht vermessen, diese direkte Appellationsmöglichkeit als Ausdruck jener „demokratischen Ideologie" zu betrachten, die sich trotz zahlreicher Mängel u n d Einseitigkeiten gegen Ende des Ersten Weltkrieges eine engere zwischenstaatliche Zusammenarbeit als notwendig u n d der „Konsens der Regierten" als Regierungsprinzip v o n universaler Bedeutung hatte erscheinen lassen. Zweifellos stellte der Ratsbeschluß v o m 20. Februar 1920 nicht nur ein N o v u m i n der europäischen Geschichte dar, sondern bot darüber hinaus die Basis für effiziente internationale Kontrollverfahren, die sich auf individuelle 15 Vgl. den Text des „Rapportes Tittoni" wie auch die späteren Ratsbeschlüsse zu Fragen des Minderheitenschutzes in: Ch. Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren, S. 338-345.

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u n d kollektive Rechte beziehen und deren Potential noch heute nicht voll u n d ganz erschlossen ist. Die Rechtsgeschichte der wichtigsten europäischen Staaten u n d der Vereinigten Staaten bestätigt i m übrigen den demokratischen Gehalt des Petitionsrechtes. Die Rechtslehre scheint sich darin einig zu sein, daß das Petitionsrecht in den modernen europäischen Staaten eine so eigenartige Entwicklung darstellte, daß sie mit den früheren Formen von Eingaben an den Herrscher nur w e n i g oder nichts gemein hat 1 6 . Tatsächlich nahm man das Petitionsrecht neben der Presse- u n d Vereinsfreiheit i m 19. Jahrhundert für lange Zeit als Maßstab des demokratischen Charakters (d.h. des liberalen Gehalts) der Staatsverfassungen; Rottecks „Staatslexikon" beispielsweise, der liberale Katechismus des 19. Jahrhunderts, sah in i h m „einen der wichtigsten Verfassungsrechte der Bürger", einen „wesentlichen Bestandteil eines lebendigen, gesunden u n d freien Staatsorganismus", der „mit der neuen europäischen Kultur" übereinstimmt 1 7 . A u f internationaler Ebene gab es bis 1920 eigentlich kein Petitionsrecht, obgleich es i m vorausgegangenen Jahrhundert wiederholt zu sogenannten „humanitären Eingriffen" gekommen war 1 8 . Staaten, die i m Rahmen multinationaler Verträge bestimmte Verpflichtungen bezüglich der Behandlung von Minderheitengruppen innerhalb ihrer Grenzen eingegangen waren, wurden v o n ihren Vertragspartnern zuweilen auch zu ihrer Einhaltung aufgefordert. Derartige Initiativen erfolgten nicht in Folge v o n Protesten aus den Minderheitengruppen selbst, oder auf Grund v o n Beschwerden der Personen, die sich in ihren Rechten direkt beeinträchtigt sahen, sondern beruhten auf einer unabhängigen Entscheidung der Regierungen, die sich dabei unter Umständen v o n Regungen innerhalb der öffentlichen Meinung - ausgelöst beispielsweise durch Zeitungsartikel über die dem Wiener Vertrag zuwiderlaufende Behandlung der Polen in Rußland bzw. über die dem Berliner Vertrag zuwiderlaufende Behandlung der Juden in Rumänien - leiten ließen 1 9 . In praktischer Hinsicht war Initiativen dieser Art j e d o c h k e i n Erfolg beschieden, v o r a l l e m w e i l es an k o d i f i z i e r t e n Interventionsverfahren fehlte. Vor diesem geschichtlichen Hintergrund u n d unter Rucksicht auf die Entw i c k l u n g des Petitionsrechts in den einzelnen internen Rechtsordnungen läßt sich die berechtigte Annahme aussprechen, daß der Völkerbundsrat mit seiner Lösung des Informationsproblems ein Element v o n unbezweifelbar demokratischem Gehalt i n das internationale Recht eingeführt hat. So geriet die Minderheitenpetition u n d das gesamte Schutzsystem, dessen Fundament sie war,

16 Vgl. H. Ridder, Petitionsrecht, in: Staatslexikon, 6, Freiburg 1961, S. 230-234; G. Rossi Merigbi, Il diritto di petizione, in: Studi in onore di G. Chiarelli, 2, Milano 1974, S. 336. 17 18

C. Rotteck / C. Welcker , Staatslexikon, 10, Altona 1848, S. 556 f.

Vgl. P. Thornberry, International Law and Rights of Minorities, Oxford 1991, S. 25-38. 19 M. Richard , Le droit de pétition, Paris 1932, S. 446.

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völlig unabhängig v o n dem Grad ihrer Funktionsfähigkeit unausweichlich in eine Krise, als die demokratischen Regierungsprinzipien in Europa zunächst in Frage gestellt u n d seit Anfang der 30er Jahre offen abgelehnt w u r d e n 2 0 .

Das „Petitionsrecht", w i e es beim Völkerbund praktiziert wurde, wies zahlreiche Gemeinsamkeiten mit dem in den westeuropäischen Ländern geltenden Petitionsrecht auf. Die Petitionen an den Völkerbund dienten nicht nur dazu, Mängel oder Verzögerungen bei der Anwendung der Minderheitenschutzbestimmungen aufzuzeigen, sondern verlangten v o n den Völkerbundsorganen, daß sie sich betätigen u n d Maßnahmen ergreifen, damit die Rechtsverhältnisse, w i e sie v o n den Verträgen vorgesehen waren, wiederhergestellt (oder überhaupt erst geschaffen) werden. Vorschläge durften sie allerdings nicht enthalten, u n d ebensowenig war Kritik an der Minderheitenpolitik eines Staates erlaubt, w e n n sie nicht mit der Anzeige konkreter Mißbräuche verbunden war. Die Eingabe einer Petition verpflichtete die Genfer Behörden allerdings nicht einmal zur Einleitung eines Ermittlungsverfahrens. Die Petition galt als eine „information pure et simple". Aus diesem rein informativen Charakter folgt, daß der Petitionär (das heißt in der Regel ein Angehöriger der Minderheiten selbst) gegenüber dem Völkerbund keine Rechtsposition einnahm; die Behörden waren nicht einmal gehalten, den Empfang der Petitionsschrift zu bestätigen. Die Petition bot dem Petitionär an u n d für sich keine Möglichkeit, in das u.U. aufgrund seiner Informationen eingeleitete Verfahren aktiv einzugreifen, w i e es i m übrigen auch den Bestimmungen der einzelstaatlichen Rechtsordnungen weitgehend entsprach. Während jedoch die an die nationalen Parlamente oder an untergeordnete innerstaatliche Organe gerichteten Petitionen dem interessierten Bürger eine abschließende Einsicht ermöglichten, w u r d e n die Ergebnisse der die Petition betreffenden Arbeiten weder der Öffentlichkeit noch dem Petenten bekannt gegeben. War nämlich durch den Generalsekretär die Annehmbarkeit einer Petition festgestellt, bestimmte der Ratspräsident jeweils zwei Ratskollegen u n d bildete mit ihnen ein „Dreierkomitee", zur inhaltlichen Prüfung der Petition 21 . Die Dreierkomitees, die i m Prinzip nur Vorarbeiten leisteten u n d dabei v o n der Minderheitensektion beim Sekretariat des Völkerbundes unterstützt wurden, dienten offiziell der Entlastung des Rates. Erwies sich die Petition als offensichtlich unbegründet, wurde sie v o m Komitee, u m die Tagesordnung des Rates nicht unnötig zu belasten, ohne Angabe der Gründe fallengelassen; handelte es sich bei den angezeigten Tatsachen allem Anschein nach jedoch u m Vertragsverlet20

Bereits Mitte der 20er Jahre hieß es, daß „the idea underlying the minority treaties is clearly the child of another period"; vgl. W. Rappard, Minorities and the League, in: The Problems of Minorities, hrsg. vom Carnegie Endowments for Peace, New York 1926, S. 330-343. 21 Laut Ratsbeschluß vom 20.10.1920 sollte für jede einzelne Petition ein Ad hocMinderheitenkomitee gebildet werden; vgl. den Text dieses Beschlusses in: Ch. Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren, S. 340.

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Zungen, legte das Komitee u n d nicht eine einzelne Macht die Petition dem Rat vor, w i e die Verträge eigentlich verlangt hätten. I n der Praxis beschränkten sich die Dreierkomitees allerdings nicht auf eine bloße Voruntersuchung, sondern versuchten nach Feststellung einer Rechtsverletzung bei der beschuldigten Regierung auf Gegenmaßnahmen hinzuwirken, die die betroffene Minderheit w e n n schon nicht in toto zumindest halbwegs zufriedenstellen konnten. Über die v o n Mal zu Mal mit Minderheitenregierungen erzielten Ausgleiche wurde der Rat nicht informiert, da sich jede weitere Verhandlung inzwischen erübrigt hatte. Nur dann, w e n n die Regierung zu keinen Zugeständnissen zu bewegen war, o b w o h l Vertragsverletzungen festgestellt worden waren, wurde der Fall an den Rat weitergeleitet und damit allgemein bekannt gegeben (die Ratssitzungen waren in der Regel öffentlich). Von den ungefähr 900 zwischen 1920 u n d 1940 in Genf eingereichten Petitionen w u r d e n gut 500 für annehmbar erklärt u n d dementsprechend v o n zuständigen Dreierkomitees geprüft, aber nur 16 gelangten zur Verhandlung vor den Rat 22 . Das belegt einerseits den großen Arbeitseinsatz der Dreierkomitees, andererseits aber auch die fast unbeschränkte Kompromißbereitschaft, die sie leitete. Der hohe Geheimhaltungsgrad, der sich aus dieser Verfahrensweise ergab, rechtfertigte sich vor allem dadurch, daß der Völkerbundsrat außerstande war, direkt gegen eine rechtswidrige Maßnahme vorzugehen. Er konnte einen Minderheitenstaat zwar auffordern, daß er das nationale Recht den Minderheitenschutzbestimmungen anglich; er konnte die angezeigte Regierung auch öffentlich ermahnen, doch die Möglichkeiten des Rates erschöpften sich in dieser sozusagen rein negativen Funktion (selbstverständlich hatte er nicht die Macht, interne Rechtsnormen aufzuheben); in welcher Form und nach welchem Zeitplan eine Maßnahme abgeändert werden sollte, die nach Ansicht des Rates einen oder mehrere Mitglieder einer Minderheitengruppe diskriminierte, hatte die beschuldigte Regierung zu entscheiden. Welche Stellung das Petitionsverfahren u n d überhaupt das Minderheitenschutzsystem i m Rahmen der allgemeinen Tätigkeit des Völkerbundes einnahm, zeigt sich unter anderem daran, daß diejenigen, die die Geheimhaltung der Petitionen u n d der mit ihnen verbundenen Initiativen befürworteten, ausschließlich Gründe politischer Opportunität u n d keine Überlegungen juristischer Natur anführten. Sie behaupteten, daß sich aus der Publizität der Untersuchungsergebnisse Nachteile ergeben würden, nicht zuletzt für die Lage der Minderheiten selbst. Blieb die Arbeit geheim, bestanden gute Möglichkeiten, auf die diplomatische Vertretung des beschuldigten Landes diskreten Druck auszuüben u n d v o n dessen Regierung direkt oder indirekt die Abänderung oder Zurücknahme einer administrativen, gesetzgeberischen ja sogar gerichtlichen Maßnahme zu erlangen. Bei Bekanntwerden der Petition u n d der diesbezüglichen Initiativen des Rates, wäre die Angelegenheit äußerst empfindlich geworden, denn die öffentliche Meinung hätte in dem Vorgang eine Kraftprobe zwischen dem Völ22 Die genaue Zahl aller eingereichten Petitionen läßt sich nur schwer ermitteln, weil für die Zeit zwischen 1920 und 1929 ein offizielles Verzeichnis fehlt.

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kerbund u n d einem Mitgliedsstaat gesehen, die nur einen Gewinner haben konnte u n d dem Verlierer einen großen Ansehensverlust einbringen mußte. Derartige Überlegungen, die nicht zuletzt von Beamten des Generalsekretariats wiederholt geltend gemacht wurden 2 3 , ließen die Kritik an der fehlenden Öffentlichkeit in diesem Bereich nicht verstummen. Mit dieser Haltung, die nach Meinung vieler übertrieben vorsichtig war, schien der Völkerbundsrat in jene Formen der Geheimdiplomatie zurückzufallen, denen man abgeschworen hatte u n d die den Prinzipien der internationalen Zusammenarbeit widersprachen, auf denen die Genfer Organisation beruhte. Überdies beraubte die strenge Geheimhaltung das Minderheitenschutzsystem einer seiner wichtigsten Funktionen, die darin bestand, den Minderheiten ein Gefühl des Vertrauens u n d der Sicherheit zu vermitteln. Die Minderheiten wußten letztlich nicht, ob der Völkerbund ihre Schwierigkeiten wirklich aufgriff u n d entsprechend den Vertragsbestimmungen dafür eintrat, daß die gegen sie begangenen Ungerechtigkeiten aufgehoben wurden. Und selbst w e n n jede Petition dank der Aktion der Dreierkomitees zu einem für die Minderheiten positiven Ergebnis geführt hätte, wäre das Vertrauen in den Völkerbund nicht gestärkt worden, denn die Öffentlichkeit hätte von dem ganzen Vorgang sowieso nichts erfahren, und das Verdienst für allfällige Wiedergutmachungen hätte man ganz der beschuldigten Regierung zugeschrieben 24 . Dieser grundsätzliche Einwand ließ sich schwerlich entkräften. Andere kamen hinzu, die sich auf Aspekte der praktischen Durchführung bezogen. Verpflichtete sich beispielsweise eine beschuldigte Regierung auf Druck eines Dreierkomitees, eine diskriminierende Maßnahme gegenüber einem oder mehreren Mitgliedern einer Minderheitengruppe zu korrigieren, so konnten sie die v o n ihrer Regierung in Genf versprochene Änderung, w e n n sie ausblieb, nicht einfordern, denn sie wußten ja nichts davon. Auf der anderen Seite waren die Kontrolle, die die Ämter des Generalsekretariats vornehmen konnten, äußerst begrenzt an Zahl u n d Umfang, schon wegen Personalmangels. Da es i m Völkerrecht keinerlei Präzedenzfälle gab u n d anfänglich auch detaillierte u n d bindende Bestimmungen fehlten, konnte das Petitionsverfahren bis zu einem gewissen Grad ergänzt u n d den i m Verlauf der Jahre sich jeweils ergebenden Erfordernissen empirisch angepaßt werden. Dies gilt insbesondere für Verbesserungen des undurchsichtigen Prüfungsverfahrens. Allerdings beschloß der Rat erst 1929 nach langen, bisweilen auch heftigen Debatten, i m 23 Der Leiter der Minderheitensektion beim Sekretariat des Völkerbundes, der Norweger Colban, lehnte die Absicht eines Dreierkomitees, die Petition dem Rat vorzulegen, mit folgender Begründung ab: „Si la question était portée devant le Conseil, toute modifications que le gouvernement déciderait d'apporter ... serait considérée comme le résultat de l'intervention de la SdN et donnerait lieu à une forte opposition des éléments nationalistes. Une intervention non officielle rend beaucoup plus facile pour le Gouvernement d'apporter les modifications indispensables..."; vgl. Archiv des Völkerbundes (im folgenden abgekürzt: AVb), Procès verbal du Comité pour les questions des minorités du 12.6.1924, 29ème session du Conseil, R 1645-78. 24

Vgl. H. Dickinson , Les droits des minorités, Bruxelles 1924, S. 4.

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Amtsblatt des Völkerbundes die Funktionsweise des Schutzsystems zu erläutern. Besondere Statistiken sollten über die Gesamtzahl der i m Laufe eines Jahres eingereichten Petitionen, der als annehmbar befundenen u n d an ein Minderheitenkomitee zur Prüfung weitergeleiteten Petitionen, der aus den einzelnen Minderheitenstaaten eingegangenen Petitionen u n d schließlich über die Ergebnisse der Prüfung der Minderheitenkomitees (die sogenannten lettres de clôture) Auskunft geben 2 5 . Die Veröffentlichung der Ergebnisse bedurfte allerdings der ausdrücklichen Zustimmung der beschuldigten Regierung, die zu Beginn der 30er Jahre häufiger als erwartet erteilt wurde. Es sei an dieser Stelle daran erinnert, daß auch das Prüfungsverfahren v o n Petitionen nach der v o m Europarat 1950 ausgearbeiteten Europäischen Menschenrechtskonvention in wichtigen Phasen vertraulich blieb, obgleich die Petitionen hier bereits den Charakter einer regelrechten Anklageschrift besaßen. Die sogenannte Unterkommission u n d in einem zweiten Stadium die Prüfungskommission durften das Verfahren jederzeit einstellen, u n d zwar ohne vorherige Fühlungnahme mit dem Petenten, w e n n sie durch diskrete Sondierungen zu einem „règlement à l'aimable" mit der beschuldigten Regierung k o m m e n konnten 2 6 , u m auf diese Weise einen Rechtsspruch der richterlichen Instanz des Europarates zu vermeiden. Eine gewisse Vertraulichkeit, obzwar in geringerem Umfang, behielt das Verfahren auch noch nach der bis heute letzten Reform v o n 1983. Das kann als Beweis gelten, daß die seinerzeit v o m Völkerbund befolgte Prozedur gewichtige praktische Gründe hatte. Es wäre allerdings zu einseitig, sich auf die Betrachtung der formalen Bestimmungen des Petitionsverfahrens zu beschränken u n d danach die Tätigkeit des Völkerbundes i m Bereich des Minderheitenschutzes beurteilen zu wollen. Die vorin erwähnte Studie Gütermanns untersucht das internationale Minderheitenschutzsystem in einem ersten Teil, „la procedure écrite", u n d in einem zweiten, ebenso umfangreichen Teil, „la procedure n o n écrite". Damit berücksichtigt er die den Zeitgenossen i m übrigen durchaus bekannte Tatsache, daß das Minderheitenschutzsystem in praktischer Hinsicht häufig v o n den festgeschriebenen Verfahrensweisen abwich. Tatsächlich wurde der Petitionär über den Gang seiner Eingabe nicht selten mehr oder weniger umfassend informiert. Dies geschah in erster Linie über vertrauliche Kanäle, über die der mit der jeweiligen Minderheit verwandte Nationalstaat verfügte. Dies widersprach streng genommen den formalen Bestimmungen des Prüfungsverfahrens, wurde aber selbst v o n den zuständigen Völker25

Vgl. den Text des Ratsbeschlusses in: Journal Officiel, November 1929, S. 1005-

1006. 26

Vgl. G. Lodigiani , La Commissione nella Convenzione europea dei diritti dell'uomo, Milano 1969, insbesondere S. 41 und S. 167-171; 171 heißt es: „Das Kriterium der Vertraulichkeit bleibt auf jeden Fall vorherrschend. In erster Linie sind es Gründe politischer Opportunität und weniger rechtlicher Natur, an denen sich der europäische Mechanismus zum Schutz der Menschenrechte orientiert". Zu den späteren Modifikationen vgl. M. Da Salvia , Lineamenti di diritto europeo dei diritti dell'uomo, Padova 1991.

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bundsbeamten weitgehend geduldet. So ermahnte beispielsweise das Mitglied der ungarischen Vertretung in Genf Baranyai seine Regierung am 23. Mai 1924, darüber zu wachen, daß die Petitionäre in sogenannten Zusatzpetitionen keine bereits erreichten Teil- oder Endergebnisse erwähnten, die er ihnen auf vertraulichem Wege mitgeteilt hatte - u n d zwar weniger deshalb, w e i l die Genfer Behörden an der Vorgehensweise der ungarischen Delegation hätte Anstoß nehmen können, als u m der beschuldigten Regierung keinen begründeten Anlaß zur Kritik zu bieten 2 7 . Zuweilen wurde dem Petitionär auf ausdrücklichen, w e n n auch informellen Wunsch der Genfer Beamten zumindest ein Teilbescheid mit dem Ziel übermittelt, zusätzliche Informationen über einen bestimmten Fall zu erhalten oder zu sondieren, wie die sich abzeichnende Lösung konkret ausgeführt w u r d e 2 8 . Es sind auch Fälle belegbar, bei denen sich die Minderheitensektion schließlich aus eigenem Antrieb oder auf Anregung des entsprechenden Komitees direkt an den Petitionär wandte, u m ihm mitzuteilen, daß seine Petition nicht angenommen worden war, oder u m ihn über Einzelheiten zu informieren. A u f jeden Fall wußten sowohl die beim Völkerbund akkreditierten Diplomaten als auch dessen Beamte, daß bei einer beträchtlichen Anzahl v o n Petitionen der der Minderheit verwandte Staat seine Hand mit i m Spiel hatte 29 . I n der Tat war es undenkbar, daß dieser Staat sich nicht für die Lage derjenigen interessierte, die vielfach bis kurz vorher seine Staatsbürger gewesen waren u n d nicht selten es wieder werden wollten. Seine Hilfestellung reichte v o n der technischen Beratung (die Petition mußte den angeblich verletzten Vertragsartikel nennen, einen bestimmten Sprachduktus haben, keine allgemeinen Anschuldigungen gegen die Regierungspolitik enthalten) bis zur logistischen Unterstützung (materielle Übermittlung der Petition nach Genf, Druck einer genügenden Anzahl v o n Exemplaren, u m eine möglichst weite Verbreitung zu erreichen) u n d zur Beurteilung, was - und wann - Gegenstand der Petition werden sollte 30 . Damit soll nicht gesagt werden, daß die Minderheiten ein bloßes politisches Instrument des entsprechenden nationalen Staates darstellten, doch die Grenzen zwischen dessen Interessen u n d ihren eigenen Zielsetzungen blieben wäh27 Baranyai am 23.5.1924 an den ungarischen Außenminister Orszâgos Levéltâr [Staatsarchiv Budapest, im folgenden abgekürzt: OL], Kl07, 16/1. 28

„Actuellement les pétitionaires [de] pétitions d'une certaine importance trouvent toujours les moyens d'être au courant soit par des communications verbales ou privées qu'ils obtiennent de la Section des Minorités, soit par des informations qu'ils reçoivent des membres du Comité". Azcârate a Colban, 24.4.1926, AVb, R 1649-78. 29 Selbst Colban, der Leiter der Minderheitensektion, regte zuweilen die ungarische Delegation indirekt an, Petitionen aus den Kreisen siebenbürgischer Minderheiten nach Genf gelangen zu lassen; Colban am 26.3.1925 an Baranyai, OL, K107-16/8. 30

Der Staatssekretär beim Auswärtigen Amt Schubert wies am 26.2.1929 die deutsche Botschaft in Belgrad auf „Termine und Zweckmäßigkeit" für die Vorlage einiger Petitionen in Genf hin; vgl. Archiv des Auswärtigen Amtes [im folgenden abgekürzt: AA], Minderheitsfragen-Völkerbund, 4. Ebenso erhielt die ungarische Botschaft in Bukarest oftmals den Auftrag, geeignete Unterzeichner für die an den Völkerbund gerichteten Petitionen zu finden; vgl. Bârdossy an den Außenminister, 5.6.1936, OL, Κ 107, III 158 IX d.

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rend der gesamten Zwischenkriegszeit recht verschwommen. Formal änderte sich nichts am Stellenwert der Petition: lag eine Verletzung der Minderheitenschutzbestimmungen vor, mußte das Minderheitenkomitee bzw. in einem zweiten Schritt der Rat (in der seiner Meinung nach geeignetsten Form) einschreiten, i m gegenteiligen Fall mußte sie abgewiesen werden. Sehr wahrscheinlich jedoch wirkte sich die offenkundige ausländische Unterstützung des Petitionärs negativ auf die Beurteilung seines Anliegens aus. Selbst bei offensichtlichen Verstößen gegen die Minderheitenschutzbestimmungen gingen die Minderheitenkomitees sehr behutsam vor, w e n n die Gefahr bestand, daß auch nur indirekt revisionistische Tendenzen begünstigt werden konnten, denn gerade ihr Aufk o m m e n hatte man durch die Gewährung des Petitionsrechts verhindern oder zumindest abschwächen wollen. Form u n d Inhalt der Petitionen waren sehr unterschiedlich. Häufig handelte es sich u m Probleme v o n einzelnen Personen mit den öffentlichen Behörden, so zum Beispiel u m den Entzug einer Handelslizenz oder die fehlende Auszahlung einer Rente, u m das einschüchternde Verhalten eines Beamten oder die Streichung einer Unterstützungsleistung. Jede Handlung dieser Art konnte Gegenstand einer Petition werden, w e n n die berechtigte Vermutung bestand, daß die Behörden in diskriminierender Absicht vorgegangen waren. Wie gewissenhaft der Völkerbund seine Aufgabe als Beschützer der Minderheiten wahrnahm, w i r d nicht zuletzt daran ersichtlich, daß drei Völkerbundsratsmitglieder (nicht selten die Außenminister selbst) in der Tat zusammenkamen, u m über an sich geringfügige Probleme zu beraten u n d dazu tragbare Lösungen zu finden. Dann verwendeten sich dieselben hochrangigen Diplomaten bei der beschuldigten Regierung i m Sinne des Petenten. Bei einzelne Personen betreffenden Problemen gelang es den Minderheitenkomitees zumeist, dem Unrecht abzuhelfen. Schwieriger gestaltete sich die Lage bei Petitionen, die v o n Organisationen (Vereinen, politischen Parteien, kirchlichen Körperschaften usw.) abgefaßt wurden u n d sich nicht gegen einzelne Verwaltungsmaßnahmen, sondern oftmals gegen Bestimmungen oder Zielsetzungen eines einzelnen Gesetzes bzw. einer Gruppe v o n Gesetzen u n d Verordnungen richteten. Hier stand das Minderheitenkomitee vor der objektiven Schwierigkeit, Informationen sammeln zu müssen, die überhaupt erst ein Urteil erlaubten, über äußerst komplizierte u n d weitverzweigte Fragen, w i e beispielsweise über die Schulgesetzgebung oder die Agrarreform. Außerdem war es für die beschuldigte Regierung kein großes Opfer, eine Maßnahme untergeordneter Behörden rückgängig zu machen oder abzuändern, doch die Korrektur eines v o m Parlament verabschiedeten, möglicherweise das gesamte gesellschaftliche oder staatliche Leben berührenden Gesetzes konnten die Minderheitenkomitees nicht kurzfristig u n d nicht i m erwünschten Maße durchsetzen. Gleichwohl soll darauf hingewiesen werden, daß die Minderheitenschutzverträge den Völkerbund zweifelsohne auch dazu ermächtigten, selbst gegen höchste Gesetzgebungsakte vorzugehen. I m Artikel 1 hieß es nämlich, daß „aucune loi, aucun règlement ni aucune action officielle" könne die Minderheitenschutzbestimmungen außer Kraft setzen. 14 Corsini / Zaffi

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Zahlreiche, bisweilen bis zu einhundert Seiten starke Petitionen v o n dieser zweiten Art bilden heute zusammen mit den kritischen, oftmals ebenfalls sehr detaillierten Stellungnahmen der beschuldigten Regierungen eine interessante Quelle für die Geschichte der Minderheitenstaaten i n der Zwischenkriegszeit.

Auch w e n n die Petition i m Ratsbeschluß, der sie einführte, als „une information pure et simple" bezeichnet wurde, war sie sowohl v o n Seiten der Minderheitenstaaten als auch der Länder, die sich aus verschiedenen Gründen für die Lage der Minderheiten interessierten, ständigen Angriffen ausgesetzt. Die Minderheitenstaaten versuchten die Bedeutung der Petition i m Garantierahmen des Völkerbundes möglichst gering zu halten. Die anderen hingegen w o l l t e n - sozusagen durch einen Qualitätssprung - eine regelrechte Anklageschrift aus ihr machen, auf deren Grundlage ein Rechtsstreit zwischen einzelnen der Minderheit angehörenden Personen (oder Gruppen) einerseits u n d der einer Verletzung ihrer internationalen Verpflichtungen beschuldigten Regierung andererseits vor dem Völkerbundsrat oder eventuell vor dem Permanenten Internationalen Gerichtshof eingeleitet werden konnte. I n ihrer Wirkungskraft beschränkt wurde die Minderheitenpetition bereits wenige Monate nach Beginn der Tätigkeit des Völkerbundes. A m 27.6.1921 beschloß der Rat auf einen gleichzeitigen polnischen u n d tschechoslowakischen Antrag hin 3 1 , daß die Petitionen nicht sofort an die beim Völkerbund akkreditierten diplomatischen Vertretungen weitergeleitet werden sollten, sondern der betroffenen Regierung, falls sie es wünschte, erst einmal Gelegenheit gegeben werden müsse, sich zu den Beschuldigungen zu äußern u n d auf diese Weise mögliche - absichtliche oder unabsichtliche - Übertreibungen oder Ungenauigkeiten zu berichtigen. Nach Ansicht der polnischen Delegation gab man den Minderheitenkomitees damit ausgewogenere Beurteilungskriterien an die Hand 3 2 . Knapp zwei Jahre später, i m Januar u n d i m April 1923, richteten die polnische u n d tschechoslowakische Regierung wiederum nach gemeinsamer Absprache zwei Denkschriften an das Sekretariat des Völkerbundes 3 3 , w o r i n sie für unzulässig erklärten, daß die Petitionen den Vertretungen aller Mitgliedsländer zugänglich gemacht würden. I n der Anfangsphase der Genfer Organisation war es üblich, daß jedwede beim Generalsekretariat eingegangene Unterlage an die Vertretungen aller Staaten ohne Einschränkung weitergeleitet wurden. Nach polnischer Ansicht erlangten die Petitionen, die gegenüber der beschuldigten Regierung zumeist negativ eingestellt waren u n d oftmals jeglicher Begründung ent31 Vgl. das polnische Memorandum vom 3.6.1931 und das tschechoslowakische Memorandum vom 4.6.1921 im Journal Officiel, September 1921, S. 797-806. 32 Vgl. den Text des Beschlusses in: Ch. Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren, S. 341. 33

Vgl. das polnische Memorandum vom 16.1.1923 im Journal Officiel, Mai 1923, S. 481-483, und das tschechoslowakische Memorandum im Journal Officiel vom Juli 1923, S. 717 f.

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behrten, einen zu großen Bekanntheitsgrad, der dem Ruf des Landes schadete. Da der Garantieartikel nur einem Ratsmitglied das Recht zubilligte, die anderen Ratsmitglieder auf geschehene oder drohende Vertragsverletzungen hinzuweisen, dürften die Petitionen nur ihnen regelmäßig zugeleitet werden. Gegen diesen Änderungsantrag gab es keine wesentlichen Einwände, zumal der entsprechende Beschluß jedem im Rat nicht vertretenen Land die Möglichkeit einräumte, beim Sekretariat Kopien v o n Petitionen anzufordern, die seinem Urteil nach die eigenen Interessen berührten 3 4 . Von diesem Recht machte beispielsweise die österreichische Regierung Gebrauch, als sie am 23. Oktober 1923 beantragte, ihr in Zukunft alle Petitionen v o n deutschsprachigen Gruppen zu übermitteln, die in bestimmten, durch internationale Minderheitsverpflichtungen gebundenen Staaten lebten 3 5 . Eine dritte Initiative mit dem erklärten Ziel, die Zahl der Petitionen unmittelbar zu beschränken, war weniger erfolgreich. In den erwähnten Denkschriften v o n 1923 schlugen die polnische u n d die tschechoslowakische Regierung vor, eine Petition erst dann anzunehmen, w e n n sie nicht nur formale Voraussetzungen erfüllte, sondern der in Frage kommende Fall auch vor den zuständigen lokalen Behörden verhandelt u n d v o n ihnen negativ beschieden w o r d e n war. Der Bürger hätte sich nicht nach Genf wenden dürfen, ehe alle v o m nationalen Recht vorgesehenen Berufungsinstanzen ausgeschöpft waren. Der polnische Vertreter, der den Vorschlag vor dem Rat erläuterte, betonte insbesondere, diese Vorgehensweise entspreche voll u n d ganz den grundlegenden Zielen der Minderheitenverträge, w e i l sie die Autorität der neu gebildeten Staaten gegenüber ihren fremdsprachigen Minderheiten stärkte. Die Anrufung v o n Institutionen außerhalb der Staatsgrenzen sei damit nur noch als ultima ratio möglich. Nahm man hingegen Petitionen zu Streitfragen an, die v o n der internen Gerichtsbarkeit noch nicht verhandelt worden seien, nähre man bei den Minderheiten gleichsam die Überzeugung, innerhalb des Staates, dem sie angehörten, könnten sie kein Recht erlangen. Wie sich dies auf die staatliche Autorität ihnen gegenüber auswirken würde, sei leicht vorstellbar. Es war aber offensichtlich, daß die Länge eines solchen Verfahrens jedes wirksames Eingreifen des Völkerbundes verhindert hätte u n d so wurde der Vorschlag abgelehnt. Der Grundsatz, vor Anrufung eines internationalen Forums erst einmal alle inländischen Berufungsinstanzen auszuschöpfen, hat hingegen in die oben er34 Vgl. den Text des Beschlusses in: Ch. Gütermann, Das Minderheitenschutzverfahren, S. 342. Dieser Beschluß legte zugleich auch die Kriterien für die Annahme einer Petition fest: 1. sie mußte einen ausdrücklichen Verweis auf die Verträge enthalten; 2. sie durfte nicht die staatliche Abtrennung fordern; 3- nicht anonym sein, 4. keine Gewalt ausdrückenden Sprachduktus haben und 5. sich nicht auf Fälle beziehen, die vom Völkerbund bereits geprüft worden waren. Die Kriterien waren also nicht allzu restriktiv, und sie wurden nach allgemeiner Auffassung auf eine für den Petitionär vorteilhafte Weise ausgelegt. 35

14*

Brief vom 23.10.1923, AVb, R 1664.

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wähnte Europäische Menschenrechtskonvention Eingang gefunden. Entscheidend war dabei allerdings nicht, daß man die damit verbundenen etwaigen Nachteile übersah, sondern die Tatsache, daß die Regierungsgrundsätze u n d die Regierungspraxis der Unterzeichnerstaaten aufgrund der veränderten politischen Verhältnisse in Europa u n d durch den Gegensatz zum sowjetischen Block eine größere Gleichförmigkeit als in der Zwischenkriegszeit aufwiesen. Hinzu kommt, daß die Bestimmungen der Konvention auf alle Mitgliedsstaaten A n w e n d u n g fanden und die Ausschöpfung der internen Wege i m Interesse aller stand. Schließlich traten aufgrund der ideologischen Konfrontation v o n Kommunismus u n d Kapitalismus Fragen des Minderheitenschutzes eher zurück. Welche Bedeutung für diese Fragen der allgemeine politische Zusammenhang besitzt, zeigt sich daran, daß Polen die genannte Initiative genau zu dem Zeitpunkt ergriff, als Deutschlands Aufnahme in den Völkerbund mit Zuteilung eines ständigen Ratssitzes konkrete Gestalt annahm 3 6 . Zugleich warf Polen auch das Problem auf, wer eine Petition einreichen dürfe. Nach Meinung der Warschauer Regierung sollten es nur einzelnen Mitgliedern oder qualifizierten Organisationen der Minderheiten möglich sein, sich an den Völkerbund zu wenden. Informationen v o n Personen, Gruppen u n d Vereinigungen aus dem Ausland sollten nur als Ergänzung zu Petitionen erlaubt sein, die v o n den betroffenen Personen verfaßt u n d eingereicht worden waren. Eine derartige Regelung würde die Minderheitenstaaten vor eventuellen, v o n Exilanten oder auch v o n feindlich gesinnten Regierungen organisierten Propagandafeldzügen schützen. Damit wären jedoch zahlreiche Diskriminierungen u n d Rechtsverletzungen nicht zur Anzeige beim Völkerbund gelangt, w e i l die Angehörigen einer Minderheit mehr oder weniger berechtigte Angst vor Repressionsmaßnahmen seitens ihres Staates hatten. Die Petition war schließlich immer eine offene Kritik an die eigene Regierung. Sie konnte daher unangenehme Folgen mit sich bringen. Gerade an den Tagen, w o der Völkerbundsrat im Mai 1923 diesen polnischen Vorschlag erörterte, wurde bekannt, daß litauische Abgeordnete polnischer Nationalität als Verfasser einer an den Völkerbund gerichteten Petition der Staatsverleumdung u n d des Hochverrats angeklagt u n d vor Gericht gestellt w o r d e n waren 3 7 . Wenn dies schon bei Abgeordneten geschehen konnte, die im Rampenlicht der Öffentlichkeit standen, u m wieviel mehr mußte der einfache Bürger behördliche Vergeltungsmaßnahmen fürchten. Obgleich Mißbräuche seitens der Petitionsverfasser wirklich nicht ausgeschlossen werden konnten, ließ der Rat hier keine Beschränkungen zu, die überdies auch deshalb nicht sinnvoll gewesen wären, w e i l es sich bei einer Petition nicht 36

Die deutsche Regierung betrachtete mit Sorge den Diskussionsverlauf, denn sie meinte, eine eventuelle Annahme des polnischen Vorschlags „würde praktisch das Ende des sowieso recht zweifelhaften Minderheitenschutzes bedeuten"; vgl. Poensgen an das deutsche Konsulat in Genf, 9.6.1925, (AA), Völkerbund\ 4. 37

Vgl. Journal officiel, September 1925, S. 864.

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u m eine Anklageschrift i m technischen Sinne, sondern u m eine „information pure et simple" handelte. Übrigens lag die Verantwortung für die Prüfung der wirklichen Absichten der Petitionäre völlig bei den i m Rat vertretenen Mächten, deren politische Umsicht bereits eine hinreichende Garantie für die Minderheitenstaaten darstellte. Trotz der anhaltenden Sorge der Minderheitenstaaten u m ihren guten Ruf blieb die Zahl der in Genf eingereichten u n d angenommenen Petitionen während der ersten Phase des Minderheitenschutzsystems recht niedrig und rechtfertigte für sich genommen keine strengere Reglementierung des Verfahrens. I m Verlauf der Diskussion über die polnischen Vorschläge v o m September 1923 stellte der Brasilianer Rio Branco als der Berichterstatter für Minderheitenfragen im Völkerbundsrat fest: „Experience shows ... that even in the particularly difficult period of transition after the war, the number of petitions has been singularly limited" 3 8 . Die zur Zeit verfügbaren Quellen aus dem Völkerbundarchiv scheinen dies zu bestätigen, obgleich für die Zeit bis 1930 keine offiziellen Statistiken vorliegen 3 9 . Neben der punktuellen Verfahrenskritik stellten die Minderheitenstaaten i m Verlauf der 20er Jahre auch einige Grundprinzipien des Schutzsystems in Frage. Das geht besonders deutlich aus der langen Denkschrift hervor, die die fünf durch Minderheitenvertrag gebundenen Länder i m Sommer 1929 an das Sekretariat des Völkerbundes richteten, als gerade eine v o n Deutschland angeregte Diskussion i m Gange war, über eine Revision der Schutzbestimmungen u n d insbesondere eine stärkere Einbeziehung der Petitionäre in das Prüfungsverfahren 4 0 . Die fünf Regierungen bekräftigten in ihrer Schrift, die in den Verträgen festgesetzten Verpflichtungen gegenüber den Minderheiten seinerzeit nur deshalb übernommen zu haben, w e i l die Großmächte versichert hätten, binnen kurzem auch Garantieverträge für ihre neuen Grenzen abschließen zu wollen. I n der Darstellung der Friedenskonferenz, die die Minderheitenstaaten boten, habe es sich dabei bloß u m den Preis gehandelt, den die Unterzeichnerstaaten zu zahlen bereit gewesen seien, w e i l sie sich als Gegenleistung eine internationale sicherheits-politische Garantie ihrer territorialen Integrität erhofften. Die Garantieverträge seien aus bekannten Gründen nicht zustandegekommen, ihr Zusammenhang mit den Minderheitenverträgen sei aufgelöst worden, so daß es nicht anging, den fünf Staaten neue, zusätzliche Verpflichtungen gegenüber den Minderheiten auferlegen zu wollen. Diese Darstellung des Entstehungsprozesses der Minderheitenschutzverträge war gewiß sehr einseitig, doch lag ihre größte Schwäche villeicht darin, daß dem Völkerbund das Recht, sich der Minderheitenprobleme innerhalb der betroffenen Länder anzunehmen, bestritten, ja grundsätzlich abgesprochen wurde.

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Protokoll der Sitzung vom 5.9.1923, in: Journal Officiel, November 1923, S. 1430.

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Vgl. U.-M. Ruser ; Akten zur Minderheitenfrage in dem Archiv des Völkerbundes, im vorliegenden Band. 40

Journal Officiel, Supplement spécial, Nr. 73, Genf 1929.

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Der Völkerbund bezweckte, als er die Garantie für die Einhaltung der Minderheitenschutzbestimmungen übernahm, den Minderheiten ein Gefühl des Vertrauens zu vermitteln, indem er damit das Interesse, das die internationale Gemeinschaft ihrer Lage entgegenbrachte, signalisierte. Der Völkerbund schaffte die Bedingungen, unter denen sich die Minderheiten wegen eines wirklich erlittenen Unrechts nicht an die ihnen national verwandten, zum Teil unmittelbar angrenzenden Staaten, sondern an ihn wenden konnten; hier besaßen die Siegermächte in allen Fragen ein entscheidendes Gewicht u n d wachten über den in Versailles festgelegten, für die neuen Staaten so vorteilhaften territorialen

status quo. Der v o n Polen ab 1920 beständig unternommene Versuch, die Wirkungskraft des Minderheitenschutzvertrages zu neutralisieren, beruhte auf einer völligen Fehleinschätzung der eigenen Kräfte und der europäischen Verhältnisse i m allgemeinen. Deutschland gegenübergestellt ohne den formell vermittelnden, in Wirklichkeit freundlichen Beistand des Völkerbundes vermochte die polnische Regierung die volle u n d uneingeschränkte Souveränität, die nach Empfinden der Polen durch die Minderheitenschutzbestimmungen stark beeinträchtigt war, noch weniger zu verteidigen. A u f der Vollversammlung des Völkerbundes v o m September 1934 setzten die Polen, soweit es sie betraf, dem jahrelangen diplomatischen Kleinkrieg ein Ende. Bei diesem Anlaß nahm der polnische Außenminister Beck das Wort, u m feierlich zu erklären, daß sich seine Regierung v o n jenem Zeitpunkt an weigern würde, in Fragen des Minderheitenschutzes mit dem Völkerbund zusammenzuarbeiten. Es handelte sich dabei zwar nicht, w i e zuweilen irrtümlich behauptet wird, u m eine einseitige Aufkündigung des Vertrages, doch schwer w o g diese Entscheidung gleichwohl, denn sie bedeutete, daß die polnischen Stellen sich zu Petitionen v o n polnischen Staatsbürgern nicht mehr äußern u n d jegliche diesbezügliche, direkt v o m Rat oder einem anderen Bundesorgan eingeforderte Information verweigern würden. Einige Monate zuvor hatte Beck einen Nichtangriffspakt mit der nationalsozialistischen Regierung in Berlin abgeschlossen u n d damit einen zwiespältigen, unerwarteten Wiederannäherungsprozeß zwischen den beiden Ländern eingeleitet. A m 5. November 1937 kam es schließlich zu einer gemeinsamen deutsch-polnischen Erklärung, die auf der Basis formaler Gegenseitigkeit die Lage der Polen in Deutschland u n d die der Deutschen in Polen regelte 41 . Faktisch hatte sich die polnische Regierung damit aus dem internationalen, ihre Souveränität beschränkenden Schutzsystem herausgelöst, aber der politische Nutzen für Polen konnte schon damals als sehr zweifelhaft erscheinen (ganz zu schweigen v o n den Vorteilen für die betroffenen Minderheiten). Gewiß, die Bedeutung des Völkerbundes als eines Faktors der europäischen Politik war zwischenzeitlich fast auf den Nullpunkt gesunken, aber gerade darin bestand das Unerhörte, daß auch Polen dazu entscheidend beigetragen hatte. 41

Vgl. M.M. Drozäowski, The National Minorities in Poland. 1918-1939, in: Acta Poloniae Historica, 22 (1970), S. 226-251.

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Die polnische Entscheidung, künftighin das Petitionsverfahren nicht mehr zur Kenntnis zu nehmen, stellte einen schweren Schlag für das gesamte Minderheitenschutzsystem dar. Denn der Völkerbund, der auf den polnischen Schritt in keiner Weise reagierte, wurde u m das Ansehen gebracht, dessen er bedurfte, u m überhaupt noch eine positive Funktion ausüben zu können. Die polnische Initiative 4 2 fand keine Nachahmer, aber die anderen Minderheitenländer fingen bald an, bei ihnen unangenehmen Fällen mit ähnlichen Maßnahmen zu drohen.

Während Polen u n d die Länder der Kleinen Entente mit wechselndem Erfolg versuchten, eine offizielle Auslegung der Verträge u n d des Petitionsverfahrens möglichst i m restriktiven Sinne zu erzielen, setzten sich andere Staaten - darunter Kanada, Südafrika, die Niederlande u n d nach ihrem Beitritt in den Völkerb u n d auch Ungarn (1923) u n d Deutschland (1926) - i m Rat oder in der Vollversammlung für Erweiterungen ein, u m die Handhabung des Schutzsystems zum Vorteil der Minderheiten zu verbessern. In Gegensatz zu den fünf Minderheitenstaaten, die offensichtlich ein gemeinsames Interesse daran hatten, der Waffe der Petition die Spitze zu nehmen, fanden aber die Länder, die sie verstärken wollten, zu keiner einheitlichen Vorgehensweise. Die neutralen Länder (bezüglich der territorialen Ordnung v o n Versailles die das Unterscheidungsmerkmal für die damaligen gegensätzlichen Blöcke darstellte) führten humanitäre Gründe an, die dafür sprächen, daß den Minderheiten i m Rahmen des Schutzsystems ein größerer Raum gewährt werden sollte. Ihre Erfolgsaussichten blieben aber gering, denn sie entfernten sich v o n den ursprünglichen Zielsetzungen des Schutzsystems, die vorrangig politischer u n d erst in zweiter Linie humanitärer Natur waren. Da die Repräsentanten der neutralen Länder überdies eher aus persönlicher Überzeugung oder häufig auch aus dem Wunsch, sich i m Hinblick auf die innere Politik ihrer Länder zu profilieren, weniger jedoch nach genauen Instruktionen seitens ihrer Regierungen handelten, fehlte ihren Aktionen letztlich auch die notwendige Autorität u n d Kontinuität. Für die Vertreter Ungarns u n d Deutschlands war es hingegen schwer, die Frage anzuschneiden, ohne den Verdacht zu wecken, daß sie weniger eine Verbesserung des Schutzsystems anstrebten, als es vielmehr mit dem Hinweis auf die trostlose Lage der nationalen Minderheiten nur ausnutzen wollten, u m die Willkürlichkeit der Nachkriegsgrenzen u n d deren Gefährlichkeit für die Sicherheit in Europa herauszustellen. 42

Die polnische Entscheidung wurde informell mit dem Beitritt der Sowjetunion zum Völkerbund und mit deren Aufnahme in den Rat begründet. Polen, das keine guten Beziehungen zum östlichen Nachbarn hatte, befürchtete, daß dieser sich im Rat zum Verteidiger der ansehnlichen ukrainischen Minderheit aufwerfen würde. Zweifellos aber gehörte die Entscheidung in den Kontext einer vom Zeitpunkt der Friedenskonferenz an konsequent verfolgten Politik.

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N u n gehörte eine solche Absicht zweifellos zur politischen Strategie dieser beiden Länder, doch zu einem gemeinsamen Vorgehen beider kam es nicht. Seinem Großmachtsstatus entsprechend versuchte Deutschland sowohl vor als auch nach dem Beitritt zum Völkerbund hartnäckig seine Sache v o n der Ungarns abzugrenzen. Dieses konnte nämlich aufgrund seiner geringeren internationalen Verantwortung eine offenere revisionistische Politik verfolgen. In bilateralen Besprechungen signalisierte Ungarn der deutschen Regierung wiederholt seine Bereitschaft, gemeinsame Schritte zugunsten eines besseren Minderheitenschutzes durch den Völkerbund zu unternehmen, stieß jedoch immer auf Desinteresse, ja sogar auf ausdrückliche Ablehnung 4 3 , was sich nur zum geringsten Teil auf die nicht zufriedenstellende Behandlung der deutschen Minderheit in Ungarn zurückführen ließ. A u f jeden Fall befanden sich die beiden Länder während der gesamten Zeit ihrer Zugehörigkeit zum Völkerbund in der Defensive. Deutschland, das i m Rat nahezu völlig isoliert blieb, schätzte die in diesem Organ herrschenden Kräfteverhältnisse genau ein u n d schob den Zeitpunkt, zu dem es die Reform des Schutzsystems ernsthaft zur Debatte stellen wollte, immer wieder hinaus. Das deutsche Auswärtige Amt verkannte nicht, daß der Minderheitenschutzvertrag ein potentiell wirksames Instrument gegen Polen darstellte. Bereits die ständige Drohung, Verletzungen der Minderheitenschutzbestimmungen zu öffentlicher Verhandlung vor den Rat oder sogar vor den Gerichtshof zu bringen, reichte hin, u m den Gegner in einem Spannungszustand zu halten. Wollte die deutsche Regierung diese vorteilhafte Ausgangsposition nicht verspielen, mußte sie abwarten, bis sich i m Völkerbundsrat eine größere Bereitschaft gezeigt hätte, das Minderheitenproblem ernsthafter anzugehen. So hätte Deutschland nicht nur i m eigenen Namen, sondern aus einer höheren Warte sprechen können. Aus diesen Überlegungen heraus w i r d es verständlich, w a r u m Deutschland erst zwei Jahren nach seinem Beitritt zum Völkerbund u n d erst infolge der unerwarteten Reaktion Stresemanns auf eine Rede, die der polnische Vertreter Zaleski am 12. Dezember 1928 i m Rat gehalten hatte, ankündigte, Prinzipien und Funktionsweise des internationalen Minderheitenschutzes eingehend erörtern zu wollen 4 4 . Das Auswärtige Amt, das v o n Stresemanns Erklärung überrascht w u r d e 4 5 , arbeitete unverzüglich eine Denkschrift aus, die dem Rat vorgelegt werden u n d 43 Der ungarische Premierminister Bethlen hatte kurz vor Deutschlands Beitritt zum Völkerbund in einem Gespräch mit der deutschen Delegation in Genf die vorbehaltlose Unterstützung deutscher Initiativen auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes angeboten. Schubert antwortete nur, die Stimmen, Deutschland würde in dieser Hinsicht sein Gewicht im Rat unmittelbar geltend machen, entsprächen nicht der Wahrheit; vgl. Schuberts Nachricht vom 10.3.1926 an den Außenminister, in: AA, Völkerbund, Band 4. 44 45

Journal Officiel, März 1929, S. 68-71.

Der Zeitpunkt, so lautete die Meinung des Auswärtigen Amtes damals noch, „deutscherseits auf eine Verfahrensänderung hin zu wirken und dadurch wahrscheinlich eine grundsätzliche Debatte in Minderheitensachen herbeizuführen, dürfte erst dann gekommen sein, wenn unsere Aussichten innerhalb des Völkerbundes als Anwalt der Minderheiten aufzutreten, sich gebessert haben"; Vermerk Freytags vom 15 8.1928, AA, Völkerbund, Band 4.

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Änderungsvorschläge enthalten sollte, die sich nach nunmehr zehnjähriger Erfahrung als notwendig erwiesen hätten. Auch in diesem Fall blieben die ungarischen Angebote zur Zusammenarbeit unbeachtet, obgleich sich die Budapester Regierung mit allen Punkten der deutschen Denkschrift einverstanden erklärt hatte, während die Minderheitenstaaten ihrerseits gemeinsam eine Art Gegendenkschrift verfaßten. Zur Änderung des Petitionsverfahrens schlug Deutschland unter anderem vor, der Petitionär sei über jede seinen Fall betreffende Entscheidung genauestens zu informieren. Er sollte gegebenenfalls nach Genf geladen u n d durch das Dreierkomitee angehört werden, das seine Petition behandelte. Ferner sollte eine größere Öffentlichkeit über die diesbezügliche Tätigkeit des Völkerbundes gewährleistet werden, indem man u.a. in bestimmten Zeitabständen Statistiken über die beim Völkerbund eingegangenen u n d v o n i h m geprüften Petitionen veröffentlichte. Die i m März u n d August 1929 lange i m Rat diskutierten deutschen Vorschläge fanden, w i e i m übrigen zu erwarten war, nur geringe Beachtung 4 6 . Die Ratsmehrheit konnte sich unmöglich darüber hinwegsetzen, daß die Minderheitenpetition ( u m sich nur auf diesen Aspekt des Problems zu beschränken) v o n den Minderheitenschutzverträgen nicht vorgesehen war, mehr noch, dem Garantieartikel gewissermaßen sogar widersprach. Das Petitionsverfahren hatte nur aufgrund der stillschweigenden Billigung der Minderheitenstaaten eingerichtet werden können. Der polnische Minister Zaleski bezeichnete es 1929 als eine „concession gracieuse", die die fünf Länder geleistet hätten u n d zurückziehen könnten, sollte aus der Petition mehr als eine einfache Auskunftsquelle werden. Nur schwächte er seine Drohung mit der Zusicherung ab, Polen w e r d e auch weitergehenden Verfahrensänderungen zustimmen, w e n n die Minderheitenschutzbestimmungen nicht nur für wenige europäische Staaten, sondern universell gelten würden. D e n Befürwortern mehr oder weniger umfassender Änderungen war sehr w o h l bewußt, daß der eigentliche Streitpunkt nicht so sehr bei diesem oder jenem, w e n n auch nicht unwichtigen Detail des Petitionsverfahrens lag, sondern den faktischen Stellenwert des internationalen Minderheitenschutzsystems i m damaligen politischen Kontext Europas betraf. So überrascht es nicht, daß sich das Auswärtige Amt nach langen Debatten zwar, aber letztlich ohne grundsätzlichen Widerstand, einem die eigenen Ansichten nur partiell berücksichtigenden Kompromiß nicht verschloß. Eine v o n der Rechtsabteilung des Auswärtigen Amtes abgefaßte Denkschrift v o m Februar 1929 gibt die damalige Situation zutreffend wieder. I m Rat durchsetzbare Verfahrensänderungen, hieß es, hätten das eigentliche Problem nicht gelöst. Verbesserungen des Schutzsystems seien i m Grunde nebensächlich; vielmehr müsse der Rat „seine allgemeine Einstellung zum Problem ändern" u n d „die Bedürfnisse der Minderheiten" nicht als 46 Noch bevor die von Stresemann zur Unzeit geforderte Diskussion einsetzte, war man sich in Berlin bewußt, „daß die Annahme neuer positiver Bestrebungen zum Schutz der Minderheiten eine Änderung der jetzt bestehenden Verträge bedingen würde, die bei der jetzt im Völkerbund gegebenen Konstellation nicht durchzusetzen ist"; vgl. den Vermerk Reinbecks vom 14.1.1929, in: AA, Büro Reichsminister. Völkerbund, 95/4, Band 17.

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einen Gegenstand politischen Tauschhandels betrachten. „Unveräußerliche Rechte", w i e sie in den Minderheitenverträgen formuliert worden seien, setzten die „moralische Verpflichtung zu ihrer Verwirklichung" voraus 4 7 . Allerdings weigerte sich die deutsche Regierung, ihren Beitrag zum Durchbruch dieses zeitgemäßeneren Ansatzes zu leisten und lehnte jeden Vorschlag auch w e n n er aus neutralen Kreisen kam, ab, zur Ausweitung des Schutzsystems auf alle Mitgliedsstaaten des Völkerbundes. Ein historisches Urteil über die Anwendung des Petitionsverfahrens seitens des Völkerbundes darf nach dem bisher Gesagten zweifellos nicht v o n der Funktion absehen, die diese Organisation insgesamt i m Europa der Zwischenkriegszeit auszufüllen hatte. Staaten, die den territorialen status quo verteidigten, standen Staaten gegenüber, die mehr oder weniger offen für eine Revision eintraten. Der Völkerbund sollte die daraus möglicherweise hervorgehenden Spannungen mit den Mitteln bekämpfen, die ihm v o n der Friedenskonferenz i n die Hand gegeben worden waren. Zu diesen Mitteln gehörten in erster Linie die Minderheitenschutzverträge u n d die Beschlüsse, die der Rat auf ihrer Grundlage faßte, u m seiner Rolle als Garant der Minderheitenschutzbestimmungen effektiv nachzukommen. Die Einführung des Petitionsverfahrens stellte eine geschickte praktische Maßnahme dar u n d bewies zugleich die Ernsthaftigkeit, mit der der Rat seinem Auftrag auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes gerecht wurde, jedoch immer i m Dienst des politischen status quo. Die Absendung v o n Petitionen nach Genf machte es möglich, daß zahlreiche Fälle einer Lösung zugeführt würden, die sonst v o n den nationalen Behörden nicht - oder nicht so schnell - aufgegriffen w o r d e n wären. Zweifellos wurden die Petitionen manchmal auch zu Zwecken der politischen Propaganda ausgenutzt u n d verrieten eine voreingenommene, feindselige Haltung ihrer Autoren gegenüber dem beschuldigten Staat. O b w o h l die Minderheitenstaaten ununterbrochen auf diese „Gefahr" verwiesen u n d infolgedessen verlangten, daß die Tragweite des Petitionsverfahrens eingeschränkt oder ganz abgeschafft wird, kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, daß sie dabei bewußt sehr übertrieben. Solange der Völkerbund u n d das v o n i h m ausgearbeitete Minderheitenschutzsystem die ihnen faktisch, w e n n nicht rechtlich, zugewiesene Rolle v o n „Garanten" der Versailler Friedensordnung auszufüllen vermochten, brauchte man gewiß keine böswilligen Maßnahmen des Rates gegen einen Minderheitenstaat zu befürchten, so umfassend die Nichterfüllung der Verträge u n d so offensichtlich etwaige Rechtsbrüche auch gewesen wären. Anders hätte es ausgesehen, w e n n es Deutschland u n d seinen potentiellen Verbündeten gelungen wäre, den Westmächten die Führung i m Völkerbundes zu entreißen - doch für eine solche Entwicklung gab es nie einen realistischen Anhaltspunkt. I m Verlaufe der Pariser Verhandlungen v o n 1919, die mit dem Zweck geführt wurden, die neuen Staaten zur Annahme der internationalen Garantie für die 47 Vgl. die nicht unterzeichnete Denkschrift vom Februar 1929, in: AA, Büro Staatssekretär, Nationale Minderheiten, Band 2.

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Minderheitenschutzbestimmungen zu bewegen, hatte Präsident Wilson den betroffenen Delegationen nahegelegt, die eventuellen Maßnahmen des Völkerbundes als „the intervention of those w h o w i l l help, and not of those w h o w i l l interfere" zu betrachten 4 8 . Wilson wäre wahrscheinlich auf weit mehr Zustimm u n g gestoßen, hätten die Verträge für alle Staaten gleich gegolten. Wie er jedoch selbst sagte, „you cannot rush from darkness to complete light". Die Idee des internationalen Minderheitenschutzes und die Einbeziehung einzelner Minderheitenangehöriger in die Kontrollprozeduren w u r d e n 1919-20 in die Tat umgesetzt, u n d dies bleibt trotz aller offensichtlichen Mängel eine große Errungenschaft. Wie bei jedem Mittel, das den Frieden durch Überwindung bilateraler Konfrontationen stärken soll, waren gerade die „kleinen" Länder potentiell seine größten Nutznießer.

48 So auf der 8. Plenarsitzung der Konferenz vom 31. Mai 1919, zit. nach N. Feinberg, La question des minorités, S. 165.

Akten zur Minderheitenfrage im Archiv des Völkerbundes Von Ursula-Maria Ruser

I. Der Völkerbund und die Minderheitenfrage A m 10. Januar 1920 nahm der Völkerbund seine Tätigkeit auf, die vor allem der Förderung der Zusammenarbeit der Nationen u n d der Wahrung des Weltfriedens durch Gewährleistung der internationalen Sicherheit dienen sollte, w i e es i m sogenannten „Covenant" 1 festgelegt w o r d e n war. Die Organisation bestand aus dem Rat, der Generalversammlung, dem Generalsekretariat u n d schließlich neben anderen Abteilungen aus der dem Rat unterstellten Minority Section 2 . Dies war eine recht bescheidene Abteilung: Nicht mehr als acht Beamte arbeiteten unter einem dem Generalsekretär unterstellten Direktor. Dies mag erstaunen, war doch die Regelung der Minderheitenfrage eines der großen Probleme i m Zuge der Neuordnung Europas nach dem Ersten Weltkrieg. Das in den „14 Punkten" Präsident Wilsons geforderte Selbstbestimmungsrecht galt nicht nur dem einzelnen Menschen, sondern auch geschlossenen Volksgruppen. Diese wurden in den sogenannten Pariser Vorortsverträgen v o n 1919 aufgenommen. Es folgten die in den Jahren 1919 u n d 1920 v o n den fünf alliierten Hauptmächten mit den Nachfolgestaaten der Österreichisch-Ungarischen Monarchie, Polen, der Tschechoslowakei, dem Königreich der Serben, der Kroaten u n d der Slowenen sowie mit Griechenland abgeschlossenen Minderheitenschutzverträge. Sie sicherten Untertanen fremder Nationalität die bürgerliche Gleichstellung, freien Gebrauch ihrer Sprache in der Presse, den Kirchen u n d eigenen Schulen zu u n d beschränkten sich i m wesentlichen auf den Staatengürtel i n Ostmittel- u n d Südosteuropa. Als Muster diente der am 28. Juni 1919 mit Polen abgeschlossene Vertrag. I n den Jahren 1919 bis 1940 sind insgesamt 16 Staaten internationale Verpflichtungen auf dem Gebiet des Minderheitenschutzes eingegangen. Die festgesetzten Minderheitenrechte zu garantieren war mehr eine politische als eine humanitäre Aufgabe des Völkerbundes. Ziel war es, die durch Unterdrückung einzelner Volksgruppen entstandenen Spannungen beizulegen, bevor sie zu ernsthaften Auseinandersetzungen oder gar zu einem Krieg eskalieren würden. 1 Covenant of The League of Nations. League of Nations, Sunderland House, Curzon Street, W. 1., 26 September 1919. 2 Siehe Α. Pfeil, Der Völkerbund. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 1976.

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Π. Das Aktenmaterial die Minderheitenfrage betreffend Das i m Völkerbundarchiv vorliegende Aktenmaterial dokumentiert den Geschäftsgang, den die in Genf eingehenden Petitionen zu durchlaufen hatten, den sich entwickelnden Schriftverkehr, u n d es beinhaltet Berichte, Informationen, Vorlagen für den Rat u n d dessen Entscheidungen. Der verwaltungsmäßige Ablauf vollzog sich folgendermaßen: Beschwerden bzw. Klagen über Vertragsverletzungen mußten v o n betroffenen Personen oder Gruppen schriftlich als Petition an den Völkerbund gerichtet werden. Die Minoritätensektion mit ihren Beamten, die prinzipiell nur solchen Nationen angehörten, die nicht an einem der Minderheitenschutzverträge beteiligt waren, behandelten die Eingaben u n d überprüften sie unter Beachtung bestimmter Kriterien auf ihre Annehmbarkeit. Falls ergänzende Angaben nötig waren, forderten sie diese v o n den Minderheitenvertretern der betroffenen Länder in Genf oder i m entsprechenden Land an. U m sich ein besseres Bild v o n der Situation machen u n d sich selbst v o n der Berechtigung einer Petition überzeugen zu können, reiste der Direktor der Sektion verschiedentlich in die betroffenen Staaten. Sein Bericht wurde ebenfalls den entsprechenden Akten beigefügt. War eine Petition angenommen, wurde diese i n der Regel v o n der Sektion zunächst zur Stellungnahme an die beschuldigte Regierung gesandt. A n den Rat w u r d e n dann Petition, Stellungnahme der Regierung u n d ein Bericht der Minoritätensektion weitergegeben. Nach Eingang dieser Vorlagen stellte der Rat ein ad hoc Komitee, das „Comité des Trois" zusammen. Es bestand aus dem Ratspräsidenten u n d zwei von ihm ernannten Ratsmitgliedern. I n diesem Gremium w u r d e n auch in den meisten Fällen endgültige Entscheidungen in Zusammenarbeit mit der Sektion getroffen, ohne daß der gesamte Rat einbezogen war. I n diesen Beratungen des Dreierkomitees wurden während der ersten Jahre nur inoffizielle Protokolle geführt. Sie dienten als weitere Arbeitsunterlagen, konnten aber v o n Dritten nicht eingesehen werden u n d w u r d e n natürlich auch nicht als Dokument veröffentlicht. Erst ein Ratsbeschluß v o m Juni 1929 bestimmte, daß das Komitee Abschlußberichte, die v o n der Minoritätenabteilung verfaßt waren, dem Rat vorzulegen hatte. Diese Berichte wurden dann in dem „Official Journal" des Bundes veröffentlicht u n d liegen heute in der Dokumentensammlung vor. Von 1929 bis 1939 waren es 40% der Berichte (71 v o n 179), die veröffentlicht wurden. Sie sind in drei Bänden der Dokumentensammlung zusammengefaßt. Zusätzlich finden sich ca. ein Dutzend Berichte in anderen Sachtiteln eingebunden. Ebenfalls 1929 wurde bestimmt, daß Statistiken über die jährlich abgehaltenen Beratungen der „Comités des Trois" u n d die v o n ihnen abgeschlossenen Petitionsverfahren erstellt u n d veröffentlicht werden sollten. Von 1919 bis 1939 sind demnach 883 Petitionen eingereicht worden, v o n denen 55% nicht die formellen Bedingungen für die Annehmbarkeitserklärung erfüllten. Somit wurden 395 Petitionen als „receivable" anerkannt.

Akten zur Minderheitenfrage

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A m Umfang der überlieferten Akten kann man feststellen, daß innerhalb der 1. Registraturperiode v o n 1919-1927 relativ w e n i g Petitionen bearbeitet werden mußten (88 Archivkartons). Die meisten Fälle fielen in den Jahren zwischen 1928 u n d 1932 (156 Archivkartons) an. Von 1933 bis 1940 nahm ihre Zahl wieder ab (107 Kartons). Das war eine Folge des Austritts Deutschlands aus dem Völkerbund 1933 u n d der Aufkündigung der Zusammenarbeit mit dem Völkerbund in der Minoritätenfrage durch Polen 1934. 1940 stellte die „Minority Section" kriegsbedingt ihre Arbeit ein. Was die Sachakten der Minderheitenabteilung betraf, so wurden diese, genau w i e die des Sekretariats, in der Zentralregistratur in der Regel den jeweiligen Arbeitsanforderungen entsprechend eröffnet u n d einem komplizierten Registraturverfahren eingegliedert 3 . Einzelne Sektionen jedoch, so auch die mit der Minderheitenfrage betraute, behielten sich das Recht vor, zum Zwecke des schnelleren Zugriffes ihre Akten in der jeweiligen Abteilung aufzubewahren u n d nach eigenem Schema zu registrieren. Die Folge war, daß neben den offiziellen Registraturakten, den „Registry Files", Abteilungsaktenbestände, „Section Files", gebildet wurden. Die „Registry Files" wurden mit Sach- u n d Namenindices v o n der Registratur geführt. Diese beiden Karteien dienen noch heute dem Benutzer als wertvolles Hilfsmittel. Die „Subject Files" hingegen, sind nur über das Generalrepertorium, das „Répertoire Général", erschlossen, da v o n den Sektionen keine entsprechenden Karteien angelegt wurden.

m . Beschreibung der Archivgruppe Die Minoritätenabteilung ist Teil der Archivgruppe „Verwaltungskommissionen und Minoritätenabteilung (Administration Commissions and Minority Section)" u n d als solche dem Archiv des Sekretariats zugeordnet. I m Generalrepertorium steht sie an zweiter Stelle nach dem Büro des Generalsekretärs. Die Akten dieser Archivgruppe sind unterteilt in die Registraturakten und die Sektionsakten. Die Ordnung der Registraturakten sind, den drei Perioden entsprechend, die sich durch die wiederholte Umorganisation der Registratur ergaben, unterteilt. Eine erste Änderung fand 1928 statt, als das 1919 eingeführte Klassifikationssystem den ständig steigenden Anforderungen der Verwaltung des Sekretariats nicht mehr genügte - ein effektiveres System sollte der Struktur des Verwaltungsapparates besser gerecht werden. Die Registraturakten der Minoritätensektion w u r d e n ab 1919 i m Klassifikationssystem als Nr. 41 geführt, erhielten dann ab 1928 die Nr. 4. 1933 begann die Zentralregistratur eine neue chronologische Serie, die zunächst fünf Jahre in Gebrauch bleiben sollte, dann aber bis zum Ende des Völkerbundes bestehen blieb.

3 Siehe Guide to the Archives of the League of Nations, 1919-1946. Bibiothek der Vereinten Nationen, Genf 1969.

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1939 wurde die Minoritätenabteilung sowie die Politische Abteilung, der 1934 die Verwaltungskommissionen zugeordnet worden waren, dem Département I verwaltungsmäßig unterstellt. Die erhofften Vorteile des jeweils neuen Systems blieben jedoch gering, u n d die einzelnen Abteilungen u n d somit auch die Minderheitenabteilung gingen immer mehr dazu über, „Section Files" in eigener Regie anzulegen. Diese Abteilungsakten sind i m Generalrepertorium als eigene Gruppe nach den Registraturakten verzeichnet.

IV. Findmittel 1. Das Generalrepertorium U m denen, die sich mit den Akten zur Minoritätenfrage i m Archiv des Völkerbundes befassen wollen, den Zugang zu erleichtern, soll ein kurzer Überblick über das Generalrepertorium gegeben werden: Das gesamte Aktenmaterial des Völkerbundarchivs wurde 1965 in einem Projekt des „Carnegie Endowments for International Peace" unter der Leitung des französischen Archivars Yves Perotin geordnet u n d erschlossen. So liegt seit 1969 das mehrmals erwähnte Generalrepertorium, das „Répertoire Général" (drei Bände mit 1.100 Blatt), in Folio Format als Ergebnis dieser Arbeit vor, die innerhalb v o n drei Jahren hätte abgeschlossen werden müssen. I n dieser kurzen Zeit war eine v o n Grund auf neue u n d detaillierte Klassifizierung nicht möglich. Daher muß das vorliegende Repertorium als Provisoriu m angesehen werden. Die bereits zuvor erwähnten v o n der Zentralregistratur angelegten Karteien sind aus diesem Grund eine unentbehrliche Hilfe i m Auffinden v o n Einzelvorgängen. Entsprechend der drei Klassifizierungsperiode der Zentralregistratur gliedert auch das Generalrepertorium die „Registry Files" in drei Zeitabschnitten: 19191927, 1928-1932, 1933-1946. Die Abteilungsakten sind zusätzlich aufgeführt. Beständeübersicht des Generalrepertoriums: I.

Das Sekretariat - Fonds du Secrétariat: -

-

Büro des Generalsekretärs - Bureau d u Secrétaire général; Abteilung der Verwaltungskommissionen u n d der Minoritätenfrage Section des Commissions administratives et des questions de Minorités (es folgen die verschiedenen politischen Abteilungen nach Zuständigkeitsbereichen geordnet); Verwaltungsabteilungen - Sections d'Administration; Bibliothek - Bibliothèque; P u b l i k a t i o n s - u n d D o k u m e n t e n a b t e i l u n g - Services chargés des publications et documents.

II. Mischbestand Flüchtlinge (Nansen) - Fonds mixtes des Réfugés;

Akten zur Minderheitenfrage

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III. Auswärtige Bestände - Fonds extérieurs; IV. Sammlungen - Collections; V. Privatpapiere - Fonds privés. Die Betreffseinheiten der einzelnen Abteilungen sind sodann i m Repertoriu m mit ihren Registratursignaturen, Laufzeiten, Inhaltsangaben, Anzahl der in ihnen anzutreffenden Einzelsachverhaltsvorgängen u n d mit der Standortsignatur ausgeworfen. Die Akten der Minoritätenabteilung sind unter I., dem Fonds des Sekretariats, an zweiter Stelle aus „Abteilung der Verwaltungskommissionen u n d Minoritätenfrage" aufgeführt. I n dieser Archivgruppe finden sich auch die Akten Oberschlesien, Danzig u n d das Saarland betreffend. B e t r a c h t e n w i r die Bestandsgliederung der e i n z e l n e n P e r i o d e n der Minoritätenabteilung: Die Akten der 1. Periode (88 Archivkartons) sind chronologisch ohne Gliederung aufgeführt, die Akten der 2. u n d 3. Periode jedoch nach einzelnen Ländern, die v o n der Minoritätenfrage betroffen waren (127/90 Kartons). Danach folgen Einzelakten zu Allgemeinen u n d Einzelfragen angehängt (29/17 Kartons). Ein Verzeichnis der Staaten mit der auf die einzelnen Länder entfallenden Anzahl v o n Akten vermag einen Eindruck davon zu vermitteln, wieviel Material die verschiedenen Länder betreffend vorliegt. Land

2. Periode

3. Periode

Oberschlesien Polen Rumänien Yugoslawien Griechenland Tschechoslowakei Türkei Litauen Ungarn Österreich Irak Albanie Ukraine Lettland Aegypten Bulgarien

376 Titel 420 139 133 124 85 31 18 16 5 4 2 2 1

171 Titel 124 174 42 26 47 17 -

3 11 134 35 -

-

2 1 5

2. Namens- und Sachkartei Die Namenskartei Die seit 1919 angelegte Namenskartei war als Hilfsmittel der Zentralregistratur gedacht. Sie wurde täglich auf Grund neu erstellter Akten auf dem Laufenden 15 Corsini / Zaffi

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gehalten. Daraus ergibt sich, daß diese Kartei nur die Sachakten der Zentralregistratur beinhaltet und keine Auskunft über die in den Abteilungen angelegten Akten gibt. Wichtig für den Benutzer ist, zu wissen, daß diese Karteien damals als Hilfsmittel für Registraturzwecke u n d keineswegs für wissenschaftliche Recherchen angelegt wurden. Ihr Informationszweck ist daher beschränkt. Die Namenskartei ist alphabetisch angelegt. I n ihr sind alle Namen der Korrespondenten mit Titelangaben, Angaben der jeweiligen Berufsorganisation u n d Betreffsvermerke aufgenommen. Außer der Verzeichnung v o n Ein- u n d Ausgängen sind auch die Signaturen sowie Hinweise auf Dokumente angegeben. Dieses Schema wurde bis zum Ende des Völkerbundes beibehalten. Der Benutzer findet hier unter dem Stichwort „Minoritäten" die betroffenen Länder verzeichnet u n d zu jedem einzelnen Land entsprechende Aktenverweise; auch einzelne Korrespondenten sind indiziert. Sachkartei Die Registratur ging am Anfang davon aus, daß Schriftstücke durch zusätzliche Betreffsreferenzen leichter auffindbar sein würden. Da sie aber bei der Anlage der Sachkartei weder einheitlich noch nach einer übersichtlichen Methode vorging, war der Sachindex weder zur Zeit seiner Erstellung noch später als Hilfsmittel eine zuverlässige Stütze. Sein System wurde daher in der 2. Periode revidiert u n d diente nur noch zur Beantwortung der Frage: Welche Akte liegt vor zu diesem oder jenem Sachverhalt? Die bisherigen detaillierten Angaben über Sachverhalte sowie die Unterteilung in Sachgruppen u n d sogar Sachuntergruppen fielen weg. A b 1929 w u r d e n an Stelle des ausführlichen Sachindexes sogenannte „Classification Registers" angelegt, die im Archiv heute ebenfalls als Findmittel zugänglich sind, aber selten eingesehen werden, da die Benutzung des Generalrepertoriums, w e i l übersichtlicher, vorgezogen wird. Diese Änderung hatte zur Folge, daß die Zahl der Sachkarteikarten nach 1927 kontinuierlich abnahm. I n den Jahren nach 1933 w u r d e n z.B. nur noch 16 Sachkarteikarten die Minoritäten betreffend erstellt.

V. Benutzung und Zugang zum Archiv Bis 1969 durfte das Völkerbundarchiv nur benutzt werden, w e n n ein detaillierter Antrag über Inhalt und Zweck der Forschung vorgelegt u n d genehmigt worden war. A m l6. Dezember 1969 wurde der Beschluß des Generalsekretärs veröffentlicht, durch den das Archiv der wissenschaftlichen Forschung freigegeben wurde. Gemäß der damals erstellten Benutzungsordnung, der „Rules Governing Access to the Archives of the League of Nations", die auch heute noch gilt, sind alle Bestände, die mehr als 40 Jahre alt sind (von wenigen Ausnahmen abgesehen) dem Forscher in situ zugänglich.

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D e m Benutzer können gegen Gebühr Fotokopien v o n den v o n i h m ausgewählten Archivalien u n d Dokumenten gefertigt werden. Gemäß der ,Rules' ist allerdings das Kopieren einer gesamten Serie oder Archivgruppe nicht gestattet. Zu erwähnen bleibt noch, daß die Vereinten Nationen selbst kein copyright beanspruchen, zeichnen aber gleichzeitig auch nicht verantwortlich, falls selbiges v o n einer anderen Stelle beansprucht wird. Es soll noch darauf hingewiesen werden, daß sich ergänzend zu den i m Völkerbundarchiv vorliegenden Materialien in den Staatsarchiven der Mitgliedsländer des Völkerbundes u n d besonders in den Ländern für die die Minoritätenfrage eine Rolle spielte, ebenfalls Akten befinden, die der Forscher für seine Arbeit i n Betracht ziehen sollte. Das Material des Völkerbundarchivs bietet nämlich in vielen Fällen nur einen Teilaspekt der Überlieferung. Der Zustand der Akten der Minoritätenabteilung läßt wegen der oft schlechten Papierqualität u n d der häufigen Benutzung zu wünschen übrig. Das Material muß daher sorgfältig behandelt werden. Es ist geplant, alle wichtigeren Bestände, darunter auch die der Minoritätenabteilung zu restaurieren u n d auf Microfiche aufzunehmen. Bei der derzeitigen Finanzlage der Organisation der Vereinten Nationen w i r d die Ausführung dieses Vorhabens jedoch leider nicht in naher Zukunft durchgeführt werden können. Das Archiv des Völkerbundes befindet sich mit seinen Büroräumen u n d dem zehn Besuchern Platz bietenden Lesesaal über einem der Lesesäle der Bibliothek in dem Nordflügel des 1929 bis 1936 in Genf erbauten Palais des Nations. U m dem Benutzer den bestmöglichen Zugang zu den Archivalien zu geben, ist das Archiv 4 ganzjährig v o n Montag bis Freitag - mit Ausnahme der letzten Dezemberwoche bis einschließlich Mitte Januar - v o n 9 bis 17 Uhr 30 mit einer Stunde Mittagspause geöffnet. Das dem Archiv angegliederte Museum des Völkerbundes ist hingegen ganztätig geöffnet.

Literaturhinweise Annuaire de la Société des Nations: 1920-1927, sous la direction de G. Ottlik, Genève 1920 ff. de Azcàrate, P.: League of Nations and National Minorities. An Experiment, Washington 1945. -

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Bagley, T.H.: General Principles and Problems in the International Protection of Minorities, Genève 1950. Calderwood, H.B. : The Proposed Generalization of the Minorities Regime, in: American Political Science Review, 1934, S. 1088-1098. 1 Adresse: League of Nations Archives, UNOG Genève, Palais des Nations, B. 328, CH-1210 Genève. Tel.: 041-22-9174189; Fax.: 041-22-9170028.

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Claude , I.L.: National Minorities. An International Problem, Cambridge 1955. Feinberg, , Ν.: La jurisdiction de la C.P.J.I. dans le système de la protection internationale des minorités. Paris 1931. Guide to the Archives of International Organizations, Paris 1978. Guide to the Archives of the League of Nations. Geneva, United Nations Library, 1969, 2 Aufl., Genève 1977. Macartney , C.A.: League of Nations' Protection of Minority Rights, in: The International Protection of Human Rights, hrsg. von Evan Luard, Genève 1967, S. 22-38. -

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Mouton , M.R.: La Société des Nations et la protection des minorités. Exemple de la Transylvannie (1920-1929), Paris 1969, S. 420-114. (Thèse pour le doctorat de 3ème cycle, Université de Paris, Faculté de Lettres et Sciences humaines). Piper ; H.: Die Minderheitenfrage und das Deutsche Reich 1919-1933/34, 1974. Robinson, J.: Das Minoritätenproblem und seine Literatur, Berlin 1928.

Verzeichnis der Autoren Manfred

Alexander,

Ester Capuzzo, Teodor Dimitrov,

Universität K ö l n Universität R o m

Foyer Européen de la Culture, Gex

Felix Ermacora, Carlo

Ghisalberti,

firi

Kofalka,

verstorben Universität Rom

Universität Prag

Jerzy Kozeûski , Zachodnj-Institut - Poznan Francesco

Leoncini,

Tore Modeen, Joze Pirjevec, Paolo Prodi, Simion Ursula-Maria

Universität V e n e d i g

Universität H e l s i n k i Universität Padua Universität B o l o g n a

Retegan, Academia romänä, Cluj

Ruser ; D i r e c t i o n Archives de la Société des Nation, Genève

Lâszlo

Szarka , Ungarische A k a d e m i e der Wissenschaften, Budapest

Zoltân

Szasz, Ungarische A k a d e m i e der Wissenschaften, Budapest Davide Andrej

Zubov,

Zaffi , Trient

Institute o f Oriental Studies, Moska